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Kontexte und Texte

2010
978-3-8233-7490-9
Gunter Narr Verlag 
Peter Klotz
Paul R. Portmann-Tselikas
Georg Weidacher

Kommunikation ist ohne Kontextualisierung nicht realisierbar, Texte sind ohne Kontexte nicht denkbar. Die moderne kognitive Textlinguistik und die linguistische Diskursanalyse setzen diese Erkenntnis häufig in ihren Arbeiten voraus. Dabei bleibt aber der Kontextbegriff theoretisch fast stets marginal, und das, was er bezeichnet, vage und/oder arbiträr. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass Kontext keine unabhängig spezifizierbaren Sachverhalte oder Klassen von Sachverhalten bezeichnet. Der Begriff benennt vielmehr ein Verhältnis: Fast beliebige Sachverhalte können zu Kontexten dadurch werden, dass sie mit einem im Fokus stehenden kommunikativen (Teil)Ereignis in Verbindung stehen oder gesetzt werden, und erst diese Verbindung ermöglicht es, das fokussierte Element zu verstehen (oder zumindest es besser zu verstehen). Der vorliegende Sammelband versucht, diesen Mangel an begrifflicher Fundierung anzusprechen und ihm in Form theoretischer und text-analytischer Beiträge z.B. zu literalen Praktiken in verschiedenen sozio-kulturellen, medialen und literarischen Kontexten entgegenzutreten. Dabei soll die Macht der Kontexte, wie sie sich in den Texten manifestiert sowie - in umgekehrter Perspektive - die Kontextualisierungspotenz und -notwendigkeit von Texten und damit ihre Macht über die Kontexte herausgestellt werden.

Kontexte und Texte Soziokulturelle Konstellationen literalen Handelns 047710 Europ. Stud. 8 - Klotz: 047710 Europ. Stud. 8 - Klotz Titelei 29.06.10 15: 12 Uhr Seite 1 Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Kirsten Adamzik (Genf) Martine Dalmas (Paris) Jan Engberg (Aarhus) Wolf-Dieter Krause (Potsdam) Arne Ziegler (Graz) Band 8 047710 Europ. Stud. 8 - Klotz: 047710 Europ. Stud. 8 - Klotz Titelei 29.06.10 15: 12 Uhr Seite 2 Peter Klotz / Paul R. Portmann-Tselikas Georg Weidacher (Hrsg.) Kontexte und Texte Soziokulturelle Konstellationen literalen Handelns 047710 Europ. Stud. 8 - Klotz: 047710 Europ. Stud. 8 - Klotz Titelei 29.06.10 15: 12 Uhr Seite 3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Umschlagbild: Paul Klee, Labiler Wegweiser, 1937 Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-6490-0 047710 Europ. Stud. 8 - Klotz: 047710 Europ. Stud. 8 - Klotz Titelei 29.06.10 15: 12 Uhr Seite 4 Inhaltsverzeichnis I Theoretische Aspekte zur Interdependenz von Kontext - Text - Kontext Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher Nicht nur zur Begrifflichkeit. Kontexte, Kommunikation und Kompetenzen .............................. 9 Alexander Ziem Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? Zum Stand der psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen Forschung ...................................................................... 59 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth Kontext korpuslinguistisch. Die induktive Berechnung von Sprachgebrauchsmustern in großen Textkorpora ........................................................................... 85 Mechthild Habermann Historische Redeweisen über Texte. Zur hermeneutischen Macht fester Kontexte ................................. 109 II Kontexte und literale Praktiken Angelika Linke Textsorten als Elemente kultureller Praktiken. Zur Funktion und zur Geschichte des Poesiealbumeintrags als Kernelement einer kulturellen Praktik ............................................ 127 Helmuth Feilke Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens .................................................................................. 147 Torsten Steinhoff Kontexttransposition. Studentisches Schreiben zwischen Journalismus und Wissenschaft ....................................................................................... 167 6 Georg Weidacher Textrhetorik und Kontextualisierung .............................................. 183 Peter Klotz Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben. Sprachliche, soziopragmatische und kulturelle Aspekte .............. 203 III Aspekte des kontextuellen Netzes literarischer Texte Christine Lubkoll Prätexte - Kontexte. Intertextualität als kontextualisierendes Verfahren der Literatur ............................................................................................... 227 Roland Borgards Der Kontext als Text. Ein Lektürevorschlag für das zweite Clarus-Gutachten und die Debatte um Woyzecks Zurechnungsfähigkeit ................................ 245 IV Kommunikation in medialen Kontexten Martin Luginbühl Medientexte im und als Kontext ...................................................... 263 Jürgen E. Müller Kontexte, Macht und Medien. Zur geschichts- und identitätsbildenden Funktion intermedialer Praxen am Beispiel des Irakkrieges ................................................. 283 Christoph Sauer Hingucker und/ oder Wegleser. Niederländische Pressebilder (fast) ohne Text ............................... 301 Wolfgang Kesselheim Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation .................................................................................. 327 Verzeichnis der AutorInnen ............................................................ 344 I Theoretische Aspekte zur Interdependenz von Kontext - Text - Kontext Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher Nicht nur zur Begrifflichkeit Kontexte, Kommunikation und Kompetenzen 1 Einleitung Kontext ist ein schwer fassbarer Begriff. Es gibt keine Kommunikations- oder Texttheorie (von anderen Bereichen soll hier nicht die Rede sein), die ohne ihn auskommen könnte, und doch bleibt er theoretisch fast stets so marginal wie vorgeblich das, was er bezeichnet. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass Kontext keine unabhängig spezifizierbaren Sachverhalte oder Klassen von Sachverhalten bezeichnet. Der Begriff benennt vielmehr ein Verhältnis: Fast beliebige Sachverhalte werden zu Kontexten dadurch, dass sie mit einem im Fokus stehenden kommunikativen (Teil-)Ereignis in Verbindung gebracht werden und dass diese Verbindung es ermöglicht, das fokussierte Element in seiner kommunikativen Funktion zu verstehen. Kontext verhält sich damit in gewissem Sinne parallel zu dem Begriff der Rahmenbedingung, wie er vor allem in den empirischen Wissenschaften geläufig ist. Während aber Rahmenbedingungen idealerweise in kausaler Beziehung zum fokussierten Element stehen, ist das Verhältnis von Kontexten zu Kommunikationsereignissen und Texten von anderer Art. Traditionell würde man es wahrscheinlich als hermeneutisch bezeichnen und damit zumindest seinen vermittelten, grundsätzlich kognitiven Charakter hervorheben. Die Linguistik hat sich in verschiedenen Bereichen immer wieder mit Kontexten beschäftigt, wenn auch dieser Begriff dabei nicht immer besondere Beachtung erfuhr. Die entsprechenden Analysen folgen weitgehend einem gemeinsamen Schema: Kontexte werden betrachtet als etwas, das „dazukommt“, wenn man sich mit der Beschreibung eines Phänomens unter kommunikativer Perspektive beschäftigt, sie erscheinen als abhängig vom fokussierten Element, als von diesem bestimmt und organisiert. Wir werden im Folgenden diese Zugänge in aller Kürze nachzeichnen und zu zeigen versuchen, dass sich daraus im Überblick ein durchaus strukturierter Blick auf das Phänomen des Kontextes ergibt, dass vor diesem Hintergrund aber auch zentrale Begriffe der linguistischen Pragmatik einer Neubewertung bedürfen. Zugleich möchten wir einen Schritt über die herkömmliche Betrachtungsweise hinausgehen. Wie andere Verhältnisbegriffe erlaubt auch der des Kontextes eine Umkehrung der Perspektive, und diese ist in der Linguistik nur an einzelnen Stellen mit einiger Stringenz vorgenommen worden. Blickt man von den Kontexten her, sind Äußerungen die abhängi- 10 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher gen Größen - in ihnen manifestiert sich (auch) die Macht der Kontexte, in denen sie stehen. Wir werden im Folgenden diese Gegenperspektive im Auge behalten und nachzeichnen, was sich daraus an Einsichten über Kommunikation und ihre Voraussetzungen gewinnen lässt. Im Zentrum dieses Bandes stehen Fragen der Literalität. Gerade die Grundbegriffe pragmatischer Betrachtung sind aber vorwiegend an Beispielen mündlicher Rede gewonnen und diskutiert worden. Dem damit gegebenen Zwiespalt lässt sich schwer entkommen. Wir behelfen uns damit, dass wir im Folgenden Äußerungen ins Zentrum der Betrachtung stellen - damit sind mündliche Äußerungen, etwa im Rahmen von Gesprächen, aber auch schriftliche Äußerungen, also Einzelaussagen und kurze Aussagenkomplexe in schriftlichen Texten gemeint - und gehen zunächst davon aus, dass die wesentlichen Begriffe, derer wir uns bedienen, auf mündliche wie auf schriftliche Äußerungen angewendet werden können. Der Eigenart literaler Praxen (etwa in den Domänen des Journalismus, des Rechts, der Wissenschaft etc.) kann auf diese Weise natürlich nicht ausreichend Rechnung getragen werden. Wir bemühen uns aber dort, wo dies unverzichtbar erscheint, die Differenzen zwischen der Sphäre der Mündlichkeit und der der Schriftlichkeit zumindest zu skizzieren und vor allem in Bezug auf Literalität spezifische Gesichtspunkte so weit wie nötig kenntlich zu machen. Im Hinblick auf dieses Ziel verzichten wir weitgehend auf eine Diskussion all jener Aspekte, die allein im Feld des Mündlichen von Belang sind: Fragen des Managements des Sprecherwechsels, nichtverbale Mittel der Aufmerksamkeitslenkung, der Einstellungsbekundung etc. 2 Zum Begriff des Kontextes 2.1 Festlegungen Äußerungen sind komplex. Spätestens seit Austin und Searle muss das Verständnis auch einfachster Äußerungen zumindest als Doppelstruktur begriffen werden, mit der einer Äußerung nicht nur ein propositionaler Gehalt, sondern auch eine kommunikative Funktion (in Termini der Sprechakttheorie: eine illokutionäre Rolle) zugeschrieben wird, unabhängig davon, wie viel davon explizit sprachlich ausgedrückt ist. Im Hinblick auf beide diese Aspekte ist Verstehen ohne Konstruktion eines jeweils einschlägigen Kontextes nicht denkbar. - In der Tradition der formalen Semantik werden die propositionalen Gehalte als Wahrheitsbedingungen begriffen. Sogar wenn diese Sicht akzeptiert wird (vgl. dazu aber Abschnitt 3.1), müssen Propositionen im Verstehen nicht nur wahrgenommen, sondern auf ihr Zutreffen hin auch geprüft und beurteilt werden. Außer im Falle von Tautologien oder logischen Widersprüchen erfordert dies die Bestimmung und Prüfung relevanter Gegebenheiten außerhalb der Äußerung selber. Nicht nur zur Begrifflichkeit 11 - Kommunikative Funktionen werden meist nicht explizit signalisiert, sondern im Zusammenspiel zwischen Proposition und Redesituation erschlossen, sind also ebenfalls auf die Konsultation von Sachverhalten angewiesen, die nicht durch die Äußerung selber vermittelt werden (vgl. unten, Abschnitt 3.2). Unter diesen Voraussetzungen (und es ist schwer, an ihnen zu zweifeln) überschießt das Verstehen das Gesagte und seine Eigenbedeutung grundsätzlich. Dieses „Mehr“ an Bedeutung gegenüber dem sprachlich Kodierten ist das Resultat einer informationellen Ausbeutung des Gesagten durch die Kommunizierenden, die darin besteht, dass es mit der Situation der Äußerung, dem Verlauf der aktuell ablaufenden Kommunikationssituation, den allenfalls bestehenden Erwartungen sowie dem (bereits aktivierten bzw. dem durch das Gesagte selbst aktivierten) Vorwissen in Kontakt gebracht und mit deren Hilfe interpretiert wird. Was hier aus unterschiedlichen Quellen im Interpretationsprozess aufgerufen wird, bildet die Kontexte der Äußerung. Der Interpretationsprozess ist abgeschlossen, wenn das resultierende Verständnis angesichts aller verarbeiteten Hinweise einigermaßen kohärent und stimmig erscheint. Die hier skizzierten Festlegungen lassen sich in aller Kürze folgendermaßen ausformulieren: 1) Kontexte sind Information Kontexte von Äußerungen werden von ihren ProduzentInnen und RezipientInnen als solche erkannt und verarbeitet. Kontexte sind damit Information, d.h. sie sind kognitiver und - im psychologischen Sinne - begrifflicher Natur. 1 Dies gilt für Informationen, die aus dem unmittelbaren Ko-Text eines Gesprächs oder einer Lektüre stammen ebenso wie für Wissensbestände, die aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Dies gilt auch für unmittelbar gegenwärtige Dinge oder Ereignisse. Diese sind nicht per se „Kontext“. Dass der Tisch wackelt oder das Kaffeehaus eine vielfältige Palette von Zeitungen zur Lektüre anbietet, ist sicherlich ein Sachverhalt der „realen Umwelt“ eines Gesprächs. Damit dieser Sachverhalt für das Gespräch zum Kontext wird, muss er aber erst wahrgenommen und mit den kommunikativen Gegebenheiten in Beziehung gebracht werden. 2 Geschieht dies nicht, wackelt der Tisch einfach, ob bemerkt oder nicht, und steht nicht im Kontakt mit der kommunikativen Handlung. „Context, then, is not what 1 Die Behauptung hier ist nicht, dass Kontexte stets deutlich erkannt und bewusst (gemacht) werden, wohl aber, dass dies prinzipiell - z.B. metakommunikativ - in einem weiten Maße möglich zu sein scheint. Nach Gazdar (1981: 70) kann man „for the sake of simplicity“ sogar annehmen, „that contexts are just sets of propositions“. 2 Der Begriff der Situation scheint geeignet, jene Umwelten oder Umfelder zu bezeichnen, die intuitiv als kommunikationsnah eingeschätzt werden und Wissensbestände zugriffsfähig halten, ohne dass diese notwendigerweise auch als Kontexte realisiert werden. 12 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher is perceived in a particular situation, but what is conceived as relevant, and situational factors may have no relevance [for the ongoing communicative process] at all.” (Widdowson 2007: 21) In diesem Sinne ist es auch egal, ob eine Zeitung im Zug nach Wien oder zu Hause beim Frühstück gelesen wird. Mögliche atmosphärische oder Aufmerksamkeitsunterschiede sollen nicht geleugnet werden. Wenn sie nicht als für das Verstehen von Äußerungen relevante - kontextuelle - Informationen kognitiv ver- und bearbeitet und dadurch für den Aufbau eines mentalen Modells 3 als Resultat der Äußerungsinterpretation herangezogen werden, sind sie für eine Kommunikationstheorie von vernachlässigbarer Bedeutung, zumindest solange prinzipielle Fragen des Funktionierens sprachlich vermittelter Kommunikation zur Diskussion stehen. 2) Kontexte werden durch Schlüsse ins Spiel gebracht Zentraler Mechanismus der Erschließung von Kontexten ist die Inferenz. In der linguistischen Diskussion ist die Inferenzbasis fast stets eine Äußerung, Inferenz somit der Schluss von etwas Gesagtem und der mit ihm verbundenen Bedeutung auf etwas Weiteres, mit dem Gesagten und seiner Bedeutung Verbundenes, aber darin nicht explizit Ausgedrücktes. Allerdings kennen wir in der Diskussion auch andere Inferenzbasen. So können einmal etablierte Erwartungen nicht nur Inferenzen aus dem Gesagten erleichtern, sondern zur Klärung des Gesagten resp. der Konstruktion der Bedeutung des Mitgeteilten selbst beitragen. Die konversationelle Implikatur von Grice beruht darauf, dass eine offenkundig nicht-passende Äußerung aufgrund von Schlüssen aus als relevant unterstellten Kontexten bearbeitet wird, bis eine Version des mutmaßlich Mitgeteilten gefunden ist, die „passt“ (vgl. unten, 3.2). Inferenzen bringen die Äußerung und ihre Bedeutung in Kontakt mit „anderem“, mit dem, was wir hier generell Kontexte nennen. Verstehen - die Realisation eines Äußerungssinns - besteht in der Ausbeutung und Konsolidierung dieses Verhältnisses. 3) Kommunikative Kontexte sind geteilte Kontexte Kommunikation beruht auf der Voraussetzung, dass es geteiltes Wissen gibt, auf das zurückgegriffen werden und das entsprechend als Kontext einer Äußerung aufgerufen und ins Spiel gebracht werden kann, und der kommunikative Akt selbst schafft neues gemeinsames Wissen. Kommunikation ist so gesehen nichts anderes als Arbeit mit und an geteiltem Wissen. Als Kontexte einer Äußerung werden in der linguistischen und kommunikationstheoretischen Analyse entsprechend nicht unterschiedslos alle Vorstellungen bezeichnet, die eine Äußerung im Kopf von Sprechenden oder Hörenden begleiten, sondern nur jene, die für das Verstehen des Gehalts, der 3 Vgl. dazu van Dijks (2008: 16 f. u. passim) Begriff „context model“, auf den wir in Kap. 4.2 noch eingehen werden. Nicht nur zur Begrifflichkeit 13 Funktion und der Akzeptabilität von Äußerungen als kommunikative in Anschlag gebracht werden müssen. 4 Diese Unterscheidung von gemeinsamen und nicht-gemeinsamen Aspekten an der gesamten Kommunikationserfahrung ist nicht nur theoretisch bedeutsam, auch die Kommunizierenden selber machen sie mit großer Genauigkeit. So gehört die Tatsache, dass jemand seine/ n KommunikationspartnerIn langweilig findet, zwar zur Erfahrung, die jemand in dieser Situation macht, sie ist aber nicht Teil der Kommunikation und gehört auch nicht zum geteilten Bestand des Austausches (außer dieser Eindruck wird formuliert oder anders deutlich erkennbar gemacht). Entsprechend ist es hoch erwartbar, dass individuelle Assoziationen, Eindrücke, Urteile etc. mit kommunikativen Ereignissen mitlaufen, die von den Kommunizierenden nicht als Teil der Kommunikation angesehen werden und die für ein Verständnis dessen, was im gegenseitigen Austausch passiert, wenig beitragen. 5 In allen Formen der reservatio mentalis, des strategischen, täuschenden oder lügnerischen Redens ist die strikte Unterscheidung eines „privaten“ (und als privat gehüteten) von einem geteilten Gedankenhaushalt ohnehin bewusst gesetzte Voraussetzung des Spiels. Schwierig fällt in der hier gewählten Weise des Redens die plausible Sicherstellung des Gemeinsamen in der Kommunikation. Zumindest zwei gewichtige Gründe machen es fraglich, ob und wie weit plane Gemeinsamkeit überhaupt als erreichbar angesehen oder vorausgesetzt werden darf. Einerseits: Ob die zum Verstehen herangezogenen Kontexte wirklich geteilte sind, ist nicht objektiv überprüfbar, sondern selbst Teil der Interpretation der Kommunizierenden und damit perspektivisch. Andererseits bringen es die divergierenden individuellen Kommunikationserfahrungen mit sich, dass die Sprechenden kaum sich vollständig deckende Vorstellungen über die aufgerufenen Kontexte mitbringen. Deshalb wird die idealtypische Gemeinsamkeit wohl stets nur eine angestrebte sein können. Humboldt bringt diese Einsicht folgendermaßen auf den Punkt: Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen. (Humboldt 1972: 439) 4 Ganz analog wird die beidseitige Verfügung über die linguistischen Bedeutungspotenziale der sprachlichen Zeichen zur Voraussetzung für Kommunikation gemacht, und der Sinn, der Äußerungen zugeschrieben wird, ist idealtypisch der geteilte Sinn - jener, auf den alle kompetenten Sprecherinnen und Sprecher, wären sie in gleicher Weise an der Situation beteiligt, auch kommen müssten. 5 Natürlich kann das Gefühl der Langeweile dazu führen, dass jemand auf bestimmte Weise kommunikativ agiert. Wir hätten damit ein Motiv, das wir für eine kommunikativ wirksame Entscheidung ins Feld führen können. Dies erspart nicht eine Analyse der darauf beruhenden Äußerung und ihrer Folgen auf dem Feld der Kommunikation. 14 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher Allerdings kann man nicht bei dieser Feststellung stehen bleiben - Kommunikation ist und bleibt dadurch bestimmt, dass durch sie Gemeinsamkeit angezielt und hergestellt wird: Im Menschen aber ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden, und der Mensch bedarf ... zum blossen Denken eines dem Ich entsprechenden Du ... Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft. (Humboldt 1972: 201) Bestimmtheit und Klarheit des gemeinsamen Grundes der Kommunikation sind deshalb nicht zufälligerweise selber ein zentrales Thema der Kommunikation: Festgestellte Übereinstimmungen wie bemerkte Differenzen der Interpretation können metakommunikativ thematisiert und damit bearbeitbar gemacht werden. 4) Jedes sprachliche Element kann fokussiert und auf seine Kontexte hin befragt werden Äußerungen sind die prototypischen kommunikativen Einheiten, die Kontexte „haben“ und die auf ihre Verbindungen zum Kontext hin untersucht werden können. Im Prinzip kann aber jedes Element eines kommunikativen Austausches fokussiert und seine Leistung für diesen Austausch auf der Basis seiner kontextuellen Beziehungen diskutiert werden. Entsprechend sind nicht nur Einzeläußerungen Gegenstand kontext-bezogener Betrachtung, sondern auch Sequenzen eines Dialogs oder Textes sowie ganze Dialoge und Texte, aber auch Wörter und Wortgruppen innerhalb einer Äußerung, sogar kaum isolierbare Einzelaspekte wie Akzent, Intonation etc. 2.2 Typen von Kontexten und Kommunikation Es gibt unterschiedliche Versuche, Kontexte zu systematisieren. Eine thematisch orientierte Klassifikation nimmt Verschueren vor. Er unterteilt Kontexte danach, ob sie die „physical world“, die „social world“ oder die „mental world“ betreffen (vgl. Verschueren 1999: 75 ff.). Allerdings konzediert er selber, dass diese drei Welten nicht strikt unterscheidbar sind (vgl. Verschueren 1999: 77). Auch berücksichtigt das Schema, das er dazu liefert, allein die Unterschiedlichkeit der (notwendigerweise kognitiv vermittelten) Perspektiven der Beteiligten auf diese Welten (vgl. Verschueren 1999: 76), so dass die Klassifikation eigentlich nur eine common-sense- Unterscheidung wiedergibt, die in manchen Fällen praktisch sein mag, die sich bei genauerem Hinschauen aber als begrifflich fragwürdig und wenig trennscharf erweist. So ist der Unterschied zwischen Chef und Untergebenem zunächst einmal ein sozialer, und er wird sich in der Kommunikation in entsprechenden Formen des Redens wiederfinden. Aber er ist auch durchaus real - er spiegelt sich beispielsweise in der Ausstattung der jeweiligen Arbeitsplätze und im Zugang zu firmeninternen Informationen oder Meetings etc. Und er ist gleichzeitig kognitiv in dem Sinne, als die Nicht nur zur Begrifflichkeit 15 Unterscheidung nicht einfach besteht, sondern von verschiedenen Personen unterschiedlich kognitiv modelliert und entsprechend in der Kommunikation umgesetzt wird - man denke an einen prototypisch fügsamen Angestellten und seinen selbstbewussten und aufstiegsorientierten Kollegen. Zusätzlich zu, aber in der Darstellung getrennt von den drei von ihm postulierten „Welten“ führt Verschueren (1999: 103 ff.) in Anlehnung an die linguistische Tradition noch einen vierten Bereich mit kontextueller Relevanz ein: den „linguistic context“, zu dem er verschiedene Faktoren des engeren sprachlichen Kontextes, also des Ko-Textes, zählt, aber auch den „linguistic channel“ (mündlich, schriftlich, aber auch das Medium, über das die Äußerung vermittelt wird) und „intertextuality“. Unter letzterer versteht er einerseits die über ein Textmuster geknüpfte Verbindung zu anderen Textexemplaren derselben Textsorte, andererseits die sprachliche Anbindung einer Äußerung an einen wohl grundsätzlich thematisch, wiewohl zugleich anhand der in ihm verwendeten sprachlichen Mittel zu bestimmenden Diskurs, z.B. den politischen. Diese Differenzierungen erscheinen zwar nachvollziehbar und für praktische Analysen brauchbar, theoretisch jedoch wiederum problematisch: Gerade aus einer „Diskurswelt“ entnommene Informationen stehen zumeist in engem Zusammenhang mit Elementen speziell der „social“ und der „mental world“, zumindest indirekt auch mit der „physical world“. So drückt sich, um auf das obige Beispiel zurückzukommen, der soziale Unterschied zwischen Chef und Untergebenem nicht nur in unterschiedlichen Bürogrößen und -möblierungen sowie sozialem Status und Rollenverhalten und in damit in Zusammenhang stehenden kognitiven Modellierungen von mentaler Persönlichkeit, Werthaltungen und Motivationen aus, sondern alle diese drei Bereiche potenzieller Kontextfaktoren sind auch durch einen Diskurs geprägt, in diesem Fall z.B. dem über soziale Hierarchien oder Unternehmensorganisation. Grundsätzlich muss bei diesen Unterscheidungen darauf geachtet werden, dass man nicht von verschiedenen Kontexten oder Bereichen von Kontexten spricht. Folgt man unseren Festlegungen in Kapitel 2.1, können die von Verschueren angeführten Bereiche nur als Ressourcen angesehen werden, aus denen einige Elemente im Kommunikationsprozess wahrgenommen und zu kontextuellen Informationen verarbeitet werden. Erst dadurch werden sie in ein „online“ aufzubauendes mentales Kontext-Modell integriert und somit zum Kontext im eigentlichen Sinn. Das Kontext-Modell bildet ein kognitives „interface“, das es den SprachbenützerInnen ermöglicht, ihre Äußerungsproduktion bzw. ihre Äußerungsinterpretation an die Faktoren der Kommunikationssituation anzupassen (vgl. van Dijk 2009: 249). Dies bedeutet aber, dass Kontexte, unabhängig davon, aus welcher „Welt“ sie gespeist werden, prinzipiell auf einer kognitiven Ebene anzusiedeln sind. Eine thematische Klassifizierung wie die Verschuerens (oder die von Cose- 16 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher riu) 6 kann daher nur auf eine Unterscheidung von Bereichen abzielen, die beim Aufbau von Kontexten eine Rolle spielen, streng genommen nicht jedoch auf eine von Kontexten an sich. Eine andere Unterscheidung 7 betrifft die zwischen inneren und äußeren Kontexten oder, in anderer Terminologie, zwischen Ko-Texten und Kontexten. Hier bildet die Art der Gegebenheit von kontextueller Information die Basis der Systematisierung. Auch sie spiegelt durchaus wichtige, von den Kommunizierenden wohl auch selber getätigte Typisierungen. Allerdings scheint ihre Relevanz für eine generelle Diskussion nicht allzu hoch. 8 Die kontextuelle „Gegebenheit“ eines Sachverhalts für die Kommunikation ist meist problemlos überführbar in eine ko-textuelle, und diese Überführung findet z.B. im Übergang von einer Situation in eine andere auch fast zwangsläufig statt, etwa wenn über ein Gespräch Bericht erstattet wird. Auch ist die Klassifikation unvollständig. Die wichtige Klasse der Kontexte, die durch die Kommunizierenden aus dem Vorwissen abgerufen bzw. aus in ihm enthaltenen Elementen aufgebaut werden, kann mit dieser Unterscheidung gar nicht erfasst werden. Um einiges wesentlicher und zielführender als diese Unterscheidungen ist die in der Tradition der Ethnographie des Sprechens und der Soziolinguistik vorgenommene Klassifikation von Auer, welche den Stellenwert von Kontexten in der Kommunikation thematisiert. Auer (1992) unterscheidet • contexts brought along (physical surroundings, time, features of participants) that must be foregrounded by contextualisation 9 • social factors and other factors in institutional settings, default assignment of social roles through interactional histories that must be reaffirmed by contextualisation • activity type, modality, schematic knowledge about participation ... that is brought about (created) by communication Diese Unterscheidung erlaubt, einige wesentliche Aspekte am Funktionieren von Kontexten zu erfassen. a) Kontexte hängen nicht direkt an Äußerungen, sondern sind abhängig von den Aktivitäten der Kommunizierenden selber - von der Art, wie sie sprechen und damit Kontexte zugänglich machen, und von dem, was in 6 Coseriu (vgl. 2007: 124 ff.) spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Bühler von „Umfeldern“. 7 Vgl. dazu z.B. die Unterscheidung textinterner Ko-Texte von textexternen Kontexten in Petöfi (1971: 174). 8 Besteht ein Interesse etwa an unterschiedlichen Formen der referenziellen Bezugnahme auf Gegenstände und Sachverhalte, ist die Unterscheidung natürlich von höchster Dringlichkeit. 9 In der hier gewählten Sprechweise dürften allerdings nur die jeweils gekennzeichneten und in den Vordergrund geholten Aspekte der Situation als Kontexte bezeichnet werden, nicht das ganze Drum und Dran der Kommunikation, das bloßes Potenzial für Kontextualisierungsleistungen ist. Nicht nur zur Begrifflichkeit 17 den Interpretationen der Angesprochenen an relevanten Kontexten aufgeboten wird: Context, therefore, is not just given as such in interaction, but is the outcome of participants’ joint efforts to make it available. It is not a collection of material or social facts [...] but a number of cognitve schemata or models about what is relevant for the interaction at any given point in time. (Auer 1992: 22) Entsprechend beruht jedes Reden über Kontexte sowohl im Rahmen der Kommunikation selbst wie auch in der linguistischen Metaperspektive auf der Annahme, dass die in den Interpretationen unterstellten Orientierungen und Wissensbestände im Rahmen einer Sprachgemeinschaft gelten und dass darum Produktions- und Rezeptionshaltungen mit gewisser Sicherheit erwartbar und berechenbar sind. 10 b) Kontexte sind von unterschiedlicher Gewichtigkeit und Beeinflussbarkeit. Der Charakter eines Austauschs als Gerichtsverhandlung oder Jobinterview ist durch die Beteiligten selbst kaum beeinflussbar, ein Gespräch am Kaffeetisch ist für verschiedenste Veränderungen offener und kann zu einer erbitterten Auseinandersetzung, einer eingehenden Fachdiskussion, einer Lebensbeichte etc. mutieren (ohne dass damit gesagt ist, dass diese Veränderungen immer leicht herbeizuführen wären). Die kurze Bezugnahme auf Geräuschbelästigung durch eine benachbarte Baustelle ist in allen diesen Fällen möglich und kann auch zu Konsequenzen führen, wird aber in den meisten Fällen - speziell wenn das metadiskursive Framing 11 relativ strikte Regeln für die Kommunikation auferlegt - lokal bleiben und den Charakter des Austauschs kaum verändern. c) Kontexte sind dynamisch: Kommunikation setzt nicht nur die Zugänglichkeit bzw. Konstruierbarkeit von Kontexten voraus, sie schafft auch ständig neue Kontexte. Jede einzelne Äußerung und in Texten jeder Satz ist eo ipso Kontext (oder, wenn man so will, Ko-Text) für das, was weiterhin thematisiert und gesagt wird. Er verändert die Basis für fortsetzende Beiträge, und er verändert die Basis für die Interpretation dieser Beiträge. Die Kategorie des „brought about“ ist so die wohl interessanteste der von Auer bezeichneten Kategorien, weil sie unmittelbar auf die produktive Kraft von Kommunikation beziehbar ist. Diese zeigt sich besonders deutlich daran, dass durch Kommunikation das verändert wird, 10 Dieser sozusagen „selbstverständliche“ Hintergrund führt leicht dazu, dass Kontexte den Äußerungen selbst zugeschrieben werden. Dies ist allerdings kurzschlüssig und übergeht die schon oben im Zusammenhang mit dem Begriff des geteilten Wissens angesprochenen Unschärfen, mit denen in der Kommunikation unablässig zu rechnen ist. 11 Unter „metadiscursive framing“ versteht Urban (vgl. 1996: 6 u. 9) durch Zeichen indizierte Rahmungen, die anzeigen, wie eine Äußerung zu verstehen ist, indem klar gemacht wird, dass sie z.B. nicht ernst gemeint ist und nur Teil einer kommunikativen Gattung ist, die der Unterhaltung dient. Vgl. hierzu auch die von Goffman (1986: 21 ff.) postulierten und beschriebenen „primary frameworks“. 18 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher was ihr zunächst als Basis zugrunde gelegt wurde, nämlich das als gemeinsam unterstellte Vorwissen. d) Die in der Kommunikation zustande gebrachten gemeinsamen neuen Wissensbestände können von Belang allein für den vor sich gehenden Austausch sein, sie können aber auch weitergehende Bedeutung haben und das Wissen um und die Einschätzung des Gesprächspartners/ der Gesprächspartnerin auf Dauer beeinflussen, geteilte Handlungsräume und gegenseitige Verpflichtungen schaffen, schließlich neues Wissen schaffen, das die Voraussetzung für das weitere Denken, Sprechen und Handeln überhaupt verändert. Bildungseinrichtungen z.B. sind Spezialisten für Letzteres - mit allen entsprechenden Folgen für Form und Formen der Kommunikation, die in ihnen inszeniert wird. Anhand eines dynamischen Kontextbegriffs wie dem von Auer lässt sich deutlich machen, was das Wesentliche am Sprechen ist, d.h. in welchem Sinne Kommunizieren ein Handeln ist: Es beruht auf implizit vorausgesetzten gemeinsamen Kontextualisierungen (und damit auf als gemeinsam vorausgesetztem Wissen), es schafft gleichzeitig neue gemeinsame kommunikative Kontexte (und damit Wissen, auch solches über einseitig vorgenommene Festlegungen oder gegenseitige Verpflichtungen) und verändert so zumindest die Basis für das weitere gegenseitige Handeln und hat eventuell Konsequenzen darüber hinaus. Die Äußerungen bzw. Sprechakten zugeschriebene Handlungscharakteristik lässt sich damit kurz so fassen: „A speech act is a function from contexts into contexts.“ (Gazdar 1981: 68 ff.; vgl. Levinson 2000: 300 ff.) 3 Kontexte in der Beschreibung von Sprache und Kommunikation Kontexte sind in der Semantik und der linguistischen Pragmatik systematisch in drei Schritten erschlossen worden: - in Semantik und Pragmatik in Zusammenhang mit der Rekonstruktion dessen, was mit einer Äußerung über die Welt ausgesagt wird, - in der Sprechakttheorie und der Theorie der konversationellen Implikaturen im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Handlungsfunktion und der aktuellen kommunikativen Bedeutung von Äußerungen, - in unterschiedlichen Zugängen (Höflichkeitsforschung, Text- und Fachtextlinguistik etc.) im Zusammenhang mit der Frage der Angemessenheit von Äußerungen. Nicht nur zur Begrifflichkeit 19 3.1 Kontexte und Wahrheitsbedingungen Die Bedeutung von Äußerungen, genauer: die Bedeutung von Sätzen ist wohl am intensivsten untersucht worden in den verschiedenen Spielarten der formalen Semantik. Die Grundidee ist die, dass Sätze Wahrheitsbedingungen formulieren, und dass das, was sie über die Welt aussagen, durch die Explikation dieser Wahrheitsbedingungen erfasst und ausgewiesen werden kann. Verfahren der formalen Semantik wurden entwickelt in der Logik und in Bezug auf künstliche Sprachen, dann aber rasch auf die Analyse natürlichsprachlicher Sätze angewendet und in die Linguistik übernommen, auch und gerade in Zusammenhang mit der Frage nach der Abgrenzung von Semantik und Pragmatik. Eine wirkungsmächtige Definition definiert Pragmatik als Untersuchung der (Gesamt-)Bedeutung einer Äußerung minus ihrer Wahrheitsbedingungen (vgl. Levinson 2000: 12 ff., die ursprüngliche Formulierung stammt von Gazdar). 12 Eine Schwierigkeit, die in der Analyse natürlichsprachlicher Sätze für jede formale Semantik sofort auftaucht, sind alle Formen deiktischer Ausdrücke. Information, die für die Explikation von Wahrheitsbedingungen von Äußerungen wesentlich ist, wird in solchen Ausdrücken nicht symbolisch gefasst, ist also nicht semantisch gegeben. Vielmehr enthält die Äußerung eine Art Suchanweisung; die Information muss durch die AdressatInnen aus der situativen Umgebung einer Äußerung rekonstruiert werden (zur Deixis und ihren unterschiedlichen Typen vgl. Levinson 2000: Kap. 2). Für eine formale Semantik ist die Aufhellung solcher semantischer „Leerstellen“ grundlegend, sie ist es auch für eine kommunikationsorientierte Analyse, denn nur so lässt sich explizieren, was in einer Äußerung ausgesagt wird und als ihr Gehalt unterstellt werden muss. Das Explikat - die vollständige Darstellung der Wahrheitsbedingungen einer Äußerung - nennt man Proposition. 13 Die formale Semantik ist ein wesentliches Werkzeug der Analyse auch von Äußerungen (so sieht es zumindest Levinson (2000: Kap. 3. u. 4). Allerdings scheint eine der entscheidenden Grundlagen, von der die meisten ihrer Modelle ausgehen, für natürlichsprachliche Kommunikation nicht zu gelten: Die Semantik von Sätzen lässt sich nicht autonom berechnen, ihre Wahrheitsbedingungen nicht direkt von den verwendeten sprachlichen Zeichen und ihrer syntaktischen Struktur her ableiten. Die (relativ leicht semantisch explizierbaren) Deiktika sind nicht die einzigen kontextabhängigen Elemente eines Satzes und nicht das einzige Ärgernis der Semantik. Dies deutet letztlich darauf hin, dass Semantik und Pragmatik sich nicht wie 12 Zur Gesamtbedeutung gehören über die ausgedrückte Proposition hinaus etwa Einstellungsbekundungen sowie die kommunikative Funktion (die „Illokution“ oder wie immer die entsprechende Größe terminologisch gefasst wird). 13 Für einen Überblick über die hier angesprochenen Bereiche, aber auch über viele darüber hinausgehende Themen der formalen Aussagen- und Sprachanalyse s. Chapman (2000). 20 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher vorgesehen trennen und in ein Abfolgeverhältnis bringen lassen, vielmehr müssen wir von einer fast unheilbaren Infiziertheit der Bedeutung dessen, was wir sagen, durch die jeweils aufgerufenen Kontexte der Rede ausgehen. Starke Argumente in diese Richtung bringen Gazdar (1981) und Johnson- Laird (1981) in einer offensichtlich an der Tradition formaler Semantik inspirierten Auseinandersetzung. 14 Gazdar merkt an, dass es möglich sei, für einen Satz wie (1) You will go home tomorrow generell die Wahrheitsbedingungen zu explizieren, dass damit aber noch keine Einsicht zu gewinnen sei in die Möglichkeiten, die Kommunizierende haben, wenn sie auf eine solche Äußerung reagieren. Diese Möglichkeiten hängen entscheidend davon ab, ob die Äußerung als Feststellung, Frage, Vorhersage oder Aufforderung verstanden wird. Formuliert man die entsprechenden Sprechakte aus, etwa in einem späteren Bericht des Angesprochenen über diese Äußerung, (2) John asserted that I would go home tomorrow (3) John predicted that I would go home tomorrow etc. so stellt sich heraus: These sentences could used to truly report some utterance by John of (1), but they do not have the same truth conditions despite the fact that what is being reported could be the utterance of the same sentence in each case. (Gazdar 1981: 65) Es scheint also, dass in diesem Falle die Interpretation der Illokution (um mit Searle zu reden) unabdingbar ist, wenn es darum geht, die Bedeutung von Äußerungen zu erfassen wie auch, zusätzlich, um die Wahrheit von Berichten über Äußerungen erfassen zu können. Noch vehementer stellt Johnson-Laird die Autonomie der Semantik in Frage. Die meisten semantischen Theorien assume that the meaning of any sentence can be established entirely independently from what it may refer to. This assumption of autonomy is self-evident because none of these theories has anything of substance to say about referential matters. Indeed, it is natural to assume that grasping the intension of an expression is a precursor to determining its extension because the intension is often treated as a function that delivers the extension. (Johnson-Laird 1981: 114) 15 Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt etwa Sätze mit dem Verb „lift“, so lässt sich keine Möglichkeit erkennen, kohärent die semantischen Selektionsrestriktionen für zugelassene Subjekte in „lift“-Konstruktionen zu erfassen. Die Verwendungsmöglichkeiten von „lift“ sind dafür zu divers 14 Strawson (1997) diskutiert, mit weniger linguistischem Detail, die gleichen Fragen. Er kommt zu ähnlichen, wenngleich mit weniger Entschiedenheit vorgetragenen Ergebnissen wie Gazdar und Johnson-Laird. 15 Vgl. die hier einschlägigen Hinweise von Gazdar (1979: 164 ff.). Nicht nur zur Begrifflichkeit 21 und unvorhersehbar, die Art und Weise, wie Subjekte in „lift“-Sätzen an dem Vorgang des Hebens beteiligt sind, sind nicht aus der Bedeutung des Verbs selbst ableitbar („Hot air lifted the balloon“; „The root lifted the earth“; „The magnet lifted the pins“; „The rope liftet the car“ etc.). Dies bedeutet aber, dass die Wahrheitsbedingungen für „lift“-Sätze nicht allein auf der Basis von Lexikon und Grammatik abgeleitet werden können. The principle underlying the interpretation of sentences is that a listener often has recourse, not to selectional restrictions, but to inferences based on factual knowledge about referents. It is necessary to know that hot air rises, that ropes can support weights, that roots grow, in order to infer that they can lift things; and this knowledge is hardly lexical, but directly concerns matters of fact. (Johnson-Laird 1981: 115) Analog argumentiert Johnson-Laird etwa im Hinblick auf die logischen Eigenschaften von „rechts von“. Dieser Ausdruck kann transitiv gebraucht werden - so dass, wenn B rechts von A und C rechts von B steht, C auch rechts von A steht. Allerdings ist diese Transitivität eine, die nicht am Wort, sondern an der Situation hängt, in der das Wort verwendet wird. Sitzen fünf Leute um einen runden Tisch herum, dann sitzt E letztlich eben nicht rechts von A, sondern links von A. Der Ausdruck „hat“ nicht die Eigenschaft, transitiv zu sein, vielmehr ermöglicht er es, eine mentale Repräsentation aufzubauen, aus welcher sich bestimmte logische Charakteristiken kontextuell ergeben (ebda.: 119). 16 Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine wesentliche Konsequenz: Im Zentrum einer psychologisch realistischen Theorie der Bedeutung steht nicht die unabhängige, durch die sprachlichen Zeichen allein oder zumindest vorhersehbar prädeterminierte Proposition, also ein Gefüge von Wahrheitsbedingungen, sondern etwas viel Konkreteres und Welthaltigeres, das mentale Modell, „an internal model of the state of affairs characterized by the sentence“. (Johnson-Laird 1981: 117) Und dieses Modell ist die Basis für viele Typen von Inferenzen, die Kommunizierenden möglich sind. Äußerungen geben Hinweise darauf, wie solche mentalen Modelle aufzubauen sind, aber diese beinhalten ebenso Informationen, die aus dem Vorwissen bzw. dem situativen Umfeld stammen und in einem mit dem „Textmodell“ relationierten „Kontext-Modell“ integriert sind. Das heißt aber auch: Es sind in vielen Fällen diese Kontexte, die die Lesart der sprachlichen Zeichen determinieren und damit das, was diese zum mentalen Modell beitragen. 17 Die 16 Würden wir zulassen, dass E (in transitiver Lesart von „rechts von“) in der Reihe A, B, C, D, E auch am runden Tisch „rechts von A“ sitzt, müssten wir, einen Schritt weiter gehend, das verblüffende Ergebnis akzeptieren, dass A letztlich rechts von sich selber zu sitzen kommt und, noch spukhafter, gleichzeitig auch links von sich selber sitzt, was auch die reduziertesten Bedeutungskerne von „rechts von/ links von“ schwer beschädigt. 17 In vielen Fällen liefern Wörter also bloß Bedeutungspotenziale, keine Bedeutungen. Vgl. dazu Searles Hinweise auf die Kontexte, die vorausgesetzt werden müssen, damit 22 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher Proposition ist in dieser Sichtweise nicht Voraussetzung der Interpretation, sondern Produkt einer bewusst unternommenen Rekonstruktion, die dem Bemühen geschuldet ist, aus dem Insgesamt einer Äußerung und ihrer Interpretation eine (im Rahmen einer Sprachgemeinschaft und der durch sie getragenen Traditionen) getätigte Sachverhaltsdarstellung zu destillieren, die dem/ der Sprechenden zurechenbar ist und in Bezug auf die er oder sie zur Verantwortung gezogen werden kann. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass die Proposition nicht die Basis für die Berechnung der Funktion einer Äußerung darstellt. 3.2 Kontexte und kommunikative Funktionen Die Sprechakttheorie und die Arbeiten von Grice - durchaus noch basierend auf Vorstellungen einer autonomen und formalen Semantik - haben einen wesentlichen Aspekt an Kommunikation zum Vorschein gebracht, der in den wahrheitswert-orientierten Semantiken systematisch ausgeklammert wurde: die kommunikative Funktion von Äußerungen. Dass jemand in einer bestimmten Situation etwa Bestimmtes sagt, ist jenseits des informativen Gehalts des Gesagten, aber nicht unabhängig davon, selbst ein interpretierbarer Sachverhalt. Dass zwei mal zwei vier sind, mag, als Satz, wahr sein - je nachdem, unter welchen Umständen dies gesagt wird, wird damit bei den AdressatInnen völlig Unterschiedliches bewirkt. Untersucht man Kommunikation als ein partnerorientiertes Handeln, ist gerade dieser Aspekt der situativen Eingebundenheit von Äußerungen und ihrer damit verbundenen Interpretierbarkeit von herausragender Bedeutung, und sie ist, folgt man den eben gegebenen Hinweisen auch für die Bestimmung der sog. Wahrheitsbedingungen von Bedeutung. 1) Searle In der Sprechakttheorie, v.a. bei Searle, wird die interpersonale Funktion von Äußerungen als Illokution gefasst - als eine typisierbare kommunikative „Rolle“ des Gesagten mit klarem pragmatischem Gehalt. Dieser ist - semantisch - in den Gebrauchsregeln von Sprechaktverben festgehalten. Solche Verben können denn auch (meist, allerdings nicht immer), verwendet werden, um die illokutionäre Rolle einer Äußerung zu indizieren. Dies geschieht in den sog. explizit performativen Konstruktionen vom Typ „Ich verspreche dir hiermit p“, mit denen sich die Sprechenden den Angesprochenen auf die Einhaltung der mit p ausgedrückten Handlung verpflichten. 18 Alternativ indizieren diese Verben in Berichtsäußerungen (typischer- ein so simples Verhältnis wie das durch „on“ angedeutete in einem Satz wie „The cat is on the mat“ richtig verstanden werden kann. (Searle 1982) 18 Solche explizit performativen Sprechakte sind nach Searle keine Berichte, sie stehen in der ersten Person Indikativ Aktiv und gelten als Explikation der mit der Äußerung vollzogenen Handlung, etwa der Verpflichtung des Sprechenden, in (einer zu spezi- Nicht nur zur Begrifflichkeit 23 weise in einem Vergangenheitstempus und oft in der 3. Person) die kommunikative Rolle einer Äußerung, ohne dass diese gleichzeitig durch die Berichtsäußerung selber vollzogen würde und unabhängig davon, ob diese Rolle in der originalen Äußerung explizit indiziert wurde oder nicht. Die Sprechakttheorie hat sich für die Thematisierung der Spezifik von Kommunikation in der Linguistik als äußerst fruchtbar erwiesen. Es gibt allerdings persistierende Schwierigkeiten bei der Anwendung der Theorie für die Analyse. Auf einige einschlägige Aspekte soll kurz näher eingegangen werden. - Die Sprechakttheorie ist sprachzentriert, und dies mit einer gewissen Berechtigung. Die Diskussion um die IFIDS - illocutionary force indicating devices - hat herausgestellt, dass es eine Vielzahl typischer sprachlicher Hinweise gibt, die den illokutionären Gehalt einer Äußerung aus ihrer Oberflächengestalt mehr oder weniger deutlich erkennbar machen, ohne ihn direkt zu bezeichnen. Dies ist ein fruchtbarer Ansatz, und wir werden in den nächsten Abschnitten deutlich zu machen versuchen, dass das indexikalische Potenzial von Ausdrücken nicht allein bei der Bestimmung der illokutionären Rolle einer Äußerung in Anschlag gebracht werden kann, sondern dass hier ein Prinzip zur Geltung kommt, das eine viel weitere Anwendung hat (vgl. Abschnitt 4). - Allerdings lässt sich aus der Form einer Äußerung bei weitem nicht immer auf die illokutionäre Rolle schließen. Und auch der propositionale Gehalt gibt nicht immer genügend Hinweise. Beispiele wie das mittlerweile sattsam bekannte „Der Hund ist bissig“ zeigen das: Der - sehr neutral formulierte - Satz kann als Warnung, Drohung, Versprechen, Feststellung usw. verstanden werden, je nach Situation. Und mit dieser Situation verändert sich, wie bereits im Anschluss an Gazdar angemerkt, die Art und Weise, wie auf die entsprechende Äußerung reagiert und wie über sie berichtet werden kann. Andererseits verändert auch die explizite sprachliche Indikation der illokutionären Rolle einer Äußerung nichts an der Kontextgebundenheit der Interpretation: Auch eine höflich formulierte Bitte kann ein strikter Befehl „sein“. Gegebenheiten der Kommunikationssituation können derart gewichtig in den Vordergrund treten, dass sie die Interpretation des verbalen Ausdrucks dominieren und nicht umgekehrt. Es gibt keine allein die Äußerung berücksichtigende kontextunabhängige Möglichkeit, ihre Rolle zu bestimmen. Über dieses fundamentale Faktum und darüber, was das für das Konzept der illokutionären Rolle bedeutet, sagt die Sprechakttheorie aber wenig. - Ein etwas anderer Blick auf Illokutionen wird ebenfalls nahegelegt, wenn das Erkennen illokutionärer Rollen nicht allein an die jeweiligen Äußerungen gebunden wird, sondern in den Rahmen der vor sich gehenden fizierenden) Zukunft eine nicht unbedingt erwartbare und für die Angesprochenen positive Handlung zu vollziehen. 24 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher Interaktion gestellt wird (ein Begriff übrigens, der in der Sprechakttheorie wenig Gewicht erhält). Sprechende haben es z.B. in der Hand, so „neutral“ zu formulieren, dass unklar bleibt, welche Rolle ihre Äußerung haben soll. In vielen Fällen spiegelt dies kein Unvermögen, sondern eine konversationelle Strategie - sie erlaubt es den Sprechenden, sich nicht festzulegen und lädt die AdressatInnen ein, eine für beide akzeptable Lesart mitzubestimmen und damit jene Eindeutigkeit herzustellen, die dem Konzept der Sprechakttheorie nach mit der Äußerung selbst schon gegeben sein sollte. Was Gazdar in Bezug auf seinen eigenen Beitrag sagt - „speech act assignments don’t really have any independent ontological status at all; they’re just hypothetical entities introduced to simplify the discussion“ (Gazdar 1981: 70) 19 - könnte damit auch in Bezug auf die Kommunizierenden und ihr Management des Austauschs gesagt werden: Es „gibt“ keine illokutionären Rollen, sie werden - wenn überhaupt - durch die Kommunizierenden zugewiesen, und es sind immer wieder Diskussionen gerade darüber zu beobachten, welche Rolle einer Äußerung nun „wirklich“ zuzuschreiben sei. Die Tatsache, dass es solche Diskussionen gibt, zeigt, dass dieses „wirklich“ konstruiert werden muss und nicht einfach gegeben ist. Noch stärker als das, was mit einer Äußerung über die „Welt der Gegenstände und Sachverhalte“ (Bühler) ausgesagt wird, ist die Funktion einer Äußerung für die Beteiligten von den Beteiligten selbst kontextuell zu bestimmen, und es ist nicht zu erwarten und für Kommunikation wohl auch nicht nötig, dass die beiderseitigen Resultate stets konvergieren. 2) Grice Einen anderen Weg als die Sprechakttheorie geht Grice mit seinem Kooperationsprinzip und den zugehörigen Maximen. Das Kooperationsprinzip verweist darauf, dass Kommunikation ohne ein minimales Grundvertrauen nicht funktionieren kann. Gesagtes muss als Kernpunkt des kooperativen kommunikativen Unterfangens in gewisser Weise ernst genommen werden können. Die vier Maximen sind nichts anderes als Anweisungen, Gesagtes unter unterschiedlichen Perspektiven mittels sprachlicher Indikatoren zu kontextualisieren (für Sprechende) bzw. Hinweise auf wesentliche Dimensionen, auf die hin die Passung von Gesagtem und Kontextualisiertem geprüft werden kann (für Angesprochene). Bleibt diese Prüfung zunächst ohne Erfolg, das heißt: wird das Geäußerte als unpassend beurteilt, wird das Verfahren der konversationellen Implikatur eingeleitet und aufgrund von An- 19 Vgl. dazu Gazdars (1979: Kap. 2) kritische Überprüfung der „performativen Hypothese“ der Generativen Semantik, die die Idee einer mit einer Äußerung gegebenen Illokution so realistisch genommen hat, dass sie diese auch in der Tiefenstruktur von Sätzen verankern wollte. Noch stärker argumentiert Levinson in seinen skeptischen Betrachtungen über den Status von Illokutionen und den Stellenwert der Sprechakttheorie für die Pragmatik (vgl. Levinson 2000: 306 f.). Nicht nur zur Begrifflichkeit 25 nahmen über als verlässlich unterstellte kommunikative Gegebenheiten das Gesagte uminterpretiert, bis eine passende Interpretation gefunden ist, die die mutmaßlich gemeinte Mitteilung des Sprechers/ der Sprecherin erfasst (oder bis der Punkt erreicht ist, an dem die Bemühung um Verstehen aufgegeben wird). Grice spricht nicht darüber, dass einer Äußerung eine bestimmte Illokution zugewiesen werden müsste oder gar, dass diese explizierbar sein müsste. Das Verstehen einer Äußerung besteht hier darin, das Gesagte zu verorten und eine zu den als einschlägig konstituierten Kontexten passende Intention des Sprechers/ der Sprecherin zu erkennen. Das Erkennen der Intention beinhaltet natürlich das Erkennen dessen, was Sprechende ihren Hörenden gegenüber bezwecken und damit das Erkennen der Funktion des Gesagten, allerdings wird diese bei Grice nicht in dem Maße terminologisch (in gewissem Sinne sogar ontologisch) vom „sachlichen“ Gehalt der Äußerung abgehoben wie in der Sprechakttheorie, auch nicht in der gleichen Weise typisiert. 20 Wenn auch der interaktive Charakter von Kommunikation und Interpretation und damit die potenziellen Bruchzonen der Verständigung bei Grice viel deutlicher zum Vorschein kommen als in der Sprechakttheorie, muss doch auf einige problematische Punkte hingewiesen werden: a) Grice geht davon aus - deutlich sichtbar an seiner Definition von Kommunikation - dass die Intention der Dreh- und Angelpunkt ist, um den es in der sprachlichen Interaktion geht. 21 Problematisch daran ist, dass etwas Vorkommunikatives, individuell Kognitives zum Movens der Kommunikation gemacht wird. Die Frage, wie sich daraus eine kommunikative Äußerung gewinnen lässt, gar eine, die dieser Intention gerecht wird und sie unverfälscht realisiert, berührt eine Vielzahl heikler sprach- und kommunikationstheoretischer Probleme. Unabhängig von dieser Diskussion wird die Vorstellung von Intention als erster, unabhängiger Variable von Kommunikation bereits durch jede Konversations- und Diskursanalyse zweifelhaft gemacht. Kommunikation zeichnet sich durch mehr aus als durch eine gegenseitige Offenbarung von individuellen Intentionen. Vielmehr liegt ihr ein differenzierter Apparat von Regularitäten, Zwängen, Gesprächs- und Textsorten zugrunde. Dieser beeinflusst auch das, was man als Intentionsbildung bezeichnen könnte - das Finden und Formen kommunikativ wirksamer Interventionen, deren individuelles kognitives „Gegebensein“ dann eben nicht als unabhängig 20 Man ist an Wittgensteins Diktum erinnert: „Wie viele Arten von Sätzen gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? - Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes: ...“ (Wittgenstein 1984, PU: § 23) 21 Vgl. Kellers Reformulierung der Kommunikationstheorie von Grice: Keller (1995: 105). 26 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher der Kommunikation vorgeordnet, sondern mit und aus ihr erwachsend beschrieben werden muss. b) Zu einem analogen Ergebnis führt die Frage, was es denn möglich macht, einen Akt der Kommunikation als „relevant“, „wahr/ aufrichtig“, der Maxime der Quantität oder der der Art und Weise gerecht werdend einzuschätzen. Die Suchkriterien, als die diese Maximen verstanden werden können, sind direkt und unvermittelt gar nicht einsetzbar. Was in Bezug auf einen Witz oder ein unverbindliches Gespräch unter Bekannten relevant ist, ist eine völlig andere Frage als die, was in Bezug auf ein Vorstellungsgespräch, einen Leitartikel, ein Verhör, einen Kriminalroman, ein juristisches Gutachten oder einen wissenschaftlichen Aufsatz relevant ist. Und Analoges lässt sich zu den anderen Maximen sagen, sofern man sie überhaupt für nötig hält. 22 Die Maximen verweisen so primär gar nicht auf einzelne Äußerungen, sondern auf das, was man als Kalibrierungsinstanzen bezeichnen könnte - auf Schemata, einerseits auf solche des Weltwissens, andererseits auf solche des kommunikativen Austauschs und damit auf die unterschiedlichen kommunikativen und literalen Praxen. 23 Kommunizierende greifen auf solches Hintergrundwissen zurück und beziehen aus ihnen die Kriterien für ein „richtiges“, erfolgreiches und kunstgerechtes Reden und Kommunizieren. Die Grice’schen Maximen verweisen ganz verallgemeinernd auf diese Kriterien - ohne sie ist gar nicht auszukommen, wenn etwa in Bezug auf Beispiele in der Linguistik oder auf Streitfälle in der ablaufenden Kommunikation expliziert werden muss, warum eine Äußerung im als gegeben konstituierten Kontext „relevant“ ist oder nicht. Die Eigencharakteristik des Weltwissens und der unterschiedlichen kommunikativen Praxen werden so erkennbar als Ankerpunkte der Kommunikation, und erst der Bezug auf sie erlaubt zu beschreiben, was wir eigentlich tun und woran wir uns orientieren, wenn wir kommunizieren und dabei unsere Kontext-Modelle aufbauen. c) Mit seinen Maximen formuliert Grice einen Zugang zur Kommunikation, der die Kommunizierenden explizit als EvaluatorInnen definiert: Sowohl ProduzentInnen wie RezipientInnen beurteilen den „Sitz“ einer Äußerung in ihrem Kontext und ziehen ihre Schlüsse daraus. Grice selber 22 Vgl. Sperber/ Wilson (1995), die meinen, mit einer einzigen Maxime, der der Relevanz, auskommen zu können. 23 Zum Begriff des Schemas und verwandter Begriffe (script, frame) vgl. Tannen (1993: 15 ff.). Was diese Begriffe verbindet, ist der mit ihnen gemachte Versuch, „structures of expectation“ zu benennen, die auf vergangener Erfahrung beruhen und aktiv in die Verarbeitung aktueller Erfahrung eingreifen. Wie weit in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung zwischen „Wissenschemata“ und „kommunikativen Schemata“ sauber gelingen kann, ist eine Frage, der hier nicht nachgegangen werden kann. Wichtig ist jedenfalls, dass diese Schemata trotz einer gewissen Stabilität nicht fix, sondern erfahrungsabhängig sind und damit als „active, developing patterns“ angesehen werden müssen. (Bartlett 1932, zitiert nach Tannen 1993: 16) Vgl. unten 4 und 5. Nicht nur zur Begrifflichkeit 27 verfolgt diesen Gedanken vorab im Hinblick auf die konversationelle Implikatur und die Frage, wie es möglich ist, dass etwas Gesagtes („Es zieht! “) unter bestimmten Bedingungen als Aufforderung, das Fenster zu schließen, interpretiert werden kann (und sogar so interpretiert werden soll). Das Augenmerk liegt hier ganz auf dem (nicht deklarierten, aber „gemeinten“) Gehalt des Implikatums und auf der Frage, wie es Sprechenden gelingen kann, derartige Neuinterpretationen mit großer Treffsicherheit anzusteuern. Der Gedanke ist fruchtbar, und er ist verallgemeinerbar. Nicht nur sind solche Evaluationen auch dann anzusetzen, wenn eine Äußerung nicht-implikativ interpretiert wird (auch in diesem Falle ist ihre Passung zu beurteilen - es ist ja erst die Erkennung ihres Nicht-Passens, die die Implikatur auslöst), es gibt auch gute Gründe dafür anzunehmen, dass Evaluationen auch anderer Art anzusetzen sind und mit zum anerkannten Bestand der Kommunikation gehören, sichtbar daran, dass ProduzentInnen ganz selbstverständlich mit ihnen rechnen und RezipientInnen gar nicht umhin kommen, sie zu vollziehen. Dieser Aspekt soll im nächsten Abschnitt unter dem Begriff der Angemessenheit und der Akzeptabilität abgehandelt werden. 24 3.3 Angemessenheit In den letzten Jahren hat ein Aspekt an Kommunikation in unterschiedlichen Bereichen der Linguistik immer mehr Aufmerksamkeit gefunden, den wir hier mangels eines eingeführten Begriffs als „Angemessenheit“ bzw. „Akzeptabilität“ bezeichnen. Kommunizieren beschränkt sich nicht darauf, etwas über die Welt auszusagen und dieser Aussage eine Funktion im sozialen Raum der Interaktion zu geben. Der Hinweis auf kommunikative und literale Praxen verweist implizit schon auf eine dritte, zusätzliche Dimension. Was jemand sagt, muss angemessen und akzeptierbar sein, und Akzeptierbarkeit umfasst mehr als Verständlichkeit des Inhalts und Funktionalität im Sinne der Erkennbarkeit von Intentionen resp. illokutionären Rollen, denn „[d]ie Sprachkompetenz, die ausreicht, um Sätze zu bilden, kann völlig unzureichend sein, um Sätze zu bilden, auf die gehört wird“. (Bourdieu 1990: 32; Hervorhebung im Original) Wir werden diesem Sachverhalt, der einen wichtigen Aspekt des Wechselspiels von Text und Kontext widerspiegelt, in zwei Richtungen kurz nachgehen: in Bezug auf die Höflichkeitstheorie und in Bezug auf die Fachtextlinguistik, insbesondere auf Untersuchungen zum wissenschaftlichen Schreiben. 24 Man könnte die Maxime der Art und Weise und vielleicht auch die der Quantität interpretieren als solche, die auf eine derartige weiter gefasste Dimension der Angemessenheit abzielen. Die Diskussion, die ein so umsichtiger Wissenschaftler wie Gazdar (1979: Kap. 3) den Maximen widmet, lässt allerdings nicht erkennen, dass von Grice oder anderen in seiner Nachfolge eine solche Ausweitung angestrebt wäre. Die Maximen werden allein auf ihre Rolle für das inhaltliche und funktionale Verstehen des Gemeinten hin konzeptualisiert. 28 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher 1) Höflichkeit Höflichkeit spielt eine Rolle v.a. im direkten mündlichen Kontakt und in Texten, die an konkrete Personen bzw. Institutionen gerichtet sind. Akzeptiert man das Konzept der Höflichkeit als für die Kommunikation relevant, so muss den bisher diskutierten Facetten an Kommunikation eine neue hinzugefügt werden. Höflich zu reden - oder besser: höflich reden zu müssen fordert in sehr vielen Situationen ein Verhalten, das der klaren Artikulation von partnerbezogenen Intentionen entgegensteht. Der Zwang, das negative und das positive Gesicht der AdressatInnen (und damit ihre persönliche Integrität, ihre soziale Position, ihren Status, thematische und interaktionale Tabus etc.) mit ins Redekalkül einzubeziehen, erweist sich als machtvoller Faktor, der personale Kommunikation grundlegend prägt. 25 Der dabei wirkende Mechanismus lässt sich vereinfacht so fassen: Je mehr Höflichkeit gefordert wird, desto deutlicher muss der Spielraum der Angesprochenen respektiert werden, desto größerer Aufwand muss betrieben werden, um das eigene Reden nicht als unzulässigen Eingriff in deren Sphäre erscheinen zu lassen, und dies bedeutet für Sprechende, das Urteil über die Zulässigkeit von Gesprächsthemen oder die Bedeutung und die Dringlichkeit von Bitten etc. nicht selbst zu vollziehen, sondern den Angesprochenen zu überlassen. In den Begründungen für das Auftreten von konversationellen Implikaturen oder indirekten Sprechakten wird der Zusammenhang dieser kommunikativen Strategien mit dem Bestreben nach Höflichkeit durchaus anerkannt, ja, diese können geradezu als prototypisch für höfliches Reden (wenn auch nicht nur dafür) gesehen werden. Es lohnt sich allerdings, einige Aspekte zu explizieren, die in solchen generellen Aussagen allzu implizit bleiben. - Höflichkeit ist nicht nur eine Sache des gefälligen Formulierens. Sie beschränkt das, was inhaltlich in einer bestimmten Situation überhaupt gesagt und was funktional gegenüber den AdressatInnen bezweckt werden kann. Sie ist damit ein machtvoller Faktor, der die Bildung von kommunikativen Intentionen beeinflusst und formt - analog zu den oben angesprochenen kommunikativen Praxen und im Verein mit ihnen. - Die Untersuchungen zur Höflichkeit machen auf etwas aufmerksam, was in den meisten Analysen der Kommunikation, zumindest in den bisher besprochenen, höchstens unausgesprochen mitläuft. Die Kommunizierenden wissen nicht nur, dass Äußerungen inhaltlich und ihrer Funktion nach interpretierbar sind und interpretiert werden, sondern auch, dass sie bewertet werden. Die Angst davor, unhöflich zu wirken, ist keine Angst davor, nicht verstanden zu werden. Es ist die Angst davor, seine Äußerung nicht positiv bewertet zu sehen. Kommunikativ zu handeln bedeutet auch, so etwas wie einem kommunikativen Bonus hinterher zu sein und einen kommunikativen Malus so weit wie möglich zu ver- 25 Brown/ Levinson (1987: 61 ff.). Nicht nur zur Begrifflichkeit 29 meiden. Wie vieles in der Kommunikation ist auch dieses Streben strategisch ausnutzbar, wenn auch mit zusätzlichem Risiko. Strategien übermäßiger Höflichkeit können gewinnend, aber auch leicht lächerlich wirken; Strategien der Direktheit und des Bruchs mit Konventionen sind „stark“, aber auch potenziell verletzend. 26 - Gerade höfliches Sprechen macht deutlich, wie sehr das sprachliche Handeln auf einer Grundlage antrainierten Verhaltens aufruht. Die in der Diskussion um Sprechaktrealisationen diskutierten Hedges, Softeners etc. bilden ein Inventar an Formeln, die uns fast automatisch zur Verfügung stehen und die nicht zu verwenden bewusste Aufmerksamkeit und Planung erfordert. Die (subkulturell unterschiedlichen) Stile der Höflichkeit im Miteinander-Umgehen entspringen keiner Intention, sondern sind weitgehend vorgegeben. Sie gehören zu den meist nicht weiter beachteten und reflektierten Selbstverständlichkeiten des kommunikativen Tuns - sie stellen die Formen bereit, derer sich die Kommunizierenden bedienen müssen, wenn sie kommunikativ agieren. In diesem Sinne sind höfliche Formen des Sprechens auch Ausweis der Zugehörigkeit und ebenso Mittel der Bildung und der Pflege von Gesellschaftlichkeit. 27 Analoges könnte zu weiteren Formen eingelebter sprachlich-kommunikativer Gepflogenheiten gesagt werden. Höflichkeit ist ein kaum hintergehbares Prinzip des direkten Austauschs. Allerdings sind die Ansprüche an höfliches Verhalten letztlich nicht unabhängig festlegbar - für sie gilt Ähnliches wie für die Maximen von Grice. Im Verkehr untereinander interpretieren dieselben Personen die Normen der Höflichkeit im Rahmen unterschiedlicher kommunikativer Praxen auf jeweils andere Weise, etwa wenn sie im beruflichen Rahmen, an einem Tisch 26 Es würde sich lohnen, diesen Gedanken über den Bereich der Höflichkeit hinaus zu verfolgen. Ein Punkt, der hier in Anschlag gebracht werden könnte, ist die linguistisch noch kaum erfasste Beobachtung, dass Kommunizierende in sehr vielen Formen der Kommunikation ganz offensichtlich witzige, ironische, prägnante Beiträge zu machen versuchen bzw. solche Beiträge anerkennend vermerken. Was damit für das Verständnis des Mitgeteilten bewirkt wird, müsste näher untersucht werden, deutlich scheint zumindest dies zu sein, dass damit die Aufmerksamkeit der AdressatInnen auf das Gesagte verstärkt wird und die so Sprechenden damit rechnen können, für gelungene solche Beiträge honoriert zu werden - merkbar häufig daran, dass Beiträge dieser Art verbal oder nonverbal kommentiert, von anderen wieder aufgenommen bzw. variiert und weitergeführt werden. 27 Zu dieser Interpretation passt, dass bewusste Spracherziehung in der familiären Sozialisation vielleicht mehr als alles andere Höflichkeitserziehung ist. Dies ist kein Zufall, geht es hier doch um die Sphäre sozialer Akzeptanz und die Einübung in den Umgang mit grundlegenden Ansprüchen (der Einzelnen an die Gemeinschaft wie auch umgekehrt). Ebenfalls kein Zufall ist sicherlich, dass der Terminus „Verhalten“ gerade im Hinblick auf höfliches/ unhöfliches Sprechen auch in der Alltagssprache immer wieder verwendet wird - ein Hinweis darauf, dass hier im Sprachhandeln deutlich unterschieden wird zwischen dem Aspekt der Mitteilung und dem seiner Angemessenheit. 30 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher im Karnevalszelt, auf einer Party oder einer Hochzeit zusammentreffen. Die mit diesen Wechseln verbundene Veränderung der Anlässe, Themen und Ziele von Kontakten bestimmt, was in ihnen auf dem Spiel steht, wie demgemäß die Ansprüche an höfliches Reden zu bemessen sind und welches die Domänen sind, die den Hintergrund für die jeweiligen Kontextualisierungen der Sprechenden abgeben. 2) Wissenschaftliches Schreiben Im wissenschaftlichen Schreiben (wie auch in anderen Formen des professionellen Schreibens) ist Höflichkeit eine untergeordnete Kategorie. Angemessenheit spielt trotzdem eine entscheidende Rolle, allerdings bemisst sie sich anhand von bereichsspezifischen Kriterien des Redens. Was, in wissenschaftlichen Kategorien, „Sache“ ist, steht nicht von vornherein fest, es ist sicherlich nichts in der Alltagserfahrung Vorfindbares. Es wird erzeugt mit und im fachlichen Reden darüber. Was beispielsweise Laien über ihre Krankheit sagen, entscheidet nicht darüber, wie der Arzt den Fall in Termini seiner Expertise und seines Wissens bestimmt. Dafür sind andere Indikatoren (etwa die Resultate direkter Untersuchung und von Labortests etc.) viel entscheidender - sie bestimmen darüber, welches die medizinische Realität eines Symptoms oder einer Erkrankung ist. 28 Diese Verselbständigung von Wissensbereichen zeigt sich in den Regeln und Gepflogenheiten wissenschaftlichen Redens und Schreibens, die im Zuge einer wissenschaftlichen Ausbildung zusammen mit den Fachkenntnissen und als Teil von ihnen erworben werden müssen. 29 Fortschritte zeigen sich dabei in der Übernahme bzw. Nachbildung von Redeweisen, wie sie innerhalb einer Disziplin üblich sind, wobei es in mancherlei Hinsicht gerade nicht die (im Alltagssinn) leicht verständlichen, sondern gerade die dem Usus entsprechenden „komplizierten“ Formulierungen sind, die im sprachlichen Markt (vgl. Bourdieu 1990: 45 ff.) einer Wissenschaftsdisziplin als angemessen bewertet werden - ein Hinweis darauf, wie zentral das Signalement der Autonomie der jeweiligen Disziplin für die interne Kommunikation ist. Wenn man so will, kann man hier Analogien zu den durch die Verpflichtung zur Höflichkeit erzwungenen Sprechweisen erkennen. Je kanonischer die Texte formuliert werden, desto „wissenschaftlicher“ klingen sie und desto wissenschaftlicher „sind“ sie, zumindest in dem Sinne, dass die in ihnen gemachten Aussagen erkennbar sind als wissenschaftliche Aussagen, und sie heben sich dadurch ab von populärwissenschaftlichen Texten oder bloßen Meinungsäußerungen. Sie können daher jene Aufmerksamkeit und jene kritische Lektüre beanspruchen, wie sie solchen Texten 28 Ein Aspekt dieser disziplinären Autonomie ist, dass fehlerhafte Aufzeichnungen in einer Krankengeschichte auf Betreiben des Patienten selbst nur schwer zu verändern sind. Als Patient hat er keine Kompetenz zur Definition der ihn betreffenden Diagnosen. 29 Siehe Steinhoff in diesem Band und 2007. Nicht nur zur Begrifflichkeit 31 und ihrer auf der angemessenen Formulierung beruhenden Tauglichkeit für den „sprachlichen Markt“ der Wissenschaft eben zukommt. Die gute Form ist nichts Äußerliches, sondern zeigt, dass die für die Disziplin relevanten Perspektiven und Darstellungsaufgaben dem Autor/ der Autorin bekannt und von ihm/ ihr anerkannt sind. Dies erlaubt es den Lesenden, den Text als Bestandteil des fachlichen Diskurses zu behandeln, ihre fachlichen Orientierungen auf ihn zu übertragen und ihn im fachlichen Kontext zu bewerten. Zusammenfassend lässt sich zu diesem Punkt sagen: Urteile über Angemessenheit gehören notwendig zum Kommunizieren, und die Kommunizierenden wissen darum. Diese Urteile beeinflussen auch - häufig explizit, manchmal weniger deutlich merkbar - die Folgeäußerungen, und zwar auf beiden Seiten. ProduzentInnen können einer eher zweifelhaften Äußerung andere, bekräftigende oder relativierende, folgen lassen, RezipientInnen werden ihre Urteile in ihre Reaktionen einfließen lassen. 30 Wie in anderen Bereichen geht es einer linguistischen Beschreibung auch in Bezug auf Angemessenheit vorab um nachvollziehbare und argumentierbare Bewertungen, die im Rahmen eingelebter kommunikativer Praxen und Usancen des Umgangs erwartbar sind und von den Kommunizierenden zumindest zum Teil auch eingefordert werden können. Natürlich werden die Einzelnen darüber hinaus immer wieder über die Gründe für bestimmte Äußerungen nachgrübeln, bei ihren PartnerInnen Strategien und Tricks vermuten oder das Gesagte im Hinblick auf untergründige Botschaften interpretieren. Dies ist allen Beteiligten bekannt, allerdings verlassen wir damit den Bereich dessen, was im hier verwendeten Sinne Gegenstand der Kommunikation ist, ebenso wie den Bereich dessen, was kommunikationstheoretisch noch einholbar ist. 3.4 Vorläufiges Fazit Wir sind in diesem Abschnitt auf einige Konzepte eingegangen, die wegweisend den linguistischen Zugang zu Pragmatik und Kommunikation geprägt haben und ihn bis heute prägen. Die Auseinandersetzung hat sich auf einige wenige Punkte konzentriert. Ziel war, das Thema der Kontextbezogenheit kommunikativen Handelns anhand der Fragestellungen zu explizieren, die mit den herkömmlichen Begriffen mitlaufen und die sich als weitgehend brauchbar, wenn auch in vielerlei Hinsicht als revisionsbedürftig erwiesen haben. Insbesondere haben wir darauf hingewiesen, - dass eine enge, von einer selbständigen sprachlichen Bedeutung von Äußerungen ausgehende Betrachtungsweise wesentliche Aspekte an Sprache wie an Kommunikation nicht zu fassen vermag, und 30 Dies braucht nicht unbedingt zu expliziter metakommunikativer Thematisierung zu führen. Zu themenbezogenen Evaluationen im Rahmen von Gesprächen vgl. Goodwin/ Goodwin (1992). 32 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher - dass die seit Austin und Searle gängige Ansicht, die kommunikative Bedeutung von Äußerungen ließe sich als propositional-illokutionäre Doppelstruktur erfassen, zumindest ein wesentliches Charakteristikum von Kommunikation nicht zu beschreiben erlaubt. Zum ersten Punkt: Die Öffnung der Semantik-Pragmatik-Dichotomie verändert radikal die Art und Weise, wie über Kommunikation überhaupt nachgedacht werden kann. Sie führt dazu, dass Kontexte in dem hier verwendeten Sinn von Anfang an und potenziell überall ins Spiel kommen. Dies entspricht durchaus dem Common Sense, der sich in den letzten Jahren in einigen Bereichen der Linguistik (jedoch längst nicht in allen) etabliert hat. Die damit verbundene Situation ist allerdings höchst unübersichtlich. Der Stellenwert, der nun den Kontexten sowie interaktionalen und strategischen Verfahren in der Kommunikation zugestanden wird, macht einen systematischen Aufriss von Interpretationsschritten und Zwischenresultaten (wie etwa in der Folge Lokution - Proposition - Illokution - indirekt signalisierte Illokution) fast unmöglich. Welche geregelten Verfahren könnten denn nachvollziehbar dafür sorgen, dass Äußerungen und Kontexte zueinander finden, wenn nicht eine kompakte, sprachlich verbürgte Bedeutung die notwendige Basis dafür liefert? Wir werden im nächsten Abschnitt auf einige Konzepte eingehen, die hier Neuland beschreiten und versprechen, genuin pragmatische Erklärungen zu geben, die eine neue Sicht auf Kommunikation zu einer plausiblen Alternative machen. Zum zweiten Punkt: Die bekannten und wirkungsmächtigen Modellierungen von Kommunikation in der Nachfolge von Searle und Grice sind unvollständig. Ihr Interesse gilt der Frage, wie auf der Basis von Aussagen, die Wahrheitsbedingungen definieren, kommuniziert werden kann. Die Antworten (Zuweisung von illokutionären Rollen bzw. kontextuelle Verankerung auf der Basis von Maximen) zeigen die notwendigen Bedingungen dafür auf, dass Aussagen über die Welt als partnerbezogenes Handeln interpretiert werden können. Die oben gegebenen Hinweise haben gezeigt, dass und warum damit Kommunikation nicht hinreichend erfasst werden kann: Die autonomen Dimensionen von Kommunikation als einem in und durch soziale Aktivität geformten Tun bleiben ausgeklammert. Sie werden zwar ansatzweise als Begleitumstände in der Untersuchung von Formen indirekten Redens sichtbar, sie werden aber nicht als eigenständige Dimension des kommunikativen Geschehens begrifflich gefasst. 31 Was jemand sagt, bedeutet nicht nur etwas, es signalisiert auch Zugehörigkeit und zeugt von Takt bzw. Expertise (oder vom Gegenteil). Die Hinweise zur Höflichkeit und zum wissenschaftlichen Schreiben haben gezeigt, wie wenig marginal dieser Gesichtspunkt ist - er ist einer der zentralen konstituierenden Faktoren kommunikativer Beziehungen bzw. wissenschaftlichen Redens und Den- 31 Es ist sicherlich kein Zufall, dass die grundlegende Begrifflichkeit in diesen Ansätzen fast ausschließlich aus der Analyse von Einzeläußerungen gewonnen wurde. Nicht nur zur Begrifflichkeit 33 kens überhaupt. Er kann allerdings bei einer primär semantisch fundierten Untersuchung kaum zum Vorschein kommen, sondern eröffnet sich erst einer genuin pragmatischen Analyse. Mit einem solchen Zugang ist dann auch der Punkt erreicht, von dem aus die Gleichzeitigkeit von Verhalten und Handeln im kommunikativen Tun erschlossen werden kann, ohne dass darin ein Widerspruch gesehen werden muss. 32 4 Wie kommen Äußerungen zu ihren Kontexten? Kontexte sind von Anfang an unverzichtbare Ingredienzien in der Interpretation von Äußerungen. Im Folgenden geht es um die prinzipielle Klärung der Frage, wie in Äußerungen signalisiert wird, welche Kontexte und auf welche Weise sie ausgehend vom Gesagten zu konstituieren sind, nicht jedoch um ein psychologisch realistisches Modell dieses Prozesses. Und es geht (da wir es mit einem Verhältnis zu tun haben) auch darum, wie einmal konstituierte Kontexte die Kommunizierenden in ihren kommunikativen Aktivitäten lenken. Wir haben schon eingangs darauf verwiesen, dass Schlüsse oder Inferenzen die Brücke zwischen Äußerungen und Kontexten bilden. In der formalen Semantik werden unterschiedliche Typen von Schlüssen unterschieden, je nachdem, auf welche Weise sie die Äußerung resp. das darauf basierende mentale Modell oder die mit ihr ausgedrückte Proposition als Basis nehmen. Um die wichtigsten zu nennen: logische Folge, Präsupposition, konventionelle Implikatur, konversationelle Implikatur (vgl. Levinson 2000: Kap. 3. u. 4). Am meisten Interesse haben in der pragmatisch orientierten Linguistik die konversationellen Implikaturen (in der Sprechakttheorie: die indirekten Sprechakte) geweckt, die ohne Ausnahme eine auffällige Kontextkonstruktion verlangen und damit die Verbindung von semantischen und pragmatischen Gesichtspunkten prototypisch sichtbar machen. 33 Sie basieren allerdings, genau so wie die anderen Schlusstypen, auf der Interpretation einer Äußerung, also auf bereits vollzogenen Verstehensakten. Wenn nun, wie in 3.1 ausgeführt, häufig oder sogar stets diese Verstehensakte selbst schon pragmatisch infiziert sind und die Bedeutung des Gesagten nicht innersprachlich abgeleitet werden kann, wiederholt sich die 32 Die Schnelligkeit der Produktion und Rezeption im kommunikativen Austausch kann auch psychologisch eigentlich nur auf der Basis einer Theorie des Sprachverhaltens erklärt werden. Die extreme Verlangsamung, die sich bei einer Entautomatisierung ergibt (etwa im Gebrauch von Fremdsprachen, im Schreibenlernen und in allen anspruchsvollen Formen des Schreibens überhaupt) zeugt davon, welche Konsequenzen es hat, wenn der Anteil des „Handelns“ im Sprachgebrauch erhöht wird, sei es, weil Verhaltensschemata noch kaum aufgebaut sind, sei es, weil sie für sich allein zu schwach sind, um durchgängig eine rhythmische und temporeiche Produktion aufrecht zu erhalten. 33 Vgl. den Unterschied von generellen Implikaturen und partikulären (Levinson 2000: 138 ff.). 34 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher Frage: Wie werden Äußerungen in Kontakt gebracht mit den pragmatischkontextuellen Faktoren? Damit rückt die Arbeit einer ganz anderen Tradition der Kommunikationsanalyse ins Blickfeld. Gesprächsanalyse, Soziolinguistik, Ethnographie der Kommunikation haben die Frage in den Vordergrund gestellt, wie sich Kommunizierende ins Spiel bringen, wie sie den kommunikativen Austausch organisieren und wie sie den Stellenwert ihrer Beiträge und deren Bedeutung aushandeln. Zu den Aspekten, die zu einer Beschreibung in diesem Bereich gehören, zählen letztlich auch Schlüsse wie die eben genannten. In den Untersuchungen dieser Disziplinen rückt jedoch auch eine ganze Klasse von sprachlichen Hinweisen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die nicht allein auf semantischer Basis funktionieren. 34 In diesen Ansätzen ist ein guter Teil der Annahmen, die wir im letzten Abschnitt in der Auseinandersetzung mit Begriffen der von der formalen Semantik und Sprachphilosophie herkommenden Ansätzen herausgearbeitet haben, explizit formuliert oder in den Grundannahmen über Kommunikation impliziert. Darauf ist hier nicht wieder einzugehen. Wir beschränken uns im Folgenden auf die zusätzlichen Aufschlüsse, die die Berücksichtigung der eben angesprochenen Gruppe von Hinweisen zu geben verspricht. 4.1 Kontextualisierungshinweise Kontextualisierungshinweise - und damit auch „contextualization cues“, wie Gumperz sie beschreibt 35 - werden eingesetzt, um RezipientInnen zu signalisieren, welche Kontexte sie aufrufen bzw. konstituieren sollen, um eine Äußerung, ihre kommunikative Funktion und ihren Sinn zu interpretieren. 36 Im Gespräch dienen sie der Organisation von Sprecherwechsel, der „Inszenierung“ des Gesagten, dem Signalement von Einstellungen etc., aber auch der Aktivierung von Wissensbeständen, der Kenntlichmachung und Bestätigung des Typs kommunikativer Aktivität, der Kenntlichmachung von Kohärenz, der Signalisierung der kommunikativen Funktion etc. Viele dieser Hinweise erfolgen speziell in mündlicher Kommunikation auch auf nonverbaler oder paraverbaler Ebene. Dazu und zu den Mitteln 34 Auf solche Aspekte an Äußerungen ist, wie schon angemerkt, auch die sprechakttheoretische Diskussion um die IFIDs gestoßen, allerdings ohne das Potenzial dieses Gesichtspunktes auszuloten. 35 Gumperz (vgl. 1992: 50) meint, die Extension seines Begriffs der „contextualization cues“ einschränkend: „[…] they are not lexically based in the sense that they do not have the phonological substance of words.“ Er analysiert daher nur die kontextualisierende Funktion von sprachlichen Merkmalen wie z.B. die Verwendung einer bestimmten Varietät oder den Einsatz eines betonenden Akzents an einer bestimmten Stelle. Wörter oder Phrasen, die aus unserer Sicht ebenfalls „trigger“ für Kontextualisierungen sein können und die wir daher auch zu den Kontextualisierungshinweisen zählen, schließt er hingegen definitorisch aus. 36 Vgl. dazu Auer (1992: 25) und allgemein 21 ff., wo er einiges zur Genese des Konzepts anmerkt. Nicht nur zur Begrifflichkeit 35 der Gesprächsorganisation im Allgemeinen ist hier wenig zu sagen. Vielmehr geht es uns um die sprachlichen Kontextualisierungshinweise, wobei das Augenmerk auf jenen liegt, die auch im schriftlichen Bereich eine Rolle spielen. Grundsätzlich stellt Gumperz (1982: 131) fest: „Roughly speaking, a contextualization cue is any feature of linguistic form that contributes to the signalling of contextual presuppositions.“ Kontextualisierungshinweise erscheinen dieser Definition zufolge formal in unterschiedlichen Ausprägungen, alle jedoch zielen auf etwas ab, das in der Äußerung implizit bleibt. Es ist daher aus dieser Sicht nur folgerichtig, wenn Gumperz (1982: 131 f.) meint: „Unlike words that can be discussed out of context, the meanings of contextualization cues are implicit. […] Their signalling value depends on the participants’ tacit awareness of their meaningfulness.” Die Gültigkeit dieses Postulats ist für so typische Kontextualisierungshinweise wie die von Gumperz analysierten dialektalen oder intonatorischen Merkmale von Gesprächsbeiträgen - also „contextualization cues“ im (engeren) Verständnis von Gumperz - unstrittig. Wenn man den Begriff jedoch weiter fasst, erkennt man, dass es auch mehr oder weniger explizite sprachliche Hinweise zur Kontextualisierung - etwa in Form einer metadiskursiven Rahmung - gibt, wie sie z.B. durch eine Übertitelung einer Zeitungsseite mit dem Wort „Witze“ erfolgt. Ähnlich explizit, wenn auch elliptisch, wäre die Einleitung einer (Witz-)Erzählung durch: „Kennst du schon den? “, wobei hier aber zum expliziten Kontextualisierungshinweis ein impliziter durch eine idiomatische Prägung 37 hinzukommt. Noch deutlicher ist der Unterschied zwischen expliziter und impliziter Kontextualisierung in Hinblick auf eine metadiskursive Rahmung, wenn ein Text den Titel „Märchen“ (explizite Kontextualisierung mittels Textsortenbezeichnung) trägt und mit: „Es war einmal …“ - also einer impliziten Kontextualisierung mittels idiomatischer Prägung ohne Nennung des Rahmens - beginnt. 38 Man kann demnach Kontextualisierungshinweise unterschiedlichen Grades an Explizitheit unterscheiden, allen gemeinsam ist jedoch, dass sie im Grunde auf einer indexikalischen Relation zwischen Hinweis und als Kontext aufgerufenem Wissen beruhen. Sie funktionieren aufgrund einer „Kontiguität“ dieser sprachlichen Mittel mit bestimmten Themen, kommunikativen Praktiken (Textsorten, Gesprächssorten) und wohl auch mit bestimmten interaktionalen Routinen. Sie erlauben es, durch ihren bloßen 37 Zu idiomatischen Prägungen und ihrer kontextualisierenden Funktion siehe weiter unten in diesem Kapitel. 38 Dass man mit einer sowohl expliziten als auch impliziten metadiskursiven Rahmung auch spielen kann, zeigt der Beginn der in eine Geschichte verpackten, theoretisch fundierten Darstellung des (hypothetischen) Ursprungs der menschlichen Sprache durch Rudi Keller (1994: 37): „Ich werde eine Geschichte erzählen, ein Märchen von einem Affenmenschen. […] Es war einmal eine Horde von Affenmenschen. […]“ (Hervorhebungen von uns). 36 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher Gebrauch diese weiteren Kontexte zu evozieren, in einem gewissen Sinne repräsentieren sie diese sogar. Allerdings tun dies nur die expliziten metadiskursiven Rahmungen aufgrund ihrer denotativen Potenzen. Idiomatische Prägungen erbringen ihre kontextualisierende Wirkung nicht über ihre denotative Bedeutung (die sie auch haben), sondern vielmehr über die Konnotation ihres usuellen Gebrauchs, was wiederum eine indexikalische Relationierung darstellt, während die „contextualization cues“ von Gumperz über keine dekontextualisierte Bedeutung verfügen. 39 Im Einzelnen können unterschiedliche sprachliche Mittel den/ die RezipientIn zu Kontextualisierungen anregen. Einige davon sollen exemplarisch hier kurz beschrieben werden, ohne dass jedoch ein Anspruch auf Vollständigkeit der Auflistung erhoben wird: 40 - Stil: Die stilistische Gestaltung einer Äußerung zählt Auer (1992: 24) in Anlehnung an Gumperz als eine Form der „linguistic variation“ - gemeint ist der Gebrauch einer Sprachvarietät - zu den „contextualization cues“. Allerdings sind Stile von anderen Varietäten dadurch zu unterscheiden, dass sie nicht wie z.B. Dialekte oder Soziolekte unter bestimmten Umständen grundsätzlich erwartbar, sondern prinzipiell frei wählbar sind (vgl. Sandig 2006: 2), 41 wenngleich die Interpretation einer Kommunikationssituation den Kommunizierenden im Allgemeinen eine bestimmte, „passende“ stilistische Gestaltung ihrer Beiträge nahe legt. Diese relative Gestaltungsfreiheit von Stilen erhöht ihr Kontextualisierungspotenzial: „[E]in Situations-Kontext, der gegeben ist, definiert zwar einen Stil (oder mehrere Stile) vor, macht Stil(e) erwartbar; der gewählte Stil kann aber auch den Kontext verändern, er ‚definiert‘ dann den Kontext, stellt ihn her.“ (Sandig 2006: 127) Beispielsweise kann ein Vortragender während einer sprachstilistisch formell gehaltenen Vorlesung durch einen Wechsel in einen informelleren, von umgangssprachlichen Elementen durchsetzten Stil anzeigen, dass er gerade einen Scherz macht, der eine nicht-institutionsrelevante Passage im Rahmen der Vorlesung darstellt. Mittels dieser stilistischen Variation wird dieser Teil der Vorlesung vom Rest abgehoben und zugleich anders kontextualisiert. 42 39 Vgl. Auer (1992: 30), der vom „non-referential character of contextualization cues“ spricht, sich damit aber eben nur auf diese von Gumperz definierte Gruppe von Kontextualisierungshinweisen bezieht - und im Übrigen damit auch Deiktika ausschließt (vgl. Auer 1992: 25). 40 Wir beschränken uns hier außerdem auf für schriftliche Kommunikation relevante Kontextualisierungshinweise und verzichten auf eine nochmalige Nennung und Beschreibung metadiskursiver Rahmungen. 41 Anzumerken ist hier, dass natürlich auch dialektale oder soziolektale Eigenheiten als stilistische Gestaltungsmittel im Sinne Sandigs herangezogen werden können. 42 Zum textrhetorischen Einsatz stilistischer Variation in Entschuldigungsmails von Studierenden vgl. Weidacher in diesem Band. Nicht nur zur Begrifflichkeit 37 - Anredeformen: Soziale Deixis (vgl. z.B. Saeed 1997: 179 f.) als eine der Unterkategorien deiktischer Prozeduren drückt sich in grammatikalisierten Informationen über die soziale Rolle oder über das soziale Verhältnis von an einer Kommunikationssituation Beteiligten aus. Prototypisch geschieht dies in Form von Anredepronomina mit unterschiedlichen sozialen Konnotationen, wie bekanntermaßen „du“ und „Sie“ im Deutschen, wobei die Verwendung des ersteren durch beide KommunikationspartnerInnen ein engeres, freundschaftlicheres soziales Verhältnis signalisiert, während das „Sie“ eine Distanzbeziehung als Kontext aufruft. Eine noch auffallendere Kontextualisierung erfolgt, wenn ein Kommunikant z.B. plötzlich vom „Du“ zum „Sie“ wechselt oder umgekehrt und damit eine geänderte Kontextualisierung vollzieht. 43 Auf ähnliche Weise können Kontextualisierungen anstelle von Deiktika auch durch andere Formen der Anrede angeregt werden. So signalisiert „Sehr geehrter Herr Müller“ am Beginn eines Briefes ein anderes soziales Verhältnis als „Lieber Hans“ oder gar „Hallo (Hans)“. Interessanter noch in dieser Hinsicht ist ein von Duranti (1992: 87) beschriebenes Beispiel aus dem Kommunikationsverhalten in der Gesellschaft Samoas: Individuen werden dort als Persönlichkeiten mit mehreren sozialen „Seiten“ betrachtet, wobei je nach Situation die eine oder andere in den Vordergrund gerückt wird. Dies hat zur Folge, dass z.B. eine Frau, die die Schwester des „chiefs“ ist, diesen einmal als „Bruder“ und ein anderes Mal als „chief“ tituliert. Nun kann dies einerseits aufgrund der vorgegeben Situation geschehen. Es kann aber auch - sogar im Verlauf ein und derselben Kommunikationssituation - zu einem Wechsel der Anredeform kommen, um die Situation implizit umzudefinieren bzw. anders zu kontextualisieren: „The lexical choice made by the speaker helps to define which ‚side‘ of the referent’s social persona or which particular relationship is relevant in the ongoing interaction. In other words, the linguistic choice partly defines some aspects of the ‚context‘ to be presupposed or entailed in the interaction.“ (Duranti 1992: 87) - Thema- und Schema-Lexeme: Wo ein Element eines Ganzen anzutreffen ist, sind wohl auch andere dieser Elemente (oder gar: die anderen Elemente des Ganzen) anzutreffen. Auf diese Weise funktioniert etwa die Erklärung der Wirksamkeit des bekannten Restaurant-Skripts. Die Nennung eines Restaurantbesuchs - etwa in dem recht treffsicheren „Am Abend gingen wir essen“ indexikalisch angedeutet - ruft das ganze Skript auf und erlaubt den Schluss, dass (soweit nicht explizit anderes 43 Beispiele hierfür wären der (klischeehafte) Wechsel eines Polizisten in einem Fernsehkrimi vom „Sie“ zum „Du“ gegenüber jemandem, der zunächst als geachteter Bürger auftritt, dann aber als verhafteter Mordverdächtiger seinen sozialen Status verliert, oder - konkret - der dann auch explizit angesprochene öffentliche Wechsel des FPÖ- Politikers Heinz Christian Strache vom „Du“ zum „Sie“ gegenüber seinem ehemaligen Freund und Vorbild, aber dann zum politischen Konkurrenten mutierten Jörg Haider in einer Fernsehdiskussion. 38 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher gesagt wird) dieses auch durchgeführt wurde. Auf diese Weise kann ein solcher Hinweis den angedeuteten Kontext nicht nur aktivieren, sondern auch nicht-semantisch „repräsentieren“. Verallgemeinernd gesagt können Kontextualisierungen dieser Art dadurch erfolgen, dass ein Wissensbestand in Form eines Frames 44 aufgerufen wird, indem ein Thema-Lexem oder ein entsprechendes Schema- Lexem 45 in die Formulierung einer Äußerung aufgenommen wird. Ein Thema-Lexem steht für den Zentralbegriff eines „Schemas“ 46 oder Frames, ein Schema-Lexem bezeichnet hingegen ein untergeordnetes Element. Im oben angeführten Beispiel wäre das Thema-Lexem also der das Skript benennende Begriff „Restaurantbesuch“. Schema-Lexeme hingegen wären z.B. „Kellner“, „Speisekarte“, aber auch „essen gehen“. Selbst das Wort „Abend“ kann als ein bestimmtes Skript kontextualisierendes Schema-Lexem betrachtet werden, wenn es, wie in unserer Beispieläußerung, gemeinsam mit einem anderen Schema-Lexem - eben „essen gehen“ - verwendet wird. Es spezifiziert sozusagen den von „essen gehen“ aufgerufenen Kontext und trägt damit zur Kontextualisierung bei. Man könnte nun auch versucht sein, das oben angesprochene, der metadiskursiven Rahmung dienende Wort „Witz“ als ein Thema-Lexem zu betrachten. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen auf einen thematisch bestimmten Frame verweisenden Begriff, sondern um die Bezeichnung einer kommunikativen Gattung, d.h. eines formalen, eine kommunikative Handlungsweise beschreibenden Frames. Und bei „Kennst du den? “ handelt es sich auch nicht um ein Schema-Lexem (oder eine „Schema-Phrase“), sondern um eine idiomatische Prägung, deren Kontextualisierungspotenzial im Gegensatz zu einem Schema-Lexem wie z.B. „Kellner“ nicht auf der Denotation bzw. auf semantischen Konnotationen beruht, sondern auf den Konnotationen des usuellen Gebrauchs dieser Phrase. - Idiomatische Prägungen sind prototypisch mehrteilige Konstruktionen, die routinemäßig zum sprachlichen Ausdruck von Vorgängen, Handlungen etc. eingesetzt werden, obwohl es mögliche alternative Formulierungen gäbe. Zum Beispiel wäre es im Deutschen auch möglich „die Zähne waschen“ zu sagen, jedoch gehört es zur idiomatischen Kompetenz als Teil der Sprachkompetenz, dass es „die Zähne putzen“ heißen „muss“. Für unser Thema dabei besonders relevant ist, dass die idiomatische Prägung sprachlicher Ausdrücke darauf zurückgeht, „dass der Gebrauch neben der möglichen wörtlichen Bedeutung von Ausdrücken stets 44 Siehe dazu auch Kap. 4.2. 45 Zu den Begriffen „Thema-Lexem“ und „Schema-Lexem“ vgl. Heusinger (2004: 142 f.). 46 Heusinger (2004: 142) verwendet den von ihm auch als „assoziatives Feld“ oder „Rahmen“ umschriebenen Begriff „Schema“ ähnlich wie wir die mittlerweile gebräuchlicheren Begriffe „Frame“ und „Skript“, wenn er auch in seinen Formulierungen mehr auf die lexikalische denn die kognitive Ebene abhebt. Nicht nur zur Begrifflichkeit 39 konnotativ auch semantische Information zum Gebrauchskontext in das konventionale Sprachwissen integriert“. (Feilke 2003: 213) Dieser „konnotative Mehrwert“ (ebda.) stellt ein Kontextualisierungspotenzial dar, das weniger bei so allgemein verwendeten Prägungen wie „die Zähne putzen“ eine Rolle spielt, als - deutlicher - bei Prägungen, die für einzelne Textsorten oder kommunikative Gattungen spezifisch sind. So wird ein Text, der auf die Einleitung „Es war einmal …“ folgt, bei vorhandener idiomatischer Kompetenz und damit Kenntnis der Konnotation des Gebrauchs dieser Konstruktion unweigerlich als Märchenerzählung kontextualisiert und der Wahrheitsgehalt des Erzählten dementsprechend beurteilt, während z.B. Ausdrücke wie „wohnhaft in“ oder „aktenkundig“ einen juristischen Kontext aufrufen 47 oder „hiermit bestätige/ erkläre ich …“ den offiziellen und formellen Charakter bestimmter Texte signalisieren. - Lay-out und Typographie: In schriftlicher Kommunikation können neben sprachlichen Mitteln wie den oben genannten auch semiotische Ausgestaltungen der Oberfläche - also allgemein das Textdesign - Kontextualisierungshinweise liefern. Häufig, wenn auch nicht notwendigerweise, sind z.B. Berichte in Zeitungen in Bezug auf das Lay-out durch eine graphische Aufteilung in Titel, Untertitel, Lead und Hauptartikel gekennzeichnet, 48 während Kommentaren dieses Textdesign fehlt. Das Layout erlaubt daher - üblicherweise im Verein mit einer meta-diskursiven Rahmung - die sofortige Kontextualisierung der in den Zeitungsartikeln angebotenen Informationen entweder als (idealiter) objektive Berichterstattung oder als subjektive Einschätzungen und Meinungsäußerungen. Typographisch 49 wiederum kann zum Beispiel eine konservative Haltung durch die Verwendung von Frakturschrift angedeutet oder durch die Verwendung von Runen für Graffiti ein nationalsozialistischer Kontext aufgerufen werden. Alle diese Kontextualisierungshinweise können als Prozeduren der Kontextualisierung erfasst werden, die auf einigermaßen konventionalisierten Ausdrucksformen beruhen und die ein indexikalisches Potenzial enthalten, 47 Dass diese Kontextualisierung in Richtung hin auf einen, wiewohl ironisierten, juristischen Rahmen im Übrigen auch funktioniert, wenn der Text inhaltlich dieser Kontextualisierung widerspricht, zeigen die mittlerweile zahlreichen Versionen von „Rotkäppchen in Juristendeutsch“, wie zum Beispiel: „Als in unserer Stadt wohnhaft ist eine Minderjährige aktenkundig, welche infolge ihrer hierorts üblichen Kopfbedeckung gewohnheitsrechtlich ‚Rotkäppchen‘ genannt zu werden pflegt. Vor ihrer Inmarschsetzung wurde die R. seitens ihrer Mutter über das Verbot betreffs Verlassens der Waldwege auf Kreisebene belehrt. […]“ (http: / / www.polizeieinsatzstress.de/ humorrotkaeppchen.htm). 48 Zum Textdesign von Zeitungsberichten vgl. Hackl-Rößler (2006), zum Textdesign und seiner kommunikativen Wirkung im Allgemeinen vgl. Roth/ Spitzmüller (2007). 49 Zum semiotischen Potenzial von Typographie vgl. Antos/ Spitzmüller (2007). 40 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher indem sie pars pro toto für einen zu kontextualisierenden Wissensbereich bzw. eine kommunikative Praxis stehen (vgl. Feilke 1994: 292). Darüber hinaus weisen sie noch weitere gemeinsame Merkmale auf: - Kontextualisierungshinweise sind nur präferenziell gebunden an die jeweiligen Kontexte. Es gibt hier kaum Notwendigkeiten, sondern nur eine relative Geltung. Das heißt, dass sie nicht direkt einen und immer und für jeden den gleichen Kontext anvisieren, trotz ihrer allerdings graduell unterschiedlichen Konventionalisierung. Entscheidend für das Funktionieren von Kommunikation ist jedoch, dass die Kontextualisierungshinweise zumindest ausreichend übereinstimmend von allen Beteiligten interpretiert werden, da unterschiedliche oder sich widersprechende Kontextualisierungen zu einem Zusammenbruch des notwendigen kommunikativen Äquilibres (vgl. Ortner/ Sitta 2003: 41 ff.) führen können. - Dieser Gefahr wirkt das zumeist redundante Auftreten von Kontextualisierungshinweisen (vgl. Auer 1992: 29 f.) entgegen. Sie kommen selten allein vor und sind deshalb trotz ihres „unsicheren“ Status im Verbund höchst wirksame Mittel der Signalisierung und Sicherung kontextueller Bezüge. Ein Kontextualisierungsverfahren besteht daher „[…] in rekurrenten Kombinationen von Kontextualisierungshinweisen“ (Feilke 1994: 289). Wir haben dies bereits am Beispiel von als „Märchen“ bezeichneten und mit „Es war einmal …“ eingeleiteten Texten gesehen, wobei in diesem Fall als weitere Kontextualisierungshinweise eine bestimmte stilistische Gestaltung sowie das Vorkommen von prototypische Märchenfiguren (König, Prinzessin, böse Hexe usw.) benennenden Schema-Lexemen hinzukommen können, um die Kontextualisierung zu stabilisieren. (Die nicht ins Schema passende „Affenhorde“ entlarvt denn auch Kellers oben angesprochenes „Märchen“ als Skizze einer paradigmatischen kommunikativen Konstellation.) - Kontextualisierungshinweise bilden daher „Netze“ und sind auf diese Weise geeignet, die Kontinuität oder den Wechsel von Themen, Perspektiven, Redeweisen (ernsthaft/ ironisch etc.), also von Kontexten anzuzeigen (vgl. Auer 1992: 1 ff., wo er dies anhand des musikalischen Beispiels der Matthäus-Passion darstellt). Sie können deshalb die Kontinuität von Kontexten (z.B. die kontextualisierende Annahme: „Dies hier ist ein wissenschaftlicher Text“) ebenso anzeigen wie den Wechsel von Subthemen oder Einstellungen etc. Die Abwesenheit von Signalen, die eine Veränderung von Perspektiven, thematischen Bezügen etc. andeuten, wird wohl meist als Bestätigung und Weiterführung der bis dahin geltenden Ausrichtungen verstanden, die dann auch der Interpretation folgender Äußerungen unterlegt werden. Andererseits lenken kontrastive Signale die Kontextualisierung in eine andere Richtung: „In the most simple case, contextualization cues establish contrasts and in- Nicht nur zur Begrifflichkeit 41 fluence interpretation by punctuating the interaction by these contrasts.“ (Auer 1992: 31) 50 - Kontextualisierungshinweise sind „reflexiv“. Auer (1992: 21) versteht dieses Verhältnis im Anschluss an Gumperz als eines „in which language is not determined by context, but contributes in essential ways to the construction of context“, und zwar durch „participants’ joint efforts to make it available“. (Auer 1992: 22) Man kann hier ein Paradox vermuten, insofern als Äußerungen einerseits auf Kontexte verweisen und andererseits Kontexte brauchen, um interpretiert werden zu können. Paradox scheint dies aber wohl nur, wenn es nicht gelingt, unterschiedliche Typen von Beziehungen zwischen Text und Kontext herauszuarbeiten, oder wenn das Verhältnis zwischen Text und Kontext als notwendig unidirektional gesehen wird. Dies wäre aber nur zutreffend, wenn kontextbezogene Schlüsse eine simple Wenn-dann-Struktur besäßen, was aber kaum der Fall ist, da zumeist weder Kontexte Texte determinieren noch umgekehrt Texte ihre Kontexte eindeutig festlegen. Schließlich muss in dieser Hinsicht auch berücksichtigt werden, dass Kontextualisierungshinweise nur die Richtung der inferentiellen Prozesse angeben, letztere aber nicht - durch Determination des Kontextes - ersetzen (vgl. Auer 1992: 32). 4.2 Die Organisation von Kontexten Kontexte sind in den meisten Fällen nicht Einzelfakten - dies ist nur in den einfachsten Fällen der Deixis vielleicht so. Zunächst werden Elemente, die zum Aufbau von Kontexten herangezogen werden meist, wenn nicht stets komplexeren Wissensnetzen, in die eingebunden sie gespeichert sind, entnommen, und das eben nicht als Einzelfakten, sondern mit assoziativem Bezug zum jeweiligen Wissensnetz. Schließlich sind die Quellen, denen die für den Aufbau von Kontexten benötigten Informationen entnommen werden - wie oben schon angedeutet -, dem Einzelnen verfügbare Wissensbereiche in Form mentaler Modelle, also Frames oder Skripts. Diese sind Ergebnis der kognitiven Verarbeitung von Erfahrungen der „Welt“, wobei darunter keine simple Abspeicherung zu verstehen ist, sondern vor allem eine die Erfahrungen strukturierende und organisierende Sinnzuweisung, die aus Informationen vernetztes Wissen erzeugt. 51 Auf diese Frames wird im Zuge des produzentenwie auch rezipientenseitigen Handelns im Zuge von Kommunikationsprozessen zurückgegriffen, um die Einzelaspekte der Kommunikation bzw. den Prozess insgesamt kognitiv zu verorten, d.h. auch: zu kontextualisieren. Sandig (2001: 29 ff.) spricht 50 Ein Beispiel hierfür wäre die oben beschriebene Scherz-Kommunikation im Rahmen einer universitären Vorlesung. 51 Grundlegend zum Begriff „Frame“ vgl. Minsky (2000). 42 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher daher in Bezug auf diese Frames von „Kontext-Modellen“, wobei man allerdings terminologisch differenzieren sollte: Nicht die im Langzeitgedächtnis gespeicherten Frames sind die Kontext-Modelle, denn aus ihnen werden nur Elemente übernommen, um dann - sozusagen online im Kurzzeitgedächtnis - die mentalen Modelle der Interpretation des Kommunikationskontextes zu konstituieren. Im engeren Sinn sind daher erst diese „Online-Modelle“ als „Kontext-Modelle“ zu bezeichnen - sie sind es, die die kognitive Repräsentation der Kontexte darstellen: „These models represent the relevant properties of the communicative environment in episodic […] memory, and ongoingly control the processes of discourse production and comprehension.“ (van Dijk 2008: 16) Kontexte, im Sinne so definierter Kontext-Modelle, sind demnach prinzipiell subjektiver Natur, da sie von jedem/ jeder KommunikationspartnerIn für jede einzelne Kommunikationssituation erst kognitiv erarbeitet werden. Allerdings: „[…] their structures and construction obviously have a social basis, for instance in terms of the shared social cognitions (knowledge, attitudes, ideologies, grammar, rules, norms and values) of a discourse community […].“ (van Dijk 2008: 17) Das Wissen über Restaurants - um auf das klassische Beispiel zurückzukommen - ist zwar individuell gespeichert, entscheidend ist aber, dass es sozial, d.h. auch in der Kommunikation mit anderen, erworben wurde, wodurch es mit diesen anderen Mitgliedern einer Gemeinschaft, wenn auch nicht notwendigerweise in jedem Detail übereinstimmend, geteilt wird. Nur so ist im Übrigen zu erklären, dass Kommunikation trotz der ihr innewohnenden Kontingenz funktioniert, denn nur so können aktuelle Kontext-Modelle jeweils ausreichend zur Deckung gebracht werden. 52 Zu beachten ist, dass zur - idealiter kongruenten - Konstitution von Kontext-Modellen zwei Kategorien kognitiver Organisationsmuster im Sinne von Frames herangezogen werden: weltwissensbezogene und austauschbezogene Organisationsmuster. Erstere repräsentieren den Zusammenhang von Sachverhalten der „Welt“ (z.B: Was ist ein Restaurant? Was gehört dazu? Was kann man dort tun? etc.), letztere sind hingegen mentale Modelle kommunikativer Praktiken. Hierher gehört das Wissen über kommunikative Gattungen und Textsorten oder das über Regeln kommunikativen Verhaltens in bestimmten Situationen. Die Trennung der beiden Bereiche ist relativ etabliert, begrifflich kaum anzufechten und überdies zu Analysezwecken durchaus nachvollziehbar und praktisch, auch wenn zugestanden werden muss, dass sich höchst relevante Bereiche des Weltwissens und vor allem die Strukturen dieses Wissens nicht ohne und außerhalb der Kommunikation herausbilden können. Außerdem kommt es in manchen Bereichen auch zu Überschneidungen von 52 Zur Beschreibung solcher Kontextualisierungsprozesse im terminologischen Rahmen der Theorie der „mental spaces“ von Gilles Fauconnier siehe die Analyse der Parabel des Fiesco zu Genua in Weidacher (2007a: 127). Nicht nur zur Begrifflichkeit 43 Frames der beiden Kategorien. So wissen wir z.B. etwas über die soziale Institution „Universität“ (ein weltwissensbezogener Frame), einige ihrer zentralsten Elemente bilden jedoch kommunikative Praxen, wie Vorlesungen, wissenschaftliche Gespräche und wissenschaftliches Schreiben, die auf austauschbezogenen Frames beruhen. 53 Jedenfalls ist aber eine Äquilibrierung der Kontext-Modelle aller an einer Kommunikation Beteiligten auf beiden Ebenen nötig. Das Wissen über den besprochenen Weltausschnitt sollte zumindest annähernd übereinstimmen bzw. im Laufe des Kommunikationsprozesses zur Übereinstimmung gebracht werden können. Oft wichtiger noch, weil dem vorgängig, ist eine einverständige Kontextualisierung der Äußerungen in Hinblick auf die kommunikative Praxis, in deren Rahmen sie getätigt werden, z.B. ob es sich um ein Prüfungsgespräch oder eine informelle „Unterhaltung am Gang“ handelt. Sobald und solange solch eine austauschbezogene metakommunikative Rahmung etabliert ist, kontrolliert und organisiert sie die kognitive und kommunikative Bearbeitung aller von ihr umfassten Äußerungen. 54 Auf diese Weise wirkt die Rahmung als eine bestimmte kommunikative Praxis in mehrfacher Hinsicht auf die Kommunikation ein. Unter anderem kann man dabei folgende Wirkungen erkennen: - Kommunikative Praxen wirken als Filter für die Auswahl und Darstellung von Sachverhalten und die möglichen zu verfolgenden Ziele. - Im Rahmen solcher Praxen brauchen Gründe dafür, dass etwas Bestimmtes thematisiert wird, in sehr vielen Fällen nicht gegeben zu werden. Im Rahmen der Linguistik zum Beispiel kann über Regularitäten der Dativzuweisung oder die Struktur von Abstracts gesprochen werden, ohne dass dies begründet zu werden braucht. Begründungen, wenn sie überhaupt gegeben werden, sind interner Art: Sie verweisen auf Lücken oder Desiderate der Forschung, die außerhalb dieser Forschung noch niemandem aufgefallen sein müssen. - Im Rahmen solcher Praxen werden Abweichungen vom Üblichen bemerkt und bewertet, ob es sich nun um solche positiver Art (besonders interessante, wohlformulierte, pointierte Äußerungen etc.) handelt oder eher um unwillkommene Abweichungen (langweilige, repetitive Beiträge, thematische Sprünge, Aussagen, die die Regeln der Praxis verletzen, wie z.B. persönliche Angriffe im Rahmen einer wissenschaftlichen Diskussion etc.). - Auch die Angemessenheit des Stils von Äußerungen wird von kommunikativen Praxen als Kontexten kontrolliert und z.B. als Ausweis der 53 Zur Unterscheidung der beiden Kategorien von Frames, die unter anderem auf der Entwicklung des einen Konzeptes in den Kognitionswissenschaften, des anderen mehr in soziologischen und ethologischen Forschungen beruht, vgl. Lindstrom (1992: 101). 54 „Jede Mitteilung, die explizit oder implizit einen Rahmen definiert, gibt dem Empfänger ipso facto Anweisungen oder Hilfen bei seinem Versuch, die Mitteilungen innerhalb des Rahmens zu verstehen.“ (Bateson 1999: 255) 44 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher disziplinären Kompetenz und der Zugehörigkeit zur Fachgemeinschaft beurteilt. - Nicht zuletzt wird die Gültigkeit und Reichweite des Wahrheitsanspruchs von Äußerungen von der jeweiligen kommunikativen Praxis und den ihr inhärenten Standards festgelegt. Gespräche im Freundeskreis, Witze und Zeitungsnachrichten definieren völlig unterschiedliche Spielregeln für den Umgang mit Wahrheits- und Relevanzansprüchen von Äußerungen. 4.3 Kontexte machen Texte Wir haben hier, ausgehend von Äußerungen, Kontexte für diese Äußerungen erschlossen. Die bisherigen Ausführungen und gerade die des letzten Abschnitts haben aber gezeigt, dass auch die andere Sicht, die von den Kontexten her, ihre Berechtigung hat. Kontexte, einmal etabliert, haben entscheidenden Einfluss auf das, was in ihrem Rahmen gesagt werden kann und wie es gesagt werden muss. Dies zeigen deutlich jene Situationen, in denen man den dringlichen Wunsch oder sogar die soziale Notwendigkeit verspürt, etwas zu sagen, bevor man weiß, was man sagen soll. Es sind solche Momente, die zeigen a) dass es eine gewisse Notwendigkeit gibt, sich in bestimmten Situationen zu äußern (um Status zu zeigen, um Kompetenz zu signalisieren, um nicht aufzufallen, um guten Eindruck zu machen ...), und dass kontextuell präfigurierte kommunikative Notwendigkeiten ein mächtiges Movens der Kommunikation und der Gedankenproduktion sind. b) dass es in der Kommunikation darum geht zu sagen, was „richtig“ ist, was „passt“. Was man sagen will, die zu realisierende Intention, ist das, was den Umständen entsprechend die optimale Wahl zu sein scheint. Es geht nicht darum, Intentionen zu leugnen, sondern zu zeigen, welchen Ort sie haben: Sie bilden sich im Feld der Kommunikation und in Bezug auf diese. Entsprechend lässt sich (zumindest in Kontexten routinisierter Verständigung) Verstehen nicht so sehr als Divination dessen beschreiben, was einer denkt, sondern als Erkennen der Bedingungen, unter denen er spricht, und als Einschätzung der Wahl, die er mit seiner Äußerung getroffen hat. Hier äußert sich die Macht der Kontexte, auch wenn sie die Gestaltung der Texte nicht einfach determinieren. Vielmehr tritt hier die oben angesprochene Reflexivität der Kontextualisierungshinweise zutage: Einerseits zeigen sie an, welche Kontexte aufgerufen werden sollen, andererseits werden sie von den konstituierten Kontexten je nach kommunikativer Gattung mehr oder wenig stark eingefordert. Von den Kontexten her betrachtet, kann man auch sagen, dass sie in den Texten „Spuren“ hinterlassen: Spuren sind definiert durch die Abwesenheit dessen, was sie hervorgerufen hat (vgl. Krämer 2007: 14). Andererseits verweisen sie auf das Abwesende, orientieren den „Spurenlesenden“ hin auf dieses, machen es zwar nicht präsent, aber er- Nicht nur zur Begrifflichkeit 45 schließbar, wie auch Kontexte per definitionem nicht in Texten präsent sind, aber über ihre Spuren, die Kontextualisierungshinweise, erschlossen werden können. Nun sind Spuren aber generell unmotiviert. „[Sie] werden nicht gemacht, sondern unabsichtlich hinterlassen.“ (Krämer 2007: 16) Dies scheint nun zumindest nicht für alle Kontextualisierungshinweise zu gelten: Stil z.B. wurde aufgrund der mit ihm verbundenen prinzipiellen Wahlfreiheit von anderen sprachlichen Varietäten abgegrenzt und idiomatische Prägungen, die einen juristischen Kontext anzeigen sollen, werden durchaus intentional und auf die entsprechende Kontextualisierung abzielend eingesetzt. Dennoch: Wenn solch eine Kontextualisierung einmal erfolgt und akzeptiert ist, erzwingt der Kontext weitere passende Hinweise, beeinflusst damit die Formulierung von Äußerungen - und hinterlässt auf diese Weise seine Spuren im Text. In dieser Hinsicht könnte man - wohl mehr zu theoretischen Klassifikationszwecken, als dass dies in praktischen Textanalysen immer durchführbar wäre - zwischen „Spuren“ und „inszenierten Spuren“ (Krämer 2007: 11) unterscheiden oder - in Kellers Terminologie - zwischen Symptomen und symbolifizierten Symptomen (Keller 1995: 165 ff.). Eine ein Symptom symbolifizierende Inszenierung, und daher eine vom Sprecher/ von der Sprecherin intendierte Verwendung eines Kontextualisierungshinweises liegt z.B. vor, wenn ein (älterer) Politiker bei einer Ansprache vor Jugendlichen seine Redeweise stilistisch mittels dialektaler, soziolektaler und vor allem jugendsprachlicher Elemente an seine Zuhörerschaft anzupassen versucht, ein Symptom dagegen, wenn einer der Jugendlichen in der ihm gewohnten Redeweise antwortet, weil er sich kommunikativ nur in Kontexten bewegen kann, die Jugendsprache erlauben. Die Kontextualisierung geht wohl - zumindest solange die Inszenierung durch den Politiker nicht als solche erkannt und verurteilt wird - in eine ähnliche Richtung, und die Hinweise mögen formal auch übereinstimmen. Trotzdem wären sie theoretisch hinsichtlich ihres semiotischen Status zu unterscheiden, was in einer Analyse zumeist jedoch nur gelingt, wenn z.B. die Inszenierung nicht glückt. Noch schwieriger wäre die Anwendung dieser Differenzierung im Übrigen, wenn es sich statt um einen Politiker um einen noch jugendlichen Redakteur einer Jugendzeitschrift handelte: Einerseits muss dieser in seinen Artikeln stilistisch Jugendlichkeit signalisieren, und er tut dies auch intentional, um die gewünschte Kontextualisierung aufrecht zu erhalten. Andererseits sind zumindest einige der in den Texten aufscheinenden Kontextualisierungshinweise wohl tatsächlich Symptome des in der Zeitschrift aufgerufenen Kontextes. „Kontexte machen Texte“ ist insofern jedenfalls übertrieben, als Kontexte zwar Spuren in den Texten hinterlassen, diese aber nicht determinieren. Texte machen müssen die Kommunizierenden. Sie tun dies allerdings innerhalb von Leitplanken, die mehr oder weniger imperativ von für die jeweilige Kommunikation einmal konstituierten Kontexten vorgegeben sind. 46 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher 5 Communities, Diskurse und Kompetenzen In diesem Abschnitt geht es nicht mehr um die Kontexte einzelner Äußerungen, auch nicht um jenes Vorwissen, das es erlaubt, Kontexte und Kontextinformationen auszubilden, sondern um Kontexte zweiter Ordnung. Auf sie wurde im Laufe der Darstellung wiederholt kurz verwiesen, sie sollen hier im Überblick noch einmal kurz angesprochen werden. Es geht um Kommunikationsgemeinschaften, die die Relevanz und Verfügbarkeit von Vorwissensbeständen sichern, um literale Praxen und Diskurse, innerhalb derer sie geformt werden und ihre Geltung verallgemeinert wird, und um die individuellen Kompetenzen, durch die allein sie wirksam gemacht und ins Spiel gebracht werden können. 5.1 Community Jedwede (erfolgreiche) Kommunikation gründet auf der Lösung des zentralen Problems der Koordination dessen, was der/ die SprecherIn/ SchreiberIn mit seiner/ ihrer Äußerung meint, mit dem, was der/ die HörerIn/ LeserIn der Äußerung als gemeinte Bedeutung zuschreibt (vgl. Clark 1996: 73). Die gemeinsame Bearbeitung dieses Problems, zu dem auch die Frage adäquater und übereinstimmender Kontextualisierungen gehört, erfolgt laufend im Zuge des Kommunikationsprozesses. Erheblich erleichtert wird sie jedoch, wenn es möglichst rasch gelingt, die jeweilige - und im Idealfall gemeinsame - Zugehörigkeit zu einer für die gerade stattfindende Kommunikation relevanten „Community“ im Kontext-Modell kognitiv zu etablieren, denn herauszufinden (etwa beim Kennenlernen), zu welchen Communities man gehört, heißt herausfinden, wie man interessant und weiterführend miteinander ins Gespräch kommen kann, wie gemeinsam auf der Basis des alten auch neues Wissen kommunikativ geschaffen werden kann und wie soziale Kontakte, aber auch Konflikte bearbeitet werden können. Die Zugehörigkeit zu Communities bürgt hierbei für vergleichbare Erfahrungen und für eine generalisierbare Zuschreibung von Kenntnissen. Vor allem, wenn es gelingt, zu erkennen oder zu etablieren, dass man zu ein und derselben Community - und sei es nur eine für die Dauer der Kommunikationssituation bestehende „transient community“ - gehört, wird die Verrechnung einer Äußerung mit der sie umgebenden Kommunikationssituation, und damit auch ihre Kontextualisierung immens erleichtert, zumeist wohl überhaupt erst ermöglicht, da auf diese Weise das Vorhandensein eines „common ground“ an Wissen vorausgesetzt werden kann: „The basic idea is that there are things everyone in a community knows and assumes that everyone else in that community knows too.“ (Clark/ Marshall 1981: 35) Dieser angenommene „common ground“ ist, wenngleich auch nicht immer problemlos, am unmittelbarsten unter den Bedingungen der Kopräsenz in direkter Face-to-Face-Kommunikation konstituierbar, weil hier Koordina- Nicht nur zur Begrifflichkeit 47 tionstechniken wie „joint attention“ (vgl. Tomasello 2000: 56 ff.) oder „joint salience“ (vgl. Croft 2000: 100) direkt auf die Kommunikationssituation anwendbar sind, wobei die dabei unter anderem mittels Gesten und Deiktika koordinativ kontextualisierten Informationen aber nur einen Teil des als relevant erachteten „common ground“ ausmachen. Darüber hinaus wird im Allgemeinen auf Vorwissensbestände zurückgegriffen, die nicht gemeinsam erarbeitet werden, sondern von denen die KommunikationspartnerInnen annehmen, dass sie für alle Mitglieder einer Community abrufbar sind. Eine Konsequenz daraus ist, dass der „common ground“ im Rahmen etablierter Communities nicht erst etabliert werden muss, da die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft es erlaubt, ihn als bestehend und in die Kommunikation „mitgebracht“ zu erachten. Allerdings muss die Zugehörigkeit erkannt und übereinstimmend als relevant betrachtet werden, und natürlich muss, wie in jeder Kommunikation, Ko-Orientierung durch Hervorhebung des relevanten Vorwissens möglich gemacht werden. Dies ist in Face-to-Face-Kommunikation generell einfacher zu bewerkstelligen, indem den KommunikationspartnerInnen - abgesehen von einer expliziten Thematisierung einer Gruppenzugehörigkeit - Signale zur Verfügung stehen, wie z.B. das Tragen für eine Community spezifischer Kleidung oder Embleme. Weiters sind z.B. Faktoren wie das Alter der KommunikationspartnerInnen direkt erkennbar. Beispielsweise 55 ist für einen Schüler, der über einen Mitschüler sagt: „Er macht immer fleißig seine Hausaufgaben“, am Aussehen seines Kommunikationspartners im Allgemeinen erkennbar, ob es sich auch um einen Schüler handelt (bzw. weiß er das schon, wenn ihm dieser bereits bekannt ist) und nicht um einen Lehrer. Diese Zuordnung zu einer Community ist somit unmittelbar möglich. Für die Interpretation der Äußerung relevant ist jedoch darüber hinaus, dass es eine übereinstimmende Bewertung des Inhalts der Äußerung gibt, also dass Fleiß in Bezug auf Hausaufgaben als positiv oder negativ zu beurteilen ist. Solange der Sprecher sich zu diesem Aspekt nicht explizit äußert, kann angenommen werden, dass er eine der beiden Beurteilungen als adäquat voraussetzt und damit seiner Äußerung eine „value assumption“ (Fairclough 2003: 55) zugrunde legt, die aber erst vom angesprochenen Kommunikationspartner ratifiziert werden muss. Damit erfolgt jedoch im Zuge der Äußerung eine (implizit anbzw. vorgenommene) Zuordnung des Hörers, aber auch des Sprechers selbst zu einer bestimmten Community. Zum Beispiel kann die Äußerung als ironische Verhöhnung des Mitschülers, über den gesprochen wird, gemeint sein, wodurch der Sprecher sich und den Hörer der Community der (wohl als „cool“ verstandenen) nicht strebsamen Schüler zurechnet. Falls nun der Hörer mit: „Ja, der ist so ein Streber“ antwortet, bestätigt er die gemeinsame Gruppenzugehörigkeit und zugleich den in diesem Fall eine Werthaltung betreffenden „common ground“, der die Mitglieder dieser Community kennzeichnet 55 Die folgende Beispieläußerung wurde aus Wagner (2001: 14 f.) übernommen, wo sie jedoch in einem etwas anderen thematischen Zusammenhang verwendet wird. 48 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher und diese zugleich zusammenhält. Auf diese Weise wird die Äußerung mit den die gemeinsame Community indizierenden Kontextualisierungen verrechnet und eine übereinstimmende und als adäquat akzeptierte Äußerungsinterpretation erreicht. Umgekehrt betrachtet festigen solche erfolgreichen übereinstimmenden Kontextualisierungen bzw. sich dabei herausbildende Kontextualisierungskonventionen die Chancen „sympathischen“ Meinens und Verstehens (vgl. Feilke 1994: 23) für die Mitglieder einer Community und damit zugleich die jeweilige Community selbst. In schriftbasierter Kommunikation existieren zwar vergleichbare Prozesse der Kontextualisierung, jedoch sind sie erschwert, da weniger auf Elemente der Kommunikationssituation selbst zugegriffen werden kann. 56 Allerdings gibt es auch hier Möglichkeiten, wie z.B. die stilistische oder thematische Anbindung eines Textes an einen bestimmten Diskurs. Auch dadurch kann der „common ground“ einer Community angesprochen werden, da Communities - speziell, wenn es sich nicht um „natürliche“ Gruppen wie Familien handelt - sich häufig auch über gemeinsame kommunikative (und somit auch literale) Praxen und thematisch geprägte Diskurse definieren. 5.2 Diskursgemeinschaften: Weltwissen und Kommunikative Praxen Communities formen sich in geteilten kommunikativen Erfahrungen: in geteilten kommunikativen Praxen. Und mit diesen werden sprachliche Ausdrucksmittel geprägt, an denen Wissen, Zugehörigkeit, Typik der Kommunikation sichtbar wird und mit denen dieses Wissen, diese Zugehörigkeit, diese Typik überhaupt zustande kommt. Damit verknüpft sind Einstellungen, Werthaltungen etc., denn diese Communities erzeugen nicht nur geteiltes Wissen, sondern mit ihm und den kommunikativen Praxen so etwas wie Lebenswelten und Diskurse. Diese wiederum sind Rahmen für die Genese von Kompetenzen. Je nicht-natürlicher Communities sind, desto mehr konstituieren sie sich in speziellen Formen der Kommunikation, und desto mehr ist es die Teilhabe an diesen Formen der Kommunikation, die darüber entscheidet, ob man dazugehört oder nicht. Beispiel Wissenschaft: Wesentlich ist (idealtypisch) nicht, ob jemand sympathisch ist oder charakterfest oder geistreich, sondern einzig, ob diese Person sich fachlich - und das heißt: in der fachinternen Kommunikation - einen Namen machen und einen Platz in der Community besetzen kann. Gerade solche Communities konstituieren sich nicht nur durch und in ihren kommunikativen Praxen, sondern existieren (und pflanzen sich fort) allein in und durch ihre kommunikativen Praxen. Diese Praxen und die in 56 Sehr wohl ist es aber z.B. möglich durch eine bestimmte graphische oder typographische Gestaltung eines Textes zu signalisieren, welcher Community ein/ e TextautorIn sich und seine/ ihre AdressatInnen zuordnen möchte. Nicht nur zur Begrifflichkeit 49 ihnen geführten Diskurse sind die Essenz dieser Communities. Die fortgesetzte Kommunikation bringt ständig neue kommunikative Akte hervor, perpetuiert so den jeweiligen Diskurs und auf diese Weise zugleich den Bestand der Community. Man kann solche Communities, die auf Diskursen und den zu ihrer Konstitution und Vermittlung gebräuchlichen kommunikativen Praxen beruhen, als Diskursgemeinschaften bezeichnen, wobei sich Diskurse als „mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstehen [lassen], Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren“. (Keller 2004: 7) Auf diese Weise halten Diskurse, die für sie typischen kommunikativen Praxen und das von ihnen stabilisierte Wissen Communities zusammen. In der Folge sind diese Communities dann aber umgekehrt auch für die Perpetuierung von Diskursen essentiell: „Community building is significant from a discourse-centered perspective because it is a means for establishing and maintaining the circulation of discourse.” (Urban 1996: 137) Diese wechselseitige Erhaltung von Communities durch Diskurse und von Diskursen durch Communities ist gerade für moderne Gesellschaften wesentlich, die verstärkt gekennzeichnet sind durch Communities, denen man nicht gleichsam natürlicherweise 57 angehört (wie z.B. einer Familie), sondern Communities, die prinzipiell offen sind und in die man hineinwachsen oder sich hineinoptieren kann (wie z.B. berufliche oder wissenschaftliche Communities). Speziell in der modernen Wissensgesellschaft werden solche nicht-natürlichen Communities wichtig, in die man kraft gewisser Vorleistungen bzw. Erfahrungen - darunter nicht zuletzt der Umgang mit spezifischen kommunikativen Praxen - aufgenommen werden kann. Die Zugehörigkeit zu solchen diskursbasierten Communities - und jedes Mitglied einer Gesellschaft gehört zu mehreren, unterschiedlichen Communities oder hat zumindest Affinitäten zu ihnen - ist wiederum Voraussetzung für zumindest einen Großteil erfolgreicher Kontextualisierungen, denn „Kontextualisierung heißt immer: Verortung in einem Wissensraum […]“ (Busse 2007: 102), und diese muss, um zu gelingen, übereinstimmend erfolgen, was nur möglich ist, wenn alle KommunikationspartnerInnen einer Diskursgemeinschaft angehören oder zumindest deren Sinn-Zuschreibungen und Wissensordnungen kennen und über die dazu gehörenden kommunikativen Praxen ausreichend kompetent verfügen. 57 Anzumerken ist hier, dass die „Natürlichkeit“ von Communities selbst in so scheinbar offensichtlichen Fällen wie Familien oder sozialen und religiösen Kasten auch in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur, in die die Community eingebettet ist, als relativ betrachtet werden muss, da es in manchen Gesellschaften durchaus möglich zu sein scheint, sich durch diskursive Handlungen aus solch einer quasi-natürlich wirkenden Community zu entfernen bzw. die Community zu wechseln (vgl. dazu Urban 1996: 134 ff.). 50 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher 5.3 Kompetenzen Kommunikative Praxen - so könnte man die bisherige Diskussion zusammenfassen - verringern die Kontingenz der Kommunikation, stärken ihre Potenzen und erhöhen damit ihre Erfolgsaussichten, indem sie die Spielräume der Redenden (bzw. Schreibenden) streng begrenzen und ihren Einfluss auf die Kommunikation einer Kontrolle unterstellen. Die kognitiven Ressourcen, die Individuen benötigen, um sich im Rahmen solcher Praxen bewegen zu können, werden in längeren Lernprozessen erworben. Besonders deutlich erlebbar ist dies in Bezug auf professionelle literale Praxen mit ihren hohen Ansprüchen an spezialisiertes inhaltliches Wissen und spezifische Formen der sprachlichen Präsentation und Bearbeitung dieses Wissens. Beide diese Kompetenzen werden normalerweise gleichzeitig erworben, meist in Institutionen der höheren Bildung (siehe Steinhoff in diesem Band). Die hergebrachten schulischen Schreibformen (siehe dazu Feilke in diesem Band) bilden dabei Vorläuferformen und Ausgangspunkte für die hier anstehenden Entwicklungsaufgaben. Kommunikationskompetenzen sind geprägt von den individuellen Erfahrungen in den jeweiligen Umwelten und den dabei aufgebauten Wissensbeständen, Verfahren und Strategien. Entsprechend gestalten sich - die thematischen Felder, in denen sich jemand mit Zuversicht zu bewegen weiß - die mehr oder weniger gut beherrschten Gesprächs- und Textformen - die Differenziertheit und Flexibilität der verfügbaren Ressourcen (etwa im Umgang mit Indexikalität, mit Formulierungsroutinen, mit dem Signalement von Äußerungsfunktionen, Darstellungsperspektiven und Haltungen/ Einstellungen usw.) Die so zustande gekommenen Differenzen individueller Kompetenzen werden wieder im literalen Feld besonders augenfällig. Ein zentraler Teilaspekt der kommunikativen Kompetenz ist, wie aus unseren Ausführungen bislang schon klar geworden sein sollte, die Kontextualisierungskompetenz (vgl. Weidacher 2007b: 44). Nur wenn Wissen aufgerufen wird, kann es sinnvoll in den aktuellen Kommunikationsprozess eingebunden werden. Insofern ist Kontextualisierung der Schlüssel zur dynamischen Nutzung, gleichzeitig auch zur Gewinnung von Wissen. Da treffsichere Kontextualisierung gerade in hoch differenzierten wissenschaftlichen Disziplinen besonders wichtig ist, ein gemeinsames Verhandeln von Kontextualisierungen in schriftlicher Kommunikation aufgrund der zerdehnten Kommunikationssituation aber nicht oder nur schwer zu bewerkstelligen ist, erfordert (schriftliche) wissenschaftliche Kommunikation in besonderem Maße die Fähigkeit, Informationen an vorhandene Wissensbestände anzubinden und das Signalement dieser Anbindung zu verarbeiten - rezeptiv durch das Interpretieren der vom/ von der AutorIn gesetzten Hinweise, produktiv durch die Antizipation von Leseweisen (und Nicht nur zur Begrifflichkeit 51 damit Kontextualisierungsleistungen) der AdressatInnen und deren Berücksichtigung in den Formulierungen des zu schreibenden Textes. In der (sich selbst so nennenden) Wissensgesellschaft ist in zentralen produktiven Feldern der Zugang zu Informationen und zu Stellen an die individuelle Fähigkeit zur Teilhabe an literalen Praxen auf jeweils entsprechendem Niveau gebunden. Insofern sind kommunikative/ literale Kompetenzen nicht nur individuelle Ressourcen, sondern sie entscheiden auch darüber, in welchem Maße individuelle Kenntnisse und Einsichten für andere wahrnehmbar, einschätzbar und wirksam werden können. 6 Zum Abschluss Wir haben hier versucht, in einem Durchgang durch weite und durchaus bekannte Gebiete eine differenzierte und gleichzeitig kompakte Sicht auf Kontexte und ihr Verhältnis zu Äußerungen und Texten zu geben. Die wesentlichen Ergebnisse der Diskussion lassen sich vielleicht in den folgenden Punkten zusammenfassen: a) Äußerungen sind „von Anfang an“ bezogen auf Kontexte und werden in Bezug auf Kontexte interpretiert. Das Frege’sche Kompositionalitätsprinzip, das der formalen Semantik zugrunde liegt, ist im Rahmen natürlicher Sprachen nicht kohärent realisiert. Damit wird die mit ihm verbundene Annahme einer autonomen sprachlich basierten Äußerungsbedeutung brüchig, und das Verhältnis von Sprache und Außersprachlichem muss neu definiert werden. b) Die Sphäre des Wissens, der Sachverhalte und Erfahrungen ist, soweit diese Dinge kommunikativ zur Geltung gebracht werden können, sprachlich konditioniert. Sie bildet keinen Referenzbereich, auf den neutrale sprachliche Mittel bloß verweisen. Diese sind vielmehr selber Teil dieses Wissens, konstitutive Momente von Sachverhalten und strukturierende Bausteine von Erfahrungen. 58 c) Wittgenstein (1984, PU: § 19) kann sich in diesem Sinne „eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. - Oder eine Sprache, die nur aus Fragen und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung“. Und er schließt die Bemerkung an: „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“ Unter der Annahme, dass es viele und voneinander unterschiedliche Sprachspiele gibt, die wie solche primitiven Sprachen funktionieren, stellt sich die Frage neu, was es heißt, eine Sprache kompetent zu beherrschen. Linguistisch wird diese Frage meist ganz handfest beantwortet: Eine Sprache beherrschen heißt, die sprachlichen Normen be- 58 Psychologische Bedeutungsbegriffe setzen in diesem Sinne Sprachliches - meist Wörter - in direkte Verbindung mit Wissensbeständen unterschiedlicher Art. (Vgl. Szagun 2000: Kap. 5). 52 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher folgen können. Damit wird aber schon in einem der entscheidenden Grundbegriffe genau die Trennung von Sprache und Welt, von Text und Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt, die in der hier dokumentierten Auseinandersetzung fragwürdig geworden ist, und die pragmatisch relevante Frage nach der Reichweite und Differenziertheit dieser Kompetenz wird zugunsten eines rein systeminternen Gesichtspunktes schlicht umgangen. Diese Bemerkungen berühren die Grundlagen von Linguistik und Sprachtheorie. Was hier begrifflich groß plakatiert ist, wird in seiner fundamentalsten und simpelsten Form durchgespielt zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen. So fragt, um ein Moment aus der dort geführten Auseinandersetzung zu vergegenwärtigen, Wittgenstein in § 19 nach dem Verhältnis von „Platte! “ und „Bring mir eine Platte! “ und den Möglichkeiten, dieses Verhältnis zu beschreiben. In § 20 geht es dann zunächst um den zweiten Ausdruck und darum, ob man ihn als ein langes Wort oder als vier Wörter „meinen“ könne. In seinem bekannten quasi-dialogischen Verfahren spielt Wittgenstein unterschiedliche Positionen durch. Jemand sagt: Ich glaube, wir werden geneigt sein, zu sagen: Wir meinen den Satz als einen von vier Wörtern, wenn wir ihn im Gegensatz zu andern Sätzen gebrauchen wie „Reich mir eine Platte zu“, „Bring ihm eine Platte“, „Bring zwei Platten“ etc., also im Gegensatz zu Sätzen, welche die Wörter unseres Befehls in anderen Verbindungen enthalten. Man könnte fast den Eindruck kriegen, der hier Sprechende hätte Saussure gelesen und dekliniere das Prinzip der paradigmatischen Beziehungen durch. Dagegen nun argumentiert eine andere Stimme, vielleicht die Wittgensteins: Aber worin besteht es, einen Satz im Gegensatz zu anderen Sätzen zu gebrauchen? Schweben einem dabei etwa diese Sätze vor? Und alle? Und während man den einen Satz sagt, oder vor-, oder nachher? Man könnte dies als eine Art psycholinguistischen Plausibilitätstest für die These bezeichnen, dass es ein système où tout se tient sei, das den valeur der Zeichen bestimme. Der Opponent - Wittgenstein? - fährt fort und leugnet diese These vehement, zumindest leugnet er die Triftigkeit so einer Sichtweise im Hinblick auf den Sprachgebrauch: Nein! Wenn auch so eine Erklärung einige Versuchung für uns hat, so brauchen wir doch nur einen Augenblick zu bedenken, was wirklich geschieht, um zu sehen, dass wir hier auf falschem Wege sind. Wir sagen, wir gebrauchen den Befehl im Gegensatz zu anderen Sätzen, weil unsere Sprache die Möglichkeit dieser anderen Sätze enthält. Was „wirklich geschieht“ ist etwa dies: Ein Fremdsprachiger könnte diesen Satz für ein langes Wort halten, für gleichbedeutend mit „Baustein“. Und trotzdem kann er den Ausdruck völlig problemlos und richtig verwenden. Man kann sich die Frage stellen, ob nicht entsprechend, wenn er diesen Nicht nur zur Begrifflichkeit 53 Ausdruck gebraucht, etwas anderes in ihm vorgeht als bei jemandem, der die Sprache beherrscht, eben etwas, das dem entspricht, dass er den Ausdruck als ein Wort und nicht als einen Satz auffasst - getreu etwa dem Kompositionalitätsprinzip, das hier ja kategoriale Unterschiede postulieren würde. Daraufhin Wittgenstein: Es kann das Gleiche in ihm vorgehen, oder auch anderes. Was geht denn in dir vor, wenn du so einen Befehl gibst; bist du dir bewusst, dass er aus vier Wörtern besteht, während du ihn aussprichst? Freilich, du beherrschst diese Sprache - in der es auch jene anderen Sätze gibt - aber ist dieses Beherrschen etwas, was „geschieht“, während du den Satz aussprichst? Das Beherrschen der Sprache wird nicht geleugnet, aber es wird in ein quasi temporales Verhältnis zum Sprechen gesetzt: Für das Sprechen, so könnte man interpretieren, hat dieses Beherrschen keine primäre Bedeutung - der „gleiche Sinn“ von Ausdrücken wie „Platte! “ und „Bring mir eine Platte! “ in bestimmten Situationen ist nicht an ihre Struktur gekoppelt, sondern an etwas anderes: Aber besteht der gleiche Sinn der Sätze nicht in ihrer gleichen Verwendung? - (Im Russischen heißt es „Stein rot“ statt „der Stein ist rot“; geht ihnen die Kopula im Sinn ab, oder denken sie sich die Kopula dazu? ) Erst die Reflexion auf die Ausdrücke setzt ihre unterschiedliche Struktur frei. Dass diese wichtig sein könnte, leugnet Wittgenstein nicht, aber sie gibt keinen unmittelbaren Einblick in das, was im sprachlichen Tun geschieht. Die Kompetenz des Fremdsprachigen ist in actu von der des Muttersprachigen nicht zu unterscheiden (sie wird höchstens daran erkennbar, dass er den Satz anders ausspricht) - sein Beitrag im Sprachspiel funktioniert genau so wie die seines Gegenübers. Was in ihm dabei vorgeht, ist nicht von besonderem Interesse („Es kann das Gleiche in ihm vorgehen oder auch anderes“), denn dies ist eine ganz andere Geschichte als die Frage, was eine Äußerung leistet - eine Warnung vor jeder einfachen Parallelisierung von individuellen kognitiven Regungen und kommunikativer Geltung. Worauf es ankommt, ist, dass das Sprachspiel zustande kommt. Dass der Fremdsprachige aber dieses Sprachspiel beherrscht (und die dazu notwendigen Ausdrücke) ist kein Indiz dafür, dass er auch andere beherrscht. Er kann „Bring mir eine Platte! “ richtig gebrauchen, aber nicht unbedingt die anderen genannten Beispiele und noch weniger deren weitere paradigmatischen Abwandlungen wie „Gib mir einen Kuss! “ oder „Reich ihm die Hand! “. Was sich mit diesen Ausdrücken kommunikativ tun lässt, hat wenig mit ihrer äußerlichen Strukturähnlichkeit zu den Ausgangssätzen zu tun, sondern mit ihrer Zugehörigkeit zu anderen Sprachspielen mit ihren anderen (und nicht nur sprachlichen) Regeln. 59 59 Es wäre deshalb etwas sonderbar zu postulieren, dass diese Sätze in irgendeiner Weise in einem (notwendig innerlichen) Kontrast zu „Bring mir eine Platte! “ geäußert werden (oder gar in diesem Kontrast geäußert werden müssten). Eine ausgeführte struk- 54 Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher Dass der Beitrag des Fremdsprachigen in der konkreten Situation die gleiche Funktion hat wie der des Muttersprachigen, zeigt, dass Kompetenz nicht wesentlich danach zu bemessen ist, ob man „die Sprache kann“, sondern danach, an welchen Formen des Austauschs man teilzunehmen fähig ist. Die Kompetenz des Fremdsprachigen ist perfekt - auf Wittgensteins Bauplatz. Der Muttersprachige beherrscht wahrscheinlich auch andere Sprachspiele, und er hat aufgrund dessen einen besseren Zugriff auf die unterschiedlichen Strukturen „unserer Sprache“. Diese Sprache, „die Sprache“, das Saussure’sche System, ist Konsequenz der Fähigkeit zu kommunizieren, nicht die Voraussetzung dafür, und sie zeigt diese ihre Herkunft auch deutlich in der Indexikalität und Kontextverwobenheit ihrer Ausdrücke, in der restringierten Kombinierbarkeit ihrer Elemente, in den Wahlverwandtschaften zwischen unterschiedlichen Formulierungen, in der Tatsache, dass bereits einzelne Formulierungen ganze Geschichten anzudeuten vermögen. 60 Allerdings gilt dies alles nur im Allgemeinen - für jeden Einzelnen bezeichnet seine individuelle Kompetenz das Maß seiner eigenständigen Teilhabe in den unterschiedlichen Sphären gesellschaftlicher Kommunikation. Literatur A NTOS , Gerd/ S PITZMÜLLER , Jürgen (2007): „Was ‚bedeutet’ Textdesign? Überlegungen zu einer Theorie typographischen Wissens“. In: Kersten Sven Roth/ Jürgen Spitzmüller (Hrsg.): Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation. Konstanz: UVK, 35-48. 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Auf diese Weise bilden sich Felder von miteinander in Korrespondenz stehenden Ausdrücken unabhängig von ihrer paradigmatischen Verwandtschaft. 60 Es gibt mittlerweile Modelle, die die Wittgenstein’sche Position in zeitgemäße Begriffe zu fassen erlauben. Vgl. Johnson-Laird (1983) für eine generelle Fassung des Problems; Knobloch (2003) für eine psychologisch und semiotisch fundierte Kritik an grundlegenden Voraussetzungen traditioneller Linguistik; Karmiloff-Smith (1992) für eine generelle Theorie der repräsentationellen Redeskription als Grundmechanismus einer realistischen, auf der Beherrschung einzelner Aktionszüge aufbauender Lerntheorie; Tomasello (2005) für ein Konzept des Spracherwerbs auf der Basis einer an Wittgenstein orientierten Sprachgebrauchstheorie. Nicht nur zur Begrifflichkeit 55 B OURDIEU , Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller. B ROWN , Penelope/ L EVINSON , Stephen C. (1987): Politeness. 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Zum Stand der psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen Forschung 1 Einleitung Nicht nur in der kognitiven Linguistik, auch in der kognitiven Psychologie und in den Kognitionswissenschaften generell gehört der Kontext-Begriff zwar zum Repertoire der etablierten Termini technici, dies allerdings ohne in seiner bedeutungstheoretischen Reichweite und Relevanz angemessen reflektiert zu sein. Die Marginalisierung des Kontext-Begriffes hängt innerhalb der kognitiven Linguistik mit dem wissenschaftsgeschichtlichen Umstand zusammen, dass gerade in traditionellen Beschreibungsansätzen wie dem Strukturalismus und der generativen Grammatik für eine Kontexttheorie kein rechter Platz war und ist, denn sie konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf sprachstrukturelle Phänomene, die per definitionem dem Einflussbereich des Kontextes entzogen sind. Zu einem ähnlich nüchternen Schluss kommt Teun van Dijk hinsichtlich der kognitiven Psychologie: Although the psychology of text processing […] offers a powerful theory of the way people produce and understand discourse, it fundamentally lacks a theory of context. Apart from some ad hoc independent variables manipulated in laboratory experiments, the theory itself does not account for the fact that language users adapt the structures of discourse to the social or communicative situation, and vice versa, that they understand text and talk also as a function of the situation. (van Dijk 2008: 176) Trotz der zu Recht bemängelten unzulänglichen Erfassung des Gegenstandsbereiches wird die Rolle des Kontextes beim Sprachverstehen in der Psycholinguistik und der kognitiven Psychologie jedoch bereits seit den 1970er Jahren äußerst kontrovers diskutiert. Schon früh zeichnen sich hier die Konturen zweier widerstreitender Ansätze ab. Auf der einen Seite stehen konstruktivistische Modellbildungen, die Kontextinformationen weitreichende Funktionen beim Sprachverstehen zusprechen; in neueren Ansätzen der Kognitiven Linguistik sind diese Ideen adaptiert und weiterentwickelt (vgl. Evans/ Green 2006). Auf der anderen Seite befinden sich minimalistische Ansätze, die - zumindest implizit - in der Tradition intensionaler Bedeutungstheorien stehen. Sie gehen davon aus, dass sprachliche Bedeutun- 60 Alexander Ziem gen einen kontextabstrakten invariablen „Kern“ haben, den Kontextinformationen lediglich „anreichern“. Ausgehend von einer kritischen Bewertung der psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen Forschungsliteratur möchte ich in diesem Beitrag die These vertreten, dass der Kontext ein sprach- und kognitionstheoretischer Fundierungsbegriff erster Ordnung ist und als solcher in einschlägigen empirischen Untersuchungen hinreichend reflektiert wurde, wenngleich eine systematische Kontexttheorie, mit Ausnahme der soziokognitiven Studie van Dijks (2008), bislang nicht vorliegt. Unter Kontext verstehe ich im Folgenden die Menge aller verstehensrelevanten Informationen, die zur sprachlichen Bedeutungskonstruktion beitragen und in Gestalt eines kognitiven Modells dem Sprachverstehenden ermöglichen, den kommunikativen Sinn eines Ausdrucks unter Berücksichtigung des Äußerungszusammenhangs sowie unterstellten Hintergrundwissens zu erfassen. Kontexte treten nicht als objektive Fakten, sondern als kognitive Konstrukte von SprachteilnehmerInnen auf, die bei Aufrechterhaltung der „Sinnkonstanz“ (im Sinn von Hörmann 1976: 179-212) selektiv auf verstehensrelevante Informationen zugreifen. Die Kontextualisierung von Sprachzeichen verläuft in der Regel automatisch und unbewusst, ohne dass der kognitive Konstruktionscharakter in seiner Vielschichtigkeit transparent ist. Welche Rolle und Funktion der Kontext beim Sprachverstehen spielt, ist zwar zunächst eine Frage, die sich nur theorieabhängig beantworten lässt, doch ohne empirische Evidenz lässt sich weder die Rolle der Funktion beim Sprachverstehen bestimmen noch angeben, welche Typen von Kontextinformationen sich als verstehensrelevant erweisen. Im Folgenden gehe ich in einem ersten Schritt kurz auf die implizite Kontexttheorie der zwei derzeit dominierenden kognitiven Bedeutungstheorien ein. Abschnitte 3 und 4 sind der kritischen Beurteilung psycholinguistischer und kognitionswissenschaftlicher Kontext-Studien vorbehalten. Abschließend soll eine Kontexttypologie Aufschluss über die verschiedenen verstehensrelevanten Wissenstypen geben. 2 Semantische Ein-Ebenenvs. Mehr-Ebenen-Theorie In der kognitiven Linguistik werden seit nunmehr drei Jahrzehnten zwei bedeutungstheoretische Ansätze diskutiert, die sich so grundsätzlich voneinander unterscheiden, dass es zwischen ihren Vertretern im Grunde keinen wissenschaftlichen Austausch gibt. Im einen Fall handelt es sich um semantische Mehr-Ebenen-Modelle, die den theoretischen Vorgaben der generativen Grammatik folgen. Sie sind im deutschsprachigen Raum zunächst von Bierwisch und Lang (etwa Bierwisch 1983a/ b; Lang 1994; Bierwisch/ Lang 1987) entwickelt worden und später unter der Bezeichnung „Zwei-Ebenen-Semantik“ in die Literatur eingegangen. Monika Schwarz (1992, 2000) hat diesen Ansatz aufgegriffen und zu einem Drei-Ebenen-Mo- Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 61 dell modifiziert. 1 Beiden Theoriebildungen liegt die Annahme zugrunde, dass Sprache ein autonomes kognitives Subsystem mit eigenständigem Regelsystem bildet. Der menschliche Geist und, aus neurowissenschaftlicher Perspektive, auch das menschliche Gehirn gelten als modular aufgebaute Systeme. Im Gegensatz dazu geht das semantische Ein-Ebenen-Modell davon aus, dass Sprache und deshalb ebenso sprachliche Bedeutungen kognitive Epiphänomene darstellen, die sich funktional und strukturell nur in enger Verschränkung mit den menschlichen perzeptuellen und sensomotorischen Fertigkeiten und Fähigkeiten erklären lassen (vgl. Ziem 2009). Dieser oft auch als holistisch bezeichnete Ansatz steht in der Tradition der Entwicklungspsychologie Jean Piagets sowie der Gestaltpsychologie Max Wertheimers und Wolfgang Köhlers. Er wird von zahlreichen kognitiven Linguisten wie George Lakoff (1987), Ronald Langacker (1987), Charles Fillmore (1985) und Leonhard Talmy (2000) vertreten. Sie lehnen die generativ-grammatische These von angeborenem (semantischem) Sprachwissen strikt ab und verfechten eine enzyklopädische Semantik-Konzeption. Beanspruchen sowohl das Ein-Ebenenals auch das Mehr-Ebenen-Modell das Attribut „kognitiv“ für sich, fällt der kleinste gemeinsame Nenner denkbar schmal aus: Beide nennen sich insofern kognitiv, als der menschliche Geist und insbesondere die spezifisch menschliche Sprachfähigkeit den Gegenstandsbereich bilden. Schon hinsichtlich der Frage aber, welchen Faktoren bei der Untersuchung Rechnung zu tragen ist, weichen sie fundamental voneinander ab. Dies betrifft im Kern die Bestimmung der Rolle des Kontextes beim Sprachverstehen. So ist beispielsweise im Fall von Ein-Ebenen-Modellen der sprachliche und situative Kontext entscheidend am Spracherwerb beteiligt; Kinder lernen, wie Tomasello (1992, 2003) deutlich macht, etwa die ersten Verben und syntaktischen Konstruktionen in interaktiven Handlungszusammenhängen durch Imitation. Eine hohe Auftretensfrequenz sprachlicher Token in bestimmten Konstruktionen ermöglicht dabei die Herausbildung von sprachlichen Kategorien wie von Wortarten oder syntaktischen Verbstellungsmustern, ohne auf die Annahme angeborenen Wissens zurückgreifen zu müssen. Generell gehen Ein-Ebenen-Ansätze davon aus, dass sprachliche Einheiten nie isoliert vorkommen, sondern immer in konkreten Sprachhandlungszusammenhängen eingebunden sind und relativ zu diesen gelernt, im Langzeitgedächtnis abgespeichert und aus demselben abgerufen werden. Typenbildungen, grammatischer oder semantischer Art, vollziehen sich im und durch den Sprachgebrauch, indem aus ähnlichen, vergleichbaren Token auf einen abstrakteren Typ geschlossen wird. Grammatische oder semantische Kategorien entstehen so aus Abstraktionsprozessen in konkreten Sprachgebrauchskontexten. Der Kontext geht der Bildung sprachlicher Kategorien infolgedessen logisch und zeitlich voraus: „All linguistic units are context-dependent. They occur in particular settings, from which they derive much of their import, and are recognized 1 Zur Erläuterung und Kritik vgl. Ziem (2008: 92-103). 62 Alexander Ziem by speakers as distinct entities only through a process of abstraction.“ (Langacker 1987: 401) Im holistischen Modell kommt also dem Kontext bei der Bedeutungsbildung eine Schlüsselfunktion zu, da Kontextinformationen gleichsam die Datenbasis für Abstraktionsprozesse liefern, die zur Bildung sprachlicher Kategorien führen. In Mehr-Ebenen-Modellen dagegen verhindert das modulare Prinzip, dass Kontextinformationen eine bedeutungskonstitutive Rolle spielen. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, Bierwischs berühmt gewordene Formel zur kompositionellen Zusammensetzung einer Äußerungsbedeutung zu rekapitulieren (vgl. Bierwisch 1983a: 33 ff.): (1) (((ins (phon, syn, sem)) ct, m) ias, ks). Eine sprachliche Äußerung hat demnach eine grammatische Struktur, die sich aus dem Triple phonologische Struktur „phon“, syntaktische Struktur „syn“ und semantischer Inhalt „sem“ ergibt. Die Äußerung ist eine physikalisch beschreibbare Einheit „ins“, die sich innerhalb eines Kontextes „ct“ zur aktuellen Bedeutung „m“ ausdifferenziert. Diese erfüllt ihrerseits in einer konkreten Äußerungssituation „ias“ eine kommunikative Funktion „ks“. Genießt das grammatikdeterminierte sprachliche System, das sich in der Formel in der innersten Klammer, also dem Triple „phon“, „syn“, „sem“ wiederfindet, den Status rein sprachlichen Wissens, gehören alle anderen Einheiten dem konzeptuellen System an. Bierwisch unterscheidet hierbei genauer zwischen dem konzeptuellen System, konstituiert durch „ct“ und „m“, und dem System der Kommunikationsregeln, konstituiert durch „ias“ und „ks“, die beide auf Weltwissen zurückgreifen. In diesem Modell spezifizieren Kontextinformationen lediglich die durch die grammatische Struktur, also dem Triple „phon“, „syn“ und „sem“, vorgegebene sprachliche Bedeutung. Mit „sem“ ist dabei eine kontextfreie Ausdrucksbedeutung gemeint, bestehend aus semantischen Primitiva (Komponenten). Sie gelten als „Voraussetzungen, die Bedingungen über mögliche Kontexte festlegen“. (Bierwisch 1983b: 98) Offen bleibt dabei, woraus sich der Kontext „ct“ seinerseits zusammensetzt und inwiefern das System der Kommunikationsregeln (bestehend aus „ias“ und „ks“) ein eigenes konzeptuelles System bildet, das sich vom Kontext „ct“ losgelöst betrachten lässt. Statt das Mehr-Ebenen- und Ein-Ebenen-Modell im Detail zu diskutieren, möchte ich eine grundsätzliche Frage aufwerfen. Führt die prinzipielle Trennung von Sprach- und Weltwissen im Mehr-Ebenen-Ansatz dazu, dem Kontext eine fundamentale Rolle bei der Bedeutungskonstitution abzusprechen, bleibt fraglich, inwiefern es überhaupt gerechtfertigt ist, eine Dimension sprachlichen Wissens zu postulieren, die sich unabhängig von menschlichen Welterfahrungen herausgebildet hat. Es lassen sich zahlreiche Argumente anführen, die die Plausibilität dieser Position zweifelhaft Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 63 werden lassen. An einer anderen Stelle habe ich die Argumente ausführlich dargelegt (vgl. Ziem 2008: 119-142), hier seien sie verkürzt wiedergegeben: • Graduelle Abstufungen zwischen „Kern“ und „Peripherie“: Welche semantischen Spezifikationen den „Kern“ (Bierwisch/ Kiefer 1970: 70) einer sprachlichen Bedeutung ausmachen, variiert mit der kontextuellen Einbettungsstruktur (Scherner 1984: 239) des sprachlichen Ausdrucks. Der semantische „Kern“ eines Ausdrucks lässt sich weder in synchroner noch in diachroner Hinsicht eindeutig von der semantischen „Peripherie“ unterscheiden. • Nicht-Begründbarkeit analytischer Urteile: Die Annahme des „rein sprachlichen“ Status der Bedeutungsdimension „sem“ lässt sich nicht aufrechterhalten; semantische Komponenten gründen vielmehr in der kommunikativen Praxis, und ihr Status lässt sich nur aus dieser heraus plausibel machen. • Interferenzen zwischen Semantik und Pragmatik: Die Isolierung eines rein semantischen Gegenstandsbereiches von pragmatischen Bedingungen der Bedeutungskonstitution führt zu der unhaltbaren These, dass Bedeutungsbestimmungen in Absehung von referentiellem Wissen möglich seien. Wenn sich eine starre Grenzziehung zwischen sprachlichem und außersprachlichem Wissen nicht hinreichend begründen lässt, bleibt fraglich, ob Kontexte tatsächlich eine nur so marginale Funktion bei der Bedeutungskonstitution erfüllen, wie es Mehr-Ebenen-Ansätze nahe legen. Vor dem Hintergrund dieser kritischen Überlegungen möchte ich im Folgenden den Standpunkt vertreten, dass der methodisch-theoretische Rahmen, in dem Kontexte thematisiert werden, das Kontext-Verständnis zwar maßgeblich mitbestimmt, die Frage nach der Rolle des Kontextes beim Sprachverstehen aber letztlich allein mit empirischen Mitteln zufrieden stellend zu beantworten ist. Dies ist bislang weder in Mehr-Ebenennoch in Ein-Ebenen-Ansätzen geleistet worden, wohl aber in zahlreichen psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen Studien, denen sich die folgenden Abschnitte widmen. 3 Psycholinguistische Studien zum Verstehen ambiger Wörter und nicht-wörtlicher Äußerungen 3.1 Satz als Kontext: interaktionistischer vs. modularer Ansatz Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich eine kaum zu überblickende Vielzahl psycholinguistischer Studien mit der Frage, welche Rolle der Kontext beim Verstehen polysemer lexikalischer Ausdrücke, idiomatischer Wendungen und Tropen wie Metaphern und Ironie spielt (vgl. etwa den Überblick in Simpson 1994; Giora 2003: 195-196). Obwohl der Begriff des Kontextes fast 64 Alexander Ziem ausnahmslos als Leitterminus verwendet wird, richtet sich das Untersuchungsinteresse ausschließlich auf den Einfluss, den die unmittelbare sprachliche Umgebung eines Ausdrucks auf die Bedeutung ebendieses Ausdrucks ausübt. Im Fokus stehen also genau genommen Kotexte, nämlich lokale sprachliche Einbettungsstrukturen wie einzelne Sätze oder kurze Textpassagen, nicht aber textübergreifende Einheiten oder außersprachliche Parameter. Grundsätzlich besteht Konsens darin, dass Kontextinformationen zur Bedeutungskonstitution beitragen. In welchem Maße dies der Fall ist, wird jedoch äußerst kontrovers diskutiert. Die zentrale Auseinandersetzung konzentriert sich dabei auf die Streitfrage, ob der Kontext die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks vollständig bestimmt oder ob er lediglich dazu dient, die Bedeutung zu elaborieren. Für die erste Position argumentieren AutorInnen, die ein interaktionistisches Modell vertreten; 2 in bedeutungstheoretischer Hinsicht stehen sie in einem Nahverhältnis zum oben skizzierten Ein-Ebenen-Modell. Dagegen schreiben AutorInnen, die für ein modulares Modell einstehen, dem Kontext eine nur sekundäre Funktion beim Sprachverstehen zu. Sie vertreten, wenn auch nicht immer expressis verbis, ein Mehr-Ebenen-Semantikmodell (im oben erläuterten Sinn), dem ein modulares Verständnis vom menschlichen Geist zugrunde liegt. Mit Blick auf Sprachproduktions- und Sprachrezeptionsprozesse heißt das konkret, dass lexikalisch-semantische Informationen als „kontextresistent“ und „eingekapselt“ gelten, also unabhängig von variierenden Kontextzusammenhängen unverändert bleiben. Entsprechend genießt diese kontextunabhängige Bedeutungsdimension einen privilegierten kognitiven Status: Sie gilt als diejenige, auf die beim Sprachverstehen zuerst und gleichsam automatisch, also ohne kognitiven Aufwand, zugegriffen wird. Diese theoretischen Annahmen führen zu der konkreten Hypothese, dass Kontextinformationen generell erst dann zur Bedeutungskonstruktion beitragen, wenn bereits eine kontextfreie lexikalisch-semantische Repräsentation eines Ausdrucks aufgebaut wurde. Diese These konnte empirisch weder eindeutig belegt noch eindeutig widerlegt werden. In Priming-Experimenten und Lesestudien konnte einerseits Evidenz für die gegenläufige interaktionistische These erbracht werden, dass Kontextinformationen unmittelbar, d.h. ohne zeitliche Verzögerung an der Bedeutungsbildung beteiligt sind. (Bates 1999) Jedoch deuten zugleich Ergebnisse zahlreicher anderer Studien darauf hin, dass kontextsensitive kognitive Prozesse erst Auswirkungen auf das Verstehen eines Ausdrucks haben, nachdem wörtliche Bedeutungen aktualisiert worden 2 Das Attribut „interaktionistisch“ hat sich in der Literatur durchgesetzt, weshalb ich den Terminus im Folgenden beibehalte. Es wäre sachlich allerdings genauso angemessen, von einem „konstruktivistischen“ oder „kontextualistischen“ Modell zu sprechen, da die Bedeutungsbildung, anders als im modularen Modell, als ein konstruktiver Prozess angesehen wird, der maßgeblich durch Kontextwissen motiviert ist. Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 65 sind (vgl. beispielsweise Connine/ Blasko/ Wang 1994). Eine kurze Rekapitulation der wichtigsten Forschungsergebnisse soll im Folgenden eine erste Antwort auf die Frage geben, welche Rolle der Kotext bei der Bedeutungskonstitution spielt. Anders als der modulare Ansatz geht das interaktionistische Modell davon aus, dass derselbe kognitive „Mechanismus“ sowohl für die Verarbeitung sprachlicher als auch nicht-sprachlicher Informationen zuständig ist. Statt eine separate Verarbeitung von Kontextinformationen anzunehmen, nimmt es dieser Ansatz als plausibler an, dass Kontextdaten mit lexikalischsemantischen Informationen, die im mentalen Lexikon der SprachbenutzerInnen abgespeichert sind, sehr früh interagieren. Die Äußerungsbedeutung eines verwendeten Ausdrucks resultiert demzufolge unmittelbar aus der Aktualisierung von Kontextinformationen. Mit anderen Worten: Der Verstehensprozess besteht nicht aus zwei oder mehreren distinktiven Phasen, nämlich einem lexikalisch-semantischen „Bottom-up“-Prozess und einem kontextsensitiven „Top-down“-Prozess; es handelt sich vielmehr um einen integrativen Vorgang, in dem zwischen verschiedenen Phasen nicht sinnvoll unterschieden werden kann. Diese Ansicht stützen insbesondere Gibbs’ Untersuchungsergebnisse zum Verstehen von Metaphern und polysemen lexikalischen Ausdrücken (Gibbs 1989, 1994) sowie von indirekten Sprechakten und Ironie (Gibbs 1986a, 1986b). Ferner hat Tabossi (1988) empirische Evidenz für die Hypothese erbracht, dass die Selektion einer bestimmten Lesart eines sprachlichen Ausdrucks ohne Verzögerung erfolgt, wenn der Kontext die Interpretationsmöglichkeiten hinreichend stark einschränkt. Nur eine spezifische Bedeutung eines Ausdruckes wird demnach aktiviert, vorausgesetzt, der Kontext legt saliente Bedeutungsaspekte des in Frage stehenden Ausdrucks nahe. Dies ist etwa hinsichtlich der Bedeutung von port bei Sätzen wie (2) der Fall. (2) The violent hurricane did not damage the ships which were in the port, one of the best equipped along the coast. Der Satzkontext hebt hier den salienten Bedeutungsaspekt von port hervor, ein sicherer Ort für Boote zu sein; nur entsprechend relevante Bedeutungsaspekte werden aktualisiert. Weitere Arbeiten von Tabossi (etwa Tabossi 1989, 1991; Tabossi et al. 1987) konzentrieren sich auf den empirischen Nachweis, dass Kontextinformationen grundsätzlich aktualisiert sein müssen, damit mögliche Lesarten eines Ausdrucks auf eine bestimmte beschränkt werden. Untersuchungen zum Verstehen von ironischen Äußerungen haben jedoch auch Zweifel an der Erklärungsadäquatheit des interaktionistischen Modells aufkommen lassen. Dem interaktionistischen Ansatz zufolge dürften sich keine signifikanten Unterschiede zwischen dem Verstehen ironischer und wörtlich gemeinter Äußerungen nachweisen lassen. Die Überprüfung dieser Hypothese fiel indes in zahlreichen Experimenten negativ aus. So konnte Giora (1995) zeigen, dass weniger saliente Interpretationen ironi- 66 Alexander Ziem scher Äußerungen eine längere Verarbeitungszeit nach sich ziehen als andere. Ferner haben Colston und Gibbs (2002) eine Lesestudie durchgeführt, in der Versuchspersonen Äußerungen wie This one’s really sharp im Rahmen einer Geschichte vorgelegt wurden, die entweder eine ironische oder metaphorische Lesart begünstigen. Es zeigte sich, dass die Lesezeit im Fall der ironischen Lesart signifikant länger war. Ironie- und Metaphernverstehen, so muss man schlussfolgern, weichen voneinander ab, weil entweder andere kognitive Mechanismen im Spiel sind (vgl. Colston/ Gibbs 2002) oder die verwendeten Metaphern salienter waren und infolgedessen schneller verarbeitet wurden (vgl. Giora 2003: 192). Anlass zu weiterer Kritik an dem interaktionistischen Ansatz geben auch Studien zum Metaphernverstehen. Gibbs (1990) fand auf der Basis einer Leseuntersuchung von referierenden metaphorischen Ausdrücken heraus, dass der Verstehensprozess wörtlicher Äußerungen signifikant kürzer ist als der von Metaphern und anderen Tropen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Untersuchungsergebnisse weder eindeutig für das interaktionistische noch für das modulare Modell sprechen. Umstritten bleibt nach über zwei Jahrzehnten Forschung immer noch, zu welchem Zeitpunkt Kontextinformationen im Verstehensprozess relevant werden und welche Rolle ihnen bei der Bedeutungskonstitution beizumessen ist. Simpson (1994: 372) sieht einen Grund für diese missliche Lage in methodologischen Schwierigkeiten. Ein grundsätzliches Problem betrifft aber auch den zugrunde liegenden Kontext-Begriff. Wichtig zu sehen ist, dass alle erwähnten Studien von einem sehr eingeschränkten, lokalistischen Kontext-Verständnis ausgehen. Im Fall von Untersuchungen, die sich auf Metaphern und lexikalische Einheiten richten, steht der Ausdruck Kontext synonym für den Satz, in dem die Metapher bzw. lexikalische Einheit vorkommt (vgl. etwa Martin et al. 1999; Vu et al. 2000; Dascal 1987); im Fall von Studien zum Verstehen von sarkastischen oder ironischen Äußerungen ist mit Kontext die Textpassage (die meist nicht länger als sechs bis zehn Sätze ist) gemeint, in der die anvisierte Äußerung eingebettet ist (vgl. etwa Gibbs 1986a; Schwoebel et al. 2000; Colston/ Gibbs 2002). Ein solcher reduzierter Kontext-Begriff scheint den Vorteil zu haben, empirisch leicht operationalisierbar zu sein, jedoch trägt er ebenso dazu bei, den Blick auf eine ganze Reihe anderer bedeutungskonstitutiver Kontextfaktoren zu verstellen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass etwa situative Aspekte und präsupponiertes Hintergrundwissen einen weitaus wesentlicheren Teil zur Bedeutungskonstitution beitragen als kotextuelle Daten. In diesem Sinne kommt auch Simpson zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, den zugrunde liegenden Kontext-Begriff selbst zu überdenken. What is required is that we expand our overly narrow definition of context, which has traditionally encompassed only the meaning conveyed within in a single sentence. […] Only by taking a broader view of context will we be able to direct our efforts more productively to understanding the nature of lexical ambiguity and its relation to other aspects of language comprehension, rather than focusing Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 67 on it exclusively as a means to settle a single theoretical debate. (Simpson 1994: 372) Eine erste - wenngleich zunächst unauffällige - Erweiterung des Kontext- Begriffs nimmt die Psycholinguistin Rachel Giora vor, wenn sie in einer Reihe von Studien jenseits des interaktionistischen und modularen Modells für eine dritte Position plädiert, der Theorie der abgestuften Salienz. 3.2 „Lexikalisierte Kontexte“: Gioras Theorie der abgestuften Salienz Die wesentliche Neuerung Gioras liegt in der Annahme, dass während des Rezeptionsprozesses aktiviertes lexikalisch-semantisches Wissen abhängig von vier Parametern variieren kann (vgl. Giora 2003: 13-18): (1) Frequenz, (2) Vertrautheit („familiarity“), (3) Konventionalität und (4) Prototypikalität. Giora weicht substantiell vom modularen Ansatz ab, insofern die im mentalen Lexikon abgespeicherten Bedeutungen als variable, dynamische Einheiten gelten, die sich abhängig vom Sprachgebrauch ändern. In Übereinstimmung mit dem modularen Ansatz geht sie jedoch weiterhin von einer nur sekundären Funktion des aktuellen Verwendungskontextes bei der Bedeutungskonstitution aus (vgl. Peleg/ Giora/ Fein 2004). Was ihre Theorie der abgestuften Salienz für unseren Zusammenhang interessant werden lässt, ist die implizite Infragestellung von invariablen semantischen „Kernen“ sprachlicher Bedeutungen. Angezweifelt wird nicht die Existenz von Standardbedeutungen im mentalen Lexikon, sondern deren rein sprachlicher, also nicht-konzeptueller Status (von dem modulare Semantiktheorien ausgehen). Es wird sich zeigen, dass Giora damit implizit eine kontextualistische Position vertritt, die einem lexikalischen Ausdruck eine intrinsisch konzeptuelle und mithin erfahrungsabhängige Standardbedeutung zuspricht. Die Theorie der abgestuften Salienz hat Giora ausgehend von zahlreichen psycholinguistischen Experimenten entwickelt (dokumentiert in Giora 2003, 2004; Peleg/ Giora/ Fein 2001, 2004). Das Hauptziel besteht darin, experimentell nachzuweisen, dass lexikalische Bedeutungen sowie Phraseme mittels einer anderen kognitiven Operation aktualisiert werden als durch den Kotext motivierte Bedeutungsaspekte. Statt auf die Studien im Detail einzugehen, möchte ich mich einer scheinbar marginalen Frage zuwenden: Inwiefern erklärt sich die Salienz der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks durch die Kontexte, in denen die Ausdrücke benutzt worden sind? Giora selbst thematisiert diese Frage vielleicht deshalb nicht, weil auch sie ihren Untersuchungen einen lokalistischen Kontext-Begriff, der nur kotextuell gegebene Daten einschließt, zugrunde legt. Salient, also dem Bewusstsein leicht zugänglich, ist eine Bedeutung dann, wenn sie sich kognitiv verfestigt hat und im mentalen Lexikon entsprechend kodiert bzw. abgespeichert ist. Dabei gilt: „The relative salience of the coded meaning is a function of its prototypicality, or amount 68 Alexander Ziem of experiential familiarity induced by exposure (frequency).“ (Peleg/ Giora/ Fein 2004: 175) Inwiefern bestimmen Prototypikalität, Vertrautheit und Frequenz den Salienzgrad einer sprachlichen Bedeutung? Und unter welchen Umständen erhöht sich die Salienz einer Bedeutung? Vertrautheit und Auftretenshäufigkeit einer bestimmten Bedeutung eines Ausdrucks hängen eng miteinander zusammen. In dem Maße, wie die Auftretensfrequenz steigt, erhöht sich die Vertrautheit und mithin die Salienz der Bedeutung der sprachlichen Kategorie. (Gernsbacher 1984) Auch Konventionalität steht mit der Auftretensfrequenz in einem engen Zusammenhang. Denn sprachliche Bedeutungszuschreibungen können nur unter der Bedingung einer hohen Auftretensfrequenz des bedeutungsevozierenden Ausdrucks konventionell werden. Beispielsweise wäre die computerspezifische Bedeutung von Maus allenfalls fachsprachlich geläufig, wenn der Ausdruck in dieser Verwendungsweise alltagssprachlich nicht häufig aufgetreten wäre. Konventionalität betrifft also die Beziehung zwischen sprachlicher Regularität, dem Gebrauchskontext eines sprachlichen Ausdrucks und der Sprachgemeinschaft, die typischerweise die Verwendung eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks in einem bestimmten Kontext bevorzugt. (Nunberg/ Sag/ Wasow 1994: 492 f.) Folglich ist Konventionalität zuvorderst eine soziale Kategorie, die innerhalb einer Gemeinschaft intersubjektiv voraussetzbare Regularitäten in Handlungen oder im Wissen von SprachbenutzerInnen (im Sinne von Lewis 1975) betrifft. Auch sprachliche Konventionalisierung vollzieht sich nie im kontextfreien Raum, sondern immer im Rahmen konkreter situativ gebundener Handlungszusammenhänge, ohne die Konventionalisierungsprozesse in den meisten Fällen scheitern (dies wohl schon im einfachen Fall der Etablierung einer weiteren Bedeutung des Ausdrucks Maus). Für den Faktor Frequenz gilt ganz ähnlich, dass dieser nur den kognitiven Zugang zu einer Kategorie erleichtert, wenn Verwendungskontexte einbezogen werden. Allein die hohe Auftretenshäufigkeit eines Ausdrucks erhöht nämlich nicht die Salienz einer Bedeutung des Ausdruckes. Nötig ist vielmehr, dass ein Ausdruck frequent in gleichen oder vergleichbaren Kontexten auftritt, denn erst diese ermöglichen eindeutige Bedeutungszuschreibungen: Welche Bedeutung der Ausdruck Maus aufruft, ist eine Frage des Kotextes und Kontexts, nicht des Lexems Maus allein. Neben der Frequenz, der Konventionalität und Vertrautheit nennt Giora, mit Bezug auf die klassischen Studien von Rosch (wie 1973), Prototypikalität als vierten Faktor, der die Salienz einer Bedeutung maßgeblich beeinflusst. Abweichend von den anderen Faktoren betrifft Prototypikalität die interne Struktur einer Kategorie. So zeichnen sich prototypische Instanzen einer Kategorie unter anderem dadurch aus, dass auf sie schneller kognitiv zugegriffen werden kann als auf andere. Steigt also die Prototypikalität einer Bedeutung, erhöht sich die kognitive Salienz. Prototypikalität ist dabei eine erfahrungsabhängige, dynamische Größe. Sprachliche Kategorien spiegeln nicht die objektive Realität, sondern sind kognitive Konstrukte. „The Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 69 cognitive models at work in radial categories, in other words, may be culturally specific; they do not so much reflect how reality is carved up objectively, but rather how the mind creates different realities.“ (Lewandowska- Tomaszczyk 2007: 149) In diesem Sinne spricht Lakoff (1987) von „idealisierten kognitiven Modellen“. So mag beispielsweise die prototypische Struktur der Kategorie „Mutter“ variieren und wahlweise prototypische Subkategorien wie „Ersatzmutter“, „Leihmutter“ oder „Adoptivmutter“ verfügbar machen. Welche konkrete Gestalt die Kategorie annimmt, hängt dabei nicht weniger vom Hintergrundwissen der SprachbenutzerInnen ab als vom situativen Gebrauchszusammenhang - kurzum: von Kontextfaktoren. Aus den letzten Überlegungen zur Theorie der abgestuften Salienz leiten sich einige interessante Schlussfolgerungen zur Rolle des Kontextes beim Sprachverstehen ab. Giora interpretiert die Ergebnisse ihrer Studien insbesondere als Evidenz gegen das interaktionistische Modell. Die Untersuchungen erbrächten den Nachweis, dass „salient meanings are not inhibited by context but are always activated upon encounter“. (Giora 2003: 192) Mit anderen Worten: Unabhängig von der kotextuellen Einbettung werden im Verstehensprozess sprachlicher Zeichen immer zuerst saliente lexikalische Bedeutungen aktiviert und erst nachträglich kotextuelle Informationen semantisch integriert. Entscheidend ist nun aber Folgendes: Soll der Rolle von Kontexten im vollen Umfang Rechnung getragen werden, ist ebenso zu berücksichtigen, dass kognitive Zugänglichkeit (Salienz) ihrerseits ein Epiphänomen des Sprachgebrauchs darstellt und abhängig von den Parametern Vertrautheit, Konventionalität, Frequenz und Prototypikalität variiert. Denn bei diesen Parametern handelt es sich um gebrauchsbasierte Kategorien, die ihre Relevanz im Rahmen ähnlicher rekurrent auftretender Kontexte entfalten. Und das heißt, dass Kontextinformationen den im mentalen Lexikon abgespeicherten salienten Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke inhärent sind. In ihnen, so könnte man sagen, haben sich Kontextinformationen lexikalisiert. 3 3.3 Zwischenfazit Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? Bislang bleibt festzuhalten, dass kotextuelle Informationen zwar als bedeutungsrelevant gelten, allerdings fraglich ist, ob diese am sprachlichen Verstehensprozess konstitutiv beteiligt sind oder aktualisierte Bedeutungsrepräsentationen nur 3 Zu einem ähnlichen Befund kam schon Barsalou (1982), allerdings fand sein Beitrag kaum Beachtung in der einschlägigen Forschung. Barsalou postuliert kontextunabhängige Bedeutungsaspekte, die ohne Bezug auf den Gebrauchskontext aktiviert würden. Barsalou zufolge sind diese Bedeutungsaspekte durch zwei Umstände motiviert: (1) „they are useful for distinguishing instances of a concept from instances of other concepts“, oder/ und (2) sie sind „relevant to how people typically interact with instances of the respective concept“. (Barsalou 1982: 82) 70 Alexander Ziem elaborieren. Der Nachweis Gioras, dass Bedeutungen abhängig von ihrer Salienz aktualisiert werden, macht jedoch deutlich, dass Kontexte auf eine andere Weise erheblich zur Bedeutungsbildung beitragen. Salient ist Giora zufolge eine Bedeutung dann, wenn sie sich aufgrund einer hohen Auftretensfrequenz, einem hohen Grad an Prototypikalität oder Vertrautheit oder dank ihres konventionellen Status stabilisiert hat. Bei diesen vier Parametern handelt es sich um gebrauchsbasierte Größen, die nur unter der Bedingung ähnlicher rekurrent auftretender Kontexte ihre Wirksamkeit entfalten können. Kritisch zu bewerten sind drei Aspekte der bislang dargestellten psycholinguistischen Ansätze: • Sowohl dem interaktionistischen und modularen Modell als auch Gioras Theorie der abgestuften Salienz liegt ein stark reduktionistischer Kontext-Begriff zugrunde, der lediglich kotextuelle Daten im Umfang von drei bis fünf Sätzen vor und nach dem Zielausdruck berücksichtigt. Es dürfte aber außer Frage stehen, dass die Salienz sprachlicher Bedeutungen auch von soziolinguistischen Parametern (wie Alter, Geschlecht, Herkunft usw. der SprachbenutzerInnen), von außersprachlichen Faktoren (etwa kopräsenten Objekten, auf die deiktisch Bezug genommen werden kann) sowie von dem Erfahrungswissen eines/ einer Sprachteilnehmers/ Sprachteilnehmerin (etwa alltagspraktische Handlungsformen oder Absichten und Motive sprachhandelnder Personen betreffend) abhängt. • Da solche Kontextfaktoren keine Berücksichtigung finden, fehlt ebenso eine Unterscheidung von Kontexttypen. Pauschal ist vom „Kontext“ oder von „Kontexteffekten“ die Rede, ohne nach inhaltlichen oder formalen Kriterien zwischen verschiedenen Arten von Kontexten zu differenzieren. • Noch gravierender ist der fehlende Einbezug semantischer Inferenzen bei der Bedeutungsbildung. Inferenzen sind am Verstehensprozess konstitutiv beteiligt, und sie sind nicht nur durch kotextuelle Elemente motiviert, sondern prinzipiell durch alle Wissensformen, auf die SprachbenutzerInnen in einer Kommunikationssituation zugreifen können. Dem letzten Kritikpunkt begegnet die psycholinguistische Inferenzforschung, der ich mich nun widmen möchte. 4 Psycholinguistische Inferenztheorien: Hintergrundwissen und Situation als Kontext Hauptgegenstand der psycholinguistischen Inferenztheorie bilden sprachliche Referentialisierung und Kohärenzetablierung als konstitutive Sprachverstehensleistungen. Inferenzen sind weltwissensbasierte (und deshalb nicht zwangsläufig logische) Schlussfolgerungen von gegebenen auf nicht Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 71 gegebene Informationen und mithin Kontextualisierungsleistungen von Sprachverstehenden. Die Inferenztheorie stellt einen wichtigen Baustein einer kognitiven Kontexttheorie dar, wenngleich sie in dieser Funktion bislang kaum beachtet wurde. Der Einfluss von Inferenzen auf den Sprachverstehensprozess wurde in den letzten drei Jahrzehnten im Rahmen von drei Ansätzen diskutiert: einer minimalistischen, maximalistischen und situativen Inferenztheorie. Sie unterscheiden sich, insofern Inferenzen unterschiedliche semantische Funktionen zugeschrieben und unterschiedliche Auslöser von Inferenzen angesetzt werden (Rickheit/ Strohner 1999, 2003; Strohner 2006). Im minimalistischen Ansatz, der etwa von Kintsch (1988), Kintsch und van Dijk (1978) sowie McKoon und Ratcliff (1992) vertreten wird, erfüllen Inferenzen lediglich die Funktion, lokale Verstehenslücken im Text zu überbrücken und bereits aufgebaute Textrepräsentationen zu korrigieren. Inferenzen sorgen nach diesem Verständnis für die Herstellung lokaler Kohärenz, im Ansatz von Kintsch und van Dijk etwa durch die Verbindung unmittelbar aufeinanderfolgender Propositionen. Solche Inferenzen können kausale oder koreferentielle Verknüpfungen betreffen, wie Schwarz (2000) am Beispiel indirekter Anaphora gezeigt hat. McKoon und Ratcliff (1992: 440) erkennen daneben auch alle Inferenzen an, die „schnell und leicht“ verfügbar sind. Ein solcher Ansatz verdient in doppelter Hinsicht minimalistisch genannt zu werden. Zum einen schließt er keine Inferenzen ein, die sich auf die globale Textkohärenz richten, wie etwa darauf, in welchem Zusammenhang der propositionale Gehalt eines Satzes mit dem Thema (oder der Makroproposition im Sinne von van Dijk 1980) des Textes oder übergeordneten Handlungszielen steht; zum anderen grenzt er von vornherein viele Typen von Weltwissen aus, die als Wissensbasis von Inferenzen in Frage kämen. In der maximalistischen und situativen Inferenztheorie wird dagegen die Funktion von Inferenzen beim Sprachverstehen sehr fundamental angesetzt. (Rickheit/ Strohner 1990) Inferenzen, so die Annahme, werden auch hinsichtlich Handlungszielen, Intentionen, thematischen und kausalen Zusammenhängen gebildet. Empirische Evidenz haben Bransford, Barclay und Franks (1972) dafür bereits in ihrer frühen Studie erbracht, wenngleich sie hier der Frage keine Aufmerksamkeit geschenkt haben, ob die ermittelten Inferenzen während („on-line“) oder nach („off-line“) dem Rezeptionsakt gebildet werden. Auf der Basis neuer Forschungsergebnisse haben Graesser, Singer und Trabasso (1994) die maximalistische Position konkretisiert und drei Prämissen formuliert. Demnach hat erstens das Motiv der Textrezeption Einfluss auf die Inferenztätigkeit. („reader goal assumption“, Graesser/ Singer/ Trabasso 1994: 371) Zweitens kommen Inferenzen beim Versuch der Kohärenzetablierung zustande, und zwar sowohl in lokaler als auch in globaler Reichweite. („coherence assumption“, Graesser/ Singer/ Trabasso 1994: 372) Und drittens führt die Frage nach den Gründen von Handlungen und Ereignissen, die sprachlich zum Ausdruck kommen 72 Alexander Ziem („explanation assumption“, Graesser/ Singer/ Trabasso 1994: 372), zu weiteren Inferenzen. Graesser, Singer und Trabasso (1994: 385-391) kritisieren damit direkt die Erklärungsinadäquatheit des minimalistischen Modells und führen eine Vielzahl empirischer Studien an, die ihre eigene Position belegen. Ihren Ergebnissen zufolge übernehmen Inferenzen eine viel fundamentalere Funktion beim Sprachverstehen, als dies der minimalistische Ansatz vorsieht. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Inferenzen nicht nur dort auftreten, wo es Kohärenz zwischen Textelementen herzustellen gilt, sondern auch dort, wo derartige Kohärenzlücken nicht existieren, wohl aber andere Inferenzbildungen möglich wären. Dem Kontext kommt damit eine erheblich zentralere Rolle zu. Geht der minimalistische Ansatz noch von drei Inferenztypen aus, nämlich solchen, die sich auf die Interpretation von koreferentiellen Beziehungen, von Kasusrollen und von kausalen Beziehungen zwischen direkt aufeinander folgenden Propositionen beziehen, so nennen Graesser, Singer und Trabasso (1994: 375) neben diesen eine Reihe weiterer Inferenztypen. Diese betreffen nicht nur die semantische Beziehung von Textelementen zueinander, sondern auch die Beziehung von Textelementen zu extratextuellem Wissen. Im nächsten Abschnitt werde ich auf die in diesem Zusammenhang von Graesser, Singer und Trabasso vorgeschlagene Typologie möglicher Inferenzen zurückkommen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass die maximalistische Inferenztheorie erstmals zwei weitere Kontexttypen einbezieht: Hintergrundwissen der SprachteilnehmerInnen und außersprachliche Elemente der Kommunikationssituation. Die situierte Inferenztheorie hat schließlich in jüngster Zeit das maximalistische Modell hinsichtlich pragmatischer Aspekte erweitert (vgl. Rickheit/ Wachsmuth 2006). Schon in der grundlegend überarbeiteten Fassung ihres propositionalen Modells begreifen van Dijk und Kintsch (1983) Kohärenzetablierung stärker als einen kommunikativen Prozess. Inferenzziehungen folgen hiernach vorwiegend einem strategischen Kalkül. Die Einführung des Strategiebegriffes dient dazu, neben kognitiven auch kontextuelle Annahmen zu berücksichtigen. Dazu zählen u.a. die situative Einbettung eines Textes, soziale Parameter wie Motive, Normen sowie die Sprechaktfunktion eines Textes (Rickheit/ Strohner 1999: 285), wobei m.E. fraglich bleibt, wie sich letztere - wenn überhaupt - analytisch bestimmen lässt. Zwei zusätzliche Aspekte lassen sich im maximalistischen Ansatz ausmachen, die van Dijk und Kintsch (1983) nicht thematisieren. In seinem Inferenzkonzept hat Clark (1978) einmal stärker die bisweilen fast ausgeblendete Rolle des/ der Textproduzenten/ Textproduzentin für Inferenzprozesse thematisiert. Dadurch gelingt es ihm, die Intention eines/ einer Textverfassers/ Textverfasserin inferenztheoretisch stärker einzubinden. Vor allem, so argumentiert Clark (1978: 295), seien solche Schlüsse verstehenskonstitutiv, die der/ die TextproduzentIn selbst intendiert hat; der Kontext betrifft hier also (soziales) Hintergrundwissen über TextproduzentInnen und -rezipientInnen. Dies scheint zwar die Gefahr einer intentionalistisch verkürzten Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 73 Perspektive auf Inferenzen zu bergen, die im Verstehensprozess involvierte Hintergrundannahmen ignoriert. Dieser Gefahr beugt Clark aber in späteren Arbeiten (wie in Clark 1996) vor, indem er das gemeinsame Wissen der Kommunikationsbeteiligten als Basis von Inferenzziehungen anerkennt. 4 Hintergrundwissen (wie z.B. diskursiv-abstraktes Wissen) mitzuteilen, gehört meist nicht zur kommunikativen Absicht eines/ einer Textproduzenten/ Textproduzentin, und doch mag es als Inferenzbasis fungieren. Der zweite zentrale Aspekt einer situierten Inferenztheorie macht diesen letzten Punkt deutlich. Inferenzbildungen erfolgen häufig nicht, weil die Textbasis dazu Anlass gibt, sondern weil ein Situationsmodell diese motiviert. Graesser, Millis und Zwaan (1997) und zuvor schon Johnson-Laird (1983) haben die Relevanz von Inferenzziehungen aufgezeigt, die der kommunikativen Situation entspringen, also situativ und sprachhandlungsbezogen motiviert sind. Das betrifft beispielsweise Kontextwissen, das personen-, zeit- und ortsdeiktische Bezugnahmen möglich macht. Ausgerichtet am Paradigma der mündlichen Kommunikation findet also der außersprachliche Kontext als Inferenzbasis eine stärkere Beachtung. Handlungs- und Situationsinferenzen sind oftmals nicht textuell motiviert, sondern konkreten non-verbalen Situationsfaktoren geschuldet, so dass die situierte Inferenztheorie „von einer durchgängigen Situationsabhängigkeit der Inferenzbildung“ (Rickheit/ Strohner 1999: 290) ausgeht. Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass Inferenzen nicht nur verstehensstützend, sondern verstehenskonstituierend sind. Sprachverstehen ohne Inferenzbildung erweist sich als unmöglich, weil Inferenzen auf allen Ebenen der Sprachverarbeitung wirksam sind. Inferenzen beschränken sich folglich nicht, wie es die minimalistische Inferenztheorie und auch psycholinguistische Studien zum Verstehen ambiger Wörter und nicht-wörtlicher Äußerungen (vgl. Abschnitt 3) vorsehen, auf die semantische Korrelation von Textelementen. Zweifelsohne sind zwar Inferenzen, die eine Proposition bzw. ein Textelement mit einer vorangegangenen Proposition bzw. einem vorangegangenen Textelement verbinden, für Textverstehen unerlässlich. Darüber hinaus gibt es aber starke empirische Evidenz dafür, dass so genannte „extratextuelle Inferenzen“ ebenso maßgeblich am Verstehensprozess beteiligt sind. 5 Solche Inferenzen leiten sich von generischen und spezifischen Wissensstrukturen ab, die der/ die TextrezipientIn vermittelt über kognitive Modelle (im einleitend erwähnten Sinn), d.h. über kognitive Schemata wie Frames, Skripts, Szenarios, mentale Räume einbringt, um 4 Zur Kontroverse zwischen einer konstruktivistischen Inferenztheorie in der Folge von Bransford/ Barclay/ Franks (1972) und Crothers (1978) und einem intentionalistischen Ansatz wie dem Clarks vgl. Biere (1989: 92-100). Die späteren Arbeiten Clarks (wie 1996) konnte Biere freilich nicht berücksichtigen. 5 Zur Unterscheidung von „extratextual inferences“ und „text-connecting inferences“ vgl. Graesser/ Bower (1990); Singer/ Ferreira (1983); Trabasso/ Suh (1993). Extratextuelle Inferenzen werden in der Literatur auch häufig unter dem Aspekt der Kohärenz, Textelemente verbindende Inferenzen unter dem Aspekt der Kohäsion betrachtet. 74 Alexander Ziem einzelne Ausdrücke und Ausdrucksketten zu interpretieren. (Graesser/ Singer/ Trabasso 1994: 376) Die psycholinguistische Inferenzforschung leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer kognitiven Kontexttheorie. Gestützt durch Ergebnisse experimenteller Studien schärft sie den Blick für kontextuelle Informationen, die eine gegebene Textbasis weit übersteigen und maßgeblich am Verstehensprozess beteiligt sind. Sie weist somit die Verstehensrelevanz von Kontextinformationen nach, die dem Hintergrundwissen der Kommunikationsteilnehmer und der Kommunikationssituation entspringen. Derartige Kontextinformationen liegen jenseits des Zugriffsbereiches psycholinguistischer Studien zum Verstehen ambiger Wörter und nicht-wörtlicher Äußerungen (vgl. Abschnitt 3) 5 Kontexttypen Eine kognitive Kontexttheorie sollte nicht nur experimentell nachweisen und erklären können, wie Kontextinformationen zum Sprachverstehen beisteuern; versteht sie sich als Teil einer umfassenden Kommunikationstheorie, sollte sie außerdem Aufschluss darüber geben, welche Typen von Kontextinformationen verstehensrelevant oder sogar verstehenskonstitutiv sind. Eine reliable Bestimmung von Kontexttypen ist dabei grundsätzlich eine empirische Aufgabe, die eine induktive Vorgehensweise erfordert, da die Ermittlung von Kontexttypen vom methodischen Zugriff nicht weniger abhängt als vom Paradigma, in dem sich ein Ansatz verortet. 6 Deshalb ist weder eine abgeschlossene noch eine letztgültige Typologie zu erwarten, wohl aber eine, die den aktuellen Forschungsstand reflektiert und sich offen zeigt für die Integration neuer Forschungsergebnisse, d.h. die prinzipiell die Möglichkeit zulässt, empirisch belegte Hypothesen hinsichtlich verstehensrelevanter Kontexttypen zu falsifizieren. Empirisch gut abgesichert ist eine Kontexttypologie dann, wenn verschiedene Versuche, Kontexttypen zu erfassen, zu vergleichbaren Ergebnissen kommen. Um in diesem Sinne „konvergierende Evidenz“ (Langacker 2008: 85) ausfindig zu machen, sollen nun drei Kontexttypologien vergleichend gegenübergestellt werden, die in verschiedenen Forschungszusammenhängen entstanden sind: (1) van Dijks Zusammenstellung von Kontextkategorien (van Dijk 1997: 193, 220), (2) Busses semantiktheoretisch motivierte Differenzierung von Wissenstypen (Busse 1991: 149 f.) und (3) die Unterscheidung von verschiedenen Inferenztypen im maximalistischen (Graesser/ Singer/ Trabasso 1994) sowie situativen (Graesser/ Millis/ Zwaan 1997) Ansatz. Meines Wissens sind dies die bislang einzigen Versuche, verstehensrelevante Kontextinformationen möglichst exhaustiv zu erfassen. 6 Es dürfte beispielsweise selbsterklärend sein, dass ein semantisches Mehr-Ebenen- Modell, das Kontextinformationen eine nur nebengeordnete Rolle zuspricht, keine Differenzierung von Kontexttypen vornimmt. Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 75 Busses Ausgangspunkt bildet die Konzeption einer explikativen Semantik, die situative und kommunikative Faktoren bei der Bedeutungskonstitution gleichermaßen Rechnung tragen möchte. Sie geht von sprachlichkommunikativen Einheiten als kleinste Analysegrößen aus, deren Informationsgehalt sich SprachbenutzerInnen im Rückgriff auf alle ihnen zur Verfügung stehenden Wissensressourcen erschließen. Da die relevanten Kontextinformationen entsprechend vielfältig sind, begreift Busse seine Typologie als eine Heuristik. Auch van Dijk betont den vorläufigen Charakter seiner Klassifizierung von Kontextkategorien. Er orientiert sich an Kategorien, die sich in ethnographischen, soziolinguistischen, pragmatischen, mikrosoziologischen und sozialpsychologischen Studien bewährt haben. Anders als Busse und van Dijk leiten schließlich Graesser, Singer und Trabasso (1994) sowie Graesser, Millis und Zwaan (1997) Inferenztypen ausschließlich aus durchgeführten psycholinguistischen Untersuchungen ab. Da es sich dabei um Lesestudien handelt, Texte also schriftsprachlich vermittelt wurden, ist zwar davon auszugehen, dass im Fall der mündlichen Kommunikation weitere Inferenztypen ins Spiel kommen. Insgesamt ist aber die Liste ermittelter Inferenztypen so differenziert, dass sich ihnen die meisten von Busse und van Dijk angesetzten Wissenstypen zuordnen lassen (vgl. Tabelle 1). Die Lesestudien haben empirische Evidenz dafür erbracht, dass lediglich vier der in Tabelle 1 aufgelisteten Inferenztypen „off-line“, also nicht während des Textrezeptionsprozesses wirksam werden, nämlich Wissen hinsichtlich (1) kausaler Folgen einer Handlung oder eines Ereignisses, (2) einer Teil-Ganzes-Beziehung, (3) untergeordneter Handlungsziele sowie hinsichtlich (4) solcher Instrumente, mit denen eine Handlung durchgeführt oder ein Ereignis bewirkt wird. Ob Inferenzen hinsichtlich Emotionen der TextrezipientInnen, Intentionen des/ der Autors/ Autorin und thematischer Rahmungen off-line oder on-line gezogen werden, konnte nicht abschließend geklärt werden. Dass sich alle anderen Inferenztypen im Moment des Textverstehens wirksam gezeigt haben, deutet darauf hin, dass weitaus mehr Wissensaspekte Einfluss auf die Salienz sprachlicher Bedeutungen haben, als Giora in ihrer Theorie der abgestuften Salienz zugesteht. 76 Alexander Ziem soziokognitive Wissenstypen (van Dijk 1997) Inferenztypen (GMZ und GST) 7 Wissenstypen einer explikativen Semantik (Busse 1991) • Wissen über das Setting: Ort, Zeit des kommunikativen Ereignisses • Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation [GMZ] • Wissen über Raum-/ Zeitkoordinaten deiktischer Ausdrücke • Wissen über soziale Umstände: vorausgegangene Handlungen, soziale Situation • Wissen über Charakteristika von Personen/ Objekten [GST] • Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation [GMZ] • durch aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen der KommunikationspartnerInnen nichttextueller Provenienz [keine Entsprechung] • Wissen über Teil- Ganzes-Beziehungen (meronymisches Wissen) [GST] • Wissen über Verwendungs- und Strukturierungsregeln von Textelementen [keine Entsprechung] • Wissen über thematische Bezüge zwischen sprachlich Dargestelltem und übergeordneten Themen [GST] • Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation [GMZ] • Wissen über die bereits konstituierte Textwelt [keine Entsprechung] • Wissen über nötige Instrumente zur Durchführung einer Handlung bzw. Bewirkung eines Ereignisses [GST] • Wissen über gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsformen [keine Entsprechung] • Wissen über thematische Bezüge zwischen sprachlich Dargestelltem und übergeordneten Themen [GST] • Wissen über Formen der Textgliederung und -strukturierung 7 Die Abkürzungen in Klammern geben an, welcher Publikation der Wissenstyp entnommen ist: „GST“ steht für „Graesser/ Singer/ Trabasso (1994)“, „GMZ“ für „Graesser/ Millis/ Zwaan (1997)“. Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 77 • Wissen über SprachbenutzerInnen und deren Rollen • Wissen über aktuelle situationsbedingte Beziehungen zwischen SprachbenutzerInnen • allgemeines Wissen über situationsunabhängige Beziehungen zwischen SprachbenutzerInnen • soziales Wissen über SprachbenutzerInnen (Geschlecht, Alter, Gruppenzugehörigkeit etc.) • Wissen über Ideologien der SprachbenutzerInnen • Wissen über Intentionen des/ der Autors/ Autorin [GST] • Erfahrungswissen über den/ die Textproduzenten/ Textproduzentin [keine Entsprechung] • Wissen über untergeordnete Handlungsziele bzw. Teilhandlungen von Handlungen [GST] • Wissen über übergeordnete Handlungen [GST] • Wissen über alltagspraktische Handlungs- und Lebensformen [keine Entsprechung] • Wissen über kausale Folgen einer Handlung oder eines Ereignisses [GST] • Wissen über die sinnlich erfahrene Welt • Wissen über das institutionelle Umfeld [keine Entsprechung] • diskursiv-abstraktes Wissen [keine Entsprechung] • Wissen über Emotionen von Personen im Text [GST] • Wissen über Emotionen der TextrezipientInnen [GST] • Wissen über Emotionen der Kommunikationsbeteiligten 78 Alexander Ziem • Wissen über Einstellungen der SprachbenutzerInnen • Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation [GST] • Wissen über Bewertungen, Einstellungen • Wissen über Absichten, Ziele, Motive • Wissen über übergeordnete Ziele der (Sprach-) Handlungen • Wissen über übergeordnete Handlungsziele [GST] • Wissen über untergeordnete Handlungsziele bzw. Teilhandlungen von Handlungen [GST] • Wissen über Intentionen des Autors oder der Autorin [GST] [keine Entsprechung] Tab. 1 Überführung der in Graesser/ Singer/ Trabasso (1994) (= „GST“) und Graesser/ Millis/ Zwaan (1997) (= „GMZ“) herausgearbeiteten Inferenztypen in die von Busse und van Dijk gewonnenen Wissenstypen In Tabelle 1 sind die Inferenztypen sowohl mit den von van Dijk als auch den von Busse postulierten Wissenstypen in Beziehung gesetzt. Dabei wird deutlich, dass keine Eins-zu-eins-Beziehungen bestehen. So betrifft beispielsweise der Inferenztyp „Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation“ gleich drei verschiedene Wissenstypen in Busses Typologie. Abgesehen von diesem Inferenztyp handelt es sich in Busses und auch in van Dijks Typologie meist um generische Wissenstypen, insofern die korrespondierenden Inferenztypen eher spezifischere Wissensaspekte betreffen. In diesem Zusammenhang erstaunt es nicht, dass ein Wissenstyp der explikativen Semantik Busses, nämlich „diskursiv-abstraktes Wissen“, kein Pendant findet. Die Synopse der drei Typologien macht zweierlei deutlich. Zum einen gibt es konvergierende Evidenz hinsichtlich der semantischen Relevanz einer Reihe von Kontexttypen. Alle von Graesser, Singer und Trabasso (1994) empirisch ermittelten Inferenztypen lassen sich in Busses Wissenstypen überführen und auch jener situative Inferenztyp, den Graesser, Millis und Zwaan (1997) in ihrer erweiterten Studie zusätzlich herausarbeiten, findet in den beiden pragmatischen Wissenstypen („Wissen über Raum-/ Zeitkoordinaten“ und „durch aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen“) in Busses Typologie eine Entsprechung. Zum anderen zeigt der Vergleich mit van Dijks Klassifizierung, dass sozialpsychologische Parameter in eine Kontexttheorie möglicherweise stärker einzubeziehen sind, als dies bei Busse und Graesser et al. der Fall ist. Van Dijk betont die Relevanz von soziologischen Kontextfaktoren (Alter, Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe etc.), die insbesondere ideologisch begründete Kontextuali- Welche Rolle spielt der Kontext beim Sprachverstehen? 79 sierungen ermöglichen. Zugleich konzentriert sich van Dijks Typologie so stark auf sozialpsychologische Parameter, dass solche Inferenztypen, die allein durch sprachliche Daten motiviert sind, vernachlässigt oder gänzlich unbeachtet bleiben. Die Fülle an relevanten Kontextdaten stellt den Sprachverstehenden vor eine äußerst komplexe kognitive Aufgabe. Unter Einbeziehung von gegebenen sprachlichen Daten sowie situativen Aspekten der konkreten Kommunikationssituation und Hintergrundwissen über TextproduzentInnen müssen Sprachverstehende permanent - wie es van Dijk (1997, 2006, 2008) eingängig beschreibt - das aufgebaute kognitive Modell aktualisieren, neue Informationen integrieren und abgespeicherte Informationen revidieren; nur so gelingt es, das Prinzip der Sinnkonstanz aufrechtzuerhalten. 6 Fazit Wenngleich nach 30-jähriger Forschungsgeschichte noch keine umfassende kognitive Kontexttheorie vorliegt, bleibt doch festzuhalten, dass eine Reihe von experimentellen Untersuchungen auf eine fundamentale Rolle von Kontextinformationen beim Sprachverstehen hindeutet. Zu dieser Einschätzung hat ein kritischer Überblick über psycholinguistische und kognitionswissenschaftliche Kontextforschung unterschiedlicher Provenienz geführt. Die Ergebnisse lassen sich in vier Punkten zusammenfassen. Erstens konnte in experimentellen Untersuchungen bislang zwar nicht abschließend geklärt werden, ob der Einfluss kotextueller Daten auf den Verstehensprozess eines Ausdruckes on-line oder off-line erfolgt. Unbestritten bleibt aber, dass Kotextdaten eine verstehensrelevante Funktion erfüllen. Zweitens deuten die Studien von Giora und ihren Kollegen auf eine gradierte Salienz sprachlicher Bedeutungen hin. Kontextinformationen erfüllen eine Schlüsselfunktion bei der Herausbildung salienter Bedeutungen, da der Salienzgrad abhängig vom Sprachgebrauch, nämlich von den Parametern Frequenz, Vertrautheit, Prototypikalität und Konventionalität variiert. Drittens liegt empirische Evidenz dafür vor, dass Sprachverstehende auch auf außertextuelle Kontexttypen wie situatives und präsupponiertes Hintergrundwissen inferentiell zugreifen. Manche Kontexttypen lassen sich im Verlauf des Verstehensaktes nachweisen. Schließlich kommen verschiedene Studien darin überein, dass sich die Fülle möglicherweise verstehensrelevanter Kontextdaten in eine Reihe von Kontexttypen zusammenfassen lassen, wobei sozialpsychologische und soziolinguistische Kontexttypen bisher nur sehr unzureichend berücksichtigt wurden. Hat der kritische Überblick über die einschlägige kognitive Kontextforschung deutlich gemacht, dass der Kontext-Begriff, trotz aller methodologischen Vorbehalte, als ein sprachtheoretischer Fundierungsbegriff erster Ordnung anzusehen ist, sind die bestehenden Forschungslücken nicht zu übersehen. Ein grundsätzliches Defizit betrifft die Untersuchung kognitiv- 80 Alexander Ziem struktureller Aspekte von Kontextwissen. Bislang hat die einschlägige Forschung ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf Prozessaspekte der Kontextverarbeitung gerichtet. So geht es dem modularen und interaktionistischen Ansatz sowie der Theorie der abgestuften Salienz im Kern darum, experimentell herauszufinden, ob SprachbenutzerInnen lexikalisch-semantische Informationen mittels anderer kognitiver Operationen aktivieren als kotextuelle Informationen. Inferenztheoretische Ansätze beziehen zwar auch außersprachliche Kontextparameter ein und differenzieren zudem zwischen verschiedenen Kontexttypen, jedoch konzentrieren sie sich ebenso schwerpunktmäßig auf die Art und Weise der Wissensaktivierung. Weitgehend unberücksichtigt bleibt so die Frage, wie verstehensrelevantes Wissen im Langzeitgedächtnis abgespeichert ist. Das gilt auch für van Dijks Theorie (1997, 2006, 2008) kognitiver Modelle. Welche interne Struktur haben kognitive Modelle? In welcher Gestalt ist „Wissen“ in kognitiven Modellen abgespeichert und abrufbar? Erste Antworten liefert die in der kognitiven Linguistik diskutierte Theorie mentaler Räume, Frames und Bildschemata (vgl. Ziem 2009), dies jedoch ohne dabei eine Kontexttheorie vorlegen zu wollen. Literatur B ARSALOU , Lawrence W. (1982): „Context-Independent and Context-Dependent Information in Concepts“. In: Memory & Cognition, Volume 10, Issue 1, 82-93. B ATES , Elizabeth (1999): „On the Nature and Nurture of Language“. In: Emilio Bizzi/ Pietro Calissano/ Virginia Volterra (Hrsg.), Frontiere della Biologia: Il Cervello di Homo Sapiens. Rom: Istituto della Enciclopedia Italiana, 241-265. B IERE , Bernd Ulrich (1989): Verständlich-Machen. Hermeneutische Tradition - Historische Praxis - Sprachtheoretische Begründung. Tübingen: Niemeyer. B IERWISCH , Manfred/ K IEFER , Ferenc (1970): „Remarks on Definitions in Natural Language“. In: Ferenc Kiefer (Hrsg.): Studies in Syntax and Semantics. Dordrecht: Reidel, 55-79 (= Foundation of Language Supplementary Series 10). B IERWISCH , Manfred (1983a): „Psychologische Aspekte der Semantik natürlicher Sprachen“. 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Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth Kontext korpuslinguistisch Die induktive Berechnung von Sprachgebrauchsmustern in großen Textkorpora Kontexte werden mit Mitteln der sprachlichen Oberfläche konstituiert. Zu diesen Mitteln gehören sprachliche Formeln, die für bestimmte Textsorten oder Textfunktionen typisch sind. Weil diese sprachlichen Formeln ein Phänomen der sprachlichen Oberfläche sind, auf die unmittelbar zugegriffen werden kann, ist eine empirische, korpuslinguistische Analyse dieser Formeln möglich. Mehr: Mit Mitteln der induktiven Statistik lässt sich berechnen, welche Elemente der sprachlichen Oberfläche für ganz bestimmte Kontexte typisch sind. 1 Sprachgebrauchsmuster als Effekte sozialen Sprachhandelns Kontext als Bedingung für Sprechen anzunehmen, ist eines der Grundpostulate der sog. „pragmatischen Wende“. Allerdings hat sich mit dieser Wende die Blockbildung in der Linguistik - Block 1: die sog. „Systemlinguistik“, Block 2: die sog. „Bindestrichlinguistik“ - verschärft, und in einem zweiten Schritt wurde die Pragmatik als Kind der Wende im systemlinguistischen Sinn umgedeutet und vereinnahmt: „Austin, Wittgenstein, and Grice were hailed as heroes in the 1970s and their insights were quickly integrated into a systemoriented linguistics looking for universal features of language.“ (Nerlich 1995: 311) Damit führte die pragmatische Wende zwar zu einer Ausweitung des linguistischen Untersuchungsgegenstandes: Es wurden nun auch Alltagstexte und Gespräche betrachtet. Doch wurde nun parallel zum universalgrammatischen ein universalpragmatisches Erkenntnisinteresse formuliert, das sich auf die Suche nach der Universalität von Sprechakten und deren tiefenstrukturellen Gemeinsamkeiten machte. Feilke (2003: 217) sieht darin aber nur den ersten Teil einer pragmatischen Wende, die sich in den vergangenen 20 Jahren durch eine „zweite pragmatische Wende“ unter geänderten Vorzeichen fortsetzte. Diese zweite Wende setzt ihre Positionen in einigen Bereichen neu. (Feilke 2003: 217 ff.) Besonders relevant für eine neue Sichtweise auf Kontext sind die folgenden beiden Aspekte: • Formelhaftigkeit der sprachlichen Oberfläche statt sprachliche Universalien der Tiefenstruktur 86 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth • Kontextualisierung statt Kontext Die Fähigkeit, den pragmatischen Wert eines Textes bestimmen zu können, liegt weniger darin, Tiefenstrukturen zu entschlüsseln, sondern über ein Sprachgebrauchswissen zu verfügen. Überspitzt formuliert: Die Art der Formulierung entscheidet darüber, ob es sich bei einem Text um einen Wetterbericht oder eine politische Ansprache handelt. Vgl. dazu die beiden Gruppen von Formeln: 1. „… Durchzug von … weitgehend trocken … vereinzelt …“ 1 2. „… liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger … unser ist … aber … gleichzeitig nimmt … stetig ab … jeder … unabhängig von … ich will … unser … muss … werden … mehr Wettbewerb … solidarisch … ich bin sicher …“ 2 Statt den Kontext als Grundlage für das Verstehen zu begreifen, wird Kontext auch als Folge von Text betrachtet: Anscheinend sind bestimmte Elemente in einem Text dafür verantwortlich, dass unterschiedliche LeserInnen und HörerInnen den gleichen Kontext erzeugen. Sprachhandeln wirkt also konstituierend für Entitäten wie Textsorten oder kommunikative Gattungen. Denn wie Feilke (2003: 212) klar zeigt, sind es z.B. bestimmte Formulierungen, wie jene oben im Wetterbericht, die genügen, um LeserInnen oder HörerInnen zu veranlassen, jeweils einen ähnlichen Kontext um die Formeln herum aufzubauen. Damit werden aber solche Formeln zu einem entscheidenden Element, die die Textsorte „Wetterbericht“ konstituieren. Notwendig ist demnach eine Art „Sprachgebrauchskompetenz“ 3 oder „Sprachgebrauchswissen“, das Wissen um typisierten Sprachgebrauch, das den SprecherInnen und HörerInnen erlaubt, „to judge the appropriateness of given utterances in given contexts“. (Fillmore 1976: 90) 4,5 Idiomatische Prägungen sind das Resultat von Konventionalisierungen von Interpretationen, die ausdrucksseitig diese Konventionalisierung widerspiegeln. „So können über die Prägung bestimmter Ausdrücke Ressourcen 1 Vgl. Feilke (2003: 211). 2 Phrasen aus dem „Video-Podcast der Kanzlerin zur Gesundheitsreform“ vom 24. Juni 2006 (Angela Merkel); vgl. http: / / www.bundeskanzlerin.de/ (26.2.2008). 3 Mit „Kompetenz“ klingt die Chomsky’sche Dichotomie „Kompetenz vs. Performanz“ an. Die Sprachgebrauchskompetenz weist mit dieser Kompetenz die Gemeinsamkeit auf, dass sie von den SprecherInnen der Sprache unbewusst angeeignet wurde. Allerdings sind die Sprachgebrauchskompetenzen der Individuen nicht deshalb ähnlich, weil es ein dahinter stehendes „Sprachgebrauchssystem“ gibt, sondern weil es sich durch das kooperative Sprachhandeln angeglichen hat. Alternativ zur heiklen Bezeichnung könnte „Sprachgebrauchswissen“ verwendet werden. 4 Deutsch übersetzt als „Welche sprachliche Kompetenz ist es […], die es einem Sprecher ermöglicht, einer gegebenen sprachlichen Äußerung einen bestimmten Kontext des Handelns zuzuordnen? “ (in Feilke 2000: 78) 5 Fillmore (1976: 88) beschreibt dies als Zuordnung zu „set of worlds in which the discourse could play a role, together with the set of possible worlds compatible with the message content of the discourse“. Kontext korpuslinguistisch 87 des Vorverständigtseins für die Kommunikation geschaffen und gesichert werden.“ (Feilke 1993: 367) Diese „Typik des Gebrauchs“ (Feilke 2003: 209) ermöglicht überhaupt erst pragmatisch brauchbare Sprache. Die beiden Sammlungen von Formeln aus einem Wetterbericht und einer politischen Ansprache plausibilisieren diese Überlegungen zur Rolle der idiomatischen Prägungen, die, in semasiologischer Perspektive, als Sprachmaterial übereinstimmende Vorstellungen typischen sozialen Handelns ermöglichen. Denn bei den Textbeispielen wurden eben nicht beliebige Textfragmente verwendet, sondern syntagmatische Ausdrücke, die den „konnotativen Mehrwert“ (Feilke 2003: 213) bieten, der sich durch die Konventionalisierung ergeben hat. Aus phraseologischer Perspektive bemerkenswert ist die Tatsache, dass es sich dabei nicht ausschließlich um Ausdrücke hoher Idiomatizität handelt, sondern hauptsächlich um Kollokationen oder Routineformeln (Burger 1998: 50-52) mit „gänzlich regulärer Struktur und kompositioneller Bedeutung“, die aber „hochgradig konventionell und zeichenhaft“ sind. (Feilke 2003: 213) So wird das breite Bedeutungsspektrum von Durchzug im ersten Textbeispiel durch die Erweiterung zu Durchzug von bereits enorm reduziert, hauptsächlich auf den Kontext Wetter. 6 Allerdings findet Feilke (2003: 214) im DeReKo IDS-Korpus bloß 11 Belege für Durchzug von, was zeigt, dass nicht absolute Frequenzen rekurrenten Auftretens eines Ausdrucks dessen Typik bestimmen, sondern zu Textsorten relative Frequenzen. Das ist - um vorzugreifen - eines der Kernprobleme korpuslinguistischer Analysen, das jedoch mit der Hilfe statistischer Methoden gut gelöst werden kann. Die Kombination mehrerer idomatisch gepräger Ausdrücke verringert die möglichen Kontextualisierungen weiter, wobei unter solchen Ausdrücken nicht zwingend Mehrwortausdrücke zu verstehen sind, wie vereinzelt im Textbeispiel oben zeigt. An diesem Wort zeigt sich auch, dass eine bestimmte morphologische Ausprägung (also das Partizip Perfekt von vereinzeln) hinsichtlich der Textsorte „Wetterbericht“ idiomatisch geprägt ist. Die Form vereinzeln wird, was eine Recherche im DeReKo IDS-Korpus zeigt, kaum verwendet. Die Erkenntnis, dass letztlich Sprachgebrauchsmuster (oder eben: typische Ausdrücke, idiomatische Prägungen) an der Textoberfläche die Kontextualisierung ermöglichen, ist der Schlüssel für einen korpuslinguistischen, induktiven Zugang zu Sprachgebrauchsanalysen. Wenn die Sprachgebrauchsmuster erkannt werden können, sind Rückschlüsse auf ihre typischen Kontextualisierungsleistungen möglich. 6 Neben einer Korpusrecherche, z.B. im DeReKo IDS-Korpus, wird dies auch mittels entsprechender Suchanfragen in einer Suchmaschine wie „Google“ deutlich: Die Belegmenge von Durchzug wird durch Durchzug von um etwa den Faktor 30 verkleinert, wobei die Mehrzahl der Treffer im Kontext von Wetter und Militär (Durchzug von Militär) angesiedelt zu sein scheint (Anfrage auf www.google.com vom 6. Juli 2007). 88 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth Die Analyse dieser Kontextualisierungsleistungen ist die Grundlage für die Beantwortung weitergehender Untersuchungsfragen. Neben textlinguistischen Fragestellungen zur Typik von Textsorten und Textfunktionen gibt es interessante Anwendungsmöglichkeiten in der Diskurs- und Kulturanalyse, indem typische Sprachgebrauchsmuster nicht nur als Mittel der Kontextualisierung, sondern letztlich der Konstituierung von Diskursen und Kultur angesehen werden. Grundlegende Schritte der Methode liegen darin, die Distribution der Sprachgebrauchsmuster in einem Korpus, deren Veränderungen bezüglich Frequenzen, Form oder bezüglich deren Vorkommen mit anderen Mustern zu beobachten (vgl. dazu ausführlich Bubenhofer 2008, 2009). Der erste Schritt besteht aber darin, mit korpuslinguistischen Methoden Sprachgebrauchsmuster zu finden. Dabei ist die Erkenntnis wichtig, dass solche Ausdrücke immer nur prägend sind in Bezug auf eine Textfunktion, z.B. eine Textsorte. Dies muss ein statistisches Modell zur Berechnung solcher Ausdrücke berücksichtigen. Ziel der Methode ist es, mit Hilfe der geprägten Ausdrücke den typischen Sprachgebrauch eines Sprachausschnittes zu beschreiben. 2 Corpus-driven „Sind Korpora nur Belegsammlungen oder Zettelkästen in elektronischer Form? Mitnichten! In entsprechender Größe […] und mit den entsprechenden Analysemethoden eröffnen sie eine eigene Perspektive in der linguistischen Forschung - die korpuslinguistische Perspektive.“ (Perkuhn/ Belica 2006: 2) Das Zitat verweist auf ein in der Linguistik noch immer häufiges Missverständnis von Korpuslinguistik. Natürlich können Korpora auch als Nachschlagewerke benutzt werden, um zu überprüfen, ob sich darin ein bestimmtes sprachliches Phänomen belegt findet. So kann beispielsweise geprüft werden, ob ein sprachliches Phänomen, von dem vermutet wird, dass es typisch für einen bestimmten Kontext ist, in einem entsprechenden Korpus auch signifikant häufiger vorkommt. Doch gerade mit Hilfe der immer schneller werdenden Computer und der Verfügbarkeit von elektronischen Korpora ist für viele Fragestellungen eine andere Perspektive in der Korpuslinguistik interessanter: die „corpus-driven“-Perspektive: While corpus linguistics may make use of the categories of traditional linguistics, it does not take them for granted. It is the discourse itself, and not a languageexternal taxonomy of linguistic entities, which will have to provide the categories and classifications that are needed to answer a given research question. This is the corpus-driven approach. (Teubert 2005: 4) Dieser Zugang zeichnet sich also im Versuch aus, das Korpus als Datenbestand aufzufassen, in dem mit geeigneten Methoden Strukturen sichtbar gemacht werden, die erst im Nachhinein klassifiziert werden. Kontext korpuslinguistisch 89 Damit steht dieser Zugang in Kontrast zur „corpus-based“-Perspektive, bei der mit bestimmten Kategorien und bestehenden Theorien das Korpus analysiert wird und das Interesse dann darin besteht, eine Hypothese zu testen. Letztlich wird corpus-based die Frage verfolgt, ob das gesuchte Phänomen im Korpus auftritt, wenn ja, wo, wie oft und wie: […] the term corpus-based is used to refer to a methodology that avails itself of the corpus mainly to expound, test or exemplify theories and descriptions that were formulated before large corpora became available to inform language study. (Tognini-Bonelli 2001: 65) Doch Korpora mit ganz bestimmten Theorien als Prämissen zu befragen, birgt die Gefahr, in den Daten nur die Strukturen zu finden, die mit der Theorie kompatibel sind und blind gegenüber Evidenzen zu sein, die quer zu einer Theorie stehen: […] corpus-based linguists adopt a „confident“ stand with respect to the relationship between theory and data in that they bring with them models of language and descriptions which they believe to be fundamentally adequate, they perceive and analyse the corpus through these categories and sieve the data accordingly. (Tognini-Bonelli 2001: 66) So sind im corpus-based-Verfahren Korpora nützlich, um aufgrund der Daten die Hypothesen zu korrigieren und zu quantifizieren. Aber: In this case, however, corpus evidence is brought in as an extra bonus rather than as a determining factor with respect to the analysis, which is still carried out according to pre-existing categories; although it is used to refine such categories, it is never really in a position to challenge them as there is no claim made that they arise directly from the data. (Tognini-Bonelli 2001: 66) So ist es oft nahe liegend, Daten, die einem Modell widersprechen, als durch Sprachvarietät verursachte Ausnahmen zu erklären, die jedoch zu marginal sind, als dass sie das Modell angreifen könnten. 7 Die corpus-driven-Analyse bietet einen anderen Zugang, der die Daten zum Ausgangspunkt der Theoriebildung macht. 8 7 Tognini-Bonelli (2001: 67) spitzt dieses Dilemma zur rhetorischen Frage zu: „A problem then arises, one that has been cropping up throughout the history of linguistics: given that the data is non-negotiable, does the linguist choose to revise the theory and derive it more directly from corpus evidence, or does (s)he opt to insulate the data from the theory? “ 8 Das corpus-driven-Paradigma ist nicht neu. Bei Sinclair (1991) bereits angedacht, wird es bei Tognini-Bonelli (2001) mit dem Terminus „corpus-driven Linguistics“ (CDL) explizit gemacht. Doch sind es vor allem im deutschsprachigen Raum auch heute erst wenige Linguistinnen und Linguisten, die konsequent so arbeiten. Dazu gehören z.B. Arbeiten von Cyril Belica und Rainer Perkuhn (Belica 1996, Belica 2001-2007; Perkuhn u.a. 2005; Perkuhn und Belica 2006) und Kathrin Steyer (Steyer 2004a, Steyer 2004b; Steyer/ Lauer 2007). 90 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth Möchte man den typischen Sprachgebrauch in einem Untersuchungskorpus feststellen, ergeben sich aus diesen Überlegungen folgende Konsequenzen: 1. Die corpus-driven Perspektive sollte es ermöglichen, induktiv aus einem Untersuchungskorpus Sprachgebrauchsmuster hervorzubringen, die typisch für dieses Korpus sind. 2. Dabei bleibt bis zu einem gewissen Grad offen, welcher Form die Sprachgebrauchsmuster überhaupt sind. Die Methode ist blind gegenüber semantischen Kategorisierungen und bringt alle Wortkombinationen hervor, die statistisch auffällig sind. Es kann sich dabei um Kollokationen, Phraseologismen, idiomatische Ausdrücke oder komplexe Mehrworteinheiten handeln. 3 Typischer Sprachgebrauch Typischer Sprachgebrauch kann operationalisiert werden als rekurrentes Auftreten von textuellen Einheiten in bestimmten Sprachausschnitten. Solche textuelle Einheiten können Morpheme sein, Lexeme oder aber komplexe Kombinationen von solchen Einheiten. Zudem können sie in Kombinationen mit „Slots“ erscheinen, wie z.B. in in der Nacht auf [Wochentag]. „Typisch“ ist dabei nicht einfach mit „häufig“ gleichzusetzen, sondern meint immer „häufig in Bezug auf bestimmte Sprachausschnitte“. Ein Sprachgebrauch ist dann typisch, wenn er in einer bestimmten Art von Kontexten, z.B. in Zeitungsartikeln aus dem Auslandsressort, überzufällig häufiger auftritt, als in Referenzkorpora. Wir schlagen vor, dieses Phänomen typischen Sprachgebrauchs „Muster“ zu nennen. Von besonderem Interesse ist also das Moment der Gebräuchlichkeit, der Typik (Feilke 1996: 72 ff.) von sprachlichen Mustern. Und diese zeigt sich in der rekurrenten Struktur sprachlicher Einheiten, Einheiten die statistisch auffällig sind. Es gibt Verfahren, die es auf einfache Weise ermöglichen, rekurrente Wortverbindungen zu berechnen (vgl. z.B. Banerjee/ Pedersen 2003; Cheng u.a. 2006 sowie Bubenhofer 2008, 2009). In einem simplen Auszählverfahren werden die Frequenzen aller möglichen Mehrworteinheiten beliebiger Länge, also nicht nur von Wortpaaren, berechnet. Die Mehrworteinheiten können auch Lücken aufweisen und müssen nicht nur aus kontinuierlich aufeinander folgenden Wörtern bestehen. Zusätzlich können statistische Maße angewandt werden, um den Grad der Überzufälligkeit der Wortverbindung auszudrücken. Wichtig ist, dass diese Verfahren keine vorgängige Beschränkung auf ein zu untersuchendes Lemma benötigen, denn es werden grundsätzlich alle möglichen Mehrworteinheiten evaluiert. Der Vorteil dieser Methode zeigt sich darin, dass sie weitgehend dem corpus-driven-Paradigma entspricht: Es ist der Versuch, Strukturen in einem Korpus sichtbar zu machen, ohne die Suche schon zu Beginn mit der Definition bestimmter Suchbegriffe einzuschränken. Mit diesem Versuch ist Kontext korpuslinguistisch 91 die Hoffnung verbunden, auf Strukturen zu stoßen, an die man zu Untersuchungsbeginn gar nicht gedacht hatte. 9 Der Nachteil kann in technischen Beschränkungen liegen: Der Preis für flexible Definitionen von Kollokationen (Diskontinuität, freie Reihenfolge, Berücksichtigung des gesamten Korpus) ist hoch, was die nötige Rechenleistung betrifft. Und die entstehenden Datenmengen sind sehr umfangreich, so dass für die weitere Verarbeitung Verfahren der Filterung oder Fokussierung nötig sind. 4 Typikprofile erstellen und analysieren Die besondere Herausforderung bei einer corpus-driven-Analyse liegt darin, potenziell interessante von restlichen Daten zu scheiden. Denn mit den Berechnungen entstehen umfangreiche Daten. Der Datenumfang hängt von den Parametern ab, die für die Berechnung der Mehrworteinheiten gewählt wurden. Es würde der Philosophie des corpus-driven-Paradigmas jedoch widersprechen, wenn bereits dort besonders rigide Parameter gewählt würden. Deshalb muss der Schritt des Filterns der Daten möglichst spät erfolgen. Um die sprachlichen Muster zu finden, die für ein Korpus typisch sind, werden die Listen von Mehrworteinheiten, die separat für das Untersuchungs- und das Referenzkorpus berechnet worden sind, verglichen. Dazu können statistische Methoden verwendet werden. Mit einem Signifikanztest wird geprüft, welche Mehrworteinheiten typisch für das Unter— suchungskorpus sind. Dazu dient z.B. der Log-Likelihood-Test (G 2 ), der in einer Reihe von korpuslinguistischen Arbeiten für Korpusvergleiche verwendet wird (vgl. für Vergleiche mit anderen Verfahren und einer ausführlichen Diskussion Bubenhofer 2009). Durch die Kontrastierung der Listen von Mehrworteinheiten für Untersuchungs- und Referenzkorpus - oder für verschiedene Teilkorpora generell - werden aus diesen Listen die für die jeweiligen Korpora typischen Mehrworteinheiten extrahiert. Diese Zusammenstellungen von für ein Teilkorpus typischen Mehrworteinheiten (im Kontrast zu einem oder mehreren anderen Teilkorpora) nennen wir „Typikprofil“. Natürlich können weitere Kontrastierungen mit Typikprofilen anderer Korpora folgen. So kann es interessant sein, das Typikprofil von Texten eines Korpus A mit denen eines Korpus B zu vergleichen. Oder es kann für einen beliebigen Text berechnet 9 Diese Hoffnung teilen z.B. auch Cheng u.a. (2006: 415), die mit der Software „Concgram“ die flexibelste Form der Wortgruppenberechnung anbieten: „The fully automated capability of the search engine, i.e. the absence of any form of prior intervention by the user, makes it a truly ,corpus-driven‘ methodology […], and so further increases the likelihood that the concgram searches will enable the researcher to discover not only a more extensive description of patterns of collocation and their meanings, but also, and more importantly, new patterns of language use.“ 92 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth werden, wie stark er mit einem bestimmten Typikprofil übereinstimmt: Je mehr Mehrworteinheiten eines Typikprofils in einem Text vorkommen, desto eher entspricht der Text dem Typikprofil. Je nach Korpusgröße kann das Typikprofil relativ umfangreiche Datenmengen enthalten. Das Untersuchungsinteresse entscheidet nun darüber, ob und wie diese Datenmenge eingeschränkt werden kann. So kann der Fokus auf spezifischen lexikalischen oder syntaktischen Mehrworteinheiten liegen oder die Mehrworteinheiten werden nach Kriterien der Textfunktion oder Pragmatik gruppiert und weiter analysiert. Diese Analyseschritte markieren auch den Moment, bei dem das corpusdriven-Verfahren in eine corpus-based-Perspektive umschlägt. Wie in klassischen korpuslinguistischen Arbeiten stellen die berechneten Wortgruppen die Basis für weiterführende Korpusanalysen dar. Es werden die Verwendungsweisen der Wortgruppen im Untersuchungs- und Referenzkorpus untersucht oder Varianten geprüft. Die Selektion und Klassifikation von Mehrworteinheiten für die weitere Analyse richtet sich nach unterschiedlichen Kriterien: Selektionskriterium 1: Statistische Typik 1. Mehrworteinheit ist typisch für bestimmte Teilkorpora (z.B. das Untersuchungskorpus) 2. Mehrworteinheit ist über alle Teilkorpora ähnlich verteilt Selektionskriterium 2: Syntaktische Festigkeit 1. Tendenziell syntaktisch fest 2. Tendenziell syntaktisch variabel Typologisierendes Kriterium 1: Kontinuität der Wortfolge 1. Tendenziell diskontinuierliche Mehrworteinheiten 2. Tendenziell kontinuierliche Mehrworteinheiten Typologisierendes Kriterium 2: Phraseologischer Typus 1. Referentielle Phraseologismen 2. Strukturelle Phraseologismen 3. Kommunikative Phraseologismen 4. Sonderformen Das primäre Selektionskriterium ist die statistische Typik der Mehrworteinheit für ein bestimmtes Teilkorpus. Einerseits können Einheiten in den Blick genommen werden, die besonders typisch für eine Textsorte, einen Zeitabschnitt etc. sind, oder aber solche, die es gerade nicht sind. Ist man an grundsätzlichen sprachlichen Mustern interessiert, die unabhängig von Zeit und Textsorte vorkommen, würde man die Mehrworteinheiten auswählen, die über mehrere Korpora - Untersuchungs- und Referenzkorpora - ähnlich verteilt sind. Als sekundäres Selektionskriterium gilt die syntaktische Festigkeit: Die Mehrworteinheiten im Typikprofil werden zunächst danach untersucht, ob Kontext korpuslinguistisch 93 sie syntaktisch eher fest oder eher variabel sind. Eine Mehrworteinheit ist dann syntaktisch fest, wenn der größte Teil der Belege für die Mehrworteinheit demselben syntaktischen Muster folgt. Syntaktisch feste Mehrworteinheiten sind für die weiteren Analysen interessanter als variable, da sie auf Verwendungskontexte zurückgehen, die zumindest syntaktisch, aber wahrscheinlich auch semantisch, ähnlich sind. Die Mehrworteinheiten können nach weiteren Kriterien klassifiziert werden. Nützlich ist beispielsweise eine Klassifikation, wie sie Burger (1998: 35 ff.) für Phraseologismen vorschlägt. 5 Anwendungsbeispiel Im Folgenden soll in aller Kürze eine exemplarische Analyse von Sprachgebrauchsmustern zu Kampf gegen … präsentiert werden, die besonders unter dem Aspekt der unterschiedlichen Kontextualisierungsleistungen interessant sind. Die Analyse ist Teil einer umfangreicheren Arbeit (Bubenhofer 2009), bei der mit einem 27,9 Mio. Wörter umfassenden Zeitungskorpus gearbeitet wurde. Die folgende Analyse zeigt dabei auch Zusammenhänge zwischen Kontextualisierungsleistungen und Diskursen auf. Bestimmte Sprachgebrauchsmuster erzeugen Kontextualisierungen im Rahmen von Diskursen und konstituieren diese damit mit. 10 5.1 Korpus Das Untersuchungskorpus enthält Zeitungsartikel der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Als Grundgesamtheit sind alle redaktionellen Artikel aus dem Zeitraum von 1995 bis einschließlich 2005 definiert. Daraus wurde eine Zufallsstichprobe von 44.843 Artikeln gezogen, die insgesamt einen Umfang von 27,9 Mio. Wörtern umfasst. Diese Stichprobe deckt damit knapp 6,5 % der 693.213 Artikel der Grundgesamtheit ab. In Tabelle 1 sind die detaillierten Angaben pro Jahr aufgeführt. Jahr Grundges. Stichprobe Zeitspanne Artikel Artikel Wörter % der GG 1995 56514 3666 2458651 6,49 3. Jan. bis 30. Dez. 1995 1996 57708 3711 2463270 6,43 3. Jan. bis 31. Dez. 1996 1997 57141 3827 2557410 6,7 3. Jan. bis 31. Dez. 1997 1998 54543 3616 2557811 6,63 3. Jan. bis 31. Dez. 1998 10 Vgl. für eine ausführliche Diskussion zum Zusammenhang von Diskursen und Sprachgebrauchsmustern Bubenhofer (2009). 94 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth 1999 66788 4248 2631274 6,36 4. Jan. bis 31. Dez. 1999 2000 69170 4496 2740517 6,5 1. Jan. bis 30. Dez. 2000 2001 68511 4373 2621799 6,38 3. Jan. bis 31. Dez. 2001 2002 68363 4385 2582855 6,41 3. Jan. bis 31. Dez. 2002 2003 65063 4235 2520628 6,51 3. Jan. bis 31. Dez. 2003 2004 64157 4155 2405419 6,48 3. Jan. bis 31. Dez. 2004 2005 65255 4131 2406747 6,33 3. Jan. bis 31. Dez. 2005 Total 693213 44843 27946381 6,47 1995 bis 2005 Tabelle 1 Datengrundlage der Untersuchung: Artikel der Neuen Zürcher Zeitung zwischen 1995 und 2005 (Zufallsstichprobe, 6 Ausgaben/ Woche) Um in den Korpusdaten die frequenten und/ oder statistisch signifikanten Mehrworteinheiten zu berechnen, wurde die Software „Ngram Statistics Package“ („NSP“) verwendet (Banerjee/ Pedersen 2003). Mit NSP wurden für verschiedene Teilkorpora die frequenten Mehrworteinheiten berechnet. Die Teilkorpora orientieren sich entlang der Kategorien „Zeit“ und „Ressort“. Für die vorliegende Untersuchung ist nur das Teilkorpus der Auslandsartikel relevant, das in verschiedene Zeitabschnitte aufgeteilt wurde, um Mehrworteinheiten berechnen zu können, die für bestimmte Epochen zwischen 1995 und 2005 typisch sind. Für die Berechnung der Mehrworteinheiten müssen eine Reihe von Parametern gesetzt werden wie Länge der Mehrworteinheit oder maximale Spannweite zwischen erstem und letztem Wort der Mehrworteinheit. Als Standardverfahren haben sich folgende Parameter als gewinnbringend für die vorliegenden Analysezwecke erwiesen: Länge: 3 Wörter Spannweite: 10 Wörter (max. Distanz zwischen erstem und letztem Wort) Basis: Wortformen (die Mehrworteinheiten die Kämpfe gegen und der Kampf gegen werden als zwei verschiedene Mehrworteinheiten gezählt) Mindestfrequenz: 6 pro Mio. Wörter Im Anschluss wurden die Listen der für ein Teilkorpus berechneten Mehrworteinheiten durch Kontrastverfahren untereinander verglichen, um die für die Teilkorpora typischen Mehrworteinheiten zu finden. Dafür diente ein eigenes Programm, das jeweils zwei Listen von Mehrworteinheiten wahlweise mittels der Statistiken „Log-Likelihood Koeffizient“, „Chi-Quad- Kontext korpuslinguistisch 95 rat-Test“ oder „Mann-Whitney-Rank-Test“ vergleicht. 11 Das Programm ermöglicht aber nicht nur den Vergleich zweier Listen miteinander, sondern den Vergleich einer mit mehreren Listen. So können die für ein Teilkorpus im Vergleich zu allen anderen Teilkorpora typischen Mehrworteinheiten eruiert werden. 5.2 Resultate G 2 MWE 1995-1997 G 2 MWE 2003-2005 1 47,15 der bosnischen Serben 36 -72,89 im Irak die 2 27,90 die bosnischen Serben 37 -59,77 und im Irak 3 39,52 und der Opposition 38 -40,82 gegen den Irak 4 35,56 Aung San Suu 39 -27,7 amerikanischen im Irak 5 30,3 San Suu Kyi 40 -52,48 der den USA 6 32,93 der der Menschenrechte 41 -34,99 der USA im 7 31,71 der in Bosnien 42 -48,11 Abzug aus dem 8 30,3 der ersten Runde 43 -43,74 aus dem Irak 9 28,98 in der Serben 44 -41,82 gegen den Terrorismus 10 27,66 vor den Wahlen 45 -24,49 Kampf gegen den 11 27,66 die immer wieder 46 -21,87 Kampf gegen Terrorismus 12 26,34 die in gegen 47 -21,87 Krieg gegen den 13 26,34 Der Präsident der 48 -37,91 den neunziger Jahren 14 26,34 in der Slowakei 49 -35,28 hiess es in 15 26,34 am Abend der 50 -33,53 aus dem Gazastreifen 16 25,36 der Nato und 51 -30,62 der in Kosovo 17 25,03 am in Paris 52 -29,16 Präsident Bush in 18 23,71 die absolute Mehrheit 53 -26,24 den besetzten Gebieten 19 23,71 russische Präsident Jelzin 54 -24,78 auf in Bagdad 11 Vgl. für die Details dieser statistischen Verfahren Bubenhofer (2009). 96 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth 20 22,39 der in Sarajewo 55 -24,78 die Kontrolle über 21 22,39 die Koalition der 56 -24,78 im Weissen Haus 22 22,39 der frühere der 57 -24,78 der Internationalen Atomenergieagentur 23 22,39 sich die Frage 58 -23,33 der Ministerpräsident Sharon 24 21,07 Beginn der in 59 -21,87 Usama bin Ladin 25 21,07 in den Reihen 60 -20,3 der Suche nach 26 19,76 die Fortsetzung der 61 -18,95 die in Darfur 27 17,12 Kim Dae Jung 62 -18,95 Debatte über die 28 15,81 Kim Young Sam 63 -17,49 in den Tod 29 17,12 die Wege geleitet 64 -16,48 eine Lösung des 30 15,81 gegen die Korruption 65 -16,04 die Opfer der 31 15,81 der in Grosny 66 -16,04 Saddam Hussein der 32 15,81 in der DDR 67 -16,04 Zahl der auf 33 15,81 Bundeskanzler Kohl in 68 -16,04 der gemässigten Islamisten 34 15,81 Präsident Clinton und 69 -15,3 hat den letzten 35 15,65 die Tatsache dass Tabelle 2 Typische Mehrworteinheiten im Ressort „Ausland“ in den Zeitperioden 1995-1997 (links) und 2003-2005 (rechts) 12 Tabelle 2 zeigt eine Auswahl an Mehrworteinheiten, die für die Periode 1995-1997 bzw. 2003-2005 jeweils signifikant sind. Der corpus-driven-Zugang bringt einerseits Mehrworteinheiten hervor, bei denen sofort einleuchtet, dass sie typisch für die ältere oder neuere Zeitperiode sind. Dazu gehören Ausdrücke, die die Jugoslawienkriege widerspiegeln oder die damaligen politischen Akteure nennen. Oder aber die Mehrworteinheiten, die auf den Terrorismus nach dem 11. September 2001 und den Irakkrieg verweisen. Daneben gibt es Ausdrücke, deren Typik nicht unmittelbar einleuchten mag: die Fortsetzung der, die Tatsache dass, die Kontrolle über, Zahl der auf etc. 12 Es handelt sich dabei um eine manuelle Auswahl für die weitere Analyse. Die vollständige Version ist unter http: / / www.bubenhofer.com/ korpusanalyse/ zu finden. Kontext korpuslinguistisch 97 Corpus-based-Analysen müssten aufzeigen, warum diese Ausdrücke für die eine oder andere Periode typisch sind. Es lohnt sich aber auch ein genauerer Blick auf vermeintlich sofort einleuchtende Mehrworteinheiten. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob der Ausdruck die bosnischen Serben zu einem allgemeineren Muster „Ethnienbezeichnungen“ abstrahiert werden kann. Denn alternativ zur Nennung von Ethnien (Bosnier, Serben, Jugoslawen, bosnische Serben etc.), könnten auch Länder genannt werden: Bosnien, Serbien, Jugoslawien etc. Dass Ethnien statt Staatsnamen verwendet werden, ist bei einem zerfallenden Staatengebilde nicht verwunderlich. Detailliertere Untersuchungen erlauben aber die Hypothese, dass Ethnienbezeichnungen ganz allgemein in kriegerischen Kontexten wichtig sind - und deren Ausbleiben ein Indikator für nichtkriegerische Kontexte ist (vgl. dazu ausführlich Bubenhofer 2009). Ein genauerer Blick lohnt sich aber auch auf die Mehrworteinheiten Kampf gegen Terrorismus, im Kampf gegen etc., die motivieren, die Kontextualisierungsprofile dieser Ausdrücke genauer zu analysieren. Es scheint zwar plausibel, dass Kampf gegen Terror* 13 ein Ausdruck ist, der typisch für die Zeit nach dem 11. September 2001 ist, wie Tabelle 3 zeigt. Doch allgemeiner ist zu fragen nach dem Gebrauch des Musters Kampf gegen X und den Füllungen des „Slots“ X. Jahr Kampf(s/ es) gegen ... Terror* Kampf(s/ es) gegen Total # % # % # 1995 2 0,05 62 1,69 3666 1996 3 0,08 58 1,56 3711 1997 1 0,03 55 1,44 3827 1998 3 0,08 58 1,60 3616 1999 5 0,12 44 1,04 4248 2000 2 0,04 61 1,36 4496 2001 19 0,43 82 1,88 4373 2002 22 0,50 67 1,53 4385 2003 16 0,38 70 1,65 4235 2004 17 0,41 71 1,71 4155 13 Der Stern (*) steht für beliebig viele zusätzliche Zeichen (außer Leerzeichen). Hier und im Folgenden wird damit angezeigt, dass in der Suche auch andere Endungen des Wortes gefunden würden. Terror* findet Terror, Terrorismus, Terroristen etc. 98 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth 0 5 10 15 20 25 Terror* Armut (international*) Drogen* Saddam Arbeitslosigkeit islamistischer/ Kaida-Terror* Rauchen Taliban ETA* Kriminalität Abstieg organisierte Kriminalität Verbrechen Falun-Gong* Mafia unerwünschte Übernahme* vor 11.9.2001 nach 11.9.2001 2005 18 0,44 65 1,57 4131 Total 108 693 44843 X 2 = 64,222 X 2 = 13,403 p < 0,001 (signifikant) p > 0,10 (nicht signifikant) V = 0,038 V = 0,017 ∅ = 9,8 ± 8 ∅ = 63 ± 9,4 Tabelle 3 Verteilungen und Statistiken (Einheit: Artikel) für die Mehrworteinheiten K AMPF ( S / ES ) GEGEN … T ERROR * bzw. K AMPF ( S / ES ) GEGEN … im NZZ-Korpus (alle Ressorts; für die Statistiken gilt: df = 10) Abbildung 1 Die Füllungen von X im Muster K AMPF GEGEN X [Artikel] mit Mindestfrequenz 3 für die Zeit vor und nach dem 11. September 2001 Tabelle 3 zeigt die Frequenzen von Kampf gegen im NZZ-Korpus. Die Verteilung ist nicht signifikant, die Verwendung also über die Jahre ungefähr ähnlich. Abbildung 1 zeigt die Füllungen von X im Muster Kampf gegen X für die Perioden vor und nach dem 11. September 2001. Für die weitere Analyse interessiert im Besonderen, ob der Ausdruck je nach Zeit oder Thema unterschiedliche Kontextualisierungsleistungen erbringt. Im Beispiel von Kampf gegen X wäre also zu fragen: 1. Gibt es zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Kontexten typische Füllungen des Slots X im Muster Kampf gegen X? 2. Welche alternativen Ausdrucksmöglichkeiten zum Muster Kampf gegen X existieren? Und wann werden sie verwendet? Kontext korpuslinguistisch 99 Die notwendigen Analysen, um die erste Fragestellung zu verfolgen, sind einsichtig: In erster Linie geht es darum, die Füllung von X im Muster Kampf gegen X in Abhängigkeit von Zeit, Thema, Textsorte etc. zu untersuchen. Die Analysen um die zweite Fragestellung zu verfolgen, können in folgende Richtung gehen: Als engere alternative Ausdrucksmöglichkeiten zu Kampf gegen X liegen folgende Varianten auf der Hand: Kampf mit X und Kampf dem/ der [Dativobjekt]. 14 Es ist zu fragen, ob der propositionale Gehalt der drei Varianten gleich ist. Die möglichen syntaktischen Einbettungen der Ausdrücke zeigen, dass die Ausdrucksvarianten erst als ausgebaute Satzteile syntaktisch austauschbar werden, da sie teilweise syntaktische Restriktionen aufweisen: 1. Kampf gegen den Terrorismus • Jemand fordert den Kampf gegen den Terrorismus. • Jemand befindet sich im Kampf gegen den Terrorismus. 2. Kampf mit dem Terrorismus • Jemand fordert den Kampf mit dem Terrorismus. • Jemand befindet sich im Kampf mit dem Terrorismus. 3. Kampf dem Terrorismus • Jemand fordert: Kampf dem Terrorismus! • Heute gilt: Kampf dem Terrorismus! Die (erfundenen) Beispielsätze lassen vermuten, dass die Ausdrucksvarianten nicht alle dieselbe Konnotation aufweisen müssen und dass vor allem der Ausdruck Kampf dem Terrorismus eine ganz bestimmte pragmatische Funktion aufweist, nämlich als Parole wirkt. Das NZZ-Korpus enthält keine Belege für die Varianten 2 und 3, und nur wenige Belege für die von Varianten 2 und 3 abstrahierten Muster Kampf mit X und Kampf dem/ der [Dativobjekt]. Die Füllungen für X in den beiden Mustern sind in Tabelle 4 aufgeführt. Dabei wird sofort klar, dass sich in den untersuchten Daten deutliche Unterschiede im Sprachgebrauch zeigen, wobei es aber schwierig ist, die Unterschiede zu benennen. Vielleicht lässt es sich so fassen: Kampf dem/ der [Dativobjekt] wird überhaupt nicht, und Kampf mit X [Artikel] nur vereinzelt in kriegerischen Kontexten verwendet. Etwas anders zeigt sich das Bild bei Kampf gegen X (vgl. Abbildung 1). Bei diesem Muster fallen die hochfrequenten Kollokatoren wie Terror*, Saddam, islamistischer/ Kaida-Terror*, Taliban, ETA etc. auf, die in kriegerischen Kontexten zu finden sind. 14 Weitere Ausdrucksvarianten könnten mit dem Lexem Krieg gebildet werden. Der Einfachheit halber soll davon abgesehen werden. 100 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth Kampf mit X [Artikel] 15 Kampf dem/ der [Dativobjekt] allen Mitteln gegen Israel; Aussicht auf Erfolg; baskischen Separatisten und Terroristen; Bayern München; Behörden; Berg; Depression; Drachen; drohenden Überschuldung; eigenen Schwächen; Elementen; erbarmungslosen Feind; Gegnern; gleich langen Spiessen; gleicher Waffe; Grammatik; Great-West Lifeco; harten Bandagen; HIV; ihnen; ihren Texten; Immunsystem; Klavierschülergeschlecht; Konkurrenz; Leuten; Mächten einer niederdrückenden Ideologie; nassen Element; Neat-Gegnern; Schönheit; sehr jungen Gegnern; sich selber; sich selbst; Trieb; ungewissem Ausgang; vorpreschenden Spunden; Wettbewerbskommission; Wind, Wasser und Wellen; x Toren; Zeit „Bussen- und Gebührenterror“; Dengue-Fieber; Diskriminierung von HIV-Positiven; Feinstaubbelastung; Guineawurm; Korruption; Kriminalität; Lobbying; Minenplage; Neoliberalismus; Schuldenmisswirtschaft; Schwefel; Spam; Stau; Straflosigkeit Tabelle 4 Die Füllungen von X in den Mustern K AMPF MIT X [Artikel] und K AMPF DEM / DER [Dativobjekt] im NZZ-Korpus Dieser Befund steht aufgrund der Datenlage auf schwachen Füßen. Es gibt im NZZ-Korpus zu wenig Belege für die beiden Muster Kampf mit X und Kampf dem/ der [Dativobjekt]. Es bietet sich deshalb an, ein weiteres Korpus, beispielsweise das DeReKo IDS-Korpus des Instituts für Deutsche Sprache, als Referenzkorpus heranzuziehen. Grundlage für die Recherche waren alle im IDS-Korpus öffentlich verfügbaren Tageszeitungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Zeitraum von 1991 bis 2006. 16 Die Tabellen 5 und 6 zeigen die häufigsten Füllungen für X in den drei Mustern. 17 Kampf(s/ es) gegen X # % Kampf(s/ es) mit X # % Abstieg 453 4,53 [Sportresultat X: Y] 344 11,21 Terror(ismus) 329 3,29 Behörde(n) 32 1,04 15 Bis auf Kampf mit dem Berg (vier Vorkommen) gibt es für jede Mehrworteinheit jeweils nur einen Beleg im Korpus. 16 Das so zusammengestellte Korpus enthält damit 4.129.847 Texte mit insgesamt 960.395.973 Wörtern. Folgende Zeitungen sind in unterschiedlichen Zeiträumen vertreten: Berliner Morgenpost, Die Presse, Frankfurter Rundschau, Hamburger Morgenpost, Kleine Zeitung, Mannheimer Morgen, Neue Kronen-Zeitung, Oberösterreichische Nachrichten, Salzburger Nachrichten, St. Galler Tagblatt, Tiroler Tageszeitung, Vorarlberger Nachrichten, Zürcher Tagesanzeiger. 17 Für das Muster Kampf dem/ der [Dativobjekt] mussten im IDS-Korpus Belege mit Dativobjekten mit femininem Genus (Kampf der Arbeitslosigkeit) ignoriert werden, da das Korpus nicht syntaktisch annotiert ist und deshalb Dativobjekte nicht von Genitivobjekten (der Kampf der Regierung) unterschieden werden konnten. Kontext korpuslinguistisch 101 organisiert* 225 2,25 sich selbst/ sich selber 31 1,01 Doping 183 1,83 Drachen 26 0,85 Korruption 161 1,61 Natur 21 0,68 Armut 129 1,29 Bürokratie(n) 20 0,65 Drogen 119 1,19 Tücke(n) des/ der 17 0,55 Geldwäsche/ Geldwäscherei 105 1,05 allen Mitteln 16 0,52 Kriminalität 96 0,96 Elementen 16 0,52 Uhr 94 0,94 Konkurrenten/ Konkurrenz 16 0,52 Mafia 90 0,90 Waffe(n) 16 0,52 AIDS 79 0,79 illegale(n) 77 0,77 Windmühle(n) 77 0,77 internationale(n) 76 0,76 Krebs 62 0,62 seine(n) 61 0,61 Rassismus 58 0,58 Israel 51 0,51 Verbrechen 51 0,51 Total 10000 100,00 Total 3070 100,00 Tabelle 5 Die Füllungen von X in den Mustern K AMPF GEGEN X und K AMPF MIT X im IDS-Korpus, deren Frequenzen mindestens 0,5 % aller Kollokatoren ausmachen Kampf dem X # % (Fortsetzung ...) # % Krebs 33 5,45 Faschismus 4 0,66 Stau 32 5,28 Hochwasser 4 0,66 Hunger 21 3,47 Müll 4 0,66 Dickdarmkrebs 13 2,15 Schimmel* 4 0,66 Brustkrebs 10 1,65 Tod 4 0,66 Elektrosmog 9 1,49 Übergewicht 4 0,66 Fahrraddiebstahl 9 1,49 Atomtod 3 0,50 Herztod 8 1,32 blauen Dunst 3 0,50 102 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth Schlaganfall 8 1,32 Chaos 3 0,50 Terror* 8 1,32 Darmkrebs 3 0,50 Feuerbrand 7 1,16 Feinstaub 3 0,50 Rassismus 7 1,16 Grünen Star 3 0,50 Sterilen und Leblosen 7 1,16 Hanf 3 0,50 Alkohol 6 0,99 Kommunismus 3 0,50 Kinderkrebs 6 0,99 Mißbrauch 3 0,50 Pusch 6 0,99 Orgasmus 3 0,50 Doping 5 0,83 Proporz 3 0,50 Kindsmissbrauch 5 0,83 Schilderwald 3 0,50 Verbrechen 5 0,83 Sozialmissbrauch 3 0,50 Winterspeck 5 0,83 Verkehrschaos 3 0,50 Drogen* 4 0,66 Total 606 100,00 Tabelle 6 Die Füllungen von X im Muster K AMPF DEM X im IDS-Korpus, deren Frequenzen mindestens 0,5 % aller Kollokatoren ausmachen Mit Hilfe dieser Analysen lässt sich der oben formulierte Befund präzisieren: 1. Kampf gegen X: Mit den dominanten Füllungen verweist der propositionale Gehalt des Ausdrucks auf eine internationale, politische Dimension, die wohl als „gesellschaftlich bedeutend“ umrissen würde. Ausnahme davon: Der Kampf gegen den Abstieg, der im sportlichen Kontext verwendet wird. 2. Kampf mit X: Mit den dominanten Füllungen beschreiben die Ausdrücke eher Anekdotisches (Kampf mit den Behörden, der Bürokratie, den Tücken [der Technik]), oder referieren auf die eigene Persönlichkeit (Kampf mit sich selbst). Die Verwendung ist aber sehr heterogen. An der Spitze stehen auch hier Verwendungen im Zusammenhang mit Sportresultaten: Den Kampf mit 2 : 0 (gewonnen). 3. Kampf dem X: Auffallend sind hier die dominanten Verwendungen mit dem Lexem Krebs- und Bezeichnungen für andere Krankheiten. Mehrheitlich bewegen sich die Ausdrücke eher auf der individuellen und durchaus tragischen Ebene, daneben werden sie aber auch in Kontexten der Innenpolitik oder von Problemen im Bereich „Naturgewalten“ und „Verkehr“ genannt. Neben diesen Präferenzen für Füllungen von X gibt es auch Belege, die zeigen, dass die Muster teilweise austauschbar sind. So finden sich sowohl Kontext korpuslinguistisch 103 Belege für Kampf gegen das Verbrechen als auch Kampf dem Verbrechen oder Kampf gegen Rassismus und Kampf dem Rassismus und andere mehr. Interessant im Zusammenhang mit Terror ist besonders die seltene Verwendung von Kampf dem Terror* im Vergleich zu anderen Füllungen des Ausdrucks Kampf dem X. Gibt es, neben den jeweiligen syntaktischen Restriktionen, einen semantischen oder pragmatisch-funktionalen Unterschied zwischen Kampf dem Terror* und Kampf gegen den Terror*? Fordert der politische Terror-Diskurs eine bestimmte Sprachgebrauchsvariante? Alle acht Belege für Kampf dem Terror* im IDS-Korpus sind Verwendungen in Titeln oder als Schlagzeilen von Zeitungsartikeln und haben Parolen-Charakter. Bei dreien können direkte oder indirekte Zitate dahinter vermutet werden: (1) Vranitzky, Schüssel: Kampf dem Terror, ob von links oder rechts! (Neue Kronen-Zeitung vom 27. April 1995, 2) (2) US-Gegenoffensive mit Atomwaffen? „Kampf dem Terrorismus mit allen verfügbaren Mitteln“ (Salzburger Nachrichten vom 24. August 1998, Ressort: „Weltpolitik“) (3) Kampf dem Terrorismus. Der neue FBI-Chef Louis Freeh bezeichnete es als eine seiner wichtigsten Aufgaben, scharf gegen den Terrorismus vorzugehen. (Die Presse vom 4. September 1993, Ressort „In Kürze“) Bei übersetzten Zitaten können sprachliche Feinheiten, wie die Unterscheidung von Kampf gegen und Kampf dem, verloren gehen. Doch aus diskursanalytischer Sicht ist es trotzdem interessant zu sehen, welche Sprachgebrauchsvariante auch in der Übersetzung für einen bestimmten Zweck verwendet wird. Aufgrund der gemachten Beobachtungen könnte z.B. die These aufgestellt werden, dass mit Kampf dem Terror* eine Sprachgebrauchsvariante verwendet wird, die politische Rhetorik, und vielleicht sogar Distanzierung des Verfassers/ der Verfasserin gegenüber dieser Rhetorik, signalisieren soll. Weitere Evidenz für diese These ergibt eine unsystematische Suche in deutschsprachigen Tageszeitungen, wie folgende Belege zeigen: Die konservative Zeitung fordert mehr Kampf dem Terrorismus: (4) Deutschland wird in den kommenden Jahren weiter massiv in den Ausbau der Sicherheitsarchitektur investieren müssen. Es wäre gut, wenn die staatstragenden Parteien, zu denen man neben Union und SPD auch Grüne und FDP zählen möchte, sich darüber gemeinsam Gedanken machten. (SonntagsZeitung vom 9. September 2007, 23) (5) Geiger ist sich sicher, dass für den Finanzplatz Schweiz die Bedeutung des Bankgeheimnisses steigen wird. Denn mit der Begründung „Kampf dem Terrorismus“ nähmen die Zugriffsbegehrlichkeiten auf die Privatsphäre in vielen Ländern zu. (Süddeutsche Zeitung vom 29. November 2006, V2/ 2) (6) Ein weiteres Beispiel für Abzocke in großem Stil: die Gebührenerhöhung für den neuen Reisepass um 127 Prozent, natürlich unter dem Deckmantel „Kampf dem Terrorismus“. (Stuttgarter Zeitung vom 31.10.2005, Ressort „Leserbriefe“, 40) 104 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth (7) Das Schlagwort „Kampf dem Terrorismus“ muss herhalten, die Folgen dieses Kriegs um Einfluss und Öl zu rechtfertigen. Sind nicht auch die Deutschen mitschuldig, wenn die amerikanischen Stützpunkte im Land für Militärtransporte etc. benützt werden? (Stuttgarter Zeitung vom 16. November 2004, Ressort „Leserbriefe“, 8) Die Liste ließe sich fortsetzen. Es zeigt sich, dass die Verwendung von Kampf dem Terror* hier (z.B. in Leserbriefen) in argumentativer Funktion verwendet wird, um diesen „Kampf“ zu kritisieren. Die bisherigen Analysen führen zu folgenden Hypothesen: 1. Die Muster Kampf gegen X, Kampf mit X und Kampf dem X können grundsätzlich denselben propositionalen Gehalt aufweisen. Trotzdem finden sich klare Präferenzen, in welchen Kontexten (mit welchen X) die Muster verwendet werden. Diese Präferenzen verändern sich diachron und unterscheiden sich synchron (z.B. bezüglich Textsorte, kommunikativer Funktion etc.). In welcher Form und syntaktischen Umgebung sie erscheinen, ist abhängig von Diskursen. 2. Für Kampf gegen (den) Terror* und Kampf dem Terror* gelten in den untersuchten Daten relativ eindeutige Präferenzen für bestimmte kommunikative Zwecke. 3. In den untersuchten Daten wird der Ausdruck Kampf gegen (den) Terror weit häufiger verwendet, als die ebenfalls möglichen Alternativen Kampf dem Terror oder Kampf mit dem Terror. Die Präferenz für eine Variante ist diskursiv begründet. Die vermehrte Verwendung von Kampf dem Terror würde z.B. auf einen veränderten Status von Terror schließen lassen, einen ähnlichen Status, wie er heute z.B. auch für Krebs oder Stau (Kampf dem Krebs/ Stau) gilt. Der propositionale Gehalt gegen den Terror kämpfen bliebe zwar bestehen, die Konnotation wäre jedoch von der heutigen verschieden. Die Analyse der Kontextualisierungsprofile der drei Muster Kampf gegen X, Kampf mit X und Kampf dem X fördert also nicht nur thematisch, sondern auch pragmatisch definierte Kontexte hervor. So erscheint die Parole Kampf dem Terror oft in Leserbriefen und weist dort eine argumentative Funktion auf. Diese typischen pragmatischen Funktionen gelten aber oft, das haben die Analysen ebenfalls gezeigt, nur für bestimmte Textsorten und können nicht unbedingt generalisiert werden. Der Schlüssel, um die diskursiven Formierungen freizulegen, liegt in der Suche nach Veränderungen in den Kontextualisierungsprofilen. 6 Fazit Es scheint plausibel, Sprachgebrauchsmuster als eigentliche Keimzellen von Kontextualisierung zu verstehen. Sprachgebrauchsmuster sind Kombinationen von Elementen der sprachlichen Oberfläche, die in genau diesen Kontext korpuslinguistisch 105 Kombinationen typisch für einen bestimmten Sprachausschnitt sind. In der vorliegenden Untersuchung wurden nur Wortformen als Elemente von Sprachgebrauchsmustern beachtet. Es wäre nahe liegend, auch Wortarten, Lemmata und weitere syntaktische oder semantische Elemente in die Berechnung von Sprachgebrauchsmustern zu integrieren. 18 Wenn Sprachgebrauchsmuster als Phänomen an der Textoberfläche verstanden werden, dann sind sie damit empirisch fassbar. Damit wird es möglich, mit statistischen Methoden zu berechnen, welche Sprachgebrauchsmuster in bestimmten Korpora im Vergleich zu anderen Korpora typisch sind. Solche quantitativen Methoden leisten weit mehr, als pure Auftretensfrequenzen von Entitäten an der sprachlichen Oberfläche zu berechnen. Statistische Tests erlauben es, Abweichungen vom Sprachgebrauch eines Referenzkorpus anzuzeigen, egal ob es sich dabei um niedrig- oder hochfrequente Phänomene handelt. Um aber corpus-driven auf den typischen Sprachgebrauch eines Untersuchungskorpus zu stoßen, sind nicht in erster Linie raffinierte statistische Methoden notwendig, sondern geschickte und systematische Vergleiche mit möglichst umfassenden Referenzkorpora. Je umfangreicher die Datengrundlage, desto genauer können die typischen Sprachgebrauchsmuster beschrieben werden. Literatur B ANERJEE , Satanjeev/ P EDERSEN , Ted (2003): „The Design, Implementation, and Use of the Ngram Statistics Package“. In: Alexander Gelbukh (Hrsg.): Computational Linguistics and Intelligent Text Processing. Proceedings of the Fourth Annual Conference on Intelligent Text Processing and Computational Linguistics. Berlin: Springer, 370-381 (= Lecture Notes in Computer Science 2588). B ELICA , Cyril (1996): „Analysis of Temporal Changes in Corpora“. In: International Journal of Corpus Linguistics, Volume 1, Nr. 1, 61-73. B ELICA , Cyril (2001-2007): „Kookkurrenzdatenbank CCDB. 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Vgl. dazu http: / / www.semtracks.com sowie Bubenhofer/ Klimke/ Scharloth (2008) als Beispiel für eine linguistische Analyse des US-Wahlkampfes Obama/ McCain 2008 bzw. Bubenhofer/ Klimke/ Scharloth (2009) als Analysen zur deutschen Bundestagswahl 2009. 106 Noah Bubenhofer/ Joachim Scharloth B UBENHOFER , Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin: de Gruyter (= Sprache und Wissen 4). B UBENHOFER , Noah/ K LIMKE , Martin/ S CHARLOTH , Joachim (2008): „The Word War: ‚Yes, He Did‘ - How Obama Won the (Rhetorical) Battle for the White House“. In: http: / / www.isn.ethz.ch/ isn/ Current-Affairs/ Special-Reports/ The-Word-War-Yes-He- Did/ Analysis. B UBENHOFER , Noah/ K LIMKE , Martin/ S CHARLOTH , Joachim (2009): „semtracks political tracker - Bundestagswahl ’09. Eine Semantische Matrixanalyse“. In: http: / / semtracks.com/ politicaltracker/ bundestagswahl/ . B URGER , Harald (1998): Phraseologie. 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Das Christentum als Buchreligion hat in seiner Geschichte um den Kanon der Heiligen Schrift und um deren einzig wahre Auslegung unzählige Auseinandersetzungen erlebt. Dennoch ist die Reflexion über das Geschriebene als „Text“ keine Selbstverständlichkeit. In diesem Beitrag sollen zentrale Aspekte des antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Blickes auf Texte aus unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten thematisiert werden. Welche Gesichtspunkte traten zu den unterschiedlichen Zeiten in den Vordergrund? Sprach man über Texte oder über Gattungen? Stand deren Produktion im Vordergrund oder ging es um Fragen der Auslegung? Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Einbettung in den jeweiligen soziokulturellen Rahmen. Es wird sich zeigen, dass über lange Zeiträume hinweg die Reflexion über die abstrakte Größe „Text“ keine Rolle spielt. Aus diesem Grund wäre es sogar angemessen, über die „Hermeneutik des historischen Schweigens über Texte“ zu sprechen. Denn im strengen Sinne kommt ein solcher Titel den historischen Gegebenheiten näher. Schweigt man vielleicht, weil „Texte“ einerseits im öffentlichen Leben nur marginal eine Rolle spielten oder andererseits für selbstverständlich gehalten werden? Vielleicht auch für nicht fassbar oder beschreibbar? Das Sprechen über Texte als abstrakte Größen wird ersetzt durch eine Reflexion über meist literarische Textsorten wie etwa das Drama, die Satire, die Elegie, oder über die Geschichtsschreibung u.a.; „Texte“ rücken immer dann in das Zentrum der Betrachtung, wenn es um bestimmte „Textsorten“ geht, die ausschließlich durch die sie bestimmenden „Kontextbedingungen“ definierbar sind. Situationskontext und Verwendungszweck rechtfertigen eine häufig poetologisch versteckte Reflexion über die adäquaten Merkmale der Textsorte, die für den entsprechenden Anlass oder die entsprechende Situation die jeweils angemessensten sind (Aptum). Eine Textsortentradition wird nicht selten dadurch begründet, Vorgänger zu benennen, deren Wer- 110 Mechthild Habermann ken bestimmte Merkmale zugeschrieben werden, die man entweder akzeptieren oder distanziert betrachten konnte. 1 Während die Dichtkunst in der Ars poetica des Horaz noch eine allgemeine Würdigung erfährt, blieb die Reflexion über allgemeine Textualitätskriterien, die gar die Ebene der Gebrauchstexte umfasst, völlig fremd. Erst dann, wenn Vorannahmen aufgegeben werden, die allzu sehr vom gegenwärtigen Sprechen über Texte geprägt sind, erst dann, wenn Benennungen historischer Zeitstufen überprüft und keine Übereinstimmung mit gegenwärtigen Fragestellungen erwartet werden, können Aussagen zur historischen Redeweise über Texte gewagt werden. Texte und der Textbegriff selbst sind jeweils Zeugnisse ihrer Zeit, sie unterliegen markanten historischen Kontextualisierungen. 2 Die Redeweisen vom Text und ihre Vorläufer Als Ersatz für fehlende Textbezeichnungen gibt es seit der Antike eine Reihe von Wörtern im Umfeld des Begriffes „Text“, die statt seiner verwendet wurden: Zunächst ist es vor allem der „Logos“, meist ja der „Gedanke“, das „Wort“, später insbesondere die „Oratio“, die „Rede“, oder auch die „Schrift“, das „Buch“, bezogen auf Textsorten „der Brief“, „das Evangelium“, „die Historie“ etc., die in konkreten Gebrauchskontexten nachweisbar sind, in denen man heute, falls man keine Spezifizierung vornehmen möchte, von „Text“ sprechen würde (vgl. Scherner 1998: 1038). Trotz langer philologischer Tradition ist spürbar, dass die sprachwissenschaftliche Disziplin der Textlinguistik eine sehr junge ist. Die Satzgrenze wurde innerhalb der Linguistik wohl zuerst im Rahmen der sog. „Discourse Analysis“ überschritten, deren Programm Zellig S. Harris im gleichnamigen Aufsatz der Zeitschrift „Language“ 1952 entwickelt hat. 1 In Hor. Sat. I 4 benennt Horaz z.B. die Vorläufer der Komödiendichtung und der Satire, die er sermones, „Gespräche“, nennt, und bietet eine durchaus kritische Betrachtung seines Vorläufers Lucilius, er habe „harte Verse“ gedichtet, weil er in einer Stunde zweihundert Verse - gleichsam auf einem Bein stehend - schuf, vgl. z.B.: „EVPOLIS atque Cratinus Aristophanesque poetae, atque alii quorum comoedia prisca virorum est, si quis erat dignus describi quod malus ac fur, quod moechus foret aut sicarius aut alioqui famosus, multa cum libertate notabant. hinc omnis pendet Lucilius, hosce secutus mutatis tantum pedibus numerisque ; facetus, emunctae naris, durus componere versus : nam fuit vitiosus : in hora saepe ducentos, ut magnum, versus dictabat stans pede in uno : (...)“ (V. 1-9; zitiert nach Q. Horati Flacci Opera, recogovit brevique adnotatione critica instruxit Eduardus C. Wickham. Editio altera curante H. W. Garrod, Collegii Mertonensis socio. Oxford University Press 1975). Historische Redeweisen über Texte 111 Erst in den 60er Jahren folgen erste Arbeiten in Deutschland wie Peter Hartmann (1964), Harald Weinrich (1964, 2001) oder Roland Harweg (1968, 1979), die aus jeweils unterschiedlicher Perspektive den „Text“ zu einem linguistischen Gegenstand erhoben. Den meisten Untersuchungen der Frühphase ist gemein, konstituierende Elemente einer abstrakten Einheit „Text“ ohne Rückbindung an die kontextuelle Einbindung in die Gebrauchsweisen von Texten zu etablieren. Dabei ist man von einer Einigung auf einen einheitlichen Textbegriff ebenso weit entfernt, wie zuvor schon bei den Größen „Wort“ und „Satz“. Sehr viele Definitionen von „Text“ gehen mittlerweile von einem weiter gefassten Textbegriff aus, in dessen Rahmen nicht nur die schriftlichen Äußerungen, die mehr als einen Satz umfassen, unter das Phänomen „Text“ subsumiert sind, sondern alle mündlichen Äußerungsformen, wozu auch nicht-verbale Eigenschaften wie Mimik und Gestik zählen. Selbstverständlich kann man den Textbegriff noch weiter fassen im Sinne der durch Intertextualität verwobenen Textwelt, im Sinne des Diskurses oder als Synonym des kulturellen Kodes schlechthin (vgl. Klemm 2002). 3 Zur Redeweise über Texte in der Antike 3.1 Platon und Aristoteles Schon Platon hat den Ausdruck „Logos“ immer wieder für „vertextete Sprache“ verwendet. Der Begriff bezieht sich bei ihm sowohl auf die schriftliche als auch die mündliche Ebene (Scherner 1996: 105 f., 1998: 1038 f.). Im Phaidros, in dem er die Schriftlichkeit zugunsten der Mündlichkeit einer kritischen Würdigung unterzieht, verweist er bereits als erster auf das hermeneutische Grundproblem, nämlich: Der vom Autor intendierte Sinn erfahre in der Schrift keine verlässliche Konservierung. Dieser Gedanke ist mehr als 2000 Jahre lang nicht mehr aufgegriffen worden. Bei Platon ist lógos sowohl materielles Medium für die Gedanken als auch Sinnkorrelat. Allerdings ist lógos bei Platon wie auch später bei Aristoteles polysem. Es bezeichnet zwar nach grámma, dem „Buchstaben“, und όnoma, dem „Namen“, die größte strukturelle Einheit, bedeutet aber neben „Text“ auch „Satz“. Diese Unschärfe der Trennung ist symptomatisch für die abendländische Philosophie. Denn der „Satz“ spielt bei Aristoteles die entscheidende Rolle. Noch im 19. Jahrhundert folgen Satzdefinitionen, die in Aristotelischer Tradition stehen: „Der Satz hat die Form des logischen Urteils.“ Mit dem Satz, bestehend aus der Substanz, dem hypokeímenon, und den Akzidentien, dem kategoroúmenon - Boethius übersetzt später: aus „Subjekt“ und „Prädikat“ -, können Aussagen, also Urteile, über die Welt getroffen werden (vgl. Naumann 1986: passim). So gesehen ist der „Text“ als eigenständige Kategorie überflüssig. Denn nach Aristoteles bestünde dieser, falls er sich explizit dazu geäußert hätte, lediglich aus einer Aneinanderreihung von Sätzen, d.h. von Urteilen. Sie 112 Mechthild Habermann bestimmen das Ganze des Textes, das letztlich aus einzelnen Teilen additiv aufgebaut sei. Aristoteles habe nach Scherner (1998: 1039) wohl ein Gespür für das Ganze von Texten als Summe seiner Bausteine gehabt, andere Autoren aber beziehen alle Äußerungen auf den Satz als größte Struktureinheit. 3.2 Die rhetorische Tradition Als zweiter Meilenstein gilt die antike Rhetorik, die bekanntlich immer wieder als Vorläuferin der modernen Textlinguistik genannt wird. Die Rhetorik hat ihre Wurzeln in der Attischen Demokratie und ist von ihren Ursprüngen her auf die mündliche Rede ausgerichtet. Bezieht man also mündliche Äußerungsformen in einem weiter gefassten Textbegriff mit ein, so kann man die Organisation der öffentlichen Rede als wesentliche Voraussetzung der Textlinguistik begreifen. Ihre Entstehung ist in die Zeit um die Perserkriege, also frühes 5. Jahrhundert vor Christus, zu verorten. In der Attischen Demokratie ist es unabdingbar, seine Überzeugungen öffentlich, auf der Agora, darzulegen. Nach der Beseitigung der Tyrannenherrschaft in Athen konnten Interessengegensätze auf ökonomischem, politischem und rechtlichem Gebiet öffentlich ausgetragen werden. Derjenige trat besonders wirkungsmächtig auf, der auf der Agora zu überzeugen wusste. Die Rhetorik ist „Instrument“ dafür, um in Politik, Recht und Wirtschaft erfolgreich zu sein. Ihre Verortung in der Antike bedeutet zugleich, dass sie in einem Kontext mündlicher Interaktion entstanden ist (vgl. u.a. Ueding/ Steinbrink 1994: 11 f.; Kalverkämper 2000: 3). Gilt die Sphäre der Mündlichkeit als ungeregelt, willkürlich und aufgrund ihrer Flüchtigkeit weitgehend unorganisiert, so wird nun durch das Korsett rhetorischer Vorschriften die mündliche Rede organisiert und diszipliniert. Sie gibt der Virtuosität in der Ausgestaltung Platz und führt früh dazu, dass sie eine téchne, eine Kunst, ist, die nur wenige, etwa Demosthenes, perfekt beherrschen. Eine Disziplinierung der Redeweise setzt Regeln voraus: Die Rhetorik ist eine regelgeleitete Disziplin, die in erster Linie das Aufstellen von „Produktionsregeln“ zum Ziel hat. Diese Regeln können jedoch nie losgelöst vom jeweiligen Situationskontext betrachtet werden. Der jeweilige Redeanlass, die situative Einbettung in Raum und Zeit und die Berücksichtigung des Adressatenkreises bedingen die spezifische Ausformung der jeweiligen Rede. Der entscheidende Bezugspunkt, von dem die Planung einer Rede erfolgt, ist die Wirkung auf den/ die Adressaten/ Adressatin. Schon früh führt der Weg zur Schriftlichkeit, zum einen zu der im 5. Jahrhundert aufkommenden Kunstprosa sowie zum anderen zu einem besonderen wissenschaftlichen Denken, das seit der sophistischen Aufklärung den Weg aus mythischem Denken bahnte und die Rede zu einem rational brauchbaren Instrument des Rechts- und Gesellschaftssystems machte. Obwohl die Rhetorik mit dem Untergang der römischen Republik seit dem 1. Jh. n. Chr. als im Verfall begriffen beklagt wird, vollendet sich in dieser Zeit Historische Redeweisen über Texte 113 das theoriegeleitete System der Rhetorik beim Römer Marcus Fabius Quintilianus, dessen Institutio oratoria (nach 90 n. Chr. in 12 Büchern verfasst) zum einflussreichsten Werk rhetorischer Begrifflichkeit des Abendlandes bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wurde. Die rhetorische Lehre war nun zwar entpolitisiert, wurde dafür aber pädagogisiert. Denn es erfolgt zugleich eine Verankerung im lateinischen Bildungssystem, das später durch Martianus Capella endgültige, wiederum bis fast in das 18. Jahrhundert hinein reichende Gestalt bekam. Die „Rhetorik“ gehört nun zum Ausbildungskanon des „freien Mannes“, sie ist eine der septem artes liberales und bildet zusammen mit der „Grammatik“ und der „Dialektik“ das Trivium, also die drei Künste, die die Basis, die nicht hinterfragbare Grundlage aller Bildung ausmachen. Sie gilt nun als ars bene dicendi, als Kunst des schönen Redens, 2 und grenzt sich von der Grammatik als ars recte dicendi, als Kunst des richtigen Sprechens, und der Dialektik als ars vere loquendi, als Kunst des wahren Sprechens, ab. Wenn man die textlinguistischen Kategorien des Definierens und Abgrenzens auf die antike Rhetorik übertragen will, dann geht es nicht primär um eine Wesensbestimmung von „Rede“, oratio, geschweige denn von „Text“. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Produktionsregeln, die im höchsten Grade unter durchaus modernen Vorzeichen von situationsabhängigen Faktoren wie Ort, Anlass, Adressat etc. bestimmt sind: Zum einen fassbar in den drei genera orationis, - mit der Gerichtsrede (genus iudicale), die als „juristische Rhetorik“ bezeichnet werden kann, - der Beratungsrede (genus deliberativum), zentral im Bereich der Politik, eine Art „kommunikative Rhetorik“, - der Lobrede (genus demonstrativum), die „ästhetische Rhetorik“. Zum anderen greifbar in den für die Stillehre des Abendlandes zentralen drei Stilebenen, den genera dicendi, wonach zwischen - genus grande, - genus medium und - genus subtile unterschieden wird. Hiervon hängt der Grad des Pathos ab, der sich insbesondere im Ausmaß der Verwendung von Redeschmuck, dem ornatus, niederschlägt. Das uneigentliche Sagen ist im genus subtile mit Ausnahme von Metaphern o.Ä. beinahe gänzlich unangebracht, im genus grande hingegen unverzichtbar (vgl. Landfester 2008: 317-321). Die sozialhierarchische Zuweisung der drei Stilebenen führt dazu, dass dem Kaiser und hohen Fürsten das genus grande, dem gemeinen man das genus subtile zugewiesen werden. Die Abhängigkeit des genus dicendi vom sozialen Status ist aus heu- 2 Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 2, 17, 37. 114 Mechthild Habermann tiger Sicht in seiner mechanistischen Zuschreibung der hierarchisch gegliederten Ständegesellschaft geschuldet. Aber auch heute ist der Gedanke der sozialhierarchisch bestimmten Stilhöhe selbstverständlich nicht fremd, wenngleich Anlass der Rede und Bildung des Adressatenkreises einen ebenso großen Einfluss auf die Wahl der sprachlichen Mittel haben und die starre Hierarchisierung grundsätzlich durchlässiger erscheinen mag. Aus der rhetorischen Tradition stellen bis in die Neuzeit hinein die „Textproduktionsregeln“ einen besonders wirkungsmächtigen Binnenkontext dar. Bei der Produktion einer guten Rede hat man fünf Schritte zu durchlaufen, die in Anschluss an Kalverkämper (2000: 6 f.) kurz dargestellt werden sollen: (1) Die inventio als das Auffinden der Gedanken, die sich für Situation und für den Redezweck eignen. Der dabei zu berücksichtigende Fragekatalog stammt von Hermagoras von Temnos aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando? Die Fragen werden circumstantiae partes genannt, sie heißen in der New Rhetoric-Formel von Harold Dwight Lasswell aus den späten vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts: „Who says What In which channel To whom With what effect? “ Sie dienen noch heute als Leitformeln für eine gewissenhafte Recherche. (2) Die dispositio als die Gliederung der aufgefundenen Gedanken, mit den Elementen Einleitung und Schluss, dazwischen folgen die „Sachverhaltsschilderung“, die narratio, und die „Begründung“, die argumentatio, mit Bekräftigung oder Zurückweisung von Argumenten. Die Bedeutsamkeit von narratio und argumentatio für den Textaufbau neuzeitlicher Texte ist wiederholt hervorgehoben worden. (3) Die elocutio als die sprachliche Ausgestaltung der Texte im Rahmen der drei Stilebenen unter Zuweisung von Stilmerkmalen, aus der sich spätestens im Barock die Stilistik entwickelte. Seit dieser Zeit steht sie als dritter Bereich neben Poetik und Rhetorik. (4) Die memoria als das Auswendiglernen, das Memorieren der Rede, das ein besonderes Merkmal des mündlichen Mediums ist. (5) Die pronuntiatio als der konkrete Vortrag, bei dem das Erscheinungsbild des Redners, Stimme und Gesten, eine wichtige Rolle spielen. Für die weitere Text- und Textsortengeschichte ist der Textproduktionsteil der dispositio, der Gliederung des Stoffes, und der elocutio, der sprachlichen Ausgestaltung, besonders zentral. Historische Redeweisen über Texte 115 4 Zum Umgang mit Texten von der Antike bis in die Frühe Neuzeit 4.1 Der Text in der römischen Rhetorik und Grammatikographie Obwohl den zentralen Terminus der antiken Rhetorik die oratio darstellt, ist auch der Begriff textus, textum in der Antike, so etwa bei Cicero und Quintilian, bereits bekannt. Quintilian spricht z.B. von dicendi textum, d.h. vom „Gewebe der Sprechens“. 3 Allerdings meint textum nicht den Text zur Fixierung von Sinn, sondern vielmehr „Duktus“, „sprachliche Gedankenführung“ und ist wohl am besten mit „Stil“ oder „Machart“ zu übersetzen (vgl. Knobloch 2005: 34). Während die Kategorie „Text“ in der gegenwärtigen Grammatikschreibung etwa durch Harald Weinrichs Textgrammatik eine enorme Aufwertung erfuhr, spielt die Betrachtung des Textes in der abendländischen Grammatikographie so gut wie keine Rolle. Die bis in das 18. Jahrhundert normativ gültigen spätantiken Grammatikdarstellungen, die Institutiones des Priscian und die De octo partibus orationis des Aelius Donatus aus dem 4. bzw. 6./ 7. Jahrhundert n. Chr., sind im Wesentlichen auf die Beschreibung der Wortarten fokussiert, da im Lateinischen das „Wort“ Träger aller grammatischen Kategorien ist. Bei der Beschreibung der Wortarten gibt es allerdings Wörter wie Pronomina und Konjunktionen, die satzübergreifende Funktionen haben. Auf diese Funktion verweist Priscian, so dass implizit ein Verständnis des Textganzen erkennbar ist. Priscian, der rudimentär die Syntax mit einbezieht, verwendet oratio für den „Satz“, und Donatus meint mit oratio die „Aktualisierung von Sprache“, innerhalb deren sich die „Redeteile“ als Größen ausmachen lassen. Die Erläuterung der „Aktualisierung von Sprache“ kommt dem Parole-Begriff de Saussures bereits recht nahe (vgl. hierzu Scherner 1996: 112-116). Die volkssprachliche Grammatikographie, die erst mit der Frühen Neuzeit einsetzt, steht ganz in antiker Tradition. Valentin Ickelsamer und andere legen ihr Hauptaugenmerk auf den Leseerwerb - mit der Intention, dass jedermann das Wort Gottes, d.h. Bibeltexte, lesen könne. Der Leseerwerb dient also der Textrezeption, eingeengt auf die Rezeption des Wortes Gottes. In der Teutschen Grammatica von Valentin Ickelsamer, Anfang der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts in Augsburg gedruckt, tritt der lateinische Terminus periodus auf, der in membra, und zwar cola und commata, unterteilt ist. Nach Ickelsamer ist periodus ein komplexer Satz, cola sind die einzelnen „Sinne“, also Aussagen oder Propositionen, und commata die einzelnen Wörter (vgl. Müller 1969 [1882]: 157 f.). Kenntnis von der Lehre des Periodenbaus, die zu kunstvollen Satzgefügen führt, macht sich nach Stolt (2000: 137-142) insbesondere in Martin Lu- 3 Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 9, 4, 17. Zum Textbegriff der klassisch-römischen Antike vgl. Scherner 1996: 108 f. 116 Mechthild Habermann thers deutscher Messe von 1526 bemerkbar. Aber auch hier wird deutlich, dass es um Verfahren der Satzbzw. nun Periodenproduktion geht, die auf die ganzheitliche Textproduktion übertragen werden können. Während es wegen einer am Wort orientierten Sichtweise kaum Aussagen zur Produktion von Texten in den Grammatiken gibt, wird man im Mittelalter in einer anderen Richtung, insbesondere in der ars poetriae oder in der ars dictaminis, die hier näher betrachtet werden soll, fündig. 4.2 Die ars dictaminis Die rhetorische Tradition setzt sich fort in den Werken der ars dictaminis oder ars dictandi, die als Vorläufer unserer Stillehren und Briefsteller gewertet werden können. Schaller (1980: 1034) übersetzt im Lexikon des Mittelalters „Ars dictaminis“ als die Kunst des Textes, d.h. des Verfassens von Texten. Die Bezeichnungen begegnen seit dem 12. Jahrhundert und zwar im Rahmen der Regeln für einen guten Prosastil, die bei Briefen und Urkunden angewandt zu stilistisch adäquaten Texten führen. Die ars dictaminis erwächst aus der Rhetorik und spaltet sich im hohen Mittelalter in weitere Teilbereiche, die in einzelnen Teilen wieder stärker in die Mündlichkeit verweisen. Es handelt sich hierbei z.B. um die ars praedicandi, die Predigtkunst, eine Vorläuferin moderner Homiletik. Eine mittelalterliche ars dictaminis besteht normalerweise aus einem theoretischen Teil und einem Anhang von Brief- und Urkundenmustern. Im theoretischen Teil wird zunächst die Einteilung des Stoffes mit Definitionen und Erklärungen wichtiger Begriffe geboten und die verschiedenen Stilarten erläutert. Dann folgen allgemeine Regeln für den Prosastil: - Gliederung des Textes - grammatische und stilistische Fehler - Colores rhetorici - Sentenzen - schmückende Beiwörter - Cursus: rhythmische Kadenzen - Distinctiones: coma, colon, periodus mit der Diskussion von Zeichensetzung und dem grammatischen Aufbau einer oratio Darauf folgt die Lehre vom Brief mit den verschiedenen Arten des Briefes, seinen Teilen, Regeln und Beispielen für deren Gestaltung und den für das Mittelalter und der Frühen Neuzeit besonders bedeutsamen Grußformeln, den salutationes. Briefe haben bekanntlich bis weit in die Neuzeit einen sehr stereotypen fünfteiligen Aufbau, der die Teile salutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio und conclusio umfasst (vgl. auch Nickisch 1991). Dieser Aufbau findet sich auch in den Urkunden mit zusätzlichen Bemerkungen zu Schrift, Siegel, Notariatssigneten und Unterschriften. Obwohl es bereits Regeln für einen guten Prosastil in der Rhetorik der Antike und des frühen Mittelalters gegeben hat, so ist doch an der seit dem Historische Redeweisen über Texte 117 12. Jahrhundert in Oberitalien entstandenen ars dictaminis neu, dass nun die Stilregeln für Briefe und Urkunden systematisch zusammengefasst und Theorie mit Praxis, d.h. mit Briefmustern, verbunden werden. Die aufblühenden Städte Oberitaliens hatten einen besonderen Bedarf an bereits formalisierter Schriftlichkeit in Recht, Verwaltung und Wirtschaft. Die Voraussetzungen waren günstig wegen des Lateins als gesprochener Sprache, einer selbstbewussten, des Lesens und Schreibens kundigen Bürgerschaft und der Anfänge laikaler wissenschaftlicher Bildung, die im Unterschied zur theoretisch ausgerichteten kirchlichen Tradition an der Praxis orientiert war. Entscheidend ist, dass auch hier der Wandel in den soziokulturellen Rahmenbedingungen oberitalienischer Städte zu einer neuen Bedürftigkeit hinsichtlich organisierter Schriftlichkeit führt. Bereits im 13. Jahrhundert sind in Italien Werke der ars dictaminis in der Volkssprache erschienen. In den deutschsprachigen Gebieten dauert es bis in das 15. Jahrhundert, bevor das Formulare und Deutsch Rhetorica (1480) oder die deutsche Ars epistolandi des Friedrich von Nürnberg erscheinen konnten (vgl. Knape/ Roll 2002). Auch in der Zeit des Frühhumanismus werden die alten Werke fortgeführt, wie etwa in Friedrich Riederers Spiegel der waren rhetoric, der ganz dem Aufbau alter Briefsteller verhaftet bleibt, aber anstelle von Exempeln mit verderbtem Latein nun klassische Beispiele aus Cicero in deutscher Übersetzung bietet (vgl. Knape/ Luppold 2008). 4.3 Was ein Sendbrieff vnd _ein ampt _ey - eine frühe Textsortendefinition Ein berühmtes Beispiel eines Cantzley und Titelbuechlin stammt von Fabian Frangk, gedruckt in Wittenberg 1531. Gleich nach dem Vorwort klärt Frangk, Was ein Sendbrieff vnd _ein ampt _ey / mit _einer aerteilung. Und er definiert, modernen Textsortendefinitionen nicht ganz unähnlich: Der Sendbrieff ist eine rede / _o eins zum andern jm abwe_en ( es _ey freundt odder feindt ) _chriefftlich thuet / darinn eins dem andern _ein jnnerlich odder heimlich anliegen / rath vnd gemFtt er=ffnet / Welchen ertlich / ein bild vn_ers gemFts genant haben / weil er einem abgemaleten bilde nicht vnehnlich i_t. Denn wie dis die auswendige form vnd ge_talt des leibs / al_o aeigt der Sendbrieff an / die jnnerliche ge_chicklicheit des gemFts / Sein ampt odder ge_chefft helt _ich wie ein ver_chwigener glaubwirdiger Bote / bey dem wir die ge_chicht vnd anliegende not / vns odder ander belangend / den abwe_enden entdecken vnd kunt thuen. (Frangk 1979 [1531]: A 4rf.) Hier scheint mit rede die gesprochene Sprache im Medium der Mündlichkeit gemeint zu sein und nicht der Text. Der Autor der Passage bemüht sich darzulegen, dass nichts Fremdes am Sendbrief ist, das auf Unverständnis stoßen könnte. Durch Vergleiche wird der Leser in die Lebenswelt des Bürgers der Frühen Neuzeit einbezogen. Der Sendbrieff ist wie eine rede, eben nur schriftlich; er ist ein Abbild, aber nicht des Äußeren, sondern des Inneren, des Gemüts, also der Gesinnung des Menschen; er ist ein Bote, auf des- 118 Mechthild Habermann sen Verschwiegenheit und Glaubwürdigkeit man sich verlassen kann. Der Sendbrieff ist durch ein Geflecht von Ähnlichkeiten in die frühneuzeitliche Lebenswelt gut eingebettet. Er ist Teil des Ordo rerum, in dem ein Baustein auf dem anderen aufbaut. Alles hat seinen ihm zugewiesenen Platz, der unabhängig vom subjektiven Erleben und Verhalten des Einzelnen Gültigkeit hat. Der Sendbrieff, so wie ihn Fabian Frangk definiert, füllt in idealer Weise Lücken im frühneuzeitlichen Nachrichtensystem und beweist somit durch seine Existenz aufs Neue die Sinnhaftigkeit der von Gott geschaffenen Weltordnung. Die antiken Lehrwerke der Rhetorik und die aus ihnen erwachsenen mittelalterlichen Briefsteller, Rhetoriken, Kanzlei- und Formularbücher der Frühen Neuzeit sind regulative Werke, die Vorschriften geben bzw. Muster vor Augen führen, wie gelungene Textproduktionen auszusehen haben. Bei solch festgefügten Ordnungen erfolgen Textproduktion und -rezeption in einem klar umgrenzten Binnenkontext. Die Reflexion über das Vorhandensein äußerer Kontexte und ihres Einflusses lag einer derart wohl strukturierten (Text-)Welt noch fern. 5 Redeweisen über den Text aus der Sicht des Rezipienten 5.1 Der objektiv gegebene Textsinn Die Geschichte der Textrezeption ist von der Geschichte der philologischen Tätigkeit geprägt, in deren Rahmen Fragen der Interpretation von Textpassagen eine Rolle spielten. Bei Dionysius Thrax aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert sind sechs Schritte zu beachten; sie werden kurz darauf auf vier wesentliche Punkte reduziert (vgl. Knobloch 2005: 33 f.), und zwar auf die - emendatio (Wiederherstellung des Originaltextes), - lectio (gekonntes lautes Vorlesen nach Prosodie und Akzent), - enarratio (Sacherklärung) und - der schwierigste Punkt von allen, auf das iudicium (Kunsturteil) Das Auszulegende sind ursprünglich die grammata, die Buchstaben. Die Bedeutung von grammata weitete sich von Inschrift, Brief, Staatsakte zu Schriftstück überhaupt, zur Literatur oder generell zum Text. Der Stellenwert, den wirkungsmächtige Texte in der Antike innehatten, zeigt sich wohl besonders nachdrücklich an der Tatsache, dass im Rahmen der Panathenäen rhapsodische Homerrezitationen stattfanden, wodurch dem Epos der Status eines identifikationsstiftenden Bandes zukam. In der Schule von Alexandria wurden Textfassungen der Epen Homers bereits sehr früh gesammelt und textkritisch miteinander verglichen. Diese antike Auslegungspraxis bestimmte namentlich die theologische und juristische Hermeneutik bis zum Beginn der Aufklärung, in deren Rahmen der verbindlichen normativen Auslegung von Gesetzen und heili- Historische Redeweisen über Texte 119 gen Texten oberste Priorität eingeräumt wird. Die ersten deutschen Belege des Wortes „Text“ beziehen sich auf die Bedeutung „Wortlaut der Bibel“: - Nu will ich deme texte na/ Gen [sic! ] in diesem buche vort (vor 1350 Poet. Paraphrase des Buches Hiob) - den text und nit die glos (um 1380) (vgl. hierzu Paul 2002: 1002) Der erste als Text bezeichnete „Text“ ist die Bibel, während allen anderen Texten in ihrer Benennung eine sie präzisierende Funktionsbestimmung, die auf bestimmte Situationskontexte verweist, zukommt. Die „Bibel“ ist der „Text“, dessen Gebrauch nicht durch Kontextualisierungen der Situation und der Funktion bestimmt ist, da er immer gilt. Der neutrale, auf die Bibel bezogene Textbegriff entzieht den Text einer pragmatischen Verortung in Raum, Zeit, Zweck etc. Bis in die Neuzeit hinein wird Textrezeption nicht als Interpretation in unserem heutigen Sinn verstanden; der Ausleger eines Textes ist vielmehr Mittler und Sprachrohr von dessen Autor. Aufgrund der aus der rhetorischen Tradition stammenden Priorität der Produktionsregeln von Rede oder Text ist es verständlich, den Textsinn über den intendierten Sinn vom Textproduzenten her zu begreifen. Denn nach Knobloch (2005: 34) galt der Text - das Produkt der Intention des Autors - als etwas Gegebenes; alle Interpretationen können nur von ihm selbst stammen. Die subjektive Verfasstheit des Interpreten in seiner jeweils geschichtlichen Verortung spielt dabei keine Rolle. Es galt, den Willen des Gesetzgebers oder den Willen des kanonischen Textes für die Gegenwart des Auslegenden herauszufinden. Eine wesentliche Säule jenseits von Grammatik und Rhetorik ist die Bibelexegese: Augustinus verweist darauf, dass bei Verständnisschwierigkeiten der Aufschluss im Text-Zusammenhang zu suchen sei: Textus ipse sermonis restat consulendus. Mit textus ist hier der durch den sprachlichen Text repräsentierte Sachzusammenhang gemeint, der wohl am besten mit „Kontext“ wiedergegeben werden kann. Aus antiken und patristischen Quellen, beeinflusst von Augustinus, Origenes und schließlich Cassian, stammt die Lehre vom vierfachen Schriftsinn. Danach hat die Bibel an und für sich eine wörtliche, eine moralische, eine allegorische und anagogische Bedeutung: Die wörtliche Bedeutung lehrt die historischen Tatsachen, die allegorische den Glaubenssatz, der sich daraus ergibt, die moralische die daraus abzuleitende Handlungsanweisung und die anagogische den theologisch-heilsgeschichtlichen Sinn. Erst die Reformationstheologie stößt derlei Glaubenssätze um: Alleyn die schrifft, sola scriptura gilt seit Luther, wodurch der Glaubenswert der Schrift zunächst auf den Wortsinn reduziert wird. Allmählich entwickelte sich auch dort eine autoritative Tradition der Auslegung (vgl. Knobloch 2005: 34 f.). 120 Mechthild Habermann 5.2 Von der humanistischen Textkritik bis zu Diderot Seit dem Mittelalter ist der Terminus „Text“ engstens mit der Bibel verbunden. Der Begriff textus zeichnet sich außerdem durch die Gegenständlichkeit, durch die Materialität der Bibel aus: „Text“ nämlich ist primär das dekorierte Artefakt des Evangelienkodex, also das „Buch“, bezieht sich aber auch auf die Materialität seiner Schriftzeichen. Diese wird nun im Humanismus von entscheidender Bedeutung, denn zum ersten Mal werden schriftliche Zeugnisse nicht mehr unter dem Gesichtspunkt ihres direkten Nutzens gelesen, wie im gesamten Mittelalter die antiken Klassiker, sondern in ihrer historischen Perspektive erkannt. Dem Überlieferungsträger, d.h. der Abschrift oder Kopie, kommt entscheidende Bedeutung zu: Denn in der nun wiederum neu entstehenden Textkritik versucht man, mehrere Abschriften oder Kopien miteinander zu vergleichen und fehlerhaft abgeschriebene von fehlerfrei kopierten Stellen zu unterscheiden. Ziel der Textkritik ist die Feststellung des ursprünglichen Wortlautes einer Schrift, die nicht im Original vorliegt. Ist der ursprüngliche Wortlaut gefunden, dann ist auch auf eine recht mechanistische Art und Weise der Textsinn vorhanden. Neben der auf die Bibel als Text konzentrierten Sicht ist in der Frühen Neuzeit eine weitere Bedeutung von Text fassbar: In Simon Roths Fremdwörterbuch (1571: Q 2v) ist „Text“ zusätzlich für die „wort eines Gesangs _o vnter die notten ge_chriben“ belegt. Hier erfährt der Begriff „Text“ zum einen eine Einengung und wird zum anderen in Opposition zur „Melodie“ gestellt. Bis in die Aufklärung hinein ist der Textbegriff stark materialisiert. D.h. es gibt die kanonisierte Bibel oder die Heilige Schrift Luthers, der autoritative Bedeutung zukommt. Sie ist in der Materialität des Buches und seiner Buchstaben der „Text“ schlechthin. Geht man aber von dem alltagssprachlichen Textbegriff aus, der die Kriterien der abgeschlossenen Einheit mit innerem Sinnzusammenhang umfasst, so befördert insbesondere der Buchdruck erheblich das Verständnis von Geschlossenheit eines Textes. Denn mit der Buchdruckkunst entwickelt sich allmählich das Medium „Buch“ einschließlich seiner sich erst allmählich herausbildenden Paratexte. (Genette 1987) Denn zur Konstituierung von Textsinn gehört ganz wesentlich eine Überschrift, etwa in Form eines Titelblattes, das auf das Textthema verweist, und Klarheit darüber, wo ein Text beginnt und wo er endet. Der Buchdruck und die Entwicklung des Buches beförderten immens die Vorstellung dessen, was ein Werk bzw. was ein Text ist, und führten nicht selten zu einer Gleichsetzung von „Buch“ und „Text“. Es ist interessant zu beobachten, wie Fragen der erwünschten Leserschaft, Intention und möglichen Rezeption nach dem Aufkommen des Buchdrucks in den Vorworten der volkssprachlichen Ratgeberliteratur verhandelt werden. Dort wird der intendierte Adressatenkreis benannt, meist der gemeine man, für den die Vermittlung von Wissen nach dem Gesichtspunkt der Textverständlichkeit Historische Redeweisen über Texte 121 aufbereitet werden sollte - mit dem Ziel, die Verkaufschancen der Werke auf den Buchmärkten zu verbessern. Der Buchdruck führt zu einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Textsorten von Alltagswelt und Wissenschaft, die in den meisten Fällen noch lange Zeit nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion wurden. Zentraler Punkt der Reflexion ist vielmehr die Frage nach der Freiheit von Stil- und Textmustern in der Nachahmung anerkannter Vorbilder (imitatio vs. aemulatio), die langfristig zu einem Aufbrechen starrer Konzepte führte. Zum ersten Mal erscheint ein recht modernes Textverständnis, und zwar im Sinne einer Textgrammatik - in einer Grammatik des 17. Jahrhunderts: Es handelt sich um Christian Pudors Der Teut_chen Sprache Grundrichtigkeit und Zierlichkeit von 1672. In dieser Grammatik versucht Pudor ganz im Geist des Barock Grammatik und Stilistik miteinander zu verbinden. In diesem Zusammenhang verweist er erstmals in deutscher Sprache und für lange Zeit ohne Nachfolger auf ein Textverständnis, das einer gegenwärtigen Textgrammatik recht nahe kommt. Es geht dort um die hierarchisch geschichtete Herstellung einer „vollkommenen teutschen Rede (oratio)“, und zwar aus „Wörtern“, „Phrasen“, „Sentenzen“ (worunter Prädikationen, einfache Sätze verstanden werden) und „Perioden“ (vgl. Scherner 1996: 122 f.). Dennoch fehlen definitorische Äußerungen zum „Text“ bis in das 18. Jahrhundert hinein ebenso, wie sie zum „Wort“ und zum „Satz“ fehlen. Sie galten als selbstverständliche Größen, die im Ordo-Denken der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft als gegeben genommen wurden und nicht hinterfragt zu werden brauchten. Noch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein gilt es als völlig unproblematisch, einen Text zu verstehen, wenn man die Wörter und Sachen, die zum Verständnis nötig sind, geklärt hat. Diese Bedeutung von Text ist noch in Zedlers Universallexikon (1745) zu finden. Die Dominanz der religiösen Bedeutung des Terminus „Text“ zeigt sich bei Zedler ebenso wie später in der französischen Encyclopédie Diderots (1751-1780), die von ähnlichen Teilbedeutungen wie das deutsche Nachschlagewerk ausgeht: - was man liest in den Büchern der Bibel - Bezeichnung für das Korpus der heiligen Schriften (Antonym: Glosse, Kommentar) - der griechische bzw. hebräische Urtext - Passage der Bibel, deren man sich bedient, ein Dogma zu beweisen oder einen Irrtum zurückzuweisen - Bibelstelle, die als Grundlage der Predigt dient Daneben gibt es die folgenden Teilbedeutungen: prächtiges Evangelienbuch; Drucktechnik; die Worte zu Musikstücken. 4 4 Vgl. Zedler (1745): Band 43, 305-315, s.v. Text; zitiert nach Knobloch (2005: 23 f.). 122 Mechthild Habermann 6 Fazit Das Sprechen über Texte erfolgte bis weit in die Neuzeit unter der Prämisse des Aptum, d.h. der Situationskontext und die Funktion, die intendierte Sprachhandlung, bestimmen wesentlich die Adäquatheit der gewählten Textsorte und ihrer Merkmale. Der „Text“ an und für sich ist im Sinne von Machart, in Abgrenzung von der Melodie oder ganz zentral im Zusammenhang mit den für alle Zeit zutreffenden und deswegen in allen Situationskontexten gültigen Texten der Heiligen Schrift gebraucht. Das Sprechen über Texte ist ein Sprechen über Textgenerierungsregeln. Der Produktionsaspekt und die Intention des Redners bzw. des Autors stehen dabei im Vordergrund. Aus diesem Grund herrscht die Vorstellung, dass der Textsinn im Text selbst gesucht werden müsse, da dieser die Manifestation der Intention seines Autors ist. Bis weit in das 18. Jahrhundert fehlt ein modernes Textverständnis, das in der Erkenntnis besteht, dass der jeweilige Erfahrungshorizont des Interpreten, seine Kontextualisierung in Raum, Zeit, allgemeinen und individuellen Bildungshorizont, für die Konstituierung von Textsinn von entscheidender Bedeutung ist. Erst die Einsicht, dass menschliches Erkennen subjektiv ist, was letztlich zu einer Überwindung des alten Ordo-Gedankens führt, ermöglicht den Schritt zur neuzeitlichen Hermeneutik, wenngleich man noch lange von der „Rede“ sprach, wenn man eigentlich „Texte“ meinte. Der Weg zu einem Textverständnis, das primär über den Textsinn zu fassen ist, wurde erstmals im 19. Jahrhundert von Schleiermacher beschritten. Literatur A DAMZIK , Kirsten (2004): Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen: Niemeyer (= Germanistische Arbeitshefte 40). D E B EAUGRANDE , Robert-Alain/ D RESSLER , Wolfgang Ulrich (1981): Einführung in die Textlinguistik. 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II Kontexte und literale Praktiken Angelika Linke Textsorten als Elemente kultureller Praktiken Zur Funktion und zur Geschichte des Poesiealbumeintrags als Kernelement einer kulturellen Praktik 1 1 Texte und Textnutzungsroutinen Schriftliche Texte als die auf Verdauerung angelegte mediale Ausprägung von Sprache zeichnen sich prototypisch dadurch aus, dass Produktions- und Rezeptionssituation nicht zusammenfallen. Wir haben es mit „zerdehnter Kommunikation“ (Ehlich 1983) zu tun. Situationsenthobenheit bzw. Situationsenthebbarkeit werden deshalb als Definiens schriftlicher Texte betrachtet. Doch auch wenn ProduzentIn und RezipientIn eines schriftlichen Textes sich im Normalfall nicht in derselben raumzeitlichen Situation befinden, darf nicht übersehen werden, dass LeserInnen von Texten meist über ein mehr oder weniger klares Wissen von deren Produktionsbedingungen verfügen, ebenso wie SchreiberInnen ein Wissen davon haben, in welcher Weise - auch in welchen Situationen - ihre Texte in prototypischer Weise genutzt werden. Dass dies so ist, hängt wiederum damit zusammen, dass die Produktionswie die Nutzungsbedingungen von Texten innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft mehr oder weniger standardisiert bzw. routinisiert sind. So ist, um ein Beispiel aus der Textwelt der Wissenschaften zu geben, die Textsorte „Handout“ unter anderem dadurch bestimmt, dass die Texte dieser Textsorte 1. im Vorfeld des öffentlichen Auftritts eines Redners/ einer Vortragenden angefertigt werden, 2. vor dem Vortrag an die Zuhörenden verteilt werden, spätestens jedoch bevor im Vortrag der erste Verweis auf das Handout erfolgt, 3. im Verlauf des Vortrags von den Zuhörenden rezeptiv verwendet werden, oft nach entsprechender Anleitung durch den Vortragenden/ die Vortragende, 4. von den Zuhörenden nach dem Vortrag meist eingepackt und mitgenommen werden, während überzählige Exemplare im entsprechenden 1 Ich danke den Herausgebern für die kritische Lektüre des ursprünglichen Manuskriptes und wertvolle Hinweise zu dessen Verbesserung. 128 Angelika Linke Raum liegen bleiben, ihren Gebrauchswert verloren haben und irgendwann vom Putzpersonal weggeräumt werden. 2 Textsorten lassen sich also - unter anderem - beschreiben als Koppelungen von Textmustern mit spezifischen Textnutzungsroutinen. 3 Solche Nutzungsroutinen sind per se prozesshaft; sie bilden den dynamischen Kontext eines Textes - der traditionell eher auf stabile Faktoren bezogene Kontextbegriff 4 ist also entsprechend zu erweitern -, und sie stehen in einem interdependenten Verhältnis zu den sprachlichen Strukturen und Mustern der jeweiligen Texte: 5 Einmal entwickelt, kontextualisieren bestimmte Textmuster auch wieder ganz bestimmte Verwendungsweisen. 6 Das Wissen um solche Nutzungsroutinen und damit auch um die „pragmatische Nützlichkeit“ (Hausendorf/ Kesselheim 2008: 28) von Texten gehört zu unserem Text(sorten)wissen. 2 Zur Nützlichkeit von Texten Die pragmatische Nützlichkeit von Texten - die „Zwecksetzungen [...], die für einen Text relevant sind“ (Hausendorf/ Kesselheim 2008: 28) - sollte man sich allerdings nicht nur auf den unmittelbaren alltagspraktischen Nutzen beschränkt denken, wie das etwa für die Informationen und Handlungsanweisungen gilt, die wir dem Beipackzettel eines Medikaments entnehmen 2 Natürlich ist die Textsorte „Handout“ noch durch viele weitere Faktoren bestimmt, v.a. auch durch die inhaltlichen Bezüge des Textes/ der Texte auf dem Handout zum Vortrag, in dessen Rahmen es benutzt wird. Hier interessieren jedoch in erster Linie die Routinehandlungen, in denen das Handout seine kommunikative Funktion erfährt und erfüllt. 3 Wolfgang Heinemann zeigt diese Verknüpfung am Beispiel des Arztrezeptes auf, das als Textsorte auch durch seine „praktische Funktion“ (Heinemann 2000: 15) bestimmt ist, also etwa durch die Tatsache, dass man damit in die Apotheke gehen und dort ein Medikament beziehen muss, welches man dann anwendet etc. 4 So werden in einschlägigen linguistischen Nachschlagewerken meist die „Äußerungssituation“ sowie Faktoren wie Alter, Geschlecht und sozialer Status von SprecherInnen bzw. von KommunikationspartnerInnen als bedeutsame Elemente von „Kontext“ genannt. 5 Dass also etwa die Zeitungstexte in der Neuen Zürcher Zeitung, einer klassischen Abonnementszeitung, schon rein optisch anders aussehen und auch sprachlich anders „gemacht“ sind als thematisch entsprechende Pendants in den morgendlichen Pendlerzeitungen, hat nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Nutzungspraktiken zu tun, in die diese beiden Zeitungstypen prototypisch eingebunden sind. Wobei zu diesen Nutzungsformen auch gehört, dass die NZZ von ihren Zürcher LeserInnen normalerweise jede zweite Woche in der städtischen Altpapiersammlung entsorgt wird (die einzelnen Zeitungsausgaben also oft während mehrerer Tage zur Lektüre verfügbar sind), während die Pendlerzeitungen im Normalfall gar nicht erst bis in den heimischen Altpapierstapel vordringen: Texte in Pendlerzeitungen sind Wegwerftexte. 6 Die Kurztexte in Pendlerzeitungen „verlangen“ keine größere Investition von Lesezeit und Konzentration und kontextualisieren so andere Lesesituationen als seitenfüllende Artikel in Qualitätszeitungen. Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 129 können. Die Nützlichkeit von Texten erstreckt sich auch auf die symbolischen Funktionen und Effekte, die Texten als Elementen kultureller Praktiken zukommen können. So gilt auch für das Handout nicht nur, dass es RednerInnen und ZuhörerInnen - wenn auch in unterschiedlicher Weise - von bestimmten Handlungen (z.B. Mitschriften) entlastet, sondern auch, dass es als „Handreichung“ des/ der Vortragenden eine zusätzliche Verbindung zwischen diesem/ dieser und seinen/ ihren ZuhörerInnen stiftet, dass es zum Vollbild der kulturellen Praktik des Einen-Vortrag-Haltens beiträgt und dass es die Professionalität des Vortragenden unterstreicht etc. Für die Textsorte, um die es im Folgenden geht - den Poesiealbumeintrag -, gilt diese konstitutive Wechselwirkung zwischen Text und zugehöriger kultureller Praktik (als dem dynamischen Kontext solcher Texte) in besonders eklatanter Weise und die Textsorte ist deshalb auch ein besonders gutes Beispiel zur Illustration dieser Wechselseitigkeit. Im Vordergrund der folgenden Ausführungen steht also die Verschränktheit von kultureller Praktik und Textsorte, wobei mich insbesondere die aus dieser Interdependenz resultierende kulturelle Signifikanz der Textsorte „Poesiealbumeintrag“ interessiert. Meine Perspektive ist zudem eine historische, d.h. ich frage danach, in welcher Weise die an historischen Quellentexten belegbaren Veränderungen im Textmuster von Poesiealben auf Veränderungen in der kulturellen Signifikanz der Praktik des Jemandem-ins-Poesiealbum-Schreibens schließen lassen. 3 Der Poesiealbumeintrag Unter Poesiealbumeintrag verstehe ich also den gesamten Eintrag eines Schreibers/ einer Schreiberin in ein Poesiealbum. Solche Einträge sind räumlich meist klar begrenzt, sie nutzen im Normalfall eine, maximal zwei (dann gegenüberliegende) Seiten eines Albums und sie können ein breites Spektrum sprachlicher sowie bildlicher Elemente umfassen. Das einzige obligatorische Element ist ein sprachliches, nämlich die Namenszeichnung des Einträgers bzw. der Einträgerin, die mit einem ansonsten rein bildlichen Eintrag verbunden werden kann. Dies gilt für die gesamte Geschichte der Textsorte (siehe unten Abschnitt 4). Sowohl bei den bildlichen wie bei den sprachlichen Elementen müssen Eintragende nicht notwendigerweise „Originale“ produzieren, sondern können auf Vorlagen, bei bildlichen Elementen sogar auf „ready-mades“ wie Papierbildchen, Abziehbilder, Fotos etc. zurückgreifen. Bei den sprachlichen Elementen sind es in erster Linie die Widmungsformulierungen, die von den SchreiberInnen selbst verfasst werden, meist auch hier jedoch in Anlehnung an bestehende Routineformeln. Weitere sprachliche bzw. textliche Elemente - Gedichte, Sprüche, Sentenzen, Aphorismen, Liedtexte, Gebete etc. - sind „Zitiertexte“ (Fix 2009), d.h. hier ist es lediglich die Auswahl, die die Eintragenden „leisten“. Die durch die Zitiertexte jeweils aufgerufenen intertextuellen Bezüge tragen 130 Angelika Linke zum kommunikativen Gesamtcharakter des Eintrags bei, der sowohl der Selbstdarstellung der Eintragenden wie auch dem Appell an den Albumbesitzer oder die Albumbesitzerin dient und von der moralischen Ermahnung über die Vermittlung von Lebensklugheiten bis zur Erheiterung durch Nonsenssprüche reichen kann. Die Ausbildung von (historisch veränderlichen) Kanones von entsprechend oft gewählten Zitiertexten führt darüber hinaus zu intertextuellen Bezügen zwischen den Einträgen innerhalb eines Albums sowie zwischen Alben aus derselben zeitlichen Epoche (siehe unten Abschnitt 7). Poesiealbumeinträge sind also häufig „parasitär“, ihr grundsätzlicher Collagencharakter gehört zum Charakteristikum der Textsorte, wobei die Rekontextualisierung und zum Teil auch Modifizierung übernommener Elemente diese selbst wieder in ihrem semantisch-funktionalen Gehalt verändern kann. 3.1 Poesiealbumeinträge als Ko-Texte und Kernelemente einer kulturellen Praktik Poesiealbumeinträge sind im Gegensatz zu vielen anderen Texten immer schon Ko-Texte, ja sie sind geradezu dadurch definiert, dass sie zusammen mit anderen, gleichartigen Texten auftreten. Einzeln sind sie gar nicht zu haben. Vielleicht ist das Faktum, dass Poesiealben, die nach nur drei oder auch nach zehn Einträgen aufhören, auf LeserInnen immer einen etwas traurigen Eindruck machen, als Effekt dieser Ko-Textualität von Albumeinträgen zu verstehen: Je mehr Einträge ein Album aufweist, desto deutlicher ist die Anforderung der Ko-Textualität erfüllt, ein desto „besseres“ Album liegt vor und desto klarer ist die Textsortenidentität des einzelnen Eintrags. 7 Das Poesiealbum seinerseits bildet den verbindenden materiellen bzw. räumlichen Kon-Text der Einträge. Es ist das Album, das die Einträge zu Poesiealbumeinträgen macht, ebenso wie sich das Album erst in der Reihung der Einträge als Poesiealbum konstituiert. Und beides, Einträge und Album, bilden die Kernelemente derjenigen kulturellen Praktik, in die AlbumbesitzerIn und SchreiberIn in musterhafter und interdependenter Weise eingebunden sind. Denn das zunächst leere Album wird zum „aktiven“ Poesiealbum erst dadurch, dass Besitzer oder Besitzerinnen ihre Freunde/ Freundinnen und Verwandten um Einträge in eben dieses Album bitten, ihnen ihr Album für einige Zeit zu diesem Zweck überlassen und es mit dem erbetenen Eintrag versehen wieder zurückbekommen, um es dann wiederum an den nächsten Schreiber, die nächste Schreiberin weiterzugeben. 8 Gelesen werden die Einträge allerdings nicht nur von den Besitzern 7 Die in vielen (unvollständigen) Alben dokumentierte „Reservierung“ bestimmter Seiten für bestimmte avisierte Einträger, indem deren Namen mit Bleistift dort notiert werden, ist jeweils ein Hinweis darauf, dass Vollständigkeit angestrebt wurde. 8 In der volkskundlichen Arbeit von Langbein, die das Poesiealbum in erster Linie als „Tauschobjekt“ betrachtet und es als Element eines „Spiels“ sowie als „Mode“ (1995: Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 131 und Besitzerinnen der Alben, sondern auch von allen Schreibern und Schreiberinnen; Objekt der Leserneugier sind dabei einerseits die Eintragstexte (und gegebenenfalls auch die zugehörigen Bilder), die mit Blick auf ihren Inhalt wie auf ihre - schöne - Form und den Grad ihrer emotionalen Markiertheit einer wertenden Lektüre unterzogen werden, 9 als auch die Namen und Selbstbezeichnungen der Schreiber und Schreiberinnen, aus denen die LeserInnen das Beziehungsumfeld der AlbumbesitzerInnen erschließen können. So wird das Poesiealbum zur Vitrine für textbildliche Sammlerstücke, für die Albumeinträge als optisch wie taktil wahrnehmbare Manifestationen sozialer Beziehungen. Wobei sich die Praktik des Jemandem-ins-Album-Schreibens zudem dadurch auszeichnet, dass sie zu großen Teilen eine Praktik des Tausches ist: Schreibst Du mir, so schreib ich Dir. 10 Das Jemandem-ins-Poesiealbum-Schreiben ist heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ebenso wie die Textsorte „Poesiealbumeintrag“, von einem Hauch textueller Nostalgie umgeben. Die Textsorte erscheint als Relikt aus vergangener Zeit und die für die Textsorte produktiven kulturellen und sozialen Kontexte vermuten wir eher im vorletzten Jahrhundert. Das in Abb. 1 abgebildete Exemplar eines Poesiealbums aus dem späten 19. Jahrhundert wie auch der eben diesem Album entnommene Eintrag (Abb. 2) dürften deshalb vielleicht besonders gut der Vorstellung eines „richtigen“ Poesiealbums entsprechen. Abb. 1 72) sieht, wird die komplexe Praktik, in die ein Album eingebunden ist, v.a. in den Interviews deutlich, die Langbein mit Grundschulkindern durchführt. (1995: 75-92) 9 Langbein zitiert u.a. folgende Äußerung einer Grundschülerin zu ihrem Umgang mit Poesiealben: „Manchmal denkt man so, wenn man woanders eingetragen hat, guck ich manchmal so die von den anderen Kindern durch. Und da denk ich manchmal schon, also der hat sich aber nicht so Mühe gegeben [...].“ (1995: 81) 10 Dies gilt allerdings nicht für Einträge durch Respektspersonen, seien dies ältere Familienmitglieder, Lehrer und Lehrerinnen oder andere Personen, deren Eintrag für den Besitzer oder die Besitzerin des Albums in erster Linie ehrenhaft ist (und für die deshalb auch meist die ersten Seiten eines Albums reserviert sind). Der Kreis der Personen, die man bitten kann, einem ins Poesiealbum zu schreiben, übersteigt also den Kreis der Personen, denen man selbst ins Album schreibt bzw. schreiben kann. 132 Angelika Linke Abb. 2 Tatsächlich jedoch sind nostalgische Gefühle (noch) nicht am Platz. Umfragen in Lehrveranstaltungen an der Universität Zürich in den Jahren 2007 und 2008 haben ergeben, dass praktisch alle der jeweils Teilnehmenden während ihrer Grundschulzeit (d.h. in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts) Poesiealbumeinträge für Freunde, v.a. aber für Klassenkameradinnen und Klassenkameraden geschrieben haben, dass auch die meisten selbst ein Poesiealbum besessen bzw. geführt haben und dass diese Praxis auch bei jüngeren Geschwistern und Verwandten der Befragten noch im Schwange ist. Die Praxis weist allerdings einen Gender-Bias auf: Bei den Studierenden, die angaben, kein Poesiealbum besessen zu haben, handelte es sich vorwiegend um männliche Studierende, und auch die Einträge in den mir von Studierenden als Quellenmaterial zur Verfügung gestellten 20 Poesiealben 11 mit Einträgen aus der Zeit von 1981 bis 2006 12 sind insgesamt häufiger von weiblichen als von männlichen Schreibern verfasst. Ein Poesiealbum zu führen oder Poesiealbumeinträge zu verfassen erscheint um die Wende zum 21. Jahrhundert also als latent weiblich markierte und zudem als kinderkulturelle Praxis: Das Alter der SchreiberInnen in den mir zur Verfügung ste- 11 Die Ausführungen in diesem Beitrag stützen sich in den Detailanalysen auf dieses Material. Dazu kommen weitere 15 Poesiealben aus der Zeit von 1880 bis 1979. Im Verbund mit dem Informationshorizont aus der bestehenden Forschungsliteratur (vgl. die Literaturliste am Schluss des Beitrags) und unter Berücksichtigung der darin publizierten bzw. zitierten Quellentexte ergibt sich insgesamt ein solider Einblick in die Ausformung und in Veränderungen der Textsorte „Poesiealbumeintrag“ während der letzten 130 Jahre. Für statistische Argumentationen ist meine eigene Datenbasis allerdings zu gering. Der vorliegende Beitrag versteht sich deshalb in erster Linie als Skizze. 12 Für die Bereitstellung von Poesiealben des 20. Jahrhunderts danke ich insbesondere Nicole Dreyfus, Nadine Rimlinger, Janine Windler und Stefanie Ziegler. Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 133 henden Poesiealben aus dieser Zeit liegt bei 7 bis 12 Jahren. Wie solche Einträge in Poesiealben aus den letzten 20 Jahren aussehen, dokumentieren die Abb. 3 bis 5: Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 134 Angelika Linke 3.2 Zum Textmuster von neueren Poesiealbumeinträgen Wie die Abbildungen zeigen, variieren die Einträge, die praktisch immer eine Text-Bild-Kombination aufweisen, sowohl im Bildteil wie im Textmuster recht stark. Das Textmuster reicht vom eher klassischen Eintrag, der auch für die Poesiealben des 19. Jahrhunderts typisch ist und die metakommunikative Auszeichnung Zum Andenken mit einem Albumspruch und der Namenszeichnung des Schreibers/ der Schreiberin kombiniert (vgl. Abb. 3), über strukturell ähnliche Einträge, die aber mit einer brieftypischen Anrede versehen sind (Abb. 4), bis zu ganz an das Briefmuster angelehnten Einträgen, die mit einer Briefanrede beginnen, dann einen kleinen Brieftext an die Albumbesitzerin aufweisen und mit einem typischen Briefschluss enden (Abb. 5). Nun ist der in Abb. 5 abgebildete kleine Text trotz seines brieftypischen Musters schon nur dadurch, dass er in einem Poesiealbum steht und von weiteren Einträgen umgeben ist, als Albumeintrag definiert - das ist die Macht der Ko-Texte. Aufgrund seiner sprachlichen Form, die an das klassische Briefmuster angelehnt ist, 13 ist er selbst allerdings eher ungeeignet, das Album, in dem er steht, zum Poesiealbum zu machen - und genau dieses Defizit wird von der Schreiberin in ihrem „Brief“ auch formuliert. Sie müsste, wie sie schreibt, eigentlich „ein Gedicht“ eintragen und bietet als Ersatz die für Albumeinträge typische Bild-Komponente an, eine Zeichnung. Die Schreiberin weiß also, was „richtig“ gewesen wäre, d.h. sie verfügt über ein Textmuster „Poesiealbumeintrag“, zu dessen prototypischer Füllung eben ein Stück „Poesie“ gehört, dessen praktische Einlösung ihr aber nicht gelingt. 14 Zudem verbalisiert die Schreiberin in ihrem kleinen Brief sehr deutlich die kulturellen Voraussetzungen, den gesellschaftlichen Wert und die pragmatische Nützlichkeit der Textsorte „Poesiealbumeintrag“, wenn sie einerseits ihren Stolz darüber ausdrückt, zu einem solchen Eintrag aufgefordert zu sein (was nichts anderes heißt, als dass die Aufforderung selbst ehrenhaft ist) und sie gleichzeitig auch ihre Zuneigung zur Albumbesitzerin sprachlich explizit macht („ich finde dich nett“) - eine Erklärung, die als verbales Geschenk sozusagen das kommunikative Gegenstück bildet zur ehrenden Aufforderung, sich ins Poesiealbum einzutragen. 15 13 Angermann zitiert in ihrer historisch orientierten Untersuchung zum Poesiealbum bzw. Stammbuch auch einzelne Beispiele aus dem 19. Jh., in denen der Albumtext eher an einen (mahnenden, Werte aufzählenden) Brief erinnert und sich ebenfalls Briefanreden wie Liebe Auguste finden (Angermann 1971: 134) - hier zeigt sich also auch eine latente funktionale Nähe der Textsorte „Albumeintrag“ zur Textsorte „Brief“. 14 Eher gegen das Musterwissen der Schreiberin spricht, dass sie das Poesiealbum in ihrem Eintrag als „Heft“ bezeichnet, und dies obwohl die Besitzerin des Albums auf dessen erster Seite festgehalten hat: „Dieses Album gehört Samira“ (Hervorhebung A.L.). 15 Zillig (1942: 221) verzeichnet in den von ihr ausgewerteten über 250 Poesiealben der 30er Jahre u.a. den Spruch: „Ich schreibe nicht lange / Ein zierlich Gedicht, / Ich hab Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 135 Der kleine „Brief“ expliziert also sowohl Elemente des Textmusters „Poesiealbumeintrag“ wie auch zentrale sozialsymbolische Komponenten der für diese Textsorte konstitutiven kulturellen Praktik. Darüber hinaus dokumentiert er allerdings auch einen Wandel im Textmuster „Albumeintrag“ und damit auch einen Wandel in der Sozialsemiotik der Textsorte, auf den ich in Abschnitt 9 näher eingehen werde. Zunächst sei jedoch die Geschichte der Textsorte kurz dargestellt. 4 Die Geschichte des Poesiealbumeintrags als Geschichte einer kulturellen Praxis Es gibt insgesamt nur wenig einschlägige Forschung zum Poesiealbumeintrag und seiner Geschichte. Was man über die Textsorte weiß (und was ich im Folgenden knapp referiere), stammt in erster Linie aus volkskundlicher Forschung (vgl. an einschlägigen Arbeiten Fiedler 1960; Angermann 1971; Langbein 1995), zum Teil auch aus Kunst- und Kulturwissenschaften (vgl. etwa Keil/ Keil 1975 [1893]; Fechner 1981) sowie aus (jugend)psychologischer Forschung (vgl. etwa Zillig 1935, 1942), wobei die Beschäftigung mit Poesiealben immer zu den peripheren Aktivitäten der jeweiligen Disziplinen gehört. Die einzige mir bekannte umfangreichere (textsorten)linguistische Arbeit ist diejenige von Jürgen Rossin, der anhand von Poesiealben der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die formale und thematische Varianz der Einträge untersucht und auch eine Kategorisierung der inhaltlichen Aspekte vornimmt. Die Geschichte des Jemandem-ins-Poesiealbum-Schreibens wie die des Poesiealbum-Führens reicht weit zurück. Sowohl die kulturelle Praxis als auch das Textmuster des Eintrags als auch die materiale Ausgestaltung des Trägerobjektes - des Albums - sind in diesem Zeitraum vielfältigem Wandel unterworfen, weisen gleichzeitig aber auch historische Kontinuität auf. Der Wandel zeigt sich nicht zuletzt in einem entsprechenden Bezeichnungswandel: Von „Stammbuch“ als der ältesten Bezeichnung über Benennungen wie „Liber amicorum“, „Philoteca/ Philothek“, „Denkmal der Freundschaft“, „Souvenir“ bis zu der erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts üblichen und heute noch gängigen Bezeichnung „Poesiealbum“. Die Anfänge der Praxis werden für den deutschsprachigen Kulturraum im Allgemeinen im Spätmittelalter verortet; die ältesten überlieferten Stammbücher stammen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (Keil/ Keil 1975 [1893]: 3 ff.). Als Vorläufer der vor allem in aristokratischen wie in gelehrtbürgerlichen Kreisen üblichen Sitte des Stammbuch-Führens gelten adlige dich lieb, / Mehr weiß ich nicht.“ Die Schreiberin vollzieht - und dies selbstreflexiv dann doch in Gedichtform und damit letztlich wieder albumkonform - dieselbe performative Figur wie die Schreiberin im kleinen „Brief“ in Abb. 5: Anstatt ein Gedicht aufzuschreiben, das als eine Form der impliziten Zuneigungserklärung gelesen werden kann und soll, deklariert die Schreiberin hier ihre Zuneigung explizit. 136 Angelika Linke Geschlechterbücher bzw. genealogische Sammlungen, die vor allem heraldischen Charakter hatten und nicht zuletzt als eine plakative Form des Abstammungsnachweises dienten. (Graak 1982: 7) Die nachgewiesenen Besitzer von überlieferten Stammbüchern wie auch die meisten Schreiber von Einträgen sind bis ins 18. Jahrhundert hinein in erster Linie Aristokraten 16 und Gelehrte, adlige wie bürgerliche Studenten (vgl. Blankenburg/ Lometsch 1969), zum Teil auch Handwerkergesellen und Künstler - in jedem Fall aber in erster Linie Männer. Erst im 18. Jahrhundert finden sich unter den dann (bildungs)bürgerlich geprägten Denkmälern der Freundschaft vermehrt solche aus weiblichem Besitz und im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird das Ins-Poesiealbum-Schreiben ebenso wie das Ein-Poesiealbum-Führen zunehmend zu einer kinder- 17 und jugendkulturellen Praktik, 18 es wird in bäuerlich-ländlichen wie auch in unterbürgerlichen Kreisen adaptiert und ist spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine primär weiblich konnotierte Praktik. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sinkt die Altersgrenze tendenziell nochmals nach unten: Heute ist das Ins-Poesiealbum-Schreiben eine Praktik vorwiegend der 7bis 11-Jährigen. Dies gilt ganz besonders für eine neue Variante des Albums, 19 die so genannten Freundschaftsbücher oder auch Meine-Schulklasse-Bücher, bei denen sich Schreiber und Schreiberinnen in vorgedruckte, steckbriefartige Formulare eintragen können, die wenig(er) Raum zu eigener Gestaltung lassen (vgl. Abb. 6). Vor allem bei dieser Variante des Poesiealbums gehören nun auch wieder vermehrt Jungen zu den Besitzern wie zu den Schreibern. 20 16 Vgl. etwa die einschlägige frühe Arbeit von Hildebrandt (1884) zu Stammbuch-Blättern des norddeutschen Adels. 17 Es finden sich vereinzelt allerdings auch schon im 17. Jahrhundert Stammbücher in Kinderbesitz, vgl. Fiedler (1960: 44). 18 Besitzer und Besitzerinnen sind meist im Konfirmationsalter. Die kulturelle Praktik wird deshalb auch zum Gegenstand jugendpsychologischer Aufmerksamkeit, vgl. etwa die entsprechende Studie der Kinder- und Jugendpsychologin Maria Zillig (1942). 19 Auch Langbein konstatiert in ihrer Untersuchung das Nebeneinander dieser beiden Album-Typen. (Langbein 1995: 35) 20 Dies dokumentieren die Untersuchungen von Langbein (1995) wie auch meine eigenen Quellen. Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 137 Abb. 6 (mit freundlicher Genehmigung von Marco Kräuchi) 5 Textmusterwandel und Textmusterkonstanz Was das Textmuster „Poesiealbumeintrag“ und seine Veränderung anbelangt, so bestehen die frühen Stammbucheinträge des 16. und 17. Jahrhunderts oft nur aus Datum und Namen, meist verbunden mit dem Wappen der Eintragenden - Stammbücher sind zunächst Autogramm-Sammlungen. Daneben finden sich aber bald auch Einträge, bei denen Datum und Namenszug durch eine persönliche Widmung unter dem Wappen ergänzt werden und wo zusätzlich in einem Spruchband ein Wahlspruch des Eintragenden erscheint, die so genannte Devise. 21 Von Anfang an sind also die meisten Stammbücher als Kombination von Wort und Bild gefasst. 22 Seit dem 19. Jahrhundert finden sich auch eingelegte und eingeklebte Bildchen, Stickereien, Haarlocken, dann alle Formen von (käuflich erwerbbaren) Schmuckpapieren, Oblaten, im 20. Jahrhundert schließlich Abziehbildchen, Schmuckstempel und Fotografien. Es gibt aber immer wieder auch ganze Alben oder einzelne Einträge, die ohne Bilder auskommen. 21 Vgl. Graak (1982: 11). Frühe Stammbücher existieren zum Teil in Form von Loseblattsammlungen, die in Kästchen verwahrt werden. Für eine andere (frühe) Form des Stammbuchs werden beim Druck von Büchern freigelassene Seiten, zum Teil aber auch einfach die freien Ränder von normal bedruckten Buchseiten für Widmungen genutzt - wir haben es also mit einer Art von parasitärer Nutzung von Büchern als Stammbuch zu tun (vgl. Graak 1982: 19). 22 Bilder und Zeichnungen stammen zum Teil aus der Hand der EintragschreiberInnen selbst, in den frühen Stammbüchern wurden sie allerdings häufig auch von professionellen Malern, d.h. von Berufskünstlern, angefertigt (vgl. Graak 1982: 22). 138 Angelika Linke Im Spektrum der verbalen Anteile finden sich neben den eher knappen Devisen sehr bald auch längere Spruchformen religiös-moralischen Inhalts, Gedichte und auch mehr oder weniger scherzhafte Sprüche - Graak zitiert bereits aus einem Stammbuch von 1629 die Sentenz: „Gott im herzen, die liebste im arm, daß bringt kein schmertzen Vndt heldt fein Warm.“ (Graak 1982: 13) Im 18. Jahrhundert findet der bürgerlich grundierte Freundschaftskult, in dessen Dienst nun die Praktik des Poesiealbumeintrags gestellt wird, in sehr emotionalen, vorwiegend lyrischen Texten Ausdruck, während die „Verkindlichung“ der Textsorte im 19. Jahrhundert zu einer Ausweitung des Spektrums harmlos-lustiger, aber auch absurder Sprüche und Kleingedichte führt. 6 Iteration, Variation und bewusster Musterbruch Zu allen Zeiten konnten Schreiber und Schreiberinnen auf Vorlagenbücher für Devisen, Sprüche und Gedichte zurückgreifen - Originalität war und ist für den Poesiealbumeintrag keine Norm. 23 Vielmehr erscheint das Textmuster „Poesiealbumeintrag“ seit seinen Anfängen durch ein Nebeneinander von Iteration und Variation geprägt - viele Sprüche lassen sich in Varianten über Zeiträume von 150 Jahren und mehr nachweisen. Andererseits werden Sprüche und Gedichte von den Schreibern und Schreiberinnen vielfach verändert, ergänzt und variiert. Den Texten mit explizit moralischer Botschaft stehen im Spektrum der Albumtexte auch solche von betontem Nonsens-Charakter gegenüber, und es sind häufig diese Texte, die von den Schreiberinnen und Schreibern modifiziert und erweitert werden, obwohl auch für moralisch-ernste Sprüche Variantenbildungen belegt sind. 24 Bereits für das 19. Jahrhundert ist der folgende Albumspruch belegt (vgl. z.B. Angermann 1971: 204, Fußnote 234): Lebe glücklich, lebe froh, Wie der Mops im Paletot. Varianten und Erweiterungen dieses Spruches finden sich bis in die Gegenwart (wenn auch stets unter Ersetzung des nicht mehr verständlichen „Paletot“) - die nachfolgende Liste dokumentiert Belege aus Poesiealben von 1970 bis 2006: Lebe glücklich lebe froh, wie die Maus im Haberstroh. Lebe Glücklich lebe froh wie der Hund im Haferstroh. Lebe Glücklich, lebe froh, wie die Maus im Haferstroh. Bleib gesund und munter wie ein Fisch und geh nie unter. 23 Die ersten entsprechenden Vorlagen für Devisen sind bereits im 16. Jahrhundert belegt, vgl. Graak (1982: 13). 24 Dies belegen sowohl die Untersuchungen von Zillig (1942) wie von Rossin (1985). Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 139 Lebe glücklich, lebe froh, wie der König Salomo, der auf seinem Throne sass und einen Korb voll Äpfel ass! Lebe Glücklich, Lebe Heiter wie die Maus im Blitzableiter. Lebe glücklich lebe Froh Claudia mach doch weiter so! Sei heiter und froh, wie die Maus im Haferstroh. Sei heiter und froh, wie die Maus in Mexiko! Sei immer glücklich immer froh, wie dieser Clown im Album do. Interpretierbar ist diese Variation eines Grundmusters 25 bei der Textsorte „Albumspruch“ als eine Art Mittelweg, der es SchreiberInnen einerseits erlaubt, sich an ein bestehendes Muster anzulehnen und auf diese Weise sicherzugehen, die Praxis des Jemandem-ins-Album-Schreibens korrekt durchzuführen, der es aber gleichzeitig ermöglicht, Individualität zu markieren. So stammt die in der obigen Liste als zweites Beispiel zitierte Variante von einem der Schrift nach noch ganz ungeübten Schreiber, der sichtlich Mühe mit seinem Eintrag hat und sich vielleicht auch deshalb offenbar damit begnügt, einen Eintrag, der sich einige Seiten vorher im selben Album findet (dies ist das erste Beispiel aus der obigen Liste), lediglich durch die Ersetzung von Maus mit Hund abzuwandeln. 26 Neben Iteration und Variation lassen sich in meinen Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts allerdings auch immer wieder bewusste Musterbrüche beobachten, in denen die kulturelle Praktik, an der man mit dem Eintrag teilnimmt, ironisiert bzw. kritisiert wird. So besteht etwa der Eintrag von Dietrich Gerhardt im Poesiealbum seiner 15-jährigen Schwester Asta - die Geschwister wachsen in einer großbürgerlichen Berliner Familie auf - am 11. Juni 1889 nur aus der Frage: Sonst geht’s Dir aber gut? und der Unterschrift: Dein Bruder Dietrich. 27 7 Textmusterwandel und sozialer Wandel Mit Blick auf die soziale bzw. soziolinguistische Verortung der Textsorte lässt sich konstatieren, dass sich über die Jahrhunderte hinweg die die Praktik ausübenden sozialen Kreise ständig erweitern. Dabei geht die Übernahme der Stammbuch-Praktik in breitere bürgerliche Schichten im 18. Jahrhundert, wie bereits erwähnt, mit einer merklichen Veränderung von Inhalt wie Form der gewidmeten Texte einher - Spruch und Devise werden vielfach durch gefühlvolle, die Freundschaft als überständischen Wert huldigende Texte und Gedichte ersetzt (vgl. Fechner 1981: 19). Bei der Über- 25 Dieses Grundmuster ist zudem in vielen Fällen gar nicht belegbar - viele Albumsprüche lassen sich nicht an einen bestimmten Verfasser oder eine Verfasserin binden. 26 Ob die Variation von Ha/ b/ erstroh zu Ha/ f/ erstroh bewusst vorgenommen wurde oder einfach eine Anpassung an die zeitgenössische Form ist, muss offenbleiben. 27 Poesiealbum Asta Gerhardt 1887-1891, Privatbesitz Familie Alberts. 140 Angelika Linke nahme in bäuerliche und in Arbeiterkreise im 19. und 20. Jahrhundert lässt sich dagegen keine ähnliche Veränderung der Textsorte beobachten. (Angermann 1971: 441) Nicht alle Sozialformationen wirken sich also in derselben Weise textmusterprägend aus: Während im Bürgertum die Textsorte des Poesiealbumeintrags - im Sinne eines Auszeichnungsmechanismus - zur soziokulturellen Selbstrepräsentation bzw. Identitätskonstitution funktionalisiert und entsprechend ständisch geprägt wird, fungiert die Aneignung der Praktik in unterbürgerlichen bzw. in bäuerlichen Kreisen offenbar eher im Sinne eines Zuordnungsaktes zum Bürgertum als einer Orientierungsformation, weshalb die Textsorte gerade nicht verändert wird. In beiden Fällen aber ist die Aneignung der Textsorte bzw. der kulturellen Praktik, deren Kernelement sie bildet, ein Akt der Selbstdefinition einer Sozialformation. Dass diese Funktion ausgerechnet einer Textsorte und einer Praktik zuteil wird, die schon im 19. Jahrhundert ironisiert und spätestens im 20. Jahrhundert mehr belächelt als ernst genommen wird, verweist auf das Umkehrverhältnis von Alltagsfunktionalität und sozialsemiotischer Relevanz, das für ritualisierte Handlungskomplexe vielfach gilt. 8 Textmusterkonstanz, Textmusterwandel und sozialsemiotischer Wandel Mit Blick auf die sozialsemiotische Relevanz der Textsorte sind zunächst einmal die historisch und sozialgruppenübergreifend konstanten Aspekte in der Sozialsymbolik der Praxis bemerkenswert: Sowohl in Adelskontexten wie im gelehrt-universitären Umfeld, als studentische Praxis wie in bildungsbürgerlichen Freundschaftskreisen, unter frischkonfirmierten Pensionatsschwestern wie unter SchulkameradInnen von Volksschulklassen ist das Ins-Album-Schreiben bzw. das Sich-ins-Album-Schreiben-Lassen ein performativer Akt der Beziehungskonstitution, dessen Manifestation im Medium der Schrift ihn gleichzeitig verdauert und vorzeigbar macht. Poesiealben sind Sammlungen von Beziehungsakten, die auf Bestellung (bzw. auf Bitte hin) geliefert werden, sie sind ein Medium der gezielten Dokumentation eines sozialen Netzes und weisen den/ die BesitzerIn des Albums als Mitglied einer Gemeinschaft aus. 28 In dieser Hinsicht kommt dem Poesiealbum eine ähnliche Funktion zu wie Gruppenbildern von Schulklassen, Reisegruppen, Vereinsgruppen etc. Konstant ist außerdem das Pathos, der moralische Anspruch und nicht zuletzt die inhaltliche wie stilistische Höhenkamm-Markiertheit vieler Albumtexte, die dadurch im späten 19. und vor allem im 20. Jahrhundert in zunehmende Diskrepanz zum Alter der jeweiligen Schreiberinnen und 28 Die einzelnen Einträge, die für die Personen dieses Netzes stehen, geben den jeweiligen Schreibern und Schreiberinnen wiederum Raum für entsprechende Selbstdarstellung - ein Aspekt, den ich im vorliegenden Beitrag immer wieder streife, auf den ich aber nicht vertieft eingehe. Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 141 Schreiber geraten, die in diesem Zeitraum immer jünger werden. Beispiele hierfür sind die Texte in den in Abb. 7 und Abb. 8 wiedergegebenen Albumeinträgen, die in eklatantem Gegensatz zu den Bild-Teilen der Einträge und auch zur orthographischen Kompetenz der SchreiberInnen stehen. Abb. 7 Abb. 8 Die Albumtexte dürften hier wie in vielen parallelen Beispielen sowohl das Wortwie das Textverständnis der jeweiligen Schreiber und Schreiberinnen 142 Angelika Linke deutlich übersteigen: Hier werden Texte geschrieben, die allenfalls der semantischen Spur nach verstanden sind. Diese Spannung zwischen den Textinhalten und Textformen einerseits und der Sprach- und Wissenswelt der Schreiber und Schreiberinnen andererseits lässt sich nur zum Teil damit erklären, dass die Praktik wie auch die in ihrem Rahmen tradierten Texte historisch durch ältere SchreiberInnen geprägt wurden. Vielmehr wird darin auch deutlich, dass die Praktik des Jemandem-ins-Album-Schreibens nicht nur ein kulturelles Medium der Beziehungskonstitution darstellt, sondern gleichzeitig als historisch verblüffend robustes Medium moralischer (Selbst-) Erziehung in der bürgerlichen Tradition vor allem des 19. Jahrhunderts verstanden werden kann. Hier schreiben sich Kinder in eine moralische Welt des Denkens, Fühlens und Wollens bzw. Sollens ein, die in der ungebrochenen, affirmativen Form, wie sie die Albumeinträge fassen, in der sonstigen Lebenswelt der Kinder wohl kaum (mehr) gegeben ist. Darüber hinaus gilt natürlich auch, dass es sich beim Jemandem-ins-Album-Schreiben um einen Beziehungsakt handelt, der stärker darauf abhebt, dass geschrieben wird als was geschrieben wird - so dass Verständlichkeit nicht zu den primären Anforderungen an Albumtexte gehört -, auch wenn der Geschenkcharakter, der dem Albumeintrag unter sozialsymbolischer Perspektive zukommt, sowohl durch den Inhalt des Textes wie durch seine (ortho)graphische Gestaltung 29 gesteigert werden kann. 30 Allerdings: Trotz der offensichtlichen Konstanz in den großen Linien zeigen sich in den letzten 150 Jahren bei genauerer Betrachtung auch signifikante Veränderungen im Textmuster der Einträge. Angesichts der postulierten Interdependenz von Textmuster, kultureller Praxis und sozialsemiotischer Signifikanz der Textsorte „Poesiealbumeintrag“ ist deshalb danach zu fragen, ob und wenn ja welche Schlussfolgerungen auf eine veränderte sozialsemiotische Bedeutsamkeit der Textsorte und damit auch der für sie konstitutiven Praktik aus solchen Veränderungen des Textmusters zu ziehen sind. 9 Von Erinnerungskultur zu Kontaktkultur? Zu den auffälligsten Veränderungen im Textmuster von Albumeinträgen im 20. Jahrhundert gehört, dass dem Wortschatz des Andenkens und der Erinnerung, wie er noch die Einträge zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich prägt, zunehmend weniger Bedeutung zukommt. Dieser Wortschatz ist in älteren Einträgen jeweils an prominenter Stelle im Textmuster vertreten, nämlich entweder in den Überschriften der Einträge oder in den Widmungs- 29 In den Interviews, die Langbein mit albumbesitzenden Kindern geführt hat, wird deutlich, dass die Kinder über „Gekritzeltes“, „Gekliere“ und generell „nicht so schöne“ Einträge enttäuscht sind. (Langbein 1995: 52 ff.) 30 Die Bildteile in den hier angesprochenen Einträgen sind im Gegensatz zu den Texten praktisch durchgehend altersgerecht und kaum demonstrativ moralisch aufgeladen. Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 143 floskeln, die der Namenszeichnung vorausgehen. Prototypisch sind als Überschriften „Zum Andenken“, „Als Andenken“, „Zur Erinnerung“; als Widmungsformeln finden sich „Zum Andenken von Deiner Freundin“, „Zur freundlichen Erinnerung an deine …“, „Ihrer lieben … zur freundlichen Erinnerung“, „Mögen dich diese Zeilen noch oft und gern erinnern an …“, „diese Zeilen schrieb aus freundlichem Andenken“, „Zur freundlichen Erinnerung an die frohe Heinrichsbaderzeit“ etc. Zwar finden sich die Überschrift „Zum Andenken“ und die Widmungsformel „Zur Erinnerung an …“ auch heute noch vereinzelt in den Alben (auch dieses Muster wird also fortbzw. abgeschrieben), daneben hat sich aber ein neues Muster ausgebildet, das sich - wie in Abschnitt 3.2 schon kurz gezeigt - deutlich am Briefmuster orientiert und das auch Abb. 9 nochmals illustriert: Abb. 9 Die Einträge weisen die klassische Briefanrede „Liebe + Vorname“ und ausleitende Briefschluss-Formeln wie „Deine + Vorname“ oder „liebe Grüße + Vorname“ 31 auf und die verwendeten Albumsprüche erscheinen dort, wo der eigentliche Brieftext zu erwarten wäre. Durch diese Überblendung der Textmuster „Brief“ und „Albumeintrag“ wird der Widmungscharakter (und damit auch der Gabencharakter) des Eintrags zurückgenommen. 32 Es findet 31 Es wäre zu überprüfen, ob diese Floskeln in SMS-Nachrichten und Mails von denselben SchreiberInnen ebenfalls verwendet werden oder ob diese Formeln dort zunehmend wegfallen und somit eine neue Funktion als textsortenspezifische Formel für Poesiealbumeinträge (und „klassische“ Briefe) übernehmen können. 32 Auch in der neueren Textsortengeschichte der Todesanzeige (in Deutschland und in der Schweiz) zeigt sich eine Überblendung des „klassischen“ Textmusters mit dem 144 Angelika Linke sich aber auch eine ganze Reihe von Einträgen, in denen eine brieftypische Anrede mit Ausleitungsformeln wie „von Mirco“ bzw. „von Seraina“ kombiniert wird, wodurch der gewählte Spruch und allenfalls auch das zugehörige Bild als von den Unterzeichnenden und damit auch für die Albumbesitzerin bzw. den Albumbesitzer geschrieben und gemalt markiert werden. Damit bleibt der Widmungscharakter zumindest zum Teil erhalten. Betrachtet man diesen sich abzeichnenden Wandel im Textmuster des Albumeintrags vom sprachlichen Gestus des Andenkens zum Muster des (offenen) Briefes unter einer sozialsemiotischen Perspektive, so lässt er sich als Ausdruck der Überlagerung einer im älteren Muster gefassten biographischen Erinnerungskultur, wie sie v.a. für das 19. Jahrhundert typisch ist, 33 durch eine im Briefmuster sprachlich konstituierte, neuartige Kontaktkultur beschreiben. Die für das Poesiealbum grundlegende Funktion der Dokumentation sozialer Beziehungen ist dadurch nicht tangiert, sie wird nur unterschiedlich eingebettet. Nun muss man an dieser Stelle natürlich auch das durchschnittliche Alter der Schreiber und Schreiberinnen (und Albumbesitzer und -besitzerinnen) ins Feld führen: Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren haben rein biographisch eine andere Voraussetzung, den Wert von Erinnerungen einschätzen zu können bzw. entsprechende Projektionen in die eigene Lebenszukunft zu machen, als dies für Siebenbis Elfjährige der Fall ist. Andererseits werden, wie bereits gezeigt, auch von diesen jungen Schreibern und Schreiberinnen Texte fortgeschrieben, die alles andere als altersgerecht sind. Es soll deshalb zumindest danach gefragt werden, ob in dem beobachteten Textmusterwandel, der sich als Wandel von Erinnerungstexten zu Kontakttexten beschreiben lässt, nicht eine kulturgeschichtliche Entwicklung greifbar wird, welche das Selbstverhältnis von Individuen betrifft. Diese Entwicklung ließe sich plakativ beschreiben als Wandel von einem „vertikalen“, temporalen Selbstverhältnis, das durch die Verortung des Selbst auf einem als kohärent imaginierten biographischen Zeitstrahl bestimmt wird, zu einem „horizontalen“, lokalen Selbstverhältnis, in welchem die Verortung des Ich in einem Netz von Beziehungen im Vordergrund steht. Und während im ersten Fall mit jedem Eintrag ins Poesiealbum die Möglichkeit späterer Erinnerung garantiert und vom Schreiber/ von der Schreiberin damit im Akt des Schreibens bereits Vergangenheit hergestellt wird, wird im zweiten Fall mit jedem Eintrag in erster Linie die Position des Adressaten/ der Adressatin wie diejenige des Schreibers/ der Schreiberin in einem sozialen Netzwerk (bzw. die Imagination dieser Position) abgesichert. Dass bei vielen der von mir durchgesehenen Albumeinträge aus neuerer Zeit ein Datum fehlt - beim neuen Typus der „Freundschaftsbücher“ ist es Briefmuster (vgl. Linke 2001), die in Zusammenhang mit einem Wandel der „Todesanzeige“ zu einer „Abschiedsanzeige“ steht, welche die Beziehung der Hinterbliebenen zum Verstorbenen und deren Abschiedsschmerz in den Vordergrund rückt. Auf diese Parallele kann an dieser Stelle nur verwiesen werden. 33 Albumeinträge vor der Mitte des 19. Jh. und v.a. auch im 18. Jh. scheinen bedeutend weniger durch diesen Erinnerungsduktus geprägt. Textsorten als Elemente kultureller Praktiken 145 im Vordruck manchmal gar nicht erst vorgesehen - kann in diesem Zusammenhang vielleicht als Indiz gelesen werden. Ausgehend von der Annahme einer dominant kontaktkulturellen Geprägtheit neuerer Albumeinträge ließe sich zudem auch ein Bogen in die Welt der neuen Medien und dort zu social network sites wie Myspace oder Facebook schlagen, zu deren zentralen Funktionen ebenfalls die Verortung des Einzelnen in einem Netzwerk von „Freunden“ gehört und deren Nutzung mit der Praktik des Jemandem-ins-Album-Schreibens bzw. des Ein-Poesiealbum-Führens bestimmte Parallelen aufweist. Eine begründete Antwort auf die Frage, ob wir es bei social network sites - zumindest in gewisser Weise - mit der Virtualisierung des Poesiealbums zu tun haben, setzt allerdings Untersuchungen voraus, die derzeit noch ausstehen. 34 10 Fazit An der Textsorte des Poesiealbumeintrags lässt sich in exemplarischer Weise aufzeigen, dass Textsorten (auch) durch die mit ihnen habituell verbundenen Textnutzungsroutinen, durch ihre Einbettung in mehr oder weniger komplexe kulturelle Praktiken bestimmt sind und Textsortenwissen folglich immer auch das Wissen über die mit einem Textmuster verbundenen kulturellen Nutzungspraktiken einschließt. Dies gilt sowohl für das Verständnis einer Textsorte in ihrem spezifischen kulturellen und historischen Kontext, für das Verständnis ihrer synchronen Variation und diachronen Veränderung sowie für die aktuelle Leistung eines spezifischen Textexemplars in einem konkreten situativen Kontext. Der Poesiealbumeintrag zeigt zudem besonders deutlich, dass nicht nur ihre jeweilige alltagspraktische Nützlichkeit Textsorten (mit)formt und prägt, sondern dass in literaten Gesellschaften auch kollektiv induzierte Bedürfnisse nach Selbstdarstellung bzw. nach soziokultureller Selbstversicherung ihre soziosemiotische Befriedigung in Texten finden. Damit kommt es zur Ausbildung von kommunikativen Praktiken und Textsorten, die als solche dann wieder unabhängig vom/ von der einzelnen AkteurIn zu verselbstständigten Elementen der Lebenswelt einer Kommunikations- und Sozialgemeinschaft werden. Veränderungen in der Handhabung kommunikativer Praktiken oder im Muster der für sie konstitutiven Textsorten können deshalb als Hinweise auf Veränderungen in der sozialsemiotischen Funktion der Praktik gelesen werden. Dass eine solche kulturanalytische Interpretation sprachlicher Musterhaftigkeiten zunächst jeweils nur den 34 Ich verdanke bereits die Frage nach dem Verhältnis von Poesiealben und social network sites einem Gedankenaustausch mit Volker J. Eisenlauer (Universität Augsburg), der sich, sozusagen von der anderen Seite einer medienübergreifenden Textsortengeschichte des Poesiealbumeintrags kommend, im Rahmen eines Dissertationsprojektes mit „Old and New Texts for Maintaining Friendship. A Diachronic Study of Personal Publishing“ befasst. 146 Angelika Linke Status einer Hypothese haben kann und zu ihrer Absicherung interdisziplinärer Querbezüge bedarf, sollte in diesem Geschäft nicht grundsätzlich als Hinderungsgrund aufgefasst werden. Literatur A NGERMANN , Gertrud (1971): Stammbücher und Poesiealben als Spiegel ihrer Zeit. Nach Quellen des 18.-20. Jahrhunderts aus Minden-Ravensberg. Münster: Aschendorff. B LANKENBURG , Walter/ L OMETSCH , Fritz (1969): Studenten-Stammbücher 1790-1840. 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Helmuth Feilke Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens 1 Kontext und Kompetenz - Kurzgeschichte eines gespannten Verhältnisses „Kontexte“ und „Texte“, die Titelfiguren dieses Bandes treten besonders in Zusammenhängen der Schriftlichkeit wie eineiige Zwillinge auf. Während man in der Mündlichkeit gar nicht recht von Texten sprechen mag, ist die situationsentbundene Textualität in der Schriftlichkeit die typische Erscheinungsform des Sprachgebrauchs. Aber je prägnanter ein Textexemplar in seinen Funktionen und Strukturen ist, desto zwingender ist für das Verständnis und für die Produktion der Bezug auf die schematisierten, aber auch auf die je besonderen Kontexte seiner Verwendung. Kontexte und Texte sind gleichursprünglich; das Zwillingspaar geht stets Hand in Hand, wobei mal der eine, mal der andere etwas weiter vorne läuft und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. So einleuchtend das Bild scheinen mag, es ist unvollständig, denn es gibt einen Dritten im Bunde, der erst die Innigkeit dieses Verhältnisses stiftet. Das ist die Kompetenz des handelnden Subjekts, in der allein die Zuordnung von Texten und Kontexten überhaupt stattfindet. Welcher Text passt zu welchem Kontext? Wie wird die Kontextpassung von Texten bewerkstelligt und auch umgekehrt: Wie viel Text von welcher Art ist notwendig, um bestimmte Kontexte für die Verständigung verlässlich erzeugen zu können? Das sind Fragen der Kompetenz. Kontext, Text und Kompetenz bilden also eine Trias, wobei der Kontext für die sozial bestimmte empirische Erfahrungswelt steht und die Kompetenz auf der anderen Seite, für die dem Subjekt zurechenbaren Dispositionen und Fähigkeiten. Statt eines Zwillingspaars haben wir also eher eine Begriffsfamilie. Das sprachliche Sonnenkind inmitten ist der Text - mit durchaus spannungsreichen Beziehungen zu beiden Seiten. Kontexte und Kompetenzen sind die einerseits sozial und andererseits subjektiv bestimmten Determinanten der Ausbildung von Texten. Genau deshalb sind sie auch geistesgeschichtlich ein ambivalentes Paar, auf dessen jüngere Geschichte ich in diesem ersten Abschnitt eingehe. Im Rückblick auf die jüngere Begriffsgeschichte kann das Verhältnis von Kontext und Kompetenz in der Linguistik und Didaktik in drei Etappen der Diskussion entfaltet werden. Sie sind jeweils durch Diskursbrüche und eine charakteristische Umsemantisierung der Kernkonzepte gekennzeichnet. Dabei wandelt sich ihr Verhältnis über verschiedene Zwischenschritte von 148 Helmuth Feilke einer geistesgeschichtlich antonymischen Beziehung zu einer Zweck-Gemeinschaft: Kompetenzen werden auf Kontexte des Gebrauchs hin entwickelt, und didaktisch arrangierte Lernkontexte sind ein wichtiges Mittel ihrer Förderung. 1.1 Linguistische Wende: Kompetenz statt Kontext In der Sprachwissenschaft ist das Verhältnis von Sprache bzw. sprachlicher Kompetenz und Kontext theoretisch prekär: Gerade weil jedes Sprechen in Kontexten steht und durch Kontexte bestimmt ist, muss jede eigenständige Definition von Sprache eine prinzipiell autonome Ordnung des Sprachlichen gegenüber wechselnden Kontextbedingungen annehmen. Das beginnt schon beim Begriff des Zeichens. Das Zeichen ist gerade nicht identisch mit dem jeweils kontextuell Gemeinten. Verschiedene kontextuelle Verwendungen eines Zeichens als token setzen logisch stets die Möglichkeit zur Abstraktion auf das Zeichen als type voraus. Nur als solches kann es von anderen Zeichen unterschieden werden und mit ihnen zusammen eine eigenständige Struktur begründen. Erst vermöge dieser Struktur können Kontexte geordnet werden. Unter welchen Kontextbedingungen und von wem auch immer z.B. ein Phonem einer Sprache X phonisch artikuliert wird, seine semiotische Qualität bleibt davon unberührt. Das war Ferdinand de Saussures Credo, und nicht zufällig wird ihm deshalb eine Gründerrolle für die Linguistik im Ganzen zugeschrieben. Die Sprache ist danach eine Struktur „sui generis“, und nur deshalb und nur soweit dies der Fall ist, kann sie Gegenstand einer eigenen Wissenschaft sein. Das gilt auch für den linguistischen Kompetenzbegriff. Er abstrahiert vom sprachlichen Verhalten auf die zugrunde liegende abstrakte und generative Regelkompetenz. Der Spracherwerb setzt zwar Spracherfahrung im Sinne eines notwendigen Inputs voraus, aber dieser entfaltet seine Wirkung nur durch die Ordnung der Kompetenz selbst. Dies ist die kompetenzlinguistische Position des Generativismus, wie ihn Chomsky geprägt hat. Weder grammatisch falsche Sätze im Input, noch normative Regelungen zum Sprachgebrauch in bestimmten Kontexten können der Kompetenz etwas anhaben. Die Sprachkompetenz und also auch der Erwerb insgesamt sind nicht auf ein Lernen durch Versuch und Irrtum, durch Strafe und Belohnung angewiesen. Es ist wichtig zu sehen, dass diese radikale Trennung von kontextueller Erfahrung und Kompetenz für die Theorie der Universalgrammatik keine empirische Frage, sondern ein Axiom ist (vgl. Feilke 1996). Noch in der Idee einer universalen pragmatischen Kompetenz - etwa in der Sprechakttheorie - wiederholt sich diese antinomische Konzeption des Verhältnisses von Kontext und Kompetenz, von Erfahrung und Sprache. Eben deshalb ist Chomsky nicht nur politisch, sondern auch philosophisch einer der wichtigsten Vertreter des Anarchismus. Die Kreativität qua Kompetenz steht prinzipiell in der Hierarchie höher, als alles, was Menschen durch Er- Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens 149 fahrung und Norm, durch gesellschaftliche Zwecke und Zwänge vorgegeben werden kann. In dieser Sichtweise liegt auch didaktisch eine Fundamentalposition vor. Die Kompetenz ist gerade nicht das zurechtgemachte, auf und durch Kontexte abgerichtete Können, sondern eine kreative menschliche Disposition. Seine Kompetenzen kann das Individuum im Prinzip gegen jeden gesellschaftlichen Kontext setzen. Die menschliche Fähigkeit, Regeln zu (re)konstruieren, problemlösend zu handeln und Interessen zu entwickeln, ist Vorbedingung jeder erfolgreichen Sozialisation durch Kommunikations- und Umweltfaktoren verschiedenster Art. Dies ist meines Erachtens eine notwendige regulative Idee jeder Didaktik; zweifelsohne ist sie „nur“ eine Idee, aber als solche unentbehrlich für eine rationale Didaktik. Für die Schreibdidaktik deutlich artikuliert findet man sie etwa bei Karl v. Raumer: „Vor allen Dingen ist hier zu warnen, daß die Schule sich nicht Aufgaben stelle, die überhaupt nicht das Erzeugnis schulmäßiger Bildung, sondern einzig und allein das Werk der Natur sind.“ (v. Raumer 1852: 124) Ohne diese Idee, nach der das Kind „von Natur aus“ und kraft seiner Kompetenz Kontexte der Erfahrung strukturiert und nutzt, kommt es im schlimmsten Fall zu totalitären, im günstigsten zu utilitaristischen Erziehungskonzeptionen. In der Betonung der Eigensinnigkeit von Lernerkonstruktionen gegenüber sozial bestimmten Zielsetzungen und normbezogenen Erwartungen sind sich generative und konstruktivistische Positionen sehr nahe. Fehler und Abweichungen sind notwendiger Teil des Lernprozesses. Dabei geht es aber - zumindest im generativen Kontext - nicht um ein empirisches Lernen aus Versuch, Irrtum und Korrekturen, sondern um einen intern geordneten Aufbau kognitiver und sprachlicher Strukturen. Jedes Kind ist danach „immer auf dem richtigen Weg“. (Tracy 2008: 96) Die „Natürlichkeit“ der Kompetenz wird dabei ideologisch vielfach im Sinn eines pädagogischen Laissez-faire gegenüber an den kontextbezogenen Erwartungen und Normen orientierten Positionen in Stellung gebracht. Eine solche Sicht freilich unterschlägt einen zentralen Aspekt: Was auch immer in der Kompetenz an natürlichen Voraussetzungen in Rechnung zu stellen ist, die epigenetische Entwicklung ist keine Expression dieser Anlagen. Vielmehr bilden sich diese nach Maßgabe gegebener oder auch nicht gegebener Chancen des Lernens erst als Fähigkeiten und Fertigkeiten aus. Ob eine Sprache X verstanden und gesprochen wird oder eben nicht, und ebenso, wie weitgehend sie beherrscht wird, ist nicht nur eine Frage der Kompetenz, sondern hängt ganz entscheidend ab von den empirischen Bedingungen und den Kontexten für den Erwerb. Das sehen auch Generativisten so (vgl. Tracy 2008). Nirgends wird dies zurzeit deutlicher als in der Zweitspracherwerbsforschung. Zunächst jedoch noch einmal zurück zur nun zweiten Etappe der Kurzgeschichte des Verhältnisses von Kontext und Kompetenz. 150 Helmuth Feilke 1.2 Kognitive Wende: Konstruktionen der Kompetenz Für die linguistische Konzeption der grammatischen wie der kommunikativen Kompetenz war der Universaliengesichtspunkt zentral. Es ging um die universalen Grundlagen für die Konstruktion grammatisch möglicher (nicht empirischer) Sätze und um die universale Pragmatik möglicher Sprechhandlungen. Demgegenüber wurden in der Psychologie mit der kognitiven Wende schon ab Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts und großenteils zeitlich parallel zur Entwicklung in der Kompetenzlinguistik die Grundlagen empirischen Lernens zentral: plans & goals, Schemata, frames, kognitive Modelle. In allen diesen Konzepten geht es um die kognitive Ordnung des Handelns und der empirischen Erfahrung (vgl. Gardner 1989). Dabei spielt die Medialität des Lernens schon ab Mitte der 60er Jahre eine zentrale Rolle (vgl. Bruner et al. 1971). Zu einem Paradigma dieser Orientierung wurde seit den 1980er Jahren das Schreiben als ein problemlösendes Handeln. Schreiben als planendes Handeln setzt Schemata voraus. Schriftliche Sprache und die Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit von Texten wurden als ein sprachliches Problemlösewissen konzipiert (Hayes/ Flower 1980; Bereiter/ Scardamalia 1987). Beim Schreiben wird exemplarisch das Verhältnis zum Kontext problematisch: Die Kommunikationssituation ist zeitlich und räumlich zerdehnt, der Adressat mehr oder weniger virtuell. Damit Kommunikation gelingt, muss ein Kontext konstruiert werden. Und er muss konstruiert werden können. Die schematisierte Kenntnis möglicher Kontexte und die darauf bezogene Ordnung der sprachlichen Mittel wird Voraussetzung für eine kompetente Performanz (vgl. Feilke 1996). Im Zentrum der Aktivität steht kein cartesisches Individuum mit einer universalgrammatischen Kompetenz, sondern das handelnde und seine Welt kognitiv konstruierende Individuum. Fachgeschichtlich exemplarisch für den Widerhall dieser Einsicht in der Deutschdidaktik war das Zürcher Symposion Deutschdidaktik im Jahr 1994 und namentlich der dort von Spinner gehaltene Plenarvortrag (Spinner 1994). Er plädiert dafür, die Didaktik am Lernprozess des Individuums zu orientieren. Individuelle Vorstellungsbildung spielt für die Rezeption literarischer Texte eine zentrale Rolle; die Ausbildung von Adressatenkonzepten im Schreiben ist hochgradig vom/ von der individuellen LernerIn und seinen/ ihren Erfahrungen abhängig. Der Bezug auf Kontexte ist im Sinn konstruktivistischer Prämissen wesentlich autonom und selbstreferentiell bestimmt. Hier sieht auch die Schreibforschung der Zeit enorme Potentiale für die kognitive Entwicklung: „Das Schreiben kann [...] eine epistemische, d.h. eine Wissen entwickelnde Funktion übernehmen. Epistemisches Schreiben ist also eine Form des Weiterverarbeitens eigenen Wissens.“ (Eigler/ Jechle/ Merziger/ Winter 1987: 383) Noch deutlicher - auch in dem radikalen Bezug auf das Individuum - hatte dies schon Georg Christoph Lichtenberg formuliert: „Zur Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens 151 Aufweckung des in jedem Menschen schlafenden Systems ist das Schreiben vortrefflich, und jeder, der je geschrieben hat, wird gefunden haben, daß das Schreiben immer etwas erweckt, was man vorher nicht deutlich erkannte, ob es gleich in uns lag.“ (Lichtenberg 1994: § 19) Offenkundig ist, dass in einer solchen Perspektive die Kompetenz des Subjekts nunmehr empirisch, das heißt von der Erfahrung her bestimmt ist, und sich auch nur durch Handeln und Erfahrung, in diesem Fall das Schreiben, entwickelt. Offenkundig ist aber auch, dass diese Entwicklungspotentiale zunächst dem Individuum und Subjekt als ein Kapital zugeschrieben werden, das es zu vermehren gilt. Von den Kontexten des Handelns als möglicherweise ausschlaggebender Größe für den Erwerb ist kaum die Rede. 1.3 Kulturelle Wende: didaktisch-instruktive Kontexte Ich möchte an dieser Stelle für die Überleitung zur dritten Phase meiner Kurzgeschichte des Verhältnisses von Kompetenz und Kontext die aktuell im deutschen Sprachbereich am häufigsten zitierte Kompetenzdefinition wiederholen. Es ist die Kompetenzdefinition Weinerts. Er versteht Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“. (Weinert 2001: 27 f.) Die Definition schließt inhaltlich einerseits stark an die Resultate der kognitiven Psychologie an, indem sie das aktiv handelnde und problemlösende Individuum betont. Interessant ist aber andererseits formal die sprachlich zumindest für den Linguisten auffällige grammatische Konstruktion der Definition. Aus der „verfügbaren oder erlernbaren Fähigkeit, bestimmte Probleme zu lösen“ wird dem Autor ein Finalsatz, und es geht unvermittelt um die verfügbare oder erlernbare Fähigkeit, „um bestimmte Probleme zu lösen“. Diese Konstruktion zeigt eine neue Wende an. Der Kompetenzbegriff wird final, auf Ziele hin definiert: es geht darum, „Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“. Hier ist der Kontextbezug zentral. Es gibt die Möglichkeit, das einfach utilitaristisch zu deuten, und die neue Volksbildungsbewegung hat viele Züge eines spätaufklärerischen, philanthropischen Utilitarismus. Aber man kann die Fundamente dieser Entwicklung auch tiefer legen und nach dem Sinn des neuen Interesses an der Kontextbezogenheit des Erwerbs fragen. Tiefer gelegt sind die Fundamente in der Position des Sozialkonstruktivismus, etwa bei Jerome S. Bruner, aber auch schon bei Lew S. Wygotski und anderen. Wie für die Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft kann man auch für die Fragen des Kompetenzerwerbs und der Didaktik von 152 Helmuth Feilke einer kulturellen Wende sprechen. Kompetenzen werden durch das Handeln bestätigt und verändert. Sie müssen sich pragmatisch bewähren. Kulturgegenstände, etwa eine Schrift oder ein spezifischer Texttyp, z.B. ein argumentativer Text, stehen für kulturell teilweise hoch spezialisierte Möglichkeiten des Handelns und Erkennens. Sie können nur im Kontext entsprechend spezialisierter kultureller Praxen erworben werden. (Scribner/ Cole 1981) Die grammatischen Formen der Redewiedergabe im Deutschen beispielsweise oder etwa des konzessiven Argumentierens wird man nur lernen, wenn deren Beherrschung als erstrebenswert gilt und wenn Kontexte zur Verfügung stehen, die diese Beherrschung und die Unterscheidung verschiedener Formen pragmatisch fordern. Fähigkeiten bilden sich durch und in Kontexten des Lernens und im Blick auf das dafür Geforderte. Das gilt in besonderem Maß für die konzeptionell literalen Formen, weil sie entsprechend stärker spezialisiert sind und weil ihr Erwerb entsprechend unwahrscheinlich ist (vgl. Feilke 2001a). Ihr Erwerb setzt, von einem extremen Pol her gedacht, wenn auch nicht in der Praxis, so doch vom Grundgedanken her eine Art Meisterlehre (cognitive apprenticeship) voraus. (Collins et al. 1989) Notwendig ist von Beginn des Erwerbs an die soziale Erzeugung geteilter Aufmerksamkeit für die relevanten Merkmale des Lerngegenstandes (vgl. Bruner 1987). Das setzt, verglichen mit natürlichen Situationen des Lernens, eigens dafür geschaffene, sozial konstruierte Lernkontexte voraus. Die Merkmale finde ich in Caravaggios „Madonna dei Palafranieri“ (1605) exemplarisch verdichtet. Das Bild hat freilich ein ganz anderes Thema; die Grundidee lässt sich aber gut übertragen. Dargestellt sind in der linken Bildhälfte und ausgestattet mit allen Merkmalen der Vitalität Maria und Jesus; rechts, der weltlichen Szene entrückt und in teilnahmsloser Betrachtung, die Mutter Marias. Das Licht fällt auf eine didaktische Szenerie, die ich mit Blick auf den Kontext in einigen Stichworten kommentieren möchte, ohne den Vergleich im Blick auf den Erwerb von Textkompetenzen noch einmal begrifflich zu explizieren. Ich hoffe, die Analogie kann hier für sich sprechen. Abb. 1 Caravaggio 1605, Madonna dei Palafranieri Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens 153 Lernkontexte sind erstens bestimmt durch sozial definierte Zielsetzungen: Die Schlange - hier Symbol des Bösen - muss bekämpft werden. Die Kooperation von LehrerIn und SchülerIn ist darauf bezogen. Dabei folgt sie zweitens den Notwendigkeiten einer Gegenstands-Akkommodation. Was zu lernen ist und auch wie es gelehrt werden kann, ist nicht unabhängig von der Struktur des Lerngegenstandes. Die Schlange ist am Kopf gefährlich. Darum geht es und darauf ist das Lernen zu beziehen. Es gibt drittens, passend zur sozialen Praxis, bewährte Techniken, mit dem Problem umzugehen. Maria zeigt sie. Der/ die einzelne LernerIn muss - und kann - das Rad nicht neu erfinden. Es gibt viertens eigens für den Erwerb inszenierte Lernkontexte: Maria hebt ihren Schüler in die Lernsituation hinein. Entsprechend kennt die Didaktik den Werkstattunterricht, Szenarios etc., in denen ein aufgaben- und materialgestütztes Lernen möglich ist. Dieses geschieht fünftens in der Form einer kognitiven Meisterlehre (Collins et al. 1989): Elementar ist dabei die Herstellung geteilter Aufmerksamkeit von SchülerIn und LehrerIn und die Funktion des Lehrers/ der Lehrerin, hier Marias, als Lernmodell. Der Kopf der Schlange liegt für Maria und Jesus im Fokus des gemeinsamen Blicks, und zwischen den/ die SchülerIn und seine/ ihre Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand tritt noch einmal das Modellhandeln Marias in der Form ihres Fußtritts, den der/ die SchülerIn - mehr oder weniger - mitvollzieht. Ich habe im Blick auf ein solches Konzept von einer „caritativen Didaktik“ gesprochen (Feilke 1995) und dort - gerade auch im Blick auf argumentative Textkompetenz - vor allem die problematischen Aspekte einer solchen Konzeption des Lehrens und Lernens betont: enge Führung, wenig Offenheit für den Problemlöseprozess des Lerners/ der Lernerin und dessen/ deren Potentiale etc. Dies wird auch aus dem obigen Bild leicht ersichtlich. Im Hinblick auf die Didaktik einer Förderung von Textkompetenzen war das Plädoyer dort, aus den frei geschriebenen Texten der LernerInnen und aus deren erfolgreichen Problemlösungen, Techniken des Schreibens zu gewinnen und für die weitere Förderung zur Verfügung zu stellen. Im Sinne eines auf Reflexion und Rückkopplung im Handeln abstellenden Lehrens (Aebli 1980/ 1981) ist der Vorschlag konsequent. Gleichwohl erscheint er mir aus heutiger Sicht als Unterschätzung der beim schriftlichen Argumentieren zu bewältigenden Aufgaben. Das „natürliche“ Argumentationsverhalten gelangt, wenn überhaupt, so offenbar nur unter größten Schwierigkeiten zu den Werkzeugen, die für ein überzeugendes schriftliches Argumentieren benötigt werden. Dies belegt die empirische Forschung mit großer Übereinstimmung. Daraus folgt, dass für eine Didaktik des Erwerbs spezifischer Textkompetenzen wie etwa des schriftlichen Argumentierens entsprechend spezifische und also didaktisch arrangierte Kontexte des Erwerbs zu entwickeln sind. Hier schließt sich der Kreis zum Verständnis von Kompetenzen in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion. Kompetenz wird verstanden als Dispo- 154 Helmuth Feilke sition, die eine Person befähigt, konkrete kontextuelle Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen (vgl. Klieme et al. 2003: 72 f.), und die sich äußert in der Performanz, also der tatsächlichen Leistung. In der Perspektive des Pragmatismus wird deshalb die gezielte Veränderung von Kontexten zum wichtigsten Mittel der Erforschung und auch der Förderung von Kompetenzen. Dieser Zusammenhang von argumentativer Textkompetenz einerseits und Möglichkeiten der Förderung andererseits ist Thema der beiden folgenden Abschnitte des Beitrags. 2 Kontexte für Argumente - Was ist schriftliches Argumentieren? Eine zentrale Rolle spielt - noch vor der Berücksichtigung spezieller Bedingungen der Schriftlichkeit - zunächst die in der Argumentationstheorie wichtige Unterscheidung zwischen Argument und Argumentation, wie man sie schon in einschlägigen Sachlexika findet: Argument (lat. Argumentum >Darstellung, Beweis<) Bezeichnung für eine Aussage, die im Hinblick auf eine Behauptung begründende Funktion beansprucht bzw. deren Begründungswert hinsichtlich der Behauptung anerkannt wird. (Glück 1993) Argumentation Typus sprachl. Handelns, dessen genauer theoretischer Status noch immer umstritten […] ist. […] Charakterist. für Argumentationen ist, daß in ihnen zwischen zwei Interaktanten strittige konkurrentielle Wissenselemente durch verbale Interaktion in ihrem Status geklärt werden sollen. (Glück 1993) Während das Argument stets auf eine Behauptung bezogen ist, ist die Argumentation eine komplexe sprachliche Handlung, bei der es wesentlich darum geht, den Status „konkurrentieller Wissenselemente“ durch verbale Interaktion zu klären. Textlich betrachtet, geht es beim Argument um monologisch bestimmte Begründungen, während im Unterschied dazu jede Argumentation notwendig zumindest virtuell dialogisch verfahren muss. Exemplarisch kann man sich das an der Kategorie der Konzessivität deutlich machen: Für die Logik eines Arguments, dessen Haltbarkeit, Widerspruchsfreiheit und Relevanz spielt Konzessivität keine Rolle. Pragmatisch aber und unter dem Gesichtspunkt einer interaktiven Argumentation ist es geradezu elementar, dem anderen argumentativ entgegenkommen zu können, ihm ein Zugeständnis machen zu können und gleichwohl das eigene Ziel dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Dualität spielt eine wichtige Rolle, wenn man auf das Feld der für das Argumentieren insgesamt erforderlichen Kompetenzen blickt, wie es das unten abgedruckte Schema in Abbildung 2 darstellt. Das Schema zeigt im oberen Bereich zunächst Kompetenzen, die als Grundkompetenzen angesprochen werden können. Jede Argumentation, ob mündlich oder schriftlich, setzt schon auf der Ebene des Arguments Werte und Normenkenntnis voraus: Was gilt in einer Kontexte und Kompetenzen gegebenen Gesellschaft als wichtig? Was ist erlaubt und was nicht? Doping z.B. ist keine Frage der Biologie oder der Medizin an sich, sondern der Ethik des Sports. Hier spielt kulturell erwo Damit unmittelbar verbunden ist das z.B. über Unterschiede zwischen Sport und Arbeit. Niemand wird seinen Arbeitsplatz verlieren, weil er Aufputschmittel oder Schmerzmittel nimmt, um arbeitsfähig zu bleiben, aber der Profisportler darf dies nicht ohne Weiteres tun, auch wenn es um seinen Broterwerb geht. Schließlich wird für jedes Argument auch sprachlichen Möglichkeiten der Formulie wenn der Konnex von Behauptung und Begründung oft implizit bleibt. Literales Argumentieren Schließlich gibt es auch ein spezifisches Argumentationsstrukturwissen, das zum Teil sicher auch sprachlich ist. Hierzu zählt etwa das implizit er worbene Wissen über Argumentationsarten: die Frage, ob Doping erlaubt sein soll, ist von anderer Art als die Frage, ob Tagesetappen von 280 km mit Bergankunft bei der Tour de France für al schaffen sind. Die erste Frage fällt in den Bereich so genannter deontischer Argumentationen - den Bereich epistemischer Argumentationen was stimmt und was nicht stimmt (vgl. Eggs 2000). In das Feld der Grund kompetenzen zählt auch der im Argumentationserwerb in der Regel un kritische Erwerb der Topik des Argumentierens, das heißt der Fundorte für mögliche Argumente: Schon Vierjährige bemühe Opa für Autoritätsargumente gegenüber den Eltern und auch darüber hin aus steht ihnen ohne spezielle Förderung das Feld der Topoi zu Gebote. Im Blick auf alle diese Bereiche bauen etwa heranwachsende Kinder schon vorschulisch eine b Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens gegebenen Gesellschaft als wichtig? Was ist erlaubt und was nicht? Doping z.B. ist keine Frage der Biologie oder der Medizin an sich, sondern der Ethik des Sports. Hier spielt kulturell erworbenes Wissen eine wichtige Rolle. Damit unmittelbar verbunden ist das Weltwissen, z.B. über Sportarten und z.B. über Unterschiede zwischen Sport und Arbeit. Niemand wird seinen Arbeitsplatz verlieren, weil er Aufputschmittel oder Schmerzmittel nimmt, rbeitsfähig zu bleiben, aber der Profisportler darf dies nicht ohne Weiteres tun, auch wenn es um seinen Broterwerb geht. Schließlich wird für jedes Argument auch sprachliches Wissen gebraucht: Hierzu zählen etwa die sprachlichen Möglichkeiten der Formulierung von Begründungen, auch wenn der Konnex von Behauptung und Begründung oft implizit bleibt. Abb. 2 Literales Argumentieren - Kompetenzen und Lernbereiche Schließlich gibt es auch ein spezifisches Argumentationsstrukturwissen, das Teil sicher auch sprachlich ist. Hierzu zählt etwa das implizit er worbene Wissen über Argumentationsarten: die Frage, ob Doping erlaubt sein soll, ist von anderer Art als die Frage, ob Tagesetappen von 280 km mit Bergankunft bei der Tour de France für alle Wettbewerber ohne Doping zu schaffen sind. Die erste Frage fällt in den Bereich so genannter deontischer - hier geht es um Wertfragen -, die zweite dagegen fällt in den Bereich epistemischer Argumentationen - hier geht es um die Frage, as stimmt und was nicht stimmt (vgl. Eggs 2000). In das Feld der Grund kompetenzen zählt auch der im Argumentationserwerb in der Regel un kritische Erwerb der Topik des Argumentierens, das heißt der Fundorte für mögliche Argumente: Schon Vierjährige bemühen ohne Probleme Oma und Opa für Autoritätsargumente gegenüber den Eltern und auch darüber hin aus steht ihnen ohne spezielle Förderung das Feld der Topoi zu Gebote. Im Blick auf alle diese Bereiche bauen etwa heranwachsende Kinder schon vorschulisch eine bewundernswerte Kompetenz auf. Anders als in der 155 gegebenen Gesellschaft als wichtig? Was ist erlaubt und was nicht? Doping z.B. ist keine Frage der Biologie oder der Medizin an sich, sondern der Ethik rbenes Wissen eine wichtige Rolle. z.B. über Sportarten und z.B. über Unterschiede zwischen Sport und Arbeit. Niemand wird seinen Arbeitsplatz verlieren, weil er Aufputschmittel oder Schmerzmittel nimmt, rbeitsfähig zu bleiben, aber der Profisportler darf dies nicht ohne Weiteres tun, auch wenn es um seinen Broterwerb geht. Schließlich wird für gebraucht: Hierzu zählen etwa die rung von Begründungen, auch wenn der Konnex von Behauptung und Begründung oft implizit bleibt. Schließlich gibt es auch ein spezifisches Argumentationsstrukturwissen, das Teil sicher auch sprachlich ist. Hierzu zählt etwa das implizit erworbene Wissen über Argumentationsarten: die Frage, ob Doping erlaubt sein soll, ist von anderer Art als die Frage, ob Tagesetappen von 280 km mit le Wettbewerber ohne Doping zu schaffen sind. Die erste Frage fällt in den Bereich so genannter deontischer , die zweite dagegen fällt in hier geht es um die Frage, as stimmt und was nicht stimmt (vgl. Eggs 2000). In das Feld der Grundkompetenzen zählt auch der im Argumentationserwerb in der Regel unkritische Erwerb der Topik des Argumentierens, das heißt der Fundorte für n ohne Probleme Oma und Opa für Autoritätsargumente gegenüber den Eltern und auch darüber hinaus steht ihnen ohne spezielle Förderung das Feld der Topoi zu Gebote. Im Blick auf alle diese Bereiche bauen etwa heranwachsende Kinder ewundernswerte Kompetenz auf. Anders als in der 156 Helmuth Feilke Entwicklungspsychologie - etwa bei Piaget - gedacht, sind Kinder schon früh in der Lage, eigene strittige Handlungen zu rechtfertigen, Gründe für Behauptungen anzugeben und anderes mehr. Eindrucksvoll belegen dies die Untersuchungen von Völzing (1981) zum vorschulischen Argumentationserwerb 2-4-jähriger Kinder. Anders sieht es aus mit den im obigen Schema „unter dem Strich“ aufgeführten Kompetenzen. Hier geht es um Fähigkeiten, die eng verbunden sind mit der Argumentation als literaler Handlung. Die hierfür geforderten besonderen Kompetenzen sind - das zeigt die Forschung eindrücklich - im Erwerb kritisch. Worum geht es genau? Argumentativ überzeugende Texte sind quantitativ mehr und qualitativ etwas anderes als eine Liste guter Argumente für oder gegen eine strittige Behauptung. Die Unterschiede finden sich entsprechend der Graphik vor allem in drei Bereichen. Textpragmatische Rahmungskompetenz • Textpragmatische Differenzierung nichtargumentativer Sprechakte (z.B. Bitten, Drohen, Danken) • Formen der Adressatenansprache & explizit metakommunikative Strukturierung (Gliederungshilfen, Verständnishilfen, Lesersteuerung etc.) Kompetenzen zum Argumentausbau • Topische Muster ausbauen • Makroschemata der Anreicherung eines Arguments mit Weltwissen Kompetenzen spezifisch literaler Argumentation • fingierte Dialogizität (z.B. Fragen), Widerspruch textlich organisieren können • Kenntnis und Beherrschung der Mittel kontroversen, konzessiven, hypothetischen Argumentierens Während das einfache Begründen im Erwerb relativ unkritisch erscheint, erweist sich die Argumentation - verstanden als interaktive Klärung konkurrentieller Wissenselemente - als ausgesprochen schwierig, und zwar für Kinder wie für Erwachsene gleichermaßen. Aufschlussreich hierzu sind die Ergebnisse einer Untersuchung von Stein/ Bernas (1999): Erwachsene ebenso wie Kinder konnten deutlich mehr Argumente für die eigene und gegen die andere Position anführen, während bei beiden Gruppen kaum Argumente für die andere und gegen die eigene Position angeführt wurden. „To switch stances“ und „to create new stances“ war bei Erwachsenen und Kindern gleichermaßen kritisch. Das heißt, das Argumentieren entspricht kognitiv - weitgehend unabhängig vom Alter - den Ansprüchen an das Rechtfertigen eigener Auffassungen und Handlungen und damit in der Tendenz gerade nicht den auf Dialog, Perspektivenwechsel und Perspektivenintegration angelegten Anforderungen der Argumentation. Diese Ergebnisse Steins zeigen sich bereits in einem reinen Repräsentationstask, d.h. noch unabhängig von Fragen der Rezeption und Produktion schriftlich argumentativer Texte. Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens 157 Dies wiederum stand in einem aufwändigen Feldforschungsversuch einer Gruppe um Linda Flower (Flower et al. 2000) an der Carnegie Mellon Universität im Zentrum. Ziel war die Untersuchung der Fähigkeit von StudentInnen, schriftlich konfligierende Positionen zu verhandeln und einen/ eine Adressaten/ Adressatin von entsprechenden Schlussfolgerungen zu überzeugen. Verglichen mit mündlichen Argumentationen stellt argumentatives Schreiben noch einmal deutlich gesteigerte Anforderungen an die Fähigkeit zu Perspektivenantizipation, Perspektivenwechsel und Perspektivenintegration. Ein textlinguistisches Modell entsprechend differenzierter argumentativer „moves“ in den Texten lag der Analyse wie der Förderung zugrunde. (ebd.: 97 ff.) Zum Versuch gehörten auch Kurse, in denen zur Förderung authentische Kontexte schriftlichen Argumentierens geschaffen wurden und deren Ergebnisse wiederum in die Untersuchung eingingen. Die Resultate waren enttäuschend: […] not one of the texts could serve as an exemplary model to illustrate the complete set of assigned moves. […] instead of using the text to pose and pursue a genuine open question, almost all of the texts argue a strong thesis from the outset. These strong positions permit students to sustain a compelling personal voice. (Flower et al. 2000: 140) Während die Kompetenz zur textpragmatischen Rahmung mit der allgemeinen Entwicklung pragmatischer Kompetenzen Fortschritte macht und die Fähigkeit zum Argumentausbau sehr stark von der allgemeinen Zunahme des Weltwissens profitieren kann, bleibt der letzte Punkt wie gezeigt empirisch nachhaltig kritisch. Die empirische Forschung zur Entwicklung schriftlicher Argumentationskompetenzen im freien Schreiben lässt sich auf diese Anforderungen abbilden. Es zeigt sich, dass schon im Grundschulalter (8-10 Jahre) Argumentationsfähigkeiten im Ansatz entwickelt sind, allerdings mit einem Schwerpunkt auf Begründungs- und Rechtfertigungszusammenhängen. Der Einstieg in eine am Leser orientierte Argumentation wird sowohl bei Coirier/ Golder (1993) als auch bei Schneuwly (1988) außerhalb der Grundschulzeit gesehen, während die jüngste longitudinale Untersuchung von Augst, Disselhoff, Henrich, Pohl & Völzing (2007) mit dem Übergang zum 4. Schuljahr, also bei 10-Jährigen, einen Umschlag zu Kompetenzen literaler Argumentation feststellt. Übereinstimmend werden nach allen Untersuchungen Fähigkeiten zur textpragmatischen Rahmung und Lesersteuerung als Letztes erworben, wobei Alterszuordnungen hier stark divergieren. Übergreifend können Tendenzen der Entwicklung wie folgt strukturiert werden: • von lokaler zu globaler Orientierung der Textkontrolle, z.B. assoziativer, normorientierter, pragmatischer Modus der Textkonstitution (z.B. Bereiter/ Scardamalia 1987) 158 Helmuth Feilke • von geringerem zu größerem „cognitive load“, z.B. Zunahme syntaktischer Komplexität, Zunahme argumentativer Komplexität (z.B. Bereiter/ Scardamalia 1987; Coirier/ Golder 1993) • Dezentrierung der Perspektiven, z.B. Ich-Perspektive, Sach-Perspektive, Wechselseitigkeit der Perspektiven (z.B. Augst et al. 1986) Bezogen auf eine Strukturierung nach dem Erwerbsalter ergibt sich folgendes Bild: • 8-10 Jahre: Brassart (1992): (Thema: allgemeines Rauchverbot) Produktion „nonargumentativer“ Texte bei 8/ 9-Jährigen; einfache Forderungsbekundungen oder -ablehnungen; 9/ 10-Jährige liefern eine „Rechtfertigung“ zur Forderung; textlich nicht integriert; Listenform • 11-12 Jahre: Coirier/ Golder (1993): (Thema: Schuluniform) 10/ 11-Jährige produzieren „präargumentative“ Texte: Argument bleibt implizit und unkommentiert; 12-Jährige liefern reine Proargumentationen; in der Regel ein Argument mit rückbezüglichem Kommentar • 13-14 Jahre: Schneuwly (1988) (Thema: Taschengeld bei Grundschülern) bei 10-Jährigen rein sequenzierender Modus; bei 11-Jährigen dominant temporal markierte Sequenzen; bei 14-Jährigen explizite Markierung der Position; Berücksichtigung von Gegenargumenten; adversative Konnektoren; zwei koordinierte Argumente mit Kommentar; vgl. aber Augst et al. (2007) • 15-16 Jahre: beginnende dialogische und metakommunikative Strukturierung; pragmatische Rahmung; Leserorientierung (Jechle 1992) Die Übersicht zeigt den problematischen Status der spezifisch konzeptionellliteral-argumentativen Kompetenzen im Erwerb. Schon Augst et al. (1986) hatten gezeigt, dass von 120 SchreiberInnen zwischen 13 und 23 Jahren, die argumentative Briefe zur Frage geschrieben hatten, ob Hausaufgaben abgeschafft werden sollten, gerade einmal sieben dem Anspruch kontroverser Dialogizität genügten (vgl. auch Ossner 1996). Im Blick auf Fragen der Alterszuordnung ist ohnehin nicht von einer im entwicklungspsychologischen Sinn determinierenden Größe auszugehen, sondern von einer primären Rolle der Schrift- und Schreiberfahrung, dem „Schreibalter“ (Feilke 2003), die in erheblichem Umfang ihrerseits wieder als Domänen- und Gattungserfahrung zu konzipieren ist. So zeigt sich eine erstaunliche Entwicklungsabhängigkeit des Kompetenzerwerbs auch bei erwachsenen SchreiberInnen, wenn es um Argumentieren in der Domäne der Wissenschaft geht. (Pohl 2007; Steinhoff 2007) Nach Pohls Entwicklungsmodell ist auch hier die kontroverse Dialogizität das am spätesten in den untersuchten Texten ausgebildete strukturelle Merkmal (vgl. Pohl 2007: 503 ff.). Dem kritischen Status literalen Argumentierens auf der Produktionsseite entspricht nicht zufällig eine ganze Reihe von Befunden auch auf der Rezeptionsseite: Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Wahrnehmung argumentativer Texte als argumentative Texte. Das Erkennen von Argu- Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens 159 mentationen ist schwieriger als bei anderen Texttypen. Argumentative Texte sind durch große strukturelle Offenheit gekennzeichnet. Sie können lange deskriptive Passagen umfassen, die etwa in eine Erklärung eingebaut sind, ebenso können sie aber als beispielgestützte Argumentation stark narrativ angelegt sein. Die dialogische Grundstruktur der argumentativen Auseinandersetzung ist oft sehr verdeckt und kaum zu erkennen. Schlussfolgerungen und Begründungen bleiben oft implizit und werden im Normalfall gerade nicht durch Konnektive und andere Indikatoren angezeigt. Selbst Erwachsene haben Schwierigkeiten, argumentative Texte als solche zu identifizieren und etwa von Erzähltexten zu unterscheiden (vgl. Benoit/ Fayol 1989; Gombert 1992: 145 ff.). Zur Förderung entsprechender Kompetenzen gehören Lernkontexte, die erstens die rezeptive Seite, das Sprachangebot steuern, und die dann zweitens aufgabendifferenziert die Aneignung und das Training von Kompetenzen ermöglichen (vgl. Klotz 1996: 257 ff.). 3 Kontroverse didaktische Kontexte - Wie lernt man schriftliches Argumentieren? Die Sprachdidaktik variiert Kontexte des Handelns, um etwas über sprachliche Kompetenzen herauszufinden und um Bedingungen der erfolgreichen Förderung zu klären. Wie können also Kontexte des schriftlichen Argumentierens so arrangiert werden, dass die resultierenden Texte der kompetenten SchreiberInnen nicht bloß rechtfertigend, sondern tatsächlich argumentativ sind? Wie sind die in diesem Sinne optimalen Kontexte sozial, situativ, kommunikativ und sprachlich gestaffelt? Welche Kontextfaktoren geben den Ausschlag für die Entwicklung literal argumentativer Kompetenzen? Dieser pragmatische Zugang zerlegt die komplexe Handlung des Argumentierens im Hinblick auf die geforderten Teilkompetenzen. So kommt er zu einer Liste unterschiedlicher Aufgabentypen, die geeignet erscheinen, die jeweils problematischen Aspekte der Gesamthandlung getrennt zu erforschen und entsprechend auch didaktisch in den Blick zu nehmen. Aus den Forschungsberichten der Beiträge von Oostdamm (1996) und Piolat et al. (1999) lässt sich etwa folgende Liste gewinnen: Zuordnungs- und Sortieraufgaben • Finden und Auswählen von geeigneten Argumenten zu einer These • Ordnen und Hierarchisieren von Argumenten zu einer These • Sortieren von Pro- und Contra-Argumenten Textbezogene Einsetz- und Ordnungsaufgaben • Einsetzen vorgegebener argumentativer Konjunktionen in einen Text • Ersetzen falsch eingesetzter Konjunktionen in einem Text • Rearrangierung der zerlegten Elemente eines kontroversen Textes 160 Direkt kontroversenbezogene Settin • Alpha-Omega-Verfahren (Vorgabe des ersten und letzten Satzes) • Information über den kontroversen Status des Themas • Freies Schreiben zu einer These oder Forderung Während die ersten Elemente der Liste eine starke Isolierung und hohe Künstlichkeit der jeweiligen Teilhandlung implizieren, nimmt zum Ende der Liste hin die „Natürlichkeit“ der Aufgabenkontexte zu. Noch das Alpha und Omegaverfahren aber impliziert ein hochgradig artifizielles Setting für das eigene Schreiben, indem sowohl das Thema als auch der erste und der letzte Satz des zu schreibenden Textes v der Aufgabe: Der erste und der letzte Satz widersprechen sich. Der Schreiber wird also durch den Kontext in hohem Maß dazu veranlasst, eine vermeint lich inhaltliche Inkohärenz in der Struktur des Textes pragmatisch aufzulö sen, indem er die Gegensätze in einer kontroversen Argumentation integ riert. Dabei ergibt insbesondere der Forschungsbericht von Piolat et al. (1999) ein für die Didaktik in besonderer Weise herausforderndes Resultat: Je stär ker restringiert ein Erwerbsk werb der jeweiligen Teilkomponente vorhersagen. Auch komplexe und im Erwerb hochgradig kritische Teilkompetenzen lassen sich also durch ent sprechende kontextuelle Arrangements trainieren, und es ist anzune dass sie auch schulbar sind. Fähigkeitsisolierende Kontexte scheinen damit alle Merkmale didaktischer Effizienz zu tragen, wie sie die folgende Über sicht darstellt: Konsequenzen restringierter vs. schwachrestringierter Eine Interventionsstudie von Gárate/ die Trainierbarkeit schriftlichen Argumentierens. Die Studie kombiniert drei Komponenten: A) zesses mit Hilfe von Aufgabenkarten, die z.B. die Reflexion und das Listen von Argumentationszielen, die Suche nach Gründen und das Festlegen Helmuth Feilke irekt kontroversenbezogene Settings Verfahren (Vorgabe des ersten und letzten Satzes) ation über den kontroversen Status des Themas, Streitfiktion reies Schreiben zu einer These oder Forderung Während die ersten Elemente der Liste eine starke Isolierung und hohe Künstlichkeit der jeweiligen Teilhandlung implizieren, nimmt zum Ende der te hin die „Natürlichkeit“ der Aufgabenkontexte zu. Noch das Alpha und Omegaverfahren aber impliziert ein hochgradig artifizielles Setting für das eigene Schreiben, indem sowohl das Thema als auch der erste und der letzte Satz des zu schreibenden Textes vorgegeben werden. Das besondere der Aufgabe: Der erste und der letzte Satz widersprechen sich. Der Schreiber wird also durch den Kontext in hohem Maß dazu veranlasst, eine vermeint lich inhaltliche Inkohärenz in der Struktur des Textes pragmatisch aufzulö sen, indem er die Gegensätze in einer kontroversen Argumentation integ Dabei ergibt insbesondere der Forschungsbericht von Piolat et al. (1999) ein für die Didaktik in besonderer Weise herausforderndes Resultat: Je stär ker restringiert ein Erwerbskontext ist, desto zuverlässiger lässt sich der Er werb der jeweiligen Teilkomponente vorhersagen. Auch komplexe und im Erwerb hochgradig kritische Teilkompetenzen lassen sich also durch ent sprechende kontextuelle Arrangements trainieren, und es ist anzune dass sie auch schulbar sind. Fähigkeitsisolierende Kontexte scheinen damit alle Merkmale didaktischer Effizienz zu tragen, wie sie die folgende Über Abb. 3 Konsequenzen restringierter vs. schwachrestringierter Schreibkontexte Interventionsstudie von Gárate/ Melero (2004) belegt in diesem Sinne die Trainierbarkeit schriftlichen Argumentierens. Die Studie kombiniert drei Komponenten: A) Direkte Instruktion zur Vorkonzeption des Schreibpro zesses mit Hilfe von Aufgabenkarten, die z.B. die Reflexion und das Listen von Argumentationszielen, die Suche nach Gründen und das Festlegen Helmuth Feilke Streitfiktion Während die ersten Elemente der Liste eine starke Isolierung und hohe Künstlichkeit der jeweiligen Teilhandlung implizieren, nimmt zum Ende der te hin die „Natürlichkeit“ der Aufgabenkontexte zu. Noch das Alpha- und Omegaverfahren aber impliziert ein hochgradig artifizielles Setting für das eigene Schreiben, indem sowohl das Thema als auch der erste und der orgegeben werden. Das besondere der Aufgabe: Der erste und der letzte Satz widersprechen sich. Der Schreiber wird also durch den Kontext in hohem Maß dazu veranlasst, eine vermeintlich inhaltliche Inkohärenz in der Struktur des Textes pragmatisch aufzulösen, indem er die Gegensätze in einer kontroversen Argumentation integ- Dabei ergibt insbesondere der Forschungsbericht von Piolat et al. (1999) ein für die Didaktik in besonderer Weise herausforderndes Resultat: Je stärontext ist, desto zuverlässiger lässt sich der Erwerb der jeweiligen Teilkomponente vorhersagen. Auch komplexe und im Erwerb hochgradig kritische Teilkompetenzen lassen sich also durch entsprechende kontextuelle Arrangements trainieren, und es ist anzunehmen, dass sie auch schulbar sind. Fähigkeitsisolierende Kontexte scheinen damit alle Merkmale didaktischer Effizienz zu tragen, wie sie die folgende Über- Melero (2004) belegt in diesem Sinne die Trainierbarkeit schriftlichen Argumentierens. Die Studie kombiniert drei zur Vorkonzeption des Schreibprozesses mit Hilfe von Aufgabenkarten, die z.B. die Reflexion und das Listen von Argumentationszielen, die Suche nach Gründen und das Festlegen Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens 161 eines Hauptpunkts fordern; B) Lernen am Modell und Rollenwechsel, wobei die SchülerInnen etwa den/ die LehrerIn dabei beobachten, wie er/ sie mit den Aufgabenkarten aus A arbeitet (Modelllernen) und ihrerseits dem/ der LehrerIn anhand der Karten zu A) Tafelnotizen diktieren (Rollenwechsel). Als dritte Komponente C) der Trainingsstudie kommt der direkte Genrevergleich hinzu. Die SchülerInnen werden aufgefordert, beschreibende und argumentative Textbeispiele zu vergleichen und sich dazu zu äußern. Verglichen mit der Kontrollgruppe, die ihre Texte zu einem herkömmlichen freien Schreibauftrag verfasste, zeigen sich deutliche Lernfortschritte bei der Trainingsgruppe. Diese Beobachtungen und Resultate führen zu dem Schluss, dass die didaktische Kontrolle von Einzelkomponenten argumentativer Kompetenz sowie deren gezielte Ansteuerung durch herausgehobene Trainingskomponenten ein erfolgversprechender Weg der Förderung literal argumentativer Kompetenz ist. Das gilt auch für das Alpha- und Omegaverfahren, das zu einer deutlich erhöhten Verwendung kontrovers-dialogischer Argumentation in den Texten führt. Gleichwohl bleibt angesichts dieser Resultate für meine Wahrnehmung ein erhebliches didaktisches Unbehagen. Die effiziente Instrumentalisierung der Kontexte führt zwangsläufig dazu, dass das Streben nach authentischen Lernsituationen demgegenüber ins Hintertreffen gerät. Nun ist Authentizität im ohnehin - aus guten Gründen - künstlichen Sozialisationskontext der Schule sicher kaum ein Wert an sich. Zu fragen bleibt aber, ob und inwieweit möglicherweise genau daran erst die Qualität der Erwerbsleistung festzumachen ist. Darauf deuten Ergebnisse einer Untersuchung von Selma Leit-o (2003) hin. Ihr Forschungsinteresse zielt auf die Funktion der persönlichen Involvierung in eine Kontroverse als zentrale Voraussetzung für die adäquate Kalibrierung der Argumentation. Leit-o weist eindrucksvoll nach, dass es hinsichtlich der Konzessivität gerade nicht reicht, die Berücksichtigung möglicher Gegenargumente zu fördern und zu trainieren, sondern dass deren strategische Abstimmung auf das eigene Argumentationsziel die eigentliche Schwierigkeit darstellt. Sie beobachtet bei ihren 8-15-jährigen ProbandInnen, dass nach einem entsprechenden Training unabhängig vom Alter und Beschulungsgrad zwar einerseits stets eine größere Zahl von Gegenargumenten generiert wird, aber diese Gegenargumente großenteils nicht in den Text integriert werden (Leit-o 2003: 301 f.). Das Problem ist offenbar nicht die Verfügbarkeit von Gegenargumenten oder auch der Perspektivenwechsel an sich, sondern die strategische Passung mit den jeweils eigenen Argumentationszielen. „The inclusion of a counterargument in a text is viewed as rhetorically valuable for discursive purposes (only? ) when the arguers feel able to reply to that counterargument in a way that preserves the strength of their original viewpoints.” (Leit-o 2003: 300 f.) In dieser Sicht ist im Gesamtkonzert didaktischer Kontexte für das Lehren argumentativen Schreibens die schulisch am schwierigsten herzustellende Situation zugleich die für den Erwerb entscheidende. Das ist der 162 Helmuth Feilke Kontext, in dem die SchülerInnen ein eigenes Anliegen argumentativ zu vertreten haben. In diesem Kontext aber werden sie Gegenargumente nur dann aufnehmen und nur soweit berücksichtigen, wie sie sich davon eine Unterstützung der eigenen Gesichtspunkte erwarten können. 4 Resümee: Zu Kontext und Kompetenz Sprachliche Kompetenzen sind in ihrer Genese durch natürliche und kulturelle Faktoren bestimmt. Vieles spricht dafür, dass grundlegende Parameter des Syntaxerwerbs eine natürliche Erwerbsgrundlage haben, wobei der Streit um die Frage geht, was dabei sprachspezifisch und was generellere kognitive Dispositionen sind. Auch für die Entwicklung pragmatischer Kompetenzen gibt es zum Teil universale natürliche Grundlagen, so etwa die kognitive Fähigkeit, in Relationen von Ursachen und Wirkungen, von Zwecken und Mitteln denken zu können, was Voraussetzung dafür ist, dem Verhalten eines anderen Handlungsintentionen zuschreiben zu können (vgl. Bruner 1987). Weil Menschen aber den Großteil ihrer Fähigkeiten erst epigenetisch und in einer soziokulturell geprägten Erfahrungswelt ausbilden, wird auch die sprachliche Kompetenz ganz wesentlich in Abhängigkeit von solchen Erfahrungskontexten entwickelt. Es ist nachgewiesen, dass etwa Erziehungs- und Kommunikationsstile in Familien unmittelbar Auswirkungen auf die Entfaltung der sprachlichen Kompetenz, auf Ausdrucksbereitschaft und verbale Ausdrucksfähigkeiten der Kinder haben. (Hart/ Risely 1995) Dabei werden die meisten, gerade auch hochkomplexe sprachliche Kompetenzen - etwa die Fähigkeit zu argumentieren und mit Argumenten zu streiten -, unabhängig von spezifischen didaktisch arrangierten Kontexten erworben. Andererseits zeigt die Forschung zum so genannten Scaffolding im Spracherwerb, dass Erwerbsprozesse gerade im Bereich der Schriftlichkeit rückgebunden sind an spezifische Praktiken des Lesens und Schreibens. Problemlösefähigkeiten in speziellen Handlungsbereichen - etwa beim Schreiben - werden erst empirisch und in Abhängigkeit vom Erfahrungs- und Kommunikationskontext erworben (Scribner/ Cole 1981). Das Relevantsetzen bestimmter literaler Praktiken (etwa des Vorlesens), die Etablierung kommunikationsleitender Werte und Normen (etwa literal-sprachlicher Situationsentbindung oder Höflichkeitskonventionen), das Erzeugen geteilter Aufmerksamkeit für Eigenschaften und Merkmale von Schrifttexten und geschriebener Sprache sind elementar für einen erfolgreichen Erwerb. Auch das schriftliche Argumentieren beruht in diesem Sinn einerseits auf Kompetenzen, für die keine spezifisch didaktischen Erwerbskontexte erforderlich sind. Sogar für die Annahme einer „natürlichen Topik“ des Argumentierens gibt es starke Argumente. Kinder sind im Alter von 4 Jahren und schon früher durchaus in der Lage, ihre Eltern argumentativ in Bedrängnis zu bringen. (Völzing 1981) Das spricht für ein auf die Kompe- Kontexte und Kompetenzen - am Beispiel schriftlichen Argumentierens 163 tenz der LernerInnen setzendes, didaktisch nichtinvasives Konzept der Förderung. Andererseits reichen die natürlichen Motive empirisch nachweislich offenbar nicht, um den Erwerb der Fähigkeit zum kontroversen, dialogischen Argumentieren im Bereich der Schriftlichkeit zuverlässig in Gang zu bringen. Man kann es auch positiv formulieren: Je stärker man das literale, kontrovers-dialogische Argumentieren didaktisch dekomponiert (Ossner 1996), in trainierbare Komponenten zerlegt und diese gezielt für den Erwerb von Teilfähigkeiten didaktisch rearrangiert, desto sicherer kann der Erwerb genau dieser - sonst schwer ausbildbaren - Teilfähigkeiten vorausgesagt werden. Hochkomplexe sprachkulturelle Kompetenzen wie der Erwerb eines Schriftsystems oder die Fähigkeit zu literal-dialogischer Argumentation können ohne spezifische didaktische Erwerbskontexte kaum erworben werden. Solche Kompetenzen sind damit in einem starken Sinn durch kulturelle Kontexte bestimmt, sie sind - ob implizit oder explizit - stets didaktisch kontextualisiert. Gleichwohl bleiben mit Blick auf die Untersuchung Leit-os (2003) Zweifel: Die Dekomponierung der komplexen Fähigkeit zerschlägt zwangsläufig die alle Komponenten durchziehende und notwendig subjektive und individuelle Intentionalität des argumentativen Sprachhandelns. Die didaktisch artifiziellen Kontexte arrangieren das Material, Aufgaben definieren die Ziele, konstruiert werden kontextuelle Beschränkungen des Handelns und Problemlösens. Beim aktuellen Stand des Wissens muss offen bleiben, ob die LernerInnen sich in einer derart optimierten didaktischen Lernumgebung den - zunächst bloß antrainierten - Habitus literal-dialogischen Argumentierens auch tatsächlich für ihr Schreiben zu Eigen machen können. Literatur A EBLI , Hans (1980/ 1981): Denken: Das Ordnen des Tuns. 2 Bde. Stuttgart: Klett-Cotta. 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Dieser Erwerbsprozess wird als Aneignung einer Kontextualisierungskompetenz aufgefasst - der Kompetenz, sich kontextuell passend, d.h. wissenschaftsadäquat zu äußern. Insbesondere die Anfänge des Erwerbs sind diesbezüglich interessant. Studentische Seminararbeiten lassen häufig Kontexttranspositionen erkennen: Sie indizieren domänenfremde, etwa journalistische Kontexte. Der Beschreibung dieses Erwerbsphänomens gehen einige Überlegungen zur Rolle des Kontextes beim Spracherwerb und der Schreibentwicklung voraus. 1 Kontext, Spracherwerb und Schreibentwicklung Sprachliche Äußerungen sind stets kontextbezogen, sie entfalten ihre kommunikativen Funktionen nur in bestimmten Verwendungszusammenhängen: „The real linguistic fact“, schreibt Malinowski (1935: 11), „is the full utterance within its context of situation.“ Diese Einsicht ist für das Verständnis des Sprachgebrauchs und des Spracherwerbs grundlegend. Der „context of situation“, gekennzeichnet durch personale, zeitliche und räumliche Faktoren sowie weitere Wissensbestände der InteraktionsteilnehmerInnen, ist kein Additum der Äußerung, sondern ein konstitutiver Bestandteil derselben. Ganz in diesem Sinne betont Wegener (1991 [1885]: 100), „dass es ursprünglich in der Sprache kein Lautmittel gibt, eine Substanz zu bezeichnen, sondern dass alle Sprachmittel Prädicate, d.h. Erinnerungsmittel sind, durch die bekannte Situationen angedeutet werden.“ Dies wird besonders in den ersten Lebensjahren deutlich, in denen häufig Einwortäußerungen verwendet werden, die keine benennende, sondern eine appellative, situationskommentierende und -herbeiführende Funktion haben. Um ein Beispiel Wegeners (ebd.: 68 ff.) anzuführen: Das „weinerlich gesprochene Butterbrod, meine Stiefeln“ des Kleinkindes ist zunächst als ein „Imperativ“ zu verstehen, „den Hunger zu stillen oder die bloßen Füße zu bekleiden.“ Der Kontext bildet hier eine unverzichtbare Stütze der Verständigung. 168 Torsten Steinhoff Ein wesentlicher Zug des Spracherwerbs besteht nun darin, relativ unabhängig von vorgegebenen Faktoren der Situation kommunizieren zu lernen. Verschiedenste Spracherwerbsprozesse sind darauf ausgerichtet, beispielsweise die Ausweitung des Wortschatzes, die Ausdifferenzierung des Wortartenrepertoires oder die Komplexitätszunahme syntaktischer Konstruktionen. All dies trägt dazu bei, dass kompetente SprecherInnen nur noch bedingt auf den Situationskontext angewiesen sind. Letztlich liegt es an den von ihnen gebrauchten sprachlichen Mitteln, welche Kontexte tatsächlich interaktionsrelevant werden. Dies ist der springende Punkt in Gumperz’ (1982) Theorie der Kontextualisierung: Die Beziehung zwischen Kontext und sprachlichem Handeln ist nicht uni-, sondern bidirektional; Kontexte determinieren nicht das sprachliche Handeln, sondern werden interaktiv konstituiert. Linke/ Ortner/ Portmann-Tselikas (2003: XV) stellen deshalb heraus: Es gibt nicht nur eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, sondern auch eine allmähliche Verfertigung der Situation, ein sukzessives Hervortreten (und Hervortreten-Lassen) von Rollenansprüchen und Rollenzuweisungen, von Rollenakzeptanzen und -zurückweisungen, von emotionellen Befindlichkeiten und kommunikativen Zielen. Ob diese „allmähliche Verfertigung der Situation“ im Einzelfall gelingt, hängt von verschiedenen Aspekten ab, ganz wesentlich aber von der Eignung der verwendeten Sprachmittel. Zeichentheoretisch geht es dabei weniger um ihren symbolischen Gehalt, als vielmehr um ihr Potential als „contextualization cues“ (Gumperz) - sie indizieren bestimmte Handlungsschemata. Nur so ist zu erklären, warum es uns beispielsweise gelingt, themenungebundene Ausdrücke wie „Es war einmal“, „Man nehme“ oder „im Folgenden“ ohne weitere Information relativ klar spezifischen Kontexten zuzuordnen. Die sprachliche Kompetenz kann in dieser Perspektive als eine „Common sense-Kompetenz“ (Feilke 1994) aufgefasst werden. Der/ die SprecherIn erweist sich als sprachlich kompetent, indem er/ sie dem sozial eingespielten Sprachgebrauch folgt: „Nicht die Fähigkeit - frei nach Chomskys nicht ganz korrekter Humboldt-Interpretation - ‚von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch‘ zu machen, ist aus dieser Sicht entscheidend, sondern die Fähigkeit, von diesen Mitteln einen solchen Gebrauch zu machen, der an einen bisherigen Gebrauch anschließbar ist.“ (ebd.: 100) Dies betrifft auch und gerade das schriftliche Sprachhandeln. Die schriftliche Kommunikation weist Spezifika auf, die Ehlich (1983) mit Blick auf die Dimensionen Raum und Zeit beschreibt. Der schriftliche Sprachgebrauch ist von der „Zerdehnung“ des Kommunikationsprozesses geprägt: „Der Text wird von der primären unmittelbaren Sprechsituation abgelöst und dadurch für die weitere Verwendung in anderen Sprechsituationen zur Verfügung gestellt.“ (ebd.: 32) Schriftliche Kommunikation ist Distanzkommunikation, sie ist auf „Verdauerung“ des - in der Münd- Kontexttransposition 169 lichkeit flüchtigen - sprachlichen Handelns ausgerichtet. Ihr Bezugspunkt und Bindeglied ist der Text. Durch ihn wird das sprachliche Handeln isoliert und vergegenständlicht. Dies macht die spezielle Überlieferungsqualität des Textes aus, sein außerordentliches Potential zur Verarbeitung, Speicherung und Vermittlung von Wissen. Für die LernerInnen indes liegt genau darin die zentrale Herausforderung: In der mündlichen Interaktion wird der Kontext kooperativ und auf personale, räumliche und zeitliche Situationsparameter gestützt konstituiert, in der schriftlichen Interaktion hingegen muss der Kontext dem Text zugeschrieben werden. „Kontext“ bezieht sich hier auf den Situationskontext. Wer schriftlich erfolgreich kommunizieren will, muss ein für sich stehendes „Sprachwerk“ (Bühler) produzieren, er muss sich rein sprachlich zu verständigen wissen. Diese Fähigkeit bildet den Kern der Textkompetenz: „Schriftlich-konzeptuale Fähigkeit ist die Beherrschung genau der sprachlichen Formen, die für eine maximal kontextentbundene [d.h. maximal situationsentbundene, T.S.] Verständigung vorausgesetzt werden müssen.“ (Feilke 2003: 180) Der Text ist jedoch nicht nur „irgendwie“ zu kontextualisieren, sondern darüber hinaus stets „passend“, abgestimmt auf den sprachlichen Common Sense im relevanten sozial-kommunikativen Handlungszusammenhang. Hier bezieht sich der Kontextbegriff auf den Domänenkontext. Dieser Kontext ist ein intertextueller Kontext. Er setzt sich aus literalen Prozeduren zusammen, die in den Texten der jeweiligen Domäne instrumentell und sozial verbindlich sind und je nach Teilkontext oder Textsorte variieren können. Mit zunehmender Schreiberfahrung gelingt es den LernerInnen immer besser, diese „doppelte“ Kontextualisierung zu leisten. Sie eignen sich die Fähigkeit an, Texte sowohl hinreichend explizit als auch kommunikationsadäquat zu gestalten. Dieser Erwerbsprozess ist prinzipiell in keinem Lebensalter abgeschlossen. Das betrifft den Domänenkontext in besonderer Weise. Wer beispielsweise in der Schule das schriftliche Argumentieren am Beispiel der Erörterung gelernt hat, muss um- und Neues lernen, wenn er vor der Aufgabe steht, eine wissenschaftliche Argumentation vorzulegen. 2 Die wissenschaftliche Textkompetenz als „doppelte“ Kontextualisierungskompetenz Die Beobachtung, dass StudentInnen manifeste Schwierigkeiten beim wissenschaftlichen Schreiben haben, gehört zum universitären Alltag. Viele HochschullehrerInnen sehen in diesen Schwierigkeiten Indikatoren für einen allgemeinen Rückgang von Schreibfähigkeiten der jüngeren Generation. Derartige Mutmaßungen sind jedoch in etwa so alt wie das studentische Schreiben selbst (vgl. Pohl 2007) und mithin der „zu allen Zeiten von denen mittleren Alters Klage über die Nachgeborenen“ (Max Goldt) zuzurechnen. 170 Torsten Steinhoff Der Grund für die Schreibprobleme ist ein anderer: Die Produktion eines wissenschaftlichen Textes stellt eine besonders komplexe, anspruchsvolle Aufgabe dar. Die in der Schule erworbenen kognitiven, kommunikativen und schriftsprachlichen Fähigkeiten bilden dafür eine wichtige Grundlage, sie reichen allerdings nicht aus. Um einen Text zu verfassen, der den hohen Anforderungen der Wissenschaftsdomäne gerecht wird, bedarf es der Aneignung einer kontextspezifischen Sprach- und Kommunikationskompetenz, der wissenschaftlichen Textkompetenz. Die schriftliche Wissenschaftskommunikation ist eine Extremform der Distanzkommunikation. Wer einen wissenschaftlichen Text schreiben will, muss eine Kontextualisierung auf höchstem Niveau leisten. Das betrifft zum einen den Situationskontext. Der Schreiber ist mit sich und seinem Thema über lange Zeit allein und räumlich wie zeitlich klar von seinen LeserInnen, der nebulösen „scientific community“, getrennt. Aus dieser „Einsamkeit des Schreibers“ (Keseling 2004) muss ein in vielerlei Hinsicht „dichter“ Text hervorgehen, der trotz enormer Situationszerdehnung Verständigung ermöglicht. Dies spiegelt sich in typischen Eigenschaften wissenschaftlicher Texte wider, z.B. in der umfänglichen Konstruktion dessen, was man „Forschungsstand“ nennt, der detaillierten Bezugnahme auf etablierte Theorien, Methoden und Fachtermini oder dem akribisch zusammengestellten, ausgedehnten Apparat. Der wissenschaftliche Text ist in dieser Perspektive als ein stets mit erheblichem Aufwand verbundener Versuch zu sehen, einen Situations-, genauer Diskussionskontext zu schaffen, in dem die Relevanz und Originalität des eigenen Beitrags erkennbar und rezipierbar wird. Betroffen ist zum anderen der Domänenkontext. Der/ die SchreiberIn muss den domänentypischen Sprachgebrauch kennen und verwenden können, er/ sie muss die „Alltägliche Wissenschaftssprache“ beherrschen. Mit diesem Begriff bezeichnet Ehlich (1993: 33) „die fundamentalen sprachlichen Mittel [...], derer sich die meisten Wissenschaften gleich oder ähnlich bedienen“. Damit sind nicht die Fachtermini gemeint, sondern die für wissenschaftliche Texte typischen Ausdrücke und Konstruktionen. Dazu zählen z.B. Nomen-Verb-Kollokationen wie „einer Frage nachgehen“ oder grammatische Konstruktionen wie „sollen“ & „werden“ & Partizip II („soll diskutiert werden“). Mittel wie diese dienen den SchreiberInnen zum einen als zeichenhafte Werkzeuge des wissenschaftlichen Denkens und Handelns, zum anderen als Erkennungszeichen eines wissenschaftlichen Habitus. Vor diesem Hintergrund erschließt sich, warum der - fehlende, inadäquate oder adäquate - Gebrauch der Alltäglichen Wissenschaftssprache als ein zentraler Indikator für die wissenschaftliche Textkompetenz gelten kann. Die Auswertung eines echt-longitudinalen Textkorpus’ mit 297 Seminararbeiten von 72 StudentInnen ergibt, dass die Aneignung dieser Kompetenz keineswegs zufällig verläuft, sondern einer überindividuellen Ordnung folgt. Die studentischen SchreiberInnen nähern sich mit zunehmender wissenschaftlicher Schreiberfahrung über verschiedene Problemlösever- Kontexttransposition 171 fahren dem wissenschaftssprachlichen Common Sense an (vgl. Steinhoff 2007a). Am Anfang der Entwicklung sind zwei Verfahren der Problemlösung zu beobachten. Dies ist zum einen die Transposition. Es findet eine Sprachübertragung statt. Die LernerInnen versuchen, die Schreibprobleme mit Mitteln zu lösen, die sie schon aus anderen, etwa alltäglichen, schulischen oder journalistischen Kontexten kennen. Im folgenden Textauszug z.B. verwendet der studentische Schreiber zur Darlegung eines Methodenschritts eine alltagssprachliche Formulierung und verfehlt damit den Domänenkontext: (Beispiel 1) Wenn man also die Zeit des römischen Engagements in Germanien untersuchen will, kommt man um eine nähere Betrachtung der Ereignisse im Teutoburger Wald nicht herum. (Student Nr. 39, 3. Arbeit, 3. Semester, Geschichtswissenschaft) Das zweite Problemlöseverfahren, das zu Beginn des Erwerbs auffällt, ist die Imitation. Die StudentInnen ahmen die Wissenschaftssprache nach. Sie formulieren leerformelhaft und sinnentleert: (Beispiel 2) Diese Arbeit liefert nur einige Beispiele für die jeweiligen Aspekte, um die Schwerpunkte exemplarisch aufzuzeigen. (Student Nr. 12, 3. Arbeit, 4. Semester, Literaturwissenschaft) Auf die Transposition bzw. Imitation folgt die Transformation. Das Bewusstsein für die Spezifik der Wissenschaftssprache wächst, das wissenschaftliche Ausdrucksspektrum wird auf- und ausgebaut. Noch ist der Sprachgebrauch jedoch fragil. Es sind charakteristische Formulierungsbrüche beobachtbar, z.B. bei der Verwendung von Präpositionen: (Beispiel 3) Mit Anlehnung an die Unterrichtsforschung (vgl. Bleyhl, S. 20) weist Bleyhl darauf hin, daß weniger die Instruktion von sprachlichem Wissen (besonders grammatikalischem Wissen), als die eigene, selbständig durchgeführte Verinnerlichung durch den Lerner das Lernen und Behalten des Erlernten ermöglicht. (Studentin Nr. 11, 6. Arbeit, 6. Semester, Deutsch als Fremdsprache) Am vorläufigen Ende der Entwicklung steht die kontextuelle Passung. Die Schreiber gebrauchen die Alltägliche Wissenschaftssprache nun domänenadäquat, kontrolliert und differenziert - sie schreiben kontextangemessen. Dabei ist klar zu erkennen, dass der Kontext aktiv konstruiert wird: Die SchreiberInnen verwenden Formulierungen, die in den anvisierten Kontext passen und für den/ die LeserIn auf der Textoberfläche Wissenschaftlichkeit indizieren: (Beispiel 4) Im Folgenden soll der Zusammenhang zwischen Wissen als Produktionsfaktor und der Regionalisierung von Betrieben erörtert werden. (Studentin Nr. 20, 9. Arbeit, 12. Semester, Politikwissenschaft) 172 Torsten Steinhoff Mit der kontextuellen Passung ist die Kompetenzentwicklung natürlich nicht abgeschlossen. Auch wenn dazu bislang keine empirischen Ergebnisse vorliegen, spricht vieles dafür, dass dem konventionellen wissenschaftlichen Schreiben ein postkonventionelles, mit den Konventionen spielendes, die Konventionen brechendes wissenschaftliches Schreiben folgt. Dies ist am ehesten dann zu erwarten, wenn es sich um SchreiberInnen handelt, die über eine derart hohe fachliche Reputation und Autorität verfügen, dass sie dem Common Sense nicht (mehr) in gleicher Weise verpflichtet sind wie beispielsweise Promovenden. 3 Kontexttransposition: Hintergrund, Methoden, Ergebnisse Für den hier diskutierten Zusammenhang ist v.a. der Anfang der skizzierten Entwicklung interessant, genauer gesagt das Problemlöseverfahren der „Transposition“. Bei der Transposition handelt es sich um ein Phänomen, das beispielsweise aus der Entwicklungspsychologie Piagets bekannt ist: „Wir versuchen während des ganzen Lebens, neuartige Probleme an uns bekannte Schemata und Konzepte zu assimilieren, d.h. mit jenen Konzepten zu lösen, die uns geläufig sind.“ (Montada 1995: 525) Auch in Forschungen zum Grammatikerwerb wird die Bedeutung der Transposition betont: „New functions are first expressed by old forms.“ (Slobin 1973: 184) Die Schreibentwicklungsforschung berichtet von Ähnlichem: Grundschulkinder etwa nutzen häufig bereits erworbene Muster zur Lösung eines für sie neuen Schreibproblems, etwa dann, wenn sie mittels narrativer Verfahren versuchen, einen deskriptiven Text zu verfassen (vgl. Augst u.a. 2007). Darüber hinaus lassen sich Parallelen zur Sprachgeschichte feststellen. Der Sprachwandel kann als gewaltiger Transpositionprozess verstanden werden, bei dem vorhandene sprachliche Mittel fortwährend für neue Zwecke umfunktionalisiert werden. Ehlich (1994) bezeichnet solche Vorgänge im Rahmen seines Konzepts der „funktionalen Etymologie“ als „Feldtranspositionen“ und bezieht dies u.a. auf die historische Herausbildung der Alltäglichen Wissenschaftssprache. Die Anfänge der ontogenetischen Herausbildung der Wissenschaftssprache verlaufen nach dem gleichen Prinzip: Die LernerInnen bearbeiten die neue, fremde Schreibaufgabe mit alten, bekannten Mitteln. Eine zentrale Rolle spielen dabei Mittel, die sie aus dem Kontext des Journalismus kennen. Das hat wesentlich damit zu tun, dass das journalistische und das wissenschaftliche Schreiben verwandte Domänen mit zahlreichen Gemeinsamkeiten sind. 1 Der Gebrauch, den die LernerInnen von journalistischen 1 Ruhmann/ Perrin (2003: 129 f.) notieren: „Genau besehen, ähneln sich die Schreibprozesse und Textprodukte beider Domänen in entscheidenden Punkten. [...] Wer journalistische Sachtexte oder wissenschaftliche Texte publiziert, schreibt mit der Absicht, dem Publikum mit Erfolg Gedanken zu vermitteln. Dabei dürfen alle Beteiligten erwarten, dass sich die schreibende Person in ihren Absichten und Mitteln an Kontexttransposition 173 Mitteln machen, führt zu Kontexttranspositionen: Ein domänenfremder Kontext wird in die Wissenschaftskommunikation übertragen. Dass sich StudienanfängerInnen bei ihren ersten wissenschaftlichen Schreibversuchen tatsächlich am journalistischen Sprachgebrauch orientieren, lässt sich mit Hilfe des Korpusvergleichs auf mehreren Achsen beobachten und beschreiben (vgl. Steinhoff 2007a: 151 ff.). Mit dieser Methode wird auf das Problem reagiert, dass die wissenschaftliche Textkompetenz nicht an der Korrektheit, sondern an der Angemessenheit des Sprachgebrauchs zu messen ist. Ob der jeweils vorliegende Sprachgebrauch kommunikationsadäquat ist oder nicht, kann allein mit Blick auf den authentischen Usus in der Domäne beurteilt werden. Drei Korpora werden vergleichend untersucht: (1) Studententexte-Korpus: 297 Seminararbeiten, die von 72 StudentInnen in verschiedenen Phasen ihres Studiums angefertigt wurden, vorwiegend in den Fächern Lingustik, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft (1, 7 Millionen Wörter) (2) Expertentexte-Korpus: 99 Fachaufsätze von WissenschaftlerInnen aus den Zeitschriften „Zeitschrift für germanistische Linguistik“ (Linguistik), „Sprachkunst“ (Literaturwissenschaft) sowie „Geschichte & Gesellschaft“ (Geschichtswissenschaft) (1 Million Wörter) (3) Journalistentexte-Korpus: Zeitungstexte der „Frankfurter Rundschau“ und des „Mannheimer Morgen“ aus dem Cosmas-II-Bestand des IDS Mannheim (265 Millionen Wörter) Die Korpora stehen für unterschiedliche domänenspezifische Kontexte. Das Expertentexte-Korpus erlaubt Aussagen über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch, das Journalistentexte-Korpus Aussagen über den journalistischen Sprachgebrauch, das Studententexte-Korpus schließlich - im Vergleich mit den beiden anderen Korpora - Aussagen über den Erwerb des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und die Orientierung an der journalistischen Domäne. die Normen der Diskursgemeinschaft hält. Diese Normen decken sich beim journalistischen und beim wissenschaftlichen Publizieren in entscheidenden Punkten: Die Regelungen der Verständigung zielen in beiden Domänen auf ernsthafte und aufrichtige Gesprächsbeiträge. Journalistische wie wissenschaftliche Texte sollen über den bisherigen Gesprächsstand zum Thema informieren, sollen ihm einen neuen Aspekt hinzufügen, sollen relevante Informationen enthalten und sollen nichts Falsches oder Ungedecktes darlegen. Die Schreibsituation ist durch Herstellungszeit und durch Textumfang in beiden Domänen meist ähnlich strikt begrenzt - wissenschaftliche wie journalistische Veröffentlichungen haben einen vorab festgelegten Umfang und müssen innerhalb bestimmter Fristen fertiggestellt werden. Auch das kommunikative Rollenspiel ist in beiden Domänen ähnlich angelegt: Journalisten und Wissenschaftlerinnen vermitteln ihrem Publikum nicht die Wahrheit an sich, sondern Realitätsentwürfe und -bewertungen, die im Text anderen Quellen oder der eigenen Position nachvollziehbar zugeordnet oder durch sie gestützt sind.“ 174 Torsten Steinhoff Diese Aussagen werden darüber hinaus durch Experteneinschätzungen gestützt. 14 HochschulabsolventInnen geisteswissenschaftlicher Studiengänge wurde eine Sammlung von Auszügen aus dem Studententexte-Korpus und dem Expertentexte-Korpus vorgelegt. Die ExpertInnen hatten die Aufgabe, die Formulierungen im Hinblick auf ihre Kontextadäquanz zu prüfen, zu bewerten und zu kommentieren. Im Weiteren werden am Beispiel von Auszügen aus studentischen Seminararbeiten zu zwei domänentypischen Handlungsbereichen, der Relevanzsetzung und der intertextuellen Bezugnahme, zentrale Kennzeichen von Kontexttranspositionen herausgearbeitet. 3.1 Relevanzsetzung Zu den charakteristischen Prozeduren wissenschaftlicher Texte ebenso wie journalistischer Beiträge zählt die Relevanzsetzung. Texte beider Domänen sind stark themenfixiert, weshalb oft schon zu Beginn, in den ersten Sätzen, das Thema benannt und seine Bedeutung herausgestellt wird. Diese Relevanzsetzung erfolgt stets mit Blick auf den/ die LeserIn. In journalistischen Texten steht eher die Alltagsrelevanz eines Themas im Vordergrund, in wissenschaftlichen Texten dagegen seine fachliche Relevanz. Gerade StudienanfängerInnen bereitet die Relevanzsetzung Probleme. Das liegt zunächst einmal daran, dass es hier um die Formulierung des Textanfangs geht, was generell schwer fällt, weil sich zahllose Optionen bieten, der/ die SchreiberIn sich aber für eine dieser Optionen entscheiden und dabei den gesamten Text im Auge haben muss. Hinzu kommt, dass den StudienanfängerInnen in der Regel nicht klar ist, dass und wie die Relevanz eines Themas wissenschaftsadäquat signalisiert werden kann. Sie wissen noch nicht, dass die Relevanzsetzung in wissenschaftlichen Texten oftmals den ersten Zug einer komplexen Handlung bildet, die Swales (1990) als „CARS“ („Create A Research Space“) bezeichnet: Ziel ist es, den/ die LeserIn zu überzeugen, dass die Publikation ein wichtiges, bislang jedoch kaum untersuchtes Thema behandelt, also wissensinnovativ ist. StudienanfängerInnen fehlt die dazu erforderliche Kenntnis domänentypischer kognitiver und sprachlicher Verfahren. Was sie hingegen kennen und verwenden, sind journalistische Verfahren der Relevanzsetzung: (Beispiel 5) Der Begriff „Multikultur“ ist in aller Munde und bezeichnet das gleichberechtigte Miteinander statt Nebeneinander verschiedener Kulturen innerhalb einer Gesellschaft. (Student Nr. 25, 1. Arbeit, 3. Semester, Erziehungswissenschaft) (Beispiel 6) Täglich haben wir Kontakt mit anderen Menschen, egal ob es der Nachbar von nebenan, die Verkäuferin an der Tankstelle oder der fremde Fahrgast im Bus ist. (Studentin Nr. 44, 5. Arbeit, 5. Semester, Psychologie) Kontexttransposition 175 (Beispiel 7) Jeder kennt und benutzt die Anredeform „Herr“, sei es nun der Etikette wegen, einzig aus Gründen der Höflichkeit oder zur Distanzierung vom und zur Hervorhebung gegenüber dem Gesprächspartner um sozialer, politischer oder sonstiger Unterschiede willen. (Student Nr. 8, 1. Arbeit, 1. Semester, Linguistik) Die zitierten Textauszüge sind prägnante Beispiele für Kontexttranspositionen. Die StudentInnen involvieren ihre LeserInnen, indem sie an deren Alltagserfahrung appellieren. Allerdings adressieren sie so kein Fachpublikum, sondern ein Massenpublikum und rufen mithin keinen wissenschaftlichen, sondern einen im weiteren Sinne journalistischen Kontext auf. Der Eindruck, dass in den Beispielen tatsächlich typisch journalistische Ausdrücke gebraucht werden, lässt sich durch Recherchen im Expertentexte- und Journalistentexte-Korpus nachweisen. Die Analyse der Korpora zeigt, dass solche Ausdrücke von professionellen WissenschaftlerInnen nicht verwendet werden, in der journalistischen Domäne hingegen überaus beliebt sind: (Beispiel 8) Lampertheim/ Bürstadt. Die so genannte Green Card ist in aller Munde. (Mannheimer Morgen, 17.03.2000, Ressort: Lokal Bürstadt/ Biblis) (Beispiel 9) Pflanzliche und auch tierische Fette sind nicht überflüssig. Sie versorgen unseren Körper mit wichtigen fettlöslichen Vitaminen und Fettsäuren. Täglich verwenden wir sie als Brotaufstriche, zum Backen, Braten und Kochen. (Mannheimer Morgen, 01.09.2001, Ressort: Lokal Lampertheim) (Beispiel 10) Jeder kennt Derrick, er ist Allgemeingut. (Mannheimer Morgen, 20.03.2004, Ressort: Modernes Leben) Der durch die Korpusauswertung gestützte Befund wird durch die Experteneinschätzungen bestätigt. Auch die ExpertInnen halten die Formulierungen nicht für wissenschaftstypisch, sondern rechnen sie mehrheitlich der journalistischen Domäne zu. Exemplarisch seien einige Kommentare zu den Beispielen (5) und (6) zitiert: Kommentare zu Beispiel 5 (Auswahl) Kommentare zu Beispiel 6 (Auswahl) - „eine merkwürdige, in Hausarbeiten allerdings häufige Kombination von Alltagsjargon und Wissenschaftsjargon“ (Experte 2) - „Wissenschaft ist nicht ‚in aller Munde‘“ (Experte 4) - „‚in aller Munde‘ - zu umgangssprachlich“ (Experte 7) - „‚wir‘, ‚egal‘ sehr unpassend“ (Experte 4) - „klingt wie der Text einer Dokumentation im TV“ (Experte 7) - „sonderbarer Versuch einer Einbettung in einen alltäglichen Kontext bzw. eine breite Basis anzusprechen“ (Experte 9) 176 Torsten Steinhoff - „‚ist in aller Munde‘ klingt nach Journalismus, wenn man den Leser dort abholen will, wo er gerade steht“ (Experte 10) - „Zeitungsstil“ (Experte 13) - „passt als Anmoderation ins ZDF- Mittagsmagazin - Gemeinplatz ohne Untersuchungsaspekt, Schlussfolgerung o.Ä; insbesondere der Satzanfang ‚täglich haben wir‘ stört“ (Experte 14) Die Kommentare der ExpertInnen führen deutlich vor Augen, dass die Kontextadäquanz von Formulierungen alles andere als eine Frage des bloßen Stils ist. Für den kommunikativen Erfolg erweist sich der Gebrauch domänentypischer Mittel als entscheidend, weil mit ihnen wissenschaftssprachliche Handlungen professionell vollzogen werden können. Beim folgenden Textauszug z.B. wird eine komplexe Passivkonstruktion verwendet, die eine domänenadäquate Adressierung des Fachpublikums bewirkt: (Beispiel 11) Rumänien und seine Rolle während der Herrschaft faschistischer Regime in Europa wird in der westlichen Geschichtsschreibung noch immer vernachlässigt. (Student Nr. 5, 6. Arbeit, 8. Semester, Geschichtswissenschaft) 3.2 Intertextuelle Bezugnahme Die Intertextualität zählt zu den Wesensmerkmalen der Wissenschaftskommunikation. Jeder wissenschaftliche Text knüpft an andere wissenschaftliche Texte an, um eine bereits laufende Diskussion fortzuführen. Erst die Platzierung der Ergebnisse an einer „kritischen“ Stelle des existierenden Wissensnetzes sorgt dafür, dass der eigene Beitrag von der scientific community als relevant und originär (an)erkannt werden kann: „The more firmly you can tie your claim to the accepted intertextual web, the more persuasive the claim appears. The more centrally the claim can be placed at a crucial juncture in the web, the greater significance it will have.” (Bazerman 1988: 325) Auch für die journalistische Kommunikation sind intertextuelle Bezüge von großer Bedeutung. Die Wiedergabe von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen gehört zum Tagesgeschäft des journalistischen Schreibens. Dabei kommt es häufig vor, dass auch über Forschungsergebnisse informiert wird, zumeist dann, wenn diese Ergebnisse für ein breiteres Publikum relevant sind. Was die intertextuelle Bezugnahme im wissenschaftlichen Kontext von der Bezugnahme im Journalismus in aller Regel unterscheidet, ist ihr Explizitheitsgrad. In wissenschaftlichen Texten werden Bezüge als solche klar gekennzeichnet und nachvollziehbar der jeweiligen Quelle zugeordnet. Auf diese Weise wird das geistige Eigentum der jeweiligen ForscherInnen gewahrt und den LeserInnen die Möglichkeit zur Falsifikation gegeben. Kontexttransposition 177 Bezüge in journalistischen Texten hingegen sind oftmals eher vager Natur, weil der Großteil der LeserInnen primär an den Forschungsergebnissen interessiert ist, weniger an den verantwortlichen ForscherInnen und den genauen Quellen. Seminararbeiten lassen erkennen, dass StudentInnen die feinen Unterschiede zwischen wissenschaftlichen und journalistischen intertextuellen Bezügen oftmals nicht hinreichend bewusst sind. Sie formulieren journalistisch - so, als hätten sie die Aufgabe, ein Massenpublikum über neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu informieren: (Beispiel 12) Die Forscher sprechen deshalb von einer multilokalen Mehrgenerationenfamilie, die sich als Gegensatz zur traditionellen Haushaltsfamilie herausbildet. Die Funktion der Familie habe sich geändert, meinen die Forscher, sie habe außer der Sozialisations- und Reproduktionsfunktion nun auch die Funktion der Generationensolidarität übernommen. (Student Nr. 43, 7. Arbeit, 7. Semester, Soziologie) (Beispiel 13) Untersuchungen in der ehemaligen DDR haben gezeigt, dass die Kinder zu wenig gelobt wurden. (Student Nr. 71, 4. Arbeit, 3. Semester, Erziehungswissenschaft) (Beispiel 14) Nach Prof. Dr. Andreas Klocke ist bekannt, dass soziale Ungleichheit die Gesundheit von Menschen mitbestimmt. (Studentin Nr. 18, 1. Arbeit, 1. Semester, Soziologie) Die Beispiele zeugen von einer bestimmten Haltung der SchreiberInnen zur scientific community. Sie fühlen sich ihr ganz offenbar nicht zugehörig und berichten, einem Journalisten gleich, aus der sicheren Distanz eines außenstehenden Protokollanten. Ähnliche Phänomene werden interessanterweise an US-amerikanischen Hochschulen beobachtet. Auch dort orientieren sich StudentInnen beim wissenschaftlichen Schreiben vielfach an „more popular forms of writing“. (Kennedy/ Smith 2001: 41) Beobachtungen wie diese machen deutlich, dass die Aneignung der wissenschaftlichen Textkompetenz auch ein Sozialisationsprozess ist. Der Erwerb wissenschaftlicher Schreibfähigkeiten setzt voraus, dass die LernerInnen die Rolle eines Wissenschaftlers einnehmen. Dazu gehört, dass bei intertextuellen Bezügen nicht pauschal von „Forschern“ und „Untersuchungen“ gesprochen wird, sondern genaue Angaben zur Quelle gemacht werden. Darüber hinaus ist zu beachten, dass, anders als in Beispiel 14, der akademische Grad der zitierten Forscher auszusparen ist, da in der Wissenschaftskommunikation, dem Ideal des Universalismus folgend, die Annahme oder Ablehnung von Wahrheitsansprüchen von Eigenschaften der Person unabhängig ist. Das sich in der Beachtung derartiger Normen zeigende Rollenverständnis und -verhalten ist Teil des beim Lesen und Schreiben wissenschaftlicher Texte erworbenen, stets sprachlich vermittelten Kontextwissens. Wenn sich die StudentInnen bei intertextuellen Bezugnahmen, wie die 178 Torsten Steinhoff Beispiele 15 bis 18 illustrieren, am journalistischen Usus und damit an einem wissenschaftsfremden Kontext orientieren, so hat dies unweigerlich zur Folge, dass ihr Sprachgebrauch zentralen wissenschaftskommunikativen Konventionen zuwiderläuft und mithin keinen wissenschaftlichen Kontext zu indizieren vermag. Der journalistische Sprachgebrauch dient in dieser Hinsicht anderen Zwecken als jenen, die in der Wissenschaftsdomäne relevant sind: (Beispiel 15) Seit Jahrzehnten glauben manche Forscher, daß Koffein auch in niedriger Dosierung bereits schadet, andere Wissenschaftler meinen, der Nutzen von Koffein sei bedeutender als gemeinhin angenommen wird. (Frankfurter Rundschau, 15.02. 1997, Ressort: Freizeit und Familie) (Beispiel 16) Untersuchungen haben gezeigt, welche verheerende Auswirkung andauernde Schlaflosigkeit auf den Gesundheitszustand des Menschen haben kann. (Frankfurter Rundschau, 27.12.1997, Ressort: Freizeit und Familie) (Beispiel 17) Nach Prof. Dr. Malzahn wird das Thema in den Medien übertrieben, doch „Doping gibt es“ und es ist deswegen auch nicht klein zu reden. (Frankfurter Rundschau, 15.12.1999, Ressort: Zeitung in der Schule) Die Einschätzungen der ExpertInnen bestätigen, dass die zitierten Auszüge aus den Seminararbeiten die Anforderungen der Domäne verfehlen: Kommentare zu Beispiel 12 (Auswahl) Kommentare zu Beispiel 13 (Auswahl) - „‚die Forscher‘ ist typisch für Studierende, die sich selbst nicht dazu zählen“ (Experte 2) - „wer sind ‚die Forscher‘? Quellenbezüge fehlen“ (Experte 5) - „durch ‚meinen die Forscher‘ distanziert sich der Schreiber vom Inhalt“ (Experte 10) - „welche ‚Forscher‘? ‚die Forscher sprechen von‘ und ‚meinen die Forscher‘ ist völlig unwissenschaftlich! “ (Experte 12) - „könnte auch in einer Zeitung stehen“ (Experte 13) - „‚die Forscher sprechen‘ klingt seltsam, da zu allgemein - die Wiederholung im Einschub ‚meinen die Forscher‘ ist unfreiwillig komisch“ (Experte 14) - „viel zu allgemeine Aussage, keine Angabe von Bezugsquellen“ (Experte 1) - „etwas unkonkret“ (Experte 3) - „fehlende Literaturangabe (‚Untersuchungen‘)“ (Experte 4) - „Bezüge, Referenzen, Quellenangaben fehlen, Aussagen sehr allgemein, so wie es da steht, geradezu trivial“ (Experte 6) - „welche Kinder wurden wann wo zu wenig gelobt? “ (Experte 9) - „‚zu wenig‘ ist sehr pauschal und undifferenziert“ (Experte 11) Kontexttransposition 179 Wie im Bereich der Relevanzsetzung zeigt sich auch im Falle der intertextuellen Bezugnahme, dass bestimmte Formulierungen spezifische Denk- und Handlungsweisen indizieren, die in einer Domäne üblich und funktional sind, in einer anderen Domäne jedoch unpassend und dysfunktional sein können. Die verwendeten Formulierungen rufen einen journalistischen, aber eben keinen wissenschaftlichen Kontext auf. Es zeugt daher von einer entfalteten wissenschaftlichen Textkompetenz, wenn es einem Studenten, wie im folgenden Beispiel, gelingt, intertextuelle Bezüge zu verschiedenen Quellen mit der nötigen Explizitheit und Genauigkeit domänentypisch, d.h. an den wissenschaftlichen Kontext angepasst und diesen damit indizierend, zu realisieren. (Beispiel 18) In seinem Aufsatz „Deictic Expressions and the Connexity of Text“ (Ehlich 1989) kritisiert Ehlich, dass Bühler zwar die Deixis am Phantasma behandelt habe und damit über den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung hinausgegangen sei, er jedoch keine Theorie vorgelegt habe, die allein deiktischen Ansprüchen gerecht werden könne. (Student Nr. 34, 9. Arbeit, 7. Semester, Linguistik) Die spezifischen Konventionen für Relevanzsetzungen, intertextuelle Bezüge und andere Prozeduren wie etwa die Verfasserreferenz (vgl. Steinhoff 2007b) sind für LernerInnen schwer zu erkennen und anzueignen, weil sie zu jenen impliziten Wissensbeständen der scientific community gehören, die nur über eine eingehende Reflexion des sprachlichen Materials zu erschließen sind. Die StudentInnen sind darauf verwiesen, wissenschaftssprachliche Werkzeuge aus eigenem Antrieb lesend und schreibend zu entdecken. Dieser Prozess kann und sollte didaktisch begleitet werden (vgl. Steinhoff 2007a: 418 ff., Steinhoff 2008, Steinhoff 2009); Tatsache ist allerdings, dass eine systematische Förderung der Entwicklung wissenschaftlicher Schreibfähigkeiten an deutschen Hochschulen nach wie vor nur vereinzelt stattfindet. 2 2 Kruse (2003: 95) berichtet: „An deutschen Hochschulen sucht man vergebens nach curricularen Vorgaben für die Entwicklung von akademischer Literacy. Schreiben, Lesen und Sprechen sind zwar allgegenwärtige Formen des akademischen Diskurses und des akademischen Lernens. Aber sie werden einfach vorausgesetzt und nur implizit - als Nebenprodukt des Austauschs von Ideen - trainiert. Sie werden zwar benotet, wie bei Referaten, Hausarbeiten und Klausuren, aber sie werden nicht direkt als Lerngegenstände benannt und unterrichtet. Auch wenn einige Studienberatungsstellen sich mit der Behebung von Lese-, Schreib- oder Redeproblemen beschäftigen [...], sehen die Hochschulen die Vermittlung dieser Kompetenzen nicht als ihre Aufgabe an. Lediglich einige Schreibzentren in Berlin, Bielefeld, Bochum und Essen [...] vermitteln Schreibkompetenz in systematischer Weise und unterstützen Lehrende und Fachbereiche darin, die Anleitung von wissenschaftlichen Arbeiten zu optimieren.“ 180 Torsten Steinhoff 4 Abschließende Bemerkungen Die konsequent kontextbezogene und empirisch fundierte Erforschung des Erwerbs literaler Praktiken steht noch am Anfang. Nach wie vor wird die Schreibentwicklung vornehmlich als Aufbau einer allgemeinen Schreibkompetenz aufgefasst. Nicht genügend Berücksichtigung findet, dass es eine Vielzahl verschiedener Textkompetenzen gibt, die sich historisch in spezifischen Domänen herausgebildet haben und dort angeeignet werden. Die Schreibentwicklung ist ein Prozess des Erwerbs von Explizitformen zur situationsentbundenen Verständigung, zugleich jedoch von domänentypischen Formen zur kontextgebundenen Verständigung. Die domänentypische Textkompetenz kann, so betrachtet, als „doppelte“ Kontextualisierungskompetenz aufgefasst werden, als Kompetenz, einen Text zu produzieren, der zugleich hinreichend explizit und kommunikationsadäquat ist. Eine Möglichkeit, den Erwerb nicht nur wissenschaftlicher, sondern domänentypischer Textkompetenzen im Allgemeinen zu beschreiben, stellt die skizzierte Methode des Korpusvergleichs auf mehreren Achsen dar. Dieses Verfahren ermöglicht es, aussagekräftiges Material und sichere Maßstäbe zur Analyse und Darstellung des Erwerbs domänenspezifischer literaler Praktiken zu gewinnen. 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München: Iudicium, 13-42. E HLICH , Konrad (1994): „Funktionale Etymologie“. In: Gisela Brünner/ Gabriele Graefen (Hrsg.): Texte und Diskurse. Methoden und Forschungsergebnisse der Funktionalen Pragmatik. Opladen: Westdeutscher Verlag, 68-82. F EILKE , Helmuth (1994): Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. F EILKE , Helmuth (2003): „Entwicklung schriftlich-konzeptualer Fähigkeiten“. In: Ursula Bredel/ Hartmut Günther/ Peter Klotz/ Jakob Ossner/ Gesa Siebert-Ott (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. Band 1. Paderborn: UTB, 178- 192. Kontexttransposition 181 G UMPERZ , John J. (1982): Discourse Strategies. Cambridge: CUP. K ENNEDY , Mary Lynch/ S MITH , Hadley M. (2001): Reading and Writing in the Academic Community. 2. Auflage. Upper Saddle River: Prentice Hall. K ESELING , Gisbert (2004): Die Einsamkeit des Schreibers. 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W EGENER , Philipp (1991 [1885]): Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens. Nachdruck. Amsterdam: Benjamins. Georg Weidacher Textrhetorik und Kontextualisierung 1 Einleitung: Kommunikation und Rhetorik Rhetorisches Handeln im Allgemeinen erfolgt stets eingebettet in konkrete Situationen. Reden im Speziellen werden zu bestimmten Anlässen gehalten, ob diese sich nun unerwartet ergeben und eine spontane rhetorische (Re-)Aktion verlangen oder ob eine vorbereitete Ansprache einen zentralen Programmpunkt eines Festaktes bildet. Wie auch immer die Redesituation sein mag: Sie beeinflusst wesentlich das rhetorische Handeln des Redners und wird somit, zumindest was ihre für die jeweilige Rede relevanten Faktoren betrifft, zum „Macht ausübenden“ Kontext der Rede. Andererseits ruft ein Orator Kontexte auf. Er kontextualisiert seine Aussagen und sein rhetorisches Handeln; dies z.B. schon alleine dadurch, dass er einen gehobenen Stil und eine „getragene“ Intonation verwendet, sich besonders elegant kleidet etc., um die Feierlichkeit eines Anlasses zu verdeutlichen. 1 Generell ist es sein Ziel und seine Aufgabe, bei den RezipientInnen seiner Rede Kontextualisierungen hervorzurufen, die in seinem Sinne sind und die erst einen rhetorischen Erfolg ermöglichen. Im Folgenden soll die Bedeutung von Kontexten und Kontextualisierungen für rhetorisches Handeln dargestellt werden, wobei der Fokus auf der rhetorischen Formulierung von Texten liegen wird und auf den speziellen Bedingungen, unter denen diese erfolgt. Den Ausgangspunkt bilden jedoch Betrachtungen zur Rhetorik und zur Kommunikation im Allgemeinen. „Sprachliche Produkte sind bestimmt für die Koordination, und sie sind gemacht aus Elementen, die für die Koordination prädestiniert sind.“ (Ortner/ Sitta 2003: 34 f.) Es geht aber nicht nur um die Koordination des Verstehens der sprachlichen Produkte, sondern darüber hinaus um die Koordinierung der Kontextualisierungsprozesse, denn „[…] meaning (of messages, acts, situations) is made possible not only through conventional relationships between signs and their contents […], but also through signactivated connections between selected aspects of the on-going situation and aspects of other situations.“ (Duranti 1997: 37) Das koordinierte Aufrufen von Kontexten hat daher wesentlichen Anteil an der Verringerung der Kon- 1 Umgekehrt sind z.B. VertreterInnen der Grünen vorgegangen, als sie erstmals als Abgeordnete ins österreichische Parlament gewählt worden waren und dort ihre Reden im Pullover gehalten haben, um zu signalisieren, dass sie als Alternative nicht den verfestigten Usancen im Parlament folgen wollten. 184 Georg Weidacher tingenz kommunikativen Handelns und somit auch am Erreichen des vom Sender angestrebten kommunikativen Ziels. Sobald die Koordination gelungen ist, hat der Rezipient zunächst den kommunikativen Akt des Senders als ebensolchen akzeptiert und ihn zumindest annähernd in einem vom Sender intendierten Sinn verstanden. Das bedeutet auch, dass er ihn im Zuge dessen adäquat kontextualisiert hat. Das Erreichen des perlokutionären Ziels setzt diese Koordinierung des kommunikativen Verhaltens der Kommunikanten voraus, wobei Letzteres im Grunde das eigentliche Ziel jedweder Kommunikation ist. Speziell im Fokus des Interesses liegt diese Art kommunikativer Koordinierung in Form kommunikativer Beeinflussung jedoch, wenn kommunikative Akte unter einem rhetorischen Aspekt betrachtet werden. 2 Rhetorik, Persuasion und Diskurs Der zentrale Punkt der ars bene dicendi ist ein sprach-pragmatischer, nämlich das effektive Einwirken auf RezipientInnen durch „gutes“ Sprechen, speziell wenn es darum geht, ein Publikum von einer umstrittenen Meinung, von etwas, das nicht a priori feststeht oder allgemein anerkannt ist, zu überzeugen (vgl. Ueding 1995: 92), aber auch wenn auf eine Affirmation von Einstellungen der RezipientInnen abgezielt wird. Der Zweck rhetorischen Handelns liegt also in der Persuasion, weshalb die Rhetorik auch als „the art of persuasion“ (House 1998: 1011) definiert wurde, wobei gilt: „Generally, persuasion is communication designed to create, reinforce, or change the beliefs, attitudes, values, and/ or behaviors of others.“ (Hosman 2008: 1120) Die Funktion des „persuadere“ prägt nicht nur rhetorisch überformtes Reden, das auf theoretisch formulierten Verfahren und Strategien basiert, sondern ist konstitutiv für einen großen Teil auch des alltäglichen Kommunizierens, woraus Knoblauch (2000: 196 f.) auf eine generelle Rhetorizität kommunikativen Handelns schließt. Zu klären ist jedoch, inwieweit und in welcher Hinsicht man einzelne sprachliche Handlungen als persuasiv - und damit prinzipiell für rhetorisches Handeln zugänglich - klassifizieren kann. In dieser Hinsicht von Interesse ist zum Beispiel die Beurteilung von Äußerungen wie den folgenden: a) „Der Klimawandel wird vom Menschen verursacht.“ b) „Geiz ist geil.“ Beide Äußerungen können als Teilakte einer komplexen Persuasionshandlung fungieren, so zum Beispiel wenn Satz a) auf einer Klimaschutzkonferenz im Verlauf einer Rede geäußert wird, in der Regierungen aufgefordert werden, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu treffen, oder wenn Satz b), was auch tatsächlich der Fall ist, als Slogan der Werbekampagne einer Handelskette für elektronische Geräte verwendet wird. Textrhetorik und Kontextualisierung 185 Unterlegt ist dieser nicht zuletzt vom aufgerufenen Kontext abhängigen Persuasionsfunktion jedoch noch eine basale Persuasionsabsicht, die bei jeder Aussage - ist sie auf den ersten Blick auch noch so neutral - mitschwingt: Man will nicht nur eine Aussage über die „Welt“ treffen und damit eine „Wirklichkeit“ im Sinne der eigenen Sicht der „Welt“ konstruieren, sondern die RezipientInnen auch überzeugen, dass die Aussage der Wahrheit entspricht und die konstruierte Wirklichkeit stimmig ist. Im Falle von Beispiel b) ist dies evident, da hier eine Behauptung aufgestellt wird, die eine im Grunde subjektive Wertung von „Geiz“ enthält, aber auch in a) geht es darum, die eigene (wenn auch in diesem Fall wohl wissenschaftlich fundierte) Konstruktion der „Wirklichkeit“ als gültig zu etablieren. Auch „bloße“ Behauptungen sind wesentlich Deutungen einer als „meine Wirklichkeit“ rezipierten Realität. Mit assertorischen Äußerungen wird zugleich der Versuch unternommen, auch die Wirklichkeitsperspektive dessen, an den die Behauptung gerichtet ist, zu verändern. (Sornig 1982: 240) Damit verfügen im Grunde alle Aussagen über die „Welt“, bei denen eine Kontextualisierung im Sinne einer Rahmung als Teil des allgemein akzeptierten „Weltverständnisses“ angestrebt wird, 2 über eine latente Persuasionsfunktion. Diese haftet nicht nur einzelnen Äußerungen an, sondern auch ganzen Texten. Sie findet sich zum Beispiel in informativen Texten, in denen der Autor den Leser vom präsupponierten Wahrheitsgehalt der Informationen überzeugen will. Zu beachten ist dabei, dass die Persuasion, genauer: der persuasive Effekt, obwohl er im Text bzw. in dessen Rezeption häufig latent bleibt, dennoch eine Auswirkung zeigt, indem er sich im Diskurs vererbt, wodurch eine durch latente Persuasion verursachte Prägung des Diskurses manifest werden kann. Falls mittels einer Äußerung - sei sie nun manifest oder latent persuasiv - solch eine Prägung des entsprechenden Diskurses gelingt, kann dies durchaus als Persuasionserfolg gewertet werden. Schließlich kann das Ziel in vielen Fällen nicht sein, die RezipientInnen nur im Augenblick, im Moment der Rede zu überzeugen, sondern ihre Einstellungen dauerhaft zu verändern und damit auch ihre folgenden Beiträge zum Diskurs im Sinne der eigenen Persuasionsabsicht auszurichten, denn im Endeffekt ist der Diskurs „[…] dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.“ (Foucault 2001: 11) Die klassische Rhetorik hatte dieses Einwirken auf den Diskurs noch nicht im Blick. Vielmehr ging sie von einem „punktuell gedachten Standpunktwechsel der agitierten Personen“ (Knape 2000a: 179) aus. In der modernen Rhetorik, die auch auf Ansätze der Diskursanalyse aufbauen kann, sollte die rhetorische Langzeitwirkung jedoch auch ihre Berücksichtigung finden, zumal es auch umgekehrt zu Einwirkungen von Diskursen auf 2 Auch hypothetische oder fiktionale Äußerungen haben eine ähnliche latente Persuasionsfunktion, allerdings zielt die Kontextualisierung in diesen Fällen jeweils auf eine „Wirklichkeit“, der ein anderer ontologischer Status zugewiesen wird. 186 Georg Weidacher punktuelles rhetorisches Agieren und Formulieren kommt, da ein Redner sich im Allgemeinen dazu veranlasst sieht, seine Rede mit einem Diskurs zu relationieren, also sie in Hinblick auf vorgegebene Wissenskonstitutions- und Wissenstranskriptionsprozesse zu kontextualisieren. 3 Kontexte und Kontextualisierungen im Zuge rhetorischen Handelns „Die Rhetorik kann gekennzeichnet werden als eine Menge seduktiver Heuristiken, die dazu eingesetzt werden, Gefühle und Stimmungen beim Benützer oder Adressaten der Botschaft zu beeinflussen.“ (Bonsiepe 2008: 28) Oft widersetzen sich RezipientInnen jedoch solchen Beeinflussungs- oder gar Verführungsversuchen, zumal wenn es nicht um die Verstärkung, sondern um die Veränderung ihrer Gefühle, Stimmungen oder auch kognitiven Einstellungen geht. Spätestens wenn eine nicht offen zugegebene bzw. angezeigte Persuasionsintention entdeckt wird, wird der Kommunikationsakt als ein Manipulationsversuch kontextualisiert und werden dem Orator unlautere Motive unterstellt. Die von Knape (2000a: 178 f.) in Anlehnung an Grice als Desiderat eingemahnte „Offenheitsregel“, die besagt, dass der andere von vornherein in der Lage sein muss zu erkennen, dass ein persuasiver Akt vorliegt, kann die genannten Verdächtigungen zwar bis zu einem gewissen Grad abwenden, birgt aber dafür ein Erfolgsrisiko, indem sie die RezipientInnen allererst aufmerksam macht und möglicherweise ihren auf prinzipieller Ablehnung gegenüber Persuasion beruhenden Widerstand auslöst. „Seit alters empfiehlt daher die Rhetorik, die Vorbehalte der Kommunikationspartner durch ästhetisches Spiel zu überwinden und sie so zu bewegen, sich auf Persuasionsakte einzulassen.“ (Knape 2000a: 179) Deutlich erkennbar ist dieses Vorgehen bei Fernsehwerbespots bzw. in der modernen Werbung generell, durch deren ästhetisch-unterhaltsame Gestaltung der Eindruck persuasiven Agierens konzeptuell und performativ vermindert und damit eine unerwünschte Kontextualisierung abgeschwächt werden soll. 3 Abgesehen von dieser zu überwindenden Abwehrhaltung gegen Persuasion per se sieht sich ein Redner aber noch mit weiteren Aufgaben konfrontiert, die in der Überwindung verschiedener kommunikativer Widerstände durch einen „kommunikativen Kraftakt“ (Pasierbsky/ Rezat 2006: 17) des Überzeugens oder Überredens bestehen. Joachim Knape (2000b: 58 ff.) postuliert in seiner Rhetorik-Theorie, dass ein Orator - dieser Begriff inkludiert in einem erweiterten Sinn auch Verfasser geschriebener Texte -, sobald er seine kognitiven und emotionalen Ein- 3 Ein gutes Beispiel ist der 2009 von der FPÖ zum Zweck der Wahlwerbung zur EU-Wahl verbreitete, so genannte „Strache-Comic“, in dem Anti-EU-Propaganda in Form eines Superheldencomics mit dem Parteichef H. C. Strache als Superheld betrieben wird. Textrhetorik und Kontextualisierung 187 stellungen kommunizieren und dazu semiotisch kodieren will, mit kommunikativem Widerstand auf fünf verschiedenen Ebenen rechnen muss, und zwar mit kognitivem Widerstand, Sprachwiderstand, textuellem, medialem und situativem Widerstand. Der kognitive Widerstand besteht darin, dass der Orator einer mündlichen Rede oder der Textautor auf den Rezipienten einwirken will, der jedoch ein an sich autonomes kognitives System darstellt, welches dem Orator nicht direkt zugänglich ist. Daher muss dieser ein projektives Adressatenkalkül (Knape 2000b: 59) unter Zuhilfenahme seiner „Theory of Mind“-Fähigkeit erstellen, auf das hin er sein Kommunikat ausrichtet. „Unter ‚Theory of Mind’ wird dabei verstanden, dass jemand eine Vorstellung (Theorie) des Wissens, Wollens oder Fühlens (also zusammengenommen: Mind) eines anderen gewinnt.“ (Breithaupt 2009: 67 f.) Es handelt sich um eine empathische Leistung, ein Einfühlen in einen anderen, als dessen Ergebnis eine „Theorie“ - weil ja nur ein System von hypothetischen, nicht direkt verifizierbaren Annahmen möglich ist - in Gestalt einer mentalen Konstruktion des anderen entsteht (vgl. Breithaupt 2009: 80). Solche Fremdzuschreibungsleistungen mit ihren Modellierungen von Einstellungen und Meinungen anderer Personen bilden nicht nur den Ausgangspunkt kommunikativen Verhaltens im Allgemeinen, sondern speziell die unabdingbare Grundlage für erfolgreiches rhetorisches Agieren. Schließlich muss ein Orator seine Botschaft so formulieren, dass sie qua Indizierung erwünschter Kontextualisierungen die kognitiven und emotionalen Einstellungen der RezipientInnen anspricht und in der Folge persuasiv auf sie einwirken kann. Der Sprachwiderstand ergibt sich daraus, dass kein Orator und auch kein Textproduzent völlig frei über eine Sprache oder ein anderes Kommunikationsmittel verfügen kann (vgl. Knape 2000b: 60). Da die Bedeutung von Wörtern „a perspective on our knowledge of the world, as seen through the concept profiled by the word“ (Croft/ Cruse 2004: 30) bietet, sieht sich ein Orator mit dem Problem konfrontiert, dass ein Wort aufgrund seines konventionalisierten Gebrauchs, seines darauf beruhenden semantischen Inhalts und seiner bestimmte Kontextualisierungen auslösenden Konnotationen eine Botschaft auf eine Weise perspektiviert, die den Intentionen des Orators möglicherweise entgegensteht. Die „Rhetorizität der Kognition“ (Linz 2004: 248), also ihre Rückbindung an Sprache wie auch ihre Prägbarkeit mittels sprachlicher Konstruktionen wie zum Beispiel Metaphern stellen daher für den Orator zwar einerseits eine Möglichkeit sprachlich-persuasiven Einwirkens auf das Denken und Fühlen von RezipientInnen dar, andererseits aber zugleich eine Gefahr, nämlich die wichtigste Waffe seines rhetorischen Agierens ihrer Schärfe und Präzision zu berauben, was es z.B. durch metasprachliches Formulieren und Re-Formulieren zu verhindern gilt. Auf textueller Ebene eröffnen sich dem Orator oder Textproduzenten besondere Möglichkeiten der Rezipientensteuerung, da er hier die Bedeutungen sprachlicher Zeichen in seinem Sinn kontextualisieren und bis zu einem gewissen Grad ko-textuell determinieren kann. Allerdings läuft dem wie- 188 Georg Weidacher derum die zuweilen nicht zu unterschätzende interpretatorische Widerspenstigkeit des Rezipienten zuwider, die die Interpretation von Texten, auch wenn sie vom Autor noch so konsequent und deutlich perspektiviert wurden, unvermeidlich kontingent macht. Wenn auch Texte „Konstitutionsformen von Wissen“ (Antos 1997) sind, so konstituiert es sich doch nicht gleichsam von selbst und allein durch die Textformulierung des Autors in ihnen, sondern es wird immer aufs Neue in Rezeptionsprozessen (re-)konstituiert. Außerdem lassen sich Texte nicht nach Belieben gestalten. Man muss die Formulierung der Textur an Erwartungen des intendierten Adressaten ausrichten und sich zum Beispiel an konventionalisierte Textmuster halten, auch wenn sie nicht in jeder Hinsicht den eigenen Kommunikations- und Gestaltungsabsichten entsprechen. Zwar können Textmuster als „ordnende Zugriffe auf die Welt“ (Fix 2000) betrachtet und vom Orator/ Textautor als solche genützt werden, aber sie geben als konventionalisierte Textgestaltungsroutinen die Art und Weise des jeweiligen „ordnenden Zugriffs“ auch bis zu einem gewissen Grad vor. Auf diese Weise werden Textmuster, wie Köller (2004: 841 ff.) meint, zu Perspektivierungsmustern, die bestimmte, fallweise vom Textautor nicht beabsichtigte Kontextualisierungen nahe legen. Einen anderen Aspekt des textuellen Widerstands machen Textroutinen aus, d.h. an bestimmte Textsorten gebundene und somit diese auch kontextualisierende „Routinen des Sprachgebrauchs“ (Feilke 2003: 210), die in Form idiomatischer Prägungen das Formulieren von Texten einerseits erleichtern, andererseits aber auch den Textautor in seinen Wahlmöglichkeiten einschränken. Er kann sich zwar der Verwendung solcher routinisierten Formulierungen verweigern oder auch versuchen, neue zu prägen, riskiert damit jedoch, dass RezipientInnen ein nicht von ihm gewünschtes Textmuster, für das ihnen die gewählte Formulierung adäquater erscheint, aufrufen und damit eine von den Intentionen des Textautors abweichende Kontextualisierung vornehmen. Medien im Sinne von sozial-distributiven Tragflächen von Texten werden für den Textproduzenten zu kalkuliert eingesetzten kommunikativen Instrumenten, wobei allerdings auch Widerstand entstehen kann, wenn das optimale Medium nicht vorhanden ist oder wenn Medium oder Mediensysteme durch ihre materiell und systemisch bedingten Strukturdeterminiertheiten dem Textproduzenten und seiner Vorgehens- und Gestaltungsweise ihr Gesetz aufzwingen (vgl. Knape 2000b: 62 f. und Knape 2005: 235), denn „Medien als Mittler der Repräsentation von etwas sind zugleich transformierende Größen“ (Feilke/ Linke 2009: 9), d.h. sie überformen bis zu einem gewissen Grad die Botschaft und setzen dem Orator - welches Medium er auch im Einzelfall nützt - Grenzen, die es bei der Formulierung der Botschaft zu berücksichtigen gilt. Dadurch werden Medien zu für Kommunikationsprozesse relevanten, in manchen Fällen sogar überaus „mächtigen“ Kontexten. Der situative Widerstand schließlich liegt in möglicherweise störenden bzw. den Orator oder Textproduzenten in seiner Kommunikationsintention Textrhetorik und Kontextualisierung 189 behindernden Aspekten des jeweiligen kommunikativen Settings, also z.B. in einem erwartbar „feindlich“ gesinnten oder auch schon in einem relativ unbekannten und damit in seinen Reaktionen schwer auszurechnenden Rezipienten (vgl. Knape 2000b: 63) oder in problematischen örtlichen Gegebenheiten. 4 Dabei muss der Orator zuvor bedenken oder spontan erkennen, wie er auf die situativen Gegebenheiten einwirken - oder zum Beispiel sie ironisierend thematisieren - kann, um seinen persuasiven Absichten trotz der widrigen Umstände eine Chance zu erhalten. Das heißt, dass er Situationselemente durch kommunikatives Agieren in Kontextelemente transformieren muss, falls es nicht möglich ist, ihre ihnen inhärente störende Wirkung auf den Kommunikationsprozess zu unterdrücken. Diese Kontextualisierungen sind zumeist problematisch, zumal der Orator etwas in die von ihm aufgerufenen Kontexte einbeziehen muss, das deren perspektivischer Ausrichtung widerspricht. Falls ihm dies jedoch nicht gelingt, kann es sein, dass die RezipientInnen seine Botschaft nicht aufnehmen, geschweige denn akzeptieren oder gar sich von deren Inhalt überzeugen lassen. Die Rhetorik bzw. der Orator reflektiert, wie sich zusammenfassend feststellen lässt, die Gefährdungen der Kommunikation und versucht, ihnen zuvorzukommen (vgl. Neumann 1995: 67). In dieser Hinsicht gilt die Bestimmung von „Formulieren als Problemlösen“ (vgl. Antos 1982) zwar ganz generell für Kommunikation und das Verfassen von Texten jedweder Art, in besonderem Ausmaß jedoch für persuasives Kommunizieren in Form rhetorischen Agierens. In den „officia oratoris“ 5 oder „Produktionsstadien der Rede“ wird theoretisch, aber auch als praktische Handlungsanweisung beschrieben, in welchen Schritten diese sprachlichen Umsetzungen von Problemlösungen erfolgen. Nach der Klärung des Redegegenstandes, der intellectio, (vgl. Ueding/ Steinbrink 2005: 211 ff.) muss der Orator in der inventio die zum Redegegenstand, also dem jeweiligen Thema, passenden und hinsichtlich seiner Persuasionsintention ihm besonders überzeugend erscheinenden Gesichtspunkte, wie z.B. Beweisgründe oder affektiv wirkende Aspekte, suchen und finden (vgl. Ottmers 2007: 14). Dabei geht es unter anderem ganz zentral darum, zu überlegen, welche semantischen und pragmatischen Kontextualisierungspotenziale in der Rede anzulegen sind, die der Orator dann mit sprachlichen Mitteln anzuvisieren trachtet bzw. die der Rezipient bei der kognitiven Verarbeitung und (Re-)Konstitution der Botschaft einlösen soll. Schließlich ist die Verankerung einer Äußerung in auf vom Orator gewünschte Weise evozierten Kontexten eine entscheidende Voraussetzung 4 Ein Beispiel dafür ergab sich im Zuge des vom ORF gesendeten „politischen Sommergesprächs 2009“ mit dem Vorsitzenden des „Bündnis Zukunft Österreich“, Josef Bucher, das live vom Vorplatz des Salzburger Doms übertragen wurde und in dessen Verlauf das Läuten der Glocken des Doms ein akustisch verständliches Sprechen minutenlang verunmöglichte. 5 Zu den Produktionsstadien der Rede vgl. z.B. (ausführlich) Ueding/ Steinbrink (2005: 211 ff., Göttert (1991: 25 ff.) oder (als kurze Darstellung) Ottmers (2007: 13 ff.) 190 Georg Weidacher für das Gelingen von Kommunikation im Allgemeinen und von rhetorischer Kommunikation im Besonderen. Im Zuge der dispositio werden die gefundenen und in ihrer Nutzbarkeit für die Stützung der Persuasionsabsicht abgewogenen rationalen und emotionalen Überzeugungsmittel in eine sinnvolle und wirkungsvolle Ordnung gebracht (vgl. Göttert 1991: 38), sodass die Argumentation durch den Rezipienten nachvollzogen werden kann bzw. er dazu angeregt wird, sie auf die vom Orator intendierte Weise nachzuvollziehen, ohne dass er durch von der Abfolge verursachte argumentative Brüche und Lücken irritiert wird. Diese Erstellung des inhaltlichen Aufbaus und der grundlegenden Gliederung der Rede bzw. des Textes ist unter anderem der erste Schritt zur Ko-Textualisierung der einzelnen Teile der Botschaft. In der elocutio erfolgt sodann die sprachliche oder bei multimodalen Texten auch anders semiotische Ausformulierung der Botschaft, das, wie es in der klassischen Rhetorik heißt, Einkleiden der in der inventio gefundenen und in der dispositio angeordneten Begriffe (res) in Worte (verba) (vgl. Ueding/ Steinbrink 2005: 218). Es geht aber, wenn man der auf jedwede Art von Kommunikation abzielenden Darstellung von Ludwig Jäger 6 folgt, nicht so sehr um ein bloßes „Einkleiden“ bzw. sprachliches Umsetzen von (sprachunabhängig) vorfindbaren Gedanken, sondern um eine transkriptive Prozessierung im Sinne einer Anwendung symbolischer Praktiken der „Um- , Ein- und Überschreibung“. (Jäger 2004: 71) Das Resultat sollte jedenfalls ein Text sein, dessen sprachliche Ausformulierung das Auslösen des intendierten persuasiven Effekts wahrscheinlicher macht, und zwar dadurch, dass unter anderem dem Rezipienten mittels geeigneter sprachlicher Formulierungen eine schlüssige Ko-Textualisierung erleichtert sowie eine ihm adäquat erscheinende und zugleich vom Orator anvisierte Kontextualisierung ermöglicht wird. Bei allen drei bisher beschriebenen Arbeitsschritten des Orators gilt es im Übrigen mit einem, wie es schon oben genannt wurde, projektiven Adressatenkalkül zu operieren, da das Auffinden und Auswählen von Beweisgründen nur dann Erfolg verspricht, wenn diese nicht nur dem Orator überzeugend erscheinen, sondern sie vielmehr den Rezipienten beeindrucken können. Ebenso muss die in der dispositio erstellte Ordnung, soweit sie sich nicht aus einer angenommenen „natürlichen“ Abfolge (vgl. ordo naturalis; Ueding/ Steinbrink 2005: 216 f.) ergibt, auf den Rezipienten hin ausgerichtet sein, wie auch die sprachliche Formulierung an seinen Sprachgebrauch oder seine Vorstellungen von einer „guten und schönen“, jedenfalls aber dem rhetorischen Anlass gemäßen, passende Kontextualisierungshinweise tragenden Sprache angepasst sein sollte; 7 damit eine Koordination dessen, was 6 Siehe z.B. Jäger (2002 u. 2004). 7 Auf die in der klassischen Rhetorik in diesem Zusammenhang postulierten Stilprinzipien (latinitas, perspicuitas, ornatus und aptum; vgl. Ottmers 2007, 151 ff.), die alle, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, nicht so sehr gleichsam aus sich heraus Textrhetorik und Kontextualisierung 191 gemeint ist, und dessen, was verstanden wird, nicht von einer inadäquaten Formulierung behindert wird. Im vierten Arbeitsschritt, der memoria, geht es hingegen nach klassischer Vorstellung nur um die gedankliche Aneignung der Rede durch den Orator (vgl. Ottmers 2007: 14 u. Ueding/ Steinbrink 2005: 235). Dies ist zwar für einen Redner nicht unwichtig, scheint jedoch in Hinblick auf unser Thema von geringer Relevanz. Neben der memoria zählt auch der als actio oder pronuntiatio bezeichnete letzte Arbeitsschritt, nämlich der konkrete Redevortrag, zu den Performanzstadien der Rede (vgl. Ottmers 2007: 219). Bei der Performanz, also der „gültigen Durchführung einer bestimmten Handlung“ (Auer 1999: 190), in unserem Fall einer Rede, geht es um die adäquate konkrete „Aufführung vor dem Publikum“ in Form einer gestischen, mimischen und körpersprachlichen rednerischen Aktion und einer stimmlichen Präsentation (vgl. Ottmers 2007: 14). Auch die Performanz der Rede ist wiederum in ihrer Ausgestaltung stark situationsgebunden bzw. kontextualisiert ein Orator seine Äußerungen auch im Zuge der performativen Umsetzung zum Beispiel durch ein feierliches Gebaren oder in einem anderen Fall durch eine saloppe Aussprache und einen kolloquialen Ton. 4 Textrhetorik und Kontextualisierung Unter Textrhetorik soll die sprachlich-textuelle Umsetzung einer Persuasionsintention in einem Text verstanden werden. Die Spezifika der Textrhetorik gegenüber der Rhetorik insgesamt, die von ihren klassischen Ursprüngen an mündliche Reden fokussiert hat, ergeben sich aus den Eigenarten textueller Kommunikation. Da sich ein Textorator nicht auf zusätzliche Hilfsmittel stützen kann, muss er - weit mehr noch als ein Redner - „[…] seine Intention im Text implementieren und dabei Persuasion Textstruktur werden lassen.“ (Knape 2000b: 111) Vom Textautor ist somit ein verstärkt „poietisches Handeln“ gefordert, dessen Ergebnis ein „Sprachwerk“ im Sinne Bühlers (1999: 53 f.) ist, in das die Beeinflussungsbemühungen vollständig eingeprägt werden (vgl. Antos 2009: 410 f.). Da er den Text nicht mehr sprechen kann, muss der Text für sich sprechen - und für die Persuasionsabsichten des Autors. Im Zuge der elocutio geht es dabei für den Textorator um die sprachliche Formulierung, aber auch um die grafische und typografische Gestaltung des Textes, genauer: der Textur. Es ist dies der zentrale Ort der Transkription, wenn diese auch schon im Rahmen von inventio und dispositio beginnt. Da, wie oben festgestellt, der Text sozusagen für sich spricht und die Last der Gültigkeit haben, sondern als auf konkrete Redesituationen hin abgestimmt betrachtet werden müssen, kann aus Platzgründen hier nicht näher eingegangen werden. Dem aptum wird jedoch mit Kap. 5.5 noch ein eigener Abschnitt gewidmet, da dieses Prinzip für unser Thema von besonderer Relevanz ist. 192 Georg Weidacher Persuasion alleine trägt, müssen die Rezeptions- und Kontextualisierungshinweise noch deutlicher sein und muss die Umsetzung der Persuasionsintention noch genauer auf die Einstellungen der antizipierten RezipientInnen hin ausgerichtet sein, was jedoch aufgrund der „Haltbarkeit“ von Texten problematisch werden kann, wenn sie im Zuge ihrer Überlieferung andere als die intendierten AdressatInnen erreichen oder wenn sich die Kontextualisierungsrichtung von „contextualization cues“ (vgl. Gumperz 1982: 131 ff.) mit der Zeit verändert hat. So kann z.B. eine bestimmte Ausdrucksweise oder eine typografische Gestaltung als Hinweis auf Modernität intendiert sein, aber nach einiger Zeit oder bei RezipientInnen, für die diese Ausdrucks- oder Gestaltungsweise schon veraltet ist, einen gegenteiligen Eindruck erwecken, wobei hier noch das zusätzliche Problem hinzukommt, dass die „erstarrte Gestalt“ von Texten ein nachträgliches bzw. on-line Reagieren des Orators unmöglich macht. Ein einem Text im Zuge der elocutio eingeschriebener Fehler verbleibt dort und verstärkt möglicherweise kommunikative Widerstände noch mehr, als dass die Formulierung zu ihrer Überwindung beiträgt. Die Adaptierung der actio für schriftliche Kommunikation (vgl. Sauer 2004: 93) scheint auf den ersten Blick problematischer, zumal ein schriftlicher Text nicht vorgetragen, nicht im selben Sinn „aufgeführt“ wird wie eine mündliche Rede. Da man unter actio aber allgemeiner die tatsächliche Verwirklichung rhetorischer Kommunikation verstehen kann, und diese bei textueller Kommunikation in Form eines sprachlichen oder multimodalen Produktes, können unter diesem Punkt Handlungen wie die Schriftbzw. typografische Druckgestaltung an sich sowie die Durchführung des in dispositio und elocutio konzipierten Lay-outs subsumiert werden. Auch ein Text wird semiotisch inszeniert und per Veröffentlichung im kommunikativen Raum zur Aufführung gebracht, wobei es zur semiotischen Implementierung von Kontextualisierungsanreizen, z.B. in Form bestimmte Kontexte aufrufender Schrifttypen, kommt. Wiederum kann der Textorator jedoch nur die Inszenierung rhetorisch vorgeben, aber dann nicht mehr in die Aufführung selbst eingreifen. Textrhetorik konstituiert sich somit nicht zuletzt durch den Versuch, Kontextualisierungen zu indizieren und Kontexte vorweg festzulegen bzw. mit Inhalten und Intentionen persuasiv zu koordinieren. 5 Textrhetorische Strategien des Kontextualisierens 5.1 Sozio-situative Kontextualisierung Wie schon in der Einleitung angemerkt, bedarf rhetorisches Agieren im Allgemeinen eines Anlasses, d.h. einer Situation, deren Parameter Strittigkeit in zumindest einem Punkt nahe legen und damit ein persuasives Handeln mehr oder weniger stark einfordern und zugleich Persuasion Erfolg versprechend erscheinen lassen. In Anlehnung an Aristoteles kann man Textrhetorik und Kontextualisierung 193 solch eine Situation als „kairos“, als „rechte Gelegenheit“ (Aristoteles 2004: 111) bestimmen oder als günstigen Augenblick, handelnd - und speziell rhetorisch handelnd - einzugreifen. Dabei wird der Kairos als Krise erfahren, als eine Situation, die auf ein Handeln drängt, zugleich bietet er eine Möglichkeit die Krise zu lösen und gibt bis zu einem gewissen Grad das Maß vor, mit dem das ihm angemessene von einem unangemessenen Handeln, das z.B. in einem Unterlassen rhetorischen Agierens bestehen kann, zu unterscheiden ist (vgl. Mertens 2000: 298). Er eröffnet also einem an der Situation Beteiligten einen Handlungsspielraum z.B. in der Form, dass dieser als Orator agieren kann, engt diesen Spielraum aber im selben Moment ein. Auf diese Weise wird der Kairos als Situation zu einem wirkmächtigen Kontext, da er vom (sprachlich) Handelnden für die Kommunikation relevant gesetzt, in sein Agieren einbezogen und somit kontextualisiert wird. Im Zuge dessen typisiert der als Orator Handelnde die Situation und deren von ihm als relevant betrachtete räumliche und soziale Parameter und erstellt kognitiv ein mentales Kontext-Modell (vgl. van Dijk 2009: 249), das sodann als der eigentliche Kontext der Kommunikation fungiert. 8 Dieses die Situation interpretierende, zugleich aber sie auch kognitiv erst als Kontext konstituierende Vorgehen widerspricht im Übrigen bis zu einem gewissen Grad der Annahme (vgl. dazu Hetzel 2007: 88), der Kairos, der günstige Augenblick, lasse sich niemals intentional herbeiführen. Zwar ergibt sich der Kairos in vielen Fällen quasi von selbst und liefert situative Vorgaben für den Redner, aber dieser vermag zuweilen eine sein rhetorisches Agieren erst ermöglichende Situationsinterpretation zu entwickeln und sein darauf aufbauendes Kontext-Modell für die Kommunikation und bei den RezipientInnen zu etablieren, wodurch er z.B. einen seinen sprachlichen Persuasionsversuch be- oder gar verhindernden situativen Widerstand überwinden kann. Diese sozio-situative Kontextualisierung einer Situation als Kairos für rhetorisches Handeln stellt jedoch nur den ersten Schritt für den Orator - oder auch einen Textautor - dar. Darüber hinaus muss er in seinem Kontext- Modell die sozio-situativen Faktoren der Redesituation parametrisieren und dann dementsprechend sein kommunikatives Handeln ausrichten und seine Äußerung oder seine Textur formulieren, ein rhetorisches Vorgehen, das in folgendem Beispiel, einem (für diese Arbeit anonymisierten) Entschuldigungsmail eines Studierenden an eine Lehrveranstaltungsleiterin, erkennbar wird: 8 Dass und warum nicht die Situation an sich, sondern erst ihre Interpretation in Form eines mentalen „context models“ den Kontext eines Textes oder anderen kommunikativen Aktes bildet, wird in Portmann-Tselikas/ Weidacher (in diesem Band) näher ausgeführt. 194 Georg Weidacher Sehr geehrte Frau Mag. M.-P., Leider muss ich mich nachträglich dafür entschuldigen, dass ich beim heutigen Bewerbungstraining nicht teilnehmen konnte. Wegen einer plötzlich auftretenden Lebensmittelvergiftung war es mir unmöglich, dass Haus zu verlassen. Mit freundlichen Grüßen, YZ PS: Geben Sie Acht vor japanischem Essen! ! ! Mittels der Anrede und auch der gerade für ein E-Mail recht förmlichen Ausdrucksweise wird das soziale Verhältnis, das in dem sich aufgrund des zu entschuldigenden Versäumnisses ergebenden Kairos vorangelegt ist, zunächst als ein distanziertes parametrisiert, wodurch das Kontext-Modell in diesem Punkt dementsprechend konstituiert wird. Anders ausgedrückt fungieren Anrede und Formulierung als „contextualization cues“, die es der Rezipientin ermöglichen sollen, den Text auf eine adäquate Weise zu kontextualisieren. Möglicherweise um die dadurch entstehende soziale Distanz etwas zu verringern, ändert der Textorator im „PS“ sein rhetorisches Agieren, indem er eine persönliche Bemerkung an das Mail anschließt. Dies bewirkt - zumindest, wenn es bei der Rezipientin auf Akzeptanz stößt - eine Veränderung des aufgerufenen Kontextes bzw. eine teilweise Neuausrichtung des Kontext-Modells, was wiederum vom Textorator offenbar als ein geeignet empfundenes rhetorisches Mittel intendiert ist, um das perlokutionäre Persuasionsziel, die Annahme der Entschuldigung, zu erreichen, wobei dieser vom übrigen Text abweichenden Formulierung ein Adressatenkalkül zugrunde liegt, das ebenfalls einen Aspekt der hier vorliegenden oder zumindest versuchten sozio-situativen Kontextualisierung darstellt. 9 5.2 Diskurs-Kontextualisierung oder Diskursivierung Primäres Ziel eines Textautors ist es, dem Rezipienten eine Textur vorzulegen, auf deren Basis dieser rezipierend ein kohärentes Textmodell aufzubauen vermag. Allerdings genügt diese - im Übrigen ohne eine grundlegende Kontextualisierung schon prinzipiell unmögliche - Kohärenzbildung für sich alleine, zumal in persuasiver Kommunikation, nicht den Intentionen des Senders. Vielmehr muss er vermittels der Textur den Rezipienten auch dazu anregen, eine Anbindung der Informationen an einen Diskurs vorzunehmen. Schließlich ist Diskursivität (vgl. Warnke 2002: 136), also die Relationierung von Texten mit anderen Texten, nicht nur ein grundlegendes Merkmal textueller Kommunikation, sondern auch ein Weg für TextproduzentInnen, das von ihnen konstitutierte und vorgelegte Sinnpotenzial in einen Diskurs im Sinne eines historisch bedingten Produkts der kulturellen 9 Ein ganz anderes Beispiel sozio-situativer Kontextualisierung liegt bei der Übertragung der Neujahrsansprache des österreichischen Bundespräsidenten vor, die im feierlichen Rahmen der Hofburg aufgenommen, in einem getragenen Duktus gesprochen und zur besten Sendezeit gesendet wird - alles „contextualization cues“, die auf einen höchst offiziellen, ernsten und festlichen Kontext verweisen. Textrhetorik und Kontextualisierung 195 Kategorisierung der Realität (vgl. Warnke 2002: 134) einzubetten, sodass ihre Vorstellung von Wirklichkeit auch den RezipientInnen nahe gelegt wird, ein über den aktuellen Kairos hinausreichendes Ziel persuasiven Kommunizierens, dessen Bedeutung schon in Kap. 2 angesprochen wurde. Diese unabdingbare Anbindung von Äußerungen und Texten an Diskurse wird auch als rhetorische Strategie eingesetzt, in welchem Fall sie als Diskursivierung oder Diskurs-Kontextualisierung bezeichnet werden kann. Eine solche Diskurs-Kontextualisierung als rhetorisches Mittel liegt in folgendem Textbeispiel, entnommen der Website der Universität Graz, vor: Nachhaltige Organisation Das Prinzip der Nachhaltigkeit stellt für Universitäten von heute nicht nur einen Forschungsgegenstand dar, sondern ist auch ein Leitbild für die universitäre Entwicklung selbst. Dabei geht es vor allem darum, die universitären Entwicklungen aus ökologischen, ökonomischen, sozialen und institutionellen Gesichtspunkten umsichtig und innovativ zu gestalten. Indem die Universität Graz in Lehre, Forschung, Weiterbildung und Verwaltung mehr Verantwortung für nachhaltiges Handeln übernimmt, gewinnt sie auch eine Vorbildfunktion für die Gesellschaft. Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit soll bei allen MitarbeiterInnen der Universität kontinuierlich gefördert werden. Planst Du für ein Jahr, so säe Korn, planst Du für ein Jahrzehnt, so pflanze Bäume, planst Du für ein Leben, so bilde Menschen. Kuan Tzu (http: / / www.uni-graz.at/ geo2www/ geo2www_nachhaltige_organisation.htm) Bei der Darstellung der Organisation der Universität und der ihr zugrunde liegenden Prinzipien wird eine Anbindung an einen allgemeinen sozioökonomischen und politischen Diskurs vollzogen, der die von der Ökologiebewegung initiierte Nachhaltigkeitsproblematik thematisiert. Von einer rhetorisch motivierten Diskurs-Kontextualisierung kann hier gesprochen werden, da „Nachhaltigkeit“ zu einem diskursprägenden Begriff geworden zu sein scheint, mit dessen Hilfe als „contextualization cue“ 10 eine Diskursivierung des Textes angezeigt werden kann, durch die eine bestimmte, vom Textorator intendierte Sicht auf die im Text porträtierte Universitätsorganisation rhetorisch etabliert wird. Dabei ist noch anzumerken, dass hier offenbar eine positive Konnotation des Begriffs „Nachhaltigkeit“ präsupponiert wird, was ein Beleg für die gerade bei Diskursivierungen stets zu beachtende, von Schwarz-Friesel (2007: 170) aufgezeigte Kontextabhängigkeit von Konnotationen ist. 11 Schließlich wäre „Nachhaltigkeit“ in einer Wendung wie „nachhaltige 10 Im weiteren Sinn, wie in Portmann-Tselikas/ Weidacher (in diesem Band) dargestellt. 11 Schwarz-Friesel (2007: 170) exemplifiziert die Kontextabhängigkeit von Konnotationen anhand der miteinander verknüpften Adjektive „blond und blauäugig“, die, speziell wenn dies ko-textuell durch ideologisch geprägte Begriffe indiziert ist, einen nationalsozialistischen Kontext aufrufen können, in anderen Fällen aber „harmlos“ sind: „Das Baby war blond und blauäugig und lachte mich an.“ 196 Georg Weidacher Schäden“ (z.B.: „Der Orkan/ der Chemieunfall/ die fehlerhafte gesetzliche Regelung hat nachhaltige Schäden angerichtet.“) keineswegs positiv konnotiert. Im obigen Textbeispiel jedoch sorgt der Textorator mittels anderer eindeutig positiv konnotierter Begriffe wie „Vorbildfunktion“ und vor allem „Verantwortung“ für eine klar eine Wertungsrichtung signalisierende Kontextualisierung. Außerdem kann er sich auf die via die Diskurs-Kontextualisierung quasi mitgelieferten wertenden Konnotationen stützen, um so sein Persuasionsziel, die Akzeptanz einer positiven Präsentation der Universität, zu erreichen. Zugleich unterstützt er damit die Prägung des betreffenden Diskurses und trägt so zur Etablierung des Konzeptes von „Nachhaltigkeit“ als dominantem positiven Wert im allgemeinen Universitätsorganisationsdiskurs bei. 5.3 Framing im Sinne des NLP 12 Nicht unähnlich der Diskursivierung ist die rhetorische Strategie des Framings, die jedoch so, wie sie in diesem Kapitel verstanden werden soll, nämlich im Sinn der rhetorischen Technik des NLP, des Neurolinguistischen Programmierens, weiter gefasst ist und bei der die Differenzierung von sozio-situativer Kontextualisierung und Diskursivierung konzeptuell vernachlässigt wird. Die Grundlage für das Framing im Ansatz des NLP findet sich im Bereich der Sozial- und Kognitionswissenschaften, wo Frames als „Deutungsmuster“ (Dahinden 2006: 193 f.) definiert werden. Das heißt, es handelt sich um Wissensrahmen, die aufgrund der kognitiven Verarbeitung von Informationen gespeichert und in der Folge als kognitiv verfügbare Muster zur Interpretation neuer Informationen herangezogen werden. Daraus ergibt sich ihr Potenzial für rhetorisches Agieren, denn „[f]rames are mental structures that shape the way we see the world. As a result, they shape the goals we seek, the plans we make, the way we act, and what counts as a good or bad outcome of our actions.” (Lakoff 2004: XV) Indem Kommunikationsprozessen bzw. ihren Inhalten solche mentalen Strukturen übergestülpt werden und auf diese Weise ihr Verständnis analog zum jeweils aufgerufenen Frame geformt wird, erfolgt das Aufrufen des Frames als Kontext und damit eine Kontextualisierung, deren intendierte Ausrichtung den persuasiven Effekt einer Kommunikationshandlung verstärkt oder gar erst bewirkt. Diese Form der Kontextualisierung wird im NLP als Framing oder, wenn es um die Änderung einer schon bestehenden Kontextualisierung geht, als Re- Framing bezeichnet. Ziel ist dabei eine Wirklichkeitskonstitution, die es aus Sicht des Senders sozial durchzusetzen gilt. 12 Anzumerken ist hier, dass „Framing“ auch und vor allem ein Begriff der kognitiven Linguistik ist; hier jedoch wird seine Rolle für die Technik des NLP skizziert, wobei es in der Begrifflichkeit Überschneidungen, aber auch Abweichungen gibt. Textrhetorik und Kontextualisierung 197 Anzumerken ist hier aber, dass im NLP mit „Frame“ oder „Rahmen“ weniger oder zumindest nicht so explizit ein gespeichertes Deutungsmuster angesprochen wird, sondern eher die konkrete kognitive und auch emotionale Deutung eines Kommunikationsprozesses oder anderen Ereignisses selbst: Mit einem Rahmen im psychologischen Sinne ist ein genereller Fokus, eine Ausrichtung von Gedanken und Handlungen während einer Interaktion gemeint. Ein Rahmen bezieht sich auf den kognitiven Kontext eines Ereignisses oder einer Erfahrung. […] Rahmen haben einen sehr starken Einfluss auf die Interpretation spezifischer Erfahrungen und auf die Art, wie auf sie reagiert wird, […] (Dilts 2005: 30) Nun kann diese „Ausrichtung von Gedanken und Handlungen“ aus Sicht eines Orators unerwünscht sein, weshalb er ein Re-Framing anstreben wird, etwa ein „Kontextreframing“ (vgl. Mohl 2006: 197 f.), das darin bestehen kann, dass z.B. als Ziel des Baus eines Wasserkraftwerks nicht die Gewinnsteigerung eines Energiekonzerns genannt wird, sondern ökologische Vorteile (Klimaschutz, Aufstiegshilfen für Fische) oder eine Erweiterung des Freizeitangebots betont werden, wodurch eine geänderte Kontextualisierung veranlasst werden soll. Ein anderes, konkretes Beispiel eines Framings in diesem Sinn findet sich in folgendem Textausschnitt: Wien. - Sie sind seit Jahresbeginn in Autobuskolonnen aus den ärmsten Provinzen des Balkans unterwegs nach „Schengenland“: Die EU hatte am 1. Jänner die Visapflicht für Serbien und Mazedonien aufgehoben. Seither rollt ein Menschen-„Tsunami“ nach Europa. Alles nur Touristen? (Kronen Zeitung, 07.03.2010, S. 2) In diesem Lead zu einem Zeitungsartikel über die Auswirkungen der Aufhebung der Visapflicht für Serbien und Mazedonien durch die EU wird nicht nur eine Zunahme der Einreise von Menschen aus den genannten Balkanländern behauptet, sondern dieses Ereignis zugleich wertend gerahmt. Dies erfolgt am deutlichsten durch die Metapher „Tsunami“, die impliziert, dass es sich erstens um eine große Zahl bzw. Masse handelt, was im Übrigen die Menschen auch entindividualisiert, und dass dies zweitens eine Katastrophe ist. Zu diesem Framing tragen auch die Formulierungen „in Autobuskolonnen“ und „aus den ärmsten Provinzen“ bei, die wohl auch die Assoziation „Flüchtlings- oder Migrationsbewegung“ hervorrufen sollen. Abgerundet wird diese sprachlich indizierte Kontextualisierung durch die rhetorische Frage: „Alles nur Touristen? “, die die angesprochene Reisetätigkeit durch die mittels des Ko-Textes vorbereitete negative Antwort in einen nicht-touristischen und somit, wie evaluativ präsupponiert 13 wird, negativ konnotierten Frame stellt. 13 Zu solchen evaluativen Präsuppositionen bzw. „evaluative assumptions“ vgl. Fairclough (2003: 171 ff.). 198 Georg Weidacher 5.4 Ethotisches und pathotisches Argumentieren Eine besondere Form des Kontextualisierens liegt vor, wenn ein Orator die Darstellung seiner selbst bzw. die seiner AdressatInnen im „context model“ fokussiert und auf eine intendierte Weise auszurichten versucht, indem er sich oder sein Publikum mit einem bestimmten Kontext verbindet. Ethotisches Argumentieren (vgl. Richardson 2007: 159 f.) kann, wie schon die klassische Rhetorik festgestellt hat, mittels (positiver) Präsentation der eigenen Person den persuasiven Erfolg rhetorischen Agierens erleichtern, in manchen Fällen erst garantieren, denn „[…] Redlichkeit und Festigkeit gilt es zu erweisen, so daß dem Redner immer die Funktion eines Vorbildes zukommt.“ (Ueding/ Steinbrink 2005: 281) Zentral geht es dabei für den Orator um die Erlangung von Glaubwürdigkeit (vgl. Mayer 2007: 17 ff.) und darum, dass ihm die RezipientInnen seiner Rede oder seines Textes vertrauen. Gerade weil es bei der Thematisierung komplexer Problematiken nicht immer möglich ist, durch sachliche Informationen allen AdressatInnen eine ausreichende Basis für eine eigenständige Beurteilung der Sachlage zu bieten - oder auch weil ein Orator gar keinen allzu eigenständigen und möglicherweise nicht seiner Intention entsprechenden Entscheidungsprozess wünscht -, aber auch ganz prinzipiell bei jedwedem rhetorischem Akt muss dem Orator daran gelegen sein, dass ihn die rhetorisch Agitierten als vertrauenswürdigen Charakter empfinden und ihn auf diese Weise kontextualisieren. „Pathos is used in a rhetorical argument to move the audience from one emotional state to another.“ (Richardson 2007: 160 f.) Das heißt, im Falle pathotischen Argumentierens 14 versucht der Orator seine AdressatInnen emotional zu bewegen, für sie einen für sein rhetorisches Ziel vorteilhaften emotionalen Kontext aufzurufen. Als konkretes Beispiel für sowohl ethotisches als auch pathotisches Argumentieren kann die Kronen Zeitung bzw. das in 5.3 analysierte Textbeispiel noch einmal herangezogen werden: Einerseits präsentiert sich die Kronen Zeitung schon durch einen Zusatz in ihrem Logo als „unabhängig“, was in impliziter Gegenüberstellung zu anderen Zeitungen und deren angedeuteten politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen Vertrauenswürdigkeit suggerieren soll (ethotisches Argumentieren). Andererseits wird durch die stark negativen Formulierungen im konkreten Beispieltext versucht, eine „Leidenschaftserregung“ (Ueding/ Steinbrink 2005: 281) bei den LeserInnen zu bewirken, die als emotionaler Kontext das Fundament für den Persuasionserfolg, die Ablehnung der EU-Verordnung, bilden soll (pathotisches Argumentieren). 14 Zum Pathos allgemein vgl. auch Ueding/ Steinbrink (2005: 281 f.). Textrhetorik und Kontextualisierung 199 5.5 Äquilibrierung In Anlehnung an Ortner/ Sitta (2003: 48 ff.), die das Piaget‘sche Konzept des Äquilibre bzw. der Äquilibration etwas modifiziert auf sprachliche Kommunikation im Allgemeinen anwenden, kann Äquilibrierung auch als eine rhetorische Strategie verstanden werden, die darin besteht, dass einzelne Aspekte einer Kommunikationssituation miteinander verrechnet werden und ein koordinierter Gleichgewichtszustand zwischen den Situationsinterpretationen, also zuvorderst den Kontextualisierungen, der KommunikantInnen erreicht wird. Ein entscheidender Faktor ist dabei, dass der Orator seine Formulierungen in den indizierten Kontext einpasst, sodass auch der Rezipient sie als dem Kontext adäquat empfindet. In der Rhetorik wird die Äquilibrierung, wie sie hier verstanden wird, bis zu einem gewissen Grad unter dem Stilprinzip des „aptum“, der „Angemessenheit“, erfasst. Beim „aptum“ handelt es sich um „das grundlegende regulative Prinzip der Rhetorik“ (Ueding/ Steinbrink 2005: 221), das als „situative Sprachhandlungsnorm“ (Ottmers 2007: 158) vor allem die Vorgangsweise des Orators oder Textautors im Zuge der elocutio leiten soll. Zu unterscheiden sind dabei ein „inneres aptum“, das das angemessene Verhältnis aller Bausteine und Teile der Rede oder des Textes untereinander betrifft (vgl. Ueding/ Steinbrink 2005: 223) und das dieser Definition zufolge als äquilibrierende Ko-Textualisierung verstanden werden kann, und ein „äußeres aptum“, das die Einpassung der Rede und ihrer Elemente in die außersprachlichen Gegebenheiten der rhetorischen Kommunikationssituation reguliert. So muss z.B. der Stil einer Rede oder eines Textes dem jeweiligen Publikum und der besonderen Redesituation angepasst werden. Die sich in dieser Beschreibung vor allem des äußeren aptums offenbarende „Macht des Kontextes“, also der als für die Ausformulierung der Rede relevant gesetzten Situationselemente, drückt sich auch in Surmas (2005: 20) auf schriftliche Kommunikation abhebende Reformulierung des aptum-Prinzips unter der Bezeichnung „appropriateness“ aus: „Appropriateness suggests a sensitivity to the demands of context and of writers and readers.“ Dabei bleibt jedoch unbeachtet, dass der Kontext zwar in Bezug auf vorgegebene Situationselemente, aber konkret als Kontext erst durch die Formulierung der rhetorischen Äußerung konstituiert wird. Das heißt: Ähnlich wie zur Erreichung eines inneren aptums mittels wechselseitiger Akkomodierung, Adaptierung und Relationierung von Textelementen im Zuge der Ko- Textualisierung, liegt auch dem Anstreben eines äußeren aptums eine nicht nur einseitige, allein auf der sprachlichen Formulierung beruhende Äquilibrierung zugrunde. Es wird zwar im Allgemeinen nicht die Situation durch ein bestimmtes rhetorisches Agieren an die Rede angepasst, sehr wohl aber kann die Rede das Kontext-Modell zur Kommunikationssituation restrukturieren, indem sie einige Situationselemente verstärkt kontextualisiert, andere hingegen auszuschließen versucht. Es muss daher auch die andere Richtung der Äquilibrierung, als die im aptum-Konzept ange- 200 Georg Weidacher sprochene, ihre Berücksichtigung finden, um die Relationierung von Rede/ Text und Kontext adäquat erfassen zu können. 6 Schluss Dass Kontexte für das Agieren eines Orators von überragender Bedeutung sind, war schon den klassischen Rhetorikern bewusst. Einige Aspekte, wie und an welchen Stellen rhetorischen Handelns diese Relevanz schlagend wird, wurden hier aufgezeigt und in einen textlinguistischen Rahmen gestellt. Dabei sollte evident geworden sein, dass zwar die Kontexte Macht auf die Rede- und Textformulierungen ausüben, dass sie dies aber eigentlich erst tun können, wenn sie ihrerseits mittels der sprachlichen Formulierungen zugleich indiziert und konstituiert worden sind. Die Relationierung von Text und Kontext stellt jedenfalls nicht nur ein sine qua non jedweder gelingender Kommunikation dar, sondern sie kann auch strategisch-rhetorisch genützt werden. Sie ist ein entscheidender Faktor dabei, auf AdressatInnen persuasiv einwirken zu können, und somit ein grundlegendes Element der Rhetorik. Literatur A NTOS , Gerd (1982): Grundlagen einer Theorie des Formulierens. Textherstellung in geschriebener und gesprochener Sprache. Tübingen: Niemeyer (= RGL 39). A NTOS , Gerd (1997): „Texte als Konstitutionsformen von Wissen. Thesen zu einer evolutionstheoretischen Begründung der Textlinguistik“. In: Gerd Antos/ Heike Tietz (Hrsg.): Die Zukunft der Textlinguistik. 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Peter Klotz Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben Sprachliche, soziopragmatische und kulturelle Aspekte 1 Annäherung an eine Affinität Kontexte sind als Mitgemeintes und Mitverstandenes Komponenten des Sprachhandelns. Texte sind mehr oder weniger komplexe Handlungen, und sie sind (Makro-)Zeichen für Sachverhalte, die sich sprachlich fassen und kommunizieren lassen. Da Sachverhalte letztlich nicht für sich bestehen und mit weiteren Sachverhalten verbunden sind, sind Texte spezifizierende Thematisierungen, die ihre Kontexte dergestalt mit aufrufen, dass sie auf der Seite des Verfassers mit in den Fokus gebracht und mehr oder weniger implizit bzw. explizit sprachlich und pragmatisch formuliert werden. Der Rezipient/ die Rezipientin mag dem Text darin weitgehend folgen, oder aber den thematisierten Sachverhalt durch eigenes Weltwissen mit anderen Kontexten in Verbindung bringen. M.a.W., die Anbindung der Kontexte an Texte ist keineswegs beliebig, sondern variiert nach Weltwissen, Interessen und Situation der Kommunizierenden. Wenn dies so ist, dann ist der Kontext-Begriff schwierig zu fassen: Er scheint unabdingbar notwendig im Zusammenhang mit dem Makrozeichen Text, andererseits differieren die Abhängigkeiten bzw. Zwänge für die Hereinnahme der Kontexte in den Kommunikationsprozess so erheblich, dass sich fast der Eindruck von Beliebigkeit ergeben könnte. - Ein Perspektivenwechsel in Bezug auf die Abhängigkeitsverhältnisse Text - Kontext verdeutlicht dies: Nicht nur rufen manifeste Texte (Eco 1990) Kontexte auf, sondern Texte entstehen unter Berücksichtigung, Beachtung oder gar Zwängen von Kontexten. Texte sind somit keine freien Gebilde bzw. Entitäten, sondern sie sind Resultate von sachlichen, sprachlichen, kommunikativen, soziokulturellen und interessegeleiteten Bedingungen. Die Fragen für den Zusammenhang Text - Kontext müssen also darauf abzielen, welche Bedingungen Kontexte für Texte relevant machen und welche Texte für Kontexte. Da Texte als Sprachhandlungen nur innerhalb von mehr oder weniger konventionalisierten Textsorten manifest werden, gilt es, über die Zusammenhänge von Kontext und Text im Rahmen von konkreten Textsorten nachzudenken. Dann müsste sich zeigen, innerhalb welcher Kontexte Texte entstehen, welche sie in sich mehr oder weniger explizit aufnehmen (müssen) und welche im Verstehensprozess soziokulturell und konventionell 204 Peter Klotz einbezogen werden und welche sich im Prozess des Textverständnisses Raum schaffen. Dass im Folgenden die deskriptive Sprachhandlung exemplarisch herangezogen wird, begründet sich mehrfach: Diese Textsorte hat gegenüber dem Erzählen und Argumentieren als besonders wichtigen Kommunikationsformen weit weniger Beachtung gefunden und ist somit „offener“ für Beobachtungen. Sie gilt gemeinhin als ebenso notwendig wie unspektakulär gerade wegen der ihr - fälschlicherweise, wie noch zu zeigen sein wird - zugeschriebenen Maximen Genauigkeit, Vollständigkeit, Objektivität und Anschaulichkeit. Sie ist aber recht eigentlich besonders kontextsensitiv, auch wenn dies nicht sofort so scheinen mag. Da sie unmittelbar an Wahrnehmung und deren Versprachlichungsmöglichkeiten geknüpft ist und da sie mit den Kriterien „objektiv“ und „anschaulich“ verbunden wird, wird sie meist daran gemessen, ob sie ein „So ist es“ zu erfüllen vermag. Verlässt man aber solche nicht zu rechtfertigenden Zuschreibungen und fokussiert die in der Textsorte und ihrer Verwendung implementierte Intentionalität, dann wird deutlich, dass sowohl sachlich anzubindende Kontexte als auch kommunikativ justierende Kontexte den deskriptiven Formulierungsbzw. Verstehensprozess begleiten und beeinflussen. Bezieht man überdies die Kontextsensitivität des deskriptiven Gestus mit ein, wird klar, dass er vor allem dazu geeignet ist, selektiv zu thematisieren und somit bestimmte Zusammenhänge aufzurufen. Noch allgemeiner ausgedrückt: Beschreiben spiegelt die Wahrnehmung von Welt, und es spiegelt die Wahrnehmungsfähigkeit und -intensität des Beschreibenden. Es ist eine Form der Begegnung mit Welt, die registriert, zuordnet und spezifische Zusammenhänge herstellt. Doch so sehr dies an die individuellen Sinne, an das individuelle Fühlen und Denken gebunden sein mag, Wahrnehmen und darüber sprachlich Handeln ist letztlich kulturell und sozial in hohem Maße bestimmt. Und das heißt nichts anderes, als dass - so die These - die Kontexte in hohem Maß ihre Macht entfalten: Sie bestimmen Wahrnehmen und Beschreiben mit. Diese Konstellation ist hier Thema: Zum einen, weil so die Thematisierung des Bewusstseins als partiellem Resultat der soziokulturellen Bindungen explizit möglich wird. Sie formen das Denken und Fühlen, das Wahrnehmen und Erfahren wesentlich mit. Zum anderen scheint neben dem Erzählen das Beschreiben jene grundständige Sprachhandlung zu sein, mit der ein Ich seine Begegnung mit Welt, seine Erfahrungen ausdrücken und in Einsicht und Erkenntnis umwandeln kann. Darüber hinaus findet sich der deskriptive Gestus nicht nur in der Makro-Textsorte „Beschreibung“, sondern er ist Bestandteil fast jeder anderen Textsorte (vgl. Janle 2009: bes. Kap. 4): Wo sprachlich gehandelt wird, bedarf es der Darstellung der beteiligten Sachen und Sachverhalte sowie der Betroffenen. Der deskriptive Gestus „stattet aus“, lenkt den Blick, auch den geistigen und affektiven, „benennt“ im weitesten Sinne. Die Annäherung an Beschreiben und seine Kontextualität sei im Folgenden durch eine mediale Doppelung versucht, nicht zuletzt deshalb, weil der Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 205 Kontextbegriff ja keineswegs nur sprachbezogen verwendet wird. Geeignet für eine solche Annäherung erscheinen die Medien Sprache und Bild. Sie sollen in quasi heuristischer Weise auf den Weltausschnitt Landschaft, Garten und Park deshalb bezogen werden, weil eine eigentümlich erhellende Affinität zwischen diesem Weltausschnitt und der kommunikativen Verwendung von Kontext zu bestehen scheint: Beide sind Konstrukte in Kontinua, nämlich in der konkreten Welt und in der Welt der Zeichen, beide sind durch Grenzziehungen gekennzeichnet, die zwar vorhanden sind, aber sich doch nicht immer so genau ausmachen lassen - Grauzonen und Übergänge gehören gewissermaßen zu ihrer Spezifik. Und so interessiert, was gerade durch den deskriptiven Gestus, was mittels Zeichen inszeniert und was mittels Thematisierung und kommunikativer Inszenierung kontextuell und eventuell auch assoziativ nahe gelegt wird - falls der Rezipient/ die Rezipientin ihm dahin folgt. Obwohl Kontext auch ein (fast) alltagssprachliches Wort ist, das problemlos durch „Einbettung“, „Umfeld“ oder „Dazugehöriges/ Miteinzubeziehendes“ ersetzt werden könnte, drängt dieses Wort zu einer fachlichen, zu wissenschaftlicher Begrifflichkeit. 1 Auf diesem Weg könnten die Beobachtungen am Weltausschnitt Landschaft, Park, Garten und ihre deskriptiven Spiegelungen hilfreich sein, und zwar dergestalt, dass solche Beschreibungen zum Objekt der Beobachtung in exemplarischer Weise werden. Der Begriff der „Landschaft“ ist ebenso wie der des „Gartens“ soziokultureller, naturwissenschaftlicher, ökonomischer und ökologischer, auch ästhetischer Sicht unterworfen, er stellt eine mentale Konstruktion im Kontinuum der Welt dar. Überdies wird der Begriff „Landschaft“ - mehr als der Begriff „Garten“ - auf Nicht-Land metaphorisierend angewandt in „Stadtlandschaft“ oder „Wohnlandschaft“, und er wird gewissermaßen in gesteigerter Weise metaphorisiert, zumindest partiell, in einem (Werbe-)Wort wie „Verkaufslandschaft“. Der Begriff „Landschaft“ bedarf seinerseits der Beschreibung, um fassbar zu werden, so wie Landschaft und ihre Beschreibung häufig zu einem wesentlichen ausstattenden Text-Ingredienz werden, bei Tourismusprospekten oder bei Argumentationen zum Umweltschutz z.B., bei Ausschreibungen für Firmenansiedlungen und nicht zuletzt Atmosphäre und Symbolik stiftend in literarischen Texten. Der Begriff „Garten“ erscheint da eingegrenzter; er bezeichnet einen umgrenzten Raum, der häufig durch attributive und somit deskriptiv wirkende Komponenten näher bezeichnet wird wie z.B. bei „Nutz-, Blumen-, Schloss-, Bauerngarten“; eine eigentümliche, aber regionale (Übergangs-)Variante besteht in „Biergarten“. Metaphorisch 2 kann „Garten“ für „Frau“ stehen, z.B. im Hohen Lied 4, 12 und nach Freud als häufiges Symbol des weiblichen 1 Siehe Portmann-Tselikas/ Weidacher in diesem Band. Die dortige Entfaltung des Begriffs und seiner Zusammenhänge sowie seiner Grenzen bildet einen fundierenden Hintergrund meiner Ausführungen. 2 Paul, Hermann (2002): Deutsches Wörterbuch. Tübingen. 206 Peter Klotz Genitals. Ergänzend und gewissermaßen einen semantischen und konkreten Übergang darstellend ist in diesem isotopischen Bereich an das Lemma Park zu denken. Von „Pferch“ abgeleitet hat Park meist deutliche Grenzen, ist seiner Ausdehnung nach größer als Garten und erheblich kleiner als Landschaft. Park konnotiert sehr stark einerseits Zusammenhänge mit „Schloss“ und andererseits mit „Automobil“: parken. In diesem Zusammenhang kann dann eine Metaphorisierung entstehen wie „Parkstudium“, bei der sich assoziativ und soziale Vorurteile stützend die Konkreta „Schlosspark“ und „Stadtpark“ einstellen mögen. Ein erster Blick auf Landschaft, Garten, Park verweist auf ihre erhebliche kontextuelle Virulenz, und das mag insbesondere damit zusammenhängen, dass sie menschliche Konstrukte sind, mental und zum Teil konkret. Noch vor aller Präzisierung und Systematisierung scheint also die Notwendigkeit auf, in die Betrachtung sowohl solcher Objekt-Zusammenhänge als auch der Texte selbst den Kontextbezug einzubeziehen, und zwar im eingangs konturierten Sinne: Zeichen haben nicht nur konventionalisierte Denotate, sondern gebrauchsaffine Konnotate, und sie lösen individuell und gruppenspezifisch mehr oder weniger fassbare Assoziationen aus. Texte als Zeichen sind demgemäß unter ihrem denotativen/ propositionalen Aspekt, ihrem konnotativen/ kontextuellen Aspekt und ihren assoziativen Potenzialen zu betrachten, und zwar unter der Doppelperspektive, dass sich Kontexte auf die Gestaltung der Texte unmittelbar auswirken und dass sie bei der Rezeption und Weiterverwendung von Texten in bewusster und expliziter Weise mitbedacht werden. Damit ist das Anliegen dieses Beitrags formuliert: Bewusstheit und Explikation der „Macht der Kontexte“ in der „Welt der Texte.“ 3 2 Virulenz der Kontextierungen: Vom Paradies zum Industriepark Wenn Kontexte nicht einfach Einbettungen von Texten, Objekten und Prozessen sind, sondern Komponenten eines inszenierten Ganzen - denn gerade Texte sind je nach Kompetenz der TextverfasserInnen und TextrezipientInnen (vgl. Feilke und Steinhoff in diesem Band) immer auch In- Szene-Setzungen -, dann gilt es, das Wechselverhältnis der Kontexte und ihrer Bereiche in den Texten näher zu beobachten. Diese Konstellation betrifft aber nicht nur Texte, sondern ebenso einen großen Teil des Wortschatzes, der häufig über die reine (? ) Benennung Deskriptives und Wertendes enthält, weshalb ja auch neben den Denotaten von Konnotaten gesprochen wird; und die individuellen Assoziationen zu Wörtern wären letztlich mit hinzuzunehmen. 3 So lauteten die Themenstellungen zweier Tagungen auf Kloster Banz 2005 und 2007, deren Referate den Ausgangspunkt dieses ganzen Bandes bilden. Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 207 Die erste „Landschaftsbeschreibung“ unseres Kulturkreises bezieht sich auf einen Garten, das Paradies, wobei hier der Begriff „Garten“ gegenüber dem Begriff „Landschaft“ eine eindeutige räumliche und transzendentale Begrenzung in sich trägt. 8. Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. (Bibel, 1. Mose, Kap. 2) Ob der Begriff „Garten“ oder „Paradies“ für den Ort verwendet wird, aus dem gemäß der Genesis der Mensch vertrieben wird, löst bereits verschiedene Konnotationen aus, die zu verschiedenen Kontexten führen können. Während „Garten“ also noch den fest umschlossenen Raum meint, in dem es noch nicht die menschliche Emanzipation gegenüber dem Tier gibt bzw. braucht, nämlich zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, nämlich ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie mühsam und gefährlich das Leben auf der Erde ist, verweist das Wort „Paradies“ im älteren und gegenwärtigen Sprachgebrauch auf ein harmonisches, sorgenfreies, friedliches, vielleicht sogar glückliches Leben. Paradies fungiert als Kontrastbegriff zu den Mühen des Menschen in der Welt, es ist aber auch im Kotext und Kontext der Genesis der Kontrastraum bzw. -begriff zu Erkenntnis und (Selbst-)Reflexion. Banalisierend schafft sich die Tourismuswerbung vom „paradiesischen Südseeurlaub“ eine „traumhafte“ Abgehobenheit von einem immer noch schwierigen Lebensalltag, und so - das wäre nicht auszuschließen - wird eins zum Kontext des anderen: Paradies - Südseeurlaub - Paradies. Für das Thema Bewusstheit und Explikation im Umgang mit dem Verhältnis Text - Kontext hat diese kleine Überlegung Folgen: Unter soziolinguistischer Perspektive werden verschiedene Ebenen einer Kontextsensibilität und -einsicht mit zu bedenken sein: von restringiert bis elaboriert. Die Wiederaufnahme dieser Begriffe bedeutet ganz sachlich, d.h. ohne die ehemalig eingeschriebenen Vorurteile, dass das Mitbedenken von Kontexten, selbst wenn sie nur implizit aufscheinen, zu einem entfalteten und eben nicht beschränkten Textverständnis führt. Gleichzeitig - um dieses Spiel mit diesen nur scheinbar veralteten, aber recht eigentlich auf das Soziale verweisenden Begriffen fortzuführen - fragt sich, ob nicht je nach Bildungsvoraussetzungen die Kontextbewusstheit jeweils pro Individuum und/ oder Gruppe dergestalt funktionsäquivalent sein kann, dass sie für einen kommunikativen Zusammenhang funktional und somit hinreichend sind. Damit ist nicht eine unzulässige Verschmelzung ehemals gegensätzlicher soziolinguistischer Termini gemeint, 4 sondern dass einem Individuum oder einer Gruppe ein bestimmter geistiger Zugang funktional erscheint, obwohl recht eigentlich 4 Ich beziehe mich auf den Gegensatz von Defizittheorie (etwa nach Basil Bernstein) und Differenztheorie (etwa nach William Labov). 208 Peter Klotz klar ist, dass es andere, z.B. komplexere Zugänge gäbe. Um es mit einem Beispiel zu sagen: Bei der Wahl eines Südseeurlaubs, der mit „paradiesisch“ konnotiert wird, wäre eine solche Komplexitätsreduktion z.B. dann sicher verständlich und funktionsäquivalent, wenn ein Urlauber bei dieser Entscheidung nicht an kritische Aspekte denken will. Freilich, für die Beschreibung des Paradieses wäre dagegen Komplexität wohl unverzichtbar. Lässt man sich darauf ein, würde ein solcher Versuch zeigen, welche Bilderwelten und Kontexte in uns walten, und er würde klären, dass wir beim Beschreiben des Paradieses Entscheidungen über die Hereinnahme oder Ausblendung von Kontexten bis in die Wortwahl hinein treffen müssten bzw. könnten. M.a.W., der relationale Aspekt im Verhältnis Text - Kontext ist keineswegs immer als gegeben anzunehmen, vielmehr ist er Teil der Zeicheninszenierung, und er ist Teil des geteilten bzw. zu teilenden Wissens. Die beiden sehr unterschiedlichen Bilder, das „Paradiesgärtlein“ eines Oberrheinischen Meisters (um 1410/ 20) 5 und „Das irdische Paradies mit dem Sündenfall“ von Jan Breughel dem Älteren und Peter Paul Rubens (um 1615), 6 vermitteln dies sehr anschaulich. Abb. 1 Oberrheinischer Meister: Paradiesgärtlein (1410/ 20, Frankfurt a. M., Städel) Abb. 2 Jan Breughel d. Ä. und Peter Paul Rubens: Das irdische Paradies mit dem Sündenfall (um 1615, Den Haag, Mauritshuis) 5 Städel Museum, Frankfurt a. M. 6 Mauritshuis, Den Haag. Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 209 Der biblische Text selbst bleibt insgesamt recht allgemein und erweist sich als gute Projektionsfläche für die mehr oder weniger elaborierte Bebilderung des Paradieses. Die Malerei hingegen kann auf solche Allgemeinheit nicht ausweichen: Sie muss sich thematisierend festlegen. So thematisiert bzw. inszeniert sie z.B. mit gutem Grund die (paradiesische) Nacktheit, und dies nicht nur aus Lust am Sinnenhaften und Körperlichen. Mit dem „Essen vom Baum der Erkenntnis“ setzt ein Bewusstsein über die Nacktheit, also über Scham und über körperliche Provokanz, ein: Da sich Adam und Eva vor Gott zu bedecken suchen, wird ihr „Vergehen“ Gott bekannt. Damit einher geht der Erwerb der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. (Köller 2006: 61-90) Sieht man nun in der Genesis einen rein religiösen Text, stellen sich über den Kotext die Kontexte des Sündenfalls und der Ursünde ein. Liest man diesen Text als Abbreviatur der Entwicklungsgeschichte der Erde und des Menschen, dann beobachten wir in der paradiesischen Nacktheit den Menschen an jener Schwelle zum Mängelwesen - im Gegensatz bzw. Unterschied zum Tier -, das auf Grund seiner Defizite den Verstand ausbildet, das Werkzeug, Technik und damit Kultur entwickelt und das zur Reflexion seiner Lage in Vergangenheit und Gegenwart fähig ist. - In geistesgeschichtlicher Lesart wird der Anfang der Genesis zu einer Emanzipation des Menschen vom Götterglauben. Die Unterscheidung von Gut und Böse entfaltet sich mit der Entdeckung der Nacktheit, mit dem Mut, ein nicht verständliches Gottesgebot zu übertreten, und dies erst bewirkt die Notwendigkeit, eine eigenständige, selbst verantwortete menschliche Moral zu entwickeln, was ja dann auch durch den Kotext, die Mordgeschichte von Kain und Abel, drastisch und sinnfällig bestätigt wird. - Schließlich: Sieht man in den Texten des Alten Testaments darüber hinaus eine Form jüdischer Geschichtsschreibung, so gerät man in die Kontexte um die Problemzonen, die sich mit der Auffassung und der Last vom „auserwählten Volk“ verbinden. Das Thema der Nacktheit entschwindet in solchem Verständnis zunächst, taucht aber mittelbar dann auf, wenn ein Volk den Rückbezug auf den „Urmenschen“ als einem unmittelbar von Gott eingesetzten Wesen sucht. - Die Elaborationen solch unterschiedlicher Kontextierungen füllen Bibliotheken und Galeriesäle, und es ist nicht auszuschließen, dass sich davon nicht Reste auch noch in restringierten Paradies-Kontextierungen finden. M.a.W., ob und wie Sachverhalte zu Kontexten eines Textes werden, hängt nicht nur von den Kotexten, sondern ebenso von Handlungsabsichten mit einem Text - die verschiedenen institutionellen Positionen von Kirche, Philosophie, Judentum machen dies am obigen Beispiel so - und von Bildungsvoraussetzungen ab. Kontextierungen betreffen aber nicht nur inhaltliche Propositionsstrukturen, sondern ebenso Wertungen und Einstellungen. So sind gezielte Euphemisierungen bzw. Pejorisierungen Sprachhandlungen, die über Konnotate und das weite Feld der Assoziationen, Klischees und sinnlicher Phantasien und Projektionen Kontexte aufrufen. Das „Einkaufsparadies“, die „Gartenstadt“ und der „Industriepark“ sind solche Wortneuschöpfun- 210 Peter Klotz gen, die die Denotate von Paradies, Garten und Park über ihre Konnotate ausbeuten. Die damit aufrufbaren Kontexte bleiben im Vagen, aber sie bleiben doch virulent. 7 - Ein Seitenblick auf touristisches Photographierverhalten zeigt oft - vereinfacht gesagt - entweder eine völlig gedankenlose Aufnahmeweise oder eine so sehr ausblendende Photographierperspektive, dass auf den Urlaubsphotos alles so „schön“ wird wie in den Werbeprospekten. M.a.W., es sind zwei unterschiedliche Weisen von Blickverengung beobachtbar, nämlich zum einen das Interesse an gerade mal einem Objektbereich („Hauptsache, x ist drauf“), zum anderen eine Stilisierung der Kontextierung. Es ist anzunehmen, dass alltägliches Sprachverhalten oft ganz ähnlich verläuft. Erst bei einem am Gesamttext orientierten Schreibvorgang mag die Gestaltung zu einem Balance-Akt zwischen Themafokussierung und differenziertem Aspektreichtum werden, was beim schnelleren Sprechen viel schwieriger bzw. wegen der Situationsgebundenheit kaum nötig ist. 8 So weit dieser relativ konkrete Blick auf das Verhältnis Text - Kontext. Er hat Folgendes gezeigt: 1. Verdeutlichung sowohl der Weite und Offenheit als auch der unhintergehbaren Virulenz des Kontextbegriffs 2. Soziokulturelle Differenzierungsnotwendigkeit beim Kontextbegriff in sowohl elaboriert-restringiert als auch funktionsäquivalent 3. Inszenierbarkeit von Kontexten im Formulierungsprozess („Formulierungsmacht“) und Rezeptionshoheit über mitzudenkende Kontexte („Rezeptionsmacht“) 4. Notwendigkeit und Chancen der Aufschlüsselung und der Instrumentalisierung des Kontextbegriffs 3 Zeichenhafte Affinitäten: Landschaftsbilder und Beschreibungen Beschreibungen beziehen sich prima vista auf die konkrete Welt. Sie tun dies in vielfältiger Weise im kommunikativen Alltag. Solchermaßen fungieren sie wie alle Texte unter Kontextbedingungen; gleichzeitig kann ihnen eine kontextive Funktion zukommen. Beschreibungen sind aber auch Teil(e) fiktionaler, also literarischer Texte; inwieweit sie dabei auf konkrete Objekte 7 M.E. gibt es so etwas wie eine Ethik des Sprachgebrauchs, die aber nicht mit political correctness zu verwechseln ist; diese Wortneubildungen mit ihren Kontextmöglichkeiten sind an solchen Grenzen angesiedelt, und mit ihnen könnte man achtsam umgehen. 8 Immer wieder hinzuweisen ist auf: Ehlich, Konrad (1983): „Texte und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung“. In: Aleida Assmann/ Jan Assmann/ Christof Hardmeier (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis. München: Fink, 24-43 sowie: Kleist, Heinrich von (…) Über das Verfertigen der Gedanken beim Reden. Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 211 oder Prozesse in der Welt zurückzuführen sind, variiert sicherlich von AutorIn zu AutorIn. Ob Homers Beschreibung des Schilds Achills auf einen solchen realen Schild zurückgeführt gedacht werden kann, ist sicherlich kulturgeschichtlich, handwerks- und kriegsgeschichtlich eine interessante Frage, doch noch wesentlicher erscheint der Aspekt, dass der fiktionale Text „Bilder“, Sinneseindrücke, Vorstellungen geradezu braucht; sie entstehen nicht zuletzt durch Beschreibungen, denn sie sind Teil literarischer imagines, und insofern sind sie Elemente des fiktionalen Raumes, mögen sie nun detailgetreu, verfremdet, idealisiert oder fiktiv beschrieben worden sein. Die Ausstattung des fiktionalen Raumes bezieht ihre Elemente zumeist aus der konkreten Welt, und das schließt ihre Vernetzung in ihren jeweiligen Kontext mit ein. Bei idealtypischen Darstellungen werden sie ihrer Art nach gesteigert und zu neuen Kompositionen zusammengefügt. Und selbst die Grenzüberschreitung in die Phantastik kommt nicht ohne den Rückgriff auf die als real wahrgenommene Welt aus, ja ihre Phantastik konstituiert sich geradezu durch die darstellerische, d.h. vor allem auch kontextive Grenzüberschreitung. Sie kann als solche nur funktionieren, wenn sie mit der realen Welt konkurriert, mit ihr spielt, sie verwandelt und doch letztlich einen Rest ihrer kontextiven Gebundenheit mit in den fiktionalen Raum nimmt. Wenn dies so ist, dann gehört zur Beschreibung - in welcher gestuften Form auch immer - eine Bildhaftigkeit, die nie ganz den Realbezug verliert, und zwar im welt-konkreten Beschreiberaum ebenso wie im fiktionalen Raum. Diese Bildhaftigkeit muss nicht allein an den an sich dominanten Sehsinn gebunden sein - es gibt ja auch musikalische und sprachliche „Bilder“, und Süskinds Roman „Das Parfum“ erhält ja nicht zuletzt seinen Reiz aus der Entdeckung eines oleofaktorischen Raumes, ja Kosmos; Ähnliches ließe sich für den Tastsinn denken, und der Geschmackssinn hält ja immer schon enge Verbindung zu Geruchs- und Tastsinn und findet sich prompt oft in raffiniert erotischer Literatur. Beschreibung ist Auswahl, Thematisierung, Fokussierung; Beschreibung ist folglich immer auch Inszenierung. Wesentlich ist für sie - unter Ausbeutung der Begriffe der Bildhaftigkeit und Inszenierung - der Rahmen. Rahmen verstanden als Grenze, die die Auswahl der „Objekte“ markiert, als Grenze, die die Aufmerksamkeit und somit die intensivierte Wahrnehmung herausfordert, und Rahmen verstanden als Hervorhebung des Wertes, den die Betrachtung des „Bildes“ i.e. die Beschreibung haben wird. Dieser Rahmen kann helfen, jene Grenze zu finden, die für die Einbeziehung bzw. Nicht- Einbeziehung von spezifischen, mitgemeinten Kontexten gelten könnte. Diese Sicht führt und verleitet dazu, eine Annäherung an Beschreibung zu versuchen, die vom Gegenstandsbereich Landschaft/ Garten ausgeht. Wie sich zeigen wird, ergeben sich historische, strukturelle, konstruktive und rezeptionsbezogene Parallelen und Nähen, die für die Einsicht in Beschreibung und ihre Kontextgebundenheit fruchtbar gemacht werden können. Landschaft und Landschaftsmalerei „sind ‚Erfindungen‘, komponierte, aus 212 Peter Klotz einem bestimmten der Natur entnommenen Formenrepertoire zusammengesetzte Gebilde.“ (Wied 2003: 13) Auch die Brockhaus-Definition „Gegend oder Geländeausschnitte, die als Einheit empfunden oder als solche bewertet werden“ macht dies deutlich. Aus dem Gesamt des Landes werden Ausschnitte mental als Landschaften abgegrenzt; mögen die Grenzen auch noch so unklar sein, irgendwo endet eine Landschaft, und die nächste hat (vielleicht) schon begonnen. Landschaft wird durch bestimmte Geofaktoren und durch Einwirken oder Nichteinwirken des Menschen fassbar. - Garten und Park sind letztlich als Varietäten zu Landschaft konkrete Schöpfungen des Menschen und als solche sowohl isoliert als auch in ihren Verbindungen, also ihren Kontexten beobachtbar. Garten in seiner absichtsvollen Begrenzung und Inszeniertheit, aber auch mit seiner soziokulturellen und/ oder geographischen, also kontextiven Einbettung könnte fast zum Symbol für Beschreibung werden. Für unser Thema der Beschreibung weist die „Entdeckung“ der Landschaft durch die Malerei heuristische Parallelen auf. Da ist zunächst die Frage der Darstellbarkeit überhaupt. Beide Zeichensysteme, Malerei und Sprache, sind prinzipiell reduktionistisch, gleichermaßen aber zur Ausgestaltung geeignet. Dabei kann es nicht sinnvoll sein, im Nachgang nach Lessings Laokoon-Aufsatz die Wertfrage zu stellen. Schon eher stellt sich die Frage nach der spezifischen Leistung der Zeichensysteme. Sie ist kaum theoretisch zu beantworten, sondern durch möglich werdende Beobachtungen. In der Malerei werden in frühen Landschaftsdarstellungen geographische Versatzstücke zusammengetragen. Erst in der niederländischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts wird die reale, sinnenhaft wahrnehmbare Landschaft zum eigenständigen Thema der Malerei. Diese Medialisierung der Landschaft durch die Malerei - und Ähnliches gilt mutatis mutandis für die sprachliche Beschreibung - ist darstellerisch vor Spannungen und Probleme gestellt. Obgleich im sinnlich Wahrnehmbaren verankert, fordert die Landschaft als Gegenstand bildlicher Gestaltung eine höchst eigenschöpferische Annäherung, denn anders als jedes andere Darstellungsobjekt existiert sie nicht als Ganzes, sondern lediglich als Ausschnitt, der sich jeweils innerhalb der Bildgrenzen nun seinerseits als Einheit zu bewähren hat. Dabei wird die Spannung zwischen dem Wirklichkeitscharakter der Natur und dem Bildcharakter der Landschaft durch „bildmäßige Einkleidung“ (Erich Hubala) abgefangen. (Wiemann 2005: 14) Die Beobachtungen zur Landschaftsmalerei lassen Nähe und Parallelen zum ebenfalls weiten Feld der Beschreibung also deutlich werden. So wie Landschaft erst durch den/ die BetrachterIn und durch die Anwendung von Darstellungsformen entsteht, die auf Erscheinungsformen von Welt bezogen werden, so unterliegt Beschreibung einem Wirklichkeits-, einem Weltbezug, und ihr Wesen entfaltet sich durch Selektion. Dies gilt auch für fiktionale Beschreibungen und Soll-Beschreibungen, d.h. für Beschreibungen von etwas, was (noch) nicht ist, aber in bestimmter Weise sein soll (normative Baubeschreibungen, experimentelle Modellbeschreibungen z.B.). Gemein- Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 213 sam ist der Landschaftsmalerei und dem Beschreiben, dass sie Ausdruck einer spezifischen Einstellung zum Objektbereich sind. So wie die Auffassung von Natur im 18. und 19. Jahrhundert immer weniger das Bedrohliche der Natur thematisiert, sie vielmehr bewundert und idyllisiert und so wie sie im 20. Jahrhundert schließlich idealisiert wird, bis ihre Bedrohlichkeit erneut erkannt wird, so wandeln sich mentalitätsgeschichtlich die Darstellungsweisen, und das bedeutet nichts anderes, als dass Natur und Landschaft in verschiedenen Kontexten gedacht, dargestellt und rezipiert werden. Und ebenso unterliegen Gärten, Parks und „Grünanlagen“ unterschiedlichen soziokulturellen Funktionen und Wertungen. Unaufhebbar bleibt für beide - Landschaftsmalerei und Beschreibung - die Spannung zwischen Wirklichkeitscharakter und Bildcharakter. Da beide Zeichensysteme nach Art der Mimesis deskriptiv sind, mag sich die Neigung ergeben, der Darstellung ein „So ist es“ (vgl. Klotz 2006: 115-128) zuzuschreiben. Denn beiden haftet - eigentlich durchaus positiv und konstruktiv - die Eigenschaft der Glaubwürdigkeit und damit einer gewissen Authentizität an, selbst wenn im Hintergrund eine Idealisierung durchscheint. Eine ganz ähnliche, ebenfalls nicht ganz lösbare Spannung ergibt sich aus dem Objektbereich: Dargestellt werden sowohl das Ungewöhnliche, Besondere als auch das Normale, Unspektakuläre, Schlichte. (Das erste drängt vielleicht eher zum Erzählen, aber selbst wenn dieser Äußerungsgestus gewählt werden sollte, wird er ohne Beschreiben nicht auskommen.) Ausgetragen werden diese Spannungen im Prozess der synästhetischen Wahrnehmung und der Kognitivierung durch Darstellung, wobei dieser Bewusstwerdungsprozess häufig (meist? ) auf dem Wege der Erinnerung geschieht - denn wer beschreibt schon angesichts des Objekts? Dies hat zur Folge, dass in diesen Prozess und in die Darstellung kulturelles und sachliches Wissen eingehen. Wir sagen häufig dazu Kontext. Aber nicht nur dies, sondern es stellen sich ein wie immer geartetes Textsortenwissen und jene Zwänge und Verführungen ein, die von der Sprache und ihren Zwängen ausgehen: Sie alle formulieren mit. Denn der Formulierungsprozess selbst ist ja durchsetzt mit Assoziationen, begleitenden Vorstellungen und was auch immer, so dass das Zeichensystem selbst - sei es die Malerei, die Sprache oder etwa die Musik - die Darstellung „mitschreibt“; dies zumal, wenn man in der Sprache gewonnene Gesellschaftserfahrung als Resultante dessen sieht, was in einer Gesellschaft als common sense gilt. (Feilke 1994 und 1996) Wer beschreiben will oder muss, widmet sich dem Objekt oder dem Prozess, der dargestellt werden soll, neu, und zwar selbst dann in einer bestimmten Weise neu, wenn der Objektbereich dem Beschreibenden hoch vertraut ist. Die neue Wahrnehmungsweise setzt ein, weil ein Text formuliert werden soll. Der soziale Kontext beginnt, seine Macht zu entfalten. In die Wahrnehmung drängen sich aber auch Adressatenbezug, Einschätzung des/ der Adressaten/ Adressatin in Hinblick auf Vorwissen, dessen/ deren Wahrnehmungsfähigkeit und dessen/ deren Lesebzw. Dekodierfähigkeit. Eigene Wahrnehmung verbindet sich mit vermuteter fremder Wahr- 214 Peter Klotz nehmung, verbindet sich aber auch mit einem mehr oder weniger kritischen Sprachbewusstsein sowohl in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten als auch die des anderen. Weiterhin wird ein Vorwissen über den Objektbereich aktiviert, das in dieser Wahrnehmungsphase idealiter überprüft und gegebenenfalls verändert wird. Anders gewendet: die Konstruktion eines Inhalts einer Beschreibung ist ein komplexer, sich steigernder Prozess (Klotz/ Lubkoll 2005: 7-24), der auf Textualitätsentscheidungen zuläuft. Zentral ist in dieser Phase die Frage bzw. die Suche nach dem, was wie zu thematisieren und als Text zu inszenieren ist. Und genau in dieser Phase entfalten die Kontexte ihren Einfluss ein weiteres Mal. Weiterhin gilt es, sich unter pragmatischer Perspektive (vgl. Hausendorf 2007: 17-54 und Klotz 2007: 77-98) zu vergegenwärtigen, dass Beschreibungen häufig im Ko-Text von Erläuterungen, Begründungen und Wertungen bzw. Urteilen oder im Zusammenhang mit Erzählungen und Berichten auftreten. Dies bedeutet, dass die Kotexte von Beschreibungen häufig auch Hinweise oder Komponenten ihrer Kontexte enthalten. Überdies zeigt sich bei kursorischer Betrachtung, dass Gedichte eine relativ hohe Affinität zum beschreibenden bzw. schildernden Gestus zu haben scheinen, wodurch sich die Frage nach den Kontexten noch einmal neu stellt, nämlich in Bezug auf den Kotext, auf den/ die DichterIn und auf den/ die Rezipienten/ Rezipientin (vgl. u. im nächsten Kapitel die Beispiele aus Lyrik, Prosa und aus Katalogtexten zur Landschaftsmalerei). Der vergleichende, lern- und erfahrungsbereite Blick auf die Landschaftsmalerei mag klärend sein: Eine Räumlichkeit in einen Rahmen zu bannen gilt es dort; weiterhin gilt es auszuwählen, zu dimensionieren, und es gilt, manches unbeachtet bzw. im Vagen zu belassen, damit das eigentlich Charakteristische oder Besondere der Landschaft hervortrete. Beide Makrozeichen - Bild und Beschreibung - seien auf ihre Inhaltsgenerierung - soweit das geht - parallel betrachtet. Unvermeidlich werden für beide Zeichensysteme und ihre Darstellungsmöglichkeiten Grundfragen berührt: Für das Zeichensystem Malerei stellt sich die Frage des Raumes, der Räumlichkeit (vgl. Gosztonyi 1976). Der - euklidisch verstandene - „Raum“ ergibt sich durch die „Gegenstände“, ihre Relationen untereinander und gegebenenfalls durch ihre Bewegungen in diesem Raum. Die euklidische Geometrie ist für die Begegnung mit Welt eine systembezogene Konstruktion. Raum resultiert aus Beobachtungen, d.h. aus Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, sowie aus einer Begrenzung, die sich entweder aus den Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit ergibt, oder die ein Ergebnis mehr oder weniger bewusster Grenzziehung ist. Sie geriert sich letztlich als eine „Inszenierung“ von Raum und Räumlichkeit, vergleichbar den Arrangements, den Bühnengestaltungen der Guckkastenbühnen unserer Theater. Beschreibung muss sich - anders als die Landschaftsmalerei - ihren „Raum“, nun metaphorisch so gemeint, erst schaffen. Wiederum lässt sich eine systemische Verortung wie bei der euklidischen Geometrie denken, und wiederum ist es andererseits die „Gegenständlichkeit“ der Beschrei- Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 215 bung, die die Beschreibung selbst schafft. Das erscheint dann, sprachlich gewendet, als Thematisierung mit Subthematisierungen. So gesehen ist es gerechtfertigt, bei Beschreibung von einem „geistigen Raum“ zu sprechen, dessen Gegenständlichkeit sein Inhalt ist. Dieser Inhalt ist in seiner Spezifik zunächst nicht gegeben, zumindest nicht gegenüber der Allheit der Welt, sondern unterliegt der Auswahl und der Aufmerksamkeit, und er unterliegt - so kann man wohl das menschliche Bedürfnis nach Zusammenhang und Logik hier fassen - einer sinnstiftenden Struktur: Das eine soll und muss mit dem anderen in einem sinnvollen, womöglich notwendigen Bezug stehen. Beschreiben bezieht sich so vor allem auf das Erfassen von konkreter und geistiger Welt, auf ihr „So-sein“, ja es ließe sich inhaltlich verstehen als eine Expansion des Benennens: In und durch die Beschreibung erfahren die Dinge der Welt eine Erweiterung ihres „Namens“. Gleichzeitig werden sie durch die Beschreibung, durch die inhaltliche Binnenbezüglichkeit ihres additiven Nebeneinanders einem mehr oder weniger formlosen Gesamt entrissen. Ihnen wird Sinn und Binnenbezüglichkeit eingeschrieben. Und dies ginge nicht, wenn das, was wir Kontext nennen, nicht mitgedacht und mitverstanden würde. 4 Kontextualisierte Anschaulichkeit Der bislang eingeschlagene Doppelkurs führt auch zu einer Doppelung der Beobachtung von Kontextbezügen, nämlich zu Landschaftsbildern und ihren Erläuterungen bzw. zu Texten, die Landschaft beschreiben. Die Beispiele enthalten m.E. genug Virulenz, um einerseits das Beschreiben gerade durch ihre Doppelmedialität von Bild und Erläuterung in seiner kommunikativen Inszeniertheit gewissermaßen von innen her zu beleuchten. Andererseits veranschaulichen sie sehr direkt und unmittelbar ihre Kontextgebundenheit: physisch, sozial und mental. Die Beispiele beziehen sich alle auf italienische Landschaft. Landschaft ist schon in der antiken Theorie ... einerseits bloßes Parergon, bloßes Beiwerk, Folie, andererseits ... ist sie von allem Anfang auch Wunschraum, Sehnsuchtsort, Fluchtraum des der Natur entfremdeten Städters. In die Landschaft projiziert er seine Liebeshoffnung, sein Glücksverlangen, seinen Identitätswunsch. Und so ist das Ländliche nicht nur das bäurisch Niedrige, sondern auch das Bukolische, Arkadische, Überzeitliche ... Sie ist Spiegel aller menschlichen Gefühle, Bedürfnisse und Sehnsüchte. (Busch, Werner, 1997: Landschaftsmalerei. Berlin, 14) 216 Peter Klotz Abb. 3 Nicolaes Berchem: Küstenszene mit Krebsfängern (ca. 1650/ 60, York Art Gallery, York) Die Beschreibung des Bildes „Küstenszene mit Krebsfängern“ von Nicolaes Berchem (um 1658) wird - typisch für einen Ausstellungskatalog - in einen historisch erläuternden Kotext eingebettet, der einen hier konventionellen Kontext andeutet. Nicolaes Berchem: Küstenszene mit Krebsfängern Unter den Italianisanten der zweiten Generation ist Nicolaes Berchem der bekannteste Künstler, was nicht zuletzt auch mit der hohen Anzahl an hinterlassenen Werken zusammenhängt. In seinen Gemälden behandelte er neben italianisierenden Landschaften auch Ansichten seines Heimatlandes, Allegorien, mythologische und religiöse Themen sowie Genreszenen. In der Zeit zwischen 1650 und 1660 schuf er zudem phantasievolle mediterrane Hafendarstellungen, die in ihrer Lichtfülle zu den schönsten Bildern seines Œuvres gehören. … Dargestellt ist ein felsiges Küstengebiet am Mittelmeer, das kubische Klippen nach hinten hin abschließen. Ihre summarische, auf kleinteilige Differenzierung verzichtende Behandlung bringt die präzise herausgearbeitete figürliche Szene im Bildvordergrund zur Geltung, doch bilden Landschaftliches und Anekdotisches - trotz der malerischen und koloristischen Unterschiede - eine stimmungsvolle Einheit. In der Hoffnung auf Beute durchwaten vier Krebsfänger das seichte Gewässer am Ufer, das vorab mit Netzen gesichert wurde. Einer der Männer ist bereits fündig geworden und trägt seinen Fang mit ausgestrecktem Arm ans Land. Auch Seevögel wittern eine Chance und umkreisen in niedrigem Flug das Gebiet. Zur Linken ist ein vornehm gekleideter Herr mit einem Fischer ins Gespräch vertieft, möglicherweise um eine Überfahrt zu dem im Mittelgrund vertäut liegenden Segelboot auszuhandeln. (Wiemann 2005a: 216) Dieser kunsthistorische Text impliziert durch Fachlichkeit und Sprache seinen sozialen Kontext. In seinen Schlussbemerkungen findet sich - auf den Gegenstandsbereich bezogen - eine Verbindung von physischer und mentalitätsorientierter Kontextualisierung, die der Erläuterung eingeschrieben ist: Bilder sind eben nicht nur Abbilder, sondern entwickeln durch ihre hineininszenierten Motive und durch ihre Darstellungsweise eine eigene Semantik, hier die einer heiteren „italianità“. Kurioser Weise sind die Bilder Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 217 Berchems selbst Schöpfungen einer Kontextualität: Berchem war nie in Italien, nutzte und teilte vielleicht diese Sehnsucht nach einem „paradiesischen“ Süden, nach Italien, und so sind etliche seiner Bilder dieser sozialästhetischen und -kulturellen italianità zuzurechnen. Dies so zu sehen und zu verstehen ist ohne soziokulturelles Kontextwissen (Bildungsreisen nach Italien; Italien-Sehnsucht u.v.a.m.) schlicht nicht denkbar. - Aber auch die Kontextbedingungen der Autorin [E.W.] werden ein wenig sichtbar: Die AutorInnen eines Ausstellungskatalogs müssen Publikumserwartungen erfüllen; sie müssen wissenschaftlich exakte Informationen geben, sie können durch sprachliche Beschreibung eine hinweisende Blicklenkung ermöglichen und sie sollen durch wertende Merkmale die Besonderheit des Kunsterlebnisses markieren. Der Katalogtext erfüllt diese Erwartungen, und so wird sichtbar, wie die Bedingungen den Text gestaltet haben. Gleichzeitig schafft dieser Text eben jenen Kontext für den Betrachter, den er erwartet hat: Wissenschaftlichkeit, Belehrung, Begeisterung. Katalogtexte und kunstwissenschaftliche Bücher variieren aber durchaus die propositionalen Gewichtungen. So fokussiert die folgende deskriptive Erläuterung weit mehr eine maltechnische und -ästhetische historische Entwicklung als den Reflex auf eine Italienbegeisterung, die Corot natürlich auch hatte. Der Text nimmt vor allem Bezug auf die Ausrichtung des Kotextes, nämlich die „Geschichte der Landschaftsmalerei“: 9 Abb. 4 Jean Baptiste Camille Corot: Die Brücke von Narni (1826, Paris, Musée du Louvre) Die plein air, direkt in der Natur entstandene Ölskizze erfaßt in kräftigen Pinselzügen ohne jede malerische Ausgestaltung des Vordergrundes die landschaftliche Situation. Dabei tritt der Bildgegenstand beinahe völlig hinter der Wiedergabe der Lichtstimmung und der Farbphänomene zurück. Ganz einer Wahrnehmungsästhetik verpflichtet, sind die unkörperlich aufgefassten Einzelmotive komplett aus der Farbe heraus gestaltet, die, in kräftigen Flächen aufgetragen, einen bildbestimmenden Eigenwert entwickelt. Obschon Sebastiano Ricci (Abb. 117-118) bereits 1731 in einem Brief konstatiert hatte, dass eigentlich die Ölskizze das 9 Büttner, Nils (2006): Geschichte der Landschaftsmalerei. München: Hirmer. 218 Peter Klotz vollendete Gemälde und die Gemäldefassung nicht mehr als eine Kopie sei, sollte es lange dauern, bis das Publikum den ästhetischen Wert derartiger Bilder zu schätzen wusste. Erst der liberale Salon des Jahres 1849 konnte eine solche Darstellung akzeptieren, in der die Phänomenwiedergabe gänzlich über den Gegenstand triumphiert. (Büttner 2006: 300) Die Bilderläuterung zu Corots Gemälde verhält sich ganz ähnlich wie die in einem Ausstellungskatalog. M.a.W., solche Kontextualität scheint stabil konventionsgebunden zu sein. Das bedeutet nichts anderes als die Bestätigung der These, dass Texte als (Makro-)Zeichen verstanden werden können, die innerhalb von Kommunikationsroutinen dergestalt funktionieren, dass sie auf solche Routinen vertrauen bzw. bauen können, die ein Kontextwissen stabil transportieren. Solche Konvention kommt nicht von ungefähr; sie ist historisch gewachsen und sie wird von weiteren Kontexten gestützt; so z.B. vom touristischen Kontext, in Sonderheit von dem des Bildungsreisenden. Die Landschaftsbeschreibung und -deutung Peterichs spielt z.B geradezu mit der Italienbegeisterung - in etwas pathetischer Weise freilich. Der folgende Text ist in hohem Maße der Tradition der Bildungsreise verpflichtet, so dass die kontextuelle Erwartung an eine solche Reisebegleitlektüre durch reichliche, fast positivistische Informationsstreuung „bedient“ wird. Freilich speisen sich Kontext und Text wechselseitig: indem der Text solche Erwartungen erfüllt, wird er gewissermaßen zum mentalen Kontext einer physisch und situativ vollzogenen Reise im Sinne des Textes. Allen Gebirgen eignet landschaftsbildende Kraft, doch nur wenigen eine so edle wie dem Apennin. Die Schönheit Italiens ist ein Werk, in das sich der Apennin mit dem Mittelmeer und den Alpen teilte. Dabei fiel ihm die Rolle zu, den rissigen Bau der vom Hochgebirge und vom Meer klar umgrenzten Halbinsel, „die das Meer umgibt und die Alpen“, wie Dante sagt, in kleinere, überschaubare, darum wohnlichere Räume aufzugliedern und den mächtigen Formen, die ihr die Gewalten der Salzflut und des Gletschereises gaben, schmückende und menschennähere Formen hinzuzufügen, so wie etwa ein Baumeister eine steinerne Wand mit Säulen, Fenstern und Gesimsen belebt. Wenn Italien nicht nur ein erhabenes, sondern auch ein liebliches Land wurde, in dem es uns Menschen wohl ist und sich menschliches Leben reich entfalten konnte, so danken wir das vor allem dem Apennin; und vielleicht lässt sich dieses sein humanes Wirken auch dadurch erklären, dass der Geist dieses verhältnismäßig jungen Bergzuges dem unseren verwandter, näher ist als der des alpinen Urgebirges und der uralten See. (Peterich 1976: 412) Aber so ganz unähnlich in der Haltung ist ein moderner Reiseführer, der von DuMont, dann auch nicht: Information und Begeisterung stiftende Hinweise finden sich ebenfalls hier, nur mit etwas anderer Akzentuierung: Pflanzen und Wirtschaft müssen als Rahmenbedingungen genannt werden, der negative Verweis auf Massentourismus darf nicht fehlen - der gegenwärtige Trend wird zum mitformulierenden Kontext: Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 219 Sanfte Hügelketten durchziehen das Gebiet unmittelbar hinter der Küste. Erst weiter landeinwärts und weiter Richtung Süden wird der Cilento wirklich bergig: Monte Centaurino (1433 m), Monte Cervati (1898 m) und Monte Mòtola (1700 m) bilden zum Tanagro-Tal hin eine fast unüberwindliche Barriere. Der Cilento ist insgesamt karg und wenig bewirtschaftet; weite Teile sind von Macchia bedeckt, die während der Blüte im Frühjahr einen faszinierenden und vielfältig bunten Anblick bietet und sich im Hoch- und Spätsommer in eine braun versengte Monotonie verwandelt. Im Landesinneren finden sich in günstigen Lagen Olivenhaine, oft auf mühsam in das Gelände getriebenen Terrassierungen gepflanzt. Ansonsten bedecken Ginster, Hartlaubgewächse und Sukkulenten das Ödland; an der Küste finden sich in sonnigen Lagen bisweilen ganze Wälder von Opuntien und Agaven. Große Teile des Brachlandes um den Monte Cervati herum sind zu einem Nationalpark umgewidmet und stehen unter Naturschutz (Parco Nazionale del Cilento e Gallo di Diano). Der Bau der Schnellstraße Agrópoli-Vallo della Lucània hat besonders der reizvollen Costiera Cilentiana von Agrópoli über Palinuro, Policastro bis Sapri einen steten Zustrom von Feriengästen beschert, der aber bislang nicht den Charakter von Massentourismus angenommen hat. Die vier malerischen Orte verströmen eine für italienische Städte eigentlich untypische, fast gemächliche Ruhe und sind ideale Ziele für einen Badeurlaub abseits der Großstadthektik. (Höcker 1999: 272) Was zeigen diese wenigen Beispiele in Bezug auf unser Thema: Die kontextive Situiertheit der Texte, ihre kontextbezogene Machart und den komplementären kontextiven Verstehensraum. Gleichzeitig vermitteln die Beispiele mit ihren hier nur skizzierten Kontexten den starken Sozialbezug aller Literalität; er hat ein- bzw. ausschließenden Charakter. Die Texte und ihre mitgemeinten Kontexte entfalten in gewissem Umfang identitätsstiftende Wirkung. Solche Beobachtungen ließen sich auch an alltäglichen Reise- und Ferienprospekten machen. Kontextive Bezüge sind in literarische Texte gewissermaßen eingeschrieben, da sie als Texte relativ autonom fungieren müssen. Die literarische Binnenwelt entwickelt hier naturgemäß (Text-)Inszenierungen, die auf verschieden intensiven deskriptiven Komponenten fußen. Im Folgenden werden zwei recht unterschiedliche literarische Texte aus der Zeit um 1900 fokussiert, die „Garten“ bzw. „Landschaft“ als kontextiv spiegelnde Räume für ihre Aussage mitthematisieren. Gewissermaßen eine Steigerung zu Sehnsüchten wie der nach Italien mit ihren oft „paradiesischen“ Projektionen stellt ein doppelt fiktiver Garten dar, der in Thomas Manns Erzählung „Tristan“ zum fast mythischen Ort stilisiert wird. Herr Spinell, ein kunstsinniger Patient im selben Sanatorium, in dem die ebenfalls feinsinnige und ebenfalls Wagner begeisterte Frau Klöterjahn, Gattin eines erfolgreichen Industriellen, logiert, greift in einem Brief Herrn Klöterjahn, den Gatten, an. Spinell wirft Klöterjahn vor, der Sensibilität und Kunstsinnigkeit seiner Gattin in keiner Weise gerecht zu werden, und, um dies zu verdeutlichen, phantasiert sich Spinell eine Gartenszene herbei, die zeigen soll, dass Klöterjahn die Begegnung mit 220 Peter Klotz seiner zukünftigen Frau damals und jetzt nicht zu würdigen, nicht zu verstehen in der Lage sei. - Ein Garten wird herbeigeschrieben, der romantische bzw. auch biedermeierliche Attribute erhält, alle dazu angetan, die Kontexte eines Wirtschaftslenkers und eines Kunstbegeisterten aufeinander prallen zu lassen; und für uns Heutige, sofern wir diesen Wissenshorizont teilen, stellt sich rezipierend der Kontext der/ einer „Gartenlaube“ ein, zumal wenn uns die kritisch-ironische Schreibweise Thomas Manns und hier besonders die Auseinandersetzung Künstlertum und Bürgerlichkeit vertraut ist: „Es ist“, so setzte der Brief sich fort, „Das unabweisliche Bedürfnis, das, was ich sehe, was seit Wochen als eine unauslöschliche Vision vor meinen Augen steht, auch Sie sehen zu machen, es Sie mit meinen Augen, in derjenigen sprachlichen Beleuchtung schauen zu lassen, in der es vor meinem inneren Blicke steht.“ … Erinnern Sie sich des Gartens, mein Herr, des alten, verwucherten Gartens hinter dem grauen Patrizierhause? Das grüne Moos sproß in den Fugen der verwitterten Mauern, die seine verträumte Wildnis umschlossen. Erinnern Sie sich auch des Springbrunnens in seiner Mitte? Lilafarbene Lilien neigten sich über sein morsches Rund, und sein weißer Strahl plauderte geheimnisvoll auf das zerklüftete Gestein hinab. Der Sommertag neigte sich. Sieben Jungfrauen saßen im Kreis um den Brunnen; in das Haar der Siebenten aber, der Ersten, der Einen, schien die sinkende Sonne heimlich ein schimmerndes Abzeichen der Oberhoheit zu weben. Ihre Augen waren wie ängstliche Träume, und dennoch lächelten ihre klaren Lippen. … Sie sangen, Sie hielten ihre schmalen Gesichter zur Höhe des Springstrahles emporgewandt, dorthin, wo er in müder und edler Rundung sich zum Falle neigte, und ihre leisen, hellen Stimmen umschwebten seinen schlanken Tanz. Vielleicht hielten sie ihre zarten Hände um ihre Knie gefaltet, indes sie sangen … Entsinnen Sie sich des Bildes, mein Herr? Sahen Sie es? Sie sahen es nicht. (Thomas Mann 2004: Bd. 2.1, 358-359) So, wie Thomas Mann diesen Brief schreiben lässt, wird seine gleichermaßen feine und bittere Ironie sichtbar. Kontexte werden aufgeschichtet, die vornehme Abgehobenheit durch soziale Stellung („Patrizier“) und Tradition (altes Gemäuer) ebenso einbringen wie die Verbindung von Reinheit (Brunnen) und (fast! ) Unberührbarkeit (Jungfrau). Damit nicht genug, die Wirkung der letzten Sonnenstrahlen soll eine quasi Heilige (Aura und Jungfrau) produzieren, die durch den Ehemann und dessen Namen Klöterjahn allein schon befleckt ist, um wie viel mehr durch die Ehe mit einem solchen … Schließlich ist es die Gartensituation mit ihrer Umschlossenheit, die das Eindringen des künftigen Ehemanns noch „brutaler“ erscheinen lässt: die Ortsschilderung wird zum Symbol. - Dass hier ein Schreiber sich die Verantwortung für Kunst anmaßt, zeigt, wie weit Formulierungsmacht gehen kann und will: Er schreibt über Kotextierung bzw. Attribuierungen und Wortwahl jene Kontexte herbei, die er für sein als „Vernichtung“ gemeintes Urteil braucht. Jenseits dieses ästhetisierenden literarischen Spiels lässt sich nahe beim Alltag ebenso Kontextschichtung entdecken, wobei Leseweisen sowohl Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 221 restringiert vordergründig als auch elaboriert möglich werden. Das folgende Gedicht von Arno Holz hat eine einfache Dreiteilung: die Tristesse eines Großstadtmorgens rahmt die Erinnerung an einen Traum von einem Sommertag in schöner, einfacher Natur. Die Kontrastierung tut auch bei flüchtiger Lektüre ihre Wirkung, und insofern wäre auch eine solche Lektüre gewissermaßen „funktionsäquivalent“. Die Kontexte einer sich verändernden, immer größer werdenden Stadt scheinen ebenso auf wie die wohlige Freiheit inmitten sommerlicher Natur; der Text enthält diese Signale. Großstadtmorgen Die letzten Sterne flimmerten noch matt, ein Spatz versuchte früh schon seine Kehle, da schritt ich müde durch die Friedrichstadt; bespritzt von ihrem Schmutz bis in die Seele. Kein Quentchen Ekel war in mir erwacht; wenn mich die Dirnen schamlos angelacht; kaum dass ich stumpf davon Notiz genommen, wenn mir ein Trunkner in den Weg gekommen. Und doch, ich spürte dumpf, mir war nichts recht. Selbst die Zigarre schmeckte schlecht. Halb zwei. Mechanisch sah ich nach der Uhr. An was ich dachte, weiß der Kuckuck nur. Vielleicht an meinen Affenpintscher Fips, an ein Bonmot, an einen neuen Schlips; vielleicht an ein zerbolztes Ideal, vielleicht auch nur - ans Kaffee National. Da, plötzlich, wie? ich wußt es selber nicht, fuhr mir durchs Hirn phantastisch ein Gesicht, ein Traum, den ich vor Jahren einst geträumt. Ich fühlte seinen Atem mich umstreifen, ich konnt es förmlich mit den Händen greifen! Ein verwehender Sommertag, ich war allein, auf einem grünen Hügel hielt ich im Abendschein, und still war mein Herz und fröhlich und ruhte. Leise, unter mir, schnupperte meine Stute, die Zügel locker, lang und laß, und rupfte büschelweise das Gras. Es ging ihr fast kniehoch und stand voller Blumen. Dazwischen roch es nach Ackerkrumen und hinten, die Flügel noch gerade besonnt, mahlten drei Mühlen am Horizont. Drei alte Dinger, fuchsrot beschienen und halb schon vergraben hinter einem Feld Lupinen. Sonst nichts, so weit der Blick auch schweifte, als mannshohes Korn, das rauschend reifte; dazu drüber ein ganz, ganz blaßblauer Himmel 222 Peter Klotz voll Grillengezirp und Lerchengewimmel. Das war das Ganze. Doch ich sah die Farben und hörte den Wind wehn und roch die Garben. Ein Sonnenblitz, drei flüchtige Sekunden, und, wies gekommen, wars auch schon verschwunden! Die Friedrichstraße. Krumm an seiner Krücke ein Bettler auf der Weidendammer Brücke: „Kauft-Wachs-streich-hölzer! Schwedische-Strom-und-Wachs-streich-hölzer …“ Mich … fröstelte! (Arno Holz 1962: 105-106) Eine etwas genauere Lektüre fragt nach der Entstehungszeit des Gedichtes und kennt die dazugehörige Epochenbezeichnung, was freilich auch zu einer recht spezifischen Kontextierung führt. Es stellen sich die Fragen und Probleme der zweiten Phase der Industriealisierung, der Verstädterung, der Verelendung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: die Entgegensetzung von Stadt und Land hat keinen ökologischen Akzent, wie das heute verstanden würde, sondern ein kultureller und sozialer Verlust wird angesprochen, der sich durch den großen Wandel bedingt. In vorautomobiler Zeit ist die Stute, auf der der berichtende Protagonist sitzt, nicht Zeichen für Freizeitsport und Wohlhabenheit wie heute, sie ist Teil eines Weges in die Natur. Ein fast paradiesisches Bild prägt den Mittelteil - Tier, Pflanzen, Landschaft, Wetter, Mensch und Bauten (Windmühlen) werden zu einem harmonischen Ganzen. Der Verlust solcher Harmonie wird bereits in den ersten Versen deutlich: Ein Spatz bleibt ein letztes Zeichen, fast bedeutungslos angesichts grauer Stadt und Dirnen. - Wo aber stellt sich die Erinnerung an den Traum von einem schönen Sommertag ein? In einem abgeschlossenen Raum, einem Raum der Behaglichkeit, einem Café. Zwar kein Garten, aber ein Ort zum Phantasieren; kein Paradies, aber doch wohl eine Rückzugsmöglichkeit mitten in der Großstadt. - Die sprachliche Gestaltung des Gedichts wechselt entsprechend seinen Teilen, und sie sorgt so für unterschiedliche Assoziationen: für einen schnoddrigen Stadtton und für einen schlichten Ton mitten auf dem Land, dem das Schnoddrige nicht ganz abhanden kommt, handelt es sich doch um eine Erinnerung nun in der Stadt. 5 Kleiner Rückblick Diese wenigen Blicke auf wenige Texte und Bilder mögen angedeutet haben, wie weit und reich das Feld der Beschreibungen bereits bei diesem schmalen Segment von Landschaft, Garten und Park ist. Dabei ist vieles noch nicht einmal erwähnt: Landschaft als Baugrund, als Objekt von Verkehrstrassen, Das Verhältnis Text - Kontext am Beispiel von Beschreiben 223 von wirtschaftspolitischer Planung, Parks als „grüne Lungen“ in Städten, Schrebergärten als Kolonisierung von Restgebieten. Was aber selbst bei diesen wenigen Beispielen deutlich wird, ist zunächst die Wirkmacht der Kontexte auf Formulierungsprozesse und Sprachhandlungen. Sodann zeigt sich, wie nützlich und aufschließend das bewusste Mitbedenken und Explizieren der Kontextualität ist, denn im Abhängigkeitsverhältnis von Textformulierung und Textverstehen stoßen Intentionalität und Interpretation eines Textes auf die Grenzen des manifesten (Eco 1990) Zeichens Text. Das produktive und das rezeptive Textverständnis weiten sich, wenn ein Bewusstsein und ein Wissen dafür entwickelt wird, wie über den Textinhalt hinaus Sachverhalte zu Kontexten werden, wie sie in Kotexten formuliert sind bzw. formulierbar wären, wie sie dadurch zu geteiltem Wissen im Prozess der Kommunikation werden und wie überhaupt diese Dynamik des Textverständnisses zu einem dem Wissen und Bewusstsein zugänglichen Teil des Textes 10 wird. Die Kooperationsmöglichkeiten von SenderIn und EmpfängerIn, von Formulierenden und von Interpretierenden, mögen im Alltag mit wenigen Kontexten funktionsäquivalent sein, bei hoch relevanten Zusammenhängen ergibt sich die Notwendigkeit, statt nur restringiert und vorbewusst auf Kontexte zu reagieren, sie elaboriert, und d.h. oft explizierend, in die Kommunikation einzuführen - freilich nach Maßgabe soziokultureller Bildung und sozialer Macht bzw. Verantwortung. Denn Texte sind angesichts des Einflusses von Kontexten wie die Linien von Skizzen, Skizzen freilich, die ihrerseits die Potenz haben, Kontexte aufzurufen, anzudeuten oder auch nur hinzudenkbar zu machen. Literatur B ÜTTNER , Nils (2006): Geschichte der Landschaftsmalerei. München: Hirmer, 300. E CO , Umberto (1990): Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München: dtv. E HLICH , Konrad (1983): „Texte und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung“. In: Aleida Assmann/ Jan Assmann/ Christof Hardmeier (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis. München: Fink, 24-43. F EILKE , Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. F EILKE , Helmuth (1994): Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. G OSZTONYI , Alexander (1976): Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften. 2 Bde. Freiburg: Alber (= Orbis academicus I/ 14, 1 u. 2). H AUSENDORF , Heiko (2007): „Die Sprache der Kunstkommunikation und ihre interdisziplinäre Relevanz“. In: Heiko Hausendorf (Hrsg.): Vor dem Kunstwerk. 10 Vgl. insbesondere hierzu die Beiträge in diesem Band von Portmann-Tselikas/ Weidacher, Feilke, Ziem und Lubkoll. 224 Peter Klotz Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst. München: Fink, 17- 54. H ÖCKER , Christoph (1999): Golf von Neapel und Kampanien. Köln: DuMont, 272. H OLZ , Arno (1962): Großstadtmorgen. Neuwied: Luchterhand, 105-106. J ANLE , Frank (2009): Beschreiben entdecken. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. K LOTZ , Peter (2007): „Ekphratische Betrachtungen. Zur Systematik von Beschreiben und Beschreibungen“. In: Heiko Hausendorf (Hrsg.): Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst. München: Fink, 77-98. K LOTZ , Peter (2006): „Textualität zwischen Jakobsons Textualitätsformel und der Chaostheorie. Didaktische Ansätze zu kognitiven Entdeckungsprozeduren“. In: Maximilian Scherner/ Arne Ziegler (Hrsg.): Angewandte Textlinguistik. Perspektiven für den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr, 115-128 (= Europäische Studien zur Textlinguistik 2). K LOTZ , Peter/ L UBKOLL , Christine (2005): „Zur Einführung“. In: Peter Klotz/ Christine Lubkoll (Hrsg.): Beschreibend wahrnehmen - wahrnehmend beschreiben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse. Freiburg: Rombach, 7-24. K ÖLLER , Wilhelm (2006): Narrative Formen der Sprachreflexion. Interpretationen zu Geschichten über Sprache von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin: de Gruyter, vgl. besonders Kap. B I, 61-90. M ANN , Thomas (2004): „Tristan“. In: Heinrich Detering/ Eckhard Heftrich et al. (Hrsg.): Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Briefe - Tagebücher. Bd. 2.1 Frühe Erzählungen 1893-1912. 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III Aspekte des kontextuellen Netzes literarischer Texte Christine Lubkoll Prätexte - Kontexte Intertextualität als kontextualisierendes Verfahren der Literatur 1 1 Die theoretische Konstellation Die Frage nach der bedeutungskonstituierenden Funktion von Kontexten in literarischen Texten wurde in den Philologien im Laufe ihrer Geschichte äußerst unterschiedlich gehandhabt und immer wieder kontrovers diskutiert. Während die einen die Einbeziehung außertextlicher Faktoren in die Analyse kategorisch ausschlossen (Russischer Formalismus und Strukturalismus; New Criticism), galt den anderen das historische Umfeld als notwendige Erklärungsbasis bzw. als Verstehenshorizont des fiktionalen Textes. Allerdings unterschieden sich auch hier historisch ausgeprägte Fokussierungen fundamental. 2 In der frühen Phase der Germanistik (um 1900 bis in die 1920er Jahre) kristallisierten sich bekanntlich drei miteinander konkurrierende kontextorientierte Ansätze heraus, die für die weitere methodologische Entwicklung des Faches als grundlegend gelten können: - der literaturwissenschaftliche Positivismus, der - in Anlehnung an die Milieutheorie und an naturwissenschaftliche Methoden - den unmittelbaren Entstehungskontext, also biographische Zusammenhänge und konkrete historische Ereignisse, zur Erklärung des literarischen Textes heranzog. 3 - die Hermeneutik, die geistesgeschichtliche Konstellationen und nicht zuletzt den Erfahrungskontext von AutorIn und LeserIn zur Basis des 1 Teile dieses Aufsatzes wurden - unter einer anderen Fragestellung - bereits veröffentlicht: Lubkoll, Christine (2008): „Ingeborg Bachmanns ‚Anrufung des großen Bären‘. Zur Überlagerung biblischer und nichtbiblischer Prätexte“. In: Oda Wischmeyer/ Stefan Scholz (Hrsg.): Die Bibel als Text. Beiträge zu einer textbezogenen Bibelhermeneutik. Tübingen: Francke, 235-245. 2 Vgl. dazu insgesamt: Klausnitzer, Ralf (2007): „Institutionalisierung und Modernisierung der Literaturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert“. In: Thomas Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände - Konzepte - Institutionen. Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder. Stuttgart: Metzler, 70-147, hier v.a. 81-106. Außerdem: Schönert, Jörg: „Literaturgeschichtsschreibung“ (hier: 4.4: Partialisierung und Kontextualisierung). In: Ebd. Bd. 2: Methoden und Theorien, 278-281. 3 Scherer, Wilhelm (1983 [1883]): Geschichte der deutschen Literatur. Berlin. 228 Christine Lubkoll Verstehens erhob - im Sinne der Teilhabe an einer „seelischen Lebendigkeit“, wie sie Wilhelm Dilthey postulierte. 4 Bekanntlich erweiterte Hans- Georg Gadamer in den 1960er Jahren mit seinem Begriff der „Horizontverschmelzung“ die psychologische um eine historische Dimension (Teilhabe an einer gemeinsamen „Tradition“). 5 - der Prager Strukturalismus, der Kontexte im Sinne von sprachlich verfasstem Kultur-Wissen mit in der Analyse berücksichtigt. 6 Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es zu weiteren Ausprägungen von erklärtermaßen historischen Betrachtungsweisen, die den Text in seinen sozialen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten situierten, wobei hier jeweils bestimmte Theorien zum Text-Kontext-Verhältnis eine Rolle spielten: so etwa die marxistische Literaturtheorie mit ihrem Basis- Überbau-Modell; 7 die psychoanalytische Interpretation mit ihrer Unterscheidung von latentem und manifestem Text; 8 die Literatursoziologie mit ihrem Rekurs auf die Produktions- und Distributionsbedingungen; 9 die Rezeptionsästhetik mit ihrer Untersuchung des Wirkungspotentials von Literatur. 10 Eine neue Qualität kam in die Diskussion, als der „linguistic turn“ die Literaturwissenschaft erreichte und diskursanalytische (im Foucault’schen Sinne) und kultursemiologische Ansätze (etwa bei Roland Barthes) die literaturtheoretische Basis veränderten bzw. neue methodische Perspektiven einbrachten. Die Frage nach den „Kontexten“ von Literatur wurde transformiert in die Prämisse einer umfassenden „Textualität der Kultur“. 11 Alles - jede Art von kulturellem Zeichensystem - wurde zum Text erklärt, der „KonText“ geriet zum Prätext im Sinne eines weitgefassten Intertextualitäts- 4 Vgl. dazu Dilthey, Wilhelm (1957 [1900]): „Die Entstehung der Hermeneutik“. In: Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Hrsg. von Georg Misch. Stuttgart: B. G. Teubner, 317-338. 5 Gadamer, Hans-Georg (1960): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J. C. B. Mohr. 6 Siehe dazu: Grübel, Rainer (1996): „Formalismus und Strukturalismus“. In: Heinz Ludwig Arnold/ Heinrich Detering: Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: dtv, 386-408. Vgl. Mukařovský, Jan (1970 [1936]): „Ästhetische Funktion“. In: Ders.: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 7-113. 7 Vgl. namentlich Lukács, Georg (1996): „Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels“. In: Dorothee Kimmich/ Rolf Günter Renner/ Bernd Stiegler (Hrsg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam, 79-94. 8 Vgl. dazu Schönau, Walter/ Pfeiffer, Joachim (2003): Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart: Metzler. 9 Vgl. stellvertretend Silbermann, Alphons (1981): Einführung in die Literatursoziologie. München: Oldenbourg. 10 Vgl. Jauß, Hans Robert (1970): „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 144-207. 11 Vgl. hierzu immer noch einschlägig Bachmann-Medick, Doris (2004): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Kulturwissenschaft. Tübingen: UTB. Prätexte - Kontexte 229 begriffs. Die so in die Literaturanalyse eingebrachte Untersuchung kultureller Zeichenordnungen bzw. Diskursformationen als Kontexte von Literatur hat viel erbracht, vor allem die Einsicht in Transferprozesse zwischen Literatur und anderen gesellschaftlichen Formen der Ordnungsstiftung und Wissensproduktion, etwa zwischen den Künsten und den Wissenschaften oder auch zwischen fiktionalen Texten und Phänomenen der Alltagskultur. Der systemtheoretische Ansatz hat hier Impulse geliefert, 12 außerdem der „New Historicism“, der literarische Texte im Rahmen einer diskursiven „Zirkulation sozialer Energien“, so Stephen Greenblatt, untersucht. 13 Diese an sich fruchtbare und überzeugende Tendenz, nämlich die Kultur insgesamt als Text zu betrachten und damit die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft zu betreiben, 14 bringt allerdings auch methodische Probleme mit sich, vor allem, was den Stellenwert des Kontextbegriffs im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Textanalyse betrifft. Folgt man dem von der Diskursanalyse und Kultursemiologie etablierten universellen Intertextualitätskonzept, 15 dann fließen nicht nur die Kategorien „Kontext“ und „Prätext“ ineinander, sondern es ergibt sich auch die Frage, wie in der konkreten Textlektüre das Wissen um jedwede Art von (textuellen oder nicht textuell erfassbaren) Kontexten systematisch in die Analyse (bzw. den Prozess der Bedeutungskonstitution) eingehen kann. Die Intertextualitätstheorie diskutiert dieses Problem schon lange, und man hat, weil es nicht „operationalisierbar“ ist, vor dem universellen Intertextualitätskonzept kapituliert und widmet sich nun gezielt nur jenen Formen von Zitaten - also „sprachlich verfassten Kontexten im Text“ -, die auf irgendeine Weise erkennbar, „markiert“ sind. 16 Abgesehen davon, dass auch der in diesem Sinne „engere“ Intertextualitätsbegriff noch etliche Probleme für die Deu- 12 Siehe zum produktiven Verhältnis von Systemtheorie und Literatur stellvertretend: Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.) (1993): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag; Plumpe, Gerhard/ Werber, Niels, Hrsg. (1995): Beobachtungen der Literatur: Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag; Jahraus, Oliver/ Scheffer, Bernd, Hrsg. (1999): Interpretation, Beobachtung, Kommunikation. Avancierte Literatur und Kunst im Rahmen von Konstruktivismus, Dekonstruktivismus und Systemtheorie. Tübingen: Niemeyer. 13 Greenblatt, Stephen (1996): „Grundzüge einer Poetik der Kultur“. In: Dorothee Kimmich u.a. (Hrsg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam, 259-278. Siehe zum „New Historicism“: Baßler, Moritz, Hrsg. (2001): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen: UTB. 14 Vgl. dazu den äußerst anschaulichen und überzeugenden Beitrag von Roland Borgards in diesem Band. 15 Siehe hierzu stellvertretend: Kristeva, Julia (1972): „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Athenäum, 345-375. 16 Vgl. Broich, Ulrich/ Pfister, Manfred, Hrsg. (1985): Intertextualität. Formen, Funktionen, Anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer. 230 Christine Lubkoll tung aufwirft, 17 ist doch auch festzustellen, dass der Kontext als Analysekategorie in diesem Konzept gar keine Rolle mehr spielt. 18 Eine differenziertere Verwendung (bzw. Wiederaufnahme! ) des Kontextbegriffes, der neben zitierten Prätexten auch andere im Text virulente Bezugshorizonte zu erfassen versucht, scheint daher für die Methodik der literaturwissenschaftlichen Textanalyse (und auch im Rahmen der literaturtheoretischen Diskussion) ein dringendes Desiderat zu sein. Erst das Zusammenspiel verschiedener Kontextdimensionen - Entstehungskontext, zeithistorisches Umfeld, virulentes Kulturwissen und eben auch (gezielt markierte) intertextuelle Anspielung - macht die Komplexität eines fiktionalen Textes aus. Mehr noch: Es ist womöglich die (heuristische) Unterscheidung zwischen manifesten Prätexten einerseits und situativen, historischen und mentalen Kontexten andererseits, über die in besonderem Maße ein Zugang zum pragmatischen Textumfeld gewonnen werden kann: Sind es doch oftmals die intertextuellen Verweise (als bedeutungskonstituierende Elemente), über die auch die außertextuellen Bezüge transportiert bzw. aufgerufen werden, so dass gerade sie einer spezifischen kontextuierenden Lesart dienen. Um diese Überlegung weiter zu verfolgen und zu systematisieren, scheint ein eingehenderer Blick auf zentrale Problemstellungen und Konzepte der Intertextualitätsforschung sinnvoll. Die Frage, welche bedeutungskonstitutive Funktion zitierte Texte („Prätexte“) im literarischen Text (dem „Folgetext“) haben, ist Gegenstand der Intertextualitätstheorie, wobei auch hier die Hauptschwierigkeit darin besteht, dass man ja einen Prätext nicht einfach als eine statische Größe mit dingfester (festgeschriebener) Bedeutung behandeln kann, der dann als solcher in einen fremden/ neuen Text „implantiert“ wird. Vielmehr ist der Prätext (zumindest die Art, wie er in einen Folgetext eingebaut ist) immer schon auch das Ergebnis eines Rezeptionsprozesses, teilweise eines ziemlich komplizierten - über verschiedene Stationen der Lektüre. 19 Julia Kristeva, die einen recht weiten, für die konkrete Analyse wenig brauchbaren Intertextualitätsbegriff vertritt, hat in ihren Ausführungen zum Thema genau auf die Dynamik des Lektüreprozesses hingewiesen. 20 Sie betrachtet die Dialogizität des Textes in einer doppelten Perspektive: zum 17 Vgl. dazu: Lachmann, Renate (1984): „Ebenen des Intertextualitätsbegriffs“. In: Karlheinz Stierle/ Rainer Warning (Hrsg.): Das Gespräch. München: Fink, 133-139 (= Poetik und Hermeneutik 11). 18 Siehe insgesamt zur neueren Intertextualitätsdiskussion: Martinez, Matias (1996): „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“. In: Arnold/ Detering (Anm. 6), 430-445; Lachmann, Renate (1996): „Intertextualität“. In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.): Fischer Lexikon Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer, 794-809. 19 Vgl. dazu Martinez, Mathias: „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“. In: Arnold/ Detering (Anm. 6), 430- 445. 20 Kristeva, Julia (1972): „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Jens Ihwe (Hsrg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Athenäum, 345-375. Prätexte - Kontexte 231 einen auf der Achse der „Lektüre“: als einen permanenten Austausch zwischen Schreiben und Lesen (écriture - lecture), zwischen AutorIn und RezipientIn; zum anderen auf der Achse der „Ambivalenz“: als eine Summe von Überlagerungen fremder Texte (und deren Lektüren), die sich in den manifesten Text einschreiben: innere Dialogizität Dialogizität (Leseanweisungen & implizite Leseanweisungen) Subjekt (Sa und Se) Adressat Text Herstellung von Simulacren Intertext Herstellung von Simulacren Prätext(e) Prätexte Abb. 1 Zur dynamischen Aktivität der Bedeutungskonstitution im intertextuellen Feld (Versuch einer graphischen Darstellung der Intertextualitätstheorie Kristevas) Aus dem Wechselverhältnis beider Achsen entsteht eine permanente Dynamik der Bedeutung. Wenn z.B. Thomas Mann in seinem Roman „Doktor Faustus“ aus der Stofftradition zitiert (aus der „Historia von D. Johann Fausten“ und Goethes „Faust“), dann sind es seine Lektüren dieser Texte, natürlich zugleich auch vermittelt über eine kulturell etablierte Deutungstradition, die für die Art und Weise der Verwendung in seinem Roman ausschlaggebend sind. Für den/ die LeserIn ist es aber nicht nur unmöglich, diesen Wissenshorizont des Autors ganz und gar zu rekonstruieren, sondern er ist ja zudem selbst geprägt durch seine/ ihre eigenen (bzw. ihm/ ihr wiederum kulturell vermittelten) Fokussierungen und Deutungen. Das Verhältnis zwischen Prätext und Folgetext als einem bedeutungsgenerierenden Moment lässt sich also niemals sozusagen 1: 1 bestimmen. (Das ist das Problem der Intertextualitätsforschung im engeren Sinn, die ja 232 Christine Lubkoll immerhin mit ihrem Blick auf explizit oder implizit markierte Zitate eine Art Stabilität der Lektüre zu erzeugen versucht.) 21 Renate Lachmann, die Konstanzer Slavistin und Intertextualitätstheoretikerin, schlägt, in Anlehnung an die Bachtin-Schule, der auch Julia Kristeva nahesteht, eine strukturelle Betrachtung von intertextuellen Überlagerungen in literarischen Texten vor. 22 In Opposition zu der Auffassung, man könne die Funktion eines Zitats durch den Rückgriff auf seine „ursprüngliche Bedeutung“ (im vorangegangenen Kontext) klären, vertritt sie die These von der „semantischen Explosion“, die sich ereigne, wenn Prä- und Folgetext zusammentreffen. Die Dynamik der Bedeutung ist somit auch das Dynamit des Textes: Durch die Konfrontation beider Ebenen kommt etwas zum Einstürzen und etwas Neues entsteht. Worauf es also im Lachmann’schen Ansatz ankommt, ist weniger die Frage nach der (vermeintlichen) „Ursprungsbedeutung“ eines Zitats im Text oder nach einer nachweislichen Motivation oder Intention des/ der Autors/ Autorin im Rückbezug auf das Zitierte. Vielmehr steht die Konstellation, die Konfiguration, die Prä- und Folgetext oder auch eine Vielzahl einander überlagernder Texte bilden, im Zentrum der Analyse. Diese Sicht verändert und klärt ein Stück weit das Verhältnis von Prä- und Kontext. Denn erstens erzeugt die Zusammenstellung von verschiedenen intertextuellen Bezügen einen neuen (Sub-)Text, eine durch die Komposition ins Werk gesetzte eigene Dimension der Bedeutungskonstitution. Zweitens ist es aber der Kontext der Lektüre (des/ der Autors/ Autorin ebenso wie des/ der Lesers/ Leserin), der an diesem Akt einen entscheidenden Anteil hat. Kontexte sind also bestimmend für die Art und Weise, wie Prätexte gelesen werden; umgekehrt legen die im Text manifesten Zitate bzw. Zitatkonstellationen ihrerseits Spuren zum pragmatischen Textumfeld und machen so eine Erschließung des (oftmals nicht direkt dingfest zu machenden) Kontextes möglich. 2 Die Erprobung am Text Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Hypothese an einem Beispiel zu erproben: Ein hochgradig komplexer Text (mit zahlreichen versteckten, nicht explizit markierten intertextuellen Anspielungen und einem nicht unmittelbar erschließbaren historischen Bezug) soll mit Hilfe eines differenzierten Kontextbegriffs analysiert werden. Das von mir gewählte Beispiel - Ingeborg Bachmanns Gedicht „Anrufung des großen Bären“ aus dem Jahr 1955 - scheint gerade deshalb besonders geeignet, weil 21 Siehe dazu: Broich, Ulrich/ Pfister, Manfred, Hrsg. (1985): Intertextualität. Formen, Funktionen, Anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer. 22 Lachmann, Renate (1996): „Intertextualität“. In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.): Fischer Lexikon Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer, 794-809; dies. (1990): Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Prätexte - Kontexte 233 der Text im Grunde ohne das Wissen um die in ihm zitierten Prätexte und den in ihnen angespielten gesellschaftspolitischen Hintergrund kaum verstehbar ist, hermetisch bleibt. Die im Gedicht enthaltenen intertextuellen Verweise sind auf situative (biographische und zeithistorische) Kontexte ebenso bezogen wie auf das im Text transportierte Kulturwissen. Es finden sich Anspielungen auf biblische Texte aus dem Alten und Neuen Testament, auf Homers „Ilias“ sowie auf Heines „Atta Troll“, außerdem weitere Kontextuierungen, die sich nur über eine Zusammenschau der Prätexte erschließen lassen. Aus dem dichten Gefüge wechselseitiger Bezüge entsteht tatsächlich so etwas wie eine „semantische Explosion“ im Sinne Lachmanns, die eine engagierte - und eben kontextbezogene - Lektüre in Gang setzt. Das jeweilige Zusammenspiel von Kontextwissen und Zusatzcodierungen über Prätexte möchte ich beschreiben, indem ich heuristisch zwischen situativen, das heißt den unmittelbaren Entstehungskontext betreffenden, historischen (d.h. auf das gesellschaftspolitische Umfeld und die Geschichte bezogenen) und mentalen Kontexten unterscheide (unter letzteren fasse ich das eingeschriebene Kulturwissen, geistes- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte, Bezüge zur Literatur- und Kunstgeschichte etc.). Des Weiteren differenziere ich zwischen kontextbezogenen (bloßen) Anspielungshorizonten und deutlich erkennbaren Prätexten, um so meine Hauptfrage zu klären: Wie schreiben sich Kontexte, wie schreiben sich Prätexte in den poetischen Text ein, wie entstehen durch ihr Zusammenspiel Zusatz-Codierungen und damit Verstehens-Möglichkeiten des - mehr oder minder - hermetischen Textes? Anrufung des Großen Bären 23 Großer Bär, komm herab, zottige Nacht, Wolkenpelztier mit den alten Augen, Sternenaugen, durch das Dickicht brechen schimmernd deine Pfoten mit den Krallen, Sternenkrallen, wachsam halten wir die Herden, doch gebannt von dir, und mißtrauen deinen müden Flanken und den scharfen halbentblößten Zähnen, alter Bär. Ein Zapfen: eure Welt. Ihr: die Schuppen dran. Ich treib sie, roll sie von den Tannen im Anfang zu den Tannen am Ende, schnaub sie an, prüf sie im Maul 23 Bachmann, Ingeborg (1978): „Anrufung des Großen Bären“. In: Ingeborg Bachmann: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Christine Koschel/ Inge von Weidenbaum/ Clemens Münster. München: Piper, 95. 234 Christine Lubkoll und pack zu mit den Tatzen. Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht! Zahlt in den Klingelbeutel und gebt dem blinden Mann ein gutes Wort, daß er den Bären an der Leine hält. Und würzt die Lämmer gut. ’s könnt sein, daß dieser Bär sich losreißt, nicht mehr droht und alle Zapfen jagt, die von den Tannen gefallen sind, den großen, geflügelten, die aus dem Paradiese stürzten. Wie sehr dieser Text sich einem leichten Verständnis entzieht, konnte im Rahmen einer empirischen Untersuchung (2007) anlässlich von studentischen Interpretationen dieses Gedichts festgestellt werden. Erkannt wurde durchwegs, dass hier ein bedrohliches Szenario entworfen wird; worin aber die Bedrohung besteht, darüber gingen die Meinungen weit auseinander. Der „große Bär“ wurde mit Hitler, mit Krieg (insbesondere dem 2. Weltkrieg), mit Russland, mit einer drohenden Umweltkatastrophe oder auch allgemeiner mit einer unspezifischen zerstörerischen oder gewalttätigen Macht assoziiert. Auch der Appellcharakter des Gedichts wurde unterschiedlich gedeutet: Das Spektrum reichte hier von einer Aufforderung zum Stillhalten bis zum Aufruf zu erhöhter Wachsamkeit. Was steht nun im Text? Was lässt sich an ihm „festmachen“? Die Schwierigkeit des Bachmann’schen Gedichtes besteht offensichtlich darin, dass man über den unmittelbar situativen, auch über den historischen bzw. zeitpolitischen Kontext im Text keinen expliziten Hinweis erhält und sich dieser nur durch eine Fülle von mentalen Kontexten erschließt, die teilweise als Prätexte eingespielt werden, teilweise aber auch nur als möglicher Assoziationsraum einbezogen werden können. Versuchen wir es mit einer differenzierten Kontextanalyse: (a) Zum unmittelbaren situativen Kontext, zum Entstehungskontext des Gedichts sagt der Text nichts; man weiß auch nicht viel darüber. Der Text wurde zuerst im Januar 1955 im Jahrgang 9, Heft 1 der Zeitschrift „Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ veröffentlicht; er erschien der Autorin offensichtlich so wichtig und programmatisch, dass sie ihn in ihrem zweiten Gedichtband 1956 zum Titelgedicht erhob. 24 Fragt man weiterhin (b) nach möglichen historischen Kontexten für die im Gedicht beschriebene Bedrohung, so kommen zwei Bezugshorizonte in Frage, nämlich zum einen die Erinnerung an die Gewaltherrschaft des Naziregimes, an die Katastrophe des Weltkrieges und des Genozids - ein Thema, das in der Literatur der Nachkriegszeit höchst präsent war und um dessen Aufarbeitung sich zahlreiche Schriftsteller bemühten (zu denen, wie man 24 Vgl. dazu Schmaus, Marion (2002): „Anrufung des großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld“. In: Monika Albrecht/ Dirk Göttsche (Hrsg.): Bachmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 67-78. Prätexte - Kontexte 235 weiß, auch Ingeborg Bachmann erklärtermaßen gehörte). Ein zweiter historischer Kontext ist aber zum anderen auch die unmittelbare gesellschaftspolitische Gegenwart der frühen 50er Jahre, und zwar hier nicht nur die zunehmende Verdrängungsmentalität der Nachkriegsgesellschaft im Zeichen von Wiederaufbau und wirtschaftlichem Aufschwung, sondern auch die konkrete politische Situation. Zu denken ist an die äußerst kontrovers diskutierte Remilitarisierungspolitik seit 1950, die schließlich im Oktober 1954 zu den Pariser Verträgen und damit zum Beitritt der Bundesrepublik zur Westeuropäischen Union und zur Nato führte; die Angst vor einem erneuten verheerenden Krieg bestand spätestens seit dem Koreakrieg 1950, und man reagierte darauf eben entweder mit der Forderung nach Wiederaufrüstung oder mit einem radikal pazifistischen Engagement. All dies steht nicht im Text Ingeborg Bachmanns. Die Zeitgenossen, so lässt sich vermuten, konnten den unmittelbaren politischen Kontext mitdenken; in den erwähnten studentischen Interpretationen hat niemand die entsprechenden Zusammenhänge erkennen können, wohl weil solches historisches Wissen kaum mehr präsent gehalten wird und als Kontext (fast) verloren geht. Wie also können wir, wenn über den unmittelbaren Entstehungskontext und den gesellschaftspolitischen Bezugshorizont im Text nichts gesagt ist, trotzdem den Problemgehalt darauf beziehen und ihn entsprechend erschließen? - Wenden wir uns den mentalen Kontexten zu. Sie sind vielfältig und bilden ein enges Gewebe, das, wie ich behaupten möchte, direkt mit den bisherigen Überlegungen korrespondiert. Ich nähere mich dem Gedicht zunächst über eine Offenlegung des dichten intertextuellen Bezugsnetzes, über das der Text sein Thema entfaltet und gestaltet. Die Bachmann-Forschung hat die vielfältigen Anspielungshorizonte bereits - jeweils vereinzelt - benannt. 25 Zunächst wurde in der ersten Versgruppe eine Anspielung auf Heinrich Heines „Atta Troll“ gesehen, jenen „deutschen Tanz- und Tendenzbär“, von 25 Vgl. dazu u.a. Bartsch, Kurt (1997): „Anrufung des Großen Bären und Gedichte 1957 bis 1961“. In: Ders.: Ingeborg Bachmann. Stuttgart: Metzler, 60-73; Heißenbüttel, Helmut (1989): „Gegenbild der heillosen Zeit. Zu Anrufung des Großen Bären“. In: Christine Koschel/ Inge von Weidebaum (Hrsg.): Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München: Piper, 20-23; Höller, Hans (1989): „Die gestundete Zeit und Anrufung des Großen Bären. Vorschläge zu einem neuen Verständnis“. In: Christine Koschel/ Inge von Weidenbaum (Hrsg.): Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München: Piper, 337-381; Schmaus, Marion (2002): „Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld“. In: Monika Albrecht/ Dirk Göttsche (Hrsg.): Bachmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 67-78; Unseld, Siegfried (1989): „Anrufung des Großen Bären“. In: Christine Koschel/ Inge von Weidenbaum (Hrsg.): Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München: Piper, 16-19. 236 Christine Lubkoll dem es heißt: „Aufstehen wird er im Liede […], auf vierfüßigen Trochäen“. 26 So kommt auch Bachmanns „großer Bär“ daher, „auf vierfüßigen Trochäen“ in der 4. und 5. Verszeile: […] durch das Dickicht brechen schimmernd deine Pfoten mit den Krallen […] Bekanntlich wandte sich Heine mit seinem Atta Troll gegen jegliche bloß tagespolitische Tendenzdichtung; und sollte Ingeborg Bachmann an diesen Atta Troll gedacht haben - bewiesen werden kann das nicht, aber die Stelle fällt schon, in einem ansonsten metrisch unregelmäßigen Gedicht, auf - dann erscheint der zitierte Bär auch hier in einem Szenario der Bedrohung, ist negativ konnotiert. Eine versteckte poetologische Selbstaussage also? Gegen ein bloßes zeitpolitisches Engagement der Dichtung, jedenfalls einer Dichtung, die sich darin erschöpfen würde? Die komplexe Schichtung des Gedichtes, wie sie sich im Folgenden darstellt, legt eine solche Lesart durchaus nahe. Sie zeigt aber zugleich auch, wie zu sehen sein wird, dass das Tagespolitische nicht ausgeschlossen, sondern durch die Verwebung mit anderen Kontexten gerade auch angesprochen wird, allerdings in verallgemeinernder Perspektive. Der nächste Prätext, der gleich in der ersten Versgruppe aufgerufen wird, ist der 18. Gesang der homerischen Ilias, jene Stelle nämlich, an der der berühmte Schild des Achill beschrieben wird. 27 Es herrscht der Trojanische Krieg; nach dem Tod des Patroklos schmiedet nun Hephaistos, Schutzgott der Schmiede, des Handwerks und der Künste, den Schild des Achill, auf dem zu sehen ist: oben, am Himmel, Mond, Sonne und alle Gestirne, die rings den Himmel umleuchten, (…), Auch die Bärin, die sonst der Himmelwagen genannt wird … 28 unten, auf der Erde, zwei Städte, in denen die Menschen einerseits fröhlich leben [hier: Hochzeit feiern], in denen aber andererseits Zwist herrscht [Zank und Hader] und schließlich: Kriegsgefahr. 29 Ein kriegerisches Heer wird nun beschrieben, das im Begriff ist, eine archaische Idylle zu zerstören. Das ist die in Bachmanns Text angespielte „Hirtenszene“: 520 Als sie den Ort nun erreicht, den zum Hinterhalt sie gewählet, Nahe dem Bach, wo zur Tränke das Vieh von der Weide geführt ward; Dort nun setzten sich jene, geschirmt mit blendendem Erze. Abwärts saßen indes zwei spähende Wächter des Volkes, 26 Heine, Heinrich (1985): Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Band 4. Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Deutschland. Ein Wintermärchen. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bearb. von Winfried Woesler. Hamburg: Hoffmann und Campe, 79. 27 Mühll, Peter von der, Hrsg. (1986): Homers Werke. 1. Band. Ilias. Aus dem Griechischen von Johann Heinrich Voss. Zürich: Teubner. 28 ebd.: 18. Gesang, Vers 484-487, Seite 319. 29 ebd.: 18. Gesang, Vers 490-509, Seite 319-320. Prätexte - Kontexte 237 Harrend, wann sie erblickten die Schaf’ und gehörnten Rinder. 525 Bald erschienen die Herden, von zwei Feldhirten begleitet, Welche, den Trug nicht ahndend, mit Flötenklang sich ergötzten. Schnell auf die Kommenden stürzt’ aus dem Hinterhalte die Heerschar, Raubt’ und trieb die Herden hinweg, der gehörnten Rinder Und weißwolligen Schaf’, und erschlug die begleitenden Hirten. 530 Jene, sobald sie vernahmen das laute Getös’ um die Rinder, Welche die heiligen Tore belagerten; schnell auf die Wagen Sprangen sie, stürmten in fliegendem Lauf, und erreichten sie plötzlich. Alle gestellt nun schlugen sie Schlacht um die Ufer des Baches, Und hin flogen und her die ehernen Kriegslanzen. Während über diesen Prätext das Sternbild des „Großen Bären“ also deutlich mit dem Szenario des Krieges verbunden ist, wird die eigenartige Aufforderung an den Bären, „herabzukommen“, wiederum über einen weiteren Prätext fassbarer. Im Buch Hiob im Alten Testament heißt es in der Rede des Herrn aus dem Wettersturm: Kannst Du die Bande des Siebengestirns [d.h.: des „Großen Wagens“, des „Großen Bären“, C.L.] zusammenbinden oder den Gürtel des Orion auflösen? Kannst Du die Sterne des Tierkreises aufgehen lassen zur rechten Zeit oder die Bärin samt ihren Jungen heraufführen? 30 Und in der zweiten Rede des Herrn aus dem Wettersturm werden zwei „Riesentiere“ beschrieben, der Behemoth und der Leviathan. Auch hier provoziert der Herr die menschliche Kraftmesserei: Kann man ihn fangen Auge in Auge und ihm einen Strick durch die Nase ziehen? Kannst Du den Leviathan fangen mit der Angel und seine Zunge mit einer Fangschnur fassen? 31 Offensichtlich wird also in Bachmanns Gedicht das Bild des „großen Bären“, in einer Verkoppelung des homerischen mit dem alttestamentarischen Prätext, gleich in zweifacher Hinsicht semantisch gefüllt: Es steht mit der Fatalität kriegerischer Zerstörung in Verbindung; und es wird in den Zusammenhang menschlicher Hybris gestellt. Allerdings wird diese Konstellation im Laufe des Gedichtes, sozusagen nachträglich, noch ein drittes Mal semantisch aufgeladen, nämlich mit dem modifizierten Zitat aus der Weihnachtsgeschichte „Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht“ in Vers 19. Im Lukas-Evangelium heißt es: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. 32 30 Die Bibel (1967). Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt, Buch Hiob 38, 32. 31 Ebd.: Buch Hiob 40, 15-41, 26; hier: 40, 24-25. 32 Ebd.: Lk 2, 11. 238 Christine Lubkoll Über das angedeutete Hirtenszenario ist die dritte mit der ersten Versgruppe verbunden; beide Hirtenszenen enthalten im Übrigen, was durchaus erwähnenswert erscheint, das markante Superzeichen des Sterns, der über ihnen steht. Durch das bedrohliche Anfangsbild, aber auch durch die erschreckend lapidare Modifikation des Zitats (fürchtet euch oder fürchtet euch nicht) wird allerdings die christliche Heilsbotschaft (auf die die dritte Versgruppe rekurriert) radikal in Frage gestellt. Dies umso mehr, als ja auch die weiteren religiösen Anspielungen im Gedicht skeptisch-ironisch eingesetzt werden: Zum einen die Anklänge an die Osterbotschaft: Das Symbol des Osterlamms bzw. die Vorstellung des stellvertretenden Opfers erscheint auf schale Weise säkularisiert, banalisiert, kommerzialisiert. Zum anderen endet der Text mit einem Verweis auf den Sündenfall und den Sturz Luzifers; die Vertreibung aus dem Paradies ist das letzte Wort des Gedichts. Übrigens findet sich hier eine weitere Anspielung. Sie betrifft das merkwürdige Bild der Tannen, die ja ihrerseits als kulturgeschichtliche Symbole des Weihnachtsfestes in das Gedicht Eingang gefunden haben. Wenn am Schluss des Gedichtes diese „geflügelten Tannen“ aus dem Paradiese stürzen, so assoziierten Menschen, die den Krieg miterlebt hatten, dieses Bild unweigerlich mit den Bombennächten. Wurden doch im Volksmund die von den Alliierten gesandten, den Bomben unmittelbar vorausgehenden Leuchtkörper „Christbäume“ oder „Lichterbäume“ genannt. Tatsächlich findet man in Ingeborg Bachmanns autobiographischer Erzählung „Jugend in einer österreichischen Stadt“ einen entsprechenden Hinweis. Dort heißt es: Die Kinder kommen noch einmal ins Staunen: die nächsten Christbäume fallen wirklich vom Himmel. Feurig. Und das Geschenk, das sie dazu nicht erwartet haben, ist für die Kinder mehr freie Zeit. Sie dürfen bei Alarm die Hefte liegen lassen und in den Bunker gehen […] 33 Mit dieser intratextuellen Erweiterung und dem damit verbundenen Verweis auf das pragmatische Alltagswissen der Zeit schließt sich der Kreis, von der impliziten (archaischen) Kriegsanspielung in der ersten Versgruppe bis zur (für Zeitgenossen offenbar deutlich mitklingenden) Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, verbunden mit der katastrophalen Vision einer möglichen Wiederholung. Man könnte sagen: Der Bogen des Gedichts reicht damit von der (literarischen) Urzeit bis in die Gegenwart, vom Mythos bis zur Geschichte, es behandelt also das Thema als ein ebenso universelles wie vielschichtiges Problem (auch dies mag die Anrede implizieren: „alter Bär“). Eingebunden ist die Thematik in die durch die Kombination der Prätexte aufgemachte Spannung von Hybris und Erlösung, wobei der christlichen Botschaft (zumindest in der hier pervertiert erscheinenden Form) eine Absage erteilt wird. In diesem Zusammenhang ist noch ein letzter intertextueller bzw. intratextueller Bezug denkbar. Zur Zeit der Entstehung des Gedichts setzte sich 33 Bachmann, Ingeborg (1978): „Jugend in einer österreichischen Stadt“. In: Ingeborg Bachmann: Werke. Bd. 2, 84-93, hier 90 (Anm. 23). Prätexte - Kontexte 239 Ingeborg Bachmann intensiv mit Simone Weils Buch „Das Unglück und die Gottesliebe“ auseinander, das 1953 in der Übersetzung von Friedhelm Kemp erschienen war. 34 Im ersten Halbjahr 1955 wurde im BR München ein Radio- Essay Ingeborg Bachmanns gesendet, der mit dem Denken der französischen Intellektuellen vertraut machen wollte. Dort kommentiert die Autorin Weils Kritik an jeder Art von Totalitarismus folgendermaßen: Aber sie denkt so, weil sie vor allem eines vermeiden will: nämlich einen imaginären Gott zu schaffen, ein neues „Großes Tier“ - der Ausdruck ist Platons „Politeia“ entnommen -, das sich zu den anderen „Großen Tieren“ gesellen würde. Zu den „Großen Tieren“ (die Formulierung ist ein Zitat aus dem Buch von Simone Weil, C.L.) zählt sie alles, was Macht ausübt und Macht ausgeübt hat. 35 Im Folgenden wird dieser Gedanke - in Ingeborg Bachmanns Essay - konkretisiert, an Beispielen veranschaulicht: Es sind die verschiedensten totalitären Weltanschauungen - Atheismus, Materialismus, dogmatische Religionen, Marxismus -, in denen Simone Weil das „Große Tier“ erblickt, gegen das es anzukämpfen gilt: die durch und durch bedrohliche Macht der Ideologien. Nimmt man diesen Prätext noch hinzu, dann lassen sich insgesamt drei Dimensionen der Bedrohung ausmachen, die im Bild des „Großen Bären“ zusammengeführt bzw. übereinandergeschichtet werden: Die - vom Mythos bis in die unmittelbare Gegenwart reichende - Gefahr des Krieges; das Problem menschlicher Hybris; schließlich die fatale Wirkung von Totalitarismus und ideologischem Dogmatismus. Erschlossen werden kann diese Konstellation zum einen über intertextuelle Verweise (Homer, Altes und Neues Testament, Heinrich Heine, Simone Weil), zum anderen auch durch Anklänge an „Alltagswissen“. (Dies betrifft vor allem die Assoziation von „Lichterbaum“ und Bombennächten, die aber erst in Verbindung mit den im Text manifesten Prätexten an Plausibilität gewinnt.) Nun muss allerdings eingeräumt werden, dass die durch die philologische Analyse gewonnenen Zusatzinformationen gerade nicht jedem/ jeder LeserIn zugänglich sind; außerdem wird auf die unmittelbare oder für die Zukunft befürchtete Kriegsgefahr nur ganz schemenhaft am Ende hingedeutet. Trotzdem spielt, wie ich immer noch oder gar verstärkt behaupten möchte, der anfangs skizzierte zeithistorische Hintergrund eine Rolle. Es gibt also einen Kontext, der im Text nicht direkt, nicht konkret benannt wird, der aber trotzdem - zeitgenössischen RezipientInnen mehr noch als heutigen - im Gedicht präsent zu sein scheint. Wie kann die literaturwissenschaftliche Analyse damit umgehen? Sie kann natürlich - im Sinne eines pragmatischen Ansatzes - annehmen bzw. voraussetzen, dass der 34 Weil, Simone (1953): Das Unglück und die Gottesliebe. Deutsch von Friedhelm Kemp. München: Kösel. 35 Bachmann, Ingeborg (1978): „Das Unglück und die Gottesliebe - Der Weg Simone Weils“. In: Ingeborg Bachmann: Werke. Bd. 4, 128-155, hier 149 (Anm. 23). 240 Christine Lubkoll Kontext (die politische Situation der Nachkriegszeit) so drängend, so übermächtig ist, dass er zunächst gar nicht benannt werden muss. Eine solche Lösung kann jedoch allein nicht befriedigen, zumal dann, wenn die zeitliche Distanz hinzukommt und - wie die Untersuchung studentischer Interpretationen gezeigt hat - spätere Generationen nicht mehr über das notwendige Kontextwissen verfügen. Andererseits kann man festhalten, dass gerade hier die Aufgabe der Literaturwissenschaft begründet ist: nämlich in der Form eines Kommentars die Zusammenhänge zu erhellen und die fehlenden, hier sowohl die kontextuellen als auch die prätextuellen Informationen zu liefern, die zum Verständnis notwendig sind. Ihr Ziel ist es, mit Hilfe einer Aufschlüsselung des im Text enthaltenen Anspielungspotentials die Kontexte des Textes zu rekonstruieren bzw. zu präzisieren oder - um es nochmals mit Renate Lachmann zu sagen - die „semantische Explosion“ fruchtbar zu machen, die sich aus der Komposition des Textes ergibt. Nimmt man Lachmanns Konzept, das im Übrigen zwischen einem strukturalistischen Beschreibungs- und einem hermeneutischen Verstehens- Modell vermittelt, genau, dann ergibt sich noch ein anderer Aspekt. Denn es sind demnach nicht nur die Prätexte, die dem Text eine Zusatz-Konnotation verleihen, sondern es ist zugleich auch die Aktivität der Lektüre, aus der die Bedeutung des Textes überhaupt erst - und immer wieder neu - entsteht. Dies bedeutet, dass es auch und nicht zuletzt der Erfahrungskontext des/ der Lesers/ Leserin - auch eines/ einer nicht zeitgenössischen Lesers/ Leserin - ist, der an der Konstruktion der Bedeutung einen erheblichen Anteil hat. Dabei können sich, wiederum historisch bedingt, Verschiebungen und durchaus auch neue Kontextualisierungen ergeben. So gesehen erscheint es nicht einmal abwegig, wenn heutige LeserInnen im Text Ingeborg Bachmanns „nur“ eine allgemeine Kriegsgefahr erkennen und dies nicht auf den zeitgenössischen Kontext beziehen. Mit seinem weitgespannten intertextuellen Netz macht Bachmanns Gedicht eine solche Lesart durchaus möglich, legt es die überzeitliche Dimension doch durch die Rückgriffe bis weit in die Antike sogar nahe. Das Verhältnis von Text, Prätext und Kontext muss daher als in permanenter Dynamik befindlich gedacht werden. Einen entsprechenden Ansatz vertritt grundlegend, in einer anthropologischen Perspektive, der französische Philosoph Paul Ricœur. Wie Renate Lachmann verfolgt er dabei die Absicht, strukturalistische und hermeneutische Texterschließungsverfahren zusammenzuführen, was ja nichts anderes heißt, als dass Textbefunde und ihre außertextlichen Voraussetzungen in eine unmittelbare Relation gestellt als Zusammenhang rekonstruiert werden. In seiner umfassenden Studie zum Verhältnis von „Zeit und Erzählung“ 36 unterteilt er - in Anlehnung an den aristotelischen Mimesis-Begriff - drei Phasen bzw. Ebenen der 36 Ricœur, Paul (1988-91): Zeit und Erzählung. 3 Bde. Paderborn: Fink (franz. Orig.: 1983- 85). Prätexte - Kontexte 241 Bedeutungs-Konstitution von Texten (wobei er von der Hypothese ausgeht, dass zwischen der Erzählung einer Geschichte, also der Konfiguration des Textes, und der menschlichen Zeiterfahrung bzw. dem historischen Charakter der Erfahrung, eine Korrelation besteht - im Sinne einer anthropologischen Konstante): 37 Mimesis I: Am Anfang steht das jedem Text vorangehende oder zugrunde liegende Vorverständnis, sowohl, was die Regeln der Texterstellung als auch, was die „symbolischen Ressourcen“ betrifft - also das Kultur- und Kontextwissen, auf das ein/ eine SprecherIn zurückgreifen kann. Mimesis II: Diese Ebene bezieht sich auf den manifesten Text, die „Fabel- Komposition“, strukturalistisch gesprochen auf den Übergang vom Paradigmatischen zum Syntagmatischen, hermeneutisch gesprochen auf die dingfeste Umsetzung des Vorwissens bzw. Vorverständnisses im fiktionalen Text. Mimesis III: Hinzu kommt schließlich die wichtige Rolle des/ der Lesers/ Leserin und damit die Berührung des fiktionalen Textes mit der „Wirklichkeit“, also wieder mit Kontexten, wobei diese nicht identisch mit dem Erfahrungshorizont des/ der Autors/ Autorin sein müssen bzw. letztlich auch nicht sein können. Die drei Ebenen kennzeichnet Ricœur mit den Begriffen der „Präfiguration“ (Verweisungen auf das Vorher der dichterischen Kompositionsarbeit), der „Konfiguration“ (Akt der schöpferischen Texterstellung) und der „Refiguration“ (das „Nachher“ der dichterischen Komposition, bezogen auf die Rezeptionstätigkeit). Diese Formulierungen markieren zugleich das konstitutive Wechselverhältnis von Text und Kontext. Sie verweisen auch auf die programmatische Zusammenführung des hermeneutischen mit dem strukturalistischen Ansatz, nämlich auf den Versuch, den im Text sichtbaren (und in der Strukturanalyse rekonstruierbaren) Akt der Bedeutungs-Konstitution mit im Text nicht manifesten, aber doch implizit wirksamen Erfahrungsdimensionen des/ der Autors/ Autorin und des/ der Lesers/ Leserin kurzzuschließen. In der vorangegangenen Analyse von Ingeborg Bachmanns Gedicht „Anrufung des großen Bären“ sollte genau dies gezeigt werden: nämlich der Zugang zu „Mimesis I“ und „Mimesis III“, also den vermuteten zeithistorischen und poetologischen Voraussetzungen ebenso sowie den erwartbaren Verstehens-Möglichkeiten durch die Lektüre, mittels einer genauen Analyse der Textkonfiguration („Mimesis II“), hier einer dichten Komposition von Prätexten, die auf den Entstehungskontext, aber auch auf mögliche Rezeptionskontexte gleichermaßen verweisen. In ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung äußert sich Ingeborg Bachmann folgendermaßen über das Verhältnis der Dichtung zur Geschichte: 37 Siehe dazu ebd.: Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, hier das zentrale Kapitel I.3: „Zeit und Erzählung. Die dreifache Mimesis“, 87-135. 242 Christine Lubkoll Daß Dichten außerhalb der geschichtlichen Situation stattfindet, wird heute wohl niemand mehr glauben - daß es auch nur einen Dichter gibt, dessen Ausgangsposition nicht von den Zeitgegebenheiten bestimmt wäre. Gelingen kann ihm, im glücklichsten Fall, zweierlei: zu repräsentieren, seine Zeit zu repräsentieren, und etwas zu präsentieren, für das die Zeit noch nicht gekommen ist. […] Zeitlos freilich sind nur die Bilder. Das Denken, der Zeit verhaftet, verfällt auch wieder der Zeit. Aber weil es verfällt, eben deshalb muß unser Denken neu sein, wenn es echt sein und etwas bewirken soll. 38 Literatur B ACHMANN , Ingeborg (1978): „Anrufung des Großen Bären“. In: Ingeborg Bachmann: Werke. Bd. 1. 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Roland Borgards Der Kontext als Text Ein Lektürevorschlag für das zweite Clarus-Gutachten und die Debatte um Woyzecks Zurechnungsfähigkeit 1 Methodische Vorbemerkung Jeder Kontext ist ein Text. Das ist trivial, hat aber Folgen. Diese Folgen könnte man als interpretatorischen Imperativ formulieren: Behandle nie einen Kontext als bloßes Mittel zum Zweck einer Textinterpretation! Freilich: Wir müssen (und wollen) interpretieren. Und sicher: Wir müssen (und wollen) bei dieser Interpretation auf andere Texte zurückgreifen. Aber diese Texte sprechen nicht von selbst und verstehen sich nicht von selbst; sie sind vielmehr ihrerseits interpretationsbedürftig. Dies liegt schlicht daran, dass die Form eines Textes sich dem Inhalt des Textes gegenüber nie neutral verhält, sondern im gewissen Sinne immer parteiisch agiert. Für diese produktiven Friktionen zwischen Formalem und Inhaltlichem (die selbst bei Geburtsurkunden und Telefonbüchern ihre Wirksamkeit entfalten) bedarf es geeigneter Lektüreverfahren, wie man sie aus der Analyse literarischer Texte kennt. Man muss nur den Anwendungsbereich dieser Lektüreverfahren ausweiten und sie auch auf die Kontexte anwenden. Nichts anderes macht im Grunde die kulturwissenschaftlich und wissensgeschichtlich orientierte Literaturgeschichtsforschung: 1 Sie behandelt Kontexte als Texte. Denn nicht nur literarische Texte, sondern auch nicht-literarische Kontexte sind sowohl in ihren Inhalten als auch in ihren Formen, in ihrer spezifischen Rhetorik konstitutive Elemente einer Wissensgeschichte. Insofern erschöpfen sich Kontexte nicht in einer explikativen Funktion; sie sind vielmehr immer Teil der Geschichte, die ohne sie nicht einfach an Plausibilität, sondern an Substanz verlieren würde. Ein Kontext ist nie bloße Quelle für einen Text, nie bloßer Einfluss, sondern verortet sich immer schon selbst - vermittelt über argumentative und rhetorische Strategien - im Feld der Kultur. Literarische Wissensgeschichte bringt, mit Greenblatt formuliert, Kontext und Text also nicht in das Verhältnis „von Ursache und Wirkung oder von Quelle und literarischer Verarbeitung“. (Greenblatt 1993: 114) Vielmehr enthierarchisiert sie die Text-Kontext-Relation und unterzieht ihr gesamtes Material einer philologisch und ästhetisch geschulten Interpreta- 1 Vgl. hierzu die Debatten in der Zeitschrift für Germanistik und in KulturPoetik: Köppe (2007a, b); Borgards (2007); Dittrich (2007); Jannidis (2008); Stiening (2007); Vogl (2007). 246 Roland Borgards tion. Sie kann dies, weil in jedem Kontext wie in jedem Text ein rhetorisches Potential liegt, das über den reinen Sachgehalt hinausweist. 2 Sie will dies, insofern es ihr bei jedem Kontext wie bei jedem Text nicht um die bloßen Inhalte des Wissens geht, sondern immer auch um die Weisen seiner Repräsentation. Literarische Wissensgeschichte problematisiert damit im Besonderen die Differenz zwischen den so genannten „zwei Kulturen“, die systematische Differenz zwischen Kunst und Wissenschaft. Wohlgemerkt: Es geht um die Problematisierung, nicht um die Aufhebung der Differenz (WissensgeschichtlerInnen sind keine Identitätstheoretiker). Problematisch erscheint eine Differenzierung nach Kriterien der Wahrheit oder Sachhaltigkeit: Wissenschaft sei wahr, faktenorientiert, eindeutig, deskriptiv, referentiell und nützlich (oder sollte dies alles zumindest sein); Kunst hingegen sei scheinhaft, fiktional, vieldeutig, parteiisch, reflexiv und angenehm (oder darf dies zumindest alles sein). Doch diese Differenz ist so keineswegs zwingend. Foucault hat darauf hingewiesen, dass der „Gegensatz zwischen dem Wahren und dem Falschen“ (Foucault 1991: 13) nicht ontologisch gegeben ist, sondern jeweils historisch konfiguriert wird. Auch die Wahrheit der Wissenschaft ruht auf historisch lokalisierbaren und begrenzten Formen; auch ein wissenschaftliches Wissen entsteht aus einem komplexen Netz theoretischer Vorannahmen und praktischer Vorbedingungen. Auch im Raum der Wissenschaft sind Fragen der Form den Inhalten nicht nach-, sondern gleichgeordnet; auch hier gehen Formvorgaben in die Gegenstandskonstitution mit ein. Es sind dies eigene Formen, eigene Gesetzmäßigkeiten, eigene Praktiken, die sich im Einzelnen und im Einzelfall in ihrer lokalen Reichweite nachweisen lassen müssen. 3 Insofern arbeitet die Wissensgeschichte an einer Differenzierung, nicht an der Aufhebung aller Differenz. Und doch sind es stets Formen, die konstitutiv für das Wissen sind. Insofern arbeitet die Wissensgeschichte mit ihrer Kritik am metaphysischen Wahrheitsbegriff an der Problematisierung einer scheinbar transzendentalen Differenz 4 zwischen den Redeordnungen, der literarischen auf der einen und der wissenschaftlichen auf der anderen Seite. Gegen eine eindeutige Differenz setzt sie vielfältige Differenzierungsprozesse. Arbeitspraktisch gewendet: Jeder Kontext ist ein Text. 2 Vgl. zu den Argumenten strukturalistischer Linguistik und der „poetischen Funktion“, die sich in jeder Mitteilung lokalisieren lässt, Jakobson (1993); vgl. zu den poststrukturalistischen Argumenten vor allem de Man (1983). 3 Auf die Stärke einer solchen lokalen und lokalisierten Analyse hat vor kurzem Vogl (2007) aufmerksam gemacht. 4 „Transzendentale Differenz“‘ hier in Analogie zum „transzendentalen Signifikat“ bei Derrida. Zu Derridas „Problematisierung der Unterscheidung von Text und Kontext“ und der damit zusammenhängenden von „Objekt- und Metasprache“ vgl. Bennington/ Derrida (1994: 92-107, bes. 101 f.). Mit Derrida lässt sich die ergänzende Umkehrung meiner folgenreichen Trivialität formulieren: Jeder Kontext ist ein Text. Und: „Es gibt nichts als Kontexte.“ (ebd.: 97) Der Kontext als Text 247 2 Vier paradigmatische Interpretationsansätze Jeder Kontext ist ein Text. Welche Folgen es hat, wenn man diese Trivialität ernst nimmt, möchte ich an einem berühmten Beispiel veranschaulichen. Keine Interpretation von Georg Büchners „Woyzeck“ kommt ohne den Rückgriff auf das so genannte zweite Clarus-Gutachten aus. Ein nachgerade paradigmatischer Fall einer Text-Kontext-Relation: auf der einen Seite Büchners literarischer Text, auf der anderen der wissenschaftliche, auf Johann Christian August Clarus zurückgehende Kontext. Das Verhältnis dieser beiden Texte zueinander lässt sich in verschiedenen Weisen beschreiben. Erste Möglichkeit: Büchner hat das Clarus-Gutachten gelesen, die dort vertretene These von Woyzecks Zurechnungsfähigkeit zur Kenntnis genommen und hat dann im Zuge einer „dichterischen Revision des historischen Prozesses“ (Glück 1984: 245) 5 das Drama als Gegengutachten konzipiert, in dem Woyzeck als „unverantwortlich und ‚unschuldig‘“ (Reuchlein 1985: 74) dargestellt wird. Zweite Möglichkeit: Büchner übernimmt aus dem Clarus-Gutachten die Frage („Ist Woyzeck zurechnungsfähig oder nicht? “) sowie einige Elemente der Anamnese (z.B. die Stimmenhalluzinationen), nicht aber die Antwort („Ja, Woyzeck ist zurechnungsfähig.“). Büchner hält demnach also „die Kernfrage der Gutachten nach der Zurechnungsfähigkeit bis zuletzt offen“ (Kubik 1991: 169) und gibt sie an den/ die LeserIn/ ZuschauerIn weiter, indem er den Fokus „weg von der Frage nach eindeutigen Krankheitsdiagnosen oder eindeutiger juristischer Schuld hin zu der Vorgeschichte der Tat und damit der Pathogenese des Täters“ (Kubik 1991: 170) verschiebt. Dritte Möglichkeit: Büchner und Clarus argumentieren und agieren im gleichen kulturellen Feld: dem der diskursiven Produktion moderner Subjekte an der Grenze zwischen Norm und Anomalie. Pethes (2006) hat das an der Doktorszene für Büchner gezeigt, dieses Lektüreverfahren aber nicht auf das Clarus-Gutachten angewandt; Neumeyer (2009b) hat dies - in einer Literatur und Wissenschaften umgreifenden, wissensgeschichtlich orientierten Lektüre, also Kontexte als Texte lesend - für das Feld der ernährungsphysiologischen Experimente gezeigt, nicht aber für das Feld der juristischen Zurechnungsfrage. Vierte Möglichkeit (vgl. Campe 1998): Das Drama bezieht sich nicht einfach in seinen Inhalten auf das Clarus-Gutachten, sondern reflektiert die diskursive und mediale Form, in der Justizfälle um 1830 und im Rahmen der Debatte um die Zurechnungsfähigkeit konstituiert werden. Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit wird nicht nur nicht entschieden, sie wird gar nicht gestellt. Kritisch analysiert werden vom Drama vielmehr die diskursiven Bedingungen, unter denen die juristische Frage nach der Zurechnungs- 5 Vgl. auch Glück (1990: 205). Dieser These folgen aktuell u.a. Knapp (2000: 198), Köhnen (2003: 166) und Martin (2007: 191). Vgl. zum aktuellen Stand der „Woyzeck“-Forschung Neumeyer (2009a). 248 Roland Borgards fähigkeit auf Subjekte anwendbar gemacht wird. Für eine literarische Wissensgeschichte sind nur die dritte und die vierte Möglichkeit von Interesse. Denn erst dort werden Kontexte als Texte gelesen. 3 Das Clarus-Gutachten Liest man das Clarus-Gutachten als Text, dann ergibt sich daraus fast zwingend eine Pluralisierung der Kontexte, die ihrerseits wiederum als Texte gelesen werden müssen. Es gibt keine Grenze der Kontextualisierung, die aus der Sache selbst hervorgehen würde. Es gibt nur Vorschläge, wie sich Textgruppen bilden lassen, die für die Interpretation ergiebig sind. Für das hier präsentierte Beispiel möchte ich eine Textgruppe vorschlagen, die aus vier Elementen besteht: Woyzeck in Textspuren, Woyzeck im Clarus-Gutachten, Woyzeck in der Rechtsdebatte, Woyzeck in Büchners Text. Zunächst also Woyzeck in Textspuren. Was sind das für Textspuren, die sich mit dem historischen Woyzeck verbinden? Sie entstehen an zwei Stellen: zum einen dort, wo die Macht verwaltend zugreift; zum anderen dort, wo es zu Konflikten mit der Macht kommt. Der zweite Fall ist für Woyzeck wichtiger: Die Störung der Macht erzeugt zunächst kleine Sichtbarkeitsräume. Zum Beispiel: Woyzeck schlägt seine Geliebte und bekommt Arrest, und dies wird aktenkundig. So gibt es zunächst ein paar kleine Störungen und dann erst mit dem Mord die große Störung, die gleich einen ganzen Haufen Akten produziert. Ich erwähne dieses Textspurleben, weil es die dunkle Bruchkante meiner eigenen, wissensgeschichtlichen, Kontext als Text lesenden Analyse ist. Woyzecks Schriftspurleben markiert in der hier vorgestellten Beispielanalyse das in Frage stehende Textbzw. Kontextkorpus gewissermaßen von außen: Es bleibt ungelesen (es wird nicht als Text gelesen). Damit macht es zugleich die Grenzen dieser spezifischen wissensgeschichtlichen Text- und Kontextlektüre sichtbar. Diese Grenze ist einerseits Einschränkung, andererseits Möglichkeitsbedingung einer Kontext-als-Text- Lektüre. Dem ersten, interpretatorischen Imperativ - Behandle jeden Kontext als Text! - lässt sich mithin ein zweiter, darstellerischer Imperativ an die Seite stellen: Mache deutlich, dass dies immer nur für ein begrenztes Kontext-Korpus möglich ist! Keine Kontext-Lektüre ist die letzte. Wie aber steht es nun um Woyzeck im Clarus-Gutachten? Das heißt: Wie spielt sich das Sichtbar-Werden von Woyzeck als psychopathologischem Fall ab, wie taucht er im Wahrnehmbaren der Rechtspsychiatrie auf? Durch drei Operationen: Aktenstudium, Erzählungen und Beobachtungen. Das Aktenstudium, wie Clarus es betreibt, ist ein rekonstruierendes und das heißt auch konstruierendes Verfahren: Die Akten werden in eine Lebensgeschichte transformiert, und dies mit einiger offensichtlicher Mühe, wie sich an Brüchen, Unstimmigkeiten und Dopplungen im Text erkennen lässt. Die Erzählungen tauchen zunächst dort auf, wo die Akten eine Lücke lassen: „Ueber seine Aufführung und seinen Gemüthszustand während dieses Zeit- Der Kontext als Text 249 raums von 12 Jahren sind keine Zeugnisse bei den Akten vorhanden, er selbst aber versicherte bei den Unterredungen [ ... ] , daß [ ... ] “ (MBA: 265 f.). 6 So vervollständigen die Erzählungen ihren Inhalten nach die Akten. In Betracht kommen hier nicht nur die Erzählungen Woyzecks, sondern auch die von anderen Personen, die mit Woyzeck in Berührung gekommen sind. „Erzählen“ ist nachgerade eines der Schlüsselworte im Clarus-Gutachten. Dieses Erzählen entspringt einem spezifischen Verfahren. Ein Beispiel: Um vor allen Dingen Woyzecks Zutrauen zu gewinnen und ihn geneigt zu machen, um seines eignen Vortheils willen die reine Wahrheit zu sagen, stellte ich demselben zuvörderst vor, daß er die Unterredungen mit mir nicht als ein strenges Verhör und mich nicht als seinen Richter zu betrachten habe, sondern daß er sich völlig frei und ungezwungen über alles erklären könne, was er auf seine(m) Herzen habe. (MBA: 271) An die Stelle einer juristischen Entscheidung über einen Straftatbestand tritt die psychiatrische Begutachtung eines Gemütszustandes, an die Stelle des Verhörs tritt die „Unterredung“, an die Stelle der „Aussage“ die „Erzählung“. Dass Clarus damit genau auf diejenigen Techniken zurückgreift, die die im engeren Sinne juristische Verhörpraxis seiner Zeit auch forciert einsetzt, auf eine Familiarisierung der Aussagesituation, sei nur am Rande vermerkt (vgl. Borgards/ Neumeyer 2004). Aus dieser spezifischen Sprechsituation heraus interessieren die Erzählungen Woyzecks nicht nur hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes, sondern als interpretierbarer Ausdruck eines individuellen Charakters. Dies gehört in die allgemeine, auf das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zu datierende Umstellung des strafrechtlichen Interesses von der Tat zum Täter, von der Frage, was getan wurde, hin zu der Frage, warum es getan wurde (vgl. z.B. Foucault 2003: 143-177; Greve 2004: 23-27). Im Zentrum des Clarus-Gutachtens findet sich also eine Anreizung zum Sprechen, die darin besteht, dass die Situation als ein Nicht-Verhör eines Nicht-Richters im nicht-rechtlichen Raum entworfen wird. Die Abwesenheit des Rechts macht Sprechen. Der Abwesenheit des Rechts entspricht aber (zumindest in diesem Fall) zugleich die Anwesenheit des Arztes. Wenn auf diese Weise Erzählungen provoziert bzw. produziert werden, dann heißt dies noch nicht, dass das Gutachten diese Erzählungen nun auch unvermittelt wiedergibt. Vielmehr unterwirft sie Clarus einer fundamentalen Transformation: Er bietet nicht Erzählungen, sondern erzählte Erzählungen. Aus einem „Ich bin“ wird ein „Er sey“: „Er sey allerdings in seinen frühern Jahren [ ... ] etwas vollblütig gewesen und habe dabei zuweilen eine Spannung und Auftretung der Adern und ein Stechen im Kopfe gefühlt.“ (MBA: 275) Aus einem homodiegetisch beteiligten Erzähler wird ein heterodiegetisch überlegener Erzähler, aus dem dramatischen Modus der direkten 6 Ich zitiere das Clarus-Gutachten (genauer: das zweite Clarus-Gutachten, um das es mir hier ausschließlich geht) im Folgenden unter der Sigle MBA und Seitenangaben in Klammern nach dem Zitat im Text nach Büchner (2005). 250 Roland Borgards Rede wird der narrative Modus der indirekten Rede, aus dem Indikativ als grammatischer Form des Wirklichkeitsanspruchs wird der Konjunktiv I als grammatische Form des mittelbar Mitgeteilten, d.h. der mitkonstruierten Anzweifelbarkeit. Akten und Erzählungen haben gemeinsam, dass sie Medien sind. Deutlich wird dies, wo Clarus in Abgrenzung dazu die Beobachtung „unmittelbar“ nennt: „Beobachtungen, welche sich unmittelbar aus der Untersuchung des körperlichen und geistigen Zustandes des Inquisiten [ ... ] ergeben haben“. (MBA: 367) Im Vergleich dazu sind die Akten und Erzählungen mittelbar, vermittelt, medial. Die Beobachtungen hingegen sind amedial, unvermittelt. Allerdings sind sie dies nur dem Anspruch nach. Denn auch diese vorgebliche Autopsie arbeitet mit einem „regard déjà codé“ (Foucault 1966: 12), einem vorgeformten Blick, einem Blick, der von einem Wissen vor- und durchstrukturiert ist, so etwa von der Wissenschaft der Physiognomik, die in ihrem aktuellen Stand der 1830er Jahre aufgerufen wird (vgl. MBA: 368). Ich fasse meine kursorischen Bemerkungen zum Clarus-Gutachten zusammen: Schon bei Clarus gibt es Woyzeck nicht als unvermittelten Referenten. Der Referent ist vielmehr zu zwei Dritteln medial (in Akten und Erzählung) gegeben, zu einem Drittel durch eine Wissensmatrix vorgeformt. Das Clarus-Gutachten funktioniert wie ein Maschinchen, das Medien und Wissen verarbeitet und in einen Text transformiert, der eine Lebensgeschichte erzählt und diese wissenschaftlich bewertet. Dabei kommt es zu einer Serie miteinander zusammenhängender narrativer und epistemologischer Verschiebungen: Der Ich-Erzähler wird zur erzählten Figur, die sich nur noch in indirekter Rede äußert; der Beobachter wird selbst zum Erzähler, und der allgemeine physiognomische Befund wird zu gerichtspsychiatrisch verwertbarem Wissen. 4 Die Rechtsdebatte Zwischen Büchners Text und dem Clarus-Gutachten liegt ein weites kontextuelles Feld, das es interpretierend zu erschließen gilt: Woyzeck in der Rechtsdebatte. Denn es stellt sich die Frage, wie Woyzeck im Verlauf der rechtspsychiatrischen Debatte um die Zurechungsfähigkeit im Sichtbaren, im Wahrnehmbaren gehalten wird. Es geschieht dies auf drei Weisen: als Clarus-Zitat, als Clarus-Montage und als Clarus-Exegese. Die erste Veröffentlichung des Clarus-Gutachtens unmittelbar vor der Hinrichtung dient der Rechtfertigung des Strafverfahrens. Die Debatte um die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks hingegen beginnt erst nach dessen Tod. Das heißt: Für diese Debatte steht Woyzeck als realer Referent nicht mehr zur Verfügung. Gegenstand der juristischen Debatte, ihr Referent ist schon allein deshalb nicht die Person Woyzeck, sondern der Text von Clarus. Am Anfang der Debatte um die Zurechungsfähigkeit steht also Woyzecks Tod und das Zitat von Clarus’ Text. Man kann das sogar noch schärfer fassen, Der Kontext als Text 251 wenn man das Leipziger Tageblatt vom 25. und 26. August 1824 in die Hand nimmt, in dem Woyzeck schon vor seiner Hinrichtung am 27. August 1824 nur noch als reines Clarus-Zitat zu existieren scheint: Schon dieser Text hat als Referenzpunkt keine Person, sondern den von Clarus vorgelegten Prätext. 7 Unbestreitbar wird dieser Zitat-Charakter spätestens dort, wo das Clarus-Gutachten ein zweites Mal publiziert wird. Dies geschieht 1825, ein Jahr nach Woyzecks Hinrichtung, in Adolph Henkes Zeitschrift für Staatsarzneikunde. 8 Schon hier erscheint das Gutachten als Zitat seiner selbst, insofern es in vierfacher narrativer Verschachtelung vorgestellt wird. Nimmt man das Gutachten selbst, wie es auch dem Gericht vorgelegen hat, als erste Erzählebene, dann wird dem zunächst mit einer von Clarus verfassten Einleitung zu Tathergang und Prozessverlauf eine zweite Ebene, sodann mit Clarus’ Vorwort, das die moralisch-öffentliche Aufgabe der Publikation bestimmt, eine dritte Ebene und schließlich mit Henkes Herausgebervorwort, das die publizistischen Verfahren erläutert, eine vierte Ebene hinzugefügt. Das heißt: In seiner wichtigsten Publikation erscheint das Gutachten in vielfacher narrativer Vermittlung, als metametadiegetisches Erzählen. Wie seine erste Wiederholung, so gründet auch die erste Kritik des Gutachtens, verfasst vom bayerischen Landgerichtspyhsikus Carl Moritz Marc, im Zitat. War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? So lautet Marcs Titelfrage. Marc, der also erklärtermaßen mit dem Anspruch auftritt, die Diagnose von Clarus zu widerlegen, beginnt seinen Text damit, dass er seinen Gegner auf eine bemerkenswerte Weise referiert: als unmarkiertes Zitat, und zwar über dreißig Seiten hinweg. (Marc 1825: 1-30) Ich mache einen kleinen Exkurs. Denn an diesem Fall kann man gut sehen, inwiefern die Text-Kontext-Problematisierung auch für die Kommentarteile von Büchner-Editionen relevant ist. Wer immer sich Büchners Dramen-Fragmenten in kommentierender Absicht nähert, berücksichtigt stets das Clarus-Gutachten. Das Clarus-Gutachten wird dabei aber fast immer als bloßer Kontext präsentiert, nie als integraler, eigenständiger und zu einer eigenen Lektüre auffordernder Text. Dies zeigt sich schlicht daran, dass fast immer gekürzte Versionen abgedruckt werden und diese Kürzungen implizit aus einem Text-Kontext-Gefälle abgeleitet werden. Gezeigt vom Kontext (dem Clarus-Gutachten) wird dann immer nur das, was der jeweilige Kürzer für den Text (Büchners „Woyzeck“) als relevant erachtet (vgl. Büchner 1992: Bd. 1, 938-965; Büchner 1988: 630-650, unverändert in der Auflage von 2006; vgl. auch Dedner 2000: 121-157). Eine Ausnahme bildet hier die Marburger Büchner-Ausgabe (MBA), die das Gutachten ungekürzt wiedergibt und damit als eigenständigen Text und nicht nur als bloßen Kontext zur Verfügung stellt. Der konsequente nächste Schritt ist es, dass die MBA dieses nun 7 Auszugsweise abgedruckt als Dokument 6 in MBA: 370-375. 8 In dieser Form abgedruckt in MBA: 251-297. 252 Roland Borgards als Text präsentierte Gutachten seinerseits kontextualisiert, indem es auf 80 eng bedruckten Seiten 67 weitere Dokumente zur Debatte um den Woyzeck- Prozess aus den Jahren 1821 bis 1836 präsentiert (vgl. MBA: 355-438), darunter auch Marcs erste Clarus-Kritik (vgl. MBA: 386-389). Genau hier wiederum stößt dann auch die MBA an die Grenzen ihrer Kontext-als-Text- Präsentation, insofern sie den Marc-Text (und viele andere der 67 Dokumente) nur in gekürzter Form wiedergibt. Dafür gibt es gute pragmatische Gründe: Irgendwann ist jedes Buch umfangreich genug. Gekürzt wird nun allerdings genau das, was für meine Marc-Lektüre (die den Marc-Kontext als eigenen Text liest) von Interesse ist: die wörtlichen Wiederholungen aus dem Clarus-Gutachten. Was die MBA schon mit dem Clarus-Gutachten macht, wiederhole ich hier nur für die Marc-Kritik: Ich nehme den Kontext als Text ernst. Und so wie die MBA in ihrem Umgang mit dem Text von Marc an die Grenzen der Kontext-als-Text-Bewegung stößt, so geschieht es meiner Lektüre in ihrem Umgang mit dem Textspurleben der historischen Person Woyzecks. Soweit der Exkurs, nun zurück zu Marc. Auch im Folgenden, also nach dem dreißigseitigen Einstiegszitat, zitiert Marc gelegentlich in unmarkierter Weise aus Clarus’ Text; bisweilen gibt es zwar Anführungszeichen (z.B. Marc 1825: 42 u. 48), denen dann aber die Ausführungszeichen fehlen. Andere Forschungstexte werden von Marc hingegen als Zitate markiert (z.B. der Verweis auf Froriep, Marc 1825: 51). Und gegen Ende seines Textes - dort, wo nicht mehr die Beschreibung, sondern die Bewertung des Falles im Zentrum steht - geht Marc schließlich dazu über, auch seine Rückgriffe auf das Clarus-Gutachten offen als Zitat zu markieren (z.B. Marc 1825: 59-60 f.). Die ersten dreißig unmarkierten Zitatseiten gehen also nicht auf das Konto einer allgemeinen Markierungsunwilligkeit; sie sind vielmehr gezielt nicht als Zitat ausgewiesen. Am Ende des unmarkierten Clarus-Zitates heißt es dann: „Nach dieser Geschichtserzählung, in welcher ich eine Uebersicht des Factum gegeben habe, wie es Hr. Cl. mittheilte; gehe ich nun zur näheren Beurtheilung des Ganzen über.“ (Marc 1825: 30) Im Rahmen der Zitierstrategie von Marc heißt dies, dass das Faktum nicht der Wirklichkeit, sondern einem Text entnommen ist. Man kann sogar schärfer formulieren: Die faktische Referenz, also das, was in Marcs Text vorkommt, ist zunächst einmal der Text von Clarus, nicht etwa die Person Woyzeck. Im unmarkierten Zitat werden indes minimale Veränderungen vorgenommen. Ich gebe ein Beispiel. Clarus formuliert: Dagegen bemerkte ich, daß das schon früher während der ersten Minuten der Unterredung an ihm wahrgenommene Zittern des ganzen Körpers, besonders wenn mein Besuch ihm sehr unerwartet kam, etwas länger anhielt. (MBA: 272) Marc zitiert variierend: Dagegen bemerkte Hr. Cl., daß das von ihm schon früher während der ersten Minuten der Unterredung an ihm wahrgenommene Zittern des ganzen Körpers, Der Kontext als Text 253 besonders, wenn der Besuch sehr unerwartet kam, etwas länger anhielt. (Marc 1825: 19) Narratologisch formuliert: Aus einem homodiegetischen wird ein heterodiegetisches Erzählen. Marc übernimmt damit selbst die Erzählposition, die Clarus in seinem Gutachten für sich reklamiert: die des überlegenen, von außen beobachtenden Erzählers, wobei nun nicht mehr unmittelbar Woyzecks Körper, sondern die Beobachtung dieses Körpers durch Clarus beobachtet wird. Das hat einen intrikaten Effekt: Bei Marc rückt Clarus in die grammatikalische Position, in der bei Clarus Woyzeck steht; aus der direkten wird indirekte Rede, aus dem Indikativ der Konjunktiv I. Auch hierfür gebe ich ein Beispiel. Bei Clarus heißt es: Es läßt sich daher mit [ ... ] Gewißheit [ ... ] annehmen, daß das Knistern und Rumoren, das Woyzeck in der Nacht und hernach auch bei Tage auf dem Verschlage in seiner Kammer gehört haben will [ ... ] , nichts anderes als eine solche Täuschung des Gehörsinns gewesen ist. (MBA: 284) Marc macht daraus: Herr Cl. ist überzeugt, daß das Knistern und Rumoren, das W. in der Nacht und auch bei Tage auf dem Verschlage in seiner Kammer gehört haben will, nichts anders als eine solche Täuschung des Gehörsinnes gewesen sey. (Marc 1825: 44) Von der faktischen „Gewißheit“ zur subjektiven Distanzierung durch Redewiedergabe, vom „ist“ zum „sey“: Damit wird die gesamte Relativierungsenergie, die Clarus auf die Aussagen Woyzecks anwendet, auf die Aussagen von Clarus weitergeleitet. Mit diesem ersten Verfahren, mittels dessen Woyzeck im Verlauf der rechtspsychiatrischen Debatte präsent gehalten wird, dem Clarus-Zitat, korreliert ein zweites Verfahren: die Clarus-Montage. Auch hierzu gebe ich ein Beispiel. An einer Stelle zitiert Marc aus dem Clarus-Gutachten zunächst einen Symptomkatalog, der die körperliche Verfassung Woyzecks umschreibt: „die krampfhafte Zusammenziehung des Herzens, das Stillstehen desselben, das Herzklopfen, die Angst, die Spannung der Blutgefäße, das allgemeine Zittern des ganzen Körpers, die Hitze im Kopfe, das Prasseln oder Schnurren im Genicke, das Brausen oder Zischen in den Ohren, und die auf erfolgtes reichliches Nasenbluten zuweilen bemerkte Erleichterung“. (Marc 1825: 38) 9 Nach dieser Körperbeschreibung entwickelt Marc dann ein eigenes Argument gegen Clarus. Denn während diese Symptome für Clarus „beweisen“ (MBA: 282), dass bei Woyzeck nur von einer „krankhaften An- 9 In der Version von Clarus (MBA: 281 f.): „die krampfhafte Zusammenziehung und das Stillstehen des Herzens [ ... ] , das Herzklopfen, die Angst, der krampfhafte Schmerz in den Gliedern nach der Richtung der Blutgefäße, die Spannung [ ... ] derselben, [ ... ] das [ ... ] allgemeine Zittern des ganzen Körpers, [ ... ] die Hitze und die Wüstigkeit im Kopfe, [ ... ] oder das Prasseln und Schnurren im Genicke, das Brausen oder Zischen vor den Ohren, und die, auf erfolgtes reichliches Nasenbluten, zuweilen bemerkte Erleichterung“. 254 Roland Borgards lage“ (MBA: 282, m.H.) des Blutkreislaufsystems auszugehen sei, sieht Marc in ihnen „die unverkennbarsten Zeichen“ (Marc 1825: 38) dafür, dass bei Woyzeck nicht nur krankhafte „Anlage“, sondern „wirkliche Krankheit“ (Marc 1825: 39, m.H.) herrsche: Was aber vielleicht bis im Jahre 1810 nur Anlage war, steigerte sich damals [ zum Zeitpunkt der Tat, R.B. ] zur wirklichen Krankheit, denn in diesem Zeitpunkte erlitt sein Gemüthszustand eine Veränderung, und verfolgt man seinen Lebenslauf, die Succession der Erscheinungen, so liegt solches ausser allem Zweifel, denn von nun an bemerkte man Zurückgezogenheit, Gedankenlosigkeit, Groll gegen alle Menschen, beunruhigende Träume, Geistererscheinungen, Unruhe, Eingenommenheit des Kopfes, Beängstigung am Herzen, Blutandrang; von nun an hielten Körper und Geist gleiche Schritte. (Marc 1825: 39) Den empirischen Beweis für seine These („denn von nun an bemerkte man“) kann Marc nicht in der Person Woyzecks finden. Woyzeck ist tot. Was geblieben ist, ist Clarus’ Text. Und in diesem wird Marc fündig, Symptom für Symptom, Wort für Wort, und zwar dort, wo Clarus den Nachweis für genau die These erbringen möchte, die Marc zu widerlegen versucht: der „Zurückgezogenheit“ (Marc) entspricht die „menschenscheue [ ... ] Gemüthsstimmung“ und der allgemein „menschenscheu“ (diese und alle folgenden Clarus-Zitate MBA: 282 f.) genannte Woyzeck bei Clarus; die „Gedankenlosigkeit“ (Marc) bezieht sich auf einen Woyzeck, dem „zuletzt ganz die Gedanken vergangen“ (Clarus) sind; der „Groll gegen alle Menschen“ (Marc) findet im „Zorn [ ... ] , als ob er die Leute sollte mit den Köpfen aneinander stoßen“ (Clarus) sein Vorbild; Woyzecks „beunruhigende Träume“ (Marc) sind der Nachhall vom „Aufdringen beunruhigender Gedanken“ (Clarus) und der „Vorstellung von der Wichtigkeit der Träume“ (Clarus); „Geistererscheinungen“ (Marc) zitieren schlicht „Geistererscheinungen“ (Clarus) und „Unruhe“ (Marc) schlicht „Unruhe“ (Clarus); die „Eingenommenheit des Kopfes“ (Marc) variiert die Formulierung, Woyzeck sei „der Kopf oft sehr eingenommen gewesen“ (Clarus); die „Beängstigung am Herzen“ (Marc) wiederholt die „Beängstigung am Herzen“ (Clarus); der „Blutandrang“ (Marc) komprimiert die „Wallungen und Congestionen des Blutes“ (Clarus) und den „unruhigen Blutumlauf“ (Clarus); und selbst den commercium-Gedanken - „von nun an hielten Körper und Geist gleiche Schritte“ - übernimmt Marc teilweise wörtlich von Clarus, demzufolge die „Gemüthsstimmung“ und die „körperliche [ ] Anlage“ bei Woyzeck „beide gleichen Schritt gehalten haben“. (MBA: 282) Marcs Clarus-Montage besteht in diesem Fall also aus drei Elementen: einem ersten Montageteil aus zusammenhängendem Clarus-Material; einem eigenen Argument; und einem zweiten Montageteil aus zerstreutem Clarus-Material. So montiert Marc durch letztlich wertende Sprachhandlungen - fast jeder Wortgebrauch impliziert pragmatisch eine Wertung - aus vorgefundenem Material und eigenen Zutaten einen neuen Fall. Der Kontext als Text 255 Wie sich an Clarus-Zitat und Clarus-Montage sehen lässt, ist die gesamte juristisch-psychiatrische Debatte von einer pragmatischen, sprachhandelnden Dynamik der Vertextung durchzogen. Gegenstand dieser Debatte ist, das lässt sich an unzähligen Beispielen zeigen, das von Clarus verfertigte Gutachten, nicht die Person Woyzecks. Betrieben wird nicht Krankheitsdiagnose, sondern Text-Exegese, genauer: Clarus-Exegese. Diese ist nach dem Clarus-Zitat und der Clarus-Montage das dritte Verfahren, Woyzeck in der Debatte präsent zu halten. Bemerkenswert ist, dass sich die streitenden Parteien der Textualität ihres Streites sehr bewusst sind. Auch hierfür wieder ein Beispiel. Als der restaurative Johann Christian August Heinroth zu einer massiven Polemik gegen den liberalen Marc ausholt, beginnt er mit einer ausführlichen und harschen Kritik an Marcs Umgang mit dem Gutachten von Clarus. Er bemängelt, dass und wie viel zitiert wird; er bemängelt, dass die Zitate unmarkiert bleiben und Marc die Beschreibung des Falls damit „gleichsam für seine eigene Arbeit ausgiebt“; (Heinroth 1825: 3) 10 und er bemängelt, dass in den unmarkierten Zitaten zudem unmarkierte Auslassungen gemacht werden. Marc, so schreibt Heinroth, „wirft dadurch auf diese Aeußerung einen Schein von Anmaßung, der dem Originale ganz fremd ist“. (Heinroth 1825: 3) Expliziter kann man kaum sagen, worum hier gestritten wird: nicht über den Fall (jedenfalls nicht zuallererst), sondern über einen Text, dieser ist das „Original“. Das Clarus-Gutachten wird damit in die Position eines diskursbegründenden (Foucault 1991) Textes gerückt, auf den in einer exegetischen Bewegung immer wieder zurückzukommen ist. Das weiß auch Marc. In seiner kritischen Reaktion auf Heinroths Angriff formuliert er ganz offen: „Schon die Erklärung, was mich bestimmte, das Faktum mitzutheilen, beweist, daß ich dasselbe aus Herrn Clarus Schrift entlehnte. Aus welcher anderen Quelle hätte ich schöpfen sollen, da mir die K. sächsische Regierung die Akten doch gewiß nicht zur Einsicht zusendete.“ (Marc 1826: 6) Das Original, die Quelle, das ist stets des „Herrn Clarus Schrift“. Auf diese verlässt sich auch Marc, „ [ d ] a Hr. Clarus ein so treues Bild des Karakters von Woyzeck entwarf, seine Lebensgeschichte bis zu jenem Punkte genau verfolgte, wo er verhaftet wurde.“ (Marc 1826: 7) Wie sehr Woyzeck dabei zum Effekt von Textschichtungen wird, zeigt sich z.B. dort, wo in Heinroths Erwiderung auf Marcs Widerlegung von Clarus’ Position die halluzinierte Stimme als Zitat im Zitat im Zitat im Zitat erscheint. Heinroth schreibt: Wie widerspricht sich aber Herr Marc in der gleich darauf folgenden Aeußerung (S. 73), rücksichtlich seiner früheren Behauptungen von dem großen Einflusse der Sinnestäuschungen auf den Zustand und die Handlungs-Weise des Mörders Woyzeck! Hören wir ihn! „Ich stimme Herrn Cl. vollkommen bei, daß W. nicht 10 Auch bei diesem Text zeigen sich übrigens die Präsentationsgrenzen der MBA deutlich, die die 67 Seiten des Originals auf einer halben Seite zusammenfasst. 256 Roland Borgards durch die vernommenen Stimmen, noch insbesondere durch den Zuruf: ‚Stich die Frau Woostin todt‘, zu seiner That veranlaßt wurde.“ (Heinroth 1825: 22) Ähnlich wie das Clarus-Gutachten in seiner wirkmächtigen Publikation in Henkes Zeitschrift in mehrfacher Vermittlung erscheint, als Erzählung (Gutachten) in der Erzählung (Einleitung Clarus) in der Erzählung (Vorwort Clarus) in der Erzählung (Vorwort Henke), wird hier die halluzinierte Stimme in einer Zitatschachtel verpackt: Heinroth zitiert Marc („Ich stimme Herrn Cl. [ ... ] “), der Clarus zitiert („daß W. [ ... ] “), der Woyzeck zitiert (dessen „Erzählungen“), der die Stimme zitiert. So entsteht, wenn vielleicht auch unbeabsichtigt, ein delirierendes Sprechen, ein Sprechen mit fremder Stimme: ES spricht. Und als Effekt dieses Zitier-Deliriums wiederum soll auf Seiten der LeserInnen genau das entstehen, wovon Woyzeck selbst befallen ist, eine akustische Halluzination: „Hören wir ihn! “ Der zitierende, montierende und exegetische Rückbezug auf das Clarus- Gutachten ist konstitutiv für die juristisch-psychiatrische Debatte um Woyzeck. Er ist zudem etwas, das die Kontrahenten - für oder wider die Zurechnungsfähigkeit, Psychiker gegen Somatiker, restaurative gegen liberale Rechtspsychiatrie - nicht etwa voneinander trennt, sondern miteinander verbindet. Sie mögen streiten, so viel sie wollen, sie stehen doch alle auf demselben diskursiven Grund. 5 Büchners Text Wenn sich Büchner in einer zitierenden, montierenden und exegetischen Bewegung auf das Clarus-Gutachten bezieht, dann tut er genau das, was in der wissenschaftlichen, rechtspsychiatrischen Debatte ganz üblich, mehr noch: was für diese Debatte konstituierend ist. Dass Woyzeck in Büchners Text als Fall und mit ihm die ganze Rechtsdebatte in der Form eines Zitats eingeführt wird (vgl. Campe 1998) und dass damit zugleich die Form des Zitierens, Montierens, Ausdeutens übernommen wird, kann nur sichtbar gemacht werden, indem man den zentralen „Woyzeck“-Kontext, das Clarus- Gutachten und die daran anschließenden Debatten selbst als Texte liest. Büchner verschärft die dort gängigen Verfahren allenfalls, insbesondere vermittels einer forcierten Verschiebung und Verdichtung von Stimmen. Ich führe das nicht aus, sondern deute es nur an, denn für die hier vorgelegte Beispielanalyse ist Büchners „Woyzeck“ nicht der zentrale Text, sondern nur eine weitere Grenze der Kontext-als-Text-Lektüre. Damit verbunden ist in dieser exemplarischen Lektüre eine Umkehrung des für die Büchner-Forschung gängigen Text-Kontext-Gefälles: Es geht nicht darum, mittels des rechtspsychiatrischen Kontextes den Text Büchners zu interpretieren, sondern darum, die Rechtspsychiatrie mit der formal-ästhetischen Aufmerksamkeit zu bedenken, die man für Büchner zu reservieren gewohnt ist. Ich deute trotzdem noch abschließend an, in welche Richtung es nun mit Blick auf Büchners „Woyzeck“ weiter gehen könnte. Ein zentrales Zitat in Der Kontext als Text 257 Büchners Fragmenten sind die halluzinierten Stimmen. Deren Herleitung aus den so genannten Kontexten ist bemerkenswert. Im Clarus-Gutachten findet sich fast ausschließlich indirekte Rede. Woyzeck selbst kommt hier nie unmittelbar zu Wort; er bleibt so ohne narrative Authentifizierung. Von dieser Regel der indirekten Rede gibt es nur eine Ausnahme: die halluzinierten Stimmen. Einzig und allein diese erscheinen im Clarus-Gutachten in der direkten Rede und werden von der allgemeinen Transformation vom Indikativ in den Konjunktiv ausgenommen; allein diese Stimmen bleiben authentifiziert. Ein Beispiel: Darauf habe es ihm einmal die Worte: aufs Deckbette, aufs Deckbette, und ein anderes Mal: auf den Teller, auf den Teller, zugeflüstert [ ... ] , und er habe, als er einmal Baden gegangen sey, die Stimme gehört: Spring ins Wasser, spring ins Wasser! [ ... ] Da sey es ihm ganz eigen gewesen, als ob er die Tanzmusik [ ... ] höre, und dazu im Takte die Worte: Immer drauf, immer drauf! (MBA: 279 f.) Und genau diese Stimme wird nun unmittelbar im Stück zitiert, und zwar in ihrer wiederholenden Form: „Immer zu! immer zu! [ ... ] Lauter, lauter, stich, stich die Zickwolfin todt? stich, stich die Zickwolfin todt.“ (H4, 12, MBA: 30) Damit wird die halluzinierte Stimme in ihrer Sprachdichte (vgl. Müller- Sievers 2003: 145) zum allgemeinen Stil des Sprechens von Woyzeck erhoben, und mehr noch: zum Sprach-Stil aller Figuren. Anders formuliert: Die halluzinierte Stimme des Clarus-Gutachtens wird zum Grundton des Dramas. Literatur B ENNINGTON , Geoffrey/ D ERRIDA , Jacques (1994): Jacques Derrida. Ein Portrait. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. B ORGARDS , Roland/ N EUMEYER , Harald (2003): „Familie als Exekutionsraum. E.T.A. Hoffmanns Ignaz Denner und die Debatten um Verhör, Folter, Todesstrafe und Hinrichtung“. In: IASL 2003, Band 2, 152-189. B ORGARDS , Roland (2007): „Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe“. In: Zeitschrift für Germanistik N.F., Heft 2/ 2007, 425-428. B ÜCHNER , Georg (1988): Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Pörnbacher/ Gerhard Schaub/ Hans-Joachim Simm. 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Heinroth in Leipzig als Sachwalter des Herrn Hofrathes Dr. Clarus. Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders J. C. Woyzeck betreffend. Bamberg: J. C. Dresch. M ARTIN , Ariane (2007): Georg Büchner. Stuttgart: Reclam. M ÜLLER -S IEVERS , Helmut (2003): Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner. Göttingen: Wallstein, 145. N EUMEYER , Harald (2009a): „Woyzeck“. In: Roland Borgards/ Harald Neumeyer (Hrsg.): Büchner Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler (im Druck). N EUMEYER , Harald (2009b): „‚Hat er schon seine Erbsen gegessen? ‘ Georg Büchners Woyzeck und die Ernährungsexperimente im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts“. In: DVjs, 83. Jahrgang, Heft 2 (im Druck). P ETHES , Nicolas (2006): „‚Viehdummes Individuum‘, ‚unsterblichste Experimente‘. Elements for a Cultural History of Human Experimentation in Georg Büchner’s Dramatic Case Study Woyzeck“. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, Volume 98, Number 1, 68-82. 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In Arbeiten der kontrastiven Textologie wird oft (wenn auch meist implizit) davon ausgegangen, dass für die Gestaltung von Texten der national- oder einzelsprachspezifische Kontext der ausschlaggebende ist. Die entsprechenden Textsortenstile werden dementsprechend als kulturspezifische beschrieben, wobei sich Kultur dann auf eine Nation oder eine Einzelsprache bezieht. Diese Annahme soll anhand einer vergleichenden Analyse von Fernsehnachrichtensendungen aus verschiedenen Ländern und verschiedenen Jahrzehnten differenziert werden. Dabei fokussiere ich auf die Formen der Berichterstattung und deren „stilistischen Sinn“ (Sandig 2006: 11) und frage, wie sich für eine textsortenstilistische Analyse der Zusammenhang von Textsortenstil und Kontext modellieren lässt. Dabei werde ich auch den Blick über einzelne Textsorten hinaus auf ganze Sendungsformate und die dazugehörigen Textsortenrepertoires und -frequenzen erweitern. 2 „Kontext“ und „Kultur“ Nachrichtenmedien - seien es elektronische oder gedruckte Zeitungen, Radio- oder Fernsehnachrichten - bemühen sich, den Eindruck zu vermitteln, als würden sie die Wirklichkeit direkt und unverändert zeigen. Natürlich handelt es sich aber bei den in Frage stehenden Texten um symbolische Artefakte: Sie gestalten eine mediale Wirklichkeit mit ausgewählten Inhalten, in bestimmten Formen und mit einem bestimmten Stil. Die berichteten Ereignisse werden in unterschiedlichen Kontexten - in verschiedenen Redaktionen in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Mediensystemen etc. - in unterschiedliche Texte gefasst und so neu kontextualisiert, sowohl inhaltlich als auch formal. Durch diese Kontextualisierung wird die Darstellung der außermedialen Wirklichkeit geprägt - wobei diese mediale Wirklichkeit diejenige (und meistens die einzige) ist, zu 264 Martin Luginbühl welcher das Publikum Zugang hat. 1 Gerade in diesem Punkt zeigt sich, wie relevant die Kontexte sind, welche die Texte der Nachrichten prägen bzw. generieren und so die Rezeption beeinflussen (wenn auch nicht vorherbestimmen). Unter Kontext verstehe ich dementsprechend einerseits Merkmale der Produktionssituation, welche die Textproduktion beeinflussen, andererseits Merkmale der produzierten Texte, welche für das berichtete Ereignis einen Kontext konstituieren und so im Sinne einer Kontextualisierung herstellen. So ist es etwa für den Status des in einem Beitrag Berichteten essentiell, ob das Berichtete als „absolute“ Wahrheit distanziert verkündet wird oder ob das Berichtete als Teil eines nie endenden Rechercheprozesses einer Person vor Ort dargestellt wird. Ich komme später auf diesen Unterschied zurück. Das obige Beispiel verweist darauf, dass neben den Inhalten, die in Nachrichtenbeiträgen dargestellt werden, auch die Form der Darstellung, der Stil - verstanden in einem holistischen Sinn - des darin realisierten Zeichengebrauchs zentral ist. 2 Wenn man akzeptiert, dass Texte in ihrer formalen Ausgestaltung auch Muster der Weltaneignung reflektieren, so sind Texte auch als kulturell geprägte Größen aufzufassen. Der Mensch verhält sich, indem er sprachlich handelt, „ordnend und gestaltend zur Wirklichkeit“ (Fix 2002: 175), Formen des textuellen Handelns können als „spezifische Muster der Weltaneignung“ (Warnke 2001: 242) verstanden werden. 3 So reproduzieren und kreieren spezifische Verhaltensmuster auf einer semiotischen Ebene Vorstellungen und Denkweisen einer Gruppe und somit deren Selbstverständnis, ihre Werte etc. Werte und Normen können als Zentrum einer Kultur angesehen werden, wobei diese Werte und Normen Haltungen, Konventionen, Institutionen, 1 In diesem Zusammenhang ist oft von der „Wirklichkeitskonstruktion“ durch die Medien die Rede (vgl. dazu Burkart 2002: 302-314), was m.E. allerdings nahe legt, dass eine von der außermedialen Realität gänzlich unabhängige Medienrealität geschaffen würde. Da dies - lässt man vereinzelte Fälle von gefälschten Beiträgen außer Acht (wie etwa die gefälschten Beiträge von Michael Born Mitte der 90er Jahre) - nicht zutrifft, spreche ich hier von einer „Prägung“ oder „Gestaltung“ der Wirklichkeit durch die Medien. 2 Auf die Bedeutung der Formen der Berichterstattung haben etwa Arbeiten der cultural studies immer wieder hingewiesen (vgl. etwa Fiske 1987; Fairclough 1995; Allan 1998; Bell 1998), aber auch Untersuchungen aus anderen Kontexten (z.B. Schudson 2003; Hickethier 1998; Pietilä 1996; Schmitz 1995; Püschel 1992). Dahlgren etwa schreibt bereits 1986: „This cultural form [of TV news, M.L.] is more than just a carrier; it too communicates, it too says things to the viewer; it is not merely an inanimate vehicle.“ (Dahlgren 1986: 128) 3 Die „kommunikativen Gattungen“, von denen Luckmann (1988) im Zusammenhang von verfestigten sprachlichen Mustern spricht, erzeugen eine „symbolische Sinnwelt“ (Berger/ Luckmann 1977: 104; zit. in Linke 1999: 11), indem sie Erfahrungen der Lebenswelt „in einigermaßen verbindlichen Formen“ (Bergmann 1994: 193; zitiert in Sandig 2000: 102) thematisieren, bewältigen, vermitteln und tradieren. Medientexte im und als Kontext 265 Verhalten und Artefakte dieser Gruppe beeinflussen. (Spencer-Oatey 2000) Die grundlegenden Werte und Normen werden in kulturellen Praktiken etabliert, tradiert und reproduziert. Mit den kulturellen Praktiken ist auch der pragmatische Aspekt von Kultur angesprochen, also ihr Handlungscharakter. Hinzu kommt - darauf hat insbesondere Cassirer hingewiesen (zu Cassirer vgl. Günthner/ Linke 2006; Fauser 2003: 22-31; Müller-Funk 2006: 47-65) - die semiotische Bestimmung von Kultur. Der Mensch ist zur Welterfassung auf symbolische Formen angewiesen, und hier spielt insbesondere die Sprache eine zentrale Rolle. Wenn ich also vom kulturellen Kontext von Nachrichtentexten spreche, so meine ich damit die Werte und Normen einer Kommunikationsgemeinschaft, auf deren Grundlage von der entsprechenden Gemeinschaft Texte verfasst werden und die entsprechende Konventionen der Textgestaltung beeinflussen. Der Sprachgebrauch tradiert dabei die entsprechenden kulturellen Werte aber nicht nur, sondern er ist auch Mittel, diese Werte zu etablieren bzw. bestehende zu verändern. Die Analyse von sprachlichen Formen und Mustern kann deshalb ein zentraler Weg zur „Selbstdeutung und Weltdeutung einer Gesellschaft“ (Linke 2003: 45) sein. Im Hinblick auf den Kontext von Fernsehnachrichten bedeutet dies, dass Kontextfaktoren der Produktion (wie etwa Mediensystem, Medienmarkt, Organisationsstruktur der Redaktion, Technik, aber auch journalistische Traditionen und politisches System, vgl. zu diesen Faktoren Esser 1998) die Textgestaltung beeinflussen, dass andererseits aber auch mit der Möglichkeit gerechnet werden muss, dass die Textgestaltung neue Kontexte schafft, die nicht aufgrund der Kontextfaktoren der Produktion vorhersehbar sind. Dabei kann es sich auch um akzidentelle oder gar dysfunktionale Entwicklungen handeln. Dass bei der Lösung kommunikativer Aufgaben routinemäßig auf konventionalisierte Textmuster zurückgegriffen wird, zeigt sich im Bereich der Nachrichtenmedien sehr deutlich. So lassen sich etwa Pressetexte (vgl. Burger 2005: 205-239) oder auch Beiträge in Fernsehnachrichten (vgl. Burger 2005: 265-289) einer relativ kleinen Anzahl von Textsorten zuordnen - wobei dies natürlich auch produktionstechnische Hintergründe hat: In den tagesaktuellen Medien müssen die entsprechenden Texte innerhalb kurzer Zeit produziert werden, was den Rückgriff auf hochgradig konventionalisierte Textmuster begünstigt. Hinzu kommt die hohe intertextuelle Verknüpfung vieler Medientexte mit global zirkulierenden Agenturtexten, welche ebenfalls zu einer Standardisierung von Medientextsorten beitragen kann. Hier handelt es sich um einen Kontextfaktor, der durch den Kommunikationsbereich bedingt ist, mit dem wir es im Falle von Fernsehnachrichtensendungen zu tun haben. Dieser Tendenz zu einer Standardisierung des Textsortenrepertoires - im Zusammenhang mit Nachrichtentexten oft als Folge einer Globalisierung (kritisch dazu Hafez 2005) oder Amerikanisierung (kritisch dazu Hallin/ Mancini 2004) gesehen - steht aber die Beobachtung gegenüber, dass es in 266 Martin Luginbühl der Ausgestaltung von vergleichbaren Medienformaten als auch von (wenigstens prima facie) „denselben“ Textsorten systematische Unterschiede gibt. Diese werden insbesondere im historischen und internationalen Vergleich augenfällig. 3 Methode und Korpus Um den Sprachgebrauch umfassend (auch unter Mitberücksichtigung anderer semiotischer Systeme wie Bild und Ton) zu untersuchen, anerbietet sich die linguistische Textsortenanalyse, in der entsprechend dem „Mehr-Ebenen-Modell“ (Heinemann/ Viehweger 1991) formale, inhaltliche, funktionale und situative Aspekte von Texten integrativ untersucht werden. Dabei nehme ich aber nicht nur - wie in linguistischen kontrastiven Untersuchungen gängig - eine einzelne Textsorte in den Blick, sondern ich analysiere auch die Textsortenrepertoires und Textsortenfrequenzen der Sendungen. Daraus ergibt sich auch eine Analyse der einzelnen Formate der Sendungen. Hinzu kommt der diachron und synchron vergleichende Aspekt, der es erlauben soll, die in den Texten generierten Sinnwelten in ihrer jeweiligen Spezifik erkennen zu können und so Rückschlüsse auf Wirkungen des Kontexts zu diskutieren. Die Analyse beruht auf einem Korpus von 76 Ausgaben der Schweizer „Tagesschau“ und der amerikanischen „CBS Evening News“ aus den Jahren 1949-2005. Pro Jahrzehnt wurde eine Woche ausgewählt, im Falle von Formatänderungen (in den 80er und 90er Jahren) zwei Wochen. Dabei wurden Wochen ausgewählt, in denen in beiden Sendungen über mehrere Tage hinweg über dasselbe Ereignis berichtet wurde. 4 Hinzu kommen neun Beiträge verschiedener mittel- und nordeuropäischer öffentlicher Sender und dreier amerikanischer network news-Sender aus dem Jahr 2008, welche alle über ein Flugzeugunglück in Südamerika berichten. 4 Sind Fernsehnachrichten national geprägt? Fernsehnachrichtensendungen berichten prototypischerweise in Bild und Ton über zentrale Ereignisse der letzten 24 Stunden. Dabei sind die Sendungen - wie wir durch Fernseh-Erfahrungen aus dem Urlaub oder durch den Konsum von Satellitensendern wissen - unterschiedlich gestaltet. Viele linguistische Studien aus dem Bereich der kontrastiven Textologie vergleichen Texte aus verschiedenen Ländern und listen als Resultat der Analyse die konstatierten Unterschiede auf. Implizit wird so eine einzelsprachliche oder nationale Begründung nahe gelegt; oder die Unterschiede 4 Die Sendungen stammen aus den Jahren 1958, 1968, 1978, 1982, 1986, 1991, 1999 und 2005. Genaueres zum Korpus vgl. Luginbühl (2006). Medientexte im und als Kontext 267 werden mit unterschiedlichen Denk- und Verhaltensformen in Zusammenhang gebracht, die dann offenbar auch national oder einzelsprachlich bestimmt zu sein scheinen (vgl. dazu Hornscheidt 2003: 69 f.). So heißt es etwa in einer kontrastiven Untersuchung von französischen und deutschen Fernsehnachrichten: „Gerade die streng zeitliche Normierung, das klarere Bild deutscher Nachrichtensendungen scheint […] einem deutschen Grundbedürfnis bzw. Verhalten zu entsprechen: dem der genauen Zeiteinteilung.“ (Landbeck 1991: 178) Einerseits wird Kontext so als etwas mehr oder weniger Statisches konzipiert, das die Textgestaltung unidirektional beeinflusst, andererseits wird eine Nation oder eine Einzelsprache mit einer (offenbar mehr oder weniger homogenen) Denk- und Verhaltensform in Zusammenhang gebracht, welche als ausschlaggebender Kontextfaktor angesehen wird. Nun soll hier nicht bestritten werden, dass die Nation als Kontextfaktor im Fall von Fernsehnachrichten relevant ist. Dies zeigt schon ein Blick auf die Themen, über welche Fernsehnachrichten berichten; diese sind, das haben verschiedene Studien gezeigt, überwiegend national bestimmt (vgl. McQuail 2005: 262). Meine Analysen verweisen aber darauf, dass bestimmte Gestaltungsmerkmale von Fernsehnachrichten a) nicht national homogen sind und b) auch nicht an nationalen oder Sprachgrenzen Halt machen. 4.1 Variationen der Schweizer „Tagesschau“ Gegen eine primär nationale Prägung von Nachrichtensendungen spricht die Tatsache, dass es bei den drei Fernsehnachrichtensendungen des Schweizer Fernsehens (ausgestrahlt auf dem deutsch-, französischbzw. italienischsprachigen Sender) neben inhaltlichen Parallelen auch eine ganze Reihe von Unterschieden gibt (dazu Beck/ Schwotzer 2006), die etwa als regionale Prägungen gesehen werden können, oder aber - dies müsste genauer untersucht werden - überregionale Prägungen darstellen, wobei sich die einzelnen Sprachregionen jeweils am „großen Nachbarn“ orientieren (Deutschland, Frankreich, Italien). Hier könnte man allenfalls noch mit der Spezifik von Einzelsprachen argumentieren. Eine diachrone Sicht auf die deutschsprachige „Tagesschau“ des Schweizer Fernsehens aber zeigt, wie sehr sich auch das Format der deutschsprachigen Sendung in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Diese Formatänderungen zeigen sich auf textlinguistischer Ebene beim Textsortenrepertoire, aber auch bei den Textsortenfrequenzen. Deutliche Unterschiede gibt es zudem im Hinblick auf die Präsentation der Nachrichten und im Zusammenhang mit der Themenentfaltung in verschiedenen Textsorten. Das erste Format der Sendung, erstmals ausgestrahlt 1954, beinhaltete mehr als die Hälfte Beiträge aus dem Bereich der „soft news“, welche ausschließlich in Form von Filmmeldungen realisiert wurden. In solchen Filmmeldungen verliest ein/ eine anonymer/ anonyme SprecherIn den Nach- 268 Martin Luginbühl richtentext zu Filmbildern. 5 Diese Filmmeldungen wurden ohne anmoderierende Texte aneinandergereiht; die meisten realisierten narrative Muster, die Ereignisse als eine Art Kurzfilm in ihrer chronologischen Reihenfolge darstellten. Dies alles verweist darauf, dass Unterhaltung und das Vorführen von Skurrilitäten aus aller Welt zentral waren. Ganz anders kam die Sendung in den 60er und 70er Jahren daher. Ab 1966 wurde die Sendung mit einem/ einer NachrichtensprecherIn im Bild produziert (Sutter 1998). 6 Dieses Format der Sendung bietet kurze, kondensierte Information über „hard news“: Neue, textlastige Textsorten kamen auf und wurden häufig realisiert (insbesondere die Sprechermeldung), zudem standen politische Informationen im Vordergrund. Auch die Formen des Berichtens änderten sich: So setzte sich in den Filmmeldungen das Prinzip der umgekehrten Pyramide durch. 1980 kam es zu einem weiteren grundlegenden Formatwechsel bei der „Tagesschau“, in diesem Jahr wurde der/ die NachrichtensprecherIn durch einen/ eine ModeratorIn ersetzt. Dieser/ diese realisierte An- und Abmoderationen sowie Überleitungen im Zusammenhang mit Filmmeldungen und Korrespondentenberichten. Der/ die ModeratorIn lächelte nun bei der Begrüßung und Verabschiedung in die Kamera. 7 Das Format mit einem/ einer NachrichtensprecherIn, der/ die distanziert und kühl Nachrichten verkündete, verschwand für immer. Das neue Format beinhaltete deutlich mehr Moderationstexte, deutlich weniger Sprechermeldungen und - gemessen am Anteil der Sendungsdauer - beinahe doppelt so viele Korrespondentenberichte wie Ende der 70er Jahre. 1985 wurde die „Tagesschau“ wiederum neu gestaltet. Zu sehen waren, in der Mitte des Redaktionsbüros, zwei Tische mit einem/ einer ModeratorIn, einem/ einer NachrichtensprecherIn und einem/ einer Sportjournalisten/ Sportjournalistin. Der/ die ModeratorIn übernahm die Rolle eines/ einer Präsentierers/ Präsentiererin und eines/ einer Gastgebers/ Gastgeberin, der/ die das Publikum begrüßte, fast jeden Beitrag - gerne auch in einem didaktischen Stil - einleitete, die Sendung organisierte und sich schließlich in einem zwanglosen Stil vom Publikum verabschiedete. Die parasoziale Kommunikation wurde dadurch verstärkt, ebenso durch die informelle Kommunikation zwischen den Personen im Studio. Im August 1992 wurde die Sendung wieder umgestaltet. Dieses Sendungsformat erhielt sich bis Ende 2005. Betont wurde in diesem Format die (scheinbare) Möglichkeit, zu jeder Zeit an jeden Ort der Welt „schalten“ zu können, und zwar zu einem/ einer Journalisten/ Journalistin vor Ort. Dieser/ diese wurde dann vom Moderator bzw. der Moderatorin als Ex- 5 Die Stimme des Sprechers bzw. der Sprecherin kann vertraut sein, sie bleibt aber, solange die entsprechende Person nicht sichtbar ist und ihr Name nicht genannt wird, anonym im Sinne einer fehlenden Identifizierung. 6 Eine detaillierte Analyse der Nachrichtenpräsentation liefert Luginbühl (2009). 7 Dies ist in den mir vorliegenden Sendungen vor 1980 nicht der Fall und fällt gerade bei den ModeratorInnen, die bis dahin als SprecherInnen fungierten, besonders ins Auge. Medientexte im und als Kontext 269 perte/ Expertin für das entsprechende Ereignis live interviewt. Dementsprechend hoch waren die Anteile der Textsorten „Korrespondentenbericht“ und „Interview“. Auch der Anteil an Moderationstexten stieg weiterhin. Seit dem 5. Dezember 2005 wird die Schweizer „Tagesschau“ wiederum in einem neuen Format ausgestrahlt. Während einerseits die moderierende Person in ihrer Körperlichkeit besser wahrnehmbar und somit ihre visuelle Präsenz erhöht wurde und die moderierenden Texte weiterhin an Wichtigkeit gewinnen, so „verschwinden“ die Korrespondentinnen und Korrespondenten andererseits aus ihren Berichten; in der von mir untersuchten Woche wurden 24 Korrespondentenberichte ausgestrahlt, nur in einem einzigen war der Korrespondent im Bericht selbst vor Ort zu sehen. Die Tatsache, dass die Schweizer „Tagesschau“ ihr Format so häufig verändert hat, verweist darauf, dass die Einflussfaktoren „Einzelsprache“ und „Nation“ nicht als primäre Einflussfaktoren eingestuft werden können. Denn in beiden Fällen müssten die oben beschriebenen Formatänderungen auf Veränderungen in der Einzelsprache bzw. der „nationalen Mentalität“ zurückzuführen sein. Wäre die Einzelsprache der dominante Einflussfaktor, so hätten sich auch andere deutschsprachige Fernsehnachrichtensendungen ähnlich entwickeln müssen, was nicht der Fall ist (s. etwa für die deutsche „Tagesschau“ Ludes 1993, 2001). Und die Unterschiede zwischen der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweizer „Tagesschau“ verweisen darauf, dass sich die Sendungen in derselben Nation unterschiedlich entwickelt haben. Als zentrale Kontextfaktoren für die Ausgestaltung von Fernsehnachrichten werden auch das Mediensystem und der Medienmarkt angesehen. Dabei wird insbesondere der Kommerzialisierung des Medienmarkts eine große Auswirkung auf den Nachrichtenstil zugeschrieben: Durch die Kommerzialisierung, so lautet eine gängige Argumentation, würden die Nachrichtensendungen einen Prozess der „Amerikanisierung“ durchmachen, und zwar in Richtung „Infotainment“ (vgl. dazu etwa Genz et al. 2001; Thussu 2003). Der obige Überblick über die Formate der Schweizer „Tagesschau“ zeigt nun aber, dass im Fall dieser Sendung nicht eine kontinuierliche Entwicklung hin zu mehr „Infotainment“ zu beobachten ist. Viel eher ist eine Art Wellenbewegung zu beobachten: Die Sendung war in den 50er Jahren ganz ausgeprägt auf Zuschauerattraktivität im Sinn von Infotainment ausgerichtet. Die 60er und 70er Jahre sind durch eine bewusst distanzierte und (pseudo)objektive Berichterstattung geprägt, während das neue Format von 1980 wieder eine Art Paradigmenwechsel brachte, und zwar mit der Einführung des/ der Moderators/ Moderatorin und dem starken Anstieg der Korrespondentenberichte. Das neue Format von 2005 weist aber wieder in gewissen Belangen eine Rückkehr zu eher „traditionellen“ Formen des Berichtens auf: So sind (wie erwähnt) die KorrespondentInnen in den Berichten selbst kaum noch zu sehen; häufig werden die entsprechenden 270 Martin Luginbühl Berichte auch von einem anonymen Sprecher oder einer anonymen Sprecherin verlesen, und nicht von den KorrespondentInnen selbst. Hinzu kommt, dass der Formatwechsel von 1980 nicht direkt mit dem Mediensystem oder dem Medienmarkt erklärt werden kann. Die Sendung stand unter keinem großen Konkurrenzdruck; die deutschen Privatsender wurden erst Ende der 80er Jahre eine ernstzunehmende Konkurrenz 8 und das duale System wurde in der Schweiz erst 1998 eingeführt. (Blum 2003: 377) Natürlich ist die Einführung eines/ einer Moderators/ Moderatorin ein Mittel, um die Sendung „näher“ zum Publikum zu bringen. Dies deshalb aber als Folge der Kommerzialisierung allein zu deuten, ist im Fall der Schweizer „Tagesschau“ nicht einleuchtend. Der vor allem ab den 90er Jahren erhöhte Konkurrenzdruck dürfte so einen Trend verstärkt haben - ausgelöst scheint er ihn aber nicht zu haben. Andererseits spielen die Faktoren Mediensystem und Medienmarkt natürlich eine Rolle: Das Format von 1980 etwa wurde so rasch wieder geändert, weil die Einschaltquoten sanken. (Printz 1980) Oder 1992 wurden Änderungen vorgenommen, die deutlich auf mehr Zuschauerattraktivität abzielen: In einer entsprechenden Medienmitteilung vom August 1992 ist von einer neuen „Dramaturgie“ die Rede, weil die alte „oft etwas spannungsarm“ gewesen sei, das Erscheinungsbild wurde „wärmer“ gestaltet und die inhaltliche Reihenfolge „mit mehr Flexibilität“ realisiert. (Pressemitteilung Schweizer Fernsehen vom 25. August 1992) Es liegt auf der Hand, diese Veränderungen im Zusammenhang mit der Marktsituation zu sehen. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es sich hier nicht um eine zwingende Folge handelt, sondern um einen bewussten stilistischen Entscheid, der erst im Nachhinein als „logische“ Folge erscheint. Dies illustriert ein ganz ähnlicher Fall in der Geschichte der amerikanischen „CBS Evening News“: 1991 fiel die Sendung hinter den Konkurrenzsendungen der Sender NBC und ABC auf den dritten Platz. Daraufhin wurde bei CBS ernsthaft darüber nachgedacht, die Sendung mehr Richtung „hard news“ zu entwickeln. Der neue executive producer entschied sich dann 1992 aber gegen diesen „hard news“-Ansatz. In beiden Fällen erscheint die Entwicklung der Sendung hin zu mehr „Zuschauernähe“ als zwingend. Dies ist aber eigentlich erst im Nachhinein so; die einzelnen Entscheide hätten auch anders ausfallen können. Ganz ähnlich liegen die Dinge im Hinblick auf die Entwicklung neuer Technologien. Natürlich werden bestimmte Berichterstattungsformen (wie etwa Live-Interviews mit Personen, die am Ort des Geschehens gesehen werden können) erst durch bestimmte Technologien ermöglicht. Auch hier 8 Im Jahresbericht des Schweizer Fernsehens von 1982 werden im Zusammenhang mit der „Zuschauerresonanz“ als Hauptkonkurrenten die deutschen Sender ARD und ZDF aufgelistet, alle anderen Sender als „andere Programme“. (SRG-Jahrbuch 1982: 22) Noch im Juni 1990 werden die deutschen Privatsender in einer Pressemitteilung als „neue deutsche Privatsender“ bezeichnet. (Pressemitteilung vom 26. Juni 1990) Medientexte im und als Kontext 271 ist also die entscheidende Frage, ob vorhandene Technologien überhaupt eingesetzt werden, und wenn sie eingesetzt werden, wie dies geschieht. Die Schweizer „Tagesschau“ beispielsweise war schon in den 60er Jahren technisch in der Lage, im Nachrichtenfilm einen/ eine Korrespondenten/ Korrespondentin vor Ort zu zeigen, der/ die einen Text spricht. Dennoch wurde von dieser Möglichkeit in der „Tagesschau“ - soweit ich das aufgrund meiner Daten beurteilen kann - erst in den 80er Jahren regelmäßig Gebrauch gemacht. Hinzu kommt, dass zu Beginn die KorrespondentInnen nur in Interviews zu sehen waren, nicht aber als Personen, die direkt zum Publikum sprechen. 4.2 Globale und translokale Textgestaltung Nationale oder sprachliche Räume als primär wirkende Kontextfaktoren nachzuweisen ist (zumindest im Fall von Fernsehnachrichten) kaum möglich, wie die bisherigen Ausführungen zeigten: die Formate mit ihren je spezifischen Textsortenrepertoires, Textsortenfrequenzen und Textsortenstilen sind innerhalb dieser Räume heterogen. Andererseits aber gibt es auch einzelne Textsorten, die in ähnlicher Ausgestaltung in verschiedenen Sendungen aus unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen gefunden werden können. Die Textsorte „Korrespondentenbericht“, in der ein namentlich genanntes Mitglied der Redaktion über ein Ereignis berichtet, wird in der Schweizer „Tagesschau“ in der von mir untersuchten Woche aus dem Jahr 1968 nicht realisiert. 1978 liegt der Anteil bei knapp 17 % der Sendungsdauer, um dann mehr oder weniger kontinuierlich auf heute 37 % anzusteigen. Wie erwähnt, waren die KorrespondentInnen zu Beginn fast ausschließlich in Interviewsituationen selbst im Bild zu sehen. In der „CBS Evening News“ liegen die Dinge ganz anders: Hier waren und sind Korrespondentenberichte (so genannte packages, White 2005: 257) die zentrale Textsorte, welche seit den 1960er Jahren um die 60 % der Sendungsdauer ausmachen. Zudem ist in den CBS-packages der/ die KorrespondentIn in den meisten Fällen am Ende des Beitrages vor Ort zu sehen. Stilistisch fällt in diesen packages auf, dass auf verschiedenen Ebenen Nähe zum Publikum hergestellt wird, und zwar nicht nur durch das Vor-Ort-Sein des/ der Korrespondenten/ Korrespondentin, sondern auch durch die Betonung (oder gar Inszenierung) von Aktualität, durch den gezielten Einsatz von Nahaufnahmen, aber auch durch die Betonung emotionaler Aspekte von Ereignissen. Eine ganz ähnliche Gestaltung von Korrespondentenberichten findet sich auch ab den 1990er Jahren in der Schweizer „Tagesschau“: Die KorrespondentInnen sind häufig am Ende der Beiträge vor Ort zu sehen, sie betonen die Aktualität des Berichteten, Nahaufnahmen sind häufiger zu finden und auch die Betonung emotionaler Aspekte ist zu beobachten (dazu Luginbühl 2008b). 272 Martin Luginbühl Diese Parallelen in der Form der Berichterstattung sind so frappant, dass es sich hier kaum um einen Zufall handeln kann; vielmehr wurde hier eine bestimmte Ausgestaltung einer Textsorte übernommen. 9 Und dies nicht nur in der Schweizer „Tagesschau“: Der Korrespondentenbericht ist in vielen europäischen Sendungen zu einer prototypischen Textsorte in Fernsehnachrichten geworden. Man kann diesen Prozess nun nicht einfach pauschal als „Amerikanisierung“ interpretieren, denn die Textsorte „Korrespondentenbericht“ weist auch in den 90er Jahren noch Unterschiede zu den amerikanischen packages auf. So weisen die Schweizer Korrespondentenberichte meist kein Framing im Sinn einer Gesamtinterpretation (McQuail 2005: 555) des berichteten Ereignisses auf und sie haben in der Schweizer „Tagesschau“ auch einen ganz anderen Stellenwert im Hinblick auf die Textsortenfrequenz. Und im neusten Format werden die „Korrespondentenberichte“ ja wie erwähnt wieder anders gestaltet, als dies in den amerikanischen network news der Fall ist. Was sich hier zeigt, ist, dass Textmuster zwar übernommen, dann aber offenbar durch die Individuen, welche die Texte realisieren, modifiziert werden. Dabei rekurrieren die Individuen offenbar auf ihr Werte- und Normensystem, wobei im Falle von Fernsehnachrichtenbeiträgen weniger die individuellen Werte und Normen relevant zu sein scheinen, als sich verändernde, sendungsspezifische journalistische Kulturen. Diese schlagen sich auch in öffentlichen Äußerungen zu den einzelnen Sendeformaten nieder: Im SRG-Jahresbericht von 1970 - also zur Zeit des distanzierten Verkündens in den Nachrichten - schrieb der damalige Chefredaktor Dario Robbiani u.a., in der Tagesschau werde „das Gesetz des angelsächsischen Journalismus der ‚5 W‘ gewahrt“ und die Meldungen würden „wahrhaft, treffend, ausgeglichen und in neutraler Präsentation“ (Robbiani 1970) wiedergegeben. Anders tönt es im Zusammenhang mit dem Format der 90er Jahre: Ziel war - so meinte eine „Renovationsgruppe“ - mehr Dynamik und Flexibilität, der Moderator solle „näher beim Publikum“ sein. (Pressemeldung vom 31. August 1992) Und der damalige Chefredaktor, Peter Studer, meinte, dass mehr Inhalte, welche die Menschen bewegen, berücksichtigt werden sollen. (ebd.) Im Zusammenhang mit dem neusten Format meinte der Chefredaktor Ueli Haldimann, die Nachrichten müssten „auffälliger präsentiert“ werden, dazu müsse der gewohnte Stil häufig durchbrochen werden. (Impact 2005: 5) Die Textsortenmerkmale werden demnach im Falle des Korrespondentenberichts nicht einfach übernommen, sondern kulturell adaptiert. Wir haben es also mit einer partiellen Homogenisierung zu tun. Dennoch liegt hier ein Fall vor, in dem sich ein bestimmtes Textsortenmerkmal (soweit ich sehe) international verbreitet hat. 9 Ob dies direkt oder vermittelt geschehen ist, kann mit dem vorliegenden Korpus nicht rekonstruiert werden. Medientexte im und als Kontext 273 Auch bei der Entwicklung von Sendungsformaten sind Parallelen zu beobachten. So lassen sich deutliche Parallelen zwischen der Geschichte der Schweizer „Tagesschau“ und anderen europäischen Fernsehnachrichtensendungen von öffentlichen Sendern beobachten. Die schwedische Sendung „aktuellt“ weist beispielsweise beinahe identische Phasen der Nachrichtengestaltung auf wie die Schweizer „Tagesschau“. Djerf-Pierre (2000: 257) unterscheidet die Phasen „objectivism“ (1956-1965), „critical scrutiny“ (1965-1985) und „popularization“ (1985-1995). In der ersten Phase herrschen Filmberichte ohne KorrespondentInnen vor und eine distanzierte, neutrale Berichterstattung, welche vorgibt, die Realität zu reproduzieren. In der Phase von 1965-1985 sind im Zentrum die Dokumentation von Ereignissen sowie JournalistInnen, die in Erklärungen und Kommentaren auch bewerten und das Publikum bilden wollen. In der dritten Phase schließlich ist eine Zunahme von sichtbaren JournalistInnen zu verzeichnen, die oft miteinander interagieren. Die JournalistInnen übernehmen dabei die Rolle von ExpertInnen, die vor allem analysieren und interpretieren. Auch Brants und van Kempen (2002), welche den politischen Journalismus in den Niederlanden untersuchen, insbesondere die Fernsehnachrichten, unterscheiden drei Phasen: bis 1965 eine „lapdog“-Phase, 1965-90 eine „watchdog“-Phase und seit 1990 eine „Cerberus“-Phase. In der ersten Phase dominierte „objektiver“ Journalismus, in dem paternalistisch Fakten verkündet wurden. Die zweite Phase war geprägt von einem kritischen Journalismus, während sich in der dritten Phase die JournalistInnen stärker am Publikum ausrichten und sowohl als Informierer, Interpretierer und Unterhalter auftreten können. Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist laut Brants und van Kempen im öffentlichen Sender NOS wieder eine Tendenz hin zu traditionelleren Formen des Berichtens zu konstatieren; hier liegt eine weitere Parallele zur Schweizer „Tagesschau“ vor. Die hier angeführten Parallelen verweisen einerseits darauf, dass es im Falle von Fernsehnachrichten keinen linearen Prozess einer Amerikanisierung gibt, andererseits aber auch darauf, dass es translokale Entwicklungen gibt (vgl. dazu Welsch 1995; Hepp 2006), die in anderen Sendungen derselben Länder (z.B. in Lokalfernsehnachrichten oder Fernsehnachrichtensendungen von Privatsendern) nicht zu beobachten sind. Somit lassen sich diese Entwicklungen auch nur bedingt an einen Ort rückbinden. Auch eine Fallstudie, in welcher die Berichterstattung der Hauptausgabe von Fernsehnachrichtensendungen sechs mittel- und nordeuropäischer öffentlicher Sender mit der Berichterstattung von drei amerikanischen nationalen network news-Sendungen verglichen wurde (Luginbühl 2008a), verweist auf die Existenz translokaler journalistischer Kulturen, die weder im entsprechenden geografischen Raum durchgängig anzutreffen noch global zu beobachten sind. So sind die Beiträge der amerikanischen network news-Sendungen einerseits und die mittel- und nordeuropäischen Beiträge öffentlicher Sender andererseits etwa im Bezug auf die Themenentfaltung, 274 Martin Luginbühl aber auch auf die mediale und mikrostilistische Ausgestaltung unterschiedlich. Der diachrone und synchron-internationale Vergleich von Fernsehnachrichten zeigt, dass verschiedene Einflussfaktoren eruiert werden können, welche die Textgestaltung beeinflussen; keiner dieser einzelnen Faktoren aber scheint dominant zu sein. Als konzeptueller Dreh- und Angelpunkt zur Untersuchung verschiedener Textsortenstile bietet sich das Konzept der „journalistischen Kultur“ (Djerf-Pierre 2000) an. Es betont die Wichtigkeit journalistischer Werte und Rollenbilder, die sich durch das Zusammenwirken verschiedener Einflussfaktoren entwickeln, also hybride Formationen darstellen. Die journalistischen Kulturen und die daraus hervorgehenden Texte sind - dies zeigen die Vergleiche - durch mehrfache Anschlüsse geprägt, die globaler, regionaler, lokaler und translokaler Art sein können. Der Einfluss einzelner Faktoren wird damit nicht in Abrede gestellt, es wird aber betont, dass einzelne Faktoren nicht zwingend zu einer bestimmten, vorhersagbaren Entwicklung führen müssen. Zunehmender Konkurrenzdruck muss die Inszenierung von „Nähe“ nicht auslösen und auch nicht zwingend verstärken (dies zeigt die neuste Entwicklung der Schweizer Korrespondentenberichte) - und „Nähe“ muss nicht überall mit denselben Mitteln inszeniert werden. Das komplexe Geflecht verschiedener Kontextfaktoren, welche die Textgestaltung beeinflussen, kann im Konzept der journalistischen Kultur gebündelt werden. In ihr schlagen sich diese Kontextfaktoren nieder. Allerdings etabliert sich diese Kultur auch zu einem gewissen Grad selbst; sie ist nicht gänzlich aufgrund von Kontextfaktoren vorhersehbar. 5 Nachrichtenbeiträge als Kontext: Zur Kontextualisierung von Ereignissen Ereignisse, über welche in Fernsehnachrichten berichtet wird, werden einerseits durch Merkmale einzelner Textsorten, aber auch durch unterschiedliche Textsortenausgestaltungen in jeweils unterschiedliche Kontexte gestellt. Die Berichterstattungsformen sind somit nicht nur durch Kontextfaktoren beeinflusst, sie generieren auch einen Kontext für die berichteten Inhalte, sie kontextualisieren diese Inhalte. Dabei spielt selbstverständlich die einzelfallspezifische inhaltliche Kontextualisierung eine Rolle. Wenn in amerikanischen network news-Beiträgen über einen Flugzeugunfall in Südamerika in allen Beiträgen Parallelen zu ähnlichen Unfällen in den USA gezogen werden, nicht aber in den Beiträgen von öffentlichen Sendern in Europa (vgl. Luginbühl 2008a), dann ist evident, dass in den amerikanischen Beiträgen das Ereignis durch diese Kontextualisierung eine andere Bedeutung erhält als in den europäischen Beiträgen. Mich interessieren aber im Folgenden nicht diese einzelfallspezifischen Kontextualisierungen, sondern Kontextualisierungsmuster, welche die Folge Medientexte im und als Kontext 275 von Berichterstattungsformen sind, die für einzelne Sendungsformate als typisch angesehen werden können und so auf einer eher formal-stilistischen Ebene die berichteten Ereignisse kontextualisieren. Gerade dadurch, dass es sich hier um Aspekte der Form handelt, scheint mir eine detaillierte Untersuchung wichtig: Die gängigen Formen der Berichterstattung erscheinen als „normal“ und dementsprechend unauffällig. Der Einfluss dieser Formen auf das Sinnpotenzial der Beiträge und somit auf die Kontextualisierung einzelner Ereignisse dürfte somit kaum oder nur wenig bewusst sein. Ich möchte im Folgenden ein Beispiel aus dem Jahr 2005 zur Illustration diskutieren; es handelt sich dabei um die Berichterstattung über ein Flugzeugunglück in Chicago, bei dem ein Flugzeug über das Pistenende hinausrollte, auf eine Autostraße fuhr und mit einem Auto zusammenstieß. Ein Junge, der in diesem Auto war, kam bei diesem Unfall ums Leben. Soweit sich das rekonstruieren lässt, standen beiden Fernsehanstalten, deren Beiträge im Folgenden verglichen werden, dieselben Filmaufnahmen zur Verfügung. In der Schweizer „Tagesschau“ wird in der Form einer Filmmeldung über den Unfall berichtet. In der Anmoderation fasst der Moderator die wichtigsten Fakten zusammen, zu sehen ist eine Karte der USA, auf welcher Chicago eingezeichnet ist. Eine anonyme Stimme aus dem Off verliest anschließend den Nachrichtentext, dazu sind Filmaufnahmen zu sehen. Der Beitrag ist nach dem Prinzip der umgekehrten Pyramide strukturiert, also nach der Beantwortung der Fragen wo, wer, was, wie, warum. Dabei beschränkt sich der Sprechertext auf Faktenaussagen („An Bord der Maschine der Southwest Airlines befanden sich 103 Passagiere. Zwei von ihnen erlitten leichte Verletzungen. - Bei der Bruchlandung knickte nach Angaben der Feuerwehr das vordere Fahrwerk ein.“); in zwei Fällen ist eine leicht dramatisierende Wortwahl zu beobachten (ein Schneesturm „tobte“, das Flugzeug „begrub“ ein Auto unter sich). Bei den Bildern handelt es sich teilweise um textillustrierende Bilder, also um Bilder, welche mehr oder weniger direkt das zeigen, wovon im gesprochenen Text die Rede ist. Daneben sind aber auch Standardnachrichtenbilder zu sehen, die nur einen losen Zusammenhang zum Gesagten haben („In einem der Fahrzeuge saß eine Familie, deren sechsjähriger Junge später im Spital seinen Verletzungen erlag“; dazu Aufnahmen der Straße, auf der Rettungswagen stehen und Menschen umherlaufen, ein Rettungsauto fährt davon). Alle Bilder zeigen die Unfallszene in Einstellungen der Totale, also ohne Naheinstellungen oder Detailaufnahmen. Die Funktion dieser Form ist es in erster Linie, ein „objektives“ Verkünden von Wahrheit zu inszenieren. Es gibt, so impliziert diese Form, eine unumstrittene außermediale Realität, welche hier unverzerrt und distanziert-sachlich verkündet wird. 276 Martin Luginbühl Dasselbe Ereignis wird von der „CBS Evening News“ ganz anders kontextualisiert. 10 Bereits in der Anmoderation findet (neben der Fakteninformation) ein Spannungsaufbau statt („CBS News transportation correspondent Bob Orr has the latest.“). Neben dem Moderator sind animierte Computergrafiken zu sehen, auf denen das Unglücksflugzeug und fallender Schnee zu sehen sind; zudem ist das Wort „CRASH“ mit zerbröckelnden Buchstaben gestaltet. Im folgenden package fasst der Korrespondent zuerst den aktuellen Stand der Dinge bezüglich der Ermittlungen zusammen, dann schildert er kurz das Ereignis. Dazu wird eine Computeranimation eingeblendet, welche die Landung des Flugzeugs zeigt. Es folgt ein O-Ton 11 einer Passagierin, welche die Stimmung im Flugzeug während der Landung schildert. Anschließend werden verschiedene mögliche Unfallursachen dargestellt, wobei auch zwei Experten der Flugaufsicht zu Wort kommen. Dann zieht der Korrespondent einen Vergleich zu einem ähnlichen Unfall derselben Fluggesellschaft, und am Ende des Berichts ist der Korrespondent selbst zu sehen, wie er berichtet, dass die Unfallursache noch offen sei und die entsprechenden Ermittlungen noch im Gang. Dann gibt der Korrespondent das Wort an den Moderator, welcher nun den Korrespondenten live interviewt und ihm die Frage stellt, ob ähnliche Risiken auch in anderen US-Flughäfen vorliegen. Der Korrespondent meint, dass dies möglich sei und dass dieser Unfall die Debatte über die Sicherheit von Flughäfen in Stadtzentren wieder aufleben lassen könnte. Zunächst einmal ist der Beitrag auf verschiedenen Ebenen darauf angelegt, Nähe zum Publikum herzustellen. Dies geschieht etwa dadurch, dass nicht auf das (bereits vergangene) Ereignis des Unfalls fokussiert wird, sondern auf die laufenden Ermittlungen, also auf die zeitlich am nächsten liegenden Ereignisse; dadurch wird das Ereignis aktualisiert. Zudem wird durch den O-Ton der Passagierin emotionale Nähe hergestellt - sowie auch räumliche Nähe durch eine Großaufnahme derselben. Nähe wird zudem auch dadurch hergestellt, dass der Korrespondent in Großaufnahme live im Bild zu sehen ist. Durch diese Form der Berichterstattung wird auch die Authentizität des Ereignisses anders inszeniert als im Schweizer Beitrag: Während im Beitrag der Schweizer „Tagesschau“ die Unverfälschtheit des Dargestellten durch ein Maximum an Distanz inszeniert wird (Stimme „aus dem Nichts“, Aufnahmen aus entferntem Standpunkt, Konzentration auf Fakten), wird die Authentizität im CBS-Beitrag durch die Betonung von Nähe inszeniert - Nähe des Ereignisses zum Publikum, aber auch Nähe des Korrespondenten 10 Dies liegt nicht nur daran, dass es sich hier um ein Ereignis in den USA handelt. Die hier beschriebenen Unterschiede lassen sich auch im Zusammenhang mit einem Flugzeugunglück in Südamerika beobachten (vgl. Luginbühl 2008a). 11 Mit O-Tönen sind Äußerungen von Personen gemeint, die nicht zur Redaktion gehören und die in einem Beitrag zu Wort kommen. Es handelt sich dabei meist um Äußerungen, die im Rahmen eines Interviews bzw. einer Rede gemacht worden sind. Medientexte im und als Kontext 277 zum Publikum. Dabei - und dies ist eine gängige Praxis der „CBS Evening News“ - profitiert der Korrespondent von der Form des package: Der Korrespondent befindet sich in aller Regel am Ort des Geschehens und ist somit als (meist Pseudo-)Augenzeuge Garant für die Vertrauenswürdigkeit der Informationen. In diesem Fall aber befindet sich der Korrespondent gar nicht vor Ort, sondern in Washington. Auch die Computeranimationen können im Zusammenhang mit der Inszenierung von Nähe gesehen werden: Ziel ist es, Nähe zum Ereignis herzustellen, indem die Landung „gezeigt“ wird. Letztlich wird im CBS-Beitrag ein Bild vermittelt, das betont, dass die Berichterstattung lediglich ein Ausschnitt aus einem immerwährenden Rechercheprozess ist, während im „Tagesschau“-Beitrag eine abschließende Wahrheit dargestellt wird. Obwohl in beiden Fällen über dasselbe Ereignis berichtet wurde, erhalten die Ereignisse durch die unterschiedliche Kontextualisierung in den verglichenen Beiträgen einen unterschiedlichen Status; dieser ist auf die Form der Berichterstattung zurückzuführen, also auf die Sinnpotenziale der unterschiedlichen stilistischen Ausgestaltungen der Texte (dazu Sandig 2006: 11-17). 6 Schluss Ein national sowie international komparativer diachroner und synchroner Vergleich von Fernsehnachrichtensendungen zeigt, dass die je spezifische Gestaltung von Fernsehnachrichten weder durch den nationalen oder den einzelsprachlichen Kontext, noch durch technische Entwicklungen oder die Kommerzialisierung des Mediensystems allein erklärt werden kann. Die Gestaltung von Fernsehnachrichten ist offenbar durch ein hoch komplexes Geflecht verschiedener Faktoren beeinflusst, wobei die Wirkung einzelner Faktoren wohl kaum genau eingeschätzt werden kann. Auf jeden Fall legt der Vergleich nahe, dass die einzelnen Kontextfaktoren zwar zu Veränderungen führen können, die konkrete Art und Weise, wie auf diese sich verändernden Kontexte in Bezug auf die Textgestaltung reagiert wird, lässt sich nicht vorhersagen. So können einzelne Veränderungen ohne Auswirkung bleiben (es werden z.B. nicht alle technischen Möglichkeiten ausgeschöpft) oder es können bereits vorhandene Textmerkmale verstärkt werden. Beiträge von Fernsehnachrichten vermitteln den Eindruck, als würde die Form der Berichterstattung aus den Ereignissen hervorgehen. Der vorliegende Vergleich zeigt aber, dass unterschiedliche Kontexte zu unterschiedlichen Formen der Berichterstattung führen und so unterschiedliche Sinnwelten generieren. Andererseits zeigt der Vergleich auch, dass die Praxis immer auch ein Moment der Wahl enthält, dass also aus den Kontextfaktoren nie zwingend auf eine bestimmte Form der Textausgestaltung geschlossen werden kann. Als konzeptionellen Dreh- und Angelpunkt kann das Konzept der „journalistischen Kultur“ einer Sendung angesehen 278 Martin Luginbühl werden. Kultur, verstanden als semiotische Praxis zur Aneignung der Welt, etabliert sich in der Praxis einer Redaktion. Natürlich ist diese Praxis den erwähnten Kontextfaktoren „ausgesetzt“, dementsprechend kann sie globale, nationale, translokale, aber auch regionale und individuelle Spezifika aufweisen. Die Formen der Berichterstattung schaffen aber auch einen Kontext für die berichteten Ereignisse, sie kontextualisieren diese neu und generieren damit eine eigene (Medien-)Wirklichkeit. Relevant ist hier, wie die Analyse zeigt, nicht nur das Formulative, sondern auch die thematische Gestaltung, Aspekte der Multimodalität, die Textsortenzugehörigkeit, Sendungsformate und ihre Textsortenrepertoires etc. Der Rekurs auf das Konzept einer journalistischen Kultur ist deshalb hilfreich, weil es einerseits betont, dass die Gestaltung von Medientexten nicht ausschließlich vom der Textproduktion vorgängigen Kontext abhängig ist, andererseits aber auch deswegen, weil es auch akzidentelle, dysfunktionale Entwicklungen erklären kann. Zudem rechnet dieses Konzept mit der Möglichkeit, dass es Veränderungen in einer Kultur geben kann, bevor diese der entsprechenden Gruppe schon bewusst sind. So konnte der Chefredakteur der Schweizer „Tagesschau“ als Begründung für das „Verschwinden“ der Korrespondentinnen und Korrespondenten aus den Beiträgen lediglich vorbringen: „Das ist vorbei.“ Literatur A LLAN , Stuart (1998): „News from NowHere: Televisual News Discourse and the Construction of Hegemony“. In: Allan Bell/ Peter Garrett (Hrsg.): Approaches to Media Discourse. Oxford: Blackwell, 105-141. B ECK , Daniel/ S CHWOTZER , Bertil (2006): „Fernsehnachrichten in einem mehrsprachigen Land. Eine Langzeitanalyse von Tagesschau, Téléjournal und Telegiornale“. In: Medienwissenschaft Schweiz, Nr. 1+2/ 2006, 25-33. B ELL , Allan (1998): „The Discourse Structure of News Stories“. In: Allan Bell/ Peter Garrett (Hrsg.): Approaches to Media Discourse. Oxford: Blackwell, 64-104. B LUM , Roger (2003): „Medienstrukturen der Schweiz“. In: Günter Bentele/ Hans- Bernd Brosius/ Otfried Jarren (Hrsg.): Öffentliche Kommunikation. Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft. 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Müller Kontexte, Macht und Medien Zur geschichts- und identitätsbildenden Funktion intermedialer Praxen am Beispiel des Irakkrieges 1 Kontexte, Macht und Medien Mediale Praxen finden in spezifischen sozial-, mentalitäts- und technologiehistorischen Kontexten statt; sie sind untrennbar mit komplexen Formen und Funktionen der Machtausübung verwoben. Medienprodukte und -formate entstehen in Interaktion mit gesellschaftlichen und institutionellen Machtstrukturen und üben in vielfältig differenzierter Weise Macht in (globalisierten? ) Gesellschaften und Kulturen aus. Die Formen und Funktionen dieser Prozesse, die auf zahlreichen, sich kreuzenden und überschneidenden Ebenen stattfinden (im Spektrum zwischen Individuen, Sozialstrukturen, Institutionen, ökonomischen, politischen, medialen, sozialen und psychischen Dimensionen), lassen sich weder durch einen einzelnen und kohärenten Theorieentwurf, noch durch die Untersuchung eines singulären Forschungsfeldes fassen. Wir können uns diesen nur näherungsweise auf der Grundlage klar definierter Forschungsachsen mit Blick auf ausgewählte und paradigmatische Phänomene nähern. In meinem Artikel habe ich mich daher für diese Vorgehensweise entschieden. Nach einer knappen terminologischen Rahmung und Justierung der Frageachsen werde ich mich am Beispiel der (inter)medialen Berichterstattung zu Abu Ghraib mit der geschichtsbildenden Macht von (primär) audiovisuellen Medien befassen. Doch werfen wir nun einen Blick auf den ersten terminologischen Eckpunkt unserer kleinen Studie, die „Kontexte“. 1.1 Kontexte „Kontexte“ und deren „Macht“ erweisen sich als äußerst vielschichtige Felder der Medienlandschaft und des medialen Handelns. In der Geschichte von Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften finden wir zahlreiche - mehr oder weniger verstreute - Hinweise zu deren Rolle und Funktion, die eine erneute, fokussierende und bündelnde Auseinandersetzung mit diesen Prozessen sinnvoll und hilfreich erscheinen lassen. Literale und mediale Praxen ereignen sich in spezifischen sozialen, politischen, literarischen, ästhetischen, technologischen, gattungsspezifischen, normativen, religiösen, ethischen ... Kontexten. Sie sind an komplexe Macht- 284 Jürgen E. Müller verhältnisse gekoppelt, die sich leider (oder erfreulicherweise) nicht allein auf das Zusammenspiel von Seins- und Bewusstseinsphänomenen bzw. Basis- und Überbauprozessen reduzieren lassen, um nur einen der zahlreichen Lösungsvorschläge zu nennen, der uns vor einigen Jahrzehnten in den literatur- und medientheoretischen Diskursen in der Nachfolge von Marx und Engels als komplexitätsreduzierendes Rezept präsentiert wurde. Dieser und andere Vorschläge haben sich in den vergangenen Jahren als zu undifferenziert und als lediglich bedingt tauglich für die Beschreibung und Analyse der komplexen Prozesse erwiesen. Sozial-, Geistes-, Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaften gelang es bis heute bestenfalls (unter jeweils verschiedenen theoretisch-methodologischen Ausgangspunkten) Rand- oder Teilaspekte des Zusammenwirkens von Kontexten, Macht, literalen und medialen Praxen analytisch zu fassen. Wenn Teun van Dijk in seinem vor nahezu drei Jahrzehnten erschienenen Band Textwissenschaft schreibt „[s]elbstverständlich müssen wir neben einer Einsicht in die Textstruktur auch eine Einsicht in die Kontextstruktur besitzen, wenn wir die Bezüge zwischen Text und Kontext systematisch diskutieren wollen“ (1980: 69), verweist er auf eine zentrale - auch heute noch virulente und offene - Fragestellung von Linguistik, Semiotik, Literatur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften. Sein Vorschlag, den Kontext intuitiv (wie er es nennt) als Abstraktion der „kommunikativen Situation“ (van Dijk 1980: 69) aufzufassen, scheint immer noch überzeugend; allerdings drängen sich damit sogleich eine Vielzahl weiterer offener Fragen auf: Können und müssen, wie von van Dijk vorgeschlagen (van Dijk 1980: 70), spezifische Kontextfaktoren von face-toface-Kommunikationen - etwa Physiognomie der GesprächspartnerInnen, schichten- und bildungsspezifische Faktoren, Wissenskonstellationen etc. - tatsächlich als Kontextfaktoren ausgeschlossen werden oder gehören sie nicht im Gegenteil als zentrale Elemente zum Kontext direkter und unmittelbarer Kommunikation? Mit anderen Worten: als Text- und MedienwissenschaftlerInnen sollten wir uns dessen bewusst bleiben, von welchen Kontexten und welchen Kontextelementen wir im Rahmen unserer Forschungen jeweils ausgehen oder auszugehen haben. Reden wir über „pragmatische“, „psychische“, „soziale“, „stilistische“, „textuelle“ Kon-Texte (diese werden z.B. von van Dijk angeführt)? Welche Machtfaktoren und -funktionen haben wir diesen Kontexten zuzuordnen? Aus der Fülle von Lösungsangeboten von Linguistik und Soziolinguistik, Sprechakttheorie, Pragmatik, Semiotik, Sozialpsychologie, Soziologie und Medienwissenschaft seien an dieser Stelle exemplarisch genannt: Jakobsons Kommunikationsmodell und die dort skizzierten konstitutiven Faktoren und korrelierenden Sprach-Funktionen (Jakobson 1963), die Forschungen zum Zusammenhang von sozialem Kontext und sprachlicher Sozialisation (vgl. Dittmar 1973), Austins (1962) und Searles (1969) Speech Act Theory und die Verortung sprachlichen und literalen Handelns in spezifischen Kommunikationssituationen (Gumbrecht 1978), die semiotische Pragmatik, die Kontexte, Macht und Medien 285 mit Roger Odins Modell einer sémio-pragmatique eine wichtige Ausweitung in Richtung Film- und Medienwissenschaft erfahren hat (Odin 1994), Erving Goffmans (1974) sozialpsychologisches Konzept der Frame Analysis und seine Hinweise auf die zentrale, kommunikationssteuernde Rolle situativer Rahmen, die Beschreibung und Analyse von Zusammenhängen zwischen Gesellschaft, sozialen Situationen, sozialem Handeln und Wissenstransfer, wie sie von der Wissenssoziologie (Berger/ Luckmann 1970) geleistet wurde und die kommunikations- und medienwissenschaftlichen Modelle zur Rekonstruktion der Rolle politischer und institutioneller Macht als „gatekeeping“-Instanz (Fiske 1990) der televisuellen Vermittlung von Nachrichten. Angesichts dieses Überangebots an komplexitätsreduzierenden Vorschlägen zum „Kontext“ kann im begrenzten Rahmen dieses Artikels keine „Synthese“ dieser Ansätze geleistet werden, sondern es lassen sich bestenfalls einige Aphorismen vorstellen, die unsere Perspektiven für die anschließende Diskussion ausgewählter Beispiele des Zusammenspiels zwischen Kontexten, Macht und Medien justieren werden. Den Schwerpunkt meiner Erörterungen werde ich daher auf die Rekonstruktion einiger Interaktionsprozesse zwischen „dem“ gesellschaftlichen, politischen und kulturell-technologischen Kontext und den audiovisuellen Medien, insbesondere dem Fernsehen, legen. 1.2 Macht Ähnlich offene Fragen ergeben sich mit Blick auf die Kategorie der Macht, deren vielschichtige Profile ich zumindest kurz andeuten möchte. Seit der Antike beschäftigt die Macht-Frage ganze Generationen von Philosophen, Theologen, Staatstheoretikern, Soziologen und Geisteswissenschaftlern. Die Denotations- und Konnotationshöfe dieses Begriffs erweisen sich als mindestens ebenso heterogen wie die des Begriffes „Kontext“. Macht als Vermögen und Möglichkeit, als usurpierte oder auferlegte potestas, als erworbene auctoritas, als legitimierte politische Kraft eines notwendigen Dienstes am Menschen, als sittlich-religiöse All-Macht Gottes, als Gewalt und Gewaltausübung, als menschliche Macht-Anmaßung im Augustinischen Sinne, „non hominem homini dominare“ (d.h. der Mensch habe nach Gottes Willen nicht über Vernunft-begabte Mit-Menschen, sondern nur über das Vernunftlose Macht auszuüben, vgl. Ritter/ Gründer 1980: 588), Macht als Wissen, Macht als Faktor des Klassen-Kampfes und der Klassen- Macht, Macht des Kapitals und des so genannten Marktes sowie Macht als zentraler Faktor literalen und medialen Handelns ... Ohne den Versuch einer abschließenden Definition auch nur wagen zu wollen, sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Macht und Machtausübung mit Einflussnahmen, mit Kontroll- und Lenkmechanismen, mit Einschränkungen von Spiel- oder Handlungsräumen des Individuums im Kontext von Interaktions- und Kräftefeldern einhergehen. 286 Jürgen E. Müller 1.3 Kontexte, Macht und mediales Handeln Machtausübung impliziert überdies immer die Frage nach deren Legitimation und Kontrolle - dies gilt selbstverständlich auch für die Interaktionen zwischen Machtfeldern, Kontexten und Formen medialen Handelns, womit wir nun nach diesen Aphorismen zur Öffnung des thematischen Feldes beim thematischen Schwerpunkt unseres Artikels angelangt wären. Ich werde anschließend anhand der (audiovisuellen) Berichterstattung zum letzten Irakkrieg und deren Folgen einige Aspekte des komplexen Zusammenspiels zwischen sozialen, historischen, politischen, medialen, kulturellen, sprachlichen, situativen Kontexten und spezifischen Formen medialen Handelns rekonstruieren. In diesem Zusammenhang werde ich den Schwerpunkt auf die Fragestellung legen, in welchen Formen sich die Macht der Kontexte (d.h. primär der sozialen, politischen, medialen und kulturellen Kontexte) in geschichtsbildenden intermedialen (vgl. Müller 1996, 2008) Praxen entfalten kann und wie diese Praxen ihrerseits auf die Kontextbildung zurückwirken können, so dass wir letztendlich mit einer Diffusion von Text und Kontext in Macht-gesteuerten Diskursen konfrontiert sind. Dies impliziert, dass ich unter anderem Antworten auf die Frage suchen werde, was mit unseren vorgeblich Kontext-referentiellen Geschichts- Bildern geschieht, wenn sie im Internet und in zahlreichen Multi-Media- Werken einem permanenten Recycling ausgesetzt sind. Eines der zentralen Merkmale der elektronischen Medien liegt ja bekanntlich darin, dass sie eine Verknüpfung und Manipulation von Medien und medialen Produktionen zu Multi-Medien-Werken bzw. zu Multi-Media- oder Hyper-Texten bewirken. Die digitalen Medien transformieren und recyceln in vielfältiger Weise Produkte, kontextuelle Elemente, Intertexte und Geschichten (im doppelten Sinne) der „alten“ Medien. Medienwissenschaftliche Forschung stellt sich somit der Herausforderung einer wissenschaftlichen Rekonstruktion der sozialen Funktionen von analog und elektronisch recycelten Geschichts-Bildern und Tönen. Beispielhaft für die Relevanz dieser Fragestellung sei an dieser Stelle auf die audiovisuellen und elektronischen Zirkulationen der Bilder des 11. September, der Irakkriege, des irakisch-amerikanischen Gefängnisses Abu Ghraib oder der Hinrichtung von Saddam Hussein verwiesen, mit denen wir uns noch befassen werden. 2 Kontexte, Macht, Medien und Geschichte(n) 2.1 Soziale Kontexte und Geschichte(n) Baudrillards Bemerkung, dass soziale Wirklichkeit und Geschichte - oder besser Geschichten im Sinne von imaginierten Referenzen auf „Ereignisse“, die sich in spezifischen historischen Kontexten abspielten, aber auch im Kontexte, Macht und Medien 287 Sinne von Erzählungen - für uns erst dann existent sind, wenn sie uns über Audiovisionen vermittelt werden, zählt heute zu den Gemeinplätzen von Medien- und Kulturtheoretikern. (Baudrillard 1981) Unsere gesellschaftliche Wirklichkeit, unsere Geschichte und unsere soziale Identität sind nicht erst ab der Moderne und Postmoderne medial konstituiert. Die Medien- und Kultur-Wissenschaften haben diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen. Wenn wir uns auf den Weg einer Rekonstruktion von Geschichte(n) begeben, sollten wir uns daher dessen bewusst bleiben, dass die Geschichte(n) des 21. Jahrhunderts nicht mehr auf einer Ansammlung von so genannten Fakten, sondern in den allermeisten Fällen auf audiovisuellen und multimedialen Konglomeraten von Geschichtsbildern basieren, auf Spuren, die von spezifischen gesellschaftlichen, historischen und medialen Kontexten hinterlassen wurden, die vorgeben, sich referentiell auf diese Kontexte zu beziehen und die ihrerseits selbst eigene Vorstellungen von historischen und gesellschaftlichen Kontexten schaffen. Doch gestatten wir uns einen kurzen Rückblick und Exkurs zur Thematisierung der Bedeutung und des Nutzens von Audiovisionen für die Geistes- und Medienwissenschaft (vgl. Müller 1998). Seit den Anfängen des Mediums „Film“ finden sich Hinweise auf dessen Relevanz für historische Forschungen. Bereits drei Jahre nach der „Geburt“ des Films, wollte ihn sich der Historiker Matuszewski zunutze machen, um „kleine Stücke der Geschichte“ einzufangen (vgl. Fledelius 1989). Das filmische Material als „témoin oculaire véridique et infaillible“ (als „wahrer und unfehlbarer Augenzeuge“) sollte einem visuellen Archiv zugeführt werden, Beweise für historische Fakten liefern und somit gleichermaßen in referentieller Funktion Elemente des soziokulturellen Kontextes in einen neuen visuellen Text einrücken. Gewiss scheint uns heute die Annahme einer (abbildhaften) Widerspiegelung der Wirklichkeit durch die bewegten Bilder, die in den folgenden Jahren in verschiedenen Versionen eine Vielzahl von Filmtheorien, etwa in Form von Bazins (1975) Konzept des Realismus und der Transparenz der frühen Theorien zum Dokumentarfilm (vgl. Hattendorf 1994) oder der Vorstellung einer uneingeschränkt referentiellen Funktion von Fernsehnachrichtenbildern heimsuchen sollte, obsolet; bedauerlich ist indes der Sachverhalt, dass in der Geschichts- und Medienwissenschaft Matuszewskis Anstoß zur Reflexion über die wissenschaftliche Relevanz des Films erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ernsthaften Widerhall fand (vgl. Rapport 1985: 837). Zweifellos kommt Film und Fernsehen als privilegierten Orten, in denen seit mehr als einhundert Jahren das Spiel verschiedener Diskurse der Moderne inszeniert wird, in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu; wir sollten allerdings nicht vergessen, dass sie ihre historische Funktion im (poly- oder kakophonen) Zusammenspiel mit anderen modernen und klassischen Medien, etwa dem Radio, Video, Theater und digitalen Medien entfalten. 288 Jürgen E. Müller Befassen wir uns nun mit einem ersten Beispiel der audiovisuellen Repräsentation des Irakkriegs, das uns zu einigen Modalitäten des Zusammenspiels zwischen der Macht der Kontexte und den Medien führen wird. Wenn diese Kommentare im Folgenden primär auf so genannte dokumentarische oder Nachrichtenbilder zielen, soll damit nicht suggeriert werden, dass andere Gattungen oder Formate - auch und gerade fiktionaler Art - eine geringere Rolle spielen würden. Ganz im Gegenteil, unsere Geschichten über Kriege, Terror, Terroranschläge und Revolutionen, seien diese nun die Französische, die Russische oder die Chinesische, sind nahezu durchgehend von „fiktionalen“ oder „virtuellen“ Bildern und Tönen kontaminiert und durch diese konstruiert. Beginnen wir unsere audiovisuelle tour d’horizon mit einem Auszug aus CNN-Nachrichtensendungen, die während der „heißen Phase“ des Irakkriegs mehrere Wochen live über das Kriegsgeschehen berichteten. Unser Beispiel stammt aus einer Nachrichtensendung vom 6. April 2003. Abb. 1 CNN am 6.4.2003 2.2 Die Macht der Kontexte und die Macht der Bilder Seit den Kriegen des 20. Jahrhunderts, insbesondere dem Vietnamkrieg, sind sich nicht allein Kommunikations- und MedienwissenschaftlerInnen, sondern vor allem auch PolitikerInnen und politische Institutionen der Macht der Bilder bewusst. Krieg bedeutet seitdem nicht zuletzt auch einen Krieg der Bilder. Spätestens seit dem Ende der 1960er Jahre versuchen die USA mehr oder weniger explizit und direkt Einfluss auf die Bilder der Kriege und die Kriege der Bilder (vgl. Mitchell 2008) zu nehmen, in die sie verwickelt sind. Dazu gehören präsidiale Inszenierungen der „mission accomplished“ ebenso wie die gezielte Steuerung, Unterdrückung oder Verbreitung von audiovisuellen „Dokumenten“. Das Konzept und die „Erfindung“ des embedded journalist, den wir in unserem Nachrichtenbild sehen, stellt nur eines der zahlreichen Verfahren dieser Einflussnahme und Machtausübung auf die (Nachrichten-) Medien dar. Die von den „eingebetteten Journalisten“ gelieferten Kriegsbilder und -töne spielen mit einem der zentralen dispositiven Merkmale und Gegebenheiten des Fernsehens, seinem „Live-Charakter“, der bereits in dessen Kontexte, Macht und Medien 289 utopischen Entwürfen des 18. und 19. Jahrhunderts, z.B. in Robidas Roman Le vingtième siècle (1883) auftaucht (vgl. Müller 2001). Abb. 2 Robida, Le vingtième siècle, (1883) Kriegsberichterstatter Ähnlich wie in Robidas Illustration inszeniert und re-aktiviert die CNN- Nachricht einen Ur-Mythos des Mediums und ein Ur-Bedürfnis des/ der Fernsehzuschauers/ Fernsehzuschauerin: die Teilnahme an fernen (gefährlichen) Ereignissen, ohne dass dieser/ diese gezwungen wäre, sein/ ihr soziales Umfeld (am besten das Wohnzimmer) verlassen zu müssen. Das „Fenster zur Welt“ eröffnet hier einen Blick auf eine Bild- und Tonauswahl weit entfernter Kriegsszenarien und Kriegsgeschehnisse, die von den Machtstrukturen der gatekeeper affiziert sind. Die Bilder sind von den Einflussnahmen der politischen und medialen MachthaberInnen auf Produktion und Produktionsbedingungen der Sendung kontaminiert, die darüber bestimmen, welche Kriegshandlungen gezeigt bzw. nicht gezeigt werden. Dass sie für die ZuschauerInnen im Verlauf des knappen Monats des Irakkriegs vom 19. März bis zum 14. April 2003 - und auch nach tausenden von Wiederholungen ähnlicher Bilder im Fernsehen - nichts von ihrer „Attraktivität“ verloren zu haben scheinen, hängt sicherlich mit unserem unstillbaren Hunger nach Live-Bildern zusammen. Für die Produzenten sind bad news oder war news offensichtlich immer noch (nicht allein in Nachrichtenformaten) good news. Im vorliegenden Fall haben wir es - wie bereits erwähnt - in Form der embedded journalists mit einer (wie wir bei Robida sahen, nicht mehr ganz so neuen) Kategorie der Berichterstattung, aber auch der Kontext-gesteuerten Einflussnahme auf den Inhalt der Bilder und auf die Kommentare zu den Bildern zu tun. Die Präsenz des/ der Journalisten/ Journalistin hat (ganz im Sinne unserer historischen und utopischen „Vorlage“) für Authentizität und Seriosität zu bürgen sowie als Katalysator für Emotionen im Spektrum zwischen „Mitfühlen“ („Identifikation“ wäre hier sicherlich zu einseitig pointiert) und einem „angespannten Kribbeln“ zu dienen. Wir sollten indes nicht vergessen, dass die CNN-Nachrichten - im Gegensatz zur eindeutigen und ausschließlichen Fokussierung auf das Kriegsgeschehen bei Robida und bei „traditionellen“ Nachrichtensendungen - von „formatspezifischen“ Merkmalen, z.B. Multi-Displays, split screens, Textlaufbändern, von sich 290 Jürgen E. Müller überlagernden Informationsbündeln (und wenn wir sie so bezeichnen wollen, von bits and pieces) geprägt sind, welche die gerade evozierten möglichen emotionalen Reaktionen des/ der Zuschauers/ Zuschauerin wieder relativieren. Die Live-Kriegsbilder können dessen/ deren ungeteilte Aufmerksamkeit daher nur eingeschränkt erlangen. Gleichwohl stellen sie einen permanenten Anspruch auf Authentizität, z.B. in Form von Karten- Inserts und spezifischen Verortungen von Kriegs-Handlungen und Kriegs- Schauplätzen und liefern zahlreiche referentielle Hinweise auf den Wirklichkeitscharakter der „Sehrohstoffe“, die mit spezifischen „Bedürfnislagen“ des/ der Rezipienten/ Rezipientin korrelieren und bei ihm/ ihr eine entsprechende Wirkung zu entfalten haben. Bei genauerer Betrachtung ist in diesen Bildern erstaunlich wenig zu sehen; wir erfahren erstaunlich wenig durch die Kommentare der JournalistInnen. Die diffuse Illusion der Präsenz eines Berichterstatters am Ort des Geschehens scheint die „audiovisuelle Leere“ problemlos zu füllen. Mit Blick auf unsere Forschungsachse gilt es festzuhalten: In dieser Sendung (und Tausenden von weiteren Sendungen) wird eine imago, eine Imago(i)nation des Irak-Krieges kreiert, welche sich seit diesen Tagen in unserem kollektiven Unbewussten festgesetzt hat und welche - nicht zuletzt aufgrund der steuernden Macht des politisch-medialen Kontextes - die auffallend großen Leerstellen der Bilder mit erwünschten Sinnbildungen zu füllen trachtet. Mir scheint, dass wir anhand dieses - heute bereits „historischen“ Beispiels eines Kriegsszenarios - sehr gut die These nachvollziehen können, dass Geschichte im Zeitalter der analogen und digitalen Medien nicht mehr primär aus schriftlich fixierten Zeugnissen oder Quellen, sondern aus audiovisuellen Repräsentationen entsteht. Dieser Sachverhalt bildet einen der grundlegenden Faktoren der geschichtsbildenden Macht der Medien. 2.3 Audiovisionen und soziales Gedächtnis Die Erinnerung an Vergangenheit und Geschichte ist seit dem Einsatz zeichenhafter Objektivationen (Berger/ Luckmann 1970) und der Einführung der Schrift nicht mehr allein an das Zeichensystem und den Code der mündlichen Sprache gebunden. Sie basiert auf einem textuellen Filtrierprozess, der nur bestimmte Elemente festhält und andere dem Vergessen anheim gibt. Dieser Prozess hat mit der Entwicklung elektronischer Medien eine entscheidende Veränderung erfahren. Audiovisionen erlauben die Aufnahme und Re-Produktion einer Vielzahl (auch nicht sprachlicher) Codes und bieten nahezu unbegrenzte Auswahl- und Speichermöglichkeiten. Soziale, politische, kulturelle, ideologische und mediale Kontexte sorgen für eine Steuerung dieser Bilderauswahl oder dieser „Sehrohstoffe“ (wovon die oben erwähnten Gerbner’schen „Gatekeeper“ nur eine von vielen involvierten Instanzen wären). Kontexte, Macht und Medien 291 Die modernen audiovisuellen Medien bringen eine Explosion des Quellen-Materials mit sich; damit stellt sich den Medienhandelnden (d.h. den mächtigen ProduzentInnen und den ohn-mächtigen - oder ebenfalls mächtigen? - RezipientInnen) unweigerlich die Frage nach geeigneten Kriterien für eine Selektion aus diesem äußerst heterogenen Materialgemenge der „Sehrohstoffe“. Wenn Gedächtnis nur durch Gemeinschaft entstehen kann und wenn es zugleich diese Gemeinschaft formt, indem es z.B. Angebote zur Konstitution sozialer und persönlicher Identität liefert, wenn es sich sinnvollerweise in ein Speicher- und in ein Funktionsgedächtnis (d.h. in unsortierte, unstrukturierte und sedimentierte Elemente der Erinnerung oder in das bewohnte und sinnbildende Gedächtnis) einteilen lässt, stellt sich medienwissenschaftlicher und historischer Forschung die Frage nach den Interaktionen zwischen diesen Gedächtnissen und den audiovisuellen und zeichenhaften Operationen, die in Form von Geschichten Gedächtnisse und Identitäten entstehen lassen. In diesem Zusammenhang wird nicht allein der manifeste, sondern vor allem der latente Inhalt dieser gedächtnisproduzierenden Audiovisionen zu analysieren sein. Unsere Nachrichtensendung erweist sich in diesem Sinne als ein bereits kontextuell vor-bearbeitetes Rohmaterial, als ein kontextuell affizierter Rohstoff für unsere mémoire collective zum Irakkrieg, in der noch eine Vielzahl von Umschichtungen und Resedimentierungen stattfinden werden. 2.4 Amnesie und Anamnese Geschichte entsteht im sozialen Wechselspiel von Amnesie und Anamnese. Sie ist immer ein kultürlicher Prozess des Zeichenwandels, der das Vergessen und Erinnern voraussetzt. Da uns das direkte Erkennen des Vergangenen verwehrt bleibt, müssen wir uns mit Historiographien und audiovisuellen Re-Präsentationen begnügen, die daraus ihre geschichtsbildende Macht gewinnen. Als MedienwissenschaftlerInnen und HistorikerInnen werden wir uns in diesem Zusammenhang nicht primär auf den manifesten, sondern vor allem auf den latenten Inhalt audiovisueller Geschichts-Bilder richten. Damit leisten wir in Analogie zur Freud’schen Traumarbeit eine Geschichtsarbeit, welche die „textuellen“ Elemente von Audiovisionen loslöst, deren traditionelle Verbindungen aufbricht, um deren latenten Inhalt herauszuarbeiten. Dass die modernen digitalen Medien dazu in der Lage sind, Verdrängtes und Tabuisiertes zugänglich zu machen, sehen wir auch an manchen Bildern des besetzten Irak, etwa aus dem bereits erwähnten (von Saddam Husseins Machtapparat übernommenen und vor einigen Jahren aufgelösten) US-Gefängnis Abu Ghraib, oder in jüngerer Zeit in noch makaberer Form aus den Bildern und Tönen von der Hinrichtung Saddam Husseins. 292 Jürgen E. Müller Abb. 3 Hinrichtung Saddam Husseins Es gehört zu den Binsenweisheiten von Kultur- und Medienwissenschaft, dass die Unterdrückung bestimmter Nachrichten und die Verbreitung erwünschter, mehr oder weniger zutreffender, Nachrichten ein Grundmerkmal der Ausübung politischer Macht und Propaganda in totalitären Regimen ist; aber auch in unseren westlichen und demokratischen Gesellschaften kennen wir eine Vielzahl von Fällen und Ereignissen, wo - in spezifischen Macht-Kontexten - die Publikation bewusst gewalttätiger oder politisch „anstößiger“ Bilder verhindert wird oder verhindert werden soll. Hier sei exemplarisch auf das Verbot der Ausstrahlung von Fernsehbildern von Leichensäcken US-amerikanischer Soldaten oder von der Ankunft der Zinksärge auf amerikanischem Boden hingewiesen, welches sich als politische Konsequenz aus der Wirkmächtigkeit der Bilder des Vietnamkrieges ergab, die sich bis heute in unsere mémoire collective eingebrannt haben. Mit Blick auf die Macht der Medien und insbesondere des Fernsehens ist festzuhalten, dass ihm daher nicht immer leichtfertig die „Schuld“ an der Ausstrahlung von „anstößigen“ oder Gewalt-geladenen Bildern gegeben werden kann, sondern durchaus auch am Gegenteil: am botmäßigen und vorauseilend gehorsamen Verhindern von deren Ausstrahlung. Gewiss erweist es sich in vielen Fällen als ausgesprochen schwierig, Bilder von bestimmten Schauplätzen, etwa dem in diesen Tagen aufgelösten „Lager“ in Guantanamo, oder US-Gefängnissen in Afghanistan zu erhalten, doch gerade die dort vorzufindenden, oftmals grausamen Bilder müssen (durchaus im Sinne einer ethischen Verantwortung der MedienmacherInnen) auch gegen die Macht und die Einflussnahmen des politischen und soziokulturellen Kontextes gezeigt werden. Sie könn(t)en als unbotmäßige Fortsetzung des „war of images“ (Mitchell 2008) fungieren. Der Sachverhalt, dass soziale Wirklichkeiten in Zeiten des televisuellen und digitalen Global Village zumeist nur mehr als bildhafte, d.h. als medial konstituierte Surrogat-Wirklichkeiten, wahrgenommen werden, deren Grenzen zwischen Fake und Fiction erodieren, mag als Indiz dafür dienen, dass wir uns dieser medialen Macht und Konstellation nicht entziehen Kontexte, Macht und Medien 293 können. Im Umkehrschluss impliziert dies, dass spezifische „Wirklichkeiten“ und Wirklichkeitsausschnitte, hier menschliche und politische Grausamkeiten, für uns in der Regel, bevor sie uns nicht als bildhafte und medial aufbereitete re-präsentiert werden, nicht existent sind. Umso wichtiger ist es daher, diese von kontextuellen und politischen Machtstrukturen negierten oder an den Rand gedrängten Wirklichkeitsbereiche über deren mediale Präsenz in unser Bewusstsein (zurück) zu holen. Derartige Prozesse schließen bisweilen auch die bewusste Verletzung spezifischer kontextuellmedialer Machtstrukturen und vordergründiger „Standards“ ein, wie wir am Fall Abu Ghraib sehen konnten. Beschämende Vorfälle und menschliche Grausamkeiten in diesem Gefängnis, die aus machtpolitischen Interessen verschwiegen werden sollten, kamen erst durch deren bildhafte Re-Präsentation im Internet, im Fernsehen, in der Presse und in der Werbung in den Blickkreis unseres Bewusstseins. Diese Bilder sind somit auch ein Fallbeispiel für Remediationen (Bolter/ Grusin 2002) in spezifischen Macht-Kontexten sowie für multi- und intermediale Verflechtungen von Medien und Medieninhalten. Abb. 4 „Der Kapuzenmann“ Abb. 5 Mit Blick auf unsere Frageperspektive erweist sich die oben angedeutete politische Dimension des war of images als weniger relevant, stattdessen sollten wir unser Augenmerk auf die geschichtsbildende Macht dieser (inter)medialen Praxen richten. Die Rezeptionsgeschichte dieser Bilder hat gezeigt, welch starkes und brisantes Wirkungspotential sie beinhalten, das 294 Jürgen E. Müller (je nach gesellschaftlich-historischem Kontext) unterschiedliche Denotations- und Konnotationshöfe produziert (vgl. Mitchell 2008). In der arabischen Welt gelten sie inzwischen (und dies sicherlich für eine longue durée der mémoire collective) als Embleme einer US-amerikanischen Arroganz der Macht, welche sich nur im nützlichen Bedarfsfall mit dem Mäntelchen einer (demokratischen) Achtung der Menschenrechte bedeckt. In den USA haben diese Bilder - nach einem Aufschrei der Empörung - zur (üblichen) Bestrafung subalterner Chargen geführt, die als militärische WächterInnen in diesem Gefängnis tätig waren. Aus semiologischer, ikonologischer und intertextueller Sicht gewinnen sie ihre Bedeutungen und sinnbildenden Dimensionen nicht zuletzt aufgrund der vielschichtigen Verweise auf den historisch sedimentierten Bilderkanon unserer Gesellschaften, der sich in diesem Fall von imagines der Kreuzigung Christi, über KZ-„Dokumente“, erzwungene und erniedrigende Sadomaso-Praktiken, bis zu Stereotypen von Folter und Misshandlung in Gefängnissen erstrecken. Seit ihrem Auftauchen im Netz zirkulieren diese Bilder in zahlreichen (inter)medial und intertextuell recycelten und gebrochenen Fassungen. Vor dem Hintergrund unserer Forschungsachse des Zusammenspiels zwischen Kontexten, Macht und Medien scheint dieser Fall besonders aufschlussreich. Bekanntlich wurden diese Bilder von beteiligten WärterInnen „privat“ mittels Handtelefonen/ Handys im räumlich-institutionellen „Produktionskontext“ des Gefängnisses aufgenommen und gelangten über digitale Verbreitungskanäle des Netzes (die sich von den Machthabenden nicht „hinreichend kontrollieren ließen“) in die medialen Kontexte von (traditionellen) Print- und AV-Medien, d.h. in die Kontexte von Zeitungen und Fernsehnachrichten. Unter dem Aspekt des Zusammenspiels von Produktionskontexten, Macht und Formen des Recyclings haben wir hier offensichtlich ein Beispiel für ein intermediales Unterlaufen kontextbedingter politischer und medialer Macht gefunden. Das digitale Senden der Bilder konnte nicht vor „politisch unerwünschten“ Zugriffen „Außenstehender“ geschützt werden, wodurch die Basis für ein Herauslösen dieser Bilder aus dem ursprünglichen „engen“ institutionellen Kontext und für die Remediation der images mit den bekannten weltweiten Reaktionen geschaffen wurde. Einigen der Opfer wurde übrigens - stellvertretend für Hunderte oder Tausende von Mitgefangenen - nach der Ausstrahlung dieser Bilder nicht allein eine bescheidene juristische Rehabilitation zuteil; ihnen wurde, aufgrund des zeichenhaften Merkmals der „verkrüppelten Hand“ ein „menschliches Gesicht“ und eine spezifische persönliche und menschliche Identität zurückgegeben - dies wäre durchaus eine nicht gering zu schätzende Leistung der Medien, die in diesem Fall ohne das vorgängige Recycling und Zur-Schau-Stellen von Gewalt-Bildern nicht möglich gewesen wäre. Kontexte, Macht und Medien 295 Abb. 6 Quelle: spiegelonline.de Der denotativ und konnotativ enorm „aufgeladene“ unbekannte Kapuzenmann hat in der Zwischenzeit Dutzende von Gesichtern erhalten, die auf „reale“ ehemalige Gefangene von Abu Ghraib verweisen, die das „besondere“ und „identitätsstiftende“ Zeichen einer verkrüppelten Hand aufweisen. Abgesehen von diesem Bild als „Ikone“ der Gewalt, die sich inzwischen in das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaften eingenistet hat, zirkulieren die Abu Ghraib-Bilder noch in zahlreichen weiteren gattungsspezifisch und medial gebrochenen Varianten, etwa in Form von Reklame- und Modebildern, über deren gesellschaftliche Funktion wir an dieser Stelle nicht weiter spekulieren sollten. Abb. 7 „Vogue“-Bild, Quelle: Der Spiegel Die Chefredakteurin der Vogue bemerkt zu diesem Bild: „Wir sehen derartige Bilder ständig im Fernsehen. Jeder kann Opfer werden. Nur weil jetzt Mode dazukommt, schreit man Skandal.“ (Der Spiegel, Heft 39/ 2006, 245) Halten wir fest: Es gibt keine invariablen, konstant greifenden und wirksam werdenden Macht-Koeffizienten der Konstruktion von Geschichtsbildern im Fernsehen oder in den audiovisuellen und digitalen Medien, welche unabhängig vom jeweiligen historischen, gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, medialen und - um auch diesen relevanten Faktor nochmals explizit zu erwähnen - technologischen Umfeld anwendbar wären. Das mächtige Leitmedium Fernsehen hat sich der Verantwortung zu stellen, Gewalt-Bilder nicht per se zu negieren, sondern, ganz im Gegenteil, sie auszustrahlen, wenn uns diese auf - aus ideologischen oder machtpolitischen Gründen - unterdrückte/ verdrängte Ereignisse oder soziale Zustände lenken würden. Interessanterweise geschieht dies heutzutage häufig 296 Jürgen E. Müller in Form von Re-Mediationen (Bolter/ Grusin 2002), intermedialen Prozessen, Recyclings von Bildern im Internet, in Telefonnetzen, in Zeitschriften etc., so dass das Fernsehen nur noch einen - zweifellos bedeutenden - Faktor der Konstitution von Geschichts-Bildern darstellt. Aus dieser Perspektive betrachtet, erwachsen Medien wirkmächtige Möglichkeiten zur Gestaltung von sozialen Kontexten, die ebenso wie das Machtstreben und die Einflussnahmen der politisch-kulturellen Kontexte auf die Produktion von Fernsehformaten diskursiv zu legitimieren sind. Mit Blick auf diese Möglichkeiten und Interaktionen bleibt allerdings festzuhalten, dass sich die Grenzen zwischen diesen beiden Polen bzw. Kräfte- und Machtfeldern zunehmend zu überlagern und zu verwischen scheinen. Die vermeintlich „unmittelbare Ansprache“ und Präsentation von Geschichtsbildern ist immer das Resultat komplexer Selektions-, Kadrierungs- und Montageprozesse. So gesehen erweist sich der „wirklichkeitsabbildende“ Quellencharakter audiovisueller Texte, wie er z.B. von Knopp suggeriert wird (Knopp 2007), als Fiktion. In welcher Weise wir von den Kriegsbildern aus dem Irak und anderen Ländern gleichsam paralysiert und narkotisiert werden, hat der Medien- Philosoph Sloterdijk bereits vor einigen Jahren in einem Interview erläutert (vgl. auch Sloterdijk 2002). Er verdeutlichte anhand der TV-Bilder des Irakkrieges den Bilder-verschlingenden Live-Charakter des Mediums, welcher - so möchte ich aus der Perspektive von Medienwissenschaft und Semiohistorie (Schmid 1983, 1993; Müller 1998) hinzufügen - eine der zentralen Voraussetzungen für das Entstehen der Kriegs-Imaginationen bildet. Wie wir eingangs gesehen haben, scheinen diese Bilder einem voyeuristischen Grundbedürfnis zu entsprechen; sie weisen zahlreiche Parallelen zur Vor- und Frühgeschichte der Television, etwa zu Robidas Roman Le vingtième siècle (1883) auf, in dem dieser eine damals noch utopische Vision televisionärer Kriegsberichterstattung entwarf. Wie bereits eingangs erwähnt, sollten wir uns übrigens auch über den eingrenzenden Mechanismus der rigiden Trennung zwischen „Dokumentation“ und „Fiktion“ hinwegsetzen. Virilio und andere haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Reale des Fernsehens vor nicht allzu langer Zeit z.B. in Form der Computerspiel-Einstellungen des Golfkrieges, welche amerikanische Raketen bis zu ihrem Zieleinschlag verfolgten, in Fiktion und Fiktion längst in Vorstellung des Realen mutiert sind (vgl. Virilio 1984: 119). Auch Hollywood und US-amerikanische Soaps haben sich längst der Helden des Irakkrieges und deren Taten bemächtigt und in einer Spiegel- Ausgabe (2003) können wir eine biographisierende Fortsetzung dieser Geschichten lesen. Kontexte, Macht und Medien 297 3 Zur geschichts- und identitätsbildenden Macht intermedialer Praxen Legen wir abschließend den Fokus unserer axe de pertinence auf mediale oder - genauer gesagt - intermediale Praxen und deren geschichtsbildende Macht. Audiovisionen stehen in komplexen Interaktionen und Beziehungsgeflechten mit anderen Medien. Sie befinden sich in vielfältigen medialen Transformationsprozessen; Geschichten sind allein als intermediale Geschichten präsent. Für uns bedeutet dies, dass wir die Zirkulation von Zeichen in verschiedenen medialen Systemen und deren Einfluss auf historische Sinnbildungen nicht aus den Augen verlieren dürfen. Medientexte verändern fortwährend ihre Gestalt und werden in andere mediale Kontexte transformiert. Das Voranschreiten der Digitalisierungsprozesse und deren Möglichkeiten hat einen entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung. Die Rolle der jeweiligen „inter-medialen Gestalt“ für die Konstruktion von Geschichtsbildern und das making of meaning des/ der Rezipienten/ Rezipientin wird immer noch unterschätzt. Heute sind unzählige Geschichten und Geschichtsbilder permanenten medialen Umwälzungen unterworfen, die bestimmte historische Themen in immer „neuen“ (? ) medialen Formen re-präsentieren. Dabei findet nicht allein eine Überlagerung verschiedener historischer Schichten der Geschichte(n), sondern auch verschiedener Medien und deren dispositiver Operationen (Baudry 1978) statt. Kehren wir nochmals kurz zu den grausamen Bildern aus Abu Ghraib zurück, die heutzutage aus dem Internet (übrigens auch in kommerzialisierter Form gegen Gebühr) herunterzuladen sind. Historisch und intermedial relevant ist in diesem Zusammenhang weniger der kontextuelle, referentielle und intertextuelle Sachverhalt, dass hier mit bestimmten Elementen der „Ursprungsereignisse“ gespielt wird, um Geschichten oder Mythen zu evozieren, sondern vielmehr die Frage, welchen Beitrag mediale Brüche, intermediale Transformationen und Fusionen zur Konstitution dieses Geschichtsbildes liefern. Die verborgenen und zu rekonstruierenden Bedeutungen lassen sich nicht unabhängig von den jeweiligen intermedialen Prozessen und Repräsentationen der Audiovisionen bestimmen. Oder anders gesagt, die historischen Funktionen hängen auch von den jeweils gegebenen Vernetzungen unterschiedlicher Medien, von deren Interaktion und von deren Fähigkeit und Macht zur Re- Kontextualisierung oder Re-Mediation ab. 298 Jürgen E. Müller 4 Post scriptum Am Ende unserer kleinen tour d’horizon zu den Kontexten, zur Macht und zu den audiovisuellen Medien am Beispiel des Irakkrieges möchte ich an ein dictum von De Certeau (1987) erinnern: Wenn Geschichte und Geschichten als „la présence d’une absence“, als die Anwesenheit eines Abwesenden aufzufassen sind und wenn diese Abwesenheit nur in Form von Zeichen kompensiert werden kann, kommt Audiovisionen eine zentrale Rolle bei der Konstitution von Geschichtsbildern zu. Der oft herbeizitierte iconic turn unserer modernen Gesellschaften führt somit nicht allein zu einer bislang unerreichten Informations- und Bilderflut, sondern bedingt auch eine besondere und herausragende Rolle der audiovisuellen Medien für die Konstitution von Geschichten, Mythen und kollektiven Identitäten. Unsere bewussten und unbewussten Vorstellungen von historischen Ereignissen sind, wie wir an unseren Beispielen sehen konnten, zentral von den audiovisuellen Medien geprägt. Diese Bilder erfahren fortwährende Überlagerungen mit neuen Bildern, mit Repräsentationen anderer analoger oder digitaler Medien, sie werden im kollektiven Gedächtnis sedimentiert, re-sedimentiert und zirkulieren unter historisch und soziokulturell variierenden Bedingungen mit jeweils spezifischen Wirkungsoptionen in verschiedenen sozialen, historischen, politischen, kulturellen, sprachlichen und medialen Kontexten. Der Medienwissenschaft stellt sich daher nicht zuletzt die Aufgabe einer kritischen Rekonstruktion dieser Prozesse im Spannungsfeld der genannten Faktoren und Kräfte. Literatur A USTIN , John L. (1962): How to Do Things with Words. Oxford: Oxford University Press. B AUDRILLARD , Jean (1981): Simulacra and Simulation. Übersetzung von Sheila Faria Frasier. Ann Arbor: The University of Michigan Press. B AUDRY , Jean (1978): L’Effet Cinéma. Paris: Éditions Albatros. B AZIN , André (1975): Was ist Kino? Bausteine zu einer Theorie des Films. Köln: DuMont Schaumberg. 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Fotoartikel bestehen aus einem großformatigen Foto, einer Überschrift und einer kürzeren oder längeren Bildunterschrift; sie nehmen die Stelle eines vollständigen Zeitungsartikels ein und können selbständig gesehen bzw. gelesen werden. Da die Titelseiten in der Regel von einem einzigen großen Foto dominiert werden, sieht man nicht sofort, ob ein Foto ein Fotoartikel ist oder zu einem anderen Artikel gehört. Außer auf Titelseiten findet man Fotoartikel auch in anderen Ressorts, besonders dort, wo ein neuer Teil (ein „Buch“) anfängt, was einer Minititelseite im Inneren entspricht. Normalerweise bestehen niederländische Zeitungstitelseiten aus Schlagzeilen, sonstigen Überschriften, Texten in Spalten, Anzeigen, Fotos (also meist einem sehr großen Foto), Inhaltsübersichten, auch Karikaturen (siehe Abb. 1 unten für ein Beispiel); diese zeitungsübliche Aufmachung ermöglicht den Lesenden eine erste Orientierung. (Bucher 2007; Grittmann 2007) In den Niederlanden geht man aufmachungsmäßig oft weiter als in deutschsprachigen Ländern, sodass der Eindruck von Buntheit und gestalterischer Freiheit, aber auch von Überfülle und Disparatheit entstehen könnte. (Sauer 2008) Hierzu wären jedoch weitere Untersuchungen notwendig, was hier nicht geleistet werden kann. Neuartig an den zur Diskussion stehenden Fotos ist, dass sie weitgehend ohne Text auskommen - oder dass die Unterschrift eine „dienende“ oder sonst wie spezifische Rolle spielt, und jedenfalls von der Größe her gegenüber dem Foto sekundär erscheint. Die Fotos bilden auch nicht den Vorspann für einen Artikel im Inneren. (Fotos, die LeserInnen ins Blattinnere weiterleiten, kommen natürlich auch vor; sie sind jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung.) Es geht immer um ein einzelnes Foto, das an Stelle eines kompletten Artikels steht. Im Redaktionsjargon heißen sie „lose Fotos“. Sie können daher auch und in erster Linie als Fotos analysiert werden. Die Bildunterschriften werden in die Analyse einbezogen, da sie ko-textuelle und kontextuelle Verknüpfungen leisten und das Betrachten beeinflussen. Wie sie das tun, wird gezeigt werden. Fotoartikel gerieren sich als wahre Objekte für Hingucker. Sie saugen die Aufmerksamkeit der ZeitungsleserInnen auf und verwandeln diese - we- 302 Christoph Sauer nigstens für einen Moment - in reine BetrachterInnen. Als BetrachterInnen werden sie zu „Weglesern“ - übrigens auch dann, wenn sie die Bildunterschrift in den Blick nehmen, weil das Foto (schon seiner schieren Größe wegen) nach wie vor das Blickfeld dominiert, denn nicht das Lesen steht im Mittelpunkt, sondern andere semiotische Aktivitäten: das Gewahrwerden, das Verweilen, das Abtasten, das mehrfache Blicken u.Ä. Die Lesetätigkeit ist, im Gegensatz zu Standardartikeln mit neben dem Text auch Fotos, unerheblich: Man bewegt sich vom Lesen weg und muss sich völlig auf das Betrachten einlassen. Anders als TextleserInnen, für die der typografische Text als einzige Ressource für Bedeutungsoperationen fungiert, mobilisieren BetrachterInnen von Fotoartikeln weitere Ressourcen, um das Bild verarbeiten und verstehen zu können. Nicht zuletzt der Titel und die (überwiegend knappe) Bildunterschrift geben dabei Hilfestellung. Aber es finden sich auch Fotos, die nahezu ohne Textzugabe auskommen. Mit dem in der Schwebe Halten der textlichen Einbettung muss es andere Signale oder Hinweise für die BetrachterInnen geben. In allen diesen Fällen muss beim Betrachten und Bildverarbeiten eine Situierung einsetzen, sei es mit Bezug auf die Tagesaktualität, auf frühere Berichte, sei es ästhetischer, kultureller oder anderer Art. 1 Teil dieser Situierung ist es dann auch, die Unterschriften als ko-textuelle Botschaft - als Bildentschlüsselungshilfe - oder als weiterreichende kontextuelle Informationsanreicherung - als Bedeutungsfokussierung - einschätzen und nutzen zu können. Fotoartikel sind, wie alle anderen Fotos auch, nicht Zeichen, sondern Zeichenkombinationen. (Barthes 1977; Plantinga 1997: 41; J. Jäger 2000: 84; Sachs- Hombach 2001a, 2006; Wichert 2006; Grebe 2006) Sie sind aus Zeichen oder zeichenwertigen Elementen zusammengesetzt (mit Medienbezug: aus „semiotic resources“, van Leeuwen 2005), die nicht zufällig auftreten, sondern auf interpretierende und Sinn entnehmende LeserInnen/ BetrachterInnen bezogen sind. (Barthes 1985; Keller 1995; Sauer 2007) Die Situierung ist somit Sache der BetrachterInnen, die dabei mehr oder weniger Hilfestellung erfahren. Es läuft darauf hinaus, dass Fotos als Zeichenkombinationen Verschiedenes zu verstehen geben, dass sie BetrachterInnen - die „Wegleser“ - zu verschiedenen, miteinander teils verbundenen Schlussfolgerungen veranlassen. Unten wird dies als Inferenzziehung mit oder ohne Suspendierung des Kontextes - aber unter Verwendung des Ko- Textes - ausgearbeitet. Doch ist es nun an der Zeit, ein wenig tiefer in die Sache selber einzusteigen. Zunächst soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie ein Fotoartikel ZeitungsleserInnen zu Bedeutungsoperationen stimuliert. Dann werden kurz Funktionen von Fotoartikeln in der niederländischen Presse behandelt. Anschließend wenden wir uns Zeichenrelationen in Fotos zu, die die Anlässe 1 Sachs-Hombach (2001b) erläutert dies als die Funktion der „Veranschaulichung“, aber es ist zweifelhaft, ob darin nicht gerade auch eine unangemessene Beschränkung liegt. Hingucker und/ oder Wegleser 303 für die Inferenzen der BetrachterInnen bilden. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass man Fotoartikel isoliert und aus ihrer Umgebung herauslöst, wenn man sie betrachtet. Die Frage nach der multimodalen Titelseitengestaltung wird somit anders als im heute üblichen Sinne akzentuiert: als Interpretationsimpuls für Leser-Betrachter, der die Gesamtheit der auf sie einströmenden Informationen unterbricht und stilllegt, bevor sie sich wieder (dem Rest) der Zeitung zuwenden. Diese Verhältnisse werden in einer Korpusanalyse ausgeführt. Am Ende soll dann erörtert werden, inwiefern man tatsächlich von einer Kontextsuspendierung bei Fotoartikeln sprechen kann. 2 Ein Fotoartikel (Leeuwarder Courant) und die Implikationen seiner Platzierung Am 9. April 2008 erscheint die Zeitung Leeuwarder Courant so, wie sie immer aussieht und wie die meisten niederländischen regionalen und nationalen sog. Qualitätszeitungen aussehen, mit einem großen Foto auf der Titelseite. Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass das Foto nicht auf einen der fünf sonstigen Artikel und einige Meldungen Bezug nimmt, sondern für sich selber steht, also ein Fotoartikel ist. Abb. 1 zeigt Titelseite und vergrößerten Fotoartikel. (http: / / www.leeuwardercourant.nl, gesehen am 17.1.2009) Alle Fotos sind in Farbe; lediglich aus technischen Gründen werden sie hier schwarzweiß und in Grauwerten wiedergegeben. Alle deutschen Übersetzungen der Titel und Bildunterschriften stammen vom Verfasser. Deutsche Börse im Scheinwerferlicht Frankfurt. Das imposante Gebäude der deutschen Börse in Frankfurt am Main badet in einem Lichtermeer im Rahmen der Luminale. Dieses Lichtfestival wird alle zwei Jahre in Frankfurt und Umgebung organisiert. (Übersetzung CS) Abb. 1: Titelseite und Vergrößerung Foto aus dem Leeuwarder Courant (9.4.2008) 304 Christoph Sauer Bildtitel und Bildunterschrift enthalten nur kärgste Informationen und stehen in keinem erkennbaren Verhältnis zu Größe und Auffälligkeit des Fotos. Ihr Inhalt verweist lediglich auf den Anlass des Fotos (das Lichtfestival) und den Ort (Frankfurter Börse). Über das mögliche Warum der Veröffentlichung erfährt man nichts Explizites. Die ungewöhnliche Froschperspektive und die Fisheye-Technik der Aufnahme bilden offensichtlich eine gewollte ästhetische Gestaltung, die zusammen mit der rosarot-gelben Fassadenanstrahlung und den bläulichen Zweigen als Aufmerksamkeitsfokus wirkt. Dunkle Fußgänger im Vordergrund bilden einen Kontrast zur strahlenden Börse. Wir greifen nun voraus auf „Grundverfahren der Interpretation“, die unten noch genauer besprochen werden. (Keller 1995: 113 ff.) Fotos als Zeichenkombinationen regen BetrachterInnen an, so lautet die Ausgangshypothese, bestimmte Schlussverfahren anzuwenden. Keller unterscheidet, darin dem Semiotiker Peirce folgend, assoziative Schlussfolgerungen, durch Ikone, kausale, durch Indices, und fragt nach dem Sinn des Ganzen, auf der Basis gekannter Bedeutungen (durch Symbole). Angewandt auf dieses Foto: Man sieht, was man ikonisch erkennt, ein Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert, jedoch in verfremdendes Licht getaucht. Das Letztere fungiert als indexikalisches Zeichen: Man zieht den Kausalschluss, nicht nur dass sich zu diesem Zeitpunkt die Börse vor der Kameralinse befunden haben muss (was eine allgemeine Auffassung der grundlegenden Indexikalität der Fotografie ist), sondern vor allem, dass das merkwürdige Licht bewusst veranlasst wurde und wohl eine Erscheinung des Festivals „Luminale“ ist. So weit, so gut. Die Art der Fotogestaltung (Perspektive, Kameraausschnitt und Fisheye-Verzerrung) - Barthes (1977: 20) nennt sie „connotation procedures“ - löst jedoch ein weiteres Schlussverfahren aus, um den Sinn des Arrangements zu erfassen. Alle Bestandteile des Fotos sind bekannt und gekannt, aber sie sind so gestaltet, dass sie etwas symbolisieren. Hier geht es um eine unwirkliche und geheimnisvolle Stimmung, die so gar nicht zum Charakter einer Aktienbörse passen will. Doch ist es genau diese Symbolisierung, mit der sich BetrachterInnen beschäftigen, weil sie hingucken und sich vom Auffälligen einfangen lassen - somit im Hingucken auch weglesen und die anderen Artikel, wenigstens vorübergehend, außer Betracht halten. Übrigens verstärkt die minimale Unterschrift noch dieses Auffällige, mit Hilfe der verbalen Elemente „imposant“ und der Metapher „(im Lichtermeer) baden“, was den Blick der Betrachtenden auf das Bild zurückverweist und so als Ko-Text fungiert. Der sonstige Zeitungskontext scheint unwichtig zu sein. Ich verkürze nun etwas und sage, dass der Sinn des Fotoartikels eben in der Symbolisierung liegt. Er holt die BetrachterInnen bei ihrer Kenntnis der Welt ab und versetzt sie in eine nicht unbekannte, wohl aber etwas geheimnisvolle Wirklichkeit, so schnöde und technikverursacht sie auch immer kausal erschlossen werden kann. Im Zentrum steht die Frage nach dem Warum. Warum wählt eine Zeitung dieses Foto aus und warum gibt sie ihm einen so prominenten Platz? Die Logik der Gestaltung sagt: damit Hingucker und/ oder Wegleser 305 sich die BetrachterInnen damit beschäftigen. Die redaktionelle Logik sagt vielleicht, dass es an diesem Tage kein anderes gutes Foto gegeben hat. Aber für die LeserInnen steht das das Lesen gerade unterbrechende Betrachten im Vordergrund und stimuliert eine Teilhabe an der Sinngebung, ausgelöst durch die Auffälligkeit der mysteriösen Beleuchtung und der Fisheye-Technik. Ein derartiger Fotoartikel kann ein gefundenes Fressen sein, weil es der Zeitung wieder einmal gelingt, Anlässe für interpretatorische Akte zu schaffen, die über den Rahmen des Üblichen hinausreichen. Daher steht für Leser-Betrachter dieses Fotos nicht der allgemeine Zeitungskontext im Vordergrund, sondern die bewusste Anstrengung, sich dem Foto zu- und somit von den anderen Zeitungsinformationen abzuwenden. Das Foto kommt als Überraschung. Keine anderen Informationen gingen ihm voraus, sodass die Betrachter tatsächlich einen möglichen Kontext suspendieren - bevor sie ihn vielleicht wieder unter einem allgemeinen Rubrum wie „wissenswert“, „aktuell“, „interessant“ oder „schön“ einordnen oder einfügen. Aus dieser Konstellation ergibt sich für LeserInnen, dass sie nicht davon ausgehen können, dass das Foto, dem sie sich schon der Größe wegen zuerst zuwenden, auch die wichtigste Meldung des Tages ist. Erst nach einiger interpretatorischer Anstrengung kann diese Frage beantwortet werden, regelmäßig, wie das Beispiel zeigte, auch negativ. Das steht in einem gewissen Gegensatz zu Untersuchungen der Zeitungsaufmachung, die genau diesen Vorgang (eye catching) als durchschlaggebend für Titelseiten ansehen (vgl. van Leeuwen 2005: Kap. 10; Holsanova u.a. 2006; kritisch dazu Bucher 2007; vgl. auch Wolf 2006; Rossig 2007; Quinn/ Stark Adam 2008). Eye catching in dieser Hinsicht bedeutet, dass das Zusammenwirken von Seitenaufmachung, Typografie, Zeilenumbruch und Gestaltung einzelner Artikel oder Beiträge auf einer Zeitungsseite zweckbezogen erfolgt: Der Zweck der Aufmerksamkeitssteuerung durch eye catching ist eine inhaltliche Unterstützung der Lesenden, sich dem Wesentlichen zuzuwenden, eine Orientierung. Die Aufmachung „sagt“ gewissermaßen, was wesentlich ist. Dieser Funktionalkonnex ist in den Niederlanden nicht automatisch gegeben, hier muss man sich auf andere visuelle Verhältnisse auf den Titelseiten der Zeitungen einstellen. Obwohl Fotoartikel zum Hingucken verführen, sind sie nicht unbedingt mit der tagesaktuellen Hauptinformation verbandelt. Es gehört somit zum kontextuellen Wissen der BetrachterInnen von Fotoartikeln, dass die Zuwendung zu diesen Fotos eine eigene Qualität hat, die jeweils erarbeitet werden muss, jedenfalls sich nicht als selbstverständlich darstellt. Interpretatorische Bemühungen müssen den Kontext erzeugen, der jeweils notwendig ist. 306 Christoph Sauer 3 Semiotische Grundlagen 3.1 Abgrenzung Bevor wir fortfahren, soll kurz verdeutlicht werden, was dieser Beitrag nicht behandelt. Das Thema „Fotoartikel“ bzw. „Pressefotos“ passt nämlich in die gegenwärtig grassierende Bild-Problematik, als ein Beispiel für die herrschende Bilder-Konjunktur. Zwar sind Fotoartikel zweifellos Bilder, und weil sie die Stelle eines kompletten Artikels einnehmen, sind sie selbständige Vorlagen für komplette Bedeutungsoperationen: diejenigen aber, die Bilder als neues Leitmedium (bspw. Hoffmann/ Rippl 2006) oder visuelle Kommunikation thematisieren (bspw. Müller 2003), heben selten auf den Unterschied zwischen dynamischen Bildfolgen (prototypisches Beispiel Film) und statischen Einzelrepräsentationen ab (prototypisches Beispiel Foto). Als ob die Betrachtung und Verarbeitung von Bildsequenzen im Film uns nicht mindestens neben der zweidimensionalen Flächendarbietung eine zeitliche Dimensionierung auferlegen (eine Dauer), was grundlegend anders in der Begegnung mit Fotos ist, wobei der Augen-Blick bereits physiologisch die Erfassung des „Ganzen“ darstellt (Gibson 1979), und zwar unabhängig von etwaigen Impulsen der BetrachterInnen, sich länger dem Foto zuzuwenden. Immer erzeugt Film Dauer, und damit einen je filmeigenen Kontext für die fortlaufende Bedeutungskonstituierung. (Sauer 2009) Ohne diesen spezifischen Kontext kommt kein Film aus. Ein fotografisches Bild hingegen ist plötzlich da und auferlegt eine Flächigkeit und Simultanwahrnehmungsstimulierung, sodass hier höchstens von einem Ko-Text gesprochen werden kann, der von der Unterschrift ausgeht. In die filmische Simultaneität ist eine zeitliche Dimension einbeschrieben, die das Foto nicht kennt, auch dann nicht, wenn eine Reportage mehrere Fotos umfasst. Von Filmbildern soll hier also nicht mehr die Rede sein. Wir schlagen vor, das Medium Film vom Medium Foto viel prinzipieller, als es gemeinhin geschieht, zu unterscheiden (was andere ebenfalls anstreben, vgl. etwa Hickethier 2003; G. Jäger 2005; Sachs-Hombach 2006). 3.2 Flächigkeit und Simultanwahrnehmung bei Zeitungsseiten Flächigkeit und Simultanwahrnehmung gelten nicht nur im Falle von Fotos. Sie gelten generell für alle Schrifttexte und im Besonderen für die Aufmachung, die man den Texten angedeihen lässt. Da Texte im Medium der Schrift(lichkeit) - anders als mündliche Texte - die Zweidimensionalität als Bedeutungspotenzial in Rechnung stellen und nutzen, muss man also eher von „Textbildlichkeit“ (Sauer 2007) oder „Schriftbildlichkeit“ (Krämer 2006) ausgehen. Schrift ist nicht Wiedergabe von Sprache, sondern flächige Darbietung von Schriftzeichen, die in dieser Zeichenhaftigkeit neue Funktionalitäten haben und/ oder ermöglichen können. (Ehlich 1994, 2005; Gross 1994; Ong 1982; Krämer 2003) Wie steht es aber nun mit fotografischen Bil- Hingucker und/ oder Wegleser 307 dern? Auch sie sind flächige Darbietungen, die jedoch anders abgetastet werden als Schriftanordnungen. Neben die blitzartige Erkennung/ Wiedererkennung von gekannten Bestandteilen tritt das wägende Ausprobieren der restlichen. (Ballstaedt 2005; s. auch Panofsky 1975: 37, der „sinnliche“ und „intellektuelle Vermittlung“ unterscheidet) Das kann sich etwas hinziehen, wenn das Foto groß ist und vieles auf ihm zu sehen ist. Der/ die durchschnittliche ZeitungsleserIn begibt sich dann auf die Suche nach der Bildunterschrift, von der man (zu Recht? ) erwarten kann, dass sie Anhaltspunkte oder Winke zum Betrachten des Fotos liefert. Daraus sollte aber nicht vorschnell die Steuerung der Fotobetrachtung durch Schrift folgern (was Barthes 1977 noch generell annimmt); es könnte ja immerhin sein, dass die heutige niederländische Zeitungspraxis der reichen Bebilderung den umgekehrten Weg nahe legt: von der Schrift(umgebung) auf das Bild und dann erst in die übrige Textumgebung. Wer hinguckt, muss von vielem anderen wegsehen. Wer aber das Hingucken als sinnvoll erfährt, ist noch nicht als LeserIn gewonnen, denn man kann auch ständig weglesen, indem man sich ausschließlich auf die Bilder kapriziert. Hier soll also nicht eine Zeitungsseite als eine holistische multimodale Darbietung im Mittelpunkt stehen. Denn bei dieser Betrachtungsweise ergibt sich rasch, dass Pressefotos dienende oder unterstützende Funktionen des „Eigentlichen“, des Textes, erfüllen. Die Überschriften, Texte und bspw. Farbkästen einzelner Zeitungsartikel stellen dann den Kontext für die Bildbetrachtung dar. Bucher (2007: 60) sieht diese Layout-Konstellation als Kontextualisierung und kommt zu folgender Einschätzung: „Die kommunikative Funktion von Textdesign kann darin gesehen werden, die Kommunikationselemente in die jeweilige non-lineare Konstellation einzubetten.“ Damit weicht er nur wenig von anderen Untersuchungen ab (z.B. van Leeuwen 2005; Holsanova u.a. 2006), etwa hinsichtlich der Prominenz des einen oder anderen Elements, nicht aber von der allgemeinen Tatsache disparater Bedeutungsbestandteile, die zu einem Gesamtbild ergänzt werden. Er wendet sich gegen Normierungen, die er in seinem Material nicht findet, wie Rechts-links-Platzierung, Oben-Unten-Anordnung u.Ä. (worauf van Leeuwen 2005 mit der Annahme fester Werte der „information values“ abhebt). Aber auch ihm gerät die Zeitungstitelseite zum ausschlaggebenden Kontext, vor dem alle anderen Operationen Bestand haben müssen. Im Gegensatz dazu gehen wir von der Annahme aus, dass Fotoartikel wie isolierte Fotos behandelt werden - und behandelt werden können. Sie stellen geradezu Fotoinseln für die Leser-Betrachter dar. Man kann sich in sie verlieren - und den Kontext der Titelseite dabei ebenfalls aus dem Auge verlieren. Um die Kontextualisierung muss dann gerungen werden, es läuft nicht auf eine automatische Orientierung der Lesenden auf das Wichtigste vom Tage hinaus. 308 Christoph Sauer 3.3 Drei Arten von Schlussfolgerungen oder Anweisungen zum Inferieren Da ZeitungsleserInnen Zeichen und Zeichenkombinationen begegnen, verhalten sie sich ihnen gegenüber wie gegenüber allen Zeichen (oder Artefakten). Sie nehmen sie wahr und versuchen sich an einer Bedeutungsermittlung mittels Interpretation. D.h. sie inferieren, was ihnen die Zeichen potenziell zu verstehen geben. Dabei fungieren bestimmte Konstellationen von Zeichenelementen - zu „Auffälligkeiten“ zusammengefasst - als Anweisungen an oder Hinweise für die LeserInnen, bestimmte Schlüsse zu ziehen. Wir erfahren sie als direkte Verständnishilfen oder als Einladungen zum schweifenden Verarbeiten. Keller (1995) hat die Ermöglichung von Schlussfolgerungen als die zentrale Dimension des Zeichenhandelns herausgearbeitet, im Anschluss an die Peirce‘sche Terminologie. Für Keller gelten genau drei Arten von Schlüssen, die er „Grundverfahren der Interpretation“ (Keller 1995: 114) nennt: • symptomatische (indexikalische), • ikonische und • symbolische Verfahren. Zeichen, die man mittels kausaler Schlüsse interpretiert, sind Symptome bzw. Indices. Mittels assoziativer Schlüsse interpretierte Zeichen sind Ikone. Und Zeichen, die man mittels regelbasierter Schlüsse interpretiert, sind Symbole. Hieraus ergibt sich nicht sofort ein Zugriff auf Pressefotos und Fotoartikel. Erst muss noch genauer herausgearbeitet werden, wie solche Verfahren eigentlich arbeiten. So sind Indices Zeichen, die dazu einladen, kausal zu inferieren. Der Gesichtsausdruck einer fotografierten Person setzt bspw. eine solche kausale Interpretation in Gang. Wir sehen, d.h. inferieren zunächst eine ikonische Relation: eine bestimmte Person, die die Stirn runzelt. Wir erkennen sie als eine die Stirn runzelnde Person. Unsere Interpretation erschöpft sich jedoch nicht in dieser simplen ikonischen Konstatierung, sondern wir befassen uns automatisch mit dem Grund des Stirnrunzelns. Das Stirnrunzeln wird Anlass für kausales Inferieren. So „sehen“ wir etwa Verblüffung, ironische Distanz, Ratlosigkeit u.Ä. Wir wissen nicht sicher, was wir „sehen“; so erfahren wir die Notwendigkeit der Ergänzung: vom ikonischen Assoziieren, das uns unvollständig vorkommt, zur kausalen Interpretation, die vielleicht eine vollständigere Bedeutung hervorbringt. Ironische Gesichtsausdrücke bedeuten darüber hinaus noch etwas anderes. Denn man muss Gesichtsausdrücke kennen, ihre Funktion kennen, um mit dem Foto überhaupt etwas anfangen zu können. Es gilt die „Regel“, dass ein ironischer Gesichtsausdruck eine Art Kommentar darstellt. Indem ich den Gesichtsausdruck als ironisch identifiziere, habe ich dieses Wissen benutzt. Der Gesichtsausdruck ist somit auch ein Symbol. Es gibt gesellschaftliche und kulturelle Konventionen, in denen dieses Wissen aufbewahrt wird. Die Wiedergabe eines ironischen Gesichtsausdrucks auf einem Foto Hingucker und/ oder Wegleser 309 benötigt somit auch dieses auf Regeln basierte Wissen, um die nächste Inferenz in Gang zu setzen: die Frage nach dem, was die Person mit ihrem Gesichtsausdruck (und alles sonst noch Dargestellte) symbolisieren. Was ist der Sinn des Gesichtsausdrucks im gegebenen Rahmen? Was gibt man - mir - zu verstehen, indem man ein derartiges Foto präsentiert? Keller (1995: 130) formuliert diese spezifische Inferenzproblematik so: Eine Symbolverwendung zu interpretieren, heißt somit nicht, zu versuchen, die Bedeutung des Symbols herauszufinden; es heißt vielmehr, den Sinn dieser Symbolokkurrenz auf der Basis der Kenntnis der Bedeutung herauszufinden. Wenn ich die Bedeutung nicht kenne, d.h. wenn ich nicht weiß, zu welchem Zweck ein Symbol normalerweise regelkonform verwendet wird, werde ich auch nicht herausfinden können, wozu du es gerade verwendest. Die Interpretation richtet sich also auf den Sinn des Symboleinsatzes, auf die Symbolisierung. Indexikalische und symbolische Inferenzen beruhen meist auf ihnen vorausgehenden assoziativen Inferenzen. (Plantinga 1997: 46) Wir assoziieren fotografierte Wolkenformationen zunächst mit - Wolkenformationen, weil wir die Ähnlichkeit der Wolkengebilde auf dem Foto mit tatsächlichen Wolken assoziieren. Das ist eine ikonische Interpretation. Was ich sehe, erinnert mich an das, was ich aus der nicht-fotografischen Wirklichkeit kenne. Ich nehme eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Fotozeichen und den entsprechenden „Dingen“ in der Wirklichkeit wahr. Das Ikon wirkt als Assoziationsimpuls. Der Zeichenproduzent mutet dem Adressaten mit der Verwendung eines Ikons zu, vom grafischen, lautlichen oder gestischen Ausdruck eines Zeichens auf dem Wege der Assoziation eine sinnvolle Interpretation dieses Zeichenvorkommens zu erschließen; d.h zu versuchen, assoziativ herauszubekommen, was plausiblerweise gemeint sein könnte. (Keller 1995: 125) Es bleibt nicht bei der Bedeutung Wolken, weil sich darüber hinaus die Wetterlage aufdrängt. D.h. ich suche die Ursache der Wolkenformation zu ergründen, inferiere also kausal. Es kann auch sein, dass ich Gewitterwolken erkenne, weil ich weiß, was das ist; somit erschließt sich mir der Sinn der Symbolisierung als Gewitterdrohung. Ich sehe das heranziehende Unwetter nicht, ich realisiere Bedeutungsoperationen, die mir eine Gewitterdrohung als plausibel - und interessant - erscheinen lassen. 310 Christoph Sauer Trouw, 3.3.2009, S. 1: Eine Impfung für Mädchen An 18 Orten in den Niederlanden haben gestern die Impfungen von 12bis 16järigen Mädchen gegen ein Virus, das Gebärmutterhalskrebs verursacht, angefangen. Während sich ein Vater seiner Sache sicher ist - „Ich habe nur eine Tochter, und die will ich gern gesund behalten“ -, berichtet eine Mutter von ihren Zweifeln: „Ist das Mittel nicht schlimmer als die Krankheit? “ Doch steht auch sie mit ihrer Tochter in der Warteschlange zur freiwilligen Impfung in der Sporthalle Helmond. „Aber ich zerbreche mir immer noch den Kopf darüber.“ Trouw, 9.3.2009, S. 1: Eine Gegenstimme kann es nicht sein Im totalitären Nordkorea fanden gestern Parlamentswahlen statt. Viel gab es nicht zu wählen, da die Kommunistische Partei die Kandidaten für die 687 Parlamentssitze anweist und Gegenstimmen undenkbar sind. Das Ergebnis kann etwas über die Machtverhältnisse aussagen, denn nordkoreanische Parlamentarier haben Schlüsselpositionen in der Partei, der Regierung und der Armee inne. Vom 67-jährigen Staatschef Kim Jong-il, der im August einen Schlaganfall gehabt haben soll, wurden gestern von der nordkoreanischen Staatspresseagentur zwar Fotos veröffentlicht, aber Filmaufnahmen wurden nicht gezeigt. Kims 26-jähriger Sohn Kim Jong Un wird als Nachfolger gesehen. Abbildung 2a und 2b: Trouw, zwei Fotoartikel (Impfung, Wahlen Nordkorea) Die Fotografie eines jungen Mädchens, das geimpft wird (Abb. 2a), ruft die Assoziation einer medizinischen Behandlung hervor (auch schon durch die Überschrift). Personen links und mittig, die ihre Oberarme entblößen, sind die zu Impfenden, während ich die Person ganz rechts als medizinisches Personal wahrnehme. Diese ikonischen Assoziationen setzt das Foto automatisch voraus. Was sich zwischen den Abgebildeten kommunikativ abspielt, weil man deren Gesichtsausdrücke sieht, erzeugt daneben kausale Inferenzen, hier über Schmerzen. Ich nehme daher an, dass das Impfen wehtut. Darüber hinaus fragen wir uns, was der Sinn dieses Arrangements ist, was das Foto symbolisiert. Die Rettung der Jugend vor Krankheiten, medizinische Vorsorge, Ausweitung der Impfpflicht, die Durchsetzung staatlicher Maßnahmen? Nehmen wir die Bildunterschrift hinzu, etwa um Gewissheit zu bekommen, werden wir enttäuscht, erhalten wir doch überwie- Hingucker und/ oder Wegleser 311 gend Informationen, die mit dem Foto selbst nichts zu tun haben. Man sieht keine „Zweifel“; höchstens könnte das schmerzverzerrte Gesicht etwas von dem zeigen, was im Text als „schlimmeres Mittel“ angedeutet wird. Mit dieser Formulierung könnte das Foto dann symbolisieren, dass kurzer Impfschmerz allemal besser ist als eine spätere ernsthafte Krankheit. Aber genau das zeigt das Foto nicht, kann es auch nicht zeigen. Auch das Foto mit Kim Jong-il (Abb. 2b) führt zu analogen Inferenzen. In einem Raum zwischen zwei Fenstern lässt er einen Wahlschein in die Urne gleiten (ikonisch), schaut aber auf den Schlitz und nicht in die Kamera (kausale Inferenz: Unsicherheit? ). Und was soll das Ganze? Dass wir an demokratische Wahlen glauben sollen oder im Gegenteil an Propaganda? Also symbolisiert das Foto eine Als-ob-Veranstaltung. Die Überschrift („Eine Gegenstimme wird es nicht sein“) steuert kräftig mit. Hingegen gibt die Unterschrift andere Signale: Neben der allgemeinen Information über die relative Bedeutung der Wahlen, die man dem Bild nicht entnehmen kann, wird der Gesundheitszustand des Staatschefs thematisiert, was eine Konkretisierung der Kausalinferenzen darstellt (vielleicht weniger Unsicherheit als eher Schwäche, da zusätzlich auch der Sohn als künftiger Nachfolger erwähnt wird). Wenn dem Foto jedoch eine offizielle Rolle zugeschrieben wird, im Gegensatz zu den „fehlenden Filmbildern“, verschärft sich die Interpretation zu einer propagandistischen Bedeutung: Der Betrachtende kann Kim Jong-il sehen, wie ihn die Nordkoreaner (in der Propaganda) zu sehen bekommen. Beide Fotoartikel verwenden die Bildunterschriften unterschiedlich. Teile der beiden Texte sind ko-textuell, wo sie unentbehrlich für die Betrachtung sind: dass man einordnen kann, was man überhaupt sieht (eine Impfung, einen Wahlvorgang), sowie dass man in den Kausalinterpretationen angeleitet wird (der kurze Schmerz für das gute eigentliche Ziel, die Schwäche oder Unsicherheit des abgemagerten Staatschefs). Darüber hinaus enthalten die Unterschriften zusätzliche Informationen, die in anderen Zeitungen in einem Standardartikel zu finden sein dürften, sie sind daher kontextuell auf weiteres im Foto nicht thematisiertes Wissen bezogen. Sie führen vom Hingucken weg. Sobald man sich auf das Foto als Foto konzentriert, sind diese Kontexte suspendiert. Beide Fotoartikel belegen, dass die drei Inferenzen zu Stande kommen dürften, dass aber bei den Symbolen die bloße Bedeutungskenntnis des Abgebildeten nicht ausreicht, um zu einer Einschätzung des „Sinnes der Symbolokkurrenz“ zu kommen. Die Kombination der Elemente, aus denen das Foto besteht - ihr Design, wie man auch sagt (van Leeuwen 2005) -, trägt jedoch dazu bei, dass wir die Symbolisierung inferieren können. Genauer: eine Symbolisierung, weil sich die Geister scheiden und weil die Unterschriften in verschiedener Weise dabei herangezogen werden (können), ko-textuell bzw. kontextuell. Die Kategorie „Symbolokkurrenz“ beruht auf der Kenntnis der Gebrauchsregeln (hier: der Vertrautheit mit fotografischen Abbildungen, etwa Schärfentiefe und mittige Position bei Abb. 2a 312 Christoph Sauer oder Mittigkeit, Vordergrund-Hintergrund und die Spiegelung der Scheinwerfer in der Scheibe rechts bei Abb. 2b). Sie ist für die Erklärung des jeweiligen Arrangements notwendig, aber nicht hinreichend, um den Sinn eines bestimmten Fotos zu erklären. Ob der Kontext (also die entsprechenden Formulierungen in den Bildunterschriften) für hinreichende Informationen sorgen kann oder ob weitere Kontexte - der Zeitung, der Politik, der menschlichen Verhaltensweisen usw. - herangezogen werden müssen, ist hier nicht zu entscheiden. Vor einem Sprung in die Empirie mit zu befragenden Versuchspersonen ist jedoch zu warnen, denn wir benötigen noch genauere, stichhaltigere Konzepte, bevor wir diese später einmal auch empirisch untersuchen können. Roland Barthes (1977), der Urvater der semiotischen Fotoanalyse, hat sich mit dem Problem der Bedeutung der Fotografie mehrfach auseinandergesetzt. Für Barthes liegt die Lösung der Symbolisierungsfrage in der Unterscheidung von zwei Zeichensystemen, die gleichzeitig operieren: denotativ (was man wahrnimmt, was sich ohne „Kodierung“ ergebe) und konnotativ (was man darüber hinaus erschließen könne, wobei der „Kode“ zum Tragen kommt). Diese Unterscheidung lässt sich nicht einfach in die Keller- Peirce‘schen Inferenzen übertragen. Ikonische und indexikalische Inferenzen dürften eher „denotativ“ sein, weil sie mehr die, wie Barthes sie nennt, objektiven (nicht-kodierten) Elemente betreffen, also das, was die Kamera sowieso einfängt und wo kein Gestaltungswille erkennbar ist. Die symbolischen Inferenzen sind eher „konnotativ“, da sie dasjenige, das im Bild schon - denotativ - vorliegt, auf ihren Sinn oder ihre Lesart befragen und dabei auf Konstellationen der Fotoelemente angewiesen sind. Für Konnotationen hat Barthes eine Reihe von Anweisungen gefunden, konnotative Prozeduren genannt: • Fotomontagen oder Trickeffekte (die in Zeiten digitaler Fotobearbeitung kaum mehr detektierbar sind), • offensichtliches Posieren (von Personen, Abb. 2b), • auffällige und besondere Objekte (bspw. ein schiefer Turm, der auch „posiert“), • Fotogenität (dem Medium eigene Darbietungsmöglichkeiten; Fisheye in Abb. 1, Schärferelationen in Abb. 2a) und • ästhetischer Formwille (bspw. Symmetrie in Abb. 2b, Farbgebung in Abb. 1). Fotos in Serie - z.B. Fotoreportagen, die wir nicht berücksichtigen - kennen auch „syntaktische“ Relationen. Einige dieser Konnotationen dürften sich in der Analyse erst entfalten lassen, wenn man auch Gesetze der Gestaltpsychologie heranzieht (Gibson 1979; Seyler 2004), was hier ebenfalls nicht vertieft werden kann. Später ging Barthes von Zeichensystemen erster und zweiter Ordnung aus („Mythen des Alltags“, 1974). In der Folge entdeckte er mythische und Hingucker und/ oder Wegleser 313 ideologische Konstellationen. Die Analysen neigten dazu, Einfallsreichtum und Wissen des Analysators selber zu belegen. Es lief darauf hinaus, dass allgemeine Kontexte - Kapitalismus, Kommunismus, aber auch die Kunstgeschichte (vgl. Panofsky 1975) - immer mehr den Ausschlag gaben. Wer viel wusste, fand auch mehr Mythen (Panofsky: den „Gehalt“). Am Ende kehrte Barthes (1985: 31-37) zu Fotobeschreibungen zurück, in denen er, was früher „konnotative Prozeduren“ hieß, zum punctum verkürzte: etwas, ein Element auf einem Foto, das die „konventionelle Information“ des Dargebotenen „aus dem Gleichgewicht“ bringt und die Deutungen der BetrachterInnen beflügelt (z.B. eine Waffe auf dem Sofa). Alle diese Impulse müssen zum Einsatz gebracht werden, wenn es darum geht, die Symbolisierung auszuloten. Dieser Exkurs soll deutlich machen, dass die Beschreibung von Inferenzen auf der Basis bekannter Bedeutungen (Symbolokkurrenz) dazu neigt, bei Pressefotos die Umgebungstexte zu prioritieren und somit in gewisser Weise vom Foto selbst abzusehen. Ähnliches ist der Fall, wenn man generell Text-Foto-Kombinationen als den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung ansieht (bspw. Wichert 2006) oder wenn man eine generelle „Kommentarbedürftigkeit“ von Fotos annimmt (Grebe 2006), für die die „Kontexte“ zu sorgen haben. Die Denkfigur, die man immer wieder in der Literatur antrifft, ist die von der Offenheit der Fotos und ihrer Schließung durch Kontexte. Das ist unbefriedigend im theoretischen Sinne, wenn auch gängige soziale Praxis. Bevor jedoch die soziale Praxis selber in die Analysen einbezogen werden kann, etwa als massenmediale Umgangsformen mit fotografischen Potenzialen, sollte die begriffliche Arbeit an den Bestimmungen zu einem gewissen Abschluss gebracht, jedenfalls nicht vorzeitig abgebrochen werden. Um eine ungezügelte Hereinholung von Kontext, was man vermeiden will, auszuschalten, bieten sich die konnotativen Prozeduren von Barthes und sein punctum an. Überdies tragen sie den fotografischen Möglichkeiten Rechnung und laden dazu ein, das Foto als Foto ernst zu nehmen. Die Frage nach dem Sinn der Darbietung wird somit unter Berücksichtigung der konnotativen Prozeduren angegangen. Daher muss man noch die Unterscheidung Denotation - Konnotation operationalisieren. Dann ist es an der Zeit, ko-textuelle (auf die Denotation gerichtete) und kontextuelle Informationen (manchmal auf die Konnotation gerichtet, öfters jedoch auf anderes) aufzugreifen und in die Inferenzziehungen einzufügen. Das wurde bereits oben vorgeführt und soll uns nunmehr bei der eigentlichen Korpusanalyse anleiten. Halten wir fest. Jedes Foto löst eine Reihe von Inferenzen aus. Diese Inferenzen spielen sich zuerst auf der Ebene der Bildelemente und ihrer Kombinationen ab und können einander aufschaukeln. BetrachterInnen ziehen bestimmte kausale, assoziative und regelbasierte Schlussfolgerungen, die von den Bildelementen, aus denen das Foto besteht, ausgelöst werden, sich dann auf das Foto insgesamt erstrecken und danach auch durch ko-textuelle und 314 Christoph Sauer kontextuelle Über- und Unterschriften zugespitzt werden können. Leser- Betrachter verhalten sich den Fotoartikeln gegenüber wie gegenüber einzelnen Fotos, urwüchsig. Vermutet wird, dass dabei eine Suspendierung von einem Zeitungskontext entsteht, weil das Betrachten und Inferieren mehr Zeit und Aufmerksamkeit kostet, bzw. dass Ko-Texte, sofern vorhanden, als Vergewisserungen zum Tragen kommen, aber eben auch nur dann, wenn ein umfassender Kontext suspendiert wird. Abb. 3 fasst den bisherigen Gang der Argumentation zusammen: Symbolisierung? Gestalt-Regeln „Konnotationen” Wissen „Denotation” ko-textuelle Signale kontextuelle Informationen Abb. 3: Zusammenwirken von konnotativen Prozeduren, Ko-Texten und Kontexten 4 Korpusanalyse 4.1 Vorstellung des Korpus und Detailanalyse Neben den bereits behandelten Fotoartikeln werden nunmehr noch einige andere vorgestellt, aus den Zeitungen NRC Handelsblad, Nederlands Dagblad, de Volkskrant und Trouw. Alle Bilder erschienen auf den Titelseiten der Zeitungen. 2 Repräsentativität kann jedoch nicht angestrebt werden, dazu wäre ein wesentlich umfangreicheres Korpus notwendig. Bei der Analyse werden die assoziativen, kausalen und symbolischen Inferenzen benannt und aufeinander bezogen, um vor allem den Aspekt der Symbolisierung zu verdeutlichen. (Keller 1995) Barthes’ konnotative Prozeduren (1977) und das punctum werden dabei angewendet. (1985) Die Bildunterschriften werden in zweierlei Hinsicht einbezogen: als ko-textuelle Informationen, die sich überwiegend auf ikonische Assoziationen und Kausalinferenzen auswirken, und als kontextuelle Informationen, die entweder den Fotoartikel in einen größeren Rahmen stellen oder Informationen vermitteln, die man zum betrachtenden Verstehen des Fotos - in einem strengen Sinne - nicht braucht, 2 Quellen sind jeweils die Webseiten: nrc.nl, nederlandsdagblad.nl, volkskrant.nl und trouw.nl. Hingucker und/ oder Wegleser 315 die aber gleichwohl presseüblich sind; hier geht es namentlich um extra Informationen, die die Symbolisierungen und die konnotativen Prozeduren betreffen. Daher geht die Analyse von der Frage aus, ob Fotoartikel mehr Foto als Artikel sind und so vielleicht zur vorübergehenden Suspendierung des Zeitungskontextes führen. Die folgenden Abkürzungen werden verwendet: • IK = ikonische (assoziative) Inferenzen • ID = indexikalische (kausale) Inferenzen • SY = symbolische Inferenzen (Symbolokkurrenz, Symbolisierung) • konPr = konnotative Prozeduren (einschließlich punctum sowie gestalttheoretische Implikationen), soweit sie zum Einsatz kommen, also immer bildspezifisch • kot = ko-textuelle Passagen der Bildunterschriften (die IK und ID konkretisieren) • kont = kontextuelle Passagen der Unterschriften (die SY und konPr betreffen oder betreffen können) Ned. Dagblad, 24.3.2009: Mount Redoubt Eine Rauchsäule steigt von der Spitze des Mount Redoubt auf, einem der Vulkane im amerikanischen Staat Alaska. Gestern Abend brach der Vulkan, der seit Jahren ruhig war, aus. Die nächstgelegene Stadt, Anchorage, befindet sich in einer Entfernung von 180 km vom Vulkan. IK aus großer Höhe (Flugzeug? ) aufgenommener rauchspeiender Berg (Vulkan) ID Sonnenschein → schönes Wetter Aschenwolke → brodelnder Vulkan SY Unberechenbarkeit der Natur, Erhabenheit (konPr Fotogenität, ungewöhn- Ned. Dagblad, 13.4.2006: Autobahn Ultraorthodoxe Juden protestieren beim Kibbuz XZY im Norden Israels gegen den Bau einer Autobahn. Sie wehren sich vor allem gegen die Zerstörung alter Gräber durch die Bauarbeiten. IK traditionell gekleidete Juden, die um Baugrube gruppiert sind ID mitgebrachtes Plakat → Protest- demonstration SY Einheit gegen Fortschritt? Tradition um jeden Preis? (konPr Pose, Protestierer haben vor der Kamera posiert, Fotogenität, Frosch- perspektive, punctum: ein Jude tritt in die Grube und richtet sich an die Gruppe) kot Vereindeutigung („protestieren“, traditionelle Kleidung) 316 Christoph Sauer liche Totalsicht) kot (Name) „Mount Redoubt, Vulkan, gestern Abend” kont „seit Jahren ruhig“ (extra beein- druckend) kont „Zerstörung alter Gräber“ (Heftigkeit der Emotionen? ) Abb. 4 und 5 Ned. Dagblad, 28.3.2009: Dammbruch Eines der Gebäude, die bei dem Dammbruch bei der indonesischen Hauptstadt Djakarta beschädigt wurde, ist diese Moschee. Durch den Bruch in dem mangelhaft gewarteten Damm lief ein Stausee aus. Das Wasser überflutete ein Wohnviertel und zerstörte viele Häuser. Mehr als 58 Menschen fanden den Tod. IK Gebäude steht schief in Wasser und Schlamm ID Schiefstand → Überschwemmung Palmen, leichte Kleidung der Leute → tropisches Land SY Unberechenbarkeit der Naturkräfte (konPr auffälliges Objekt, schiefes Haus) kot Deixis „diese Moschee“ Vereindeutigung, „mangelhaft ge- wartet“, Extrainformation kausal kont Anzahl der Toten → Ernst der Situation (soweit man diesen nicht „sieht“) NRC, 18.3.2009: Feuer auf dem Tafelberg in Kapstadt Auf dem Tafelberg im südafrikanischen Kapstadt brannte es bis heute Morgen. Hunderte von Bewohnern wurden evakuiert. Das Feuer brach gestern Abend aus und wurde vom starken Wind angefacht. Zwei Obdachlose, die auf dem Tafelberg geschlafen hatten, wurden mit schweren Brandwunden ins Krankenhaus gebracht. Der Tafelberg, von dem man Kapstadt und die Robbeninsel, auf der Nelson Mandela gefangen gehalten wurde, gut sehen kann, gehört zu den populärsten touristischen Zielen in Südafrika. IK nächtliche Flammen am Gebirgsrand, hinter einer erleuchteten Stadt, röt- licher Abendhimmel ID Brand → gefährliche Situation Stadtbeleuchtung → nächtliche Szenerie SY Feuer als Urgewalt, schaurig-schön, Faszination Hingucker und/ oder Wegleser 317 (konPr Fotogenität, lange Be- lichtungszeit, Weitwinkel, auffälliges Objekt, Flammensee bei Lichtersee, Gestalttheorie: Flammen im Mittelpunkt) kot nur sachliche Identifizierung (wann, wo, wie lange) kont „Obdachlose mit Brandwunden“ → Schwere des Feuers Abb. 6 und 7 NRC, 28.2.2009: Messe für kinetische Kunst in London London, 28. Februar. Eine elektrisch betriebene Applausmaschine, hergestellt von dem in Deutschland geborenen, aber in England wohnenden Künstler Martin Smith. Ein Aufbau von 51 Applausmaschinen ist Teil der Kinetica Art Fair, die bis Montag in London stattfindet. IK Kunststoffhände in einer Art Klatschstellung ID Applaus kann beginnen → Vorrichtung, Apparat SY Imitation menschlichen Ver- haltens, Spielerei (konPr Fotogenität, Tiefenschärfe, auffälliges Objekt, Vorrichtung, die menschliche Teilfunktion aus- führt) kot Künstler, Name des Dings (Identifizierung) kont „Kinetica Art Fair“ → wenn man es nicht sofort versteht, ist es „Kunst“ NRC, 30.3.2009: Käufer anlocken am Tag der offenen Tür Der Besitzer (rechts) eines Hauses am Chasséveld im Zentrum von Breda führt potenzielle Käufer herum. Am Samstag öffneten 40.000 Häuser, die zum Verkauf angeboten sind, ihre Türen. Das ist etwa ein Viertel des gesamten Angebots. Die niederländische Maklervereinigung, die den Tag der offenen Tür organisierte, schätzt die Anzahl der Besichtigungen auf 110.000 ein. Wegen der Wirtschaftskrise hat sich der Häusermarkt abgeschwächt. Seit Jahrzehnten wurden Häuser immer teurer, aber im letzten Jahr ging der Durchschnittspreis mit 1,9 Prozentpunkten zurück, verglichen mit dem Jahr 2007. Makler und Banken erwarten eine weitere Preisabschwächung in diesem Jahr. Auch die Zahl der Verkäufe ist im letzten Jahr zurückgegangen. Das Haus am Chasséveld ist am Ende des Tages jedoch verkauft worden, und zwar an den ersten Besucher. IK Mann zeigt Familie moderne Küche, die mit einem Riesen- 318 Christoph Sauer poster einer Busenschönheit dekoriert ist ID Zeigegeste → Vorführung von Apparatur Blickrichtung → Interessenten Kleidung → Bewohner (Hemd), Besucher in Mänteln SY Sex sells, Fotoausstellung oder Designküche? (konPr auffälliges Objekt, Pose, Posterfrau passt qua Kleidung und Haltung nicht in Küche, wird aber von den Anwesenden demonstrativ ignoriert, ästhetischer Formwille, Links- rechts-Gestaltung, Fokus auf Busen und Make-up Posterfrau) kot Identifizierung kont Wer ist „der erste Besucher“? Abb. 8 und 9 Volkskrant, 11.6.2008: Abfluss für Erdbebensee in China Eine Luftaufnahme des Erdbebensees bei XYZ, aus dem das Wasser abfließen konnte. Am Dienstag wurde der See, der von einem Damm aus Schlamm und Felsbrocken aufgestaut worden war, von der chinesischen Armee zum Abfluss gebracht. Eine in der Nähe gelegene Stadt und die gesamte Umgebung drohten überschwemmt zu werden, wenn der Damm brechen würde. Als Folge wäre das Leben von Millionen Menschen in Gefahr gekommen. Pioniereinheiten der Armee gelang es, einen Entwässerungskanal in die Felswand zu graben und das Wasser abfließen zu lassen. Trouw, 20.2.2009: Lebensmittelhilfe in den USA Frühere Mitarbeiter des Paketversenders DHL in der amerikanischen Stadt Wilmington in Ohio erhalten Lebensmittelpakete von der Organisation „Feed the Children“. Diese beschloss, die Pakete zu verteilen, nachdem DHL aufgrund der Finanzkrise beschlossen hatte, den örtlichen Lufthafen nicht mehr für ihre Versandaktivitäten zu verwenden und die Mitarbeiter entlassen musste. IK Männer schleppen Kartons Hingucker und/ oder Wegleser 319 IK Wasser aus Bergsee läuft rechts ab ID Strudel → Erdrutsch, andere Ursache? SY Naturgewalt, Respekt vor Natur (konPr Fotogenität, Übersicht aus großer Höhe) kot „Luftaufnahme“, „Erdbebensee“ (Identifizierung) kont „Millionen Menschen in Gefahr“ → Größe der Gefahr von Lastwagen weg ID Aufschrift auf Kartons (Food for children) → Lebensmittel- pakete, Kleidung → Winter, tief stehende Sonne → später Nachmittag SY USA sind von Krise stark getroffen (konPr Fotogenität, Teleobjek- tiv, dadurch zusammenge- stauchte Perspektive, auffällige Objekte, Kartons) kot „frühere Mitarbeiter DHL“ (Identifizierung) kont „entlassen“ → Armut in USA Abb. 10 und 11 Volkskrant, 30.3.2009: Tote bei Panik in Stadion der Elfenbeinküste Fußballanhänger tragen einen verwundeten Mann aus dem Fußballstadion von Abidjan, der größten Stadt der Elfenbeinküste, nachdem eine Panik während des WM-Qualifikationsspiels gegen Malawi ausgebrochen war. 22 Menschen wurden getötet und 132 verletzt, als die Polizei versuchte, eine Menschenmenge im Zaum zu halten, die geflüchtet war, nachdem eine Mauer teilweise umgestürzt war. Das Spiel sollte gerade beginnen und wurde zu Ende gespielt. Elfenbeinküste gewann 5: 0. IK Drei Männer schleppen einen anderen Mann aus einem Stadion weg ID Gesichtsausdrücke → Angst, Schrecken, Hilflosigkeit, aber auch beherztes Zupacken, Rasen vor Zaun → wie kamen die Männer über den Zaun? Volkskrant, 28.3.2009: Tausende von frohen Fans Mehr als zehntausend Fans werden heute in Amsterdam beim WM- Viertelfinale Niederlande - Schottland erwartet. Die Autoritäten gehen davon aus, dass ca. achttausend Schotten eine Eintrittskarte für das Fußballduell besitzen; der Rest muss sich das Spiel in den Lokalen im Zentrum der Stadt anschauen. Probleme werden nicht erwartet, so die Einschätzung der Polizei. IK feuchtfröhliches Treiben von trinkenden Schotten und anderen Personen ID Flaschen → Saufen, Ge- sichtsausdruck → Alko- holisierung, wunderliche Kleidung → Mischung aus niederländischen, argen- 320 Christoph Sauer SY nach dem schrecklichen Geschehen (konPr auffällige Objekte, Gesichter [auch punctum], hilfloser Verletzter, Fotogenität, Dynamik durch Aus- schnitt, ästhetischer Formwille, Kontrast nah - fern, Individuen - Masse) kot alle Informationen zur Identi- fizierung kont Verursachung der „Panik“ → Menschenmassen sind unbe- rechenbar und daher gefährlich tinischen und schottischen Teilen SY Fußball kann verbrüdern (konPr Pose, vor Kamera aufgebaut, auffällige Objekte, Oranjeshirt und Schotten- rock) kot nähere Identifizierung, was man sieht kont große Anzahl Schlachten- bummler, „keine Probleme“ → ein großes Fest Abb. 12 und 13 4.2 Ergebnisse der Analyse Fotos als Fotoartikel auf den Zeitungstitelseiten bringen die LeserInnen zunächst zum Hingucken, dann zum Weglesen, schließlich zum Inferieren und eventuell später erst wieder zum Weiterlesen. Sie unterbrechen die üblichen Orientierungen, die von der Titelseite ausgelöst werden, weil die großen Fotos die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und weil das Abgebildete eine gewisse Faszination ausübt, nicht zuletzt der puren Größe wegen. Eine Suspendierung des üblichen Zeitungskontextes durch verstärkte Hinwendung zum Foto als Foto für eine gewisse Zeit ist wahrscheinlich, auch wenn es mit den Mitteln der Korpusanalyse nicht „bewiesen“ werden kann. Die Stärke der Fotos liegt darin, dass sie vom Kontext der Zeitung absehen lassen und die gesammelte Wahrnehmung wenigstens für einige relevante Augenblicke ausschließlich auf sich vereinigen. Die Fotoartikel stellen tatsächlich einen „optischen Reiz“ dar und machen die Zeitung weniger „langweilig“. (Rossig 2007: 34) Bei Naturaufnahmen oder Naturkatastrophen, was für Zeitungen fast dasselbe ist, dominiert das Unerhörte, die Naturgewalt (Abb. 4, 6, 10), in dessen Folge sich die BetrachterInnen klein fühlen können. Die Symbolisierungen laufen auf das romantische Bild der unbeherrschbaren, übermächtigen Natur hinaus. Sie warten meist auch mit überraschenden Perspektiven auf (Flugzeugaufnahmen, Teleobjektiv usw.). Natürlich belegen solche Fotos in der Zeitung, dass sich die Katastrophe tatsächlich abgespielt hat, aber die semiotischen Inszenierungen zielen weniger auf die sachliche Information (wie sich die Katastrophe zugetragen hat) als auf Anlässe zum Staunen, Ergriffensein, Gruseln. Das Grandiose und das Desaströse schaukeln einander auf: je ästhetischer die Abbildung, desto packender die Symbolisierung. Dabei stellt sich auch noch heraus, dass die Unterschriften meist nur die sachlichen Identifikationsdaten enthalten, also ko-textuell sind (4, 6, 10), oder wenn sie weitere Informationen enthalten, dass sie dann einen charakteristischen Kontext hervorbringen: Anzahl der Toten (4) oder potenzieller Toter (10) - Hingucker und/ oder Wegleser 321 was den Ernst der Lage heraufbeschwört, sofern man ihn nicht schon längst „sehen“ kann. Einige Fotos kamen ersichtlich nur zu Stande, weil die Abgebildeten bereit waren, vor der Kamera zu posieren (Abb. 4, 8, 12). Der Fotograf hat nachgeholfen, sei es, um den entscheidenden Augenblick nicht zu verpassen - wie im Falle von Politikern, die ihr Händeschütteln oft wiederholen (vgl. Grittmann 2007) -, ihn nachzustellen (Abb. 4) oder zu verlängern (Abb. 2b), sei es, weil sich die Abgebildeten selber ins Bild gedrängt haben (Abb. 13 - wo die Alkoholisierung mitgespielt haben dürfte). Aktionsgruppen, Gewerkschaften und Demonstrationen (Abb. 4) machen sich dies zu Nutze; sie sorgen somit dafür, dass sie zur Öffentlichkeit werden, weil öffentliche Bilder die Aktionen belegen. In anderen Fällen scheinen die Abgebildeten instruiert zu sein, vor allem die Kamera nicht zu beachten. Abb. 9 ist ein exzellentes Beispiel, wo auch noch ein Fotoposter als auffälliges Objekt für ästhetische Verfremdung und Interessantheit sorgt. Ein Zweifelsfall sind die Lebensmittelpakete (Abb. 11): Hier geht es, wie so oft, um eine metonymische Bezugnahme, indem die Pakete und die sie wegschleppenden Männer auf einen größeren Zusammenhang verweisen, der gewissermaßen schlagartig auftaucht (Armut als Folge der Wirtschaftskrise). Jedenfalls gilt in allen Beispielen: Ohne Foto keine Nachricht, ohne Fotograf keinen Bericht. Diese metonymischen Verknüpfungen werden in den Bildunterschriften unterschiedlich unterstützt: durch die Betonung von Armut (Abb. 11), durch „ultraorthodox“ (Abb. 5), was inhaltlich mit den „Gräbern“ verknüpft wird, durch das Sammelsurium von Kleidungsstücken der Schlachtenbummler (Abb. 13), wozu man fast keine kontextuellen Informationen benötigt. Schwierig einzuordnen ist Abb. 12, auf der drei Afrikaner einen vierten wegtragen, in einem Stadion, dessen Ränge noch voller Menschen sind. Die Gesichtsausdrücke der Männer im Vordergrund verraten Bestürzung und Schock, aber die Abbildung zeigt vor allem die Dynamik der Situation (Indiz: die weggefallenen Beine und Füße der Träger) und setzt ganz offensichtlich auf den Gegensatz zwischen den großen Trägern und der unübersehbaren Menschenmasse auf den Stadionrängen. Die schnelle Übertragung des Bildes eilt der eigentlichen Nachricht voran, die dann auch erst am nächsten Tag in den Zeitungsmeldungen erschien. Ko-textuell erfahren wir nur die grundlegenden Randbedingungen und aus den kontextuellen Informationen bleibt vor allem „Panik“ hängen, womit die Gesichtsausdrücke plausibilisiert sind. Faszinierende Fotos, die die Neugierde anstacheln, werden nicht gescheut (Abb. 6, 7). Während Abb. 7 noch in den katastrophischen Zusammenhang gehört, ist doch die Gestaltung des Fotos - mit langer Belichtungszeit und Großbrand im Mittelpunkt - von einem ästhetischen Formwillen geprägt. Man guckt hin, weil es „schön“ ist. Man benötigt im Grunde auch nicht mehr als die Bildüberschrift, denn in der Unterschrift kommen symbolisierungsunerhebliche Details zum Tragen. Anders, aber doch ähnlich, verhält es sich mit dem Bild von den Applausmaschinen (Abb. 8). Hier zeigt 322 Christoph Sauer das Foto etwas, das man noch nie gesehen hat - und es zeigt es so, dass man nicht umhin kommt, es zur Kenntnis zu nehmen. Warum befindet sich das Foto nicht in der Kunstbeilage, sondern auf der Titelseite? Die Frage beantworten, hieße, das Wesen der Fotoartikel verkennen. Maximale Aufmerksamkeit unter Einsatz aller fotografischen Mittel ist nun einmal der Sinn der Veranstaltung. Auch die Bildunterschrift ist kaum hilfreich und trägt höchstens zur Legitimierung unserer Zuwendung zum Visuellen bei. Die Beispiele unseres Korpus belegen nicht nur, dass der Impuls zum Hingucken - und Weglesen - zu Stande kommt und wie er zu Stande kommt, sie zeigen auch, dass man gewisse Kenntnisse über Bilder und Fotos haben muss, um das Betrachten in ein Bildverstehen zu verwandeln. Insofern gilt hier auch die These, dass Indices zu Ikonen und Symbolen und Ikone zu Symbolen werden (Kellers „Zeichenmetamorphosen“, 1995: 160 ff.), wodurch das Inferieren automatisiert und beschleunigt wird. Fotoartikel im besprochenen Sinne tragen zu dieser Entwicklung bei. Sie holen die BetrachterInnen bei diesen Kenntnissen ab und verlangen vorübergehend volle Aufmerksamkeit. Was sie darüber hinaus verlangen, ist durchgängig die Entscheidung, wenn man die Unterschriften zur Kenntnis nimmt, ob man es mit ko-textuellen oder kontextuellen Informationen zu tun hat sowie welche von den kontextuellen Informationen wirklich bei der Inferenzziehung benötigt werden. 5 Schluss Die Suspendierung des Zeitungskontextes (im Sinne der „Kontextualisierung“, Bucher 2007) bedeutet also nicht, dass im Augenblick der Zuwendung zum Foto ein allgemeiner Kontext keine Rolle spielt. Wer im Hingucken wegliest, schaltet kurzfristig den Rest der Zeitung aus und konzentriert sich auf das Foto. Aber diese Hingucker benötigen Erfahrungen mit soziokulturell-politischen Kontexten, um mit den Fotos etwas anfangen zu können. Diese Erfahrungen werden von den Bildunterschriften in der Regel jedoch kaum gestreift. So bedient Abb. 2b bspw. die Folie des Staatsmännischen - das wäre der generelle Kontext -, aber auch des Sensationellen, weil aus der Unterschrift hervorgeht, dass der Abgebildete einen Schlaganfall hinter sich hat. So sind Naturkatastrophen schrecklich schön und lassen einen gerade von Verursachungen zugunsten des Grusels absehen (Abb. 4, auch 6, obwohl menschliche Verursachung teilweise in der Unterschrift erwähnt wird, wenn auch beiläufig, 7 und 10, wo vom menschlichen Faktor bildlich abgesehen wird, wenn auch die Unterschriften ihn erwähnen). Dass wir alle zum Voyeur werden, ist ein soziokultureller Kontext, der hier angesagt ist. Die Sinnentnahme richtet sich also nicht unbedingt auf die Zeitungskultur, sondern auch auf Wissensformen, die in der gesellschaftlichen Erfahrung mit visueller Kommunikation begründet sind. Die Kunstgeschichte ist Hingucker und/ oder Wegleser 323 sicherlich nicht auszuklammern (Panofsky 1975), auch mythisch-ideologische Bedeutungen spielen mit hinein (Barthes 1974). Dennoch geht von den Fotos eine Herausforderung aus, die man annehmen kann oder auch nicht. Je bereitwilliger die Hingucker, desto eher dürften sie „elaborative“ Verarbeitungen (Ballstaedt 2005) ausführen. Dabei werden sie von fotografischen Reflexionen unterstützt, die in der niederländischen Presse regelmäßig auftauchen, in der Form von (wöchentlichen) Besprechungen von auffälligen Fotos, was zu einer Leserschulung in Visualität führt. Ohne solche vielschichtigen Erfahrungen wären die besprochenen Fotoartikel lediglich fremde Elemente - während die Analyse doch gezeigt hat, dass die Befremdung nur vorübergehend ist, weil auch die Interpretation der Fotos zu jedem Zeitpunkt unterbrochen werden kann, dann nämlich, wenn das Weglesen eingestellt wird, weil nunmehr andere Zeitungsinhalte in den Vordergrund treten. Aber eben diese Spannung zwischen Hingucken, Weglesen und Weggucken, Erneut-Lesen bestimmt den Umgang mit Fotoartikeln. Dass sich auf den Fotos viel abspielt, was LeserInnen beschäftigen kann, indem sie zu BetrachterInnen werden, war der Ertrag der Analyse. Die Möglichkeiten der Semiotik im Keller-Peirce‘schen Sinne wurden dabei ausgeschöpft. Vor allem hinsichtlich der Symbolisierung (Symbolokkurrenz) bleibt noch Einiges zu tun, denn die Unterscheidung von Ko-Text und Kontext leuchtet zwar ein, muss aber bei jedem Fotoartikel jeweils anders vorgenommen werden. Vielleicht ist es dieses Oszillieren zwischen ko-textueller Identifizierung, die man als notwendig erachtet, und kontextueller zusätzlicher Information, die von manchen als vom Bild wegführend und von anderen als zum Bild zugehörig erfahren werden kann, das als Charakteristikum der Symbolisierungen im Falle der Fotoartikel zu gelten hat. In einem Essay mit dem Titel „Objekte der Melancholie“ setzt sich Susan Sontag (2003) u.a. mit Verhaltensweisen gegenüber alten Fotos auseinander. Sie stellt dabei fest: Eine Fotografie ist nur ein Fragment, dessen Vertäuung mit der Realität sich im Lauf der Zeit löst. Es driftet in eine gedämpft abstrakte Vergangenheit, in der es jede mögliche Interpretation (und auch jede Zuordnung zu anderen Fotos) erlaubt. Man könnte eine Fotografie als Zitat bezeichnen. (2003: 73) Der Zufall will es, dass unsere Abb. 2b in der Unterschrift tatsächlich als ein Zitat firmiert; zitiert wird jedoch nicht eine Realität, sondern eine propagandistisch-visuelle Praxis. Möglicherweise zeigt sich in dieser Rückbindung an visuelle Praktiken die Bandbreite von Fotoartikeln, wie sie hier besprochen wurden. Die „Vertäuung mit der Realität“, die vordergründig von den Bildunterschriften geleistet wird, kommt über die Suspendierung des üblichen Zeitungskontextes durch Hingucken nicht so recht zum Tragen. Sie verblasst, weil gefordert ist, dass man sich auf das Visuelle wirklich einlässt. So erreicht die Melancholie diejenigen, die sich unter einer Zeitung immer nur eine Verkörperung von Lese-Anlässen vorgestellt haben, während es die Hingucker schon besser wussten. In Fotoartikeln finden sich 324 Christoph Sauer die Beweise für eine nicht-melancholische visuelle Praxis in modernen Zeitungen. Literatur B ALLSTAEDT , Steffen-Peter (2005): „Text-Bild-Kompositionen im Unterrichtsmaterial“. In: Der Deutschunterricht, Nr. 4/ 2005, 61-70. B ARTHES , Roland (1974): Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Urspr. Französisch 1959. 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Die Multimodalitätsforschung eröffnet der Linguistik nicht nur neue Untersuchungsgegenstände, sie macht auch ein erneutes Nachdenken über zentrale linguistische Begriffe wie „Text“ und „Kontext“ erforderlich. Zu diesem Nachdenken soll dieses Kapitel einen Beitrag leisten. Konkret möchte ich hier zwei Fragen nachgehen: zum einen der Frage, wie das Verhältnis von Text und Kontext im Lichte multimodaler Forschung zu bestimmen ist; zum anderen der Frage, ob die Multimodalität der Kommunikation die Unterscheidbarkeit von „Text“ und „Kontext“ nicht prinzipiell infrage stellt. Die Behandlung dieser Fragen geschieht mit Hilfe eines Beispiels: dem Fall der Texte in Museumsausstellungen - und von Museumsausstellungen als komplexen Zeichen. Dieses Beispiel ist nicht zufällig gewählt. Vieles von dem, was im Museum an Lesbarem zu finden ist, ist multimodal, etwa wenn eine Erläuterung aus einem Schriftblock, einer erläuternden Grafik und einer illustrierenden Fotografie besteht. Hinzu kommt, dass sich das im Museum zu Lesende typischerweise in einer Umgebung befindet, in der Zeichen der unterschiedlichsten Repertoires und Materialitäten anzutreffen sind: Objekte, 3- D-Modelle, Umrisszeichnungen, Richtungspfeile usw. Museumsausstellungen sind daher ein besonders geeignetes Untersuchungsobjekt, um einen Einblick in das Funktionieren von Texten unter der Bedingung von Multimodalität zu erhalten. Im Zentrum meines Beitrags steht die Analyse einer unscheinbaren Aufschrift aus der Dauerausstellung des Bayreuther „Urweltmuseums“. 1 1 Die Analyse basiert auf einem Korpus von Fotos, die nicht nur die Aufschrift dokumentieren, sondern auch den Raum, in dem sich diese Aufschrift befindet. Obgleich die Analyse immer wieder auf das Fotokorpus Bezug nehmen wird, sind die Fotografien nicht der eigentliche Analysegegenstand. Sie sind vielmehr Arbeitsmittel, die hergestellt worden sind, um bei der Analyse und Präsentation die unmittelbare sinnliche Erfahrung des Museumsbesuchs einigermaßen gegenwärtig halten zu können. In diesem Sinne kommt den Fotografien hier eine ähnliche Funktion zu wie Transkripten im Prozess der Gesprächsanalyse. Sie sind keine Primärdaten, ermög- 328 Wolfgang Kesselheim Zunächst werde ich versuchen, das Verhältnis zwischen dieser Aufschrift und ihrem musealen Umfeld möglichst präzise zu bestimmen. Aus didaktischen Gründen nehme ich dabei eine in der Textlinguistik verbreitete Position ein, die den „Text“ als schriftbasierte (und daher unproblematisch zu identifizierende) Einheit versteht und die, von dieser Einheit ausgehend, alles Weitere als „Kontext“ des Textes, als additiv zu diesem Hinzutretendes analysiert (s.u., Abschnitt 2). Dann führe ich Gründe dafür an, weshalb eine solche Sichtweise wesentlichen Strukturmerkmalen multimodaler Kommunikation entgegensteht, und argumentiere für eine alternative Sicht von Text und Kontext, die der Multimodalität der Bedeutungskonstitution in der Ausstellung gerecht zu werden vermag (Abschnitt 3). Die Diskussion der multimodalen Erzeugung von Sinn in der Museumsausstellung mündet in die allgemeine Frage, wie „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation überhaupt voneinander zu trennen sind. Sobald nämlich die traditionelle Bindung der Textdefinition an den Modus der Schrift aufgegeben wird und damit Arrangements aus - beispielsweise - Schrift und Bild zusammen als textuelle Einheit aufgefasst werden, wird die Frage akut, welche Phänomene „noch“ Bestandteile des Textes sind und welche „schon“ zum Kontext gehören. Ich werde dafür plädieren, die Lösung dieses Problems nicht in einer der Analyse vorausgehenden terminologischen Präzisierung zu suchen, sondern vielmehr empirisch zu rekonstruieren, welche „Hinweise“ auf Textgrenzen und Text-Kontext-Bezüge im jeweils untersuchten Material zu finden sind (Abschnitt 4). Welche Phänomene in einer solchen empirischen Rekonstruktion in den Blick geraten können, soll eine erneute Analyse der Aufschrift aus dem Urweltmuseum exemplarisch deutlich machen (Abschnitt 5). Relevante theoretische Bezugspunkte des vorliegenden Beitrags sind zum einen linguistische Arbeiten, die sich aus unterschiedlicher Perspektive mit der Erforschung multimodaler Kommunikation auseinandergesetzt haben: aus der Perspektive der system-funktionalistischen Semiotik (etwa Kress/ Van Leeuwen 2001), aus der Perspektive der linguistischen Text-Bild- Forschung (Stöckl 2004) oder aus der Perspektive der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (die Arbeiten in Schmitt 2007); zum anderen linguistische und textlinguistische Arbeiten, die an der Materialität von Schrift (Stetter 1999; Spitzmüller 2006; Ludwig 2007) und an dem konkreten Vorkommen von Texten in realen - auch räumlich definierten - Lektüresituationen interessiert sind. (Sandig 2006; Fix 2008) Methodisch schließt der Beitrag an eine eng an der Textoberfläche orientierte Textlinguistik an, die versucht, Texthaftigkeit empirisch aus dem zu rekonstruieren, was im Material selbst beobachtbar signalisiert wird. (Hau- lichen aber die von zeitlichen Beschränkungen und Handlungsdruck befreite, systematische Rekonstruktion des ursprünglichen Kommunikationsereignisses. Für die Gangbarkeit einer Analyse der Museumskommunikation ausgehend von solchen Fotodaten habe ich bereits an anderer Stelle argumentiert. (Kesselheim/ Hausendorf 2007) Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation 329 sendorf/ Kesselheim 2008 sprechen von „Textualitätshinweisen“.) Ob etwas ein Text ist, ist aus dieser Perspektive ausschließlich durch den Rückgriff auf diese Signalisierungen zu beantworten, und nicht etwa mit Bezug auf ein Set von analysevorgängigen Kriterien. Der Text existiert nicht unabhängig von der Lektüre, er wird erst im Moment des Gelesenwerdens hervorgebracht, und zwar genau dadurch, dass die LeserInnen (wie auch der rekonstruierend vorgehende Analysierende) die Textualitätshinweise auswerten, die sich aus dem Text und dem während der Lektüre Wahrnehmbaren gewinnen lassen. Ein zweiter methodischer Bezugspunkt ist der Kontextbegriff, wie er in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Schegloff 1992) und der Kontextualisierungsforschung (Auer/ Di Luzio 1992) entwickelt worden ist. Aus dieser Sicht konstituieren sich Text und Kontext gegenseitig: Der Text (die Äußerung, der Beitrag zu einem Interaktionsgeschehen, das Gespräch usw.) ruft Kontexte als relevante Interpretationsfolien auf, und diese Kontexte erlauben es, dem Text einen Sinn zuzuschreiben. Das heißt auch, dass die Frage, was als Kontext zu analysieren ist, nicht mehr voranalytisch zu entscheiden ist. Was ein „relevanter Kontext“ ist, ist vielmehr aus den konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Hinweisen („cues“) im Material selbst - also hier: im Text und dem in der Lektüresituation Wahrnehmbaren - zu beantworten. 2 Ein Museumstext und seine relevanten Kontexte Beginnen wir nun mit der Analyse des angekündigten Beispiels: 1. „Nothosaurus mirabilis v. M ÜNSTER Schädel“ In der museologischen Literatur werden Aufschriften wie 1. unter der Textsortenbezeichnung „Objekttext“ behandelt (siehe z.B. Dawid/ Schlesinger 2002). Für die Akteure des Felds, also MuseologInnen und MuseumspraktikerInnen, handelt es sich hier ganz unproblematisch um Texte. Aber ist Beispiel 1. auch aus textlinguistischer Perspektive ein Text? Wenn man bei der Definition von „Text“ auf die Überschreitung der Satzgrenze oder das Vorhandensein von intratextuellen Verknüpfungen abhebt (wie etwa Harweg 1968), sicherlich nicht. Es gibt keine Pronominalisierungsketten, keine Satzkonnektoren (ja nicht einmal einen vollständigen Satz). Auch gibt es keinen sprachlich-expliziten Hinweis auf eine mit Beispiel 1. verbundene Textfunktion oder -handlung; und nichts weist Beispiel 1. als eine vollständige kommunikative Einheit aus, wenn wir das Beispiel so nehmen, wie es hier wiedergegeben ist. Im Gegenteil, mit typografischen Mitteln werden in dem kurzen Beispiel drei separate Bereiche erzeugt: „Nothosaurus mirabilis“ (kursiv), „v. M ÜNSTER “ (Kapitälchen) und „Schädel“ (recte). 330 Klarer wird der Textstatus von 1., wenn man den Textträger, wie er in Abb. 1 zu sehen ist, zur Analyse hinzunimmt: 2. Fotografie von Beispiel 1. mit Textträger Im Gegensatz zu den Unterschieden in der Typografie, die ja signalisieren, gibt der Acrylblock einen materiellen Hinweis darauf, dass die Wörter, die auf den Block aufgebracht sind (auf einer blauen Klebefolie), als umfassendere Gesamtheit verstanden werden sollen. Der/ die LeserIn hat es mit einem einheitlichen (Text werden kann. 2 In welche Kontexte ist die Aufschrift nun eingebettet? Trotz der durch die Materialität des Textträgers signalisierten Ganzheit dürfte der Beispiel text vielen weiterhin als unvollständig erscheinen. Anders wird das, wenn man den Textblock im Kontext eines in unmittelbarer Nähe befindlichen Objekts betrachtet (Beispiel 3.). Die Existenz dieses Objekts erlaubt es uns, dem Beispieltext unproblematisch e identifiziert das in der Nähe liegende Objekt als Fall eines Schädels von Nothosaurus mirabilis 2 Wollte man die Reihenfolge der Informationen im Text verändern (Warum nicht „Schädel Nothosaurus mirabilis müsste man den Block nämlich zersägen. Wolfgang Kesselheim Klarer wird der Textstatus von 1., wenn man den Textträger, wie er in zu sehen ist, zur Analyse hinzunimmt: Abb. 1 2. Fotografie von Beispiel 1. mit Textträger Im Gegensatz zu den Unterschieden in der Typografie, die ja Abgrenzungen signalisieren, gibt der Acrylblock einen materiellen Hinweis darauf, dass die Wörter, die auf den Block aufgebracht sind (auf einer blauen Klebefolie), als umfassendere Gesamtheit verstanden werden sollen. Der/ die LeserIn hat es eitlichen (Text-)Objekt zu tun, das nur als Ganzes bewegt In welche Kontexte ist die Aufschrift nun eingebettet? Trotz der durch die Materialität des Textträgers signalisierten Ganzheit dürfte der Beispiel text vielen weiterhin als unvollständig erscheinen. Anders wird das, wenn man den Textblock im Kontext eines in unmittelbarer Nähe befindlichen Objekts betrachtet (Beispiel 3.). Die Existenz dieses Objekts erlaubt es uns, dem Beispieltext unproblematisch einen Sinn zuzuweisen: Der Beispieltext identifiziert das in der Nähe liegende Objekt als Fall eines Schädels von Nothosaurus mirabilis v. M ÜNSTER . Wollte man die Reihenfolge der Informationen im Text verändern (Warum nicht Nothosaurus mirabilis v. Münster“? ) oder einzelne Informationen weglassen, müsste man den Block nämlich zersägen. Wolfgang Kesselheim Klarer wird der Textstatus von 1., wenn man den Textträger, wie er in Abgrenzungen signalisieren, gibt der Acrylblock einen materiellen Hinweis darauf, dass die Wörter, die auf den Block aufgebracht sind (auf einer blauen Klebefolie), als umfassendere Gesamtheit verstanden werden sollen. Der/ die LeserIn hat es )Objekt zu tun, das nur als Ganzes bewegt In welche Kontexte ist die Aufschrift nun eingebettet? Trotz der durch die Materialität des Textträgers signalisierten Ganzheit dürfte der Beispieltext vielen weiterhin als unvollständig erscheinen. Anders wird das, wenn man den Textblock im Kontext eines in unmittelbarer Nähe befindlichen Objekts betrachtet (Beispiel 3.). Die Existenz dieses Objekts erlaubt es uns, inen Sinn zuzuweisen: Der Beispieltext identifiziert das in der Nähe liegende Objekt als Fall eines Schädels von Wollte man die Reihenfolge der Informationen im Text verändern (Warum nicht v. Münster“? ) oder einzelne Informationen weglassen, Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation 331 Abb. 2 3. Foto von Beispiel 2. mit in der Nähe liegendem Fossil Offensichtlich „fordert“ der Beispieltext hier einen ganz bestimmten Kontext. 3 Erst der Bezug auf ein Objekt, auf das mit „Nothosaurus mirabilis v. M ÜNSTER Schädel“ referiert werden kann, „sättigt“ den sonst als unvollständig erfahrenen Text. Dass hier das Exponat als relevanter Kontext des im Analysefokus stehenden Textes angesehen wird, ist keine Analysewillkür. Wenn es in dem hier untersuchten Text auch keine sprachlichen oder sonstigen symbolischen Formen der Bezugnahme auf den konkreten Kontext gibt (etwa durch sprachliche Deixis, Pfeile, einen Schädelumriss neben dem Objekttext, identische Identifikationsnummern auf Text und Schädel usw.), wird der relevante Kontext durch mehrere Hinweise indiziert. Zum einen durch die Ausnutzung allgemeiner gestaltpsychologischer Prinzipien, nach denen als zusammengehörig wahrgenommen wird, was nah beieinander liegt. Zum anderen durch die Ausrichtung des Acrylblocks, den Grad der Neigung seiner Oberseite und die Schriftgröße, die zusammen dafür sorgen, dass Text und Exponat aus einer bestimmten Entfernung und von einem ganz bestimmten Betrachterstandpunkt aus wahrgenommen werden können. Die Zusammengehörigkeit von Text und Fossil ergibt sich aus der so erzeugten gleichzeitigen Präsenz beider im Gesichtsfeld des Betrachtenden. Stellt man den Text in den Kontext des Schädelfossils, lässt sich der Text in 2. paraphrasieren als „Was du auch siehst, wenn du mich lesen kannst, ist ein Nothosaurus-Schädel.“ Welche weiteren räumlichen Kontexte müssen für die Interpretation der Aufschrift 1. herangezogen werden? 3 Die Redeweise von der „Forderung“ eines bestimmten Kontexts habe ich von Peter Klotz (mündliche Mitteilung) übernommen. 332 Wolfgang Kesselheim Der Objekttext und der in Abb. 2 sichtbare Saurierschädel befinden sich in einer großen Vitrine (s. Abb. 3). Dass die Vitrine hier einen relevanten Interpretationskontext darstellt, ergibt sich zum einen aus der konventionellen Funktion der Vitrine als Möbelstück, das Zusammengehörigkeit signalisiert, zum anderen aus der singularisch referierenden Überschrift („Wundersame Bastardechse Nothosaurus mirabilis M ÜNSTER “), die im oberen Bereich der Vitrine angebracht ist und die alle in der Vitrine enthaltenen Gegenstände summarisch als zur Bastardechse gehörig kennzeichnet. Abb. 3 4. Foto der Vitrine im Text 1. Die Vitrine wiederum steht in einem Saal mit dem „Saaltext“ (Dawid/ Schlesinger 2002: 41) „Oberfranken vor 250-205 Millionen Jahren“. Durch diese werden die in dem Saal befindlichen Gegenstände und Texte einem gemeinsamen Thema zugeordnet: der Epoche des Trias in der Region, die heute Oberfranken genannt wird. Ein Zeitstrahl im Treppenaufgang, der u.a. zu dem hier genauer betrachteten Museumssaal führt, ordnet das Zeitalter, das Thema des Trias-Raums ist, in den Ablauf der erdgeschichtlichen Epochen ein, und damit den Trias-Raum in die Gesamtdisposition der Ausstellungsräume. (Die wiederkehrende Zeitangabe „250-205 Mio. Jahre“ weist hier auf die Verbindung hin.) Schließlich identifiziert das Schild „Urweltmuseum Bayreuth“ das gesamte Gebäude als Museum 4 und aktiviert so die gesellschaftlichen und kulturellen (Wissens-)Kontexte, die wir in Museumsbesuchen als Interpretationshintergrund heranzuziehen gelernt haben: etwa im Hinblick auf die Existenz bestimmter Museumstypen, charakteristische museale Präsentationsformen, die Zuständigkeitsbereiche bestimmter Wis- 4 Die Zugehörigkeit des Trias-Saals in den Kontext des Urweltmuseums wird auch durch eine einheitliche Gestaltung der Räume, der Ausstellungshilfsmittel wie Vitrinen usw., des Lichts, der verwendeten Schriftarten und -größen usw. signalisiert. Siehe dazu detaillierter Kesselheim/ Hausendorf (2007). Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation 333 senschaften für das Ausstellungsgebiet, die Legitimität der Institution Museum und ihre Aufgaben in unserer Gesellschaft. 3 Zum Verhältnis von Text und Kontext In dieser Sichtweise des Kontexts, die man salopp als „Zwiebelmodell“ bezeichnen könnte, wäre der räumliche Kontext etwas, das Schicht um Schicht um den Museumstext herum angelagert ist. Gegen diese additive Sicht des Kontexts habe ich drei Einwände, die sich aus der besonderen Struktur der Museumskommunikation ergeben und die dazu beitragen können, weitere Eigenheiten der Beziehung von Museumstext und musealem Kontext zu erhellen. 5 Der erste Einwand: Anders als z.B. bei einem Buch, dessen Interpretation durch den Ort der Lektüre nicht (grundsätzlich) verändert wird, ist im Museum der räumliche Kontext mit den in ihm enthaltenen Objekten für die Interpretation des jeweiligen Textes - und wie wir gesehen haben: für seinen Textstatus - entscheidend. Museumstexte sind in diesem Sinne Paradebeispiele für „discourses in place“. (Scollon/ Scollon 2003) Für das Verhältnis von Text und Kontext heißt das: Bei der Analyse des musealen Kontexts ist die Bewegung des Besuchers im Museumsraum zu berücksichtigen. Kein Museumstext kann gelesen werden, kein Exponat betrachtet werden, wenn sich der Besucher nicht durch die Räume der Ausstellung bewegt - Museum ist ein „begehbares Medium“. (Zebhauser 2000) 6 Die Notwendigkeit der Bewegung des Besuchers/ der Besucherin hat Konsequenzen für den musealen Kontext: Die Kontexte können nicht als Teile einer Taxonomie oder Meronymie verstanden werden. Was ich zuvor als Kontexte präsentiert habe, die gleichsam in konzentrischen Kreisen um den untersuchten Text herum angeordnet sind, wird in der Tat vom/ von der BesucherIn in einer ganz bestimmten zeitlichen Abfolge wahrgenommen, die sich aus den Bewegungsentscheidungen des/ der Besuchers/ Besucherin ergibt. Die Sequenzialität der Wahrnehmung bestimmt die Interpretation der Museumsobjekte und -texte ohne jeden Zweifel mit (vgl. Mattl 1992: 44). 7 Wenn durch eine Änderung oder Umkehr der 5 Mit diesen Einwänden möchte ich nicht infrage stellen, dass die soeben skizzierten Kontexte für die Interpretation des untersuchten Textes relevant sind. Bei der Darstellung der Kontexte habe ich ja jeweils knapp angedeutet, durch welche Mittel sie als relevante Interpretationshintergründe für den untersuchten Text ausgewiesen werden. 6 In der Freiheit und der Notwendigkeit des/ der Rezipienten/ Rezipientin, sich durch den Text zu bewegen liegt ein Berührungspunkt zur Strukturlogik der Klasse von Texten, die J. E. Aarseth mit dem Etikett „ergodic literature“ belegt hat (Aarseth 1997: 1- 23): Hypertexte, Adventure Games, nach Algorithmen generierte Poesie, Multiple User Dungeons usw. 7 So beginnt die Wahrnehmung und Lektüre durch den/ die BesucherIn sicherlich nicht bei dem hier untersuchten Objekt. Es ist wahrscheinlich, dass er/ sie das Schild „Urweltmuseum“ am Museumseingang wahrgenommen hat, lange bevor er/ sie den Text 334 Wolfgang Kesselheim Bewegungsrichtung die Objekte in einer anderen Reihenfolge wahrgenommen werden, ändert sich das Vorwissen, auf das die BesucherInnen zu einem bestimmten Zeitpunkt zugreifen können, und damit ganz sicher auch die Interpretation des Gesehenen und Gelesenen. Hinzu kommt, dass die Bewegung des Betrachtenden im Raum Perspektive(n) entstehen lässt. Abhängig von den Bewegungen und der Position des Betrachtenden erscheinen bestimmte Objekte im Vordergrund, andere im Hintergrund - mit klaren Folgen für die Interpretation des Gesehenen; es entstehen Ensembles von Objekten und Texten, die auf einen Blick wahrgenommen werden (die also Teil des so genannten „Gesichtsfelds“ sind), wodurch bestimmte Lesarten gefördert oder erschwert werden können usw. Die Bewegung des/ der Rezipienten/ Rezipientin bestimmt also, wie räumliche Kontexte im Museum mit dem fraglichen Objekt oder Text interagieren können, nämlich zum einen in einer zeitlichen Abfolge und zum anderen strukturiert durch die sich mit der Bewegung verändernden Gesichtsfelder und Perspektiven. Das additive „Zwiebelmodell“, das die Bewegung als grundlegendes Strukturmerkmal von Ausstellungskommunikation nicht berücksichtigt, kann das Verhältnis von Text und Kontext in Ausstellungskommunikation daher nicht angemessen beschreiben. Die Bewegung des/ der Rezipienten/ Rezipientin ist nun nicht nur eine grundlegende Bedingung des musealen Kontexts. Sie ist in den Museumstexten, die auf die spezifischen Strukturen des musealen Kontexts „reagieren“, sicht- und lesbar. So kann ein Museumstext beispielsweise das Mittel der Schriftgröße nutzen, um eine bestimmte Lektüreentfernung und position zu „erzwingen“. 8 Eine große Schrift ermöglicht die Lesbarkeit aus der Ferne und kann daher den/ die BesucherIn mit dem Angebot eines neuen Themas „näher locken“ (etwa im Fall der schon erwähnten Saalüberschrift); eine kleine Schrift erzwingt ein Herantreten und schafft damit die Voraussetzung für die Beschäftigung mit einem Detail. Allgemeiner formuliert: Die Bewegung und die bewegungs- und positionsabhängige Wahrnehmung des/ der Rezipienten/ Rezipientin, wie sie für den Museumskontext grundlegend sind, sind im Sinne eines „recipient design“ (Sacks et al. 1978: 43) in die Museumstexte „eingeschrieben“. Das heißt für das Verhältnis von Museumstext und -kontext, dass der Museumstext nichts vom musealen Kontext Unabhängiges ist, dass also Letzterer nicht bloß als eine Art „Zugabe“ zum Museumstext hinzukommt. Museumstext und musealer Kontext bringen sich gegenseitig hervor und deuten sich gegenseitig aus. gelesen hat, der uns hier beschäftigt. In Verbindung mit der vor dem Eingang aufgestellten, lebensgroßen Saurierfigur dürfte das seine/ ihre Interpretation des Textes beeinflussen. Er/ sie wird in ihm kaum den Titel eines Kunstwerks vermuten, sondern wohl die Bezeichnung für ein Fundstück aus der Urzeit. 8 Neben seiner unbestrittenen Funktion, eine bestimmte Ebene in einer Hierarchie von Museumstexten zu signalisieren (vgl. Dawid/ Schlesinger 2002: 36 f.). Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation Damit sind wir bereits beim zweiten Einwand, der sich gegen die gä gige Vorstellung richtet, der umgebenden Dinge und nichtsprachlichen Zeichen seien grundsätzlich dem Kontext zuzurechnen. Zwar stimmt es, wie eben gezeigt worden ist, dass die Interpretation des Museumst durch die räumliche Umgebung beeinflusst werden, etwa durch ein in der Nähe befindliches Exponat. Gleiches gilt aber auch in umgekehrter Rich tung: Der in der Nähe befindliche Museumstext kann zum Kontext ponats werden und dessen Interpretation bestimmen. Diese Kontext tion der Aufschrift (1.) möchte ich anhand des Objekttexts illustrieren, der links unten in der Vitrine zu erkennen ist, die in als Abb. 4 vergrößert dargestel 5. Objekttext in der Dieser Objekttext macht aus den im linken Teil der Vitrine sichtbaren Fos silien ein „Individuum“ (vgl. „erster Saurierfund“, „anhand dieses Stücks“, „der ‚Urmeter‘“). Anders im Fall der drei Schäde hälfte. Ihre Objekttexte, alle nach dem Muster von Beispiel 1., enthalten nicht mehr als die Klassifikation der Spezies und die Bezeichnung des Körperteils. Sie repräsentieren eine Klasse von Objekten, keine individuellen Objekte. Der Schriftblock wird hier offensichtlich zum Zeichen (zum Zeichencharakter der Exponate siehe z.B. Muttenthaler/ Wonisch 2006; Hahn 2003; Müller Der dritte Einwand richtet sich gegen die Vorstellu Text und Kontext falle regelhaft mit der Grenze von Schriftlichem und Nicht-Schriftlichem zusammen. Gerade am Fall des Museums zeigt sich, wie problematisch diese Annahme ist. Denn der Raum, der den Museumstext umgibt, ist - wie der Muse überwiegend nicht um Schriftzeichen handelt. Der gesamte Museumsraum 9 Die Austauschbarkeit der Schädel wird durch ihr paradigmatisches Übereinander auch nicht-sprachlich vermittelt (s. erneut Beispiel 5.). Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation Damit sind wir bereits beim zweiten Einwand, der sich gegen die gä gige Vorstellung richtet, der schriftliche Text sei automatisch Text und die ihn umgebenden Dinge und nichtsprachlichen Zeichen seien grundsätzlich dem Kontext zuzurechnen. Zwar stimmt es, wie eben gezeigt worden ist, dass die Interpretation des Museumstexts und die Beurteilung seines Textstatus durch die räumliche Umgebung beeinflusst werden, etwa durch ein in der Nähe befindliches Exponat. Gleiches gilt aber auch in umgekehrter Rich tung: Der in der Nähe befindliche Museumstext kann zum Kontext des Ex werden und dessen Interpretation bestimmen. Diese Kontext tion der Aufschrift (1.) möchte ich anhand des Objekttexts illustrieren, der links unten in der Vitrine zu erkennen ist, die in Abb. 3 abgebildet ist (hier vergrößert dargestellt): Abb. 4 5. Objekttext in der Nothosaurus-Vitrine Dieser Objekttext macht aus den im linken Teil der Vitrine sichtbaren Fos silien ein „Individuum“ (vgl. „erster Saurierfund“, „anhand dieses Stücks“, „der ‚Urmeter‘“). Anders im Fall der drei Schädel in der rechten Vitrinen hälfte. Ihre Objekttexte, alle nach dem Muster von Beispiel 1., enthalten nicht mehr als die Klassifikation der Spezies und die Bezeichnung des Körperteils. Sie repräsentieren eine Klasse von Objekten, keine individuellen Objekte. Der Schriftblock wird hier offensichtlich zum Kontext nicht-schriftlicher Zeichen (zum Zeichencharakter der Exponate siehe z.B. Muttenthaler/ Wonisch 2006; Hahn 2003; Müller-Scheessel 2003; Mattl 1992). Der dritte Einwand richtet sich gegen die Vorstellung, die Grenze von Text und Kontext falle regelhaft mit der Grenze von Schriftlichem und Schriftlichem zusammen. Gerade am Fall des Museums zeigt sich, wie problematisch diese Annahme ist. Denn der Raum, der den Museumstext wie der Museumstext selbst - voller Zeichen, nur dass es sich überwiegend nicht um Schriftzeichen handelt. Der gesamte Museumsraum Die Austauschbarkeit der Schädel wird durch ihr paradigmatisches Übereinander auch sprachlich vermittelt (s. erneut Beispiel 5.). 335 Damit sind wir bereits beim zweiten Einwand, der sich gegen die gän- Text sei automatisch Text und die ihn umgebenden Dinge und nichtsprachlichen Zeichen seien grundsätzlich dem Kontext zuzurechnen. Zwar stimmt es, wie eben gezeigt worden ist, dass die exts und die Beurteilung seines Textstatus durch die räumliche Umgebung beeinflusst werden, etwa durch ein in der Nähe befindliches Exponat. Gleiches gilt aber auch in umgekehrter Richdes Exwerden und dessen Interpretation bestimmen. Diese Kontext-Funktion der Aufschrift (1.) möchte ich anhand des Objekttexts illustrieren, der abgebildet ist (hier Dieser Objekttext macht aus den im linken Teil der Vitrine sichtbaren Fossilien ein „Individuum“ (vgl. „erster Saurierfund“, „anhand dieses Stücks“, l in der rechten Vitrinenhälfte. Ihre Objekttexte, alle nach dem Muster von Beispiel 1., enthalten nicht mehr als die Klassifikation der Spezies und die Bezeichnung des Körperteils. Sie repräsentieren eine Klasse von Objekten, keine individuellen Objekte. 9 schriftlicher Zeichen (zum Zeichencharakter der Exponate siehe z.B. Muttenthaler/ ng, die Grenze von Text und Kontext falle regelhaft mit der Grenze von Schriftlichem und Schriftlichem zusammen. Gerade am Fall des Museums zeigt sich, wie problematisch diese Annahme ist. Denn der Raum, der den Museumstext voller Zeichen, nur dass es sich überwiegend nicht um Schriftzeichen handelt. Der gesamte Museumsraum Die Austauschbarkeit der Schädel wird durch ihr paradigmatisches Übereinander auch 336 Wolfgang Kesselheim stellt die wahrnehmbare „Oberfläche“ eines ganz spezifischen Typs von Kommunikation dar, in deren Rahmen nicht so sehr die Sprache, als vielmehr die Präsentation authentischer Objekte die zentrale Rolle spielt. Zeichencharakter können im Museum selbst Farben, Materialien oder architektonische Elemente haben (s. etwa Jones 1999). Ein konzentrierter Lichtkegel kann ein Objekt ebenso als Exponat ausweisen wie ein Objekttext, der ein Objekt sprachlich benennt; ja, in vielen Fällen - s. etwa Beispiel 4. - leisten sprachliche und nicht-sprachliche Zeichen diese Funktion gemeinsam. Fraglich scheint, was in einem solchen multimodalen kommunikativen Geschehen als Text und was als Kontext gelten soll (oder ob gar die gesamte Ausstellung als Teil eines Museums-„Textes“ aufgefasst werden soll). Warum „Text“ in der Linguistik häufig mit „schriftlichem Text“ gleichgesetzt wird, während der Raum mit seinen Objekten und Artefakten fraglos als Kontext angesehen wird, lässt sich nur aus disziplinären Traditionen erklären. Die bisherige Diskussion in diesem Beitrag hat gezeigt, dass bei der Analyse von Texten im Museum diese starre Festlegung aufgegeben werden muss. 4 Die Grenze zwischen Text und Kontext in multimodaler Kommunikation Die Multimodalität der Museumskommunikation macht das Problem der Abgrenzung von Text und räumlichem Kontext - das sich prinzipiell für alle Texte stellt - besonders virulent: Was gehört alles zum Text und wo beginnt der Kontext, wenn man die Schriftlichkeit als alleiniges Abgrenzungskriterium aufgibt (aufgeben muss)? Tatsächlich scheint sich der Gegenstand Text gleichsam aufzulösen, sobald man beginnt, die Materialität der Schrift in die Analyse einzubeziehen. An Beispiel 1. bis 3. kann man dieses Problem sichtbar machen. Was ist der Museumstext, der hier analysiert werden soll: Lediglich der Wortlaut? Oder gehört auch die typografische Gestalt zu dem Text dazu (wie in 1. wiedergegeben)? Wenn man die Typografie noch als Bestandteil des Texts ansieht - und genau dies ist die Tendenz der Text- und Schriftlinguistik der letzten Jahre 10 - muss man dann nicht auch den Textträger (also der Acrylblock in 2.) als integralen Bestandteil des Textes betrachten? Schließlich habe ich weiter oben aus der Tatsache des klar abgegrenzten, nur gesamthaft bewegbaren Trägers ein Argument für den Textstatus der Wortfolge „Nothosaurus mirabilis v. M ÜNSTER Schädel“ abgeleitet. 11 10 Siehe etwa die Überblicksdarstellung in Spitzmüller 2006; s.a. Stöckl 2004; grundsätzliche semiotische Überlegungen zum Status der Typografie in Wehde 2000, besonders S. 64-67. 11 Möchte man den Textträger grundsätzlich nicht als Teil des Texts verstehen, entsteht ein Problem dort, wo die Schrift nicht aus einem eigenen Material (z.B. Druckertinte) hergestellt ist, sondern aus Vertiefungen im Textträger besteht, etwa in Inschriften. - Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation 337 Akzeptiert man aber, dass der Acrylblock Teil des Textes ist, wird die Abgrenzung zu Dingen, die mit dem Textträger verbunden sind oder auch nur beim Lesen der Wortfolge 1. wahrnehmbar sind, problematisch. Die Auffassung, der Nothosaurus-Schädel könne Teil des ihn identifizierenden Objekttexts sein, ist schwerlich überzeugend. Und doch „funktioniert“ der Text, wie ich gezeigt habe, nur zusammen mit diesem Schädel, ohne den er defektiv erscheint. Die Scheidung von Text und Kontext wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die kommunikativen Aufgaben, die von der Museumsausstellung zu lösen sind (etwa die Abgrenzung der Ausstellung nach außen, die Identifikation der Exponate, die thematische Organisation usw.), von Zeichen aus unterschiedlichen Zeichensystemen und unterschiedlichen Materialitäten gleichzeitig bearbeitet werden, und das oftmals gleichzeitig: Die Markierung des Nothosaurus-Schädels als Exponat leistet nicht nur die Sprache, die das Fossil identifiziert, sondern zur selben Zeit der in der Nähe befindliche beschriftete Klotz (unabhängig vom Inhalt seiner Aufschrift), die Platzierung des Schädels in einer Vitrine und die Spot-Beleuchtung, die das Fossil aus dem Beinahedunkel des Museumsraums heraushebt (s. dazu Kesselheim 2009). Wenn aber alle diese Zeichen zur Markierung eines Gegenstands als Exponat beitragen: Nach welchen Kriterien kann man dann die sprachliche Bearbeitung der kommunikativen Aufgabe als „Text“ ansehen, den beleuchtungstechnischen Beitrag zur Bearbeitung der gleichen Aufgabe aber als „Kontext“? Die Probleme der Analyse, die hier exemplarisch zu Tage treten, zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Text und Kontext durch den multimodalen Charakter der Museumskommunikation infrage gestellt, wenn nicht gänzlich unmöglich gemacht wird. Dass das Problem der Abgrenzung von Text und Kontext durch die aktuelle Beschäftigung mit der Materialität und Multimodalität von Texten (zur Multimodalität s. etwa die Beiträge in Fix/ Wellmann 2000) akut geworden ist, spiegelt sich beispielsweise in Otto Ludwigs Versuch, den „Text“ (als mentale Repräsentation) gänzlich von seinen konkreten materiellen Realisierungsformen zu trennen, die Ludwig (2007) „Skripte“ nennt. Das hier angesprochene Problem der Scheidung von Text und Kontext ist dadurch aber nicht gelöst. Es wird lediglich in die Ebene der „Skripte“ verlagert. Die Unterscheidung von „Text“ und „Skripten“ führt auch zu der problematischen Implikation einer strikt abstrakten Einheit {Text} jenseits seiner Erscheinungsformen. Ähnliches scheint für die Unterscheidung von „Textur“ und „Text“ bei Stetter (1999) zu gelten. Auch der Vorschlag, alle wahrnehmbaren und lesbaren Elemente der Ausstellung als „ko-textuelle“ Elemente zusammenzufassen und den Begriff „Kontext“ nur für (kulturelle, institutionelle usw.) Wissenshintergründe zu reservieren, überwindet das grundsätzliche Problem der Text-Kontext- Für einen Vorschlag zur Präzisierung dessen, was unter „Textträger“ zu verstehen ist, s. Sandig 2006: 428 ff. 338 Wolfgang Kesselheim Grenze nicht. Denn auch Wissenshintergründe müssen, um aktiviert zu werden, in der Ausstellung signalisiert werden. Auch für sie gibt es also letztendlich lesbare oder allgemein wahrnehmbare Hinweise im untersuchten Datum selbst. So verweist das Wort „Museum“, das in der Ausstellung mehrfach zu lesen ist, auf die Notwendigkeit, das kulturelle Wissen über die Institution Museum bei der Interpretation der Ausstellung zu aktivieren; Bogenelemente und ein von wenigen Lichtern unterbrochenes Dunkel weisen auf sakrale Architektur als relevanten Bezugspunkt der Objektpräsentation hin usw. 5 Ein Analysevorschlag Wie soll man also bei der Analyse multimodaler Texte mit der hier dargelegten Problematik umgehen? Ich möchte dafür plädieren, nicht nach einer der Analyse vorgängigen Textdefinition zu suchen, die auch für multimodale Kommunikationsformen eine „wasserdichte“ Bestimmung dessen ermöglicht, was „Text“ und was „Kontext“ ist und wie beide voneinander abzugrenzen sind. Um den Zusammenhängen zwischen Text und Kontext unter den Bedingungen der Multimodalität auf die Spur zu kommen, ist es vielmehr nötig, die in der Ausstellung selbst wahrnehmbaren und lesbaren „Hinweise“ auf die Text-Kontext-Grenzen und Text-Kontext-Beziehungen zu identifizieren. Damit wird es zur empirischen Frage, wie in den beobachtbaren Erscheinungsformen der Ausstellungskommunikation - also in Aufschriften, Karten, Saalblättern, in Objekten und deren Anordnungen im Raum, in Ausstellungshilfsmitteln wie Vitrinen oder Stehtafeln, in innenarchitektonischen Strukturen usw. - textuelle Ganzheiten signalisiert werden. Einschlägig sind hierfür die von Hausendorf/ Kesselheim (2008: 39-51) so genannten „Abgrenzungs- und Gliederungshinweise“. (Hausendorf/ Kesselheim 2008: 39-51) Sie signalisieren das Vorliegen von textuellen Ganzheiten, von Ober- und Untereinheiten der Lektüre. 12 In der Museumsausstellung finden sich Hinweise in den unterschiedlichsten Modi und Medien. Einige Beispiele für solche Hinweise hat meine exemplarische Analyse des Museumstexts 1. bereits ergeben. So gaben Unterschiede in der Typografie einen Hinweis auf das Vorliegen unterschiedlicher Einheiten und der Acrylblock, auf den die Aufschrift 1. aufgebracht ist, wurde als wahrnehmbarer Hinweis auf eine textuelle Ganzheit interpretiert. Einen auffälligen Abgrenzungshinweis stellt auch der Übergang von Schrift zu anderen Zeichensystemen dar (s.o.). Das Gleiche gilt aber auch für andere Übergänge: den Wechsel zwischen verschiedenen Modi oder Sinneskanälen. So kann das Glas der Vitrine in 4. als Abgrenzungshinweis gelesen werden, 12 Bei diesen Hinweisen sowie den weiter unten vorgestellten Intertextualitätshinweisen handelt es sich nur um eine Teilmenge der Textualitätshinweise. Zur Erzeugung des Effekts der Texthaftigkeit sind weitere Hinweise nötig (s. Hausendorf/ Kesselheim 2008: besonders S. 21-37). Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation 339 insofern es Berührbares von Unberührbarem, nur zu Sehendem scheidet. Innerhalb dieser Vitrine gibt es dann Hinweise auf kleinere Lektüreeinheiten, signalisiert zum einen durch die senkrechte Trennwand, die den „Urmeter“ der Bastardechse von den „beliebigen“ Belegen für die Klasse der Bastardechse trennt, zum anderen die waagerechten Glaseinsätze, die jeweils ein Fundstück und einen Objekttext als sinnvolle Untereinheit der Vitrinen-„Lektüre“ ausweisen. Die Herstellung von Verbindungen zwischen den so ausgewiesenen textuellen Einheiten und ihrem „Außerhalb“ leisten die „Intertextualitätshinweise“ (Hausendorf/ Kesselheim 2008: 187-201), die auf relevante Verbindungen innerhalb eines Modus oder über Modus-Grenzen hinweg aufmerksam machen und auf diese Weise ein Netz von textuellen Ganzheiten entstehen lassen, die aufeinander verweisen und zusammen die „Textsammlung“ Museum ergeben. Eine Reihe besonders auffälliger Intertextualitätshinweise sieht man auf den folgenden Abbildungen (Beispiele 6. bis 8.). Abb. 5 6. Fundplatte mit versteinerten Tierspuren im Hängungszusammenhang 340 Wolfgang Kesselheim Abb. 6 7. Detailfoto zu Beispiel 6. Abb. 7 8. Detailfoto zu Beispiel 6. Angezeigt werden in diesen Beispielen Verbindungen von Schrift zu Schrift, etwa durch das Auftreten identischer Buchstaben in der Auflistung in Beispiel 7. oben und an den gezeichneten Spuren auf dem gleichen Foto unten. Andere Hinweise verbinden ein Objekt mit einer zeichnerischen Repräsentation: So suggeriert der identische Umriss von Fundplatte und Umrisszeichnung ebenso wie die Form der authentischen und der gezeichneten Fußspuren, dass hier eine Verbindung herzustellen ist (vgl. 7.). Auf eine Verbindung zwischen der visuellen und der taktilen Wahrnehmung verweist schließlich der verbale Verknüpfungshinweis in Beispiel 8., explizit als Aufforderung an den Besucher formuliert („Lege …! “). Wechselspiele von „Text“ und „Kontext“ in multimodaler Kommunikation 341 Fokussiert man derart auf die im Material signalisierten Hinweise auf die Außengrenzen textueller Einheiten und auf die im Material signalisierten Verbindungen zu anderen textuellen Einheiten, wird die Abgrenzung von Text und Kontext von einer Frage der theoretischen Grenzziehung zu einer Frage des empirischen Nachzeichnens von Grenzen und Verbindungen im untersuchten Material. „Text“ ist dann eine empirisch konstituierte Lektüreeinheit, die dadurch hervorgebracht wird, dass der Museumsbesucher die im Material lesbaren oder sichtbaren Abgrenzungs-, Gliederungs- und Intertextualitätshinweise im Prozess der Rezeption auswertet - und das heißt im Fall des Museums: im Prozess des Gehens und Stehens, des Wahrnehmens, Betrachtens und Lesens. Was als Textgrenzen verstanden werden soll und womit die so abgegrenzte Einheit während der Rezeption noch in Beziehung gesetzt werden soll, das ergibt sich daraus, wie der untersuchte Gegenstand zum einen seine Abgrenzung „nach außen“ demonstriert, und zum anderen daraus, wie er auf „außerhalb“ Befindliches als relevante Bezugspunkte für seine Interpretation verweist. Eine solche Sicht des Texts erlaubt es beispielsweise zu beschreiben, wie in der einen Ausstellung das „Aufgehen“ der schriftlichen Erklärungen in den objektgesättigten Kontext der Ausstellung bewerkstelligt wird (nämlich z.B. dadurch, dass die Schrift auf eine durchsichtige Folie aufgedruckt und auf die Glaswände der Vitrinen geklebt wird), während in einer anderen Ausstellung den schriftlichen Erklärungen der Status eigenständiger Objekte zugewiesen wird (durch die übereinstimmende Markierung ihrer Außengrenzen in mehreren Modi gleichzeitig). Gibt man, angeregt durch den Untersuchungsgegenstand multimodale Kommunikation, die Beschränkung der Textanalyse auf die Schriftlichkeit auf und zieht prinzipiell all das in die Analyse ein, was im Material - hier: auf den Fotografien meines Korpus - sichtbar ist, dann bedarf es nicht mehr der Vorstellung eines außerhalb des Texts liegenden und von diesem unabhängigen Kontexts. Denn um zu rekonstruieren, wie das, was wir lesen, als „Text“ wahrgenommen wird, kommt es dann nur noch auf die Textualitätshinweise an, die sich im Gelesenen und Betrachteten selbst finden. Tatsächlich wird durch die Konzentration auf die Textualitätshinweise (von denen Abgrenzungs- und Intertextualitätshinweise eine Untermenge sind) auch das, was ein Text als sein „Außerhalb“ ausweist, aus dem heraus rekonstruiert, was innerhalb des Gelesenen und Betrachteten signalisiert wird. So ist selbst Intertextualität, wenn man sie auf die Intertextualitätshinweise zurückführt, keinesfalls etwas „Textexternes“, auch wenn es bei diesem Konzept um Bezüge zu anderen Texten oder gar Textwelten geht. Denn es sind nicht diese externen Texte oder Textwelten, die dazu beitragen, dass wir das, was wir gerade lesen, als „Text“ wahrnehmen; es sind die im Gelesenen und Betrachteten zu findenden Intertextualitätshinweise. 13 13 Man denke nur an Jorge Luis Borges’ literarische Experimente mit (fiktiven? ) Manuskripten oder gar Bibliotheken. 342 Wolfgang Kesselheim Letzten Endes kann die Konzentration auf die Textualitätshinweise daher dazu beitragen, die die Textlinguistik lange prägende Dichotomie von „textinternen“ und „textexternen“ Merkmalen aufzugeben und das darin zum Ausdruck kommende Verhältnis von „Text“ und „Kontext“ neu zu denken. Literatur A ARSETH , Espen J. (1997): Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore: Johns Hopkins University Press. 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Daneben ist er Mitbegründer von semtracks, dem „Laboratory for Computer Based Meaning Research“. semtracks versammelt verschiedene Projekte im Bereich der maschinellen Textanalyse, die für polito- und soziolinguistische sowie kulturanalytische Fragestellungen angewandt wird. Helmuth Feilke ist Professor für Germanistische Linguistik und Didaktik der deutschen Sprache an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Forschungsschwerpunkte: Sprachtheorie, Textlinguistik, Lexikologie, Idiomatik und Phraseologie, Schreibforschung, Literale Kompetenz, Sprachdidaktik Mechthild Habermann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Sprachwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Historische Grammatik und Textlinguistik, Fachsprachenforschung der Frühen Neuzeit, Sprachkontaktforschung, Wortbildung und Grammatik des Gegenwartsdeutschen Wolfgang Kesselheim ist Assistent am Lehrstuhl Prof. Hausendorf am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Text- und Gesprächslinguistik, Multimodalität, soziale Kategorisierung, Experten-Laien-Kommunikation, Kommunikation im Museum Peter Klotz war Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Syntax, Grammatikdidaktik, Methodik des Grammatik- und Schreibunterrichts, Schreibdidaktik, textnahe Literaturrezeption, Textlinguistik und ihre Didaktik Angelika Linke ist Ordinaria für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Zürich und ständige Gastprofessorin am Graduiertenkolleg 345 „Sprache und Kultur in Europa“ der Universität Linköping/ Schweden. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Kommunikation, historische Sozialsemiotik des Körpers, Sprach(gebrauchs)geschichte der Neuzeit (17.-21. Jh.), Soziolinguistik, Historische Semantik Christine Lubkoll ist Professorin für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Klassizismus und Romantik, Moderne sowie Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur; Mythosforschung; Kulturgeschichte des Erzählens; Musik und Literatur; Thematologie; Intertextualität; Ethik und Literatur. Martin Luginbühl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar, Linguistische Abteilung, der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Medienlinguistik, Textlinguistik, Stilistik, Gesprächsanalyse, Neuere Sprachgeschichte, Sprachbetrachtung im Deutschunterricht Jürgen E. Müller ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth, Herausgeber der Reihe Film und Medien in der Diskussion (Münster, Nodus) und Leiter des Universitätsprojektes Campus-TV an der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Multi- und Intermedialität, Film und Semiohistorie, Film- und Medientheorie, Geschichte der Audiovision und des Fernsehens, Kino in Québec Paul R. Portmann-Tselikas ist Professor für germanistische Linguistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Fremd- und Zweitspracherwerb, Sprachdidaktik (insbesondere Schreibdidaktik), pragmatisch orientierte Textlinguistik und Textforschung Christoph Sauer ist Senior Lecturer für Medienkommunikation und multimodale Diskursanalyse am Department for Communication and Information Sciences der Universität Groningen (Niederlande). Forschungsschwerpunkte: Multimodal Communication Design, Funktionale Pragmatik der Medienkommunikation, Audience Design im Dokumentarfilm sowie politische Kommunikation (öffentliche Reden und Gedenkreden) Joachim Scharloth ist Gastprofessor an der Universität Zürich. Er ist Mitbegründer der Forschergruppe semtracks, dem „Laboratory for Computer Based Meaning Research“. semtracks arbeitet im Rahmen mehrerer Drittmittelprojekte an der Entwicklung korpuslinguistischer Methoden für die kultur- und sozialwissenschaftlich interessierte Textanalyse. 346 Forschungsschwerpunkte: Soziolinguistik, Sprachgeschichte, Korpuslinguistik, Phonetik und Soziale Bewegungen Torsten Steinhoff ist Professor für Deutsche Sprache und Sprachvermittlung am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Spracherwerb, Schreibentwicklung und Schreibdidaktik, Wortschatzerwerb und Wortschatzdidaktik, Idiomatik Georg Weidacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik, Abteilung für germanistische Linguistik, der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Textlinguistik und Textrhetorik, Pragmatik, Kognitive Linguistik, Sprache der Politik, Medienlinguistik sowie Grammatik des Deutschen und deren Vermittlung im muttersprachlichen Unterricht Alexander Ziem ist Akademischer Rat an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Abteilung für germanistische Sprachwissenschaft. Er ist Koordinator des interdisziplinären DFG-Forschungsnetzwerkes „Methoden und Methodologien der Diskursanalyse“. Forschungsschwerpunkte: Kognitive Semantik, Konstruktionsgrammatik (insbesondere Anaphern, Wortbildung, Konnektivität), linguistische Diskursanalyse