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Migration, Sprache und Rassismus

2010
978-3-8233-7518-0
Gunter Narr Verlag 
Ibrahim Cindark

In der vorliegenden Arbeit wird mit ethnografischen, gesprächsanalytischen und gesprächsrhetorischen Methoden der kommunikative Sozialstil der "emanzipatorischen Migranten" untersucht. Ein wesentliches Kennzeichen dieses Milieus von Migranten der zweiten Generation ist, dass seine Akteure offensiv und provokativ mit Rassismen umgehen und sich nicht ethnisch (als "Türken", "Italiener", "Griechen" etc.) definieren. Des Weiteren betrachten sie - neben der dominanten Verwendung des Deutschen als gruppeninterner Kommunikationssprache - (deutschtürkisches) Code-switching und Code-mixing als wichtigen Ausdruck ihrer migrantischen Identität. Da Potenziale und Konturen von Stilen erst im Kontrast eindeutig hervortreten, werden diese Befunde mit der kommunikativen Praxis einer anderen Sozialwelt von Migranten der zweiten Generation verglichen, derjenigen der "akademischen Europatürken". Hierbei zeigt sich, dass dieses sich ethnisch und als "Elite" der türkischen Migranten definierende Milieu moderat auf Diskriminierungen reagiert und deutsch-türkische Sprachvariation als Ausdruck von "Halbsprachigkeit" ablehnt.

Ibrahim Cindark Migration, Sprache und Rassismus Der kommunikative Sozialstil der Mannheimer „Unmündigen“ als Fallstudie für die „emanzipatorischen Migranten“ Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 5 1 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 51 Ibrahim Cindark Migration, Sprache und Rassismus Der kommunikative Sozialstil der Mannheimer „Unmündigen“ als Fallstudie für die „emanzipatorischen Migranten“ Redaktion: Franz Josef Berens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Hohwieler, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6518-1 Inhalt Vorwort ............................................................................................. 9 1. Einleitung ........................................................................................ 11 2. Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik... 15 2.1 Die Definition des kommunikativen Sozialstils............................... 16 2.1.1 Kommunikativer Sozialstil als Ausdruck kollektiver Identitäten........................................................................... 17 2.1.2 Kommunikativer Sozialstil als geprägtes und entwickeltes Verhalten ....................................................... 19 2.1.3 Kommunikativer Sozialstil als interaktives und dynamisches Gebilde ......................................................... 22 2.1.4 Kommunikativer Sozialstil als rekurrente und relationale Kategorie .......................................................... 22 2.1.5 Kommunikativer Sozialstil als holistisches und prototypisches Hyperzeichen ............................................. 24 2.1.6 Ausdrucksebenen des kommunikativen Sozialstils ........... 26 2.2 Sozialwissenschaftliche Grundlage: Das Konzept der Sozialwelten/ Arenen ........................................................................ 30 2.2.1 Sozialwelten ....................................................................... 32 2.2.2 Arenen ................................................................................ 36 2.3 Soziolinguistische Methodik: Ethnografie, Gesprächsanalyse und Gesprächsrhetorik ..................................................................... 39 2.3.1 Die Ethnografie .................................................................. 39 2.3.2 Die Gesprächsanalyse ........................................................ 42 2.3.3 Die Gesprächsrhetorik........................................................ 48 3. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten aus der Türkei ...................................................... 51 3.1 Deutschland - ein völkisches Einwanderungsland .......................... 51 3.1.1 Der Staatsbürgerschaftsparagraf und die Einwanderung der deutschstämmigen Migranten .............. 52 3.1.2 Die Anwerbung der „Gastarbeiter“ .................................... 55 3.1.3 Die „zweite Generation“ .................................................... 57 3.1.4 Gegenwärtige Gesetzeslage ............................................... 60 Migration, Sprache und Rassismus 6 3.2 Entwicklungslinien der ‘türkischen’ Migrantenwelten in Deutschland.................................................................................. 63 3.2.1 Die Anfänge in den 1960er und 1970er Jahren .................. 64 3.2.2 Die 1980er Jahre als Übergangsphase................................ 69 3.2.3 Die Entwicklung seit den 1990er Jahren............................ 76 3.3 Die Sozialwelten der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“................................................... 80 3.3.1 Die „emanzipatorischen Migranten“.................................. 80 3.3.1.1 Entstehungskontexte ............................................................. 82 3.3.1.2 Vernetzung ........................................................................... 87 3.3.2 Die „akademischen Europatürken“ .................................... 90 4. Die Ethnografie der „Unmündigen“ .......................................... 101 4.1 Die Gründung................................................................................. 101 4.2 Die Gründungsinhalte .................................................................... 107 4.2.1 Institutioneller Rassismus ................................................ 108 4.2.2 Untertanenpsychologie..................................................... 110 4.2.3 Sprachfindung .................................................................. 112 4.3 Die Mitglieder ................................................................................ 113 4.4 Die wichtigsten Aktivitäten und Aktionen ..................................... 115 4.4.1 Netzwerkarbeit als Artikulationsmittel ............................ 115 4.4.2 Straßenaktion als Artikulationsmittel............................... 118 4.4.3 Kunst als Artikulationsmittel............................................ 120 5. Zugang bzw. Aufenthalt im Feld und die Datengrundlage ...... 125 5.1 Zugang bzw. Aufenthalt im Feld.................................................... 125 5.2 Die Datengrundlage ....................................................................... 126 6. Der emanzipatorische Stil............................................................ 127 6.1 Analytische Grundlagen aus der Gesprächsanalyse und der Gesprächsrhetorik .......................................................................... 128 6.1.1 Normalität bzw. Normalform ........................................... 128 6.1.2 Perspektivierung............................................................... 130 6.1.3 Soziale Kategorisierung ................................................... 131 Inhalt 7 6.2 Hintergrundfolie des „emanzipatorischen Stils“: Der negative und positive Rassismus .................................................................. 133 6.2.1 Negativer Rassismus ........................................................ 133 6.2.2 Positiver Rassismus.......................................................... 135 6.3 Vorgehensweise bei der Erfassung der „emanzipatorischen“ Handlungstypen ............................................................................. 140 6.4 Aufspießen von Rassismen ............................................................ 143 6.5 Ironisieren von Rassismen ............................................................. 154 6.6 Provozieren von Rassismen ........................................................... 171 6.7 Eine Arenadebatte zwischen den „Unmündigen“ und den „Europatürken“ .............................................................................. 179 6.7.1 Argumentationsweise der „akademischen Europatürken“................................................................... 182 6.7.2 Argumentationsweise der „emanzipatorischen Migranten“........................................................................ 184 6.7.3 Kommunikative Sozialstile im Schlagabtausch................. 186 6.8 Zusammenfassung.......................................................................... 189 7. Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene .............................................................................................. 193 7.1 Analytische Grundlagen aus der interpretativen Soziolinguistik .... 193 7.2 Untersuchungen zu den Sprachen bzw. zur Sprachpraxis der Migranten aus der Türkei ............................................................... 200 7.3 Sprachwahl und -variation der „Unmündigen“.............................. 204 7.3.1 Präferenz für Deutsch in der gruppeninternen Kommunikation................................................................ 207 7.3.2 Sequenziell kleinräumige deutsch-türkische Sprachalternationen.......................................................... 210 7.3.3 Sequenziell großräumige deutsch-türkische Sprachalternationen.......................................................... 220 7.4 Sprachwahl, -orientierung und -variation der „Europatürken“ ...... 229 7.5 Zusammenfassung.......................................................................... 236 Migration, Sprache und Rassismus 8 8. Schluss ........................................................................................... 239 9. Literatur........................................................................................ 243 10. Transkriptionskonventionen ....................................................... 269 11. Anhang .......................................................................................... 271 11.1 Selbstdarstellung der „Unmündigen“ - 1993................................. 271 11.2 Selbstdarstellung von „Kanak Attak“ - 1998 ................................ 272 11.3 Selbstdarstellung der „Tschuschenpower“ - 2000 ......................... 277 11.4 Bereiche und Formen von Rassismen ............................................ 278 11.5 „Unmündige“-Treffen der Verlaufsform A..................................... 279 11.6 „Unmündige“-Treffen der Verlaufsform B .................................... 281 11.7 Quantitative Auswertung von Verdichtungspassagen aus zwei „Unmündigen“-Treffen .................................................................. 282 Vorwort In der vorliegenden Arbeit analysiere ich mit ethnografischen und gesprächsanalytischen bzw. -rhetorischen Methoden den Zusammenhang von sprachlichen und sozialen Strukturen im Kontext der Migration. Im Fokus der Studie steht die kommunikative Praxis der Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“. Ihre Akteure sind Migranten der zweiten und dritten Generation, die sich offensiv mit Rassismen der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzen und sich nicht über die Herkunftsländer und -kulturen ihrer Eltern bzw. Großeltern definieren. Die Bezeichnung „emanzipatorische Migranten“ stammt vom Mannheimer Verein „Die Unmündigen“, der hier als Fallanalyse für die übergeordnete Sozialwelt, d.h. für die Gesamtheit der sich nicht ethnisch definierenden, zugleich primär die Rassismen der deutschen Mehrheitsgesellschaft bearbeitenden Vereine, untersucht wird. Die „Unmündigen“ wurden zu Beginn der 1990er Jahre als eine politische Initiative für gleiche Bürgerrechte und gegen ethnische Diskriminierung gegründet. Sie sind eine der wenigen Formationen, die sich in jener Blütezeit der „emanzipatorischen Migranten“ konstituierten und sie existieren nach wie vor in sehr vitaler Weise. Die erst gegen Ende der 1990er Jahre entstandene bundesweite Vereinigung „Kanak Attak“ dürfte gegenwärtig die bekannteste Formation dieser politischen Sozialwelt sein. An dieser Stelle möchte ich gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass die (Selbst-) Bezeichnung „emanzipatorische Migranten“ nicht ausschließlich zu verstehen ist. Denn je nach situativem und politischem Kontext definieren sich die Akteure auch als „Schwarzköpfe“, „Kanaken“ oder schlicht als „Deutsche“. Eine wichtige Einschränkung in dieser Arbeit gilt dem Ausschnitt der Sozialwelt, der hier erfasst wird bzw. werden konnte. Wenn in der vorliegenden Untersuchung von „emanzipatorischen Migranten“ die Rede ist, so beziehe ich mich im weitesten Sinne auf Vereinigungen, die von Kindern und Enkeln der ehemals so genannten „Gastarbeiter“ gegründet wurden. Im engeren Sinne fokussiere ich dabei jene Formationen, in denen Migranten aus der Türkei die Mehrheit stellen oder zumindest eine bedeutsame Rolle spielen. Diese Einschränkung resultiert zum einen aus der ethnografischen Ausrichtung dieser Studie, die eine intensive Analyse der untersuchten Gruppe, deren Mitglieder mehrheitlich Migranten aus der Türkei sind, notwendig machte. Zum anderen - und dies ist der gewichtigere Grund für die Einschränkung - gibt es in der Forschung nach wie vor kaum soziolinguistische Milieustudien über die Migration, Sprache und Rassismus 10 sprachliche Praxis von Migranten im Allgemeinen und über die besonderen Verfahren von „emanzipatorischen Migrantenformationen“ im Besonderen. Hier bedarf es weiterer Forschung, um vergleichend Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb und zwischen den Sozialwelten herausarbeiten zu können. Zum Abschluss des Vorworts möchte ich mich zu allererst bei den „Unmündigen“ bedanken, ohne deren Arbeit, Zustimmung und Vertrauen diese Studie nicht zustande gekommen wäre. Also, vielen Dank Alessandro, Andrea, Ayhan, Aynur, Ayşa, Ayşe, Aziz, Bettina, Bilgin, Bülent, Caroline, Chinsia, Engin, Hüseyin, Joe, Isabel, Maria, Mario, Metin, Miranda, Nathalie, Nuri, Senem, Şükrü, Tanino, Teresa, Wicki, Yalçın, Zafer und Zübeyde. Ich hoffe, dass die hier präsentierte Analyse eurer Arbeit nicht allzu sehr von eurem Selbstverständnis abweicht. Der nächste Dank geht an meine Betreuer Inken Keim und Werner Kallmeyer, die diese Arbeit intensiv unterstützt haben. Sie leiteten von 2000 bis 2004 das Projekt „Deutsch-türkische Sprachvariation und die Herausbildung kommunikativer Stile in dominant türkischen Migrantengruppen“ am Institut für Deutsche Sprache, im Rahmen dessen die Grundlagen für die vorliegende Studie gelegt wurden. Des Weiteren wurde die vorliegende Arbeit, die im Wintersemester 2008/ 2009 von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim als Dissertationsschrift angenommen wurde, durch ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung finanziert. Zuvorletzt möchte ich mich bei meiner Frau Caroline und bei meinem Freund Ralf bedanken, die die Arbeit nicht nur Korrektur gelesen haben. Sie waren unverzichtbare Wegbegleiter und Diskussionspartner, ohne deren Interesse und Geduld diese Schrift nicht vorläge. Für die wertvollen Endkorrekturen danke ich Joachim Hohwieler und Norbert Volz. Und zuletzt ein Dank an euch, die ihr mir so viel geschenkt habt: Açelya, Leonardo, Anne, Baba, Ağbi, Şengül, Rosa, Wolfram, Angelina, Suphi, Baran, Steffi, Leyla und Jeshua. 1. Einleitung Nach knapp 50-jähriger deutscher Migrationsgeschichte stellt sich die Gruppe der Einwanderer aus der Türkei mittlerweile als eine höchst ausdifferenzierte Population dar. Gab es bis in die 1980er Jahre noch relativ wenige Organisationsstrukturen, so haben die ehemaligen „Gastarbeiter“ und ihre Nachkommen inzwischen eine Vielzahl von Sozialwelten hervorgebracht, die sich in informellen Gruppen, Vereinen und Interessenverbänden mit spezifischen Freizeitaktivitäten bzw. Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens beschäftigen. Während in den Sozialwissenschaften einige dieser Milieus bereits detailliert untersucht wurden, gibt es in der (germanistischen) Soziolinguistik nur wenige Arbeiten, die das kommunikative Repertoire einzelner Migrantenwelten analysieren. 1 Die vorliegende Studie will ihren Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zumindest ein Stück weit und bezogen auf einen Ausschnitt zu schließen. Nach dieser Einleitung werde ich im zweiten Kapitel zunächst das Forschungsprogramm der „kommunikativen Sozialstilistik“ vorstellen, das den Ausgangs- und Bezugspunkt meiner empirischen Analysen darstellt. Das Konzept erlaubt in ausgezeichneter Weise, die Kommunikationspraxis sozialer Einheiten ganzheitlich zu erfassen. Durch seine Fokussierung der kollektiven Identität gesellschaftlicher Formationen bietet es die Möglichkeit, einzelne Ebenen der kommunikativen und sozialen Praxis von und in sozialen Einheiten nicht isoliert, sondern in Bezug zueinander zu untersuchen. In den darauf folgenden Abschnitten des Kapitels werde ich die sozialwissenschaftliche Grundlage und die soziolinguistischen Methodiken ausführen, auf die ich in der vorliegenden Arbeit zurückgreife. Es handelt sich dabei um das Konzept der Sozialwelten/ Arenen von Anselm Strauss und um die Methodiken der Ethnografie, Gesprächsanalyse und Gesprächsrhetorik. Das dritte Kapitel fungiert als Einführung in die deutsche Migrationsthematik und in die Entwicklung der diversen Sozialwelten der Migranten aus der Türkei. Im ersten Abschnitt werde ich auf die Besonderheiten Deutschlands als Einwanderungsland eingehen, die für die Entstehung und Entwicklung einzelner Migrantenwelten wie die der „emanzipatorischen Migranten“ von entscheidender Bedeutung sind. Danach werde ich ausführen, wie sich die Sozialwelten der Migranten aus der Türkei in den letzten knapp fünf Dekaden 1 Zu den sozialwissenschaftlichen Arbeiten siehe Abschnitt 3.2 und bzgl. der Untersuchungen zur Sprach- und Kommunikationspraxis der Migranten aus der Türkei siehe 7.2. Migration, Sprache und Rassismus 12 entwickelt haben. Dieser skizzenhafte Überblick beleuchtet im Wesentlichen die sozialweltlichen Zusammenhänge, aus denen die „emanzipatorischen Migranten“ entstanden sind. Außerdem wird er dabei behilflich sein, die gesellschaftliche und politische Position der untersuchten Sozialwelt innerhalb der Migranten aus der Türkei genauer zu fassen. Im Schlussabschnitt des dritten Kapitels werde ich auf die beiden Sozialwelten der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“ (Aslan 2005) eingehen. Letztere untersuche ich in dieser Arbeit als Kontrastwelt zu den „emanzipatorischen Migranten“. Da gerade in Stiluntersuchungen das Gegenüberstellen eine wichtige Methode ist, um die jeweiligen Stile zu konturieren, werde ich in den empirischen Kapiteln Eigenschaften der kommunikativen Praxis der „emanzipatorischen Migranten“ mit denen der „akademischen Europatürken“ vergleichen. Als Kontrastgruppe bieten sich die „Europatürken“ deshalb an, weil zwischen ihnen und den „emanzipatorischen Migranten“ sowohl Verbindungsstellen als auch Trennlinien existieren. Einerseits gehören die zentralen Akteure beider Welten der gleichen Generation an: Sie sind Kinder der ehemals so genannten „Gastarbeiter“. Außerdem sind die meisten Hauptakteure Studenten und Akademiker, was ein weiteres Verbindungsmoment der beiden Formationen ist. Auf der anderen Seite unterscheiden sich aber die beiden Sozialwelten stark voneinander: Die „akademischen Europatürken“ identifizieren sich ethnisch, und zwar als „Türken“, die in Europa leben. Die „emanzipatorischen Migranten“ hingegen stehen ethnischen und nationalen Identitätszuschreibungen, die sie mit den Herkunftsländern ihrer Eltern in Verbindung bringen, kritisch bis ablehnend gegenüber. Im vierten Kapitel präsentiere ich die Ethnografie der „Unmündigen“. Darin wird zunächst ausgeführt, dass die Gründung der Gruppe aus einem bidirektionalen Emanzipationsprozess resultierte, der sich einerseits auf die eigene Migranten-Gemeinschaft, andererseits auf die deutsche Einwanderungsgesellschaft bezog. In diesem Prozess benannte die Gruppe die „Bearbeitung des institutionellen Rassismus“, die „Aufarbeitung der Untertanenpsychologie“ und das „Finden einer eigenen Sprache“ als ihre konstitutiven Themen. Des Weiteren beinhaltet die Ethnografie Ausführungen über die Mitgliederstruktur und die wichtigsten Aktivitäten der „Unmündigen“. Auf die Beschreibung der Datengrundlage und des Zugangs zur Gruppe im fünften Kapitel folgt der soziolinguistische Analyseteil der Arbeit. In den Kapiteln sechs und sieben analysiere ich zwei Aspekte des kommunikativen Sozialstils der „Unmündigen“. Zunächst untersuche ich im sechsten Kapitel die kommunikativen Handlungstypen der „emanzipatorischen Migranten“, Einleitung 13 die sie bei der aktiven und reaktiven Bearbeitung von Rassismen entwickelten. Diesbezüglich sind für die Sozialwelt drei Bearbeitungsformen charakteristisch, die ich zusammen als den „emanzipatorischen Stil“ bezeichne: Das Aufspießen, Ironisieren und Provozieren von Rassismen. Die Analyse dieser Handlungstypen ist auch in Bezug auf die internationale Forschung von herausragender Bedeutung, da bislang keine soziolinguistischen Studien vorliegen, die anhand von natürlichen Alltagsdaten den (verbalen) Umgang von Minderheiten/ Migranten mit Diskriminierungsmomenten untersuchen. 2 Am Ende des sechsten Kapitels steht die Analyse einer Arenadebatte zwischen den „emanzipatorischen Migranten“ und den „akademischen Europatürken“. Es handelt sich dabei um eine von den „Europatürken“ organisierte Podiumsdiskussion, an der Mitglieder der Mannheimer „Unmündigen“ teilnahmen und sich rege beteiligten. Diese Podiumsdiskussion stellt sozusagen einen natürlichen Testfall für die Theorie der kommunikativen Sozialstile dar. Denn gemäß ihrer zentralen Hypothese, dass Akteure in verschiedenen Sozialwelten unterschiedliche kommunikative Sozialstile entwickeln, müssen gerade in Arenadebatten, in denen sich konkurrierende Welten gegenüberstehen, die distinktiven Stile sich nicht nur bemerkbar machen, sondern darüber hinaus Gegenstand der konkreten Auseinandersetzung selbst sein. Im siebten Kapitel untersuche ich die Sprachorientierung und die Sprachvariationspraxis der „Unmündigen“. Diese zeichnen sich durch zwei Aspekte aus: Einerseits ist die sprachliche Orientierung der Gruppe dadurch geprägt, dass Deutsch ihre unzweifelhaft dominante Interaktionssprache ist. Auf der anderen Seite kommt es in der gruppeninternen Kommunikation immer wieder zu Interaktionspassagen, in denen die Beteiligten zwischen Deutsch und Türkisch alternieren. Manchmal handelt es sich dabei um eine sequenziell kleinräumige Sprachalternation, der ansonsten lange deutsche Interaktionspassagen voran- und nachgehen. In anderen Fällen wechseln die Beteiligten über einen relativ längeren Zeitraum zwischen den beiden Sprachen, was ich als sequenziell großräumige Sprachalternation bezeichnen werde. Zur Erfassung dieser und ähnlicher Phänomene wurden in der interpretativen Soziolinguistik die Konzepte des „Code-switchings“ und „Code-mixings“ (Auer 1999) erarbeitet, auf die ich bei der Variationsanalyse zurückgreifen werde. 2 Dies gilt nicht nur für die Soziolinguistik. Allgemein gibt es in den Sozialwissenschaften kaum Arbeiten, die Themen wie ethnische Diskriminierung und Rassismus anhand von natürlichen Alltagsdaten untersuchen. Eine positive Ausnahme in diesem Kontext ist die Arbeit von Weiß (2001), die jedoch nicht den Umgang von Migranten bzw. Minderheitsangehörigen mit Diskriminierungen analysiert, sondern Vorkommen von Rassismen in deutschen, antirassistischen Gruppen unter die Lupe nimmt. Migration, Sprache und Rassismus 14 Das Kapitel beende ich wiederum mit einer Kontrastierung der „emanzipatorischen Migranten“ und den „akademischen Europatürken“. Dieser Vergleich wird zeigen, dass die Sprachorientierung und die Variationspraxis der „Unmündigen“ ein sozialstilistischer Ausdruck ist und mitnichten dadurch erklärt werden kann, dass die Untersuchten als Angehörige der zweiten Migrantengeneration und somit quasi als Folge eines „language shift“ 3 dominant Deutsch sprechen würden. Denn obwohl die „Europatürken“ auch der zweiten Migrantengeneration angehören, ist ihre dominante Interaktionssprache in der gruppeninternen Kommunikation Türkisch. Außerdem betrachten die „Europatürken“ die deutsch-türkische Variation, die auch bei ihnen zu beobachten ist, als Ausdruck von „doppelter Halbsprachigkeit“, 4 weshalb sie von ihnen dispräferiert und in der Interaktion durch sprachliche und metasprachliche Mittel markiert wird. Im Gegensatz dazu stellt die Sprachvariation bei den „Unmündigen“ einen wichtigen Ausdruck ihrer Identität als „emanzipatorische Migranten“ dar. 3 Fishman (1964) erfasst unter „language shift“ sprachliche Prozesse innerhalb von Migranten- und Minderheitenpopulationen, bei denen die Akteure/ Gemeinschaften ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr die Sprache ihrer Herkunfts-Gemeinschaft, sondern die Sprache der Einwanderungsbzw. der Mehrheitsgesellschaft sprechen. Siehe u.a. Gal (1979), Daswani (1989) und Fishman (1991). 4 Der Begriff der „doppelten Halbsprachigkeit“ bzw. des „Semilingualismus“ wurde, wie Skutnabb-Kangas (1984, S. 248ff.) ausführt, von Hansegard (1968) geprägt und meint in Bezug auf Migrantenkinder einen sprachlichen Zustand, der sich sowohl durch eine mangelhafte Beherrschung der Sprache der Herkunftsals auch der Einwanderungsgesellschaft auszeichne. Siehe dazu auch Cummins (1984). 2. Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik Die vorliegende Untersuchung ist eine soziolinguistische Arbeit. Theoretischer Bezugspunkt der Studie ist das Konzept des „kommunikativen Sozialstils“, 5 das innerhalb der Soziolinguistik zu den neueren Ansätzen zählt und das bezüglich der zentralen Fragestellung der Disziplin nach Wechselwirkungen zwischen Kultur-, Sozial- und Sprachstruktur weitreichende Erkenntnisse verspricht. Das Forschungsprogramm wurde von Werner Kallmeyer und seinen Mitarbeitern im Laufe der 1990er Jahre am Institut für Deutsche Sprache entwickelt. Sie formulierten den Ansatz zuerst im Rahmen des Projekts „Kommunikation in der Stadt“. 6 In der darauf folgenden Langzeitstudie „Soziostilistik der Kommunikation in Deutschland“ wurde das Konzept empirisch ausgeweitet und theoretisch angereichert. 7 Ein Bestandteil dieser Studie war das Teilprojekt „Deutsch-türkische Sprachvariation und die Herausbildung kommunikativer Stile in dominant türkischen Migrantengruppen“, in dessen Rahmen die vorliegende Arbeit über die „emanzipatorischen Migranten“ entstanden ist. 8 Im betreffenden Projekt wurden 5 Anmerkung zur Schreibweise: Obwohl in der Forschungsliteratur häufiger die Schreibweise „kommunikative soziale Stile“ verwendet wird, werde ich von „kommunikativen Sozialstilen“ sprechen, da meiner Meinung nach diese Schreibweise a) weniger sperrig ist und b) so das Konzept auch begrifflich prägnant von verwandten Ansätzen wie „Gesprächsstil“ oder „Sprechstil“ (siehe zu beiden Ansätzen z.B. Selting/ Sandig 1997) abgegrenzt wird. 6 Beim Stadtprojekt stand die „sozialstilistische Differenzierung zwischen unterschiedlichen sozialen Welten der deutschen Gesellschaft (vom Bildungsbürgertum bis zu den „einfachen Leuten“ aus dem Arbeitermilieu)“ (Keim 2007, S. 211) im Vordergrund. Die wichtigsten Veröffentlichungen zu diesem Projekt sind Kallmeyer (Hg.) (1994), Kallmeyer (Hg.) (1995), Keim (1995) und Schwitalla (1995). 7 Die einzelnen Teilprojekte beschäftigten sich mit a) der Kommunikation in der Arbeitswelt (Schmitt/ Brandau/ Heidtmann 1999; Schmitt 2002), b) dem kommunikativen Handeln gesellschaftlicher Führungskräfte (Spranz-Fogasy 2002, 2003), c) der Kommunikation zwischen den Generationen (Fiehler 1997, 2002), d) der Kommunikation in und über die (neuen) Medien (Schütte 2002; Androutsopoulos 2003) und e) der Kommunikation im Kontext der Migration (u.a. Kallmeyer 2001; Aslan 2005; Cindark 2005; Keim 2007). 8 Das Projekt war zugleich Teil der zwischen 2000 und 2004 von der DFG geförderten Forschergruppe „Sprachvariation als kommunikative Praxis“. Neben der von Kallmeyer/ Keim/ Cindark/ Aslan untersuchten deutsch-türkischen Sprachvariation analysierten andere Teilprojekte der Forschergruppe die Kommunikation italienischer Migranten in Mannheim (Bierbach/ Birken-Silverman 2002; Birken-Silverman 2005), den deutsch-englischen Sprachkontakt (Tracy/ Lattey 2005; Münch 2006; Stolberg i.Dr.), die Sprachvariation in Betrieben Migration, Sprache und Rassismus 16 zwei weitere Sozialwelten der Einwanderer aus der Türkei untersucht: Inken Keim (2007) analysiert den kommunikativen Sozialstil einer Gruppe von türkischstämmigen Mädchen und jungen Frauen, die in einem Mannheimer Stadtteil mit hohem Migrantenanteil leben und sich als „türkische Powergirls“ bezeichnen. Sema Aslan (2005) untersucht das Kommunikations- und Sozialverhalten einer Formation von jungen Erwachsenen, die sich als „akademische Europatürken“ begreifen. In der vorliegenden Arbeit werde ich die Sozialwelt der „Europatürken“ durchgängig als Kontrastmilieu zu meiner Analyse der „emanzipatorischen Migranten“ besprechen. Die Untersuchung der „Powergirls“ werde ich im Schlussteil miteinbeziehen, in dem ich auf einen zentralen Entwicklungs- und Konturierungsaspekt von kommunikativen Sozialstilen im Kontext der Migration eingehen werde. 2.1 Die Definition des kommunikativen Sozialstils Mit dem Konzept der kommunikativen Sozialstile werden Eigenschaften des verbalen und nonverbalen Verhaltens von sozialen Einheiten erfasst, die für ihre kollektive Identität charakteristisch sind. Somit untersucht der Ansatz nicht den Individualstil von Einzelpersonen (an und für sich), sondern primär die kommunikative Praxis von gesellschaftlichen Gruppen. An der kommunikativen Praxis von Individuen werden jene Aspekte als kommunikativer Sozialstil erfasst, die ihre Zugehörigkeit zu sozialen Formationen indizieren. 9 Dieser Stilbegriff ist eng mit dem Forschungsansatz der „Ethnografie der Kommunikation“ (Hymes 1979) verbunden, „wonach die Ausdrucksvariation zwischen verschiedenen Individuen oder Gruppen im Sinne kultureller Unterschiede betrachtet wird“ (Keim 1997, S. 319). 10 Neben dieser Fundierung (Kesselheim/ Thörle 2002; Thörle 2005; Müller 2006), Institutionalisierungsprozesse im Serbokroatischen (Gvozdanovic 2001; Grčević 2001) und jugendkulturelle mediale Stile (Androutsopoulos/ Kraft 2002; Androutsopoulos 2003). 9 Die hier präsentierte Beschreibung des „kommunikativen Sozialstils“ ist eine enge Definition des Konzepts in dem Sinne, dass sie in fokussierter Weise auf das sprachliche und soziale Verhalten von gesellschaftlichen Formationen bezogen wird. Dass das Konzept auch weiter gefasst werden kann, führt Kallmeyer (2001, S. 402) in seiner folgenden Definition aus: „‘Kommunikativer sozialer Stil’ ist durch eine funktionale Hinsicht definiert, unter der das ‘Wie’ der Durchführung von kommunikativen Handlungen betrachtet wird. ‘Sozial’ bedeutet, dass die Stilformen zur sozialen Positionierung der Sprecher entwickelt und eingesetzt werden. Sie sind Mittel der Entfaltung von sozialer Präsenz auf wichtigen Schauplätzen und der politischen bzw. kulturell-politischen Auseinandersetzung, sowohl im alltagsweltlichen als auch im institutionellen Bereich und im öffentlichen Diskurs.“ 10 Das Forschungskonzept der „Ethnografie der Kommunikation“, das Dell Hymes 1962 zunächst als „Ethnografie des Sprechens“ vorgestellt hatte, hat wesentlich zur Konstitution der Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 17 übernimmt die kommunikative Sozialstilistik wesentliche Annahmen des Stilbegriffs, wie er innerhalb der soziolinguistischen Germanistik von der (ethnomethodologisch fundierten) linguistischen Stilistik (Sandig 1986) und der interaktionalen Stilistik (Hinnenkamp/ Selting (Hg.) 1989; Selting/ Sandig 1997) entwickelt wurde. Des Weiteren knüpft das Konzept nach Keim (2007, S. 211) an folgende Forschungen an: [...] an ethnografische Arbeiten, die auf die Untersuchung von kulturellen Stilen ausgerichtet sind (z.B. Heath 1983), an soziologische (Soeffner 1986) und anthropologische Stilkonzepte und die der cultural studies (Irvine 2001; Clarke et al. 1979; Willis 1981), an Gumperz' rhetorische Konzeption von Sprachvariation (1982, 1994), [...] und an den kultursoziologischen Ansatz Bourdieus (1982) zur stilistischen Differenzierung in der Gesellschaft. Dabei sind für die Definition des kommunikativen Sozialstils folgende Aspekte kennzeichnend, auf die ich im Folgenden eingehen möchte: kommunikativer Sozialstil als Ausdruck kollektiver Identitäten, kommunikativer Sozialstil als geprägtes und entwickeltes Verhalten, kommunikativer Sozialstil als interaktives und dynamisches Gebilde, kommunikativer Sozialstil als rekurrente und relationale Kategorie, kommunikativer Sozialstil als holistisches und prototypisches Zeichen. 2.1.1 Kommunikativer Sozialstil als Ausdruck kollektiver Identitäten Allgemein wird unter Stil die Frage nach dem Wie untersucht. In der linguistischen Stilanalyse betrifft das Wie die Art und Weise der Durchführung von kommunikativen Handlungen, Gattungen und sprachlichen Aktivitätstypen oder der Gestaltung von Texten bzw. Textsorten. 11 Dabei wird nicht das alleinige Faktum der Durchführung, sondern deren ganz spezifische Charakteristika als Stil erfasst. In diesem Sinne hält Kallmeyer fest, dass unter Stil über die reine Funktionalität einer Ausführung hinaus eine „Gestaltetheit der Hand- (interpretativen) Soziolinguistik als eigenständige Disziplin beigetragen. Hymes formulierte seinen Ansatz als einen Beitrag zur anthropologischen Linguistik, da sein Hauptziel darin bestand, die Anthropologie, die häufig auf die Bedeutung der Sprache in einzelnen Kulturen hinwies, diese aber nicht explizit untersuchte, und die Linguistik, die in jener Zeit stark einseitig die Grammatik als Forschungsobjekt fokussierte, zusammenzubringen (siehe dazu Hymes 1979, S. 29-42). Siehe unten Anmerkung 59 zu dem von Hymes (1972, S. 59-71) entwickelten Analyseraster SPEAKING , das die einzelnen Komponenten der Gesprächssituation erfasst und das als Kernkonzept der „Ethnografie der Kommunikation“ betrachtet werden kann. 11 Siehe zu den einzelnen Aspekten u.a. Gumperz (1972), Hymes (1974), Sandig (1986), Hinnenkamp/ Selting (Hg.) (1989), Püschel (2001). - - - - - Migration, Sprache und Rassismus 18 lung, eine spezielle expressive Qualität“ (Kallmeyer 1995a, S. 4) verstanden wird. Aufgrund dieser Eigenschaft besitzt die Ausführung einen „symbolisch bedeutsamen Wert“ (ebd.) oder „stilistischen Sinn“ (Sandig 1986, S. 27). Die Frage nach dem Wie, also nach den spezifischen Eigenschaften der Bearbeitung, ist eng mit der Frage nach dem Was verknüpft. So umfasst Stil nach Goodman (1984, S. 42) sowohl „gewisse charakteristische Züge [...] dessen, was gesagt wird, als auch [...] wie es gesagt wird“, also „Merkmale sowohl des Sujets als auch des Wortlauts, des Inhalts und der Form“. Nach Gauger (1995, S. 17) geht die Verschränktheit dieser beiden Aspekte soweit, dass „das Wie nicht immer eindeutig vom Was getrennt werden“ kann. In Bezug auf eine sinnvolle Unterscheidung der beiden Fragen ist es hilfreich, das Was als handlungsfunktionale Anforderung, d.h. als die Aufgabe zu verstehen, die als konstitutiver Impuls für das Wie fungiert. Bei der Frage nach dem Wer, also dem Träger des Stils, fokussieren unterschiedliche linguistische Stilansätze verschiedene Bezugsgrößen. So arbeiten einige Studien z.B. spezifische Kommunikationsweisen von Mädchen vs. Jungen bzw. Frauen vs. Männern heraus, die sie als geschlechtspezifische Stile festhalten (Lakoff 1975, Goodwin/ Goodwin 1987, Tannen 1990). 12 Andere Stilarbeiten untersuchen bei der Frage nach dem Wer Akteure, deren Kommunikationspraktiken mit ihren beruflichen Kontexten (Schmitt 2002, Spranz-Fogasy 2002), ihren jeweiligen Interaktionsrollen (Spiegel 1997) oder regionalen und kulturellen Hintergründen (Tannen 1984) in Bezug gesetzt werden. Der hier präsentierte, kommunikativ-sozialstilistische Ansatz erfasst unter Wer die (verbale und non-verbale) Handlungsweise von Akteuren, womit sie ihre Zugehörigkeit zu und innerhalb von gesellschaftlichen Formationen deutlich machen. 13 Individuen in sozialen Einheiten verfügen im Regelfall über bestimmte Selbstkategorien wie „einfache Leute“ (Keim 1995) oder über Eigenbezeichnungen wie „Europatürken“ (Aslan 2005), mit denen sie ihre (selbstbestimmte) kollektive Identität auf den Punkt bringen. Die kommunikative Sozialstilistik geht davon aus, dass Akteure in Verbindung mit ihrer kollektiven Identität, z.B. als „emanzipatorische Migranten“, charakteristische kommunikative und soziale Züge entwickeln, besitzen oder 12 Zum Zusammenhang von Geschlecht, Sprache und Stil siehe auch die Forschungen zur Sprechweise von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung in Gaudio (1994), Queen (1997), Barrett (1999) und Smyth/ Jacobs/ Rogers (2003). 13 Siehe auch Harms (2008) zum Stil der Grünen-Partei im historischen Wandel und Gätje (2009) zu Aspekten des Gruppenstils der RAF (Rote Armee Fraktion), wobei die beiden Arbeiten nicht die „kommunikative Sozialstilistik“ als theoretischen Ausgangspunkt haben. Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 19 sich aneignen, die den Zusammenhalt der sozialen Einheit nach innen her- und sicherstellen sowie ihre Kommunikation mit der Außenwelt kennzeichnend prägen. Kommunikativ-sozialstilistische Analysen zielen darauf ab, unter den theoretisch unzähligen Ausdrucksebenen der kollektiven Identität, wie z.B. Muster für Sprachvariation, Höflichkeitsregeln, Geselligkeitsformen etc., die für die untersuchte Einheit relevanten Ebenen zu erfassen. Denn nicht jede Ausdrucksebene ist für die kollektive Identität von Formationen, d.h. für ihre charakteristischen Züge, in gleichem Maße bedeutsam. In diesem Sinne spielt die Frage nach dem Was, d.h. welche Ausdrucksformen für die jeweilige soziale Einheit wichtig sind, für sozialstilistische Untersuchungen eine herausragende Rolle. Die Frage nach dem Wie betrifft dann die spezifischen Eigenschaften der Bearbeitung auf den jeweiligen Ausdrucksebenen. 2.1.2 Kommunikativer Sozialstil als geprägtes und entwickeltes Verhalten Das menschliche Sozialverhalten ist einerseits das Ergebnis von frühen sozialen Prägungen. Andererseits wird es in der Sozialisation über Auseinandersetzungen mit der Umwelt auch entwickelt und verändert. Diese beiden Eigenschaften treffen in verdichteter Weise ebenso auf den kommunikativen Sozialstil zu, weshalb er als „sozioökologisch geprägtes und kultiviertes Kommunikationsverhalten“ (Schmitt 2002, S. 115) definiert wird. 14 Die Beziehung zwischen diesen beiden Eigenschaften des Verhaltens und den verschiedenen Formen von sozialen Einheiten (Familien, Cliquen, Freizeitgruppen etc.) ist vielschichtig. Prinzipiell gilt, dass sowohl das Geprägte als auch das Entwickelte in allen Formationen mehr oder weniger zu beobachten ist. Die jeweilige Eigenschaft kann einerseits in bestimmten Entwicklungsphasen von sozialen Einheiten stärker auftreten. Auf der anderen Seite kann in Abhängigkeit vom Charakter der jeweiligen Formation entweder die Prägung oder die Entwicklung von kommunikativen Sozialstilen generell eine größere Rolle spielen. Ich will kurz ausführen, was damit gemeint ist. In der sozialen Wirklichkeit gibt es vielfältige Formen von Vergemeinschaftungsstrukturen. Manche von ihnen existieren über längere Zeiträume, verfügen über eine lange Geschichte und sind an ganz bestimmte Orte gebunden. Als typische Gruppierungen für diese Art der sozialen Formationen können 14 Willems (2003) führt in seinem Aufsatz „Stile, Stilgeneratoren und Stilfunktion“ eine grundlegende Diskussion, die die beiden Eigenschaften des Sozialstils als geprägtes und kultiviertes Verhalten theoretisch beleuchtet und unterstreicht. Des Weiteren ist aus theoretischer Sicht der Aufsatz von Auer (1989) zu „Natürlichkeit und Stil“ von zentraler Bedeutung. Migration, Sprache und Rassismus 20 zum Beispiel tradierte nachbarschaftliche Welten betrachtet werden, die unter anderem mit dem Konzept des „Milieus“ (Hradil 1987; Vester et al. 1993) erfasst werden. In solchen gesellschaftlichen Arrangements erscheint der Sozialstil häufig als „geprägt durch die tiefsitzenden, fest einsozialisierten Prägungen, die für die meisten Gesellschaftsmitglieder fraglos und vielfach auch unbemerkt den Status von selbstverständlichen und stillschweigenden Voraussetzungen haben“ (Kallmeyer 1995a, S. 8). In dieser Hinsicht kommt nach Kallmeyer „Stil geradezu einer natürlichen Einstellung gleich“ (ebd.). 15 Andere gesellschaftliche Formationen entstehen erst neu, verfügen über keine längere Geschichte, sind womöglich von kurzer Lebensdauer und zeichnen sich durch flüchtige Mitgliedschaften aus. Solche Merkmale treffen z.B. auf Vergemeinschaftungspraktiken von Jugendlichen (in städtischen Kontexten) zu, die in der Sozialwissenschaft unter anderem mit dem Konzept der „Szenen“ (Hitzler et al. 2001) erfasst werden. In solchen gesellschaftlichen Formationen kommt der zweite Aspekt stärker zum Vorschein, dass nämlich kommunikative Sozialstile in Auseinandersetzung mit der Umwelt und dem Verhalten der relevanten Anderen erst entwickelt und konturiert werden. 16 Aus 15 Sozialverhalten als „natürliche Einstellung“ wird von Elias (1980, S. 320) als „Gewohnheitsapparaturen“, von Foucault (1976, S. 173) als „Automatik der Gewohnheiten“ und von Bourdieu (1987, S. 98) als „Habitusformen“ bezeichnet. 16 Zum Charakter des Sozialstils als etwas Entwickeltes schreibt Soeffner (1995, S. 83) z.B. in Bezug auf die Kultur der Punks: „Spezifische Erscheinungsform und Inszenierungspraxis von ‘Punk’ als Stil und von ‘Punks’ als Gruppenmitgliedern und Designern dieses Stils sind [...] Ergebnis einer bewußten Stilisierung und eines impliziten, kollektiv geteilten Wissens der Punks darum, welche Details und Elemente eines Symbolsystems ausgewählt und realisiert werden müssen, um die richtige ‘performance’ von ‘Punk’ zu inszenieren“. Ein anderes Beispiel zum Sozialstil als etwas Entwickeltes analysiert Elias (1980, S. 375ff.) in seiner Zivilisationstheorie in Bezug auf die „Höflinge“. Das Konzept der Stilisierung definieren Selting/ Hinnenkamp (1989, S. 9f.) für die interpretative Soziolinguistik folgendermaßen: „‘Stilisierung’ meint die Repräsentation, Induzierung, Inszenierung etc. sozial typisierter und interpretierter Sinnfiguren in der Interaktion. Hierbei sollte zwischen Fremd- und Selbststilisierung differenziert werden. Stilisiert wird immer zu bzw. als etwas: Entweder stilisiert man andere bzw. etwas von anderen als X, oder man bzw. etwas von einem wird als X stilisiert. [...] Im Falle der Selbststilisierung zu etwas präsentiert sich die handelnde Person selbst als subsumierter ‘Fall eines sozialen Typs’, stellt ihre eigenen subjektiven Handlungen in den Rahmen des Interpretationsschemas des sozialen Typs, z.B. ‘des Pechvogels’, ‘des Alternativfreaks’, ‘des Rockers’, ‘des sozialen Aufsteiger’, ‘des Yuppies’, ‘des linken Intellektuellen’, ‘des zerstreuten Professors’, o.ä. Sprachliche Stile sind dabei nur ein Aspekt, der nur analytisch von anderen wichtigen Stilmitteln wie Gestik, Mimik, Haartracht, Kleidung, Vorlieben, Betätigungen, Lebensweise und Kulturformen unterschieden werden kann.“ Ähnlich versteht Günthner (2002, S. 61) unter Stili- Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 21 dieser Betrachtungsweise folgt die Auffassung, unter Sozialstil ein jederzeit vorläufiges Ergebnis der fortlaufenden Auseinandersetzung mit den Bedingungen des sozialen Lebens zu verstehen. In diesem Sinne sind Sozialstile als Strategien zur Bewältigung von Lebensanforderungen aufzufassen. Die zwei Eigenschaften des kommunikativen Sozialstils als geprägtes und entwickeltes Verhalten spielen auch in Bezug auf eine andere Frage eine wichtige Rolle. So wird in der Stilistik allgemein als „notwendige Eigenschaft von Stil die Einheitlichkeit des Ausdrucksverhaltens“ (Kallmeyer 1995a, S. 7) betont. Darunter wird verstanden, dass „über eine Vielfalt von Lebensäußerungen/ Handlungen immer wieder dieselben Eigenschaften der Formung [erscheinen]“ (ebd.). Die Sozialstilistik betrachtet in den tiefsitzenden Prägungen, die auch als „Dispositionen in der Art eines verinnerlichten Habitus“ (ebd., S. 8) erscheinen, und in den Auseinandersetzungen mit der umgebenden Gesellschaft zwei wesentliche Prinzipien, die die Einheitlichkeit generieren. Im Falle der Auseinandersetzungen mit der umgebenden Gesellschaft ist das so zu verstehen, dass es sich dabei um einen Prozess der Stilentwicklung und -abgrenzung handelt, bei dem „Leitbilder sozialen Verhaltens und des angemessenen Ausdrucksverhaltens“ (ebd.) herausgearbeitet werden, die als stilvereinheitlichendes Prinzip fungieren. Die kommunikative Sozialstilistik ist im Gegensatz zu Stilansätzen, die sich an einem vorgegebenen Kanon ausrichten, nicht normativ, sondern deskriptiv. 17 Andererseits sind aber Normaspekte und Leitbilder für die Sozialstilistik von wesentlichem Interesse. Wie Kallmeyer (1995a, S. 4) festhält, „[spielen] für die Ausprägung des eigenen kommunikativen Stils und die Festlegung seiner sozialen Bedeutung gerade auch an Normen und Leitbildern orientierte Diskussionen eine Rolle“. Die in internen Arenen entwickelten und stabilisierten Normen und Leitbilder, die auf externen Arenen zur Positionierung und Abgrenzung gegenüber relevanten Anderen eingesetzt werden, gehören in diesem Sinne explizit zur Untersuchung von kommunikativen Sozialstilen. 18 sierung „eine punktuelle Überhöhung bestimmter Gestaltungsverfahren“ zur Kontextualisierung einer Figur bzw. deren spezifische soziale Orientierung oder kommunikative Handlung. 17 Zu (linguistischen) Ansätzen, die Stil normativ betrachten, siehe u.a. in Sandig (1986, S. 261ff.) und Püschel (2001, S. 564ff.). 18 Zur Ein- und Abgrenzungsfunktion von Stil schreibt Soeffner (1995, S. 81): „Eine Person, die einen Stil produziert, zeigt damit an, daß sie sich in Distanz zu sich selbst und ihrer sozialen Umgebung setzt, d.h., daß sie auch sich selbst beobachtend und interpretierend gegenübertritt. ‘Stil’ wird so zu einem Ausdrucksmittel und zu einer Darstellungsform sozialer Abgrenzung. Er veranschaulicht ‘Mitgliedschaft in ...’ und ‘Abgrenzung von ...’ durch bewußte Präsentation und Stilisierung seines Selbst für interpretierende andere (Beobachter).“ Migration, Sprache und Rassismus 22 2.1.3 Kommunikativer Sozialstil als interaktives und dynamisches Gebilde Aus der Definition von kommunikativen Sozialstilen als entwickeltes Verhalten ergibt sich ihre Eigenschaft als interaktive und dynamische Gebilde. Nach Keim (2009, S. 1661) werden Sozialstile „als sozial und interaktiv bedeutsame Produkte hergestellt und können nach Bedarf auch an situative und interaktionale Erfordernisse angepasst werden“. 19 In diesem Sinne nehmen „Sprecher und Rezipienten [...] an der Herausbildung von Stilen ebenso wie an ihrer Aufrechterhaltung und Veränderung“ (ebd.) teil. So gesehen sind Sozialstile dynamisch, da Akteure von Sozialwelten immer wieder neues Material in ihr kommunikatives und soziales Verhalten inkorporieren und andere Elemente wiederum ablegen (können). Diese dynamische Eigenschaft ist für die Analyse nicht unproblematisch. Denn sie bringt es mit sich, dass für Sozialstile „ein labiles Gleichgewicht charakteristisch“ ist, „zu dem ggf. auch Ambivalenzen [...] gehören“ (Kallmeyer 1995a, S. 10). Somit können Brüche und Widersprüchlichkeiten im kommunikativen Sozialverhalten unter Umständen „der Systematisierung und Einheitlichkeit bei der Beschreibung kommunikativer sozialer Stile Grenzen [setzen]“ (ebd.). Auf der anderen Seite sind aber z.B. Krisensituationen, in denen vermehrt solche Ambivalenzen zu beobachten sind und die sich dadurch auszeichnen, dass die Akteure ihr kommunikatives und soziales Verhalten überdenken bzw. überarbeiten, für die Analyse des kommunikativen Sozialstils ungeheuer produktiv. Denn gerade in solchen Situationen werden Aspekte des kommunikativen Verhaltens von den Akteuren selbst explizit benannt und problematisiert. 2.1.4 Kommunikativer Sozialstil als rekurrente und relationale Kategorie Die prozessuale Eigenschaft von Sozialstilen ist eine Seite der Medaille. Die Kehrseite besteht in ihrer Kontinuität. Diese beiden Merkmale kann man auch als Dynamik und Statik des kommunikativen Sozialstils bezeichnen, die verschiedene Phasen seiner Entwicklung markieren. Während die Dynamik verstärkt in Entstehungs- und Krisensituationen zu beobachten ist, ist die Statik für die Zeiten kennzeichnend, in denen der Sozialstil für seine Träger unproblematisch und stabil ist. Gerade im letzteren Falle erscheinen dann zentrale Aspekte des kommunikativen Sozialstils in verstärktem Maße als ein wiederkehrendes Verhalten, sprich als eine rekurrente Kategorie. Mit anderen Wor- 19 In gleichem Sinne definieren Selting/ Hinnenkamp (1989, S. 5f.) Stil als „sozial und interaktiv interpretiertes Signalisierungsmittel“ bzw. Selting/ Sandig (1997, S. 6) Stil als „aktiv hergestelltes, flexibles, dynamisches, auf den Zuhörer/ Rezipienten in der Situation zugeschnittenes sprachliches Gestaltungsmittel“. Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 23 ten: Je öfter ein Aspekt im kommunikativen Sozialverhalten einer Gruppe zu beobachten ist, desto stärker wird er von den Beteiligten selbst als ein Kernelement ihrer kollektiven Identität wahrgenommen. Um kommunikative Sozialstile analytisch beschreiben zu können, ist diese Phase der Sättigung, d.h. die Zeit, in der Aspekte des Sozialstils als routinisierte Handlungen festzustellen sind, unabdingbar. Solche Routinen sind nach Kallmeyer/ Keim (2003, S. 51) an der „Formulierungsmodalität der Selbstverständlichkeit“ erkennbar. Sie zeigen an, dass gewisse „Handlungsweisen [in einer Sozialwelt, m.A.] präferiert sind, gleichsam die erste Wahl, und ‘spontan’, d.h. schnell und ohne Markierung produziert werden“ (ebd.). Neben der Eigenschaft, dass zentrale Aspekte des kommunikativen Sozialstils rekurrent sind, wird in der Forschung vielfach betont, dass Stil immer eine relationale Kategorie ist. Mit anderen Worten: Es können nur in der kontrastiven Betrachtung von Einzelstilen ihre jeweiligen Kerne und Konturen genau erfasst und nachgezeichnet werden. Aus der Sicht der kommunikativen Sozialstilistik hält Kallmeyer (1995a, S. 6) diesbezüglich fest: Stil als eine spezifisch geprägte Art und Weise, sprachlich zu handeln und Texte zu formulieren, wird in der Regel erst durch Stilunterschiede erkennbar, z.B. durch die stilistische Variation innerhalb einer Gemeinschaft oder durch den Unterschied zwischen Normalformen kommunikativen Verhaltens in verschiedenen Gemeinschaften. 20 So hebt auch Levinson (1988, S. 162) hervor, dass Stil explizit, aber öfter noch in impliziter Weise, ein komparatives Konzept ist. 21 Die relationale Eigenschaft von Sozialstilen ist nicht nur aus analytischer Sicht wichtig. Auch für 20 In dem Sinne, dass die Stilforschung das Besondere des untersuchten Gegenstands einerseits durch intensive Einzelfallanalye und andererseits durch kontrastive Studien herausarbeitet, gehört sie zu den wissenschaftlichen Disziplinen, für die die Kombination einer „emischen“ und „etischen“ Forschungsperspektive konstitutiv ist. Pike (1967, S. 37) definiert diese beiden Perspektiven wie folgt: „The etic viewpoint studies behavior as from outside of a particular system, and as an essential initial approach to an alien system. The emic viewpoint results from studying behavior as from inside the system. (I coined the words etic and emic from the words phonetic and phonemic, following the conventional linguistic usage of these latter terms. The short terms are used in an analogous manner, but for more general purposes.) [...] The etic approach treats all cultures or languages - or a selected group of them - at one time. It might well be called ‘comparative’ in the anthropological sense [...]. The emic approach is, on the contrary, culturally specific, applied to one language or culture at a time“. 21 Zur Kontrastivität von Stilen schreibt Irvine (2001, S. 22): „Whatever ‘styles’ are, in language or elsewhere, they are part of a system of distinction. In which a style contrasts with other social possible styles, and the social meaning signified by the style contrasts with other social meanings. Perhaps this point will seem obvious. Yet, it corollary has sometimes been overlooked: namely, that it is seldom useful to examine a single style in isolation.“ Migration, Sprache und Rassismus 24 ihre Träger ist es stets von großer Bedeutung, den eigenen Stil zu kontrastieren. Dies geschieht in Kontakt und Auseinandersetzung mit Trägern anderer Sozialstile, wobei eigene stilistische Züge mit relevanten anderen Stilen verglichen und gegebenenfalls hinterfragt und moduliert werden. 2.1.5 Kommunikativer Sozialstil als holistisches und prototypisches Hyperzeichen In der linguistischen und interaktionalen Stilistik werden Stile als „holistische kommunikative Zeichen“ (Selting/ Hinnenkamp 1989, S. 6) beschrieben, die „aus unterschiedlichen linguistischen Subsystemen zu Merkmalsbündeln“ (Selting 1997, S. 14) kombiniert werden. 22 Mit anderen Worten stellen sprachliche Ressourcen aus verschiedenen Bereichen wie Syntax, Prosodie, Rhetorik etc. zusammen die ganzheitliche Gestalt eines linguistischen Stils dar, der als solcher auf „interpretative Konzepte oder Interpretationsrahmen [verweist]“ (ebd., S. 13). Mit der Definition von Stilen als ganzheitlichem Zeichenkomplex reagiert die interaktionale Stilistik auf soziolinguistische Ansätze, wie etwa auf den von William Labov (1966), welche Stile nur an Merkmalen einer Ausdrucksebene festmachen. 23 Die holistische Definition teilt auch die kommunikative Sozialstilistik, indem sie Stil ebenfalls als das Zusammenspiel von vielen unterschiedlichen Ausdrucksmitteln betrachtet. Als solches stellt es ein System von zusammenhängenden Präferenzen dar. Im Gegensatz zur linguistischen Stilistik versteht aber die kommunikative Sozialstilistik neben den sprachlichen Ebenen auch nicht-sprachliche Ausdrucksformen wie Geschmacksmanifestationen (für Kleidung, Musik etc.) als stilrelevant. 24 Diese Perspektive verbindet sie mit kulturwissenschaftlichen und anthropologischen Ansätzen (Willis 1981) zu sozialem Stil und mit dem soziologischen Ansatz von Bourdieu (1982), der kulturelle Präferenzen als wesentliche Artikulation sozialer Unterschiede betrachtet. 25 22 Zur Bestimmung des Stils als eine holistische Kategorie siehe auch Sandig (1990) und Fix (1992). 23 Siehe dazu Selting/ Hinnenkamp (1989, S. 2) und Auer (2007, S. 11). 24 So notiert auch Auer (2007, S. 12): „It is generally assumed that social-communicative styles, in addition to language choice and linguistic variation in a narrow sense, include prosodic patterns, but also verbal practices of categorisation, pragmatic patterns such as politeness, preferences for specific communicative genres, rhetorical practices, etc. Often, the notion of social style is also taken to include embodied features of verbal and nonverbal actions (voice quality, facial expressions, gesture, ‘expressive body language’) as well as aesthetic choices (‘taste’) in appearance, clothes, etc.“ 25 In Bezug auf die Verbindung zwischen der kommunikativen Sozialstilistik und dem Stilansatz von Bourdieu weist Kallmeyer (2001, S. 420) aber auch darauf hin, dass „Bourdieus Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 25 Nach Kallmeyer (1995a, S. 6) besteht ein weiterer Unterschied zwischen der Sozialstilistik und anderen Stilansätzen darin, dass „[h]olistisch orientierte Stiluntersuchungen nicht zwangsläufig Gesamtbilder von sozialen Stilen“ liefern. Daher wird hervorgehoben, dass aus der „Gesamtwahrnehmung (z.B. in der Art ethnografischer Beobachtungen) Schlüsselphänomene für die systematische Analyse gewonnen werden“ (ebd.) müssen. Die Sozialstilistik schreibt insbesondere den Eigenschaften des Ausdrucksverhaltens einen Schlüsselcharakter zu, die für die Selbst- und Fremdwahrnehmung des kommunikativen Verhaltens wichtig sind. 26 Die Schlüsselkategorien sind für die Analyse der kommunikativen Sozialstile von zentraler Bedeutung, da sie die Kerne der jeweiligen Sozialstile darstellen. Nach dieser Vorstellung sind Stile „prototypisch organisiert, d.h. sie werden um Kernbzw. Leitphänomene herum aufgebaut und haben unscharfe Grenzen“ (Keim 2009). Diese Vorstellung von Prototypen beruht auf der Theorie von Rosch (1975). Insbesondere zwei Thesen Roschs sind für den sozialstilistischen Ansatz von besonderer Relevanz: die These zur internen Kategorienstruktur und die These zum Status der Kategorienmerkmale (Rosch nach Mangasser-Wahl 2000, S. 92ff.). Nach der ersten These gibt es bessere und schlechtere Vertreter einer Kategorie, nach der zweiten gibt es wichtige und weniger bedeutsame kategoriendefinierende Merkmale. So sind kommunikative Sozialstile in dem Sinne prototypisch, dass sich bestimmte Vertreter einer Kategorie (oder Ausdrucksebene) als besonders repräsentativ einstufen lassen, da sie in verdichteter Weise die relevanten Merkmale bündeln. Andere wiederum sind als weniger relevante Vertreter einer Kategorie bzw. als Grenzfälle von Prototypen zu betrachten, da sie sich durch weniger wichtige kategoriendefinierende Merkmale auszeichnen. 27 Konzeption des sprachlichen Marktes, auf dem der Wert des symbolischen Kapitals der Sprachformen erfahren und eingesetzt wird, in seiner Grundlage makrostrukturell orientiert [ist] und vor allem die Reproduktion der gesellschaftlichen Hierarchie [erfasst]. Es ist zumindest fraglich, ob die Theorie in vergleichbarer Weise gestattet, schnelle Wandlungsprozesse sozio-stilistischer Art, deren Verlauf oft überraschend erscheint, angemessen abzubilden. Es spricht viel dafür, dass in dieser Hinsicht eine mesostrukturelle Theorie sozialer Prozesse wie die Theorie der sozialen Welten überlegen ist“. Zur Theorie der Sozialwelten von Strauss (1993) siehe Abschnitt 2.2. 26 Zur Konzeption und Bedeutung von Schlüsselkategorien im Rahmen der „grounded theory“ siehe insbesondere Strauss (1991, S. 65ff.). 27 Prototypikalität einer Kategorie bildet sich durch kulturell bedingte Frequenzialität und Relevanz heraus. Des Weiteren zeigen Rosch/ Mervis (1975) in einer Studie, dass Begriffe/ Kategorien nicht (nur) taxonomisch, d.h. in der Abgrenzbarkeit gegenüber anderen Kategorien, sondern als prototypische Substanz, den klaren und eindeutigen Fällen, im mensch- Migration, Sprache und Rassismus 26 2.1.6 Ausdrucksebenen des kommunikativen Sozialstils Der kommunikative Sozialstil manifestiert sich auf verschiedenen Ausdrucksebenen. Diesbezüglich berücksichtigen die bisherigen sozialstilistischen Forschungsarbeiten „Darstellungsformen und Ausdrucksweisen auf allen Ebenen und Dimensionen des Handelns [...], um die Einheitlichkeit des stilistischen Ausdrucks zu erfassen“ (Keim/ Schütte 2002, S. 14). Anschließend an anthropologische und soziolinguistische Studien zu Ausdrucksformen von Gruppen, Kulturen und Sozialwelten werden dabei vor allem folgende Aspekte des (Kommunikations-)Verhaltens als sozialstilistisch relevant eingestuft: Regeln des Sprechens In jeder sozialen Einheit herrschen gewisse Regeln des Sprechens vor, die vielfältige Belange ihrer Binnen- und Außenkommunikation betreffen. 28 In der gruppeninternen Kommunikation ist diesbezüglich von Interesse, wie etwa die Rederechtsverteilung geregelt ist, welche Themen wie relevant gesetzt, welche Geselligkeitsformen präferiert, welche Formen des Respekts, der Wertschätzung und der Höflichkeit befolgt und wie Probleme und Konflikte behandelt werden. 29 Des Weiteren ist es bedeutsam, welche Rolle bei der Durchführung dieser Aspekte Interaktionsmodalitäten, kommunikative Gattungen und sprachliche Formeln bzw. Stereotype spielen. lichen Gehirn gespeichert sind. Nach Rosch ist ein Prototyp ein konkreter Vertreter einer Kategorie (der als besonders typisch empfunden wird) und kein abstraktes Merkmalsbündel. Er ist somit der klarste Fall von allen Kategorienmitgliedern, dessen Merkmale aber nicht gleichzeitig bei sämtlichen Vertretern vorhanden sein müssen. Zur ethnografisch-gesprächsanalytischen Untersuchung von sozialen Kategorien anhand der Prototypentheorie siehe auch Schilling (2001, S. 131ff.). Zur Kritik des Ansatzes bzgl. der Unterschiedlichkeit der Charakteristika, die den Prototypen ausmachen und der Schwierigkeit, Vertreter einer Kategorie nach ihrer Priorität zu ordnen, siehe z.B. Aitchison (1987, S. 60). 28 Die „Regeln des Sprechens“ gehen auf die linguistisch-anthropologischen Arbeiten von Dell Hymes zurück, der die „ways of speaking“ als „Verbindungsmomente“ betrachtet, „mit denen die Gemeinschaftsmitglieder bestimmte Situationen und Settings mit spezifischen Formen der Sprachverwendung korrelieren“ (Müller 2002, S. 85). Hymes (1972, S. 58) selbst notiert dazu: „Ways of speaking is used as the most general, indeed, as a primitive term. The point of it is the regulative idea that the communicative behavior within a community is analyzable in terms of determinate ways of speaking, that the communicative competence of persons comprises in part a knowledge of determinate ways of speaking.“ Zur Übersetzung des Ausdrucks ins Deutsche sei angemerkt, dass z.B. Dittmar (1997, S. 82) die „ways of speaking“ nicht als „Regeln“ sondern „Spielarten des Sprechens“ wiedergibt. 29 Zur Analyse von Formen der Problembearbeitung und Kritikformulierung bei den „emanzipatorischen Migranten“ im sozialstilistischen Vergleich mit den jugendlichen türkischen „Powergirls“ siehe Keim/ Cindark (2002) und zu Begrüßungssequenzen bei den „Unmündigen“ siehe Cindark (i.Vorb. a). - Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 27 Exkurs: Sozialstilistische Bedeutung von kommunikativen Gattungen Zur Verdeutlichung der sozialstilistischen Relevanz von kommunikativen Gattungen zitiere ich im Folgenden aus Tertilt (1996), der in seiner Ethnografie der Frankfurter „Turkish Powerboys“ einen sehr interessanten Fall beschreibt, den er „Beleidigungsduelle“ nennt: In der Bande entwickelten sich die Wortgefechte aus völlig bedeutungslosen Momenten heraus und waren normalerweise nicht Ausdruck von Feindseligkeiten. Meist wurde ein solches Rededuell bei der Begrüßung zwischen zwei Freunden oder einfach beim gemeinsamen „Abhängen“ begonnen, indem einer einem anderen ein Schimpfwort zuwarf. Gängig waren dabei Tierbezeichnungen wie „ayı“ (Bär), „inek“ (Kuh), „it oğlu it“ (Hundesohn) oder „eşek oğlu eşek“ (Eselssohn). [...] Die Erwiderung auf einen solchen Angriff, der niemals in Anwesenheit eines Erwachsenen oder in Anwesenheit von Mädchen geschehen durfte, unterlag strengen Regeln. Erstens mußte sich die Antwort auf die vorausgegangene Beleidigung reimen. Zweitens musste [auch] jede [weitere, m.A.] längere Redeattacke in Reimform vorgetragen werden. Drittens mußte sie inhaltlich zum Ziel haben, den Gegner in die Position des „ibne“ [Schwuler, m.A.] zu versetzen und seinen Anus mit einem mächtigen und aggressiven Phallus zu bedrohen. Die Jugendlichen bedienten sich bei ihren Beleidigungsattacken mündlich überlieferter gereimter Redewendungen [im Türkischen, m.A.] [...]. Es gab ein ganzes Repertoire von angeblich über 100 Duellierungssprüchen. (ebd., S. 199) Dass diese Beleidigungsduelle, die in der betreffenden Sozialwelt als „besonderer Ausdruck von Männlichkeit [...] sehr beliebt [waren]“ (ebd., S. 198), jedoch in den hier untersuchten Milieus der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“ nie vorkommen, unterstreicht die stilistische Bedeutung einzelner kommunikativer Gattungen in den verschiedenen Formationen. 30 Neben den oben genannten binnenkommunikativen Regeln der Kommunikation, die soziale Einheiten bei der Regulierung ihres alltäglichen Umgangs miteinander entwickeln/ pflegen, ist von sozialstilistischer Relevanz, welchen Regeln des Sprechens sie im Umgang mit Außenstehenden folgen. In der vorliegenden Studie untersuche ich diesbezüglich die Bearbeitungsweisen der „emanzipatorischen Migranten“ von ethnischer Diskriminierung, die das zentrale Thema der Sozialwelt bzw. den Kern ihres kommunikativen Sozialstils in der Binnen- und Außenkommunikation darstellen. Sprachorientierung, -lagen und -variation Während bei der Untersuchung der verschiedenen Regeln des Sprechens die Sprache der Beteiligten als Mittel zur Durchführung von Aufgaben/ Aktivi- 30 Ausführlich wird die Struktur und Strategie dieses Rituals unter türkischen Jugendlichen zum ersten Mal von Dundes/ Leach/ Özkök (1972) analysiert. - Migration, Sprache und Rassismus 28 täten fokussiert wird, ist für sozialstilistische Studien ebenso zentral, die Sprache der Beteiligten selbst zu analysieren. Mit anderen Worten untersucht die kommunikative Sozialstilistik das linguistische Repertoire von sozialen Einheiten in dem Sinne, wie die „Beteiligten mit ihren sprachlichen Ressourcen (Standard, Dialekt, Mehrsprachigkeit [...])“ (Kallmeyer 2004, S. 52) umgehen. 31 Dabei ist neben der Frage, welche Sprachlagen und Variationsformen in der kommunikativen Praxis verwendet werden, ebenso wichtig, welche anderen innerhalb der sozialen Einheit dispräferiert sind. So werden wir in Kapitel 7 zur Sprachvariation sehen, dass die „emanzipatorischen Migranten“ das sprachliche Alternieren zwischen Deutsch und Türkisch als einen wichtigen Ausdruck ihrer migrantischen Identität betrachten, während die „akademischen Europatürken“ deutsch-türkische Sprachalternationen als Ausdruck von „doppelter Halbsprachigkeit“ verstehen, was nicht zu ihrem Selbstbild als „akademische Elite“ passt und deshalb von ihnen dispräferiert wird. Soziale Kategorien bzw. Kategorisierungen Jede soziale Einheit entwickelt und verfügt über ein System von sozialen Kategorien, anhand dessen sie sich und die für sie relevanten Anderen ein- und zuordnet (Selbst- und Fremddefinition). Je nach Beschaffenheit der sozialen Einheit kann dieses System mehr oder weniger komplex ausfallen. In jedem Fall ermöglicht die Analyse der sozialen Kategorien bzw. der interaktiven Kategorisierungen eine Rekonstruktion der soziosemantischen Sinnwelt einer Gruppe oder eines Milieus in dem Sinne, dass sie „einen wichtigen Ausschnitt des Sozialwortschatzes [liefert] und ein semantisch-lexikalisches Orientierungsgerüst [bildet]“ (Kallmeyer 2004, S. 52). Ich werde in der vorliegenden Studie diese Ausdrucksebene nicht fokussiert berücksichtigen, da das Datenmaterial zu den „Europatürken“ nicht so umfangreich ist, als dass es mir einen sozialstilistischen Vergleich mit den „emanzipatorischen Migranten“ ermöglicht hätte. 32 Zum System der sozialen Kategorien der „emanzipatorischen Migranten“ kann ich an dieser Stelle kurz anmerken, dass es insbesondere in Bezug auf die Kategorisierung der Migranten sehr ausdifferenziert ist. Als Selbstbezeichnungen greifen sie je nach Kontext auf die Kategorien „Migrant“, „Schwarzköpfe“, „Kanaken“, „Inländer“, „Unmündige“ (vs. „Ausländer“), „Deutsche“/ „neue Deutsche“/ „politisch Deutsche“ (vs. „ethnisch Deutsche“) 31 In Bezug auf das sprachliche Handeln ist es weiterhin wichtig zu analysieren, wie die verbalen Ressourcen bei der „Äußerungsstrukturierung, Interaktionsorganisation und vor allem zur Symbolisierung sozialer Eigenschaften“ (Keim 2009, S. 1662f.) eingesetzt werden. 32 Mit „Nicht-Berücksichtigen“ meine ich lediglich, dass die sozialen Kategorien/ Kategorisierungen nicht systematisch beschrieben werden. In den empirischen Analysen werden soziale Kategorien wie „Ausländer“ oder „Migrant“ dennoch eine zentrale Rolle spielen. - Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 29 oder „Almancı“ 33 zurück. Vertreter der „Europatürken“ werden von ihnen entweder als „Elite“ bzw. „Möchtegern-Elite“ oder als „Botschafter“ bezeichnet. Ihre Elterngeneration kategorisieren sie in der Regel als „erste Generation“ (vs. „Gastarbeiter“). Geschmack und Proxemik Soziale Einheiten unterscheiden sich im Wesentlichen auch dadurch, welchen ästhetischen Geschmackspräferenzen sie folgen. Die Vorliebe für bestimmte Kleidung, Filme, Musikrichtungen, Literatur, Sportarten, Autos, Wohnungseinrichtungen etc. ist für viele Gruppen/ Welten von so zentraler Bedeutung, dass sie für ihre Entstehung und Existenz oftmals konstitutiv ist. In ähnlichem Sinne gehört auch „die Ausprägung bestimmter gestischer und proxemischer Besonderheiten“ (Keim 2009) zu wesentlichen Identitätseigenschaften von vielen kulturellen und sozialen Gruppen. 34 In der vorliegenden Arbeit werde ich lediglich die sprachlichen und kommunikativen Ausdrucksebenen analysieren und Aspekte des Geschmacks und der Proxemik ausblenden. Dies hat vor allem den Grund, dass diese Ebenen im Vergleich der beiden Sozialwelten der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“ keine konstitutiven Unterschiede aufweisen. 35 33 Die Bezeichnung „Almancı“ ist eine Kreation der Türkeitürken für die in Deutschland/ Europa lebenden Migranten aus der Türkei und wird gewöhnlich mit „Deutschländer“ übersetzt. Das Wort ist eine Synthese aus „Alman“ (Deutscher) und „Yabancı“ (Fremder) und könnte demnach auch mit „Fremddeutscher“ übersetzt werden. Der Begriff wird von den Türkeitürken (oftmals) abfällig gebraucht. Die „emanzipatorischen Migranten“ verwenden ihn häufig offensiv und mit Stolz, während die „akademischen Europatürken“ ihn für sich als Selbstbezeichnung strikt ablehnen. 34 Zu Geschmack und Stil siehe z.B. Willis (1991) zu Medien (Fernsehen, Filme, Zeitschriften etc.) und Stil (ebd., S. 47-78) bzw. Kleidung/ Frisuren und Stil (ebd., S. 107-122). Siehe auch Branner (2003) zur zentralen Bedeutung von Mode/ Kleidung als Gesprächsthemen in einer Gruppe von adoleszenten (deutschen) Mittelschichtmädchen. Zu Proxemik und Stil siehe z.B. in Willis (1981, S. 43) die Ausführungen zur Körperlichkeit bzw. Bewegung der „Rocker“: „Diesen Stil [der Rocker, m.A.] bzw. dieses Ambiente von Männlichkeit faßt teilweise die Vorstellung vom ‘Sich-unter-Kontrolle-Haben’, d.h., daß man sich schnell und voll Selbstvertrauen in einer sehr körperlichen, sogar einschüchternden, praktischen Welt bewegt. Häufig wurde von einer Respektperson gesagt: ‘Er hat sich unter Kontrolle.’ Einerseits hieß das die Fähigkeit oder potentielle Fähigkeit, sich in einer realen Kampfsituation ‘unter Kontrolle zu haben’. Andererseits entfaltete sich eben diese Neigung zur Körperlichkeit symbolisch in eine Art rauhe Bonhomie. Die interpersonellen Beziehungen der Motorrad-Jungs waren mit recht viel Körperkontakt verbunden. Bewegung und das Vertrauen in Bewegung, das war der Schlüssel zu ihrem Stil.“ 35 In Cindark (2005, S. 305) weise ich zwar darauf hin, dass bei öffentlichen bzw. festlichen Veranstaltungen die „Europatürken“ tendenziell „in Abendgarderobe und Anzug“ erschei- - Migration, Sprache und Rassismus 30 Mit Keim/ Schütte (2002, S. 15) ist es an dieser Stelle wichtig, abschließend zu betonen, dass die ausgeführten „Ebenen des Ausdrucksverhaltens Ressourcen [angeben], die für die Stilbildung genutzt werden (können)“. Mit anderen Worten: Es sind nicht alle Ausdrucksebenen in gleichem Maße für diverse soziale Einheiten wichtig. So können in der einen Sozialwelt Präferenzen für Kleidungsstile besonders wichtig in dem Sinne sein, dass sie auch häufig Gegenstand der gruppeninternen Kommunikation sind, während dieser Aspekt in einer anderen Sozialwelt eher eine untergeordnete Rolle spielt - was nicht bedeutet, dass er gänzlich unwichtig ist. Deshalb besteht für sozialstilistische Studien die wesentliche Aufgabe darin, in der Analyse die Ausdrucksebenen zu erfassen, die für den kommunikativen und sozialen Stil der untersuchten Einheit in ausgesprochener Weise relevant sind. 2.2 Sozialwissenschaftliche Grundlage: Das Konzept der Sozialwelten/ Arenen Eine zentrale methodisch/ methodologische Frage für soziolinguistische Forschungen ist, mit welchen sozialen Strukturen die untersuchte sprachliche Wirklichkeit in Verbindung gebracht wird. Mit anderen Worten benötigt mehr oder weniger jede soziolinguistische Studie ein sozialwissenschaftliches Konzept, mit dem sie die soziale Wirklichkeit erfasst, und das ihrer Meinung nach sprachliche und kommunikative Aspekte der Untersuchten in hohem Maße beeinflusst. Diesbezüglich wurden und werden in der Soziolinguistik verschiedene sozialwissenschaftliche Konzepte relevant gesetzt; wie das Klassenbzw. Schichtenmodell (Bernstein 1975), die Netzwerktheorie (Milroy 1980; Wei 1994) oder das Gruppenkonzept (Gätje 2009). 36 Die kommunikative Sozialstilistik greift als sozialwissenschaftliches Konzept auf die Theorie der „Sozialwelten/ Arenen“ von Anselm Strauss, einem der wichtigsten Vertreter des symbolischen Interaktionismus, 37 zurück. Das Konnen und die „emanzipatorischen Migranten“ in „legerer Alltagsbekleidung“, jedoch sind diese Unterschiede im Kleidungsstil der beiden Sozialwelten nicht von kategorischer, sondern gradueller Bedeutung, weshalb ich an dieser Stelle nicht näher darauf eingehe. 36 In den Sozialwissenschaften existieren selbstverständlich noch weitere Konzepte zur Erfassung von diversen Vergemeinschaftungsstrukturen. An dieser Stelle seien nur noch die beiden Konzepte der „Szenen“ (Irwin 1977, Schulze 1992, Hitzler/ Bucher/ Niederbacher 2001, Pfadenhauer 2005) und „Communities of practice“ (Lave/ Wenger 1991, Wenger 1998) erwähnt, da diese prinzipiell mit dem kommunikativ-sozialstilistischen Ansatz kompatibel sind. 37 Der symbolische Interaktionismus wird neben der Ethnomethodologie, der Wissenssoziologie, der phänomenologischen Sozialtheorie und der objektiven Hermeneutik zu den interpretativen Ansätzen in der Soziologie gezählt (Schütze 1987, S. 520). Die Betonung des symbolischen Interaktionismus, der sich aus der Chicagoer Schule der Soziologie ent- Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 31 zept ist ein wesentlicher Baustein von Strauss' interaktionistischer Handlungstheorie, die darauf abzielt, Prozesse in modernen Gesellschaften theoretisch und empirisch adäquat zu erfassen. 38 Darin betont Strauss vor allem zwei Merkmale, die insbesondere für gegenwärtige Gesellschaften charakteristisch sind. Zum einen hebt er die Tendenz des steten Wandels hervor: [W]e are confronting a universe marked by tremendous fluidity; it won't and can't stand still. It is a universe where fragmentation, splintering, and disappearance are the mirror images of appearance, emergence, and coalescence. This is a universe where nothing is strictly determined. Its phenomena should be partly determinable via naturalistic analysis, including the phenomenon of men [and women] participating in the construction of the structures which shape their lives. (Strauss 1993, S. 211) Nach dieser Feststellung ist (gegenwärtig) der Wandel das Normale und die Ordnung das Besondere. Nichts befindet sich im Stillstand oder ist strikt determiniert. Strauss' Diagnose wird verständlich, wenn man sich etwa die Veränderungen in den westlichen Gesellschaften vor Augen führt, die sich in den letzten zwei Jahrhunderten ergeben haben. Innerhalb eines so kurzen Zeitraums - relativ im Gegensatz zu Veränderungsprozessen in früheren Phasen der Menschheitsgeschichte - haben sich Länder von ehemals feudalen Gesellschaften, über Industriezu Dienstleistungsgesellschaften entwickelt. Soziologische Konzepte wie „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992) oder „Wissensgesellschaft“ (Bittlingmayer 2001; Burke 2005) reflektieren diese Prozesse in der gegenwärtigen Zeit. Das zweite Merkmal gegenwärtiger Gesellschaften leitet Strauss aus ihrer fluiden Eigenschaft ab, die er auf die Ebene der einzelnen Akteure bezieht. Sehr viel stärker als in früheren Epochen sind einzelne Gesellschaftsmitglieder in vielen verschiedenartigen Gruppen, Organisationen, sozialen Formationen, kurzum in vielen verschiedenen Sozialwelten zu Hause. Ein Akteur kann als Kfz-Mechaniker, Fan eines Fußballvereins, Maler, politisch engagierter Migrant und Elternbeirat in vielen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wickelte, liegt auf der „Geschöpftheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch interaktiv aufeinander bezogene Handlungsabläufe der Gesellschaftsmitglieder“, die „grundlegend durch sprachliche Kommunikation und darüber hinaus auch durch den Austausch außersprachlicher Symbole geleistet wird“ (ebd.). 38 Zur Entwicklung und den wesentlichen Aspekten der interaktionistischen Handlungstheorie von Strauss siehe u.a. Corbin (1991), die einen theoretischen Überblick über Strauss' wissenschaftlichen Werdegang und Forschungskonzepte liefert. Eine sehr lebendige Darstellung dieser Aspekte findet sich auch in der Wiedergabe des Gesprächs zwischen Strauss und Legewie/ Schervier-Legewie (2004). Migration, Sprache und Rassismus 32 gleichzeitig involviert sein. Strauss bezeichnet dieses vielfältige Eingebundensein der Akteure in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen als multiple Mitgliedschaften. Dabei kann die Intensität der Involviertheit des Einzelnen von sehr stark bis peripher ausfallen: [W]e all have multiple memberships. Since memberships can vary in intensity of commitment from very intense (virtually total absorption) to very peripheral (barely involved), in many social worlds there is a core of highly involved people but also marginal participants. (Strauss 1993, S. 213) 2.2.1 Sozialwelten Das Konzept der Sozialwelten 39 ist, wie Schütze (2002, S. 62) ausführt, „schon in den einschlägigen ethnografischen Chicago-Monografien der Zwanzigerjahre [des 20. Jahrhunderts, m.A.] verwendet worden“. In diesen Arbeiten wurde es auf relativ geschlossene städtische Wohngebiete sowie auf den Bereich der Organisation von Freizeitaktivitäten (Cressey 1972 [1932]) und auf die funktional differenzierten Aktivitäten in der Berufswelt (Hughes 1928) bezogen. In all diesen Fällen wurde unter Sozialwelt „der Gesichtspunkt der Entstehung einer gemeinsamen Kultur mit Wir-Bewusstsein und eines gemeinsamen Orientierungszentrums für die Pflege sozialweltspezifischer, einschlägiger Aktivitäten“ (Schütze 2002, S. 63) verstanden. Wie Strauss (1978a, S. 119) herausstellt, wurde dabei der Terminus eher „sporadically, sometimes descriptively [...], rarely conceptually“ verwendet. Strauss' Verdienst ist es - an Shibutani (1955) anschließend - das Konzept theoretisiert, systematisiert und in den Mittelpunkt der sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse gestellt zu haben. 40 Das Konzept von Sozialwelten/ Arenen legt Strauss als dynamisches Gebilde an, mit dem die fluiden gesellschaftlichen Prozesse analysiert werden (können). Dadurch erreicht er einerseits eine viel adäquatere Erfassung der Prozesse in der sozialen Wirklichkeit, als dies mit solch relativ starren Konzepten wie die der Organisation oder Gruppe möglich wäre. Andererseits gelingt es 39 In der Forschungsliteratur wird die Bezeichnung „Sozialwelt“ sowohl zusammen als auch getrennt geschrieben. Da aber die getrennte Schreibweise auch dann oft gebraucht wird, wenn man sich nicht explizit auf das von Strauss entwickelte Konzept bezieht, verwende ich aus Eindeutigkeitsgründen die zusammengesetzte Schreibweise. 40 Strauss (1978a, S. 119) führt aus, dass Shibutani die kollektiven und kommunikativen Aspekte von Gruppen als Sozialwelten hervorhob und zwar in dem Sinne, dass sie a) ein Universum von geregelten und aufeinander bezogenen Handlungen darstellen, b) eine irgendwie organisierte Arena sind und c) ein kulturelles Gebiet umfassen, dessen Grenzen weder durch Territorien, noch durch formale Mitgliedschaften, sondern durch die Bedingungen effektiver Kommunikation festgelegt sind. Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 33 Strauss, mit seinem Ansatz den in den Sozialwissenschaften oftmals konstruierten Dualismus zwischen Makro- und Mikroansätzen (Gesellschaft vs. Akteur) in einer Theorie integrativ zu überwinden. 41 Sozialwelten stellen nach Strauss die Moleküle des sozialen Lebens und Wandels dar. Strauss knüpft mit seinem Konzept explizit an Alltagskonzepte an, wenn er feststellt: „there are countless discernible worlds: those of opera, baseball, surfing, stamp collecting, country music, homosexuality, politics, medicine, law, mathematics, science, Catholicism“ (Strauss 1978a, S. 121). Strauss' Ausgangspunkt ist, dass Menschen in allen möglichen Lebensbereichen zusammenkommen, um etwas gemeinsam zu tun bzw. ein Thema oder Problem gemeinsam zu bearbeiten. Diesen Aktivitäten räumt er einen zentralen Stellenwert bei der Definition von Sozialwelten ein: „In each social world, at least one primary activity (along with related clusters of activities) is strikingly evident; i.e., climbing mountains, researching, collecting“ (ebd., S. 122). In diesem Sinne bezeichnet Schütze (1987, S. 540) Sozialwelten als „auf ein Orientierungszentrum hin ausgerichtete Beziehungs-, Interaktions- und Kommunikationsgeflechte, innerhalb derer die Akteure zentrale Problembestände durch die Abwicklung von Kernaktivitäten bearbeiten“. Eine andere prägnante Definition von Sozialwelten formuliert Kallmeyer (1995a, S. 19): [Das Konzept der Sozialwelten] basiert darauf, daß eine Menge von Individuen zur Bearbeitung sozialer Bedürfnisse kooperiert; die problembezogenen Aktivitäten, die einen situationsübergreifenden „Arbeitsbogen“ bilden, motivieren den Aufbau von Netzwerken, die Rekrutierung von Mitarbeitern, die Beschaffung von Ressourcen, die Einrichtung von internen und externen Arenen für die Auseinandersetzung um Ressourcen, Normdebatten und Selbstdarstellung, die Ausbildung von Verhaltensstilen (insbesondere von modellhaften, besonders erfolgreichen Verhaltensweisen) und die Entwicklung eines spezifischen Sinnsystems (Normen, Kategorien für erfolgreiches, richtiges Handeln). Als Interaktions- und Kommunikationsgeflechte können einzelne Sozialwelten zum Teil sehr unterschiedliche Formen und Reichweiten aufweisen. Nach Strauss (1978a, S. 121) sind einige Sozialwelten small, others huge; some are international, others are local. Some are inseparable from given spaces; others are linked with sites but are much less spatially 41 Eine seiner zentralen Aussagen diesbezüglich lautet: „I am suggesting that [...] the interactionists' general emphases on antideterminism and group encounter at any scale or scope be worked through for its implications, rather than restricted to certain kinds of groups of processes, and certainly not restricted to ‘macro’ or ‘micro’ studies of these matters. I believe that one means for doing that job is to study worlds and to take ‘a social world perspective’“ (Strauss 1978a, S. 121). Zu weiteren wichtigen Ausführungen von Strauss im Hinblick auf das Konzept der Sozialwelten siehe Strauss (1982 und 1984). Migration, Sprache und Rassismus 34 identifiable. Some are highly public und publicized; others are barely visible. Some are so emergent as to be barely graspable; others are well established, even well organized. Some have relatively tight boundaries; others possess permeable boundaries. Some are very hierarchical; some are less so or scarcely at all. Some are clearly class-linked, some (like baseball) run across class. 42 Diese sehr weit gefasste Charakterisierung von Sozialwelten verdeutlicht zwei zentrale Aspekte des Ansatzes. Einerseits können auch relativ starre soziale Systeme wie Gruppen, Institutionen oder Organisationen als Sozialwelten begriffen und analysiert werden. Einige der von Strauss aufgeführten Merkmale wie klare Mitgliedschaften, eindeutige Umgrenzung und Hierarchieverhältnisse treffen insbesondere auf solche sozialen Gebilde zu. 43 Auf der anderen Seite zielt Strauss mit dem Konzept von Sozialwelten vor allem darauf, relativ flexible Zusammenschlüsse von Akteuren, wie etwa gewisse Strömungen in der Wissenschaft, Wirtschaft, Kunstwelt etc. oder lokale und überregionale Initiativen im freizeitlichen und gesellschaftspolitischen Bereich, theoretisch und empirisch zu erfassen. Die Zusammenführung dieser beiden strukturell sehr unterschiedlichen Formationen in einem Konzept gelingt Strauss darüber, dass er nicht Aspekte wie Grenzen von oder klare Mitgliedschaften in sozialen Einheiten in den Mittelpunkt stellt, sondern gesellschaftliche Themen/ Bedürfnisse/ Problembestände und die Aktivitäten der Akteure, die sie bei der Bearbeitung dieser Aspekte durchführen. Denn sowohl für Organisationen als auch für Basisinitiativen gilt, dass sie sich mindestens um eine Kernaktivität oder in Bezug auf ein gesellschaftliches Thema/ 42 In Bezug auf die Größe von Sozialwelten siehe auch Unruh (1980, S. 286ff.), der - von klein zu groß - zwischen vier Formen unterscheidet: „lokale Sozialwelten“, „regionale Sozialwelten“, „disperse Sozialwelten“ und „Systeme von Sozialwelten“. Bei seiner Unterscheidung dieser Sozialwelten, die er (ebd., S. 286) als „sensitizing concepts“ bezeichnet, setzt Unruh Akteure, Praktiken und Ereignisse in Bezug zum geografischen Raum. So sind typische „lokale Sozialwelten“ nachbarschaftliche Formationen (Gans 1962) oder „home territory bars“ (Cavan 1966), wogegen „regionale Sozialwelten“ größer im Ausmaß und zerstreuter im Raum sind, wie z.B. die „Community der Homosexuellen in San Francisco“ (Beispiel von Unruh). Als „disperse Sozialwelten“ betrachtet Unruh Formationen, die an vielen unterschiedlichen Orten gleichzeitig existieren (national/ international) und die miteinander interagieren wie etwa die Kunstwelt (Becker 1974). Schließlich bezeichnet Unruh als „Systeme von Sozialwelten“ solche Entitäten, die viele unterschiedliche „lokale“, „regionale“ und „disperse“ Welten um ein Thema/ Produkt/ Aktivität umfassen. Unruhs Beispiel hierfür ist die von Denzin (1977) analysierte ‘Likörwelt’, deren Untersuchung solch unterschiedliche Formationen und Gegebenheiten umfasst wie Schnapsbrenner, Verteiler, Einzelhändler, Trinker, gesetzliche Ordnung etc. 43 Zur Analyse von (formalen) Organisationen als Sozialwelten siehe Clarke (1991), die das Konzept weitergehend als eine Organisationstheorie formuliert. Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 35 Problem konstituieren. Des Weiteren hebt Strauss drei Prozesse hervor, die in der Entwicklung von Sozialwelten eine wichtige Rolle spielen: Segmentierung, Vernetzung und Legitimation. Unter Segmentierung wird die Tendenz von Sozialwelten verstanden, sich in Subwelten zu organisieren oder aufzuspalten. Denn [g]erade in ihrer hochgradigen Fokussierung auf Problemdefinitionen, die Authentizität und Angemessenheit der Kernaktivitäten und auf ausgeprägte symbolische Stilistiken neigen soziale Welten zu harschen diskursiven Meinungsverschiedenheiten, die zu ihrer Aufspaltung in Subwelten führen können, welche sich gegenseitig die Authentizität ihrer Aktivitäten bestreiten oder aber doch zumindest dezidiert unterschiedliche Praxisstrategien kultivieren. (Schütze 2002, S. 70) 44 Die Segmentierung darf jedoch nicht nur als Resultat von Aufspaltungsprozessen verstanden werden. Eine Sozialwelt kann auch von Beginn an aus einzelnen lokalen und verstreuten Formationen bestehen, die sich unter Umständen ab einem gewissen Zeitpunkt zu einer großen Sozialwelt zusammenschließen. Diesen Aspekt bezeichnet Strauss als den zweiten sozialweltlichen Prozess der Vernetzung. Allgemein resultiert die Vernetzung aus der Notwendigkeit, dass einzelne Sozialwelten zur Erreichung ihrer Ziele mit anderen kooperieren müssen. Die Kooperationspartner können gleichgesinnte Sozialwelten sein oder aber Sozialwelten aus anderen gesellschaftlichen Bereichen. Im Falle von Allianzen mit Gleichgesinnten können größere Sozialwelten zum Beispiel in Form von Dachverbänden entstehen. Der zweite Fall von Kooperationen mit nicht gleichgesinnten Sozialwelten resultiert aus der Notwendigkeit, dass Sozialwelten oftmals auf Kompetenzen, Technologien, Kontakte etc. aus anderen Sozialwelten angewiesen sind. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Migrantenverein zum Erreichen seiner politischen Ziele mit einer politischen Partei kooperiert. Schließlich führt Strauss als den dritten sozialweltlichen Prozess die Legitimation auf. Die Legitimation ist - nicht nur, aber vor allem - als ein innerweltlicher Prozess zu verstehen, der sich um Fragen der Authentizität dreht. Wie Strauss ausführt, steht jeder, der in einer Sozialwelt ist, in irgendeiner Weise mit ihren Aktivitäten in Verbindung. Aber unter den vielen Akteuren einer Sozialwelt gibt es nur einige, deren Handlungen (aus der Eigenund/ oder Fremd- 44 Zu strukturellen Aspekten von Sozialwelten führt Unruh (1980, S. 282ff.) neben der Eigenschaft, sich aus kleineren Subwelten zusammenzusetzen oder sich in solche aufzuspalten, außerdem folgende Merkmale auf: Für alle Sozialwelten gilt - mehr oder weniger, d.h. in Abhängigkeit von ihrer Größe -, dass sie über Organisationsfoki, Kommunikations- und räumliche Zentren verfügen. Migration, Sprache und Rassismus 36 perspektive) als die authentischsten oder repräsentativsten für die Sozialwelt eingestuft werden. Dieser Prozess wird nicht nur auf der Akteurebene, sondern auch zwischen Sozialwelten angesiedelt, wenn sich etwa verschiedene Subwelten darum streiten, wer die besseren Repräsentanten der übergeordneten Sozialwelt in der Öffentlichkeit sind. Exkurs: Typen von Akteuren in Sozialwelten nach Unruh Unruh (1980, S. 280ff.) geht ausführlich auf verschiedene Akteurtypen in Sozialwelten ein, wobei er zwischen vier Kategorien unterscheidet: „Insider“, „Regelmäßige“, „Touristen“ und „Fremde“. „Insider“ sind nach Unruh diejenigen, die sich in den Organisationszentren von Sozialwelten befinden. Als solche besitzen sie nicht nur viel und intimes Wissen über die Sozialwelt, darüber hinaus sind sie es, die sich mit der Entwicklung von Projekten, Durchführung dieser Projekte seitens der anderen Akteure und auch mit der Rekrutierung von neuen Akteuren beschäftigen. Die „Regelmäßigen“ stellen das Gerüst einer Sozialwelt dar. Im Gegensatz zu den „Insidern“ setzen sie sich nicht in erster Linie mit Metaaufgaben einer Sozialwelt auseinander, aber dafür verleihen sie ihr durch regelmäßige Teilnahme und Eingebundenheit eine Dauerhaftigkeit in Organisation und Struktur. Die nächste Kategorie der „Touristen“ hält sich in Sozialwelten nicht so lange auf wie die „Regelmäßigen“. Ihre Beteiligung ist kurzfristig, da sie sich häufig auf Neugier oder punktuelles Interesse bzw. auf eine punktuelle Verpflichtung für die Sozialwelt gründet. Während die „Touristen“ an den Aktivitäten der Sozialwelt zumindest teilnehmen, beteiligen sich „Fremde“ nicht an ihren Handlungen. Sie sind aber dennoch zu berücksichtigen, da sie als „relevante Andere“ Vergleichs- und Orientierungspunkte für die Sozialwelt darstellen. In diesem Sinne - und auch deshalb, weil die „Fremden“ häufig Anhaltspunke für eine Vernetzung von verschiedenen Sozialwelten liefern - sind sie nach Unruh als Involvierte einer Sozialwelt zu betrachten. 45 (In Bezug auf das Wechselverhältnis von „Fremden“ und „Nicht-Fremden“ siehe auch Simmel 1958, S. 509-512). 2.2.2 Arenen Ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts von Sozialwelten ist die Vorstellung von Arenen. Wie Strauss hervorhebt, können Sozialwelten je nach Entwicklungsphase ein relativ homogenes oder zerstrittenes Bild abgeben. Wenn die wichtigsten Probleme, die in einer Sozialwelt fokussiert werden, von den 45 Neben diesen verschiedenen Akteurtypen führt Unruh (1980, S. 277ff.) auch verschiedene Aspekte des Beteiligtseins in Sozialwelten aus, wie „freiwillige und multiple Identifikation“, „partielles Beteiligtsein“ und „medial vermittelte Interaktion“, auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehe. Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 37 meisten Akteuren in gleichem Sinne aufgefasst und in Kernaktivitäten bearbeitet werden, wirkt die Sozialwelt nach innen und außen als eine homogene und geschlossene Einheit. Im umgekehrten Fall, wenn in einer Sozialwelt die Kernthemen und ihre Bearbeitungsformen nicht mehr von allen in gleicher Weise interpretiert und für richtig empfunden werden, zerfällt die Sozialwelt unter Umständen in einzelne Strömungen und Fraktionen. Auf jeden Fall ist und wirkt sie als eine zerstrittene Einheit, die mehr als eine Arena, denn als eine Sozialwelt aufzufassen ist. Nicht selten resultieren aus solchen Prozessen einzelne Subwelten, die je nach Konfliktgrad in der Zeit nach ihrer Segmentierung mehr oder weniger in Kontakt zueinander stehen können. Neben dieser Betrachtungsweise, die Arenen und Sozialwelten als zwei Seiten einer Medaille auffasst, führt Strauss eine zweite Vorstellung von Arenen aus. Danach konzeptionalisiert er Arenen als eigenständige Felder, in der gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden. So gesehen sind um jede gesellschaftliche Thematik, ob es sich nun um Migration, Abtreibung, Genforschung etc. handelt, Arenen zu erwarten, auf denen sich Angehörige verschiedener Sozialwelten um Positionen, Inhalte, Einfluss, Macht und Ressourcen streiten. Dabei kann eine Arena außerordentlich manifest und fassbar sein. Dies ist dann der Fall, wenn es sich bei Arenadebatten um organisierte - ob auf lokaler oder überregionaler Ebene - Diskussionsveranstaltungen, Runde Tische oder Konferenzen handelt. Hier stehen bzw. sitzen sich die verschiedenen Parteien in unmittelbarem interaktiven Kontakt gegenüber. Im Migrationsbereich war zum Beispiel der von der Bundesregierung organisierte Integrationsgipfel 2006 eine der in und für Deutschland wichtigsten Arenen der letzten Zeit auf nationaler Ebene. 46 Bei anderen Formen von Arenen handelt es sich nicht um unmittelbare, sondern mittelbare Auseinandersetzungen von Sozialwelten. Wie Strauss herausstellt, finden diese Arenadebatten häufig über Medien statt, wenn Vertreter einzelner Sozialwelten ihre Standpunkte darlegen und die der relevanten Anderen kommentieren, kritisieren etc. 46 Zu diesem ersten Integrationsgipfel lud die Bundesregierung mehr als 80 Vertreter aus Politik und Wirtschaft sowie von Sozialverbänden und Migrantenorganisationen ein. Der Charakter des Integrationsgipfels als eine Arena wurde bei Auseinandersetzungen vor, während und nach dem Treffen deutlich, als diverse Sozialwelten die Kritik äußerten, nicht eingeladen worden zu sein. Zu den wichtigsten Streitpunkten zählte, dass nur ein Viertel der Beteiligten Migranten waren. Des Weiteren waren muslimische Verbände wie der „Islamrat“ oder der „Zentralrat der Muslime“ bei der Einladung nicht berücksichtigt worden (siehe die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 12.07.2006 oder die „Süddeutsche Zeitung“ vom 15.07.2006). Migration, Sprache und Rassismus 38 Der kommunikative Sozialstil umfasst, wie eingangs ausgeführt, alle Eigenschaften des verbalen und non-verbalen Verhaltens sozialer Einheiten. In dem Sinne wird unter Stil einerseits „die alltägliche Normalität von Gruppen, ihr normales alltägliches Auftreten und Handeln, ihr normaler Umgangston“ (Keim/ Schütte 2002, S. 13) verstanden. Das Konzept der Sozialwelten/ Arenen verweist aber noch auf einen zweiten Aspekt von sozialen Formationen: Wie ausgeführt kommen in Sozialwelten Akteure zusammen, die mindestens eine Kernaktivität fokussiert behandeln. Bei der Bearbeitung dieser Kernaktivität(en) bilden sie (kommunikative) Verhaltensweisen heraus, von denen einige für die Sozialwelt als besonders authentisch oder repräsentativ eingeschätzt werden. Diese werden als Kerne der jeweiligen kommunikativen Sozialstile von Formationen eingestuft. Der Prozess der Stilbildung verläuft aber nicht immer harmonisch und homogen. Sozialwelten sind auch Arenen, in denen innerweltliche Diskussionen und Positionskämpfe geführt werden. Bei diesen Diskussionen über die innerweltliche Orientierung und Vormachtstellung, die sich durch Abgrenzungshandlungen und Selbststilisierung der verschiedenen Vertreter als besondere Repräsentanten der Sozialwelt auszeichnen, werden sozialweltliche Stilmerkmale in ausgesprochen überhöhter Weise präsentiert. Wie Keim/ Schütte (ebd.) bemerken, werden dann gerade die Merkmale aus dem alltäglichen Repertoire hervorgehoben, die in besonderer Weise in Kontrast gesetzt werden können zu Merkmalen anderer Welten, gegen die man sich aktuell abgrenzt. Das heißt: Zur Hervorhebung von Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit können je nach Anlass, Auslöser und Kontrastkategorie andere Merkmale verwendet werden. Des Weiteren ist die Vorstellung von Arenen als thematische Felder, auf denen sich Vertreter verschiedener Welten um Ressourcen und Positionen streiten oder zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen zusammenfinden, für die Stilbildung und -entwicklung von zentralem Stellenwert. Denn in Arenadebatten besteht für Akteure in besonderer Weise die Anforderung, die Eigenperspektive konturiert zu entfalten, die Fremdperspektive zu berücksichtigen und Eigen- und Fremdperspektive in Beziehung zu setzen. In diesem Kontext wird die eigene stilistische Praxis in ihrer Spezifik markiert und ggf. überhöht, so dass ein gut konturiertes Stilbild nach außen (und innen) präsentiert werden kann. Stil wird hier in seinen relevanten Zügen realisiert und als „eigener Stil“ bzw. „unser Stil“ demonstriert. In den Arena-Debatten wird gleichsam ein ideologisches Spotlight auf Stilformen gesetzt (vgl. Kallmeyer/ Keim 1996). Die hier behandelten Fragen und Anliegen bilden Kerne für die Stilentwicklung. (Keim/ Schütte 2002, S. 13) Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 39 Diese letzten Ausführungen unterstreichen eindrucksvoll, in welch enger Verzahnung das Forschungsprogramm der kommunikativen Sozialstilistik und die Theorie der Sozialwelten/ Arenen zueinander stehen und sich empirisch und theoretisch gegenseitig befruchten. 2.3 Soziolinguistische Methodik: Ethnografie, Gesprächsanalyse und Gesprächsrhetorik Die Methodologie zur Erfassung von kommunikativen Sozialstilen umfasst verschiedene Methodiken, die je nach Erkenntnisinteresse eingesetzt und gewichtet werden. 47 In den bisherigen sozialstilistischen Arbeiten liegen die Schwerpunkte auf der Ethnografie und der Gesprächsanalyse. In der vorliegenden Studie werde ich darüber hinaus bei der Analyse des „emanzipatorischen Stils“ auf den Ansatz der Gesprächsrhetorik zurückgreifen. 2.3.1 Die Ethnografie Ein wesentliches Kennzeichen der Ethnografie ist, dass sie ihren Forschungsgegenstand in dessen natürlicher Umgebung analysiert. Dieser Aspekt unterscheidet sie von deduktiven sozialwissenschaftlichen Ansätzen, welche die soziale Wirklichkeit ausgehend von vorgefertigten Theorien und Kategorien quasi in Form einer „Laborforschung“ 48 untersuchen. Innerhalb der Soziolinguistik gilt die Ethnografie seit den Arbeiten von Hymes (1962) und Gumperz (1964) zur „Ethnografie der Kommunikation“ als einer der wichtigsten analytischen Zugänge zu Sprache im sozialen Kontext. 49 In den letzten Jahren wurde der Stellenwert der Ethnografie innerhalb der Soziolingustik, insbesondere ihre Bedeutung für die Gesprächsanalyse, erneut un- 47 Siehe hierzu auch Schmitt (2002, S. 117ff.), der eine mögliche Methodologie für die kommunikative Sozialstilistik skizziert. 48 In den qualitativen wissenschaftlichen Disziplinen wird in der Regel die ethnografische „Feldforschung“ präferiert. So schreibt Psathas (1980, S. 280) in Bezug auf die Ethnomethodologie und die Ethnotheorie: „Beide Ansätze werden die sozialwissenschaftliche Forschung vor allem dadurch befruchten, dass sie die Aufmerksamkeit auf die Welt des Alltagslebens lenken. Hierin liegt bereits ein Verdienst dieser beiden Ansätze - gegenüber der in den Sozialwissenschaften weithin herrschenden Perspektive, in der das Sozialverhalten als Gegenstandsbereich der Forschung um der besseren Messbarkeit willen auf das beobachtbare und kontrollierbare „Laboratoriumsverhalten“ reduziert wird [...]“. Zur Unterscheidung zwischen Feldforschung und Laborforschung in den Sozialwissenschaften siehe u.a. Patry (Hg.) (1982) und Friebertshäuser (1997). 49 Diesbezüglich spielen die Sammelbände von Gumperz/ Hymes (Hg.) (1964, 1972) eine zentrale Rolle. Migration, Sprache und Rassismus 40 terstrichen (u.a. Schmitz 1998; Deppermann 2000; Spranz-Fogasy/ Deppermann 2001; Rampton et al. 2004). So herrscht z.B. nach Deppermann (2000, S. 96) in der Gesprächsanalyse ein „gravierende[r] Mangel“ vor, da sie „über keine adäquate Interpretationstheorie [verfügt]“. Diese Lücke schließt die Ethnografie, die einzelne Interaktionen in größere gesellschaftliche Strukturzusammenhänge bringen und hinsichtlich darauf ihre Relevanz, Typizität und Repräsentativität bestimmen kann (ebd., S. 105ff.). 50 In dem Sinne kommt der Ethnografie in der kommunikativen Sozialstilistik, wie Androutsopoulos (2006, S. 111) es anmerkt, kein „flankierender, der Gesprächsanalyse untergeordneter Stellenwert zu“. Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin umfasst die Ethnografie Verfahren der „Beobachtung, Dokumentation, Analyse und Darstellung der Kultur menschlicher Gruppen“ (Kallmeyer 1995b, S. 14). Dabei verfügt sie über vielfältige Methoden der Datenerhebung und Dokumentation, die zur möglichst umfangreichen Erschließung des Feldes eingesetzt werden: Diese reichen von der Sammlung quantitativer, qualitativer und alltagskultureller Dokumente bis hin zur Aufnahme von ethnografischen Interviews, Experten- und Gruppengesprächen. Die zentrale Beobachtungsmethode der Ethnografie ist jedoch die „teilnehmende Beobachtung“. 51 Hierzu begibt sich der Forscher für eine gewisse Zeitspanne in ein Forschungsfeld und hält seine Beobachtungen in Feldnotizen, Tagebüchern und nach Möglichkeit auf Ton- und Filmaufzeichnungen fest. Die teilnehmende Beobachtung zielt darauf, den Untersuchungsgegenstand von innen verstehen zu lernen bzw. die für die Untersuchten relevanten Strukturen in einer „dichten Beschreibung“ (Geertz 1983, S. 12) zu entdecken und zu rekonstruieren. 52 Dabei kann die teilnehmende Beobachtung 50 Siehe auch Deppermann (2007, S. 82-89). Darin geht der Autor auf die Bedeutung des ethnografischen Wissens in Bezug auf das „Wissensparadox“ der Gesprächsanalyse ein, das in der Spannung zwischen „methodischer Fremdheit“ und „notwendigem Hintergrundwissen“ besteht. Als wichtige Funktionen des „ethnographischen Wissens“ für die Gesprächsanalyse nennt Deppermann (ebd., S. 86): a) Sensibilisierung auf Phänomene, b) Schließung von Interpretationslücken, c) Schutz vor Fehlinterpretationen, d) Vertiefung von Interpretationen, e) Entscheidung zwischen Interpretationen, f) Kalibrierung der analytischen Prädikate und g) Validierung von Gesprächsanalysen. 51 Siehe u.a. Spradley (1980) und Flick (1995). 52 Hierbei fallen die methodischen Anforderungen des Verstehen-Lernens meist sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob das Feld für den Forscher etwas „Einheimisches“ oder „Fremdes“ ist. So geht Sökefeld (2002) auf die methodologische Problematik „Einheimischer“ vs. „Fremder“ in seiner ethnografischen Feldforschung über alevitsche Migranten in Hamburg folgendermaßen ein: „Ich möchte an meinem Beispiel auch kurz das Problem des ‘native anthropologist’ diskutieren. Im üblichen lockeren Konzept könnte ich als ‘native an- Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 41 je nach Forschungsanlage offen oder systematisch angelegt sein. Bei der systematischen teilnehmenden Beobachtung werden bereits zu Beginn der Untersuchung spezielle Aspekte des Gegenstands fokussiert. 53 Im Falle von offener teilnehmender Beobachtung steht zunächst ganz allgemein das semiotische System des Forschungsfelds im Vordergrund, so dass konkrete Fragestellungen aus den ersten ethnografischen Analysen entwickelt werden. Gleichsam für beide Verfahren halten Glaser/ Strauss (1984, S. 92f.) im Rahmen ihrer Methodologie der „grounded theory“ fest: [G]anz gleich, ob der Feldforscher zunächst noch sehr orientierungslos damit beginnt, alles was er sieht, aufzuzeichnen, weil alles bedeutsam sein könnte, oder ob er mit einer genauer definierten Zielsetzung ins Feld geht: Seine Beobachtungen werden sehr rasch von Hypothesenbildungen begleitet sein. Wenn dieser Prozeß der Hypothesenbildung beginnt, kann der Forscher nicht mehr, selbst wenn er dies wünscht, ein passiver Empfänger von Eindrücken bleiben; er wird ganz automatisch dazu übergehen, aktiv solche Daten zu sammeln, die für die Entwicklung und Verifizierung seiner Hypothesen bedeutsam sind. 54 Für beide Forschungsansätze, ob offene oder systematische, gilt, dass sich der Beobachtungsprozess in der Regel durch drei Phasen auszeichnet: die deskriptive, fokussierte und selektive teilnehmende Beobachtung (Spradley 1980). In der ersten Phase steht die Feldorientierung des Forschenden im Mittelpunkt. Dabei wird die Komplexität des Feldes möglichst umfangreich erschlossen. Bei der fokussierten teilnehmenden Beobachtung wird die Perspektive eingeengt und auf die für die - spätestens jetzt formulierte - Forschungsfrage besonders relevanten Ereignisse und Personen gelenkt. Die letzte Erhebungsphase der selektiven teilnehmenden Beobachtung dient dazu, weitere Belege und Beispiele für die vorher entdeckten Typen von Verlaufsformen oder Verhaltensweisen zu erarbeiten. thropologist’ in Hamburg gelten, auch wenn ich nicht in Hamburg geboren bin. Ich bin eben Deutscher in Deutschland. Aber ich bin natürlich kein ‘native’ unter denen, über die ich arbeite. Ich bin kein Alevit. Und hier kehrt sich das Verhältnis von Eingeborenen und Zugereisten in der Forschungssituation plötzlich um: Nicht der Forscher kommt von außen, sondern die Erforschten. Aleviten sind keine Einheimische in Deutschland, klar. Aber halt, warum eigentlich nicht? Ich habe viel mit jüngeren Aleviten zu tun, die in Deutschland (und im Gegensatz zu mir sogar in Hamburg) geboren sind, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben, die, anders als ich, den lokalen Dialekt beherrschen. Trotzdem sind sie im allgemeinen Verständnis keine Einheimischen. Und schon befinden wir uns mitten in der Debatte über gesellschaftliche Zuschreibung, Kategorisierung und Ausgrenzung. Plötzlich kommt es nicht mehr darauf an, wer und wie eigentlich Aleviten sind, sondern was eigentlich ‘deutsch’ ist.“ 53 Siehe Friebertshäuser (1997, S. 522). 54 Siehe dazu auch Abschnitt 6.3. Migration, Sprache und Rassismus 42 In meinen Ausführungen zur kommunikativen Sozialstilistik habe ich bereits hervorgehoben, welche Relevanz die Ethnografie für die Analyse des Kommunikationsverhaltens von sozialen Einheiten besitzt. Sie ist nicht nur ein Verfahren, mit der die untersuchte Welt intensiv beobachtet und dokumentiert wird. Darüber hinaus ist sie mitunter die (sozialwissenschaftliche) Forschungsmethode, mit der sozialstilistische Schlüsselphänomene entdeckt und analysiert werden. Bei den Schlüsselphänomenen handelt es sich um Interaktionsvorgänge, die für die Eigen- und Fremdwahrnehmung von sozialen Einheiten von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehören etwa Kommunikationssituationen, in denen Aspekte der sozialen Identität - der eigenen und der fremden - explizit verhandelt werden. 2.3.2 Die Gesprächsanalyse Während die kommunikative Sozialstilistik mit der ethnografischen Analyse die sozialen Relevanzstrukturen der fokussierten Einheit erfasst, greift sie bei der Untersuchung der verbalen Interaktion der analysierten Welt auf die Methodiken der Gesprächsanalyse und Gesprächsrhetorik zurück. Im Falle der Gesprächsanalyse bezieht sich die kommunikative Sozialstilistik auf die Forschungsrichtung, die in der Tradition der „conversation analysis“ (in Folge „Konversationsanalyse“) innerhalb der germanistischen Linguistik etabliert wurde. 55 Als eine aus der Ethnomethodologie entstandene genuin soziologische Forschungsrichtung zeichnet sich die Konversationsanalyse insbesondere in ihrer Konstitutionsphase durch eine starke Fokussierung von formalen Ordnungsstrukturen im Gespräch aus. 56 Ihre wesentlichen Annahmen sind die Geordnetheit und der Vollzugscharakter der sozialen Interaktion und die Kontextbezogenheit der Aktivitäten. Ihr zentraler methodischer Gesichtspunkt ist „die Berücksichtigung der sequentiellen Ordnung in Form von sequentiellen Implikationen der Regeln und Aktivitätstypen“ (Kallmeyer 1988, S. 1099). Die Annahme der sequenziellen Implikation wurde in der Entdeckung und Beschreibung diverser Ordnungsmechanismen der Interaktion konkretisiert. Darunter zählen die Mechanismen für Sprecherwechsel (Sacks/ 55 Diese Version der Gesprächsanalyse wurde im deutschsprachigen Raum von Kallmeyer/ Schütze (1976) und Bergmann (1981) eingeführt. Eine Übersicht und Einführung in die konversationsanalytischen Methoden bietet die Veröffentlichung „Gespräche analysieren“ von Deppermann (1999). Andere Versionen der Gesprächsanalyse wie etwa sprechakttheoretische Ansätze unterscheiden sich theoretisch und methodisch stark von der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (siehe dazu u.a. Henne/ Rehbock 1982 und Fritz/ Hundsnurscher (Hg.) 1994). 56 Siehe Kallmeyer/ Schütze (1976) und Bergmann (1981). Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 43 Schlegloff/ Jefferson 1978), die konditionelle Relevanz (Schegloff 1972) und die Präferenzorganisation (Sacks/ Schegloff 1979, Sacks 1987) zu den wichtigsten Ordnungsstrukturen, die von der Konversationsanalyse beschrieben wurden: 57 Die Mechanismen für Sprecherwechsel werden von der Konversationsanalyse als eine Menge von Regeln mit geordneten Optionen beschrieben, die von Redebeitrag zu Redebeitrag wirken („local management system“, Sacks/ Schlegloff/ Jefferson 1978). Die einzelnen Redebeiträge (engl. „turns“) bestehen aus redebeitragsbildenden Einheiten („turn-construction-units“), die als „syntaktische Einheiten (Sätze, Teilsätze, Nominalphrasen usw.) [...] teilweise mittels Prosodie und vor allem Intonation als Bausteine von Redebeiträgen identifiziert werden“ (Levinson 1990, S. 296). Das (mögliche) Ende einer solchen Einheit wird als ‘übergangsrelevanter Punkt’ („transition relevance place“, abgek. TRP ) bezeichnet, an dem ein Sprecherwechsel erfolgen kann. Dabei gelten folgende Regeln für einen Sprecherwechsel: Wenn A der derzeitige Sprecher ist, B der nächste (mögliche) Sprecher und TRP das erkennbare Ende einer beitragsbildenden Einheit, dann gilt (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1978): 1(a): Wenn A B auswählt, erfolgt der Übergang bei einem der nächsten TRP s. 1(b): Wenn A B nicht auswählt, kann jeder andere Sprecher sich selbst wählen. 1(c): Wenn A B nicht auswählt und kein anderer Sprecher sich selbst gewählt hat, kann A fortfahren (muss aber nicht). 2: Wenn Regel 1(c) von A angewandt worden ist, gelten beim nächsten TRP die Regeln 1(a) bis (c), bis ein Sprecherwechsel erfolgt. Die Sequenzialität der Aktivitäten ist von der Konversationsanalyse zunächst bei der Untersuchung der Mechanismen für Sprecherwechsel konkretisiert worden. Im Anschluss wurde die Fragestellung, wie einzelne Redebeiträge sequenziell miteinander verbunden sind, auch bei der Entdeckung und Beschreibung anderer Sequenztypen wie die der konditionellen Relevanz und der Präferenzorganisation bedeutsam. Dabei besagt das Konzept der konditionellen Relevanz, dass in einer Folge von Aktivitäten, von denen die erste relativ starke Reaktionsverpflichtungen aufbaut (z.B. Fragen oder 57 Weitere wichtige Untersuchungsgegenstände der Konversationsanalyse, auf die ich in diesem Abschnitt nicht eingehe, sind Analysen z.B. zu Reparaturen (siehe dazu Abschnitt 7.3.1) und zu sozialen Kategorisierungen im Gespräch (siehe Abschnitt 7.1). - • • • • - Migration, Sprache und Rassismus 44 Bitten), „ein bestimmter Aktivitätstyp für die Folgeaktivität relevant gesetzt [wird] und die Folgeaktivität durch die Art der Realisierung ihre Relevanz im Verhältnis zur voraufgehenden Bezugsaktivität zeigt“ (Kallmeyer 1988, S. 1099). Mit anderen Worten sind solche Nachbarschaftspaare (engl. „adjacency pairs“) wie Frage-Antwort oder Gruß-Gegengruß derart, dass bei Vorhandensein eines ersten Paarteils ein zweiter Teil (sofort) relevant und erwartbar ist. 58 Wenn der bedingt relevante zweite Teil nicht produziert wird, ist das in der Interaktion häufig so auffällig, dass er von den Beteiligten eingefordert oder nachbearbeitet wird. Mit dem Konzept der Präferenzorganisation bezeichnet die Konversationsanalyse eine weitere Eigenschaft von Nachbarschaftspaaren, dass nämlich auf einen ersten Paarteil mögliche zweite Teile untereinander nicht den gleichen Status haben in dem Sinne, dass „auf [bestimmte] Arten von Gesprächsaktivitäten die darauf möglichen Reaktionen von den Sprechern in systematischer Weise als untereinander nicht-äquivalent formuliert werden“ (Kallmeyer 1988, S. 1099). Mit anderen Worten: Es gibt auf initiale Aktivitäten wie Einladungen bevorzugte (präferierte) und nicht-bevorzugte (dispräferierte) Reaktionsmöglichkeiten, wobei unter Vorzug oder Präferenz keine psychologischen Entitäten zu verstehen sind, sondern Strukturerscheinungen der verbalen Interaktion. So zeichnen sich dispräferierte zweite Teile durch einen hohen strukturellen Aufwand aus, der u.a. Folgendes beinhalten kann (aus Levinson 1990, S. 332f.): Verzögerungen (gefüllte und ungefüllte Pausen, Einleitungspartikel wie „nun“ etc.), Gebrauch von Wertschätzungen, Einschränkungen, Entschuldigungen, Rechenschaften oder Formulieren von scheinbarer Einigkeit vor Uneinigkeit. In der gegenwärtigen Gesprächsanalyse ist die relativ einseitige Konzentration der Konversationsanalyse auf formale Gesprächsstrukturen (zumindest in ihrer Konstitutionsphase) zugunsten einer Beschäftigung mit vielfältigen Aspekten der verbalen Interaktion erweitert worden. Wie Deppermann (1999, S. 9) ausführt, interessiert sich die Gesprächsanalyse allgemein dafür, „wie Menschen Gespräche führen [...], nach welchen Prinzipien und mit welchen sprachlichen und anderen kommunikativen Ressourcen Menschen ihren Austausch gestalten und dabei die Wirklichkeit, in der sie leben, herstellen“. Bezogen auf den Herstellungsaspekt von Gesprächen unterscheidet Kallmeyer (1985) zwischen sechs Ebenen der Interaktionskonstitution: 59 58 Siehe Schegloff (1972, S. 363ff.) 59 Im Rahmen seines Konzepts der „Ethnografie der Kommunikation“ stellt Hymes (1972) das heuristische SPEAKING -Schema vor, womit die von Kallmeyer beschriebenen Ebenen der Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 45 Gesprächsorganisation: Hierunter fallen Ordnungsaspekte wie Verteilung des Rederechts, Gesprächseröffnung und -beendigung etc. Handlungskonstitution: Diese Ebene ist bezogen auf „die Ziele und Zwecke, um derentwillen das Gespräch geführt wird“ (Deppermann 1999, S. 9), ob es sich etwa bei einer Interaktion um eine gesellige Unterhaltung, ein Bewerbungsgespräch, eine Arbeitsbesprechung etc. handelt. Sachverhaltsdarstellung: Hierunter wird „die spezifische Perspektivierung von Bestandteilen eines Sachverhalts im Rahmen konstituierter komplexer Darstellungsformate wie Erzählen oder Argumentieren“ (Spranz-Fogasy 1997, S. 31) verstanden. Soziale Beziehungen und Identitäten: Diese Ebene betrifft die Identitätsaspekte der Interaktanten (Mann, Frau, Mädchen, Arbeiter, Studentin etc.), ihre interaktiven Rollen im Gespräch (Vater, Mutter, Sohn, Vorgesetzter etc.) und ihre sozialen Beziehungen zueinander (Fremde, Vertraute etc.). Interaktionsmodalitäten: Unter Interaktionsmodalität werden Aspekte des Realitätsbezugs von Interaktionsbeiträgen und die verschiedenen Beteiligungsformen der Gesprächsteilnehmer (Ernst, Spiel etc.) zusammengefasst. Reziprozität: Die Ebene der Reziprozität wird auf die Verständigung der Teilnehmer im Gespräch bezogen und umfasst alle Aktivitäten und sprachlichen Äußerungen, die dazu vollzogen werden. Die Gesprächsteilnehmer behandeln die Konstitutionsaufgaben auf diesen Ebenen in der Regel integriert. Aber gleichzeitig können die Aktivitäten der Teilnehmer zu verschiedenen Phasen der Interaktion auch Schwerpunkte aufweisen. Außerdem sind die Ebenen „interdependent in der Weise, daß eine Akzentuierung auf einer Ebene der Interaktionskonstitution auf einer anderen Ebene zu Veränderung führt“ (Spranz-Fogasy 1997, S. 31). So können Störungen auf der gesprächsorganisatorischen Ebene wie häufiges Unterbrechen Interaktionskonstitution gewisse Überschneidungen aufweisen. SPEAKING ist ein mnemotechnisches Akronym, wobei jeder Buchstabe für eine Komponente der Gesprächssituation steht: „S“ steht für „setting“ (Schauplatz, Szenario), „P“ für „participants“ (Teilnehmer), „E“ für „ends“ (Absichten und Konsequenzen, die mit der Interaktion verfolgt werden), „A“ für „act sequence“ (Regeln der Abfolge von Sprechakten/ Interaktionsbeiträgen), „K“ für „key“ (Modalität), „I“ für „instrumentalities“ (Kommunikationsform und -kanal), „N“ für „norms“ (Interpretations- und Interaktionsregeln) und „G“ für „genre“ (kommunikative Gattungen). Zur ausführlichen Besprechung der einzelnen Aspekte siehe Hymes (1972, S. 59-71). - - - - - - Migration, Sprache und Rassismus 46 und Dazwischenreden seitens eines Teilnehmers zu Veränderungen auf der Ebene der sozialen Beziehungen dieses Teilnehmers zu den anderen Beteiligten führen (auch ohne explizite Verbalisierung des Sachverhalts). Die gegenstandstheoretischen Grundannahmen der gesprächsanalytischen Methodologie, auf die bisher zum Teil eingegangen wurde, fasst Deppermann (2007) unter fünf universalen Ordnungsprinzipien 60 der verbalen Interaktion zusammen: Konstitutivität, Prozessualität, Interaktivität, Methodizität und Pragmatizität. Konstitutivität: Hierunter wird verstanden, dass Gespräche aus Handlungssequenzen bestehen, die von Akteuren produziert werden. Die Gesprächsteilnehmer stellen aktiv Strukturen her, indem sie aus einem Spektrum semiotischer Ressourcen auswählen [...] und in einer durch Regeln, Routinen und Erwartungen restringierten und vorgebahnten, dennoch prinzipiell nicht determinierten Weise (kompositionale) Strukturen konstruieren (syntaktische Wörter, Derivationen, Phrasen, Gesprächsstrukturen). (Deppermann 2007, S. 3) Dabei ist die zentrale „Voraussetzung für die situierte Verwendung indexikalischer Zeichen“, dass „Bedeutung hier nicht kodiert [ist], sondern aktiv in Bezug auf den jeweiligen Kontext der Verwendung konstituiert werden [muss]“ (ebd.). Prozessualität: Die Gesprächsanalyse versteht „[s]prachliche Strukturen nicht als zeitlose, in Isolation hinreichend bestimmbare Einheiten“, sondern als emergente „Produkte von Prozessen“ (Deppermann 2007, S. 5). Damit ist die „Prozessualität des Gesprächs die Voraussetzung dafür, dass in situ kompositionale sprachliche Strukturen aufgebaut werden können und dadurch sukzessive Sinn konstituiert wird“ (ebd.). Die prozessuale Konstitution von Gesprächsaktivitäten bedeutet auch, dass „Äußerungen stets vor dem Hintergrund des Vergangenen interpretiert und auf erwartetes Zukünftiges bezogen [werden]“ (ebd., S. 7). 61 Als emergente Erscheinungen sind sprachliche Einheiten und Muster im Gespräch „keine Umsetzungen von vorangehenden Plänen, sondern das Ergebnis der situierten Schritt-für- Schritt-Produktion, bei der die (meist nicht-deterministischen) Anschlusspotenziale der aufgebauten Strukturen für die Produktion weiterer Konstituenten und Beiträge benutzt werden“ (ebd.). 60 Mit „universal“ meint hier Deppermann (2007, S. 3), „dass es sich um Prinzipien handelt, die konstitutiv für jede Gesprächsaktivität sind“. 61 Deppermann (2007, S. 7) verweist auf das „Prinzip der ‘prospektiv-retrospektiven Interpretation’“ nach Garfinkel (1973b). - - Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 47 Interaktivität: Eine wesentliche Quelle von Emergenz ist die Interaktivität von Gesprächen, was bedeutet: „Gespräche bestehen aus Handlungssequenzen von Interaktionsbeteiligten, die systematisch aneinander anschließen“ (Deppermann 2007. S. 7). Aufgrund der Situiertheit jedes Handelns sind aber die Anschlüsse mit vielfältigen Sinn- und Relevanzbezügen behaftet, so dass Gespräche als gemeinsames Handeln von Subjekten verschiedene Konstitutionsaufgaben mit sich bringen. Deppermann geht hier u.a. auf den Adressatenzuschnitt von Gesprächsbeiträgen („recipient design“ nach Sacks/ Schegloff 1979), die gemeinsame Handlungskoordination und die Aufzeigehandlungen der Teilnehmer („display“ nach Schegloff 1992) ein. Methodizität: Wie Deppermann ausführt, scheinen Gesprächsprozesse auf den ersten Blick oft „unsystematisch und chaotisch zu verlaufen“, in dem Sinne, dass scheinbar „keine Systematik der Gesprächsentwicklung zu erkennen“ ist und „Äußerungen gegen Regeln schriftlicher Syntax [verstoßen]“ (Deppermann 2007, S. 9). Die sequenzielle Analyse zeigt jedoch, dass „viele ‘ungrammatische’ Phänomene in Gesprächen (wie Ellipsen, freie Themenausdrücke, Gliederungssignale etc.) systematisch eingesetzt werden und Verfahrenscharakter besitzen“ (ebd.). Man spricht hier von sprach- und kulturspezifischen Methoden, auf die die Interaktionsteilnehmer bei der Herstellung von Ordnung und Sinn im Gespräch zurückgreifen (die so genannten „Ethnomethoden“). 62 Pragmatizität: Nach Auffassung der Gesprächsanalyse „[sind] Ethnomethoden funktional organisiert: Sie sind auf die Lösung bestimmter kommunikativer Probleme bzw. auf die Verfolgung von kommunikativen Zwecken zugeschnitten“ (Deppermann 2007, S. 11). Dabei stellen die Methoden oft „routinierte, sozial verbreitete und tradierte Lösungen“ dar, „die das Subjekt von der Notwendigkeit entlasten, ad hoc immer wieder neue Problemlösungen zu entwickeln“ (ebd.). Des Weiteren verweist Deppermann auf verschiedene Prinzipien wie die „Relevanz- und Ökonomieprinzipien“ (Sacks 1972), die ebenfalls die Pragmatizität von Formulierungspraktiken im Gespräch unterstreichen. 62 Unter Ethnomethoden werden die Verfahren verstanden, „deren sich die Gesellschaftsmitglieder bedienen, um die Vielzahl ihrer Alltagshandlungen durchzuführen“ (Weingarten/ Sack 1976, S. 10). Siehe auch Garfinkel (1967), Bergmann (1981) und Sacks (1984). - - - Migration, Sprache und Rassismus 48 2.3.3 Die Gesprächsrhetorik Aufbauend auf den Prinzipien und Methodiken der konversationsanalytisch geprägten Gesprächsanalyse wurde in den 1990er Jahren von Werner Kallmeyer und seinen Mitarbeitern das Forschungsprogramm der Gesprächsrhetorik entwickelt. Als ein ganz spezifisch gesprächsanalytischer Ansatz untersucht die Gesprächsrhetorik als Gegenstand Eigenschaften der Gesprächsbeteiligung, die mit dem Versuch der Sprecher zu tun haben, sich durchzusetzen, sich in Auseinandersetzungen zu behaupten, recht zu behalten und plausibel und suggestiv Sachverhalte darzustellen. (Kallmeyer 1996, S. 7) Neben diesen Verfahren, die verstärkt in strittigen Auseinandersetzungen zu beobachten sind, werden von der Gesprächsrhetorik auch „Formen der helfenden Kooperation und der gemeinsamen Problemlösung detailliert behandelt“ (Kallmeyer 1996, S. 15). Im Gegensatz zur herkömmlichen Konzeption von Rhetorik, die die monodirektionale Rede im Hinblick auf die intendierten Wirkungsabsichten eines Individuums fokussiert, fußt die Vorstellung von „Gesprächsrhetorik“ auf einer veränderten Sicht des sprachlichen Handelns, die insbesondere durch die verschiedenen Ansätze der Interaktionstheorie in der neueren Zeit geprägt ist; der Kernpunkt dabei ist, daß die Vorstellung vom Individuum, das seine Wirkungsabsicht versprachlicht, zu relativieren ist durch die Vorstellung vom Kommunikationsprozeß, in dem das Individuum beteiligt ist, aber dessen Ereignisse und Resultate nicht die Summe der individuellen Wirkungsabsichten sind. (Kallmeyer 1996, S. 7) Die so umrissene, interaktionstheoretisch geprägte Gesprächsrhetorik berücksichtigt demnach zentral die Einbettung des individuellen Handelns in den Interaktionsprozess und umgekehrt dessen Einflüsse auf die rhetorischen Verfahren der Beteiligten. Diese multidirektional-interaktive Sicht der Gesprächsrhetorik geht (a) vom Prozesscharakter der Interaktion, (b) von der Abhängigkeit des individuellen Handelns von dem der anderen und (c) von der begrenzten Möglichkeit der Beteiligten aus, das laufende Geschehen kontrollieren zu können. Durch den gesprächsanalytischen Zugang der Gesprächsrhetorik erfährt die klassische Rhetorik-Konzeption eine weitere Differenzierung bzw. eine wesentliche Veränderung. Denn nach Kallmeyer (1996, S. 10) reicht es nicht aus, „die bekannten rhetorischen Figuren im Gespräch aufzusuchen“. Vielmehr kommt es in der Gesprächrhetorik darauf an, „den gesprächsanalytischen Zugriff auf die klassisch-rhetorischen Gegenstände anzuwenden und neuartige Gegenstandsaspekte, die erst durch die Forschung zur verbalen Interaktion in den letzten Jahrzehnten sichtbar geworden sind, einzubeziehen“ (ebd.). Das Forschungsprogramm: Die kommunikative Sozialstilistik 49 Die ethnomethodologische Konversationsanalyse analysiert zentral die strukturellen Eigenschaften der formalen Ordnung in der Interaktion. 63 Dagegen betrachtet die Gesprächsrhetorik die Interaktionsordnung funktional, aus der Sicht und als Leistungen der Gesprächsteilnehmer: Die Beteiligten unterliegen dem interaktionsinhärenten Zwang zur Herstellung von Ordnung, aber ihre handlungspraktische Orientierung richtet sich auf das Verfolgen von Interessen; in der Beteiligtenperspektive hat Ordnung instrumentellen Charakter, sie widmen ihr gerade soviel Aufmerksamkeit wie nötig und versuchen ansonsten, sie für ihre praktischen Zwecke zu instrumentalisieren. Der rhetorik-analytische Zugriff zeigt sich z.B. darin, daß nicht „turn-taking“ oder vergleichbare Themen unter ordnungsstrukturellen Gesichtspunkten behandelt werden, sondern Formen der Beeinflussung und die Auswirkungen spezifischer Bedingungen und Eigenschaften des Handelns auf die Durchsetzungsmöglichkeiten. (Kallmeyer 1996, S. 10) Die Gesprächsrhetorik fokussiert also nicht die formal-notwendige Kooperation, sondern die inhaltlich-funktionale Kooperationsweise der Akteure. Ihre Konzentration ist auf die praktisch-rhetorischen Probleme beim sprachlichen Handeln unter konkreten Interaktionsbedingungen gerichtet. Sprachliche Interaktionsverfahren besitzen zu jeder Zeit rhetorische Potenziale unter spezifischen Kontextbedingungen. Die Gesprächsrhetorik beschreibt deskriptiv, also auf die faktische Kommunikationspraxis ausgerichtet, die Chancen und Risiken des Handelns, die potenziell in den angewandten rhetorischen Verfahren stecken und verdeutlicht so Handlungsalternativen für Beteiligte. Seit ihrer Konstitution hat die Gesprächsrhetorik ausgehend von ihrer dargestellten Programmatik vielfältige Erkenntnisse über die Kooperationsweise von Interaktanten ans Tageslicht gefördert: So sind unter anderem Forschungsarbeiten zum Forcieren im Gespräch (Kallmeyer/ Schmitt 1996), Verfahren der Perspektivenabschottung (Keim 1996), Bearbeitung von Perspektiven- Divergenzen (Hartung 1996), Unterstützen im Gespräch (Schmitt 1998), Solidarisieren im Gespräch (Cindark 2000), Verfahren der Perspektivenumkehrung (Kallmeyer 2001), verbale Praktiken der Perspektivierung (Kallmeyer 2002a), Inszenieren im Gespräch (Schmitt 2003) und Gesprächspause als rhetorische Ressource (Schmitt 2004) entstanden. 64 63 So formuliert Sacks (1984, S. 22) den zentralen Ausgangspunkt bzw. die Maxime, dass „there is order at all points“, woraus für die Konversationsanalyse die Aufgabe folgt, „to discover, describe, and analyze that order or orderliness“ (Psathas 1995, S. 45). 64 Zum Konzept der Perspektivierung siehe Abschnitt 6.1, wo auch auf das Konzept der Normalformerwartung bzw. Normalität eingegangen wird. 3. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten aus der Türkei In diesem Kapitel gehe ich auf drei Aspekte ein, die für das Verständnis der nachfolgenden empirischen Analysen grundlegend sind. Da mein Untersuchungsgegenstand der kommunikative Sozialstil der „emanzipatorischen Migranten“ ist und diese sich in dezidierter Weise mit Diskriminierungsaspekten in Deutschland auseinandersetzen, gehe ich im folgenden Abschnitt 3.1 zunächst auf die Einwanderungsthematik ein, wie sie hierzulande behandelt wurde und wird. Im internationalen Vergleich zeigt die Bundesrepublik diesbezüglich ganz spezifische Eigenschaften, die hauptsächlich aus ihrem „Staatsverständnis der völkischen Nation“ (Oberndörfer 2005, S. 115) resultieren. Im Anschluss daran wird der Fokus auf die Sozialwelten der Migranten aus der Türkei gerichtet. Dabei wird in Abschnitt 3.2 zunächst die allgemeine Entwicklung der ‘türkischen’ Sozialwelten in den letzten knapp fünf Dekaden skizziert. Die Ausführungen werden einerseits verdeutlichen, dass sich die Migration der ehemals so genannten „Gastarbeiter“ allmählich vom Provisorium zur Sesshaftigkeit entwickelt hat. Andererseits dient die historische Betrachtung zur Klärung der Frage, aus welchen sozialweltlichen Zusammenhängen sich solche Formationen der zweiten Migrantengeneration wie die der „emanzipatorischen Migranten“ herausgebildet haben. Im letzten Teilabschnitt 3.3 gehe ich dann auf die Entwicklung und Spezifik der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“ ein, die Gegenstand meiner Analysen sind. Ich werde ausführen, wann diese beiden Sozialwelten entstanden sind und welche Themen und Aufgaben sie fokussiert bearbeiten. 3.1 Deutschland - ein völkisches Einwanderungsland Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Migrationen. Zu jeder Zeit war und ist jede Region der Erde mehr oder weniger von gewaltsam oder friedlich ausgelösten Ausund/ oder Einwanderungen geprägt. Aufnahmegesellschaften entwickeln gegenüber verschiedenen Formen der Einwanderung, die sie nicht selten selbst initiieren, ihre eigene, spezifische Migrationspolitik, welche wiederum die entscheidenden Weichen für das Zusammenleben von Angehörigen der Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung stellt. Die Fragen danach, als was sich die Einen bzw. die Anderen und die Bevölkerungsgruppen sich gegenseitig sehen, werden nicht unwesentlich von diesen mi- Migration, Sprache und Rassismus 52 grationspolitischen Rahmenbedingungen (mit-)bestimmt. In diesem Sinne ist es für die vorliegende Arbeit wichtig, zunächst einen Blick auf die Spezifik der bundesdeutschen Migrationspolitik zu werfen. Die Bundesrepublik war einer der bedeutendsten Einwanderungsländer des 20. Jahrhunderts. Die Gesamtzahl der deutschstämmigen und nicht-deutschstämmigen Einwanderer, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland emigriert sind, belegen diese Tatsache in beeindruckender Weise. Allein zwischen 1945 und 1973 kamen mehr als 30 Millionen Menschen nach Deutschland. Ein Teil von ihnen blieb für immer, der andere verließ das Land nach einiger Zeit. Ohne diese Migranten wäre wohl weder der Wiederaufbau nach dem Krieg, noch das so genannte „deutsche Wirtschaftswunder“ der fünfziger und sechziger Jahre möglich gewesen. Dennoch verstand sich aber die Bundesrepublik bis 1998 als „kein Einwanderungsland“! Wie war es möglich, dass Deutschland einerseits die Einwanderung von so vielen Menschen betrieb, aber sich andererseits als „kein Einwanderungsland“ bezeichnete? Nach Oberndörfer (2005, S. 115) ist diese Paradoxie vor „dem Hintergrund des immer noch völkisch geprägten nationalen Selbstverständnisses der Deutschen“ zu sehen, was sich insbesondere im Umgang mit dem deutschen Staatsbürgerschaftsparagrafen widerspiegelt. 3.1.1 Der Staatsbürgerschaftsparagraf und die Einwanderung der deutschstämmigen Migranten Der erst im Jahre 2000 reformierte deutsche Staatsbürgerschaftsparagraf stammt aus dem Jahr 1913 und ist ein Produkt der „Überfremdungsgefahr“- Debatten im Kaiserreich (siehe Herbert 2003, S. 69). Wie der Historiker Ulrich Herbert den damaligen preußischen Innenminister zitierend zusammenfasst, sollte das Gesetz sicher stellen, dass „polnisch-russisches, galizisches und darunter wieder vornehmlich jüdisches Proletariat“ nicht eingebürgert wird, auch „wenn sie in Deutschland geboren worden waren und seit Jahren oder Jahrzehnten hier unbescholten lebten und arbeiteten“ (ebd., S. 68). Also wurde im Gesetz festgeschrieben, dass nur diejenigen ein Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen sollen, die von Deutschen abstammen (das so genannte „ius sanguinis“ oder „Blutsrecht“). Das auf dem Abstammungsprinzip beruhende Gesetz überlebte das Kaiserreich und war in unveränderter Form in der Weimarer Republik, der Nazi- Diktatur und über ein halbes Jahrhundert in der Bundesrepublik gültig. Was der Staatsbürgerschaftsparagraf mit der Migrationspolitik zu tun hat, wird deutlich, wenn man sich den Umgang der Bundesrepublik mit den beiden Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 53 zahlenmäßig bedeutendsten Einwanderergruppen nach Deutschland vergegenwärtigt. Dabei handelt es sich zum einen um die deutschstämmigen Migranten - Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler -, die die Bundesrepublik bis Ende der fünfziger und dann wieder ab Mitte der achtziger Jahre millionenfach aufnahm. Zum anderem geht es hier um die so genannten „Gastarbeiter“, die vor allem in der Phase zwischen 1960 und 1973 massenhaft angeworben wurden. 65 Exkurs: Zu Bezeichnungen der Mehrheitsgesellschaft für die so genannten „Gastarbeiter“ Zur Benennung der angeworbenen Migranten schreiben Dunkel/ Stramaglia-Faggion (2000, S. 14f.): Die Probleme, die die bundesrepublikanische Gesellschaft mit den Immigranten der Wirtschaftswunderjahre hatte und hat, zeigen sich deutlich bei ihrer Benennung. In den 50er Jahren sprach man noch von „Fremdarbeitern“, die mit „Sondertransporten“ nach Deutschland gebracht werden sollten. Diese Bezeichnungen stießen sehr bald auf Kritik, denn sie weckten Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. Wenngleich Kontinuitäten durchaus vorhanden waren - manche Gastarbeiter wohnten zunächst in Lagern, die Außenstellen ehemaliger Konzentrationslager gewesen waren, die Bahnverwaltung war zudem ängstlich darauf bedacht, „nicht Transporte [...] mit Arbeitern in heruntergekommenem Zustand über die Straße zu leiten, weil dadurch der Eindruck eines Kriegszustandes geschaffen würde“ - wollte man tunlichst keine Erinnerung an diese Zeit aufkommen lassen. So bürgerte sich die Bezeichnung „Gastarbeiter“ bei uns ein, ohne dass geklärt wäre, wer eigentlich diesen Begriff geprägt hat. Es sollte freundlich klingen, ohne jegliche Assoziation an das Wort „Fremdarbeiter“. [...] Im Jahr 1971 lobte der Westdeutsche Rundfunk sogar ein Preisausschreiben zur Namensfindung aus - mit ansprechenden Preisen [...]. Es beteiligten sich über 32 000 Hörer; vorgeschlagen wurden unter anderem: „Auslandsmitmenschen“, [...] „Eurosklaven“, [...] „Helferos“ oder „Mulis“. Die Jury bewertete mit großer Mehrheit den Begriff „ausländischer Arbeitnehmer“ als den am wenigsten missverständlichen. 1944 hielten sich in Deutschland 7,7 Millionen ausländische Zwangs- und Zivilarbeiter bzw. Kriegsgefangene auf, 4 Millionen von ihnen auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik (Herbert 2003, S. 193). Nur ein geringer Teil dieser von den Nationalsozialisten als „Fremdarbeiter“ bezeichneten Gruppe blieb nach dem Krieg in Deutschland. 1955 betrug die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik weniger als eine halbe Million (0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung) (ebd., S. 198). Deutschland 65 Zu einer kontrastiven Analyse der „Gastarbeiter-Diskurse“ in den Zeiträumen 1965 bis 1967 und 1972 bis 1974 in der BRD , Österreich und der Schweiz siehe Niehr (2004). Migration, Sprache und Rassismus 54 brauchte aber Migranten, da sich spätestens seit Anfang der fünfziger Jahre der Wirtschaftsaufschwung bemerkbar machte, für den es im Inland an Arbeitskräften mangelte. Diese Lücke auf dem Arbeitsmarkt füllten zunächst deutschstämmige Migranten aus. Allein von 1945 bis 1960 wurden über 13 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge in der Bundesrepublik aufgenommen. 66 Damit machten sie 1960 knapp ein Viertel (! ) der Gesamtbevölkerung aus (Herbert 2003, S. 194). Dass die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren auf die millionenfache Einwanderung von (deutschstämmigen) Migranten angewiesen war, belegen folgende Zahlen: Zwischen 1950 und 1960 hatte sich das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik mehr als verdoppelt und die Zahl der offenen Stellen stieg um das Vierfache an. Im gleichen Zeitraum fiel die Zahl der Arbeitslosen von knapp 1,9 Millionen auf 270.000 (ebd., S. 195). Die Bundesrepublik thematisierte aber die Einwanderung der Vertriebenen und Flüchtlinge - wie auch die Einwanderung der (Spät-)Aussiedler bis in die jüngste Vergangenheit - nicht als Migration. Vielmehr wurde „die millionenfache Einwanderung [...] ideologisch [...] als Wiedergutmachung und Rückkehr von Deutschen nach Deutschland wahrgenommen“ (Oberndörfer 2005, S. 113). Denn auf der Grundlage ihres auf dem Abstammungsprinzip beruhenden Staatsangehörigkeitsgesetzes sprach die Bundesrepublik den deutschstämmigen Migranten das „Blutsrecht“ zu, sich in Deutschland anzusiedeln. 67 Gegen Ende der fünfziger Jahre und spätestens nach dem innerdeutschen Mauerbau von 1961 versiegte jedoch diese ‘deutsche’ Quelle an Migranten. Gleichzeitig wurden aber auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor viele Einwanderer als Arbeitskräfte gebraucht. Mit anderen Worten: Das später so genannte „deutsche Wirtschaftswunder“ war auf neue Menschenressourcen angewiesen, die es in den verschiedenen südeuropäischen und nordafrikanischen Ländern vorfand. 66 Siehe Herbert (2003, S. 193ff.) und Terkessidis (2000, S. 16). 67 Dass die Bundesrepublik die deutschstämmigen Migranten aufgrund ihres auf dem Abstammungsprinzip beruhenden Staatsangehörigkeitsgesetzes aufnahm und politisch als gleichberechtigte Bürger behandelte, bedeutet natürlich nicht, dass diese Einwanderer im Alltag von Diskriminierungen verschont blieben (siehe z.B. in Grosser 1993 und Glass 2003). Siehe dazu auch die Zeitzeugenberichte im Ausstellungskatalog „mannheimJahre - Fotoausstellung zur neueren Mannheimer Migrationsgeschichte“ von „Die Unmündigen“ (2007). Des Weiteren präsentieren Meng (2001) und Reitemeier (2006) ausgezeichnete soziolinguistische Analysen zur interaktiven Identitätsarbeit bzw. zu Prozessen der Marginalitätszuschreibung in Situationen zwischen Aussiedlern und Binnendeutschen und zu Sprachbiografien von Aussiedlern. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 55 3.1.2 Die Anwerbung der „Gastarbeiter“ Bereits im Dezember 1955 hatte die Bundesrepublik mit Italien ein Anwerbeabkommen über Arbeitskräfte aus Italien unterzeichnet. Die Initiative für diese Vereinbarung ging von baden-württembergischen Landwirten aus, denen es trotz der damaligen Arbeitslosenquote von 7 Prozent an Erntehelfern fehlte, weshalb bereits „Anfang der 1950er-Jahre [...] die ersten italienischen Landarbeiter engagiert [wurden], um der Leutenot in der Landwirtschaft Abhilfe zu schaffen“ (Meier-Braun/ Weber 2005, S. 13). 68 Auch wenn über dieses Abkommen zunächst verhältnismäßig wenige ausländische Arbeiter angeworben wurden, so dass der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung zwischen 1955 und 1959 lediglich von 0,4 auf 0,8 Prozent (Herbert 2003, S. 198) stieg, stellte diese Vereinbarung ein einschneidendes Ereignis in der deutschen Nachkriegsgeschichte dar. 69 Denn nach ihrem Vorbild schloss man in den sechziger Jahren weitere bilaterale Abkommen mit sieben anderen (südeuropäischen und nordafrikanischen) Ländern: mit Griechenland und Spanien 1960, mit der Türkei 1961, mit Marokko 1963, mit Portugal 1964, mit Tunesien 1965 und mit dem damaligen Jugoslawien 1968. 70 Hintergrund dieser späteren Abkommen war nicht mehr der Bedarf an Arbeitskräften in der Landwirtschaft, sondern der mittlerweile aufgetretene Mangel an Industriearbeitern. 71 Ein Vergleich der Jahre 1959 und 1966 kann für Deutschland die Notwendigkeit verdeutlichen, bei anhaltendem wirtschaftlichen Wachstum eine Massenanwerbung von (nicht-deutschstämmigen) Migranten zu betreiben: 1959 waren in der Bundesrepublik nur 166.000 ausländische Arbeitskräfte beschäftigt und die Arbeitslosenquote lag bei 2,6 Prozent. 72 Bis 1966 verzehnfachte sich 68 Zur Historie der Beschäftigung von nicht-deutschstämmigen Migranten in der Bundesrepublik siehe auch Karakayali (2008), der die Wechselwirkungen von illegaler Einwanderung und staatlicher Migrationspolitik fokussierend eine bislang vernachlässigte Perspektive auf den Gegenstand präsentiert. 69 Siehe auch u.a Hoffmann (1990, S. 23). 70 Siehe Terkessidis (2000, S. 18) und Schönwälder (2001), die sehr detailliert die Ereignisse, Diskurse, Gesetzgebung etc. um die „Gastarbeiter“-Thematik in den 1960ern nachzeichnen. 71 Im Folgenden werde ich auf die Geschichte der „Gastarbeiter“ nur unter dem Gesichtspunkt eingehen, wie der Anwerbungsprozess von der Bundesrepublik politisch gestaltet wurde. Das bedeutet, dass ich auf verschiedene diskriminierende Praktiken der Mehrheitsgesellschaft wie z.B. in der Arbeitswelt, bei Wohnungsvermietungen etc. nicht eingehe. Diese (notwendige) Einschränkung resultiert vor allem daraus, dass diese Formen der Ausgrenzung im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit keine wesentliche Rolle spielen. 72 Siehe die Tabellen in Herbert (2003, S. 195, 198). Migration, Sprache und Rassismus 56 die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte auf über eine Million, während gleichzeitig die Arbeitslosigkeit auf die für „unerreichbar gehaltene Quote von 0,68 Prozent“ (Engelmann 1984, S. 48) sank. 73 Obwohl diese Zahlen beeindruckende Belege dafür sind, dass Deutschland auf die Beschäftigung der nicht-deutschstämmigen Arbeiter angewiesen war, wollte die Bundesrepublik ihre Anwerbung nicht als Migration verstanden wissen. Mit Hilfe von zeitlich befristeten Verträgen wollte man die so genannten „Gastarbeiter“ permanent austauschen (Rotationsmodell) und je nach Bedarf einsetzen. Aus diesem Grund entwickelte die Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt der Anwerbung - und auch nicht darüber hinaus - eine Einwanderungspolitik. Stattdessen verwaltete sie die nicht-deutschstämmigen Migranten als „Ausländer“, indem sie in den Anfangsjahren der Anwerbung die „Verordnung über ausländische Arbeitnehmer“ von 1933 und das „Ausländerzentralregister“ bzw. die „Ausländerpolizeiverordnung“ aus dem Jahre 1938 wieder in Kraft setzte. Dabei hielt insbesondere die letzte Verordnung fest, dass „sich die Ausländer der ihnen gewährten Gastfreundschaft als würdig erweisen müssen“ (zitiert aus Dunkel/ Stramaglia-Faggion 2000, S. 9f.), wenn sie ihren Aufenthalt in Deutschland nicht gefährden wollten. Erst 1965, also zehn Jahre nach dem ersten Anwerbevertrag mit Italien, verabschiedete die Bundesrepublik ein Ausländergesetz, das die bis dahin geltenden Gesetze und Erlasse aus der Vorkriegsbzw. Nazizeit ablöste. Das Gesetz war jedoch kein Ausdruck einer Einwanderungs- und Integrationspolitik. Es war die politisch-juristische Manifestation einer gestaffelten „Gastarbeiterpolitik“. Nach ihm sollten nur die Arbeiter aus den EWG -Ländern (zur betreffenden Zeit also nur die Arbeiter aus Italien) den deutschen Arbeitnehmern arbeits- und aufenthaltsrechtlich gleichgestellt sein. Für alle anderen Migranten galt: Sie erhielten zunächst nur für ein Jahr das Aufenthaltsrecht, waren aber während dieser Zeit an den Arbeitgeber in Deutschland gebunden. Eine Verlängerung der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis über dieses eine Jahr hinaus stand im Ermessen der bundesdeutschen Behörden und wurde nur erteilt, wenn dadurch „die Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigt“ wurden (§ 2 Ausl. Gesetz). Eine ständige Niederlassung in der Bundesrepublik aber wurde von den Gerichten als Verstoß gegen diese Bestimmung bewertet [...]. (Herbert 2003, S. 212) 74 73 Vgl. auch Herbert (2003, S. 207). 74 Siehe auch Pagenstecher (1994, S. 29) und Niehr (2004, S. 154). Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 57 Das auf dem Rotationsprinzip basierende „Gastarbeitersystem“ versprach für den deutschen Staat und für die deutsche Industrie große ökonomische Vorzüge. So war es für sie von großem Vorteil, über die ausländischen Arbeiter in Form einer „mobilen Reservearmee“ 75 oder eines „Konjunkturpuffers“ 76 zu verfügen, die man dann und dort einsetzte, wann und wo sie gebraucht wurden. In diesem Sinne warb die Bundesrepublik bis zum Anwerbestopp von ausländischen Arbeitskräften im Jahre 1973 verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 14 bis 20 Millionen „Gastarbeiter“ an. 77 Die überwiegende Mehrheit von ihnen kehrte wieder in ihre Heimatländer zurück, so dass 1973 nur noch 2,6 Millionen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik beschäftigt waren (Herbert 2003, S. 199). Auf der anderen Seite war die ständige Rotation von „Gastarbeitern“ nicht ganz im Sinne der deutschen Arbeitgeber (Şen/ Goldberg 1994, S. 20). Denn parallel zu den genannten Vorteilen hatte ein permanenter Austausch der ausländischen Beschäftigten auch manche Nachteile. Für die Unternehmen erschien es nämlich nicht immer „sinnvoll [...], eingearbeitete und bewährte ausländische Arbeitskräfte nach einigen Jahren per Zwangsrotation zu verlieren, um erneut neue, ungelernte Gastarbeiter anlernen und einarbeiten zu müssen“ (Herbert 2003, S. 227). Also wurden die Arbeitsverträge jenes Teils der „Gastarbeiter“, der auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch nach dem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte 1973 unverzichtbar war, Jahr um Jahr verlängert. Eine logische Konsequenz für diese nicht-deutschstämmigen Migranten war es deshalb, insbesondere im Laufe der 1970er Jahre ihre Ehepartner und Kinder nachzuholen. 3.1.3 Die „zweite Generation“ Spätestens dann, als die ehemaligen „Gastarbeiter“, die auch nach dem Anwerbestopp in der Bundesrepublik behalten wurden, ihre Familien nachholten bzw. in Deutschland Familien gründeten, begann für den Großteil von ihnen der Ansiedlungsprozess. 78 Doch für die Bundesrepublik blieb es auf der 75 Herbert (2003, S. 211). 76 Siehe u.a. Münz/ Seifert/ Ulrich (1999, S. 76), Niehr (2004, S. 155), Schildt (2007, S. 34). 77 Seidel-Pielen (1995, S. 24) und Bade/ Oltmer (2005, S. 73) sprechen von 14 Millionen „Gastarbeitern“, die Deutschland insgesamt anwarb, Oberndörfer (2005, S. 111) spricht von über 20 Millionen. 78 Ich spreche hier deswegen vom „Großteil“, weil die Bundesrepublik auch in den folgenden Jahren daran festhielt, dass die nicht-deutschstämmigen Migranten in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollten. So beschloss etwa die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl ( CDU ) 1983 das „Rückkehrhilfegesetz“, womit für die Migranten finanzielle Anreize ge- Migration, Sprache und Rassismus 58 Regierungsebene bis 1998 ein Tabu, sie und ihre Familienangehörigen als Einwanderer zu betrachten. Also wurde in dieser Zeit weder die völkische Definition der deutschen Staatsbürgerschaft revidiert, noch eine auf Chancengleichheit abzielende Integrationspolitik entwickelt. Unter diesen gesellschaftspolitischen Vorzeichen wuchsen in den 1970er, 80er und 90er Jahren die Kinder und Enkel der „Gastarbeiter“ auf. Wie Terkessidis (2000, S. 29) ausführt, wurde dabei bereits „seit Mitte der siebziger Jahre bei Regierung, Medien und auch in den ersten wissenschaftlichen Werken in Bezug auf die ‘zweite Generation’ ununterbrochen [...] vom »sozialen Zündstoff« oder einer ‘sozialen Zeitbombe’“ geredet. Exkurs: Zur Bezeichnung „zweite Generation“ Nach Sauter (2000, S. 40) wurde die Bezeichnung „zweite Generation“ für die Kinder der so genannten „Gastarbeiter“ durch die wissenschaftliche Arbeit von Schrader/ Nikles/ Griese (1976) „Die zweite Generation - Sozialisation und Akkulturation ausländischer Kinder in der Bundesrepublik“ geprägt. Die so bezeichneten Migranten gehen unterschiedlich mit ihr um: Manche distanzieren sich von ihr, weil sie „pejorativ besetzt [ist]“ und „immer im Zusammenhang mit einer Thematisierung von Defiziten verwendet wird“ (Terkessidis 2004, S. 125). Des Weiteren verweist Terkessidis darauf, dass der Begriff „auch den Beigeschmack einer nicht enden wollenden ‘Fremdheit’ [hat]“. Andere Migranten wie die Gruppe der „Unmündigen“ übernehmen sie dagegen problemlos als Selbstbezeichnung. Mit der Charakterisierung der „zweiten Generation“ als „sozialer Zündstoff“ bezieht sich Terkessidis auf eine Stellungnahme Bodenbenders, der 1976 als Ministerialrat im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung auf einer Konferenz über die Zukunftsperspektiven der ‘ausländischen’ Jugendlichen in Deutschland Folgendes referierte: Die zweite Ausländergeneration wird ihre eigenen sozialen und wirtschaftlichen Chancen mit denen der deutschen Bevölkerung vergleichen und eine boten wurden (z.B. die Auszahlung der Rentenbeiträge), die BRD zu verlassen, was etwa 300.000 Migranten auch taten (Lehmann 2002, S. 342). Die Idee für dieses Gesetz stammte von der vorherigen sozial-liberalen Bundesregierung unter Helmut Schmitt ( SPD ), die 1981 einige Grundlinien zur Ausländerpolitik beschlossen hatte, die die spätere Kohl-Regierung umsetzte: „Die Bundesrepublik sollte demnach [dem sozial-liberalen Kabinettsbeschluss von 1981 nach, m.A.] weder ein Einwanderungsland sein noch ein solches werden. Ein weiterer Zuzug sollte mit allen Mitteln verhindert und die Bereitschaft zur Rückkehr auch mit finanziellen Mitteln verstärkt werden.“ (Herbert 2003, S. 247, m.H.). Die betreffende Stelle im Zitat habe ich aus dem Grund hervorgehoben, weil in der Literatur selten darauf hingewiesen wird, dass bereits die SPD als Regierungspartei Deutschland als „kein Einwanderungsland“ betrachtete. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 59 mißlungene soziale und berufliche Integration als das empfinden, was sie in Wirklichkeit ist: Als eine unerträgliche Diskriminierung. (Zitiert nach Sauter 2000, S. 47) In den folgenden Jahren - so Bodenbender weiter - sei in Bezug auf die Migrantenkinder ein neues Subproletariat ohne Berufsbildung zu erwarten, das sich aufgrund dieser Situation als „sozialer Zündstoff mit Zeitzünder“ (ebd.) entwickeln werde. Nach Tsiakalos (1983) wurde diese Metaphorik der „Explosionen“ und „Sprengsätze“ zum bestimmenden Diskurselement der Mehrheitsgesellschaft, wenn diese in der Folgezeit über die Kinder der „Gastarbeiter“ debattierte. 79 Diese mehrheitsgesellschaftliche Praxis war einerseits - wie es bereits Bodenbender erwartete und eindeutig formulierte - offen rassistisch, indem sie die Migrantenkinder und -jugendliche als eine (potenzielle) „Generation von Kriminellen“ (Terkessidis 2000, S. 29) oder - etwas positiver ausgedrückt - als eine in akkulturatorischer und sozialisatorischer Hinsicht problembehaftete Generation behandelte. 80 Auf der anderen Seite wirkte sich die fehlende Integrations- und Einwanderungspolitik Deutschlands für die Zukunftschancen der jungen Migranten katastrophal aus. Da bereits die sozial-liberale Bundesregierung der 1970er Jahre die Augen vor dem beginnenden Ansiedlungsprozess der nicht-deutschstämmigen Migranten fest verschlossen hatte, entschied sie noch kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit zu Beginn der achtziger Jahre, dass man die Migrantenkinder „nicht vorbehaltlos in das deutsche Schulsystem eingliedern“ (zitiert nach Herbert 2003, S. 247) dürfe! Man hoffte, dass in den nächsten Jahren die Migrantenkinder samt ihrer Familien Deutschland verlassen würden, 81 so dass die Bildungseinrichtungen nach der zitierten Vorgabe der Bundesregierung keine Anstrengungen zu unternehmen und Konzepte zu entwickeln brauchten, um die jungen Migranten in das deutsche Schulsystem - und somit auch in die deutsche Gesellschaft - zu integrieren, was im Grunde auch in den letzten drei Jahrzehnten bis heute die bildungspolitische Praxis 79 Siehe u.a. Jäger (1993) und Sauter (2000). 80 Die Migrantenkinder als Problemgruppe zu sehen, war die durchgängige Perspektive der damals so genannten „Ausländerforschung“. Das gilt fast für alle Pionierarbeiten wie z.B. Holtbrügge (1975), Schrader/ Nikles/ Griese (1976), Weische-Alexa (1977) etc. 81 Der Botschaftsmitarbeiter der Bundesrepublik Deutschland in Ankara, Dietrich Willers, drückte das 1977 so aus: „Da die Bundesrepublik Deutschland, wie immer wieder auch zu recht betont wird, kein Einwanderungsland ist, auch nicht für die zweite Generation der hier aufgewachsenen und ausgebildeten Kinder ausländischer Arbeitnehmer, muß aus der vorstehend genannten Sachlage folgende Konsequenz gezogen werden: Türkischen Arbeitnehmern kann nur geraten werden, ihre Kinder während der Dauer der Schul- und Berufsausbildung in der Türkei zu lassen.“ (zitiert nach Sauter 2000, S. 48). Migration, Sprache und Rassismus 60 der Bundesrepublik darstellt. 82 Nicht zuletzt belegen die PISA -Studien seit 2000 und die Ergebnisse der UN -Inspektion 2006 diese diskriminierende Tatsache. Exkurs: Die PISA -Studien und die UN -Inspektion 2006 Die PISA -Studien der OECD sind internationale Schulleistungsuntersuchungen, die seit dem Jahr 2000 in dreijährigem Turnus in den meisten Mitgliedsstaaten der OECD und in einer zunehmenden Anzahl von Partnerstaaten durchgeführt werden und zum Ziel haben, alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten 15-jähriger Schüler zu messen. Bei den Ergebnissen für Deutschland wird festgehalten, dass schlechte Leistungen der Schüler stark mit ihrem migrantischen Hintergrund bzw. mit dem sozioökonomischen Niveau des elterlichen Berufs korrelieren (Baumert et al. (Hg.) 2001). 2006 inspizierte der UN -Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz Villalobos, das deutsche Schulsystem und kam u.a. zum Schluss, dass Migrantenkinder und Schüler aus armen Familien stark benachteiligt seien. An Hauptschulen gebe es viele Migrantenkinder, an Gymnasien zu wenige. In Deutschland seien Herkunft und schulische Leistungen immer noch eng miteinander verknüpft (siehe Drexler/ Heckmann (2006, S. 259f.) und die „Süddeutsche Zeitung“ vom 21. und 22.02.2006). 3.1.4 Gegenwärtige Gesetzeslage Seit 1998 hat sich in Deutschland in Bezug auf die Migrationsthematik einiges getan. Objektiv festhalten kann man im Einzelnen: 2000 wurde der Staatsbürgerschaftsparagraf reformiert, 2005 trat das Zuwanderungsgesetz und 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die Bundesrepublik noch bis 1998 als „kein Einwanderungsland“ definierte, so sind diese Veränderungen für deutsche Verhältnisse einerseits sehr bedeutsam. Auf der anderen Seite haben aber auch kritische Stimmen ihre Berechtigung, wenn man sich etwa das Zustandekommen und die Wirkungsbereiche der genannten Gesetze vor Augen führt: So ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vor allem aufgrund des Drucks seitens der Europäischen Union eingeführt worden. Denn die EU verabschiedete bereits 2000 die Richtlinie zum Verbot von Diskriminierung auf Grund der Rasse oder der ethnischen Herkunft in den Bereichen Beschäftigung, Bildung, soziale Sicher- 82 Insofern ist es nicht ganz zutreffend, wenn in den gegenwärtigen Debatten über Schul- und Sprachprobleme der jungen Migranten als Ursache z.B. auf die „Integrationsunwilligkeit“ der Migranten hingewiesen wird und nicht auf die fehlende Einwanderungs- und Bildungspolitik der Bundesrepublik (siehe auch in Terkessidis 2004, S. 186f.). Zur Produktion von Ungleichheit durch fehlende Bildungspolitik siehe u.a. Bade/ Bommes (2004, S. 25ff.) und Keim (2007, S. 33f.). Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 61 heit/ Gesundheitsdienste und Zugang zu Gütern/ Dienstleistungen, die die Mitgliedsländer bis 2003 umsetzen sollten. Da die Bundesrepublik die Vorgaben bis zum genannten Zeitraum nicht umgesetzt hatte, drohte der EU -Rat Deutschland mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), die er auch einreichte, weshalb der EuGH die Bundesrepublik 2005 wegen Vertragsverletzung verurteilte. Daraufhin verabschiedete die Bundesrepublik 2006 schließlich doch das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“. 83 Des Weiteren lässt sich zum Zuwanderungsgesetz, das als Bekenntnis der Bundesrepublik zu ihrem Status als Einwanderungsland gesehen wird, festhalten, dass es vor allem diejenigen betrifft, die erst noch nach Deutschland einwandern sollen. An der rechtlichen Situation der Millionen von nichtdeutschstämmigen Migranten, die bereits seit Jahrzehnten hier leben oder gar hier geboren sind, hat es wenig geändert. Die überwiegende Mehrheit von ihnen lebt in Deutschland weiterhin als „Ausländer“. 84 Schließlich ist auch die Reform des Staatsbürgerschaftsparagrafen weit hinter dem geblieben, was zunächst geplant war. Ursprünglich sollte die Reform zwei zentrale Aspekte beinhalten: a) die Hinnahme von Mehrstaatigkeit und b) die Einführung des „ius soli“bzw. „Bodenprinzips“, wonach auch Kinder von „Ausländern“, die in Deutschland geboren werden, unter bestimmten Bedingungen, die mindestens ein Elternteil erfüllen muss, die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten können. 85 Die Hinnahme von Mehrstaatigkeit (d.h. bei Einbürgerungen nicht zu fordern, dass die Bewerber ihre alte Staatsangehörigkeit aufgeben) wurde im Reformvorhaben gänzlich gestrichen. 86 Dies hatte 83 Zur Chronologie dieser Entwicklung siehe im Internet die Homepage von Susanne Baer ( HU Berlin): http: / / baer.rewi.hu-berlin.de/ wissen/ antidiskriminierungsrecht/ antidiskriminierungs-gesetzgebung (Stand: 20.12.2007). 84 Zum Inhalt des Gesetzes siehe auf der Homepage der Bundesregierung unter http: / / www. zuwanderung.de/ 2_zuwanderungsgesetz.html (Stand: 01.03.2008). Des Weiteren stimmten nach dem „Migrationsreport 2006“ die „Vertreter der Unionsparteien“ dem Gesetz deshalb zu, weil sie sich von ihm „eine wirksame Steuerung und Begrenzung [m.H.] der Zuwanderung [versprechen] und auch ihre sicherheitspolitischen Bedenken berücksichtigt [sehen]“ (Drexler/ Heckmann 2006, S. 216). 85 Siehe dazu den Online-Newsletter der Bundeszentrale für politische Bildung vom Februar 1999 unter www.migration-info.de/ migration_und_bevoelkerung/ archiv/ ausgabe 9902.htm (Stand: 20.12.2007). 86 Nicht nur zeithistorisch ist es an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass die Streichung der Hinnahme von Mehrstaatigkeit im Reformvorhaben auf eine Kampagne der CDU im Frühjahr 1999 zurückgeht. Damals initiierte der hessische Politiker Roland Koch ( CDU ) im Landtagswahlkampf die Unterschriftenaktion „Nein zur Doppelten Staatsbürgerschaft“, die in der (deutschen) Bevölkerung großen Widerhall fand, weshalb sich die Bundesregierung von Migration, Sprache und Rassismus 62 auch Auswirkungen auf das „ius soli“-Recht, das im neuen Staatsbürgerschaftsgesetz nur eingeschränkt Berücksichtigung fand. Seit der Reform können hier geborene Kinder von „Ausländern“ zwar unter bestimmten Bedingungen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, müssen sich aber spätestens mit 23 Jahren, falls sie zu diesem Zeitpunkt mehrere Staatsbürgerschaften besitzen, für eine dieser Staatsbürgerschaften entscheiden. Auf diesem Wege lebt auch im reformierten Staatsbürgerschaftsparagrafen die Vorstellung von einem „homogenen Staatsvolk“ (Hoffmann 1990, S. 70f.) weiter, was unter anderem dazu führte, dass die anfänglich relativ hohen Einbürgerungszahlen in den folgenden Jahren stark abnahmen. 87 Zum Schluss dieses Abschnitts will ich den Leserbrief einer jungen Migrantin zitieren, in dem zum Ausdruck gebracht wird, dass die sinkenden Einbürgerungszahlen u.a. auch auf solche diskriminierenden „Gesinnungstests“ 88 zurückzuführen sind, die Anfang 2006 in den verschiedenen Bundesländern eingeführt wurden: Ich werde mich ab heute als Türkin bezeichnen. Denn der Beschluss zur Einführung des Einbürgerungstests ist der Beweis dafür, wie wenig bei solchen Entscheidungen Rücksicht auf integrierwillige Jugendliche mit Migrationshintergrund [...] genommen wird. [...] Vielleicht erzähle ich mal die Geschichte ihrem Vorhaben distanzierte (siehe dazu u.a. den Artikel „ CDU will weg vom Doppelpass“ in der Online-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ vom 10.07.2008, der im übrigen den Innenexperten der CDU/ CSU -Bundestagsfraktion, Wolfgang Bosbach, mit den Worten zitiert: „Wir wollen zurück zum alten Staatsangehörigkeitsrecht von vor 1999, weil es eben keine doppelte Loyalitäten bei der Staatsangehörigkeit geben kann.“). Die „Unmündigen“ gingen mit der in ihren Augen rassistischen Kampagne der CDU von 1999 auf ihre Weise sehr kreativ um (siehe dazu Abschnitt 4.4). 87 Siehe dazu die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom Juli 2007, online unter: www.destatis.de/ jetspeed/ portal/ cms/ Sites/ destatis/ Internet/ DE/ Presse/ pm/ 2007/ 07/ PD07__292__12511, templateId=renderPrint.psml (Stand: 26.01.2010). 88 Im „Migrationsreport 2006“ notieren Drexler/ Heckmann (2006, S. 255f.) dazu: „Am 1. Januar [2006, m.A.] führte Baden-Württemberg einen Gesprächsleitfaden für Einbürgerungsbewerber aus 57 islamischen Staaten ein. Ziel der bis zu 30 Fragen, die sich z.B. um die Einstellung zur Homosexualität oder zur Gleichberechtigung von Mann und Frau drehen, ist eine Überprüfung der Verfassungstreue. Begründung: Das Innenministerium habe ‘Zweifel, ob bei Muslimen generell davon auszugehen sei, dass ihr Bekenntnis bei der Einbürgerung auch ihrer tatsächlichen inneren Einstellung entspreche’ (Pressemitteilung Innenministerium Baden-Württemberg, 14. Dezember 2005). Die Verwaltungsvorschrift löste massive Kritik türkischer und islamischer Verbände, der baden-württembergischen Opposition SPD und Grüne sowie teilweise in der CDU aus: Der Fragebogen sei diskriminierend und sinnlos. Er schüre einen Generalverdacht gegen Muslime und zerstöre Vertrauen.“ (Siehe dazu auch die „Süddeutsche Zeitung“ vom 13.01.2006 und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 06.01.2006.) Des Weiteren siehe Drexler/ Heckmann (2006, S. 262) zum Fragenkatalog des Bundeslandes Hessen. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 63 eines türkischen Mädchens, nennen wir sie Ayse. Ayse war schon immer ein ziemlich aufgewecktes Kind. [...] Nun, nach dem Abitur wollte sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, die 250 Euro undnpaarzerquetschte, die sie für ihr Vorhaben benötigte, ließen sich jedoch problemlos in einen neuen PC investieren. Außerdem konnte sie sich nicht erklären, warum die Bundesrepublik Deutschland nicht auf die Idee kam, Ausländer wie sie mit dem deutschen Pass zu „belohnen“. Einfach so, als Lohn für ihre Mühen. Nein, sie musste relativ kurze Zeit später auch noch erfahren, dass sie, obwohl sie Geschichte als Leistungskurs gewählt hatte - ohne Verpflichtung! -, nun in irgendwelche Kurse gehen sollte, um einen Test bestehen zu können, nur um dann [...] als deutsche Staatsbürgerin akzeptiert zu werden. („die tageszeitung“, 10. Mai 2006, S. 12) Im folgenden Abschnitt werde ich darauf eingehen, in welcher Weise die hier ausgeführte deutsche Migrationspolitik mit der Entwicklung migrantischer Sozialwelten zu tun hat. Zunächst lässt sich allgemein festhalten: Die Beziehung zwischen (gesellschafts-)politischen Strukturen - wie die deutsche Migrationspolitik und Gesetzgebung - und subjektiven Handlungen seitens der Migranten - wie die Konstitution von eigenen Formationen - ist immer vielschichtig und selten monokausal. Es ist von Fall zu Fall zu untersuchen, in welcher Form einzelne Faktoren bei der Konstitution von diversen Sozialwelten eine Rolle spielen. Im Falle der Migrantenwelten besitzen zwei Aspekte, wie im Allgemeinen so auch für die in der vorliegenden Arbeit fokussierten Formationen der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“, eine herausragende Rolle. Zum einen handelt es sich dabei um die Diskriminierung im Einwanderungsland, wie sie in diesem Abschnitt diskutiert wurde. Sie ist für die Migranten in allen Lebensbereichen virulent und hat zum Beispiel zur Entstehung solcher Formationen wie die der „emanzipatorischen Migranten“ geführt, die als zentrales Thema die rassistische Migrationspolitik Deutschlands bearbeiten. Der zweite wichtige Faktor bei der Konstitution von einzelnen Migrantenwelten ist der Kontakt zum Herkunftsland bzw. die Verbundenheit der Migranten mit der Herkunftskultur. Dieser Aspekt hat, wie wir in den nächsten beiden Abschnitten sehen werden, bei der Entstehung solcher Sozialwelten wie die der „Europatürken“ eine stärkere Rolle gespielt. 3.2 Entwicklungslinien der ‘türkischen’ Migrantenwelten in Deutschland Dieser Abschnitt soll vor allem verdeutlichen, aus welchen sozialweltlichen Zusammenhängen Formationen von „emanzipatorischen Migranten“ entstanden sind. Ihre Wurzeln sind in den migrantischen „Arbeitervereinen“ bzw. den Migration, Sprache und Rassismus 64 demokratisch-linken Milieus zu sehen, die sich bereits zu Beginn der Migration konstituierten. In der folgenden historischen Skizze über die allgemeine Entwicklung von Sozialwelten der ‘türkischen’ Migranten in Deutschland liegt mein Fokus auf dieser Sozialwelt. 89 Dabei wird die Entwicklung der „Arbeitervereine“ jeweils historisch verortet, indem sie in Verbindung mit den zum jeweiligen Zeitpunkt relevanten anderen Sozialwelten der ‘türkischen’ Migranten präsentiert wird. 3.2.1 Die Anfänge in den 1960er und 1970er Jahren Die 1960er und 1970er Jahre waren vom provisorischen Charakter der Migration geprägt. Wie in Abschnitt 3.1.2 ausgeführt wurde, warb die Bundesrepublik in dieser Zeit bis zu 20 Millionen „Gastarbeiter“ an, von denen 1973, als die Bundesregierung den Anwerbestopp von ausländischen Arbeitskräften beschloss, nur noch 2,6 Millionen in Deutschland beschäftigt waren. Aber auch für diesen Teil der Migranten blieb in den Folgejahren die Rückkehr ein jederzeit aktuelles Thema, da die Bundesrepublik immer wieder bekräftigte, die „Gastarbeiter“ nicht als Einwanderer betrachten zu wollen. Der provisorische Status der Migranten schlägt sich auch in der Zahl und im Charakter der Sozialwelten nieder, die die „Gastarbeiter“ in dieser ersten Phase gründeten. Insgesamt gab es in dieser Zeit nur wenige sozialweltliche Formationen. Das soziale Leben der Migranten spielte sich eher in privaten Netzwerken ab. Und auch der Charakter der wenigen Sozialwelten ist ein Spiegelbild jenes Provisoriums. Sie deckten die allerwichtigsten Bedürfnisse des sozialen Lebens ab, und ihre infrastrukturelle Ausstattung war oftmals notdürftig. Zu den ersten Sozialwelten, die in der Anfangszeit gegründet wurden, zählen die so genannten „Arbeitervereine“, „Hinterhofmoscheen“, „Männercafés“, Fußballmannschaften und einzelne Studentenvereine. Auf die „Arbeitervereine“ werde ich gleich weiter unten und auf die „Hinterhofmoscheen“ im nächsten Abschnitt eingehen. Zu den anderen Sozialwelten will ich an dieser Stelle nur anmerken, dass es sich im Falle der „Männercafés“, Fußball- und Studentenvereine zu jener Zeit nur um Einzelerscheinungen handelte. Die vereinzelten Studentenvereine wurden von Gaststudenten aus der Türkei gegründet, die sich meist nur für einige Studienjahre in Deutschland aufhielten. Die wenigen Fußballvereine waren in dieser Phase in der 89 In der sozialwissenschaftlichen Literatur existieren zwar einige synchrone Darstellungen zu politischen bzw. religiösen Verbänden und Milieus, aber keine diachrone Abhandlung über die allgemeine Entwicklung von Sozialwelten der ‘türkischen’ Migranten in Deutschland, wie sie in diesem Abschnitt vorgenommen wird. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 65 Regel Hobbymannschaften, die selten am deutschen Ligabetrieb teilnahmen. Und die so genannten „Männercafés“ sollten erst ab den 1980er und vor allem 1990er Jahren wichtig werden, als ihre Zahl - wie auch die der Fußball- und Studentenvereine - beträchtlich anstieg. 90 Im Folgenden will ich auf eine Sozialwelt der Migranten ausführlicher eingehen, die neben den genannten Formationen in den 1960er und 1970er Jahren zu den zahlenmäßig stärksten und für die Migranten bedeutendsten Netzwerken gehörte. Es handelt sich dabei um die Sozialwelt der „Arbeitervereine“, die das demokratisch-linke Milieu der Migranten aus der Türkei repräsentierte. Dass ich auf diese Sozialwelt näher eingehe, hat neben ihrer gesellschaftlichen Relevanz auch damit zu tun, dass sich unter anderem in und aus diesem Milieu in den 1980er und 1990er Jahren die ersten Gruppen der „emanzipatorischen Migranten“ konstituierten. Der bundesweit erste „Arbeiterverein“ 91 der Migranten aus der Türkei wurde gleich zu Beginn ihrer Anwerbung gegründet. Nach Angaben des DOM i T (Dokumentationszentrum und Museeum über die Migration aus der Türkei e.V.) konstituierte er sich 1962 in Köln. 92 Bereits 1962 gab es für sie [die Migranten, m.A.] auf dem Venloer Wall eine erste Adresse, den „Verein türkischer Arbeitnehmer in Köln und Umgebung“. Er entstand mit Unterstützung der Arbeiterwohlfahrt, die den Beratungsdienst „Türkdanış“ aufbaute. Hier fand man Unterstützung bei Problemen mit Behörden, Arbeitgebern und einen Treffpunkt, um Kontakte zu knüpfen. Endlich gab es eine Alternative zum Kölner Hauptbahnhof, dem wichtigsten Treffpunkt von Migranten. Der Verein mietete ein Ladenlokal in der Händelsstraße, das als Café und Bibliothek genutzt wurde. Der Arbeiterverein war die erste Selbstorganisation von Türken in Deutschland und wurde später bundesweit nachgeahmt. ( DOM i T 2001, S. 58) Die wichtigsten Funktionen der „Arbeitervereine“ bestanden darin, die Migranten bei Problemen mit Behörden und Arbeitgebern zu unterstützen. Dies- 90 Zur Sozialwelt der „Männercafés“ siehe Ayata (1998), Ceylan (2006, S. 181-244) und Acar (2007), zu den türkischen Studenvereinen Özcan (1989) und zur türkischen Fußballwelt u.a. Hellriegel (1997), Zifonun/ Cindark (2004) und Cindark (i.Vorb. b). 91 Den Begriff „Arbeiterverein“ verwende ich hier in einem umfassenden Sinne. Im Einzelnen gab es auch Vereine, die sich zwar nicht „Arbeiterverein“ nannten, sich aber von ihrer inhaltlichen und politischen Ausrichtung her von ihnen auch nicht unterschieden. Dazu zählen z.B. solche Formationen wie die „Patriotenvereine“, wie sich die ersten Formationen von Migranten mit alevitischem Hintergrund selber bezeichneten (siehe dazu auf der Homepage der „Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V.“ unter www.alevi.com (Stand: 27.01.2010). 92 Nach Zaptçioğlu (2005, S. 149) ist der Verein bereits 1961 gegründet worden, und zwar „von einer Gruppe von Arbeitern der Ford-Fabrik und Intellektuellen“. Migration, Sprache und Rassismus 66 bezüglich bot die Bundesrepublik den Migranten nur wenige Anlaufstellen an. Die Situation der Migranten wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass diese Beratungslücke von wirklichen oder selbsternannten Dolmetschern ausgefüllt wurde, die die Migranten „unbarmherzig ausnutzten und horrende Beträge für jede Dienstleistung verlangten“ (Straßburger/ Unbehaun/ Yalçın-Heckmann 2000, S. 162). 93 Aus diesem Grund begannen die Migranten spätestens ab den 1970er Jahren auch in kleineren Städten, in denen in der Regel keine Beratungsstellen existierten, „Arbeitervereine“ zu gründen. In Straßburger et al. (ebd., S. 164f.), wo die Entwicklung der türkischen Gemeinden in Bamberg und Colmar (Frankreich) kontrastiv nachgezeichnet wird, findet sich die Geschichte eines „Arbeitervereins“ in einer Kleinstadt: Der Verein wurde im März 1974 unter dem Namen „Verein der Arbeitnehmer in Bamberg und Umgebung“ aus der Taufe gehoben. Zwei der Dolmetscher, die sich bislang eine goldene Nase an ihren Landsleuten verdient hatten, konnten dazu überredet werden, nur noch innerhalb des Vereins tätig zu sein. Weitere Migranten, die über mehr als durchschnittliche Deutschkenntnisse verfügten, gesellten sich zu einer kleinen Gruppe im Verein, die den Mitgliedern für alle möglichen Dienstleistungen zur Verfügung standen. [...] Damit hatte sich der Verein zu dem „sozialen Netz“ der türkischen Kolonie entwickelt, [...]. Zunächst wurde ein relativ kleines Vereinslokal in einem Hinterhof angemietet, das jedoch bald den Bedürfnissen nicht mehr gerecht wurde, so daß ein größeres angemietet werden mußte. Es wird berichtet, daß der Verein Ende der 70er Jahre etwa 500 Mitglieder zählte, somit nahezu jeder erwachsene türkische Migrant in der Kolonie zumindest eine passive Mitgliedschaft innehatte. Die „Arbeitervereine“ waren Formationen, die politisch in der Mehrzahl dem demokratisch-linken Milieu zuzuordnen sind. Dabei existierten zwischen den einzelnen Vereinen zum Teil große politische Differenzen, je nachdem, welcher politisch-linken Strömung sie sich zurechneten. Solche Differenzen wurden aber nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb eines Vereins ausgetragen. In diesen Fällen hatten die Vereine den Charakter von Arenen, in denen politische Richtungskämpfe ausgefochten wurden. So schreibt z.B. Zaptçioğlu (2005, S. 149) in Bezug auf den ersten „Arbeiterverein“ in Köln, dass sich unter den Gründungsmitgliedern auch „bekannte Deutsch-Türken wie Yılmaz Karahasan und Şefik Karagüzel“ befanden, die sich nach einigen Jahren und 93 Die Autoren führen hinsichtlich der Praxis der Dolmetscher folgendes Beispiel an: „Für die Sprachvermittlung beim Arzt wurden beispielsweise ca. DM 20.verlangt. Nimmt man die damaligen Stundenlöhne als Maßstab - DM 3,50 pro Stunde waren Mitte der 60er Jahre normal - so wird die Zwangslage der Migranten deutlich.“ (Straßburger/ Unbehaun/ Yalçın- Heckmann 2000, S. 162). In Zaptçioğlu (2005, S. 133f.) findet man ähnliche Schilderungen über die Dolmetscher. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 67 Differenzen vom „Arbeiterverein“ trennten. 1966 gründeten sie dann den „Türk Gençliği Kültür Kulübü“ (Kulturklub der Türkischen Jugend), der „die Anhänger der Türkischen Arbeiterpartei und des Gewerkschaftsverbandes DISK [Konföderation Revolutionärer Arbeitergewerkschaften, m.A.] unter ein Dach bringen und Vorläuferin der TKP [Türkische Kommunistische Partei, m.A.] sein“ (Zaptçioğlu 2005, S. 150) sollte. Da die Geschichte und Gegenwart der „Arbeitervereine“ kaum erforscht ist, kann an dieser Stelle nicht genau gesagt werden, welche politische Strömung(en) in dieser Sozialwelt insgesamt dominierte(n). Aber anhand der Gründung von Dachverbänden, in denen sich einzelne „Arbeitervereine“ entsprechend ihrer politischen Ausrichtung organisierten, kann man wohl sagen, dass sozialistische Vereine gegenüber sozialdemokratischen Vereinen in der Überzahl waren. So wurde 1974 die „Föderation der Demokratischen Arbeitervereine der Türkei in Europa e.V.“ ( TDF ) , , 94 1977 die „Föderation der Türkischen Arbeitervereine in der BRD e.V.“ ( FIDEF ) 95 und 1980 die „Föderation der demokratischen Arbeitervereine in der Bundesrepublik Deutschland e.V.“ ( DIDF ) 96 gegründet, die alle der sozialistischen Richtung zuzurechnen sind. Demgegenüber steht auf der sozialdemokratischen Seite lediglich die Gründung der „Föderation der Volksvereine türkischer Sozialdemokraten“ ( HDF ) im Jahre 1977. 97 An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich ab den 1970er Jahren eine weitere Sozialwelt, und zwar in erklärter politischer Gegnerschaft zu den demokratisch-linken „Arbeitervereinen“ konstituierte: die Sozialwelt der nationalistischen Migranten. 98 Ihre Vereine trugen meist Namen wie „Ülkü Ocağı“ (Idealistische Gemeinschaft) oder „Türk Ocağı“ (Türkische Gemein- 94 Siehe im Internet unter „Extremismus-Berichte des Innenministeriums NRW an den Landtag oder Landesbehörden 1975“: www.im.nrw.de/ sch/ doks/ vs/ ib1975.pdf (Stand: 27.01.2010). 95 Hoffmann/ Opperskalski/ Solmaz (1981, S. 134); 1987 wurde die FIDEF in „Föderation der Immigrantenvereine aus der Türkei“ ( GDF ) umbenannt (Şen/ Goldberg 1994, S. 105). 96 Kücükhüseyin (2002, S. 40). 97 Siehe Jessen (2006, S. 53) und Şen/ Goldberg (1994, S. 105f.). 98 Im Gegensatz zu den „Arbeitervereinen“ ist die Sozialwelt der „Grauen Wölfe“, wie die nationalistischen Organisationen sich auch selbst bezeichnen, in der Forschung relativ gut untersucht. Bereits 1981 veröffentlichten Hoffmann/ Opperskalski/ Solmaz die Studie „Graue Wölfe, Koranschulen, Idealistenvereine“. Darin geht hervor, dass die Sozialwelt über die „Hinterhofmoscheen“ auch eng mit der konservativ-religiösen Welt, auf die ich im nächsten Abschnitt eingehe, verbunden war. Eine der aktuellen Untersuchungen zu den „Grauen Wölfen“ ist die politologische Arbeit „... ich bin stolz, ein Türke zu sein! “ von Bozay (2005). Im Fokus seiner Arbeit stehen Migranten der zweiten und dritten Generation, die mittlerweile in dieser Sozialwelt die Führungsrolle innehaben. Migration, Sprache und Rassismus 68 schaft) (Hoffmann/ Opperskalski/ Solmaz 1981, S. 110ff.). Dass es sich bei dieser Sozialwelt um keine kleine Formation handelt, drückt die Gründung des Dachverbandes „Europäische Föderation demokratisch-idealistischer Türkenvereine“ aus, der sich 1978 konstituierte. Zwei Jahre später gehörten der Föderation bereits 103 Mitgliedervereine in sechs verschiedenen europäischen Ländern an, wobei sich 86 Vereine in Deutschland befanden (ebd., S. 109). Die beiden Welten der demokratisch-linken und nationalistischen Migranten standen in den 1970er und auch noch in den 1980er Jahren in offener Gegnerschaft zueinander, die sich nicht selten in Straßenkämpfen äußerte. Exkurs: Yücels (2002) Darstellung einer Auseinandersetzung zwischen politisch links- und rechtsgerichteten Migranten mit tödlichem Ausgang Samstag 5. Januar 1980. Am Kottbusser Tor [in Berlin, m.A.] ist es ein Tag des türkischen Flugblatts. Vertreter aller möglichen politischen Gruppierungen sind unterwegs. Die Stimmung ist angespannt. In den Tagen und Wochen zuvor ist es in Berlin mehrfach zu Schlägereien zwischen Linken einerseits, Islamisten und Faschisten andererseits gekommen. […] An diesem kalten Morgen machen sich etwa 20 Linke [aus dem Umfeld der Türkischen Kommunistischen Partei ( TKP ), m.A.] zum Kottbusser Tor auf, um Flugblätter gegen den drohenden Militärputsch in der Türkei zu verteilen und für den Nachmittag zu einer Protestkundgebung vor dem Konsulat aufzurufen. Es ist nicht die einzige Aktion türkischer Gruppen an diesem Tag in der Stadt. Ein weiteres weltpolitisches Ereignis bewegt die Gemüter. Keine zehn Tage zuvor, am 27. Dezember 1979, ist die Rote Armee in Afghanistan einmarschiert. Faschistische Graue Wölfe, Anhänger Süleyman Demirels konservativer Gerechtigkeitspartei sowie die islamistische Milli Görüs demonstrieren „gegen den Mord an Muslimen in Afghanistan“. Im Aufruf der Islamisten steht: „Deine Aufgabe ist es, jeden, der sich gegen Deine Religion und gegen Deine Glaubensgenossen richtet, zum Schweigen zu bringen, auch wenn Du Dein Leben dafür opfern musst.“ […] Schon bald stößt eine Gruppe von Islamisten und Faschisten auf die Aktivisten aus dem TKP -Umfeld. Vor einem Supermarkt stehen sich beide Seiten gegenüber. Man skandiert Parolen, die um das Thema Afghanistan kreisen. „Die Sowjets sind die Freunde der Völker“, rufen die Linken. „Russen raus aus Afghanistan“, schallt es ihnen entgegen. Und: „Wer Allah liebt, schlage zu! […] Die weiteren Ereignisse schildert Murat Alp so: „Wir gingen in Richtung unseres Vereinslokals los, machten aber den Fehler, uns nicht geordnet zurückzuziehen. Einige hatten schon die Skalitzer Straße überquert, als die Ampel auf rot schaltete. Der Rest, darunter Celalettin Kesim, blieb stehen. Plötzlich stürmte die Menge mit Knüppeln, Messern und Ketten bewaffnet und ‘Allah, Allah’ rufend, auf uns zu“. Es kommt zu Jagdszenen auf dem Platz und im U-Bahnhof. „Wir haben uns zwar gewehrt, aber wir hatten uns zersplittert und waren nur wenige, chancenlos“, berichtet Alp, der mit leichten Verletzungen Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 69 davonkommt. Celalettin Kesim, 36 […], wird von einem Messerstich in den Oberschenkel verletzt, eine Schlagader ist getroffen. Einige seiner Genossen schleppen ihn bis zur Kottbusser Brücke. Er liegt blutend im Schnee. Erst eine halbe Stunde nach dem Beginn des Angriffs treffen Sicherheitskräfte ein. Ein Feuerwehrwagen bringt Kesim ins Urban-Krankenhaus, wo nur noch sein Tod festgestellt werden kann. Celalettin Kesim kam 1973 nach Westberlin, er war bei Borsig als Dreher beschäftigt und Vertrauensmann der IG Metall. Zuletzt arbeitete er als Lehrer in einer Berufsschule. […] Eine Woche darauf nehmen 15.000 Menschen an einer antifaschistischen Gedenkdemonstration teil. (Yücel 2002) 99 3.2.2 Die 1980er Jahre als Übergangsphase Die 1980er Jahre stehen im Wesentlichen für drei Prozesse innerhalb der Migranten aus der Türkei: a) Einerseits gewannen in diesem Jahrzehnt die demokratisch-linken „Arbeitervereine“ weiter an Bedeutung; b) auf der anderen Seite konstituierten sich in dieser Zeit die ersten Sozialwelten der zweiten Migrantengeneration; c) und schließlich begannen sich in dieser Phase die ersten Sozialwelten der gesellschaftspolitischen Mitte zu formieren, während in der Zeit davor die oppositionellen Welten dominierten. Durch das Rotationssystem der Bundesrepublik waren die 1960er und 1970er Jahre vom provisorischen Charakter der Migration geprägt. Dagegen stellen die 1980er Jahre den Übergang vom Provisorium zur Sesshaftigkeit dar. Sozialweltlich drückte sich diese Entwicklung in dem Sinne aus, dass die Dominanz der oppositionellen Formationen, die zu Beginn der Migration sowohl in politischen als auch in religiösen Sozialwelten zu beobachten war, ab den 1980er Jahren durch die Gründung von Organisationen der gesellschaftlichen und politischen Mitte immer mehr streitig gemacht wurde. Am deutlichsten äußerte sich diese Entwicklung in der religiösen Welt, worauf ich im Folgenden exemplarisch eingehen möchte. In den ersten beiden Jahrzehnten gehörten neben den „Arbeitervereinen“ die so genannten „Hinterhofmoscheen“ zu den verbreitetsten und wichtigsten Formationen der Migranten aus der Türkei. Sie waren Erscheinungen im Umfeld der sunnitischen Einwanderer. Nach Schätzungen stellen innerhalb der Migranten die Sunniten mit über 80 Prozent die Mehrheit dar (Özcan 1995, S. 517). Dagegen hat sich die zweitgrößte religiöse Gemeinschaft, die Aleviten, in den Anfangsjahren kaum als eigenständige religiöse Sozialwelt formiert. In dieser 99 Auf diesen Vorfall geht auch Zaptçioğlu (2005, S. 196ff.) ein. Zu Übergriffen nationalistischer Migranten auf Personen und Einrichtungen der demokratisch-linken Migranten in jener Zeit siehe auch Seidel-Pielen (1995, S. 119f.). Migration, Sprache und Rassismus 70 Zeit orientierten sich viele von ihnen nicht religiös, sondern politisch, so dass zahlreiche Migranten mit alevitischem Hintergrund in demokratisch-linken „Arbeitervereinen“ aktiv waren. 100 Die religiösen Migranten erhielten in den ersten Jahrzehnten kaum logistische oder finanzielle Hilfe zur Errichtung von Gebetsstätten. Wie die Bundesrepublik betrachtete auch die Türkei die Migranten als „Gastarbeiter“, die nach einigen Jahren wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren würden. Aus diesem Grund unternahm das türkische „Diyanet Işleri Başkanlığı“ (Amt für religiöse Angelegenheiten), das die Mehrheit der Sunniten, und zwar der laizistisch orientierten, repräsentierte, keinerlei Anstrengungen, in Deutschland präsent zu sein. Unter diesen Umständen und um ihren religiösen Pflichten nachkommen zu können, beteten die sunnitisch-gläubigen Migranten zunächst in Wohnheim-, Baracken- und Fabrikecken. 101 Später begannen sie sich zu organisieren und improvisierte Gebetsstätten einzurichten, indem sie größere Wohnräume bzw. verlassene Immobilien anmieteten, zum Beispiel auf ehemaligen Fabrikgeländen. Diese „Hinterhofmoscheen“ stellten mit ihrer notdürftigen Ausstattung eine existenzielle Form der Selbsthilfe dar, da sie fast ausnahmslos aus Spenden der Gläubigen finanziert wurden. 102 Die Entwicklung der „Hinterhofmoscheen“ ist aus sozialweltlicher Perspektive außerordentlich interessant. Da die Sozialwelt der sunnitischen Muslime - wie andere (religiöse) Welten auch - aus mehreren Strömungen bestand und besteht, hatten die „Hinterhofmoscheen“ in den ersten beiden Jahrzehnten verstärkt den Charakter von Arenen, in denen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen sunnitischen Subwelten stattfanden. 103 Ein Charakteristikum jener Zeit und Kämpfe war, dass sich dabei die oppositionellen Strömungen sozialweltlich als erste und stärker formierten. So gründeten sie die 100 Für diese Information danke ich Ilyas und Gülizar Ertunç, die als Migranten der ersten Generation alevitischer Herkunft in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen „Arbeitervereinen“ mitwirkten und daher über fundiertes Wissen über diese Sozialwelt verfügen. 101 Siehe dazu DOM i T (2001), das einen guten historischen Überblick über den Migrationsprozess der Einwanderer aus der Türkei liefert. Darin (ebd., S. 110) findet sich auch der folgende Zeitungsartikel aus dem Jahre 1965, in dem die räumliche Not der religiösen Migranten zum Ausdruck gebracht wird: „Mohammedaner beten im Dom - Ein ungewöhnliches Bild bot sich gestern morgen: Im Kölner Dom beteten auf ausgebreiteten Teppichen Mohammedaner. Die türkischen Gastarbeiter, etwa 400, feierten mit Gebeten und Gesängen das Ende des Ramadan, des Fastenmonats. In den beiden nördlichen Seitenschiffen war ihnen Platz gegeben worden. (aus „Express“, 4. Februar 1965).“ 102 Siehe u.a. Şen/ Goldberg (1994, S. 77). 103 Siehe dazu Schiffauer (2000), worin detailliert ausgeführt wird, wie diese Auseinandersetzungen im Einzelfall vonstatten gingen. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 71 ersten Dachverbände wie etwa 1973 das „Islamische Kulturzentrum“ oder 1976 die „Türkische Union Europa e.V.“ (Jessen 2006, S. 31, 26). Erst in den 1980er Jahren, als sich die Migration vom Provisorium zur Sesshaftigkeit entwickelte, konstituierte sich verstärkt die Sozialwelt der demokratisch-laizistischen Sunniten, der die Mehrheit der sunnitischen Migranten bis heute zuzurechnen ist. Der wichtigste Ausdruck dieser Entwicklung ist die Gründung des Dachverbandes „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religionsangelegenheiten e.V.“ („Diyanet Işleri Türk Islam Birliği“, abgk. DITIB ) 1984. Neben dieser Entwicklung im religiösen Bereich, die ich allgemein als Beleg für die beginnende sozialweltliche Konstitution der gesellschaftlichen und politischen Mitte bezeichnen möchte, waren die 1980er Jahre auch für die demokratisch-linke Sozialwelt von großer Bedeutung. In diesem Jahrzehnt wuchs dieses sich um die „Arbeitervereine“ organisierende Milieu enorm an, was auf zwei Ereignisse in der Türkei zurückzuführen ist: den Militärputsch von 1980 und den Krieg zwischen der türkischen Armee und der Kurdischen Arbeiterpartei ( PKK ). 104 Eine wichtige Folge dieser Ereignisse war, dass viele Menschen, darunter zahlreiche politische Aktivisten, das Land verließen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden kam nach Deutschland, da sie hier aufgrund der großen türkischen und kurdischen Gemeinschaft auf existierende Netzwerke wie etwa auf die verschiedenen „Arbeitervereine“ zurückgreifen konnte. 105 Diese Entwicklung setzte in zahlreichen „Arbeitervereinen“ einen (Re-)Ethnisierungsprozess in Gang, da viele der Flüchtlinge und Asylbewerber in den Vereinen führende Positionen einnahmen, und insbesondere durch ihre Präsenz und Mitwirkung die Ereignisse in der Türkei ständig auf der Tagesordnung der verschiedenen „Arbeitervereine“ blieben. 106 So organisierten sie zahlreiche Veranstaltungen und Großdemonstrationen, die sich mit aktuellen Themen in der Türkei beschäftigten. Im Verhältnis dazu setzten sich die „Arbeitervereine“, deren zentrale Akteure neben den politischen Flüchtlingen immer noch die Migranten der ersten Generation waren, aus der Perspektive der jüngeren Migranten nur vereinzelt und bedingt mit Themen auseinander, die mit den Lebensbedingungen in Deutschland zu tun hatten. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass sich die Migranten der zweiten Generation sozialweltlich von den „Arbeitervereinen“ zu trennen und selbstständig zu formieren begannen. Diese Gründung von ersten Sozialwelten der „emanzipato- 104 Zum Militärputsch von 1980 siehe u.a. Keskin (1981, S. 286ff.), Toprak (1986, S. 143ff.), Satligan (1987, S. 181ff.) und zum Krieg zwischen der türkischen Armee und der PKK siehe z.B. Şen/ Goldberg (1994, S. 110ff.) und Cubukcu (1998, S. 26ff.). 105 Siehe u.a. Skubsch (2000, S. 106). 106 Siehe Balli (1989, S. 9) und Cubukcu (1998, S. 27). Migration, Sprache und Rassismus 72 rischen Migranten“ in den 1980er Jahren vollzog sich entweder innerhalb oder außerhalb der „Arbeitervereine“, worauf ich in Abschnitt 3.3 ausführlich eingehen werde. Die dritte sozialweltliche Erscheinung, auf die ich in diesem Abschnitt eingehen möchte, ist ebenfalls eine Hervorbringung der zweiten Migrantengeneration. Dabei handelt es sich um die so genannten „Jugendgangs“, die verstärkt ab den 1980er Jahren in vielen deutschen Städten gegründet wurden. Dass sich die ersten Gangs bereits in den 1970ern konstituierten, geht aus einem Interview hervor, das in Seidel-Pielen (1995) abgedruckt ist. Darin erzählt ein Migrant der zweiten Generation: Als ich mit sechzehn Jahren 1972 nach Berlin kam, habe ich gleich mit Freunden eine Bande gegründet. Wir waren alle neu in Berlin und hatten Schwierigkeiten, uns anzupassen. Damals hat es in Wedding noch anders ausgesehen, wir hatten überall Ärger [...]. Die Bande hatte den Zweck, uns zu zeigen. [...]. Heute weiß ich, daß das irgendein unbewußter Protest gegen die Gesellschaft war. [...] [E]s hat oft Schlägereien gegeben. Vor allem, wenn jemand Ausländer beleidigt hat, gab es Ärger. Wir hatten die Gegend fest in unserer Hand. (ebd., S. 124ff.) Bereits in einem relativ frühen Stadium dieser Sozialwelt untersuchte Steinmetz (1987) in ihrer Arbeit „Şimşekler - Zur Entstehung und Entwicklung ausländischer Jugendbanden“ eine Gruppe in Berlin-Kreuzberg. 107 Nach Steinmetz resultiert das Phänomen der Jugendbande aus einem Komplex von Ursachen. Unter anderem führt die Autorin die „Ausländerfeindlichkeit“ und den Generationenkonflikt (zwischen der ersten und zweiten Einwanderergeneration) als die wichtigsten Motive auf. Die „Şimşekler“ (Blitze) existierten lediglich von 1983 bis 1985 und waren am Anfang eine Gruppe von etwa zehn türkischen Jugendlichen, die gemeinsam Fußball spielten. Ihren Namen gaben sie sich, als sie gegen andere Hobbymannschaften anzutreten begannen. In der Folgezeit machten sie in der Stadt durch zahlreiche Graffitis auf sich aufmerksam, so dass die Gruppe schnell starken Zulauf bekam: In ihrer Blütezeit (Herbst 1984) gehörten „Şimşekler“ bis zu 200 Jugendliche an. Zu den Akteuren, die zwischen 11 und 17 Jahre alt waren, zählten nunmehr auch einige Mädchen und deutsche Jugendliche aus dem Stadtteil. So hält Steinmetz in einer ethnografischen Notiz fest: 107 Steinmetz (1987, S. 10) erwähnt, dass in jener Zeit noch andere Gruppen in Berlin existierten wie etwa die „Vulkanlar“ (Die Vulkane), „Belalılar“ (Die Unheiligen), „Rambo-Boys“, „3 Yıldızlar“ (Die drei Sterne), „Kara Kardeşler“ (Die schwarzen Geschwister), „B.B. Kings“ etc. Des Weiteren zählt Steinmetz auch drei Mädchengangs auf: „Crazy Girls“, „Melekler“ (Die Engel) und „Rambo Girls“. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 73 Im September 1984 sah ich in der Großbeerenstraße einen etwa fünfzehnjährigen deutschen Jungen, der mit rotem Filzstift das Wort „Şimşekler“ an eine helle Hauswand schrieb. Ich fragte ihn, was er da mache und was der Name bedeuten würde. Ganz begeistert erzählte er, das sei der Name einer Gruppe, in der Deutsche und Türken sich zusammenfänden, um gemeinsam gegen Ausländerfeindlichkeit vorzugehen. (Steinmetz 1987, S. 14) Nachdem die Gruppe diese Entwicklungsstufe erreicht hatte, war das Fußballspielen nur noch eines von vielen Beschäftigungsfeldern. Weitere Aktivitäten der angewachsenen Gruppe waren: „gemeinsam in die Disco gehen, U-Bahn fahren, Prügeleien, bei jemand zu Hause Tee oder Essen kochen, Klauen, Kino- oder Videofilme ansehen, Schwimmen gehen, Herumstehen“ (ebd., S. 30). Dabei führte insbesondere die Aktivität „Klauen“ und die ihr folgenden Festnahmen von Gruppenmitgliedern durch die Polizei zur relativ schnellen Auflösung der Jugendbande nach nur zwei Jahren Existenz. Dass es sich allerdings beim „Klauen“ um keine organisierte kriminelle Aktivität handelte, belegt die folgende Ausführung von Steinmetz (ebd., S. 36): Die gestohlenen Geräte [Autoradios und Kasettenrecorder, m.A.] wurden in einen Keller am Erkelenzdamm [...] gebracht und dort aufbewahrt. Die Polizei hat diese Gegenstände später sichergestellt, die meisten konnten den Eigentümern, die Anzeige erstattet hatten, zurückgegeben werden. Von Weiterverkauf oder Hehlertum ist in dieser Serie nichts bekannt. In Bezug auf das Ende der Jugendbande hebt Steinmetz hervor, dass die Festnahmen von einzelnen Gruppenmitgliedern durch die Polizei interessanterweise nur mittelbar zur Auflösung der Gruppe führten. Unmittelbar löste sich die Gang (selbst) auf, als der Vater eines „Şimşekler“, dessen Sohn sich bei Autoeinbrüchen beteiligt hatte, auf die Verhaftung des Sohnes reagierte: Er [der Vater, m.A.] ließ Tausende von zeitungsähnlichen Flugblättern drucken, auf denen ein Foto seines Sohnes und ein in türkischer Sprache abgefaßter Text erschien, in dem er die Şimşekler als gefährliche, kriminelle Gruppe darstellte, die seinen armen Sohn so verändert, verführt, verleitet hätte. [...] Durch den schlechten Einfluß dieser Gruppe, der die gesamte Schuld und Verantwortung zukomme, habe sich sein Sohn zum Schlechten entwickelt. [...] Diese Flugblätter hat angeblich Ös Vater zu Tausenden an den U-Bahnhöfen in Kreuzberg verteilt. [...] Als Reaktion auf diese Anschuldigungen haben sich die Şimşekler selbst aufgelöst. (Steinmetz 1987, S. 39) Gegen Ende der 1980er Jahre konstituierte sich in Berlin eine andere Gruppierung von jungen Migranten, die im weiten Sinne auch zur Sozialwelt der jugendlichen Gangs zu rechnen ist und bis heute vielleicht zu den überregional bekanntesten Formationen dieses Milieus gehört: die „Antifaşist Gençlik“ (Antifaschistische Jugend). Ihre Mitglieder waren Migranten der zweiten Migration, Sprache und Rassismus 74 Generation kurdischer und türkischer Herkunft. Nach Kaynar/ Suda (2002, S. 172) wurde die „Antifaşist Gençlik“ 1988 „[a]ls Reaktion auf die ansteigende faschistische Gewalt und im Bewusstsein der Mängel liberaler, nationalistischer und exilpolitischer Formen der Selbstorganisation [...] gegründet“. 108 Wie Seidel-Pielen (1995, S. 152) ausführt, waren die Gründungsmitglieder „im Alter um die Dreißig“ und ihre Selbstbezeichnung war gleichzeitig ihr Programm: Wir haben uns antifaschistische Jugend genannt, weil wir merkten, dass wir die älteren Leute auf der Straße nicht erreichen. Sie sind heute Ja-Sager, sie haben ihr Selbstbewusstsein verloren, von denen erwarten wir nichts mehr. Auch von großen Teilen unserer Generation erwarten wir nicht viel. Die Jugendlichen allerdings könnten einmal die Arbeit übernehmen. (Zitiert nach Seidel-Pielen, ebd.) Im Gegensatz zu den anderen Gangs jener Zeit verstand sich die „Antifaşist Gençlik“ explizit als eine politische Formation, die sich gegen die Übergriffe rechtsextremer bzw. faschistischer Gruppen zur Wehr setzen wollte: „Das Leben bietet uns keine andere Wahl, als uns zusammen zu tun und gegen den Naziterror zu organisieren“ (zitiert aus Kaynar/ Suda 2002, S. 173). Dass diese Aussage zu jener Zeit keine Übertreibung darstellt, zeigt die folgende Ausführung von Seidel-Pielen, die er im Zusammenhang mit der Gründung der „Antifaşist Gençlik“ in Erinnerung ruft: Am 20. April 1989, dem hundertsten Geburtstag Adolf Hitlers, kündigten Neonazis bundesweit Übergriffe auf Immigranten und deren Geschäfte an. Panik erfasst die (West-)Berliner Szene. Antifaschisten, Deutsche und vor allem Jugendliche aus Immigrantenfamilien organisieren den Selbstschutz ihrer Wohnviertel. In Hamburg und Berlin bleibt mehr als ein Drittel der Kinder aus türkischen Familien am 20. April dem Schulunterricht fern. Erstmals seit 1945 scheinen in Deutschland Pogrome wieder im Bereich des Möglichen - 1991 und 1992 wurden sie dann in Hoyerswerda und Rostock Realität. Am 12. Mai 1989 fordert die „Anti-Ausländer-Stimmung“ in Berlin ihren Tribut. 108 Nach Seidel-Pielen (1995, S. 150) wurde die Gruppe 1989 und zwar als „unmittelbare Reaktion auf den Wahlspot ‘Spiel mir das Lied vom Tod’ und den Wahlerfolg der Republikaner“ gegründet. Zu beiden Ereignissen schreibt Seidel-Pielen (ebd., S. 149f.): „2. Januar 1989. Im Dritten Programm des Senders Freies Berlin wird anlässlich der anstehenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus ein Werbespot der Republikaner ausgestrahlt. Im Stil nationalsozialistischer Propagandafilme werden verzerrte Gesichter türkischer Einwanderer gezeigt - unterlegt ist das Machwerk mit der Filmmusik ‘Spiel mir das Lied vom Tod’. Berlins Ausländerbeauftragte Barbara John stellt daraufhin einen Antrag auf Verdacht der Volksverhetzung gegen die Republikaner. Vergebens. Trotz heftiger Proteste wird der SFB durch eine einstweilige Anordnung des Berliner Verwaltungsgerichts verpflichtet, den Wahlspot am 19. Januar zur besten Sendezeit erneut auszustrahlen, da dieser, wie das Gericht befindet, ‘mit hoher Wahrscheinlichkeit’ nicht gegen das Strafgesetzbuch verstoße.“ Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 75 Im Märkischen Viertel stirbt Ufuk Sahin an den Messerstichen eines wildgewordenen Deutschen. Für die Immigranten ist sein Tod ein Menetekel. Überall formieren sich Jugendcliquen und -gangs. Durch die spürbare Zunahme der alltagsrassistischen Übergriffe, die mit der Öffnung der Mauer am 9. November eskalieren, werden sie politischer. (Seidel-Pielen 1995, S. 151) Unter diesen Bedingungen suchte die „Antifaşist Gençlik“ den Kontakt zu den Jugendlichen auf der Straße, vor allem zu den militanten Jugendgangs, baute Treffpunkte auf, organisierte HipHop-Feten und wollte die rivalisierenden Gangs, die mitunter gegen Neonazis, meist allerdings um die territoriale Vorherrschaft in ihrem Viertel kämpften, zu einer ‘Anti-Nazi-Liga’ [vereinigen.] (ebd., S. 152) Kaynar/ Suda schreiben zur zentralen Aktivität und zur Entwicklung der Gruppe: Mit gezielten und geplanten Schlägen gegen Naziversammlungsorte und Demonstrationen, die zum Vorbild für migrantische Jugendgangs in der Stadt und später in allen größeren Städten adoptiert wurden, konnte sie eine deutliche Entschärfung der rassistischen Gewalt erreichen. Die Gewaltfrage stellte sich Antifaşist Gençlik nicht: Das Recht auf Selbstverteidigung war eine Selbstverständlichkeit. Und nicht nur für Antifaşist Gençlik. Den Mitgliedern wurde auf der Straße von älteren Menschen auf die Schulter geklopft und bei Gefechten mit der Polizei im eigenen Stadtteil applaudierten Familien ihren Söhnen und Töchtern auf der Straße. Die massenhafte Mobilisierung und die entschlossene Haltung Antifaşist Gençliks führten dazu, dass die MigrantInnenbewegung kein zu vernachzulässigender Aspekt mehr sein konnte. (Kaynar/ Suda 2002, S. 173) 109 Die Sozialwelt der migrantischen Jugendbanden hat bis Mitte der 1990er Jahre in den verschiedenen deutschen Städten weiter existiert. Bezogen auf die Spätphase der Jugendbanden in den 1990er Jahren ist insbesondere die Untersuchung von Tertilt (1996) hervorzuheben. Tertilts Ethnografie der „Turkish Power Boys“ analysiert Verhaltensmuster und Wertorientierungen einer delinquenten Jugendbande in Frankfurt. Das Forschungsinteresse Tertilts (ebd., S. 10) gilt der „Bande als subkulturelles Phänomen und [der] Situation der zweiten Migrantengeneration“. Ein wesentliches Ergebnis der Studie ist, dass solche Formierungen als Folge von Statusproblemen der zweiten Einwanderergeneration im Sinne ihrer gesellschaftlichen 109 Abschließende Information zu „Antifaşist Gençlik“: Die Gruppe löste sich noch zu Beginn der 1990er Jahre in Folge einer Aktion gegen die neofaschistische „Deutsche Liga“ auf. Im April 1992 stürmte sie ein Treffen dieser Organisation in Berlin-Kreuzberg, wobei der Schriftführer der rechtsextremistischen Gruppe, Gerhard Kaindl, ums Leben kam. Der darauf folgende Gerichtsprozess gegen führende Mitglieder der „Antifaşist Gençlik“ bedeutete auch das Ende der Gruppe (siehe dazu Kaynar/ Suda 2002, S. 173f. und Seidel-Pielen 1995, S. 148ff.). Migration, Sprache und Rassismus 76 Nichtanerkennung zu interpretieren sind. Eine der empirischen Evidenzen für diese Annahme liefert die Zusammensetzung der Bande. Tertilt bemerkt dazu, dass „die Schule, die von Entwicklungspsychologen einhellig als die stärkste peergruppenbildende Kraft gesehen wird, bei den „Power Boys“ keineswegs diese Bedeutung [hatte]“ (Tertilt 1996, S. 26). Während bei jugendlichen Formationen der Mehrheitsgesellschaft die sozialweltliche Trennung meist „von unterschiedlichen Schulniveaus ausgeht“, war bei den „Power Boys“ durch „das verbindende Merkmal, der zweiten Migrantengeneration anzugehören, [...] die stark segregierende Wirkung [der Schulform] [...] außer Kraft gesetzt“ (ebd.). Die Gruppe bestand zu je einem Drittel aus Haupt- und Realschülern und Gymnasiasten, mit anderen Worten aus ‘erfolgreichen’ und ‘nicht-erfolgreichen’ Migranten der zweiten Generation. Die Delinquenz der Bande resultierte nach Tertilt aus den sozioethnischen Marginalisierungserfahrungen dieser Generation, die zu einer „Anwendung von Gewalt in einer kathartischen Form“ (ebd., S. 246) führten. 3.2.3 Die Entwicklung seit den 1990er Jahren Das augenfälligste Merkmal des Migrationsprozesses seit den 1990er Jahren ist, dass sich seitdem die Sesshaftwerdung der Migranten vollends durchgesetzt hat. Es gibt mehrere Ebenen, auf denen sich die Ansiedlung der Migranten ablesen lässt. Ein wesentlicher Aspekt ist der Umgang der Migranten mit ihren Ersparnissen und Kapitalanlagen. Während die Einwanderer in den ersten Jahrzehnten fast ausschließlich in Immobilien und Grundstücke in der Türkei investierten, lebt mittlerweile jeder dritte „der mehr als 600.000 türkischen Haushalte [in Deutschland, m.A.] in den eigenen vier Wänden“. 110 Ein anderes Zeichen für die Sesshaftwerdung ist die Zahl und Struktur von Geschäften, die die Migranten gegründet haben. Gab es bis weit in die 1980er Jahre neben einigen Import-Export-Läden und Döner-Imbissstuben im Wesentlichen nicht mehr als Obst- und Gemüsegeschäfte (die auch Musikkassetten verkauften und Videos verliehen), so gibt es nun Banken, Fachgeschäfte (Musikläden, Bäckereien, Juweliergeschäfte, Modeläden etc.), Spezialitäten- Restaurants (wie Fisch- oder Suppenrestaurants), große Supermärkte und Warenhäuser, kleinere Handwerksbetriebe und international agierende Unternehmen (Industriebetriebe und Reiseunternehmen wie z.B. Öger-Tours), diverse Cafés, Großraumdiskotheken, usw. 111 110 Aus „die tageszeitung“ vom 9. Mai 2006. 111 So halten Şen/ Goldberg (1994, S. 37) bereits in Bezug auf die Situation zu Beginn der 1990er Jahre fest: „Nach Schätzungen sind die 37 000 türkischen Selbständigen in 55 Subsektoren der bundesdeutschen Wirtschaft geschäftlich aktiv“. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 77 Sozialweltlich drückt sich die Sesshaftwerdung der Migranten vor allem durch zwei Prozesse aus: Während in den ersten Jahrzehnten der Migration aus der Türkei insbesondere oppositionelle Formationen in den verschiedenen Sozialwelten dominant waren, wurden seit Beginn der 1990er Jahre immer mehr Vereine und Verbände der gesellschaftlichen und politischen Mitte gegründet. 112 Nach ihrer öffentlichen Präsenz zu urteilen, stellen sie inzwischen die stärksten gesellschaftlichen Formationen in vielen verschiedenen Bereichen dar. Eine der wichtigsten Formierungen in diesem Umfeld sind die mittlerweile zahlreichen türkischen Studentenvereine, auf die ich im nächsten Abschnitt 3.3 über die „akademischen Europatürken“ ausführlich eingehen werde. Auf der anderen Seite macht sich die Sesshaftwerdung der Migranten sozialweltlich darin bemerkbar, dass seit Anfang der 1990er Jahre viele Vereine, Verbände und Interessengruppen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen gegründet wurden. Am stärksten treten hier die zahlreichen Formationen in der Arbeitswelt hervor. Es gibt Vereinigungen von türkischen Ärzten, Journalisten, Unternehmern, Selbstständigen etc. 113 Aber auch die inzwischen zahlreichen Elternvereine und die ersten Vereine von z.B. Homosexuellen sind deutliche Indizien der sozialweltlichen Heterogenität und Vielstimmigkeit in der neuen Heimat. 114 Im Folgenden will ich ausführlich auf die Entwicklung des demokratischlinken Milieus seit den 1990er Jahren eingehen, die für das Verständnis der Entstehungskontexte von „emanzipatorischen Migrantenwelten“ von unmittelbarem Interesse ist. Wie ich im letzten Abschnitt ausführte, ist in den 1980er Jahren die Zahl der Akteure in den „Arbeitervereinen“ durch die vielen Flüchtlinge und Asylsuchenden aus der Türkei enorm angewachsen. Gleichzeitig führte ihre Anwesenheit dazu, dass sich die Sozialwelt mehr als zuvor auf die Türkei ausrichtete. Gegen Ende der 1980er und ab Anfang der 1990er Jahre 112 Diese sozialweltliche Entwicklung resultierte daraus, dass, wie Şen/ Goldberg (1994, S. 41) zu Beginn der 1990er festhalten, sich „in den letzten zehn Jahren [...] ein türkischer Mittelstand etabliert [hat], der sich außer aus selbständigen Unternehmern auch aus einer wachsenden Zahl von Ärzten, Lehrern, Sozialberatern etc. zusammensetzt“. 113 So zum Beispiel der „Verband türkischer Unternehmer und Industrieller in Europa“ ( ATIAD ) ( www.atiad.org , Stand: 03.02.2010), der „Bund Türkisch-Europäischer Unternehmer/ Innen“ ( BTEU ) ( www.bteu.de , Stand: 03.02.2010), der „Verband der türkischen Zahnärzte in der BRD “ ( VZT ) und der „Bund der Türkischen Lehrervereine in Deutschland“ ( ATÖF ) (beide Mitgliedsverbände in der „Türkischen Gemeinde Deutschland“; siehe Internet: www.tgd.de , Stand: 03.02.2010). Siehe auch Şen/ Goldberg (1994, S. 41ff.). 114 Zur Formierung von homosexuellen Migranten aus der Türkei siehe z.B. Mercan (2004) und zu den Elternvereinen siehe die Homepage der „Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland“ ( FÖTED ) (Internet: www.tuerkische-elternfoederation.de , Stand: 03.02.2010). Migration, Sprache und Rassismus 78 wirkten nun drei Prozesse als zentrifugale Kräfte gleichzeitig auf das demokratisch-linke Milieu ein, die letztlich dazu führten, dass sich die Sozialwelt in einzelne Subwelten aufspaltete, die gegenwärtig mehr oder weniger nichts mehr miteinander zu tun haben. Bei den drei Segmentierungsprozessen handelt es sich im Einzelnen um die Entstehung kurdischer Sozialwelten, die Gründung von alevitischen Formationen und die Konstitution von „emanzipatorischen“ Gruppen. Zu a) Bis Ende der 1980er Jahre bestand das demokratisch-linke Milieu der Migranten aus der Türkei aus vielen Akteuren kurdischer und/ oder alevitischer Herkunft. Spätestens zu Beginn der 1990er Jahre begann aber ein Großteil dieser Migranten, sich zu segmentieren und vermehrt eigene Sozialwelten zu konstituieren. 115 Şen/ Goldberg (1994, S. 109) schätzen, dass zu jener Zeit von den knapp 1,9 Millionen Migranten mit türkischer Staatsbürgerschaft bis zu 400.000 Migranten kurdischer Herkunft waren. Die verstärkte sozialweltliche Trennung der kurdischen Migranten in den 1990er Jahren resultierte mittelbar aus dem anhaltenden Krieg zwischen der Türkei und der Kurdischen Arbeiterpartei ( PKK ), der unter anderem dazu führte, dass eine große Zahl von kurdischen Flüchtlingen und Asylsuchenden nach Deutschland floh (Skubsch (2000, S. 105ff.). In der Folge thematisierten die angewachsenen kurdischen Communities immer dringlicher die Frage nach der kurdischen Identität, so dass sie sich von der türkisch dominierten demokratisch-linken Sozialwelt trennten und ihre eigenen Vereine und Vereinshäuser gründeten. 116 115 In Bezug auf die Situation in Österreich, die grundsätzlich mit der in Deutschland zu vergleichen ist, schreiben Waldrauch/ Sohler (2004, S. 238f.): „Die kurdischen MigrantInnen aus der Türkei waren anfangs innerhalb der türkischen linksorientierten Vereine stark präsent (Interview Erdost). [...] Ab Ende der 1970er begannen sich die KurdInnen aus der Türkei auch in eigenen Arbeitervereinen zu organisieren. Der 1979 gegründete „Kurdische Arbeiterverein’ richtete erstmals ein öffentliches Vereinslokal ein [...]. Zum einen bestand ein wesentlicher Teil der Vereinsarbeit in der Hilfe für kurdische ArbeitsmigrantInnen, z.B. bei behördlichen Angelegenheiten, Wohnungsvermittlung, usw. (Interview Seel und Kilic). Zum anderen richteten sich die Vereinsaktivitäten vor allem auf eine (Wieder-)Belebung kurdischer kultureller Traditionen, z.B. durch kulturelle Veranstaltungen wie Newroz-Feste (traditionelles Neujahrsfest) oder durch kurdischen Sprachunterricht.“ 116 Für einen Überblick über die Geschichte der kurdischen Migranten in Deutschland siehe Skubsch (2000, S. 105-149). Eine sehr kurze Besprechung findet sich Şen/ Goldberg (1994, S. 111ff.). a) b) c) Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 79 Zu b) Die zweite Gruppe von Einwanderern, die sich fast zeitgleich mit den kurdischen Migranten aus der übergeordneten demokratisch-linken Sozialwelt trennte, waren die Migranten mit alevitischem Glauben bzw. Hintergrund. Die Aleviten sind nach den sunnitischen Muslimen die zweitgrößte religiöse Gemeinschaft in der Türkei. Schätzungsweise sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung in der Türkei und nach Angabe der „Alevitischen Gemeinde Deutschland“ bis zu 700.000 Migranten aus der Türkei in Deutschland Aleviten oder weisen einen alevitischen Hintergrund aus. 117 Die Aleviten waren und sind als religiöse Minderheit, seit der Entstehung der Glaubensrichtung ab dem 14. Jahrhundert, immer wieder mit Unterdrückung und Ausgrenzung konfrontiert, die sich zum Teil als pogromartige Gewalttaten äußerten. 118 In Reaktion auf diese Rassismen der sunnitischen Mehrheit haben sich viele Aleviten seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 progressiven und linken Parteien bzw. Organisationen angeschlossen, die wie sie traditionellerweise die Idee des Laizismus, d.h. die Trennung von Staat und Religion, unterstützen. 119 Auch in den ersten Jahrzehnten der Migration nach Deutschland haben sich viele Einwanderer alevitischen Hintergrunds innerhalb des demokratisch-linken Milieus organisiert, weshalb in dieser Phase nur wenige explizit alevitische Vereine gegründet wurden. 120 Erst gegen Ende der 1980er und ab den 1990er Jahren konstituierten sie verstärkt eigene Organisationen. So gründeten 1991 sieben Vereine den Dachverband „Föderation Alevitischer Vereine in Deutschland“, dem 1993 bereits 44 Vereine angehörten. 121 117 Internet: www.alevi.com (Stand: 03.02.2010). Demgegenüber sprechen Şen/ Goldberg (1994, S. 86) davon, dass „etwa 300 000 Muslime in Deutschland sich zu den Aleviten [rechnen]“ würden. 118 Zur Situation der Aleviten im Osmanischen Reich siehe u.a. Sökefeld (2004, S. 166). Eine der schlimmsten pogromartigen Übergriffe in der neueren Zeit war der Brandanschlag von Sivas im Jahre 1993, bei dem 35 Menschen ums Leben kamen (Internet: http: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Sivas-Massaker , Stand: 18.06.2006). 119 Siehe Sökefeld (2004, S. 167). 120 Die Orientierung der Einwanderer alevitischen Hintergrunds auf die Sozialwelt der demokratisch-linken Migrantenmilieus bzw. -vereine in Deutschland hängt unmittelbar mit der damaligen Situation in der Türkei zusammen, auf die Sökefeld (2004, S. 167) eingeht: „Zu einem Machtfaktor wurde die Opposition von Aleviten gegen den türkischen Staat vor allem in den 1970er Jahren, als besonders junge Aleviten sich den verschiedenen linksrevolutionären Organisationen anschlossen und an der Polarisierung der türkischen Gesellschaft zwischen „rechts“ und „links“ wichtigen Anteil hatten. „Alevitisch“ wurde damals ebenso mit „links“ gleichgesetzt wie „sunnitisch“ mit „rechts“ [m.H.]. In den Jahren 1978 bis 1980 kam es in verschiedenen Städten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken, denen zahlreiche Aleviten zum Opfer fielen“. 121 Siehe Internet: www.alevi.com (Stand: 03.02.2010). Migration, Sprache und Rassismus 80 Zu c) Die Abspaltung der dritten Sozialwelt aus dem demokratisch-linken Migrantenmilieu vollzog sich jenseits ethnischer oder religiöser Grenzziehungen. Diese Sozialwelt bestand aus Migranten der zweiten Generation, die sich vor allem an zwei zentralen Aspekten des demokratisch-linken Milieus rieben: an der nach wie vor starken Herkunftslandorientierung und an dem ethnischen Selbstverständnis vieler Akteure als „Türken“, „Kurden“ etc. Diese jungen Migranten wollten sich nicht (mehr) mit Fragen beschäftigen, die um die Herkunftsländer bzw. -kulturen ihrer Eltern kreisten. Sie wollten sich ihrem Leben in Deutschland samt den ganzen Problembeständen wie Diskriminierung und Marginalisierung im Einwanderungsland widmen, was innerhalb der „Arbeitervereine“ bzw. der demokratisch-linken Sozialwelt immer noch lediglich peripher behandelt wurde. Manche Migranten der zweiten Generation versuchten innerhalb der „Arbeitervereine“ diese Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Andere trennten sich von der demokratisch-linken Sozialwelt oder organisierten sich gar abseits von ihr, indem sie eigene Vereine und Gruppen gründeten. Dieses neue Milieu bezeichne ich als die Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“, auf die ich im folgenden Abschnitt eingehe. 3.3 Die Sozialwelten der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“ Im letzten Abschnitt wurde die sozialweltliche Geschichte der Migranten aus der Türkei skizziert. Im Folgenden werde ich näher auf die Entwicklung zweier Sozialwelten eingehen, die empirischer Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind: die der „emanzipatorischen Migranten“ und die der „akademischen Europatürken“. 3.3.1 Die „emanzipatorischen Migranten“ 122 Ab Mitte der 1980er und verstärkt zu Beginn der 1990er Jahre gründeten sich in Deutschland Migrantengruppen mit Namen wie „Kauderzanca“ in Berlin, „Saz-Rock“ in Frankfurt, „köxüz“ in Hamburg oder „Die Unmündigen“ in 122 Schon im Vorwort der Arbeit hatte ich angemerkt, dass ich in dieser Studie in Bezug auf die „emanzipatorischen Migrantenwelt“ nur diejenigen Formationen betrachten werde, die von Migranten aus der Türkei gegründet wurden oder in denen diese zumindest eine tragende Rolle spielen. Dass jedoch noch eine Reihe von anderen „emanzipatorischen Gruppen“ existiert, deuten zum Beispiel Kaynar/ Suda (2002) in ihrem Artikel über „migrantische Selbstorganisationen in Deutschland“ an. Darin gehen sie u.a. auf feministische Gruppen wie „FeMigra“, „Adefra“ oder „De Colores“ ein, die zentral die Themen Sexismus und Rassismus im Einwanderungsland bearbeiten. Des Weiteren sind auch Vereine von Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 81 Mannheim. Ihre Akteure waren Kinder der so genannten „Gastarbeiter“, d.h. Angehörige der zweiten Migrantengeneration, die in Deutschland geboren wurden bzw. aufgewachsen sind, und die sich in jener Zeit als Jugendliche bzw. junge Erwachsene für gesellschaftspolitische Fragen zu interessieren und einzusetzen begannen. 123 Die Kernthemen dieser Sozialwelt bestanden und bestehen darin, sich von ethnischer Diskriminierung im Einwanderungsland und von national-konservativen Aspekten ihrer Herkunftskultur zu emanzipieren. Schon die Selbstbezeichnungen dieser neuen politischen Sozialwelt markieren den Unterschied zu den dominierenden Selbstorganisationen der Migranten aus der Türkei, die sich primär ethnisch definieren. Statt einer ethnischen Positionierung bringen die Namen der „emanzipatorischen Migranten“ eine verstärkte Orientierung zum Einwanderungsland Deutschland und die Bikulturalität ihrer Akteure zum Ausdruck: „Kauderzanca“ ist eine Zusammensetzung der beiden Wörter „Kauderwelsch“ und dessen türkischer Entsprechung „Tarzanca“. Die Wortbildung spielt auf die Zweisprachigkeit dieser jungen Migranten an und geht offensiv mit der ihnen unterstellten „doppelten Halbsprachigkeit“ um. 124 Die Bezeichnung „Saz-Rock“ rekurriert ebenfalls auf die Bikulturalität der Akteure, indem „Saz“, ein traditionelles Zupfinstrument in der Türkei, mit „Rock“, der Bezeichnung für eine westliche Musikrichtung, verbunden wird. „köXüz“ ist eine Verfremdung des türkischen Worts „köksüz“, das auf Deutsch „wurzellos“ bedeutet. Mit dem Buchstaben „X“, der in der deutschen und englischen, aber nicht in der türkischen Orthografie existiert, wird der Bezug zu ihrem Status als Migranten und zu der antirassistischen Schwarzen Deutschen wie „der braune mob e.V.“ und die „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland ( ISD )“ zu „emanzipatorischen Migrantenbzw. Minderheitenwelten“ zu rechnen (zu beiden Vereinen siehe im Internet unter www.isdonline.de und www.derbraunemob.de bzw. zum erstgenannten in Sow 2008). 123 Dass die Konstitution dieser Sozialwelt verstärkt zu Beginn der 1990er zu beobachten war, lag zum wesentlichen Teil an den vielen rassistischen Übergriffen, die in den Jahren nach der Wiedervereinigung Deutschlands stattfanden. Die schlimmsten von ihnen verliehen damals Städten wie Rostock, Lübeck, Mölln, Solingen etc. traurige Berühmtheit. Bei den Migranten aus der Türkei lösten insbesondere die beiden Brandanschläge von Mölln und Solingen (im Herbst 1992 und Sommer 1993), bei denen mehrere Frauen und Kinder ums Leben kamen, Schock, Angst, Wut und eben auch einen verstärkten Drang zur Selbstorganisationen aus (siehe dazu z.B. das „taz-journal“ (1/ 93) „Rostock - Mölln - Solingen: Nachbarn und Mörder“). 124 Sie dazu auch Abschnitt 7.3.3. - - - Migration, Sprache und Rassismus 82 Bewegung der Schwarzen in den USA der 1960er Jahre hergestellt. Auf der anderen Seite drückt die Schreibweise die Distanz der zweiten Generation zur Herkunftskultur der Eltern aus. 125 Im Gegensatz zu diesen Gruppen verzichten „Die Unmündigen“ in ihrer Selbstbezeichnung gänzlich auf einen Bezug zum Herkunftsland. Dadurch bringen sie einerseits - obwohl ihre Gründungsmitglieder ausschließlich Migranten aus der Türkei waren - ihre multiethnische Orientierung zum Ausdruck. Der Hauptgrund für ihre Namensgebung besteht in ihrer Orientierung zum Einwanderungsland, die provokativ zur Sprache gebracht wird, indem sie ihren Status als politisch unmündige Bürger in Deutschland fokussieren. 126 In ähnlicher Weise verfährt das gegen Ende der 1990er Jahre gegründete Netzwerk „Kanak Attak“. Auch dieses verzichtet in seiner Selbstbezeichnung auf einen Bezug zu den Herkunftsländern und fokussiert dagegen offensiv die Diskriminierung der Migranten seitens der Mehrheitsgesellschaft, indem es deren negative, alltagsrassistische Bezeichnung „Kanak“ übernimmt und positiv als Bezeichnung für alle Migranten jenseits ihrer ethnischen Herkunft besetzt. 127 3.3.1.1 Entstehungskontexte Einzelne Gruppen und Netzwerke der „emanzipatorischen Migranten“ sind in und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kontexten entstanden. Einige Formationen wurden innerhalb von deutschen bürgerlichlinken wie sozialistisch-linken Parteien bzw. studentischen Milieus gegründet. 128 So finden sich in der unveröffentlichten Magisterarbeit von Hansen (1999, S. 82f.) folgende Ausführungen einer spanischen Migrantin der zweiten Generation, in denen sie die Gründung einer emanzipatorischen Formation in den 1980er Jahren innerhalb der DKP (Deutsche Kommunistische Partei) beschreibt: Ich weiß noch, irgendwie hieß ja die Gruppe [...] irgendwas mit Gleichberechtigung, [...] dann haben sie [die Mehrheitsdeutschen, m.A.] uns immer gefragt warum, also am Anfang haben sie immer so Witze darüber gemacht und so von wegen Gleichberechtigung [...]; wir hatten uns da [...] vorgenommen, dass es da mit dieser internationalen Solidaritätsbewegung, dass das irgendwie jetzt 125 Wie die Gruppe ihre Entstehung und Namensgebung erläutert, siehe etwas später im Abschnitt 3.3.1.2 unter „Vernetzung“. 126 Zur Selbstdarstellung der Gruppe siehe Anhang 11.1. 127 Zur Selbstdarstellung des Netzwerks siehe Anhang 11.2. 128 Dazu zählt z.B. das Anfang der 1990er Jahre innerhalb der „Grünen“ gegründete Netzwerk „ImmiGrün“, an dem sich auch bundesweit bekannte deutsch-türkische Politiker wie Cem Özdemir, Ozan Ceyhun oder Ismail Hakki Kosan beteiligten (siehe dazu Abschnitt 4.4). - Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 83 Mal langsam aufhören muss in politischen Kreisen, [...] also das war ja so, [...] von wegen man lädt die Ausländer ein, damit sie schönes Fladenbrot machen, ja, und anfangen Volkstänze aufzuführen [...], und so ein Kram und dann ging es halt [bei uns, m.A.] eher um die 2. und 3. Generation als um die 1. [...], da ging es um politische Ziele und politische Bewegungen [...], ob die sich hier zu Hause fühlen oder nicht oder sich als Deutsche fühlen [...], es ging eigentlich darum zu zeigen, dass die Leute gar nicht mehr in ihre sogenannte Heimat können [...], und dass die das auch gar nicht wollen, ja, dass sie halt hier leben und die gleichen Rechte haben wollen wie die Deutschen. [Im Original hat die Autorin die Interviews lautlich, d.h. dialektal verschriftet.] Die Mehrzahl der emanzipatorischen Gruppierungen ging jedoch aus den migrantischen „Arbeitervereinen“ oder demokratisch-linken Szenen der Migranten hervor. Da aber in der sozialwissenschaftlichen Forschung die Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“ bislang kaum untersucht worden ist, 129 lässt sich in der Forschungsliteratur bis dato lediglich eine Passage finden, in der die Entstehung einer Gruppe von „emanzipatorischen Migranten“ beschrieben wird, die sich in einem bzw. in Auseinandersetzung mit einem „Arbeiterverein“ gründet hat. Straßburger/ Unbehaun/ Yalcin-Heckmann (2000, S. 208f.) schildern in ihrer kontrastiven und historischen Untersuchung der türkischen Gemeinden in Bamberg und Colmar (Frankreich) den Fall einer „emanzipatorischen“ Gruppe, deren Konstitution sich zunächst außerhalb, dann innerhalb, und schließlich wieder außerhalb des lokalen „Arbeitervereins“ in Bamberg vollzog. Im Folgenden zitiere ich die Fallschilderung ausführlich, da Konstitutions- und Entwicklungsprozesse der „emanzipatorischen Migranten“ in der Forschungsliteratur so rar sind: Die Gruppe versuchte zusammen mit deutschen Studenten ein soziales Engagement in der türkischen Kolonie zu entfalten. Man organisierte in den Jahren 1983-84 eine Hausaufgabenbetreuung für türkische Kinder, die in den Räumen von Türk Danış, der Betreuungsstelle für türkische Arbeitnehmer der Arbeiterwohlfahrt, durchgeführt wurde. Die Zielsetzung dieser Bemühungen kann als Versuch der Herstellung einer Chancengleichheit für benachteiligte Migrantenkinder beschrieben werden. Gleichwohl empfanden es einige der Aktivisten dieser heterogenen Gruppe als Mangel, daß diese Aktivitäten nicht im Rahmen des Arbeitnehmervereins stattfanden. Sie wollten versuchen, den Verein allmählich zu einem Forum für 129 Zu den wenigen Arbeiten zählen Köhl (2001), Kaynar/ Suda (2002), Öztoplu (2002), El- Tayeb (2004) und Steuten (2004). Im Falle von Köhl (2001) handelt es sich um eine ethnologische Magisterarbeit, in der auch die Gruppe der „Unmündigen“ (maskiert mit der Bezeichnung „Aphonie e.V.“) untersucht wird. Bei den anderen Arbeiten handelt es sich um Aufsätze, in denen u.a. auf die Gruppen „Kanak Attak“ (El-Tayeb 2004; Steuten 2004) und die „Echoten“ in Wien (Öztoplu 2002) eingegangen wird. Migration, Sprache und Rassismus 84 politische Diskussionen zu machen, um darüber neue Mitglieder aus ihrem Umkreis an den Verein heranzuführen. So wurde der Versuch gemacht, dort Arbeitskreise durchzuführen, beispielsweise einen gegen Ausländerfeindlichkeit. [...] All dies zeigte im Verein allerdings kaum Wirkung, die Gruppe der studentischen Aktivisten blieb, eigenen Einschätzungen zufolge, relativ isoliert und konnte keine ihnen nahestehenden neuen Mitglieder anwerben. [...] Eine Teilgruppe in diesem Umkreis der „fortschrittlich-demokratischen Intellektuellen“ der jüngeren türkischen Generation, bestehend aus türkischen Studenten und Gymnasiasten, schuf sich daher konsequenterweise einen eigenen informellen Rahmen außerhalb des Arbeitnehmervereins, welcher sich letztlich als nur beschränkt tauglich für ihre Bedürfnisse erwiesen hatte. Manche von ihnen waren ohnehin noch nicht volljährig und hätten daher nicht im Verein verkehren dürfen. Andererseits wollte man außerhalb der türkischen Öffentlichkeit der Kolonie einen sozialen Raum haben, in dem man sich zwanglos und vor allem ohne soziale Kontrolle treffen konnte. Man mietete daher eine Wohnung an, in der sich die Gruppe, darunter auch türkische Gymnasiastinnen und eine türkische Sozialpädagogin, etwa zwei Jahre lang trafen. Dort wurden politische Diskussionen geführt und ansonsten einfach ein neues Lebensgefühl praktiziert, das sich von der traditionellen türkischen Gemeinschaft mit ihren Spielregeln, besonders den zwischengeschlechtlichen Umgang betreffend, distanzierte. Man organisierte Deutschkurse, Sazkurse und Folkloregruppen und versuchte so, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln, in dem sozialdemokratische Vorstellungen bezüglich der Türkei und Deutschland mit einer Belebung türkischer Kultur als Elemente einer neu zu definierenden Identität [als „emanzipatorische Migranten“, m.A.] verschmolzen. Dieses Selbstverständnis wird von einigen dieser Aktivisten heute als „fortschrittlich“ (ilerici) bezeichnet und grenzt sich von „nationalistisch“ (milliyetçi), „konservativ“ (tutucu). „reaktionär“ (irticacı, bezogen auf religiös-fundamentalistische Strömungen) und „rechts“ (sağcı) ab - Tendenzen oder Einstellungen, die man bei vielen Migranten der ersten Generation vermutete. Die Hauptaktivitäten dieser Gruppe innerhalb des angemieteten Treffpunkts, in dem sporadisch auch deutsche bzw. nicht-türkische Freunde verkehrten, waren daher vornehmlich als Förderung des eigenen Selbstverständnisses und Befriedigung des neu entstandenen - „fortschrittlichen“ - Lebensgefühls zu werten. Sofern politische Ansichten praktisch wurden, geschah dies vorrangig innerhalb organisatorischer Zusammenhänge, die die Aufnahmegesellschaft selbst bereitstellte, und bezog sich inhaltlich auf Probleme, die in ihr verhandelt wurden: Man nahm an Demonstrationen mit diversen Zielsetzungen in anderen Städten teil und engagierte sich in Arbeitskreisen gegen Ausländerfeindlichkeit. (Straßburger/ Unbehaun/ Yalcin-Heckmann 2000, S. 208f.) Die Akteure der von Straßburger/ Unbehaun/ Yalcin-Heckmann (2000) beschriebenen Gruppe stammten aus dem lokalen „Arbeiterverein“ in Bamberg. Zu- Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 85 nächst versuchten sich die jungen Migranten außerhalb des „Arbeitervereins“, und zwar unter dem Dach der Arbeiterwohlfahrt (die damalige zentrale Einrichtung der Mehrheitsgesellschaft für die Betreuung der Migranten aus der Türkei), 130 zu organisieren. Später kehrten sie zum „Arbeiterverein“ zurück und versuchten dort mit Arbeitsgruppen gegen „Ausländerfeindlichkeit“ neue Mitglieder zu rekrutieren. Als dieser Versuch scheiterte, wandten sie sich wieder vom „Arbeiterverein“ ab und mieteten eigene Räumlichkeiten an, wo sie ihr „neues [emanzipatorisches, m.A.] Lebensgefühl“ praktizierten (Straßburger/ Unbehaun/ Yalçın-Heckmann 2000, S. 209). Eine andere lokale Gruppe von „emanzipatorischen Migranten“, die sich aus zwei migrantischen „Arbeitervereinen“ entwickelte, war die Jugendgruppe „Filhakika - Sin Cachondeo - Ohne Scheiß“. Sie wurde 1987 in Weinheim/ Bergstraße gegründet und bestand aus jugendlichen Auszubildenden, Realschülern, Gymnasiasten und Studenten. Ich habe seinerzeit bei der Initiative mitgewirkt, so dass die folgenden Ausführungen auf meinen eigenen Erfahrungen beruhen. Zentrale Akteure der Gruppe waren ausnahmslos Migranten der zweiten Generation, die im spanischen und türkischen „Arbeiterverein“ in Weinheim aktiv waren. Da die inhaltliche Arbeit dieser Vereine von Migranten der ersten Generation bestimmt wurde und man sich relativ wenig um die Belange der zweiten Generation kümmerte, beschlossen die jungen Migranten, die sich über die Schule und nachbarschaftliche Netzwerke kennengelernt hatten, eine eigene multiethnische Gruppe zu gründen. Die zentrale Aktivität der Gruppe bestand in der Herausgabe einer dreisprachigen Jugendzeitschrift, worin sie über Themen wie Rassismus, Sexismus, Ökologie etc. schrieben. Neben der Herausgabe der Zeitschrift organisierten sie u.a. Partys und Filmbzw. Diskussionsabende und beteiligten sich an antirassistischen Netzwerken und Demonstrationen. Andere Gruppen der „emanzipatorischen Migranten“ gingen nicht aus einzelnen demokratisch-linken „Arbeitervereinen“, sondern aus lokalen Szenen der demokratisch-linken Migranten hervor. Diese Szenen bildeten sich um soziale und kulturelle Einrichtungen der Migranten oder der Mehrheitsgesellschaft. Zu den „emanzipatorischen“ Initiativen, die aus solchen Milieus entstanden, gehören Gruppen wie die „Unmündigen“ in Mannheim oder die „Kauderzanca“ in Berlin. Die Entstehung der „Unmündigen“ werde ich im nächsten Kapitel ausführlich analysieren und besprechen, weshalb ich an dieser Stelle die Selbstdarstellung der „Kauderanca“ bezüglich ihrer Gründung und Entwicklung zitieren möchte. Die folgende Beschreibung stammt aus der gleich- 130 Siehe auch Şen/ Goldberg (1994, S. 41). Migration, Sprache und Rassismus 86 namigen Zeitschrift der Gruppe, und zwar aus der Ausgabe, die sie anlässlich ihres 10-jährigen Jubiläums herausbrachte („kauderzanca“, Nr.15/ Herbst 1997, S. 8-10): Ganze sechs sogenannte gastarbeiterkinder männlichen geschlechts, Berliner ostanatolischer herkunft waren es, die im jahre anno 1987 in der schöneberger werft Halk Kösesi ein schiff bauten, das sie auf den namen Kauderzanca tauften und dann auf hohe see stachen. Sie hatten einen traum, den traum von einer insel, auf der menschen zusammen mit anderen menschen und der sie umgebenden welt in frieden und harmonie leben konnten. [...] Nicht weit entfernt vom Halk Kösesi entdeckten sie nach einer langen, schwierigen reise den Hafen Kick [...]. Genau in diese turbulente zeit [1988/ 1989, m.A.] fällt auch das ankerlichten der Kauderzancas vom hafen Kick ins offene meer. [...] Für die Kauderzanca war es ein sagenhaftes erlebnis in ihren energiegeladenen und jungen jahren mit den winden der zeit zu segeln und unmittelbar ihren puls zu spüren, bis sie schließlich einen namen- und seelenlosen hafen entdeckten, den sie dann mit genehmigung der dortigen schöneberger bezirksverwaltung gemeinsam mit der schiffsbesatzung der Naturfreundejugend und Theater-Gaukelstuhl feierlich den undoitschen, d.h. zungenbrechenden, aber dennoch harmlosen namen „öntököltöröll“ (zu doitsch: interkulturell) gaben. Schnell entwickelte sich das selbstverwaltete jugend- und kulturzentrum öntököltöröll (kurz: önt) für die Kauderzancas zu ihrer festen hafenstadt, die sie ausbauten und darin wieder leben einhauchten. Dann eröffneten sie mit dem ausbau des hafens önt das öntököltörölle matrosInnen-café-„kauderzanca“. Es sollte zum jüngsten anlageplatz für vagabunden, aussteiger und neuanfänger, weltenbummler, kulturbanausen und all die jungen matrosInnen werden, die wild aus der reihe tanzten [...]. Die resonanz war immens. [...] Sehr bald gingen seismographische journalisten, die mit ihrer sensiblen nase den eigenartigen duft der Kauderzanca gewittert hatten, der sache auf den grund. [...] Man wollte wissen, was denn so in gefilden der undergrounds brodelt. Denn irgendwas war außer kontrolle geraten. In den großhäfen doitschlands übte erstmals die [...] inzwischen in gangs organisierte young generation ihre öntököltöröllischen matrosInnenaufstände. Bald wurden sie dank intelligenter und sozialpädagogisch-prophylaktischer maßnahmen (stichwort: sozialmafia) 131 , durch politik (stichwort: [...] kriminalisierung) und medien (stichwort: kriminalisierende sensationsmache) abgewickelt und mundtot gemacht. 131 Der Begriff „Sozialmafia“ bezieht sich auf sozialpädagogische Einrichtungen der Mehrheitsgesellschaft, deren Klientel Migrantenkinder und -jugendliche sind. Die „emanzipatorischen Migranten“ bezeichnen diese Institutionen deshalb als „Sozialmafia“, weil sie ihrer Meinung nach selten die strukturelle Diskriminierung der Migranten thematisieren, womit die Zielgruppe am meisten zu kämpfen hat, und stattdessen die Migrantenjugendlichen als hilfsbedürftige und problematische Gruppe behandeln. Der Begriff „Sozialmafia“ ist bei Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 87 So mußte gerade in dieser zeit die Kauderzanca ihre erste erosion durchmachen. MatrosInnen verließen in der kreativsten und fruchtbarsten phase das schiff. Doch die Kauderzanca überstand wie viele andere nachfolgende auch dieses gewitter und lernte immer von neuem hinzu. Bis sie dazu überging, in workshops in theorie und praxis, jung-matrosiInnen in die kunst des kauderzanischen schiffbaus und der öntököltöröllischen schiffahrt einzuführen. Zwar war es für die immer mehr zusammenschrumpfende besatzung der kauderzanca-besatzung nicht einfach, sich finanziell in der inzwischen monopolistisch multimedialen schiffahrt zu behaupten, doch widerstand sie allen widrigkeiten und hielt den „langen atem“. Um aus der ecke der eigenbrödlerisch anmutenden kleinschifferei rauszukommen und ein breites netz mit anderen phantasten und gewaltlosen träumern aufzubauen, schafften es die übrig gebliebenen letzten beiden mohikaner [...] ein weit größeres schiff zu bauen. Sie gaben ihm mit absicht und wohl überlegt den in doitschen landen immer noch angsteinflößenden und widerspenstigen namen „jus soli e.V. - Werkstatt für interkulturelle und politisch-emanzipatorische Medien- und Kulturarbeit“. Das unwort „jus soli“ kommt aus dem lateinischen und heißt zu doitsch bodenrecht. Es soll heißen, daß ein jeder mit der geburt in einem beliebigen klein- oder großhafen eines landes als öntököltöröllischer matrose gleichberechtigt die dortigen matrosInnenrechte erhält.“ Gruppen wie „Kauderzanca“ oder die „Unmündigen“ sind nicht direkt aus einem „Arbeiterverein“ entstanden, sondern aus lokalen demokratisch-linken Szenen der Migranten aus der Türkei. In jenen Jahren haben sich solche Szenen in kulturellen und sozialen Einrichtungen der Mehrheitsgesellschaft oder der Migranten gebildet. Wie es die „Kauderzanca“-Redaktion im obigen Zitat formuliert, fand sich die Gruppe zunächst in einer Stadtteileinrichtung der Migranten in Berlin-Schöneberg, der „Halk Kösesi“, zusammen. Kurz nach ihrer Konstitution verlässt die Gruppe die Institution und wechselt zunächst in die deutsche Einrichtung „Kick“. Schließlich gründet sie zusammen mit zwei weiteren Gruppen das eigene „emanzipatorische“ Jugend- und Kulturzentrum „Öntököltöröll“, wo sie auch das Café „Kauderzanca“ eröffnet. 3.3.1.2 Vernetzung Zu Beginn der Konstitutionsphase der Sozialwelt agierten die einzelnen Gruppen der „emanzipatorischen Migranten“ jeweils in ihrer lokalen Umgebung. Im Laufe der 1990er Jahre haben sich jedoch Vertreter der einzelnen Gruppen den „Unmündigen“ seit Anfang der 1990er Jahre eine häufig verwendete und fest etablierte Kategorienbezeichnung für diese Einrichtungen. Dass an dieser Stelle die „Kauderzanca“- Redaktion den Begriff gebraucht, ist u.U. darauf zurückzuführen, dass im Frühjahr 1997 ein Netzwerktreffen der „emanzipatorischen Migranten“ stattfand, bei dem Vertreter beider Gruppen anwesend waren und bei dem der Ausdruck wahrscheinlich weitergegeben wurde. Migration, Sprache und Rassismus 88 bei verschiedenen Gelegenheiten kennengelernt und vernetzt. Eine erste Vernetzungsaktivität fand in der genannten Zeit zwischen Vertretern von „Antifaşist Gençlik“ (Berlin), „Café Morgenland (Frankfurt) und „köXüz“ (Hamburg) statt. Die folgende Schilderung dieser Vernetzung ist auf der Homepage von „köXüz“ nachzulesen und ist im Original auf Türkisch verfasst: In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gründeten in Deutschland aufgewachsene Jugendliche (aus Kurdistan, aus der Türkei, in manchen Großstädten auch Jugendliche arabischer Herkunft) in erster Linie auf lokaler Ebene „Gangs“ zur Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische (neonazistische) Übergriffe. Später haben einige dieser Selbstverteidigungsgruppen auch durch den Einfluss und die Katalysatorfunktion von Menschen, die aus der sozialistischen und revolutionären Bewegung kamen, eine Politisierung durchgemacht. Darunter fallen insbesondere Gruppen wie die „Antifaşist Gençlik“ (Antifaschistische Jugend) in Berlin, die „2. Kusak Göcmenler“ (Migranten der 2. Generation) in Hamburg, die später die Zeitschrift „köXüz“ herausbringen sollte, und Gruppen wie das „Café Morgenland“ in Frankfurt. Diese Gruppierungen standen in Kontakt zueinander und gingen beim antirassistischen Kampf von Zeit zu Zeit auch gemeinsam vor. Die Zeitschrift „köXüz“, die ab Juli 1995 in Deutschland herausgebracht wurde, verstand sich als Plattform und Fortführung dieser Tradition. Sie wurde in zwei (Türkisch, Deutsch) bzw. in x-Sprachen (d.h. ohne eine sprachliche Begrenzung) herausgebracht. Beim Namen rekurrierte man mit dem Buchstaben X einerseits auf Malcolm X, dem Anführer der Schwarzen-Bewegung in den USA der 60er Jahre, und andererseits auf die „Black Power“-Bewegung, die in dieser Tradition entstand. (Aus: www.koxuz.org/ koxuz/ fusion_infusions/ koxuz_text_panel/ text3. php , Stand: 10.12.2007) Eine zweite Vernetzungsaktivität innerhalb der Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“ fand im Jahre 1997 statt. Dabei organisierten die Mannheimer „Unmündigen“ gemeinsam mit „Saz-Rock“ aus Frankfurt ein bundesweites Treffen von Migranten der zweiten Generation, an dem auch Vertreter von „Kauderzanca“ aus Berlin und die Schriftsteller Guillermo Aparicio und Feridun Zaimoglu teilnahmen. In der breiten deutschen Öffentlichkeit wurde die Sozialwelt erst gegen Ende der 1990er Jahre bekannt, und zwar als 1998 eine Gruppe von (mehrheitlich) Migranten aus Frankfurt zusammen mit dem Schriftsteller Feridun Zaimoglu das Netzwerk „Kanak Attak“ initiierte. Insbesondere Zaimoglus Mitwirkung und seine Thematisierung einer neuen migrantischen Haltung in vielen Medieninterviews verlieh der Initiative von Anfang an große mediale Aufmerksamkeit. Bei den Gründungstreffen nahmen neben einzelnen Migranten aus Hamburg, Köln und München auch Vertreter der „Unmündigen“ aus Mann- Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 89 heim teil. 132 Auch der Hamburger Regisseur Fatih Akin war im weitesten Sinne Teil der Initiative, da sich sein Name - obwohl er bei keinem Gründungstreffen dabei war - als Unterstützer auf diversen Netzwerkpapieren befand. Nach zweijähriger Konstitutionsphase ging dann die Initiative im Jahre 2000 mit einer eigenen Bühnenshow an die Öffentlichkeit. Mehrere überregionale Tageszeitungen wie die „Frankfurter Rundschau“ oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichteten über das Ereignis, in der „tageszeitung“ wurde darüber hinaus das Manifest der Initiative abgedruckt. Mittlerweile verfügt das Netzwerk über lokale Gruppen in sieben verschiedenen deutschen Städten und ist ein gefragter Ansprechpartner für Konferenzen und Tagungen, bei denen es um Migration und Rassismus geht. Schließlich gibt es auch Gruppen von „emanzipatorischen Migranten“ außerhalb Deutschlands, mit denen die hiesigen ebenfalls vernetzt sind. So gibt es etwa in Österreich die beiden Vereinigungen „Echoten“ und „Tschuschenpower“, wobei die Formation der „Echoten“ eine Zeitlang mit den Mannheimer „Unmündigen“ in Kontakt stand und die Gruppe „Tschuschenpower“ gemeinsame Aktivitäten mit „Kanak Attak“ durchführte. Exkurs: Zu den „Echoten“ und zu „Tschuschenpower“ Zur Entstehung und zu den Inhalten der „Echoten“ schreiben Waldrauch/ Sohler (2004, S. 469f.): Insbesondere aus zwei Initiativen aus dem Bereich der Sozial- und Jugendarbeit mit jugendlichen MigrantInnen gingen Organisationen hervor, die von der zweiten Generation getragen wurden. Eine Vorreiterrolle nahm der Verein „ ECHO “ ein, der 1993 vom Sozialarbeiter Bülent Öztoplu initiiert wurde. Der Verein ECHO ist heute ein Jugendzentrum und Freizeittreffpunkt für Jugendliche mit Migrationshintergrund [...]. Die gleichnamige von den Jugendlichen produzierte Zeitschrift „ ECHO “ hat sich mittlerweile ebenso wie der Verein selbst als „Sprachrohr“ der zweiten Generation etabliert. ECHO vertritt emanzipatorische Ziele im Hinblick auf das Empowerment von Jugendlichen durch Förderung von Selbstbewusstsein, Handlungskompetenzen und Fähigkeiten. Wesentliche Anliegen sind die Verbesserung der Lebensqualität und gleichberechtigte gesellschaftliche Partizipation der zweiten Generation [...]. 132 Die „Unmündigen“ beteiligten sich ein Jahr lang an den Gründungstreffen von „Kanak Attak“, zogen sich aber dann aufgrund einiger politischer Differenzen als Gruppe vom Netzwerk zurück. Dieser Punkt ist hinsichtlich der innerweltlichen Segmentierung wichtig, da bei allen Gemeinsamkeiten und Vernetzungsanstrengungen, die zwischen den lokalen „emanzipatorischen“ Gruppen bestehen, zum Teil auch große inhaltliche Divergenzen insbesondere über die Art der Selbstorganisationsformen existieren. Siehe dazu z.B. die Diskussion aus dem Jahre 2000 zwischen „köxüz“ und „Café Morgenland“ auf der einen und Vertretern von „Kanak Attak“ auf der anderen Seite, deren Abschrift im Internet veröffentlicht ist: www.cafemorgenland.net/ archiv/ 2000/ 06.02.2000_Sonntagsgespraech.htm (Stand: 29.10.2008). Migration, Sprache und Rassismus 90 Eine ausführliche Darstellung des Vereins liefert Öztoplu (2002). Zur Initiative „Tschuschenpower“ notieren Waldrauch/ Sohler (2004, S. 476): Rund um die Bildung der ÖVP - FPÖ -Regierung zu Beginn des Jahres 2000 wurde eine weitere antirassistische Initiative mit Namen ‘Tschuschenpower’ initiiert. Diese informelle Gruppe versteht sich als ‘ein Zusammenschluss von in Österreich lebenden Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft, die die gesellschaftspolitischen Zustände inakzeptabel finden und sich aktiv für einen konstruktiven Veränderungsprozess einsetzen.’ Auch „Tschuschenpower“ verfolgte über ein Onlinemagazin („TschuschInnenPost“) sowie eine Mailingliste antirassistische Strategien der Vernetzung und politischen Intervention auf diskursiver Ebene, auch im Sinne der Artikulation von Gegenidentitäten. Vergleichbar mit der deutschen Initiative „Kanak Attak“ trat „Tschuschenpower“ auf, um „den rassistischen Sammelbegriff ‘Tschusch’ bewußt umzukehren und aus ihm ein positiv besetztes Widerstandsinstrument zu schmieden“ und damit der „Mehrheitsgesellschaft ein Stück ihrer Definitionsmacht, dank der sie bis jetzt festlegen konnte, wer ‘Tschuschen’ sind und wie sie zu sein haben zu entziehen“. 133 3.3.2 Die „akademischen Europatürken“ Mit „akademischen Europatürken“ bezeichne ich die Formationen von Migranten aus der Türkei, die sich im Umfeld der Hochschulen organisieren, und die sich im Gegensatz zu den „emanzipatorischen Migranten“ ethnisch, und zwar als in Europa lebende „Türken“, definieren. In der Regel handelt es sich bei den einzelnen lokalen Gruppen um türkische Studentenvereine. Aber nicht wenige Formationen der Sozialwelt bezeichnen sich deswegen als „akademische“ Gruppen, da zu ihren Mitgliedern nicht nur aktuelle, sondern auch ehemalige Studenten zählen. 134 Die Sozialwelt der „akademischen Europatürken“ ist erst im Laufe der 1990er Jahre bedeutend geworden, als immer mehr Kinder der ehemaligen „Gastarbeiter“ den Sprung auf deutsche Hochschulen schafften und an vielen Universitäten und Fachhochschulen türkische Studentenvereine gründeten. Die ers- 133 Siehe dazu auch die Selbstdarstellung der Gruppe im Anhang 11.3. 134 Im Einzelnen handelt es sich bei Formationen der „akademischen Europatürken“ um solche lokalen Gruppen wie etwa „Türkische Studenten und Wissenschaftler in Marburg“ ( TSW Marburg e.V.), „Union Türkischer Akademiker Stuttgart“ ( UTA ), „Türkischer Studentenverein Münster e.V.“ ( TSVM ), „Türkischer Studentenverein in Köln“ ( TÜRK - ÜNID ), „Türkischer Akademiker Bund Bonn“ ( T . A . B . B .), „Türkische Akademiker zu Bochum“ ( TABO ), „Vereinigung Türkischer Studierender Mannheim“ ( MATÖD ), „Verein der Studenten aus der Türkei e.V.“ ( KATÖD ) etc. Diese Vereine haben sich weitergehend in Dachverbänden wie „Bundesverband Türkischer Studentenvereine“ ( BTS ) oder „Bund Türkischer Akademikervereine in Deutschland“ ( ATAK ) zusammengeschlossen bzw. von Anfang an eine europaweite Organisation wie die „European Association of Turkish Academics“ ( EATA ) gegründet. Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 91 ten türkischen Studentenvereine existierten bereits seit den 1960er Jahren. Die Zahl und der Aktivitätsradius der damaligen Vereine blieb jedoch bis Ende der 1980er Jahre gering, da ihre Akteure Gaststudenten aus der Türkei waren, von denen die meisten nach einigen Studienjahren Deutschland wieder verließen. Die bisher umfangreichste Untersuchung zu den „akademischen Europatürken“ hat Sema Aslan (2005) vorgelegt. Daneben liegen zwei Arbeiten vor, die ebenfalls auf Gruppen der „Europatürken“ eingehen. Es handelt sich dabei zum einen um die Dissertation von Kaya (2001) über Berliner Hip-Hop-Jugendliche türkischer Herkunft, wobei eine lokale Berliner Gruppe der „Europatürken“ als Kontrastwelt herangezogen wird. Die zweite vorliegende Arbeit ist eine journalistische Untersuchung von Cakir (2000) über nationale und religiöse türkische Organisationen in Deutschland, worin der Autor auch über eine europaweit agierende Formation der „Europatürken“ berichtet. Im Folgenden werde ich zunächst ausführlich auf die Untersuchung von Aslan eingehen, die detailliert und facettenreich verschiedene Aspekte des kommunikativen Sozialstils der „akademischen Europatürken“ analysiert. Sodann gehe ich kurz auf die Arbeiten von Kaya und Cakir ein. Die von Aslan (2005) untersuchte Gruppe ist ein türkischer Studentenverein der „Europatürken“ in Süddeutschland. Ihre Mitglieder sind im untersuchten Zeitraum zu Beginn der 2000er Jahre zwischen 25 und 33 Jahren alt und bestehen in etwa zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen. Den Kern der Sozialwelt „bilden türkische Migranten der 2. Generation, die aus „Gastarbeiterfamilien“ kommen und ihre schulische Sozialisation in Deutschland erfahren haben“ (ebd., S. 328). Daneben wirken in der Gruppe auch Akteure mit, die in der Türkei aufgewachsen und zum Zwecke des Studiums bzw. einer Promotion nach Deutschland gekommen sind. Sie stammen meist aus höheren Bildungsbzw. Gesellschaftsschichten der Türkei und sind für die soziale und sprachliche Orientierung der „Europatürken“ in höchstem Maße relevant. (Aslan 2005, S. 328) Die soziale Orientierung und das Selbstbild der Gruppe ist durch Elitebewusstsein gekennzeichnet: „Sie definieren sich als modern, aufgeklärt und gebildet und sehen sich als die wirtschaftlich-akademische Elite der türkischstämmigen Europäer“ (ebd.). Daher werden in der Sozialwelt der „Europatürken“ meist Studiengänge wie Jura, BWL , VWL oder Medizin präferiert, die ihre Aufstiegsorientierung in gut dotierte Berufe mit hohem Prestigewert ausdrücken. Wie Aslan ausführt ist das zentrale Anliegen der Gruppe die Heranbildung einer kultivierten Schicht türkischstämmiger Europäer, einer intellektuellen Lobby für die in Europa lebenden Türken. Im Vordergrund die- Migration, Sprache und Rassismus 92 ser Bestrebungen stehen die Aufwertung der Herkunftskategorie und ihre positive Darstellung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. [...] Das bei vielen Migranten türkischer Herkunft vorherrschende Gefühl, einer von der Mehrheitsgesellschaft als minderwertig wahrgenommenen Ethnie anzugehören, weicht bei ihnen einem neuen türkischen Elitebewusstsein. Die „Europatürken“ gehen gegen das Stereotyp des ungebildeten, sprachlich unbeholfenen türkischen „Gastarbeiters“ und des unterprivilegierten „Ghettojugendlichen“ an, indem sie durch eigene berufliche und soziale Erfolge das Bild des sprachlich versierten, kultivierten, weltgewandten Europäers türkischer Herkunft etablieren wollen [...]. (Aslan 2005, S. 328) Bei ihrer Arbeit am positiven Selbstbild als „Europatürken“ grenzen sich die Vereinsangehörigen gegen drei andere Migrantengruppen ab: Wie Aslan im obigen Zitat ausführt, sind dies zum einen die „ungebildeten, sprachlich unbeholfenen türkischen Gastarbeiter“, d.h. ihre eigene Elterngeneration, 135 und zum anderen die „unterprivilegierten Ghettojugendlichen“, die von den „Europatürken“ als „doppelt halbsprachig, ungebildet, geschmacklos und auffällig gekleidet, sich laut, grob und undiszipliniert verhaltend“ (Aslan 2005, S. 345) kategorisiert werden. Beiden Gruppen werfen die „Europatürken“ vor, dass sie nicht genügend zur Verbesserung ihrer Situation beitragen würden, weshalb die „Marginalisierung und Diskriminierung, die türkische Migranten in Deutschland und im übrigen Europa erfahren, [...] zum Teil selbstverschuldet“ (ebd., S. 329) sei. 136 135 In biografischen Schilderungen der „Europatürken“, in denen sie über die eigenen Eltern erzählen, zeigt sich ihre Distanzierung zu „ungebildeten Gastarbeitern“ in einer sehr interessanten Weise. Wie Aslan (2005, S. 330) berichtet, sind die „Europatürken“ bestrebt, „die eigene Herkunft aufzuwerten und nicht als typische ‘Gastarbeiterherkunft’“ erscheinen zu lassen. Die Arbeit an der eigenen Biografie betrifft Merkmale wie die dörfliche Herkunft der Eltern, ihr Dialektsprechen, ihre Beschäftigung als Arbeiter in Deutschland, ihre mangelnden Deutschkenntnisse und geringe Bildung“. Die „Europatürken“ blenden in ihren Erzählungen alle „gastarbeitertypischen“ Merkmale ihrer Eltern aus oder beschönigen sie und betonen dagegen die Aspekte ihrer Familie, die von der türkischen Bildungselite und der deutschen Mehrheitsgesellschaft positiv bewertet werden, wie etwa Bildungsorientiertheit und Toleranz. Wie Aslan (ebd.) festhält, „[erscheinen] die Eltern [der ‘Europatürken’, m.A.] in diesen Schilderungen als Elite unter den ‘Gastarbeitern’“. 136 Die von Aslan untersuchten „Europatürken“ erklären die Diskriminierung von türkischen Migranten seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft anhand von zwei Argumentationsfiguren. Zum einen sei die „antitürkische Einstellung in Europa Ausdruck einer irrationalen, tiefsitzenden kollektiven Angst der Europäer, die bis in die Zeit der Osmanenherrschaft“ (Aslan 2005., S. 329) zurückgehe. Auf der anderen Seite seien Diskriminierungsfälle zum Teil selbst verschuldet, da Migranten wie „ungebildete Gastarbeiter“ oder „Ghettojugendliche“ nichts zu einem positiven Bild der Türken beitragen würden. Daher „[ist] die leitende Vorstellung der ‘Europatürken’, dass das selbstverschuldete negative Türkenbild Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 93 Die dritte Migrantengruppe, von der sich die „Europatürken“ distanzieren, sind in der Öffentlichkeit bekannte Vertreter der „emanzipatorischen Migranten“ türkischer Herkunft wie der Schriftsteller Feridun Zaimoglu oder der Filmemacher Fatih Akin. Beide würden (in einigen ihrer Werke) die türkischen Migranten negativ darstellen, indem sie etwa auf typische Klischees wie die des „Ghettotürken“ zurückgriffen. 137 Deshalb seien auch sie mit solchen Darstellungen „für die latente antitürkische Haltung in Deutschland verantwortlich [zu] machen“ (Aslan 2005, S. 329). Die Aktivitäten der „akademischen Europatürken“, mit denen sie ihre Ziele wie „die Heranbildung einer kultivierten Schicht türkischstämmiger Europäer“ oder „einer intellektuellen Lobby für die in Europa lebenden Türken“ verfolgen, sind vielfältig, wie etwa Chor- oder Theatergruppen. Aslan erwähnt in ihrem Aufsatz eine Aktivität, die innerhalb der Sozialwelt der „akademischen Europatürken“ wohl zu den verbreitetsten zählt: das „Abi-Abla-Projekt“. Bei diesem Projekt handelt es sich darum, die sozial benachteiligten „Ghettokinder“ durch sozialpädagogisches Engagement, wie z.B. Nachhilfeprogramme, zu unterstützen; sie wollen ihnen berufliche Perspektiven und Möglichkeiten aufzeigen und sie durch ihr eigenes positives Vorbild zu schulischem und beruflichem Erfolg ermutigen. (Aslan 2005, S. 330) 138 Nach meinen ethnografischen Recherchen besteht die inhaltliche Arbeit der verschiedenen lokalen Gruppen der „Europatürken“ insbesondere aus drei Kernaktivitäten: den türkischen Studenten Kontakte zu deutschen und türkischen Wirtschaftsvertretern ermöglichen, nur durch Bildung und beispielhaftes Handeln korrigiert werden kann. Ein ‘Europatürke’, der diskriminiert wird, hat demnach nicht genügend zur Verbesserung seines Status beigetragen bzw. hat die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft durch ein typisch ‘ghettotürkisches’ Auftreten provoziert“ (ebd., S. 332). 137 Im Fall von Feridun Zaimoglu wird hierbei auf dessen Buch „Kanaksprak - 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“ (1995, S. 16f.) Bezug genommen, in dem der Autor nach eigenen Angaben ein Spektrum „vom Müllabfuhr-Kanaken bis zum Kümmel-Transsexuellen, vom hehlenden Klein-Ganeff, [...] bis zum goldbehängten Mädchenhändler, vom posenreichen Halbstarken bis zum mittelschweren Islamisten“ portraitiert. Im Falle von Fatih Akin meint man Filme wie „Kurz und Schmerzlos“ (1997) oder „Gegen die Wand“ (2005), in denen die Geschichten von jungen Migranten erzählt werden, die sich zum Beispiel als Kleinkriminelle, Punks, Alkoholiker etc. auch am Rande der türkischen Gemeinschaft in Deutschland befinden. 138 Siehe dazu auch Kaya (2001, S. 21). a) Migration, Sprache und Rassismus 94 Themen bearbeiten, die die türkischen Migranten in Deutschland/ Europa betreffen, und Themen behandeln, die mit der Politik/ Gesellschaft/ Geschichte der Türkischen Republik zu tun haben. 139 Zu a) Dienstleistungen für die türkischen Studenten: Die „akademischen Europatürken“ organisieren regelmäßig Veranstaltungen, zu denen sie Vertreter der deutschen und türkischen Industrie und Politik einladen. Neben Einzelveranstaltungen handelt es sich dabei mitunter um Tagungen und Workshops, bei denen die Studenten die Gelegenheit bekommen, die diversen Unternehmen kennenzulernen und sich ggf. um Praktikumsplätze zu bewerben. Zu b) Themen, die die türkischen Migranten in Deutschland/ Europa betreffen: Die „Europatürken“ mischen sich aktiv in gesellschaftspolitische Diskussionen ein, wenn die Belange der türkischen Migranten tangiert werden. Mit verschiedenen Aktivitäten wie Veranstaltungen, Ständen, Demonstrationen etc. unterstützen sie z.B. Forderungen nach erleichterter Einbürgerung und treten gegen diverse Diskriminierungsfälle türkischer Migranten seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf. 139 Zum Beleg dieser Kernhandlungen habe ich stellvertretend für andere Gruppen der „akademischen Europatürken“ die Aktivitäten des türkischen Studentenvereins „Türk-Ünid“ in Köln untersucht. Auf seiner Internetseite führt der Verein 61 Aktivitäten aus, die er zwischen 1998 und 2006 durchgeführt hat. Davon zählen 8 Aktivitäten zu „Dienstleistungen für türkische Studierende“, wie das Seminar „Praktikumsmöglichkeiten bei deutschen und türkischen Firmen“ (am 15.06.2000) oder die Veranstaltung „Karrieremöglichkeiten in der globalisierten Welt - Vortrag mit anschließender Gelegenheit zu Einzelgesprächen mit deutschen und türkischen Unternehmern/ Managern bei offenem Büffett und Getränken mit Live-Musik“ (am 08.12.2005); 10 Aktivitäten zur Situation der türkischen Migranten in Deutschland wie das Seminar „ EG -Recht und Gleichstellung der Türken“ (am 30.01.2002) oder die Veranstaltung „Einbürgerung und Leitkultur“ (am 05.12.2000) und 22 Aktivitäten zur Innen- und Außenpolitik der Türkischen Republik wie die Vortragsveranstaltung „Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU und die Armenischen Behauptungen“ (am 16.01.2006), die Feierlichkeit „Tag der Gründung der Türkei - Dia- Show über die Türkei, Musik, Folklore, Aperitif und Getränke“ (am 18.10.2002), die Unterschriftenaktion „Gegen die Diskussion der Armenierverfolgung im Bundestag“ (von Juni bis August 2001) oder das Seminar „Moderne Türkische Justiz“ (am 26.11.1998). Die restlichen 21 Veranstaltungen sind soziale Unternehmungen wie Grillpartys, Ausflüge und Diskoabende. Siehe dazu online: www.uni-koeln.de/ studenten/ turk-unid/ (Stand: 11.10.2006). - - - b) c) Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 95 Zu c) Themen, die die Politik/ Gesellschaft/ Geschichte der Türkischen Republik betreffen: Da sich die „Europatürken“ als in Europa lebende Türken sehen, identifizieren sie sich aufs Engste mit der Geschichte und Gegenwart der Türkischen Republik. So nehmen die Aktivitäten, die mit der Außen- und Innenpolitik der Türkei zu tun haben, im Repertoire aller Gruppen der „Europatürken“ einen zentralen Platz ein. Dazu zählen z.B. Seminare, Vorträge etc., die sie organisieren und bei denen sie die Position der Türkei in Bezug auf diverse Diskussionen wie etwa den EU -Beitritt unterstützen. Wie anfangs erwähnt, wird neben dem Aufsatz von Aslan in der Literatur lediglich in zwei weiteren Arbeiten auf Vereinigungen der „akademischen Europatürken“ eingegangen. In der (politologischen) Studie zu Berliner Hip- Hop-Jugendlichen betrachtet Kaya (2001) kontrastiv auch einen Verein von Berliner Gymnasiasten und Studenten, der als eine lokale Sozialwelt der „Europatürken“ einzustufen ist. Kaya ordnet die von ihm untersuchten Gruppen unterschiedlichen sozialen Klassen zu. Er betrachtet die Hip-Hop-Jugendlichen als Arbeiterklassejugend („working-class Turkish youth“) und die „Europatürken“ als Mittelschichtjugend („middle-class Turkish youth“). 140 Nach Kayas Darstellung unterscheiden sich die beiden Gruppen auf mehreren Ebenen voneinander, unter anderem darin, wie sie „Heimat“ definieren und wie sie zwischen ihren Sprachen wechseln. Die Jugendlichen aus der Arbeiterklasse betrachten ihr unmittelbares Wohnviertel, Berlin-Kreuzberg, als ihre Heimat und wechseln zwischen den Sprachen häufiger in intra-sentenzieller Form. 141 Dagegen ist die Mittelschichtjugend in Bezug auf Heimat kosmopolitischer orientiert, da sie sich sowohl mit der Türkei als auch mit Deutsch- 140 Diese Kategorisierung ist nicht unproblematisch. Einerseits ist sie nachvollziehbar, da sie die unterschiedlichen Orientierungen der beiden Gruppen zu erfassen versucht. Andererseits muss man jedoch anmerken, dass der soziale Hintergrund der meisten „Europatürken“ durchaus in der Arbeiterklasse zu verorten ist, da sie meist Kinder der so genannten „Gastarbeiter“ sind. 141 In der Sprachvariationsforschung wird der Begriff „intra-sentenzielle“ Variation auf dichte Sprachwechsel innerhalb eines Satzes bezogen (siehe u.a. in Poplack 1980, S. 588ff.). Die Ergebnisse Kayas bezüglich der unterschiedlichen Sprachwechselmuster sind mit Vorsicht zu genießen, weil er sie nicht mit tatsächlichen, sondern konstruierten Beispielen belegt. Da es sich bei seiner Studie um eine politologische Arbeit handelt, beschäftigt er sich nur am Rande mit dem Sprachverhalten der Migranten (Kaya 2001, S. 147-150). Ich gehe hier dennoch auf seine Ausführungen ein, da sie - gleichwohl sie impressionistischer Natur sind - tendenziell die in diesen Gruppen präferierten Wechselmuster erfassen (zur Sprachvariation der „Europatürken“ siehe Abschnitt 7.4). Migration, Sprache und Rassismus 96 land verbunden fühlt und sich, statt mit ihrem konkreten Wohnviertel, mit der Weltstadt Berlin identifiziert. 142 In Bezug auf die von den „Europatürken“ präferierten Sprachwechselmuster schreibt Kaya, dass sie die Sprachen größtenteils trennen, also inter-sentenziell zwischen Deutsch und Türkisch wechseln. Als eine Kernaktivität der von ihm untersuchten Gruppe der „Europatürken“ führt Kaya die Auseinandersetzung mit Diskriminierungsaspekten in Deutschland auf (Kaya 2001, S. 144ff.). Die zweite Studie, in der auf die „Europatürken“ eingegangen wird, ist die journalistische Arbeit „Die Pseudodemokraten“ von Murat Cakir (2000). Darin betrachtet Cakir ethnische, nationale und religiöse Formationen der türkischen Migranten in Deutschland aus einem kritischen Blickwinkel, und zwar hinsichtlich ihrer engen Verbindungen zur Politik der Türkischen Republik. Als eine Organisation der „akademischen Europatürken“ geht er dabei auf die „European Association of Turkish Academics“ ( EATA ) ein. Ich möchte Cakirs Darstellung der EATA ausführlich zitieren, da sie detailliert die wesentlichen Aktivitäten und Hintergründe dieser Formation beleuchtet, die europaweit agiert und wohl zu den größten Organisationen der „Europatürken“ gezählt werden kann: Nach eigenen Angaben wurde die EATA 1990 gegründet. [...] In der Bundesrepublik gibt es EATA -Filialen in 19 Städten. Außerdem verfügt die EATA über Länderorganisationen in Belgien, Niederlande, Österreich, Schweiz und in der Türkei. In ihrer Internetdarstellung betont die EATA (auf den türkischsprachigen Seiten), daß es zu ihren Zielen gehört, „Kampagnen gegen türkenfeindliche Bestrebungen zu organisieren und das Image der modernen ‘Europa-Türken’ aufzubauen“. Ferner wird betont, daß die „ EATA mit Konferenzen, Kongressen und Seminaren die Themen, welche die Türken und die Türkei betreffen, ansprechen und für die ‘türkischen Thesen’ zu diesen Themen werben“ wolle. Für die Verwirklichung dieser Ziele werden zahlreiche internationale Konferenzen zu den Themen „Die neue Rolle der Türkei“, „Zollunion“, „Türkisch- Deutsche Beziehungen unter dem Aspekt der neuen politischen, wirtschaftlichen und strategischen Architektur Europas“ sowie „Die Republik Türkei von 1923 bis 2023“ durchgeführt. Außerdem fanden zahlreiche sogenannte Frühlings- und Winterkonferenzen statt. 1992 in London zum Thema „Beziehungen zwischen der Türkei und EU “, 1993 in Wien „Die letzte Phase des Os- 142 Die unterschiedlichen Orientierungen zeigen sich nach Kaya auf diversen Ebenen wie zum Beispiel in Bezug auf das Urlaubsverhalten: Während die Arbeiterklassejugend diesbezüglich weniger mobil sei und hauptsächlich in der Türkei Urlaub mache, präferierten die kosmopolitisch orientierten „Europatürken“ Ferien in den USA , Marokko, Spanien oder Frankreich (Kaya 2001, S. 146). Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 97 manischen Reiches“, 1994 in Heidelberg „Die Armenierfrage“, 1995 in Nürnberg „Die Geschichte, aktuelle Lage und Zukunft der Zypernfrage“, 1996 in Berlin „ Die türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen“ und 1998 in Bad Kreuznach zum Thema „Die Beziehungen Türkei-Europa und die Situation der Europa-Türken nach 2000“. Die EATA -Konferenzen haben verblüffende Ähnlichkeiten mit den jeweiligen außenpolitischen Schwerpunktthemen des türkischen Staates. [...]. Welchen Wert die türkischen Machthaber den EATA -Aktivitäten geben, wird an der Teilnahme hochrangiger Staatsvertreter deutlich. Neben den Staatspräsidenten Turgut Özal und Süleyman Demirel waren (bzw. sind) hochrangige Vertreter der Regierung, der Militärs, der Staatsverwaltung und Großindustriellen ständige Gäste der EATA -Konferenzen bzw. Sommerschulen. In der Internetdarstellung der EATA werden die Ziele der Sommerschulen wie folgt beschrieben: „Die Idee zu den Sommerschulen ist aus dem Wunsch gewachsen, das Wissen der türkischen Studenten in Europa über die Türkei zu erweitern. So wird beabsichtigt, daß die Studenten die Türkei in den Ländern, in denen sie sich aufhalten, besser bekannt machen können. In den Sommerschulen werden insbesondere die Themen Geschichte, Wirtschaft, Außenbeziehungen, Staatspolitik und Kultur der Türkei angesprochen. [...]“. Die wichtigsten Einnahmequellen für EATA -Aktivitäten sind Sponsoren und finanzielle Zuwendungen der „offiziellen Stellen der Türkei“ [Zitat aus der Internetseite der EATA , m.A.]. Die EATA hat sich zu einem der wichtigsten Standbeine der türkischen Staatslobby entwickelt. Getreu der Öymen-These „ die Investitionen in die Zukunft der staatstreuen Europa-Türken ist unverzichtbar“ wird die EATA seitens des Regierungsapparats der Türkei gehegt und gepflegt (Cakir 2000, S. 53ff.). An dieser Stelle wäre es falsch, wenn der Eindruck entstünde, als ob die Sozialwelt der „akademischen Europatürken“ ein Produkt des türkischen Staates sei. Denn in Deutschland konstituierten sich die ersten türkischen Studentenvereine bereits vor der außenpolitischen Zielsetzung der Türkischen Republik, die türkischen Akademiker und Unternehmer als eine „Pro-Türkei-Lobby“ in Europa einzusetzen. Ohne die direkte organisatorische und finanzielle Hilfe der Türkei haben sich diese ersten Vereine, was nach wie vor für den Großteil der Organisationen der „Europatürken“ gilt, aus ihrem Selbstverständnis als Eliteangehörige für die Belange der Türken in Deutschland und für eine bessere Darstellung der Türkei in Europa eingesetzt. Dass sich nach wie vor viele Studenten türkischer Herkunft in den diversen lokalen Gruppen der „akademischen Europatürken“ engagieren, liegt weniger an den attraktiven Angeboten einzelner Vereine. Denn nur die wenigsten Gruppen können wie die EATA solche kostengünstigen „Camps“ für türkische Studenten anbieten. Ihre Attraktivität bestand und besteht eher darin, dass sich viele Studenten und Migration, Sprache und Rassismus 98 Gemeinsamkeiten/ Unterschiede der beiden untersuchten Sozialwelten Emanzipatorische Migranten Akademische Europatürken Akteure beider Welten • sind Angehörige der zweiten/ dritten Migrantengeneration • sind mehrheitlich Studenten/ Akademiker • lehnen strikt ethnische Kategorien wie „Türken“, „Kurden“ etc. als Selbstbezeichnung ab • definieren sich je nach Kontext als „Migranten“, „Kanaken“, „Almancı“ oder „Deutsche“ • definieren sich ethnisch als „Türken“, die in Deutschland/ Europa leben • lehnen strikt die Kategorien „Kanaken“, „Almancı“ oder „Deutsche“ als Selbstbezeichnungen ab • betrachten sich als Wegbereiter/ Keimzellen eines/ einer Antirassismusbewusstseins bzw. -bewegung • betrachten sich als „Elite“ der türkischen Migranten • Kernaktivitäten sind Bearbeitung von jeglichen Rassismen und Thematisierung von Bürgerrechten • Kernaktivitäten sind Vertretung der Türken und der Türkei in der Öffentlichkeit und Anbieten von Dienstleistungen für türkische Studenten Tab. 1: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den „emanzipatorischen Migranten“ und den „akademischen Europatürken“ Deutschland als Einwanderungsland und Sozialwelten von Migranten 99 Akademiker türkischer Herkunft vielmehr als in Europa lebende Elitetürken identifizieren (wollen), denn als „Ausländer“, was auch nach mehr als vier Jahrzehnten Migrationsgeschichte der Einwanderer aus der Türkei das hauptsächliche Identifikationsangebot der Bundesrepublik an diese Migranten darstellt. Darauf verweist auch Cakir in seinen abschließenden Anmerkungen zu den „Europatürken“: Die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden türkischen Staatsangehörigen und türkeistämmigen Deutschen ist keine zu vernachlässigende Zahl. Daher muß die verantwortliche Politik unseres Landes [damit meint er nicht die Türkei, sondern Deutschland, m.A.] die Entscheidung fällen, ob diese Menschen dazu gehören sollen oder nicht. Die gesellschaftliche Realität hat diese Entscheidung längst überholt. Wenn an der restriktiven Ausländerpolitik der letzten Jahrzehnte weiter festgehalten wird und den türkeistämmigen Immigrant/ innen kein ernsthaftes Angebot zur Eingliederung in unsere Gesellschaft gemacht werden, werden sie weiter in den Schoß der türkischen Nationalisten, Lobbyisten, Islamisten oder Rechtsradikalen geschoben. (Cakir 2000, S. 40) In der nebenstehenden Tabelle 1 fasse ich abschließend die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Sozialwelten der „akademischen Europatürken“ und der „emanzipatorischen Migranten“, die Gegenstand meiner soziolinguistischen Analysen sind, zusammen. Die Grafik stellt die wichtigsten Aspekte der beiden Milieus dar. 4. Die Ethnografie der „Unmündigen“ Die „Unmündigen“ wurden zu Beginn der 1990er Jahre gegründet. Vermutlich hätten die wenigsten Gründungsmitglieder gedacht, dass ihre Initiative im Jahre 2010 immer noch existieren würde. In den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten ihres Wirkens hatten zwar auch sie ihre Krisen zu überstehen, diese äußerten sich aber weniger über interne Zerreißproben als durch wegzugbedingten Mitgliederschwund. Und in den letzten Jahren kann die Gruppe nicht nur sagen, dass sie nach wie vor existiert - was zahlreiche Vereine auf dem Papier auch tun -, sondern gar ihren vorläufigen Höhepunkt erlebt: So führten die „Unmündigen“ im Jahre 2007 für das 400-jährige Stadtjubiläum von Mannheim das zentrale Projekt zum Thema „Migration in der neueren Stadtgeschichte“ durch. 143 Außerdem sind die Akteure der Gruppe gefragte Migrationsexperten, die zu Stadtschülerkonferenzen, Multiplikatorenseminaren oder zu Veranstaltungen von Bundestagsabgeordneten eingeladen werden. In diesem Kapitel wird die Ethnografie der „Unmündigen“ präsentiert, die ihre Gründung, die Gründungsinhalte, die Zusammensetzung der Mitglieder und die wichtigsten Aktivitäten der Gruppe enthält. 4.1 Die Gründung In Abschnitt 3.3.1 wurde ausgeführt, dass einzelne lokale Gruppen der „emanzipatorischen Migranten“ aus und in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten entstanden. Einige gründeten sich innerhalb von linksorientierten (studentischen und antirassistischen) Netzwerken oder Parteien der Mehrheitsgesellschaft. Der Großteil der lokalen Gruppen konstituierte sich aber aus den demokratisch-linken „Arbeitervereinen“ bzw. demokratisch-linken Milieus der Migranten heraus. Wie BÜ , eines der Gründungsmitglieder der „Unmündigen“, unten ausführt, entstanden die „Unmündigen“ innerhalb der Mannheimer Szene der demokratisch-linken Migranten, die sich zu Beginn der 1990er Jahre um eine deutsche Kultureinrichtung („Forum“) gebildet hatte. Im Folgenden schildert BÜ seinen Eintritt in die Szene und die ersten politischen Initiativen, die sie damals hervorbrachte. 143 Siehe dazu den Ausstellungskatalog „mannheimJahre - Fotoausstellung zur neueren Mannheimer Stadtgeschichte“ (Die Unmündigen 2007). Migration, Sprache und Rassismus 102 Transkript 1: linke demokratische szene 01 BÜ: [ich] bin hier * über ein freund den ich von 02 BÜ: abendakademie kannte ↓ bin zum forum gegangen 03 BÜ: ** da: - [...] gab=s eine gruppe ↑ die hieß 04 BÜ: der #hoşaf#* bin immer wieder dahin und dann Ü Kompott 05 BÜ: mit der zeit HOLT LUFT ähm ham wir ein 06 BÜ: #ko"m# * komitee für menschenrechte K #ABK.# FÜR KOMITEE FÜR MENSCHENRECHTE 07 BÜ: gegründet ↓ [...] das war rein türkisch ↓ 08 BÜ: [...] aus m/ menschen aus der türkei ↓ [...] 09 BÜ: * ich würde sagen linke demokratische szene ↓ 10 BÜ: [...] des war einfach eine ziemlich äh- * 11 BÜ: würd ich sagen demokratischekraft der 12 BÜ: nicht so politische ziel ähorientiert war ↓ 13 BÜ: einfach HOLT LUFT man kam zusammen [...] von 14 BÜ: gefühl her halt ↓ [...] die leute kamen 15 BÜ: zusammen wollten so paar kulturelle sachen 16 BÜ: machen ↓ ham sie sich getroffen- HOLT LUFT 17 BÜ: erzä"hlt einfachdiese tage und zwar 18 BÜ: dienstag und ähähm * freitag des warn so 19 BÜ: lebendige tage ↓ forum war vo"ll mit äh- 20 BÜ: nicht deutschen ja ↓ besonders aus der 21 BÜ: türkei ↓ des war die zeit also wo=s so 22 BÜ: angefangen hat ↓ Wie BÜ ausführt, gab es in Mannheim gegen Ende der 1980er Jahre eine linke demokratische Szene (Z. 09) von Migranten aus der Türkei, die sich in der deutschen Kultureinrichtung „Forum“ (Z. 02) gebildet hatte. BÜ bezeichnet die damalige Szene als eine demokratische Kraft, die nicht so politisch [...] orientiert (Z. 11-12) war. Man kam vielmehr zusammen, um so paar kulturelle sachen (Z. 15-16) zu machen und zu „erzählen“ (Z. 17). In der Szene gab es aber auch Gründungen von politischen Gruppen wie „Hoşaf“ und das „Komitee für Menschenrechte (KoM)“, an denen sich BÜ auch beteiligte (Z. 03-07). Die Ethnografie der „Unmündigen“ 103 Anfang der 1990er Jahre arbeitete ich im Café der Kultureinrichtung „Forum“ und konnte daher aus nächster Nähe miterleben, wie das Milieu in dieser Zeit immer umfassender wurde. Migranten mit unterschiedlichen ethnischen und religiösen Hintergründen wurden von ihm angezogen: Neben vielen Mitgliedern bzw. Sympathisanten von linken türkischen Parteien und Organisationen waren auch Migranten, die sich in erster Linie kurdisch und/ oder alevitisch definierten, ein Teil dieser Szene. Wie BÜ schildert, kristallisierten sich im Laufe der Zeit insbesondere zwei Wochentage heraus, Dienstag und Freitag, die sehr „lebendig“ waren und an denen die Einrichtung „voll“ (Z. 19) mit Migranten aus der Türkei war. Der Grund dafür lag an einem Zeitschriftenprojekt. Zu Beginn der 1990er Jahre hatte sich innerhalb der Sozialwelt eine Gruppe von Akteuren der ersten und zweiten Migrantengeneration gebildet, die die türkischsprachige Zeitschrift „Hoşaf“ herausbrachte. Da die Redaktionstreffen dienstags und freitags waren, und sich die Gruppe als organisatorisches Zentrum der Szene etabliert hatte, kamen auch die anderen Szenegänger verstärkt an diesen Tagen ins „Forum“. Auch die späteren Gründungsmitglieder der „Unmündigen“ arbeiteten in dieser Zeit bei „Hoşaf“ mit. „Hoşaf“ war eine türkischsprachige, unregelmäßig erscheinende Zeitschrift, die thematisch und stilistisch sehr breit gefächert war. Man schrieb über die Innenpolitik der Türkei genauso wie über Imperialismus, Sexismus und Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Neben Artikeln fanden sich in der Zeitschrift Gedichte, Kurzgeschichten, satirische Kolumnen, Witze, Cartoons und Gedichte. Die thematische Heterogenität der Zeitschrift spiegelte die unterschiedlichen Interessenfelder der Redaktionsmitglieder wider: Ein Großteil der weiblichen Redaktionsmitglieder setzte sich stärker mit Sexismus auseinander, Migranten der ersten Generation mehr mit türkeitürkischen Themen und die zweite Generation mehr mit der Situation in Deutschland. 144 Die divergenten Interessen waren letztendlich so zahlreich und unvereinbar, dass die Gruppe nach knapp anderthalb Jahren Existenz aufgelöst wurde. Im Anschluss an „Hoşaf“ initiierten drei ihrer ehemaligen Redaktionsmitglieder eine neue Gruppe innerhalb der Szene und zwar das „Komitee für Menschenrechte“ (KoM). Das „KoM“ stellt im engeren Sinne die Vorgruppe der „Unmündigen“ dar. Denn zum einen waren die wichtigsten Initiatoren des 144 Diese Heterogenität drückte die Gruppe auch mit ihrem Namen aus. „Hoşaf“ bedeutet auf Deutsch „Kompott“ und wird in der türkischen Küche in der Regel so zubereitet, dass man mehrere Früchte wie Trauben, Pfirsische etc. zusammen verwendet. So gibt es im Türkischen die Paraphrase „Hoşaf gibi“ (wörtlich: wie ein Kompott; im übertragenen Sinne: Mischmasch) für Dinge, die aus vielen verschiedenen Elementen bestehen. Migration, Sprache und Rassismus 104 Komitees auch die Gründungsmitglieder der „Unmündigen“. Und zum anderen zeichnete sich die Ausrichtung des Komitees im Gegensatz zur ersten Initiative „Hoşaf “, deren Inhalte zum wesentlichen Teil durch Herkunftslandorientierung bestimmt waren, durch die Zuwendung auf die Lebenssituation in Deutschland aus. Im folgenden Transkriptausschnitt schildert BÜ , welche Vorfälle letztendlich dazu führten, dass sich auch das „KoM“ sehr bald auflöste. Transkript 2: die abgrenzung von dieser gruppe ist deutsch 01 BÜ: und mit der zeit * ham wir diese #ko"m# K #ABK.# 02 BÜ: gegründet [...] da wollten wir halt 03 BÜ: irgendwas machen was hier äh orientiert sein 04 BÜ: sollte ↓ [...] das war ** mehr vom bau"ch 05 BÜ: heraus ↓ * man wusste nicht was genau ↓ * denn 06 BÜ: was stimmt nicht ↑ * und was wollte man mit 07 BÜ: diesen menschen die dort sind ↑ * machen ↑ ** 08 BÜ: und ähm ** unsere vorstellungen ham sich in 09 BÜ: praxis gar nicht ähm erwiesen ↓ weil äh wir 10 BÜ: festgestellt habenes gibt dort auch immer 11 BÜ: wieder klassische * li“nke ↑ * [...] leute 12 BÜ: die * ziemlich erfahren sind ↓ ** politische 13 BÜ: erfahrung haben ↓ auf einmal durch ihre 14 BÜ: sprachgewandtheit äh drehen das ga"nze äh- 15 BÜ: was weiß ich in ein andern feld ne ↑ [...] da 16 BÜ: hat sich jemand gemeldet der sehr gut 17 BÜ: türkisch sprechen könnte ↓ * hat das wort 18 BÜ: genommen und (...) also erzählt auch sehr 19 BÜ: schön und dann waren wir in griechischer 20 BÜ: antike ja [...] und der war grade * ich 21 BÜ: glaub ersten tag in deutschland so >viel ich 22 BÜ: weiß ne ↑ < das war mein persönliche 23 BÜ: erinnerung ↓ das war für mich so- SCHNIPPT 24 BÜ: MIT DER ZUNGE also äh der knackpunkt ↓ [...] Die Ethnografie der „Unmündigen“ 105 25 BÜ: da hat=s geknackt dann ähm * ham=wa ziemlich 26 BÜ: lange auseinandersetzung gehabt mit dem 27 BÜ: mann ↓ mit diesen menschen sag ich HOLT LUFT 28 BÜ: und da kamen wir immer mehr drauf äh da/ 29 BÜ: dann wurde diese bewusstsein äh klar HOLT 30 BÜ: LUFT dass diese zweite dritte generation 31 BÜ: einfach ähsich auch im deutsch also 32 BÜ: besonders dritte ↑ viel besser ausdrücken 33 BÜ: kann wenn man das alles umdreht HOLT LUFT 34 BÜ: dann iskommt genau" das umgekehrte ↓ * dass 35 BÜ: diese >z/ < dritte generation ↑ HOLT LUFT 36 BÜ: alles viel besser äußern kann ↓ * frei ↓ * und 37 BÜ: der andere hat probleme [...] ist=s uns 38 BÜ: gekl/ * HOLT LUFT ähklar geworden ↑ also 39 BÜ: die abgrenzung von die"ser gruppe ähis 40 BÜ: deutsch ↓ In den Zeilen 02 bis 04 erläutert BÜ , dass sie mit der Gruppe „KoM“ irgendwas machen wollten, was hier [Deutschland] orientiert sein sollte. Ein naheliegender Gedanke war, dass sie dies mit diesen Menschen, die dort [im Forum] sind (Z. 06-07), angehen wollten. Ihre Erwartungen wurden aber enttäuscht (Z. 08-09), da viele, die zu den ersten Treffen des „KoM“ kamen, sich ethnisch definierende, herkunftslandorientierte klassische * li"nke (Z. 11) der ersten Generation waren. Mit „klassischer Linke“ meint BÜ Akteure, die sich viel mit der Innenpolitik der Türkei und marxistischen Positionen auseinandersetzen, aber wenig mit den konkreten Lebensbedingungen in Deutschland. 145 Neben dieser inhaltlichen Differenz stellte sich zwischen den späteren 145 Der Schriftsteller Zafer Senocak (2008) beschreibt in einem autobiografischen Essay sehr lebendig einen Vertreter dieser Generation der klassischen bzw. Exil-Linken, die in den 1980er Jahren innerhalb der demokratisch-linken Szene der Migranten eine bedeutsame Rolle spielte: „Man nannte ihn einfach ‘Hodscha’. Ich sah ihn zum ersten Mal in der Kantine der Münchner Universität, am Türkentisch. Ein hagerer Mann, mit dunklen Augen und einem Dreitagebart, umringt von aufmerksamen, geduldigen Zuhörern. Selbst für einen Langzeitstudenten war er zu alt. Er sprach langsam und so leise vor sich hin, dass man ihm in der lauten Kantine, konzentriert zuhören musste, um mitzukommen. So weit ich ihm folgen konnte, sprach er vom Aufbau des Sozialismus in Afghanistan. Ich hatte meine kommunistische Phase schon hinter mir und konnte derartiger Agitation nichts mehr abgewinnen, Migration, Sprache und Rassismus 106 „Unmündigen“ und den „klassischen Linken“ ein zweites Problem ein, dessen Bedeutung den „KoM“-Initiatoren erst allmählich bewusst wurde. Denn während sie als Migranten der zweiten Generation politische Gespräche besser auf Deutsch führen konnten, war die dominante Interaktionssprache der ersten Generation Türkisch. Diese politischen und sprachlichen Divergenzen zwischen den verschiedenen Teilnehmern führten zwangsläufig zum Scheitern des „KoM“. In diesem Zusammenhang schildert BÜ das Schlüsselerlebnis, als es bei ihm und den anderen Initiatoren von „KoM“ letztendlich geknackt (Z. 25) hat. Bei einem der Gründungstreffen meldete sich einer der „klassischen Linken“ zu Wort, der sehr gut türkisch sprechen konnte↓ (Z. 16-17). Am Ende seines elaborierten Redebeitrags sei dieser bei der griechischen antike (Z. 19-20) gelandet (statt über die Situation der Migranten in Deutschland zu sprechen), was für BÜ den „Knackpunkt“ darstellte. Denn da wurde es BÜ klar, dass sich dieser Aktivist erst seit einem Tag in Deutschland befand (Z. 20-22). 146 Da sich beim „KoM“ durch die Beteiligung von Migranten der ersten Generation Türkisch als dominante Interaktionssprache etabliert hatte, wurde BÜ jetzt klar, dass er und andere Migranten der zweiten Generation solchen politisch erfahrenen „klassischen Linken“ in Bezug auf türkische Sprachkompetenzen unterlegen waren. Ihnen wurde bewusst, dass sie, also die zweite dritte generation einfach ähsich auch im deutsch also besonders dritte↑ viel besser ausdrücken kann (Z. 30-33). Die Schlussfolgerung von BÜ und den späteren „Unmündigen“ daraus war: wenn man das alles umdreht HOLT LUFT dann iskommt genau" das umgekehrte↓ (Z. 33-34). Mit anderen Worten brauchten sie nur ihre Interaktionssprache von Türkisch nach Deutsch zu wechseln, damit nicht sie, sondern der andere probleme [hat] (Z. 37), seine inhaltlichen Positionen auszudrücken. Ausgehend von dieser Erfahrung hielten BÜ und die anderen späteren „Unmündigen“ fest: Die Abgrenzung bzw. Trennung von diesem herkunftsorientierten Milieu oder von die"sen gruppe äh - is deutsch (Z. 39-40). auch wenn sie in Derwischmanier vorgetragen wurde. [...]. In den 80er-Jahren aber, als wir demokratisch gesinnte Türken in Deutschland und in der Türkei den türkischen Staat bekämpften, waren Leute wie der ‘Hodscha’ noch eine Autorität, ein (über)lebendes Exemplar des Widerstands, der Hoffnung auf bessere Zeiten. ‘Hodscha’ sprach gut Französisch, aber kein Wort Deutsch. Deutsch lernen wollte er nicht. Er wollte in die Türkei zurück und dort wieder den Kampf gegen die Oligarchen aufnehmen.“ (Internet: www.goethe.de/ ges/ phi/ prj/ ffs/ his/ de3360765.htm , Stand: 18.06.2008) 146 Zur Rolle von türkischen Exil-Linken innerhalb der demokratisch-linken Szene der Migranten in Deutschland zu dieser Zeit siehe auch Balli (1989, S. 115f., 131f., 330). Die Ethnografie der „Unmündigen“ 107 Aufbauend auf diese Erfahrungen starteten BÜ und zwei weitere ehemalige „Hoşaf “- und „KoM“-Mitglieder einen zweiten Versuch, eine auf Deutschland orientierte Migrantengruppe ins Leben zu rufen. Dabei beschlossen sie, sich außerhalb der demokratisch-linken Szene zu konstituieren und in den Gruppentreffen von Anfang an Deutsch als Interaktionssprache zu verwenden, womit sie zwei Signale setzten: Einerseits verhinderten sie so die Beteiligung von dominant türkischsprachigen Migranten der ersten Generation aus der „klassischen Linken“. Die Gründungsmitglieder waren allesamt Migranten der zweiten Generation. Andererseits wollte man durch die Sprachpräferenz die erwünschte Beteiligung von Migranten aus anderen Herkunftsländern als der Türkei ermöglichen, die sich auch einige Monate später nach der Gründung der „Unmündigen“ einstellte. Mit dem Austritt der „Unmündigen“ aus der Mannheimer Szene der demokratisch-linken Migranten aus der Türkei begann die Erosion dieses Milieus. 147 Ab Mitte der 1990er schritt dies weiter voran, als auch viele Migranten kurdischer und alevitischer Herkunft die Szene verließen, eigene Vereine gründeten und separate Räumlichkeiten anmieteten. Spätestens seit Ende der neunziger Jahre, als ein Teil der türkisch-sozialistischen Migranten ebenfalls das „Forum“ verließ und sich in einer anderen Einrichtung zu treffen begann, war die Auflösung des ehemals großen und lebendigen Milieus vollzogen. 4.2 Die Gründungsinhalte In den ersten Jahren ihres Bestehens dokumentierten die „Unmündigen“ ihre Arbeit sehr akribisch. Sie bereiteten inhaltliche Seminare mit theoretischen und organisatorischen Positionspapieren vor und verfassten von jedem Gruppentreffen ausführliche Protokolle. Die folgende Darstellung der Gründungsinhalte basiert im Wesentlichen auf der Analyse dieser Dokumente, die mir von der Gruppe vollständig zur Verfügung gestellt wurden. Bei der Untersuchung der konstitutiven Inhalte der „Unmündigen“ kristallisierten sich drei Themenfelder heraus, die im Folgenden ausgeführt werden: der institutionelle Rassismus, die Untertanenpsychologie und die Sprachfindung. 148 147 Austritt ist hier in doppelter Hinsicht, und zwar in organischer und organisatorischer, zu verstehen. Die „emanzipatorischen Migranten“ begannen mit der Gründung der „Unmündigen“ nicht nur organisch, d.h. sozialweltlich, ihre eigene Subwelt zu konstituieren. Sie wandten sich auch organisatorisch, d.h. räumlich von der Szene ab, indem sie in ihren Gründungsjahren die Kultureinrichtung „Forum“ verließen und sich in einer anderen deutschen Sozialeinrichtung trafen. 148 In diesem Abschnitt geht es darum, aus einer „emischen“ Forschungsperspektive (Pike 1967) die Soziosemantik der „Unmündigen“ zu rekonstruieren und in ihrer inneren Systematik Migration, Sprache und Rassismus 108 4.2.1 Institutioneller Rassismus Ausgangspunkt der „Unmündigen“ war es, danach zu fragen, als was die nicht-deutschstämmigen Migranten von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft gesehen, eingeordnet und behandelt werden. Ihrerseits definierten sich die „Unmündigen“ als Inländer, die zur Normalität der Bundesrepublik gehörten. Allerdings machten sie sowohl im Alltag als auch in politischen, juristischen, beruflichen, schulischen etc., kurzum in allen „institutionellen Kontexten“ immer wieder die Erfahrung, von Mehrheitsdeutschen marginalisiert und/ oder diskriminiert zu werden. 149 Sie wurden nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft behandelt, sondern als (nicht dazugehörige) „Ausländer“. Für Migranten der zweiten Generation wie die „Unmündigen“ stellte sich diese Situation besonders grotesk dar, da sie den größten Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht hatten - wenn sie nicht gar in Deutschland geboren waren und seitdem ohne Unterbrechung hier gelebt haben. Ausgehend von diesen Reflexionen hielten die „Unmündigen“ in einem theoretischen Prozess zwei Schlussfolgerungen für ihre Gruppenarbeit fest: Zum einen wollten sie in Bezug auf die Diskriminierung von Migranten nicht von „Ausländer-“ bzw. „Fremdenfeindlichkeit“ reden: Da sie sich nicht als „Ausländer“ oder „Fremde“ sahen, konnte die Diskriminierung, die sie erfuhren, auch keine „Ausländer-“ bzw. „Fremdenfeindlichkeit“ sein. 150 Ein anderes Problem in Bezug auf diese Begriffe sahen sie darin, dass mit diesen Begrifflichkeiten selten die Diskriminierungspraxis der gesellschaftlichen Mitte bezeichnet würde. In der Regel würde man auf diese Konzepte dann zurückgreifen, wenn man sich auf rechtsextreme Einstellungen und Taten bezöge. Daher entschieden sich die „Unmündigen“ dafür - da sie sowohl die alldarzustellen. Mit anderen Worten: Ich werde darstellen, wie die Untersuchten z.B. die Marginalisierung/ Diskriminierung von Migranten für sich definiert und ihre Arbeit konzeptionalisiert haben, und nicht an und für sich diskutieren, wie z.B. der „institutionelle Rassismus“ zu definieren ist. 149 Die (internationale) Literatur zu ethnischer Diskriminierung bzw. Rassismus ist mittlerweile umfangreich. Neben den Standardwerken von Fanon (1986), Memmi (1987), Miles (1992), Hall (1994) und Balibar (1998) sei an dieser Stelle vor allem auf Kalpaka/ Räthzel (1990), Terkessidis (2004) und Bojadzijev (2008) hingewiesen, die auf deutsche Verhältnisse/ Besonderheiten bzw. im Falle der letzten Autorin auf die (antirassistischen) Kämpfe der Migranten im Einwanderungsland Deutschland eingehen. Des Weiteren bietet das Nachschlagewerk von Nduka-Agwu/ Hornscheidt (Hg.) (2010) einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zum Zusammenhang zwischen Rassismus und Sprache. 150 Siehe auch Şen/ Goldberg (1994, S. 133). Die Ethnografie der „Unmündigen“ 109 täglichen Marginalisierungsfälle als auch die institutionell verankerte Diskriminierung der Migranten bearbeiten wollten - den übergreifenden Begriff „Rassismus“ zu verwenden. 151 Die zweite Schlussfolgerung der „Unmündigen“ war, dass sie sich als eine politische Gruppe bei ihrer alltäglichen Arbeit „nicht mit den unzähligen Fällen von gesellschaftlichen Alltagsrassismen“, sondern speziell mit dem „institutionellen Rassismus“ 152 auseinandersetzen wollten. 153 Aus dieser Orientierung folgte für sie die Notwendigkeit, sich mit der deutschen Migrationspolitik und Gesetzgebung zu beschäftigen. In Bezug auf die Gesetzgebung hielten die „Unmündigen“ fest, dass „die Bundesrepublik die Definition des deutschen Staatsbürgers nicht republikanisch, sondern völkisch“ vornehme (dieses und nachfolgende Zitate stammen aus der Materialsammlung „Die Unmündigen: Inhalte und Perspektiven“ vom Februar 1994). Das spiegele „der Staatsbürgerschaftsparagraf wider, der nur denen ein Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft“ zuspreche, die von Deutschen abstammen. Die Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft an die im Land lebenden nicht-deutschstämmigen Migranten werde - auch wenn diese alle notwendigen Kriterien für eine Einbürgerung erfüllten - nicht als ein Recht dieser Menschen, sondern als ein „Gnadenakt“ des deutschen Staates verstanden. Dieses Staatsprinzip basiere auf der politischen Ideologie der ethnischen bzw. völkischen Nation (Hoffmann 1990) und nicht auf der einer republikanischen Nation, da das Ziel einer Republik darin bestehen müsse, die Einbeziehung aller Bevölkerungsteile zu ermöglichen. 151 Darauf, dass im internationalen Vergleich in Deutschland der Begriff „Rassismus“ nicht selbstverständlich ist, geht u.a. Terkessidis (2004, S. 13) ein: „[D]as Wort beinhaltet den berühmten ‘Ismus’, was bedeutet, dass mit dieser Bezeichnung etwas Strukturelles angesprochen wird. Dass dem Gegenstand eine strukturelle Komponente zugesprochen wird - das ist in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs selbstverständlich. Tatsächlich war der Begriff Rassismus noch bis zum Beginn der neunziger Jahre weitgehend verpönt. Das hatte zweifellos mit der deutschen Geschichte zu tun.“ 152 Der Begriff „institutioneller Rassismus“ wurde von Carmichael/ Hamilton (1967), zwei Aktivisten der Black-Power-Bewegung, eingeführt. Zur Begriffsgeschichte und Ausdifferenzierung des Konzepts siehe Gomolla/ Radtke (2002). Siehe des Weiteren zu „institutioneller Rassismus“ und „Wohnungsmarkt“ Braham et al. (Hg.) (1992), „Sozialamt“ Baldauf (2002), „Schule“ Quehl (2002), „Betrieb“ Brüggemann/ Riehle (2002) und „Justiz“ und „Polizei“ Bünger (2002). 153 Ironisch brachte die Gruppe diese Orientierung folgendermaßen zum Ausdruck: „Wir sind keine vom deutschen Rassismus geschädigte Selbsthilfegruppe für Migranten, weshalb wir nicht einzelne Fälle von alltäglichem Rassismus, sondern als ein politischer Verein den Rassismus in Politik und Justiz bearbeiten wollen“. Zu diversen Fällen von Alltagsrassismen siehe z.B. Ritz (2009). Migration, Sprache und Rassismus 110 Diesem völkischen Staats- und Bürgerverständnis entspreche auch die deutsche Migrationspolitik. Denn während andere Einwanderungsländer wie die USA oder Australien sich auch als solche bezeichneten, würde sich die Bundesrepublik nicht als Einwanderungsland sehen, obwohl sie im Vergleich und im Verhältnis zu diesen Ländern in den letzten Jahrzehnten viel mehr Migranten aufgenommen habe. Des Weiteren würden die klassischen Einwanderungsländer den legal aufgenommenen Migranten in der Folge eine Rolle als Inländer anbieten, die ihnen ermögliche, eine auf das Aufnahmeland gerichtete Identität zu entwickeln, während Deutschland den Migranten keine neue Identität als „Deutsche“ anbiete, sie stattdessen als „Ausländer“ kategorisiere und somit ihre grundsätzliche Nichtzugehörigkeit festlege. Im Gegensatz zur zukunftsgewandten Ausrichtung der anderen Einwanderungsländer sei die Politik der Bundesrepublik somit rückwärtsgewandt, da sie die Migranten auf ihre Vergangenheit bzw. Herkunftsländer festlege. 154 Die „Unmündigen“ fokussierten in ihrer Arbeit insbesondere diesen Komplex aus politisch formulierten und juristisch festgeschriebenen Diskriminierungen als die wichtigste Erscheinung/ Praxis des „institutionellen Rassismus“. 4.2.2 Untertanenpsychologie Die „Unmündigen“ sahen in der Politik der Bundesrepublik nur die eine Seite des Rassismus. Auf der anderen Seite nahmen sie auch die Migranten in die Verantwortung. Aus ihrer Sicht konnte die Diskriminierung der Migranten als strukturelle Ausgrenzung nur deshalb (weiter) bestehen, weil die Migranten in ihrer Mehrzahl die von der Mehrheitsgesellschaft vorgegebenen Zuschreibungen und Kategorien übernehmen und nicht hinterfragen würden. Aus der Migrationspraxis Deutschlands, den Migranten fundamentale Bürgerrechte vorzuenthalten und sie mit Sondergesetzen (wie dem früheren Ausländergesetz) zu verwalten, folgte für die „Unmündigen“, dass die Bundesrepublik die Migranten als „Untertanen“ behandelt. Da die Migranten auf der anderen Seite diese zugeschriebene Rolle in ihrer Mehrzahl nicht ablehnten, hätten sie nach Feststellung der „Unmündigen“ eine ganz spezifische „Untertanenpsychologie“ entwickelt, die sich in unterschiedlichen Formen ausdrücke. Als „Untertanen“ würden die Migranten die Fremdkategorisierungen der Mehrheitsgesellschaft, die sie als „Gastarbeiter“, „Ausländer“, „Türken“, „Italiener“ etc. einordnen, übernehmen und keine Anstrengungen unternehmen, auf das Einwanderungsland bezogene Selbstkategorien zu entwickeln. Damit hänge zusammen, dass sie sich daran gewöhnt hätten, gewissen Pflichten wie 154 Siehe auch Hoffmann (1990, S. 33). Die Ethnografie der „Unmündigen“ 111 Steuerzahlungen nachzukommen oder „besonders in Wahlkampfzeiten als Verfügungsmasse im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Probleme thematisiert zu werden“, aber auf der anderen Seite keine gleichberechtigten politischen Partizipationsmöglichkeiten wie das Wahlrecht zu besitzen. Des Weiteren würden viele Migranten der zweiten und dritten Generation unhinterfragt mit der Abschiebungsgefahr in „ihre sogenannten Heimatländer ihrer Groß- und Urgroßeltern“ leben, obwohl sie in Deutschland sozialisiert oder gar geboren seien. Andere Aspekte der Untertanenpsychologie zeige sich bei Migranten in Tendenzen wie der „inneren und äußeren Abkapselung“, der „Überanpassung“, der „Übernahme von zugeschriebenen Identitätsproblemen“ oder von „Vermittlerrollen“. 155 Die Analyse der „Untertanenpsychologie“ seitens der „Unmündigen“ deckt sich mit einem wichtigen Aspekt des Hegemonie-Konzepts, das der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. In seiner Theorie führt Gramsci (1986, S. 17ff.) aus, dass in Zivilgesellschaften die Macht der herrschenden Gruppen/ Schichten/ Klassen - so lange sie vorherrscht - sich vor allem darauf gründet, dass die beherrschten Gruppen ihre Diskurse mittragen. Dabei handelt es sich seitens der beherrschten Gruppe nicht nur um einen passiven Prozess des Hinnehmens. Indem sie die Fremdkategorisierungen akzeptieren und im gesamtgesellschaftlichen Dialog nach außen hin als Eigenkategorien vertreten, tragen sie zum wesentlichen Teil dazu bei, dass sich die Diskurse und somit die Macht der (vor-)herrschenden Gruppen stabilisieren. 156 Die „Unmündigen“ machten mit ihrer Analyse a) auf die strukturelle Wechselwirkung der Machtdiskurse 157 und b) darauf aufmerksam, dass für die Migranten die Befreiung von der „Untertanenpsychologie“ nur gelingen könne, 155 Zu Umgangsweisen mit Diskriminierung und Marginalisierung siehe vor allem Goffman (1977). In seiner Grundlagenarbeit „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ analysiert Goffman in einer Reihe von Fällen, wie Menschen mit unterschiedlichen Stigmakennzeichen (Rasse, Behinderung etc.) mit Marginalisierungserlebnissen umgehen. 156 Dies ist eine sehr verkürzte und fokussierte Darstellung der Hegemonie-Theorie. Zu einer ausführlichen Besprechung des Konzepts im Kontext der Rassismusforschung siehe vor allem Hall (1994, S. 120ff.), der im Rahmen der Arbeiten des „Centre for Contemporary Cultural Studies“ ( CCCS ) in Birmingham diesen Ansatz fruchtbar gemacht hat. Zur Relevanz der Hegemonie-Theorie im Rahmen der Soziolinguistik siehe Hamel (1988, S. 94ff.), Auer (1995a, S. 379ff.) und Kallmeyer (1995a, S. 20f.). 157 Bezüglich der Frage, welche Rolle der Machtfaktor zwischen sozialen Gruppen spielt, ist die Arbeit von Elias/ Scotson (2002 [1965]) von grundsätzlicher Bedeutung. Die Autoren untersuchten 1959/ 60 einen Vorort „einer großen, blühenden Industriestadt in den eng- Migration, Sprache und Rassismus 112 wenn sie sich von Begrifflichkeiten, Kategorien und Praktiken der Mehrheitsgesellschaft emanzipieren und ihre eigene Perspektive entwickelten und relevant setzen. 4.2.3 Sprachfindung Die Notwendigkeit, eine eigene Sprache zu finden, resultierte für die „Unmündigen“ aus einem bidirektionalen Emanzipationsprozess: Einerseits wollten sie sich von Rassismen der Mehrheitsgesellschaft und auf der anderen Seite von der „Untertanenpsychologie“ der Migranten emanzipieren. Ihre eigene Realität als „Inländer“ deckte sich weder mit der Normalität der Mehrheitsgesellschaft, die die Migranten stets als „Ausländer“ reproduziert, noch mit der Normalität der „untertänigen“ Migranten, die ihre Fremdkategorisierung z.B. als „Ausländer“ nicht hinterfragten bzw. ablehnten. Dabei bezogen die „Unmündigen“ die Sprachfindung sowohl auf einzelne Begrifflichkeiten, als auch auf Elemente des Mehrheit-Minderheit-Diskurses. Auf der Ebene der einzelnen Bezeichnungen lehnten sie insbesondere den Begriff „Ausländer“ ab. Diese Bezeichnung drücke in expliziter Weise aus, dass die Migranten nicht als ein integraler Bestandteil der hiesigen Gesellschaft gesehen werden, sondern als in irgendeiner Weise „Geduldete“. Daher spielte die Formulierung „Wir sind keine Ausländer“ in den ersten Gründungstreffen eine konstitutive Rolle. 158 Auf der Suche nach einer Bezeichnung für die eigene Gruppe fragten sie weiter, was eigentlich die Fremdkategorisierung „Ausländer“ für die Migranten zentral bedeute. Ihre Antwort war, dass sie als „Auslischen Midlands“ (ebd., S. 63). Sie halten zunächst fest, dass sich die Gemeinde in drei Bezirke A, B und C aufteilt. In A lebt die Mittelschicht, in B und C die Arbeiterklasse. Des Weiteren bemerken sie, dass die sozialen Grenzziehungen nicht zwischen den Bezirken B und C auf der einen Seite und A auf der anderen Seite verlaufen, sondern zwischen B und C, d.h. zwischen den beiden Arbeiterbezirken. In der Analyse stellen sie fest, dass sich dieser Umstand darauf gründet, dass die Bewohner von B alteingesessene und die von C neuhinzugezogene Arbeiterfamilien sind. Die Autoren bezeichnen diese beiden Gruppen, die sich weder durch ethnische noch durch religiöse Aspekte voneinander unterscheiden, als „Etablierte“ und „Außenseiter“ und decken detailiert die (Alltags-)Strukturen und Kategorien auf, mit denen die Etablierten die Außenseiter stigmatisieren und ausgrenzen. Nach Elias/ Scotson resultiert das diskriminierende Verhalten der Etablierten aus der Furcht, in ihrer lokalen Gemeinde an Macht zu verlieren. Die Autoren betrachten die von ihnen analysierte soziale Dynamik als typisch für Figurationen in Etablierten-Außenseiter-Verhältnissen insofern, als sie z.B. auch auf Migranten-Einheimische-Diskurse übertragbar ist. 158 In Kapitel 6.4 untersuche ich verbale Handlungstypen wie die Aussage „Wir sind keine Ausländer“ als Fälle des Aufspießens von Rassismen seitens der „emanzipatorischen Migranten“. Die Ethnografie der „Unmündigen“ 113 länder“ zu „politisch unmündigen Menschen“ gemacht würden, denen fundamentale Bürgerrechte vorenthalten werden. So kamen sie zu dem Entschluss, sich „Die Unmündigen“ zu nennen. Die Bezeichnung sollte die Mehrheitsgesellschaft in provokanter Weise jederzeit daran erinnern, wie sie den Migranten begegnet. 159 Auf der Ebene des Diskurses fokussierten die „Unmündigen“ typische Elemente des Mehrheit-Minderheit-Dialogs, mit denen die Mehrheitsangehörigen die Migranten implizit/ explizit als „Ausländer“ kategorisieren und somit stets woanders als in Deutschland verorten. Darunter zählte die Gruppe solche scheinbar harmlosen Fragen wie „Woher kommst du? “ oder solche scheinbar positiven Kommentare wie „Sie können aber gut Deutsch“. In Kapitel 6 über den „emanzipatorischen Stil“ werde ich ausführlich auf die Reaktionen der „Unmündigen“ in Bezug auf solche Äußerungstypen eingehen. An dieser Stelle möchte ich lediglich festhalten, dass aus der Sicht der „emanzipatorischen Migranten“ diese Formulierungen deshalb geäußert werden, weil die Migranten pauschal als „Fremde“ kategorisiert werden, die aus einem anderen Land kommen und schlecht Deutsch sprechen. Diese marginalisierenden Klischeevorstellungen sehen nach ihrer Meinung über die Tatsache hinweg, dass die meisten Migranten der zweiten und dritten Generation in Deutschland geboren sind und Deutsch häufig besser beherrschen als die Sprache ihrer Eltern. 4.3 Die Mitglieder Seit der Gründung der „Unmündigen“ Anfang der 1990er Jahre unterlag die Zahl ihrer Mitglieder großen Schwankungen. In den Gründungsjahren 1992/ 1993 fanden Gruppenaktionen statt, an denen sich um die 30 Akteure beteiligten. Dann schrumpfte die Zahl der Aktivisten innerhalb von etwa sieben Jahren auf nur noch drei Personen. Dieser Rückgang ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Gruppe im Laufe der Zeit immer mehr aus Studenten bestand, die auf Universitäten in anderen Städten oder gar Ländern wechsel- 159 Eine nicht unwesentliche Inspirationsquelle für den Namen war für die „Unmündigen“ der Aufsatz „Was ist Aufklärung“ des deutschen Philosophen Immanuel Kant. Darin schreibt Kant (1784, S. 15): „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! “ Die „Unmündigen“ wollten den Begriff in der Kant'schen Intention auch und provokativ gegenüber den „untertänig“ agierenden Migranten verwenden. Migration, Sprache und Rassismus 114 ten. So stand die Gruppe im Jahre 2000, als ihr nur noch drei Aktivisten angehörten, kurz vor dem Aus. Doch mit einigen neuen, Aufsehen erregenden Projekten, wie die Produktion ihres ersten Dokumentarfilms „deutschland - wäre meine richtige heimat...“ (2002/ 2003), konnten die „Unmündigen“ innerhalb weniger Jahre neue Mitglieder rekrutieren und die Gruppe stabilisierte sich. Im Rahmen der folgenden Projekte „gesternJahre“ (2005) und „mannheimJahre“ (2007) beteiligten sich etwa 10 bis 14 Akteure aktiv an der Gruppenarbeit. Die Gründungsmitglieder der „Unmündigen“ waren ausschließlich Migranten der zweiten Generation aus der Türkei. Bis zum heutigen Tage stellen sie die Mehrheit der Gruppenmitglieder dar. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass die Mehrheit von ihnen kurdischer und/ oder alevitischer Herkunft ist. Mit anderen Worten: Sie sind Angehörige von Minderheitengruppen (Kurden und Aleviten in der Türkei) innerhalb einer Minderheitengruppe (Migranten aus der Türkei in Deutschland). In den ersten Jahren beteiligte sich neben einer Migrantin italienischer Herkunft auch eine Schweizerin an den Aktivitäten der Gruppe. In den folgenden Jahren entwickelten sich die „Unmündigen“ immer mehr zu einem multiethnischen Verein, als sich ihnen zwei weitere Migranten italienischer, drei spanischer, zwei griechischer und jeweils ein Mitglied bosnischer und österreichischer Herkunft anschlossen. Zu Beginn waren die „Unmündigen“ hinsichtlich des beruflichen Hintergrunds der Mitglieder sehr heterogen zusammengestellt. Es beteiligten sich Sozialarbeiter, Bankangestellte, Gastronomen, Studenten, Arbeiter, Kfz-Mechaniker, Arbeitslose und Künstler. Ab 1994 begann sich diese Zusammensetzung langsam aber stetig zu verändern. Bereits 1996 war die überwiegende Mehrheit der Mitglieder Studenten. Bis 2006 hat sich diese Entwicklung nicht verändert, bis auf den Umstand, dass die damaligen Studenten ihr Studium beendet haben und mittlerweile zum Teil als Akademiker - zwei „Unmündige“ sind Professorinnen, drei andere haben promoviert - und zum Teil als Filmemacher, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Journalistin, Archivarin, Grafiker etc. im Berufsleben stehen. Das Geschlechterverhältnis hielt sich bei den „Unmündigen“ fast immer die Waage. In den Anfangsjahren gab es Phasen, in denen Frauen die Mehrheit der Mitglieder stellten. Als die Mitgliederzahl um das Jahr 2000 radikal schrumpfte, bestand die Gruppe nur noch aus drei Männern. In den letzten Jahren sind etwa 40 Prozent der Mitglieder Frauen (Stand 2009). Die Ethnografie der „Unmündigen“ 115 4.4 Die wichtigsten Aktivitäten und Aktionen In den 15 Jahren seit ihrer Gründung zeichnen sich die „Unmündigen“ als eine sehr kreative und produktive Gruppe aus. Ihre Aktivitäten sind zahlreich und variieren sowohl inhaltlich als auch formal. Sie reichen von kurzfristigspontanen bis langfristig-organisierten Aktionen oder von lokaler bis bundesweiter Netzwerkarbeit. Im Rahmen der vorliegenden Studie ist es nicht möglich, aber auch nicht nötig, alle ihre Aktivitäten darzustellen. 160 Daher liegt das primäre Ziel dieses Abschnitts darin, zusammenfassend diejenigen Aktivitäten der Gruppe wiederzugeben, die für die „Unmündigen“ als Mittel der öffentlichen Artikulation charakteristisch sind. Sie lassen sich in drei Kategorien einteilen: Netzwerkarbeit als Artikulationsmittel, Straßenaktion als Artikulationsmittel, Kunst als Artikulationsmittel. 4.4.1 Netzwerkarbeit als Artikulationsmittel Die „Unmündigen“ haben sich von Anfang an nicht nur als eine lokale Gruppe in Mannheim verstanden. Ihr Selbstverständnis war vielmehr, als eine Keimzelle für eine migrantische Bürgerbewegung gegen Rassismus zu fungieren. Um dieses Ziel zu erreichen, haben sie intensiv an der Bildung von regionalen und überregionalen Netzwerken gearbeitet. Regionale Netzwerkarbeit Das zentrale Anliegen der „Unmündigen“ ist die Bearbeitung des (institutionellen) Rassismus. Dabei haben sie sich bei ihren politischen Aktivitäten allgemein und konkret in Bezug auf die Zusammenarbeit mit anderen Migrantenvereinen jenseits von politischen und religiösen Grenzziehungen positioniert. In diesem Sinne verwundert es nicht, dass sie, als eine aus dem demokratischlinken Milieu stammende Formation, bei ihrer ersten lokalen Vernetzungsaktivität 1993 die in Mannheim größte Sozialwelt der türkisch-sunnitischen Muslime kontaktierten. Auch bei späteren Aktivitäten haben die „Unmündigen“ an dieser Linie festgehalten, indem sie bei verschiedenen Aktionen mit diversen religiösen Formationen Kooperationen eingingen: 2003 arbeiteten sie im Rahmen ihres Projekts „Einsichtssache“ u.a. mit dem „Alevitischen Kulturzentrum Mannheim“ und der „Jüdischen Gemeinde Mannheim“ zusam- 160 Siehe dazu die Homepage der Gruppe unter www.die-unmuendigen.de (Stand: 08.02.2010). 1) 2) 3) - Migration, Sprache und Rassismus 116 men. 161 2006 kooperierten sie im Rahmen ihrer Fotoausstellung „gesternJahre“ u.a. mit der griechisch-orthodoxen Gemeinde, der „Italienischen Katholischen Mission“ und der „Kroatischen Katholischen Mission“. (Weitere Kooperationspartner beim Projekt waren das „Bosnische Kulturzentrum“, das „Kurdische Volkshaus“ und die DIDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine e.V.)). 162 Außerdem stellten die „Unmündigen“ 1999, als in Mannheim zum ersten Mal ein Migrationsbeirat gewählt wurde, eine Wahlliste aus zwei kurdischen und einem türkischen Verein aus dem politisch linken Spektrum zusammen. Eine andere lokale Vernetzungsaktivität der Gruppe bestand in einer Diskussionsreihe zum Thema „Antirassismus-Bewusstsein“, die sie zwischen September 2001 und März 2002 durchführte. Als Gäste luden sie u.a. Vertreter der „Initiative Schwarze Deutsche“ und des „Verbands Deutscher Sinti und Roma“ ein. Diese Diskussionsreihe scheint auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein, denn auch bei einer aktuellen Vernetzungsaktivität im Jahre 2009 agierten die „Unmündigen“ u.a. zusammen mit den letztgenannten Gruppierungen. Auf die Initiative des „Verbands Deutscher Sinti und Roma“ luden sie am 24.11.2009 zusammen mit der „Initiative Schwarze Deutsche“ und dem „iaf e.V. Mannheim“ zu der Lesung „Die Farbe meiner Haut“ mit Manuela Ritz ein, bei der die Autorin auf den bundesdeutschen Alltagsrassismus einging und auf Strategien, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Überregionale Netzwerkarbeit Die „Unmündigen“ haben bislang bei drei überregionalen Netzwerken mitgewirkt. Gleich zu Beginn der Gruppenkonstitution hatten sie es sich zum Ziel gemacht, das Thema Migration auch innerhalb etablierter Parteien auf die Tagesordnung zu setzen. Also traten einige Gruppenmitglieder den „Grünen“ bei und gründeten dort zusammen mit anderen Migranten wie Cem Özdemir (gegenwärtig einer der Parteivorsitzenden der Grünen) oder Ismail Hakki Kosan (zu Beginn der 1990er Jahre Abgeordneter des Berliner Senats) das Netzwerk „Immig-Grün“. Eine damals Aufsehen erregende Aktion dieses Netzwerks war das „Referendum Doppelte Staatsbürgerschaft“, das 1993 durchgeführt wurde und das darin bestand, Unterschriften für die Reform des Staatsbürgerschaftsparagrafen zu sammeln. Diese Aktion war gleichzeitig die erste große Aktivität der „Unmündigen“, mit der sie an die Öffentlichkeit gingen. Deshalb 161 Des Weiteren kooperierten die „Unmündigen“ beim Projekt „Einsichtssache“ mit den „Junglesben Mannheim“ ( JULE ) und mit dem „Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma“. 162 Zwei türkische Verbände wurden von den „Unmündigen“ ebenfalls angefragt, ließen aber das Kooperationsangebot unbeantwortet. - Die Ethnografie der „Unmündigen“ 117 betteten sie die Unterschriftensammlung in weitere Aktionen ein, um ihrer neu gegründeten Gruppe so viel Aufmerksamkeit wie möglich zukommen zu lassen. So organisierten sie z.B. im Mai 1993 an der Universität Mannheim die Veranstaltungsreihe „Internationale Woche: Bürgerrechte für EinwanderInnen“. Die „Unmündigen“ sammelten für das Referendum innnerhalb weniger Wochen an die 15.000 Unterschriften, die sie am 8. Oktober 1993 in Anwesenheit der lokalen Presse Ismail Hakki Kosan und dem Gemeinderat der Stadt Mannheim übergaben. 163 Die zweite bundesweite Vernetzungsaktivität führten die „Unmündigen“ 1997 durch. Gemeinsam mit der Gruppe „Saz-Rock“ aus Frankfurt organisierten sie im Mai 1997 in Naumburg die „1. Bundeskonferenz von jungen Migrant- Innen“. 164 An der Tagung mit dem Titel „Lebensmittelpunkt Deutschland - Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung junger MigrantInnen der 2. und 3. Generation“ kamen etwa 30 Migranten aus verschiedenen deutschen Städten zusammen, darunter auch Vertreter der Berliner Gruppe „kauderzanca“ und der Kieler Autor Feridun Zaimoglu, einer der Initiatoren des später entstandenen Netzwerks „Kanak Attak“ (siehe unten) und damals noch relativ unbekannt. Auf der Tagung referierten u.a. der Stuttgarter Autor Guillermo Aparicio („Können Fremde die Fremdbestimmung überwinden? “) und der Journalist Giovanni Sciurba („Identität ist eine Sache der Entscheidung oder warum es bisher nicht gelungen ist, eine organisierte Interessenvertretung, die nationalitätenunabhängig ist, ins Leben zu rufen“). 165 Eine Nachfolgekonferenz fand zwei Jahre später im Mai 1999 unter dem Titel „Mechanismen des Rassismus und der Ausgrenzung“ in Oberursel statt. 163 Einige Jahre später (1999) arbeiteten die „Unmündigen“ mit den Mannheimer „Grünen“ zusammen, als diese auf die Gruppe zukamen und fragten, ob nicht ein Mitglied der „Unmündigen“ auf ihrer Liste bei den Kommunalwahlen kandidieren wolle. Eine Angehörige der „Unmündigen“ erklärte sich bereit und verpasste auf Listenplatz drei nur knapp den Einzug in den Gemeinderat. Für die inhaltliche Arbeit der Gruppe erwies sich jedoch ihre Kandidatur als außerordentlich wichtig, da sie so bei zahlreichen Zeitungs- und Fernsehinterviews den Standpunkt der „Unmündigen“ zu Rassismus und Ungleichbehandlung der Migranten darlegen konnte. Siehe dazu zum Beispiel das Interview der „Unmündigen“- Kandidatin mit dem „Mannheimer Morgen“ vom 11. Oktober 1999, in dem sie sagt: „Gute Integration bedeutet, keine ausgrenzenden Strukturen zu haben. [...] Wie selbstverständlich wir jedoch Ausgrenzung im Alltag hinnehmen, wird nicht zuletzt an unserer Sprache deutlich: Migranten und erst recht gebürtige Mannheimer aus Einwanderer-Familien als „Ausländer“ zu bezeichnen, zeigt, dass wir sie als nicht-dazugehörig wahrnehmen.“ 164 Vertreter der „Unmündigen“ und von „Saz-Rock“ hatten sich ein Jahr zuvor auf der Tagung „Selbstorganisationen der Jugendlichen ausländischer Herkunft und interkulturelle Verbandsarbeit“ (14. bis 16. Juni 1996 in Frankfurt) kennengelernt und im Anschluss die Idee einer eigenen Bundeskonferenz entwickelt. 165 Über die Konferenz berichtete u.a. die „tageszeitung“ vom 10. Juni 1997. Migration, Sprache und Rassismus 118 Ihre dritte bundesweite Vernetzungsanstrengung unternahmen die „Unmündigen“ 1998/ 1999, als sie an den Gründungstreffen der neuen Initiative „Kanak Attak“ teilnahmen. Sie beteiligten sich an drei Treffen in Frankfurt und organisierten ein Treffen des Netzwerks in Mannheim. Die Initiative zu „Kanak Attak“ ging von einer mehrheitlich aus Migranten bestehenden Gruppe aus Frankfurt und dem Schriftsteller Feridun Zaimoglu aus. 166 Andere Gründungsmitglieder kamen aus Hamburg, Köln und München. Aufgrund einiger inhaltlicher und organisatorischer Aspekte distanzierten sich die „Unmündigen“ als Gruppe von „Kanak Attak“, wobei einzelne Mitglieder als Privatpersonen weiterhin bei der Initiative mitwirken und auch gegenwärtig ihre Kontakte pflegen. Nach zweijähriger Konstitutionsphase ging „Kanak Attak“ im Jahre 2000 mit einer Bühnenshow an der Berliner Volksbühne an die Öffentlichkeit. Mittlerweile verfügt das Netzwerk über lokale Gruppen in vielen verschiedenen deutschen Städten und ist ein gefragter Ansprechpartner für Konferenzen und Tagungen, die die Themen Migration und Integration behandeln. 4.4.2 Straßenaktion als Artikulationsmittel Ein Markenzeichen der „Unmündigen“ sind Aktionen auf öffentlichen Schauplätzen, mit denen sie ihre politischen Inhalte nach außen tragen und gegebenenfalls in aktuelle Debatten eingreifen oder Stellung beziehen. Ihre erste Straßenaktion führte die Gruppe im Frühsommer 1993 durch. Anlass war der Brandanschlag von Neonazis am 29. Mai 1993 in Solingen, bei dem fünf Migrantinnen türkischer Herkunft ums Leben kamen. Bei der Demonstration, die einige Tage später in Mannheim gegen diesen Anschlag organisiert wurde, beteiligten sich Menschen aus verschiedenen politischen Kontexten mit unterschiedlichen Parolen. Während etwa linke Gruppierungen klassische Parolen wie „Hoch die internationale Solidarität“ skandierten, hatten sich die „Unmündigen“ in Laken mit der Aufschrift „Ich bin brennbar“ gehüllt, was nicht wirkungslos blieb. Am 7. Juni 1993 schrieb der „Mannheimer Morgen“ über die Demonstration: „In Leintücher hatten sich einige junge Türken gehüllt, in Laken mit der Aufschrift ‘Ich bin brennbar’; wer aufrütteln will, wählt drastische Worte. Nicht zuletzt dieser Satz bewegte viele Zaungäste zum Mitmarschieren.“ 167 166 Einer der führenden Akteure der Frankfurter Gruppe hatte die Inhalte, Argumentation und Entwicklung der „Unmündigen“ aus nächster Nähe beobachtet, da seine Schwester ein Gründungsmitglied der „Unmündigen“ war. 167 Zum Hintergrund der „drastischen Worte“ der „Unmündigen“ muss man hinzufügen, dass sie mitnichten an die „Neonazis“, sondern an die deutsche Mehrheitsbevölkerung gerichtet waren. Denn ein halbes Jahr zuvor, als im November 1992 in Mölln ebenfalls ein Brandanschlag auf ein von türkischen Migranten bewohntes Haus verübt worden war, bei dem drei Die Ethnografie der „Unmündigen“ 119 Auch in den folgenden Jahren nahmen die „Unmündigen“ gesellschaftspolitische Ereignisse zum Anlass, um ihren Standpunkten in der Öffentlichkeit Wirksamkeit zu verleihen. 1994 führten sie zu den Landtagswahlen in Baden- Württemberg eine Plakataktion in Mannheim durch. Auf den Plakaten formulierten sie Standpunkte wie: „In Südafrika dürfen alle wählen, in Deutschland noch nicht“, 168 „Steuerklasse eins, Wahlrecht keins“ oder „No taxation without representation“. 169 Eine andere geplante Plakataktion, diesmal zu den Bundestagswahlen 1998, brachen die „Unmündigen“ auf Ratschlag eines Juristen ab. Unter der Überschrift „Rettet die Wahl '98“ wollten die „Unmündigen“ die deutschen Nichtwähler in ironischer Weise dazu auffordern, Wahlpatenschaften mit „einem Ausländer ihrer Wahl“ zu schließen, damit a) „die Demokratie durch sinkende Wahlbeteiligung nicht an Legitimation verliert“ und b) „die Ausländer zum ersten Mal in den Genuss der politischen Partizipation kommen“. Zur Aktion ließen die „Unmündigen“ bei einem Fotografen Bilder mit der deutschen Fahne machen. Manche trugen die deutsche Fahne als Kopftuch, andere verwendeten sie in Kombination mit einem Knoblauch oder Döner in der Hand. Als die Gruppe jedoch ihre ersten Flugblätter zur Aktion verteilte, noch bevor sie ihre Plakate angebracht hatte, wurde am 19. August 1998 in der „Rheinpfalz“ ein Artikel mit einem Kommentar veröffentlicht. Darin wurde der Gruppe vorgeworfen „unbefugt zu wählen oder andere dazu aufzurufen“, was ein Verstoß gegen den Paragrafen 107a des Strafgesetzbuches sei und nicht mehr als Satire gelten könne. Da im Artikel auch der Mannheimer Rechtsamtsleiter zitiert wurde, der bei einem solchen Fall von einem Strafmaß „zwischen einer Geldbuße und Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren“ sprach, stoppte die Gruppe ihre politsatirische Aktion. Eine andere Straßenaktion führte die Gruppe im Januar 1999 durch. Anlass war das damals hitzig diskutierte Vorhaben der rot-grünen Bundesregierung, den Staatsbürgerschaftsparagrafen zu reformieren und doppelte Staatsbürgerschaften zuzulassen. Angesichts der anstehenden Landtagswahlen im Frühjahr 1999 instrumentalisierte der hessische Ministerpräsidentschaftskandidat Migrantinnen ums Leben kamen, beteiligten sich noch hunderttausende Deutsche an den damals so genannten Lichterketten gegen den Anschlag (siehe dazu die Sonderausgabe der „tageszeitung“ (1/ 93) mit dem Titel „Rostock - Mölln - Solingen. Nachbarn und Mörder“). Nach der Tat in Solingen blieb diese Anteilnahme aus, so dass viele Migranten den Eindruck bekamen, die Brandanschläge gehörten mittlerweile zur „deutschen Normalität“. 168 Hintergrund dieser Parole ist, dass Anfang der 1990er die Apartheid („Rassentrennung“) in Südafrika abgeschafft wurde und 1994 die ersten allgemeinen Wahlen stattfanden. 169 Dieser Slogan stammt ursprünglich aus der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, und zwar als Protest dagegen, dass die damaligen dreizehn amerikanischen Kolonien Großbritanniens Steuern an London zahlen mussten, ohne aber im Parlament Großbritanniens vertreten zu sein. Migration, Sprache und Rassismus 120 Roland Koch ( CDU ) die angestrebte Reform als ein Wahlkampfthema, indem er eine Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft initiierte. Bundesweit wurde diese Aktion als eine „Unterschriftensammlung gegen die Ausländer“ wahrgenommen, was die „Unmündigen“ zum Anlass nahmen, ebenfalls Unterschriften zu sammeln. Sie organisierten einen realsatirischen Aktionsstand in der Mannheimer Fußgängerzone, wofür sie sich die Unterschriftenlisten der CDU besorgten und ein optisch identisches Flugblatt verfassten. Nur der Inhalt unterschied sich stark von dem der CDU , aber der war kleingedruckt (wie auch auf der Originalliste der CDU ) und interessierte, wie sich später am Stand zeigte, nur wenige. Mit den Forderungen „ NEIN zur doppelten Staatsbürgerschaft - JA zum Bodenrecht - JA zur Aufnahme Mannheims auf die Wetterkarte der Fernsehnachrichten“ sammelten die „Unmündigen“ an ihrem Stand (nicht weit weg von dem der CDU ) in der Mannheimer Fußgängerzone in kurzer Zeit über 150 Unterschriften. Das Bemerkenswerte an der Aktion war, dass bis auf einen Unterzeichner die Realsatire niemandem auffiel. Eine Begebenheit war dabei besonders grotesk: Zwei jugendliche Neonazis (ca. 14bis 16-jährig) - erkennbar an ihrer äußeren Aufmachung, insbesondere an den Schriftzügen und Abzeichen auf ihren Jacken - nahmen eine der Unterschriftenlisten mit und brachten sie nach einer halben Stunde ausgefüllt zurück. Wie sie den „Unmündigen“ mitteilten, hatten sie alle erreichbaren „Kameraden“ des „Gau-Dreiecks-Pfalz“ unterschreiben lassen. 4.4.3 Kunst als Artikulationsmittel In der überregionalen Öffentlichkeit wurden die „Unmündigen“ insbesondere über ein Bühnenstück bekannt: „Das Fest des deutschen Mitbürgers“. Die Uraufführung des Stücks, das sie selbst geschrieben und gespielt haben, präsentierten sie am 14. Juni 1994. In der Folge führten sie es zwischen 1994 und 1996, zum Teil in überarbeiteter Version, auch in Ludwigshafen und Heidelberg auf. Die Kernidee des satirischen Bühnenstückes bestand darin, die gängige Praxis der Mehrheitsbevölkerung im Umgang mit den Migranten perspektivisch umzukehren. 170 Aus der Perspektive der „Unmündigen“ besteht der Umgang der Mehrheitsbevölkerung mit den Migranten unter anderem darin, zum Beispiel bei solchen institutionalisierten Ereignissen wie dem „Tag des ausländischen Mitbürgers“ Migranten als Objekte der kulturellen Bereicherung (insbesondere ihre Koch- und Tanzfertigkeiten) vorzuführen, aber nicht deren politische Unmündigkeit und den Rassismus bzw. die Ausgrenzungsmechanismen der Mehrheitsgesellschaft zu thematisieren. 171 170 Siehe auch Cindark/ Ertunc (2001). 171 Siehe dazu auch in Abschnitt 6.4 das Fallbeispiel 2. Die Ethnografie der „Unmündigen“ 121 Im kabarettistischen Stil vertauschten die „Unmündigen“ die Rollen und kehrten die Perspektiven um. 172 Zum Ablauf der Veranstaltung: Beim Fest bestand die Speisekarte u.a. aus Sauerkraut und Weißwürsten. In einer ersten Festrede wurde festgehalten, dass „man sich jahrelang an die deutschen Mitbürger am Fließband und anderswo gewöhnt hat, sodass sie ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des eigenen Lebens geworden sind“. Aber man müsse auch die Realitäten sehen. Die meisten Arbeitslosengeldbezieher seien Deutsche, die somit den „ausländischen Steuerzahlern auf der Tasche“ lägen. Nichtsdestotrotz wolle man sich aber „für die Belange der deutschen Mitbürger einsetzen“, wie etwa gegen die „Diskriminierung der Ostfriesen, gegen den Konfliktkessel der schwäbisch-badischen Rivalitäten und der sächsisch-hochdeutschen Verständnisschwierigkeiten“. Nach der Festrede wurde mit einem Dia-Vortrag für die Pfalz als Urlaubsland geworben. Dabei bat man um „Verständnis für das eigensinnige, doch bei genauerem Blick sehr interessante Leben der pfälzischen Mitbürger“. Ein „Ausflug über den Rhein [von Mannheim aus gesehen] zu diesen nicht einfachen aber liebenswerten Menschen“ sei allemal eine Reise wert. Eine erste Kostprobe des „reichen pfälzischen Kulturschatzes“ konnten die Zuschauer beim Live-Auftritt einer pfälzischen Folkloregruppe (aus Weisenheim am Berg) in Originaltrachten genießen. Im Anschluss an die Tanzvorführung erläuterte der „Landesbeauftragte für deutsche Angelegenheiten“ in einer kurzen Rede die „Gefahren einer Ghettoisierung der Deutschen in manchen Mannheimer Stadtvierteln wie zum Beispiel in der Oststadt“ 173 und die „Notwendigkeit von muttersprachlichem Unterricht für Deutsche angesichts solch gravierender Defizite in Grammatik und Wortschatz, die in manchen Äußerungen zu hören sind, wie ‘du arbeit fertig, du kommen’“. Unter Umständen müsse gar die „Öffnung der Goethe- Institute für Deutsche in Erwägung gezogen werden“. In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurde die „innere Sicherheit des Jungbuschs [Mannheimer Stadtviertel mit über 60% Migrantenanteil]“ thematisiert. Dabei waren sich die eingeladenen „Parteienvertreter“ darin einig, dass die wichtigste Aufgabe der Politik darin bestehen müsse, „die gewalttätigen deutschen Skinheads abzuschieben“. 174 172 Zum Verfahren der Perspektivenumkehrung siehe Abschnitt 6.6, Fallbeispiel 1. 173 Die Mannheimer Oststadt gehört mit ihren Villen und großbürgerlichen Häusern, die im 19. Jahrhundert entstanden sind und den Zweiten Weltkrieg größtenteils unbeschadet überstanden haben, zu den gehobenen Wohngebieten der Stadt mit geringem Migrantenanteil. 174 Aktivitäten wie das „Fest des deutschen Mitbürgers“ oder die Unterschriftensammlung „ NEIN zur doppelten Staatsbürgerschaft - JA zur Aufnahme Mannheims auf die Wetterkarte der Fernsehnachrichten“ erfüllen für die „Unmündigen“ häufig die Funktion, die Bachtin (1987, S. 85) in Bezug auf das karnevaleske Prinzip und die Groteske im 17. Jahrhundert Migration, Sprache und Rassismus 122 Eine zweite Bühnenaktion organisierten die „Unmündigen“ im Oktober 1997. Dabei handelte es sich um eine inszenierte, satirische Preisverleihung, bei der der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther ( CDU ) zum „Antirassisten des Jahres“ gekürt wurde. Zum Hintergrund der Aktion: Das Jahr 1997 hatte die Europäische Union zum „Jahr gegen Rassismus“ erklärt. In Deutschland übernahm Manfred Kanther ( CDU ) in seiner Funktion als Bundesinnenminister die Schirmherrschaft über die Organisation. Aus der Perspektive der „emanzipatorischen Migranten“ war alleine dieser Aspekt skandalös, da gerade Manfred Kanther als Minister und die CDU als Regierungspartei für eine Politik standen, welche die institutionelle Diskriminierung der Migranten über Jahre sedimentiert hatte. 175 Aber als konkreter Anlass für die Preisverleihung diente den „Unmündigen“ ein anderes Ereignis: Gleich im Januar des betreffenden Jahres trat eine vom Bundesinnenminister Kanther als Eilmaßnahme initiierte Verordnung in Kraft, die das Aufenthaltsrecht der Migranten unter 16 Jahren neu regelte. Nach dieser Vorschrift mussten auch in Deutschland geborene Migrantenkinder aus einigen ehemaligen Anwerbestaaten (Türkei, Jugoslawien, Marokko und Tunesien) eine Aufenthaltsgenehmigung und ein Visum zur Einreise vorweisen, wenn sie Deutschland (zum Beispiel in den Ferien) verließen. Die Verordnung wurde damit begründet, dass die bis zu diesem Zeitpunkt gültige Regelung häufig zur „Einschleusung von Kindern“ missbraucht worden sei. 176 Zu welcher diskriminierenden Schikane diese Eilmaßnahme unter anderem führte, verdeutlicht die folgende Erzählung eines Migranten (aus einer NDR -Sendung von 2002): 177 für die Volkskultur beschrieben hat: „[D]ie karnevalesk-groteske Form [...] erlaubt, Unterschiedliches zu kombinieren und Entferntes anzunähern, verhilft zur Loslösung vom herrschenden Weltbild, von Konventionen und Binsenweisheiten, überhaupt von allem Alltäglichen, Gewohnten, als wahr Unterstelltem. Sie erlaubt einen anderen Blick auf die Welt, die Erkenntnis der Relativität alles Seienden und der Möglichkeit einer grundsätzlichen anderen Weltordnung.“ 175 So wiederholte die CDU von 1982 bis 1998 als Regierungspartei gebetsmühlenartig, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei und blockierte somit u.a. jede Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. 176 Nach Angaben des Bundesinnenministeriums stieg die Zahl der eingeschleusten Kinder von 554 im Jahre 1990 auf 2.068 im Jahr 1996 (siehe efms (europäisches forum für migrationsstudien) Migration Report: http: / / web.uni-bamberg.de/ ~ba6ef3/ djan97_d.htm , Stand: 23.02.2006). Um diese relativ niedrige Zahl an eingeschleusten Kindern in den Griff zu bekommen, nahm die Bundesregierung in Kauf, dass auch Millionen von rechtmäßig in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen von der gleichen Verordnung betroffen waren. 177 „ NDR / Das Forum“ vom 15.07.2002: „Integration oder Parallelgesellschaft? Wie sich Muslime in Deutschland einrichten. Feature von Reiner Scholz.“ Quelle: http: / / 64.233.179.104/ search? q=cache: dBqljSEsXo4J: www.ndrinfo.de/ container/ ndr_style_file_default/ 1,2300,OID16396,00.pdf +kindervisum+kanther&hl=de&gl=de&ct=clnk&cd=6&client=firefox-a , Stand: 10.01.2006.) Die Ethnografie der „Unmündigen“ 123 Beispielsweise war meine Schwester, die hier geboren worden ist, die die Zusage zur Einbürgerung auch schon erhalten hatte, zu der Zeit, als das neue Kinder-Visumsgesetz herauskam, zu Zeiten von Herrn Kanther, über die Jahreswende in die Türkei gegangen und als sie nach sechs Wochen zurückkommen wollte, musste sie ihre Kinder am Flughafen dort lassen, und dann musste sie von Bremen aus ein Kindervisum beantragen bei der Ausländer-Behörde, wieder zurückfliegen und ihre Kinder abholen. Sie können sich vorstellen, wie demütigend das für jemanden ist, der hier geboren und aufgewachsen ist und der mit 1,1 Abitur gemacht hatte, Deutsch besser spricht als die genuinen oder eingeborenen Deutschen, aber trotzdem permanent das Gefühl hat, ich muss mich als Mensch zweiter Klasse behandeln lassen. Aufgrund solch einer offensichtlichen Diskriminierung regte sich innerhalb verschiedener Migrantenformationen vehemente Kritik gegen das „Kindervisum“, die u.a. mit bundesweiten Protestdemonstrationen und einigen Schulstreiks zum Ausdruck gebracht wurde. 178 Auch die „Unmündigen“ diskutierten in ihren Sitzungen ausführlich über das Gesetz und entschieden sich schließlich dazu, eine satirische Veranstaltung durchzuführen. Sie kürten den Initiator des „Kindervisums“, Bundesinnenminister Kanther, zum „Antirassisten des Jahres“, da er sich „so für das Wohl der Migrantenkinder einsetzt“. 179 Im Rahmenprogramm der Veranstaltung las Feridun Zaimoglu aus seinem Buch „Abschaum“ (1997). Kunst als Artikulationsmittel ist eines der wichtigsten Vehikel der „Unmündigen“, mit dem sie ihre gesellschaftspolitischen Anliegen darstellen und vermitteln. Dabei haben sie in der Vergangenheit neben den ausgeführten Bühnenaktionen insbesondere auf zwei weitere Kunstformen zurückgegriffen: Ausstellungen und Dokumentarfilme. 1997/ 1998 realisierte die Gruppe ihr erstes Ausstellungsprojekt. Zusammen mit dem Mannheimer Kunstverein organisierten sie den Wettbewerb und die Ausstellung „Kunst gegen Rassismus in Deutschland“. Im Aufruftext forderten die „Unmündigen“ - angesichts der „Ethnisierung des Sozialen durch Politik und Medien, sowie die Erklärung der Verfügungsmasse ‘Ausländer’ zum Sündenbock für innerdeutsche Probleme wie innere Sicherheit und Arbeitslosigkeit, [...]“ - die Künstler auf, „Farbe zu bekennen“. Den Wettbewerb gewann Ayhan Yazgan mit einer Comic-Reihe, 178 Siehe dazu die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 12.02.1997, die „Frankfurter Rundschau“ vom 22.02.1997, die „Welt“ vom 22.02.1997 und „die tageszeitung“ vom 27.02.1997. Kritik am Kindervisum formulierten sogar die Junge Union und zehn Bundestagsabgeordnete der CDU / CSU („Berliner Zeitung“ vom 18.01.1997). Kritik kam auch vom nationalen Koordinierungsausschuss, der die Veranstaltungen während des europäischen Anti-Rassismus-Jahres organisierte (Quelle: http: / / rhein-zeitung.de/ on/ 97/ 03/ 05/ topnews/ eu.html , Stand: 27.12.2005). 179 Siehe dazu die Analyse des Fallbeispiels 3 in Abschnitt 6.5. Migration, Sprache und Rassismus 124 deren letzter Satz lautete: „Deutsche, die in andere Länder auswandern, werden Glücksritter, Paradiesvögel oder Abenteurer genannt. Menschen, die nach Deutschland kommen, Kanaken.“ Zwei weitere Ausstellungen, in beiden Fällen Fotoausstellungen, organisierten die „Unmündigen“ im Jahre 2005 bzw. 2007. Im Dezember 2005 führten sie das Projekt „gesternJahre - 50 Jahre gastArbeiter“ durch. Anlass der Ausstellung war der 50. Jahrestag der Unterzeichnung des ersten Anwerbevertrags über ausländische Arbeiter zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien am 20. Dezember 1955. In der Ausstellung, die zeitgleich in sieben Mannheimer Migrantenvereinen gezeigt wurde, waren ausschließlich private Bilder der Migranten zu sehen. Im Oktober 2007 führten die „Unmündigen“ ihre zweite Fotoausstellung „mannheimJahre“ durch. Bei dieser Ausstellung, die für das 400-jährige Stadtjubiläum Mannheims als Kernprojekt vorbereitet wurde, wurde die neuere Migrationsgeschichte der ehemaligen Zwangs- und „Fremdarbeiter“, der deutschstämmigen Flüchtlinge und Aussiedler, der „Gastarbeiter“, der Asylbewerber etc. in Mannheim thematisiert. Bei den übrigen künstlerischen Projekten der „Unmündigen“, auf die ich abschließend eingehen möchte, handelt es sich um drei Dokumentarfilme. 2002/ 2003 produzierten sie den Film „deutschland - wäre meine richtige heimat...“ (Regie: Mario Di Carlo), der jeweils drei Jugendliche türkischer und russlanddeutscher Herkunft porträtiert. Die Jugendlichen berichten darin von den spezifischen Formen der Aus- und Eingrenzung im Einwanderungsland Deutschland. 2005/ 2006 drehte die Gruppe den Dokumentarfilm „Man lebt nicht nur von Brot allein“ (Regie: Jose Rodriguez), in dem sechs Migranten der ersten Generation - bosnischer, griechischer, italienischer, kurdischer, spanischer und türkischer Herkunft - über ihre alte Heimat, Migration nach Deutschland, Leben in den Baracken, Zustände am Arbeitsplatz und ihre neue Heimat Deutschland erzählen. Und 2008/ 2009 waren die „Unmündigen“ Co-Produzenten des Films „Heimspiel - Schiller zurück in Mannheim“ (Regie: Mario Di Carlo). Der Dokumentarfilm schildert die langjährige Arbeit der Mannheimer Theaterpädagogin Lisa Massetti mit jugendlichen Migranten. Er zeigt, wie die Gruppe Schillers „Jungfrau von Orleans“ im Lichte ihrer Erfahrungen im Einwanderungsland Deutschland neu interpretieren und auf die Bühne bringen, wobei die Aufmerksamkeit des Regisseurs auf den jugendlichen Protagonisten mit Blick auf ihre Alltagsschwierigkeiten wie Job, Sprache, Familie und der Frage, was ihre Heimat sein soll, liegt. 5. Zugang bzw. Aufenthalt im Feld und die Datengrundlage In diesem kurzen Kapitel wird dargestellt, wie sich mein Zugang und Aufenthalt bei den „Unmündigen“ gestaltete und auf welche Daten sich meine soziolinguistischen und ethnografischen Analysen stützen. 5.1 Zugang bzw. Aufenthalt im Feld Mit der teilnehmenden Beobachtung der „Unmündigen“ habe ich bereits im Frühjahr 1997 begonnen. Dass die ersten Aufnahmen so lange zurückliegen, resultiert aus meiner damaligen Absicht, im Rahmen meiner Magisterarbeit einige soziolinguistische Aspekte der Gruppe analysieren zu wollen. Ich entschied mich jedoch dafür, die Daten der „Unmündigen“ umfassender und ganzheitlicher zu untersuchen, wie in der vorliegenden Arbeit geschehen. Einzelne „Unmündige“ hatte ich bereits vor der Gründung der Gruppe kennengelernt. Seit Dezember 1990 arbeitete ich im Café des Jugendkulturhauses, wo sich die Gruppe 1992/ 1993 auch konstituierte. Bis 1997 beteiligte ich mich an einigen wenigen Treffen der „Unmündigen“. Aus diesem Grund gestaltete sich mein ethnografischer Zugang zur Gruppe relativ einfach. Sie formulierten keine Bedenken, als ich um Erlaubnis fragte, bei den Treffen anwesend zu sein, diese auf Tonband aufzunehmen und zu analysieren. In der Folge zeichnete ich von Frühjahr 1997 bis Sommer 2000 nicht nur fast alle ihrer Gruppentreffen, sondern auch viele interne Seminare, Straßenaktionen und öffentliche Auftritte auf Video oder Tonband auf. In den Jahren 2000 bis 2007 habe ich vergleichsweise weniger Aufnahmen gemacht, und zwar nur noch als Stichproben von zentralen Sitzungen oder Ereignissen. Diese zwei Phasen zeichen auch den unterschiedlichen Charakter meiner teilnehmenden Beobachtung in der Gruppe aus. In der ersten Phase bis 2000 verhielt ich mich als Ethnograf sehr passiv. Ich wollte die Gruppentreffen so wenig wie möglich durch meine Anwesenheit beeinflussen. Das gelang mir in den ersten Jahren sehr gut, weshalb die Grundlage meiner soziolinguistischen Analyse in den Kapiteln 6 und 7 ausschließlich die Daten aus dieser Phase sind. Spätestens ab dem Jahr 2000 machten mir jedoch die Gruppenmitglieder sehr deutlich, dass ich mich bei den Diskussionen stärker beteiligen und einige Aufgaben übernehmen sollte. 180 Diese zweite Phase zeichnet sich da- 180 Dass die „Unmündigen“ um das Jahr 2000 den Druck auf mich erhöhten, mich mehr in die Gruppenarbeit einzubringen, lag vor allem daran, dass die Gruppe, wie ich in Ab- Migration, Sprache und Rassismus 126 durch aus, dass ich seit dem Jahr 2004 de facto ein Gruppenmitglied bin. 181 Aus dem Grund werden Daten aus dieser Zeit nicht in die soziolinguistische Analyse miteinbezogen. Für die Untersuchung der Entwicklungs- und Konturierungsvorgänge des kommunikativen Sozialstils der „Unmündigen“ hat sich dieser lange ethnografische Beobachtungszeitraum von großem Vorteil erwiesen. Denn so konnten die zentralen Aspekte des kommunikativen Sozialstils, die aus den Daten der ersten Phase entwickelt wurden, hinsichtlich ihres Stellenwerts und ihrer Bedeutung beobachtet und überprüft werden. 5.2 Die Datengrundlage Mein Korpus der „Unmündigen“ umfasst Ton- und Videoaufnahmen, die insgesamt mehr als 100 Stunden Material ausmachen. Dabei sieht die Aufteilung der Daten wie folgt aus: Tonaufnahmen: ca. 96 Std. Videoaufnahmen: ca. 15 Std. - 28 Gruppentreffen - 4 interne Seminare - 2 Straßenaktionen - 2 Podiumsdiskussionen mit Beteiligung der „Unmündigen“ - 11 ethnografische Interviews - 2 Veranstaltungen der „Unmündigen“ - 1 Workshop der „Unmündigen“ - 3 Podiumsdiskussionen mit Beteiligung der „Unmündigen“ Tab. 2: Datengrundlage der vorliegenden Arbeit schnitt 4.3 ausgeführt habe, aufgrund des Wegzugs vieler Mitglieder zu dieser Zeit nur noch aus drei Aktiven bestand. 181 In der wissenschaftlichen Literatur wird das Wechseln des Forschers von der Beobachterrolle in die Rolle eines Gruppenmitglieds als „going native“ bezeichnet. In der Regel wird dabei das „going native“ skeptisch beäugt (siehe z.B. in Lindner 1988), weshalb ich in der vorliegenden Studie ausschließlich die Daten aus der ersten Erhebungsphase analysiere. Dass jedoch „going native“ nicht per se negativ zu beurteilen ist, führt z.B. Fuller (1999) aus. Siehe auch Kallmeyer (2005, S. 983). 6. Der emanzipatorische Stil In der Ethnografie der „Unmündigen“ wurden die vielfältigen Aktivitäten und Aktionsformen dargestellt, die die Gruppe in den letzten 15 Jahren durchführte. In diesem Kapitel geht es um die soziolinguistische Fragestellung, welche kommunikativen Handlungstypen für die „emanzipatorischen Migranten“ bei ihrem Umgang mit Rassismen charakteristisch sind. Im folgenden Abschnitt werde ich zunächst auf die gesprächsanalytischen und -rhetorischen Konzepte der „Normalform“, der „Perspektivierung“ und der „sozialen Kategorisierung“ eingehen, die bei der Untersuchung von Kommunikationsereignissen zwischen Mehrheits- und Minderheitsangehörigen als wichtige analytische Werkzeuge einzustufen sind. Im Anschluss daran werde ich in Abschnitt 6.2 zwei Formen der ethnischen Diskriminierung in Kommunikationszusammenhängen ausführen, die als Erfahrungswerte wie eine Grundfolie des „emanzipatorischen Stils“ aufzufassen sind. Die „Unmündigen“ bezeichnen diese beiden Formen von Ausgrenzung und Marginalisierung als „negative“ und „positive Rassismen“. In Abschnitt 6.3 werde ich dann meine methodische Vorgehensweise bei der Entdeckung der „emanzipatorischen“ Handlungstypen darstellen. Darauf folgen dann die zentralen Analysen in 6.4 bis 6.6, in denen ich die drei charakteristischen Verfahren untersuche, die die „Unmündigen“ im Umgang mit Rassismen entwickelt haben und die ich zusammen als den „emanzipatorischen Stil“ bezeichne. Es handelt sich dabei um das „Aufspießen“, „Ironisieren“ und „Provozieren von Rassismen“. Im Anschluss an die Analyse dieser drei Bearbeitungsformen untersuche ich in Abschnitt 6.7 eine Arenadebatte zwischen den „Unmündigen“ und den „akademischen Europatürken“. Die Ausführungen werden verdeutlichen, dass verschiedene Sozialwelten unterschiedliche kommunikative Sozialstile im Umgang mit Rassismen entwickeln, die in Auseinandersetzungen mit relevanten Anderen auch im Mittelpunkt stehen. Das Kapitel wird durch Abschnitt 6.8 beendet, in dem ich den „emanzipatorischen Stil“ zusammenfasse und mit Bearbeitungsformen von ethnischer Diskriminierung seitens der „akademischen Europatürken“ vergleiche. Migration, Sprache und Rassismus 128 6.1 Analytische Grundlagen aus der Gesprächsanalyse und der Gesprächsrhetorik Aus der Darstellung der bundesrepublikanischen Migrationspolitik in Abschnitt 3.1, die die nicht-deutschstämmigen Migranten in erster Linie als „Ausländer“ kategorisiert, und der diversen Aktivitäten der „emanzipatorischen Migranten“ (Abschnitt 4.4), die gegen diese aus ihrer Sicht rassistische Fremdzuschreibung vorgehen, wurde die grundlegende Problematik deutlich, dass Mehrheits- und Minderheitsangehörige oftmals von unterschiedlichen Normalitäten bzw. Normalformerwartungen ausgehen. Im vorliegenden Kapitel 6, in dem ich die zentralen Bearbeitungsformen der „emanzipatorischen Migranten“ mit ethnischen Diskriminierungsfällen untersuchen werde, werden solche divergierende Normalitäten bzw. Normalitätserwartungen im Blickpunkt der Analysen stehen. Daher beziehe ich mich im Folgenden neben dem Konzept der Normalität auch auf die gesprächsanalytischen bzw. -rhetorischen Ansätze der sozialen Kategorisierung und der Perspektivierung im Gespräch, weswegen ich vorab auf diese drei Konzepte eingehen möchte. 6.1.1 Normalität bzw. Normalform In den Ausführungen zur Gesprächsrhetorik in Abschnitt 2.4 wurde herausgestellt, dass sich das gesprächsanalytische Forschungsprogramm mit Formen der konvergierenden und divergierenden Beteiligungsweise von Interaktionsteilnehmern beschäftigt. Dabei greift die Gesprächsrhetorik insbesondere bei der Untersuchung von divergenten Kooperationsformen auf das Konzept der Normalität bzw. Normalformen von Aaron Cicourel (1975) zurück. 182 So schreiben Kallmeyer/ Schmitt (1996, S. 32) im Rahmen ihrer Analyse des „Forcierens“ als gesprächsrhetorisches Verfahren: Kern der Alltagskonzepte von „Härte“ und „Unfairness“ wie des theoretischen Konstrukts des Forcierens ist, daß Beteiligungsweisen an kontextuell etablierten Normalformvorstellungen gemessen werden. Forcierend sind die Aktivitäten, die gegen die zur jeweiligen Normalform der Interaktion gehörende Kooperationsweise verstoßen. Normalformerwartungen werden aufgrund der Kenntnis der allgemeinen Konstitutionsmechanismen von verbaler Interaktion, des spezifischen Situations- und Ereignistyps sowie der spezifischen Vorgeschichte gebildet. 182 Zur theoretischen Diskussion und diskursanalytischen Anwendung des Konzepts „Normalität“ siehe Link (1997) und zu „Normalismus“ und „institutioneller Rassismus“ Link (2002). Des Weiteren spielt die Kategorie der „Normalität“ bzw. des „Normalen“ u.a. in Goffmans (1977) Untersuchung von Stigmatisierten bzw. Stigmatisierungen und in Durkheims (1961 [1895]) Untersuchung der Funktionalität des Verbrechens für die Gesellschaft eine zentrale Rolle. Der emanzipatorische Stil 129 Aus ethnomethodologischer Sicht beschreibt Cicourel die Normalform als eines von sechs Interpretationsverfahren, mit denen Akteure im Alltag die Semiotik und Relevanz von (verbalen) Handlungen erkennen. 183 Als Strukturelement des Alltagswissens betrachtet Cicourel (1975, S. 33) Normalformen als das, worauf „sich Mitglieder einer Gemeinschaft stützen, um ihrer Umwelt einen Sinn zuzuordnen“. Wie Kallmeyer/ Schmitt (1996, S. 32) gesprächsrhetorisch herausarbeiten, „[zeigt sich] die Wirksamkeit von Normalformorientierungen gerade in Situationen, in denen Perspektivendivergenzen [Cicourel spricht hier von „Dissonanz“, m.A.] vorliegen“. Nach Cicourel (1975, S. 33) richtet sich in solchen Situationen, „wo die Reziprozität der Perspektiven fraglich ist [...], das Erkennen und Beschreiben von Normalformen“ darauf, wie das sprachliche und parasprachliche Verhalten von Mitgliedern einer Gesellschaft offenbart, in welcher Form Interpretationsverfahren und Oberflächenregeln in Frage gestellt werden und wie die soziale Szene aufrechterhalten oder in einem bestimmten Sinn von Normalität wiederhergestellt wird. (ebd., S. 34) Aus Cicourels Ausführung geht hervor, dass die Normalität einerseits etwas ist, wovon die Gesellschaftsmitglieder ausgehen. Andererseits ist aber die stillschweigend unterstellte Normalität, wenn sie sich als problematisch erweist, auch etwas, was bearbeitet bzw. hergestellt wird. In diesem Sinne ist das Konzept der Normalform für gesprächsrhetorische Analysen ungeheuer fruchtbar, da mit ihm empirisch erfasst und gezeigt werden kann, an welcher Normalitätsvorstellung sich die unterschiedlichen Akteure orientieren und welche Normalität sie mit welchen (verbalen) Mitteln zu etablieren versuchen. 184 183 Die fünf anderen Interpretationsverfahren nach Cicourel (1975, S. 31-42) sind: die Reziprozität der Perspektiven, die et-cetera-Annahmen, der retrospektiv-prospektive Ereignissinn, die Selbstreflexivität von Gesprächen und die deskriptiven Vokabularien als indexikalische Ausdrücke. 184 Den Herstellungscharakter von Normalität unterstreicht auch Strauss (1978b) im Rahmen seiner Theorie der Aushandlung. Nach Strauss (ebd., S. 92) ist jede soziale Ordnung, und somit auch die Normalität, eine ausgehandelte Ordnung. Dabei betrachtet Strauss für Aushandlungskontexte folgende (Untersuchungs-)Aspekte als relevant: - „The number of negotiators, their relative experience in negotiating, and whom they represent; - Whether the negotiations are one-shot, repeated, sequential, serial, multiple, or linked; - The relative balance of power exhibited by the respective parties in the negotiation itself; - The nature of their respective stakes in the negotiation; - The visibility of the transactions to others; that is, their overt or covert characters; Migration, Sprache und Rassismus 130 6.1.2 Perspektivierung Der Umgang von Gesprächteilnehmern mit eigener und fremder Normalformvorstellung hängt unmittelbar mit der Frage nach den jeweiligen Positionen der Akteure zusammen, welche die Gesprächsrhetorik mit dem Konzept der „Perspektivierung“ (Kallmeyer 2002a) erfasst. Unter Perspektivierung konzeptionalisiert Kallmeyer (ebd., S. 113) verbale Praktiken, „in which participants manifest perspectives and set their relevance for the interpretation of their own and others' activities“. Anknüpfend an Graumann (1989) betrachtet Kallmeyer verbale Interaktionen als einen strukturierten Prozess, der sich im Gespräch durch kontinuierliche Perspektivensetzung und -übernahme seitens der Teilnehmer auszeichnet. Dabei behandeln die Interaktionsteilnehmer ihre eigene Perspektive und die der anderen oftmals implizit. Die Fälle, in denen die Interaktanten ihre Sichtweise explizit zur Sprache bringen, bezeichnet Kallmeyer als Perspektivierung, wobei er zwischen drei verschiedenen verbalen Strategien unterscheidet: Perspektivierung durch Hinweis auf persönliche Erfahrungen, Perspektivierung durch Benennung von sozialen Kategorien bzw. Kategorisierungen und Perspektivierung durch Rekurs auf Verhaltensmodelle. Zu a) Bei der Perspektivierung durch Hinweis auf persönliche Erfahrungen stellen die Akteure ihre Perspektive als eine natürliche, logische und notwendige Konsequenz von Eigenerlebnissen dar. Typische sprachliche Mittel, die bei - The number and complexity of the issues negotiated; - The clarity of legitimacy boundaries of the issues negotiated; - The options to avoiding or discontinuing negotiation; that is, the alternative modes of action perceived as available.“ (Strauss 1978b, S. 238). Für meine Analyse des „emanzipatorischen Stils“ sind von diesen Aspekten insbesondere die „negotiated issues“ und die „balance of power“ von Interesse. Denn wie die Analysen verdeutlichen werden, ist für Mehrheits-Minderheits-Diskurse in Bezug auf z.B. Aushandlungen von Zugehörigkeit gerade das Fehlen von „balance of power“ konstitutiv (z.B. in Bezug auf die Frage, wer wen als „Deutschen“ und/ oder „Ausländer“ definiert). Des Weiteren werden meine Fallbeispielanalysen die Bedeutung von „negotiated issues“ in Interaktionen unterstreichen, insbesondere wenn es darum geht, welche Migranten(welten) welche Vorfälle als „Rassismus“ definieren und in Interaktionen relevant setzen und welche anderen nicht (siehe diesbezüglich insbesondere die Ausführungen in 6.2 zum „positiven Rassismus“ und in 6.4 das Fallbeispiel 1). Zum „Aushandeln“ als Konzept und Gegenstand der Gesprächsanalyse siehe auch Dieckmann/ Ingwer (1983). a) b) c) Der emanzipatorische Stil 131 dieser Form der Perspektivierung eingesetzt werden, sind etwa Formulierungen wie „Ich weiß nur, dass X“ oder die Verwendung der Partikel „einfach“, mit der die eigene Perspektive als eine Selbstverständlichkeit unterstrichen wird. Zu b) Die Perspektivierung durch Hinweis auf soziale Kategorien bzw. Kategorisierungen zeichnet sich dadurch aus, dass die Beteiligten sich selbst oder die anderen Teilnehmer Kategorien zuordnen, von deren Standpunkt aus Einstellungen/ Meinungen zu einem Thema geäußert werden. In diesen Fällen greifen die Teilnehmer häufig auf Formulierungen wie „Ich als X“ oder „Du als Y“ zurück. 185 Zu c) Im Falle der Perspektivierung durch Rekurs auf Verhaltensmodelle greifen die Beteiligten auf Vorstellungen zurück, wie man etwas tun sollte. Hierbei fokussieren die Teilnehmer die situativ oder generell adäquate Bearbeitungsweise von gewissen Fragestellungen, indem sie häufig auf Aspekte wie Zielorientierung, Flexibilität oder Rationalität von Handlungen eingehen. Typische sprachliche Mittel bei dieser Form der Perspektivierung sind generalisierende Referenzen wie „man“, „eine/ r“ oder „jemand/ niemand“ und Formulierungen wie „Man sollte nicht vergessen, dass X“ oder „Niemand kann erwarten, dass X“. 6.1.3 Soziale Kategorisierung Insbesondere aus den letzten Ausführungen geht hervor, dass für die Analyse der Perspektivierung die Untersuchung von sozialen Kategorisierungen im Gespräch von grundlegender Bedeutung ist. Ein Grundgerüst zur Analyse interaktiver Kategorisierungsprozesse bietet die Konversationsanalyse, genauer die empirische Forschung von Sacks (1972, 1979). Sacks entwickelt 185 In Bezug auf die Perspektivierung durch Hinweis auf soziale Kategorien bzw. Kategorisierungen ist auch das gesprächsrhetorische Konzept der „sozialen Positionierung“ von Relevanz. Unter sozialer Positionierung versteht Wolf (1999) sprachliche Handlungen der sozialen Zuordnung zu Kategorien, mit denen die Interaktanten ihre Handlungsbedingungen steuern und kontrollieren. Ähnlich bezeichnen Lucius-Hoene/ Deppermann (2004, S. 168), die das Konzept als Instrument zur empirischen Erforschung narrativer Identitäten in autobiografischen Erzählungen fruchtbar machen, mit Positionierung „die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in spachlichen Interaktionen auf einander bezogen als Personen her- und darstellen, welche Attribute, Rollen, Eigenschaften und Motive sie mit ihren Handlungen in Anspruch nehmen und zuschreiben, die ihrerseits funktional für die lokale Identitätsher- und -darstellung im Gespräch sind“. Migration, Sprache und Rassismus 132 einen methodischen Apparat zur Erschließung des Hintergrundwissens, das von Interaktionsteilnehrmern bei der sozialen Kategorisierung in Gesprächssituationen aktiviert wird und ihren Verstehensleistungen zugrunde liegt. Nach Hausendorf stehen im Zentrum des Konzepts von „Zugehörigkeits-“ bzw. „Mitgliedschaftskategorisierungen“ zwei Beobachtungen: - daß Personen in Gesprächen mit Hilfe bestimmter Kategorien als Zugehörige bzw. Mitglieder bestimmter Gruppen klassifiziert werden können. Insofern handelt es sich bei diesen Kategorien um sprachliche Formen, die Zugehörigkeit bzw. Mitgliedschaft zum Ausdruck bringen (membership categories); - daß diese Zugehörigkeitskategorien ihrerseits in jeweils übergeordnete Kategoriensammlungen integriert sind (membership categorization devices, collections, category sets), deren einzelne Kategorien ‘zusammen gehören’ (go together). So gehören etwa die Kategorien Vater, Mutter, Tochter zur Kategoriensammlung Familie. (Hausendorf 2000, S. 10) Nach Sacks sind die Mitgliedschaftskategorien von unterschiedlicher Qualität. Einige sind als äußerlich markant und nur begrenzt veränderbar zu klassifizieren (wie Hautfarbe oder Geschlecht). Andere Kategorien sind veränderbar und äußerlich weniger leicht dekodierbar (wie z.B. nationale Zugehörigkeit). Des Weiteren geht Sacks darauf ein, dass „in unserem Wissen über soziale Zusammenhänge mit verschiedenen Kategorien jeweils auch verschiedene Aktivitäten fest verbunden“ (Kallmeyer/ Keim 1994, S. 325) sind. Mit anderen Worten sind einerseits, wenn in einem Gesprächskontetxt eine bestimmte Kategorisierung vorgenommen wird, für die kategorisierte Person auch bestimmte Eigenschaften und Aktivitäten erwartbar („category bound activities“). Andererseits gilt auch umgekehrt: „[...] wenn bestimmte Aktivitäten genannt werden, lässt sich auf die zugehörige Kategorie schließen“ (ebd.). Nach Keim/ Schmitt (1993, S. 145) „gehören [die Aktivitäten] zur Kategorie und sind das, was man als Kategorien-Angehöriger [macht]“. Bei der Analyse von Kategorisierungsprozessen im Gespräch ist mit Kallmeyer/ Keim (1994, S. 326) davon auszugehen, dass man es „einerseits mit klaren taxonomischen Kategorien zu tun [hat] [...], aber auch mit offenen und weniger exhaustiv definierten Kategorien, die durch Überlagerung von unterschiedlichen Charakterisierungshinsichten bestimmt sind“. 186 186 Aufgrund der (beabsichtigten) knappen Darstellung des Konzepts an dieser Stelle gehe ich auf weitere Merkmale der Mitgliedschaftskategorisierungen wie etwa auf die „Konsistenz-“ und „Ökonomieregel“ und die „ MIR -device“ nicht ein. Zur „economy“ und „consistency rule“ siehe Sacks (1972, S. 333f.) und zur „ MIR -device“ Sacks (1992, S. 40ff.). Der emanzipatorische Stil 133 6.2 Hintergrundfolie des „emanzipatorischen Stils“: Der negative und positive Rassismus In der Ethnografie der „Unmündigen“ wurde ausgeführt, dass die Gruppe zwischen „institutionellen“ und „gesellschaftlichen Rassismen“ unterscheidet. In diesem Abschnitt möchte ich auf eine zweite Differenzierung von Rassismen eingehen, die die „emanzipatorischen Migranten“ vornehmen und die für das Verständnis ihres kommunikativen Sozialstils grundlegend ist. Es handelt sich dabei um den „negativen“ und „positiven“ Rassismus. Diese beiden Varianten kommen sowohl in institutionellen wie auch in gesellschaftlichen Interaktionskontexten vor und sind als Erfahrungswerte wie eine Folie zu verstehen, auf deren Grundlage die „emanzipatorischen Migranten“ ihre spezifischen Bearbeitungsweisen von Rassismen entwickelt haben. 6.2.1 Negativer Rassismus Den einen Pol von Rassismen stellen Fälle von ethnischer Diskriminierung dar, bei denen die Migranten von Mehrheitsangehörigen als „Nicht-Einheimische“ (z.B. als „Ausländer“, „Fremde“, „Griechen“, „Spanier“ etc.) kategorisiert und explizit negativ behandelt werden. Stellvertretend für diese Fälle analysiere ich im Folgenden eine Erzählung von BÜ , einem Gründungsmitglied der „Unmündigen“. BÜ ist von Beruf Kfz-Meister und berichtet im Transkript von einer Interaktion mit einem deutschen Kunden. 187 In der berichteten Situation repariert BÜ das Auto des Kunden, während dieser daneben steht und mit BÜ im „Foreigner Talk“ (Ferguson 1971) spricht, obwohl BÜ s Deutsch relativ standardnah ist und nur wenige Auffälligkeiten ausweist. BÜ zeigt auf die Sprechweise des Mehrheitsangehörigen zwei Reaktionen. An dieser Stelle werde ich zunächst nur seine erste Reaktion präsentieren und analysieren, die darin besteht, sich unmarkiert zu verhalten und die Sprechweise des Kunden nicht explizit zu beanstanden. Auf BÜ s zweite Reaktion, die im folgenden Transkript nicht präsentiert wird, werde ich in Abschnitt 6.5 zum Handlungstyp „Provozieren von Rassismen“ eingehen. Transkript 3-A: du kommen du gehen 01 BÜ: zum beispiel eine erinnerung von mir ↓ * ich 02 BÜ: hab ein auto repariert ↑ von einem ↓ * ich bin 03 BÜ: so dran an dem auto und er ist hinter mir ↑ 187 Zum Zeitpunkt der Interaktion ist BÜ auch Deutscher in dem Sinne, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Wenn ich also hier wie im Folgenden den Kunden als Deutschen bezeichne, dann ist damit Deutschsein im ethnischen Sinne gemeint, wovon auch der Kunde ausgeht, wie wir noch sehen werden. Migration, Sprache und Rassismus 134 04 BÜ: ** er spricht mit mir immer wiederdu 05 BÜ: kommen ↓ du gehen ↓ was machen du ↑ ** ich muss 06 BÜ: das machen ↓ und so [...]und ich sprech mit 07 BÜ: dem ganz normal ja ↓ * ich muss jetzt hörn ↓ 08 BÜ: ich muss das jetzt reparieren ↓ * das kostet 09 BÜ: so und so ↓ * ich muss dazu teile holen ↓ * 10 BÜ: und dannes geht so weiter obwohl ich ihm 11 BÜ: äh so richtich- * also versuche normal zu 12 BÜ: reden ↓ ** In der Erzählung kategorisiert der Mehrheitsangehörige BÜ als einen „Ausländer“, dem er offensichtlich die kategoriendefinierende Eigenschaft zuschreibt, kein Standarddeutsch zu beherrschen. Er bringt das zum Ausdruck, indem er mit BÜ nicht in seiner normalen Sprechlage kommuniziert, sondern ein vereinfachtes, ‘gebrochenes’ Deutsch, den so genannten „Foreigner Talk“ 188 spricht: du kommen↓ du gehen↓ was machen du↑ (Z. 04-05). Auf den „Foreigner Talk“ seines Gegenübers reagiert BÜ unmarkiert. Er antwortet ihm in relativ standardnahem Deutsch: und ich sprech mit dem ganz normal ja↓ * ich muss jetzt hörn↓ ich muss das jetzt reparieren↓ * das kostet so und so↓ * ich muss dazu teile holen↓ (Z. 06-09). BÜ s Reaktion ist auch deshalb unmarkiert, weil er den Mehrheitsangehörigen nicht explizit darauf hinweist, er möge mit ihm in seiner normalen Sprechlage kommunizieren. BÜ versucht über seine eigene sprachliche Performanz, den Mehrheitsangehörigen implizit dazu zu bringen, seine Sprechweise zu verändern, was jedoch keinen Erfolg hat: und dann es geht so weiter obwohl ich ihm äh so richtich- * also versuche normal zu reden↓ (Z. 10-12). In der Forschungsliteratur zum „Foreigner Talk“ von Mehrheitsangehörigen wird diese Sprechweise nicht per se als ein Ausdruck von Diskriminierung, sondern unter Umständen bzw. eher als ein Resultat von sprachlicher Konvergenz betrachtet. Damit ist gemeint, dass Mehrheitsangehörige etwa zum 188 Das vereinfachte Sprechen von Einheimischen mit „Fremden“ bezeichnet Ferguson (1971) als „Foreigner Talk“ (analog zum „Baby Talk“, mit dem er die vereinfachte Sprechweise von Erwachsenen mit Babys und Kleinkindern bezeichnet). In der germanistischen Soziolinguistik wird/ wurde diese Sprachpraxis auch als „Pseudo-Pidgin“ (Löffler 1994), „Fremdenregister“ (Dittmar 1997) oder „Xenolekt“ (Roche 1989) tituliert. Im deutschsprachigen Raum lieferte Hinnenkamp (1982) dazu die ersten Analysen. Für weitergehende Analysen zum „Foreigner Talk“ und zu anderen Formen von Rassismen im Alltagsdiskurs siehe auch Hinnenkamp (1999). Der emanzipatorische Stil 135 besseren Verständnis in den „Foreigner Talk“ wechseln, wenn sie in Gesprächssituationen mit tatsächlichen oder vermeintlichen Nicht-Einheimischen denken, dass deren Sprachkompetenzen gering sind. 189 In der Erzählung BÜ s ist die Situation jedoch eine andere. Der Mehrheitsangehörige kategorisiert BÜ gleich zu Beginn der Interaktion aufgrund äußerer Merkmale oder des Namens als „Ausländer“. Des Weiteren ordnet er der Kategorie „Ausländer“ die kategoriendefinierende Eigenschaft zu, über ungenügende Deutschkompetenzen zu verfügen, weshalb er mit BÜ im ‘gebrochenen’ Deutsch spricht. Darauf reagiert BÜ nicht explizit. Er spricht den Mehrheitsangehörigen nicht darauf an, dass seine Sprechweise diskriminierend ist. Stattdessen antwortet BÜ im standardnahen Deutsch und versucht so, indirekt den Mehrheitsangehörigen dazu zu bewegen, sein Sprachverhalten zu ändern. Dieser hält aber in robuster Weise an seiner Sprechweise und somit auch an der Kategorisierung BÜ s als „nicht ausreichend Deutsch sprechender Ausländer“ fest, was gesprächsrhetorisch als eine Perspektivenabschottung (Keim 1996) zu interpretieren ist. Der Mehrheitsangehörige scheint hier nicht in der Lage oder nicht gewillt zu sein, BÜ s Deutschkompetenzen wahrzunehmen, anzuerkennen und seine Kategorisierung BÜ s als „Ausländer“ zu revidieren. In dieser Weise ist das Verhalten des Mehrheitsangehörigen manifest und negativ rassistisch. In Abschnitt 6.5 werden wir sehen, mit welchem Handlungstyp und mit welchem rhetorischen Verfahren es BÜ doch gelingt, die rassistische Haltung und Sprechweise des Mehrheitsangehörigen zu durchkreuzen und zu verändern. 6.2.2 Positiver Rassismus Den zweiten Pol von ethnischer Diskriminierung stellen kommunikative Handlungen von Mehrheitsangehörigen dar, die die „emanzipatorischen Migranten“ als „positiven Rassismus“ bezeichnen. Bei diesen Fällen werden Migranten bzw. Minderheitsangehörige zunächst - wie beim negativen Rassismus - als 189 Dass „Foreigner Talk“ nicht per se als eine diskriminierende Sprachform eingeordnet wird, bringt z.B. Löffler (1994, S. 184) folgendermaßen zum Ausdruck (siehe auch Dittmar 1997, S. 216): „Solche Beobachtungen der Sprachkontaktzonen [gemeint sind Formen des „Foreigner Talk“, m.A.] zeigen, daß die Barriere auch von Einheimischen aufgebaut wird, wenn er dem Fremden die neue Sprache nicht in einer ortsüblichen korrekten Form, sondern in einer gut gemeinten [meine Hervorhebung] Pidginisierung anbietet.“ In meiner obigen Analyse wird deutlich, dass es von Fall zu Fall zu untersuchen ist, ob das „Gut-Gemeinte“ im „Foreigner Talk“ auch von Seiten der Migranten/ Minderheitsangehörigen als „gut gemeint“ interpretiert wird. Mit anderen Worten: Solche vereinfachten Sprechweisen wie „Foreigner Talk“ sind grundsätzlich zumindest als ambivalent einzustufen. Siehe dazu auch den nächsten Abschnitt über „positive Rassismen“. Migration, Sprache und Rassismus 136 „Ausländer“ oder Vertreter einer nationalen bzw. ethnischen Gruppe wie „Türke“, „Kurde“, „Italiener“ etc. kategorisiert, auch wenn sie sich selbst womöglich als „Inländer“ oder als „Deutscher“ definieren. In dem Sinne, dass auch bei diesen Fällen die Migranten symbolisch aus der hiesigen Gesellschaft ausgesondert werden, wird die Fremdkategorisierung als Rassismus empfunden. Als „positiv“ wird diese Form des Rassismus bezeichnet, weil sie einzelne Aspekte des als „Ausländer“ kategorisierten Migranten nicht negativ, sondern zum Beispiel lobend und fördernd, also als positiv hervorhebt. Im Folgenden analysiere ich die Erzählung der „Unmündigen“ SE , in der sie von positiven Rassismen aus ihrer Schulzeit berichtet. Transkript 4: du kannst sogar=n richtigen satz bilden 01 SE: und auch so- * ähm * also wir hatten 02 SE: geschichtsunterricht und 03 SE: geschichtsunterricht is ja eigentlichwir 04 SE: lernen alle die gleiche geschichte 05 SE: sozusagen ↓ und um noch ein bisschen 06 SE: aufzulockern sollte ich ein paar einlagen 07 SE: aus der kurdischen und türkischen geschichte 08 SE: machen ↓ wobei ich wirklich keine ahnung 09 SE: davon habe ja ↑ * also äh man lernt eben 10 SE: die"geschichte die man in der schule lernt ↓ 11 SE: ja ↑ und äh des is eigentlich schon eher das 12 SE: gewesen womit ich mich identifiziert hab 13 SE: oder die geschichte die ich gesehn habe ja ↑ 14 SE: * die europäische geschichte ↓ die deutsche 15 SE: geschichte ↓ ** ähm jaes waren einfach 16 SE: mehrere vorfälle da ↓ also es war nicht 17 SE: unbedingt negative diskriminierung sondern 18 SE: es war einfach positive diskriminierung ↓ 19 SE: [...] dass man ähm zum beispiel ich mein es 20 SE: is schon klar wenn man auf=m gymnasium is 21 SE: und deutsch leistungskurs hat ↑ dass man dann Der emanzipatorische Stil 137 22 SE: gut deutsch sprechen muss ja ↑ äh aber dass 23 SE: das einem nochmal explizit ge"sagt wirddu 24 SE: sprichst aber gut deutsch ↓ [...] das war 25 SE: dann eben * nach dreizehn jahren schule noch 26 SE: immer so=ne besonderheit ähm nach äh manche 27 SE: lehrer einfach das gefühl hatten * äh jemand 28 SE: auf die schulter klopfen zu müssen und sagen 29 SE: müssen * me"nsch * ←du" kannst sogar=n 30 SE: richtigen satz bilden ne ↑ → SE s erste Fallschilderung handelt von einem Ereignis im Geschichtsunterricht. In ihrer Erzählung nimmt SE durch die Verwendung des Personalpronomens „wir“ zunächst eine Perspektivierung vor, mit der sie ihre Zugehörigkeit zur Klassengemeinschaft zum Ausdruck bringt: wir lernen alle die gleiche geschichte (Z. 03-04). Der Geschichtslehrer macht ihr jedoch einen Vorschlag, der sie innerhalb der Schülerschaft in eine besondere Rolle drängt: um noch ein bisschen aufzulockern sollte ich ein paar einlagen aus der kurdischen und türkischen geschichte machen (Z. 05-08). Das Angebot bzw. die Aufforderung des Lehrers resultiert offensichtlich daraus, dass SE als eine Migrantin kurdischer Herkunft aus der Türkei kategorisiert wird. Das Problem aus SE s Sicht ist nur, dass sie sich in keiner Weise als „Türkin“ oder „Kurdin“ identifiziert und in Bezug auf die türkische und kurdische Geschichte auch wirklich keine ahnung [hat] (Z. 08-09). Sie identifiziert sich vielmehr mit der deutschen oder europäischen Geschichte: man lernt eben die" geschichte die man in der schule lernt↓ ja↑ und äh des is eigentlich schon eher das gewesen womit ich mich identifiziert hab oder die geschichte die ich gesehn habe ja↑ * die europäische geschichte↓ die deutsche geschichte↓ (Z. 09-15). Gegen Ende ihrer ersten Fallschilderung verweist SE darauf, dass es mehrere solche Situationen in ihrer Schulzeit gab, was ihrer Meinung nach nicht unbedingt negative diskriminierung [war] sondern es war einfach positive diskriminierung↓ (Z. 16-18). Was betrachten die „emanzipatorischen Migranten“ an diesem Vorfall als positiv diskriminierend? Wie SE zu Beginn deutlich macht, fühlt sie sich im Klassenverband als eine von vielen Schülern und dazugehörig. Der Lehrer aktualisiert mit seinem Vorschlag nun gewisse Aspekte von SE s Herkunft, ohne jedoch zu berücksichtigen, ob sich SE auch mit diesen identifiziert bzw. in der kurdischen und türkischen Geschichte auskennt. Das Angebot des Lehrers wird also von SE deswegen als diskriminierend eingestuft, weil es sie als Migration, Sprache und Rassismus 138 Mitglied einer Gemeinschaft kategorisiert, als das sie sich nicht fühlt. SE wird der „türkischen“ bzw. „kurdischen“ Gemeinschaft zugeordnet und symbolisch aus der „deutschen“ Gemeinschaft ausgesondert, über die sie eigentlich Bescheid weiß und mit der sie sich eigentlich identifiziert. Da SE den Vorschlag des Lehrers als „nicht unbedingt negative Diskriminierung“ auffasst, stuft sie ihn als „positive Diskriminierung“ ein. 190 In ihrer zweiten Erzählung schildert SE , welche bizarren und grotesken Züge einzelne Fälle von positiven Rassismen haben können. SE wechselte von der Grundschule aufs Gymnasium und belegte dort in der Oberstufe Deutsch als Leistungskurs. Aus ihrer Normalitätsvorstellung heraus ist es dann selbstverständlich, dass man dann gut deutsch sprechen muss (Z. 21-22). Aber ihre Lehrer haben eine andere Perspektive auf den Sachverhalt. Sie kategorisieren SE als eine „Ausländerin“ und vergleichen SE s Deutschkompetenzen mit anderen ihnen bekannten oder gedachten „Ausländern“. Nur vor dieser Hintergrundfolie ergibt der ansonsten im Fall von SE groteske Satz eines Lehrers Sinn: du sprichst aber gut deutsch↓ (Z. 23-24). Als positive Diskriminierung wird die Äußerung empfunden, weil SE als „Ausländerin“ dafür gelobt wird, dass sie gut Deutsch sprechen könne. Wenn die deutschen Lehrer SE nicht als eine „Ausländerin“, sondern individuell anhand ihrer Sprachkompetenz beurteilen würden, kämen sie nicht auf die Idee, einer Schülerin, die in der Oberstufe eines Gymnasiums Deutsch Leistungskurs belegt hat, auf die schulter klopfen zu müssen und sagen müssen * me"nsch * ←du" kannst sogar=n richtigen satz bilden ne↑→ (Z. 28-30). 191 190 An einer anderen Stelle im ethnografischen Interview schildert SE ihre Schule folgendermaßen: ich hatte so=ne links liberale schule↓ solehrer so alt achtundsechziger pädagogen und soalso es war keine * konservative schule sondern es war eher so=ne so=ne linkere * äh schule↓. Die Charakterisierung des Gymnasiums als eine politisch linke Schule schimmert an dieser Stelle auch im Angebot des Lehrers durch. Da SE „kurdischer“ Herkunft ist, unterbreitet der Lehrer SE das politisch links empfundene Angebot, auch über die Geschichte dieser Ethnie referieren zu können. 191 Die Entindividualisierung, die wie im negativen Rassismus auch in Fällen von positiver Diskriminierung steckt, brachte Peter Eisenman, der Architekt des Berliner Holocaustmahnmals, in einem Interview 2005 folgendermaßen zum Ausdruck: „Jedes Mal, wenn ich hierher komme, fühle ich mich als Amerikaner. Aber wenn ich dann wieder abreise, fühle ich mich als Jude. Es kommt daher, dass die Deutschen, weil ich Jude bin, alles tun, damit ich mich wohl fühle. Und dadurch fühle ich mich schlecht. Ich kann damit nicht umgehen. Hören Sie auf, mir ein gutes Gefühl verschaffen zu wollen. Wenn Sie Antisemit sind, in Ordnung. Wenn Sie mich persönlich nicht leiden können, in Ordnung. Aber behandeln Sie mich als eigenständige Person, nicht als Juden.“ ( www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ 0,1518, 355383,00.html , Stand: 25.02.2010). Der emanzipatorische Stil 139 In der Forschungsliteratur sind solche Fälle von positiven Rassismen relativ gut dokumentiert (Tertilt 1996; Battaglia 2000; Terkessidis 2004). 192 Insbesondere Terkessidis geht ausführlich auf viele Beispiele ein, die - wie auch SE s Fallschilderungen - im Schulkontext vorkommen. Er untersucht diese Fälle anhand der Begriffe „Expertenrolle“ und „Sonderrolle“. So ist SE s erste Schilderung, in der sie darüber berichtet, einen Vortrag über die kurdische oder türkische Geschichte halten zu sollen, ein Beleg für die zugeschriebene „Expertenrolle“, die die Migranten für ihre angeblichen Heimatländer übernehmen sollen. 193 Ihre zweite Fallschilderung ist ein Beleg für die „Sonderrolle“, in die einzelne Migranten hineingedrängt werden, da sie sich aus diesen oder jenen Gründen - in der Erzählung von SE , weil sie so gut Deutsch könne - aus der Masse der „Ausländer“ abheben würden. In dem Sinne erfüllen insbesondere positive Rassismen in Mehrheits-Minderheits-Diskursen häufig die Funktion, die Terkessidis (ebd., S. 161) als die „Produktion einer Andersheit, die mit Ungleichheit verbunden ist“ interpretiert. Bereits an dieser Stelle möchte ich kurz darauf verweisen, dass insbesondere die Wahrnehmung von und der Umgang mit positiven Rassismen einen wesentlichen sozialstilistischen Unterschied zwischen diversen Migrantenwelten ausmacht. Wie wir später sehen werden, betrachten die „akademischen Europatürken“ solche Situationen, in denen sie ethnisch als „Türken“ kategorisiert und zum Beispiel dazu aufgefordert werden, über die türkische Geschichte zu erzählen, in keiner Weise als Rassismen, da sie sich selbst ethnisch als in Europa lebende „Türken“ verorten. Dagegen betrachten die „emanzipatorischen Migranten“ jede explizite oder implizite Einordnung von Migranten in eine ethnische Kategorie der Nicht-Zugehörigkeit, die unter Umständen bzw. oft von negativen oder positiven Folgehandlungen begleitet ist, als Rassismus. 194 192 So schreibt Tertilt (1996, S. 100) in seiner Ethnografie der „Turkish Powerboys“ über die Erfahrungen eines jugendlichen Migranten: „Auch positive Diskriminierung empfand er als Missachtung, zum Beispiel wenn die Leistungen der Schüler ausländischer Herkunft von Deutschen übertrieben gelobt wurden.“ 193 Battaglia (2000, S. 194) bezeichnet Kommunikationssituationen, in denen die Migranten eine „Expertenrolle“ übernehmen sollen, als „Landeskunde-Dialoge“. 194 Siehe dazu in Abschnitt 6.5 das Fallbeispiel 1. Migration, Sprache und Rassismus 140 6.3 Vorgehensweise bei der Erfassung der „emanzipatorischen“ Handlungstypen An dieser Stelle möchte ich zunächst darauf eingehen, wie ich aus meinem über 100 Stunden Aufnahmen umfassenden Korpus die für die „emanzipatorischen Migranten“ charakteristischen Bearbeitungsweisen von Rassismen erfasst habe. In einem ersten Arbeitsschritt habe ich von allen aufgenommenen Interaktionen Gesprächsinventare 195 erstellt. Beispielhaft für alle anderen Interaktionen stelle ich in der folgenden Tabelle 3 das Inventar der Aufnahme 1512 vor. Gesprächsinventar Interaktion 1512 Zeit Tr. Sprecher Inhalt Memo Forschungsfrage 00: 00 Ja Alle bis auf DO Eintreffen in der Kneipe, Alltagsgespräche über Studium, Familie teilw. unverst. Begrüßungsrituale, Variation 13: 09 Ja Alle Durchgehen der Post, Getränkebestellung - Entlarven von Rassismen 21: 45 Ja BÜ , YA , ME Wechseln der Räumlichkeit von der Kneipe in den Clubraum teilw. unverst. Variation 26: 51 - Alle Aufstellung der Tagesordnung - - 29: 32 Ja Alle DO trifft ein, Frotzeln über sein Zuspätkommen - Variation, Form der Geselligkeit 32: 46 - Alle Weiter mit der Aufstellung der Tagesordnung - - 35: 29 Ja Alle Nachbesprechung der Konferenz in Oberursel - Provozieren von Rassismen 57: 20 Ja Alle Besprechung der Ausstellung in der Kunsthalle - Diskutieren über Rassismen und Provozieren von Rassismen 195 Zur Erstellung von Gesprächsinventaren in der Gesprächsanalyse siehe Deppermann (1999, S. 32ff.). In der Tabelle bedeutet die Abkürzung „Tr.“ Transkript. Der emanzipatorische Stil 141 Gesprächsinventar Interaktion 1512 Zeit Tr. Sprecher Inhalt Memo Forschungsfrage 71: 44 - Alle Besprechung der Aktion zu den nächsten Wahlen - Ironisieren von Rassismen 87: 38 Ja Alle Ende des Treffens, Verabschiedung teilw. unverst. Variation, Verabschiedungsritual Tab. 3: Gesprächsinventar Interaktion 1512 Der zweite Arbeitsschritt bestand darin, ausgehend von den Gesprächsinventaren alle Fälle, die als ‘Formen der Thematisierung von Marginalisierung/ Diskriminierung’ zugeordnet werden konnten, nach der Methode des offenen Kodierens (Strauss 1991, S. 95ff.) tabellarisch zu erfassen (siehe Abbildung 1 weiter unten). Bei den „Unmündigen“ kommen diesbezüglich folgende Formen vor: Entlarven von Rassismen, gelassenes Demonstrieren der eigenen Normalität gegenüber Rassismen, Benennen von Rassismen, Diskutieren über Rassismen, Ironisieren von Rassismen, Aggressives Frotzeln gegenüber Rassismen, Provozieren von Rassismen, Emanzipieren von Rassismen durch Erzählen rassistischer Witze. In einer dritten Analysephase wurde schließlich nach der Methode des axialen Kodierens (Strauss 1991, S. 101ff.) danach geschaut, welche dieser Formen sowohl in der Ingroupals auch in der Outgroup-Kommunikation nicht nur einmal, sondern rekurrent, d.h. - nach meiner Entscheidung in dieser Arbeit, was „rekurrent“ bedeuten sollte - mehr als einmal vorkommen. Nur die Formen, die in beiden Situationen rekurrent vorkommen, wurden als zentrale Handlungstypen des „emanzipatorischen Stils“ festgehalten. Wie in folgender Abbildung ganz rechts gezeigt wird, handelt es sich hierbei um die Bearbeitungsweisen des Aufspießens, Ironisierens und Provozierens von Rassismen. Ein Hinweis in Bezug auf die „emanzipatorischen“ Handlungstypen ist hierbei von zentraler Bedeutung: Die Bearbeitungsweisen „Ironisieren“ und „Provozieren“ von Rassismen sind Eigenkategorien der Untersuchten. Damit un- - - - - - - - - Migration, Sprache und Rassismus 142 Abb. 1: Formen der Thematisierung von Marginalisierungen/ Diskriminierungen Der emanzipatorische Stil 143 terstreichen die Untersuchten selbst die Bedeutung dieser Bearbeitungsweisen. Im Falle des dritten Handlungstyps „Aufspießen von Rassismen“ handelt es sich um einen von mir gewählten Ausdruck. Darunter habe ich die beiden rekurrenten Berabeitungsformen des „Entlarvens“ und des „Benennens“ von Rassismen gefasst. 6.4 Aufspießen von Rassismen Das Aufspießen von Rassismen ist für die „emanzipatorischen Migranten“, wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, der grundlegende kommunikative Handlungstyp im Umgang mit Diskriminierungs- und Marginalisierungsfällen. Bereits in der Ethnografie der „Unmündigen“ wurde darauf hingewiesen, dass das Aufspießen von Rassismen schon in der Konstitutionsphase der Gruppe eine außerordentlich wichtige Rolle spielte, als die Gründungsmitglieder aufspießend die Erkenntnis festhielten: „Wir sind keine Ausländer“ (siehe dazu Abschnitt 4.2 über die Gründungsinhalte der Gruppe). Ich werde im Folgenden zwischen zwei Formen des Aufspießens unterscheiden: dem „entlarvenden“ und dem „benennenden Aufspießen“. Sie werden von den „emanzipatorischen Migranten“ in der gruppeninternen Kommunikation entwickelt und in Auseinandersetzungen in öffentlichen Arenen mit relevanten Anderen angewandt. Beim „entlarvenden Aufspießen“ geht es in der Ingroup-Kommunikation um Fälle von (möglicher) Diskriminierung, die von den Beteiligten im Interaktionsverlauf erst gemeinsam ent- und aufgedeckt werden. Dagegen handelt es sich beim „benennenden Aufspießen“ um kein gemeinsames Produkt der Akteure in der konkreten Interaktion. Bei diesen Fällen ist ein diskriminierender Aspekt von einem Beteiligten in einem anderen Kontext bereits erkannt/ entdeckt/ entlarvt worden, so dass er ihn in der aktuellen Interaktion den anderen Teilnehmern gegenüber mitteilt. Fallbeispiel 1 Formen des „entlarvenden Aufspießens“ von Diskriminierungen haben in gruppeninternen Interaktionen der „Unmündigen“ den Charakter des gemeinsamen Entdeckens von impliziten Rassismen. Den Hintergrund solcher Bearbeitungsformen stellt die Erfahrung der Beteiligten dar, dass sie in Alltagssituationen oft mit unausgesprochenen Formen des Rassismus konfrontiert sind. Ausgehend von diesem Erfahrungshorizont sind für die „emanzipatorischen Migranten“ mögliche Diskriminierungen auch in Kontexten erwartbar, die zunächst frei von jeglichem Rassismusverdacht sind. Der prototy- Migration, Sprache und Rassismus 144 pische Fall des Aufspießens solch möglicher Diskriminierungen zeichnet sich in der gruppeninternen Situation dadurch aus, dass die Beteiligten beim Reden über ein x-beliebiges Thema, das in keiner Weise mit Diskriminierung zu tun hat, ab einem gewissen Punkt der Interaktion anzeigen, dass ihre Aufmerksamkeit kippt und sie sich möglichen Diskriminierungshintergründen des Sachverhalts zuwenden. Dazu wird im Folgenden eine Interaktion analysiert, die in transkribierter Form acht Seiten umfasst. Im Grunde wäre es sehr wichtig, sie auch in dieser vollen Länge zu präsentieren, damit der Leser die zunächst absolute Absenz von Diskriminierungsaspekten in solchen Situationen nachvollziehen kann. Da aber derart lange Transkripte leserunfreundlich sind und deshalb in der Forschungsliteratur auch selten bis kaum vorkommen, präsentiere ich hier lediglich die Passage, in der das „Aufspießen“ stattfindet. Dafür wird der Vorlauf etwas ausführlicher als in den anderen folgenden Fallbeispielen zusammengefasst. Der Kontext des Fallbeispiels ist, dass die „Unmündigen“ von einer sozialen Einrichtung das Angebot bekommen, in einem ihrer Seminarorte ein Wochenendseminar durchführen zu können. Dazu werden den „Unmündigen“ von der Einrichtung drei Terminvorschläge unterbreitet. Bevor die Anwesenden über die Terminvorschläge diskutieren, besprechen sie zunächst sehr lange, welche Themen für ein Seminar in Frage kommen, ob man Referenten einladen soll und welche Seminarorte am einfachsten zu erreichen sind. Nach der ausführlichen Besprechung dieser Aspekte wenden sich die Beteiligten den drei Terminvorschlägen zu. Dabei bemerkt ZE als Initiator des Abschnitts gleich zu Beginn, dass sie bei ihrer Entscheidung Feiertage und Ferienzeiten berücksichtigen sollten. Da diese Zeiträume für private/ familäre Unternehmungen reserviert bleiben sollen, stellten sie für die „Unmündigen“ ungünstige Zeitpunkte für ein Gruppenseminar dar. Bei den drei Vorschlägen handelt es sich um die Termine 3. bis 5. Oktober, 21. bis 23. November und 5. bis 7. Dezember. Die erste Reaktion von zwei Anwesenden besteht im Befürworten des Dezembertermins. Daraufhin gibt eine andere Teilnehmerin zu bedenken, dass es im Dezember sehr kalt und unangenehm sei. Nachdem sich die Beteiligten einige Sequenzen lang bei der Temperaturfrage aufhalten, rückt der Oktobertermin in ihren Fokus. Schnell bemerkt dann eine andere Beteiligte, dass dieser Termin auf einen Feiertag, den Tag der Deutschen Einheit, fällt und deswegen zu dispräferieren sei. Zu diesem Zeitpunkt der Interaktion sitzen mehrere Teilnehmer mit ihren Terminkalendern in der Hand da. Als sich die Gruppe Der emanzipatorische Stil 145 wieder den beiden anderen Vorschlägen im November und Dezember zuwendet, weist AM darauf hin, dass der Dezembertermin mit „Nikolaus“ (dem 6. Dezember) zusammenfällt. In scherzhafter Modalität formuliert er, als „Katholik“ an diesem Tag an keinem Wochenendseminar teilnehmen zu können. Mehrere Anwesende, die allesamt wie AM nicht religiös sind, gehen auf seinen Modalitätswechsel ein. Interaktiv etablieren sie eine Scherzsequenz, indem sie ein Gegensatzszenario von hier „katholischen“ und dort „islamischen“ Mitgliedern der „Unmündigen“ aufbauen. Das Spiel wird mit ZE s Redebeitrag in Zeile 01 des folgenden Transkripts beendet, der die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder auf die Entscheidung für einen Seminartermin lenkt. Transkript 5: geben uns die schlechten termine 01 ZE: ich würde da schon nikolaus- ** MACHT 02 ZE: GERÄUSCH MIT LIPPEN ja aber nikolaus ↑ ** is 03 ZE: schlecht gell ↑ 04 HS: is ega: l 05 AM: warum schlecht ↑ ** 06 AM: is halt nikolaus <→die hatdie bietet uns 07 AM: die ganzen feiertage an> die bietet uns 08 AM: <tag> der deutschen einheit← an ↑ #wo keiner K ← ↑ #AMÜSIERT 09 AM: |hin will| * die bietet uns niko"laus an# K LACHEND # 10 ZE: |LACHT | mh 11 AM: die bietet uns eigentlich all die 12 AM: schle"chten termine an ** 13 ZE: #versteh ich-# * K #AMÜSIERT # 14 ZE: >versteh (ich gar nicht)< 15 AM: jaja: ** die 16 AM: bietet uns all die schlechten |termine| an ↓ 17 ZE: |is auch| 18 ZE: billig ↓ des is billige zeit ↓ 19 RO: die will uns 20 RO: was vormachen >ne ↑ < ** 21 AM: die ausländer feiern 22 AM: eh: kein tag der deutschen einheit ↑ |und 23 ZE: ↑ |und Migration, Sprache und Rassismus 146 24 AM: schon gar nicht nikolaus- LACHT|=LACHT 25 ZE: und welcher termin war am am | 26 AM: |=LACHT ↑ | 27 ZE: |am dings ↑ | * welcher termin war im 28 ZE: no"vember bitte ↑ * 29 AM: was war im november ↑ ** 30 YL: nove"mber ↑ ** einundzwanzigster bis 31 YL: dreiundzwanzigster november ↓ 32 ZE: to"t*ensonntag ↓ 33 AM: auch wieder feiertag ne- |LACHT| 34 YL: |LACHT||=LACHT| 35 ZE: |LACHT | 36 HS: |LACHT | 37 ZE: also ich würde das eigentlich doch äh besser 38 ZE: finden |im november ↑ | ja ja ↓ * 39 AM: |im november ↑ | 40 YL: |im november ↓ | Der Ausschnitt beginnt mit der Äußerung ZE s, in der er auf die vorher etablierte spielerische Modalität Bezug nehmend wieder die Beschäftigung mit der Entscheidung für einen Terminvorschlag, und zwar den Dezembertermin („Nikolaus“) relevant setzen will: ich würde da schon nikolaus- ** MACHT GERÄUSCH MIT LIPPEN ja aber nikolaus↑ ** is schlecht gell↑ (Z. 01-03). Die Refokussierung ZE s wird von HS (is ega: l↓, Z. 03) und AM (warum schlecht↑, Z. 04), ratifiziert. Vor allem AM s Gegenfrage ist in diesem Kontext wichtig. Vor dem Transkriptausschnitt hatte er mit seiner Äußerung, als „Katholik“ bei „Nikolaus“ auf kein Seminar gehen zu wollen, die Scherzsequenz initiiert. Mit seiner Reaktion demonstriert auch er, wie HS zuvor, die Beendigung der Scherzsequenz. Nach einer kurzen Pause fährt AM mit seiner Formulierung fort: is halt nikolaus <→die hatdie bietet uns die ganzen feiertage an> die bietet uns <tag> der deutschen einheit← an↑ wo keiner hin will * die bietet uns niko"laus an die bietet uns eigentlich all die schle"chten termine an ** (Z. 06-12). Er macht hier auf den Punkt aufmerksam, den die Beteiligten zu Beginn der Besprechung angeschnitten hatten. Bei der Entscheidung für einen Termin wollten sie darauf achten, das Seminar nicht an einem Feiertag stattfinden zu lassen. Als erstes hatten sie bemerkt, dass der Terminvorschlag im Oktober mit dem Tag der deutschen Einheit zusammenfällt und deshalb nicht in Frage kommt. Danach hatten sie in einer Scherzsequenz entdeckt, dass der zweite Termin mit Der emanzipatorische Stil 147 „Nikolaus“ am 6. Dezember zusammenfällt. Die Formulierung AM s ist eine Zusammenfassung dieser Aspekte, die die beiden Vorschläge als „schlechte Termine“ bewertet. AM s Bewertung (die bietet uns eigentlich all die schle"chten termine an) löst bei den anderen Beteiligten ironische und spielerisch empörte Reaktionen aus. ZE s amüsierte Äußerung, versteh ich- * >versteh (ich gar nicht)< (Z. 10-11), kontextualisiert einen naiven Menschen, der nicht begreifen kann, warum ihnen die schlechten Termine vorgeschlagen werden. Nach AM s Wiederholung seiner negativen Bewertung (Z. 12-13) äußert ZE eine Vermutung darüber, warum die „Unmündigen“ diese Terminvorschläge bekommen haben könnten: Weil die Termine auf Feiertage fallen und sich deswegen auch andere Einrichtung/ Vereine/ Institutionen für sie nicht interessieren, unterbreitet ihnen die soziale Einrichtung genau diese und keine anderen Zeitpunkte als kostengünstige Angebote: is auch billig↓ des is billige zeit↓ (Z. 17-18). Auf diese Feststellung reagiert RO in spielerisch empörter Weise: die will uns was vormachen >ne↑< (Z. 19-20). Die letzte Sequenz bestehend aus ZE s Feststellung und RO s Kommentar ruft eine Kippsituation hervor. Während bis zu diesem Zeitpunkt Aspekte der Ethnizität keine Rolle spielten, werden sie nun von AM aktiviert: die ausländer feiern eh: kein tag der deutschen einheit ↑ und schon gar nicht nikolaus- LACHT (Z. 21-24). 196 AM spricht hier aus dem Munde des Mehrheitsangehörigen, der den „Unmündigen“ die Terminangebote unterbreitet hat. 197 Seine inferenz- 196 Insbesondere ZE s Erkenntnis (Z. 14), von der sozialen Einrichtung die „billigen“ Termine (quasi die Restangebote) bekommen zu haben, scheint hier bei AM den Gedanken nahe zu legen, dass solche Angebote nur den Migranten gemacht werden könnten. Bis zu diesem Zeitpunkt war dieser Zusammenhang in keiner Weise für die Beteiligten relevant. Sie haben auf „schlechte Terminvorschläge“ spielerisch empört so reagiert, wie vermutlich jede andere (mehrheitsdeutsche) Gruppe auch reagiert hätte. 197 In der Gesprächsanalyse werden Äußerungen, die eine „fremde Stimme/ Rede“ (Günthner 2002) enthalten, in Anlehnung an Bachtin (1979) als „Polyphonie“ bzw. „polyphones (vielstimmiges) Sprechen“ und „Überlagerung von Stimmen“ analysiert (Günthner 1997, 2002). Das Konzept „Überlagerung von Stimmen“ meint dabei, dass Sprecher in der Interaktion durch die Art und Weise ihres Zitierens anderer Sprecher deutlich machen, wie sie die zitierte Äußerung/ Person gleichsam bewerten. In der obigen Äußerung AM s handelt es sich um ein fiktives Zitat, mit dem die Perspektive des Mehrheitsdeutschen, der den „Unmündigen“ die Termine vorgeschlagen hat, wiedergegeben wird. Die Redewiedergabe erfolgt ohne metapragmatische Ankündigung (d.h. ohne einführendes ‘verbum dicendi’), doch indiziert insbesondere der Ausdruck „Ausländer“, den die „Unmündigen“ vehement ablehnen und nie in ihrer „eigenen Rede“ verwenden, dass hier eine „fremde Stimme“ spricht. Migration, Sprache und Rassismus 148 reiche Äußerung lässt sich folgendermaßen paraphrasieren: „Da die Ausländer keinen Tag der deutschen Einheit und Nikolaus feiern, kann man ihnen diese Termine, die für mehrheitsdeutsche Vereine/ Institutionen als Seminarzeiträume nicht attraktiv sind, vorschlagen.“ Mit seinem fiktiven Zitat spießt MA diesen möglichen und impliziten Rassismus auf Seiten des Mehrheitsangehörigen auf. Dabei kontextualisiert er mit einem Lachen am Ende seiner Äußerung, dass das Aufspießen in spielerischer Modalität vollzogen wird. Wie das Fallbeispiel zeigt, bearbeitet die Gruppe das Aufspießen solcher möglicher Diskriminierungen in der gruppeninternen Kommunikation in spielerischer Modalität. Sie reagieren nicht mit ernsten Betroffenheitsäußerungen. Sie haben Spaß an dem, was sie tun. Als sie im weiteren Verlauf klären wollen, wie es um den dritten und letzten Terminvorschlag steht, erreicht ihr spielerisches Aufspießen den Höhepunkt. Sie bringen in Erfahrung (Z. 27-32), dass der verbliebene Novembertermin mit dem „Totensonntag“ zusammenfällt, was AM veranlasst festzuhalten: auch wieder feiertag ne- (Z. 33). Mit ihrem ausgelassenen Lachen zeigen die Beteiligten das unterhaltsame Gelingen ihres Aufspießens an, da dieser letzte Aspekt quasi als endgültiger Beweis für die vorher geäußerte Annahme fungiert. Nach dem gemeinsamen Lachen wechseln die Beteiligten wieder schnell die Modalität, indem sie auf ZE s Initiative den Novembertermin als den besten festhalten. Insbesondere dieses schnelle Wechseln zurück in die ernste Modalität verstärkt den Charakter des zuvor Geleisteten als ein sequenziell kurzes und spielerisches Aufspießen eines möglichen Diskriminierungshintergrunds. Zusammenfassend kann man für diese Formen von spielerischem Aufspießen festhalten, dass sie typisch für die Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“ sind. Wie die Interaktionsanalyse verdeutlicht, ist bei der Diskussion um die Terminvorschläge der sozialen Einrichtung der Rassismus zunächst in keiner Weise relevant. Die Fokussierung der Teilnehmer ist ausschließlich auf die Termine, Orte, Inhalte und andere Aspekte des Seminars gerichtet. Als aber die Anwesenden zu realisieren beginnen, dass die Terminvorschläge mit deutschen bzw. christlichen Feiertagen zusammenfallen, kippt ihre Aufmerksamkeit für die Dauer einzelner weniger Beiträge. In diesen Äußerungen behandeln sie spielerisch die Möglichkeit, dass sie deswegen die betreffenden Termine vorgeschlagen bekommen haben könnten, weil andere Gruppen der Mehrheitsangehörigen sie aus den genannten Gründen nicht besetzen wollten. In ZE s Worten sind das die „billigen“ Termine, die, weil sie auf Feiertage fallen, nicht gerne genommen werden, und von den Veranstaltern als quasi „billige“ Angebote an „Ausländer“ unterbreitet werden. Der emanzipatorische Stil 149 Das Bearbeiten solcher Fälle in spielerischer Modalität zeigt, dass die „emanzipatorischen Migranten“ keine Betroffenheitsperspektive einnehmen. Wie man später noch sehen wird, gehören Betroffenheitsbekundungen und Opferstilisierungen explizit nicht zu ihrem kommunikativen Sozialstil. Indem sie solche Fälle kurz aufspießen, sich dabei unter Umständen amüsieren und dann schnell wieder zur Tagesordnung übergehen, drücken sie in der gruppeninternen Kommunikation einerseits ihre Sensibilität gegenüber impliziten Rassismen aus, andererseits ihre Souveränität im Umgang mit ihnen. Den ernsten Hintergrund solch spielerischer Formen des Aufspießens stellt der Erfahrungshorizont der „emanzipatorischen Migranten“ dar, dass Rassismen oftmals spür- und erfahrbar sind, aber häufig von den Mehrheitsangehörigen nicht explizit verbalisiert werden. Eine solche Fallschilderung findet sich z.B. im Dokumentarfilm „deutschland - wäre meine richtige heimat...“, der von den „Unmündigen“ 2003 produziert wurde. Darin erzählt Muhammet, ein Jugendlicher türkischer Herkunft aus Mannheim, den folgenden Vorfall: Ich hatte mich als Hotelfachmann beworben und da hat der Lehrer von der Schule aus bei der Arbeitsstelle angerufen, um nachzufragen. Da hat der Arbeitgeber gesagt: „Okay, könnte sein, kann ein Praktikum machen“, so auf die Art. Dann hat er aber noch gefragt: „Was ist das? Was für eine Nationalität? “ Der Lehrer hat den Lautsprecher angehabt, sodass ich das mithören konnte. Als mein Lehrer antwortete „er ist ein Türke“, hat der Arbeitgeber gesagt: „Nein, einen Türken will ich auf keinen Fall.“ Da war mein Lehrer geschockt und konnte nur „äh“ sagen. Der Arbeitgeber hat dann nur noch „Tschüss, Aufwiedersehen“ gesagt und aufgelegt. Migranten, die hinter jedem und allem den Rassismus aufspüren (wollen), laufen Gefahr, von Seiten der Mehrheitsangehörigen als ‘übersensibel’ kategorisiert zu werden. 198 Die Erzählung des Jugendlichen verdeutlicht jedoch, dass sie zumindest nicht immer falsch damit liegen. Der Arbeitgeber sagt dem Lehrer gegenüber offen, dass er „auf keinen Fall einen Türken will“. Es ist anzunehmen, dass er diese Aussage gegenüber dem Migrantenjugendlichen so nicht formuliert hätte. Mit anderen Worten hätte er seine rassistische Einstellung nicht explizit formuliert, sondern implizit durch eine andere Formulierung der Ablehnung kundgetan. Dies ist der ernste Hintergrund des Aufspießens als Bearbeitungsform von Rassismen, wie sie die „emanzipatorischen Migranten“ als ein kommunikatives Stilelement entwickelt haben und einsetzen. 198 Siehe z.B. Melter (2006, S. 315) und Kallmeyer (2002b, S. 170f.). Migration, Sprache und Rassismus 150 Fallbeispiel 2 Neben diesen Fällen von Aufspießen, in denen mögliche Diskriminierungsaspekte im Interaktionsverlauf erst ent- und aufgedeckt werden, gibt es in der gruppeninternen Kommunikation der „emanzipatorischen Migranten“ auch eine zweite Bearbeitungsform, die sequenziell weniger spektakulär, aber für die Gruppe nicht weniger wichtig ist. Ich möchte diese Fälle als „benennendes Aufspießen“ bezeichnen. Diese Variante des Aufspießens hat interaktionsstrukturell oftmals die sequenzielle Qualität von Kommentaren oder Einschüben. Sie können in kurzer oder expandierter Form erscheinen. Hintergrund der benennenden Formen des Aufspießens ist, dass der Rassismus häufig nicht nur nicht offen verbalisiert, sondern sogar durch eine progressive Sprachwahl verschleiert wird, wie wir im folgenden Fallbeispiel sehen werden. Der Kontext der Belegstelle ist, dass sich die „Unmündigen“ überlegen, ob sie im Rahmen der „interkulturellen Wochen“, die jedes Jahr vom Ausländerbeauftragten der Stadt Mannheim organisiert werden, ihre eigene Veranstaltung durchführen sollen oder nicht. Auf diese beiden Möglichkeiten ist BÜ s Äußerung in Zeile 01 bezogen: Transkript 6: sind immer noch die ausländischen wochen 01 BÜ: auch< ** hier ↑ * äh * es gibt zwei 02 BÜ: alternativenäh 03 NE: +ich mein * des läuft ja 04 NE: unter demdes ga"nze läuft ja unter diesem 05 NE: * europäischen jahr gegen rassismus ja ↑ 06 BÜ: +→aber aber← die ei"gentlichen 07 BÜ: interkulturellen wochen ↑ sinddiese 08 BÜ: au"sländischen wochen ↓ * also 09 BÜ: interkulturelle wochen is die benennung von 10 BÜ: * äh ** ←von mannheimer ↑ → * äh beauftragte 11 BÜ: ne ↓ das heißt extra * interkulturelle 12 BÜ: wochen ↑ das is HOLT LUFT ein name vo/ von 13 BÜ: mannheim aus gegeben worden ↓ >aber< das sind 14 BÜ: diese wochendiese au"sländische wochen ↑ * 15 BÜ: die deu"tschlandweit läuft ↓ >ausländische Der emanzipatorische Stil 151 16 BÜ: wochen ↓ < ** jede stadt benennt sich selbe"r 17 BÜ: ne ↑ * eine macht internationale eine 18 BÜ: interkulturelle- ** aber das gesa"mte 19 BÜ: konzept heißt * inter/ äh au"sländische 20 BÜ: wochen ↓ * deshalbich hab das auch kein- 21 BÜ: ich hab auch * nicht durchgeblickt gehabt ↓ 22 BÜ: (mindestens) bei beim wo"chendendseminar 23 BÜ: >is< * wo ich mich vo"rbereitet hab is mir 24 BÜ: klargeworden dass=s äh i"mmer noch die 25 BÜ: >ausländische wochen sind< * >in 26 BÜ: deutschland< ** Die „Unmündigen“ planen eine eigene Veranstaltung. An dieser Stelle reden die Beteiligten darüber, wann sie diese durchführen sollen. Vor dem Transkriptausschnitt hatte ein Anwesender die „interkulturellen Wochen“ ins Gespräch gebracht, die vom Ausländerbeauftragten der Stadt Mannheim durchgeführt werden. Darauf bezieht sich BÜ s Bemerkung in Zeile 01-02, hier↑ * eh * es gibt zwei alternativen↑. Mit den beiden Alternativen verweist er zunächst nur darauf, die eigene Veranstaltung innerhalb oder außerhalb dieser „interkulturellen Wochen“ durchführen zu können. Daraufhin liefert der nächste Sprecher NE die Zusatzinformation, unter welchem Motto die „interkulturellen Wochen“ im betreffenden Jahr laufen: +ich mein * des läuft ja unter dem des ga"nze läuft ja unter diesem * europäischen jahr gegen rassismus ja↑ (Z. 03-05). NE s Äußerung beinhaltet aber nicht nur die Information, unter welchem Motto die „interkulturellen Wochen“ durchgeführt werden. Sie ist darüber hinaus durch ihren sequenziellen und inhaltlichen Zuschnitt mehrdeutig. Einerseits ist die Äußerung sequenziell so platziert, dass man sie als Unterbrechung und Übernahme des Rederechts von BÜ interpretieren kann. Sie ist in direktem Anschluss an BÜ s Hesitationssignal formuliert. 199 BÜ s schwebende Intonation nach alternativenzusammen mit dem folgenden Hesitationssignal ist eher ein Indiz dafür, dass er mit seiner Formulierung fortfahren wollte. Aber auch wenn NE s Redebeitrag nicht als ein eindeutiger Fall von Übernahme des Rederechts von BÜ gesehen wird, signalisiert seine unmittelbare Platzierung an BÜ s Hesitationssignal auf jeden Fall Dringlichkeit. 199 Zur Analyse von „gefüllten Pausen“ und Hesitationssignalen im Gespräch siehe z.B. Reck (1996) und Bergmann (1982). Migration, Sprache und Rassismus 152 Daneben ist NE s Äußerung auch inhaltlich mehrdeutig, da sie durch ihre Rahmung am Anfang mit ich mein und am Ende mit der Tag-Partikel ja mehr auszudrücken scheint, als nur die Weitergabe einer Information. NE beginnt hier in Bezug auf die Frage BÜ s, ob man innerhalb oder außerhalb der „interkulturellen Wochen“ die eigene Veranstaltung durchführen sollte, zu perspektivieren. Seine Perspektivierung bleibt aber unvollendet, da auch BÜ (Z. 06) seinerseits die nächste Möglichkeit in NE s Äußerung nutzt, um wieder das Rederecht zu erlangen. Dadurch bleibt die Perspektivierung NE s im Unklaren, ob er etwa aus dem Grund, weil die „interkulturellen Wochen“ unter dem Motto „Das europäische Jahr gegen Rassismus“ stehen, dafür ist, auch die eigene Veranstaltung in diesem Rahmen durchzuführen. BÜ s folgende Reaktion in Zeile 06 zeigt zumindest, dass er NE s Einwurf in diesem Sinne versteht. Mit +→aber aber← gleich zu Beginn seiner Äußerung markiert BÜ Dissens zwischen ihm und NE . Dann argumentiert er in einem langen Redebeitrag dagegen, die eigene Veranstaltung im Rahmen der „interkulturellen Wochen“ durchzuführen. Er tut dies mit dem Verfahren des benennenden Aufspießens von Rassismen. Gleich zu Beginn seiner Äußerung formuliert er, als was er die „interkulturellen Wochen“ sieht: die ei"gentlichen interkulturellen wochen↑ sinddiese au"sländischen wochen↓ (Z. 06-07). Das Aufspießen besteht hier darin, dass BÜ die ‘fortschrittlich’ klingende Bezeichnung „interkulturelle Wochen“ aus der Perspektive der „Unmündigen“ als das benennt, was die Veranstaltungen inhaltlich darstellen, nämlich die „ausländischen Wochen“. Bevor ich an dieser Stelle BÜ s Äußerung weiter analysiere, möchte ich zunächst einen kurzen Exkurs über die „interkulturellen“ bzw. „ausländischen Wochen“ einschieben, damit der Hintergrund des Sachverhalts, um den es hier geht, verständlich wird. Nahezu in jeder deutschen Stadt werden jährlich zu bestimmten Zeitpunkten Veranstaltungen organisiert, die ‘Deutsche’ und ‘Ausländer’ zusammenbringen sollen. Diese Organisationen können nur inhaltliche oder nur festliche Veranstaltungen umfassen oder eine Mischung aus beiden sein. Mancherorts finden sie nur an einem Tag statt, in anderen über Wochen verteilt. Die Organisatoren können Bürgerinitiativen sein, oder Amtspersonen wie Ausländerbeauftragte oder Quartiermanager. Bis Ende der 1980er Jahre wurden diese Veranstaltung fast durchgängig als „Tage bzw. Wochen der ausländischen Mitbürger“ benannt. Ab den 1990er Jahren ging man dazu über, immer mehr die diskriminierende Bezeichnung „Ausländer“ oder „ausländisch“ zu tilgen und sie stattdessen fortschrittlicher zu benennen. So reichen die Titel dieser Veranstaltungen heutzutage von „Festival der Kulturen“ über „Vielfalt statt Einfalt“ bis eben zu „interkulturelle Wochen“, ohne dass sich jedoch an ih- Der emanzipatorische Stil 153 ren Inhalten etwas geändert hätte. Die „Unmündigen“ kritisieren solche Veranstaltungen vehement, weil sie selten bis nie die Diskriminierung der Migranten thematisieren und stattdessen die Migranten zu Objekten reduzieren, die ihre Tänze, Kostüme und Speisen präsentieren sollen. Somit betrachten sie solche Veranstaltungen als Ausdruck des positiven Rassismus, der die Migranten ethnisiert und kulturalisiert. Das ist der Hintergrund von BÜ s Aufspießen. Nach seinem Aufspießen nennt BÜ den Ausländerbeauftragten als denjenigen, der die Veranstaltung in Mannheim nicht als „ausländische“ Wochen, was sie eigentlich sind, sondern anders bezeichnet: interkulturelle wochen is die benennung von * äh ** ←von mannheimer↑→ * äh beauftragte ne↓ (Z. 09-11). BÜ schreibt dem Ausländerbeauftragten bei dieser Benennung strategische Absichten zu, die darin bestehen, die bekannten „Ausländerwochen“ ‘fortschrittlich’ zu kaschieren: das heißt extra * interkulturelle wochen↑ (Z. 11-12). Anschließend generalisiert BÜ seine auf einem Einzelfall beruhende Erkenntnis, indem er auf die nach wie vor gängigen bekannten Muster und Inhalte solcher Veranstaltungen hinweist: ein name vo/ von mannheim aus gegeben worden↓ >aber< das sind diese wochendiese au"sländische wochen↑ * die deu"tschlandweit läuft↓ >ausländische wochen↓< (Z. 13-16). Kernelement des Aufspießens von BÜ ist das Entdecken des Zusammenhangs, dass nach wie vor bundesweit das Konzept der bekannten ‘ausländischen’ Tage beibehalten wird, aber die Veranstalter ihre Organisationen durch andere Bezeichnungen kosmetisch aufbessern: jede stadt benennt sich selbe"r ne↑ * eine macht internationale eine interkulturelle- ** aber das gesa"mte konzept heißt * äh au"sländische wochen↓ (Z. 16- 20). Zum Schluss seines Redebeitrags geht BÜ ausdrücklich darauf ein, dass das Aufspießen solcher Fälle eine Erkenntnisleistung erfordert: ich hab auch * nicht durchgeblickt gehabt↓ (Z. 21). BÜ erkannte den Sachverhalt, als er sich bei der Vorbereitung auf ein Gruppentreffen damit auseinander setzte: beim wo"chendendseminar >is< * wo ich mich vo"rbereitet hab is mir klargeworden dass=s i"mmer noch die >ausländische wochen sind< * >in deutschland< (Z. 22-26). Zahlreiche andere Belege aus den Gruppentreffen haben die gleiche Form des Aufspießens wie hier: Ein Mitglied spießt einen Sachverhalt individuell auf und präsentiert ihn bei thematisch passender Gelegenheit den Anderen. Das Aufspießen ist von basaler Bedeutung, wenn die „emanzipatorischen Migranten“ verdeckte Diskriminierungsaspekte sequenziell unaufwendig bearbeiten. Insbesondere Beispiele wie das eben analysierte zeigen das ökonomische Potenzial dieser Verfahren, im Gespräch quasi nebenbei die eigene Perspektive bzw. eigene Erkenntnisse auf den Punkt zu bringen. Migration, Sprache und Rassismus 154 6.5 Ironisieren von Rassismen Das Aufspießen von Rassismen als Bearbeitungsform stellt oftmals die erste Handlung dar, worauf die „emanzipatorischen Migranten“ andere Handlungsschritte folgen lassen, die ich in diesem und dem nächsten Abschnitt untersuche. Sie werden als Bearbeitungsformen des Ironisierens bzw. Provozierens von Rassismen bezeichnet, wobei die Handlungstypen Teilnehmerkategorien der „emanzipatorischen Migranten“ sind. Die Unterschiede zwischen den beiden Formen sind nur in den prototypischen Realisierungen eindeutig. Da in beiden Bearbeitungsformen zum Teil die gleichen rhetorischen Verfahren wie z.B. das der Perspektivenumkehrung (Kallmeyer 2001) 200 angewandt werden, sind die Übergänge häufig graduell. Die Analyse der prototypischen Fälle wird zeigen, dass die Ebene der Modalität das entscheidende Kriterium liefert, anhand dessen sich die beiden Formen voneinander unterscheiden (lassen). Das Ironisieren als Reaktionsform gegenüber Rassismen fußt in der alltäglichen Erfahrung der Migranten, permanent als „Ausländer“ kategorisiert und woanders als in Deutschland verortet zu werden. Konfrontiert mit dieser allgegenwärtigen Diskriminierung entwickeln die Migranten neben der ernsten Bearbeitungsweise auch spielerische Formen der Auseinandersetzung, worunter ich die Fälle des Ironisierens von Rassismen fassen möchte. Fallbeispiel 1 Alltägliche und institutionelle Begegnungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsangehörigen sind häufig von expliziten Diskriminierungsakten geprägt. Neben den expliziten Formen der Diskriminierung gibt es jedoch viele andere Fälle, bei denen die Migranten sich diskriminiert fühlen, ohne dass die Mehrheitsangehörigen sich des diskriminierenden Charakters ihrer Handlung bewusst wären. Die im Folgenden analysierte Interaktion zeigt so einen Fall einer nicht intendierten Exklusion, bei der die Fremdkategorisierung des Migranten als „Ausländer“ nicht erwähnt wird, aber im Subtext der Interaktion aus der Sicht des Migranten virulent bleibt. Bei der Interaktion handelt es sich um ein Interview, das die Mehrheitsangehörige IN mit dem „Unmündigen“ BÜ durchführt. Transkript 7-A: wo kommen sie her 01 IN: und wo kommen sie her ↑ nur dass ich so=n 02 IN: bisschen- 03 BÜ: geboren bin ichalso ich komme 200 Zur Definition der Perspektivenumkehrung siehe Abschnitt 6.5, Fallbeispiel 1. Der emanzipatorische Stil 155 04 BÜ: jetzt von heidelberg natürlich 05 IN: <ja nee> ich 06 IN: |mein in der türkei| 07 BU: |awwer wo ich ehm- | ich bin geboren in der 08 BÜ: türkei↓ in erzincan ↓ des is in |osttürkei ↓ | 09 IN: ↓ | ↓ sind sie| 10 IN: kurde↑ oder türke ↓ 11 BÜ: ich soll angeblich kurde 12 BÜ: sein ↓ Auf die Frage der Interviewerin IN , wo kommen sie her (Z. 01), ist zunächst die erste verbale Reaktion BÜ s sehr aufschlussreich, die er nicht zu Ende formuliert, sondern abbricht: geboren bin ich- (Z. 03). BÜ s abgebrochene Formulierung zeigt an, wie er die Frage spontan versteht: Als Migrant bzw. Minderheitsangehöriger soll er auf die Frage „wo kommen Sie her? “ antworten, wo seine ‘Ursprünge’ sind. BÜ bringt jedoch seine Formulierung nicht zu Ende, bricht sie ab, und liefert in seiner folgenden selbstinitiierten Selbstreparatur eine Antwort, die Mehrheitsangehörige normalerweise nicht erwarten: also ich komme jetzt von heidelberg (Z. 03-04). Die darauffolgende Reaktion der Mehrheitsangehörigen auf BÜ s Antwort zeigt, dass die Annahme der impliziten ethnischen Verortung zutrifft, die mit dieser Frage zusammenhängt, da sie nun von IN ausdrücklich verbalisiert wird: <ja nee> ich mein >in der türkei< (Z. 05-06). Anschließend an diese Explikation, die erst durch BÜ s ironische Antwort, er komme aus Heidelberg, ausgelöst wurde, beantwortet BÜ die Frage nach seiner ethnischen bzw. nationalen Herkunft: awwer wo ich ehmich bin geboren in der türkei↓ in erzincan↓ des is in osttürkei↓ (Z. 07-08). Im Folgenden möchte ich ausführlicher darauf eingehen, warum die Antwort BÜ s als ein Ironisieren von Rassismen aufzufassen ist. Die Exklusion, die in der Frage wo kommen sie her (Z. 01) steckt, ist implizit. Unausgesprochen kategorisiert die fragende Person den Migranten als „Ausländer“, der nicht aus Deutschland kommen kann. Als „Ausländer“ hat er aus einem anderen Land zu kommen, worauf die Frage abzielt. Wenn aber nun der Migrant seit frühester Kindheit in Deutschland lebt oder sogar hier geboren ist, gibt es eigentlich gar kein anderes Land, aus dem er kommt. Ein anderer diskriminierender Aspekt dieser Frage ist die Praxis, den Migranten zu ethnisieren. Denn auch wenn der Migrant nicht in Deutschland geboren ist, aber das Land als seine Heimat empfindet, versucht die Frage die ethnischen Wurzeln des Migranten in Erfah- Migration, Sprache und Rassismus 156 rung zu bringen, unabhängig davon, ob er sich mit diesen identifiziert oder nicht. Auf diese sehr implikativen Prozesse, die sowohl für Mehrheitsals auch für Minderheitsangehörige die unausgesprochene Normalität darstellen, reagiert BÜ ironisch. Dabei greift er auf das Verfahren zurück, die Frage wörtlich zu nehmen und seinen aktuellen Wohnort zu nennen: ich komme jetzt von heidelberg natürlich (Z. 03-04). Mit seiner Antwort konterkariert BÜ die Normalformvorstellung der Mehrheitsangehörigen, so dass diese ihre impliziten Erwartungen explizieren muss: <ja nee> ich mein >in der türkei< (Z. 05-06). Das Ironisieren BÜ s bewirkt also sehr effektiv, dass die Mehrheitsangehörige ihre ethnisierenden Hintergrundannahmen verbalisieren muss. Der Migrant soll sozusagen eine ethnische Offenbarung leisten, auch wenn ihm diese Kategorisierung nicht nur unwichtig, sondern vielleicht sogar zuwider ist. 201 Die Belegstelle zeigt, dass das Ironisieren solcher Rassismen wie ein Krisenexperiment im Garfinkel'schen Sinne (Garfinkel 1973a) funktioniert. Harold Garfinkel hat sich als Begründer des mikrosoziologischen Ansatzes der Ethnomethodologie für die Regelstrukturen des Alltagslebens interessiert. Um diese herauszufinden, erfragte er selbstverständlich erscheinendes Alltagswissen und Alltagshandeln. Wie Treibel (1995, S. 137) formuliert, betonte er damit „die Wichtigkeit jedes einzelnen Augenblicks für die Konstitution von Bedeutungen und Interaktionen“. Eine zentrale Methode, die Implikaturen des alltäglichen Handelns zu entschlüsseln, waren für Garfinkel (1973a, S. 284) die Krisenexperimente: „Studenten wurden aufgefordert, bekannten oder befreundeten Personen gegenüber in einer ganz gewöhnlichen Konversation darauf zu bestehen, dass die Person den Sinn ihrer Alltagsbemerkungen genau erklären soll, und dabei keinerlei Hinweise zu geben, daß dieses Ansinnen in irgendeiner Form ungewöhnlich wäre.“ Das Ironisieren BÜ s gegenüber der Mehrheitsangehörigen IN funktioniert in ähnlicher Weise: Erst durch das Aufbrechen der Normalformerwartung kommt die ausgrenzende Normalität der Mehrheitsangehörigen zum Vorschein. Zu den Basiserfahrungen oder zum Wissensinventar der Migranten insbesondere der zweiten und dritten Generation gehört, dass nicht nur direkte ethnische Zuschreibungen, sondern auch scheinbar ‘normale’ Fragen wie „Woher kommst du/ kommen Sie? “ permanent Exklusionsmomente enthalten. In Auseinandersetzung mit dieser ‘banalen’ Frage arbeitet Terkessidis (2004, 201 Dieser Aspekt wird im Transkript von BÜ angedeutet: Auf die Frage von IN , ob er Türke oder Kurde sei (Z. 09-10), antwortet BÜ : ich soll angeblich kurde sein↓ (Z. 11-12). BÜ distanziert sich damit vieldeutig von ethnischen Zuschreibungen, die die „emanzipatorischen Migranten“ strikt ablehnen. Der emanzipatorische Stil 157 S. 180ff.) heraus, dass diese Interaktionen einen Prozess auslösen, in dem „die betroffene Person an einen anderen Ort [als Deutschland, m.A.] transportiert“ wird. Terkessidis bezeichnet die Konfrontation mit dieser Frage als eine „Urszene“ (ebd., S. 178) für Migranten. Der folgende Interviewausschnitt aus Terkessidis (ebd.) mit einem Migranten der zweiten Generation verdeutlicht, warum diese Kommunikationssituation zum elementaren Erfahrungsschatz der Migranten zählt: „Während der Grundschule noch, da hatte ich mal bei so nem Preisausschreiben mitgemacht - irgendwie ‘Sicher durch den Straßenverkehr’ oder so. Und da hatte ich den ersten Platz belegt. Und da gab's nen Empfang beim Bürgermeister. Und da bin ich mit meinem Vater hin, und ich war halt das einzige offensichtlich ausländische Kind. Und der Bürgermeister wollte halt unbedingt wissen, wo ich herkomme. Und ich hab dann natürlich das Dorf eh aufgezählt, wo wir gewohnt haben, [...]. Und dann fingen dann plötzlich alle an zu lachen, weil sie das amüsant fanden. Und ich konnte das halt nicht nachvollziehen, ne, [...], was es da zu lachen gibt. Die wollten halt hören: ‘Ja, aus der Türkei’, oder so, ‘aus dem Morgenland’.“ Die Erzählung macht die Dimension der Frage „Woher kommst du? “ deutlich. Der Migrant schildert die Reaktionen der Mehrheitsangehörigen als ein amüsiertes Auslachen eines Kindes, das (noch) nicht weiß, wie es auf die Frage in adäquater Weise zu antworten hat. Wie im Fallbeispiel von BÜ herausgearbeitet, erwarten Mehrheitsangehörige in solchen Kommunikationssituationen eine ethnische oder nationale Selbstverortung der Migranten, da sie diese als ‘Fremde’ kategorisieren, die nicht ‘von hier’ sein können. Ihre Erwartungshaltung ist so bestimmt, dass davon abweichende Reaktionen wie die des Kindes eine ausgesprochen markierte Gegenreaktion auslösen: Alle im Saal versammelten Mehrheitsangehörigen fangen plötzlich an zu lachen. Die Normalität des Kindes, sich in seinem deutschen Dorf zuhause zu fühlen und dessen Namen zu nennen, wenn es gefragt wird, woher es kommt, wird damit außer Kraft gesetzt. Das Kind hatte sich anders zu verorten, nämlich ethnisch, indem es sagt „aus der Türkei“, damit es bei Mehrheitsangehörigen keine markierte Reaktion auslöst. 202 202 Dass es sich bei der Frage „Wo kommst du/ kommen Sie her? “ nicht um eine spezifisch ‘deutsche’ Erscheinung handelt, zeigen zahlreiche Belege aus internationalen Kontexten. In der (Forschungs-)Literatur ist gut dokumentiert, dass diese Frage für Migranten und Minderheitsangehörige weltweit Exklusionsmomente schafft. So gibt z.B. Zaptçioğlu (2005, S. 92) die folgende Erzählung einer türkischen Jüdin in der Türkei wieder: „Zum Beispiel in der Bank, wenn ich in der Schlange stehe und mein Name aufgerufen wird, drehen sich alle um und gucken mich an. Das ist natürlich nicht schön. Die Menschen müssen allmählich begreifen, dass es ganz unterschiedliche Namen gibt. Ich werde dann sofort gefragt: Migration, Sprache und Rassismus 158 Wie die Reaktion BÜ s auf die Mehrheitsangehörige zeigt, spießen die „emanzipatorischen Migranten“ solche Diskriminierungserfahrungen auf, ironisieren sie, indem sie wörtlich darauf reagieren, und zwingen damit ihr Gegenüber, die implizite Kategorisierung offenzulegen. Somit emanzipieren sie sich von einem Diskurs, in dem die Mehrheitsgesellschaft die Definitionsmacht ausübt. Aus diesem Grund haben die „Unmündigen“ das Beispiel auch zu einem sehr frühen Zeitpunkt und an einer exponierten Stelle bearbeitet. Ihr erstes Faltblatt, mit dem sie Anfang der 1990er Jahre an die Öffentlichkeit gingen, begann mit den Sätzen: „Woher kommst du? Aus Mannheim, Berlin, Köln, ...aus Deutschland! ! “ 203 Mit dieser Art des Umgangs wird die eigene Normalität als Inländer, dessen Lebensmittelpunkt Deutschland ist, der Normalität der Mehrheitsangehörigen, die Migranten als „Ausländer“ zu sehen, entgegengesetzt. In diesem Sinne betrachten die „emanzipatorischen Migranten“ Gespräche über die Herkunft generell in höchstem Maße als ein Teil der ausgrenzenden Herrschaftsstruktur, weshalb ihrer Ablehnung oder Ironisierung eine zentrale politische Bedeutung zukommt. Das Ironisieren als Bearbeitungsform bewahrt die „emanzipatorischen Migranten“ davor, das Thematisieren des Rassismus in einem klagenden Ton vorzubringen. Denn das Problem sind nicht sie selbst, sondern die rassistische Hegemonie der Mehrheitsgesellschaft. Soweit zur Betrachtungsweise und zum Umgang der „emanzipatorischen Migranten“ bzw. der Migranten, die sich nicht (zumindest primär und ausschließlich) ethnisch definieren, mit der Frage „Wo kommst du/ kommen Sie her? “. Dass andere Migranten ganz anders auf diese Frage reagieren, wird deutlich, wenn man diese Verhaltensweise mit der der „akademischen Europatürken“ Woher kommen Sie? Ich sage, ich bin Istanbulerin. >Gut, aber woher kommen Sie wirklich? <, fragen sie dann weiter. Ich sage dann aus Ärger: >Ich komme aus Spanien! <, oder >Ich bin nicht von dieser Welt, ich stamme aus dem All.< Je nachdem, wie ich mich in dem Augenblick fühle.“ Ang (1998, S. 281) geht auf diese Frage im Kontext der asiatischen Migration in Australien ein: „Ambivalent ist auch die scheinbar harmlose Frage ‘Woher kommen Sie denn? ’, die sich ethnische Minderheiten in Australien immer wieder anhören müssen. Viele von uns reagieren sehr (über)empfindlich auf diese Frage, denn sie wird (wie wir wissen) oft dann gestellt, wenn man unseren Status als Mitbürger dieses Landes nicht anerkennt - denn es wird automatisch angenommen, daß wir irgendwie nicht (ganz) hierher ‘gehören’, weil wir nicht ins Stereotyp des typischen Australiers passen. So ahnen wir - oft zu Recht -, daß der (weiße) Fragesteller ein entferntes, fremdes oder exotisches Land als Antwort erwartet. (Einige Leute chinesischer Herkunft, die schon ihr ganzes Leben lang in diesem Land leben und einen deutlichen australischen Akzent haben, erzählten mir, daß sogar sie diese Frage gestellt bekommen).“ 203 Siehe dazu die Selbstdarstellung der „Unmündigen“ im Anhang 11.1. Der emanzipatorische Stil 159 kontrastiert. Diesbezüglich findet sich in Aslan (2005, S. 337) das folgende Transkript, in dem eine Interaktion zwischen zwei „Europatürkinnen“ wiedergegeben wird: Transkript 7-B: wo kommen sie her 01 DE: peki sorunca ne cevap veriyosun ↑ yani wowo Ü und was antwortest du, wenn man dich fragt ↑ also 02 DE: kommen sie her ↑ 03 SE: aus der türkei diyorum ↓ yani Ü sage ich ↓ also 04 SE: sey almanyada dogdum ama türk oldugumu Ü Ding, ich bin in Deutschland geboren, aber ich bin 05 SE: söylüyorum yani ↓ Ü eine Türkin sage ich An dieser Interaktion sind zwei Aspekte interessant: a) Zum einen fassen auch die „Europatürken“ die Frage „Woher kommen Sie? “ als eine auf, mit der nicht nach dem Ort in Deutschland gefragt wird, wo man den Großteil seines Lebens verbracht hat, sondern als eine, die nach der ethnischen Herkunft fragt; b) Der zweite zentrale Aspekt ist, dass sie auf diese Frage, da sie sich selbst ethnisch als „Türken“ betrachten, mit einer ethnischen Verortung reagieren. Mit anderen Worten sehen sie in der Frage keine Diskriminierung oder ethnische Ausgrenzung. Somit stehen die Verhaltensweisen der „akademischen Europatürken“ und der „emanzipatorischen Migranten“ im maximalen Kontrast zueinander, was von herausragender sozialstilistischer Bedeutung ist. Fallbeispiel 2 Wie in Abschnitt 4.2 dargestellt wurde, manifestiert die Fremdbezeichnung „Ausländer“ in politisch motivierter und juristisch untermauerter Weise die Diskriminierung von Migranten, welche im Alltag in verschiedenen Formen reproduziert wird. Die „emanzipatorischen Migranten“ gehen je nach Kontext unterschiedlich mit solchen Fremdbezeichnungen wie „Fremder“ oder „Ausländer“ um. Das folgende Fallbeispiel steht für den ironisierenden Umgang. Die Analyse wird verdeutlichen, wie sensibel die Sozialwelt auf solche Fremdbezeichnungen reagiert und mit welchen Verfahren sie diese bearbeitet. Zum Kontext des Transkriptausschnitts: In einer Sitzung gehen die „Unmündigen“ zu Beginn ihres Treffens ihre Post durch. Die Äußerung HE s in Zeile 01 bezieht sich noch auf das zuletzt besprochene Thema. Mit BÜ s Äußerung in Zeile 02 beginnt die neue Sequenz, die im Folgenden analysiert wird. BÜ s Migration, Sprache und Rassismus 160 Äußerung >des müss mer zurückschicken dann (...)< (Z. 03) ist bezogen auf eine Briefsendung, die in der Betreffzeile mit „an alle ausländischen Vereine“ gekennzeichnet ist. Transkript 8: des müss mer zurückschicken 01 HE: in einer woche gibst=e hier meh"r aus- LACHT 02 HE: LEICHT 03 BÜ: >des müss mer zurückschicken dann 04 BÜ: (...)< SCHNALZT MIT DER ZUNGE 05 AS: hayret bir Ü das gibt es 06 AS: sey ↓ Ü doch nicht 07 BÜ: ←schicken sie bitte nach ausland ↓ → 08 BÜ: also weißt du ↑ * a ähm * #betrifft K #LIEST 09 BÜ: ausländischer äh ausländische vereine ↓ # * an K VOR # 10 BÜ: alle ausländischen gruppen und vereine ↓ da 11 BÜ: müssen wir * <falsch |adressiert sein ↓ > | 12 OM: |deshalb sagte ich ja| 13 BÜ: schicken sie bitte nach ausland ↓ LACHT 14 OM: >←das 15 OM: |meinte ich ja | vorhin→ * onu gördüğümde Ü als ich es sah 16 RT: |von wem is des| 17 OM: des ding |da unten<| 18 BÜ: |richtig ↓ | #p s#an alle K #ABK#.: POSTSKRIPTUM 19 BÜ: ausländische gruppen und vereine ↓ > ** LACHT 20 RT: +is des von dem glei"chen |ding ↑ | 21 AS: |>→warum←| 22 AS: #schreiben |die u"ns an<# | K #SPÖTTISCH # 23 BÜ: |falsch adressiert-| is in/ 24 BÜ: inlandmüssen sie nach #ausland schicken# K #LACHEND # Der emanzipatorische Stil 161 25 BÜ: |LACHT| <falsche postkarte ↓ > (...) ↓ 26 HE: |LACHT| könnt 27 HE: mer eigentlich machen so einfach * oder ↑ 28 HE: #just for gag# K #ENGL. AUSSPR#ACHE 29 RT: #könn=wer machen# ** K #LEICHT LACHEND # 30 BÜ: jaja ↓ 31 BÜ: >das kommt auch warte noch ↓ < 32 HE: also ↓ * des war 33 HE: des internationale- *5* Der kurze Transkriptausschnitt gibt in komprimierter Form einige zentrale Aspekte des emanzipatorischen Stils wieder. Beim Durchgehen der Post entdeckt BÜ eine Briefsendung an die Gruppe, die im Betreff mit „an alle ausländischen Vereine“ gekennzeichnet ist. Da sich die „Unmündigen“ als „Migranten“ bzw. „Inländer“ und nicht als „Ausländer“ definieren, schlägt BÜ gleich zu Beginn seiner Thematisierung vor, wie man mit der diskriminierenden Anrede bzw. mit der Briefsendung umgehen sollte: >des müss mer zurückschicken da (...)< (Z. 03). AS s Folgeäußerung in Zeile 04 bezieht sich nicht auf BÜ s Thematisierung des Briefs, sondern ist ein abschließender Kommentar zu HE s Äußerung in Zeile 01. Daher fährt BÜ damit fort, die Briefsendung zu bearbeiten, wobei sein Formulierungsverfahren folgende Sprechhandlungen ausweist: Nach seiner eingangs formulierten Aufforderung an die Gruppe >des müss mer zurückschicken< (Z. 03) unterbreitet er einen konkreten Vorschlag, wie sie die Rücksendung des Briefes kommentieren könnten: ←schicken sie bitte nach ausland↓→ (Z. 07). Daran schließt sich eine Formel für leichte Empörung an: also weißt du↑ (Z. 08). Danach beginnt BÜ die Betreffzeile zu zitieren, betrifft ausländischer äh ausländische vereine↓ * an alle ausländischen gruppen und vereine (Z. 08-10), so dass auch die anderen Anwesenden spätestens zu diesem Zeitpunkt nachvollziehen können, worauf sich seine vorherigen Äußerungen von Aufforderung - Vorschlag - Empörung bezogen. An das Vorlesen schließt BÜ eine Bewertung des Sachverhalts und die Wiederholung seines Vorschlags für eine Gegenreaktion an: da müssen wir * <falsch adressiert sein↓> schicken sie bitte nach ausland↓ (Z. 10-13). BÜ s Formulierungsverfahren zur Fokussierung des neuen Themas weist also folgende Einzelschritte aus: Aufforderung zum Handeln - Vorschlag für eine Migration, Sprache und Rassismus 162 Handlung - leichte Empörung über den Sachverhalt - Zitieren des Sachverhalts - Bewerten des Sachverhalts - Wiederholung des Vorschlags für eine Handlung. Dass BÜ seinen Redebeitrag mit einer Aufforderung und einem Vorschlag für eine Handlung beginnt, kann gesprächsrhetorisch als starkes Mittel zur Thematisierung eines Sachverhalts gesehen werden. Des Weiteren verdeutlichen diese Sprechhandlungen, dass in der Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“ herausragende Bearbeitungsformen wie Aufspießen und Ironisieren von Rassismen tief verwurzelt sind: Auf zentrale diskriminierende Fremdbezeichnungen wie „Ausländer“ sind sie so weitgehend sensibilisiert, dass das Bemerken und Zurückweisen von Rassismen als erste Reaktionen unmittelbar, d.h. ohne ausführliche Vorbemerkungen, erfolgen. In der folgenden Analyse wird insbesondere im Fokus stehen, in welcher Weise die anderen Anwesenden auf die diskriminierende Fremdbezeichnung reagieren. In BÜ s Thematisierung des Sachverhalts spielt die Empörung darüber, als „Ausländer“ adressiert zu werden, nur eine geringe Rolle. Sie wird lediglich formelhaft kontextualisiert. Mehr als die Empörung sind für BÜ andere Handlungsschritte wie das Aufspießen und das ironische Umgehen mit Rassismen wichtig. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Reaktionen der anderen Anwesenden auf BÜ s Thematisierung des Sachverhalts. Noch parallel zu BÜ s Bewertung meldet sich OM zu Wort, indem sie andeutet, die Briefsendung mit der Betreffzeile schon vorher bemerkt und darauf hingewiesen zu haben: deshalb sagte ich ja (Z. 12). 204 Nach BÜ s Redebeitrag (Z. 13) hebt sie explizit ihre frühe Bemerkung des Sachverhalts hervor: das meinte ich ja vorhin → * onu gördüğümde [als ich es sah] des ding da unten< (Z. 14-17). 205 Mit dem „Ding da unten“ meint OM die von BÜ zitierte Betreffzeile („an alle ausländischen Vereine“). Auf diese Weise verdeutlicht OM , dass in der Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“ das Bemerken von diskriminierenden Fremdzuschreibungen von so zentraler Bedeutung ist, dass die diskriminierende Adressierung von mehreren Mitgliedern unabhängig voneinander bemerkt wurde. 204 Zur Untersuchung von Parallelpassagen bzw. Überlappungen im Gespräch siehe u.a. French/ Local (1983), Selting (1995). 205 Im präsentierten Transkriptausschnitt wird an zwei Stellen ins Türkische gewechselt (Z. 05- 06 und Z. 15). In Abschnitt 7.3.2 analysiere ich solche Fälle von Sprachwechsel als sequenziell kleinräumige Sprachalternationen. Im vorliegende Fall markiert der Sprachwechsel in Zeile 05-06 einen Kommentar und in Zeile 15 die Strukturierung von Vordergrund- und Hintergrundinformation. Der emanzipatorische Stil 163 In der Folge stimmt BÜ OM zu, wiederholt die Betreffzeile (Z. 18-19) und konkretisiert seinen Vorschlag: falsch adressiertis in/ inlandmüssen sie nach ausland schicken LACHT (Z. 23-24). Mit seinem Lachen kontextualisiert er die spielerische Modalität bzw. den ironisierenden Umgang mit der diskriminierenden Fremdzuschreibung. Implizit wird BÜ s Perspektive von AS geteilt, der sich in einem spöttischen Ton über die Briefsendung spielerisch empört zeigt: >→warum← schreiben die u"ns an< (Z. 21-22). HE unterstützt BÜ s Vorschlag, die Briefsendung kommentiert zurückzuschicken, explizit: könnt mer eigentlich machen so einfach * just for gag [so zum Spaß] oder↑ (Z. 26-28). Das englische Wort „gag“ (Spaß, Witz), welches mittlerweile im Deutschen als eine etablierte Entlehnung angesehen werden kann, hat hier den Stellenwert einer Teilnehmerkategorie. Es ist eine Selbstbezeichnung der „emanzipatorischen Migranten“, mit der vor allem die für die Sozialwelt wichtige Bearbeitungsform des Ironisierens von Rassismen benannt wird. 206 Als abschließende Bemerkung dieser Interaktionspassage formuliert BÜ , irgendwann in der Zukunft solch eine ironische Handlung durchzuführen: jaja↓ >das kommt auch warte noch↓< (Z. 30-31). BÜ s Äußerung dient hier als Signal an die anderen, die Sequenz zu beenden, worauf HE positiv reagiert und das Thema definitiv abschließt: also↓ * des war des internationale- *5* oberu: rsel↓ (Z. 32-33). In vielen anderen vergleichbaren Situationen, wenn die Beteiligten im Anschluss an ein solches Aufspießen und Ironisieren von Rassismen bemerken, dass für sie der Vorfall ein großes Potenzial für eine eigene emanzipatorische Handlung birgt, können solche Passagen in der gruppeninternen Kommunikation expandieren und eine ganze Sitzung dominieren. Noch etwas anderes in der Interaktionspassage unterstreicht die Bedeutung des Ironisierens von Rassismen als zentrale Bearbeitungsform. Der einzige, der beim Ironisieren nicht mitzumachen scheint, ist RT . Zum ersten Mal meldet sich RT parallel zu OM in Zeile 16 mit der Frage zu Wort: von wem is des↑. RT will hier in Erfahrung bringen, wer ihnen die besprochene Briefsendung zugesandt hat. Als keiner der Anwesenden auf seine Frage eingeht, reformuliert er sie in Zeile 20 ein zweites Mal: +is des von dem glei"chen ding↑. Aber auch diesmal antworten die nächsten Sprecher ( AS Z . 21-22, BÜ Z . 23-25 und HE Z . 26-28) nicht auf seine Frage. Stattdessen hat für sie die spielerische Bearbeitung des Vorfalls (als „ausländischer Verein“ angeschrieben worden zu sein) momentan absolute Priorität. Dafür nehmen alle Beteiligten in Kauf, dass sie eine sequenziell so wichtige Handlung wie die wiederholt formulierte Frage von RT übergehen, die konditionell eine Antwort relevant setzt und deren 206 Siehe dazu auch die Analyse des folgenden Fallbeispiels 3. Migration, Sprache und Rassismus 164 Nicht-Erfüllung für den Betroffenen gesichtsverletzende Züge impliziert. In seiner dritten Wortmeldung in Zeile 25 scheint RT das zweimalige Ignorieren seiner Fragen nicht als Gesichtsverletzung, sondern als ein Ergebnis der Prioritäten bzw. Präferenzen zu verstehen. Nicht nur, dass er die Beantwortung seiner Frage nicht moniert oder ‘beleidigt’ verstummt, er schließt sich gar der Aktivität der anderen an: könn=wer machen (Z. 29). Mit ethnografischem Wissen angereichert gewinnt die Analyse von RT s Verhalten noch eine weitere Dimension. Er ist erst seit kurzem in der Gruppe und verfügt möglicherweise nicht über das Wissen, dass Bearbeitungsformen wie das Ironisieren von Rassismen, auch wenn sie sequenziell noch so kurz sind, von zentraler Bedeutung für die Sozialwelt sind. Zusammenfassend verdeutlicht das Fallbeispiel folgende charakteristischen Züge des emanzipatorischen Stils: Die Analyse der Interaktionspassage zeigt, wie wichtig es für die „emanzipatorischen Migranten“ ist, die stigmatisierende Kategorie „Ausländer“ in jeglichen Situationen aufzuspießen und zu bearbeiten. Das unterscheidet sie von anderen, ethnischen Sozialwelten, die in vergleichbaren Situationen solche Fälle nicht hinterfragen bzw. bearbeiten. Im präsentierten Transkriptausschnitt behandeln die Beteiligten den Vorfall ironisierend. Sie gehen spielerisch damit um, dass sie als ein „ausländischer Verein“ angeschrieben werden, was sie strikt ablehnen. Eine eigene Gegenhandlung wird formuliert, aber an dieser Stelle in die unbestimmte Zukunft vertagt. In vielen anderen Beispielen sind es aber diese kurzen Sequenzen, die von den „Unmündigen“ zu einem ganzen Szenario ausgebaut und auch umgesetzt werden. 207 207 Insofern, als die Beteiligen an dieser Stelle eine mögliche eigene Handlung formulieren, diese aber nicht durchführen, kann man solche Fälle als eine „Imaginäre Aktion“ (Kläger 2003) bezeichnen. Kläger (ebd., S. 300) beschreibt in ihrer kommunikativ-sozialstilistischen Arbeit über eine lokale Hausbesetzerszene in Lyon die „Imaginäre Aktion“ als einen für die untersuchte Sozialwelt zentralen verbalen Handlungstyp, der sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet: Bei „Imaginären Aktionen“ handelt es sich in der gruppeninternen Kommunikation um Scherzsequenzen, in denen manche Handlungsentwürfe der Eigengruppe übertrieben karikiert dargestellt werden, womit ihre „Unmöglichkeit der Umsetzung [...] in der Realität [kompensiert]“ (ebd., S. 307) wird. Nach Kläger (ebd., S. 300) ist bei diesem Handlungstyp, den sie auch als „interaktiv konstruierte und verbal ausgelebte Aktionen“ charakterisiert, die Kooperation der Akteure von enormer Wichtigkeit, da „Imaginäre Aktionen ein Werk der Gruppe [sind]“ (ebd., S. 301). Die Kooperation kann sich durch „darstellungsbegleitende Unterstützungshandlungen, wie Lachen, Fragen stellen, [...], aber auch durch die Insertion von Elementen zur imaginierten Aktion, durch gemeinsames Hervorbringen morpho-syntaktisch aufeinander abgestimmter turns [ausdrücken]“ (ebd.). Die Gemeinsamkeiten zwischen dem von mir beschriebenen „Ironisieren von Rassismen“ und der „Imaginären Aktion“ liegen darin, dass es sich in beiden Fällen um spiele- - - Der emanzipatorische Stil 165 Fallbeispiel 3 Das Ironisieren von Rassismen ist eine von zwei zentralen Bearbeitungsformen, auf die die „emanzipatorischen Migranten“ nach dem Aufspießen eines Vorfalls zurückgreifen. Der zweite Handlungstyp ist das Provozieren von Rassismen, worauf ich im nächsten Abschnitt eingehen werde. Dabei handelt es sich bei den beiden Handlungstypen um keine von außen auf die Sozialwelt übergestülpten analytischen Kategorien. Sie sind Teilnehmerkonzepte, die die „emanzipatorischen Migranten“ entwickelt haben und an denen sie sich bei ihren Auseinandersetzungen stets orientieren. Einen in diesem Sinne sehr interessanten Fall stellt das folgende Fallbeispiel dar, da es die „Unmündigen“ bei ihrer stilistischen Arbeit zeigt. Die Teilnehmer diskutierten explizit darüber, welchen der beiden Handlungstypen, „Ironisieren“ oder „Provozieren“ von Rassismen, sie präferieren sollen. Zum Kontext des Fallbeispiels: Das Fallbeispiel stammt aus dem Jahr 1997, als die „Unmündigen“ den damaligen Bundesinnenminister Manfred Kanther ( CDU ) zum „Antirassisten des Jahres“ kürten. Der zeithistorische und politische Kontext dieser Aktion wurde in Abschnitt 4.4 ausführlich dargestellt, weshalb an dieser Stelle nur das Notwendigste wiedergegeben werden soll. Zu Beginn des Jahres 1997 hatte Bundesinnenminister Kanther einen Eilerlass verabschiedet, der die „Einschleusung von Kindern aus dem Ausland“ stoppen sollte. Nach diesem Erlass mussten auch in Deutschland geborene Kinder von Migranten ab dem 16. Lebensjahr eine eigene Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Mit diesem Kindervisum nahm er billigend in Kauf, dass Millionen von Migrantenkindern, die in Deutschland geboren und zuhause waren, unnötig schikaniert wurden. Da der Innenminister aber das Gesetz oberflächlich humanistisch begründete - als ein Gesetz zur Verhinderung von Kindereinschleusung -, waren sich die „Unmündigen“ zunächst nicht einig, in welcher Modalität sie ihre Aktion durchführen sollten. Der Transkriptausschnitt stammt aus einer Sitzung, in der die Gruppe darüber diskutiert, ob sie ihre Aktion „Rassismus-“ oder „Antirassismus-Preis“ benennen soll. rische Sequenzen handelt, die inhaltlich Entwürfe für Gruppenhandlungen behandeln und sich durch hohe Kooperationsbereitschaft der Beteiligten auszeichnen. Auf der anderen Seite besteht der wichtige Unterschied zwischen den beiden Handlungstypen darin, dass in meinem Material kein einziger Fall des „Ironisierens von Rassismen“ in der gruppeninternen Kommunikation vorkommt, in dem die „Unmündigen“ davon ausgehen, dass sie die scherzhaft behandelte mögliche Handlung nicht umsetzen könnten. Deshalb hat das „Ironisieren“ für die „emanzipatorischen Migranten“ nicht ausschließlich die von Kläger beschriebene kompensatorische Funktion, die die „Imaginäre Aktion“ für die Hausbesetzergruppe besitzt. Migration, Sprache und Rassismus 166 Transkript 9: gag oder provokation 01 LL: tag der deutschen einheit * s=ja 02 BÜ: ich würde- 03 LL: scho"n interessant zum tag der deutschen 04 LL: einheit=n antirassismuspreis zu verleihen 05 BÜ: rassi"smuspreis ↓ also ich würde |nich | 06 LL: |<→nene ↓ ←>| 07 BÜ: >anti|rassismus<| 08 LL: |iro"nisch ↓ | * <antirassismuspreis> 09 LL: * und dann verleiht man den preis an ne 10 LL: person ↑ * die den preis überhaupt nich 11 LL: verdie"nt hat →das is ja der #gag#← ** K1 #ENG#LISCHE K2 AUSSPRACHE 12 LL: a: so * find i"ch ↓ 13 BÜ: +also ich würdegut ↓ da 14 BÜ: sollten wir uns äh also erst|mal (... ... 15 LL: |→aber darüber 16 BÜ: ... ... ... ...) | es war einmal- * es es 17 LL: kam=ma noch reden ↓ ←| 18 BÜ: war eigentlich rassismuspreis ↑ * ähm rass/ 19 BÜ: äh ras/ nobe"lpreis ↑ rassismusnobe"lpreis ↓ 20 BÜ: war ei"gentlicheerste idee ↑ und dann 21 BÜ: is=es- * antirassismus äh preis (...) ↑ * 22 BÜ: jetz (...) da so/ * darüber sollte man- 23 BÜ: reden ↓ →was für si"nn← * mit wa"s äh: ode: r 24 BÜ: mit welch/ äh: ja- * was wollen wir 25 BÜ: errei"schen ↓ * ob wir=n #gag# oder ob wir K #ENG#L. AUSSPRACHE 26 BÜ: provo/ provokation ↑ da is auch ein- 27 ME: +ma"chen 28 ME: wir das >überhaupt ↑ < warum re"den wir 29 ME: darüber ↓ 30 BÜ: sollten wir- * also ich (würd=es) 31 BÜ: vorschlagen ↓ Der emanzipatorische Stil 167 LL schlägt den tag der deutschen einheit (Z. 01) als Datum für eine eigene Veranstaltung vor. In der nächsten Zeile unterbreitet er auch einen Vorschlag, unter welchem Motto die Veranstaltung stehen könnte: zum tag der deutschen einheit=n antirassismuspreis zu verleihen (Z. 03-04). LL will auf die Verordnung Kanthers ironisch reagieren, indem er dem Bundesinnenminister einen Antirassismuspreis übergeben will. Seine Idee ist dabei, die ‘humanistische’ Begründung Kanthers, mit diesem Erlass Kinder im Ausland vor Schleuserbanden schützen zu wollen, ironisch zu brechen. BÜ lehnt aber die Bearbeitungsform des Ironisierens in diesem Fall ab: rassi"smuspreis↓ also ich würde nich >antirassismus< (Z. 05-07). Energisch und bestimmt - angezeigt durch Platzierung und Betonung des Worts rassi"smuspreis↓ - antwortet BÜ auf LL s Vorschlag. Da aber BÜ weder hier noch später eine Begründung für sein Ablehnen von LL s Vorschlag liefert, muss an dieser Stelle zur Erläuterung seines Verhaltens auf ein Ergebnis des Gesamtkapitels vorgegriffen werden. Die „emanzipatorischen Migranten“ präferieren bei indirekten und positiven Rassismen ironisierende Bearbeitungsformen und bei direkten und negativen Rassismen tendenziell provozierende Formen. BÜ s Meinungsdivergenz an dieser Stelle mit LL ist also darin zu sehen, wie die beiden den Vorfall interpretieren. LL scheint den Vorfall weniger dramatisch zu interpretieren als BÜ . Auf BÜ s Widerspruch reagiert nun LL seinerseits zunächst mit einem Dissensausdruck und dann mit einer expliziten Benennung und Beschreibung seines Vorschlags: <→nenene↓←> iro"nisch↓ <antirassismuspreis> * und dann verleiht man den preis an ne person↑ * die den preis überhaupt nich verdie"nt hat →das is ja der gag← ** a: so * find i"ch↓ (Z. 06-11). LL verwendet hier neben der ausdrücklichen Charakterisierung seines Vorschlags als iro"nisch eine der in Fallbeispiel 2 festgehaltenen zentralen Bezeichnungen der Gruppe für ironisierende Bearbeitungsformen: gag. Des Weiteren umschreibt LL seinen ironischen Vorschlag „Antirassismuspreis“ in einem Sinn, in dem Ironie auch gemeinhin verstanden wird: Man soll jemandem einen Preis verleihen, der es überhaupt nicht verdient hat. 208 LL s ironisierende Perspektive auf den Sachverhalt zeichnet sich somit dadurch aus, dass er als „emanzipatorischer Migrant“ zwei Aspekte zusammenbringen und bearbeiten will, die anscheinend nicht zusammengehören: Der Bundesinnenminister als aus Sicht der „emanzipatorischen Migranten“ ausgesprochener Repräsentant des institutionellen Rassismus - was er ihrer Meinung nach durch die Einführung des „Kindervisums“ erneut unter Beweis stellt - übernimmt die Schirmherrschaft für das „Jahr gegen Rassismus“. 208 Zur Analyse der Ironie im Gespräch siehe z.B. Hartung (1998) oder Kotthoffs (2002) Verständnis von Ironie als das Ausdrücken einer Kluft zwischen Gesagtem und Gemeintem. Migration, Sprache und Rassismus 168 In direktem Anschluss an LL s Redebeitrag deutet BÜ an, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, auf den Sachverhalt zu reagieren - die von ihm vorgeschlagene provozierende und die von LL präferierte ironisierende Form: +also ich würdegut↓ da sollten wir uns äh also erstmal (...) (Z. 13-14). Noch parallel zu BÜ zeigt nun auch LL seine Aushandlungsbereitschaft an, über die genaue Aktionsform noch diskutieren zu können: →aber darüber kam=ma noch reden↓← (Z. 15-17). In dieser Sequenz, in der sich beide Beteiligte ihre prinzipielle Kooperationsbereitschaft anzeigen und zusichern, wird deutlich, dass auch die „emanzipatorischen Migranten“ bei jedem Einzelfall daran arbeiten, in welcher Form sie auf Rassismen reagieren. In Abhängigkeit davon, wie sie den Vorfall interpretieren, entscheiden sie sich für eine adäquate Gegenreaktion. So gesehen sind auch Ingroup-Situationen kleine Arenen, in denen strittige Perspektiven ausgehandelt werden (müssen). 209 Anschließend geht BÜ dazu über, die erste Idee zur Bezeichnung der Veranstaltung zu nennen und wiederholt im Anschluss die Notwendigkeit, über diese Frage noch einmal zu diskutieren: es war eigentlich rassismuspreis↑ * ähm [...] nobe"lpreis↑ rassismusnobe"lpreis↓ war ei"gentlicheerste idee↑ und dann is=es- * antirassismus äh preis (...)↑ * jetz da so- * darüber sollte manreden↓ [...] * was wollen wir errei"schen↓ * ob wir=n gag oder ob wir provo/ provokation↑ da is auch ein- (Z. 16-26). Zu Beginn seiner Formulierung behauptet BÜ , dass man - im Gegensatz zu LL s Vorschlag „Antirassismuspreis“ - anfänglich an die Verleihung eines „Rassismusnobelpreises“ gedacht habe. Doch wie er bemerkt, ist die Gruppe anscheinend von dieser provokativen Idee abgekommen. Auch wenn BÜ diese erste Idee zu bevorzugen scheint, formuliert er seine Präferenz nicht offen. Er gibt den anderen Anwesenden lediglich zu bedenken, was sie mit solch einer Veranstaltung bezwecken wollen: gag oder provokation. Diese Stelle ist deshalb von zentraler Bedeutung, da BÜ hier verbalisiert, dass die beiden Bearbeitungsformen Ironisieren und Provozieren von Rassismen Teilnehmerkategorien der „emanzipatorischen Migranten“ selbst sind, an denen sie sich orientieren. Die Entscheidung für eine der beiden Bearbeitungsformen hängt davon ab, wie die Beteiligten den jeweiligen Vorfall interpretieren. BÜ scheint hier den konkreten Vorfall nicht wie LL auf die beiden Aspekte zu reduzieren, dass ein Politiker, der aus ihrer Sicht für seine diskriminierende Migrationspolitik bekannt ist, die Schirmherrschaft über die Aktivitäten zum „Europäischen Jahr gegen Rassismus“ übernommen hat. Für BÜ scheint viel- 209 Der vorliegende Fall ist ein Beispiel für eine kooperative Form der Perspektivenaushandlung. In anderen Situationen, in denen strittige Themen wie z.B. „für oder gegen Quotenregelungen“ behandelt werden, haben die Gruppensitzungen den Charakter von Arenen. Der emanzipatorische Stil 169 mehr der aktuelle Anlass, nämlich die Einführung der Visumspflicht für Migrantenkinder so ungeheuerlich zu sein, dass er mit der provozierenden Bearbeitungsform eine schärfere Gangart 210 einschlagen will. Die Interaktionspassage endet damit, dass eine dritte Anwesende nachfragt, ob denn die so intensiv besprochene eigene Veranstaltung schon beschlossene Sache sei: +ma"chen wir das >überhaupt↑< warum re"den wir darüber↓ (Z. 27-29). ME s Nachfrage verdeutlicht, in welchem Stadium sich die Gruppe bei ihrer Gegenreaktion auf den Vorfall befindet. Eigentlich haben sie sich noch gar nicht prinzipiell und gemeinsam dafür entschieden, eine eigene Aktion durchzuführen. BÜ affirmiert die Notwendigkeit, mit einer eigenen Veranstaltung auf den Vorfall zu reagieren: sollten wir- * also ich (würd=es) vorschlagen↓ (Z. 30-31). In manchen Interaktionen der „Unmündigen“, wie in der analysierten, bleibt es dabei, dass sich die „emanzipatorischen Migranten“ in Bezug auf ein aktuelles Thema gegenseitig ihre Perspektive anzeigen und in einem strittigen Fall ausdiskutieren, welche Gegenreaktion die adäquate wäre. Eine Gegenreaktion folgt aber nicht immer, weshalb dann diese Diskussionen vielmehr im Sinne Klägers (2003, S. 300ff.) als „Imaginäre Aktionen“ dazu dienen, die Perspektive der gesamten Sozialwelt zu konturieren und zu aktualisieren. Im vorliegenden Fall führten die „Unmündigen“ jedoch einige Wochen später tatsächlich die besprochene Veranstaltung durch. Sie entschieden sich dafür, die Veranstaltung als „Verleihung des Antirassismuspreises“ anzukündigen. Das Fallbeispiel verdeutlicht auch, wie genau einige Sozialwelten der zweiten Migrantengeneration die Diskurse innerhalb der Mehrheitsgesellschaft kennen. In Formationen, die von Akteuren der ersten Migrantengeneration dominiert sind, ist das Wissen über konkrete Vorgänge in der Einwanderungsgesellschaft aufgrund der sozialen Orientierungen und sprachlichen Fertigkeiten zumeist nur begrenzt. Gleichzeitig gibt es aber auch innerhalb der zweiten Generation wichtige Unterschiede: Während nämlich ethnisch orientierte Sozialwelten der zweiten Generation wie die „akademischen Europatürken“ ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf Debatten fokussieren, die sich um die türkischen Migranten in Deutschland drehen, konzentrieren sich die „emanzipatorischen Migranten“ auf alle Diskurse der deutschen Politik, die mit Migration und Rassismus zu tun haben. Das analysierte Beispiel verdeutlicht diesen Aspekt: Über das „Kindervisum“ wussten viele/ alle Migranten Bescheid, was sich nicht zuletzt in den zahlreichen Demonstrationen der türki- 210 Die „schärfere Gangart“ wird von Kallmeyer/ Schmitt (1996) als gesprächsrhetorisches Verfahren des „Forcierens“ erfasst. Migration, Sprache und Rassismus 170 schen Migranten äußerte. Aber bei keiner Protestveranstaltung der türkischen Formationen wurde thematisiert, dass der Bundesinnenminister zeitgleich die Schirmherrschaft über die Aktivitäten im Europäischen Jahr gegen Rassismus innehatte. Andererseits ist es für die „emanzipatorischen Migranten“ charakteristisch, dass sie über solche vielfältigen Aspekte des Themas/ Diskurses Bescheid wissen und sich auch bei eigenen Aktionen darauf beziehen, z.B. wie im vorliegenden Fall die Schirmherrschaft des Bundesinnenministers im Kontext des „Kindervisums“ aufspießen und ironisch bearbeiten. Das Ironisieren von Rassismen ist in der Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“ weitverbreitet. Auch für die Akteure des Netzwerks „Kanak Attak“ zählt es zu den zentralen Handlungstypen. So schreiben Aktivisten der Gruppe, die vor einiger Zeit das „Kanak TV “ 211 gegründet haben, zu den von ihnen gedrehten Kurzfilmen: „Philharmonie Köln - 40 Jahre Einwanderung“: An diesem Tag feierte die Stadt Köln den 40. Jahrestag der Unterzeichnung des ersten Anwerbeabkommens mit der Türkei. Entsprechend tauchte auch viel Prominenz zum Festakt 211 Im Manifest des Netzwerks schreiben die Initiatoren: „Kanak TV - Migrantische Selbstermächtigung oder warum Kanak TV politisch ist. Kanak TV agiert dort, wo rassistische Hierarchien zur Norm erklärt werden. Wir weisen jeden Versuch entschieden zurück, Migranten anzuglotzen, zu vermessen und in Kategorien zu pressen. Statt dessen richten wir den Blick auf Alemannen, die es für selbstverständlich halten, andere zu prüfen, zu fragen, und in ihrem Blick zu verkleinern. Als wachsamer Begleiter des Alltags verstört Kanak TV gewohnte Sichtweisen und liebgewonnene Rezeptionsmuster. Kanak TV verbreitet Unbehagen unter den Selbstgerechten. Bei Kanak TV gibt es weder ein befreiendes Lachen noch ein solidarisches Mitgefühl. Trotz allem bringt Kanak TV Menschen zum Lachen. Und je deutscher und selbstgefälliger das Publikum, desto tiefer bleibt ihnen das Lachen im Halse stecken. Wir, Kanaken, produzieren die längst überfälligen Gegenbilder zu den ewig gleichbleibenden Bildern von Migranten. Wir konterkarieren die Bilder von den kriminellen Ghetto-Kanaken, schwitzenden Döner-Kanaken oder stummen Kanakinnen mit Kopftuch, die symbolisch für Rückständigkeit und Unterdrückung stehen. Kanak TV ist die Umkehrung des rassistischen Blicks. Aber wir wollen nicht nur den rassistischen Blick und die festgelegten Bilder im Kopf zu Tage bringen. Unser Fokus richtet sich auch darauf, wie Bilder gemacht, manipuliert und eingesetzt werden. Kanak TV entlarvt den medialen Blick als Macht, indem es sich dieses Macht-Blickes bedient. So soll das Machtverhältnis in Frage gestellt, zurückgewiesen und ihm entgegengewirkt werden. Wir zitieren und entblößen den Rassismus als soziales Verhältnis, als ein Konstrukt, das bestimmte gesellschaftliche Hierarchien herstellt und perpetuiert und dabei bestimmte Gruppen von Menschen marginalisiert und sie in dieser Position hält. Hier ist unser Interventionsfeld. Aus der stumm und gesichtslos gemachten Masse tauchen plötzlich handlungsfähige und handelnde Subjekte auf. Wir lassen den Blick nicht länger auf uns richten - wir richten den Blick. Kanak TV ist migrantische Selbstermächtigung“. Internet: http: / / www.kanak-attak.de/ ka/ kanaktv.html (Stand: 01.12.2007). Der emanzipatorische Stil 171 in der Philarmonie auf. Sogar der Bürgermeister war da. [...] Wir haben natürlich zu diesem Anlass nur die weißen Exoten mit der Kamera verfolgt. Um die reduzierte und reduzierende Anwendung des Kulturbegriffs, die für Migranten reserviert ist, deutlich zu machen, haben wir Fragen, die normalerweise nur an Migranten gestellt werden, an die Deutschen zurückgegeben. Dadurch sollte das scheinbar selbstverständliche Monopol der Deutschen auf den pauschalisierenden Blick auf die „Anderen“ nicht nur aufgezeigt, sondern auch ad absurdum geführt werden. Das Interessante dabei ist, daß sich die meisten Deutschen exakt derArgumente bedienten, die viele Migranten über Jahre wiederholt haben, um sich gegen Identitätszuweisung und Vereinheitlichung zur Wehr zu setzen. „Weißes Ghetto“: Köln-Lindenthal. Das ist ein wohlhabendes und homogenes Viertel: Migranten sucht man dort vergeblich. Da stellt sich die Frage, womit das zusammenhängt. Schotten sich die Deutschen ab? Ist Köln-Lindenthal ein weißes Ghetto? Kanak TV ist diesen Fragen nachgegangen. ( www.kanakattak.de/ ka/ kanaktv/ volume1.html , Stand: 01.08.2010) 6.6 Provozieren von Rassismen Im Unterschied zum Ironisieren von Rassismen sind Fälle des Provozierens von Diskriminierungsaspekten ungeschminkte Retourkutschen. Ironisieren als Bearbeitungsform ist eine gesichtsschonende Handlung, da sie das Gegenüber nicht unmittelbar als Adressaten des Verfahrens bestimmt. Sie ist indirekt. Beim Provozieren ist das anders: Als Bearbeitungsform steht das Provozieren in unmittelbarer Verbindung zu der Handlung, auf die Bezug genommen wird, und benennt oftmals auch den Adressaten direkt - in Form von Einzelpersonen, Parteien, Amtsträgern oder Medien. Dabei kann das Provozieren in unterschiedlichen Modalitäten auftreten. Es kann sachlich und gefasst oder empört bis aggressiv vorgetragen werden. Auf jeden Fall ist es für ein Gegenüber im Vergleich zum Ironisieren weniger bis gar nicht gesichtsschonend. Fallbeispiel 1 Als erstes Fallbeispiel für provozierende Formen wird im Folgenden die eingangs in Abschnitt 6.1 behandelte Diskriminierungsgeschichte von BÜ analysiert und aufgelöst. Zur Erinnerung sei wiederholt, dass BÜ in Transkript 3-A einen selbst erlebten Fall von negativer Diskriminierung schildert, bei dem er auf das diskriminierende Sprechen des Mehrheitsangehörigen im „Foreigner Talk“ zunächst unmarkiert reagiert. Er versucht, indem er „normal“ spricht, seinem Gegenüber anzuzeigen, dass er a) Deutsch kann und b) dieser sein diskriminierendes Sprechen ändern soll. BÜ s Verhalten hat aber nicht den erwünschten Effekt. Der Mehrheitsangehörige behält seine Sprechweise bei, Migration, Sprache und Rassismus 172 womit er die Robustheit seines Bildes von „Ausländern“ bzw. seiner Intention mit „Ausländern“ umzugehen ausdrückt. Im Folgenden wird zur vereinfachten Rezeption das bereits in Abschnitt 6.1 präsentierte Transkript diesmal in seiner ganzen Länge, also mit BÜ s provozierender Reaktion, fett gedruckt ab Zeile 09, wiedergegeben. Transkript 3-B: du kommen du gehen 01 BÜ: zum beispiel eine erinnerung von mir ↓ * ich 02 BÜ: hab ein auto repariert ↑ von einem ↓ * ich bin 03 BÜ: so dran an dem auto und er ist hinter mir ↑ 04 BÜ: ** er spricht mit mir immer wiederdu 05 BÜ: kommen ↓ du gehen ↓ was machen du ↑ ** ich muss 06 BÜ: das machen ↓ und so [...]und ich sprech mit 07 BÜ: dem ganz normal ja ↓ * ich muss jetzt hörn ↓ 08 BÜ: ich muss das jetzt reparieren ↓ * das kostet 09 BÜ: so und so ↓ * ich muss dazu teile holen ↓ * 10 BÜ: und dannes geht so weiter obwohl ich ihm 11 BÜ: äh so richtich- * also versuche normal zu 12 BÜ: reden ↓ ** [...] und- ** äh dann haw ich so 13 BÜ: ganz pfiffig ihm gesagt * wie langewie 14 BÜ: lange leben sie in deu"tschland ↑ * so ganz 15 BÜ: hart war das ↓ * ich bin deutscher ↓ so 16 BÜ: richtich so-erschüttert war er * dann hat er 17 BÜ: angefangen normal zu reden ↓ Auf die diskriminierende Sprechweise des Mehrheitsangehörigen, du kommen↓ du gehen↓ was machen du↑ (Z. 04-05), reagiert BÜ unmarkiert, indem er sein „normales“ (Z. 07) Deutsch spricht. Der Mehrheitsangehörige behält aber seine Sprechweise bei: es geht so weiter obwohl ich ihm äh so richtich- * also versuche normal zu reden↓ (Z. 10-12). Damit bieten sich für BÜ als einem des Deutschen mächtigen Migranten verschiedene Möglichkeiten an. Zum einen könnte er weiter sein normales Deutsch reden, in der Hoffnung, der Mehrheitsdeutsche möge irgendwann seine Sprechweise ändern. Eine andere Möglichkeit für BÜ könnte darin bestehen, den Mehrheitsangehörigen explizit aufzufordern, seine diskriminierende Sprechweise zu ändern. Der emanzipatorische Stil 173 BÜ entscheidet sich für ein drittes Verfahren, das darin besteht, in ernster und provokativer Weise den Spieß umzudrehen: dann haw ich so ganz pfiffig ihm gesagt * wie langewie lange leben sie in deu"tschland↑ * so ganz hart war das↓ (Z. 12-15). Mit pfiffig bezeichnet BÜ in seinen Worten das Verfahren, Perspektiven umzukehren. Wie wir in Abschnitt 4.4 gesehen haben, wird das Verfahren der Perspektivenumkehrung auch beim Ironisieren von Rassismen angewandt, so z.B. im Rahmen des polit-kabarettischen Stücks „Das Fest des deutschen Mitbürgers“. Der vorliegende Fall wird aber als Provozieren eingestuft, weil BÜ seine Äußerungsmodalität explizit nennt: so ganz hart war das. Bei dieser Interaktion scheint BÜ deshalb auf die „harte“ Modalität zurückzugreifen, da er in dieser Situation einer offensichtlichen negativen Diskriminierung gegenübersteht. Nach Kallmeyer ist die Perspektivenumkehrung das zentrale rhetorische Verfahren des emanzipatorischen Kommunikations- und Handlungsstils, das er wie folgt definiert: ‘Perspektivenumkehrung’ bezeichnet das rhetorische Verfahren, im Rahmen der wechselseitigen Wahrnehmung und Identitätsdefinition von Interaktionsbeteiligten bzw. von sozialen Gruppen das Verhältnis zwischen eigener und fremder Perspektive zu vertauschen und die Fremdperspektive auf sich selbst als Eigenperspektive auf den Anderen zu übernehmen. Das Verfahren zielt darauf, Fremddefiniertheit durch Selbstdefiniertheit zu ersetzen und dabei die Abhängigkeit der Selbstdefinition von den Anderen aufzuheben und ggf. dieses Abhängigkeitsverhältnis in demonstrativer Weise umzudrehen. Perspektivenumkehrung ist insbesondere ein Mittel von indominanten Gruppen/ Minderheiten, um eine selbstbestimmte soziale Identität zu etablieren und dominante Gruppen zur Anerkennung der Minderheitenperspektive als im Prinzip gleichrangig zu veranlassen. (Kallmeyer 2001, S. 401) Die im vorliegenden Fallbeispiel (mit der Äußerung wie lange leben sie in deu"tschland) von BÜ umgekehrte Perspektive von Mehrheitsangehörigen besteht darin, schlechte wie gute Sprachkenntnisse der Migranten oft mit deren Aufenthaltsdauer in Deutschland in Verbindung zu bringen. Aus dieser Perspektive müssten Migranten, die gut Deutsch können, hier geboren sein, und Migranten, die nicht gut Deutsch können, entweder seit kurzem hier oder lernunwillig sein. Darauf rekurriert BÜ , indem er, den Spieß umdrehend, dem Deutschen (der schlechtes Deutsch spricht) unterstellt, entweder seit kurzem in Deutschland oder lernunfähig zu sein. In der Tat hatte sich der Mehrheitsangehörige ja bis zu diesem Punkt der Interaktion als äußerst ‘lernunwillig’ gezeigt: Auf BÜ s „normales“ Deutsch wechselte er seine Sprechweise nicht. Mit der Umkehr von Perspektiven erreicht BÜ , dass er in der Situation die Kontrolle über die Definitionsmacht erlangt. Hatte vorher der Mehrheitsange- Migration, Sprache und Rassismus 174 hörige durch seine Sprechweise BÜ als „Ausländer“, der kein Deutsch kann, kategorisiert, so erreicht BÜ jetzt mit der typischen Frage eines Mehrheitsangehörigen an die Migranten, dass der Mehrheitsangehörige als jemand dasteht, der, weil er kein richtiges Deutsch spricht, erst vor kurzem nach Deutschland gekommen oder lernunwillig sein muss. In dieser neuen Situation, in welcher der Mehrheitsangehörige den Verlust seiner Definitionsmacht registriert, reagiert dieser geschockt: so richtich soerschüttert war er↓ (Z. 15-16). In seinem Schock verbalisiert er einerseits explizit, als was er sich sieht: ich bin deutscher↓ (Z. 15). Auf der anderen Seite steckt in dieser Äußerung implizit, als was er sein Gegenüber BÜ gesehen und behandelt hat: als einen „Ausländer“. Mit anderen Worten offenbart sich in diesem sequenziellen Mikrokosmos der gesamte deutsche Migrationsdiskurs. Denn - auch wenn es der Mehrheitsangehörige nicht wusste - zum Zeitpunkt der Interaktion war BÜ ebenfalls deutscher Staatsbürger. Der Mehrheitsangehörige diskriminiert BÜ also, obwohl dieser „Deutscher“ ist und „normal“ Deutsch spricht, anhand äußerer Merkmale wie Haut- und Haarfarbe (unter Umständen vielleicht auch wegen seines „ausländischen“ Namens). Dadurch gibt der Mehrheitsangehörige zu erkennen, wie er „Deutsch-Sein“ definiert, nämlich ethnisch und nicht über die Staatsbürgerschaft. Das Provozieren von Rassismen mit perspektivenumkehrenden Verfahren ist, wie man sieht, ein sehr effektives Mittel, den Mehrheitsangehörigen die Definitionsmacht über Fragen des „Deutsch-“ und „Ausländer-Seins“ streitig zu machen. Dadurch strahlen die Migranten Selbstbewusstsein, Souveränität, Gewitztheit und Distanz im Umgang mit negativer Diskriminierung aus. Ein nicht unwesentlicher Nebeneffekt kann dabei sein - wie man in der analysierten Passage sieht -, dass man unter Umständen den Mehrheitsangehörigen dazu bringt, sein Verhalten zu ändern. BÜ s Fallgeschichte endet mit einem solchen: dann hat er angefangen normal zu reden↓ (Z. 16-17). Fallbeispiel 2 Beim ersten Fallbeispiel richtete sich das Provozieren an eine konkrete Person in einer Alltagssituation. Das zweite folgende Beispiel illustriert einen Fall des Provozierens, das sich im Rahmen einer öffentlichen Podiumsdiskussion an einen Amtsträger richtet. Darin spießt eine „Unmündige“ die Darstellung des Mannheimer Ausländerbeauftragten auf und kehrt sie in provozierender Weise perspektivisch um. 212 212 Das dritte Fallbeispiel zum Provozieren von Rassismen, das im nächsten Abschnitt analysiert wird, richtet sich nicht an eine konkrete Person, sondern allgemein an die Adresse der Mehrheitsgesellschaft. Siehe dazu die Analyse der Arenadebatte in Abschnitt 6.6. Der emanzipatorische Stil 175 Die Interaktion stammt aus einer öffentlichen Veranstaltung, die von der DIDF - Jugend Mannheim organisiert wurde. DIDF steht für „Föderation demokratischer Arbeitervereine“ und ist eine Dachorganisation von demokratisch-linken, türkischen Migrantenvereinen, der deutschlandweit 35 Ortsgruppen angehören. 213 Die Veranstaltung hatte den Titel „Das kulturelle Leben von Jugendlichen - Alternativen gegen Ghettoisierung“. Auf dem Podium nahmen zwei Mehrheitsangehörige (Vertreter des Stadtjugendrings und der Ausländerbeauftragte) und vier Migranten teil: eine Vertreterin der DIDF -Jugend, ein Mitglied der „Unmündigen“, eine Sozialarbeiterin und ein Vertreter eines moscheenahen Instituts. Im Publikum saßen etwa 50 Zuhörer, wovon der überwiegende Teil Migranten waren. Im Folgenden wird der Verlauf der Veranstaltung nicht näher untersucht. Es soll hier lediglich angeschnitten werden, dass die Arenadebatte auf dem Podium und mit dem Publikum ganz deutlich die Unterschiede zwischen den „emanzipatorischen Migranten“ („Die Unmündigen“) einerseits und den sich ethnisch definierenden demokratisch-linken Migranten ( DIDF -Jugend) andererseits offenbarte. Während die DIDF die Diskriminierung der Migranten in Deutschland nur anschnitt und hauptsächlich gegen die Vereinnahmungspolitik der Türkei und islamistische und nationalistische türkische Gruppierungen argumentierte, behandelten die „Unmündigen“ in ihren Diskussionsbeiträgen ausschließlich alltägliche und institutionelle Rassismen in Deutschland. Diesbezüglich kam es auch zu offenen Konfliktsituationen: Als ein DIDF -Mitglied den Einfluss der türkischen Faschisten auf die Migranten thematisierte, reagierte der „Unmündige“ auf dem Podium mit dem Einwurf, dass ihn die Politik der deutschen Parteien interessiere und nicht die der türkischen. Als Fallbeispiel für das Provozieren von Rassismen werden im Folgenden zwei Diskussionsbeiträge untersucht, von denen der erste vom Ausländerbeauftragten zeitlich etwa in der Mitte der Veranstaltung formuliert wird. Den zweiten Redebeitrag formuliert eine „Unmündige“ zu einem etwas späteren Zeitpunkt der Diskussion, als vom Moderator Wortmeldungen aus dem Publikum zugelassen waren. Im ersten Diskussionsbeitrag erläutert der Ausländerbeauftragte zunächst: Transkript 10: fremdheitserfahrung 01 AB: der aspekt den ich hier mal ansprechen will 02 AB: ist ↑ * das was heidrun mü"ller formuliert 03 AB: hat ↓ * ich hab mir das heute abend spezie"ll 213 Siehe Kücükhüseyin (2002, S. 41) und Jessen (2006, S. 59). Migration, Sprache und Rassismus 176 04 AB: für diese veranstaltung rau"sgezogen ↓ ** 05 AB: ←heidrun müller ist eine ↑ → * äh: * 06 AB: migratio"nsspezialistin [...] sie benutzt 07 AB: ganz konsequent und bewusst den begriff * 08 AB: fre"mdheitskompetenz ↓ →ich will nur mal paar 09 AB: aussagen zitieren ↓ ← (damit) deutlich wird 10 AB: was sie meint ↓ ** sie" äh spricht davon dass 11 AB: man äh die a"nwesenheit von fre"mden * 12 AB: zunächst mal als ←no"rmalität→ * 13 AB: akzeptieren so"ll ↓ * des is=n lernprozess ↓ 14 AB: der daue"rt und der ist teilweise auch 15 AB: schme"rzhaft und- * >da muss man sicherlich 16 AB: einige * Begleit/ äh Rahmenbedingungen * 17 AB: dazu helfen dass das funktioniert ↓ < * e"rst 18 AB: da"nn * wenn das passiert ist ↓ * ka"nn die 19 AB: realität * bewu"sst gestaltet werden ↓ Der Ausländerbeauftragte thematisiert hier zentral den Begriff der „Fremdheitserfahrung“. Er betont, dass er spezie"ll für diese veranstaltung (Z. 03-04) die Arbeit einer „Migrationsspezialistin“ (Z. 06), Heidrun Müller (Name anonymisiert), hervorgeholt habe, in der diese ganz konsequent und bewusst den begriff * fre"mdheitskompetenz↓ (Z. 07-08) verwende. In der Folge zitiert der Ausländerbeauftragte in Form einer kommentierenden Zusammenfassung Heidrun Müllers Konzept. Der Begriff „Fremdheitskompetenz“ meine, dass man äh die a"nwesenheit von fre"mden * zunächst mal als ←no"rmalität→ * akzeptieren soll (Z. 10-13). Die Perspektivierung des Ausländerbeauftragten ist hier relativ eindeutig: Mit „man“ meint er die Mehrheitsangehörigen, die die „Anwesenheit von Fremden akzeptieren“ sollen. Im Folgenden nimmt der Ausländerbeauftragte von Zeile 13 bis 17 einen Einschub in seiner Argumentation vor, indem er auf den Charakter und die Bedingungen des „Akzeptierens von Fremden“ eingeht. Aus seiner Sicht sei „das Akzeptieren von Fremden“ ein lernprozess↓ der daue"rt und der [...] teilweise auch schme"rzhaft [ist] und- * >da muss man sicherlich einige * Begleit/ äh Rahmenbedingungen * dazu helfen dass das funktioniert↓< * (Z. 13-17). Der Ausländerbeauftragte deutet in diesem Einschub keine Veränderung in seiner Der emanzipatorische Stil 177 Perspektivierung an. D.h. er fokussiert nach wie vor die Mehrheitsangehörigen, für die der Lernprozess „schmerzhaft ist“ und denen man „helfen“ muss, damit „das [Akzeptieren von Fremden] funktioniert“. Nach diesem Einschub kehrt der Ausländerbeauftragte wieder zurück zu seiner Argumentation, die das Gelingen des Zusammenlebens von Mehrheits- und Minderheitsgruppen zum Inhalt hat. Seiner Meinung nach kann e"rst da"nn * wenn das passiert ist↓ * ka"nn die realität * bewu"sst gestaltet werden↓ (Z. 17-19). Mit anderen Worten vertritt der Ausländerbeauftragte hier die Meinung, dass das Zusammenleben zwischen Mehrheits- und Minderheitsangehörigen „erst dann bewusst gestaltet werden“ kann, wenn die Mehrheitsangehörigen die „Fremden“ als Normalität akzeptiert haben. Nach dieser Argumentationslogik ist es aber im Umkehrschluss auch möglich, dass die „Realität“ nie gestaltet wird, und zwar dann, wenn die Mehrheitsangehörigen die Migranten als „Fremde“ nie akzeptieren. Zusammenfassend sind zwei Aspekte dieser Argumentation bemerkenswert: Der Ausländerbeauftragte fokussiert hier die Sichtweise der Mehrheitsbevölkerung. Nicht zuletzt seine Benennung der Migranten als „Fremde“ unterstreicht diese Perspektivierung. Dabei vertauscht er die übliche Rollenkonstellation im Mehrheits-Minderheits-Diskurs: Nicht den Migranten soll geholfen werden, sondern den Mehrheitsangehörigen. Im Kontext der Migration zeichnet er die Mehrheitsangehörigen als hilfsbedürftige Menschen, die man bei ihrem Lernprozess, die „Fremden zu akzeptieren“, unterstützen muss. Die Migranten sind in dieser Argumentationsfigur lediglich passive Objekte eines Lernprozesses der Mehrheit. Sie werden als „Fremde“ konstruiert, die akzeptiert werden sollen. Somit werden die bei der Veranstaltung mehrheitlich anwesenden Migranten vom Ausländerbeauftragten nicht als handelnde Akteure angesprochen. Als Mitadressaten der Argumentation wird ihnen lediglich die Aufgabe zugeschrieben, den Lernprozess der Mehrheitsgesellschaft passiv abzuwarten, um dann, wenn überhaupt, die „Realität gestalten zu können“. Als die Diskussionsrunde beginnt und sich das Publikum am Gespräch beteiligen kann, geht die „Unmündige“ KE folgendermaßen auf diesen Beitrag des Ausländerbeauftragten ein: Transkript 11: sie kommen mir fremd vor 01 KE: die frage ist bei mirich muss mich fragen 02 KE: dass [...] sie nennen mich- * sie nennen - - Migration, Sprache und Rassismus 178 03 KE: mich ↑ die ichhie"r in der dritten 04 KE: generation lebe ↓ hier auf die welt gekommen 05 KE: bin↑ äh * fre"md ↓ * ich bin nicht fre"md ↓ * 06 KE: s/ sie" kommen mi"r sehr fremd vor ↑ wenn sie 07 KE: mi"ch ↑ die ich hier auf die welt gekommen 08 KE: bi"n als etwas * exotisches bezeichnen ↓ Der Argumentation des Ausländerbeauftragten hatten die Mitglieder der ethnisch orientierten DIDF oder andere anwesende Migranten nicht widersprochen. Somit ließen sie die Aussage stehen, als „Fremde“ kategorisiert zu werden, die passiv den Lernprozess der Mehrheitsgesellschaft abwarten sollen. Die Einzige, die sich daran stört und widerspricht, ist an dieser Stelle die „Unmündige“ KE . Zu Beginn ihres Beitrags drückt sie ihre Verwunderung gegenüber der Argumentation des Ausländerbeauftragten aus: ich muss mich fragen (Z. 01). Anschließend geht sie personalisierend auf die Fremdkategorisierung der Migranten als „Fremde“ ein: sie nennen mich- * sie nennen mich↑ die ichhie"r in der dritten generation lebe↓ hier auf die welt gekommen bin↑ äh fre"md↓ (Z. 02-05). Als in Deutschland geborene Migrantin in der dritten Generation verweist hier KE zunächst auf die Inadäquatheit der Kategorisierung als „Fremde“ und weist dann aufspießend die Kategorie von sich: ich bin nicht fre"md↓ (Z. 05). Im Folgenden greift sie auf das rhetorische Verfahren der Perspektivenumkehr und die Bearbeitungsform des Provozierens zurück: sie" kommen mi"r sehr fremd vor↑ (Z. 06). Das Kernverfahren, das sie bei ihrer Argumentation an der Stelle anwendet, ist das Umkehren von Perspektiven: Wurden die Migranten vom Ausländerbeauftragten als „Fremde“ kategorisiert, so stellt jetzt sie den Ausländerbeauftragten als „Fremden“ dar, der die soziale Wirklichkeit in Deutschland nicht kennt oder nicht erkennen will. Sie trägt diese rhetorische Figur durch die direkte Adressierung des Ausländerbeauftragten und durch die ernste bis aggressive Modalisierung ihrer Äußerung in einer provozierenden Weise vor. Das Provozieren von KE zeigt an dieser Stelle die Wirkung, dass der ansonsten an diesem Abend sehr diskussionsfreudige Ausländerbeauftragte verstummt. In der Veranstaltung wurden ihm bis zu diesem Zeitpunkt verschiedene Vorwürfe gemacht, auf die er stets reagierte. So kritisierte ihn zum Beispiel ein DIDF -Mitglied dafür, im Rahmen seines Engagements für die Mannheimer Moschee sehr unkritisch mit türkischen Nationalisten umzugehen, worauf er Der emanzipatorische Stil 179 ausführlich einging. Aber auf das Provozieren von KE reagiert er nicht. Dieses Verhalten kann einerseits direkt auf die Wirkung des Provozierens von KE zurückgeführt werden. Da KE nicht einen Nebenaspekt, sondern den Kernpunkt des Arguments („Fremde“) als nicht zutreffend aufspießt und ihrerseits den Ausländerbeauftragten provozierend als „fremd“ bezeichnet, weil er aus ihrer Sicht an der Realität der Migranten vorbei redet, ist für den Ausländerbeauftragten möglicherweise das Schweigen sequenziell die beste aller Reaktionsmöglichkeiten. Das Provozieren kann aber auch indirekt gewirkt haben, indem es den Ausländerbeauftragten dazu bringt, insbesondere über die situative Inadäquatheit seines Arguments zu reflektieren: Sein Argument, das die Migranten als passive „Fremde“ in einem Lernprozess der Mehrheitsgesellschaft darstellt, ist in der konkreten Situation vor allem auch deshalb problematisch, weil das Publikum größtenteils aus Migranten besteht. Im folgenden Abschnitt, in dem ich eine Arenadebatte zwischen den „emanzipatorischen Migranten“ und den „akademischen Europatürken“ untersuche, wird ein drittes Fallbeispiel für das Provozieren von Rassismen analysiert. 6.7 Eine Arenadebatte zwischen den „Unmündigen“ und den „Europatürken“ In den vorhergehenden Abschnitten wurden die einzelnen Bearbeitungsformen und Verfahren des „emanzipatorischen Stils“ anhand von einzelnen Fallbeispielen untersucht. Im Folgenden analysiere ich ein letztes Fallbeispiel für das Provozieren von Rassismen, das aus einer Arenadebatte zwischen den „Unmündigen“ und den „akademischen Europatürken“ stammt. Wie ich in Abschnitt 2.2.2 ausgeführt habe, ist die Analyse von Arenadebatten bei der Untersuchung von Sozialstilen besonders wichtig, da gerade in solchen (öffentlichen) Auseinandersetzungen die Elemente aus dem eigenen alltäglichen Repertoire hervorgehoben werden, die in besonderer Weise zu Merkmalen anderer Welten in Kontrast gesetzt werden können. In Arenadebatten sind die Akteure in erhöhtem Maße mit der Anforderung konfrontiert, die Fremdperspektive der relevanten Anderen berücksichtigend die eigene Perspektive zu konturieren, wobei häufig „symbolisierende Verfahren und explizite Definitionen und Bewertungen von Stilformen vorgenommen werden“ (Kallmeyer 2001, S. 405). So wird in Arenadebatten der jeweilige Stil in seinen markantesten Zügen realisiert und als authentischer „eigener“ bzw. „unser“ Stil demonstriert. In dem Sinne wird in den Arenadebatten „gleichsam ein ideologisches Spotlight auf Stilformen gesetzt“ (ebd.). Migration, Sprache und Rassismus 180 Die im Folgenden präsentierte Arenadebatte ist eine öffentliche Podiumsdiskussion, welche die „akademischen Europatürken“ im Oktober 1997 in Mannheim veranstalteten. Anlass der Diskussion war das zu jener Zeit sehr aufgeregt diskutierte Titelthema „Gefährlich fremd - das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ des Magazins „Der Spiegel“ (Nr. 16/ 14.04.1997). Abb. 2: Titelblatt „Der Spiegel“, Nr.16/ 14.04.1997 Der emanzipatorische Stil 181 Exkurs: „Der Spiegel“, Nr.16/ 14.04.1997 Auf dem Titelbild des „Spiegel“ ist mittig eine junge Migrantin „mit offenem Mund und geschwollener Halsschlagader“ (Butterwegge 2003, S. 398) zu sehen, die eine türkische Fahne schwenkt. Im Hintergrund sind links Mädchen mit Kopftüchern „auf endlos wirkenden Bankreihen einer Koranschule“ (ebd.) und rechts „mit Messern und Tschakos bewaffnete“ (ebd.) Jungen zu sehen. Mit diesen drei Zeichen thematisiert das Bild Nationalismus, Gewalt und Fundamentalismus bei türkischen Migranten, was auch die argumentativen Grundpfeiler des Titelartikels hinsichtlich des „Scheiterns der multikulturellen Gesellschaft“ darstellt. Der einseitige Artikel ist gespickt mit Begrifflichkeiten wie „Fünfte Kolonne der Islamisten“, „Türkenbanden“, „türkischer Terrortrupp“, „Türkenghettos“, „Zeitbomben“ etc. Dabei dient den Redakteuren die 1997 von Heitmeyer und Kollegen veröffentlichte Studie „Verlockender Fundamentalismus - Türkische Jugendliche in Deutschland“ als wissenschaftlicher Beleg ihrer Thesen. Heitmeyer selbst wird im Artikel mit der Aussage zitiert: „Die Konflikte, die einen ethnischen Hintergrund haben, nehmen zu.“ Dass die Studie von Heitmeyer et al. methodisch höchst problematisch ist und deshalb in den Sozialwissenschaften auf berechtigte Kritik stieß, lassen die Autoren unerwähnt (zur Kritik an der Studie siehe u.a. Nikodem et al. 1999, S. 326; Proske/ Radtke 1999, S. 48; Bukow/ Ottersbach 1999, S. 13; Nohl 2001, S. 15ff.). 214 Durch seine provokative These und Aufmachung bestimmte „Der Spiegel“ seinerzeit mehrere Monate lang den öffentlichen Migrationsdiskurs in Deutschland. Auch die „Europatürken“ organisierten eine Veranstaltung, die sich direkt auf den „Spiegel“ bezog: Sie betitelten ihre Podiumsdiskussion mit „Wir sind nicht gefährlich fremd“. Als Diskutanten waren auf dem Podium neben einem Vertreter der „Europatürken“ der Ausländerbeauftragte der Stadt Mannheim, ein türkischstämmiger Politiker (Mitglied des FDP -Bundesvorstands) und ein Mitglied des regionalen deutsch-türkischen Freundschaftskreises vertreten. Wie sich im Laufe der Veranstaltung herausstellte, war diese Zusammensetzung inhaltlich sehr homogen. Alle Podiumsgäste kritisierten die „Spiegel“-Ausgabe aufs Schärfste und betonten das positive Miteinander zwischen Mehr- und Minderheitsangehörigen. Die Veranstaltung wurde erst dann zu einer hitzigen Arenadebatte, als sich vier im Publikum anwesende Mitglieder der „Unmündigen“ rege an der Diskussion beteiligten. 214 Des Weiteren soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass das zentral platzierte Foto der Migrantin „ursprünglich bei den Protestaktionen nach dem Brandanschlag in Solingen aufgenommen [wurde]“ (Çil 2007, S. 148), wobei auf dem Originalbild die junge Frau keine türkische Fahne in der Hand hielt. „Der Spiegel montierte in die erhobene Faust eine türkische Fahne und erhielt dafür eine Geldstrafe von 3000,- DM . Ferner wurde das Magazin dazu verurteilt, diese Ausgabe mit dem besagten Titelblatt aus dem Verkehr zu ziehen“ (ebd.). Migration, Sprache und Rassismus 182 Bei der Analyse der Arenadebatte wird auf den nächsten Seiten folgendermaßen vorgegangen: Zunächst liegt der Fokus auf der Argumentationsweise der „Europatürken“ als Veranstalter. Dann wird die Beteiligungsweise der „Unmündigen“ als Diskutanten aus dem Publikum erfasst. Schließlich gilt die Aufmerksamkeit der zentralen Verdichtungsstelle, wo die kommunikativen Sozialstile der „Europatürken“ und der „Unmündigen“ aufeinanderprallen. 6.7.1 Argumentationsweise der „akademischen Europatürken“ Gleich zu Beginn der Veranstaltung, noch bevor die Podiumsteilnehmer vorgestellt werden, übergibt der Moderator einem „Europatürken“ das Wort, der mit einem Kurzreferat über die „Integration der Türken“ Impulse für die Diskussion liefern soll. Der etwa 15 Minuten lange Vortrag ist für die Erfassung des kommunikativen Sozialstils der „Europatürken“ von zentralem Stellenwert. Zunächst zeigt bereits sein Titel „Integration der Türken“, wie die „Europatürken“ den „Spiegel“-Artikel auffassen, nämlich als Diskriminierung nicht der Migranten allgemein, sondern speziell der ‘Türken’. Der „Spiegel“- Artikel bietet viele Anlässe, dies so zu sehen. Immer wieder ist da von „gewalttätigen“, „kriminellen“, „arbeitslosen“, „islamischen“ etc. „türkischen“ Jugendlichen die Rede, die als Belege für das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft herhalten müssen. In seinem Kurzreferat hält der „Europatürke“ dagegen: Die ersten Türken seien nach 1923 als Angehörige der Elite nach Deutschland gekommen. Von türkischer Einwanderung könne aber erst seit 1961 gesprochen werden. Seit 1980 habe die Mehrheit der Gastarbeiterfamilien aufgegeben, zurückkehren zu wollen, und sich in Deutschland eingerichtet. Für ihre Integration spreche, dass immer mehr Türken sich selbstständig machten, ihr Geld in Deutschland anlegten, verstärkt auf weiterführende Schulen wie Realschule oder Gymnasium gingen und Interesse an der deutschen Politik zeigten. Die Argumentationsfigur der „Europatürken“ zeichnet sich hier dadurch aus, den vom „Spiegel“ veröffentlichten Berichten über Kriminalität und Arbeitslosigkeit der Türken eigene Erfolgsgeschichten gegenüberzustellen. Dabei geht der Referent nicht explizit auf die Thesen des „Spiegels“ ein. Seine Bezugnahme wird indirekt über die positiven Aspekte der „Integration der Türken“ hergestellt. In der sich anschließenden Fragerunde bekommt der auf dem Podium sitzende Vorsitzende Ömer ( ÖM ) der Mannheimer „Europatürken“ die Gelegenheit, die Gruppenperspektive zum Thema weiter auszuführen und zu konturieren. In seinem Redebeitrag sagt Ömer: Der emanzipatorische Stil 183 Transkript 12: wir wollen für uns werben 01 ÖM: guten abend meine damen und herren ↓ ich denk 02 ÖM: au"fschrei ist ein ähmri"chtiges wort da 03 ÖM: zu ↓ weilwir haben in der letzten zeit 04 ÖM: gemerkt ↑ dass die politi"k * die me"dien * 05 ÖM: und die gesellschaft * auf die: * 06 ÖM: ausländischen- →ich sag mal← ni"cht 07 ÖM: deu"tschen i"nländer * rumtrampelt ↓ * [...] 08 ÖM: wir wollen a/ ei/ eigentlich * au"fschrein ↓ 09 ÖM: * ja ↑ wir wollen sagen sto"p ↓ * meh"r dürft 10 ÖM: ihr jetzt nicht mehr machen ↓ we"nn ihr die 11 ÖM: integration wollt ↓ we"nn ihr eine soziale 12 ÖM: gesellschaft wollt ↓ die friedlich 13 ÖM: miteinander lebt ↓ dürft ihr diese politik- * 14 ÖM: nicht weiter betreiben ↓ des is das erste und 15 ÖM: zwei"tens wollen wir für uns werben ↓ * wir 16 ÖM: wollen für uns we"rben ↓ wir wollen sagen ↑ 17 ÖM: →wir sind nicht gefährlich fre"md ← * wir 18 ÖM: haben intere"sse daran mit euch zu leben ↓ * 19 ÖM: des gehtes geht s/ schließlich auch un/ um 20 ÖM: unser leben ↓ ja ↑ Explizit formuliert ÖM an dieser Stelle, aus welchen Erwägungen die „Europatürken“ die Veranstaltung organisieren. Zum einen wollen sie „aufschreien“ (Z. 02) darüber, dass die politi"k * die me"dien * und die gesellschaft * auf den: * [...] nicht deutschen inländern rumtrampelt↓ (Z. 04-07). Wie er etwas später ausführt, stempele die deutsche Mehrheitsgesellschaft die nicht-deutschen Inländer zu Sündenböcken ab, auf denen sie dann rumtrampelt. Der „Aufschrei“ der „Europatürken“ ist aber nicht wuterfüllt. Vielmehr soll er in Richtung der Mehrheitsangehörigen warnend und ermahnend wirken: wir wollen sagen sto"p↓ * meh"r dürft ihr jetzt nicht mehr machen↓ (Z. 09-10). Andererseits verfolgen die „Europatürken“ die Absicht, mit der Veranstaltung für sich zu werben: wir wollen für uns we"rben↓ wir wollen sagen↑ wir sind nicht gefährlich fre"md↓ (Z. 15-17). Während an dieser Stelle nicht ganz Migration, Sprache und Rassismus 184 deutlich wird, ob mit der Perspektivierung durch „wir“ alle Türken oder in der restriktiven Lesart nur die „Europatürken“ gemeint sind, führt ÖM etwas später Folgendes aus: es istein <geringer teil> derkrimine"ll ist↓ denn wir sind auch gegen kriminelle↓ wir wollen ja auchdie kriminalität ni"ch: - * wir wollen ja au"ch fr/ in frieden leben↓. ÖM vollzieht hier eine Trennung zwischen den „kriminellen Türken“, die eine kleinere Gruppe darstellen würden, und der großen Mehrheit der „integrierten Türken“, zu der sich auch die „Europatürken“ zählen. Somit unterstreichen die „Europatürken“, dass sich die Perspektive der „integrierten Türken“ nicht grundsätzlich von der Sichtweise der Mehrheitsgesellschaft unterscheide, da beide, sich von den „kriminellen Türken“ abgrenzend, in frieden leben↓ möchten. 6.7.2 Argumentationsweise der „emanzipatorischen Migranten“ Die „Unmündigen“ melden sich aus dem Zuschauerraum insgesamt fünfmal zu Wort. Zwei Wortmeldungen sind Einwürfe im ersten Teil der Veranstaltung, in dem der Moderator ankündigt, nur die Podiumsgäste zu berücksichtigen. Die drei anderen Redebeiträge der „Unmündigen“, auf die ich im Folgenden eingehen werde, kommen in der vorgesehenen Diskussionsrunde mit dem Publikum vor. Sie zeichnen sich durch scharfe Kritik am Ausländerbeauftragten und eine sich zuspitzende Auseinandersetzung mit den „Europatürken“ aus. Erste Wortmeldung der „Unmündigen“: Die erste Wortmeldung der „Unmündigen“ kommt von JD , die in ihrem Redebeitrag auf zwei Aspekte eingeht: a) auf den Begriff der ‘Integration’ und b) auf die Argumentationsweise des Ausländerbeauftragten. Zu Beginn ihrer Wortmeldung problematisiert sie zunächst den Begriff der Integration, indem sie ihn in Form einer rhetorischen Frage ironisiert: Man könne „zwar eine Einbauküche mit integriertem Kühlschrank“ kaufen, aber was bedeute „Integration“ in Bezug auf „Menschen, die seit vierzig Jahren hier leben? “ JD s Hinterfragung des Begriffs fußt auf einer Definition von ‘Integration’, die die emanzipatorischen Migranten in einem anderen Zusammenhang folgendermaßen zum Ausdruck bringen: „Das Gerede von Integration ist ein Herrschaftsmittel in der Hand der Mehrheitsbevölkerung, womit sie in strategischer Weise über die eigene rassistische Praxis schweigt.“ Mit dieser komplexen Definition von ‘Integrationsdiskursen’ wollen die „Unmündigen“ auf die Tatsache aufmerksam machen, dass Diskurse über Minderheiten in der Regel auf den Begriff der ‘Integration’ rekurrierend den Blick auf die Migranten lenken, statt etwa mit Rekurs auf den Begriff des ‘Rassismus’ die Perspektive auf die - Der emanzipatorische Stil 185 Probleme der Mehrheit zu lenken. Dadurch, dass JD hier nur mit einer rhetorischen Frage den Begriff ‘Integration’ hinterfragt, bleibt ihre Kritik an dieser Stelle implizit. Sie verbalisiert nicht explizit, dass keiner der Podiumsteilnehmer den Begriff kritisiert, oder die „Europatürken“ ihn gar übernehmen und von „integrierten“ vs. „kriminellen“ Türken sprechen. Insofern handelt es sich bei JD s Redebeitrag um den Handlungstyp des Ironisierens der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft. Im zweiten Teil ihres Redebeitrags geht JD auf den Ausländerbeauftragten ein. Zunächst implizit, indem sie darauf verweist, dass auf dem Podium nur einer - nämlich der Ausländerbeauftragte - von „Ausländern“ rede, während die anderen Teilnehmer, wie sie persönlich auch, diesen Begriff ablehnen: weilwir sind keine ausländer das sind wir eigentlich schon lange nicht↓ des waren vielleicht unsere e"ltern in den e"rsten zehn jahrn↓. Mit dieser Stellungnahme unterscheidet sich die „Unmündige“ JD deutlich von der Argumentationsweise der „Europatürken“. Da diese den Ausländerbeauftragten als einen Bündnispartner gegen „ausländer-“ bzw. „türkenfeindliche“ Mehrheitsangehörige sehen, formulieren sie während der gesamten Veranstaltung keine einzige Kritik an die Adresse des Ausländerbeauftragten. Im Gegenteil: Mehrmals beziehen sich Mitglieder der „Europatürken“ auf die Position des Ausländerbeauftragten, indem sie ihn positiv zitieren. Die „Unmündigen“ unterscheiden sich hier von den „Europatürken“, weil sie in der Auseinandersetzung mit Vertretern des negativen Rassismus (in dem Fall der „Spiegel“-Artikel) unter Vertretern des positiven Rassismus (in dem Fall der Ausländerbeauftragte) keinen Bündnispartner sehen. Daher kritisiert JD anschließend den Ausländerbeauftragten auch explizit dafür, immer nur im Konjunktiv über die Diskriminierung der Migranten zu reden: Wenn er die Ausländergesetze kritisiere, was er getan habe, dann müsse er auch glaubhaft rüberbringen, dass er das so meine. Das gelinge ihm aber nicht, wenn er sage, „das Ausländergesetz müsste weg“. Dann solle er schon im Indikativ sagen: <es mu"ss abgeschafft werden↓> nicht es so"llte↓. 215 215 Dieser Vorwurf JD s führt zu forcierenden Aktivitäten seitens des Ausländerbeauftragten. Er redet dazwischen und unterstellt JD , sie wolle ihn sowieso missverstehen. Daraufhin forciert auch JD ihre Beteiligungsweise, indem sie bissig noch einen weiteren Punkt aus der Argumentation des Ausländerbeauftragten aufgreift. Der Ausländerbeauftragte hatte die zahlreich anwesenden Migranten aufgefordert, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, die in ihrem Fall - akademische Migranten der zweiten Generation - kein Problem darstellen müsste. Darauf reagiert JD , indem sie sagt: sie haben ja auch das problem mit äh: dem *←ausländer*status→ seh"r gut gelöst↓ wir gehen jetzt alle nach hause- * wir beantragen die deutsche staatsangehörigkeitwir bekommen die auchnur äh * i"st der rassismus wi"rklich weg↑. Migration, Sprache und Rassismus 186 Zweite Wortmeldung der „Unmündigen“: Der zweite Diskussionsbeitrag der „Unmündigen“ kommt von KA . Während sich JD in ihrem Beitrag auf den Ausländerbeauftragten konzentrierte, thematisiert KA die Argumentationsweise der „Europatürken“. Er problematisiert den Titel der Veranstaltung, für den sich die „Europatürken“ entschieden haben. Es sei keine gu"te antwort auf den spiegel einfach zu sagen wir si"nd nicht gefährlich fremd↓. Denn auch die „kriminellen“ Jugendlichen seien Menschen, die, weil sie in Deutschland geboren seien und lebten, hierher gehörten. Da diese Menschen nicht deshalb „kriminell“ würden, weil es ihnen als ‘Türken’ in den Genen stecke, sei es keine gute Antwort der „Europatürken“, sich von ihnen distanzieren zu wollen. Das Problem Rassismus könne man nicht lösen, indem man sagt: die ausländer sind so und soviel in der wirtschaft äh mitbeteiligt also <gründen unterneh"men> und äh und sind ja <gu"te nachbarn>↑ so lösen wir das problem ja auch nisch →also wir müssen einfach sagen← dass es=n deu"tsches problem ist↑ dass die kriminalität hie"r existiert↑. KA verdeutlicht hier den Unterschied im Umgang mit Rassismen, der die „emanzipatorischen Migranten“ von den „Europatürken“ unterscheidet. Aus Sicht der „emanzipatorischen Migranten“ ist dem Rassismus nicht damit beizukommen, dass man in der Logik des Rassismus argumentiert. Auffällig ist an dieser Stelle KA s Verwendung des Subjektpronomens „wir“. Er perspektiviert die Position der „emanzipatorischen Migranten“ nicht ausschließend. Im Gegensatz zur Verwendung des Pronomens bei den „Europatürken“, die zu Beginn der Veranstaltung deutlich gemacht haben, mit „wir“ nur die „integrierten“ Migranten zu meinen, die sich scharf von den „Kriminellen“ abgrenzen, verwendet er „wir“ in einschließender Form. D.h. das Pronomen umfasst alle Migranten, die aus der Mehrheitsperspektive als „Ausländer“ bezeichnet werden. Damit fassen die „emanzipatorischen Migranten“ den negativen Rassismus des „Spiegels“ als eine Diskriminierung aller Migranten auf. 6.7.3 Kommunikative Sozialstile im Schlagabtausch Bis zu dem Zeitpunkt, als der „Unmündige“ KA seinen Diskussionsbeitrag formulierte, fand keine direkte Auseinandersetzung zwischen den „Unmündigen“ und den „Europatürken“ statt. Mit der Kritik KA s an den „Europatürken“ bricht diese nun offen aus und kommt insbesondere in zwei Redebeiträgen zum Ausdruck. Zunächst reagiert im direkten Anschluss der auf dem Podium sitzende „Europatürke“ ÖM auf die Kritik. - Der emanzipatorische Stil 187 Transkript 13: aus dieser zwangsjacke befreien 01 ÖM: wir le"ben in dieser gesellschaft ↓ * ja ↑ 02 ÖM: un=wenn dieses problem an einer mi"nderheit 03 ÖM: festgemacht wird ↑ * finden wi"r esri"chtig 04 ÖM: uns aus dieser zwangsja/ jacke zu befreien 05 ÖM: [...]deswegen wollen wir gra"d deswegen 06 ÖM: sagen ↑ dieses problem könnt ihr auf uns 07 ÖM: nicht fixieren ↓ * ja ↑ * des des=is praktisch 08 ÖM: wie=n befreiung/ * äh: schlag ↓ Zwei Diskussionsbeiträge später bezieht sich wiederrum der „Unmündige“ SM auf diesen Diskussionsbeitrag des „Europatürken“ ÖM . Transkript 14: ihr seid gefährlich fremd 01 SM: aus den ganzen au"ssagen hier geht doch 02 SM: eigentlich hervor dass es kein 03 SM: mi"nderheitenproblem ist die gefährlich 04 SM: fremd ist sondernein meh"rheitenproblem 05 SM: die gefährlich fremd ist ↓ * [...] ich denke 06 SM: des sollte ↑ * sozusagen ↑ * der 07 SM: befrei"ungsschlag sein ↓ * nicht dass 08 SM: man sozusagen * ähm äh ne negativ 09 SM: formulierung draus macht ↑ wir sind ni"cht 10 SM: gefährlich fremd ↓ sondern sagt ↑ * ih"r seid 11 SM: gefährlich fremd ↓ * de"s wär=n 12 SM: befreiungsschlag meiner meinung nach ↓ Vor diesen beiden Diskussionsbeiträgen (Transkript 13 und 14) hatten sich wie ausgeführt zwei distinktive Argumentationsstile der „Europatürken“ und der „Unmündigen“ herauskristallisiert, auch wenn sich Akteure der beiden Gruppen bis zu diesem Zeitpunkt nicht explizit aufeinander bezogen. Die Argumentation der „Europatürken“ bestand darin, die große Mehrheit der türkischen Migranten in Deutschland als integriert zu bezeichnen, um so Diskriminierungshandlungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft als unbegründet darzustellen. Gegenüber den „kriminellen“ Migranten bezogen sie eine ähn- Migration, Sprache und Rassismus 188 liche Position wie die Mehrheitsgesellschaft: „Denn wir sind auch gegen Kriminelle.“ Insbesondere diese Meinungsäußerung bewog den „Unmündigen“ KA zu seiner Kritik, dass die Abschiebung der „kriminellen“ Migranten auch als Diskriminierung aufzufassen sei, da diese als in Deutschland geborene Jugendliche ebenfalls hierher gehörten. Darauf reagiert nun ÖM in Transkript 13. ÖM wiederholt in seiner Antwort auf die Kritik des „Unmündigen“ KA die Position der „Europatürken“. Seine soziale Positionierung (Wolf 1999) bleibt aber in diesem Diskussionsbeitrag verdeckt. Er verbalisiert nicht explizit, wen er mit dem Personalpronomen „wir“ meint: wir le"ben in dieser gesellschaft↓ * ja↑ un=wenn dieses problem an einer mi"nderheit festgemacht wird↑ * finden wi"r esri"chtig uns aus dieser zwangsja/ jacke zu befreien (Z. 01-04). Im Anschluss an seine früheren Wortmeldungen kann an dieser Stelle angenommen werden, dass mit dem „wir“ die Gruppe der „integrierten“ Türken oder in einem noch engeren Sinne die Gruppe der „Europatürken“ selbst gemeint ist. Unabhängig von dieser Frage kann man festhalten, dass er die von ihm gemeinte Gruppe als Opfer stilisiert, die sich aus der Zwangsjacke „Ausländerkriminalität“ befreien will. Im Folgenden geht ÖM auf die Kritik KA s ein, den Titel der Veranstaltung nur als Negation des „Spiegel“-Artikels formuliert zu haben. Dabei nimmt er im Vergleich zu seiner vorherigen Formulierung eine eindeutige soziale Positionierung vor: deswegen wollen wir gra"d deswegen sagen↑ dieses problem könnt ihr auf uns nicht fixieren↓* ja↑ * des des=is praktisch wie=n befreiung/ * äh: schlag↓ (Z. 05-08). Für die „Europatürken“ ist es, wie ÖM an dieser Stelle formuliert, „richtig“ zu sagen, dass das Problem der Kriminalität von einigen Migranten nicht auf die Gesamtgruppe der Minderheitsbevölkerung übertragen werden kann. In diesem Sinne verteidigt er den Titel der Veranstaltung („Wir sind nicht gefährlich fremd“) als einen „Befreiungsschlag“. Zwei Diskussionsbeiträge später meldet sich als letzter „Unmündiger“ in der Veranstaltung SM zu Wort (Transkript 14), indem er sich auf ÖM s Beitrag bezieht. Vor SM s Wortmeldung wurde bereits in den vorherigen Diskussionsbeiträgen der „Unmündigen“ deutlich, dass die „emanzipatorischen Migranten“ sich bei der Debatte ausschließlich auf den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft konzentrieren. Denn aus ihrer Perspektive existiert der Rassismus unabhängig vom Verhalten oder Integrationsgrad der Migranten und stellt so das größte Problem im Miteinander von Mehrheit- und Minderheitsangehörigen dar. Diese Argumentationsweise und die gesamte Veranstaltung zusammenfassend hält SM zunächst fest: aus den ganzen au"ssagen hier geht doch eigentlich hervor dass es kein mi"nderheitenproblem ist die gefährlich fremd Der emanzipatorische Stil 189 ist sondernein meh"rheitenproblem die gefährlich fremd ist↓ * (Z. 01-05). Zu der Diskussionsveranstaltung luden die „Europatürken“ ausschließlich Personen ein, die alle die negative Diskriminierung der Migranten in dem „Spiegel“-Artikel verurteilten. In diesem Sinn fasst SM die Veranstaltung zusammen, wenn er sagt, dass für die Anwesenden nicht die „Minderheiten ein Problem“ darstellen, die „gefährlich fremd“ sind. In der Art der emanzipatorischen Migranten hält er dann im Umkehrschluss fest, dass die Diskriminierung ein „Mehrheitenproblem“ ist. In dieser Argumentationslogik geht SM im Weiteren auf den Diskussionsbeitrag ÖM s ein, indem er an den „Europatürken“ kritisiert, dass ein „Befreiungsschlag“ gegen den Rassismus nicht darin bestehen könne, die diskriminierende Äußerung lediglich zu negieren: der befrei"ungsschlag [sollte] sein↓ * nicht dass man sozusagen * ähm ne negative formulierung draus macht ↑ wir sind nicht gefährlich fremd↓. (Z. 06-10). Die Strategie der „Unmündigen“ ist in so einem Fall, die Perspektiven umzukehren und provokativ den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft zu entlarven: sondern sagt↑ * ih"r seid gefährlich fremd↓ * de"s wär=n befreiungsschlag meiner meinung nach↓ (Z. 10-12). 6.8 Zusammenfassung Insbesondere die zuletzt analysierte Arenadebatte macht die charakteristischen Handlungstypen deutlich, die die „emanzipatorischen Migranten“ in ihrem Umgang mit Rassismen von den „akademischen Europatürken“ unterscheidet. Während die „Europatürken“ auf den diskriminierenden „Spiegel“-Artikel („Gefährlich fremd“) moderat und korrigierend eingehen („Wir sind nicht gefährlich fremd“), drehen die „emanzipatorischen Migranten“ den Spieß um und attackieren provozierend solche expliziten Formen des Rassismus („Ihr seid gefährlich fremd“). An dieser Stelle lässt sich der kommunikative Sozialstil der „akademischen Europatürken“ im Hinblick auf die Bearbeitung von Rassismen folgendermaßen zusammenfassen: Teilübernahme der Mehrheitsperspektive: Die „Europatürken“ definieren sich selbst ethnisch als ‘Türken’. Durch diese Kategorisierung tragen sie einerseits zur Aufrechterhaltung der Trennung in „Wir“ (‘Türken’) und „Ihr“ (‘Deutsche“) bei. Andererseits versuchen sie durch Teilübernahme der Mehrheitsperspektive Anknüpfungspunkte zwischen den beiden Gruppen herzustellen. Die Aus- und Abgrenzung gegenüber „kriminellen Türken“ ist aus ihrer Sicht eine Ge- - Migration, Sprache und Rassismus 190 meinsamkeit der beiden Gruppen, deren beider Wunsch nach „friedlichem“ Leben durch die „nicht-integrierten Türken“ gestört werde. Insofern betrachten sie den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft als von Teilen der Minderheitsbevölkerung selbstverschuldet. Stilisieren der Eigengruppe als Opfer pauschaler Diskriminierung: Wenn die „Europatürken“ auf Fälle wie den analysierten „Spiegel“-Artikel treffen, in denen die aus ihrer Sicht „integrierten Türken“ ebenso von Rassismen betroffen sind, wird die Eigengruppe als Opfer von undifferenzierter und pauschaler Diskriminierung stilisiert. Das zentrale Element der Opferstilisierung besteht darin, der Mehrheitsgesellschaft vorzuhalten, dass sie vor den vielen Integrationserfolgen der türkischen Migranten die Augen verschließen und sie stattdessen als Sündenböcke für gesamtgesellschaftliche Probleme verwenden würde. Werben für die Eigengruppe: Die „Europatürken“ zählen sich zu der Gruppe von türkischen Migranten, die in Deutschland unauffällig und integriert leben. Um Diskriminierungsfällen vorzubeugen, betrachten sie es als ihre Aufgabe, auf die vielen positiven Beiträge der türkischen Migranten aufmerksam zu machen. Dabei heben sie insbesondere ihre Eigengruppe der gebildeten und erfolgreichen „Europatürken“ als Mittler zwischen den Welten hervor. Der Eigenwerbung und Mittlerfunktion versuchen sie zu entsprechen, indem sie inhaltlich und in der Tonlage nicht aufspießend bis provokativ, sondern mahnend bis moderat auftreten. Dagegen kommen im Repertoire der „emanzipatorischen Migranten“ keine dieser Handlungstypen vor. Für ihren kommunikativen Sozialstil ist charakteristisch, dass sie Rassismus als strukturelles Herrschaftsinstrument der Mehrheitsgesellschaft betrachten, das unabhängig vom Verhalten der Migranten wirksam ist bzw. eingesetzt wird. Deshalb unterscheiden sie weder zwischen „integrierten“ und „nicht-integrierten“ Migranten, noch heben sie die Leistungen der „integrierten“ Migranten hervor. Auf Opferstilisierungen verzichten sie explizit, da sie sich nicht als lamentierende, sondern als schlagfertige politische Migranten begreifen, die den Finger nicht auf die Wunde der Minderheit(en), sondern auf die der Mehrheitsgesellschaft, sprich deren Rassismus, legen. Dabei sind für ihren Umgang mit ethnischer Diskriminierung die in diesem Kapitel analysierten Handlungstypen des Aufspießens, Ironisierens und Provozierens von Rassismen kennzeichnend: - - Der emanzipatorische Stil 191 Das Aufspießen von Rassismen: Dieser Handlungstyp ist quasi die Basishandlung der „emanzipatorischen Migranten“, mit der sie Fälle von impliziten und/ oder positiven Rassismen offenlegen. Das Ironisieren und Provozieren von Rassismen sind die beiden Handlungstypen, die oftmals auf das Aufspießen folgen. Das Ironisieren von Rassismen: Für das Ironisieren entscheiden sich die „emanzipatorischen Migranten“ häufig dann, wenn sie Fälle von impliziten/ positiven Rassismen bearbeiten. Da bei solchen Formen der Ausgrenzung der diskriminierende Kern einer Handlung nicht (immer) offen zu Tage tritt, stellt für die „emanzipatorischen Migranten“ das Ironisieren als eine indirekte Bearbeitungsmodalität die adäquate Reaktionsweise dar. Wie die Fallanalysen in der gruppeninternen Kommunikation zum Ausdruck bringen, macht das Ironisieren den „Unmündigen“ Spaß. Der Unterhaltungsfaktor unterstreicht auch die Haltung der „Unmündigen“, gegenüber diversen Formen der Diskriminierung nicht mit Betroffenheitsbekundungen zu reagieren. Vielmehr drücken sie damit emotionale Distanz, Situationskontrolle und Souveränität aus. Das Provozieren von Rassismen: Bei Fällen von expliziter und negativer ethnischer Diskriminierung greifen die „emanzipatorischen Migranten“ auf den Handlungstyp des Provozierens zurück. Hier stehen Aktion und Reaktion in enger Verbindung zueinander. Mit anderen Worten reagieren die „Unmündigen“ auf explizite/ negative Rassismen ebenso ungeschminkt, direkt und scharf, eben provozierend. - - - 7. Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene Sozialwelten unterscheiden sich durch mehrere kommunikative und soziale Eigenschaften voneinander. Im Falle von migrantischen Formationen gehören insbesondere zwei Bereiche zu den Ebenen, die als stilunterscheidend aufzufassen sind: die spezifischen Bearbeitungsweisen von Diskriminierungsaspekten, wie sie im vorhergehenden Kapitel untersucht wurden, und der Umgang der Beteiligten mit ihren sprachlichen Ressourcen, was in diesem Kapitel analysiert wird. Im Folgenden werde ich zunächst in Abschnitt 7.1 zentrale Konzepte und Forschungsergebnisse der interpretativen Soziolinguistik zur Sprachwahl und -variation besprechen. Danach werde ich auf die linguistische Forschung zur Sprachwirklichkeit der ‘türkischen’ Migranten in Deutschland eingehen. Im Anschluss werde ich in Abschnitt 7.3 meine empirischen Analysen zur Sprachpraxis der „emanzipatorischen Migranten“ präsentieren, die ich abschließend in Kontrast zum Sprachverhalten der „akademischen Europatürken“ setzen werde. 7.1 Analytische Grundlagen aus der interpretativen Soziolinguistik Die Untersuchung von Sprachwahl- und Variationsaspekten hat in der Soziolinguistik eine lange Tradition. Seit der Etablierung der Disziplin vor sechs Jahrzehnten haben verschiedene Forschungsansätze Erkenntnisse von unterschiedlicher Reichweite zu Tage gefördert: a) Sprachsoziologische Arbeiten analysieren mit Konzepten wie ‘Diglossie’ (Ferguson 1959) oder ‘Domäne’ (Fishman 1965, 1972) die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit bzw. die sozialen Situationsfaktoren, welche spezifische Formen der Sprachwahl und -variation bestimmen; 216 b) anthropologische Ansätze in der Tradition der 216 Nach Fergusons Konzept der Diglossie wird eine „H(igh)“-Varietät (oftmals die Standard- oder Mehrheitssprache) in formellen und eine „L(ow)“-Varietät (oftmals Dialekte oder Minderheitensprachen) in informellen Kontexten gebraucht. Fishman entwickelte Fergusons Ansatz weiter, indem er sein Konzept der Domänen formulierte. Nach Fishman ist das gesellschaftliche Leben differenzierter zu betrachten, da auch Unterschiede in Bezug auf das Sprachverhalten zwischen einzelnen formellen und informellen Situationen gemacht werden müssen. In diesem Sinne versteht Fishman unter Domäne eine „spezifische Konstellation von außersprachlichen Faktoren wie etwa Teilnehmerrollen, Interaktionsort und Thema“ (Pütz 1994, S. 41), die als situative Einflussgrößen die Verwendung einer bestimmten Sprache bzw. Sprachlage vorstrukturiere. Als wichtige Domänen nach Fishman gelten Migration, Sprache und Rassismus 194 „Ethnografie der Kommunikation“ (Gumperz/ Hymes (Hg.) 1964, 1972) untersuchen Kommunikations- und Variationsstrukturen auf der gesellschaftlichen Mesoebene wie in einzelnen Gemeinden und soziokulturellen Gruppen; und schließlich wird c) auf der Mikroebene mit dem konversationsanalytischen Ansatz (Auer 1984) die Verwobenheit der Sprachwahl und Variationsaspekte mit sequenziellen Interaktionsstrukturen analysiert. Für die Untersuchung des kommunikativen Repertoires sozialer Einheiten sind insbesondere die beiden zuletzt genannten Ansätze von Relevanz, auf die ich im Folgenden eingehen möchte. Gumperz zählt mit seinen zahlreichen ethnografischen Feldstudien zu den wichtigsten Initiatoren der interpretativen und interaktionalen Soziolinguistik. Insbesondere mit seiner Arbeit zur Sprachvariation in der norwegischen Stadt Hemnesberget, die er zusammen mit Blom durchführte, hat er innerhalb der Soziolinguistik das Paradigma der „Code-Switching-Forschung“ (mit-)konstituiert. 217 Die Studie ist die Pionierarbeit, die a) die Sprachvariation als kreative Strategie von Interaktionsbeteiligten und b) die Bedeutung von Sprachvariationsmustern als Ausdruck der sozialen Orientierung von Sprechern unterstreicht. In ihrer Arbeit halten Blom/ Gumperz (1972) zunächst fest, dass alle Bewohner der Gemeinde in ihrem linguistischen Repertoire 218 mehr oder wenietwa Familie, Freundeskreis, Schule, Arbeit, Religion etc. Zu einer Kritik dieser beiden Ansätze, die den bilingualen Sprachgebrauch mehr oder weniger als Reflex übergeordneter Gemeinschaftsnormen betrachten, siehe z.B. Schütze (1975, S. 103ff.) und Auer (1995b, S. 117ff.). 217 So schreibt Myers-Scotton (1993b, S. 46) dazu: „One can date current interest in CS [Code- Switching, m.A.] from the 1972 publication of a study by Jan Blom and John Gumperz in a collection of readings on sociolinguistics [...]. Blom and Gumperz (hereafter B & G) deal, not with CS between languages, but with CS between dialects [...]. The article, however, stimulated a flood of investigation of CS between languages. [...]. In many ways, the 1972 B & G article, [...], established Gumperz as the most influential figure in discussions of the social motivations for CS in the 1970s and 1980s.“ 218 Nach Gumperz (1972, S. 20) umfasst das linguistische Repertoire die „totality of linguistic resources (i.e., including both invariant forms and variables) available to members of particular communities“. Das Konzept wurde in den 1960ern im Rahmen anthropologischer Feldstudien als Antwort auf die Feststellung entwickelt, dass „the linguist's grammatical analysis seldom matches verbal behavior of actual populations“ (ebd.). Da der Ansatz Sprachen, Dialekte etc. nicht als gegeben betrachtet, sondern analysiert, in welcher Form diese in der konkreten Interaktion gebraucht werden, eignet er sich insbesondere für die Fälle von Sprachverwendung, bei denen Elemente aus unterschiedlichen Sprachlagen oder Sprachen im syntagmatischen Fluss alternierend verwendet werden und für die Sprecher einen eigenen Code darstellen. Zum linguistischen Repertoire siehe auch Dittmar (1997, S. 137ff.) und zur Analye des Repertoires im Standard-Dialekt-Kontext siehe Knöbl (i.Vorb.). Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 195 ger über zwei Codes verfügen: den lokalen Dialekt Ranamål und die norwegische Standardsprache Bokmål (ebd., S. 411). Die Analyse von verschiedenen Gruppengesprächen zeigt jedoch, dass Sprecher mit unterschiedlicher sozialer Orientierung die Codes in der Interaktion auch unterschiedlich verwenden. Die Ortsloyalen sprechen in der gruppeninternen Kommunikation fast durchgängig Dialekt, mit nur einigen wenigen lexikalischen Elementen aus der Standardsprache (ebd., S. 431). Eine Gruppe von Studenten, die sich seit einigen Jahren nur in den Semesterferien im Ort aufhält und sich sozial durch eine bidirektionale Orientierung auszeichnet (Ortsloyalität und Loyalität gegenüber Pan-norwegischen Werten), zeigt auch in ihrer gruppeninternen Kommunikation ein häufiges Wechseln zwischen Dialekt und Standard. 219 Schließlich erfassen die Autoren eine dritte lokale Gruppe, deren Orientierung außerhalb der Kleinstadt auf die städtische Mittelschicht gerichtet ist, die in der gruppeninternen Kommunikation die Standardvarietät spricht und Dialekt nur für besondere kommunikative Effekte verwendet, wie etwa bei Erzählungen ortsbezogener Anekdoten (ebd., S. 431, 434). 220 Die Studie von Blom/ Gumperz wurde in der Folgezeit häufig rezipiert, was vor allem an zwei Beschreibungskategorien lag, die die Autoren zur Einordnung der Sprachalternationsmuster entwickelt haben: „metaphorisches“ und „situatives Code-Switching“. Mit „situativem Code-Switching“ beschreiben Blom/ Gumperz die Variationsfälle, die eine Änderung der Situationsdefinition indizieren (Blom/ Gumperz 1972, S. 424). Dagegen erfassen die Autoren mit dem Konzept des „metaphorischen Code-Switching“ alle die Sprachalternatio- 219 Eine interessante Notiz der Autoren ist, dass die Angehörigen dieser Gruppe entgegen ihrer kommunikativen Praxis des häufigen Wechselns zwischen den Sprachlagen im Interview mit dem Forscherteam aussagten, dass sie reine Dialektsprecher seien (Blom/ Gumperz 1972, S. 428). Manche Interviewte, denen im Nachhinein die Tonbandaufnahmen vorgespielt wurden, zeigten sich daher überrascht. Blom/ Gumperz erklären die Fehlschätzung damit, dass Codewahlregeln, wie die Grammatik, unterhalb der Bewusstseinsebene wirken und unabhängig von Sprecherintentionen sein können (ebd., S. 430). Auf solche Fälle von Diskrepanz zwischen gemeinter und tatsächlicher Sprachverwendung wird in der soziolinguistischen Literatur häufiger verwiesen, so dass für empirische Studien die Dokumentation und Analyse der tatsächlichen Sprachverwendung unerlässlich sind. 220 Später hat Gumperz (1982) bezogen auf Mehrheit-Minderheit-Konstellationen die Sprache(n) der Minderheit (aus der Perspektive der Minderheitsangehörigen) als „we-code“ und die Sprache(n) der Mehrheit als „they-code“ beschrieben. In der Folge wurde diese Sichtweise aber als zu statisch kritisiert, da es auch innerhalb der Minderheitenpopulation verschiedene Gruppen gibt, die unter Umständen die Sprache der Mehrheit als „we-code“ verwenden (siehe zu Kritik an diesem Konzept z.B. Auer 1984). Ich möchte nur darauf verweisen, dass auch Gumperz diese Dichotomie problematisierte und nicht auf alle mehrsprachigen Situationen in gleichem Maße übertrug (siehe dazu Gumperz 1982, S. 82). Migration, Sprache und Rassismus 196 nen, die im Rahmen eines Aktivitätskomplexes vorkommen und somit keine Änderung der Situationsdefinition auslösen. 221 Diese Perspektive auf Sprachalternation als eine interaktiv-sozial bedeutsame Kommunikationspraxis stellte zum damaligen Zeitpunkt eine ganz neue Betrachtungsweise des Gegenstands dar. Zuvor wurde in Bezug auf Code-Switching häufig von einem idealen bilingualen Sprecher ausgegangen (Weinreich 1953) oder man ging so weit, das Wechseln zwischen Sprachen bzw. Sprachlagen als eine „unregelmäßige Mixtur“ (Labov 1971) ohne jede Systematik zu betrachten, wie aus den folgenden zwei Zitaten hervorgeht. The ideal bilingual changes from one language to the other according to appropriate changes in the speech situation (interlocuter, topic etc.), but not in an unchanged speech situation and certainly not within a single speech situation. (Weinreich 1953, S. 73) In fact, bilingual speakers do produce strange mixtures of the two languages, [...]. So far, however, no one has been able to show that such rapid alternation is governed by any systematic rules or constrains, and we therefore must describe it as the irregular mixture of two distinct systems. (Labov 1971, S. 457) Bezogen auf das letzte Zitat von Labov konnten also Blom/ Gumperz in ihrer Studie aufzeigen, dass das Alternieren zwischen Sprachen bzw. Sprachlagen nicht als eine „eigenartige“ bzw. „unregelmäßige Mixtur“ aufzufassen ist, sondern spezifische Formen der Variation eine ganz bestimmte soziale Orientierung der Sprecher zum Ausdruck bringen (können). 222 In der Folge arbeitete 221 Zwei Jahrzehnte später definiert Gumperz (1994, S. 623) die beiden Konzepte wie folgt: „Man kann zwei Arten von Code-Switching unterscheiden, situatives und metaphorisches. Situative Wechsel markieren eine Eins-zu-Eins-Relation zwischen einem bestimmten Aktivitätskomplex und der Varietätenwahl, so daß die Veränderung von einer Varietät zu einer anderen zugleich eine Veränderung des sprachlichen Aktivitätskomplexes anzeigt. So ist z.B. oft beobachtet worden, daß die Ortsbewohner [von Hemnesberget, m.A.] zum lokalen Verwaltungspersonal im Standard sprechen, manchmal aber die beiden Interaktanten auch „beiseite treten“ und zum Dialekt übergehen. Auf Grund des Code-Switching wurde die Art ihrer Interaktion als informell redefiniert. Von metaphorischen Wechseln sprechen wir, wenn eine Veränderung im Variablenbereich innerhalb von Wörtern, Syntagmen oder Sätzen auftritt und wenn diese Variation nachweislich kommunikativ bedeutsam ist, obwohl der Aktivitätskomplex derselbe bleibt. [...] Der Wechsel zur anderen Varietät dient einer kommunikativen Funktion ähnlich dem Stilwechsel in einsprachigen Situationen, d.h., der Wechsel hebt die fragliche Einheit hervor und verleiht ihr besondere interpretative Bedeutsamkeit als mehr oder weniger formell, ernst, emphatisch usw. als das umgebende Sprechen.“ Des Weiteren sei hier angemerkt, dass Gumperz z.B. in seiner Monografie „Discurse Strategies“ (1982) vom „konversationellen“ statt vom „metaphorischen Code-switching“ spricht. 222 In Bezug auf die negative Haltung, die wie in den Zitaten von Weinreich und Labov in jener Zeit gegenüber Code-Switching-Praktiken formuliert wurde, und die (positive) Hervorhe- Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 197 Gumperz (1982) seinen interpretativ-soziolinguistischen Ansatz zur Sprachvariation weiter aus, indem er neben den gruppenspezifischen bzw. den sozialweltlichen Funktionen des Code-Switching a) auf der Ebene des Diskurses verschiedene Funktionen von Sprachalternationen beschrieb und b) seine Theorie der Kontextualisierung entwickelte. Bei der Kontextualisierungstheorie geht Gumperz (1982, S. 130ff.) davon aus, dass Makro- oder Mikrokontexte von sozialen Situationen nicht einfach gegeben sind, sondern von den Akteuren hergestellt, bestätigt oder auch verändert werden. Bei Gesprächen zeigen die Beteiligten in lokal-sequenziellen Äußerungen bis hin zu - zum Teil relativ festgelegten - situativen Rollen jederzeit an, in welchem Sinne, d.h. in welchem Kontext ihre Äußerungen und ihre Beteiligungsweisen zu verstehen sind. Das Indizieren von Kontextbezügen stellen sie durch Hinweise dar, die sowohl verbale als auch nonverbale Elemente umfassen. Als eine der verbalen Kontextualisierungsmittel bezeichnet Gumperz das Wechseln zwischen Sprachen und Sprachlagen. Anders ausgedrückt können die Beteiligten mit Hilfe des Kontrasts, der durch das Wechseln von einem linguistischen Code zum anderen entsteht, anzeigen, in welchem Kontext ihre Äußerung zu verstehen ist. In dem Sinne spricht er davon, dass durch einen Codewechsel eine Änderung von Interaktionsrollen, Modalitäten, Themen etc. kontextualisiert wird bzw. werden kann. 223 In Bezug auf einzelne konversationelle Funktionen des Code-Switchings auf der Diskursebene zählt Gumperz (1982, S. 75ff.) folgende Fälle auf: Sprachwechsel a) zur Markierung von direkter vs. indirekter Rede bzw. von Zitaten; b) zur Markierung von Haupttext vs. Diskurspartikel bzw. Interjektionen; c) zur Spezifizierung des Adressaten einzelner Äußerungen; d) zur Qualifizierung von Äußerungen hinsichtlich ihrer Informationsstruktur, z.B. zwischen Thema und Rhema; e) bei Wiederholungen einzelner Elemente zur Betonung, bung des Code-Switching seitens Blom/ Gumperz schreibt Myers-Scotton (1993b, S. 48): „Thanks to such attitudes (and non-attitudes) toward CS before B & G [Blom/ Gumperz, m.A.], few linguists may have even noticed CS . To take a personal example, even though I was doing field work intermittently from 1964 to 1973 on language use in African multilingual communities, I never recognized CS as a special phenomenon until 1972.“ Zur Kritik an Labovs Position gegenüber Code-Switching siehe auch Gumperz (1982, S. 70ff.). Außerdem sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass angeregt durch die Arbeiten von Gumperz in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten auch grammatische Modelle und Theorien entwickelt wurden, die die Regelhaftigkeit bei einem Großteil der Sprachwechselphänomene auf morpho-syntaktischer Ebene erklären konnten (Poplack 1980; Myers-Scotton 1993a; u.a.). 223 Zum Konzept der Kontextualisierung siehe u.a. Auer (1986) und Schmitt (1993). Migration, Sprache und Rassismus 198 Hervorhebung, Klärung etc., und schließlich f) zwischen Äußerungsstrukturen, in denen Informationen personalisiert vs. objektiviert dargestellt werden, also etwa zwischen Passagen, die die persönliche Meinung einerseits und objektive Wissenselemente andererseits ausdrücken. Gumperz beansprucht mit der Auflistung dieser sechs Funktionen keine vollständige Typologie zu beschreiben. Sie dienen ihm vielmehr im Rahmen seines interpretativen Ansatzes als eine Heuristik, die in der jeweiligen bilingualen Gemeinschaft gültigen Muster der bedeutungsvollen Codewechsel zu erfassen. Auer (1984) hat im Folgenden die Untersuchung von Sprachwechseln als Kontextualisierungshinweise aufgenommen und weiterentwickelt, indem er bei der Untersuchung bilingualer Interaktionen als erster die Methoden und Konzepte der Konversationsanalyse anwandte. 224 Bis zu diesem Zeitpunkt wurde auch in der interpretativen Soziolinguistik Code-Switching nicht unter dem Gesichtspunkt analysiert, dass es als kommunikative Praxis mit anderen Ebenen der Interaktionsstruktur in einer Wechselwirkung steht. 225 Die wesentliche Leistung des Ansatzes ist, dass er einzelne Variationsfälle interaktionsanalytisch in ihrem sequenziellen Kontext untersucht und Sprachalternation im Gespräch nicht ausgehend von außersprachlichen Faktoren erklärt. Somit können mit Hilfe der konversationsanalytischen Methode häufig nur postulierte Konzepte wie „they-code“ und „we-code“ (Gumperz 1982) oder Maximen wie „Variation als markiertes und unmarkiertes Sprechen“ (Myers-Scotton 1993b), wenn sie denn in einer Interaktion wirksam sind, konkret erfasst und nachgewiesen werden. 226 Des Weiteren hat Auer (1999) aus interaktionalistischer Perspektive eine „dynamische Typologie des bilingualen Sprechens“ vorgelegt, die ich, da ich 224 So hebt Auer (1984, S. 24) hervor: Code-Switching „concerns the organization of conversation, that is, turn-taking, topical cohesion, tying, sequencing of activities, repair, overall organisation, etc.“ In diesem Sinn analysiert er u.a. Sprachwechsel zur Bearbeitung von „double cohesion“ (ebd., S. 42ff.) oder zur Anzeige eines „footing“-Wechsels (ebd., S. 13ff.). 225 Der von Auer entwickelte konversationsanalytische Zugang zu bilingualer Kommunikation wurde in der Folge in Bezug auf verschiedene Mehrsprachigkeitskontexte angewandt. Siehe z.B. Alfonzetti (1998), Wei (1998), Sebba/ Wootton (1998) und Bani-Shoraka (2005). Keim (1995) hat die Konzepte und Methoden von Gumperz und Auer in Bezug auf die Analyse von Standard-Dialekt-Daten angewandt. 226 An dieser Stelle sei nur kurz darauf hingewiesen, dass der konversationsanalytische Ansatz und das „Markiertheit“-Konzept von Myers-Scotton, das sie später in eine Rational-Choice- Theorie integrierte, in Bezug auf wesentliche Annahmen miteinander unvereinbar sind. Siehe dazu den ‘Methodenstreit’ in der Zeitschrift „Language in Society“ zwischen Myers- Scotton/ Bolonyai (2001) und Wei (2002). Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 199 in meinen Variationsanalysen auf sie zurückgreifen werde, zum Schluss dieses Abschnittes besprechen möchte. Nach Auer sind die vielfältigen Sprachalternationsphänomene auf einem Kontinuum zu verorten, das einen Entwicklungsprozess - für Individuen und Gemeinschaften - abbildet bzw. abbilden kann und drei prototypische Ausprägungen umfasst: „code-switching“ ( CS ), „language mixing“ ( LM ) und „fused lects“ ( FL ). 227 In Bezug auf die Kommunikationspraxis der Migranten aus der Türkei sind bis zum heutigen Zeitpunkt die ersten beiden Prototypen von Relevanz, weshalb ich an dieser Stelle auf den Aspekt der „fused lects“ nicht näher eingehen werde. 228 Unter Code-Switching subsumiert Auer die Alternationsfälle, bei denen die Juxtaposition von zwei Codes (Sprachen, Dialekten, Varietäten etc.) von Interaktionsteilnehmern als ein sequenziell bedeutungsvolles Ereignis angesehen wird (Auer 1999, S. 310). Die prototypischen Fälle von Code-Switching erscheinen in Interaktionen und soziolinguistischen Kontexten, in denen die Sprecher der Präferenz „eine Sprache zu einer Zeit“ folgen (ebd., S. 311f.). Aufgrund dieser Präferenz ist es möglich, vor dem Auftreten des Wechsels eine bestimmte Interaktionssprache zu identifizieren. Ausgehend vom etablierten Code der Interaktion signalisiert dann das Code-Switching „Andersartigkeit“ (ebd., S. 312) der neuen kontextuellen Rahmung. Nach Auer kann man das belegen, indem gezeigt wird, „that [juxtaposition] is used as contextualization cue (i.e., that it is ‘functional’)“ (ebd.). 229 Als Kontextualisie- 227 Andere Konzepte, mit denen diverse Alternationsfälle beschrieben werden, sind z.B. von Johanson (1993) „Code-Copying“ oder von Hinnenkamp (2005) das „Code-Oszilieren“. 228 Nach Auer (1999, S. 321f.) gehören zu den „fused lects“ u.a. die „so-called ‘mixed-languages’ (cf. Bakker/ Mous 1994), at least those which develop in second and third generation speakers after first generation mixed marriages between colonizing men and indigenous women have occured. The best-known example of such a language is probably Michif (Bakker 1992), the language of the Métis Buffalo hunters in Canada, in which almost all nouns are said to be taken from French, while Cree provides most of the verbal structures (with the exception of the French copula). Other examples of fused lects (which presumably emerged as closed-group languages, certainly not as dual ancestry languages) are many of the European Romani dialects“. Somit sind nach Auer „fused lects“ eine aus der Mixingpraxis hervorgegangene stabilisierte, gemischte Varietät, die in ihrem Endstadium - bezogen auf die ehemals beteiligten Sprachen - keine Variation mehr aufweisen. Aufgrund von verschiedenen Faktoren wie u.a. dem Umstand, dass die Migranten aus der Türkei über diverse Medien mit dem Herkunftsland verbunden sind, sich häufig dort z.B. in den Ferien aufhalten etc., hat sich bzw. wird sich vermutlich in absehbarer Zeit kein „fused lect“ in ihrem Repertoire entwickeln. 229 Eine andere von Auer (1999, S. 313) aufgeführte Methode ist die Analyse von Selbst- und Fremdreparaturen bezüglich der Sprachwahl, die die Orientierung der Teilnehmer auf die beiden Codes zeigt. Migration, Sprache und Rassismus 200 rungshinweis indexikalisiert der Wechsel entweder Aspekte der Interaktion („diskursbezogenes Code-Switching“) oder der Sprecher („teilnehmerbezogenes Code-Switching“). Als Code-Mixing fasst Auer dagegen die Variationspraktiken zusammen, bei denen die Verwendung von Elementen zweier (oder mehrerer) Codes für die Teilnehmer nicht mehr sequenziell, sondern in einem sozialen und globalen Sinn bedeutsam ist, zum Beispiel als Gruppencode (Auer 1999, S. 310). Aufgrund der „numerous and frequent cases of alternation“ geht dabei das Potenzial des Code-Switching als Kontextualisierungsstrategie verloren, so dass die einzelnen Juxtapositionsfälle beim Code-Mixing kein „meaning qua language choice for the bilingual participants“ tragen (Auer 1998, S. 16). Diese Variationspraxis zeichnet sich dadurch aus, dass man nur schwer oder unmöglich eine Sprache als die Sprache der Interaktion identifizieren kann (Auer 1999, S. 315). Nicht eine der beteiligten Sprachen, sondern ihr alternierender Gebrauch an sich ist als Interaktionscode selbst anzusehen. Besondere Beachtung schenkt Auer in diesem Kontext der Übergangsphase von Switching zu Mixing. Zu den ersten darin beobachtbaren Phänomenen zählt er die Fälle von lokal bedeutungsvollem Code-Switching, die in diskursbezogener Funktion eingesetzt werden, aber keinen Wechsel der Interaktionssprache darstellen, wie zum Beispiel kleinräumige Wechsel zur Markierung von neuen Gesprächsthemen (Auer 1998, S. 16f.). Andere Fälle sind für Auer die frequente Verwendung von „(nonce) borrowings“ statt funktionalen Insertionen und von Diskursmarkern (ebd., S. 17ff.). Außerdem ist nach Auer der Übergang eine Phase, in der „the ‘older’ CS [Code-Switching] pattern and the ‘newer’ LM [Language Mixing] pattern co-exist“ (ebd., S. 10), weshalb er darauf hinweist, dass „in a given conversation [...] it is analytically difficult to disentangle the two phenomena“ (ebd., S. 16). 7.2 Untersuchungen zu den Sprachen bzw. zur Sprachpraxis der Migranten aus der Türkei Seit den 1970er Jahren beschäftigen sich Teile der germanistischen, turkologischen und allgemeinen Linguistik mit den Sprachen bzw. der Sprachpraxis der ‘türkischen’ Migranten in Deutschland. Dabei haben sich im Laufe der Zeit - zum Teil parallel zueinander - drei Forschungsstränge herausgebildet: Bis Ende der 1970er Jahre wurde vornehmlich das ungesteuert erworbene Deutsch der ersten Migrantengeneration („Gastarbeiterdeutsch“ oder „Pidgin-Deutsch“) untersucht. 1) Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 201 Seit den 1980ern beschäftigt man sich verstärkt mit Kompetenzen/ Defiziten im Türkischen und Deutschen der Nachfolgegenerationen bzw. in jüngerer Zeit mit der Frage, ob durch den Einfluss des Deutschen eine neue Varietät des Türkischen („Diasporatürkisch“ oder „Deutschlandtürkisch“) entsteht. In den letzten 15 Jahren werden zudem verschiedene Aspekte der deutschtürkischen Sprachvariation und die Entwicklung einer ethnolektalen Varietät des Deutschen in der sprachlichen Praxis der jungen Migranten („Türkendeutsch“ oder „Ghettodeutsch“) untersucht. 230 Zu 1) In den 1970er Jahren fokussierte die germanistische Soziolinguistik den spontanen Spracherwerb der ersten Migrantengeneration, das so genannte „Gastarbeiterdeutsch“. 231 Das am Arbeitsplatz und in der Freizeit ungesteuert erworbene Deutsch der Arbeitsmigranten zeichnete sich u.a. durch folgende Merkmale aus: Ausfall von Artikeln, Präpositionen, Personalpronomen, Kopula und Verbalflexion, Verbendstellung und Negationspartikel „nix“ vor dem Verb. Wie Dirim/ Auer festhalten, sind den Studien [zum ungesteuerten Deutscherwerb der Arbeitsmigranten, m.A.] der 70er Jahre keine weiteren gefolgt, die die damals prognostizierte Fossilisierung einer Lernersprache der ‘Gastarbeiter’ über einen längerfristigen Zeitraum bestätigt hätten; über den heutigen Sprachstand sowie die sprachliche Situation der ersten Arbeitsmigranten, die in der Regel im Rentenalter sind, wissen wir deshalb aus sprachwissenschaftlicher Sicht so gut wie nichts. Es scheint, dass mit ihrer ursprünglichen wirtschaftlichen Rolle als Gastarbeiter auch das sprachwissenschaftliche Interesse an dieser Sprechergruppe verschwunden ist. (Dirim/ Auer 2004, S. 13f.) Zu 2) Ab den 1980er Jahren verschob sich das Interesse der Sprachwissenschaft auf die Kompetenzen/ Defizite im Deutschen und Türkischen der jüngeren Migranten bzw. auf die Frage, ob durch den Einfluss des Deutschen eine neue Varietät des Türkischen in der Migration entsteht. In Bezug auf die zweite Fragestellung werden zum Türkischen der Migranten unter anderem folgende 230 Einen guten Überblick zur Erforschung des Türkischen in Europa bietet Backus (2004). 231 Wie Keim (2007, S. 417) anmerkt, ist die „Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch“ [...] keine Bezeichnung der Sprecher selbst, sondern eine Bezeichnung aus der Perspektive von Deutschen“. Zur Untersuchung des „Gastarbeiterdeutsch“ siehe z.B. Clyne (1968), Heidelberger Forschungsprojekt „Pidgin-Deutsch“ (1975), Meisel (1975), Keim (1978), Yakut (1981) und Dittmar (1982). Zu einer eingehenden Kritik einiger dieser Arbeiten siehe Bommes (1993). 2) 3) Migration, Sprache und Rassismus 202 Auffälligkeiten beschrieben: Wegfall der Fragepartikel in Entscheidungsfragen (Hess-Gabriel 1979), Veränderung in der Verbrektion (Menz 1991; Rehbein 2001), analytische Syntax bei Attributivkonstruktionen (Sari 1995; Cabadağ 2001), mehrfache Pluralmarkierung (Aytemiz 1990) und übermäßige Verwendung von pronominalen Subjekten und Objekten (Aytemiz 1990; Menz 1991; Rehbein 2001). Zusammengenommen vermitteln die beschriebenen Auffälligkeiten den Eindruck, als ob kein Bereich des Türkischen in der Migration unbeeinflusst geblieben wäre und sich mittlerweile ein „Diasporatürkisch“ (Cabadağ 2001) entwickelt habe. In Cindark/ Aslan (2004) zeigen wir jedoch auf, dass diese Ergebnisse zum Großteil an der Sprachwirklichkeit der Migranten vorbeigehen, da die meisten dieser Studien schriftsprachliche Daten erheben, obwohl das Türkische in der Migration weitestgehend eine mündliche Sprache ist und schriftsprachliche Kompetenzen nur wenig bis gar nicht vermittelt werden. Des Weiteren bestehen zwei Charakteristika dieser Forschungstradition darin, dass - auch in den Studien die (meist elizitierte) gesprochensprachliche Daten analysieren - erstens singuläre Auffälligkeiten übergeneralisiert und auf die ganze Sprachgemeinschaft übertragen werden und zweitens bei der Erklärung dieser peripheren Auffälligkeiten die Interferenz, d.h. der Einfluss des Deutschen auf das Türkische, als wesentliche Erklärung herangezogen wird. Dagegen zeigen die Ergebnisse in Cindark/ Aslan zu alltagssprachlichen Daten, dass z.B. in den drei Bereichen der anaphorischen Pronomen, der Fragepartikel und der Pluralmarkierung die linguistischen Strukturen im Türkischen weitestgehend intakt sind. Außerdem belegen unsere Analysen, dass die peripheren Auffälligkeiten nicht oder nicht nur durch Interferenzprozesse erklärt werden können, sondern durch Prozesse des Dialektausgleichs und Auflockerung der sprachlichen Norm(en) in der Migration (Backus/ Boeschoten 1998; Boeschoten/ Broeder 1999; Boeschoten 2000). 232 Zu 3) Ab den 1990er Jahren haben sich zudem zwei weitere Forschungsinteressen herauskristallisiert, die zum einen das deutsch-türkische Code-Switching 233 bzw. -mixing und zum anderen die Frage nach der Entwicklung einer ethnolektalen Varietät des Deutschen in der sprachlichen Praxis der jungen Migranten untersuchen. 232 In Sirim (2009) werden diese Ergebnisse bestätigt. 233 Tekinay (1982) lieferte die ersten - zwar noch unsystematischen - Analysen zur deutschtürkischen Sprachvariation in Deutschland. Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 203 Pfaff (1991) analysiert das deutsch-türkische Code-Switching bei 2bis 12jährigen Kindern in Berlin vor allem unter grammatischen Gesichtspunkten. Dirims (1998) Untersuchung der bilingualen Praxis von Migrantenkindern in schulischen und außerschulischen Kontexten belegt, dass die Sprecher die alternierende Verwendung der beiden Sprachen im Gespräch funktional (strategisch) nutzen. Hinnenkamp (2002, 2005), Keim/ Cindark (2003), und Keim (2007) zeigen darüber hinaus, dass neben der funktionalen Verwendung des Code-Switchings die jugendlichen Migranten in Interaktionen zum Teil so sehr zwischen den Sprachen alternieren, dass man von einem Code-Mixing als Gruppencode sprechen muss. 234 In jüngster Zeit werden neben der Sprachalternation verstärkt gewisse Erscheinungen im Deutschen der Migrantenjugendlichen untersucht. Mit Bezeichnungen wie „Türkendeutsch“ (Kern/ Selting 2006) oder „Kanak Sprak“ (Füglein 1999) werden spezifische grammatische, semantische, lautliche etc. Aspekte der Sprechweise von migrantischen Jugendlichen als Eigenschaften eines möglicherweise entstehenden oder bereits entstandenen Ethnolekts analysiert. 235 Als Kennzeichen des Ethnolekts werden z.B. festgehalten: Wegfall von Präposition und Artikeln, Generalisierung mancher Verben wie „gehen“ oder „machen“, häufige Verwendung von Formeln wie „isch schwör“, Verwendung türkischer Formen zur Anrede wie „lan“ (Kerl), „moruk“ (Alter), spezifische lautsegmentelle und prosodische Merkmale wie durchgängige Koronalisierung oder Akzentuierung von Nebentönen. 236 Hinsichtlich der Fragestellungen, welchen Stellenwert diese ethnolektalen Formen im Gesamtsprachrepertoire der Untersuchten einnehmen und welche Meinung die Untersuchten zu dieser medial häufig rezipierten Sprechweise besitzen, ist der Aufsatz von Keim/ Knöbl (2007) von grundsätzlicher Bedeutung. Die Autoren zeigen fol- 234 Auch in anderen europäischen Ländern gehört das Code-Switching und -Mixing zum Repertoire der türkischen Migranten. Siehe dazu u.a. Backus (1996) zur türkisch-holländischen, Jørgensen (1998) zur türkisch-dänischen, Türker (2000) zur türkisch-norwegischen, Akinci/ Backus (2004) zur türkisch-französischen und Issa (2006) zur türkisch-englischen (bzw. zyperntürkisch-englischen) Sprachalternation. Des Weiteren siehe Treffers-Daller (1998) zum deutsch-türkischen Code-Switching von Kindern/ Jugendlichen der Rückkehrer in die Türkei. 235 Hierbei gilt es zu beachten, dass wie bei der Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch“ die beiden hier genannten Bezeichnungen des Ethnolekts keine Eigenbezeichnungen der Sprecher sind. Dieser Hinweis ist deswegen wichtig, da man sich als Wissenschaftler darüber im Klaren sein muss, dass diese Begriffe von den Migranten als diskriminierend empfunden werden können. 236 Zu Aspekten dieser ethnolektalen Sprechweise siehe u.a. Androutsopoulos (2001), Auer (2003), Dirim/ Auer (2004), Kern/ Selting (2006), Keim (2007), Keim/ Knöbl (2007). Migration, Sprache und Rassismus 204 gendes auf: a) Die Untersuchten verfügen neben ethnolektalen Formen des Deutschen auch über standardnahes Deutsch, dialektale Formen des Deutschen und deutsch-türkische Mischungen; b) die Sprecher distanzieren sich strikt von der medial inszenierten „Kanaksprak“, die häufig fälschlicherweise mit der Sprechweise der Jugendlichen gleichgesetzt wird. 237 7.3 Sprachwahl und -variation der „Unmündigen“ Die sprachliche Orientierung und der Umgang mit sprachlichen Ressourcen sind wesentliche Aspekte, mit denen sich soziale Einheiten nicht nur aus der Außenperspektive unterscheiden lassen. Vor allem aus der Perspektive der untersuchten Akteure dienen Sprachorientierungs- und Sprachverhaltensmuster häufig dazu, relevante Andere zu kategorisieren und hinsichtlich der eigenen Welt einbzw auszugrenzen. Dabei spielen in Bezug auf Sprachwahl- und variationsaspekte zwei Fragen sowohl für die Akteure als auch für die soziolinguistische Analyse eine zentrale Rolle: In welchem Maße verwenden die Akteure in der gruppeninternen Kommunikation die Herkunftssprache und die Sprache der Einwanderungsgesellschaft, also im vorliegenden Fall Türkisch und Deutsch? Variieren sie in der gruppeninternen Kommunikation zwischen den Sprachen? Wenn ja, in welcher Dichte und bei welchen Interaktionsaktivitäten? Im Folgenden werde ich aus makroskopischer Perspektive den Verlauf der gruppeninternen Treffen der „Unmündigen“ hinsichtlich verschiedener Sprachverwendungsmuster darstellen. Eingangs werde ich ausführen, welche sprachlichen Interaktionsaktivitäten für die Gruppensitzungen charakteristisch sind. Im Anschluss an die Abbildungen werde ich in den darauf folgenden Abschnitten mikroskopisch bzw. interaktionsanalytisch die einzelnen Formen und Funktionen der deutsch-türkischen Sprachalternation analysieren, wie sie bei den „Unmündigen“ vorkommen. 237 Keim/ Knöbl (2007, S. 189ff.) analysieren dazu folgendes Beispiel: „Ein Reporter des SWR3 , der ein Fernseh-Feature über die Migrantenjugendgruppe, zu der Murat [der Informant, m.A.] gehört, machen will, befragt die Jugendlichen vor laufender Kamera zu ihrem Sprachgebrauch. [...]. Als der Regisseur die Gruppe fragt, ob mediale Stilisierungen von „Kanaksprak“ [...] echt oder show sind, fordern die Gruppenmitglieder Murat auf zu antworten. [...] In expandierter Form legt Murat dar, dass die Darstellungen der Comedians nichts anderes als der missglückte Versuch sind, den Sprachgebrauch von Migrantenjugendlichen nachzuahmen, da ihnen eine wesentliche Voraussetzung fehlt: Sie können kein Türkisch“. Wie weiter zu lesen ist, besteht die Sprache der jugendlichen Migranten nach Meinung des Informanten nicht aus solchen Ausdrücken wie „krass alda“, sondern aus deutschtürkischen Sprachmischungen. Diese ihre Mischsprache bezeichnet der Befragte als „Kanakensprache“, die er strikt von der diskriminierenden „Kanaksprak“ unterscheidet. 1) 2) Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 205 In jeder Sozialwelt gibt es in Abhängigkeit von ihrem Charakter - ob es sich etwa um eine studentische, politische oder freizeitliche Formation handelt - zentrale und periphere Interaktionsaktivitäten. Die zentralen Sprachhandlungen der „Unmündigen“ bei ihren Gruppentreffen bestehen darin, eigene (gesellschafts-)politische Aktionen und Aktivitäten zu planen oder zu resümieren. Alle anderen Interaktionsaktivitäten wie Gespräche über private oder berufliche Aspekte einzelner Beteiligter sind bei diesen Treffen von peripherer Bedeutung. 238 Da jedoch für den sozialen Zusammenhalt der Mitglieder auch diese Interaktionsaktivitäten wichtig sind, verwende ich im Folgenden die Bezeichnungen periphere und zentrale Aktivitäten nicht kategorial, sondern relational in dem Sinne, dass periphere Aktivitäten nicht unwichtig, aber im Vergleich zu den zentralen Aktivitäten für die Sozialwelt weniger konstitutiv sind. Zur makroskopischen Erfassung der Sprachverwendungsmuster bei den Gruppensitzungen: Ich habe zunächst die ersten zehn von mir aufgenommenen Treffen der „Unmündigen“ untersucht, deren durchschnittliche Länge jeweils etwa 100 Minuten beträgt. Dabei kristallisierten sich hinsichtlich der Verwendung des Deutschen, Türkischen und der deutsch-türkischen Variationspraxis zwei musterhafte Interaktionsabläufe heraus, die ich im Folgenden als Verlaufsformen bezeichnen werde. Zur Kontrolle dieser zwei prototypischen Verlaufsformen habe ich im nächsten analytischen Schritt sechs weitere Treffen der Gruppe herangezogen, die in späteren Phasen meiner teilnehmenden Beobachtung aufgenommen wurden. Bei dieser Überprüfung bestätigten sich die beiden ermittelten Verlaufsformen in dem Sinne, dass alle Interaktionsverläufe einem dieser Prototypen entsprachen. Zur Erläuterung der folgenden Abbildungen: In den Abbildungen zu den Verlaufsformen steht „D“ für Deutsch und „V“ für Variation. Die „V“-Zeile umfasst sowohl nur-türkische Redebeiträge, als auch deutsch-türkische Variationspassagen. Eine Zeile in der Abbildung, bestehend aus „D“ und „V“, gibt 52 Minuten in Echtzeit wieder. Ein einzelner Strich in der Abbildung umfasst eine Zeitspanne von 30 Sekunden. Wenn also ein Strich in der „V“-Zeile notiert wurde, so bedeutet das lediglich, dass in der Zeitspanne von 30 Sekunden mindestens ein türkisches Element verwendet wurde. In manchen Fällen handelt es sich dabei nur um ein einziges türkisches Wort, in anderen Fällen um längere Redebeiträge bzw. Interaktionssequenzen (bis zu 30 Sekunden), in denen häufig zwischen Deutsch und Türkisch alterniert wird. 238 Eine mittlere Stellung zwischen den zentralen und peripheren Interaktionsaktivitäten kommt Sprachhandlungen wie dem plauderhaften Reden über Migrationsthemen im weitesten Sinne zu, was häufig am Anfang oder am Ende der Sitzungen stattfindet. Im Gegensatz zu den zentralen Aktivitäten kommen derartige Sprachhandlungen nicht immer vor. Ihre Nähe zu Alltagserzählungen resultiert daraus, dass ihre thematische Entwicklung assoziativ verläuft. Migration, Sprache und Rassismus 206 Verlaufsform A Abb. 3: Verlaufsform A In der Verlaufsform A ist Deutsch fast ausschließlich die Interaktionssprache der „Unmündigen“. Nur in einigen wenigen Fällen treten Sprachalternationen auf. Die wenigen Wechsel ins Türkische sind kleinräumig und lösen in der Folge keine dichte Variationspraxis aus. Dabei können die kleinräumigen Variationssequenzen an jeder möglichen Stelle der Sitzung auftreten, d.h. sowohl bei zentralen als auch bei peripheren Interaktionsaktivitäten. Diese Sprachinteraktionsstruktur ist die häufigste Verlaufsform der „Unmündigen“-Treffen. Elf der sechzehn untersuchten Sitzungen zeigen diese Typikalität. 239 Verlaufsform B Abb. 4: Verlaufsform B Im Fall der Verlaufsform B zeichnen sich die Treffen durch eine relativ lange Variationspraxis aus, die zum Teil über 20 Minuten andauern kann. In der Abbildung befindet sich diese Verdichtungspassage am Anfang der Interaktion. Sie kann aber auch in der Mitte oder am Ende vorkommen bzw. mehrere Male im Interaktionsverlauf auftreten. Bezogen auf zentrale und periphere Aktivitätstypen lässt sich jedoch sagen, dass solche Variationspassagen ausschließlich bei der Bearbeitung von peripheren Interaktionsaktivitäten wie Begrüßungs- oder Verabschiedungssequenzen bzw. Alltagserzählungen auftreten. 239 Siehe Anhang 11.5 zur Darstellung der zehn anderen Treffen, die dieser Verlaufsform entsprechen. Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 207 Daneben lassen sich bei der Verlaufsform B kleinräumige Sprachalternationen wie bei der Verlaufsform A beobachten. Diese sequenziell kleinräumigen Sprachalternationen können sowohl in Zusammenhang mit zentralen wie auch peripheren Interaktionsaktivitäten auftreten. Fünf der untersuchten sechzehn Treffen sind der Verlaufsform B mit sequenziell klein- und großräumigen Sprachalternationen zuzuordnen. 240 7.3.1 Präferenz für Deutsch in der gruppeninternen Kommunikation Die Verlaufsformen A und B verdeutlichen, dass Deutsch die dominante Interaktionssprache der „Unmündigen“ ist. Insbesondere die Verlaufsform A, die für die „Unmündigen“-Sitzungen typisch ist und bei der nur wenige sequenziell kurze Variationspassagen vorkommen, unterstreicht diese Tatsache. Um diese Beobachtung auch in Zahlen auszudrücken, wurde die oben in der Abbildung 3 dargestellte Sitzung (0111) quantitativ ausgewertet. In der folgenden Tabelle 4 befinden sich die Ergebnisse. Zur Erläuterung der folgenden Tabelle: Die untersuchte Sitzung dauert insgesamt ca. 94 Minuten. Ich habe die Interaktion auf der Ebene der einzelnen Sprecherbeiträge (engl. „turns“) erfasst. In der Tabelle ist notiert, welche Sprecher wieviele deutsche, türkische und deutsch-türkisch gemischte Redebeiträge realisiert haben. Die Kategorie „Rest“ enthält Sprecherbeiträge, die entweder aus nicht-sprachlichen Hörersignalen bestehen oder Äußerungen enthalten, die nicht verständlich sind. Treffen 0111 (94 Min.) Sprecher Redebeiträge BY HE ZA CI AD Redebeiträge insgesamt türkisch 22 - 22 - 22 - 002 22 - 002 deutsch 246 149 191 092 041 719 dt.-türk. gemischt 22 - 22 - 001 22 - 22 - 001 Rest 022 005 008 004 001 040 Redebeiträge insg. 268 154 200 098 042 762 Tab. 4: Auswertung der Sitzung 0111 (der „Unmündigen“) 240 Siehe Anhang 11.6 zur Darstellung der vier anderen Treffen, die dieser Verlaufsform entsprechen. Migration, Sprache und Rassismus 208 Die Tabelle verdeutlicht die absolute Dominanz des Deutschen. Von insgesamt 762 Redebeiträgen sind nur zwei monolingual türkisch und einer deutschtürkisch gemischt. Diese Zahlen belegen, dass die „Unmündigen“ nicht nur die zentralen Interaktionsaktivitäten fast ausnahmslos in Deutsch bearbeiten. Auch bei peripheren Aktivitäten der gruppeninternen Kommunikation wie bei Begrüßungen, Verabschiedungen, Alltagsgesprächen etc. ist Deutsch oft ausschließlich die alleinige Interaktionssprache. Diese Orientierung schlägt sich bei den „Unmündigen“ auch auf der metalinguistischen Ebene nieder. Wie bei monolingualen Deutschsprechern werden fehlerhafte Formulierungen abgebrochen und korrigiert. Selten sind lokale Wortsucheprozesse bzw. Formulierungsprobleme ein Grund, die Sprache zu wechseln, wenn die Sprecher im monolingual deutschen Modus sind. Exkurs: Mono- und bilingualer Modus nach Grosjean Nach Grosjean (1995, S. 261ff.) befinden sich Mehrsprachige in Alltagskontexten an verschiedenen Punkten eines situativen Kontinuums, die einen besonderen Sprachmodus hervorbringen bzw. verursachen. Am einen Ende des Kontinuums sind die Mehrsprachigen in einem monolingualen Sprachmodus: Sie kommunizieren mit einem monolingualen Sprecher der Sprache A oder B, so dass sie sich auf diese eine Sprache (A oder B) beschränken müssen. Am anderen Ende des Kontinuums sind sie mit Bilingualen zusammen, die wie sie die beiden Sprachen A und B beherrschen und mit denen sie zwischen diesen Sprachen alternieren; hier befinden sie sich im bilingualen Sprachmodus. Mit mono- und bilingualen Sprachmodi bezieht sich Grosjean auf diese beiden Endpunkte des Kontinuums. Gleichzeitig räumt er ein, dass es Zwischenstufen zwischen diesen beiden Polen gibt. Nach Grosjean lassen sich des Weiteren bilinguale Sprecher danach unterscheiden, in welchem Ausmaß sie zwischen diesen beiden Polen des Kontinuums hin- und herwechseln. So befinden sich z.B. Sprachpuristen selten am bilingualen Pol, während andere Sprecher den bilingualen Modus kaum verlassen. Das Deutsch der „Unmündigen“ ist bis auf das eines Mitglieds ( BÜ ), das erst mit sechzehn Jahren nach Deutschland kam, weitestgehend standardnah und grammatisch unauffällig. Dass die Dominanz des Deutschen einerseits die individuellen Kompetenzen reflektiert, aber andererseits die sozialweltliche Präferenz der „emanzipatorischen Migranten“ ist, lässt sich insbesondere am sprachlichen Verhalten von eben diesem Mitglied beobachten. Obwohl BÜ s Performanz im Deutschen immer wieder Prozessierungsprobleme zeigt, stellen diese für ihn in der Regel keinen Grund dar, in den bilingualen Modus zu wechseln. Er bleibt im monolingual deutschen Modus, gleichwohl fehlerhaft, und reagiert auf Fremdreparaturen, wie im folgenden Transkriptausschnitt deutlich wird, ausgesprochen positiv: Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 209 Transkript 15-A: eine foyer 01 BÜ: in kunstverein soll eine fo"yer geben ↑ 02 DS: ei"n 03 DS: * foyer * 04 BÜ: ei“n foyer ↓ * der oder das foyer ↑ 05 DS: da"s |foyer ↓ | 06 BÜ: |>das foyer ↓ <| Die Sprecherin DS reagiert in Zeile 02-03 auf den Artikelfehler von BÜ (eine fo"yer, Z. 01) und korrigiert ihn mit Nachdruck, angezeigt durch Betonung des unbestimmten Artikels und eine Pause zwischen Artikel und Substantiv: ei"n * foyer. DS s Korrektur ist in sozialer Hinsicht nicht unproblematisch, da sie für BÜ eine fremdinitiierte Fremdreparatur 241 darstellt. Solche Äußerungen sind für den Korrigierten heikel, da sie für ihn eine potenzielle Gesichtsbedrohung bedeuten. Aber an BÜ s Reaktion erkennt man, dass er die Korrektur nicht in dieser Weise auffasst. BÜ wiederholt die Korrektur (Z. 04), wodurch er seine positive Einstellung gegenüber fremdinitiierten Fremdreparaturen in Bezug auf sein Deutsch zum Ausdruck bringt, und fügt nach einer kurzen Pause sogar die zusätzliche Frage nach dem Genus des Substantivs hinzu: der oder das foyer↑ (Z. 04). Nachdem DS in Zeile 04 das richtige Genus anführt, wiederholt BÜ auch diesmal die korrekte Form >das foyer↓< (Z. 06). In den beiden folgenden Abschnitten untersuche ich die Sprachvariationspraxis der „Unmündigen“. Dabei werde ich zunächst die sequenziell kleinräumigen Sprachalternationsphänomene analysieren, die in beiden Verlaufsformen zu beobachten und für die Gruppe besonders typisch sind. Anschließend werden die sequenziell großräumigen Variationspraktiken untersucht, die lediglich bei Treffen vorkommen, die der Verlaufsform B entsprechen. 241 Reparaturen im Gespräch gehören seit Beginn der konversationsanalytischen Forschung zu einem ihrer Kernbereiche. Dabei wird ‘Reparatur’ bereits in der Pionierarbeit von Schegloff/ Jefferson/ Sacks (1977) als Oberbegriff für alle konversationellen ‘Probleme’ verwendet. So betrachten sie (ebd., S. 363) das Konzept der ‘Korrektur’ nur als einen Teilbereich von ‘Reparaturen’. Die Autoren unterscheiden zwischen vier Formen der Reparatur: a) selbstinitiierte Selbstreparatur, b) fremdinitiierte Selbstreparatur, c) selbstinitiierte Fremdreparatur und d) fremdinitiierte Fremdreparatur. Die Kategorien der Selbst- und Fremdreparatur sind aus der Perspektive des aktuellen Sprechers bestimmt. Mit der Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdinitiierung machen die Autoren darauf aufmerksam, dass die Reparaturbedürftigkeit eines konversationellen Problems entweder vom aktuellen Sprecher oder von einem anderen Interaktionsbeteiligten angezeigt werden kann. Ausgehend von der strukturellen Analyse vieler Fallbeispiele halten Schegloff/ Jefferson/ Sacks (ebd.) fest, dass in sozialen Interaktionen eine Präferenz für Selbstreparaturen vorherrscht. Migration, Sprache und Rassismus 210 7.3.2 Sequenziell kleinräumige deutsch-türkische Sprachalternationen Aus der musterhaften Darstellung der Sprachverwendung in den Gruppentreffen ging hervor, dass bei den „Unmündigen“ die Verlaufsform A das häufigste Interaktionsmuster darstellt. Danach verwenden die Beteiligten für die Dauer fast der gesamten Interaktion Deutsch. Nur an einigen wenigen Stellen alternieren sie sequenziell zwischen den Sprachen. Diese lokalen Sprachwechsel lösen in der Regel keine Interaktionspassagen aus, in denen dicht und über einen längeren Zeitraum zwischen den Sprachen alterniert wird. Im Folgenden werde ich vier Fallbeispiele für diese kleinräumigen Sprachalternationen analysieren, die für den kommunikativen Sozialstil der „Unmündigen“ charakteristisch sind. Wie die Fallbeispiele verdeutlichen werden, verwenden die Beteiligten lokale Sprachalternationen in vielen verschiedenen Funktionen. Zu den häufigsten sozialen und interaktionalen Funktionen, die lokale Sprachalternationen bei den „Unmündigen“ erfüllen, zählen Sprachwechsel zur Markierung von Nebensequenzen, spielerischer und ernster Kritik/ Ermahnung und Modalitätswechsel. Fallbeispiel 1: Markierung einer Nebensequenz Im ersten Fallbeispiel handelt es sich um eine Interaktionspassage, die sich vor Beginn des offiziellen Teils einer Gruppensitzung ereignet. Die Gruppentreffen der „Unmündigen“ verlaufen in der Regel so, dass sich die Mitglieder zunächst im Café der Kultureinrichtung zusammenfinden, in der sie ihre Treffen abhalten. Wenn alle Mitglieder eingetroffen sind, zieht sich die Gruppe dann für ihre Sitzung in einen der Clubräume zurück. Die typischen Interaktionsaktivitäten im Café bestehen darin, dass sich die Mitglieder gegenseitig begrüßen, kurze Alltagsgespräche führen, Getränke bestellen und in unfokussierter Weise ihre Post durchgehen. In der folgenden Interaktionspassage sitzen mehrere Mitglieder am Tisch, während NI kommentierend diverse Postsendungen an die Gruppe durchgeht. EB steht an der Theke und gibt eine Getränkebestellung für alle auf. KR ist gerade angekommen und hat sich neben NI gesetzt. Transkript 16: ne yapiyon KR 01 NI: was für ein schweres thema- * #der K #LIEST EINE 02 NI: erwerb sozialer und kommunikativer K EINE EINLADUNG VOR Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 211 03 NI: schlüs|selkompe/ | |kompeten|zen 04 EB: |#<KR ↑ | * groß oder |klein ↑ # | K #SPRICHT VON DER THEKE AUS ↑ # 05 NI: |in der | jugendarbeit ↓ und re"ssorts für 06 KR: |klein ↓ | 07 NI: andere lebensbereiche ↓ * wie zum beispiel 08 NI: beruf ↓ # * KR ↑ ne" yapıyon KR ↑ Ü ↓ KR ↑ was machst du KR ↑ 09 KR: ne yapayım Ü was soll ich 10 KR: ya ↓ * Ü schon machen * 11 NI: ↓ aha ↓ * was ist hier los ↑ * mannheim 12 NI: #f h# * K #ABK#. FACHHOCHSCHULE Zu Beginn des Ausschnitts geht NI die Briefsendungen an die Gruppe durch. Von Zeile 01 bis 06 kommentiert er zunächst den Untertitel eines Seminars, zu dem die „Unmündigen“ eingeladen werden: was für ein schweres thema- (Z. 01). Anschließend liest er den Untertitel vor: der erwerb sozialer und kommunikativer schlüsselkompe/ kompetenzen in der jugendarbeit↓ und re"ssorts für andere lebensbereiche↓ * wie zum beispiel beruf↓ (Z. 01-08). Parallel zu NI s Redebeitrag fragt EB in Zeile 04 von der Theke aus, ob KR , der gerade gekommen ist, ein großes oder kleines Getränk möchte, worauf KR mit klein↓ (Z. 06) antwortet. 242 Nachdem NI den Titel des Seminars vorgelesen hat, wendet er sich in Zeile 08 KR zu und begrüßt ihn mit einer türkischen Routineformel: KR ↑ ne" yapıyon KR ↑ ( KR ↑ was macht du KR ↑). KR reagiert auf NI s Begrüßung ebenso auf Türkisch und formelhaft: ne yapayım ya↓ (was soll ich schon machen, Z. 09-10). Nach dieser Sequenz aus formelhafter Begrüßung und Erwiderung kehrt NI wieder zu seiner vorherigen Aktivität zurück, diverse Postsendungen an die Gruppe durchzugehen. Dabei wechselt er ebenso zu seiner vorherigen Interaktionssprache Deutsch: aha↓ * was ist hier los↑ * mannheim f h * (Z. 11-12). Interaktionsstrukturell markiert die Sprachalternation von Deutsch zu Türkisch zwischen NI und KR an dieser Stelle eine Nebensequenz aus zwei kurzen Routineformeln zur Begrüßung. In der Grup- 242 Als KR kurz zuvor in die Kneipe kam, befand sich EB bereits an der Theke, so dass er diesen bat, ihm einen Kaffee mitzubestellen. Diese Interaktion ist nicht auf Tonband, da sich das Aufnahmegerät bei den anderen „Unmündigen“ am Tisch befand. Die Frage EB s bezieht sich also darauf, ob KR einen großen oder kleinen Kaffee möchte. Migration, Sprache und Rassismus 212 peninteraktion der „Unmündigen“ kommen solche sequenziell kleinräumigen Sprachalternationen zur Markierung von vielfältigen Einschüben vor. Im analysierten Fall handelt es sich um eine Nebensequenz, in anderen Fällen zum Beispiel um metapragmatische Kommentare. Fallbeispiel 2: Markierung einer spielerischen Kritik/ Ermahnung Das nächste Beispiel zur sequenziell kleinräumigen Sprachalternation stammt aus der Fortführung der Interaktion, die im letzten Abschnitt 7.3.1 bereits eingeführt wurde. Darin wird BÜ , der einzige „Unmündige“, der gelegentlich Fehler in seinem Deutsch aufweist, von einem anderen Mitglied korrigiert. Im folgenden Transkript, in dem auch der Vorlauf und die Fortführung der Korrektursequenz präsentiert wird, sehen wir, dass zwei Anwesende ( MA und TA ) die Fremdkorrektur DS s spielerisch aber trotzdem als einen heiklen Fall bearbeiten, indem sie zum Teil oder ganz ins Türkische wechseln. Das Besondere an diesem Fallbeispiel ist, dass TA und MA , die hier ins Türkische wechseln, italienischer Herkunft sind, was in der soziolinguistischen Forschung als „language crossing“ (Rampton 1995) bezeichnet wird. Transkript 15-B: eine foyer 01 BÜ: →also← * ei"ns äh kannka=ma sagen * 02 BÜ: ku"nstverein ist * die nächsten zwei jahren 03 BÜ: ausgebucht ↑ ** und i/ in kunst|verein| 04 DS: ↑ |LACHT | 05 LE: ↑ |LACHT | 06 BÜ: |LACHT #wa"rte mal wa"rte mal ↓ # * K #LEICHT LACHEND ↓ # 07 DS: |=LACHT | 08 BÜ: in kunstverein ↑ soll eine fo"yer geben ↑ 09 DS: ↑↑ ei"n 10 DS: * ←foyer→ * 11 BÜ: ei"n foyer ↓ * der oder das 12 BÜ: foyer ↑ |>das foyer ↓ <| 13 DS: ↑ da"s |←foyer ↓ → | 14 MA: ↑ ↑ andere 15 MA: | bau|stelle |lan↓| Ü Kerl 16 BÜ: |also ↑ | ↑ also ↑ 17 TA: ↑ |su"s| lan ↓ Ü ↑ sei still, Kerl Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 213 Mit „language crossing“ werden Sprachalternationen von Sprechern beschrieben, die nicht Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sind, deren Sprache sie sprechen oder zumindest Versatzstücke oder Formeln dieser Sprache beherrschen und in der Interaktion einsetzen. 243 Speziell in multiethnischen Gruppen ist diese Form des Code-Switching ein wesentliches Merkmal der multilingualen Praxis. Bei den „Unmündigen“ ist diesbezüglich das Kommunikationsverhalten von TA und MA von Interesse, die beide italienischer Herkunft sind. 244 Im Transkriptausschnitt reagieren MA (Z. 14-15) und TA (Z. 17) auf die Fremdkorrektur DS s (Z. 09-10), die sie für BÜ , dem Korrigierten, als gesichtsbedrohende Aktivität interpretieren. Sie reagieren auf den interaktiv ‘heiklen’ Vorfall, kontextualisieren aber mit dem Sprachwechsel eine spielerische Modalität. MA verwendet eine stereotype Formel aus dem „Gastarbeiterdeutsch“, andere baustelle, 245 zusammen mit der derben türkischen Anrede lan↓ 246 (Kerl, Z. 14- 15). Damit referiert er spielerisch auf die situative Inadäquatheit der Äußerung DS s im Sinne von „deine Korrektur BÜ s ist fehl am Platz“. TA reagiert mit der in Türkisch formulierten, imperativischen Aufforderung su"s lan↓ (sei still Kerl, Z. 17). 247 Daran, dass es sich bei TA s Redebeitrag um eine sehr derbe (türkische) Aufforderung handelt, die selbst gesichtsbedrohend für DS sein könnte, die aber von der Adressatin nicht weiter problematisiert wird, kann 243 Siehe dazu neben Rampton (1995) vor allem die Studie von Dirim/ Auer (2004). Dirim und Auer untersuchen Fälle von „language crossing“ in Deutschland, genauer von Jugendlichen in Hamburg, die nicht-türkischer Herkunft sind, aber in verbalen Interaktionen teilweise oder ganz Türkisch sprechen. 244 Beide sind in einem Mannheimer Stadtteil (Schönau) geboren und aufgewachsen, der von vielen italienischen und türkischen Migranten bewohnt ist. In Kontakt mit türkischen Kindern und Jugendlichen hat insbesondere TA viele türkische Ausdrücke und formelhafte Wendungen erworben. Wie er mir im ethnografischen Interview mitteilte, könne seine (ebenfalls italienischstämmige) Schwester, deren beste Freundin eine Türkin sei, sogar fließend Türkisch. 245 Siehe z.B. Cassisi (2008). 246 „Lan“ bzw. „ulan“ (Kerl) sind Kurzformen des Worts „oğlan“ (Junge). Zur Wortetymologie siehe z.B. die Ausführungen des Turkologen Prof. Namik Acikgöz im Artikel „Gelin bir edebiyat hocasindan, haftanin sözü ‘ulan’ hakkinda bilgi alalim“ in der türkischen Zeitung „Radikal“ vom 19.02.2006. Zur Verwendung der Anrede seitens junger Migranten in Deutschland siehe u.a. Keim (2007) und Androutsopoulos (2006). 247 Nach Rampton (1995) können Fälle von „language crossing“ verschiedene Interaktionsfunktionen erfüllen. So kommen sie u.a. in Kontexten von ritualisierten Beschimpfungen oder bei Verletzungen der Interaktionsregeln vor (ebd., S. 281), wozu auch die Äußerungen von MA und TA gerechnet werden können. Migration, Sprache und Rassismus 214 man die interaktional-soziale Qualität des „language crossing“ erkennen: Die türkischstämmige DS scheint die derbe türkische Aufforderung von TA , der nicht-türkischer Herkunft ist, als eine spielerische Bearbeitung eines womöglich ernsten Vorfalls zu interpretieren, denn sie reagiert in keiner Weise auf die Äußerung. Solche Wechsel zu stilisierten Formen des „Gastarbeiterdeutsch“ oder Fälle von „language crossing“ sind in der Ingroup-Kommunikation der „Unmündigen“ wichtige Variationspraktiken zwischen den türkisch- und anderssprachigen Mitgliedern, mit denen sie lokal eine spielerische Modalität kontextualisieren und global interethnische Gemeinsamkeit anzeigen. Fallbeispiel 3: Markierung einer ernsten Kritik/ Ermahnung In den bisherigen Fallbeispielen wurde bereits deutlich, dass aufgrund der Sprachorientierung der „Unmündigen“, die sich weitestgehend durch Deutsch als Gruppensprache auszeichnet, einzelne sequenzielle Sprachalternationen wichtige lokale Interaktionsfunktionen erfüllen. Das folgende Beispiel ist ein sehr interessanter Beleg dafür, welche immense Bedeutung sogar eine minimale lokale Sprachalternation, in dem Fall bestehend aus nur einem türkischen Wort in einer ansonsten monolingual deutschen Interaktionspassage, in sozialer und interaktionaler Hinsicht entwickeln kann. Zum Kontext: Der Transkriptausschnitt stammt aus einer Sitzung, in der die Beteiligten besonders ausgelassen und scherzhaft interagieren. Sie kommen kaum dazu, die anfallenden Tagesordnungspunkte zu besprechen. Zu Beginn der Sitzung hatte ein Mitglied ( FU ) angekündigt, dass sie früher gehen muss und deshalb darum gebeten, zügig die Tagesordnungspunkte zu bearbeiten. In der folgenden Passage ist jedoch ihre interaktive Beteiligungsweise, Füße auf dem Tisch und mit einer Nagelfeile ihre Nägel säubernd, relativ leger bis ablenkend. Diese Haltung, konkret ihr Nägelfeilen, löst eine scherzhafte Äußerung eines Anwesenden ( RT ) aus, worauf ein anderer Beteiligter ( IP ) mit einem türkischen Ordnungsruf reagiert. Transkript 17: lütfen 01 IP: #*2*# weiter ↓ |also äh 02 SO: was war als nächstes ↑ 03 RT: ↓ |LACHT K& #ALL#E LACHEN 04 IP: wegen | diese presse*sachen |äh wo: - ↑ | 05 RT: LEICHT| |>FU ↑ gibst| du 06 RT: mir dann wenn du fertig bist weil ich muss Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 215 07 RT: auch fertig |machen||(...)<| 08 SO: |ja- | 09 IP: | FU ↓ | lütfen ↓ Ü bitte ↓ 10 SO: |pre"ssesachen ↓ | 11 FU: |ATMET EIN ↓ | <IP ↓ moment mal ↓ * was 12 FU: so"lln das jetzt ↓ >| e"r spricht| mich 13 IP: ↓ |also ich finde-| 14 FU: hier an und du sagst →FU lütfen ↓ kannst du 15 FU: mir erklären was das jetzt← bedeutet ↑ 16 IP: ←FU→ 17 IP: |kuck=ma| ich find dasäh also e"rstens du 18 FU: |also ↑ | 19 IP: sagst dass wir ernst nehmen- und dassich 20 IP: |trenn des- | ↓ |okay aber-| 21 FU: |<ich nehm des| ernst ↓ > |stö"rt das| 22 FU: jeman|den ↑ | | ↓ dann| mach ich=s weg ↓ 23 IP: |ja ↑ das| stört |mi"ch ↓ | 24 IP: >ichmich stört |des ↓ <| 25 FU: |<dann| sag mir dass da"s 26 FU: dich stö"rt ↓ > 27 IP: ↓ +>←oka: y gut ↓ < * mich 28 IP: |stört=s ↓ isch denke du- | ↓ >weiter ↓ < 29 FU: |ATMET AUS ↓ >so ein scheiß| echt ↓ < Der Trankriptausschnitt beginnt nach einer scherzhaften Interaktionspassage, als die Anwesenden noch herzhaft lachen. In Zeile 01 fordert IP die Anwesenden formelhaft auf, sich wieder auf die Tagesordnung zu konzentrieren: weiter↓ (Z. 01). Darauf reagiert SO mit einer Rückfrage: was war als nächstes↑ (Z. 02). Parallel zu IP s folgendem Redebeitrag, in dem er den Tagesordnungspunkt „Pressesachen“ thematisiert (Z. 01-04), initiiert RT eine Nebenaktivität: Zunächst leicht lachend (Z. 03-05) richtet er eine leise, als off-record markierte Frage an FU : > FU ↓ gibst du mir dann wenn du fertig bist weil ich muss auch fertig machen< (Z. 05-07). RT s Frage zielt auf die Nagelfeile, mit der sich FU seit geraumer Zeit die Fingernägel säubert. Durch sein leichtes Lachen vor seinem Redebeitrag kontextualisiert RT seine Äußerung als eine scherzhafte Aktivität, wodurch die von IP und SO gerade etablierte ernste Modalität erneut in Gefahr gerät, verdrängt zu werden. Migration, Sprache und Rassismus 216 Im Folgenden reagieren SO und IP in unterschiedlicher Weise auf diese ‘Interaktionsgefahr’: SO ignoriert die Äußerung RT s und versucht als legitimierter nächster Sprecher (er ist der Verantwortliche für die Pressearbeit) mit der Tagesordnung fortzufahren: japre"ssesachen↓ (Z. 08-10). IP reagiert auf die Nebenaktivität von RT , aber nicht indem er ihn zur Ordnung ruft, sondern FU : FU ↓ lütfen↓ (bitte, Z. 09). Mit dieser höflichen aber zugleich nachdrücklichen Ermahnung spielt er auf die ablenkende Wirkung ihres Nägelfeilens an. IP s „Bitte“ ist ein Ordnungsruf, der in doppelter Weise an FU adressiert ist, und zwar durch Namensnennung und durch Sprachwechsel ins Türkische. Durch den Sprachwechsel ist RT , der formal-verbal als Auslöser der störenden Sequenz betrachtet werden kann, als Adressat ausgeschlossen; er ist nicht türkischer Herkunft und versteht daher nur bedingt Türkisch. Dieser doppelt adressierte Ordnungsruf löst bei der kritisierten FU Unverständnis und Ärger aus. Sie unterbricht den aktuellen Sprecher ( SO ) und wendet sich - in auffälliger Analogie zu IP s Formulierung - namentlich an den Kritiker und weist seine Kritik zurück: < IP ↓ moment mal↓ * was so"lln das jetzt↓> (Z. 11-12). Die Äußerung FU s weist folgende argumentative Struktur auf: Zurückweisung der Kritik als ungerechtfertigt: < IP ↓ moment mal↓ * was so"lln das jetzt↓> (Z. 11-12). Begründung der Zurückweisung, die sequenziell fundiert wird, indem RT s Aktivität als Störquelle fokussiert wird: e"r spricht mich hier an und du sagst → FU lütfen← (Z. 12-14). Aufforderung zur Explikation der Kritik: kannst du mir erklären was das jetzt← bedeutet↑ (Z. 14-15). Parallel zu FU s Begründung in Zeile 12 startet IP einen ersten Versuch, seinen Ordnungsruf zu rechtfertigen: also ich finde- (Z. 13). Er bricht aber seine Formulierung ab und wartet, bis er von FU eindeutig als nächster Sprecher adressiert wird. Im zweiten Ansatz versucht IP durch vorgeschaltete Namensnennung und Aufmerksamkeitsformel zunächst die Kooperativität FU s zu sichern: ← FU → kuck=ma (Z. 16-17), und beginnt dann in Form einer argumentativen Aufzählung die Gründe für seinen Ordnungsruf zu explizieren: ich find dasäh also e"rstens du sagst dass wir ernst nehmen und dassich trenn des- (Z. 17-20). Er zitiert FU und erinnert an die grundlegend unterstellte Orientierung der Mitglieder, die Besprechung der organisatorischen Aufgaben nicht zu vernachlässigen. Diese Orientierung erfordert die Anstrengung aller, zwischen ernster und spielerischer Modalität zu trennen. FU unterbricht ihn und reklamiert ihrerseits, die Sitzung ernst zu nehmen: <ich nehm des ernst↓> - - - Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 217 stö"rt das jemanden↑ (Z. 21-22). Im zweiten Teil ihrer Äußerung referiert sie auf ihre vorherige Aktivität „Nägel feilen“, die sie als Auslöser für IP s Ordnungsruf betrachtet. Sie adressiert mit ihrer Frage nicht nur IP , sondern alle Anwesenden, um auch deren Situationsdefinition einzubeziehen. IP und FU haben sich zu diesem Zeitpunkt als Streitparteien warmgelaufen, sie wenden beide forcierende Verfahren an und verhindern die Einmischung Dritter. IP lässt auch jetzt keine Reaktion der anderen zu und bestätigt, noch überlappend mit FU s Frage, das von ihr unterstellte Motiv für seinen Ordnungsruf: ja das stört mi"ch↓ (Z. 23). FU liefert eine schnelle Ausgleichshandlung: 248 dann mach ich=s weg↓ (Z. 22) und zeigt damit ihre prinzipielle Kooperationsbereitschaft und Kritikfähigkeit an. Auf diese Ausgleichshandlung stuft IP seinen Vorwurf zurück und reduziert mit dem leiser und zurückgenommen gesprochenen: >ichmich stört des↓< (Z. 24) dessen Geltungsanspruch. Jetzt reagiert FU mit einer erneuten Offensive, die deutlich macht, dass für sie der zentrale Punkt des Konflikts noch offen ist: <dann sag mir dass da"s dich stö"rt↓> (Z. 25-26). Nicht die Kritik an sich betrachtet sie als problematisch, sondern zwei Aspekte des Ordnungsrufes: seine inhaltliche Unbestimmtheit: er referiert nicht auf die inkriminierte Handlung und die Kritisierte kann den Kritikpunkt nur erahnen; und seine sequenzielle Platzierung: der Ordnungsruf folgt auf eine spielerische Äußerung von RT an FU , weshalb für die Störung eigentlich RT und nicht FU verantwortlich ist; da sich IP jedoch durch FU s Nägelfeilen gestört fühlt, ist der Zeitpunkt, ihr das zu sagen, ungünstig gewählt, die Platzierung des Ordnungsrufes an sie ‘heikel’. Die sequenzielle Anbindung des Ordnungsrufes in Verbindung mit dem Sprachwechsel und der inhaltlichen Vagheit machen seinen problematischen Charakter aus. FU erreicht durch ihre diskursiv-kooperative Art das Einsehen von IP : +>←oka: y gut↓ * mich stört=s↓ isch denke du- (Z. 27-28). Mit einem deutlich hörbaren Ausatmen und dem leiser gesprochenen Kommentar: ATMET AUS >so ein scheiß echt↓< (Z. 29) signalisiert FU das Ende der Konfliktbearbeitung, und IP ratifiziert den Abschluss, indem er mit der Kurzformel >weiter↓< (Z. 28) zur Besprechung der Tagesordnungspunkte überleitet. 248 Goffman (1978, S. 25ff.) beschreibt das (rituelle) Schema von Ausgleichshandlungen, das aus den folgenden Schritten besteht: a) „Herausforderung“: Ein interaktiver Vorgang wird von einem Beteiligten als Angriff, Beleidigung etc. verstanden; b) „Angebot“: Der Missetäter macht ein Angebot zur Wiedergutmachung (er entschuldigt sich, verspricht Besserung u.Ä.); und c) „Angebotannahme“: Die „geschädigte“ Person nimmt das Wiedergutmachungsangebot an. - - Migration, Sprache und Rassismus 218 Bei den „Unmündigen“ kontextualisieren sequenziell kleinräumige Sprachalternationen in den meisten Fällen, wenn sie Aspekte der Modalität betreffen, einen Wechsel von der ernsten zur spielerischen Modalität. Das hier analysierte Beispiel zeigt jedoch, dass es auch Belege für die umgekehrte Richtung gibt. Auffällig an diesem Fallbeispiel ist, dass die beiden Streitparteien FU und IP , die beide türkischer Herkunft sind, bis auf das türkische Wort lütfen („bitte“) zu Beginn, das die ganze Sequenz auslöste, während ihrer gesamten Auseinandersetzung kein zweites Mal vom Deutschen ins Türkische wechseln. Das unterstreicht ihre starke sozialweltliche Orientierung auf Deutsch als präferierte Gruppensprache. Fallbeispiel 4: Markierung eines Modalitätswechsels Auch mit dem nächsten und letzten Beispiel zu sequenziell kleinräumiger Sprachalternation liegt ein Fall vor, bei dem die Beteiligten Aspekte der Interaktionsmodalität und des Faceschutzes behandeln. Zum Kontext: Im präsentierten Ausschnitt gehen die Beteiligten der Frage nach, bei welchem Mitglied eine Adressenliste abgeblieben sein könnte, die die Gruppe dringend braucht. Alle vermuten, dass BI , ein anwesendes Gruppenmitglied, die Liste zuletzt hatte. Als ein Beteiligter erneut allgemein fragt, wer wohl die Liste hat, ereignet sich Folgendes: Transkript 18: die adressenliste 01 WE: wer hat was ↑ ↓ ds=mein ich ↓ 02 AM: ↑ die adressenliste ↓ 03 WE: ja: ↑ * 04 BI: ↑ ich hab eine zuhause ↓ 05 OL: ↑ ↓ bak ↑ * Ü ↑ ↓ schau ↑ * 06 OL: zuhausede olduğunda bu"rda olduğunu Ü wenn du zuhause bist sagst du dass sie hier 07 OL: söylüyosun * burda olduğunda zuhau"sede Ü ist * wenn du hier bist sagst du dass sie zuhause 08 OL: >olduğunu ↓ |söylüyosun ↓ #olur mu↑<#| Ü ist ↓ geht das ↑ K ↓ ↓ #SCHMUNZEL#ND 09 AM: ↓ |LACHT ↓ ↓ | is 10 AM: #flexibel- * die liste ↓ # K #LACHEND ↓ # Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 219 Vor dem Beginn des Transkriptausschnitts hatte AM nach einer Adressenliste gefragt, die die „Unmündigen“ seit einiger Zeit vermissen. Parallel zu seiner Frage sprach jemand gleichzeitig. Aufgrund dieser Simultanpassage stellt WE in Zeile 01 an AM die Frage: wer hat was↑. AM antwortet mit die adre"ssenliste↓ (Z. 02), worauf WE die Relevanz des Themas bzw. der Frage von AM bestätigt: ds=mein ich↓ ja: ↑ (Z. 01-03). Nach einer kurzen Pause 249 reagiert BI , von der alle annehmen, dass sie die einzig vorhandene Liste hatte, zweideutig: ich hab eine zuhause↓ (Z. 04). Ihre Äußerung ist ausweichend, da sie durch die Verwendung des unbestimmten Artikels unterstellt, dass es mehrere Exemplare der Liste geben würde. Im folgenden Redebeitrag nimmt OL in Zeile 05- 08 nicht auf diesen Punkt Bezug, sondern generell auf den ausweichenden Charakter von BI s Verhalten: bak↑ * zuhausede olduğunda bu"rda olduğunu söylüyosun burda olduğunda zuhau"sede >olduğunu söylüyosun↓ olur mu↑< („schau, wenn du zuhause bist, sagst du, dass sie hier ist, wenn du hier bist, sagst du, dass sie zuhause ist, geht das“). Inhaltlich deckt OL das ausweichende Verhalten BI s auf. Aber auf der sprachlichen Ebene kontextualisiert sie mit dem Wechsel in den deutsch-türkischen Mischcode 250 eine spielerische Modalität, die durch die leicht lachende Artikulation gegen Ende der Äußerung (Z. 08) verstärkt wird, und stuft so die für BI heikle Sequenz etwas herab. 251 Auf den Modalitätswechsel reagiert AM , parallel zu OL s Äußerung, mit Lachen und dann mit einem ironischen Kommentar, in dem er den Fokus von SE auf die Liste lenkt: is flexibel- * die liste↓ (Z. 09-10). 249 Zur Analyse und Unterscheidung von „Pausen“ als „Lücken“, „Verstummen“, „bedeutsames Schweigen“ etc. im Gespräch siehe u.a. Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1978) und Levinson (1990). Schmitt (2004) analysiert Gesprächspausen aus multimodaler Perspektive. 250 Der Begriff ‘Mischcode’ wird hier aufgrund der Einbettung des deutschen Elements „zuhause“ in den türkischen Matrixsatz verwendet. Eine alternative Interpretation wäre, hier nicht vom Wechsel in den Mischcode, sondern einem Wechsel ins Türkische zu sprechen. Das deutsche Element „zuhause“ würde dann als eine Insertion betrachtet, die zur textuellen Kohärenzherstellung (vgl. Auer 1998, S. 7) in der Ursprungssprache Deutsch zitiert und nicht auf Türkisch ‘übersetzt’ wird. Zur Unterscheidung von „matrix language“ und „embedded language“ in der Sprachvariationspraxis mehrsprachiger Sprecher siehe Myers- Scotton (1993a). 251 Der Modalitätswechsel wird hier doppelt - mit anderen Worten redundant - kontextualisiert: a) durch Codewechsel und b) durch das Schmunzeln. Zur Redundanz von Kontextualisierungshinweisen schreibt Auer (1984, S. 18): „Research on contextualization has shown that transitions between activity types are often marked on more than one level, thereby securing understanding even in cases where attention is given to some signalling channels only, or where participants do not necessarily share knowledge about contextualization conventions.“ Migration, Sprache und Rassismus 220 In diesem Abschnitt habe ich vier Fallbeispiele für sequenziell kleinräumige Sprachalternationen untersucht. Diese Fälle stehen für die häufigsten Formen von lokalen Sprachalternationen, wie sie bei den „Unmündigen“ vorkommen. Mit sequenziell kleinräumigen Alternationen ins Türkische kontextualisieren die Beteiligten u.a. Nebensequenzen, spielerische/ ernste Kritik und Modalitätswechsel verbunden mit Aspekten des Faceschutzes. Andere Funktionen von Sprachalternationen, die bei den „Unmündigen“ zu beobachten sind und die hier nicht untersucht wurden, sind Sprachwechsel zur Markierung von Kommentaren und Medienzitaten. 7.3.3 Sequenziell großräumige deutsch-türkische Sprachalternationen Neben den sequenziell kleinräumigen Sprachalternationen, die in der gruppeninternen Kommunikation der „Unmündigen“ die Mehrheit der Sprachwechselphänomene ausmachen, gibt es ebenso Interaktionspassagen, in denen die Beteiligten über eine längere Zeitspanne zwischen Deutsch und Türkisch alternieren (vgl. Abschnitt 7.3). Diese Fälle von Sprachwechsel über eine längere Zeitspanne wurden als sequenziell großräumige Sprachalternationen bezeichnet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Beteiligten über eine Dauer von bis zu 20 Minuten zwischen den Sprachen wechseln. Die soziostilistische Bedeutung dieser Sprachpraxis besteht darin, dass diese Sprachalternationen in den Interaktionen der „Unmündigen“ nie bei der Bearbeitung von zentralen Gruppenaktivitäten wie etwa beim Reden über eigene politische Aktionen auftreten. 252 Sie kommen immer nur dann vor, wenn die Beteiligten periphere Aktivitäten wie Begrüßungen, Alltagserzählungen, Verabschiedungen etc. bearbeiten, oder wenn sie unfokussiert und assoziativ über Migrationsthemen im weitesten Sinne reden. Im Folgenden werde ich für sequenziell großräumige Sprachalternationen eine Interaktionspassage detailliert analysieren. Aus der Darstellung der Verlaufsform B in Abschnitt 7.3 ging nicht hervor, in welchem Maße die Beteiligten in den Verdichtungspassagen die einzelnen Sprachen verwenden, da die Verlaufsformen nur zur makroskopischen Erfassung der Sprachverwendungsmuster in den Gruppentreffen erstellt wurden. 253 Im Folgenden soll weitergehender und genauer untersucht werden, in welchem Umfang und wie die Beteiligten in solchen Verdichtungspassagen auf Deutsch 252 Sequenziell-großräumige Sprachalternationen kommen bei der Bearbeitung zentraler Gruppenthemen auch dann nicht vor, wenn nur türkischsprachige Mitglieder bei der Sitzung anwesend sind. 253 So bedeutet in der Darstellung der Verlaufsform ein Strich in der „V“-Zeile lediglich, dass in einer Zeitspanne von 30 Sekunden mindestens ein türkisches Wort vorkommt. Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 221 und Türkisch zurückgreifen. Diesbezüglich habe ich eine Verdichtungspassage, die für die sequenziell großräumige Sprachalternation der „Unmündigen“ typisch ist, quantitativ ausgewertet. Es handelt sich dabei um den eingegrenzten Bereich in der unteren Abbildung 5. Die quantitativen Ergebnisse finden sich in der folgenden Tabelle 5. Abb. 5: Verdichtungspassage Verdichtungspassage aus dem Treffen 1811 der „Unmündigen“ Sprecher Redebeiträge YA ME AR TU AL Redebeiträge insgesamt deutsch 53 32 29 24 14 152 türkisch 05 12 01 07 0- 025 dt.-türk. gemischt 06 05 05 02 01 019 Rest 11 03 06 03 03 026 Redebeiträge insg. 75 52 41 36 18 222 Tab. 5: Auswertung der Verdichtungspassage 1811 254 Aus der Tabelle geht hervor, dass auch in den Verdichtungspassagen Deutsch die dominante Sprache ist. Von insgesamt 222 Redebeiträgen sind 152 monolingual deutsche Turns, was einen Anteil von 68% ausmacht. Die monolingual türkischen und deutsch-türkisch gemischtsprachlichen Redebeiträge machen dagegen zusammen 32% der Turns aus. Im Folgenden werde ich zur Veranschaulichung dieser deutsch-türkischen Verdichtungspassagen einen Interaktionssauschnitt präsentieren und gesprächsanalytisch untersuchen, in dem besonders häufig zwischen den Sprachen alterniert wird. Der Fokus der Untersuchung wird auf der Frage liegen, ob in diesen Passagen mit dichter Sprachalternation einzelne Sprachwechsel sequenziell bedeutsam sind oder nicht. 254 Siehe Anhang 11.7, wo sich zwei weitere Tabellen zu Verdichtungspassagen befinden. Migration, Sprache und Rassismus 222 Zum Kontext der Interaktion: Nachdem alle Mitglieder im Café des Kulturhauses eingetroffen sind, beschließen sie, sich für die Dauer der Sitzung in einen der Clubräume zurückzuziehen. ME , YA und TU gehen vor. Der Transkriptausschnitt beginnt in dem Moment, als die drei in den Clubraum eintreten. Bis zu diesem Zeitpunkt führten die Beteiligten ein scherzhaftes Gespräch über die Beziehung von ME zu einem anderen Mitglied der „Unmündigen“, das mit der Äußerung von ME in Zeile 01 abgeschlossen wird. Mit ME s Äußerung in Zeile 02 ( YA bitte nicht aufmachen↓) beginnt ein neuer thematischer Strang; sie bittet YA , der gerade das Fenster im Clubraum aufmachen will, weil die Luft im Zimmer stickig ist, das nicht zu tun. Dieser Abschnitt wird ab Zeile 10 von einem neuen Thema abgelöst, als ME beginnt, von ihrer aktuellen Gehaltserhöhung zu erzählen; die bleibt bis zum Ende des Transkriptausschnitts Thema des Gesprächs zwischen ihr und YA . Transkript 19: zweifeln yapıyormuş 01 ME: ←BO benim platonik aşkım ama hiç kimse Ü ← BO ist meine platonische Liebe aber das weiß 02 ME: bilmiyo bunu ↓ → şimdilik- * YA bitte nicht Ü niemand ↓ → bis jetzt- 03 ME: aufmachen ↓ 04 YA: ↓ vallahi ↑ es=s doch hier Ü ↓ wirklich ↑ 05 YA: |(stickig)| ↓↓ dur Ü ↓↓ warte 06 TU: |(...) | 07 ME: es war so angenehm ↓ so warm ↓ 08 YA: |biraz-| temiz hava |(girsin)| Ü etwas- frische Luft (rein lassen) 09 TU: | biraz| çıksın ya ↓ Ü etwas raus lassen, Mensch ↓ 10 ME: | ←iyi| Ü | ← gut 11 ME: hadi çıksın ↓ → *1,5* <hey ↑ > heute war ich Ü dann soll sie („die schlechte Luft”, m.A.)raus ↓ → 12 ME: wieder in frankfurt den ganzen tag ne ↑ 13 YA: mh ↓ 14 ME: ja: orda bizim bereichsleitungu görüyorum ↑ Ü dort sehe ich unsere Bereichsleitung ↑ so Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 223 15 ME: böyle çok önemli ↓ yukarlardan bi adam ↓ (er) Ü: [ein] sehr wichtiger ↓ ein Mann von den Oberen ↓ 16 ME: hat gesagtkommen sie kurz in |mein ↑ | 17 YA: |echt ↑ | 18 ME: zimmer ↑ ↓ odasına gidiyo|rum ↑ | eh diyor Ü ↑ ↓ ich gehe in sein zimmer ↑ er sagt 19 YA: ↑ mh ↓ |evet ↓ | Ü ↑ ↓ ja ↓ 20 ME: ki bana ↑ * ja ↑ ich wollte ihnen die ↑ Ü zu mir ↑ 21 ME: mi"tteilung machen äh dass wir ihr gehalt 22 ME: erhöhen ↓ ben- |#ach ja ↑ # LACHT| mir ging=s Ü ↓ ich- K ↓ #LACHEND# 23 YA: ↓ |oh: ↑ ja ja ja ja| 24 ME: dann so #richtisch gu: t ↑ ich hab alles# K #LEICHT LACHEND ↑ # 25 ME: schme"rzen ver|gessen ↓ | 26 YA: |millete| bak ya ↓ * ee: niye Ü schau dir die Leute an, Mensch ↓ 27 YA: ge/ niyehas=du nich gesagt warum ↑ Ü und: warum ge/ warum- 28 ME: ↑ <wieso 29 ME: warum ↑ ich=ab=s verdie“nt ↓ > öyle şey sorulur Ü ↑↓ fragt man denn so 30 ME: mu ↓ |←sanki ke"ndin| kendine zweifeln Ü etwas ↓ ← als ob du an dir selbst zweifeln 31 YA: ↓ |LACHT | 32 ME: yapıyormuş|sun gibi ↓ →| du musst überzeu“gt Ü würdest ↓ → 33 YA: |tabi tabi ↓ | Ü klar klar ↓ 34 ME: von dir sein ↓ * →sch=ab gesagt ↓ ← ich 35 ME: ←wa"rte schon la"nge darauf ↓ → |LACHT 36 YA: ↓ → |#ja=ber echt K ↓ → #LEICHT 37 ME: ↓ |=LACHT 38 YA: hey ↓ #| K LACH#END Migration, Sprache und Rassismus 224 Der Transkriptausschnitt zeigt eindrucksvoll wie häufig die Beteiligten in solchen Verdichtungspassagen zwischen Deutsch und Türkisch alternieren. Sprachalternationen finden zwischen allen möglichen sprachlichen Einheiten statt, zwischen und innerhalb von einzelnen Redebeiträgen, Sätzen oder gar innerhalb eines Wortes. In dieser Passage ist es nicht möglich, eine Interaktionssprache ausfindig zu machen. D.h. für die Beteiligten stellt in solchen sprachlichen Verdichtungspassagen die ständige Alternation zwischen Deutsch und Türkisch den Interaktionscode dar, so dass man in Auers (1999) Kategorien von einem Mischcode oder von der Praxis des Code-Mixing sprechen kann. Andererseits zeigt aber die gesprächsanalytische Untersuchung des Ausschnitts, dass viele Sprachalternationen sequenziell nicht funktionslos sind. Bei der folgenden Analyse des Transkripts gehe ich chronologisch vor: Sprachwechsel zur Kontrastierung unterschiedlicher Interaktionsaktivitäten Noch vor dem Transkriptausschnitt hatten die Beteiligten ein scherzhaftes Gespräch über ME s Beziehung zu BO , einem nicht anwesenden Gruppenmitglied, geführt. Mit ME s Äußerung in Zeile 01-02, ← BO benim platonik aşkım ama hiç kimse bilmiyo bunu↓→ şimdilik- ( BO ist meine platonische Liebe aber niemand weiß das↓ bis jetzt-), wird dieses Thema beendet. In Zeile 02-03 initiiert ME einen neuen thematischen Strang. Sie bittet YA , der gerade das Fenster aufmachen will, weil die Luft im Clubraum stickig ist, das nicht zu tun: YA bitte nicht aufmachen↓. Der Themawechsel wird von ME durch einen Sprachwechsel ins Deutsche markiert. Sprachwechsel zur Aushandlung von Positionen Die in Deutsch formulierte Bitte ME s, YA solle das Fenster nicht aufmachen, löst in der Folge eine Aushandlungssequenz aus. YA reagiert in Zeile 04-05 mit einem deutsch-türkischen Turn, in dem er zunächst auf Türkisch seinen Dissens andeutet, vallahi↑ (wirklich), und dann auf Deutsch seine Gegenposition vorträgt: es=s doch hier (stickig). Nachdem ME auf ihrer Position insistiert, die sie erneut auf Deutsch formuliert, es war so angenehm so warm↓ (Z. 07), reagieren nun sowohl YA (Z. 05-08) als auch TU (Z. 09) mit türkisch formulierten Gegenargumenten. Die Aushandlungssequenz kommt zum Abschluss, als ME in Zeile 10-11 ihre Position aufgibt und auch sprachlich mit YA und TU konvergiert, indem sie ihre Zustimmung auf Türkisch formuliert: iyi hadi çıksın↓ (gut, dann soll die [stickige Luft] halt raus). - - Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 225 Sprachwechsel zur Ankündigung und Binnenstrukturierung von Erzählungen Nach ihrer Zustimmung und einer kurzen Pause kündigt ME in Zeile 11-12 eine Erzählung an und wechselt dazu vom Türkischen ins Deutsche: <hey↑> heute war ich wieder in frankfurt den ganzen tag ne↑. Die Erzähleinleitung in Zeile 14 ist dann im deutsch-türkischen Mischcode ja: orda bizim bereichsleitungu görüyorum (ja, dort sehe ich unsere Bereichsleitung). 255 Nachdem sie in Zeile 15 auf Türkisch eine Hintergrundinformation liefert, böyle çok önemli↓ yukarlardan bi adam↓ (so ein sehr wichtiger↓ ein Mann von den Oberen↓), wechselt sie bei der Einleitung und Wiedergabe der direkten Rede (des Bereichsleiters) erneut ins Deutsche: (er) hat gesagtkommen sie kurz in mein zimmer↑ (Z. 15-18). Für die Darstellung der Szene setzt ME die beiden Sprachen funktional ein: Sie gibt die Zitate auf Deutsch wieder und formuliert ihre Rahmungen auf Türkisch. Wie routiniert dieses rhetorische Muster in hoher Erzählgeschwindigkeit gebraucht wird, verdeutlicht vor allem in Zeile 22 die elliptische türkische Rederahmung, ben (ich), der ohne Pause deutsche Zitate vorangehen und folgen. Schließlich beendet ME ihre Erzählung mit einem Kommentar, der wie die Erzählankündigung auf Deutsch formuliert ist und wie eine abschließende Rahmung funktioniert: mir ging=s dann so richtisch gu: t ↑ ich hab alles schme"rzen vergessen (Z. 22-25). Des Weiteren sind in dieser Passage insbesondere die Rezipientensignale von YA (Z. 17 und Z. 19) hervorzuheben. In bemerkenswerter Weise sind seine Reaktionen sprachlich mit den Äußerungen von ME synchronisiert: Parallel zu ME s deutscher Redewiedergabe sagt er echt↑ (Z. 17) und kurze Zeit später parallel zu ihrer türkischen Rederahmung evet↓ (ja, Z. 19). Sprachwechsel zur Markierung eines Kommentars YA s Reaktion auf ME s Erzählung nach ihrem Kommentar ist emotional distanziert. Der Wechsel der Äußerungsmodalität von ‘euphorisch’ ( ME ) zu ‘distanziert’ ( YA ) wird zusätzlich durch einen Sprachwechsel ins Türkische hervorgehoben: millete bak ya↓ (schau dir die Leute an, Mensch↓, Z. 26). Nach dieser formelhaften Wendung bleibt YA im Türkischen und setzt zu einer Frage an, niye ge/ niye- (warum ge/ warum-), die er abbricht und auf Deutsch reformuliert: has=du nicht gesagt warum↑ (Z. 26-27). Über die Gründe des Abbruchs und der Reformulierung kann hier nur spekuliert werden. Eine plausible Erklärung ist, dass in YA s Frage ein (fiktives) Zitat eingebaut ist, das in der Referenzwelt auf Deutsch hätte formuliert werden müssen ( ME gegenüber 255 Zur genauen Analyse dieses Mixing-Musters siehe weiter unten. - - Migration, Sprache und Rassismus 226 ihrer deutschen Bereichsleitung). Dass aber YA das im Zitat zentrale Fragewort „warum“ zunächst auf Türkisch formuliert, niye (warum), könnte für ihn der Grund dafür gewesen sein, die gesamte Äußerung abzubrechen und auf Deutsch zu reformulieren. Eine andere Erklärung wäre, dass sich YA so sehr im bilingualen Modus befindet, dass er in selbstverständlicher Weise lokale Prozessierungsprobleme durch Wechsel und Reformulierung in der anderen Sprache löst. Sprachwechsel zur Markierung von Argumentationsmustern ME reagiert auf YA s distanzierte und hinterfragende Äußerung ausgesprochen erbost. Laut und mit dem Argumentationsmuster „Gegenfrage + Antwort“ widerspricht sie YA in Zeile 28-29: <wieso warum↑ ich=ab=s verdie"nt↓>. Dann expandiert und präzisiert sie ihre Position, verwendet dabei dasselbe Argumentationsmuster und hebt es zusätzlich durch einen Wechsel in den deutsch-türkischen Mischcode hervor: öyle şey sorulur mu↓ ←sanki ke"ndin kendine zweifeln yapıyormuşsun gibi↓→ (fragt man denn so etwas↓ als ob du an dir selbst zweifeln würdest↓, Z. 29-32). Mit dem anschließenden Wechsel ins Deutsche markiert ME die Schlussfolgerung ihrer Argumentation: du musst überzeu"gt von dir sein↓ * →sch=ab gesagt↓← ich ←wa"rte schon la"nge darauf↓→ (Z. 32-35). Sprachübernahme zur Konsenshervorhebung Betrachtet man YA s Reaktionen auf den letzten Redebeitrag von ME , so fällt seine sprachliche Synchronisierung ins Auge. 256 In Zeile 33 reagiert er parallel zu ME s Äußerung, deren Matrixsprache Türkisch ist, ebenfalls auf Türkisch: tabi tabi↓ (klar, klar). Und ebenso verstärkt er seine inhaltliche Übereinstimmung in Zeile 36-38 durch Übernahme von ME s Interaktionsprache (Deutsch): ja=aber echt hey↓. Mit dieser fein abgestimmten Sprachwahl unterstreicht er in höchst effektiver Weise seinen Konsens mit ME . Neben diesen sequenziell bedeutungsvollen Sprachwechseln zeigen insbesondere zwei Äußerungen, welche Muster im Code-Mixing für die „Unmündigen“ charakteristisch sind. Dabei handelt es sich um die Formulierungen in Zeile 14, ja: orda bizim bereichsleitungu görüyorum↑ (ja: dort sehe ich unsere Bereichsleitung↑), und in Zeile 30-32, sanki kendin kendine zweifeln yapıyormuşsun gibi (als ob du an dir selbst zweifeln würdest): 256 In bilingualen Kommunikationen ist häufig zu beobachten, dass die Beteiligten Konsens mit Sprachübernahme und Dissens mit unterschiedlicher Sprachverwendung anzeigen (siehe zum Beispiel Keim (2007, S. 366-379) zu Sprachwechselmuster bei Aushandlungen und Streit). - - Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 227 a) ME (Z. 14): ja: orda bizim bereichsleitungu görüyorum↑ (ja: dort sehe ich unsere Bereichsleitung↑): Die Matrixsprache der Äußerung ist Türkisch. Sie beinhaltet aber die vorgeschaltete deutsche Interjektion ja und die deutsche Insertion bereichsleitung, die mit dem adäquaten türkischen Akkusativsuffix -u versehen und somit in den Matrixsatz integriert ist. Dabei kann das Substantiv „Bereichsleitung“ aus der Perspektive der Sprecherin als ein „core borrowing“ (Myers-Scotton 1993a, S. 168ff.) eingestuft werden, über dessen türkisches Äquivalent „bölüm şefi“ die Sprecherin verfügt. 257 Der Grund für die Verwendung des deutschen Ausdrucks ist darin zu sehen, dass er im Kontext der Erzählung - ME arbeitete zum Zeitpunkt der Aufnahme in einer deutschen Bank - lebensweltlich naheliegender ist als der türkische. b) ME (Z. 30-32): sanki kendin kendine zweifeln yapıyormuşsun gibi (als ob du an dir selbst zweifeln würdest): Auch diese Formulierung ist ein Beleg für deutsch-türkisches Code-Mixing. In die türkische Äußerung ist das deutsche Verb zweifeln insertiert, das mit Hilfe des direkt folgenden flektierten türkischen Tunverbs „yapmak“ in die Matrixsprache integriert wird. 258 Neben der Tatsache, dass die Sprecherin auch in diesem Fall über den türkischen Ausdruck für zweifeln (şüphelenmek) verfügt, ist insbesondere die aus lebensweltlicher Perspektive geringe semantische Spezifität des Verbs zweifeln (im Gegensatz zu Bereichsleitung oben) ein Argument dafür, dass es sich hierbei um die Variationspraxis des Code-Mixing handelt. 259 Dabei zeigt das Reflexivpronomen kendine (mit dem Dativsuffix -(n)e), dass im Mischcode nicht alles grammatisch wohlgeformt sein muss/ ist bzw. dass die Grammatiken beider Sprachen in eine interessante Interaktion treten. Die Formulierung mit dem türkischen Verb şüphelenmek für zweifeln hätte das Reflexivpronomen kendinden mit dem Ablativsuffix -(n) den benötigt. Die Verwendung des deutschen Verbs zweifeln, das die Präposition an mit folgendem Dativ(-Objekt) erfordert, scheint hier prospektiv bzw. regressiv die Auffälligkeit ausgelöst zu haben. 260 257 Zur Klärung der Frage, ob die Sprecherin über die äquivalente Form im Türkischen verfügt, wurde ein Test durchgeführt. Zur empirischen Analyse von „cultural“ und „core borrowing“ siehe auch Balci (2004). 258 Backus (1996, S. 230-283) untersucht anhand von niederländisch-türkischen Variationsfällen sehr ausführlich und detailliert die Struktur ‘niederländisches Verb im Infinitv + flektierte Form von yapmak’. Zu deutsch-türkischen Strukturen mit yapmak siehe Hinnenkamp (2005) und Keim (2007). Zur Integration von norwegischen Verben mit Hilfe des türkischen Tunverbs yapmak siehe Türker (2000). 259 Zum Ansatz der „semantischen Spezifität“ von Einheiten beim Code-Switching siehe Backus (2001). 260 Vergleichbare Fälle im Sinne von „Fehlern“ bei der Verwendung der deutschen Kasusmarkierung werden im Gegensatz zu dem hier besprochenen Beispiel stets korrigiert, was ein weiterer Beleg für die Dominanz des Deutschen ist. Migration, Sprache und Rassismus 228 Die Haltung der „emanzipatorischen Migranten“ gegenüber der deutsch-türkischen Sprachvariation ist positiv. 261 Es gibt im gesamten Material keine einzige Stelle, an der sie die Variation als dispräferiert markieren würden. Das periphere Vorkommen der Verdichtungspassagen in den Gruppentreffen ist lediglich ein Zeichen der sozialweltlichen Orientierung, die zentralen Interaktionsaktivitäten in Deutsch zu bearbeiten. Dass Verdichtungspassagen oder lokale Variationsfälle häufig bei Alltagserzählungen in Erscheinung treten, ist ein Zeichen dafür, dass abseits der fokussierten Aktivitäten einzelne Sprecher sehr häufig zwischen den Sprachen alternieren können. Dass diese positive Haltung gegenüber deutsch-türkischen Sprachalternationen nicht nur für die Gruppe der „Unmündigen“ zutrifft, sondern ein Kennzeichen der gesamten Sozialwelt der „emanzipatorischen Migranten“ ist, kommt im folgenden Zitat zum Ausdruck. Darin erläutert Halil Can, eine der Gründungsmitglieder der Berliner „kauderzanca“, die Hintergründe des Gruppennamens: Die gemischtsprachigkeit in meinem denken und hören spiegelt sich unbewußt auch in meiner gesprochenen sprache wieder. Im deutschen gibt es hierfür die bezeichnung ‘kauderwelsch’. Sie ist jedoch kein passendes wort für dieses sprachphänomen. Deshalb findet hierfür das amerikanische wort ‘code switching’ bessere anwendung. Funktionieren tut sie jedoch meist nur unter gleichsprachigen code switchern. In meinem gleichsprachigen verwandschafts- und freundeskreis ist es beispielsweise völlig normal und selbstverständlich, in den sprachen türkisch und deutsch zu code switchen. Es ist weniger eine konstruktion als eine eigene für sich selbst stehende sprache, die ihre quelle aus der türkischen und der deutschen sprache speist. In unseren reihen hat sich hierfür in Berlin deshalb die bezeichnung ‘kauderzanca’ etabliert, ein mischwort aus dem wort ‘kauderwelsch’ und der dazugehörigen türkischsprachigen bezeichnung ‘tarzanca’. Die kreation dieses kunstwortes findet ihren ursprung in der vor 10 Jahren in Berlin gegründeten interkulturellen zeitschrift kauderzanca. 262 261 Diesen Befund unterstützt auch die Beobachtung, dass vor allem die Autoren aus dem „emanzipatorischen Migrantenmilieu“ in ihren literarischen Werken ungezwungen auf deutsch-türkische Sprachalternationen zurückgreifen, wie z.B. Zaimoglu (2000, S. 55): „Er ist der Mann am Tavla-Brett [m.H.], im Vergleich sind alle anderen bloß Nulpen, [...]“; oder Ayata (2005, S. 26): „Ibne [m.H.], hat das nicht bis morgen Zeit? “ Dass dabei in den Texten die türkischen Ausdrücke oftmals unübersetzt bleiben, kann als Ausdruck nicht nur des stilistischen Selbstbewusstseins dieser Autoren interpretiert werden. 262 Internet: http: / / parapluie.de/ archiv/ generation/ wanderer (Stand: 08.03.2010). Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 229 7.4 Sprachwahl, -orientierung und -variation der „Europatürken“ Die Analyse des Sprachverhaltens der „Unmündigen“ in den letzten Abschnitten zeigt, dass die „emanzipatorischen Migranten“ im Einklang mit ihrem Selbstbild als in Deutschland lebende Migranten Deutsch als ihre dominante Gruppensprache verwenden und deutsch-türkische Variationen als einen wichtigen Ausdruck ihrer migrantischen Identität betrachten. In diesem Abschnitt werde ich ausführen, welches Sprachverhalten die „akademischen Europatürken“ zeigen und wie dieses in Verbindung mit ihrer Identität als in Europa lebende Elitetürken steht. Die Sprachwahl- und Variationsphänomene der „Europatürken“ sind ausführlich von Aslan (2005) beschrieben worden, die ich an dieser Stelle zusammenfassend wiedergebe. Als in Deutschland aufgewachsene Studenten und Akademiker verfügen die „Europatürken“ über hohe Deutschkompetenzen. Sie verwenden Deutsch jedoch nur in gruppenexternen Situationen mit Mehrheitsangehörigen. In der gruppeninternen Kommunikation, die den Schauplatz für das eigene Selbstbild darstellt, ist Standardtürkisch ihre präferierte und dominante Interaktionssprache. Des Weiteren kommen in gruppeninternen Sitzungen auch deutschtürkische Sprachalternationen vor. In welcher Dichte deutsch-türkische Sprachalternationen bei den „akademischen Europatürken“ vorkommen, hängt wie bei den „emanzipatorischen Migranten“ davon ab, ob die Beteiligten zentrale oder periphere Gruppenaktivitäten behandeln. Wenn die Teilnehmer für die Gruppe konstitutive Themen wie Vorstandswahlen, Planen eigener Aktivitäten etc. durchführen, so befinden sie sich nahezu am monolingual türkischen Pol und zeigen nur einige wenige deutsche Insertionen. Je inoffizieller die Treffen sind, so dass periphere Alltagsthemen die Interaktion dominieren, desto öfter alternieren die Beteiligten zwischen Deutsch und Türkisch, wobei auch dann Türkisch die dominante Interaktionssprache bleibt. In der folgenden Tabelle 6 ist von Sema Aslan eine solche inoffizielle Sitzung ausgewertet worden, in der die Beteiligten relativ häufig zwischen Deutsch und Türkisch alternieren. Wie man aus der Tabelle 6 entnehmen kann, bleibt auch bei diesen inoffiziellen Sitzungen, die durch periphere Gruppenaktivitäten gekennzeichnet sind, Türkisch die dominante Interaktionssprache der „Europatürken“. 758 von insgesamt 1189 Sprecherbeiträgen sind monolingual türkisch, was einen Anteil von 64% ausmacht. Dagegen machen die monolingual deutschen und deutsch-türkisch gemischten Redebeiträge zusammen etwa nur 24% aus. Migration, Sprache und Rassismus 230 Treffen 2010 der „Europatürken“ (ca. 100 Minuten) Sprecher Redebeiträge SE PE DE Redebeiträge insgesamt türkisch 281 156 321 0758 deutsch 004 058 059 0121 deutsch-türkisch gemischt 028 069 067 0164 Rest 016 025 105 0146 Redebeiträge (einz.) Sprecher insg. 329 308 552 1189 Tab. 6: Auswertung der Sitzung 2010 („Europatürken“) 263 Wie Aslan (2005, S. 333) weiter ausführt, ist die Orientierung der „Europatürken“ auf Standardtürkisch als dominante Interaktionssprache sozialweltlich programmatisch, da sie als „Ausdruck der grundsätzlich positiven Hinwendung der Gruppenmitglieder zur modernen Türkei und zur zeitgenössischen türkischen Kultur“ zu verstehen ist. Aus diesem Selbstverständnis resultiert für die Gruppenmitglieder, dass sie ihr Türkisch, falls es Lücken aufweist, ständig zu verbessern und auszubauen versuchen. Dabei dienen ihnen die aus der Türkei stammenden (Gast-)Studenten und Doktoranden in ihrer Sozialwelt als sprachliche Vorbilder. Daher verwundert es nicht, dass das Türkische der „Europatürken“ eine Reihe von Merkmalen zeigt, die auch für das Türkische der (Bildungs-)Elite in der Türkei charakteristisch sind: Dialektvariablen werden in der gruppeninternen Kommunikation vermieden. Auffallend ist der Gebrauch einer differenzierten Lexik im Bereich aller Wortklassen und die Präferenz für englische und französische Lehnwörter als Ausdruck von Fortschrittlichkeit und guter Bildung. Die Gruppenmitglieder verwenden stilistisch gewählte und grammatisch aufwändige Formen. [...] Anders als die von Herkenrath/ Karakoç (2002) untersuchten deutsch-türkischen bilingualen Kinder, machen die „Europatürken“ beispielsweise sehr häufig von türkischen Subordinationsverfahren Gebrauch und verfügen über ein breites, aktiv genutztes Formeninventar. (Aslan 2005, S. 333f.) 263 Ich danke Sema Aslan für die Erlaubnis, diese bislang unveröffentlichte Tabelle hier verwenden zu dürfen. Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 231 Die Ergebnisse Aslans zum Türkischen der „Europatürken“ sind von weitreichender Bedeutung. Denn bisher wurden in der Forschung zum Türkischen (und Deutschen) der Migrantenkinder vornehmlich Defizite bzw. Interferenzen festgehalten, die diese in ihren Sprachen aufweisen würden (Aytemiz 1990; Sari 1995; Cabadağ 2001). Wie Cindark/ Aslan (2004) zeigen, sind diese Ergebnisse weitestgehend darauf zurückzuführen, dass die meisten dieser Studien schriftsprachliche Daten analysieren. Demgegenüber zeigt Aslans Analyse von gesprochensprachlichen Daten der „Europatürken“, dass deren Türkisch nicht nur zum Großteil intakt ist, sondern darüber hinaus von den Akteuren in den verschiedenen Bereichen wie Lexik, Grammatik, stilistischer Ausdruck etc. ständig ausgebaut wird. Neben der dominanten Verwendung des Standardtürkischen kommt es in der gruppeninternen Kommunikation der „Europatürken“ immer wieder zu kleinräumigen deutsch-türkischen Sprachalternationen. Diese Tatsache ist an für sich nichts Besonderes, da die Sprachvariation bei den meisten Migranten der Nachfolgegenerationen auf eine in der Kindheit und Jugend tief einsozialisierte Kommunikationspraxis zurückgeht (Keim 2007). Interessant und sozialweltlich wichtig ist jedoch, wie die „Europatürken“ mit deutsch-türkischen Sprachalternationen umgehen. In der gruppeninternen Kommunikation zeigen die „Europatürken“ mit verschiedenen sprachlichen, metaspachlichen und rhetorischen Mitteln an, dass sie sich im monolingual türkischen Modus unterhalten wollen und Sprachwechsel ins Deutsche dispräferieren: Inflationärer Gebrauch von Füllwörtern Wie Aslan (2005, S. 335) bemerkt, weisen die meisten „Europatürken“ durch ihre Sozialisation in Deutschland einige Lücken im türkischen Wortschatz speziell aus „dem institutionellen, organisatorischen, politischen und Bildungsbereich“ auf. Ihr Vokabular in diesen Bereichen ist zum Großteil durch das Deutsche dominiert. Aber aufgrund ihrer sprachlichen Orientierung, durchgängig im Türkischen kommunizieren zu wollen, versuchen sie auch dann, wenn ihnen spontan ein deutscher Ausdruck einfällt, diesen zu vermeiden und das türkische Äquivalent zu finden. Eine Folge dieser sozialweltlichen Spracheinstellung sind häufige Wortsucheprozesse, die sich in einigen Interaktionspassagen durch eine inflationäre Verwendung von türkischen Füllwörtern wie şey (Ding), falan (und so), işte (halt) oder hani (also) ausdrücken (Aslan ebd.). Diese Füllwörter erfüllen in der gruppeninternen Kommunikation häufig die Funktion eines sequenziell-lokalen Platzhalters, bis dem Sprecher das türkische Wort oder eine adäquate türkische Paraphrasierung einfällt. Im folgenden - Migration, Sprache und Rassismus 232 Beispiel fällt der Sprecherin ES trotz langer Suche die türkische Entsprechung des Fachworts „Rechtsfähigkeit“ nicht ein, so dass in Zeile 04 eine andere Sprecherin ( DI ) ihr den Begriff auf Deutsch vorschlägt. Transkript 20: rechtsfähigkeit 01 ES: onlara şey yapmış * genelmerkez * bu Ü hat ihnen Ding gemacht * der Hauptvorstand * 02 ES: yüzden * ehm * şubelere şey yapmak Ü deswegen * den Filialen will er Ding 03 ES: istiyo- * Ü machen- 04 DI: +<re"chtsfähigkeit> deniyo Ü sagt man 05 DI: |galiba ↓ | Ü glaub ich ↓ 06 ES: |rechtsfähig|keit aktarmak istiyo ↓ Ü will er übertragen ↓ ES s Redebeitrag in Zeile 01-03 ist durchsetzt mit Füllwörtern (sey (Ding)), gefüllten und ungefüllten Pausen (angezeigt durch Pausen und „ehm“) und Neustarts. Hintergrund dieser Formulierungsschwierigkeiten ist die Suche der Sprecherin nach einem Fachausdruck im Türkischen, und zwar für das deutsche Wort Rechtsfähigkeit. Dieser fällt ihr aber nicht ein. Darüber hinaus macht ihr beharrliches Suchen an dieser Stelle vor allem eines deutlich: Auch wenn ihre Formulierung inhaltlich unter der Suche nach dem richtigen türkischen Wort leidet, bleibt sie im monolingual türkischen Modus. Der gesuchte Ausdruck an dieser Stelle ist jedoch so spezifisch, dass er auch den anderen Interaktionsteilnehmern auf Türkisch nicht einfällt und DI in Zeile 04 ihn schließlich auf Deutsch vorbringt. 264 Lehnübersetzungen In bilingualen Interaktionen kommt es immer wieder zu dem besonderen Phänomen, dass ein Sprecher einen Ausdruck aus der Sprache A in die Sprache B übersetzt, ohne dass dieser Begriff in der übersetzten Sprache existiert. Einem Monolingualen der Sprache B fallen diese Lehnübersetzungen bzw. Inter- 264 Man könnte hier einwenden, dass der Fachausdruck „Rechtsfähigkeit“ der Sprecherin auch auf Deutsch nicht einfällt, und sie deshalb so lange überlegen muss. Aber zahlreiche andere Beispiele, bei denen die „Europatürken“ nicht nach Fachausdrücken, sondern alltäglichen Wörtern suchen, bestätigen die hier präsentierte Interpretation. - Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 233 ferenzen stark auf, ja sie können für ihn sogar gänzlich unverständlich sein. Aber in der Kommunikation zwischen Bilingualen, die über die Sprachen A und B verfügen, sind die Lehnübersetzungen zumeist verständlich. Die „Europatürken“ zeigen in ihrer gruppeninternen Kommunikation häufig solche Interferenzen, wenn sie im monolingual türkischen Interaktionsmodus bleiben wollen, ihnen aber gegenwärtig der adäquate türkische Ausdruck nicht einfällt. Aslan (2005, S. 339) nennt hierfür u.a. das Beispiel kültür coklulugu (kulturelle Menge), das eine Sprecherin ausgehend vom deutschen Ausdruck kulturelle Vielfalt bildet. Nach Aslan versucht die Sprecherin hier das Wort Vielfalt zu übersetzen, was nach Regeln des Standardtürkischen falsch ist, da man hier auf andere Substantive wie etwa auf (kültür) zenginligi (Reichtum) zurückgreifen müsste. Ein anderes von Aslan (ebd., S. 334) angeführtes Beispiel für eine Interferenz ist das Wort tencere (Kochtopf), das ein Sprecher in einer Diskussion über wirtschaftliche Zusammenhänge als Übersetzung für die deutsche Bezeichnung Finanztopf verwendet. Übersetzungen Lehnübersetzungen stellen für die „Europatürken“ eine Möglichkeit dar, ihrer Orientierung, durchgängig im monolingual türkischen Modus zu kommunizieren, nachzukommen. In der gruppeninternen Kommunikation kommt es aber immer wieder zu Situationen, in denen den Sprechern für eine Referenz - insbesondere aus institutionellen Bereichen wie Justiz, Betriebswirtschaft etc. - weder der türkische Ausdruck noch eine Lehnübersetzung einfällt, so dass sie zunächst den deutschen Ausdruck verwenden. Interessant ist, dass sie in solchen Fällen im direkten sequenziellen Anschluss, wenn ihnen der passende türkische Ausdruck einfällt, den deutschen Begriff auf Türkisch wiederholen bzw. übersetzen. Solche Übersetzungen kommen in der gruppeninternen Kommunikation der „Europatürken“ sowohl als selbstinitiierte Selbstreparatur, als auch als fremdinitiierte Fremdreparatur vor. Die folgenden ersten beiden Transkripte zeigen eine Selbstreparatur, das dritte Beispiel eine Fremdreparatur: Transkript 21: bekleidung und mode 01 SE: burda frankfurtta ↓ bekleidung und mode Ü hier in Frankfurt ↓ Bekleidung und Mode 02 SE: dedikleri moda ve tekstil üzerine bi senelik Ü wie sie sagen über Mode und Textil habe ich das 03 SE: lise diplomasını aldım ↓ Ü einjährige Diplom erhalten ↓ - Migration, Sprache und Rassismus 234 In diesem Gesprächsausschnitt spricht SE über ihren Bildungsweg. Das Gespräch verläuft im monolingual türkischen Modus. Als SE jedoch den Fachausdruck für ihre Ausbildung nennen will, fällt ihr zunächst der deutsche Ausdruck Bekleidung und Mode ein (Z. 01). Also spricht sie den Fachausdruck zunächst auf Deutsch aus, macht dann aber etwas ganz Interessantes: Sie rahmt den deutschen Ausdruck retrospektiv mit der türkischen Formel dedikleri (wie sie sagen, Z. 02). Dadurch markiert die Sprecherin den deutschen Ausdruck metakommunikativ auch als solchen und macht damit den anderen Gesprächsteilnehmern gegenüber deutlich, dass sie sich des kleinräumigen Sprachwechsels bewusst ist. Im Anschluss daran übersetzt sie den Ausdruck ins Türkische (Z. 02-03) und das Gespräch verläuft im monolingual türkischen Modus weiter. Transkript 22: toupieren yapiyo 01 SE: bide şey vardıtoupieren yapıyo diyorlar ↓ Ü und da gab es noch Dingsie toupiert wie sie 02 SE: yani kabartıyorlar Ü sagen ↓ also sie richten auf Auch in diesem Beispiel, bei dem die Sprecherin über Haarfrisuren erzählt, handelt es sich wie im obigen Fall um eine selbstinitiierte Selbstreparatur. Zu Beginn ihrer Äußerung macht SE durch die Verwendung der Proform şey (Ding, Z. 01) deutlich, dass sie Formulierungsprobleme hat. Da ihr ein türkischer Ausdruck nicht einfällt, verwendet sie zunächst ein deutsches Verb im Infinitiv (toupieren) und baut es mit Hilfe des flektierten türkischen Tunverbs yapmak (machen) in den türkischen Matrixsatz ein. Anschließend verwendet sie wieder die türkische Formel diyorlar (wie sie sagen) - diesmal im Präsens - und macht damit wie beim ersten Fallbeispiel metasprachlich deutlich, dass ihr der deutsch-türkische Sprachwechsel bewusst ist. Im direkten Anschluss übersetzt sie den deutschen Ausdruck mit einer türkischen Paraphrase: yani kabartiyorlar (also sie richten auf, Z. 02). Transkript 23: internationale bwl oder so 01 PE: diğeri de şeyi bitirmiş ↓ internationale bwl Ü und der andere hat Ding beendet ↓ 02 PE: oder so↓ uluslar arası işletme ↓ Ü internationale BWL ↓ Bei diesem letzten Beispiel handelt es sich um eine fremdinitiierte Fremdreparatur. Anfangs erzählt die erste Sprecherin PE über den Studiengang eines Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 235 Bekannten. Dabei fällt ihr die türkische Bezeichnung des Studiengangs nicht ein (angezeigt durch die Füllpartikel şeyi (Ding, hier im Akkusativ)), weshalb sie im Folgenden ins Deutsche wechselt: internationale bwl oder so (Z. 01). Im Anschluss an PE übersetzt die nächste Sprecherin SE den Ausdruck ins Türkische: uluslar arası işletme (internationale BWL , Z. 02). Solche fremdinitiierten Fremdreparaturen können in verbalen Interaktionen höchst heikel sein, da sie eine potenzielle Gesichtsbedrohung für die Korrigierte bedeuten. Aus diesem Grund ist es sehr bedeutsam, dass in der Sozialwelt der „Europatürken“ fremdinitiierte Fremdreparaturen, wenn sie in der Form von Übersetzungen ins Türkische erscheinen, nie negativ kommentiert und von den „Betroffenen“ stets positiv aufgenommen werden. Auch dadurch drücken die „Europatürken“ ihre Sprachorientierung auf das Standardtürkische aus. Französierungsstrategien Ein sehr interessantes Verfahren, mit dem die „Europatürken“ ihre Dispräferenz für deutsch-türkische Variation zum Ausdruck bringen, bezeichnet Aslan (2005, S. 340) als „Französierungsstrategie“. Wie weiter oben erwähnt, betrachten die „Europatürken“ die Einbettung von englischen und französischen Wörtern und Ausdrücken in ihr Türkisch positiv in dem Sinne, dass sie damit Fortschrittlichkeit und gute Bildung verbinden. Aus dem Gesprächsmaterial der „Europatürken“ nennt Aslan (ebd., S. 333) hierfür englische Ausdrücke wie free (frei), part time (Teilzeit), fifty fifty (halbe halbe) oder bye bye (Tschüss) und französische Ausdrücke wie fonksyon (Funktion) und jenerasyon (Generation). Solche Französismen und Anglizismen werden in der gruppeninternen Kommunikation der „Europatürken“ nie kommentiert oder gar korrigiert. Dagegen ist die Verwendung des Deutschen in der gruppeninternen Kommunikation dispräferiert. Eines der Verfahren, das diese Dispräferenz zum Ausdruck bringt, ist, dass deutsche Lexeme so ausgesprochen werden, als ob es sich um französische Lehnwörter im Türkischen handeln würde. Ein diesbezüglich sehr prägnantes Beispiel von Aslan ist das Wort Abitur, das eine „Europatürkin“ als abitür ausspricht. Der Ausdruck existiert im Französischen nicht. Dennoch äußert die Sprecherin das Wort in einer Weise, wie französische Lehnwörter im Türkischen ausgesprochen werden, z.B. wie manikür (Maniküre) oder pedikür (Pediküre). Indem die Sprecherin Abitur als abitür ausspricht, versucht sie die Tatsache zu verschleiern, dass sie ein deutsches Wort verwendet. 265 265 Zur Analyse weiterer Beispiele wie kritize etmek oder tradisyonel siehe Aslan (2005, S. 340). - Migration, Sprache und Rassismus 236 7.5 Zusammenfassung Soziolinguistische Studien zur Mehrsprachigkeit von Migranten fokussieren oftmals die Frage, ob und wie die Sprecher in Abhängigkeit von ihrer Generationszugehörigkeit z.B. in gruppeninternen Kommunikationssituationen die Sprachen des Herkunfts- und des Einwanderungslands verwenden. Dabei wird häufig festgestellt, dass Migranten der zweiten/ dritten Generation a) einen „shift“ von der Herkunftssprache hin zur Sprache des Einwanderungslands zeigen und b) frequent zwischen den Sprachen alternieren. Zu a) Die Analyse der „Unmündigen“ in diesem Kapitel hat ergeben, dass Deutsch die dominante Interaktionssprache der „emanzipatorischen Migranten“ ist. Insofern würde dieses Ergebnis die allgemeine Beobachtung unterstreichen, dass nachfolgende, jüngere Migrantengenerationen oftmals einen „shift“ von der Herkunftssprache hin zur Sprache des Einwanderungslands zeigen. 266 Vor allem die kontrastive Untersuchung der „Europatürken“ hat jedoch hervorgebracht, dass die Generationszugehörigkeit Formen der Sprachorientierung und -wahl nicht immer erklärt. Denn obwohl die „akademischen Europatürken“ ebenso Migranten der zweiten/ dritten Generation sind, ist ihre dominante Interaktionssprache Türkisch. Mit anderen Worten ist das zentrale Ergebnis dieses Kapitels, dass die divergierenden Sprachpräferenzen der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“ nicht durch Generationszugehörigkeit sondern durch sozialweltliche Faktoren/ Orientierungen zu erkären und somit als wichtiger Ausdruck der verschiedenen kommunikativen Sozialstile einzustufen sind. Zu b) In vielen soziolinguistischen Studien zur Variationsbzw. Code-Switchingpraxis wird festgehalten, dass Migranten der nachfolgenden Generationen allgemein frequent zwischen den Sprachen alternieren (würden). 267 Häufig bleibt dabei die Frage nach der genauen Frequenz und der sozio-symbolischen Bedeutung der Alternation für die Sprecher selbst ungeklärt. 266 Siehe z.B. Nishimura (1995). 267 Stellvertretend für viele andere Studien sei hier Bailey (2000, S. 175) zitiert, der diesbezüglich festhält: „The children of many international labor migrants, for example, have access to both sending and host society languages and sociocultural roles and thus straddle national, linguistic, and ethnic boundaries. Code switching in this second generation is often frequent, intra-sentential, and unmarked in intra-group peer interactions, serving as a form of unmarked discourse contextualization“. Sprachwahl und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene 237 In diesem Kapitel wurde zum einen quantitativ dargestellt, wie häufig die Akteure zwischen den Sprachen wechseln. Zum anderen wurde mit der qualitativ-gesprächsanalytischen Methode herausgearbeitet, zu welchen Interaktions- und Äußerungsstrukturierungszwecken Alternationen eingesetzt werden (die „Unmündigen“) und mit welchen (meta-)kommunikativen Verfahren die Akteure ihre Einstellung gegenüber deutsch-türkischen Sprachvariationen zum Ausdruck bringen (die „Europatürken“). Hinsichtlich der Frequenz konnte für beide Sozialwelten festgehalten werden, dass die Sprachvariation a) nicht frequent und wenn, dann b) häufig sequenziell-kleinräumig vorkommt. Das allgemeine Ergebnis der qualitativ-gesprächsanalytischen Untersuchung in diesem Kapitel ist, dass die deutsch-türkische Sprachvariation trotz ihrer geringen Frequenz für die „Unmündigen“ dennoch ein wichtiger Ausdruck ihrer Identität als Migranten ist. Dagegen betrachten die „akademischen Europatürken“ auch sequenziell-kleinräumige Sprachwechsel als Ausdruck von „doppelter Halbsprachigkeit“, weshalb diese weitestgehend vermieden bzw. mit spezifischen Verfahren als dispräferiert markiert werden. Sprachorientierung und -variation in zwei Sozialwelten der zweiten Migrantengeneration Emanzipatorische Migranten Akademische Europatürken • dominante Gruppeninteraktionssprache Deutsch • dominante Gruppeninteraktionssprache Türkisch peripheres Vorkommen von deutsch-türkischer Sprachvariation in beiden Welten, ABER • zeigen keine Vermeidungsstrategien der deutsch-türkischen Sprachvariation • machen durch zahlreiche klein- und großräumige Wechsel ihre Präferenz für Variation deutlich • betrachten deutsch-türkische Variation als Ausdruck ihrer migrantischen Identität • zeigen Vermeidungsstrategien der deutsch-türkischen Sprachvariation • machen durch sequenzielle und rhetorische Verfahren ihre Dispräferenz für Variation deutlich • betrachten deutsch-türkische Variation als Ausdruck von „doppelter Halbsprachigkeit“ Tab. 7: Zusammenfassung der Sprachorientierung und -variation Migration, Sprache und Rassismus 238 Mit anderen Worten sind Sprachorientierung und Formen des Umgangs mit Sprachvariation - wie in der vorangehenden Tabelle 7 zusammengefasst - wichtige sozialstilistische Ausdrucksmittel, mit denen die Migranten (auch und besonders der gleichen Generation) Zugehörigkeit zu ihrer Sozialwelt und Abgrenzung von relevanten anderen Sozialwelten vornehmen. 8. Schluss Im letzten Kapitel wurde die Bedeutung der Sprachorientierung und -variation als sozialstilistische Ausdrucksebene herausgearbeitet. Zum Schluss der Arbeit will ich ausführen, welche zentrale Rolle der erstanalysierte Aspekt nach Bearbeitungsweisen von Rassismen in der biografischen Entwicklung von Migranten bzw. in der Herausbildung von spezifischen Migrantenwelten und ihren kommunikativen Sozialstilen spielt. 268 Hierfür möchte ich auf die Ergebnisse der Arbeit „Die ‘türkischen Powergirls’“ von Inken Keim (2007) eingehen, die wie die Untersuchung zu den „akademischen Europatürken“ (Aslan 2005) und die vorliegende Studie über die „emanzipatorischen Migranten“ im Rahmen des Projekts „Deutsch-türkische Sprachvariation und die Herausbildung von kommunikativen sozialen Stilen in dominant türkischen Migrantengruppen“ am Institut für Deutsche Sprache entstanden ist. Keim (2007) untersucht den kommunikativen Sozialstil einer nachbarschaftlichen Sozialwelt von türkischstämmigen Mädchen/ jungen Frauen, die in einem Mannheimer Stadtgebiet mit hohem Migrantenanteil leben bzw. aufgewachsen sind und die sich als „türkische Powergirls“ bezeichnen. Die Studie erfasst unter anderem den Entwicklungsprozess der „türkischen Powergirls“ vom Kindesbis zum Jugendalter, den Keim aus „biografischen Interviews rekonstruiert und durch eine mehrjährige Beobachtung [absichert]“ (ebd., S. 131). Die Adoleszenzphase der Migrantinnen zeichnet sich durch zwei zentrale Auseinandersetzungen aus: Zum einen reiben sich die Jugendlichen an der türkischen Herkunftskultur ihrer Eltern. Auf der anderen Seite müssen sich die Mädchen/ jungen Frauen seit ihrer Kindheit mit Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen seitens der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzen. 269 In Bezug auf den Umgang mit Rassismen analysiert Keim in der spätpubertären Phase der Gruppe eine zentrale Auseinandersetzung. Eines Tages sind mehrere „Powergirls“ in der Straßenbahn unterwegs. Als eine Mutter mit Kin- 268 So hält auch Kallmeyer (2001, S. 405) diesbezüglich fest: „Für Migranten ist die Auseinandersetzung mit Diskriminierung durch die Einheimischen und die Ausbildung von Bewältigungsstrategien ein zentrales Anliegen, das auf den Arenen der unterschiedlichen Migrantenwelten fortlaufend Gegenstand ist. Die Entwicklung von den ersten Diskriminierungserfahrungen über die Erprobung von Reaktionsweisen bis zur Etablierung der eigenen Normalität und zur Ausbildung eines politischen Bewusstseins wird in Interviews mit Migranten der zweiten Generation immer wieder deutlich.“ 269 Zum zentralen Stellenwert von Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen junger Migranten in Deutschland siehe auch die qualitative Studie von Nohl (2001). Migration, Sprache und Rassismus 240 derwagen in die Bahn einsteigen will, rücken sie zur Seite und stoßen aus Versehen zwei ältere Leute an. Daraufhin werden die „Powergirls“ von ihnen als „Scheiß Ausländer“ beschimpft. Einen Tag nach diesem Ereignis sitzt die Gruppe zusammen und spricht über den Vorfall, konkret über ihre negative Diskriminierung als „Scheiß Ausländer“. Transkript 24: scheiß ausländer 01 ES: isch: fand des so": lustig mit den 02 DI: ey isch 03 DI: hätt/ isch |hab da-| |isch| hab da 04 ES: |scheiß | au"slän|dern| 05 DI: fast geheu"lt 06 ES: +isch fand des so: lustig hätt 07 ES: misch to"tlache könne- * weil wenn je"mand 08 ES: schon mit so=ner mei"nung kommt <←scheiß 09 ES: auslä"nder ↓ →> * diesem mensch ka"m=man doch 10 DI: gar nischt mehr helfen ↓ * oder ↑ aber 11 DI: #tro"tzdem tut des weh ↓ # und tro"tzdem regt K #ERREGT ↓ # 12 DI: misch des auf ↓ es 13 ES: warum soll des dir weh"tun ↓ 14 DI: tu"t mir halt weh ↓ isch: des/ da kann isch 15 DI: auch nichts >dafür< Wie Keim (2007, S. 390) analysiert, enaktieren ES und DI in dieser Passage zwei kontrastierende Reaktionen auf das diskriminierende Verhalten der älteren Deutschen: ES praktiziert demonstrativ die Überlegene. Sie reagiert auf den Vorfall belustigt. Ihre Überlegenheit zeigt sie durch die Hervorhebung von Belustigung (so": lustig, Z. 01) und die Steigerung zu hätt misch to"tlache könne (Z. 06-07). Keim (ebd.) analysiert ES s weiteres Verhalten folgendermaßen: Sie setzt ihre Reaktion sowohl zu DI in Kontrast als auch zu einer auf die Beschimpfung scheiß ausländer viel eher zu erwartende, wütende Reaktion und begründet das folgendermaßen: weil wenn jemand schon mit so=ner mei"nung kommt <←scheiß au"sländer↓→> * diesem mensch ka"=man doch gar nischt mehr helfen↓ (Z. 07-10). Die Art der Formulierung (wenn-dann-Format) zeigt, dass ES s Haltung auf reicher Erfahrung basiert und sie sie dann einnimmt, wenn sie auf Deutsche trifft, die sich stereotypenverhaftet zeigen und dadurch selbst disqualifizieren. - Schluss 241 Im Gegensatz zu ES enaktiert DI die Betroffene. Mit ES s belustigtem Sprechen kontrastiert DI s erregte Sprechweise (Z. 11) und ihre Feststellung isch hab da fast geheu"lt (Z. 03-05) bzw. der Ausdruck von Schmerz aber tro"tzdem tut des weh↓ und tro"tzdem regt misch des auf (Z. 10-12). Auf der syntaktischen Ebene wird der Kontrast durch die zweifache Verwendung des Oppositionsmarkers aber tro"tzdem und tro"tzdem markiert (beide Male in Z. 11). Auf ES s Nachfrage, warum soll es dir weh"tun↓ (Z. 13), reagiert DI mit einer apodiktischen Generalisierung: es tu"t mir halt weh↓ isch: des/ da kann isch auch nichts >dafür< (Z. 12-15). Wie Keim festhält, demonstriert ES an dieser Stelle einen distanzierten Umgang mit ethnischer Diskriminierung (Herabsetzung und Ausgrenzung) auf der Basis eines starken Selbstbewusstseins. Ihr kommunikativer Sozialstil ist - in meinen Worten - emanzipatorisch. DI dagegen „zeigt die Reaktion einer verunsicherten und zutiefst verletzten Jugendlichen, die vergeblich nach Anerkennung von Seiten der Deutschen sucht“ (Keim 2007, S. 391). Ihren kommunikativen Sozialstil kann man mit ‘Betroffenheitsbekundung’ umschreiben. Diese beiden Formen, emanzipatorisch oder mit Betroffenheit auf Rassismen zu reagieren, wurden in der vorliegenden Arbeit als die zentralen Eigenschaften des kommunikativen Sozialstils der „emanzipatorischen Migranten“ einerseits und der „akademischen Europatürken“ andererseits festgehalten. Mit anderen Worten: In der Studie von Keim über die „Powergirls“ begegnen wir verschiedenen Formen des Umgangs mit Diskriminierung in ein und derselben jugendlichen Sozialwelt. Sie existieren nebeneinander, weil der Zusammenhalt der Sozialwelt - im Gegensatz zu den Sozialwelten der „emanzipatorischen Migranten“ und der „akademischen Europatürken“ - nicht von der Frage abhängt, wie man Rassismen begegnen soll. Die jugendlichen „Powergirls“ finden sich zu einer Sozialwelt gehörig, weil sie im gleichen Stadtviertel wohnen, sich als rebellische Mädchen/ junge Frauen sehen und weil sie das Gefühl haben, „nirgendwo hinzugehören“ (Keim 2007, S. 389), weder zur Türkei noch zu Deutschland. Daher ist auch ihr Selbstbild (noch) unentschieden: Die einen Gruppenmitglieder verstehen sich als „Türkinnen in Deutschland“, die anderen mehr als „Deutschtürkinnen“ (ebd., S. 203, m.H.). Die Unterschiede in dieser jugendlichen Welt zeigen sich nur in Nuancen. Auf ihrem weiteren Lebensweg können diese feinen Unterschiede jedoch höchst bedeutsam werden. Wie man in der vorliegenden Studie sehen kann, entscheiden sich die einen Migranten dafür, sich mehr als „Türken“ zu identifizieren und formieren sich in Sozialwelten wie die der „akademischen Europatürken“. Die anderen Migranten distanzieren sich von ihren konkreten ethnischen oder - Migration, Sprache und Rassismus 242 nationalen Herkunftsaspekten, betrachten sich allgemein als „Migranten“ oder darüber hinaus als „Deutsche“ und organisieren sich in Sozialwelten wie die der „emanipatorischen Migranten“. Mit dieser Entscheidung gehen dann spezifische Präferenzen für Sprachorientierungen bzw. Sprachvariationsmuster und Formen der Bearbeitung von Rassismen einher, die die zentralen sozialstilistischen Kerne der jeweiligen Sozialwelt darstellen. 9. Literatur Acar, Mustafa (2007): Türkische Kaffeehäuser in Deutschland: Ein Integrationshindernis für die Türken in der deutschen Gesellschaft. Saarbrücken. Aitchison, Jean (1987): Words in the mind. An introduction to the mental lexicon. Oxford. Akinci, Mehmet-Ali/ Backus, Ad (2004): The structure and the role of code-switching in Turkish-French conversations. 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Transkriptionskonventionen ja |aber | simultane Äußerungen stehen übereinander; An- |nein nie|mals fang und Ende werden auf den jeweiligen Textzeilen markiert |herr huber| Synchronisationssymbol in Simultanpassagen mit |ver\such | mehr als zwei Beteiligten, um in einer anderen |ja | Sprecherzeile den Anfang oder das Ende von simultan Gesprochenem zu markieren + unmittelbarer Anschluss/ Anklebung bei Sprecherwechsel * kurze Pause (bis max. ½ Sekunde) ** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden *4: 30* lange Pause mit Zeitangabe in Minuten und Sekunden = Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir) / Wortabbruch (... ...) unverständliche Sequenz (drei Punkte = Silbe) (...2,5) unverständliche längere Sequenz mit Angabe der Dauer (war) vermuteter Wortlaut (gunst? kunst) Alternativlautungen ↑ steigende Intonation (z.B. kommst du mit ↑ ) ↓ fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es ↓ ) - schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier-) ↑↑ Echofrage „ auffällige Betonung (z.B. aber ge"rn) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig) Migration, Sprache und Rassismus 270 : : sehr lange Dehnung (z.B. o"h lie: : wer gott ↓ ) ← immer ich → langsamer (relativ zum Kontext) → immerhin ← schneller (relativ zum Kontext) >vielleicht< leiser (relativ zum Kontext) <manchmal> lauter (relativ zum Kontext) LACHT Wiedergabe nichtmorphemisierter Äußerung auf der Sprecherzeile in Großbuchstaben IRONISCH Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile) QUIETSCHEN nicht-kommunikatives (akustisches) Ereignis in der Gesprächssituation (auf der global. Kommentarzeile) [...] Auslassung in Transkripten (ggf. mit näheren Angaben zum Umfang o.Ä., Erläuterung auf der Kommentarzeile) 11. Anhang 11.1 Selbstdarstellung der „Unmündigen“ - 1993 270 Woher kommst du? Aus Deutschland. Mannheim, Berlin, Frankfurt am Main, Köln, Heidelberg, Ludwigshafen etc. Aber du bist doch Ausländer? Nein. Weder Gast, noch Fremder, noch Ausländer, noch Mit-Bürger. Gäste bleiben nicht dreißig Jahre. Fremden begegnet man nicht jeden Tag. Ausländer leben im Ausland. Mit-Bürger haben Bürgerrechte. Wann willst du wieder zurück in deine Heimat? Gar nicht. Meine Heimat ist dort, wo mein Lebensmittelpunkt ist. Hier in Deutschland. Gut. Keine Ausländer, keine Fremde, was seid ihr dann alle? Wir sind politisch unmündig gehaltene Bürger dieses Staates. Seit über dreißig Jahren dürfen mehrere Millionen MigrantInnen nicht am politischen Leben teilnehmen: Gesetze werden über uns, aber nicht mit uns gemacht. Wir dürfen das Mindestmaß an politischer Teilhabe - nämlich wählen - nicht in Anspruch nehmen. Somit setzt uns der Staat mit Minderjährigen gleich. Wir, die MigrantInnen hingegen, akzeptierten bisher diesen Zustand. Wir sahen uns selbst als Ausländer und verhielten uns dementsprechend. Wer sind die Unmündigen e.V.? Die Unmündigen e.V. sind Menschen aus der 2. und 3. Generation von MigrantInnen, die den Ausländerstatus nicht mehr akzeptieren. Wir sind ein übergreifender MigrantInnenverein, der das Prinzip der Selbstorganisation verfolgt. Und was ist an euch so anders? Wir betreiben keine Herkunftspolitik. Wir rechtfertigen unser Dasein nicht über unseren Beitrag zum Bruttosozialprodukt. Wir geben uns nicht mit Scheinämtern wie Ausländerbeiräten zufrieden. 270 Zitiert aus einer Broschüre der Gruppe aus dem Jahr 1993. Migration, Sprache und Rassismus 272 Wir fordern: No taxation without representation! Wir wollen demokratische Selbstverständlichkeiten: Rechtsanspruch auf Einbürgerung, aktives und passives Wahlrecht, Antidiskriminierungsgesetz, Abschaffung der rassistischen Ausländergesetze. Kurz: die vollen politischen Bürgerrechte! Und was wir brauchen ist ein starkes Selbstbewusstsein. Das finden wir bei der 2. und 3. Generation. Denn sie erfährt am deutlichsten jeden Tag, was es heißt, Ausländer im eigenen Land zu sein. 11.2 Selbstdarstellung von „Kanak Attak“ - 1998 271 Kanak Attak ist ein selbstgewählter Zusammenschluß verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter „Identitäten“ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft. Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen. Kanak Attak ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab, wie sie sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen. Wir wenden uns schlicht gegen jeden und alles, was Menschen ausbeutet, unterdrückt und erniedrigt. Erfahrungen, die keineswegs nur auf die sog. „Erste Generation“ von Migranten beschränkt bleiben. Das Interventionsfeld von Kanak Attak reicht von der Kritik an politisch-ökonomischen Herrschaftsverhältnissen und kulturindustriellen Verwertungsmechanismen bis hin zu einer Auseinandersetzung mit Alltagsphänomenen in Almanya. Wir setzen uns für die allgemeinen Grund- und Menschenrechte ein, befürworten jedoch zugleich eine Haltung, die sich von dem Modell der Gleichheit absetzt und die sich gegen die Unterwerfung durch eine hegemoniale Kultur richtet - egal ob diese als „globale Postmoderne“ oder als dumpfes Teutonentum daher kommt. Was richtig ist, muß in der jeweiligen Situation verhandelt und entschieden werden. Seit Jahrzehnten existieren Vereine oder Initiativen, die auf die politische Situation, Lebensverhältnisse und den Alltag von Nicht-Deutschen hinweisen. Gleichwohl bleiben diese Bestrebungen auf eine eingeschränkte Öffentlichkeit reduziert - zumeist auf die eigene Community. Kanak Attak macht keine 271 Zitiert aus dem Manifest der Gruppe unter www.kanak-attak.de/ ka/ about/ manif_deu.html (Stand: 10.07.2010). Anhang 273 Lobbypolitik, setzt sich von konformistischer Migrantenpolitik ab und will in Form und Inhalt offensiv eine breitere Öffentlichkeit ansprechen. Es ist Zeit, den Kuschel-Ausländern und anderen das Feld streitig zu machen, die über Deutschland lamentieren, Respekt und Toleranz einklagen ohne die gesellschaftlichen und politischen Zustände beim Namen zu nennen. Wir wollen weder ihre Nischen noch akzeptieren wir ihre Anmaßung uns, also dich und mich, zu repräsentieren. Das Ende der Dialogkultur Obwohl Kanak Attak für viele nach Straße riecht, ist es kein Kind des Ghettos. So hätten es die Spürhunde der Kulturindustrie gerne, die auf der Suche nach authentischem und exotischem Menschenmaterial sind, das den vermeintlich grauen Alltag bunter werden läßt. Dazu passt die Figur des jungen, zornigen Migranten, der sich von ganz unten nach oben auf die Sonnenseite der deutschen Gesellschaft boxt. Was für eine rührende neoliberale Geschichte könnte da erzählt werden, wie sich Wut in produktives kulturelles und ökonomisches Kapital verwandelt: Eine wahre Bereicherung für die deutsche Literatur und den deutschen Film! Ein echter Gewinn für den heimischen Musikmarkt! Sie sollen nur kommen. Kanak Attak grenzt sich bewußt gegen ein Politikverständnis ab, das glaubt, mit Veranstaltungen wie dem „Tag des ausländischen Mitbürgers“, Folklore in Maxi-Versionen und humanistischen Kampagnen den Dialog und das friedliche Zusammenleben zwischen Kanaken und der Mehrheitsgesellschaft zu fördern. Diese Toleranz-Leier war zwar nicht ganz umsonst. Hansemann und Trudefrau wissen inzwischen auch Gyros-Kebab-Chop-Sui zu schätzen. Oh là là! Und wenn das Wetter gut und das Gewissen schlecht ist, wird das Auto mit dem Aufkleber „Ausländer, lasst uns nicht mit diesen Deutschen allein! “ versehen. Kanak Attak ist keinE FreundIn des Mültikültüralizm. Viele Befürworter hat dieses Modell aber ohnehin nicht mehr. Als ob es jemals über den Status kommunalpolitischer Experimente hinausgekommen, ja hegemonial gewesen wäre, reden Teile des Mainstreams inzwischen vom Scheitern der multikulturellen Gesellschaft. Da bleibt die Forderung nach assimilierter Integration und Unterwerfung nicht aus. Man selbst ist ja so offen, demokratisch, hybrid, ironisch. Aber die „Anderen“! Verschlossen, traditionalistisch, sexistisch, humorlos, fanatisch - mit einem Wort: fundamentalistisch. Klar, was den Migranten vor allem fehlt ist Toleranz. Und wer sich nicht in die offene Gesellschaft eingliedern will, der hat im aufgeklärten Almanya nichts verloren. Dabei wird die Toleranz aus einer dominanten Position gefordert und be- Migration, Sprache und Rassismus 274 stehende Herrschaftsverhältnisse unterschlagen. Das ist eine infame Umkehrung der Verhältnisse. Dieser Logik folgt auch die Warnung vor zu lauter Kritik. Die sei nämlich nicht nur ungehörig sondern, so wird man aufgeklärt, könnte Vorurteile bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft produzieren. Dies alles weisen wir entschieden zurück. Doch das ist nur eine Variante des Rassismus in Deutschland. Die Durchsetzung von national befreiten Zonen im Osten der Republik geht einen Schritt weiter: Ausländerfrei soll das Land werden. Enter the politics Kanak Attak tritt grundsätzlich gegen den Status ‘Ausländer’ an, der auch bei partieller Gewährung von Bürgerrechten alles andere als unseren Vorstellungen entspricht. Ohne daß wir es für den Himmel auf Erden erachten, wenn alle Pässe, Wahlrecht oder ähnliches bekommen, erscheint es uns doch als notwendige Voraussetzung, daß jeder wenigstens auf rein formaler Ebene gleiche Rechte genießt. Deshalb begrüßen wir alle Vorhaben zum Abbau von Ungleichheit, kommt doch der Frage der Staatsbürgerschaft gerade auch in Anbetracht alltäglicher Fragen beträchtliche, mitunter existentielle Bedeutung zu. Man denke nur an den Abschiebungsschutz bei Drogengebrauch, Arbeitslosigkeit oder unliebsamer politischer Betätigung. Und nicht zuletzt ist es natürlich schön, wenn man zumindest innerhalb der EU spontan und ungehindert reisen kann. Eine wenigstens formal-juristische Gleichheit aller würde es auch erleichtern, über ökonomische Ursachen sozialer Ungleichheit nachzudenken und diese zu bekämpfen. Seit der letzten Bundestagswahl zeichnet sich eine neue Konstellation ab. Die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft - „Hosgeldiniz yeni vatandaslar! Herzlich willkommen neue Landsleute! “ (Bild) - weicht zum ersten Mal seit dem Faschismus das Blutsprinzip auf, die vermeintlich schicksalhafte Verbundenheit mit dem Staatsvolk durch Geburt, zum großen Ärger von Konservativen, Rassisten und Rechten. Doch ¡Vorsicht! Die Priviligierung von bestimmten Einwanderern geht einher mit dem Ausschluß anderer Menschen. Das Abwinken der rot-grünen Koalition was die Frage der Einwanderung, des Asyls und die Lage von Flüchtlingen betrifft, die fortgesetzte Praxis, Illegalisierte als Kriminelle abzustempeln und die Abschiebung unliebsamer Menschen per Ausländergesetz sprechen eine deutliche Sprache. Das alles zielt auf eine offene oder subtile Spaltung zwischen genehmen, geduldeten und unerwünschten Gruppen, denen mehr, weniger oder gar keine Bewegungsfreiheit zugestanden wird. Anhang 275 Die Liste der Gängelungen ist lang. Ob sie nun in Form von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften oder als ethnologische Gesichtskontrollen in Fußgängerzonen, Bahnhöfen und auf der Straße daherkommen, sie stehlen den Leuten Raum und Zeit. Von Angriffen auf Leib und Leben als solcher sichtbarer Kanaken, die im einheimischen Dschungel an der Tagesordnung sind, einmal ganz zu schweigen. Die sind aber nicht nur das Geschäft des teutonischen Faustrechts, sondern auch der staatlichen Asyl- und Abschiebepraxis, die man getrost eine Summe von Niederträchtigkeiten und Gemeinheiten nennen kann. Gegen zeitgenössische Gewißheiten Der Rassismus artikuliert sich in Deutschland gegenwärtig vor allem in kulturalistischer Form. Wie in anderen europäischen Ländern bietet der Islam eine Projektionsfläche für unterschiedliche Rassismen. Dabei geht es nicht zuletzt auch um das Phantasma der Unterwanderung durch fremde Mächte. Deshalb sind wir der Meinung, daß man gegen alle Hindernisse zu kämpfen hat, die eine Anerkennung des Islams als gleichberechtigte Glaubensströmung verhindern. Für uns kommt der Islam nicht als homogene Ideologie daher. Mit der alltäglichen Religionsausübung hat der organisierte politische Islam, den wir gänzlich ablehnen, wenig zu tun. Dennoch: Der Anti-Islamismus bildet die Grundlage des neuen neorassistischen Konsens der bundesdeutschen Gesellschaft. Nicht zuletzt weil gewisse Essentials von 68 allmählich zum gesellschaftlichen Standard geworden sind. Also etwa ein verändertes Geschlechterverhältnis oder das Zurückdrängen religiös begründeter Normen und Alltagspraktiken. Im Kopftuch-Diskurs verdichten sich solche Zuschreibungen. An diesem Punkt entdeckten sogar reaktionäre Politiker ihr Herz für die unterdrückte Frau, so lange man ihre Unterdrückung dem ach so rückständigen Islam in die Schuhe schieben kann. Eine andere rassistische Denkfigur, die es unbedingt zu attackieren gilt, ist die Vorstellung, daß die Zusammensetzung von Bevölkerungen nicht dem Zufall überlassen, sondern irgendwie reguliert oder gesteuert werden müsse. Dieser Quark ist so verbreitet, daß er einem in Gestalt des Ausländergesetzes genauso entgegenschlägt wie in der des Türstehers, der im coolen Club der Saison mit wichtiger Miene über die „richtige Mischung“ wacht. Wer ein Verständnis dafür zeigt, daß auch andere gerne selbst entscheiden möchten, wo und wie sie leben oder sich amüsieren wollen, wird häufig von Wohlmeinenden auf den Problemdruck hingewiesen, den die unkontrollierte Einwanderung zur Folge habe. Ein „Zuviel“ von den einen und ein „Zuwenig“ von den anderen sorge Migration, Sprache und Rassismus 276 im besten Falle für schlechte Stimmung. Die Toleranten und Aufgeklärten suchen sich dann gegebenenfalls einen neuen Club oder einen „intakteren“ Stadtteil aus. Andere, die wahre Arschloch-Fraktion, erhofften sich Abhilfe von Nazi-Parteien oder nähmen das Gesetz gleich selbst in die Hand. Wir fordern nicht einfach die Ausdehnung der staatsbürgerlichen und anderer Privilegien auf eine zusätzliche Gruppe, sondern stellen die scheinbar selbstverständliche Regelung des „Drinnen“ und „Draußen“, die Hierarchisierung der Lebensmöglichkeiten durch Rassismus als solche in Frage. Punktum e basta. Repräzent? - Repräzent! Kanak Attak bietet eine Plattform für Kanaken aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, denen die Leier vom Leben zwischen zwei Stühlen zum Hals raushängt und die auch den Quatsch vom lässigen Zappen zwischen den Kulturen für windigen Pomokram halten. Kanak Attak will die Zuweisung von ethnischen Identitäten und Rollen, das „Wir“ und „Die“ durchbrechen. Und weil Kanak Attak eine Frage der Haltung und nicht der Herkunft oder der Papiere ist, sind auch Nicht-Migranten und Deutsche der n2-Generation mit bei der Sache. Aber auch hier wieder ¡ojo! Die bestehende Hierarchie von gesellschaftlichen Existenzen und Subjektpositionen läßt sich nicht einfach ausblenden oder gar spielerisch überspringen. Es sind eben nicht alle Konstruktionen gleich. Damit bewegt sich das Projekt in einem Strudel von nicht auflösbaren Widersprüchen, was das Verhältnis von Repräsentation, Differenz und die Zuschreibung ethnischer Identitäten anbetrifft. Dennoch: Wir treten an, eine neue Haltung von Migranten aller Generationen auf die Bühne zu bringen, eigenständig, ohne Anbiederung und Konformismus. Wer glaubt, daß wir ein Potpourri aus Ghetto-HipHop und anderen Klischees zelebrieren, wird sich wundern. Wir sampeln ganz selbstverständlich verschiedene politische und kulturelle Drifts, die allesamt aus einer oppositionellen Haltung heraus operieren. Wir greifen auf einen Mix aus Theorie, Politik und künstlerischer Praxis zurück. Kanak Attak sinniert nicht über Kulturkonflikte, lamentiert nicht über fehlende Toleranz. Wir äußern uns: mit Brain, fetten Beats, Kanak-Lit, audio-visuellen Arbeiten und vielem mehr. Dieser Song gehört uns. Es geht ab. Kanak Attak! Anhang 277 11.3 Selbstdarstellung der „Tschuschenpower“ - 2000 272 TschuschenPower ( TP ) ist ein Zusammenschluß von in Österreich lebenden Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft, die die gesellschaftspolitischen Zustände inakzeptabel finden und sich aktiv für einen konstruktiven Veränderungsprozeß einsetzen. TP definiert sich als eine Plattform, die den Teilnehmenden genügend Freiraum zur individuellen Gestaltung und Artikulation ihrer Standpunkte ermöglicht, aber dennoch als geschlossene Gruppe agiert. TP wagt den Versuch, den rassistischen Sammelbegriff „Tschusch“ bewußt umzukehren und aus ihm ein positiv besetztes Widerstandsinstrument zu schmieden. Hiermit soll der Mehrheitsgesellschaft ein Stück ihrer Definitionsmacht entzogen werden, dank der sie bis jetzt festlegen konnte, wer „Tschuschen“ sind und wie sie zu sein haben. In diesem Sinne vernetzt TP Menschen, die den Diskurs über sich nicht mehr von anderen führen lassen wollen, sondern ihn selbstbewußt mitgestalten und sich somit politisch und gesellschaftlich - jenseits folkloristischer Darstellung - sichtbar machen. Aus unterschiedlichen Lebens- und Arbeitswelten kommend stoßen TschuschInnen in Bereiche vor, die bisher von der Mehrheitsgesellschaft dominiert waren. TP setzt sich für eine Gesellschaft ein, die auf Anerkennung und Respekt der Individuen basiert und die den Lebensstil einer bestimmten Gruppe nicht zur verpflichtenden Normalität erhebt. Kultur und Herkunft sind in diesem Verständnis Residualphänomene, im besten Fall erfreuliche Ergänzungen. TP versteht unter Integration nicht die Verpflichtung für einzelne Mitglieder der Gesellschaft, bestimmte Werte zu teilen, sondern bestimmte Regeln einzuhalten. Die Regeln sind im politischen Prozess verhandel- und veränderbar. TP will zur Beschleunigung dieses Prozesses aktiv beitragen, vor allem dort, wo die Regeln dem Gleichheitsprinzip widersprechen. 272 Zitiert aus dem „Ottakringer Manifest“ der Gruppe unter www.topone.at/ TP/ tschuschenpower. html (Stand: 03.08.2010). Migration, Sprache und Rassismus 278 11.4 Bereiche und Formen von Rassismen Abb. 6: Auftreten von Rassismen, wie sie emisch in der Analyse der „Unmündigen“-Daten festgestellt wurden Anhang 279 11.5 „Unmündige“-Treffen der Verlaufsform A Migration, Sprache und Rassismus 280 Anhang 281 11.6 „Unmündige“-Treffen der Verlaufsform B Migration, Sprache und Rassismus 282 11.7 Quantitative Auswertung von Verdichtungspassagen aus zwei „Unmündigen“-Treffen Auswertung der Verdichtungspassage 1507 (22 Minuten) Sprecher Redebeiträge ÜY AD LH AL MD Redebeiträge insgesamt türkisch 25 17 20 01 - 63 (16%) deutsch 69 46 56 45 81 297 (76%) deutsch-türkisch gemischt 03 03 04 - - 10 (3%) Rest 06 03 05 04 08 22 (5%) Redebeiträge insg. 103 69 85 50 89 392 Anhang 283 Auswertung der Verdichtungspassage 2810 (26 Minuten) Sprecher Redebeiträge TR AU GS NL Redebeiträge insgesamt türkisch 010 009 013 - 32 (9%) deutsch 104 089 015 051 259 (76%) deutsch-türkisch gemischt 007 007 004 - 19 (6%) Rest 014 011 003 004 32 (9%) Redebeiträge insg. 135 116 034 055 342 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Wechselseitige Verständigung ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen von Kooperation. Die Art und Weise des Verstehens richtet sich dabei nicht nur nach den zu verstehenden Äußerungen des Gesprächspartners, sondern ebenso nach den Zwecken der Interaktion und den Beteiligungsrollen der Akteure. Die Autoren zeigen, wie in unterschiedlichen Typen institutioneller Interaktion (in Arzt-Patient-Gesprächen, in der Migrationsberatung und beim Dreh eines F ilms) Verstehen im G espräch angezeig t und ausgehandelt wird. Auf Grundlage von Audio - und Videoaufnahmen werden die sprachlich-kommunikativen und kinesischen Verfahren der Dokumentation von Verstehen untersucht. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Zuschnitt auf den jeweiligen Gesprächskontext und der Art und Weise, wie sozialstrukturelle Sachverhalte (institutionelle Routinen, Beteiligungsrechte und -pflichten, professionelle Identitäten) durch Verstehensdokumentationen in der Interaktion enaktiert werden. Dabei wird deutlich, dass Verstehen in der Interaktion nicht nur retrospektiv, sondern ganz wesentlich auch antizipatorisch ausgerichtet ist. Welches Verstehen wem in welcher Weise angezeigt wird, ist dabei nicht nur kognitiven und kooperativen Belangen geschuldet. Verstehensdokumentationen haben auch handlungssteuernde Funktionen, die rhetorisch genutzt werden können. Arnulf Deppermann / Ulrich Reitemeier / Reinhold Schmitt Thomas Spranz-Fogasy Verstehen in professionellen Handlungsfeldern Studien zur Deutschen Sprache, Band 52 2010, 392 Seiten €[D] 88,00/ SFr 149,00 ISBN 978-3-8233-6519-8 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Die Untersuchung präsentier t die multimodale Struktur und Komplexität eines besonderen Kooperationstyps, des „Pitchings“. Dabei handelt es sich um eine Mischfor m aus Arbeits- und Lehr-Lern-Diskurs, bei der vier Studierende gemeinsam mit zwei Dozenten Filmideen entwickeln. Als empirische Grundlage dient ein Datenkorpus von 72 Stunden Videoaufnahmen, das methodisch mit einer Kombination aus ethnographischer Gesprächsanalyse, ethnomethodologischer Konversationsanalyse und deren Er weiterung um eine multimodale Analyseperspektive untersucht wird. Dabei wird detailliert der komplexe Gesamtzusammenhang von Verbalität, Mimik, Gestik, Körperpositur und anderen körperlichen Ausdrucksformen in seiner Bedeutung für die gemeinsame Arbeit ersichtlich. Basierend auf den beiden zentralen Konzepten „Kooperation“ und „Handlungsschema“ werden die spezifischen Situationsmerkmale des Pitchings sowie die typischen Aufgaben und Probleme rekonstruiert, die von den Interaktionsbeteiligten durch unterschiedliche Ver fahren bearbeitet werden. Aufgrund einer longitudinalen Perspektive gibt die Untersuchung zudem Einblicke in die Professionalisierung der Studierenden im Studienverlauf. Daniela Heidtmann Multimodalität der Kooperation im Lehr-Lern-Diskurs Wie Ideen für Filme entstehen Studien zur deutschen Sprache, Band 50 2009, 340 Seiten, €[D] 78,00/ SFr 132,00 ISBN 978-3-8233-6471-9 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Die Beiträge der Festschrift für Rainer Wimmer anlässlich seines 65. Geburtstags dokumentieren die Vielschichtigkeit seines sprachwissenschaftlichen Wirkens: Eine große Anzahl der Artikel widmet sich einer seiner zentralen Forschungstätigkeiten, der Sprachkritik. Seine interdisziplinären und anwendungsorientierten Arbeitsfelder sowie seine frühen Arbeiten zu Eigennamen werden durch spezifische Beiträge ebenso gewürdigt, wie in einem Themenblock hervorgehoben wird, dass es „die“ Sprache nicht gibt, sondern dass Sprachen nur neben Sprachen, d.h. in einem Miteinander, existieren können. Auf diese Weise entsteht ein Einblick in die wichtigsten Strömungen und Ansätze der zeitgenössischen interpretativen Semantik, zu deren Entwicklung Rainer Wimmer durch sein Schaffen wesentlich beigetragen hat. Wolf-Andreas Liebert Horst Schwinn (Hrsg.) Mit Bezug auf Sprache Festschrift für Rainer Wimmer Studien zur deutschen Sprache, Band 49 2009, 584 Seiten, €[D] 98,00/ SFr 165,00 ISBN 978-3-8233-6470-2 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Der Band führt aus einer multimodalen Perspektive in die Analyse von Situationseröffnungen ein. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen unterschiedlicher sozialer Situationen analysiert er die multimodalen Verfahren, mit denen die Beteiligten sich schrittweise auf eine koordinierte Interaktion orientieren, diese vorbereiten und schließlich herstellen. Kontrastiv zu etablierten Untersuchungen verbaler Gesprächseröffnungen am Telefon wird das spezifische Anforderungsprofil der multimodalen Situationsherstellung verdeutlicht. Der Band enthält sechs empirische Untersuchungen verschiedener Situationstypen: Filmset, Arbeitssitzungen, Videokonferenzen, Raclette - Essen unter Bekannten, Wegauskünfte, zufällige Treffen im Supermarkt und ein Gottesdienstanfang. Die Analysen fokussieren die für den jeweiligen Situationstyp konstitutiven Aspekte der Situationseröffnung: die von den Interaktionsbeteiligten gemeinsam hergestellte Ordnungsstruktur, deren sequenzielle und segmentale Spezifik, das interaktive Anforderungsprofil und die eingesetzten multimodalen Verfahren. Neben der Dichte simultan stattfindender Koordinationsleistungen wird in den Beiträgen vor allem die Bedeutung derjenigen Interaktionsprozesse hervorgehoben, die der Herauslösung und Vorbereitung der Situation dienen und der formellen Eröffnung vorausgehen. Die Untersuchungen verweisen so ganz grundsätzlich auf die Relevanz „interaktiver Vorgängigkeit“. Lorenza Mondada Reinhold Schmitt (Hrsg.) Situationseröffnungen Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion Studien zur Deutschen Sprache, Band 47 2010, 386 Seiten, €[D] 78,00/ SFr 132,00 ISBN 978-3-8233-6438-2