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Sprache und Integration

2011
978-3-8233-7632-3
Gunter Narr Verlag 
Ludwig M. Eichinger
Albrecht Plewnia
Melanie Steinle

Die Frage, wie unter den Bedingungen sich ändernder demographischer Verhältnisse einerseits europäische Mehrsprachigkeit, andererseits Zuwanderung und Integration - individuell und kollektiv - erfolgreich organisiert werden können, ist eine der europäischen Schlüsselfragen. Sprache ermöglicht im Integrationskontext nicht nur den entscheidenden Zugang, sie ist auch einer der wichtigsten Identitätsträger: Will man etwas wissen über die Bedingungen und Möglichkeiten von Integration, dann ist das Wissen um die primären sprachlich-identitären Verortungen der Menschen dafür die Basis. Von Interesse sind dabei nicht nur die Zielsprache der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch die jeweiligen Erstsprachen. Die spezifischensprachlichen Kompetenzen von Menschen mit Migrationshintergrund werden gegenwärtig kaum wahrgenommen, geschweige denn genutzt - weder in Programmen zur sprachlichen Integration noch auf dem Arbeitsmarkt oder als Vorteil für die einheimische Wirtschaft. Hier liegt jedoch viel individuelles wie gesamtgesellschaftliches Potenzial. In diesem Band wird die gegenwärtige Situation in Deutschland mit derjenigen in Ländern mit prominenten Mehrsprachigkeitskonstellationen (von der Schweiz bis Indien) kontrastiert.

Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia Melanie Steinle (Hrsg.) Sprache und Integration Über Mehrsprachigkeit und Migration S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 5 7 073911 SDS 57 - Eichinger_Plewnia_Steinle_073911 SDS 57 - Eichinger_Plewnia_Steinle Titelei 15.08.11 12: 04 Seite 1 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 57 073911 SDS 57 - Eichinger_Plewnia_Steinle_073911 SDS 57 - Eichinger_Plewnia_Steinle Titelei 15.08.11 12: 04 Seite 2 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia Melanie Steinle (Hrsg.) Sprache und Integration Über Mehrsprachigkeit und Migration 073911 SDS 57 - Eichinger_Plewnia_Steinle_073911 SDS 57 - Eichinger_Plewnia_Steinle Titelei 15.08.11 12: 04 Seite 3 Redaktion: Franz Josef Berens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Tröster, Mannheim Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6632-4 073911 SDS 57 - Eichinger_Plewnia_Steinle_073911 SDS 57 - Eichinger_Plewnia_Steinle Titelei 15.08.11 12: 04 Seite 4 Inhalt Albrecht Plewnia Migranten und ihre Sprachen.......................................................................... 7 Patrick Stevenson Migration und Mehrsprachigkeit in Europa: Diskurse über Sprache und Integration ................................................................................ 13 Rita Franceschini Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas. Sprecher von historischen und neuen Minderheitensprachen und ihr Beitrag zur Multikompetenz ...................................................................................... 29 Anil Bhatti Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität. Vergleichende Überlegungen zwischen Indien und Europa ................................................. 55 Rosemarie Tracy Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen ............................................ 69 Tanja Anstatt Russisch in der zweiten Generation. Zur Sprachsituation von Jugendlichen aus russischsprachigen Familien in Deutschland.................. 101 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft am Beispiel der türkisch-deutschen Grundschulklassen in Hamburg............................. 129 Inken Keim Form und Funktion ethnolektaler Formen: türkischstämmige Jugendliche im Gespräch ............................................................................ 157 Bernd Meyer Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? .................................... 189 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit. Wie Schüler über ihre und andere Sprachen denken ............................................................... 215 Albrecht Plewnia Migranten und ihre Sprachen Europa ist mehrsprachig. In seiner Trivialität ist dieser Satz wahr für den Kontinent Europa, und er ist ebenso wahr für die Europäische Union. Für die EU wird dies besonders augenfällig durch ihre 23 Amtssprachen und das zugehörige komplizierte Sprachenregime mit aufwendigen Dolmetsch- und Übersetzungsdiensten. Diese europäische Mehrsprachigkeit beschreibt jedoch im Kern die organisierte Koexistenz verschiedener Sprachen in geografisch weitgehend distinkten Räumen; in diesem Sinne ist die Europäische Union gewissermaßen eine große Schweiz, wo Sprecher verschiedener Sprachen zwar gemeinsam unter einem organisatorischen Dach, aber letztlich, einem Territorialprinzip folgend, nebeneinanderher leben, ohne dass sich dieses Nebeneinander verschiedener Sprachen in großem Umfange in einer individuellen Alltagsmehrsprachigkeit niederschlüge. In Bezug auf ihre großen Nationalsprachen ist die Europäische Union, ist Europa weithin nicht eigentlich mehrsprachig, sondern eher mehrfach einsprachig. Etwas anders ist dies zwar in denjenigen Gebieten, wo autochthone Minderheiten- und Regionalsprachen existieren und wo daher kollektive Mehrsprachigkeit eine lang etablierte Selbstverständlichkeit darstellt; doch diese Form der Mehrsprachigkeit bleibt klar regional gebunden; außerhalb dieser Gebiete ist Einsprachigkeit die Regel. Allerdings werden die Sprachräume durchlässig. Sprachkontakte durch Migration hat es zwar immer schon gegeben, doch in den letzten Jahrzehnten haben, im Zuge wachsender Mobilität und ausgelöst durch die verschiedenen ökonomischen und soziodemografischen Veränderungen, die Migrationsbewegungen in Europa erheblich zugenommen. Das hat dazu geführt, dass inzwischen vielerorts die Sprecherpopulationen weniger homogen sind als früher und sich reale Mehrsprachigkeiten entwickeln. Migranten sind es, die eine monolinguale Gesellschaft mehrsprachig machen. Dieser Band handelt von Migranten und ihren Sprachen, er handelt von den besonderen sprachlichen Realitäten, unter denen Migranten leben, und davon, was dies für ihre Sprachen und ihre verschiedenen Identitäten bedeutet. Die Frage, wie unter den Bedingungen sich ändernder demografischer Verhältnisse einerseits europäische Mehrsprachigkeit, andererseits Zuwanderung und Integration - individuell und kollektiv - erfolgreich organisiert werden können, ist eine der entscheidenden gesellschaftspolitischen Debatten, die gegenwärtig in der Bundesrepublik geführt werden. Für ihre Beantwortung Albrecht Plewnia 8 wiederum ist die Frage nach dem Verhältnis von Sprachen und Identitäten zentral, weil die Sprache eines Menschen einen der stärksten identitätsstiftenden Faktoren überhaupt darstellt, und zwar sowohl im Selbstverständnis als auch in der Fremdzuschreibung. Die Sprache ist der entscheidende Zugang, weil Sprache immer einer der wichtigsten Identitätsträger ist. Will man etwas wissen über die Bedingungen und Möglichkeiten von Integration, dann ist das Wissen um die primären sprachlichen Verortungen der Menschen dafür die Basis. Von Interesse ist dabei nicht nur die Zielsprache der Mehrheitsgesellschaft (in unserem Falle Deutsch), sondern auch und besonders die jeweilige Erstsprache. Die spezifischen Kompetenzen, die Menschen mit Migrationshintergrund besitzen, werden in Deutschland gegenwärtig noch nicht systematisch genutzt, weder beispielsweise in Spracherwerbsprogrammen zur Verbesserung der sprachlichen Integration noch in professionellen Zusammenhängen zur Verbesserung etwa der Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Hier gibt es noch viel Potenzial, dessen gezielte Nutzung sowohl individuell für die Betroffenen als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene große Vorteile verspricht. Vor diesem Hintergrund versuchen die Beiträge dieses Bandes, die Situation in Deutschland zu umgreifen und sie mit der Lage in anderen Ländern mit prominenten Mehrsprachigkeitskonstellationen (von der Schweiz bis Indien) zu kontrastieren, um auf diese Weise auszuloten, wie es gelingen kann, das bislang weitgehend ungenutzte Potenzial, das in der Mehrsprachigkeitskompetenz von Migranten liegt, besser abzurufen und damit individuell und für die Gesellschaft nutzbar zu machen. Die mit den verschiedenen Mehrsprachigkeitskonstellationen verknüpften Mehrdimensionalitäten ein wenig aufzuschlüsseln, nimmt sich Patrick Stevenson in seinem Beitrag zum Thema „Migration und Mehrsprachigkeit in Europa: Diskurse über Sprache und Integration“ vor. Die Existenz von Mehrsprachigkeit - eigentlich: Mehrsprachigkeiten - als Folge von Migration ist eine gesellschaftliche Tatsache. Dabei gibt es in einem mobilen Europa sehr verschiedene Mehrsprachigkeitskonstellationen mit sehr unterschiedlichen sozialen Wertzuschreibungen. Stevenson legt dar, wie sich diese Konstellationen mit politischen Konzepten - konventionellen (wie Staatsbürgerschaft) und moderneren (wie Integration) - verschränken, und diskutiert, wie sich in diesem Spannungsfeld eine kohärente europäische Sprachenpolitik entwickeln ließe; eine Fragestellung, in die sich auch das LINEE -Projekt zur Erforschung von Mehrsprachigkeit, Sprachpolitik und Migration einordnet. In der europäischen Sprachenpolitik entsteht leicht der Eindruck, dass autochthone Minderheitensprachen und neue Migrationsminderheiten als Gegen- Migranten und ihre Sprachen 9 sätze gedacht und geradezu gegeneinander ausgespielt werden (so werden beispielsweise die Migrationsminderheiten von der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen explizit nicht erfasst). Dass ein solches Denken unklug ist, zeigt Rita Franceschini in ihrem Beitrag über „Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas. Sprecher von historischen und neuen Minderheitensprachen und ihr Beitrag zur Multikompetenz“. Sie diskutiert die Frage, wie sich die Bedürfnisse nach dem Spracherhalt von Herkunftssprachen von Migranten einerseits mit der Notwendigkeit der sprachlichen Integration andererseits versöhnen lassen, und illustriert an Beispielen aus der Schweiz, dass dabei auch die Haltungen der Mehrheitsgesellschaft eine entscheidende Rolle spielen; helfen könnte hier mit dem Blick auf die autochthonen Minderheitensprachen das Bewusstsein, dass sprachliche Pluralität in Europa durchaus kein neues Phänomen darstellt. Nach wie vor sind, stark geprägt durch die europäische Nationalstaatsideologie seit dem 19. Jahrhundert, die meisten Staaten Europas mindestens im Bewusstsein der meisten ihrer Bürger einsprachig konzipiert. Sprachen jenseits der eigenen Muttersprache werden als „Fremdsprachen“, nicht als „andere Sprachen“ oder gar als „europäische (also zugehörige) Sprachen“ wahrgenommen. Diese Haltung konfligiert mit den durch Migrationsprozesse einerseits und die europäische Integration andererseits entstehenden neuen Realitäten, die die europäischen Nationalstaaten vor neue Herausforderungen stellen. In welcher Weise die Koexistenz mehrerer Sprachen (und Kulturen) organisierbar ist, zeigt in einer Außenperspektive Anil Bhatti am Beispiel Indiens in seinem Beitrag zu „Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität. Vergleichende Überlegungen zwischen Indien und Europa“. Nach diesen vorwiegend auf gesamtgesellschaftliche Konstellationen ausgerichteten Überlegungen wechselt Rosemarie Tracy die Blickrichtung, indem sie individuelle Mehrsprachigkeitsbedingungen in den Blick nimmt und hier besonders die zweite Generation und die Prozesse des Spracherwerbs - des doppelten Erstspracherwerbs bzw. des (früh-)kindlichen Zweitspracherwerbs innerhalb des Bildungssystems - fokussiert. In ihrem Beitrag „Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen“ räumt Tracy mit weitverbreiteten Vorurteilen und Mythen in Bezug auf Mehrsprachigkeit auf und zeigt, welche Bedeutung bei der Sprachförderung dem Wissen um Spracherwerbsprozesse zukommt. Ebenfalls um die sprachliche Situation der Angehörigen der zweiten Migrantengeneration geht es im Beitrag von Tanja Anstatt. Die beiden gemessen an der Zahl ihrer Sprecher bedeutendsten Minderheitensprachen in Deutschland Albrecht Plewnia 10 sind das Türkische und das Russische; Anstatt berichtet in ihrem Beitrag zum Thema „Russisch in der zweiten Generation. Zur Sprachsituation von Jugendlichen aus russischsprachigen Familien in Deutschland“ aus einer Pilotstudie zu Spracheinstellungen und Sprachkompetenzen von Jugendlichen aus russischsprachigen Familien. Dabei zeigt sich, dass zwar das Russische als Identitätsanker bei den Jugendlichen eine bedeutende ideelle Rolle spielt, dass aber subjektive und tatsächliche Kompetenzen und Bewertungen in sehr unterschiedlicher Weise miteinander korrelieren. Die andere große Migrantengruppe in Deutschland, nämlich die der Türken, steht im Fokus des Beitrags von İnci Dirim, Marion Döll und Ursula Neumann über „Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft am Beispiel der türkisch-deutschen Grundschulklassen in Hamburg“; sie berichten aus dem Modellversuch der türkisch-deutsch-bilingualen Grundschulen. Im Hamburger Schulversuch „Bilinguale Grundschule“ wird versucht, durch Einrichtung bilingualer Klassen die jeweiligen herkunftssprachlichen Kompetenzen der Kinder nutzbar zu machen; trotz verschiedener praktischer Schwierigkeiten wird das Modell von den Beteiligten überwiegend als Erfolg wahrgenommen. Dieselbe Gruppe, aber sozusagen eine halbe Generation weiter, ist Thema des Beitrags von Inken Keim über „Form und Funktion ethnolektaler Formen: türkischstämmige Jugendliche im Gespräch“. In jüngerer Zeit haben sich vielerorts unter Jugendlichen der zweiten (und dritten) Migrantengeneration neue ethnolektale Formen des Deutschen etabliert, die neben die regionalen Varietäten treten. Sie haben eine sehr starke soziale Funktion der Gruppenkonstituierung; Keim zeigt am Beispiel türkischstämmiger Jugendlicher aus Mannheim, wie solche sprachliche Formen und Muster zur Identifikation und zur gruppenspezifischen Identitätsmarkierung genutzt werden. Nach den Jugendlichen richtet sich der Blick auf die Erwachsenen; Bernd Meyer fokussiert in seinem Beitrag mit dem Titel „Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? “ die sozioökonomischen Aspekte von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass zwar in zahlreichen Unternehmen, Einrichtungen, Behörden, Krankenhäusern usw. für die Kommunikation mit Personen mit geringen Deutschkenntnissen oftmals Mitarbeiter mit Kenntnissen der jeweiligen Herkunftssprachen herangezogen werden, dass diese aber die spezifischen kommunikativen Anforderungen in professionellen Kontexten mangels entsprechender Ausbildung durchaus nicht immer erfüllen. Eine bewusste und aktive Sprachenpolitik müsste darauf abzielen, das zusätzliche Potenzial der Mehrsprachigkeitskompetenz besser nutzbar zu machen. Migranten und ihre Sprachen 11 Eine zentrale Schwierigkeit der Mehrsprachigkeitsdebatte liegt darin, dass den verschiedenen beteiligten Sprachen teils sehr unterschiedliche sozialsymbolische Funktionen zukommen. Einstellungen von Sprechern in Deutschland gegenüber anderen Sprachen und ihren Sprechern sind das Thema des letzten Beitrags des Bandes; Albrecht Plewnia und Astrid Rothe berichten über „Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit. Wie Schüler über ihre und andere Sprachen denken“. Dabei wird, ausgehend von den Daten einer bundesweiten Repräsentativumfrage zu Spracheinstellungsfragen einerseits und weiteren Erhebungen unter Schülern der 9. und 10. Klasse andererseits, deutlich, dass bestimmte europäische Nachbarsprachen mit einem klar höheren Prestige ausgestattet sind als bestimmte Migrantensprachen. In den Jahren 2008 und 2009 veranstaltete das Goethe-Institut unter dem Titel „Sprachen ohne Grenzen“ eine Projektreihe zum Thema Mehrsprachigkeit. Im Rahmen der Abschlussveranstaltung dieser Projektreihe im September 2009 in der Akademie der Künste in Berlin fand auch eine Fachkonferenz zum Thema „Sprache und Integration“ statt. Eine der Sektionen dieser Fachkonferenz wurde vom Institut für Deutsche Sprache gestaltet; sie trug den Titel „Bedeutung und Integration von Herkunftssprachen“. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sind auf Basis der Vorträge, die in dieser Sektion gehalten wurden, entstanden; außerdem enthält der Band einen thematisch einschlägigen Beitrag von Albrecht Plewnia und Astrid Rothe, die aus einem Forschungsprojekt berichten, das zum Zeitpunkt der Konferenz gerade erst an seinem Anfang stand. Die Sektion wurde abgerundet durch eine Podiumsdiskussion zum Thema „Was kann Europa lernen? Indien, Referenzland im Umgang mit Mehrsprachigkeit“ mit Ludwig M. Eichinger (Institut für Deutsche Sprache, Mannheim), Hans-Jürgen Krumm (Universität Wien), Gaspar Cano Peral (Instituto Cervantes, Berlin) und Pramod Talgeri (Jawaharlal Nehru University, Neu Delhi); die Podiumsdiskussion ist in diesem Band nicht dokumentiert. Die Herausgeber sind allen, die an der Entstehung dieses Bandes beteiligt waren, zu Dank verpflichtet, in erster Linie natürlich den Referenten der Berliner Tagung und Autoren der Beiträge, auch den Teilnehmern der die Sektion abschließenden Podiumsdiskussion, und nicht zuletzt dem Goethe-Institut als Veranstalter der Projektreihe „Sprachen ohne Grenzen“, in deren Rahmen die Konferenz stattfand. Patrick Stevenson Migration und Mehrsprachigkeit in Europa: Diskurse über Sprache und Integration Abstract: Kurz nach seinem Amtsantritt hat der Europäische Kommissar für Mehrsprachigkeit, Leonard Orban, in einer Rede im April 2007 erklärt, dass „die Mehrsprachigkeit von Anfang an ein Teil des genetischen Kodes der Europäischen Union war“; diese Behauptung wird regelmäßig, wenn auch weniger bombastisch, in den Veröffentlichungen und Strategien der Kommission wiederholt. Dieser Feststellung wird im Kontext der Bestrebungen, ein europäisches Bürgerbewusstsein zu entwickeln und gleichzeitig den Realitäten der ständig wachsenden Migrationszahlen gerecht zu werden, besondere Bedeutung beigemessen. Doch in den öffentlichen Diskursen über Sprache und Integration bleibt noch unklar, wie die Grundbegriffe Mehrsprachigkeit, Migration, (Staats-)Bürgerschaft und Integration zu verstehen sind. Außerdem werden ‘Migrant(inn)en’ in diesen Diskursen oft als undifferenzierte soziale Gruppen behandelt. In diesem Beitrag sollen daher zwei Ziele verfolgt werden. Erstens werden einige Probleme bei der Auslegung wichtiger Begriffe diskutiert werden, und zweitens werden Ergebnisse einiger Forschungsprojekte, die sich im Rahmen des europäischen Netzwerkes LINEE mit der europäischen Sprachpolitik und mit den Erfahrungen verschiedener Migrantengruppen befasst haben, kurz vorgestellt. Shortly after taking up office as European Commissioner for Multilingualism, Leonard Orban declared in a speech in April 2007 that „multilingualism was part of the genetic code of the European Union from the beginning“. This assertion is constantly reiterated, albeit in less dramatic terms, in the Commission's publications and strategic documents. Particular importance is attached to this claim in the context of efforts to develop a sense of European citizenship and at the same time to take account of the realities of ever-growing migration figures. However, in the public discourses on language and integration it remains unclear how fundamental concepts such as multilingualism, migration, citizenship and integration are to be understood. Furthermore, ‘migrants’ are often treated in these discourses as homogeneous social groups. This chapter therefore has two aims. First, some problems in the interpretation of key concepts are discussed, and secondly, some results of research projects conducted in the framework of the European network LINEE (Languages in a Network of European Excellence) dealing with European language policy and the experiences of different migrant groups are briefly presented. Patrick Stevenson 14 1. Einleitung Die verschiedenen Beiträge in diesem Band setzen sich mit dem Thema Sprache und Integration aus verschiedenen Forschungsperspektiven auseinander. Ich möchte in einer eher generellen Diskussion auf jene Schlüsselkonzepte eingehen, die sich als rote Fäden durch diese Untersuchungen ziehen und die behandelten Themen verknüpfen, und zwar: Mehrsprachigkeit, Migration, Staatsbürgerschaft und Integration. Dabei geht es mir weniger um die Phänomene als solche, als um die Diskurse, die sie begleiten. Im Folgenden werde ich also im sprachpolitischen Kontext des heutigen Europas die Verbindungen zwischen diesen Konzepten aufspüren. Da dieses Thema sehr komplex ist, kann ich im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr leisten, als einige Aspekte aufzuzeigen, die aber in anderen Beiträgen aufgegriffen und weiter diskutiert werden. Dabei werde ich mich im Wesentlichen auf die Ergebnisse zweier Studien berufen, die sich der Erforschung dieser Konzepte gewidmet haben. Diese Studien wurden im Rahmen der europäischen Netzwerke Testing Regimes: Language, Migration and Citizenship in Europe (siehe Extra/ Spotti/ Van Avermaet (Hg.) 2009b, Hogan-Brun/ Mar-Molinero/ Stevenson (Hg.) 2009) und LINEE (Languages in a Network of European Excellence) durchgeführt; ich möchte meinen Kolleg(inn)en, deren Forschungsergebnisse ich hier vorstelle (siehe vor allem Mar-Molinero et al. 2009, Studer/ Kreiselmaier/ Flubacher 2008, Studer/ Kreiselmaier/ Veisbergs 2008), meine Anerkennung für ihre Arbeit ausdrücken. 1 2. Orders of Multilingualism und eine Agenda für sprachpolitische Forschung Ich möchte meine Überlegungen mit verschiedenen Perspektiven oder Diskursen beginnen, die sich zum Thema Mehrsprachigkeit im europäischen Kontext finden lassen. Eine Liste solcher Perspektiven ist zwangsläufig willkürlich, umfasst jedoch sicherlich zum Beispiel: - die alltägliche, selbstverständliche Mehrsprachigkeit kurdischer Kinder an einer Berliner Schule, aber ebenso die eines Tschechisch sprechenden, vietnamesischen Marktverkäufers in Prag oder die einer Englisch sprechenden Spanierin, die für ein multinationales Unternehmen in London arbeitet; - die gefeierte aber politisch eingeschränkte Mehrsprachigkeit, die zur Idealvorstellung der EU -Staatsbürgerschaft gehört; 1 Cecylia Barłog, Mi-Cha Flubacher, Felicia Kreiselmaier, Clare Mar-Molinero, Darren Paffey, Patrick Studer, Verena Tunger, Andrejs Veisbergs, Dick Vigers. Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 15 - die „widerspenstige“, „subversive“ Mehrsprachigkeit, die in nordenglischen Städten oder Pariser Banlieus „soziale Integration verhindert“ und „soziales Chaos unterstützt“; sowie - die wiederauflebende Mehrsprachigkeit als Teil der ethnischen bzw. nationalen Renaissance in Wales oder der Bretagne. Diese Beispiele verdeutlichen unterschiedliche sprachliche Praktiken, die in bestimmten sozialen Kontexten oder Interaktionen und auf verschiedenen Diskursebenen ihre Bedeutung annehmen oder zugeschrieben bekommen. Ich stelle mir dies als unterschiedliche Hierarchien von Mehrsprachigkeit (‘orders of multilingualism’) vor, die in gegensätzlichen Sprachideologien verankert sind und die aus mehrsprachigen Praktiken bestehen, die im Diskurs auf verschiedenen Ebenen sozialen Handelns positioniert werden. Gleichzeitig erfordert eine Analyse dessen, wie die Politik der Sprache im heutigen Europa funktioniert, die Einsicht, dass wir - und hier zitiere ich Jan Blommaert (2003, S. 608) - „the various forms of interconnectedness between levels and scales of sociolinguistic phenomena“ identifizieren und erklären müssen, um genau zu verstehen „what language achieves in people's lives“. Wie Susan Gal (2006, S. 14) betont, bleibt die Existenz separater Sprachen und ihre hierarchisch geordneten Beziehungen zueinander eine der mächtigsten und beständigsten Sprachideologien im europäischen Kontext. Das Ironische in dieser Hinsicht ist die immer noch privilegierte Stellung von ‘Nationalsprachen’, die Myriaden von untereinander verknüpften Räumen verbinden (zum Beispiel zuhause, auf der Straße, im Geschäft, bei der Arbeit, auf dem Spielplatz, im Verein), von denen sich die wenigsten, zumindest in urbanen Gebieten, durch den exklusiven Gebrauch einer einzigen Sprachvarietät auszeichnen. Diese Ironie wird durch die oft widersprüchliche politische Rhetorik der europäischen Institutionen noch verstärkt. Mehrsprachigkeit wird einerseits als Wesenszug der europäischen Gesellschaften dargestellt - so erklärte der damalige Kommissar für Mehrsprachigkeit, Leonard Orban, in einer Rede am 27. April 2007, dass Mehrsprachigkeit „von Anfang an ein Teil des genetischen Kodes der Europäischen Union war“. Andererseits gilt Mehrsprachigkeit gleichzeitig als eine der erstrebenswertesten Schlüsseleigenschaften eines europäischen Bürgers, die es dementsprechend noch in die Realität umzusetzen gilt. Reichliche Beweise hierfür finden sich in der Fülle an Programmen, Aktivitäten und Strategien, die die Sprachenvielfalt und die soziale Mobilität zwischen den Mitgliedsstaaten unterstützen sollen. Patrick Stevenson 16 Diese Ziele müssen sich jedoch mit dem immer noch vorherrschenden Konzept des Monolingualismus auseinandersetzen, das als ‘natürliche Gegebenheit’ des Individuums und des Staates gesehen wird. Denn trotz diverser EU - Strategien und aufgeklärter Initiativen einiger nationaler Institutionen, wie des Goethe-Instituts, halten politische Diskurse über Sprache in den meisten Mitgliedsstaaten aufrecht, was Ingrid Gogolin (1994) als den monolingualen Habitus der multilingualen europäischen Gesellschaften bezeichnet hat. All dies birgt Konflikte und Fragestellungen, mit denen sich die Forschung im Bereich der Sprachpolitik auseinandersetzen muss. So besteht Sue Wright (2004, S. 251) darauf, dass Forschung, die sich mit der sich entwickelnden Sprachdynamik in Europa befasst, über die konventionelle Auswertung von Richtlinien als Instrumente des Sprachkontaktmanagements hinausgehen muss und insbesondere erforschen sollte: - erstens die verschiedenen Ebenen, auf denen Sprachpolitik entworfen wird; - zweitens die Beziehung zwischen der Artikulation von Sprachideologien einerseits und der Formulierung und Implementierung von Sprachpolitik andererseits; und - drittens den Gebrauch von Richtlinien und ihre Auswirkungen auf Migrations- und Identifikationsmuster. Dieser Liste würde ich einen vierten wichtigen Punkt hinzufügen: den der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Richtlinien einerseits und den Praktiken und Erfahrungen der Individuen andererseits. Gerade diese Aspekte, neben vielen anderen, bilden die zentralen Themen des LINEE -Projekts, die ich im Folgenden kurz erläutern werde. 3. LINEE : Forschung zur Mehrsprachigkeit, Sprachpolitik und Migration in Europa Die meisten (konventionellen) Forschungsarbeiten über Sprachpolitik tendieren dazu, den Fokus auf die kritische Analyse der Inhalte bestimmter Richtlinien und Maßnahmen zu legen. So wichtig dieser bestehende Zugang ist, zieht er weder die internen Prozesse der Institutionen in Betracht, die die Richtlinien formulieren, noch die Auswirkungen eben dieser Richtlinien auf ihre Zielgruppen und einzelne Individuen. Eine Konsequenz dieser Herangehensweise ist daher die Entpersonalisierung der Produktion wie der Rezeption von Sprachpolitik. Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 17 Wir wollten daher unseren analytischen Blick vom Textprodukt hin zu den Denkprozessen und Erfahrungen jener lenken, die an den unterschiedlichen Stufen der Sprachplanung beteiligt sind - also der politischen Entscheidungsträger, Interessengruppen und Individuen. Der Sinn dieser Untersuchung war es, ein Verständnis für die komplexen und häufig widersprüchlichen Perspektiven zu entwickeln, die hinter vermeintlich einstimmigen oder einträchtigen Richtlinien und Strategien stehen und die zudem auf verschiedenen Ebenen innerhalb der EU formuliert und ratifiziert werden. Dementsprechend sollte auch die Art und Weise berücksichtigt werden, wie sich Individuen in Relation zu der sozialen Ordnung positionieren, die eben durch diese Richtlinien geformt wird. Die Menge an sprachpolitischen Strategien, die im Verlauf der letzten zwanzig Jahre in der EU eingeführt wurden, wurde schon hinreichend untersucht. Fragen von höchster Relevanz bleiben jedoch unbeantwortet. Zum Beispiel: Welche Vorstellungen von Sprache unterliegen diesen Richtlinien? Welche sozialen und moralischen Werte und Ansichten werden darin artikuliert? Und welche Wirkungen hatten sie darauf, wie Menschen ihr Leben leben? 3.1 Der Forschungskontext Der Forschungskontext ist ein Europa, das zunehmend durch die Auswirkungen sozialer Transformationsprozesse charakterisiert wird, die durch globalisierte wirtschaftliche Prozesse entstehen - in erster Linie durch die in großem Umfang auftretende transnationale Bewegung von Menschen und Gütern. Diese Prozesse haben widersprüchliche Konsequenzen: Auf der einen Seite mindern sie die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen, auf der anderen Seite verursachen sie einen internen politischen Druck in den einzelnen europäischen Staaten, diese Grenzen aufrecht zu erhalten und nationale Interessen zu behaupten. Eines der Hauptinstrumente zum Erreichen dieses politischen Zieles, nämlich das neu gestaltete Konzept der Staatsbürgerschaft, wurde in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückt. Dies umfasst insbesondere ein Konzept von ‘aktiver’ und ‘mitgestaltender’ Staatsbürgerschaft, wobei die nötigen Qualifikationen für ein Dazugehören einhergehen mit der verbindlichen Verpflichtung, zur Erhaltung und zur Reproduktion der ‘Gastgesellschaft’ beizutragen. Gleichzeitig arbeitet die Politik auf EU -Ebene an den Grundlagen für ein europäisches Staatsbürgerschaftsmodell, das die Mobilität der Europäer zwischen den Staaten unterstützen soll. In beiden Fällen dient die Sprache den Gesetzesmachern als eine Kernkomponente in der Formulierung der Bürgerrechte, der Verantwortungen und der Möglichkeiten. Doch während einer- Patrick Stevenson 18 seits der ideale EU -Bürger entworfen wird, der als Polyglott in der Lage ist, sein Repertoire an Sprachen je nach Nutzen und Bedarf anzuwenden und zu erweitern, ist andererseits in vielen Mitgliedsstaaten nicht die plurilinguale Kompetenz, sondern die Beherrschung der ‘Nationalsprache’ die Hauptvoraussetzung für die Staatsbürgerschaft. 3.2 Konzeptioneller Bezugsrahmen Unser Forschungsvorhaben hat sich somit aus den drei Schlüsselkonzepten Mehrsprachigkeit, Migration und Staatsbürgerschaft entwickelt, wobei diese unwillkürlich im Zusammenhang mit den Begriffen Integration und sozialer Zusammenhalt stehen. Mehrsprachigkeit Ein fundamental wichtiger Aspekt, der kaum in der europäischen Sprachpolitik angesprochen wird, ist die Unterscheidung zwischen einer idealisierten Konzeption einer individuellen Mehrsprachigkeit und der hochkomplexen Realität der Sprachrepertoires: Einerseits der Renaissancemensch, der fließend mehrere europäische ‘Nationalsprachen’ lesen und schreiben kann, und andererseits das real existierende Individuum, dessen Sprachvermögen sich zum Teil aus fragmentarischem Sprachwissen zusammensetzt, das er oder sie aus einer Vielzahl an Sprachen und Sprachvarietäten gewonnen hat. Dieses Sprachwissen wiederum wird in unterschiedlichen Kontexten auf unterschiedliche Weisen angewendet. Daher möchte ich jetzt die Aufmerksamkeit auf eben dieses widersprüchliche Verständnis von Mehrsprachigkeit in der europäischen Sprachpolitik lenken. Die anderen Beiträge in diesem Band werden Beispiele tatsächlichen Sprachgebrauchs, insbesondere von mehr oder weniger fest ansässigen Migranten, vorstellen. Ich möchte im Speziellen auf die Reaktionen von ‘neuen’, transnationalen Migranten auf ihr neues Umfeld eingehen, um kurz zu veranschaulichen, wie sich die ‘Dissonanz’ dieser Sichtweisen im Alltag manifestiert. 2 Auf der europäischen Ebene drücken die schon genannten widersprüchlichen Diskurse einen Interessenskonflikt aus, der Mehrsprachigkeit einerseits als ökonomisches Kapital, andererseits als Menschenrechtsfrage behandelt. Konsens herrscht nur in der zukunftsgerichteten Orientierung beider Ansätze. Genau hier liegt jedoch eine Spannung zwischen den Perspektiven der Entschei- 2 In unseren Forschungsprojekten haben wir hauptsächlich Interviews mit Rumänen in Großbritannien, der Schweiz und Spanien durchgeführt. Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 19 dungsträger und der ‘neuen’ Migranten: Während erstere den Schwerpunkt auf die historische Kontinuität ‘nationaler’ Traditionen legen, ist für Migranten natürlich das Hier und Jetzt von höchster Wichtigkeit. Diese Spannung drückt sich in unterschiedlichen Einstellungen gegenüber bestimmten Sprachen aus. Auf der einen Seite wird von den meisten Migranten eine pragmatische Einstellung bevorzugt, wobei Kosten und Nutzen verschiedener Sprachvarietäten im Alltag genau abgewogen werden. Entscheidungsträger auf der anderen Seite betonen Sprachideologien, die Nationalsprachen bzw. autochthone regionale Minderheitensprachen fördern, wie zum Beispiel Katalanisch oder Walisisch, auf Kosten allochthoner Sprachen, wie zum Beispiel Rumänisch oder Polnisch. Migration und Staatsbürgerschaft Diese beiden Konzepte können natürlich unabhängig voneinander untersucht werden, aber in dem Kontext, den ich bisher vorgestellt habe, wird deutlich, dass sie durch den Diskurs der Zugehörigkeit auf das engste miteinander verknüpft sind. Wer ‘zählt’ als Europäer? Wer ist (typisch) britisch, katalanisch oder schweizerisch? Oder französisch, tschechisch oder rumänisch? Ist es möglich, sich auf vielfältige Weisen zugehörig zu fühlen? Wer soll dies entscheiden? Und auf welcher Basis? Auf der europäischen Ebene ist Migration natürlich eine Konsequenz globaler Veränderungen, sie hat aber auch eine entscheidende Wirkung auf das Gleichgewicht nationaler und supra-nationaler Bezugsrahmen für soziales und politisches Handeln. Zunehmende Migration innerhalb der EU und in die EU liefert daher die Impulse, die dazu führen, dass die Rechte und Pflichten des Einzelnen kritisch reflektiert werden. Aber auch die Beziehungen zwischen den Individuen und den Institutionen müssen im Hinblick auf die Idealvorstellungen von Inklusion und Integration untersucht werden. Diese Themen werden alle in der Diskussion des Konzepts Staatsbürgerschaft angesprochen. Migration kann traditionelle Vorstellungen von ‘Heimat, Land und Nation’ stören, und die dadurch entstehenden sozialen Turbulenzen rufen häufig Verteidigungsstrategien auf den Plan, die den Verlust der Vielfalt manchmal noch beschleunigen. Eine dieser Strategien auf nationaler Ebene ist die in Stein gemeißelte Vorstellung von Staatsbürgerschaft als ausschließlich monolinguales Konstrukt. Die in einer solchen Definition enthaltenen Widersprüche werden deutlich, wenn man zum Beispiel bedenkt, dass Bürger anderer EU - Mitgliedsstaaten keine Prüfung ihrer Sprachkenntnisse ablegen müssen. Zugleich werden viele Bewerber um die Staatsbürgerschaft durch das zu errei- Patrick Stevenson 20 chende Niveau der Sprachkenntnis von vornherein abgeschreckt. Hier wird deutlich, dass, während die Staaten eine Einbürgerung als selbstverständlich erwünschtes und angestrebtes Ziel sehen, Migranten weitaus skeptischer sind und eigene Wege zur sozialen Integration suchen, vor allem auf lokaler Ebene, zum Beispiel durch den Aufbau von Netzwerken in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz. Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass weder Migration noch Staatsbürgerschaft einheitliche Konzepte sind. Wir müssen zwischen einer Vielzahl verschiedener Migrationswellen und Arten von Migration unterscheiden. Migranten früherer Einwanderungswellen, größtenteils aus den mediterranen Ländern, haben sich in vielen Fällen in den Aufnahmeländern niedergelassen und bilden heute einen festen Bevölkerungsanteil in fast allen europäischen Ländern, insbesondere in Westeuropa. Auf diese frühe Süd-Nord-Migration folgt jedoch seit einigen Jahren eine neue Bewegung, nicht nur aus anderen Ländern, sondern auch aus anderen Motiven und nach anderem Muster. Diese ‘neue’ Migration ist charakterisiert durch zeitlich begrenzte, zyklische und transnationale Bewegungen. Geografisch versprengt, findet sie sich auch jenseits gewachsener städtischer Räume und Arbeitsmärkte. Hier zitiere ich meine Kollegen aus Testing Regimes, Guus Extra, Max Spotti und Piet Van Avermaet: The effect of this blending of „old“ and „new“ migration produces a new form of diversity in Europe, one for which the term „super-diversity“ has been coined (Vertovec 2006, S. 1-2). This type of diversity is of a more complex kind in which neither the origin of people, nor their presumed motives for migration, nor their „careers“ as migrants (sedentary versus short-term and transitory), nor their socio-cultural and linguistic features can be pre-supposed. The cosy (dis)comfort of the old migration, where migrants, their trajectories and their lives were understood, or at least acknowledged, by majority group members, has disappeared and is replaced by a form of complexity that is presenting itself unequivocally at Europe's doors. (Extra/ Spotti/ Van Avermaet 2009a, S. 4) Daneben werden herkömmliche Konzeptionen von Staatsbürgerschaft, die auf formalen Qualifikationskriterien basieren und in einem Diskurs über Rechte und Verpflichtungen eingebettet sind, von neuen Ideen herausgefordert - einerseits von institutioneller Seite, durch die ‘aktive, mitgestaltende’ Staatsbürgerschaft, die durch ein genau definiertes Allgemeinwissen sowie durch vom Staat als angemessen festgelegte Sprachkenntnisse erlangt werden muss. Dem gegenüber steht die Idee einer ‘kulturellen Staatsbürgerschaft’, die nach Rosaldo (1994) „enfranchisement, belonging, having voice and getting heard“ in sich vereint. Es liegt auf der Hand, dass diese beiden unterschiedlichen Konzepte reichlich Konfliktpotenzial liefern. Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 21 Integration und sozialer Zusammenhalt Gegensätzliche Auffassungen von Staatsbürgerschaft wurzeln in unterschiedlichen Vorstellungen von Integration und Zusammenhalt. Europäische Versuche, eine einheitliche Definition von „Integration“ zu finden, verkörpern den stereotypen europäischen Diskurs des Konsenses, bleiben aber relativ oberflächlich formuliert und banal. In den verschiedenen Nationalstaaten jedoch beginnen Institutionen langsam das Ausmaß und die Komplexität der Angelegenheit zu erkennen. Hier ist zum Beispiel für Deutschland der Nationale Integrationsplan (Bundesregierung 2007) zu nennen, oder für Großbritannien the Commission on Integration and Cohesion. Der deutsche Plan (S. 7, 13) erklärt Integration zu „eine[r] Schlüsselaufgabe unserer Zeit“ und proklamiert „eine aktivierende und nachhaltige Integrationspolitik, die die Potenziale der Zugewanderten erkennt und stärkt und nicht allein auf die Defizite fokussiert.“ Die britische Regierung (Department for Communities and Local Government 2008, S. 10) hat „community cohesion“ als ihr zentrales Konzept übernommen, in deren Umsetzung Integration eine Schlüsselrolle spielt: A new definition of Community Cohesion: Community Cohesion is what must happen in all communities to enable different groups of people to get on well together. A key contributor to community cohesion is integration which is what must happen to enable new residents and existing residents to adjust to one another. Our vision of an integrated and cohesive community is based on three foundations: - People from different backgrounds having similar life opportunities - People knowing their rights and responsibilities - People trusting one another and trusting local institutions to act fairly And three key ways of living together: - A shared future vision and sense of belonging - A focus on what new and existing communities have in common, alongside a recognition of the value of diversity - Strong and positive relationships between people from different backgrounds. Dennoch basieren sowohl der deutsche Integrationsplan als auch der britische Plan for Community Cohesion auf der Annahme, dass diese Gemeinschaften grundsätzlich stabile Bevölkerungsgruppen bilden, die aus ‘jenen, die sich schon eingelebt haben’, und ‘jenen, die sich noch einleben müssen’, bestehen. Diese Annahme vernachlässigt jedoch den Trend zur ‘neuen’ Migration, die Patrick Stevenson 22 sich eben nicht durch Stabilität auszeichnet, nicht durch den definitiven Wechsel von einem Ort zu einem anderen, sondern durch den nur vorübergehenden Aufenthalt und die Pflege transnationaler Kontakte. Dies stellt die Sprachpolitik vor einige Schwierigkeiten. Einerseits können integrationspolitische Maßnahmen, die die Kenntnis der Landessprache verlangen, die Wünsche und Ziele der Migranten verfehlen, die nicht die Staatsbürgerschaft oder auch nur einen längeren Aufenthalt in einem Land anstreben. Andererseits führt zunehmende Vielfalt, wiewohl sie auch Anlass zur Freude geben kann, häufig dazu, dass sich eingelebte und ‘neue’ Gruppen den Raum und die begrenzten Mittel, die für kulturelle Unterstützung zur Verfügung stehen, gegenseitig streitig machen. ‘Neue’ Migranten werden außerdem als Herausforderung angesehen, wo es um die kulturelle Vielfalt in traditionell bilingualen Gebieten geht, wenn sie verstärkt Angebote in der dominanten Nationalsprache wahrnehmen, wie zum Beispiel Englisch in Wales oder Kastilisch in Katalonien, und sich nicht für regionale bzw. nationale Minderheitensprachen entscheiden. 3.3 Einige Ergebnisse Mehrsprachigkeit ist in der Tat ein relativ neues Konzept in der europäischen Sprachpolitik, und es lässt sich nicht leicht mit der bereits bestehenden Vorstellung von sprachlicher Vielfalt vereinbaren. Obwohl es durch das neue Portfolio in die Infrastruktur und den Wortschatz der Kommission aufgenommen wurde, ist das Konzept der Mehrsprachigkeit offensichtlich noch durch die ungelösten Spannungen innerhalb der sprachpolitischen Diskurse auf höchster Ebene besetzt. Diese Spannungen wiederum verursachen erhebliche Schwierigkeiten in der Formulierung und Implementierung einheitlicher, rationaler EU -Richtlinien, was sich natürlich auch auf die nationale und regionale Politik auswirkt. Was ist Mehrsprachigkeit? In der Analyse von Interviews mit Personen in mittleren und leitenden Positionen in den verschiedenen politischen Institutionen wurde schnell klar, dass Mehrsprachigkeit von verschiedenen Personen unterschiedlich verstanden wird. Gleichzeitig hatten jedoch auch die Befragten selbst mit zum Teil widersprüchlichen Auffassungen zu kämpfen. Das führt dazu, dass, während das Wort ‘Mehrsprachigkeit’ regelmäßig in Strategiedokumenten verwendet wird, keineswegs geklärt ist, wer damit angesprochen wird: Ist dies ein Fall für Institutionen? Oder für Individuen? Wenn eine Richtlinie sich auf institutionel- Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 23 len Sprachgebrauch bezieht, betrifft sie dann die interne Kommunikation? Oder die externe Kommunikation zwischen Institutionen und Bürgern? Oder beides? Der ehemalige Kommissar für Mehrsprachigkeit hat sich einer langfristigen Strategie verpflichtet, die eine Kommunikation zwischen den Institutionen und den Bürgern in „ihrer eigenen Sprache“ erlauben und unterstützen soll. Aber dies bedingt nicht zwangsläufig, dass jeder einzelne Bürger mehrsprachig sein muss - wenn überhaupt, impliziert es genau das Gegenteil. So gesehen widerspricht diese Strategie klar dem von der Kommission herausgegebenen Ziel, dass alle Europäer neben ihrer Muttersprache Sprachkenntnisse in mindestens zwei weiteren Sprachen haben sollen. Dieser Plan ist in den Kontext des weiteren Diskurses über die Mobilität und die Arbeitsmarktchancen der Europäer eingebettet und wird somit als Schlüssel zur ökonomischen Integration der EU stilisiert. Der propagierte „Sprachpool“, aus dem die Europäer sich frei nach Wahl bedienen können und so ihr individuelles, multilinguales Repertoire zusammenstellen sollen, setzt sich jedoch ausschließlich aus den standardisierten Nationalsprachen zusammen. Alter Wein in neuen Schläuchen? Die widersprüchlichen Auffassungen von Mehrsprachigkeit scheinen teilweise daher zu rühren, dass es schwierig ist, dieses Konzept von der ‘Sprachenvielfalt’ zu unterscheiden. Dieser Begriff ist mittlerweile im konventionellen EU -Diskurs etabliert, und es drängt sich die Frage auf, ob nicht Mehrsprachigkeit vielmehr eine neu aufgelegte Version des herkömmlichen Begriffs ist, nur im neuen Gewand. Während Sprachenvielfalt in der Vergangenheit noch Grund zur Freude gab, quasi ein Gegenmittel für die vermeintliche kulturelle Gleichmachung Europas darstellte, wird sie jetzt im Kontext der Migration in die EU , die eine unvorhergesehene Fülle an Sprachen und Varietäten mit sich bringt, in manchen Lagern als eine mögliche Quelle der Uneinigkeit gesehen. Einerseits könnte eine positiver besetzte Mehrsprachigkeit eingesetzt werden, um die Integrationsagenda zu stärken. Andererseits könnte es ebenso die Gelegenheit eröffnen, die Grenzen eines ‘akzeptablen’ Sprachgebrauchs auf eine Art einzuschränken, die durch etablierte Diskurse über nationale Werte und nationale Identitäten legitimiert ist. Ökonomischer Vorteil oder Menschenrecht? Das Modell der Sprachenvielfalt entstand aus einer Betonung der Gleichberechtigung aller Sprachen und dem Recht des Individuums auf Meinungsäußerung und somit auch der freien Wahl der Sprache, in der dies geschieht. Uneingeschränkte und unregulierte Vielfalt wird jedoch von manchen als Patrick Stevenson 24 nachteilig für ökonomische Effizienz und somit für die Wettbewerbsfähigkeit angesehen. Andererseits wäre jedoch eine Beschränkung auf eine einzige lingua franca, am wahrscheinlichsten die englische Sprache, politisch nicht tragbar - und zudem für das Erzielen wirtschaftlicher Erfolge auf einem zunehmend dynamischen und breit gefächerten globalen Markt nicht angemessen. Eine fokussierte Politik der Mehrsprachigkeit, sowohl für die europäischen Arbeiter, als auch für Firmen, die grenzübergreifend arbeiten, wird daher im neuen, ökonomisch ausgerichteten Diskurs über Sprache befürwortet, der Flexibilität und Empfänglichkeit für wechselnde Marktbedingungen betont. Das Gesamtbild, das sich hieraus ergibt, ist, dass sich die Politik der Mehrsprachigkeit auf EU -Ebene in einem schwierigen Übergangsstadium befindet. Aus dem Menschenrechtsdiskurs kommend, wurde sie zunehmend zu einem ökonomischen Thema. Doch politische Entscheidungsträger wie auch Interessengruppen scheinen große Probleme zu haben, diese beiden widersprüchlichen Sichtweisen miteinander zu vereinen. Dieses Dilemma verschärft sich weiterhin dadurch, dass Sprachfragen im Allgemeinen als ‘soft issues’ mit geringem politischem Gewicht angesehen werden und dass die Verfügungsgewalt der EU so gering ist, dass Strategiepapiere nicht zwangsläufig in Richtlinien münden. Im Gegensatz zur Politik auf europäischer Ebene hat Sprachpolitik auf nationaler und regionaler Ebene zumindest in einigen Fällen ein ‘hard edge’ gezeigt, wo sie genau die Räume absteckt, in denen sich Sprecher verschiedener sprachlicher Varietäten bewegen müssen, die sich von den offiziellen Staatssprachen unterscheiden. Während nationale und regionale Richtlinien typischerweise als Instrumente zur Umsetzung dienen, werden sie implizit durch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Prioritäten der dominanten politischen Interessensgruppen motiviert (und eingeschränkt): sprachliche Realpolitik also, eingebettet in die Diskurse über Integration und sozialen Zusammenhalt. Das strategische Planen in Fragen der Sprachpolitik im Verhältnis zu Staatsbürgerschaft und einem Zugehörigkeitsgefühl funktioniert in Spanien, der Schweiz und Großbritannien gleichzeitig im Einklang mit dem weiteren europäischen Rahmen und entlang resolut autonomer Linien, die der Staat bzw. sub-staatliche Behörden (Region/ Kanton) bestimmen. Ich gebe dazu einige Beispiele: - Während die spanische Verfassung neben ihrer Betonung des Kastilischen verschiedenen autochthonen Sprachminderheiten Rechte verliehen hat, Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 25 legt die katalanische Regierung den Schwerpunkt auf die Förderung des Katalanischen und nicht auf die Förderung einer Politik der Mehrsprachigkeit. - In den offiziellen und bestimmenden öffentlichen Diskursen stellt die englische Sprache in Großbritannien den Inbegriff der ‘Britishness’ dar. Somit verwundert es nicht, dass das neue Einbürgerungsmodell auf der englischen Sprache besteht - und nicht auf ‘Englisch plus 2’. Die Einsprachigkeit hier wird auch durch indirekten Druck propagiert, z.B. durch immer weniger Übersetzungsdienste, oder die Tatsache, dass es kaum Gelegenheiten gibt, andere Sprachen im öffentlichen Leben zu gebrauchen. - Selbst in der Schweiz, mit ihrer langen Tradition dezentralisierter Entscheidungsprozesse, werden bestehende Formen des offiziellen Monolingualismus in den meisten Kantonen durch neue Gesetze gestärkt, wie zum Beispiel das Integrationsgesetz in Basel. Während also die spanischen und britischen Regierungen formell der EU - Strategie zur Mehrsprachigkeit Genüge leisten und die Schweiz als beispielhaft für die Entwicklung interner und grenzüberschreitender multilingualer Beziehungen gilt, gibt es in jedem Land auffällige Widersprüche zwischen der Rhetorik des offiziellen Diskurses und der eigentlichen Sprachpolitik: zum Beispiel, wenn Spanien durch die Erteilung einer „kompensatorischen Ausbildung“ für multilinguale Kinder mit „unzureichenden Kenntnissen des Kastilischen“ bestimmte Arten von Mehrsprachigkeit als Defizit festschreibt. In allen diesen Fällen deutet die Politik die Herausforderungen durch mehrsprachige Bevölkerungsgruppen nicht als mögliche soziale und kulturelle Bereicherung, sondern als Hindernis für Integration und sozialen Zusammenhalt. Während staatliche und regionale Behörden jedoch Sprachstandstests als Zugangsbegrenzungen nutzen und gleichzeitig als Anreiz zum Erlangen des begehrenswerten Status eines Staatsbürgers präsentieren, äußerten Migranten andere Ansichten über den Wert der Notwendigkeit, die spärlichen Ressourcen Zeit und Geld in das Lernen einer Sprache zu investieren, die vom ‘Gastland’ vorgeschrieben wird. Rumänische Migranten in Basel akzeptierten zwar, dass es wichtig sei, Deutsch zu lernen, argumentierten aber auch, dass es nicht ausreichend sei. Migranten, die wir in Southampton, Barcelona und Castelló interviewten, waren in ihrem Urteil reservierter. Ihre Motivation, Englisch, Kastilisch oder Katalanisch (bzw. Valenzianisch) zu lernen, war vor allem von persönlichen Bedürfnissen und Umständen geprägt und nicht von den Erwartungen und politischen Zielen der Staaten: Enge persönliche Kontakte in der Patrick Stevenson 26 Nachbarschaft schließen zu können und soziale Netzwerke zu entwickeln, war auschlaggebender, als einen offiziellen Status in der Gesellschaft als solche zu haben. Diese Diskrepanz zwischen Sprachpolitik und individuellen Praktiken scheint besonders auf transnationale (temporäre oder zyklische) Migration zuzutreffen, die schon an sich dem vertieften Sprachenlernen nicht sonderlich dienlich ist, und noch weniger, wenn es um Regionalsprachen wie Katalanisch oder Valenzianisch geht. 4. Schlussfolgerungen In Bezug auf ihr formales sowie Ausdrucks- und Kommunikationspotenzial gibt es keine Grenzen für Sprachen, außer jenen, die ihnen auferlegt werden. In den anderen Beiträgen in diesem Band werden die verschiedenen Facetten dieses Potenzials im Kontext zeitgenössischer multilingualer Sprechbzw. Sprachgemeinschaften erforscht. Ich wollte mit diesem Beitrag durch einige Beobachtungen der Komplexitäten und Widersprüche in der Beziehung zwischen Sprachpolitik und Sprachpraktiken im heutigen Europa ein paar Anregungen geben. Die verschiedenen ‘Hierarchien der Mehrsprachigkeit’ oder ‘orders of multilingualism’, auf die ich zu Beginn des Beitrags verwiesen habe, existieren nebeneinander in einer sozialen Umwelt, die sich in rasantem Tempo verändert, und wo wetteifernde Diskurse über Migration und Mehrsprachigkeit, über Staatsbürgerschaft und Integration zeigen, dass die verschiedenen sprachlichen Bedürfnisse und Hoffnungen der Europäer noch nicht miteinander vereinbart werden konnten. 5. Literatur Blommaert, Jan (2003): Commentary: A Sociolinguistics of Globalisation. In: Journal of Sociolinguistics 7, 4, S. 607-24. Bundesregierung (2007): Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege - Neue Chancen. Berlin. Department for Communities and Local Government (2008): The Government's response to the commission on integration and cohesion. London. Extra, Guus/ Spotti, Massimiliano/ Van Avermaet, Piet (2009a): Testing regimes for newcomers. In: Extra/ Spotti/ Van Avermaet (Hg.) (2009b), S. 1-33. Extra, Guus/ Spotti, Massimiliano/ Van Avermaet, Piet (Hg.) (2009b): Language testing, migration and citizenship: Cross-national perspectives on integration regimes. London. Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 27 Gal, Susan (2006): Migration, minorities and multilingualism: language ideologies in Europe. In: Mar-Molinero, Clare/ Stevenson, Patrick (Hg.) (2006): Language ideologies, policies and practices: Language and the future of Europe. Basingstoke/ New York, S. 13-27. Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster/ New York. Hogan-Brun, Gabrielle/ Mar-Molinero, Clare/ Stevenson, Patrick (Hg.) (2009): Discourses on language and integration: Critical perspectives on language testing regimes in Europe. Amsterdam/ Philadelphia. Mar-Molinero, Clare/ Vigers, Dick/ Paffey, Darren/ Tunger, Verena/ Barłog, Cecylia (2009): The impact of ‘new’ migration on contested linguistic spaces: implications for national language policies. LINEE Forschungsbericht, Oktober 2009. Bern. Rosaldo, Renato (1994): Cultural Citizenship in San Jose, California. In: POLAR Political and Legal Anthropology Review 17, 1, S. 57-63. Studer, Patrick/ Kreiselmaier, Felicia/ Flubacher, Mi-Cha (2008): Language policyplanning in a multilingual European context. (= Arbeitspapiere des Instituts für Sprachwissenschaft 43). Bern. Studer, Patrick/ Kreiselmaier, Felicia/ Veisbergs, Andrejs (2008): Contradictory European Discourse(s) on Multilingualism and Multiculturalism. LINEE Forschungsbericht, März 2008. Bern. Vertovec, Steven (2006): The emergence of super-diversity in Britain. (= Working Paper 25). Centre for Migration, Policy and Society. Oxford. Wright, Sue (2004): Language policy and language planning. Basingstoke. Rita Franceschini Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas Sprecher von historischen und neuen Minderheitensprachen und ihr Beitrag zur Multikompetenz Abstract: Die Europäische Union hat zur Mehrsprachigkeit einen Strategieplan erstellt, der eine Perspektive befördert, um die sprachliche Diversität positiv zu werten. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Tatsache nicht leugnen: Wenn die Mehrsprachigkeit allgemein gefördert werden soll, dann bringen Sprecher(innen) von Sprachminderheiten - historische, lang ansässige bis hin zu neuen Minderheiten - eine Sprachkompetenz in die Union ein, die ihnen eine herausragende Stellung und Chance zuweist. Die Herausforderung an die Gesellschaft ist dabei dreifach: die Bedürfnisse nach Spracherhalt der Herkunftssprachen mit der Notwendigkeit der sprachlichen Integration von Immigranten zu verbinden und für alle den Zweit-, Dritt- und Fremdsprachenerwerb zu fördern. Von wissenschaftlicher Seite her ist dabei eine Definition von Mehrsprachigkeit zu klären, die dem heutigen Wissenstand Rechnung trägt. Zusätzlich wird der Begriff der Multikompetenz eingeführt. Damit wird versucht, das mehrsprachige Repertoire eines Individuums mit seinem sprachbiographischen Hintergrund zu fassen und mit seinen Anpassungsfähigkeiten, die aus der Interaktion mit der Umwelt erwachsen, zu verbinden. Der Beitrag veranschaulicht an Beispielen aus dem Schweizer Kontext und anhand eines europäischen Vergleichs die sprachliche Verwobenheit der drei Stränge - historische Minderheiten, Immigration und Fremdsprachenunterricht - in einer pluriellen Gesellschaft. Ein Rückblick auf Studien zu Binnenmigration in der Schweiz, zu Interaktionsanalysen und zu statistischen Daten zur sprachlichen Integration von Fremdsprachigen in der Schweiz bietet Anlass zu einem Ausblick auf die europäischen Herausforderungen. Diese werden mit ersten Ergebnissen des laufenden EU -Forschungsnetzwerkes LINEE , in dem mehrsprachige Schulkontexte quer durch Europa vergleichend untersucht werden, untermauert. The European Union has developed a strategy for multilingualism which offers a perspective on the development of a positive view of linguistic diversity. Against this background there is one fact which cannot be denied: if multilingualism is to be generally promoted, then speakers from linguistic minorities - from historical, long-term residents to new minorities - provides the EU with a linguistic competence which gives them an outstanding position and opportunity. In this situation the challenge to society is threefold: to combine the need for the preservation of the original languages with the need for the linguistic integration of immigrants and to promote second, third and foreign language acquisition for all. Rita Franceschini 30 There is a need for a clear, theoretically sound definition of multilingualism which takes account of current knowledge in the relevant disciplines. The term multicompetence is also introduced. This attempts to capture the multilingual repertoire of individuals against the background of their linguistic biographies and to combine this with their adaptability, which is developed through interaction with their environment. The article illustrates the linguistic intertwining of the three strands - historical minorities, immigration and foreign language teaching - in a pluralistic society using examples from Switzerland and from a comparison of European countries. A review of studies on internal migration in Switzerland, on interaction analyses and on statistical data on the linguistic integration of speakers of other languages in Switzerland gives rise to a view of the challenges which lie ahead for Europe. These data are supported by the first results of the current European Union research network LINEE , which is undertaking comparative studies of multilingual school contexts in various European countries. 1. Der veränderte gesellschaftliche Diskurs Fragen zur Integration stehen heute in einem ganz anderen gesellschaftlichen Kontext als noch vor dreißig Jahren oder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Nebst den veränderten politischen und sozialen Rahmenbedingungen hat sich der gesellschaftliche Diskurs zur Integration stark verändert: Im Laufe der Jahre hat er sich beispielsweise professionalisiert, er ist umfassender geworden und bezieht sich differenziert auf bestimmte Gruppen. Gleichzeitig hat sich in diesen Jahrzehnten auch der Diskurs um Fragen der Zwei- und Mehrsprachigkeit verändert: Nachdem lange deren Schädlichkeit im Vordergrund gestanden hatte und für eine fast zwangsweise sprachliche Integration und soziale Assimilation plädiert wurde, wird Mehrsprachigkeit heute hoch gelobt. Es sind oftmals gar richtiggehende Sonntagsreden zu hören. Man kann aber auch schon beobachten, dass im gesellschaftlichen Diskurs zumindest da und dort das Pendel zurückzuschlagen beginnt. Gleich geblieben ist in beiden Diskursen, dass vorwiegend auf einzelne Minderheitengruppen fokussiert wird und nicht auf das Zusammenspiel zwischen Mehrheitsbevölkerung und neuen (und alten) Minderheiten, auch nicht auf die Interaktion und die damit einhergehenden gegenseitigen Beeinflussungen zwischen Mehrheit und Minderheit. Der vorliegende Beitrag soll nicht einer Sonntagsrede gleichen. Vielmehr sollen - in einer Rückschau auf Forschungsergebnisse und in einer ergebnisoffenen Herangehensweise - Resultate verglichen und davon abzuleitende Gedanken zum Thema Integration von Herkunftssprachen angeführt werden. Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 31 2. Die Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit auf europäischer Ebene und eine umfassende Definition Es mag manchen entgangen sein, dass in Bezug auf Mehrsprachigkeit in den letzten Jahren auf europäischer Ebene starke Impulse von Seiten des Europarates und der Europäischen Union ausgegangen sind. So hat z.B. das Europäische Parlament Ende 2005 erstmals ein Strategiepapier zur Mehrsprachigkeit verabschiedet 1 und befürwortet, eine Expertengruppe zu deren Konkretisierung einzusetzen. 2 Diese Rahmenstrategie sieht vor, die Sprachkompetenzen sehr weit zu fassen. Es werden sowohl autochthone Minderheitensprecher als auch neue Formen der Mehrsprachigkeit, die vor allem durch die Immigration der letzten Jahrzehnte nach Europa gebracht wurden, in einer Gesamtschau betrachtet. Unter dem Begriff Mehrsprachigkeit wird somit Zweisprachigkeit eingeschlossen, sei diese schulisch erworben oder sozial herausgebildet; ebenso wird aus der früheren Debatte die Funktionalität in der Beherrschung von Sprachen übernommen - und nicht die totale, unrealistische Perfektion in den Vordergrund gerückt. Es ist jedoch mittlerweile schon aus rein wissenschaftlichen Gründen 3 nötig, über eine Definition von Mehrsprachigkeit nachzudenken, welche die weit reichenden Repertoires von Sprachen einschließt, die heute ganze Gesellschaften prägen, ausgehend von individuellen mehrsprachigen Kompetenzen. Aufgrund der sich mehrenden Forschungsresultate haben wir mit zu bedenken, in welcher Weise die kognitiven Fähigkeiten, die mit Mehrsprachigkeit einhergehen, und die Kontexte, in denen Mehrsprachigkeit sich potenziell entwickeln kann, aufeinander wirken. Die folgende Definition (siehe schon Franceschini 2009b) vollzieht definitiv den Schritt zu einer umfassend verstandenen Mehrsprachigkeit. Sie sieht vor, vier Ebenen der Erscheinungsweisen zu unterscheiden: Die Mehrspra- 1 Rahmenstrategie der EU zur Mehrsprachigkeit (siehe Kommission 2005), http: / / ec.europa.eu/ education/ languages/ archive/ doc/ com596_de.pdf (Stand: 05/ 2011). 2 Es handelte sich um eine elfköpfige Expertengruppe, welche die Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit (siehe Anm. 1) kritisch und kreativ beurteilen und „fresh ideas“ in die Diskussion um Mehrsprachigkeit einbringen sollte. Die Autorin dieses Beitrags war Mitglied der Gruppe und beauftragt, die Forschungsperspektiven im Bereich Mehrsprachigkeit darzulegen. Der Bericht der High Level Expert Group (siehe Commission 2007) ist herunterladbar unter: http: / / ec.europa.eu/ education/ policies/ lang/ doc/ multireport_en.pdf (Stand: 05/ 2011). 3 Die Gründe können hier nicht ausgeführt werden, doch siehe dazu Franceschini (2009a, 2009b). Rita Franceschini 32 chigkeit, wie sie sich (1) in einer Makro-Sicht auf eine Gesellschaft zeigen kann; (2) die Handhabung von Mehrsprachigkeit in Institutionen; so, wie sie sich (3) in Gruppenverhalten und in Diskursen zeigt; sowie (4) die Mehrsprachigkeit, die ein Individuum im Laufe seines Lebens herausbilden kann. Definition von Mehrsprachigkeit: Unter Mehrsprachigkeit wird die Fähigkeit von Gesellschaften, Institutionen, Gruppen und Individuen verstanden, in Raum und Zeit einen regelmäßigen Umgang mit mehr als einer Sprache in ihrem Alltag zu haben. Sprache wird dabei neutral verstanden als Varietät, die in Selbstzuschreibung von einer Gruppe als habitueller Kommunikationscode benutzt wird (somit sind Regionalsprachen und Dialekte eingeschlossen, wie auch Gebärdensprachen (sign languages)). Man kann eine gesellschaftliche, institutionelle, diskursive und individuelle Mehrsprachigkeit unterscheiden. Mehrsprachigkeit beruht auf der grundlegenden menschlichen Fähigkeit, in mehreren Sprachen zu kommunizieren. Mehrsprachigkeit bezeichnet ein in kulturelle Entwicklungen eingebettetes Phänomen und ist somit durch hohe Kultursensitivität geprägt. Heute geht es, wie bereits gesagt, nicht mehr so sehr darum, bei der Definition von Mehrsprachigkeit die perfekten Kenntnisse und das Wissen um Regeln in den Vordergrund zu stellen. Sprachkompetenz - als Resultat verstanden - meint hier vielmehr, dass ein Sprecher einen flexiblen und situationsadäquaten Umgang in verschiedenen Varietäten zeigen kann, auch wenn sich diese Flexibilität über mehrere Sprachen hinweg erstrecken kann. In diesem Sinne kann man viele Sprachen beherrschen, aber trotzdem sprachlich inkompetent sein. Sprache kompetent zu verwenden bedeutet, sich in unterschiedlichen Kontexten adäquat zu verhalten, und zwar nicht allein, was die Sprachformen betrifft, sondern auch, was die pragmatische und die kulturelle Adäquatheit betrifft: Um multikompetent zu sein, reicht es nicht, viele Sprachen nebeneinander zu beherrschen, sondern es braucht dazu jene Fähigkeit, damit flexibel und situationsgerecht umzugehen. Ein multikompetenter Sprecher verfügt über zusätzliche Fähigkeiten, die ihm aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Sprachen und den damit verbundenen Erfahrungen erwachsen. 4 4 In Kapitel 5 werden einige dieser Eigenschaften diskutiert. - Der Begriff der Multikompetenz, von Vivian Cook geprägt (siehe Cook 1992), wird hier aus seiner psycholinguistischen Tradition herausgelöst und einer umfassenderen Definition zugeführt, die mit einer soziolinguistischen Sicht kompatibel ist. Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 33 Definition von Multikompetenz: Multikompetenz bezeichnet die Verbindung zwischen der Präsenz von mehr als zwei Sprachen in der Kompetenz eines Individuums zusammen mit der Fähigkeit, diese Sprachen adressaten- und situationsadäquat zu verwenden und dadurch kulturell flexibel mit ihnen umzugehen. Multikompetenz bezieht sich somit auf ein komplexes, flexibles, integratives und adaptierfähiges Verhalten, das in der Regel mehrsprachige Individuen zeigen können. Der Begriff Multikompetenz impliziert, dass, wenn zusätzliches Sprachwissen und -können in einem individuellen Repertoire hinzukommt, dieses in bereits vorhandenes Wissen integriert wird und somit Adaptierungen stattfinden. Wesentlich zu dieser Definition hat die Arbeit im EU -Projekt LINEE beigetragen, 5 auf das später noch eingegangen wird (siehe Kap. 4). Die Definition von Mehrsprachigkeit und die ersten Überlegungen zur Multikompetenz haben ihren Ursprung in Diskussionen, die noch früher aus mehreren Forschungsprojekten heraus entsprungen sind. Eines der ersten war Ende der 80er Jahre der Binnenmigration in der Schweiz gewidmet (Lüdi et al. 1994), ein weiteres der Interpretation der Sprachdaten aus der Schweizer Volkszählung von 1990 (Lüdi et al. 1997), bei dem Mehrfachnennungen zum Gebrauch von mehreren Sprachen in der Familie und auf der Arbeit / in der Schule erstmals flächendeckend erhoben wurden. Mitte der 90er Jahre startete dann ein Projekt, das der Übernahme von Minderheitensprachen bei Mehrheitssprechern in Basel gewidmet war (Franceschini 1998, 2002a, 2002b). All diese Forschungserfahrungen haben die Definition von Mehrsprachigkeit und Multikompetenz mitgeprägt. Nachfolgend sollen in einer Art Rückschau einige Ergebnisse aus diesen Projekten dargestellt werden, die vor dem heutigen Hintergrund einer erweiterten europäischen Perspektive eine - wie mir scheint - weiter reichende Interpretation erfahren. 6 5 Die Definition ist im Rahmen der Arbeiten im Forschungsnetzwerk LINEE , von dem noch die Rede sein wird, erarbeitet worden. In einem internen Report, der von Ros Mitchell verfasst worden ist, findet sich eine folgende Arbeitsdefinition: „Multicompetence [...] relates to the complex, flexible, integrative and adaptable behaviour which multilingual individuals display. A multicompetent person is therefore an individual with knowledge of an extended and integrated linguistic repertoire who is able to use the appropriate linguistic variety for the appropriate occasion.“ (Mitchell et al. 2008, S. 7). 6 Diese Studien hier mit einigem zeitlichen Abstand nochmals Revue passieren zu lassen, war die Idee von Ludwig M. Eichinger und Albrecht Plewnia: Ihrer Überzeugungsarbeit ist es geschuldet, dass ich mich dafür habe begeistern lassen. Beiden ergeht mein Dank. Die Verantwortung für das Misslingen dieser Zusammenstellung kann gleichwohl nur mir allein angelastet werden. Rita Franceschini 34 3. Drei Beispiele zum schweizerischen Kontext In den 90er Jahren war unsere Forschungsgruppe 7 mit der Fragestellung beschäftigt, wie es sprachlich mit der internen Migration in der Schweiz bestellt ist. Es war sehr ungewöhnlich, sich mit Binnenwanderern zu befassen, nachdem einige Jahrzehnte lang fast ausschließlich über Ausländer in der Schweiz geforscht worden war (unter den ersten Hoffmann-Nowotny 1973, Hettlage-Varjas/ Hettlage 1984). Wir wussten nicht viel über die Schweizer (-innen), die zwischen den Sprachgrenzen der Schweiz umsiedeln. Wir wollten wissen, wie es ihnen dabei sprachlich ergeht, wie die neue Umgebung sich auf ihr sprachliches Verhalten, auf ihre Vorstellungen, letztlich auf ihre Identität auswirkt. 3.1. Einige Eckdaten zur schweizerischen Sprachenlandschaft Die Schweiz versteht sich als mehrsprachiges Land, mit einem verfassungsmäßig verankerten Status von vier Sprachen (siehe Abb. 1). Abb. 1: Wohnbevölkerung nach Hauptsprache (in Prozent und absolut), 2000 7 Die Forschungsgruppe stand unter der Leitung von Georges Lüdi (Universität Basel) und Bernard Py (Universität Neuchâtel) und bearbeitete das Thema „Migration interne, contacts linguistiques et conversation“ (Nr. 4021-11006). Gefördert wurde das Projekt innerhalb des Nationalen Forschungsprogrammes „Kulturelle Vielfalt und nationale Identität“. Mitarbeiter: Jean-François de Pietro, Rita Franceschini, Marinette Matthey, Cecilia Oesch-Serra, Christine Quiroga. Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 35 Man verkennt oft, dass in der Schweiz zudem 9 Prozent der Wohnbevölkerung weitere Sprachen als Hauptsprache angeben, was mit dem hohen Anteil an ausländischen Personen (siehe unten Tab. 1) in Zusammenhang steht. Wenn die Mehrsprachigkeit in der Schweiz dargestellt wird, kommt meist eine Karte zum Einsatz, welche die vier traditionellen Sprachgebiete abbildet. Das Bild kommt dadurch zustande, dass Gemeinden mit einem mehr als 50-prozentigen Anteil an Sprechern einer der Landessprachen - Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch - dargestellt werden. Die Sprecher haben eine dieser Sprachen als Hautsprache 8 angegeben. Das Bild, das solche Karten vermitteln, ist sehr prägend. Es fußt und geht zurück auf das schweizerische Territorialprinzip und bestimmt es dadurch mit. Letztlich besteht das Territorialprinzip auf einer einsprachigen Sichtweise, da es vermittelt, dass man in einem Sprachgebiet lebt, in dem klar eine Sprache vorherrschend ist - und dies ungeachtet der Kontakte, die sich im Alltag ergeben können. Diese Karten bilden somit nicht einmal eine gesellschaftlich erlebbare Mehrsprachigkeit ab, sondern viel eher das kollektiv konstruierte Bekenntnis zu einer Sprache - zu einem Kern, der als einsprachig konzipiert wird. Übergangsgebiete werden dabei jedoch dichotomisch geschnitten, zweisprachige Sprecher zu einer eindeutigen Wahl gezwungen. Die hier für die Abbildung gewählte Karte (siehe Abb. 2) ist deshalb ungewöhnlich, da sie einen Kompromiss darstellt: Sie zeigt diese Dichtezonen auf und unterscheidet zwischen dichten und weniger dichten Gebieten, in denen Sprecherinnen und Sprecher sich zu einer Sprache bekannt haben. Damit lässt die Karte sehr wohl zu, jene Gebiete zu bestimmen, in denen Sprecher der vier Landessprachen verdichtet wohnen. 8 Diese Frage lautete - wie in vorangehenden Jahren - „Welches ist die Sprache, in der sie denken und die Sie am besten beherrschen? (Nur eine Sprache angeben.)“. Eine Neuheit bei der Volkszählung 1990, die den Sprachgebrauch in zwei Makrokontexten erkundete, waren Mehrfachantworten: in der Familie und an der Arbeit, bzw. in der Schule. Diese Frage lautete: „Welche Sprache(n) sprechen Sie regelmäßig? (Hier kann mehr als eine Antwort gegeben werden.)“. Die hier abgebildete Karte (Abb. 2) bezieht sich lediglich auf die erste Frage. Die Volkszählungen finden alle zehn Jahre statt. Rita Franceschini 36 Abb. 2: Wohnbevölkerung nach Hauptsprache, 2000: Landessprache Für unsere Belange ist im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit in der Schweiz von Interesse, dass in der Schule die jeweils andere Landessprache als Zweitsprache gelehrt wird; eigentlich findet der Unterricht überwiegend im Modus eines klassischen Fremdsprachenunterrichts statt. So wird z.B. Französisch in der deutschsprachigen Schweiz meist von Deutschsprachigen, die dafür eigens ausgebildet werden, unterrichtet; in der Französischsprachigen Schweiz verhält es sich entsprechend umgekehrt. Dort sind es in der Regel Französischsprachige, die Deutsch unterrichten. Hinzu kommt - in einem ungleichen Gefälle - eine diglossische Barriere: In der französischsprachigen Schweiz wird la langue de Goethe gelehrt. Siedelt ein Französischsprachiger mit schulischen Kenntnissen in die Deutschschweiz über, hat er den Sprachkontakt mit Schwyzertütsch zu bewältigen. Die Schweizerdeutschen Dialekte, die untereinander mehrheitlich gut verständlich sind, haben die Funktion einer unmarkierten Umgangssprache, durch alle Schichten hindurch. Aus der französischsprachigen Schweiz kommend, kann man demnach Schwierigkeiten haben, diese Wertung und diesen Gebrauch nach- Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 37 zuvollziehen; ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, diese Varietäten unmittelbar zu verstehen, wenn man in der Schule Standarddeutsch gelernt hat. 9 Die Schweiz ist nicht nur geprägt von ihren vier historisch verwurzelten offiziellen Landessprachen, sondern auch von Sprachen, die durch die Immigration der letzten Jahrzehnte in die Schweiz gebracht wurden. Eine erste grobe Annäherung an diese Vielfalt kann mit Bezug auf die ausländische Wohnbevölkerung erahnt werden. Bei einer Wohnbevölkerung von rund 7,7 Millionen weist die Schweiz 2008 einen Anteil von 21,7 Prozent ausländischer Staatsbürger auf (Quelle: Bundesamt für Statistik). Fremdsprachige sind zudem unterschiedlich auf die Landesteile verteilt: In der französischsprachigen Schweiz lebt z.B. die Mehrheit der portugiesischen Staatsbürger, die Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit sind stark in Basel und in der Ostschweiz vertreten, etc. Unabhängig von der Nationalität werden folgende Nicht-Landessprachen in der Schweiz als Hauptsprachen angegeben: Serbisch und Kroatisch 103 300 Albanisch 94 900 Portugiesisch 89 900 Spanisch 76 700 Englisch 73 400 Türkisch 44 500 Tamil 21 800 Arabisch 14 300 Niederländisch 11 800 Russisch 8 600 Chinesisch 8 300 Thai 7 600 Kurdisch 7 500 Mazedonisch 6 400 Tab. 1: Die häufigsten Nicht-Landessprachen in der Schweiz in absoluten Zahlen (gerundet) (Quelle: Bundesamt für Statistik, Eidgenössische Volkszählung 2000) 10 9 In der französischsprachigen Schweiz sind nur noch Überreste von dialektalen Varietäten zu finden (die sog. patois), während in der italienischsprachigen Schweiz der Dialekt sehr wohl mehr als nur residual vorhanden ist, doch ist er nicht mit denselben sozial neutralen Konnotationen versehen wie der Dialektgebrauch in der Deutschschweiz. 10 Die Angaben sind dem pdf-Dokument „Bevölkerungsstruktur, Hauptsprache und Religion“, des Bundesamtes für Statistik entnommen (siehe Bundesamt für Statistik BFS 2003). Rita Franceschini 38 3.2 Binnenwanderer in der Schweiz: Fremde im eigenen Land Die Binnenwanderer, die wir Ende der 80er Jahre des letzen Jahrhunderts untersucht haben, waren Schweizer Einzelpersonen oder Familien, die von einem Sprachgebiet in ein anderes umgesiedelt waren. Wir haben sie in den ersten Monaten ihres Umzuges interviewt und sie dann regelmäßig besucht. Es wurden auch Tests durchgeführt, wir haben Aufnahmen gemacht und machen lassen, und baten die erwachsenen Informanten, ihre sprachlichen Netzwerke aufzuzeichnen. Die Erwachsenen waren beruflich qualifizierte bis hoch qualifizierte Personen. 11 Die Interviews erweisen sich auch heute noch als interessante Quelle, um Vorstellungen und Veränderungen in den persönlichen Einschätzungen zu verfolgen, wie sie in den ersten Jahren einer Migration auftreten. Der Interviewleitfaden war nicht stark vorstrukturiert, so dass die Interviewten viel Raum nutzen konnten, um eigene Überlegungen auszuführen. Diese Interviews sind heute noch hilfreich, um die Umbrüche und Wertzuschreibungen, allgemein die Effekte einer Migration, nachzuzeichnen: Es ist evident, dass unsere Binnenwanderer gegenüber Immigranten aus dem Ausland klar einen anderen juridischen Status haben. Umso interessanter ist es, dass sie mit ähnlichen Problematiken befasst waren wie die bisher analysierten Immigranten. Die Übereinstimmungen - und nur um diese soll es hier gehen - betreffen in erster Linie folgende Vorstellungen und Ängste: 1) Vorstellungen zur Wandlung der Identität: Fragen dazu waren allgegenwärtig, sei es in Bezug auf sich selbst, sei es in Bezug auf die eigenen Kinder, die nun in einer anderen Umgebung aufwachsen. 2) Ängste bezüglich der Kontinuität des Kontaktes mit dem Herkunftsgebiet und der Herkunftsfamilie: Themen wie die Loslösung vom Herkunftsgebiet, die Vorkehrungen zum Erhalt des Kontaktes, die Bewahrung der Loyalitäten etc. - in einigen Fällen gar die Mythisierung des Herkunftsgebietes - wurden von allen Informanten angesprochen. 3) Fragen, die die sprachliche Erziehung der Kinder betrafen, waren ebenfalls allgegenwärtig: Die Fragen kreisten oft um die Sprachwahl in der Familie. Vornehmlich ging es darum, wie stark die Umgebungssprache in die Familie hineinwirken darf. Damit verbunden war die Angst vor Verlust der Herkunftssprache und die Folgen davon, wie die Gefahr der Entfremdung von der Herkunftsfamilie, vor allem von den Großeltern. 11 Fast 80 Personen wurden auf diese Weise intensiv longitudinal untersucht. Zusätzliche Fragebogenuntersuchungen betrafen ein Mehrfaches an Informanten. Zu weiteren Details vgl. die Gesamtpublikation zum Projekt Lüdi et al. (1994). Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 39 Auf der anderen Seite - sozusagen als ‘Gegenaltar’ - war das praktische sprachliche Verhalten, das wir in Aufnahmen bannen konnten, ebenso interessant: Wir konnten sehr bald im Verhalten der Binnenwanderer erste Integrationen von Elementen aus der Umgebungssprache finden sowie eine schwankende Haltung gegenüber Einschüben aus der Umgebungssprache in der eigenen Rede oder - was häufiger beobachtet wurde - in derjenigen der Kinder. Es gab aber auch Rückweisungen und Ängste, nicht mehr ‘rein’ zu sprechen. Kurz: Normunsicherheiten wurden nicht nur bewusst thematisiert, sondern konnten auch in den Aufnahmen und Tests nachgewiesen werden. Alle Binnenwanderer waren mit der Problematik des Erwerbs der neuen Sprache befasst: Sie mussten mehrsprachig werden, und die Kinder wurden es sehr schnell. Es ist auffällig, wie bei diesen Binnenwanderern ähnliche Problematiken angesprochen und Phänomene bemerkbar sind, wie man sie aus der vorausgehenden Migrationsforschung kannte. Diese hatte sich, wie kurz schon ausgeführt, fast ausschließlich auf ausländische Migranten, und ebenso fast ausschließlich auf jene Migration konzentriert, die die hiesigen Gesellschaften in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts unterschichtet hatte. Der Weg in die neue sprachliche Umgebung und die damit verbundene Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Neuerungen brachte auch für unsere Binnenmigranten - wenn man so will, in einer privilegierten Migrationssituation - eine Umgestaltung, manchmal gar eine Umkrempelung der Denkweisen, des Alltags, ja der Familienbeziehungen mit sich. Auch bei ihnen betraf die Migration im Kern die Neustrukturierung auf sozialer, emotionaler und sprachlicher Ebene. Der Prozess, der durch die Migration ausgelöst wurde, betraf nicht nur das einfache Anwenden oder Dazulernen oder Vertiefen einer bereits in einer Schule erlernten Sprache. Es war mehr: Man wurde kompetent im Verstehen des Anderen, nicht allein in der Beherrschung seiner Sprache; man wurde kompetent durch die Praxis der alltäglichen Kontaktmöglichkeiten und mit allem, was an Feinheiten dazugehört. Das Kontextwissen wurde angereichert, das pragmatische Wissen dazu. Das, was eigentlich zu einer Kommunikationskultur gehört, kam zum Schulwissen dazu. Migration als Erfahrung, die alles neu strukturiert, bei der man sich in Frage gestellt sieht, war auch bei diesen Binnenwanderern sehr offensichtlich, und dies trotz Rechtssicherheit bei Verbleiben im eigenen Land. Gerade durch das Festhalten dieser Variable - Schweizer Bürger im eigenen Land und dem damit verbundenem Status - werden die Parallelen zu Immigranten aus dem Ausland so eklatant. Und damit gibt es mehr als nur einzelne Anhaltspunkte, dass man Aspekte dieser Migrationserfahrung als geteilte Erfahrung extrapo- Rita Franceschini 40 lieren kann, die tief menschliches Erleben berührt und sich im sprachlichen Verhalten niederschlägt: Der Schrecken, die Kinder nicht mehr zu verstehen, wenn sie untereinander die Umgebungssprache fließend zu sprechen beginnen; der Riss, der durch die Familie geht, und der Keil, der durch falsch verstandene schulische Intervention in die Familien getrieben wird. Wir hatten in dieser Studie, wie bereits erwähnt, auch die persönlichen Beziehungsnetzwerke erhoben, um dabei vor allem die Kontakte im neuen Sprachgebiet in den ersten Jahren der Umsiedlung zu erheben. Es hat sich auch hier bestätigt, was vor uns schon beispielsweise die Gruppe des Heidelberger Forschungsprojektes in den 60er und 70er Jahren 12 nachgewiesen hatte. Dieses Projekt befasste sich mit dem spontanen Deutscherwerb von Immigranten in Deutschland. Ein Resultat des Heidelberger Forschungsprojekts war, dass die engen freundschaftlichen Kontakte die entscheidende Variable darstellten, die den besseren oder schlechteren Erwerb von Deutsch erklären konnte: Es war nicht allein die Länge des Aufenthalts beispielsweise des portugiesischen Arbeiters in Mannheim, nicht allein das Alter bei der Einreise, nicht die eventuellen Vorkenntnisse der deutschen Sprache, die die nach Jahren erreichte Sprachkompetenz dieser Erwachsenen erklärte. Es war die Intensität des Kontaktes mit deutschen Freunden im Alltag. Dieselbe Schlussfolgerung mussten auch wir aus der Studie zur Binnenmigration ziehen: Je mehr unsere Informanten in ihren Netzwerken Deutschsprachige nachwiesen, umso besser waren nicht nur die Sprachkompetenzen in der Umgebungssprache, sondern generell auch die Einstellungen zur neuen Umgebung. Letzteres Resultat mag man mit Ernüchterung aufnehmen. Es verweist darauf, dass Spracherwerb und Integration Hand in Hand gehen und in einem dichten sozialen und emotionalen Umfeld am ehesten gelingen. Sprachkurse allein reichen nicht aus - was man schon lange weiß. Dies hat zur Folge, dass ‘die Einheimischen’ eine wichtige Rolle, ja die entscheidende Rolle bei der sprachlichen und sozialen Integration zu spielen scheinen. Spracherwerb gelingt durch Kontakt, emotional positiven Kontakt. Das Resultat mag auch ernüchternd wirken, weil zur erfolgreichen sprachlichen und sozialen Integration viel mehr noch als die Spracherwerbsforschung die Wohnbaupolitik gefragt zu sein scheint. Es ist eminent wichtig, eine Umgebung zu schaffen, in der leicht Kontakte zustande 12 Siehe HPD (1975), d.h. das Heidelberger Forschungsprojekt Pidgin-Deutsch, das sich mit der Sprache ausländischer Arbeiter befasst hatte. Federführend wirkten dabei Wolfgang Klein, Norbert Dittmar und Wolfgang Wildgen mit. Das Projekt eröffnete breite Debatten und steht heute in seiner Wirkung als Pionierleistung im Bereich der Spracherwerbsforschung da, die sich mit nicht-gelenktem Spracherwerb von Erwachsenen befasst. Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 41 kommen; Viertel und Wohnungen so zu bauen und zu vermieten, dass es dem Spracherwerb nützt, so dass Sprecher in Alltagsnetzwerken und Freundschaften untereinander Verbindungen positiver Natur knüpfen können. 3.3 Die Rolle der Interaktion mit der Umgebung Die sprachwissenschaftlichen Migrationsstudien haben seither ganz allgemein einen Paradigmenwechsel vollzogen, der auch in den benachbarten Sozialwissenschaften beobachtet werden kann; genauer gesagt rühren sie von dort her. Ich meine damit die Bewegung weg von der Fokussierung auf das einzelne Individuum und seine Unzulänglichkeiten hin zur Interaktion. Das sich entwickelnde Paradigma besagt, dass sich das Individuum in der Interaktion formt und seine Umgebung mitdefiniert. In der Interaktion erwirbt die Person das Wissen um den Umgang mit der neuen Sprache, mit neuen Verhaltensweisen, nimmt Gewohnheiten an, gibt eigenes weiter. Die Integration wird geformt durch die Erfahrungen in Interaktionen, und Interaktionen sind kulturell spezifisch, bis ins Detail. Wenn die Interaktionen kulturspezifisch sind, dann müsste die Integration in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich verlaufen. Türkischsprachige würden sich beispielsweise in einer Kultur X anders, vielleicht besser, integrieren als in der Kultur Y, auch wenn sie - es sei dies hier übertrieben didaktisch dargestellt - im Jahr Z gleichaltrig aus demselben Dorf emigriert sind. Auf die Interaktionen im neuen Gebiet käme es an - demnach auch auf die einheimische Kultur, auf die die Immigranten treffen. Der Mikrokosmos Schweiz lässt es zu, Immigrantengruppen in den drei größeren Sprachgebieten (das rätoromanische Sprachgebiet hier einmal ausgeschlossen) miteinander zu vergleichen. In einer Folgestudie, die der Auswertung der Sprachdaten der Schweizer Volkszählung 1990 gewidmet war (Lüdi et al. 1997), sind wir unter anderem auch der sprachlichen Integration fremdsprachiger Personen nachgegangen (Franceschini 1997). 13 Aus dieser Untersuchung will ich ein Resultat hervorheben, das man durchaus kontrovers diskutieren kann. Wir hatten die Möglichkeit, die Daten der Sprachen, die in der Familie Verwendung finden, statistisch zu nutzen und diese in Vergleich mit der Umgebungssprache zu setzen (siehe Anm. 8). 13 Dieser Forschungsgruppe gehörten an: Francesca Antonini, Sandro Bianconi, Rita Franceschini, Jean-Jacques Furrer, Christina Quiroga-Blaser, Adrian Wymann; die Koordination oblag der Schreibenden, das Gesamtprojekt leiteten Georges Lüdi (Universität Basel) und Iwar Werlen (Universität Bern). Vgl. die Gesamtpublikation zum Projekt: Lüdi et al. (1997). Rita Franceschini 42 Statistisch umgesetzt kann der Grad der sprachlichen Integration anhand jenes Ausmaßes gemessen werden, in dem die Umgebungssprache in der Familienkommunikation einer fremdsprachigen Familie Verwendung findet. Dies soll hier als ein möglicher Grad der sprachlichen Integration gelten. Wir konnten statistisch nachweisen, dass dieselben Sprachgruppen in den drei Sprachgebieten unterschiedlich auf die sie umgebende Mehrheitssprache reagieren. In einem Gebiet war es leichter, dass die Umgebungssprache in die Familie Einzug hielt, im anderen Gebiet nicht. Man stelle sich nochmals bildlich vor: Zwei Familien aus demselben türkischen oder kurdischen Dorf wandern aus. Eine Familie siedelt sich in Zürich an - also in der Deutschschweiz -, die andere in Lausanne - also in der französischsprachigen Schweiz. Die Familie wird in einem Sprachgebiet die Umgebungssprache in einem größeren Ausmaß aufnehmen als im anderen Landesteil. Diese Tendenz war übereinstimmend für alle größeren Sprachgruppen, über zwei Jahrzehnte hinweg. Die Resultate der Volkszählung 2000 haben sich in einem Zehnjahresabstand wiederbestätigt. Abb. 3: Aufnahme der Ortssprache ins Repertoire der Familie von ausländischen Sprecher- (inne)n der sechs wichtigsten Nichtlandessprachen nach Sprachgebieten und Sprachen, 2000 (exklusive Personen ohne Angaben) Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 43 Im deutschen Sprachgebiet wird in fremdsprachigen Familien am wenigsten Deutsch aufgenommen. Dies geschieht im selben Ausmaß weder in der französischsprachigen Schweiz noch in der italienischsprachigen Schweiz. Um es nochmals deutlich zu machen: Es hängt hier nicht von den Herkunftssprachen ab. Diese sind recht unterschiedlich, wie man aus Abbildung 3 ersehen kann. Die Variable, die verändert wird, ist die Sprache der Umgebung. Von ihr - und den damit einhergehenden kulturellen Wertungen - hängt die Aufnahme der Umgebungssprache in das Repertoire der Familie ab. Man kann dieses Resultat unterschiedlich interpretieren und werten, je nach Perspektive: 1) Man kann sagen, dass der Assimilationsdruck in den romanischsprachigen Gebieten (d.h. in der italienisch- und französischsprachigen Schweiz) größer ausfällt: Der Anpassungsdruck ist höher, die Umgebungssprache dringt in einem höheren Ausmaß in die Familienkommunikation ein und kann in der Folge die Herkunftssprache verdrängen. Der Spracherhalt der Herkunftssprache kann gefährdet sein. 2) Aus leicht anders gelagerter Perspektive kann man sagen, dass die Integrationskraft in den romanischsprachigen Gebieten höher ist, da die ausländischen Mitbürger die Sprache der Umgebung - d.h. Französisch und Italienisch - in höherem Ausmaß in ihrer Familienpraxis integrieren als in der Deutschschweiz. 3) Aus einer gänzlich anderen Perspektive kann man hingegen sagen, dass sich in der Deutschschweiz die Herkunftssprachen in den Familien besser erhalten können, da die Umgebungssprache nicht leicht in die Familienpraxis Aufnahme findet. 4) Man kann auch sagen, dass es in der Deutschschweiz als Immigrant schwieriger ist, sich sprachlich zu integrieren, da mit der deutschen Sprache eine größere Barriere zu überwinden ist, bis sie in die Familienpraxis aufgenommen wird, als in den anderen Sprachgebieten. Auf jeden Fall ist offensichtlich, dass sich die sprachlichen Umgebungen mit deren Kommunikationskultur auf die Integration von Fremdsprachigen selektiv auswirken - und dies bei allen Fremdsprachigen, ungeachtet der Nähe oder Ferne der typologischen Sprachstruktur. Selektiv ist dabei die vorherrschende Umgebungssprache im jeweiligen Sprachgebiet. Rita Franceschini 44 Bezogen auf die Schweiz zumindest kann man sagen, dass es bei der sprachlichen Integration - gemessen an der Integration der Umgebungssprache im Sprachhabitus fremdsprachiger Familien - nicht allein auf die Immigranten ankommt, sondern auch auf die Interaktion im jeweiligen Gebiet. Dass dieser Kontakt mit vielen Anderssprachigen nicht spurlos an den alteingesessenen Schweizern vorbeigegangen ist, war Ziel einer anderen Untersuchung (Franceschini 1998): Aus Aufnahmen mit deutschsprachigen Händlern in einem durchschnittlich sprachlich gemischten Viertel in Basel (Gundeldingen), konnte nachgewiesen werden, in welcher Weise sie diese Minderheitensprachen in ihr passives und aktives Repertoire aufgenommen hatten (ohne diese Sprachen in der Schule gelernt zu haben). Händler konnten Sprachen von Minderheiten in alltagspraktischen Zusammenhängen verwenden, in unterschiedlichen Mischformen (siehe Franceschini 1999a, 2001, 2002a, 2002b). Wenn genügend Interaktionen stattfinden, kann die Sprache der Minderheiten sozusagen auf die Mehrheit überspringen. Dieses Phänomen habe ich „Sprachadoption“ genannt (Franceschini 1999b); andere, die ähnliche Phänomene unter Jugendlichen untersucht haben, „crossing“ (Rampton 1995). Es geht dabei um dasselbe Phänomen, nämlich darum, dass Mehrheitssprecher sich Teile von Minderheitensprachen aneignen. Damit de-ethnisieren sich Minderheitensprachen ein Stück weit. Das Phänomen ist nur unter der Annahme einer intensiven Interaktion zwischen Sprachgruppen erklärbar. 3.4 Fazit über die drei Schweizer Beispiele hinaus Am Beispiel der Schweiz lassen sich gut Szenarien aufzeigen, die uns, wie mir scheint, in Zukunft beschäftigen werden. Auch die Schweiz sieht sich mit der Problematik der Integration von Neuzuzüglern konfrontiert. Mit einem Anteil von über 21 Prozent ausländischer Mitbürger hat die Schweiz einen der europaweit höchsten Anteile an ausländischen Staatsbürgern. 14 Steigend ist der Anteil der Bürger aus außereuropäischen Ländern. Die Schweiz ist ein seit alters her mehrsprachiges Land - wie eigentlich mit wenigen Ausnahmen alle Länder, wenn man genauer hinsieht. Doch die Schweiz versteht sich auch als solches, nämlich als viersprachiges Land. Dies macht einen feinen, doch umso wichtigeren Mentalitätsunterschied aus: Die Schweiz versucht die Tra- 14 Auf das Total der ausländischen Wohnbevölkerung sind 17,5 Prozent italienische, 14,1 Prozent deutsche und 11,8 Prozent portugiesische Staatsbürger, gefolgt von Personen aus Serbien und Montenegro (11,1 Prozent), 4,3 Prozent haben die türkische Staatsbürgerschaft (Bundesamt für Statistik: http: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ portal/ de/ index/ themen/ 01/ 07/ blank/ key/ 01/ 01. html (Stand: 05/ 2011)). Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 45 dition des Zusammenlebens von vier Sprachen - nach einem Territorialprinzip - zu pflegen. Diese Einstellungsebene ist bei Fragen rund um die Wertschätzung von Sprachen von hoher Bedeutung. Eine positive Einstellung bildet eine tragfähige Ausgangsbasis, um die zukünftigen Herausforderungen zu meistern. Sie können in die folgenden sieben Teilaspekte gegliedert werden: 1) Die sprachliche Vielfalt nimmt als Folge weltweiter Globalisierung zu. Mobil sind nicht nur Gruppen, die unterschichten, sondern auch qualifizierte bis hoch qualifizierte. 2) Migranten stehen weit mehr unter Druck als Einheimische, sich über Mehrsprachigkeit Zutritt zum Arbeitsmarkt zu verschaffen; darin stehen sie autochthonen Minderheiten in nichts nach, denn: 3) Seit jeher waren sprachliche Minderheiten in einem Staatengebilde stärker darauf angewiesen, mehrsprachig zu sein, und sei es nur deshalb, um mit der weiteren Umgebung zu kommunizieren und wirtschaftlich zu bestehen. 4) Diese beiden Gruppierungen - alteingesessene, autochthone und neue Migrantengruppen - bringen erhöhte Mehrsprachigkeit in eine Gesellschaft ein. Minderheitengruppen werden damit Vorreiter einer gewünschten Entwicklung. 5) In den Schulklassen erhöht sich der Anteil an Kindern, die lebensgeschichtlich potenziell seit frühester Kindheit an mit mehr Sprachen Umgang haben. Diese Erfahrungen können für den Spracherwerb genutzt werden, da erwiesen ist, dass vorgängige Erfahrungen sich für den Erwerb weiterer Sprachen als stützend erweisen. 6) Durch vermehrten und vorgezogenen Fremdsprachenunterricht kommen nun auch Kinder aus eher einsprachig gestalteten Familien zum Erwerb einer, meist von zwei schulischen Fremdsprachen. 7) Kontakte zwischen den Kindern mit mehr oder weniger lebensgeschichtlicher Mehrsprachigkeit lassen für alle potenziell mehr Erfahrungen zu unterschiedlichen Sprachen zu, was auch positiv für den Unterricht genutzt werden kann. Diese Herausforderungen betreffen unterschiedliche gesellschaftliche Sphären und Konstellationen von Mehrsprachigkeit. Sie legen es nahe, nicht nur im Fremdsprachenunterricht, sondern auch im alltäglichen Umgang die Gelegenheiten zum Kontakt und zum Erwerb von Sprachen zu nutzen. Rita Franceschini 46 Der schulische Kontext ist mit Sicherheit ein privilegierter Ort sekundärer Sozialisation, weshalb diesem im Zusammenhang mit der Förderung von Mehrsprachigkeit in seiner herausragenden Rolle immer besondere Beobachtung zuteil wird. Doch innerhalb des schulischen Rahmens können nicht alle Probleme gelöst werden, noch können alle Herausforderungen angegangen werden. Denn in jedem schulischen Kontext spiegelt sich ein Stück weit die lokale Gesellschaft wider, welche sich durch die Schule reproduziert, gerade in ihren gesellschaftlichen Werten und Haltungen. Interventionen sollten dazu dienen, dass beide Systeme - Schule und Gesellschaft - Impulse aufnehmen und sich gegenseitig stimulierend weiter entwickeln. Der Frage, wie solche Impulse aussehen könnten, geht ein europäisches Forschungsprojekt nach. Es ortet gerade in schulisch mehrsprachigen Kontexten eine Handhabung von Mehrsprachigkeit, in denen Kinder und Erwachsene nolens volens Lösungsansätze entwickeln, die den neuen Herausforderungen gerecht zu werden versuchen. Sie werden dabei oft alleine gelassen und erfinden Vorgehensweisen, die Richtlinien, aber auch lokal auftretende Problemlagen in Einklang zu bringen versuchen. Noch zu wenig wird das Potenzial gesehen, das in einer solchen Komplexität steckt. 4. Mehrsprachigkeit in der Schule: Die Untersuchungen im EU -Netzwerk LINEE Es ist nicht zu leugnen, dass sich die Schule (wie die Gesellschaft selbst, für die sie steht) in einem umfassenden Veränderungsprozess befindet, der weit über die Handhabung von rein sprachlicher Diversität hinausgeht. Sprachlich heterogene Gruppen lassen sich nicht wegdiskutieren, denn sie sind konstitutiv für eine neue Realität, die - nebenbei gesagt - so neu auch wieder nicht ist. Wenn man heute z.B. in einem urbanen Kontext vor einem Klassenverband steht, dann findet man durchmischte Gruppen, die eine biografisch entstandene Mehrsprachigkeit in den Schulalltag einbringen und solche, die neu, beispielsweise im Fremdsprachenunterricht, mit anderen Sprachen konfrontiert werden. Man kann z.B. mit neu angekommenen Kindern mit Migrationshintergrund, mit Bildungsinländern (d.h. in der Aufnahmegesellschaft geborenen und sozialisierten Kindern) und mit Kindern aus Familien ohne aktuellen Migrationshintergrund konfrontiert sein. Ein stark sprachlich durchmischtes Bild ergibt sich auch, seit altersher, in Sprachgrenzgebieten. Dem Vergleich von Schulsystemen in Europa in Bezug auf die Handhabung von sprachlicher Diversität widmet sich eines der vier Themen im EU -Exzel- Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 47 lenznetzwerk LINEE . 15 In Großbritannien, Österreich, Ungarn, Tschechien und Italien wurden Untersuchungen speziell in Gebieten durchgeführt, in denen Sprachminderheiten und Migrantenkinder das Schulleben stark prägen. Einzelne Situationen in Southampton (mit einer starken polnischen Komponente) und Wien, die Situation ungarischer Minderheiten in Mitteleuropa und diejenige ladinischer Minderheiten in Norditalien wurden beobachtet und verglichen. Zudem wurden der Erwerb der englischen und deutschen Sprache (als Zweit- und Fremdsprache) sowie die Einstellungen der verschiedenen Akteure in Bezug auf Mehrsprachigkeit analysiert. 16 Es ist hier nicht möglich, auf die Fülle von Resultaten einzugehen, die gerade durch das heuristische Instrument des Vergleichs in einmaliger Deutlichkeit hervortreten. Es seien lediglich zwei Punkte herausgegriffen. Alle Schulrealitäten sind von einem hohen Grad an Heterogenität gekennzeichnet, und alle Akteure befassen sich damit, in den meisten Fällen explizit. Lehrpersonen sehen sich mit unterschiedlichsten Sprachkompetenzen konfrontiert, hinzu kommt nun - meist schon auf der Primarschulebene - der Früherwerb einer weiteren Sprache. Die traditionelle Lehrerausbildung hat sie darauf nicht vorbereitet. Die Lehrer bemerkten dabei - und dies entgegen einiger tradierter Meinungen -, dass gerade Kinder mit mehrsprachigen Erfahrungen bei einer neu zu erwerbenden Sprache sich nicht selten als besonders geschickte Lerner entpuppen. Diese Bobachtung ging in den meisten Fällen gegen die Erwartungen der Lehrpersonen selbst, die allgemein noch stark in der Ideologie eines muttersprachlich-einsprachigen Unterrichts leben, mit allem, was an Annahmen damit einhergeht. Wir konnten zudem beobachten, wie Kinder untereinander sich gegenseitig helfen - als peer learning bekannt 15 Das Netzwerk LINEE (Languages in a Network of European Excellence) wird innerhalb des VI . Rahmenprogramms der EU gefördert (2006-2010, Nr.: CIT4 -2006-28388). Die Projekthomepage ist erreichbar unter: http: / / www.linee.info . Vgl. auch den Beitrag von Patrick Stevenson in diesem Band. 16 Es wurde eine multimethodologische Herangehensweise, mit Triangulation, angewendet. Zur Datenbasis trugen bei: Feldbeobachtungen, Analyse von Dokumenten, Audio- und Videoaufnahmen, qualitative Einzelinterviews, Focus-Gruppen, Fragebogenuntersuchungen, Matched-Guise-Tests. Die Herangehensweise kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Man vergleiche zur Orientierung die Web-Seite des Netzwerks (http: / / www.linee.info ). In diesem Forschungskonsortium der Area C: Multilingualism and Education haben mitgearbeitet: Ros Mitchell, Jennifer Jenkins, Anna Fenyvesi, Silvia Dal Negro, Paul Videsott, Gessica De Angelis, Don Peckham, Elena Ioannidou, Alessia Cogo, Karolina Kolocsai, Tamah Sherman, Dagmar Sieglova, Gerda Videsott, Enrica Cortinovis, Christina Reissner, Amanda Hilmarsson-Dunn, Veronica Irsara, Marie-Luise Volgger, Zsuzsanna Dégi, Zsuzsanna Kiss, István Rabec. Ich bin allen für die anregenden Diskussionen und Impulse zu Dank verpflichtet. Rita Franceschini 48 - und den Spracherwerb so autonom weitertreiben. Nur selten wurde dies im Schulumfeld bemerkt, noch wohlwollend gefördert. Im Projekt waren wir stark mit den verschiedenen Facetten der Einstellungen zu Sprachfragen befasst. Die differenziert und über Triangulation mehrer Datensätze angegangene Problematik erweist sich - global gesehen - als wichtige treibende Kraft, die bis hin zu alltagspraktischen Handlungen den Umgang mit sprachlicher Diversität lenkt. Wir können z.B. nachweisen, wie stark sich Einstellungen zur eigenen Sprachfähigkeit auf die Schulpraxis auswirken: Allein die Tatsache, dass Lehrer dem eigenen Erwerb von Sprachen positiv gegenüberstehen, wirkt sich auf die Beurteilung zu mehrsprachigen Kindern aus, vor allem zu denjenigen mit Migrationshintergrund. Allgemein kann man bemerken, dass die praktische Handhabung von sprachlicher Diversität ein Schulsystem zu einem gezielten Umgang mit Differenz anregt: Es muss bewusst darauf Antworten finden. Dabei sind nicht selten eigene Annahmen vieler Akteure - vorab in leitender Funktion - in Frage gestellt: Im Umgang mit Mehrsprachigkeit muss vermehrt das Verständnis gesichert und es müssen eigene Stereotypien überwunden werden. Das Lernpotenzial in solchen Situationen wäre für den Einzelnen und für das gesamte System groß. Es ist jedoch noch viel Arbeit zu tun, um Lehrpersonen nicht nur für den Umgang mit der Sprachenvielfalt und deren Potenzial zu sensibilisieren, sondern auch das tiefere Verständnis zu vermitteln, was Migration (sei es Binnenmigration oder Migration aus dem Ausland) an Umbrüchen in der Familie und im Kind mit sich führt. Eine nützliche Erfahrung wäre hierfür, wenn Lehrpersonen selbst neue Sprachen erlernen würden, um sich annähernd in die Lage zu versetzen, die Migranten zu meistern haben. Was aus den Untersuchungen auch deutlich wurde, ist, dass man Migrantenkinder, Bildungsinländer, Kinder von Sprachminderheiten etc. - trotz ihrer sprachbiographisch unterschiedlichen Erfahrungen - beim Spracherwerb nicht säuberlich voneinander trennen kann. Allein die Frage, welche Kinder in der Klasse dabei sind, eine Zweitsprache zu lernen oder eine dritte oder vierte Sprache, kann keine Lehrperson mit Sicherheit beantworten. Die Kriterien für eine Gruppentrennung oder einen stark differenzierten Unterricht sind zweifelhaft und nicht aufrecht zu erhalten, vor allem dann nicht, wenn noch neue Fremdsprachen im Unterricht hinzukommen. Die Expertise im Umgang mit mehreren Sprachen, die gerade mehrsprachige Kinder aufweisen, könnte hingegen vermehrt zur Sensibilisierung und zur Stützung des Unterrichts genutzt werden. Gerade als Mitglieder von Randgruppen angesehene Kinder könnten damit eine Wertschätzung erfahren: Sowohl Kinder aus sprachlichen Minderheiten als auch solche mit Migrationshintergrund. Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 49 Was die beiden Gruppen - autochthone Minderheiten und neue Zugewanderte - vereint, ist, dass sie im heutigen Europa eine Population darstellen, die den höchsten Grad an gelebter Mehrsprachigkeit aufweist: Aus einer europäischen Warte heraus realisieren sie eigentlich schon seit langem das Ziel, dass ein Europa dreisprachiger Bürger und Bürgerinnen entstehen soll. Gruppen, die bisher eher als Randgruppen dargestellt wurden, kommen somit in den Fokus einer gewünschten Entwicklung: Das Zentrum verschiebt sich hin zu den Rändern. 5. Die Vorteile der Mehrsprachigkeit und das verpasste Potenzial Die Schule kann die unterschiedlichen Sprachkompetenzen und kulturellen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen nicht verbiegen oder homogenisieren: Kinder werden weiterhin Diversität in die Schulen bringen. Und dies kann ein Vorteil sein: Es mehren sich die Beobachtungen, wonach eine erhöhte Diversität in den Schulen per se gute Lernformen bietet; es kommt auf deren Handhabung an und die Wertschätzung, die damit einhergeht. Man kann sich aber auch in diesem Zusammenhang in Erinnerung rufen, dass es seit einigen Jahrzehnten konsistente Resultate gibt, die nachweisen, dass mehrsprachig aufwachsende/ geschulte Kinder in vielen Fähigkeiten - auch in nicht-sprachlichen - besser abschneiden als einsprachig aufwachsende/ geschulte. Schon die sehr frühen Arbeiten um Wallace Lambert (siehe z.B. Peal/ Lambert 1962), nach dessen Studien die folgende Auflistung erstellt ist, hatten dies nachgewiesen. In letzter Zeit mehren sich die Erkenntnisse dazu (siehe zum Überblick Bialystock (2001) und die Arbeiten ihrer Arbeitsgruppe). Reconstruction of a Perceptual Situation Verbal and Non-Verbal Intelligence Verbal Originality Verbal Divergence Semantic Relations Creative Thinking Non-Verbal Perception Task Verbal Transformation Symbol Substitution Metalinguistic Types of Performance Tab. 2: Erste Studien zu sprachlich-kognitiven Vorteilen der Mehrsprachigkeit in den Siebziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts Rita Franceschini 50 Es wäre der Fairness geschuldet, wenn alle Kinder von diesen nachgewiesenen Vorteilen der Mehrsprachigkeit profitieren könnten. Dies ist aber ganz offensichtlich in den meisten Schulsystemen nicht der Fall: Die Teilhabe bildungsferner Immigrantenschichten ist nicht sehr ausgeprägt, obwohl gerade diese Gruppen potentiell eine lebensgeschichtliche Mehrsprachigkeit einzubringen hätten. Ihre Mehrsprachigkeit scheint weniger wert zu sein. Der Hinweis, Immigrantensprachen seien in wirtschaftlicher Hinsicht nicht besonders marktfähig, mag heute zutreffen, aber greift entschieden zu kurz: Langfristig gedacht, könnten gerade Gegenden, aus denen heute Immigranten stammen, zu neuen Märkten werden. Und für die Erschließung dieser Märkte wären gut ausgebildete, multikompetente Sprecher von Nutzen. Die Investition beispielsweise in Bildungsinländer lohnt sich auch aus dieser Sicht. Im Übrigen sind zurzeit Regionen mit Sprachminderheiten gerade durch ihre Fähigkeiten, als kulturelle Brücke zu fungieren, nicht selten am Aufschwung des „Europa der Regionen“ privilegiert beteiligt. Doch heute haben wir uns noch zu vergegenwärtigen, dass eine soziale Kluft in der vollen Teilhabe an den Vorteilen der Mehrsprachigkeit besteht, vor allem, wenn es sich um eine Mehrsprachigkeit handelt, die mit einem Migrationshintergrund und mit Bildungsferne in Bezug auf das vorherrschende Schulsystem auftritt. Im Schulsystem wird der Unterschied in eine förderliche und weniger förderliche Mehrsprachigkeit generiert. Die Teilung entsteht entlang der sozialen Schichtung, die Bildungsferne als überschattende stärkere Variable hervortreten lässt. Wie oben kurz angeführt, wird auch hier deutlich, in welcher Weise diese Unterschiede nicht vom Schulsystem allein getätigt werden, sondern sich in ihm eine gesellschaftliche Haltung widerspiegelt. In diesem Zusammenhang Lösungen zu finden, erfordert deshalb Kräfte, die über den Reformwillen des Schulsystems hinausgehen. Es handelt sich um eine eminent gesellschaftliche Aufgabe. In Sonntagsreden, in denen manchmal die Tendenz besteht, allein die kognitiven Vorteile der Mehrsprachigkeit zu preisen, bleibt denn auch zu oft der sozial diskriminierende Zusammenhang unerwähnt. 6. Schlussworte Die bessere Wahrnehmung und das Wissen um die Vorteile der Mehrsprachigkeit könnten nun eine Wende bewirken, seitdem die EU stark auf diese Karte setzt. Das Thema hat ohne Zweifel eine Aufwertung erfahren, und man darf gespannt sein, wie die anfangs erwähnte Rahmenstrategie nun umgesetzt Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 51 wird. Es sei nochmals daran erinnert, dass durch die Rahmenstrategie - ungeachtet ihrer Herkunft - mehrsprachige Sprecher insgesamt hoch gewertet werden: historische Minderheiten, die traditionell zu Mehrsprachigkeit neigen, und neuere Migrationen, die in dieser Rahmenstrategie mitbedacht werden. In einer zangenförmigen Bewegung scheinen sich Ansätze nun von oben aus europäischer Ebene heraus mit jungen Reformbemühungen von unten - ausgehend von Schulen und von Eltern - zu treffen. Letztere verlangen immer mehr Mehrsprachigkeit in den Schulen, und es ist nicht immer zutreffend, dass nur Englisch verlangt wird. Man mag der Steuerungsfähigkeit von EU -Instanzen skeptisch gegenüber stehen, ebenso skeptisch sollte man rein technokratische Lösungen beurteilen; z.B. dann, wenn lediglich mehr Stunden für noch mehr Fremdsprachenunterricht verlangt werden. Denn Mehrsprachigkeit zu unterstützen oder herbeizuführen, ist nicht einfach ein Sprechen über ein Schulfach. Es ist viel mehr: Das Thema spricht Loyalitäten an, es spricht Lebensgeschichten an. Über Mehrsprachigkeit zu sprechen, ist in vielen Fällen ein Sprechen über Familienkommunikation und über Identitäten und kulturelle Zugehörigkeit. Über Sprache zu sprechen, ist weit mehr noch ein Sprechen über Macht; es ist Sprechen über Teilhabe, Rechte und Pflichten in einer Gemeinschaft und in einer wirtschaftlichen Umgebung. Der Diskurs zur europäischen Mehrsprachigkeit macht eines sehr deutlich: Wenngleich in verdeckter Weise, waren Gesellschaften schon immer sprachlich pluriell angelegt, nur dass wir uns heute auch im Bewusstsein dieser Tatsache eher stellen. So besehen, nähert sich der Diskurs einer Annahme der Gesellschaft als pluriell verstandenes Gebilde an, in dem Diversität akzeptiert, ja wertgeschätzt wird, wenngleich der Umgang mit Diversität noch nicht überall leicht fällt, ja gar Spannungen hervorrufen kann. Die Annäherung an ein solches Bewusstsein der Diversität würde wohl weiter dazu führen, dass diejenigen Bürger noch positiver wahrgenommen würden, die Mehrsprachigkeit heute am ehesten verkörpern: weil ihre Ahnen - in Europa oder anderswo - schon andere Sprachen als die Mehrheit gesprochen haben und weil es möglich war, diese Sprachen zu tradieren. Rita Franceschini 52 7. Literatur Bialystok, Ellen (2001): Bilingualism in Development. Cambridge, MA . Bundesamt für Statistik BFS (Hg.) 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Migrationsschübe und die damit verbundenen Probleme von Inklusion, Exklusion und Integration sind Merkmale dieses Vorgangs. Mehrsprachigkeit und kulturelle Diversität sind dadurch hochaktuelle Themen in der europäischen Kulturdiskussion geworden. Dieser Vortrag behandelt einige Aspekte des zukünftigen mehrsprachigen, plurikulturellen Europas mit dem mehrsprachigen, plurikulturellen Indien in vergleichender Absicht. The process of European development means, among other things, that relatively homogeneous, monolingual nations are developing into a complex multilingual union. Waves of migration and the associated problems of inclusion, exclusion and integration are features of this process. Multilingualism and cultural diversity have therefore become highly topical issues in the European debate on culture. This article addresses some aspects of the future multilingual and multicultural Europe in comparison with multilingual and multicultural India. Kulturwissenschaftliche Überlegungen beschäftigen sich jetzt in zunehmenden Maße mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Ich gehe in diesem Beitrag von einer interessanten Komplementarität zwischen Indien und Europa in diesem Zusammenhang aus, die sich so umschreiben lässt: Der Transformationsprozess in Europa bedeutet, dass relativ einsprachige, monokulturelle Staaten, Nationalstaaten, sich zu einem multikulturellen, plurikulturellen, mehrsprachigen Gebilde namens Europa entwickeln. 2 Das nenne ich einen Prozess, der von der Homogenisierung in Richtung der Heterogenisierung des Kontinents führt. Auf der anderen Seite, und das ist bemerkenswert, sind historisch gewachsene, heterogene Staaten, große subkontinentale Staaten wie Indien ständig von der Gefahr bedroht, durch Homogenisierungsprozesse auseinanderzufallen, ihre Heterogenität zu verlieren. Das sind Prozesse, die durch verschiedene Formen von Fundamentalismen unterstützt werden, die dann so etwas wie eine komplementäre Auffassung von der Einheit zwischen Sprache, 1 Dieser Aufsatz geht auf einen von mir gehaltenen Vortrag zurück. Ich habe deshalb den Charakter der Mündlichkeit beibehalten. 2 In diesem Beitrag greife ich zurück auf ältere Beiträge von mir: Bhatti (2008) und (2009). Anil Bhatti 56 Territorium, Kultur und Ethnie darstellen. Etwas, was in Europa im Grunde genommen das Standardmodell für die nationalstaatliche Gründung war, also von Herder beeinflusst, wird in Europa in den letzten Jahren zu überwinden versucht. Diese Komplementarität von Homogenisierung zu Heterogenisierung und Heterogenisierung zu Homogenisierung, die sich ständig im Prozess befinden, eine Art von Reterritorialisierung und Territorialisierung - das wäre die andere Umschreibung dieses Prozesses - ist etwas, was in Europa und Indien vonstatten geht. Das betrifft dann Religion, sprachliche Vielfalt, Staat, Strukturen - in allen diesen Bereichen ist dieser Prozess vorhanden. Und das ist der Ausgangspunkt meiner Überlegungen in diesem Bereich. Es ist kein Zufall, dass die angesprochene Gefährdung bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts im Rahmen der indischen Befreiungsbewegung bemerkt wurde. Denn die indische Befreiungsbewegung wurde mit dem seltsamen historischen Problem konfrontiert, dass der englische Kolonialismus, wie alle Kolonialismen überhaupt, vor die Aufgabe gestellt wurde, aus einem Land der Vielfalt nun eine regierbare Einheit zu machen. Und das, was an indischer Vielfalt, indischen Kulturen, indischen Religionen und Sprachen vorhanden war, wurde aus der Epistemologie des Kolonialismus heraus als Chaos empfunden, und Chaos muss gezähmt werden, Chaos muss klassifiziert werden, Chaos muss durch eine Art von Taxonomie in den Griff gebracht werden, damit es dirigierbar wird. 3 Dadurch entstand nun eine Figur des Denkens, die bis heute noch wirksam ist. Das Normale ist die lineare Entwicklung, alles andere ist abnormal, ist eine Abweichung und bestenfalls exotisch - das Exotische kann man auch lieben, insofern kann man das paternalistisch betrachten. Das Normale wäre eine Sprache, eine administrative Sprache, möglicherweise auch eine poetische Sprache, eine Kodifizierung des Landes, eine saubere Trennung zwischen volkstümlichen Entwicklungen und dem, was zur hohen Kultur gehört. Auch die Religion wäre davon betroffen, man hätte am liebsten einen Text, einen Code, eine Deutungsinstanz, eine Möglichkeit, das alles in den Griff zu bekommen. Das wäre das Normale. Alles andere wäre dann eine Abweichung. Die indische Befreiungsbewegung sah sich vor das Problem gestellt, das, was an indischer Vielfalt vorhanden war, als etwas Positives darzustellen, als Ressource, als Vorteil. Die Tatsache, dass man viele Sprachen im Lande, also eine große Diversität hatte, war kein Nachteil, sondern eher ein Vorteil. Aber das war ein gewaltiger Aufwand an Epistemologie, an Kampf, denn diese Auffassung ist nicht ohne weiteres durchzusetzen. Die Vorstellung, dass man eine Sprache haben muss, ist bis in die Modernisierungstheorie ge- 3 Vgl. Cohn (1985), Bayly (1996), Bhatti (1997), Rahman (1997). Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 57 drungen, wo man dann behauptet hat, die Sprachenvielfalt sei im Grunde genommen ein Hindernis für ein Land, das sich modernisieren möchte. 4 Mit anderen Worten: Es ist die Aufwertung der Einsprachigkeit, die auch in der soziologisch fundierten Modernisierungstheorie vorhanden war. Das bedeutet, dass die Diversität Indiens aus der Defensive heraus ständig als positives Faktum dargestellt werden musste. Und dies war eine ganz große Defensive gegenüber der dominanten Ideologie, dass Diversität etwas wie ein Fluch sei. Das Modell, welches dahinter steckt, ist der Turmbau zu Babel. Der ständige Rekurs auf diesen Mythos ist etwas, was in Indien zu großen Nachteilen geführt hat. Denn in der Auseinandersetzung mit der indischen Diversität, der indischen sprachlichen Vielfalt, waren dann selbst die Sprachwissenschaftler in Indien, die diese Sprachenvielfalt immer wieder positiv darstellen wollten, stets konfrontiert mit der Notwendigkeit, sich gegen die dominante europäische und amerikanische Privilegierung der Monoglossie durchzusetzen. Der Sprachwissenschaftler Pattanayak bemerkte treffend: The dominant monolingual orientation is cultivated in the developed world and consequently two languages are considered a nuisance, three languages uneconomic and many languages absurd. In multilingual countries many languages are facts of life; any restriction in the choice of language use is a nuisance, and one language is not only uneconomic, it is absurd. (Pattanayak 1984, zitiert nach Srivastava 2007, S. 40). Das betraf nicht nur die Vorstellung von der zu beschreibenden Sprachenvielfalt, sondern auch gewisse Ideologien, die damit zusammenhingen. Das Wichtigste war natürlich die Frage der Muttersprache. Dass die Muttersprache, dass eine Sprache allgemein einen Wert hat, war für die indische Tradition völlig unverständlich. Es gibt ein sehr schönes Urteil des Hohen Gerichts zu Madras in Indien, worin steht: Mother tongue is a concept that we all appear to understand very well and take for granted. Mother tongue is a very important concept or construct within the Constitution of India. Several important provisions within the Indian Constitu- 4 So schreibt z.B. Jonathan Pool: „[...] but a country that is linguistically highly heterogenenous is always underdeveloped, and a country that is developed always has considerable language uniformity - if not uniformity of language origin, then widespread knowledge of a common language. Language uniformity is a necessay but not sufficient condition of economic development and economic development is a sufficient but not necessary condition of language uniformity.“ (Pool 1972, zit. n. Srivasatava 2007, S. 38f.). Anil Bhatti 58 tion revolved around this concept or construct. Discussions regarding the medium of instruction and other official languages depend on the interpretation of this concept. More often than not, mother tongue becomes a political idea rather than a linguistic concept. Mother tongues are elevated to some human, superhuman and divine status, and are worshipped literally. Mother tongue becomes a rallying point for groups of people to unite and express their solidarity more as a political entity. (Zitiert nach Maalikarjun 2004) 5 Dieses Urteil geht weiter und es heißt darin: Mother tongue of a child should only be understood for the purpose of cases as the language the child is most familiar with. Mother tongue need not to be the mother's tongue or father's tongue. (Zitiert nach Maalikarjun 2004) 6 Mit diesem schönen Paradoxon hat das Hohe Indische Gericht dann das Problem gewissermaßen aus der Welt geschafft. Aber dahinter steht schon eine gewisse Haltung innerhalb der indischen Gesellschaft, dass der hohe Wert, den man in Europa der Muttersprache beimisst, im Grunde genommen keine ontologische Grundbefindlichkeit oder eine Grundbedingung für die Authentizität des Menschen ist. Schriftsteller haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Indien stets eine polyglotte Landschaft war. Ich zitiere die Schriftstellerin Deshpande, die auf die Forderung, dass authentische Literatur nur in der ‘Muttersprache’ geschrieben werden kann, mit den Worten reagiert: It is this charge, that genuine and good literature can only emerge from our own languages, which I take seriously [...] But when I begin to consider this proposition, I have to pause even before I begin to contend with it, since, for many of us, the question ‘What is my mother tongue? ’ does not have a simple answer. Is my mother tongue my father's language? (It most often means this. The logic of calling it a ‘mother tongue’ defeats me.) Or, if my mother has a different language, is it that? Is it the language spoken in my home, the one which I have been educated in, or the one I read, write and think in? [...] In any case, most of us Indians learn to live with more than one language, moving swiftly from one to another according to the need. The note of astonishment with which it is said that the poet Bendre wrote in Kannada, even though his mother tongue was Marathi, seems to me unwarranted. Why is it surprising? The language of creativity need not necessarily be the mother tongue, though it may very often be that; the two are not synonymous. (Deshpande 2003, S. 66) Das ist eine ganz andere Haltung als diejenige, die noch in den sechziger, siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weit verbreitet war und besagte: 5 www.languageinindia.com/ april2004/ kathmandupaper1.html (Stand: 04/ 2011). 6 www.languageinindia.com/ april2004/ kathmandupaper1.html (Stand: 04/ 2011). Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 59 Wer sich von der Muttersprache wegbewegt, bewegt sich in Richtung einer Gefahr für seine eigene persönliche Identität, für die Absicherung seiner Identität. Man sollte die Identität in einer Sprache festigen, bevor man hinausgeht zu anderen Sprachen. Man verbietet nicht, dass man andere Sprachen lernt. Aber man sollte eine Sprache erst dann lernen, wenn man auf der festen Basis der eigenen Sprache steht. Der Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber vertrat damals die Meinung, dass der Mensch im Grunde einsprachig angelegt ist [...] daß die geistige Anverwandlung der Welt die Geschlossenheit einer Muttersprache erfordert (so wie man auch nicht erwartet, daß jemand in zwei Religionen lebt) und daß mit dem Zusammentreffen der für erfüllte Zweisprachigkeit nötigen Vorbedingungen nie in dichter Häufigkeit zu rechnen ist. (Weisgerber 1966, S. 85). Sowohl der Vergleich mit Religion als auch das Beiwort „erfüllt“ und die bei Weisgerber vorkommenden Ausdrücke wie „Sprachvermengung“ sind bezeichnend. Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit sollen Sonderfälle sein, und sie werden aus einer puristischen Sichtweise betrachtet, die dem Synkretismus entgegengesetzt ist. Weisgerber betont die Gefahren der Zweisprachigkeit und referiert warnend aus einer Schweizer Untersuchung, worin die Sorge herrscht, dass „aus dem Nebeneinander der Sprachen ein Durcheinander“ wird. 7 Diese Meinung, die von bedeutenden Linguisten vorgetragen wurde, hat dann bis in unsere Gegenwart einen großen Einfluss ausgeübt. Aber was macht man, wenn ein sehr berühmter indischer Schriftsteller darauf hinweist - und ich zitiere den Dichter Ananthamurthy, der sagt: I do not use the term ‘mother tongue’ as it is understood by Europeans. For instance some of the best Kannada writers speak Tamil or Marathi at home. [...] many writers in India do not speak the same language in which they maybe writing. (Ananthamurthy 2007, S. 241) Ananthamurthy hat ein schönes Bild dafür entwickelt, welches von dem Vorhof, dem Hinterhof und dem oberen Stockwerk der Sprache spricht. 8 Der Vorhof wäre der Marktplatz, aus soziologischer Sicht die Öffentlichkeit, der Hinterhof wäre die private Sphäre, und das obere Stockwerk wäre der Bereich der intellektuellen Kommunikation. Wenn man drei Sprachen hat, hat man mit 7 Weisgerber (1966, S. 85). Es gab auch andere Stimmen in Deutschland, die damals noch nicht genügend berücksichtigt wurden: Vgl. auch das Zeugnis des Romanisten Wilhelm Theodor Elwert Das zweisprachige Individuum. Ein Selbstzeugnis aus dem Jahr 1973, sowie Elias Canettis (1977) bekannte Schilderung seiner mehrsprachigen Jugend in Rustchuk. 8 Ananthamurthy (2007, S. 249ff.). Siehe auch Ananthamurthy (2009). Anil Bhatti 60 dem Bild eines Hauses - eines Vorhofes, eines Hinterhofes und eines oberen Stockwerks - eine mehrsprachige Einheit, die funktioniert. Genauso, wie man in einem solchen Haus wohnen könnte, könnte man in einer gesellschaftlichen Situation metaphorisch auch so existieren. Das würde bedeuten, dass man diesen Vorhof, den Hinterhof und das obere Stockwerk nicht auseinander dividiert. Der Ort, wo sich das Haus befindet, würde zusammenbrechen, würde nicht funktionsfähig sein. Und das ist eine ganz andere Art und Weise, mit dem Problem, welche Sprache man spricht, umzugehen. Und das Bild des Hauses ist ganz anders als das metaphysisch aufgeladene Bild eines Hauses des Seins im Sinne Heideggers. 9 Einer der bedeutendsten Hindi-Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, Gajanan Madhav Muktibodh, schrieb auf Hindi, sein Bruder Sharatchandra Muktibodh schrieb auf Marathi, die Familie war eine Hindi-Marathi-schreibende Familie, und die Wahl der dichterischen Sprache war eine Wahl, die damit zusammenhängt, dass man mit der Sprache, also mit einer Materie, umgeht. Man kann damit zimmern. Im Deutschen begegnet man dieser Haltung in manchen Sprachreflexionen aus dem Exil. Peter Weiss, der sich im Exil der deutschen Sprache wieder annäherte, musste sie wie Material betrachten. „Jetzt mache ich mir die Sprache selbst“ schreibt er (Weiss 1982, S. 250). Die durch das erzwungene Exil eingetretene Entfernung von der deutschen Sprache war auch mit einer Entfernung von sich selbst verbunden. „Gleichzeitig mit dem Versuch, sich wiederzuentdecken und neu zu bewerten, musste diese Sprache neu errichtet werden.“ Dieses Neuerrichten ist ganz anders als eine Rückkehr in den Schoß der Muttersprache zu verstehen. Dieses Gefühl, dass Sprache Material ist, wäre im indischen Kontext völlig normal, es ist also nicht mit einer Grenzerfahrung verbunden. Sowohl Gajanan Madhav Muktibodh als auch sein Bruder haben ihre Briefe auf Englisch veröffentlicht, ebenso ihre administrative Korrespondenz auf Englisch geführt. So haben sie diese aus dem Ausland schwer zu begreifende, aber völlig normale Fähigkeit, in mehreren Sprachen zusammenzuarbeiten. 10 Es hilft überhaupt nicht, wenn man diese Form des Umgangs mit mehreren Sprachen mit linguistischen Begriffen wie Code-Switching zu umschreiben versucht. Denn das ist eine mechanistische, behavioristische Metapher, die nicht hilfreich ist, um Mehrsprachigkeit zu charakterisieren. Es ist nicht so, als ob irgendwo ein ‘Switch’ wäre, den man ein- und ausschaltet. Viel besser ist ein sehr schöner Ausdruck, den ich bei Goethe gefunden habe. Im „West-östlichen 9 Vgl.: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ In: Heidegger (1949, S. 5). 10 Siehe auch Trivedi (2008). Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 61 Divan“ verwendet Goethe das Bild des Schwebens, um eine eindeutige Festlegung auf die Pole ‘Orient’ und ‘Okzident’ zu vermeiden. Analog dazu geht es in Situationen der Mehrsprachigkeit um einen Schwebezustand, einen gleitenden Zustand, in einer Situation, in der mehrere Sprachen gleichzeitig als Repertoire vorhanden sind, in welchem man mit den Sprachen je nach Bedarf, je nach Situation umgehen kann. Und natürlich muss man in diesem Repertoire nicht perfekt sein, so wie man in allen Repertoires unterschiedliche Kompetenzgrade entwickeln kann. Und wenn man schon ein Bild braucht, dann sollte man Mehrsprachigkeit vielleicht mit Begriffen aus der Musik vergleichen. Genauso wie ein Musiker über verschiedene Repertoires verfügt, mit denen er arbeiten, die er vorführen kann, je nach Bedarf, je nach Publikum, je nachdem, was notwendig ist; so ist auch die Mehrsprachigkeit eine musikalisch zu erfassende Situation mit gleitenden Übergängen, mit der Fähigkeit, aus der Kompetenz das für die Situation herauszuholen, was gerade in diesem Augenblick vielleicht notwendig wäre. Diese Haltung in Indien kontrastiert mit der dominanten Haltung in den europäischen Ländern, aber mit gewissen Ausnahmen. Es gibt Traditionen der Mehrsprachigkeit in Europa, die gewissermaßen ausgeblendet worden sind. Wie kam es, dass die Erinnerung an das Mittelalter, die Renaissance und die Fähigkeit der Schriftsteller, sich intellektuell in mehreren Sprachen zu bewegen, verloren ging? Warum ist die Habsburger Erfahrung mit Mehrsprachigkeit und Plurikulturaellität folgenlos geblieben? Hugo Loetscher 11 hat über solche Fragen schöne Sätze formuliert. Die deutsche Sprache als polyzentrische Sprache ist zwar die, in der er schreibt, aber er schreibt deutsch innerhalb einer mehrsprachigen Atmosphäre. Und diese ist die Basis, aus der heraus er zwar in einer Sprache schreibt, aber sich stets dessen bewusst ist, dass es diese Mehrsprachigkeit um ihn herum gibt. Ähnlich haben sich auch österreichische Schriftsteller geäußert. Heimito von Doderer 12 hat von der polyglotten Bereitschaft Wiens gesprochen und er meinte eben diesen Mischzustand. Hugo von Hofmannsthal hat von der deutschen Sprache in Wien als der „gemengtesten Sprache“ (1979, S. 363) gesprochen, und das als Vorteil gesehen. Grenzen waren durchlässig, man hat zwischen Sprachen keine Grenzen aufgebaut, man hat den fließenden Charakter, das Gleitende und Gleichzeitige der Sprache immer wieder gesehen. Das geht aber im Zuge der Durchsetzung der nationalstaatlichen Ideologie in ihrer Herder'schen Variante verloren; es sei denn, man setzt sich bewusst damit auseinander und versucht, herauszufinden, was man heute daraus lernen kann. 11 Vgl. u.a. Loetscher (2000). 12 Vgl. u.a. Doderer (1971). Anil Bhatti 62 Es gibt eine bedeutende Rede von Josef von Hammer-Purgstall vom 19. Mai 1852, eine Pfingstrede bei einer feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Hammer-Purgstall, als Präsident der Akademie, hat vom Pfingstfest als dem eigentlichen Fest der Polyglossie, der Vielsprachigkeit, gesprochen. Er spricht von der europäischen Zeit nach Napoleon als Zeit der Vielsprachigkeit in Europa. Diese Vielsprachigkeit entfaltet sich erst durch den größeren und näheren Verkehr der Völker in Krieg und Frieden, in Handel und Wandel, durch die gegenseitige Einwirkung ihrer Literaturen. (Hammer-Purgstall 1852, S. 91) 13 Man erinnert sich sicherlich an Goethes Formulierung von Weltliteratur, die sich aus dem Handel, aus dem Verkehr, aus den Münzen, die sich hin und her bewegen, entwickelt. Hammer-Purgstall schreibt weiter: Die gerechte Eifersucht jedes Volkes auf die Erhaltung und Entwicklung seiner Muttersprache geht mit der immer mehr sich ausbreitenden Vielsprachigkeit ihre Wege und sie beirren sich auf denselben nicht im Geringsten. Die Wachsamkeit der Völker auf scharfe Abmarkung ihres eigenen Sprachgebietes steht der Vielsprachigkeit so wenig entgegen, dass sie diese vielmehr befördert, indem die Ausbildung der Sprachen mehrerer Völker der ausschließlichen Oberherrschaft einer Weltsprache schnurstracks entgegensteht. Die Herrschaft einer allgemeinen Weltsprache ist nur eine Übergangsperiode in der Weltgeschichte, welche durch den immer engeren Verkehr der Völker, durch den dampfbeflügelten Austausch ihrer Waren und Ideen, die Verbreitung der Vielsprachigkeit befördert. (ebd.) Das ist eine wunderbare Rede, ein Lob der Vielsprachigkeit. Hammer- Purgstall hat dazu eine Definition des idealen Österreichers (im Habsburg'schen Sinne) gegeben: „Je mehr Du Sprachen des österreichischen Kaisertums verstehst, desto mehr wirst Du ein ganzer Österreicher.“ (ebd., S. 95). Worum es mir hier geht, ist: Es gab mehrere Stimmen dieser Art in der Habsburger Monarchie, in der Schweiz - noch bis in unsere Gegenwart hinein in Zentraleuropa. 14 Dass diese Stimmen nicht zum Tragen gekommen sind, hängt natürlich mit der Entwicklung des nationalstaatlichen Gedankens in Europa, mit der Machtpolitik innerhalb Europas zusammen, sowie mit der Verbreitung und der Ausweitung des europäischen Weltherrschafts- 13 In diesem Zusammenhang sei auch hingewiesen auf Schmeller (1988). Ich danke Ludwig M. Eichinger und Hans-Jürgen Krumm für diesen Hinweis. Aus Platzgründen muss ich auf eine Darstellung der Nähe, aber auch auf den Unterschied zu Hammer-Purgstall leider verzichten. 14 Vgl. Csáky (2010), Feichtinger/ Prutsch/ Csáky (2003). Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 63 anspruchs durch den Kolonialismus, der eine bestimmte Form der Auseinandersetzung mit den Sprachen der Gesellschaft auf Gegenden übertrug, die von Natur aus historisch gesehen mehrsprachig waren. Und dieser Konflikt zwischen der Mehrsprachigkeit, die ich „historisch gewachsen“ nenne, und der von außen aufoktroyierten Linearität, der Eindimensionalität, ist der Motor des Konfliktes gewesen, mit dem man immer noch zu kämpfen hat. Wenn wir sagen, dass Indien ein mehrsprachiges Land ist, dann fußt das auf soliden wissenschaftlichen Grundlagen. Die Anthropological Survey of India hat ergeben, dass mehr als 65% der indischen Bevölkerung und mehr als 75% der indischen Communities mindestens zweisprachig und die Mehrzahl daraus dreisprachig sind. Mehrsprachigkeit ist also keine isolierte Erscheinung. Aber was ist das für eine Mehrsprachigkeit? Ananthamurthy hat boshaft gesagt, die Mehrsprachigkeit in Indien liege bei den Ungebildeten und nicht bei den Gebildeten. Die Gebildeten wollen ihre Kinder nur in einer Sprache erziehen und möglichst schnell in die USA schicken. Die ungebildete, arbeitende Bevölkerung sei mit der Mehrsprachigkeit gewissermaßen aufgewachsen, weil diese Mehrsprachigkeit mit ihren Arbeitsbedingungen zusammenhänge. Mehrsprachigkeit sei eine praxisorientierte Begabung. Damit spielen sowohl Ananthamurty als auch die Anthropological Survey of India, hochwissenschaftlich formuliert, darauf an, dass Indien durch die Binnenmigration, durch die großen Bewegungen innerhalb Indiens, durch die Struktur des Landes, durch diese vielen Religionen, ihre verschiedenen Wallfahrtsorte, durch die Pilgermöglichkeiten, durch die administrative Durchdringung des Landes und vor allem durch die Eisenbahn aus allen arbeitenden Menschen mehrsprachige Menschen macht. Und diese Mehrsprachigkeit kann nicht definiert werden als die perfekte Beherrschung von Sprachen, sondern als die hinreichende Beherrschung von Sprachen, die je nachdem, was man mit diesen Sprachen anfangen kann, dann weiter perfektioniert wird. Das bedeutet: Wenn ein aus einer Marathi-schreibenden Familie stammender Dichter wie Muktibodh entscheidet, lieber auf Hindi zu schreiben, kann er das machen, ohne dass sich jemand darüber wundert. Diese Kommunikation und Binnenmigration gibt der indischen Mehrsprachigkeit eine Form der Durchmischung, eine Durchmischungsqualität, die - soweit mein Eindruck von der europäischen Situation - in Europa noch erreicht werden müsste. Die Politik, die sich in Europa entwickelt, müsste dann in diese Richtung gehen. Und das ist auch der Unterschied zwischen der Drei-, Vier- und vielleicht Fünfsprachigkeit in der Schweiz und der Mehrsprachigkeit in Indien: Es gibt nicht diese Durchmi- Anil Bhatti 64 schungsqualität. Es gibt mehrere Sprachen, die offizielle Sprachen des Landes sind, aber sie haben nicht diese Gleichzeitigkeit der Verwendung, die man aus der indischen Erfahrung kennt. Englisch ist keine Fremdsprache in Indien, sondern eine durch die historische Verwaltungs-und Bildungspraxis des Kolonialismus eingebürgerte ebenbürtige indische Sprache; das ist vielleicht die Sprache, die wir in Universitäten und in der Verwaltung am häufigsten verwenden, auch in unserem inneren transregionalen Kommunikationszusammenhang sowie in unserer wissenschaftlichen Arbeit. Gleichzeitig aber signalisiert der Gebrauch des Englischen gewisse Bildungs- und Gesellschaftsprivilegien, die in ständigen Spannungsverhältnissen zur Gesamtgesellschaft stehen. Ferner wirkt Englisch als dominantes Fenster zur Welt wie ein Filter, der den internationalen Kommunikationszusammenhang und den internationalen Informationsaustausch nach anglo-amerikanischen Prioritäten bzw. Interpretationsmustern einseitig steuert und eine internationale Ausrichtung verhindert. Aber die indische Haltung zum Englischen ist etwas anders als jene, die sich jetzt in Europa durchsetzt. Was man jetzt in Europa beobachtet, ist, dass sich der reduktive Bilingualismus durchsetzt, d.h. Deutsch plus Englisch, oder eine andere Sprache plus Englisch, was dazu führt, dass die anderen Sprachen nicht zum Tragen kommen. Es wäre viel interessanter, wenn man eine große Palette der europäischen Sprachen zur Verfügung hätte. Unter diesen wäre natürlich auch das Englische notwendig, was sich - sozusagen - durch Osmose durchsetzt, so dass man für das Erlernen des Englischen nicht allzu viel machen muss; es ist einfach vorhanden. So ist es auch in Indien: Englisch setzt sich einfach durch die Faktizität seiner Umweltspräsenz durch. Für das Lernen anderer Sprachen muss man etwas tun. Und das ist das, was durch die verschiedenen Language-Policy-Diskussionen in Indien dazu geführt hat, dass man sich damit stärker auseinandersetzt, wie man eine Dreisprachenformel durchsetzt. Diese Formel ist nicht optimal gelungen; in Indien kritisiert man, dass sie aus verschiedenen Gründen umgangen wird. Aber dass man eine Art von Kombination aus Regionalsprache, Verkehrssprache und einer dritten Sprache und möglicherweise einer vierten Kommunikationssprache fördern sollte, ist die Haltung. Hierzu muss man sagen: Wenn man das konsequent macht, ist es einsichtig, dass sich in Indien selbst die verschiedenen Sprachen - es gibt 22 offizielle Sprachen, aber 352 ist die Zahl, die uns die Linguisten nennen - untereinander nicht als Fremdsprachen verstehen. Es sind einfach nur andere indische Sprachen, und ich halte das für eine kognitive, eine sehr wichtige Entscheidung; kein Hindi-Sprechender würde Tamil als Fremdsprache begreifen. Für ihn wäre Tamil eine indische Sprache, die er vielleicht nicht Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 65 versteht, doch eine andere indische Sprache, aber eben keine Fremdsprache, und das wäre im öffentlichen Diskurs völlig in Ordnung. Von der ersten Fremdsprache spricht man, wenn man anfängt, Deutsch zu lernen, oder Spanisch oder Chinesisch oder Russisch. Das wäre für viele Inder dann ihre vierte oder fünfte Sprache. Und das ist meines Erachtens ein Zeichen der Mehrsprachigkeit in einem Kontinent oder in einem Subkontinent oder auch in Europa: Wenn das Verhältnis der Sprachen untereinander durch eine wohlwollende Balance zwischen Interesse und Desinteresse gekennzeichnet ist, wodurch die Selbstverständlichkeit ihrer Präsenz vorhanden ist, abrufbar, benutzbar, aber nicht unbedingt als etwas, was ein Störfaktor wäre. All das hängt mit einer bestimmten Haltung zur Kultur zusammen, die nicht von den Wurzeln der Kulturen ausgeht, wo man nach Authentizität sucht, oder wo man das erfüllte Sein des Menschen durch ein Ringen nach Authentizität und Wurzeln definiert, sondern dass man Kulturen als verschiedene palimpsestartige Gewächse betrachtet, als Mosaike, die sich entwickeln. Geschichtsschichten sind somit gleichzeitig vorhanden und sie sind gleichberechtigt. Und dieses Bild vom Palimpsest ist ein altes Bild. Schon Victor Hugo (1982) sprach im neunzehnten Jahrhundert davon, dass Europa als Palimpsest zu betrachten sei. Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru (1997) hat dieses Bild während der Freiheitsbewegung im frühen zwanzigsten Jahrhundert bemüht, um die vielschichtige Diversität Indiens zu charakterisieren. Der indische Historiker und Polymath Damodar Dharmanand Kosambi (2002, S. 7) hat einen ähnlichen Gedanken ausgedrückt, als er Indien ein „country of long survivals“ nannte. Diese Gedanken stehen Ernst Blochs Auffassung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Gesellschaftsformationen sehr nahe. Das Bild von einem Palimpsest ist eines, das sich gegen die fundamentalistische Richtung, dass es nur eine authentische, genuine Kultur in einem mehrsprachigen, multikulturellen Land gebe, wendet. Und wenn man von diesen Gedanken der Authentizität und Reinheit ausgeht, dann müsste man sagen, die eigentliche Kultur wäre eine Tabula rasa, denn alles, was man darauf schreibt, wäre unrein, nur das leere Blatt kann rein sein. Deswegen hat der Dichter Rabindranath Tagore ein sehr schönes Bild geprägt: „I would rather insist on the inexhaustible variety of the human race, which does not grow straight up, like a palmyra tree, on a single stem, but like a banian tree spreads itself in evernew trunks and branches.“ Tagore (1996, S. 399). 1918 geschrieben, ist das eine schöne Vorwegnahme des heute in der Kulturtheorie bekannten Bildes des Rhizoms bei Deleuze/ Guattari (1988, S. 15). Rhizomatische Strukturen sind nicht wurzelorientierte Strukturen. Das heißt, für sie ist die Frage nach der Authentizität zweitrangig. Es kommt auf das Beziehungsgeflecht an. Anil Bhatti 66 Wenn man nun zu dem Gedanken zurückkehrt, mit dem ich begonnen habe, Homogenität - Heterogenität, und Mehrsprachigkeit als etwas, was in der Heterogenität, der kulturellen Vielfalt situiert ist, dann müsste man dieses Bild des Rhizomatischen, Palimpsestartigen dehnen, als eine Umschreibung der Grundcharakteristik aller großen territorialen Gebilde, die davon gekennzeichnet sind und nur davon leben, dass es diese Diversität gibt, sei es als Sprachenvielfalt, sei es als religiöse Vielfalt, sei es als kulturelle Vielfalt. Und das ist keine neue Einsicht, das hat der Gedanke an die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen von Ernst Bloch auch ausgedrückt. Es gibt ein anderes Bild, das bei Ludwig Wittgenstein zu finden ist, welches das, was ich sage, schön umschreibt. Wir können, schreibt er, einen Begriff von „Etwas“ ausdehnen wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen. Wenn aber Einer sagen wollte: ‘Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, - nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten’ - so würde ich antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, - nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern. (Wittgenstein 1975, S. 57 (Nr. 66) sowie S. 77 (Nr. 76)) Es ist in diesem Übergreifen, dass das, was wir Vielfalt nennen, vielleicht so erfasst werden kann. Plurikulturelle, mehrsprachige, heterogene Gesellschaften wären in dem Sinne komplizierte Netze von Ähnlichkeiten, die ineinander übergreifen und sich kreuzen. Das wäre die Perspektive, auf deren Grundlage man eventuell den fundamentalistischen Richtungen, die diese Vielfalt zerstören wollen, die etwas Singuläres, Lineares, vorsetzen wollen, etwas Anderes gegenübersetzt, das die Vielfalt als kulturellen Gewinn begreift. Und dazu gehört die sprachliche Vielfalt. Literatur Ananthamurthy, Udupi Rajagopalacharya (2007): Towards the concept of a new nationhood: Languages and literatures in India. In: Chandra, Bipan/ Mahajan, Sucheta (Hg.): Composite culture in a multicultural society. New Delhi, S. 239-251. Ananthamurthy, Udupi Rajagopalacharya (2009): Globalization, English and ‘other’ languages. In: Social Scientist New Delhi 37, S. 50-59. Bayly, Christopher A. (1996): Empire and information. Intelligence gathering and social communication in India, 1780-1870. Cambridge. Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 67 Bhatti, Anil (1997): Sprache, Übersetzung, Kolonialismus. In: Turk, Horst/ Bhatti, Anil (Hg.): Kulturelle Identität. 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Rosemarie Tracy Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen Abstract: Es gibt einen frappierenden Widerspruch zwischen dem Ausmaß von Zwei- und Mehrsprachigkeit in unserer Gesellschaft und im Individuum einerseits und andererseits einem Mangel an Bewusstsein dahingehend, was benötigt wird, um sie hervorzubringen und zu fördern. Dieser Beitrag setzt sich mit einigen populären Mythen auseinander, die einem Verständnis von Zwei-/ Mehrsprachigkeit als einem normalen Zustand des Menschen im Wege stehen. Die Koexistenz und Koaktivierung von mehr als einem sprachlichen Kenntnissystem innerhalb eines Kopfes ermöglicht es Sprecher(inne)n sogar, Sprachmischungen sehr systematisch in den Dienst diskursiver und pragmatischer Funktionen zu stellen. Nach einer Illustration der damit verbundenen Kreativität anhand von Sprachkontaktdaten, die im Rahmen eines Projekts mit erwachsenen deutschen Auswander(inne)n in den USA erhoben wurden, wird gezeigt, wie früh bilinguale Kinder fähig sind, mit der Herausforderung durch koexistierende Inputsprachen umzugehen. Schließlich wird erörtert, wie dieses Potenzial im schulischen Kontext genutzt werden kann, um den Zweitspracherwerb und die Mehrsprachigkeit bei Kindern zu unterstützen. There is a curious contradiction between, on the one hand, the extent of bilingualism and multilingualism within our societies and within the individual, and, on the other hand, the lack of awareness of what it takes to foster it. This contribution discusses some popular myths which hamper our understanding of bilingualism/ multilingualism as a normal state of the human mind. The coexistence and coactivation of more than one linguistic system within a single head even provides individual speakers with the unique opportunity for systematically employing language mixing for discoursefunctional and pragmatic purposes. After an illustration of this resourcefulness with data from a project investigating language contact in adult German immigrants in the U.S., it will be shown how early young bilingual children are able to cope with the challenge of coexisting input languages. Finally, suggestions as to how this potential could be exploited in the field of education in order to empower and support second language acquisition and multilingualism in childhood will be proposed. 1. Einleitung „Europa ist - wie jeder der Mitgliedsstaaten - mehrsprachig. Erhalt und Förderung dieser Mehrsprachigkeit ist erklärter politischer Wille“ (Decke-Cornill/ Küster 2010, S. 143). Diesen auf den ersten Blick klaren Aussagen in einem fremdsprachendidaktischen Handbuch lassen ihre Verfasser sogleich die berechtigte Frage folgen „Was aber ist darunter zu verstehen? “ (ebd.). Denkt man beispielsweise bei der zu erhaltenden und zu fördernden Mehrsprachig- Rosemarie Tracy 70 keit an die Vielfalt der Erstsprachen, die man auf Europas Schulhöfen vorfindet? Meint man die Sprachen, die als Teil des Bildungskanons innerhalb dieser Schulen unterrichtet werden? Und von wessen politischem Willen ist die Rede? Gemäß europäischer Mehrsprachigkeitspolitik sollen die Bürger und Bürgerinnen Europas künftig drei Sprachen beherrschen, neben ihren jeweiligen Erstsprachen zwei andere Sprachen, beispielsweise das Englische als lingua franca und eine weitere, vielleicht benachbarte europäische Sprache (vgl. Europäische Kommission (Hg.) 2008, sowie zahlreiche EU -Publikationen der letzten Jahre). Während Eurobarometer-Umfragen zeigen, dass die Bürger(innen) Europas selbst sehr unterschiedliche Meinungen dazu haben, ob der Erwerb einer dritten Sprache sinnvoll oder allein aus zeitlichen Gründen machbar ist (vgl. Bär 2004, S. 50ff.), belegt ein kurzes Hineinhören in die Schulhöfe europäischer Großstädte, dass die Realität das europäische Desiderat längst übertrifft und dass die Menge der in Europa koexistierenden Sprachen weit über den Pool der Landessprachen und die prominentesten Dialekte seiner Mitgliedsstaaten hinausreicht. Manche Kinder werden bereits von Geburt an im Elternhaus in mehreren Sprachen angesprochen, von denen möglicherweise keine der Umgebungs- oder Landessprache entspricht. Letztere würde dann als dritte (oder weitere) Sprache erlernt, idealerweise möglichst früh, z.B. mit dem Zeitpunkt des Eintritts in eine vorschulische Bildungseinrichtung. Im Grundschulalter kämen bildungssprachliche mündliche und schriftsprachliche Register der Landessprache hinzu sowie eine Fremdsprache, in Deutschland beispielsweise Englisch oder Französisch. In weiterführenden Schulen eröffnen sich neue Optionen, und zwar nicht nur aus dem Kreis der so genannten „lebenden“ Sprachen. Viele Menschen in Europa erfüllen also die Wunschvorstellung einer individuellen Mehrsprachigkeit schon im Kindes- oder Jugendalter. Aber während man auf europäischer Ebene linguistische Diversität als individuellen und gesellschaftlichen Vorteil zelebriert und sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil auf internationalen Märkten erhofft (vgl. Darquennes 2011), scheint sich auf lokaler Ebene kaum jemand wirklich über die real existierende linguistische Artenvielfalt zu freuen. Vielmehr ringen die Bildungssysteme vieler europäischer Staaten mehr oder weniger hilflos mit den durch die Heterogenität sozialer und sprachlicher Herkunft bedingten Herausforderungen. Denn die mehrsprachige Biografie von Schülern und Schülerinnen schließt oftmals gerade diejenigen Sprachen nicht oder nicht in ausreichendem Maße ein, die sie für eine erfolgreiche Bildungskarriere benötigen. Dies bedeutet auch, dass die Mehrheit der jungen Menschen mit Migrationshintergrund den Schritt in weiterführende Schulen nicht schaffen und ein beachtlicher Teil von ihnen keinen Schulabschluss vorweisen kann. Die meisten Erstsprachen, die in deutschen Schulhöfen zu hören sind, haben jedenfalls Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 71 innerhalb der Schulen keinerlei Marktwert, und nicht selten werden die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen in ihren Herkunftssprachen in Frage gestellt. 1 Lehrkräfte sind ihrerseits überfordert, weil ihren Schüler(inne)n bildungs- und fachsprachliche Repertoires in der Landessprache fehlen und von „normalem“ Unterricht, an den man sich aus der eigenen Schulzeit noch zu erinnern vermeint, keine Rede sein kann. Sowohl der grundlegende „monolinguale Habitus“ der Schule (Gogolin 1994) als auch die vermeintlichen sprachlichen Defizite von Kindern und Jugendlichen in der Bildungssprache oder in allen ihren Sprachen machen es schwer, Mehrsprachigkeit als individuelle oder gar gesellschaftliche Ressource zu sehen (vgl. Esser 2006). Hier zeichnet sich eine Entwicklung ab, wie sie Hakuta vor fast 30 Jahren für die USA wie folgt charakterisierte: „In the United States, bilingualism is a term with meanings beyond the use of more than one language. [...] the bilingual child in the American classroom commonly evokes the image of a child who speaks English poorly, has difficulty in school, and is in need of remediation.“ (1986, S. 10). Mehrsprachigkeit wäre somit ein individuelles Risiko und bestenfalls ein temporäres gesellschaftliches Übel, „characteristic of the less developed nations“, „something ‘to get over’“ (Myers-Scotton 2006, S. 10). Die internationalen Vergleichsstudien und die Bildungsberichte des letzten Jahrzehnts lassen keinen Zweifel daran, dass Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien und aus bildungsfernen Schichten gerade in Deutschland erheblich benachteiligt sind (vgl. Deutsches PISA -Konsortium (Hg.) 2001, OECD (Hg.) 2010, Expertenrat „Herkunft und Bildungserfolg“ 2011, Bade/ Bommes/ Münz (Hg.) 2004, Gomolla/ Radtke 2002). Dieser Zustand schadet nicht nur der Volkswirtschaft (vgl. Wößmann/ Piopiunik 2009), die aufgrund eines akuten Mangels an qualifizierten Arbeitskräften bereits jetzt auf weitere Neuzuwanderung angewiesen ist (vgl. das Jahresgutachten 2011 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen). Für eine angebliche Wissens- und Informationsgesellschaft liegt darin ein fundamentaler Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit. Der internationale Bildungsvergleich belegt, dass Versuche, einzelne Zuwanderergruppen, allen voran türkische Migrant(inn)en, für das schlechte Abschneiden des deutschen Schulsystems verantwortlich zu machen, daran 1 Vgl. dazu die Debatte um die so genannte „Halbsprachigkeit“ (Skutnabb-Kangas 1984, vor allem die Kritik in Romaine 1995 und Siebert-Ott 2001). Von vermeintlichen Defiziten mehrsprachiger Kinder in allen ihren Sprachen wird seit Jahren regelmäßig in der Tagespresse berichtet, vgl. exemplarisch den Beitrag „Schulen im Ausnahmezustand“, Welt am Sonntag vom 19.6.2011. Rosemarie Tracy 72 scheitern, dass sich herkunftsbedingte Disparitäten auch bei Kindern ohne Migrationshintergrund manifestieren. Außerdem gelingt es anderen Ländern besser, Menschen mit gleichem ethnischen Hintergrund und vergleichbarer Migrations- oder Bildungsbiografie in ihre Bildungssysteme und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie im Untertitel angedeutet, setzt sich mein Beitrag mit einigen Mythen und Irrtümern auseinander, die einem Verständnis von Zwei-/ Mehrsprachigkeit als einem normalen Zustand des Menschen und damit auch der Umsetzung der positiven Visionen von gesellschaftlicher und individueller Mehrsprachigkeit im Wege stehen. Dieser Diskussion ist vor allem Kapitel 2 gewidmet, in dem ich auch kurz auf Sprache im Allgemeinen und auf Sprachwandel als natürliche Folge von Sprachkontakt eingehe. Kapitel 3 beschäftigt sich detaillierter mit den Konsequenzen des Sprachkontakts im Kopf Erwachsener und illustriert den natürlichen Wettbewerb, aber auch die Komplementarität, die mit der Verfügbarkeit koexistierender sprachlicher Ressourcen einhergehen. Kapitel 4 verdeutlicht anhand des doppelten Erstspracherwerbs, wie sich das Potenzial mehrsprachiger Kompetenzen in der frühen Kindheit manifestiert. In Kapitel 5 finden sich abschließend einige Ideen dahingehend, wie man den Visionen von individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in unserem Bildungssystem eine realistischere Chance einräumen könnte. 2. Fiktionen und ideelle Stolpersteine der Mehrsprachigkeitsdebatte 2.1 Verzichtbares Dogma: Primat der Einsprachigkeit Die Fähigkeit zum Spracherwerb ist dem Menschen angeboren. Sie ist unabhängig von der Modalität (Gebärdensprache, Lautsprache), von der Intelligenz, von der Erziehungspraxis und von der Anzahl der beteiligten Sprachen. Aus demografischer Perspektive betrachtet ist Mehrsprachigkeit schon längst der Normalfall (vgl. Baker/ Jones 1998, Myers-Scotton 2006, Romaine 1995), vor allem dann, wenn man - was aus sprachwissenschaftlicher Sicht angemessen wäre - Dialekte und sonstige systematisch differenzierbare Varietäten einschließt, die im Kopf des Individuums und in seiner Gesellschaft koexistieren. Wenn ich dennoch im Folgenden vereinfachend von monolingualen und bilingualen/ mehrsprachigen 2 Kompetenzen spreche, so sollte dabei die Unmöglichkeit einer scharfen Grenzziehung im Auge behalten werden. 2 Da eine nähere Unterscheidung zwischen Zwei- und Mehrsprachigkeit im Folgenden nicht wichtig ist, werde ich beide Termini synonym verwenden. Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 73 Der Warnung, die der Sprachwissenschaftler Weisgerber vor einem halben Jahrhundert bezüglich der kindlichen Mehrsprachigkeit artikulierte, würde sich die Sprachwissenschaft heute nicht mehr anschließen. Dies gilt vor allem für seine Hinweise auf „[...] Aufwand von Zeit und Kraft auf Kosten anderer Arbeit, Schwächung des Sprachgefühls durch gegenseitige Beeinflussung der beiden Sprachen, Unsicherheit des Ausdrucks, Sprachmengerei, Armut des lebendigen Wortschatzes, Lockerung der geistigen Gemeinschaft mit den Einsprachigen“ (Weisgerber 1966, S. 77). Eine „Schwächung des Sprachgefühls“ und eine „gegenseitige Beeinflussung der Sprachen“, insbesondere bei der Sprachverwendung, also online, wäre aus Sicht der aktuellen Forschung eine normale und erwartbare Konsequenz des Sprachkontakts (vgl. Clyne 2003, Tracy/ Lattey 2010), insbesondere im Fall sprachübergreifender struktureller und lexikalischer Ähnlichkeiten. Dabei muss sich eine gegenseitige Beeinflussung während des Spracherwerbs nicht einmal in Form negativen Transfers äußern. Strukturelle und phonologische Ähnlichkeiten können sich auch in positivem Transfer niederschlagen und zu Beschleunigungen, d.h. zu Bootstrapping-Effekten, führen (vgl. Gawlitzek-Maiwald/ Tracy 1996, Müller et al. 2007). Schließlich wäre wohl auch im Interesse der gemeinsamen Zukunft Europas und seiner zunehmend multi-ethnischen Einzelstaaten die von Weisgerber heraufbeschworene „Lockerung der geistigen Gemeinschaft mit den Einsprachigen“ ein eher erstrebenswertes Ziel, weil sie der Entwicklung einer europäischen Identität förderlich sein sollte. Im Übrigen wirkt der „Armut des lebendigen Wortschatzes“ (siehe oben) - wie wir aus der Sprachgeschichte wissen - kaum etwas effektiver entgegen als ein Sprachkontakt, durch den lexikalische Lücken des nativen Wortschatzes gefüllt werden und das Repertoire von Synonymen erweitert wird. Die Forschung zum doppelten Erstspracherwerb belegt jedenfalls - mehr dazu in Kapitel 4 unten -, dass sich nicht erst eine Sprache bis zu einem gewissen Niveau entwickeln muss, bevor eine zweite „additiv“, also ohne Schaden für beide, hinzutreten kann (vgl. die „Schwellentheorie“ von Cummins 1991). Kinder werden weder durch den simultanen Erwerb zweier Erstsprachen noch durch den frühen Zweitspracherwerb überfordert (Genesee/ Nicoladis 2007, Kroffke/ Rothweiler 2006, Rothweiler 2007, Thoma/ Tracy 2006, Tracy 2008, Tracy/ Thoma 2009). Erfolgreiche, aktive Mehrsprachigkeit bedarf zwar keines monolingualen Sprungbretts, wohl aber eines möglichst kontinuierlichen und regelmäßigen Sprachangebots in den beteiligten Sprachen. Kinder werden ihre jeweiligen Zielsprachen nur dann differenziert erwerben, wenn das Rosemarie Tracy 74 sprachliche Angebot, das ihnen ihre Umgebung unterbreitet, ebenfalls differenziert, komplex und reichhaltig ist. Da Mehrsprachigkeit auch immer Sprachkontakt im individuellen Kopf bedeutet, sind gelegentliche Interferenzen bei der Sprachproduktion oder beim Sprachverstehen unvermeidbar (vgl. Kap. 3 und 4). Ebenso normal und erwartbar sind beim Rückgang der Verwendungsgelegenheit allmähliche Veränderungen der Erstsprache unter dem Einfluss weiterer Sprachen (vgl. auch Kap. 2.4; Backus 1996, Polinsky/ Kagan 2007). 2.2 Ein Mythos: perfekte Ein- oder Mehrsprachigkeit Die Forschung präferiert vorsichtige Formulierungen, wenn es darum geht, Mehrsprachigkeit oder Bilingualismus zu definieren, vgl. Grosjean (2008, S. 10), „Bilingualism is the regular use of two or more languages (or dialects)“, und Myers-Scotton (2006, S. 65), „A bilingual is a person who can carry on at least casual conversations on everyday topics in a second language.“ Hier wird bewusst auf das Kriterium eines muttersprachlichen Niveaus oder eine Eingrenzung auf ganz bestimmte Erwerbsszenarien, z.B. auf den doppelten Erstspracherwerb, verzichtet. In der Öffentlichkeit findet sich hingegen immer noch eine Erwartung, wie sie einst der Linguist Bloomfield (1933, S. 56) formulierte, der von Bilingualen „native-like control of two languages“ erwartete, wenngleich er dieses Desiderat umgehend relativierte, „[...] of course, one cannot define a degree of perfection at which a good foreign speaker becomes a bilingual: the distinction is relative“. Jedweder Spracherwerb verlangt von Lerner(inne)n die Rekonstruktion und Internalisierung unterschiedlichster Teilsysteme, u.a. auf den Ebenen von Phonologie, Syntax, Morphologie, Semantik und Pragmatik. Dabei erweist sich der Erstspracherwerb als „robust“, d.h. Kinder gelangen normalerweise ans Ziel (vgl. aber Kap. 2.4), während der Erwerb weiterer Sprachen auf unterschiedlichen Ebenen stagnieren kann. Viele Faktoren spielen hierbei eine Rolle: die grundlegende Verfügbarkeit des Inputs ebenso wie mögliche Alterseffekte, d.h. eine mit der Zeit abnehmende Sensibilität für bestimmte Merkmale einer nach der frühen Kindheit erworbenen Sprache (vgl. Birdsong (Hg.) 1999, Sorace 2003, Clahsen/ Felser 2006), ebenso wie die individuelle Motivation und ein bislang wenig geklärtes Sprachtalent (vgl. Dogil/ Reiterer (Hg.) 2009). Während es eher unwahrscheinlich ist (wenngleich bei gutem Gehör und viel Übung nicht unmöglich! ), dass wir in spät erworbenen Sprachen jemals wie Muttersprachler „klingen“, können wir in anderen grammatischen Bereichen (z.B. Wortschatz oder grammatischen Intuitionen) durchaus ein Niveau errei- Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 75 chen, das dem eines Muttersprachlers vergleichbar ist (vgl. Hopp 2007). Manche ältere Zweitsprachenlernende können Muttersprachler(innen) bezüglich des Umfangs des Wortschatzes und der stilistischen Ressourcen übertreffen. Auch die Erwartung, dass sich mehrsprachige Menschen etwa in allen ihren Sprachen gleichermaßen wortgewandt, differenziert und flüssig über beliebige Themen unterhalten können, ist unrealistisch. Ob ihnen dies auch nur annäherungsweise gelingt, hängt u.a. davon ab, ob sie Gelegenheit hatten, in den ihnen verfügbaren Sprachen mit den gleichen Themen/ Kontexten in Berührung zu kommen. Da es eher unwahrscheinlich ist, dass die Verwendungsgelegenheiten für zwei oder mehr Sprachen im Alltag eines Menschen völlig symmetrisch verteilt sind, ist ein gewisses Ungleichgewicht zu erwarten. Wer am Arbeitsplatz ausschließlich in Sprache A über juristische Fragen, Musik oder Feinmechanik spricht, wird wahrscheinlich in Sprache B mühsam nach entsprechendem Vokabular und sonstigen Formulierungsmöglichkeiten suchen müssen und sich ggf. - je nachdem, welche Verstehensleistung man einem Gegenüber zumutet, - mit Entlehnungen aus Sprache A helfen. Mehrsprachigkeit ermöglicht also zugleich Arbeitsteilung: Nicht jede Sprache ist für alles zuständig, auch wenn alle von Bilingualen regelmäßig gesprochenen Sprachen prinzipiell verfügbar und koaktiviert sind (vgl. Grosjean 1982, 2008; Green 2000; Kap. 3). Nicht selten empfinden Mehrsprachige selbst eine ihrer Sprachen als stärker oder dominant, eine Einschätzung, die sich im Laufe eines Lebens immer wieder ändern kann (vgl. Grosjean 1982, Myers-Scotton 2006, Romaine 1995). Asymmetrien sind auch schon dadurch vorprogrammiert, dass manche Konzepte in der einen oder anderen Sprache schlicht nicht lexikalisiert werden oder dass bestimmte Themen (trotz verfügbarem Wortschatz) tabuisiert werden; man denke an das Sprechen über Emotionen, Sexualität, Körperteile/ -funktionen, Krankheit oder Tod. In Studien, in denen monolinguale und bilinguale Personen verglichen werden, zeigen sich relevante Unterschiede vor allem in zwei Bereichen: im Umfang des jeweils einzelsprachlichen Lexikons und im Hinblick auf das Ausüben exekutiver Kontrolle. Aufgrund der bereits angesprochenen Arbeitsteiligkeit bzw. asymmetrischer Erfahrung verfügen bilinguale Kinder und Erwachsene nicht unbedingt über den gleichen Wortschatz wie Monolinguale (vgl. Bialystok 2009a, b). Außerdem benötigen sie bei manchen Aufgaben, z.B. wenn sie in Bildbenennungsexperimenten nur eine ihrer Sprachen verwenden sollen, längere Reaktionszeiten als monolinguale Testpersonen. Auf der anderen Seite haben Mehrsprachige in Experimenten, in denen es darauf ankommt, metasprachliche Aufgaben zu bewältigen (z.B. sich auf formale Rosemarie Tracy 76 Merkmale von Sätzen zu konzentrieren) und irrelevante Information zu unterdrücken, deutliche Vorteile (Bialystok 2009a, b). Der Umgang mit konkurrierenden Optionen und die Notwendigkeit, die gerade nicht benötigte Sprache zu inhibieren, erweisen sich offensichtlich als positive Herausforderungen für das Gehirn und scheinen sowohl das normale kognitive Altern als auch Demenzerscheinungen hinauszuzögern (vgl. Bialystok et al. 2004). Positive Effekte zeigen sich bei jungen bilingualen Kindern auch beim Lösen von Theory of Mind-Aufgaben, bei denen es darauf ankommt, sich in die Vorstellungen anderer hineinzuversetzen (vgl. Goetz 2003). Schließlich erweisen sich sogar doppelte Erstsprachlerner(innen) mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung ( SSES ) im Vergleich mit monolingualen sprachentwicklungsgestörten Kontrollgruppen als weiter entwickelt (vgl. Paradis et al. 2003, Genesee/ Paradis/ Crago 2004). 2.3 Überholt: Fiktionen über das 1: 1-Verhältnis von Sprache und Identität Sprache ist instrumentell für die Konstruktion unseres Selbstbilds und für die Art und Weise, wie wir andere sozial kategorisieren (vgl. Le Page/ Tabouret- Keller 1985, Antaki/ Widdicombe (Hg.) 1998, Hinnenkamp/ Meng (Hg.) 2005, Auer (Hg.) 2007). Durch unsere Art und Weise zu sprechen drücken wir Wertschätzung, Solidarität oder Distanz aus und verorten uns relativ zu anderen, d.h. „language [...] may be the most visible symbol of a group“ (Myers-Scotton 2006, S. 114). Eindrucksvoll zeigt sich dies in so genannten Matched Guise- Experimenten, in denen Versuchsteilnehmer(innen) Personen, von denen ihnen Tonaufnahmen vorgespielt werden, bezüglich bestimmter Merkmale beurteilen sollen (z.B. als sympathisch, intelligent, fleißig, vertrauenswürdig etc.; vgl. Lambert 1960, Romaine 1995, Gardner-Chloros 2009; für informelle pädagogische Übungen Tracy 2010). Die Aufnahmen bestehen aus Texten, die entweder in Sprache A oder Sprache B vorgetragen werden. Was die Versuchsteilnehmer(innen) nicht wissen: Unter den Vortragenden sind Mehrsprachige, die sie mithin zweimal hören und entsprechend zweimal einschätzen, einmal nach Hören von Sprache A, einmal nach Sprache B. Anhand dieser Einschätzungsaufgabe lassen sich Einstellungen gegenüber bestimmten Sprachgemeinschaften sehr einfach elizitieren. Die in der Vergangenheit auch von sprachwissenschaftlicher Seite vorgebrachte Besorgnis um eine durch Mehrsprachigkeit begünstigte oder verursachte Identitätsverwirrung und fehlende politische Loyalität (vgl. nochmals Weisgerber 1966), die der Nationalsprachenideologie des 18. und 19. Jahr- Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 77 hunderts geschuldet ist (vgl. Bär 2004, Eichinger/ Plewnia (Hg.) 2008, Gardt 2000), hat zwar heute in der Fachwissenschaft keinen Rückhalt mehr, ist aber in der öffentlichen Diskussion in Deutschland noch sehr virulent und spielt auch in anderen Ländern immer noch eine wichtige Rolle, z.B. bei der English Only-Bewegung in den USA (vgl. Hayakawa 1992, Judd 1992). Identität ist weder etwas ein für alle Male Fixiertes, noch spricht etwas gegen eine Verbundenheit mit mehreren Gruppen, unabhängig davon, ob es sich bei Letzteren um Sprecher und Sprecherinnen unterschiedlicher Sprachen oder um kurzlebige Interessensgemeinschaften handelt, z.B. um Subkulturen oder Jugendgruppen, die sich durch bestimmte sprachliche Stile auszeichnen (vgl. Keim i.d.Bd., Androutsopoulos 2001, Rampton 2005). Mittlerweile beanspruchen viele junge Menschen mit Migrationshintergrund für sich bewusst und zunehmend selbstbewusst eine hybride Identität, die in der Sprachproduktion auch in der Verwendung von Mischäußerungen ihren Niederschlag finden kann (vgl. Hinnenkamp/ Meng (Hg.) 2005, Keim 2007, Keim i.d.Bd.). Das damit einhergehende Selbstbewusstsein zeigt sich beispielsweise in dem folgenden Zitat einer jungen türkischstämmigen Frau (aus Keim/ Tracy 2007, S. 131), die sich hier zu ihrer Sprache, der „Mischsprache“ bekennt, deren Beherrschung sie auch von einem künftigen Lebenspartner erwartet. Der Asterisk in der Verschriftung steht für eine kurze Pause. (1) isch könnte nie einen Mann lieben wenn er meine Sprache nischt kann * die Mischsprache * einen Türken nich und auch keinen Deutschen * isch könnte nie zu einem sagen *ich liebe dich* das klingt so hart * aber seni seviyorum klingt schön Wie Keim (i.d.Bd., 2007) zeigt, können Mischvarietäten, Dialekt und standardnahe Formen durchaus nebeneinander existieren und sich funktional ergänzen. In Kapitel 3 werde ich anhand des deutsch-englischen Sprachkontakts bei erwachsenen Migrantinnen verdeutlichen, wie individuelle Mehrsprachigkeit dem Einzelnen erlaubt, mehreren Stimmen und Stimmungen gleichzeitig Ausdruck zu verleihen. Während die Sprachwissenschaft der letzten Jahrzehnte die Kompetenz hervorgehoben hat, die der Sprachmischung bilingualer Sprecher zugrundeliegt (vgl. Auer (Hg.) 1998, Bullock/ Toribio (Hg.) 2009, Clyne 2003, Gardner-Chloros 2009, Keim i.d.Bd., Muysken 2000, Myers-Scotton 2006, Tracy/ Lattey 2010), weist die Reaktion von Nichtexpert(inn)en auf ein interessantes Paradox hin: Auch wer Mehrsprachigkeit prinzipiell befürwortet, mag im Grunde immer noch erwarten, dass sich bilinguale Menschen möglichst monolingual verhalten, also so, als ob sie Rosemarie Tracy 78 eigentlich doch nicht bilingual wären bzw. als ob sie mehrere, völlig isoliert voneinander existierende Monolinguale in sich vereinten (vgl. die Kritik in Grosjean 2008, Kap. 2). 2.4 Eigentlich selbst nur eine Fiktion: Sprache Sprachen sind fiktive Objekte, keine realen, die irgendwo en bloc in unserem Gehirn ein Eigenleben führen. Sie existieren nur gedacht - im Sinne der abstrakten Objekte von Poppers „Dritter Welt“ (1979) - und lassen sich nicht unverändert aus der Hand einer Vorgängergeneration übernehmen und gleich einem Erbstück unversehrt an die eigenen Kinder weitergeben. Realität hingegen sind individuelle Kenntnissysteme, die das ausmachen, was man gemeinhin als Kompetenz bezeichnet. Chomsky (1986, S. 25) spricht hier von internalisierter Sprache, I-Sprache. Dazu gehören das mentale Lexikon sowie Regeln und Konstruktionsmuster für die Bildung und Interpretation von Wörtern und Sätzen. Das Gros dieser Kompetenzen ist beobachtungsfern, d.h. von der Aussprache abgesehen lassen sich Grade der Beherrschung oder der Annäherung an eine zielsprachliche Grammatik nicht durch einfaches Hinschauen bzw. Zuhören feststellen. Sprachliche Wissenssysteme verändern sich nicht nur an der Schnittstelle zwischen Generationen, weil etwa eine nachfolgende Generation bestimmte Strukturen anders interpretiert, analysiert und rekonstruiert (vgl. Lightfoot 1999, Yang 2009), sie wandeln sich auch durch den Kontakt mit anderen Sprachen. Dies zeigt sich eindrücklich an den Veränderungen der von Zuwanderern gesprochenen Herkunftssprachen, den so genannten Heritage-Sprachen (vgl. Polinsky/ Kagan 2007, Backus 1996). Durch den intensiven Kontakt mit Majoritäts- und anderen Minoritätssprachen sowie den Rückgang von Verwendungsgelegenheiten kommt es im Laufe der Jahre außerdem zu nicht-pathologischen Attritionserscheinungen, unter anderem zu einem verlangsamten Zugriff auf das Lexikon der Erstsprache und einem allmählichen Abbau von Teilsystemen (vgl. Schmid 2002, Köpke et al. 2004, Tsimpli et al. (Hg.) 2004, Münch 2006, Stolberg/ Tracy 2008, Stolberg/ Münch 2010). Diese natürliche Folge von Migration und Sprachkontakt hat möglicherweise erhebliche Konsequenzen für das Selbstverständnis und die Selbstwahrnehmung der Betroffenen, und zwar insbesondere dann, wenn sie selbst mehr oder weniger explizit die Vorstellung eines engen Zusammenhangs von Erstsprache und Identität verinnerlicht haben. Verständlicherweise empfinden es Familien mit Migrationsbiografie oft als selbstverschuldetes Versagen, wenn sie im Grunde nicht länger die Sprache(n) Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 79 ihres Herkunftslandes sprechen, und sie fragen sich, ob sie überhaupt noch in der Lage sind, ihren Kindern ein Modell der Herkunftssprache anzubieten. 3 Bei Besuchen im Herkunftsland kommt es aber nicht nur zu Problemen, weil sich die sprachlichen Systeme der Ausgewanderten und ihrer Kinder verändert haben. Sprachliche Differenzen ergeben sich auch, weil die Sprachen der Herkunftsländer ebenfalls nicht im Stillstand verharren. 4 Hier ist gute Informationspolitik gefragt und zwingend notwendig: Sowohl Familien mit Migrationshintergrund als auch Repräsentant(inn)en der Majoritätsgesellschaft, und darunter insbesondere Vertreter(innen) von Bildungssystemen, sollte bewusst sein, dass der individuelle Sprachwandel kein Makel ist und nicht bedeutet, dass Betroffene „halbsprachig“ sind, nur weil sich Ausgangssprache und Heritage-Varietät aufgrund der räumlichen Trennung unabhängig voneinander weiterentwickelt haben. Genau genommen sind wir aufgrund des beständigen Sprachwandels und der zunehmenden Mobilität des Einzelnen in modernen Gesellschaften alle mehr oder weniger Sprecher(innen) von Heritage-Sprachen. 2.5 Fiktionen im Kontext der Sprachförderung Bei der Diskussion um die sprachlichen Defizite von Kindern mit Migrationshintergrund ist seit Jahren immer wieder davon die Rede, dass man „die Eltern ins Boot holen“ muss. Wenn damit gemeint ist, dass Familien im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu beitragen sollten, den Bildungsweg ihrer Kinder unterstützend zu begleiten, so kann man dem nur beipflichten. Ist damit hingegen gemeint, dass Eltern, die das Deutsche nur bruchstückhaft beherrschen, mit ihren Kindern Deutsch sprechen sollten, so wäre dies eine Verkennung dessen, was Kinder für den zügigen Erwerb des Deutschen und insbesondere als Voraussetzung für den Ausbau bildungssprachlicher Kompetenzen benötigen: nämlich kompetente Vorbilder für ihre jeweiligen Zielsprachen. Dabei steht außer Frage, dass Erwachsene durch eigenes Deutschlernen Kindern ein gutes Beispiel für Lernbereitschaft schlechthin bieten und außerdem die Alltagsrelevanz des Deutschen als Umgebungssprache unterstreichen. 3 Diese Sorge wurde mir gegenüber anlässlich von Vorträgen und Weiterbildungsveranstaltungen der letzten Jahre häufig geäußert, und zwar sowohl von Eltern selbst als auch seitens von Erzieher(inne)n, Grundschullehrer(inne)n, Kinderärzt(inn)en und Logopäd(inn)en, die ihrerseits von Gesprächen mit Eltern berichteten. 4 Man bedenke, was dies für den „muttersprachlichen“ Unterricht bedeutet. Welche Variante der Herkunftssprache wäre in diesem Fall die geeignete Zielsprache? Man kann sich unschwer ausmalen, dass der so genannte muttersprachliche Unterricht für viele Kinder eher einem Fremdsprachenunterricht gleich käme. Rosemarie Tracy 80 Beides sollte sich positiv auf die Lernmotivation ihrer Kinder auswirken. Dennoch: Sofern Eltern nicht schon zur Zeit der Geburt ihrer Kinder über gute Deutschkenntnisse verfügen, können sie sich diese mit Sicherheit nicht schnell genug und vor allem nicht hinreichend variationsreich und differenziert aneignen, um ihre Kinder auf bildungssprachliche Leistungsanforderungen vorzubereiten (vgl. auch Tracy 2008). Eltern können andererseits natürlich dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder möglichst früh und regelmäßig eine Kindertagesstätte besuchen. Des Weiteren können Eltern ihren Kindern bei der Aneignung von Weltwissen helfen und generell ihre Neugier und ihre Lust am Lernen erhalten. Eben dies sollten Zuwandererfamilien in den Sprachen tun, die sie selbst sicher beherrschen und in denen sie ihren Kindern den für den Erstspracherwerb benötigten komplexen, authentischen Input anbieten können. Was den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache und insbesondere bildungssprachliche Varietäten angeht, ist in erster Linie das Bildungssystem gefordert, Kindern das benötigte sprachliche Angebot zu unterbreiten, das sie für einen möglichst zügigen Erwerb eines umfangreichen Lexikons und der zielsprachlichen Grammatik benötigen. Eine Beschränkung auf Satzfragmente („Alle mal herhören! “, „Schuhe anziehen vorm Rausgehen! “ etc.), die für den Kita-Alltag und die Kommunikation mit großen Kindergruppen typisch sind, bietet Kindern keine ausreichende Informationsbasis. Auch eine so genannte „ganzheitliche“ Förderung in den Kitas, so gut sie gemeint ist, ist keine Garantie, dass Kindern hinreichend komplexer verbaler Input zur Verfügung steht. Für viele Erwerbsaufgaben und sprachliche Details ergeben sich nämlich die relevanten Erfahrungskontexte nicht „von alleine“ oder gar zufällig. Bekannte Erwerbshürden sollten daher von entsprechend geschultem Personal gezielt - und dies steht keineswegs im Gegensatz zu „ spielerisch“ angegangen werden (vgl. Tracy/ Lemke (Hg.) 2009). Erzieher(innen) müssen nicht nur in der Lage sein, durch intensive sprachliche Interaktion Kindern den für den Spracherwerb benötigten Input zu liefern. Laut aktueller Bildungs- und Orientierungspläne gehört in ihre Verantwortung auch die „Wahrnehmung, Beobachtung und regelmäßige Dokumentation des Entwicklungsstandes bzw. der Entwicklungsfortschritte jedes Kindes“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2007, S. 47). Diese Anforderungen sind nicht trivial und setzen theoretische Grundlagen voraus, ohne die man nicht einmal wüsste, worauf man beim Beobachten seine Aufmerksamkeit richten sollte (vgl. Schulz/ Tracy/ Wenzel 2008; Tracy 2008, 2009; Schulz/ Tracy 2011; Hopp/ Thoma/ Tracy 2010). Berechtigt ist auch die Frage, ob angesichts der in der Praxis vorherrschenden Bedingungen überhaupt eine Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 81 individuelle Einschätzung von Förderbedarf und Entwicklungsfortschritten sowie eine individuelle Förderung realisierbar sind. Wie kann man angesichts von personellen, zeitlichen und oft räumlichen Einschränkungen kommunikative Situationen erzeugen, in denen erwachsene und kindliche Gesprächspartner(innen) tatsächlich ins Gespräch kommen, also ein Thema über mehr als eine knappe Abfolge von Frage und Antwort hinaus verfolgen? Wohlmeinende Förderbemühungen scheitern oft bereits an der Unmöglichkeit, einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herzustellen und über mehrere Redebeiträge (so genannte Turns) hinweg zu erhalten. Dies bedeutet, dass für eine individuelle Ansprache und für authentische, alltagsrelevante Dialoge mit Kindern fachlich gut qualifizierte und kommunikativ kompetente Fachkräfte sowie angemessene Rahmenbedingungen zur Verfügung stehen müssen, wenn Förderung nicht nur Vision (oder Fiktion) bleiben soll. In der Hoffnung, bis zum Schulbeginn wichtige Lücken schließen zu können, haben viele Initiativen auf die Förderung von Kindern im letzten Vorschuljahr gesetzt. Erste Wirksamkeitsstudien zeigen allerdings deutlich, dass diese Rechnung nicht aufgeht (vgl. beispielsweise die Homepage der Baden-Württemberg Stiftung www.bwstiftung.de ). Ungeachtet der methodischen Probleme, die zu einer Kritik an der Evaluation selbst führten (vgl. Tracy i.Vorb.), sprechen die Ergebnisse in vieler Hinsicht eine deutliche Sprache: Die Fördermaßnahmen beginnen zu spät, sind aufgrund von Fehlzeiten nicht verlässlich, der insgesamt für die Förderung zur Verfügung stehende Zeitraum ist zu kurz, und die Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte erweist sich trotz offenkundiger Bemühungen als verbesserungsbedürftig (vgl. Hofmann et al. 2008, Gasteiger-Klicpera/ Knapp/ Kucharz 2010). Ein besonders fataler Irrtum besteht in der Annahme, dass man Kinder mit Deutsch als Zweitsprache innerhalb eines knapp bemessenen Förderzeitraums gleich in vielen sprachlichen Bereichen, u.a. solchen, die sich durch ein hohes Maß an Idiosynkrasie auszeichnen (u.a. Wortschatz, Wortbildung), auf ein muttersprachliches Niveau bringen könnte. Kein Lehrer/ keine Lehrerin schulischer Fremdsprachen käme auf die Idee, die Leistungen von Schüler(inne)n nach einem Unterrichtsjahr an denen gleichaltriger Kinder oder Jugendlicher in England oder Frankreich zu messen. Fairerweise würden sich Lehrkräfte bei der Bewertung von Entwicklungsfortschritten in der Fremdsprache an dem orientieren, was im Unterricht oder in Lehrbüchern behandelt wurde. In der öffentlichen Diskussion um die Sprachförderung wurden Erwartungen geweckt, die angesichts der Bedingungen „im Feld“ und der Einschränkung der Förderdauer unrealistisch waren. Nicht zuletzt muss bedacht werden, dass die Rosemarie Tracy 82 für die Messung von Effekten eingesetzten Verfahren für monolinguale Populationen entwickelt und normiert wurden und sich von daher für den Einsatz beim Zweitspracherwerb nur sehr bedingt eignen (vgl. Schulz/ Tracy/ Wenzel 2008, Schulz/ Kersten/ Kleissendorf 2009). 3. Mehrsprachige Realität: Konkurrenz und Kooperation, Kooperation dank Konkurrenz Mehrsprachigkeit ist - wie bereits betont wurde - nicht mit völlig ausgewogenen, in beiden/ allen Sprachen gleichermaßen differenzierten lexikalischen und stilistischen Repertoires gleichzusetzen. Allerdings kann man im Fall regelmäßig verwendeter Sprachen von beträchtlichem Koaktivierungspotenzial und wechselseitigem Priming ausgehen (vgl. Clyne 2003, Green 2000, Grosjean 2008). Lexeme und Satzbaupläne beider/ aller Sprachen sind prinzipiell „einsatzbereit“ und können auch mehr oder weniger intensiv und bemerkenswert flüssig gemischt werden. Mittlerweile belegen unzählige Studien, dass Mischäußerungen weder in formaler noch in funktionaler Hinsicht chaotisch sind (vgl. Auer (Hg.) 1998, Bullock/ Toribio (Hg.) 2009, Gardner- Chloros 2009, Muysken 2000, Hinnenkamp/ Meng (Hg.) 2005, Myers-Scotton 2006). Ziel des folgenden Abschnitts ist es, diese Systematik anhand ausgewählter deutsch-englischer Fallbeispiele zu illustrieren. Die Daten stammen aus einem Forschungsprojekt 5 mit Amerikaner(inne)n deutscher Herkunft in den USA , die mehrere Jahre lang regelmäßig unter variierenden Bedingungen aufgenommen wurden. Im Zentrum der Studie standen funktionale und formale Eigenschaften von mündlichen und schriftlichen Kontaktphänomenen sowie die Identifikation individueller Sprecherprofile (vgl. Lattey/ Tracy 2001, Münch 2006, Stolberg/ Tracy 2008, Stolberg/ Münch 2010, Tracy/ Lattey 2010). Bei den beiden Projektteilnehmerinnen, die im Folgenden zitiert werden, handelt es sich um Schwestern - 80 und 84 Jahre alt -, die im Alter von 14 bzw. 19 Jahren mit ihren Eltern von München nach New York auswanderten. Beide sind seit vielen Jahren verwitwet und leben mittlerweile in unterschiedlichen Städten Floridas. Sie pflegen Freundschaften mit ihren amerikanischen Nachbar(inne)n und verfügen auch über deutschstämmige Freundeskreise, mit denen sie sich regelmäßig treffen. Mit ihren Kindern und Enkeln sprechen sie 5 Es handelt sich um das von Elsa Lattey (Tübingen) und mir geleitete DFG -Projekt „Codeswitching, Crossover & Co.“, einem Teilprojekt der Mannheimer Forschergruppe „Sprachvariation und kommunikative Praxis“; vgl. auch Tracy (2006). Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 83 ausschließlich Englisch. Sie halten telefonisch Kontakt zu Verwandten in Bayern, waren aber seit gut 20 Jahren nicht mehr in Deutschland. In Situationen, in denen wir sie beim Gespräch mit monolingualen Deutsch oder Englisch sprechenden Freunden und Familienmitgliedern aufnehmen konnten (u.a. am Telefon), verschwanden Mischungen weitestgehend. Dies unterstreicht, wie gut sie ihren eigenen Output kontrollieren können. Besonders typisch für den deutsch-englischen Sprachkontakt sind Mischäußerungen, in denen Kognate oder mindestens phonologisch ähnliche Lexeme beider Sprachen nicht nur koaktiviert sind, sondern auch overt rivalisieren, vgl. (2) - (4), produziert von der 84-jährigen TG . 6 (2) So life was verywe wir sagn „bunt“, ne? Leipziger Allerlei, that′s what it was (3) [...] dann denk ich oft, we-when people complain, was wir alles ham (4) I was hoffing äh hoffing äh hoping In (2) konkurrieren ein formal ähnliches englisches und ein deutsches pronominales Subjekt (we/ wir), in (3) verwandte Komplementierer (wenn/ when). In (4) wurde ein deutscher Verbstamm in einen englischen Satz integriert aus Sicht der Sprecherin offensichtlich ein Versprecher und nicht einfach nur eine Entlehnung, da die Verbform von ihr im dritten Anlauf repariert wird. Andere Mischformen zeigen eher das kooperative Potenzial mehrsprachiger Ressourcen. In (5) - (6) sieht man, dass der Sprachwechsel mit bestimmten Diskursfunktionen und spezifischen Zügen des Argumentationsgangs einhergeht. Bei beiden korreliert der Wechsel vom Deutschen ins Englische mit einer Abfolge von Rahmenstruktur, gebildet durch Matrixsätze mit Verben des Sagens/ Denkens, und direkter oder indirekter Redewiedergabe. In (5) berichtet die 80-jährige KL , TG s jüngere Schwester, empört von einer Unterhaltung mit ihrem Sohn, der den Wunsch geäußert hatte, sie möge nicht mehr selbst Auto fahren. In diesem Fall kann man übrigens sicher sein, dass das ursprüngliche Gespräch auf Englisch stattgefunden hat, weil keiner der beiden Söhne KL s Deutsch spricht. (5) Aber ich hab gesagt, I go according to the way I feel, and if I feel well enough that I think I can do it, I will do it. Ich fahr doch schon äh seit neunzehnhundertzweiundfünfzig … 6 Soweit Zuordnungen möglich sind, werden englische Anteile kursiv wiedergegeben, der Rest recte. Ein Trennstrich „“ symbolisiert einen Abbruch. Sowohl deutsche als auch englische Verzögerungssignale werden undifferenziert durch äh/ ähm transkribiert. Satzzeichen dienen lediglich der Leseerleichterung. Rosemarie Tracy 84 In (6) schildert TG eine mehr als sechs Jahrzehnte zurückliegende, auf Deutsch geführte Unterhaltung mit der ebenfalls deutschstämmigen Frau ihres ersten Arbeitgebers in den USA , dem sie kurz zuvor ihre Kündigung eingereicht hatte. (6) ... dann hat sei Frau zu mir gesagt, why are you leaving us now? Da sog i, because I would like to laugh once in a while, und dann hats' g'sagt, well I'm here too an′ ich leb noch, hots' g'moant. Na hab ich g'sagt, well, gee ... TG wechselt hier nicht nur zwischen Englisch und Deutsch. Innerhalb der deutschen Passagen koexistieren außerdem Formen des Standarddeutschen (z.B. ich, hat, gesagt) und des Bairischen (i, hot, sog, g′sagt, na etc.). Im Grunde sind also mindestens drei Systeme in hohem Maße aktiviert und an der Re-Inszenierung des Dialogs beteiligt. (7) - (10), ebenfalls von TG produziert, illustrieren weitere diskurspragmatische Funktionen, die in der Forschung gut belegt sind (vgl. Auer (Hg.) 1998, Gardner-Chloros 2009, Romaine 1995, Myers-Scotton 2006). In (7) handelt es sich um eine Richtigstellung, wobei die deutsche Ellipse auch zwei eine englische Behauptung korrigiert. In (8) erfolgt eine Sachverhaltspräzisierung; in (9) - (10) werden Versprecher repariert, d.h. Vater wird durch Mann, Kaffeewagen durch Teewagen ersetzt; I mean liefert einen expliziten metalinguistischen Hinweis auf einen vorangegangen lexikalischen Fehlgriff. In (9) gibt uns die deutsche Frage wie hat′n des glei wieder ghoassn? und die Präzisierung des Suchbereichs (dieses Hotel ) explizite Hinweise darauf, dass TG nach dem richtigen Namen eines ganz bestimmten Hotels sucht. (7) I think we stayed two nights, and when we went to Amy, we stayed one night. No, auch zwei. (8) [...] when they came for dinner, they used to speak French, but anyhow, to Tante Ida and Doctor M., net zu mir, and äh it was, well, an adventure ... (9) Ihr Vater äh, I mean, ihr Mann und ihr Bruder, they were waiters in ähm the arlton, no ah, wie hat'n des glei wieder ghoassn, on Seventy-first, dieses Hotel, well, anyhow, ... (10) Und ich hab'n Kaffeetisch, I mean, a a an Teewagen. In (11) - (12) geht der Sprachwechsel mit der Ergänzung von Hintergrundinformation und Interpretationshilfen einher. In (11) wechselt TG allerdings nicht zum Zitieren ins Englische; vielmehr kann man (amüsiert) feststellen, dass sie ihrem aus Hamburg stammenden Arzt auf Bairisch realisierte Äußerungen in den Mund legt. (11) Und dann hot mei Doktor, der war von Hamburg, Doktor L., he was nice and I liked him very much. Der hot zu mir g'sogt, ‘Toni, du hast a deutsche Figur.’ Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 85 Na sog i, ‘Ja, und wie is die? ’ No hot er g'sogt, ‘Wenn der Kaiser zu Pferd war, hot er groß ausg'schaugt, und wenn er runterkomme is vom Pferd, dann war nix mehr von eam da.’ Because he had short legs, like me, you know? A long torso and very short legs. (12) [...] and ähm es war so schön da, und nebn dene hot die Elsa Maxwell g'wohnt, she was a gossip woman, you know Dass bilinguale Sprecher(innen) zwischen Versprechern wie in (4) und nicht als reparaturbedürftig wahrgenommenem Mischen unterscheiden, zeigt sich auch deutlich an der Episode in (13). TG schildert hier, wie sie und ihre Freunde in ihrer Münchner Kindheit die Eisstückchen, die von den Pferdewagen der Eishändler inmitten des Pferdedrecks auf die Straße fielen, aufsammelten und lutschten. (13) [...] die Pferde ham auf'n Boden g'macht, gell, und ab und zu hams' aa a paar Stickel Eis fallen lassen, und wir Kinder ham das aufklaabt und ham's g'lutscht weil des gut war im Sommer, und na hat mei Großmutter g'sagt äh, geh rauf und nimm a Schaufe un en Besen und tu mer de Rossboin raufbringe, die brauch ich für meine Fuchsien am Balkon. Na hob i. Daneben san die Eisstickeln g'legen wo mir g'spieg'lutscht ham. Today you would say, „Oh, this is so unsanitary.“ Im vorletzten Satz wird das irrtümlich begonnene gespielt zu gelutscht korrigiert, während der darauf folgende Wechsel ins Englische, der mit einer Kontrastierung von früheren und gegenwärtigen Hygienevorstellungen korreliert (Today you would say ...), von ihr offensichtlich in keiner Weise als störend empfunden wird. Über den inter-sentenzialen Sprachwechsel hinaus, den die meisten der bisherigen Beispiele exemplifizieren, finden sich auch komplexere intra-sentenziale Mischungen. In (14) sehen wir eine im Grunde englische Struktur, die zum Teil mit deutschem Wortschatz realisiert wurde. In (15) haben wir es mit dem komplementären Fall zu tun: Hier entspricht die Gesamtstruktur einem deutschen Verbzweit-Hauptsatz. 7 (14) [...] und scheinbar die Mutter wasn′t a good housekeeper because die war des von dahoam net g'wöhnt, dass man'n Boden putzen muss (15) [...] and then the next morning hob i mer denkt [...] 7 In der Theorie Muyskens (2000) handelt es sich hier um Fälle einer verzögerten Lexikalisierung („delayed lexicalization“). In der traditionellen Sprachkontaktforschung spricht man von Lehnübersetzung oder Calquing (vgl. auch Backus/ Dorlijn 2009). Rosemarie Tracy 86 Dieses intra-sentenziale Mischen tritt in Sätzen auf, in denen das Deutsche und das Englische keine parallelen Satzmuster aufweisen, d.h. es verletzt die grammatischen Regeln mindestens einer der beiden Sprachen. Eben dies macht diese Strukturen für die Sprachwissenschaft natürlich besonders interessant: Sprecher(innen) „suspendieren“ gewissermaßen problemlos, d.h. ohne Abbrüche oder Hesitationsphänomene, grammatische Wohlgeformtheitsbedingungen. Darüber hinaus zeichnen sich bei beiden Sprecherinnen bereits Tendenzen in Richtung eines individuellen Sprachwandels ab. So verwendet TG unter dem Einfluss des englischen when recht häufig das deutsch klingende wenn auch dann, wenn im Standarddeutschen als bzw. bairisch wie verlangt würde, vgl. (16) - (17). (16) And I went to school in Switzerland because they invited me äh years ago, you know. Wenn ich zwölf Jahr alt war, bin ich wieder nach Deutschland zurück in die Schul. (17) I remember wenn der Hitder Hindenburg gestorben is. In (17), wie schon zuvor in (13), wird ein Substitutionsversprecher (Hitler statt Hindenburg) nach nur einer Silbe gestoppt und repariert, während die aus zielsprachlicher Sicht abweichende Verwendung von wenn nicht korrigiert wird. Letzteres belegt, dass die Konvergenz von wenn/ when von TG bereits als normal empfunden wird. Besonders bemerkenswert ist die Reibungslosigkeit, mit der sich der Übergang von einer Sprache in die andere in den meisten Fällen vollzieht. Insgesamt lassen sich in den gemischten Äußerungen sämtlicher Sprecher(innen), in deren Daten wir gefüllte (z.B. durch äh) und ungefüllte Pausen quantifiziert haben, deutlich weniger Reparaturen und Verzögerungen nachweisen als in den monolingualen Passagen der gleichen Personen. Dies stützt die Annahme, dass der Sprachwechsel geradezu dazu beiträgt, den Redefluss aufrecht zu erhalten (vgl. Ehinger 2003, Tracy/ Lattey 2010). Verzögerungssignale und Reformulierungen finden sich eher dann, wenn sich Sprecher(innen) auf die Verwendung einer ihrer Sprachen beschränken und die jeweils andere unterdrücken müssen. In Situationen, in denen koaktivierte Formen und Satzbaupläne ungehindert miteinander rivalisieren dürfen, also in der Gegenwart anderer mehrsprachiger Menschen, entfaltet sich hingegen das kooperative Potenzial dieser Koaktivierung. Daher enthält die Überschrift dieses Kapitels, „Kooperation durch Konkurrenz“, keinen Widerspruch. In einem weiteren Schritt wäre nun zu fragen, ob es Evidenz für eine vergleichbar kompetente Performanz in der Kindheit gibt. Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 87 4. Mehrsprachig von Anfang an 8 Der doppelte Erstspracherwerb, bei dem Kinder von Geburt an von ihren Bezugspersonen in mehr als einer Sprache angesprochen werden, 9 eröffnet uns eine besonders privilegierte Gelegenheit, um zu erforschen, wie früh und wie systematisch bilinguale Kinder Sprachen trennen und ihre Sprachwahl kontrollieren können. Entgegen früheren Annahmen (z.B. Volterra/ Taeschner 1978) belegen qualitative und quantitative Untersuchungen, dass Kinder im Laufe der ersten beiden Lebensjahre in der Lage sind, Sprachen auf verschiedenen Ebenen des Systems (Phonologie, Morphosyntax, Semantik) zu unterscheiden und im Alter von zwei bis drei Jahren sprachlich differenziert auf unterschiedliche Gesprächspartner reagieren (vgl. Cenoz/ Genesee 2001; de Houwer 1990; Döpke (Hg.) 2000; Genesee/ Nicoladis/ Paradis 1995; Genesee/ Nicoladis 2007; Hulk/ Cornips 2006; Lanza 1997; Lleó (Hg.) 2006; Meisel 1989, 2004, 2007; Müller et al. 2007; Müller/ Cantone 2009; Bosch/ Sebastián-Gallés 2001; Quay 1995). Kinder, die Deutsch und Englisch als simultane Erstsprachen erwerben, zeigen uns bereits anhand der Platzierung nicht-finiter Verben in ihren Zwei- und Mehrwortäußerungen im Alter von 18 bis 24 Monaten, dass sie den formalen Kontrast zwischen deutschen und englischen Verbalphrasen kennen (vgl. Gawlitzek-Maiwald/ Tracy 1996; Tracy/ Gawlitzek-Maiwald 2000, 2005). In ihren englischen Äußerungen geht der verbale Kopf relativ konsistent seinem Komplement voraus, im Deutschen folgt er ihm, wie in den folgenden Äußerungen eines bilingualen Kindes, Hannah, die am gleichen Tag in Gesprächen mit unterschiedlichen Gesprächspartnern aufgenommen wurden (vgl. auch Tracy 2007, 2008). 10 (18) Hannah (2; 2) (a) H. steckt ein Messer in eine Tasse, will Mutter darauf aufmerksam machen. Mami, put də knife in cup Vokativ, Verb+Objekt (b) H. nimmt ein Buch auf. ich das lesen Subjekt+Objekt+Verb 8 Diese Daten wurden in dem Projekt „Erwerb der komplexen Syntax“ erhoben, einem Projekt des DFG -Schwerpunktprogramms „Spracherwerb“. Das Projekt verglich den Erwerb von Nebensätzen bei monolingualen deutschsprachigen und bei bilingualen deutsch- und englischsprachigen Kindern. 9 Z.B. nach dem Partnerprinzip, wobei die Kinder von Vater und Mutter oder sonstigen Bezugspersonen in unterschiedlichen Sprachen angesprochen werden. Vgl. den Überblick über familiäre Sprachpolitik in Romaine (1995), Tracy/ Gawlitzek-Maiwald (2000), Tracy (2008). 10 Die Zahlen in Klammern geben das Alter der Kinder in Jahren und Monaten an, i.e. (2; 2) entspricht einem Alter von 2 Jahren und 2 Monaten. Rosemarie Tracy 88 In der Episode in (19) produziert Hannah eine Reihe von Äußerungen, in deren Verlauf sie eine ihr selbst suspekt erscheinende Struktur schrittweise modifiziert. (19) Hannah (2; 2) versucht vergeblich, eine Puppe in einem Spielzeugbuggy festzuschnallen. Schließlich wendet sie sich mit einer expliziten Aufforderung an ihre Mutter, die sich in dieser ganzen Sequenz im Hintergrund hält. (a) die dolly einstræppen (b) die dolly eintræp (c) das einstra: p in ... die puppe (d) die einstra: p in ... die dolly (e) die Mama helf mir tæp it in (f) Mama tæp it in ... die dolly (19a) folgt der kanonischen Struktur einer deutschen Verbalphrase, vergleichbar (18b) oben. In (19b) eliminiert Hannah zunächst das deutsche Infinitivsuffix -en. In (c) und (d) tritt mit der Partikel in eine semantische Entsprechung des deutschen Präfixes einin Erscheinung. In (c) und (d) wird mit dem Nachtrag die puppe/ die dolly die Referenz des deutschen präverbalen pronominalen Objekts (das/ die) verdeutlicht, aber erst in (e) und (f) wird das direkte Objekt (it) in der für ein englisches Komplement typischen Position nach dem Verb realisiert, dafür verschwindet das deutsche direkte Objekt. In (f) ist die Sprecherin bei einer englischen Struktur angekommen (abgesehen von die im Nachtrag). Die Abfolge von Reparaturbemühungen verdeutlicht, dass Hannah - natürlich implizit - ‘weiß’, wie sich deutsche und englische Verbalphrasen syntaktisch und morphologisch unterscheiden und wie sich ein beliebiges Verb und seine Argumente morphologisch und syntaktisch an die beiden zielsprachlichen Systeme anpassen lassen. Hannahs einzige echte Unsicherheit besteht bezüglich der lexikalischen Verortung von strap. Interessant ist auch, dass sie diese Reparaturen selbst initiiert, d.h. dass diese nicht erst durch Reaktionen der Mutter hervorgerufen werden. Ihr eigenes metasprachliches Kontrollsystem signalisiert ihr offensichtlich, dass hier etwas „nicht stimmt“, und sie macht sich daran, dieses Problem zu lösen. Die Sprachentrennung auf der Ebene der grammatischen Repräsentation wird weiterhin dadurch belegt, dass sich die beteiligten Systeme nicht immer im Gleichschritt entwickeln, d.h. es kann zu mehr oder weniger ausgeprägten asynchronen Entwicklungen kommen (vgl. Bernardini/ Schlyter 2004, Gawlitzek-Maiwald/ Tracy 1996, Genesee/ Nicoladis/ Paradis 1995, Müller et al. 2007, Hulk/ Cornips 2006). So ist es beispielsweise durchaus möglich, dass Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 89 Kinder im Deutschen bereits finite Hauptsätze produzieren (z.B. ich geh mal rein da), während in ihren englischen Äußerungen noch keine Belege für Hilfsverben, Modalverben und Finitheit zu finden sind (vgl. mama picking flowers inə forest). Asynchronien liefern der Forschung wertvolle Hinweise dahingehend, was aus Lernersicht in einer der beteiligten Sprachen trotz prinzipiell verfügbaren Inputs leichter oder schwerer erschließbar sein könnte (vgl. bereits Slobin 1973, Tracy/ Gawlitzek-Maiwald 2005). Diese Asynchronie zeigt sich auf höchst interessante Weise in Hannahs Mischäußerungen, in denen mehrere Monate lang nur deutsche Hilfs-und Modalverben in Strukturschichten oberhalb bzw. links der VP auftreten, vgl. (20). (20a) 2; 4 Kannst du move a bit? (b) 2; 6 Soll ich hit it? (c) 2; 7 Sie haben gone away. Aus theoretischer Sicht sind Mischäußerungen auch deshalb besonders interessant und rätselhaft, weil Kindern diese Strukturen kaum im Input begegnet sein dürften, vgl. (21). Sie liefern uns auch deutliche Evidenz für lexem-unabhängige Strukturformate. (21a) Mutter: Esther always goes barefoot, doesn′t she? Hannah 2; 7 Aber ich sag, Esther du cutst dein toe. (b) Svenja hat mich gechased, and then I chased her. Hier zeigt sich, wie schon in (19), wenngleich nun in einem fortgeschritteneren Entwicklungsstadium, die anscheinend mühelose Anpassung von Lexemen an die morphosyntaktischen Anforderungen der einen oder anderen Sprache. Dieses spielerische Anpassen von Elementen einer Sprache an die andere lässt sich auch anhand von (22) illustrieren. Die Episode stammt aus einer Aufnahme mit den Geschwistern Laura und Adam, die von Geburt an mit Deutsch und Englisch als doppelten Erstsprachen aufwachsen (vgl. auch Gawlitzek- Maiwald 1997). (22) Adam (5; 5) und eine erwachsene Gesprächspartnerin unterhalten sich auf Englisch, als seine Schwester Laura (3; 2) ins Zimmer kommt. L. hüpft durch's Zimmer und singt. Telefon, Rotzkanon, Telefon, Rotzkanon ... Erwachsene fragt Adam What′s that in English? A. We don′t say [roudzkənəun] in English Rosemarie Tracy 90 Anstatt zu versuchen, die Äußerung Lauras ins Englische zu übersetzen, passt Adam das deutsche Wort „Rotzkanon“ lediglich der englischen Phonologie an. Allein diese wenigen Beispiele lassen erkennen, wie souverän Kinder mit ihren sprachlichen Ressourcen umgehen und wie sie dabei - dies belegen vielfältige Selbstreparaturen - geradezu Sinn für Perfektionismus entwickeln. Letzteres zeigt sich auch in expliziten metasprachlichen Kommentaren über die Sprachwahl anderer, vgl. (23) von Hannah (vgl. weitere Beispiele in Tracy 2008). (23) Mutter: In the Kita they call it ‘Frühstück’, don't they? H. (2; 9) Und du heißt das ‘breakfast’. Im gleichen Alter findet man auch die strategische Nutzung beider Sprachen im Sinne des Code-Switching, wie wir es bei den Erwachsenen in Kapitel 3 sehen konnten, vgl. (24). (24) Hannah beim Rollenspiel mit zwei Puppen, die sie mehrfach vergeblich in ein zu kleines Spielzeugauto zu quetschen versucht: I'm trying again, oh geht's nicht, now try again, oh geht auch nicht …. Kinder sind nicht nur sehr effiziente und systematische Lerner; sie können auch früh mit der Koexistenz von Sprachen und dem damit einhergehenden Wettbewerb und Kooperationspotenzial umgehen, und zwar sowohl zur temporären Entlastung der „schwächeren“ oder langsameren Sprache, als auch, um das mit der Mehrsprachigkeit einhergehende mehrstimmige Potenzial auszuschöpfen. Wir wissen mittlerweile auch, dass sich Kinder mit unterschiedlichen Erstsprachen, die im Alter von drei bis vier Jahren zum ersten Mal mit dem Eintritt in eine Kindertagesstätte intensiv mit der deutschen Sprache in Kontakt kommen, im Laufe von ein bis zwei Jahren manche Kinder noch schneller die Grundstrukturen der deutschen Grammatik erschließen können. Sie durchlaufen für die Verbstellung und die Subjekt-Verb-Kongruenz im Wesentlichen die Phasen, die wir auch vom Erwerb des Deutschen als Erstsprache kennen (vgl. Rothweiler 2006, 2007; Schulz/ Tracy/ Wenzel 2008; Schulz/ Tracy 2011; Thoma/ Tracy 2006; Tracy 2007, 2008; Tracy/ Thoma 2009). Je nachdem, wie Erst- und Zweitsprache kontrastieren, können sich in Teilbereichen die für den doppelten Erstspracherwerb angenommenen Bootstrapping-Effekte (vgl. Gawlitzek-Maiwald/ Tracy 1996, Müller et al. 2007) einstellen (vgl. Bryant 2010, Haberzettl 2005). Generell kann man festhalten, dass der kindliche Spracherwerb unter günstigen Erwerbsbedingungen ein Selbstläufer ist. Dies bedeutet aber nicht, dass Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 91 Kinder alle Sprachen, denen sie in der Kindheit ausgesetzt sind, ihr Leben lang beibehalten oder bis zum Erreichen einer muttersprachlichen Kompetenz ausbauen. Wie bereits in Kapitel 2 und 3 angesprochen wurde: Auch früh und einmal gut beherrschte Sprachen können unter der Konkurrenz alternativer Systeme und bei Mangel an Verwendungsmöglichkeiten deaktiviert werden und anscheinend sogar völlig in Vergessenheit geraten (vgl. die Adoptionsstudien von Pallier 2004). 5. Abschließende Vision: Sprachliche Bildung für die Wissensgesellschaft Sprachliche und kommunikative Kompetenzen sind wichtige Pfeiler einer modernen Wissensgesellschaft. Daher kann der Mangel an explizitem Wissen über das Erwerbsziel (die Grammatik des Deutschen) sowie über die Fähigkeiten ein- und mehrsprachiger Kinder und Erwachsener nur überraschen. Mehr als zehn Jahre nach den ersten vergleichenden Bildungsstudien muss man sich immer noch fragen, wie gut unsere vorschulischen und schulischen Einrichtungen auf die Kompetenzen und Ressourcen vorbereitet sind, die Kinder im Prinzip mit sich bringen. Wie also könnte man Schulen in einen symbolischen Markt verwandeln, auf dem die über den traditionellen Kanon der Schulfremdsprachen hinausgehenden sprachlichen Ressourcen Anerkennung finden und sich ausbauen lassen? 11 Bei den im Folgenden kurz angesprochenen Optionen gehe ich nicht auf bereits existierende Unterrichtsformen ein, in denen anerkannten Schulfremdsprachen mehr Raum gegeben wird, wie z.B. in bilingualen Schulmodellen, im bilingualen Sachfachunterricht und beim frühen Fremdsprachenunterricht in der Grundschule (vgl. Pienemann/ Keßler/ Roos 2005, Decke-Cornill/ Küster 2010). Vielmehr beschränke ich mich auf den potenziellen Vorteil eines Grundlagenfaches „Sprache und Kommunikation“ und auf die Notwendigkeit, die Bewertung schulischer Leistungen stärker zu differenzieren, um zu verhindern, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache bereits in der Grundschule an sprachlichen Details scheitern, die letztlich für den Bildungsweg irrelevant sind (vgl. auch Tracy 2010). Man bedenke in diesem Zusammenhang auch, dass keine deutsche Hochschule fachlich renommierte Wissenschaftler(innen) aus Japan, Australien oder Indien nicht auf Lehrstühle 11 Vgl. auch die Überlegungen von Hopf (2005, S. 248), dem zufolge „die vorhandenen Kompetenzen in den Herkunftssprachen als Fremdsprachenleistungen in die Zeugnisse eingehen“ könnten. Wie dies angesichts der Vielfalt von Erstsprachen praktisch und objektivierbar umgesetzt werden könnte, ist unklar. Möglich wäre jedoch im Rahmen eines Faches „Sprache“ die Bewertung der analytischen, metasprachlichen Auseinandersetzung mit sprachlichen Eigenschaften. Rosemarie Tracy 92 berufen würde, weil sie das deutsche Genus oder den Kasus nicht beherrschten oder mit der Architektur deutscher Sätze oder der deutschen Silbenstruktur Schwierigkeiten hätten. Etwas von dieser Toleranz gegenüber Sprachlerner(inne)n, die in der internationalen Wissenschaftsszene, der Wirtschaft und bei Kulturkontakten selbstverständlich ist, sollte schließlich auch in voruniversitären Bildungseinrichtungen praktiziert werden können. Ein naheliegender, nicht nur symbolischer Schritt in Richtung Umsetzung der europäischen Vision von Mehrsprachigkeit bestünde darin, die Vielfalt koexistierender Sprachen vor Ort zu nutzen, um möglichst früh, d.h. bereits in der ersten Grundschulklasse, an die metasprachlichen Kompetenzen von Kindern zu appellieren, indem man mit ihnen über Sprache im Allgemeinen und die ihnen implizit längst vertrauten Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Sprachen diskutiert, aber auch über ihre kommunikativen Erfahrungen (Welche Art der Formulierung empfindet man als Lob, als Ermutigung, was als Kränkung? Wie sprechen wir in Abhängigkeit von Kontexten, Personen, Anliegen? ) und über das eigene Sprachenlernen redet. Während es rein praktisch nicht möglich ist, viele Heritage-Sprachen als Unterrichtssprachen oder Fächer zu etablieren, kann man sie wenigstens als Teil der verfügbaren individuellen Kompetenzen einbeziehen, 12 z.B. im Rahmen eines Faches „Sprache und Kommunikation“, an dem sowohl der Deutschunterricht als auch der Fremdsprachenunterricht anknüpfen könnte. Diese Vision ist auch im Sinne der Tertiärsprachforschung, die einen offensiven Umgang mit sprachübergreifenden Ähnlichkeiten empfiehlt (vgl. Hufnagel 2004). Reflexions- und Handlungsbedarf besteht auch im Umgang mit der Kommentierung und Bewertung von Lernerleistungen. Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Pädagog(inn)en liegt darin, nicht nur Mängel und Abweichungen von der jeweiligen Zielsprache in den Blick zu nehmen, sondern die bereits erfolgten Lernfortschritte zu erkennen und daran anzuknüpfen. Anhand von Äußerungen wie (25), produziert von einem Jungen mit Türkisch als Erstsprache, sollten daher nicht nur die offenkundigen Schwierigkeiten mit dem Genus (der Mutter, die Junge, den Zahnbürste) erkannt werden. Es sollte auch gesehen werden, dass sich der Lerner zentrale Merkmale des deutschen Satzbaus (V2-Stellung des Verbs im Hauptsatz, Verbend-Position im Nebensatz, korrekte Finitheitsmarkierung des Verbs) angeeignet hat, einschließlich der Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ, die hier gerade wegen des abweichenden Genus von Zahnbürste deutlich erkennbar ist. 12 Vgl. auch das Projekt SprachChecker des Sokrates-Programms der EU ( www.taaltrotters.eu , Stand: 07/ 2011). Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 93 (25) Erkan, 11 Jahre, L1= Türkisch: Der Mutter hat gesehen, dass die Junge den Zahnbürste versteckt hat. Lehrkräfte müssten noch besser als bisher darin geschult werden, einzuschätzen, welche Merkmale oder Abweichungen in bestimmten Entwicklungsstadien relevanter sind als andere. Man wird beispielsweise keine Übungen zur Unterscheidung von Dativ- und Akkusativformen machen, wenn einem Lerner die Artikel, die neben den Pronomina wichtigsten Trägerelemente für Kasus- und Genusformen des Deutschen, noch gänzlich fehlen. Im Zuge dieser bewussten Auseinandersetzung mit Sprache(n), inklusive ihrer Erstsprachen, kann man Schüler(inne)n auch das metalinguistische Rüstzeug vermitteln, das sie benötigen, um über Sprachen zu sprechen. Man ließe damit auch einen bewussten und analytischen Umgang mit Sprache wieder in die Schulen hinein, aus denen ein vorrangig kommunikativ ausgerichteter Unterricht ihn vor Jahren verbannt hatte. Dabei steht eine stärker analytische Ausrichtung des Umgangs mit Sprache völlig im Einklang mit dem, was Kinder spontan von sich aus und gewissermaßen von klein auf im Umgang mit Sprache zu leisten imstande sind. Es gibt aber noch einen weiteren, nicht-trivialen Grund, um nicht nur der real existierenden Sprachenvielfalt innerhalb der Schule ein legitimes Forum zu gewähren, sondern dem Thema Sprache schlechthin: Schließlich sind alle Sprachen ungeachtet oberflächlicher struktureller Differenzen und ungeachtet unterschiedlicher kommunikativer Praktiken letztlich doch nur Ausprägungen der gleichen menschlichen Sprachfähigkeit. 6. Literatur Androutsopoulos, Jannis (2001): Ultra korregd Alder! Zur medialen Stilisierung und Aneignung von „Türkendeutsch“. In: Deutsche Sprache 29, 4, S. 321-339. Anstatt, Tanja (Hg.) (2007): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Tübingen. Antaki, Charles/ Widdicombe, Sue (Hg.) (1998): Identities in talk. London/ New Delhi. Auer, Peter (Hg.) 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In Bezug auf die sprachliche und auch soziokulturelle Integration kann die Immigrationsgeneration als der entscheidende Faktor betrachtet werden: In der zweiten Generation findet ein Integrationsschub in die aufnehmende Gesellschaft statt, der sich auch in der sprachlichen Situation widerspiegelt. Dieser Prozess wird im zweiten Teil dieses Beitrags auf der Grundlage einer empirischen (Pilot-)Studie untersucht, an der 17 in Deutschland lebende 15bis 18-jährige Jugendliche aus russischsprachigen Familien teilnahmen. Die Studie ergab, dass das Russische für die untersuchten Jugendlichen ausnahmslos eine wichtige ideelle Rolle spielt und die Sprache der Loyalität darstellt. Für die bis zum Alter von 10 Jahren immigrierten Jugendlichen ist jedoch Deutsch die eindeutig stärkere Sprache, während die Russischkenntnisse demgegenüber deutlich schwächer sind. Dies spiegelt sowohl die Selbsteinschätzung der Jugendlichen als auch die Auswertung einer Sprachprobe wider. Für das Russische in Deutschland lässt sich auf dieser Grundlage die Hypothese aufstellen, dass in Zukunft von der ersten zur zweiten Generation mit einem deutlichen Rückgang dieser Sprache zu rechnen ist. Russian is currently a vibrant language in Germany. It is used first and foremost within families from Russian-speaking countries, with some possible uses outside the nuclear family. With regard to linguistic and socio-cultural integration, the immigrant generation can be considered the decisive factor. In the second generation a strong move towards integration into the host society takes place, which is also reflected in the linguistic situation. This process is examined in the second part of the article on the basis of an empirical (pilot) study involving seventeen 15-18-year-olds from Russian-speaking families living in Germany. The study revealed that Russian invariably plays an important role at the level of principle for the young people surveyed and is the language of loyalty. For those who immigrated up to the age of 10 years, however, German is clearly the stronger language, while the command of Russian has noticeably deteriorated. This is reflected in both the self-assessment of the young people and the evaluation of a speech sample. On this basis, we can hypothesise that in the future a considerable decline in the position of Russian in Germany is to be expected from the first to the second generation of speakers. Einleitung Während slavische Sprachen in Deutschland bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch ein marginales Phänomen waren, hat sich dieses Bild durch die Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten ge- Tanja Anstatt 102 wandelt. Unter den slavischen Sprachen ist das Russische besonders stark vertreten, das - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - zu der nach Deutsch am häufigsten gesprochenen Sprache in Deutschland wurde. In der Diskussion um die Mehrsprachigkeit in Deutschland muss diese Sprechergruppe, deren Sprachsituation und Sprachverhalten sich z.B. von denjenigen der Türkischsprecher deutlich unterscheidet, also schon aus quantitativen Gründen unbedingt einbezogen werden. Dies möchte ich im Folgenden tun, wobei ich zunächst einen knappen Überblick über die Situation des Russischen in Deutschland gebe (Kap. 1). Dann möchte ich mich als Schwerpunkt mit der Frage der nachwachsenden so genannten zweiten Generation befassen und anhand einer kleineren empirischen Erhebung die bislang noch kaum untersuchte Sprachsituation von Jugendlichen betrachten (Kap. 2). Dabei soll es zunächst darum gehen, welche Einstellungen die befragten Jugendlichen der zweiten Generation zum Russischen haben, wann sie ihre Sprachen verwenden und wie sie ihre Sprachkompetenz im Russischen und Deutschen selbst beurteilen. Anschließend werte ich Sprachproben der befragten Jugendlichen im Hinblick auf den Wortschatz im Deutschen und Russischen aus. 1. Situation des Russischen in Deutschland 1.1 Sprecher und Vitalität Bei den russischsprachigen Menschen haben wir es mit verschiedenen Sprechergruppen zu tun, die sich in Bezug auf ihre Spracheinstellungen recht heterogen verhalten. Die zahlenmäßig mit großem Abstand stärkste Gruppe bilden die Russlanddeutschen (auch Aussiedler bzw. Spätaussiedler genannt). Dazu kommen deren mit eingewanderte Angehörige ohne einen russlanddeutschen Hintergrund. Eine weitere größere Gruppe sind die jüdischen Immigranten (Brehmer 2007 geht von rund 0,2 Mio. aus). Und schließlich sind noch weitere russischsprachige Zuwanderer mit unterschiedlichsten Motiven der Einreise nach Deutschland zu nennen (hier kommt Brehmer 2007 auf ca. 0,35 Mio.). Nach den neuesten verfügbaren Zahlen leben in Deutschland 1,97 Mio. Personen mit der früheren Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation, der Ukraine und Kasachstan 1 sowie 2,53 Mio. weitere Personen, 2 die aus dem Gebiet der 1 Als Erstsprache kann in aller Regel Russisch gelten, Ukrainisch spielt bei den Migranten eine geringere, Kasachisch fast keine Rolle (vgl. auch Brehmer 2007). 2 Dies sind Personen „ohne Angaben“ zur früheren Staatsangehörigkeit, gemeint sind v.a. (Spät-)Aussiedler, vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2010, S. 7). Russisch in der zweiten Generation 103 ehemaligen Sowjetunion stammen (Statistisches Bundesamt (Hg.) 2010, S. 69). Nach diesen Zahlen können wir von insgesamt mindestens 3 4,5 Mio. Sprechern des Russischen in Deutschland ausgehen. Die hohe Sprecherzahl führt zu einer derzeit relativ stabilen Situation des Russischen in Deutschland. Achterberg (2005) kommt in seiner soziolinguistischen Studie zur Sprachsituation der slavischen Sprachen in Deutschland, die auf einem umfangreichen Fragebogen basiert, zu dem Ergebnis, dass Russisch hierzulande als Sprache mit einem sehr hohen Vitalitätsgrad gelten kann. Esser (2006) nennt einige Parameter, die statistisch als relevante Faktoren für den Erhalt von Migrationssprachen gelten; alle diese Parameter sind für das Russische positiv besetzt: Da die Immigration in der Regel im Familienverband, oft sogar in Großfamilien, erfolgt, kann ein großer Teil der Familienkommunikation auf Russisch geführt werden. Durch Nachbarschaften, Freundeskreise usw. gibt es darüber hinaus gut ausgebaute russischsprachige soziale Netze. Die beträchtliche Zahl russischsprachiger Geschäfte und anderer infrastruktureller Gegebenheiten (Organisationen von und für Aussiedler, Bibliotheken mit russischen Büchern, die z.B. von jüdischen Gemeinden geführt werden usw.) sowie der Zugang zu russischsprachigen Medien (etwa Tageszeitungen, Fernsehen über Satelliten) führen zu einer Verwendbarkeit des Russischen für viele Migranten auch außerhalb des engsten Familienkreises. Viele Russischsprecher haben eine starke Bindung an das Herkunftsland, häufig werden Kontakte mit den nicht-emigrierten Familienmitgliedern gepflegt - auch dies ist ein relevanter Faktor für den Spracherhalt. Als letzter Parameter sei der so genannte Q-Value erwähnt, d.h. die weltweite Sprecherzahl einer Sprache, die als Maß für den kommunikativen Wert einer Sprache gilt; dieser Wert ist für das Russische mit rund 163 Mio. erstsprachlichen Sprechern sowie rund 70 Mio. Sprechern des Russischen als Zweit- oder Fremdsprache (vgl. Karaulov (Hg.) 1997) sehr gut besetzt. Alle diese Parameter weisen darauf hin, dass sich das Russische in Deutschland in einer stabilen Situation befindet und in naher Zukunft nicht mit einem substanziellen Schwund dieser Sprache zu rechnen ist. 1.2 Förderung Für die zweite Generation der Einwanderer (zu diesem Begriff siehe unten Kap. 1.5) stellt sich die Lage dennoch komplexer dar: Die Umgebungssprache Deutsch spielt eine zentrale Rolle, und der Familienkreis ist für den umfassenden Erwerb der Herkunftssprache in der Regel nicht ausreichend. Was das Rus- 3 Über die genannten hinaus gibt es weitere, vom Statistischen Bundesamt nicht eigens aufgeführte Herkunftsländer mit niedrigeren Emigrationszahlen, etwa Weißrussland, Moldawien u.a. Tanja Anstatt 104 sische betrifft, entstehen vor diesem Hintergrund Einrichtungen, die den Erwerb der Sprache der Kinder unterstützen sollen. Es gibt bereits eine ganze Reihe von bilingualen russisch-deutschen Kindergärten; die meisten befinden sich in Berlin, einzelne daneben auch in Frankfurt a.M., München und anderen Städten. Je nach Ansatz arbeiten dort bilinguale oder aber jeweils russische und deutsche Erzieherinnen. In Berlin entstehen die ersten bilingualen Klassen in Schulen, meist an Grundschulen. Das verbreitetste Instrument sind die so genannten Samstagsschulen, die inzwischen in recht großer Zahl existieren (alleine in Bochum gibt es drei); sie werden von Vereinen getragen, ihr Besuch ist kostenpflichtig. Hierbei handelt es sich um Schulen, deren Ziel in erster Linie Sprachvermittlung ist, an denen aber auch russische Geschichte, Literatur usw. unterrichtet werden. Diese Institutionen vertreten in der Regel einen dezidiert bilingualen bzw. bikulturellen Ansatz; sie intendieren also keine Parallelkultur, sondern eine Integration mit Stützung der Herkunftssprache. 4 Russisch wird daneben traditionell an einigen Schulen auch als Fremdsprache (meist als dritte) angeboten (in Nordrhein-Westfalen an 14% der Gymnasien, siehe Makarenko (2007); dazu kommen 17 Waldorfschulen), allerdings hat die Nachfrage hier stark abgenommen. Für Kinder mit Russisch als Herkunftssprache ist dieser Unterricht kaum geeignet, da er nicht auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. In jüngerer Zeit wird schließlich von staatlichen Schulen vermehrt so genannter „muttersprachlicher Unterricht“ angeboten, der allerdings noch mit vielen Problemen (heterogene Gruppen, Mangel an geeignetem Lehrmaterial) zu kämpfen hat. Hier wird derzeit an Lösungsansätzen gearbeitet (ebd.). Insgesamt lässt sich festhalten, dass viele Kinder und Jugendliche der zweiten Generation der Russischsprecher theoretisch Zugang zu Samstagsschulen haben, aber natürlich nur ein Teil diese auch nutzt. Unterstützung beim Erwerb des Russischen darüber hinaus ist - abhängig vom Wohnort - nur für wenige Nachkommen russischsprachiger Eltern zugänglich; die Förderung findet bisher überwiegend durch nicht-staatliche Einrichtungen statt. 1.3 Sprachliche Integration und Mehrsprachigkeit Der Titel der Konferenz, anlässlich derer dieser Beitrag entstand, lautete „Sprache und Integration“. Ich möchte daher an dieser Stelle einen Blick darauf werfen, wie Integration mit Blick auf Sprache näher gefasst werden kann, und zu diesem Zweck ein in der Migrationslinguistik verbreitetes Schema anführen (vgl. Abb. 1). 4 Eine umfangreiche Liste solcher Organisationen stellt die Zeitschrift „Partner“ auf ihrer Homepage zur Verfügung, siehe http: / / katalog.partner-inform.de/ partner_schulen.php? catid=1 (Stand: 04/ 2011). Russisch in der zweiten Generation 105 Integration in die Aufnahmegesellschaft Integration in die ethische Gruppe Ja Nein Ja multiple Inklusion/ kompetente Bilingualität Segmentation/ monolinguale Segmentation Nein Assimilation/ monolinguale Assimilation Marginalität/ begrenzte Bilingualität Abb. 1: Schematische Darstellung sprachlicher Integrationstypen (nach Esser 2006) 5 Dieses Schema verdeutlicht, dass Integration zweidimensional aufgefasst werden kann, nämlich erstens bezüglich der Integration in die Aufnahmegesellschaft, zweitens im Hinblick auf die Integration (bzw. Zugehörigkeit) in die ethnische Gruppe. Es lässt sich nicht nur auf soziokulturelle Aspekte der Integration anwenden, sondern auch auf die Sprache. Aus der Sicht der aufnehmenden Gesellschaft wird unter dem Stichwort der sprachlichen Integration oft nur das Beherrschen der Landessprache diskutiert. In der Wissenschaft wird der Nutzen der Mehrsprachigkeit und die prinzipielle Fähigkeit von Kindern zum mehrsprachigen Spracherwerb kaum noch bezweifelt (siehe z.B. Bialystok 2009, Tracy 2007). 6 Ziel der Integration wäre dann der Typ der kompetenten Bilingualität: Das Individuum beherrscht sowohl die Sprache der Aufnahmegesellschaft als auch die Herkunftssprache. In diesem Zusammenhang ist allerdings eine wichtige Anmerkung zu machen: In der Mehrsprachigkeitsdiskussion wird vielfach darauf hingewiesen, dass ein mehrsprachiges Individuum nicht identisch ist mit mehreren einsprachigen Individuen (Tracy 2009, speziell zum Wortschatz siehe Taylor 2002). Bei mehrsprachigen Sprechern können die einzelnen Sprachen vielmehr unterschiedlich ausgeprägt sein - dies hängt stark von den Verwendungsbereichen ab. Typischerweise ist etwa in der Landessprache der mit Ausbildung und Beruf verbundene Wortschatz umfangreicher, in der Herkunftssprache hingegen der Wortschatz im Bereich häusliches Leben, Emotionen usw. Wenn hier von kompetenter Bilingualität gesprochen wird, so ist damit gemeint, dass in den Situationen, in denen sie benötigt werden, eine angemessene Kommunikation in den beiden Sprachen möglich ist. 5 Natürlich ist dies eine schematische Abstraktion, die Übergänge zwischen den Bereichen vernachlässigt. 6 Auch in den Medien wird in jüngster Zeit der Nutzen der Mehrsprachigkeit gerade im kindlichen Alter propagiert, wobei allerdings vor allem an Prestigesprachen wie das Englische gedacht wird. Vorteile der Mehrsprachigkeit, etwa ein kognitiver Nutzen (Bialystok 2009), sind allerdings unabhängig davon, welche Sprachen das Individuum erlernt. Tanja Anstatt 106 1.4 Soziokulturelle Integration In der Einleitung wurde angesprochen, dass sich die Lage der Russischsprecher von der Lage der türkischstämmigen Migranten deutlich unterscheidet. Dies zeigt die Analyse des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung („Zur Lage der Integration in Deutschland“, 2009): Sie weist nach, dass die Aussiedler als die Migrantengruppe gelten können, die von allen erfassten am besten integriert ist, wobei Integration hier in Parametern wie Bildungserfolg, Erwerbslosenquote, Eheschließung mit Einheimischen u.Ä. gemessen wird (siehe Berlin-Institut (Hg.) 2009, S. 28ff.). Zu den Aussiedlern (oben habe ich bereits darauf hingewiesen, dass hierzu zwar nicht nur, aber überwiegend Russischsprecher gehören) konstatiert diese Studie: Die Aussiedler sind eine sehr integrationsfreudige Herkunftsgruppe. Die in Deutschland Geborenen schneiden bei vielen Indikatoren deutlich besser ab als die Zugewanderten und weisen sogar bessere Werte auf als die Einheimischen. Bemerkenswert ist der Rückgang bei der Jugenderwerbslosigkeit, die sich von der ersten auf die zweite Generation fast halbiert hat. (ebd., S. 35). Die Quote der Akademiker liegt in der zweiten Generation mit gut 20% ebenfalls höher als bei den Einheimischen, die Quote der bikulturellen Eheschließungen liegt in der zweiten Generation bei knapp 70% (ebd., S. 34f.). Ganz anders sieht es hingegen bei der zweiten Generation der türkischstämmigen Migranten aus (ebd., S. 36f.). 1.5 Der Faktor Generation Es wurde bisher mehrfach angesprochen, dass der Faktor Generation eine außerordentlich große Rolle in der Integration spielt, was u.a. die oben angeführten Ergebnisse des Berlin-Instituts sehr deutlich zeigen. Als zweite Generation werden Personen bezeichnet, die nicht selbstständig zugewandert sind, sondern bereits im neuen Land geboren wurden oder als Kinder mit ihrer Familie kamen; in der vorliegenden Untersuchung spreche ich von zweiter Generation, wenn die Zuwanderung bis zum einschließlich 12. Lebensjahr erfolgte (analog siehe Krefeld 2004). In Bezug auf die Entwicklung der Herkunftssprache sagt das sog. Generationenmodell, das auf der Basis verschiedener empirischer Studien gewonnen wurde, Folgendes voraus: Die erste Migrantengeneration ist monolingual oder zumindest dominant in ihrer Herkunftssprache; die zweite Generation ist in unterschiedlichen Formen bilingual, sie Russisch in der zweiten Generation 107 behält die Herkunftssprache nur noch für familiäre Zwecke bei; die dritte Generation geht schließlich zur Monolingualität in der Umgebungssprache über oder ist dominant in dieser (vgl. Hamers/ Blanc 2003, S. 176). Ein entscheidender Faktor für die sprachliche Entwicklung ist, dass die Angehörigen der zweiten Generation ihre Kindheit ganz oder teilweise im neuen Land verbracht und entsprechend im Herkunftsland die Schule gar nicht oder nur kurze Zeit besucht haben. Der Erwerb der Herkunftssprache ist bei ihnen sehr stark an den privaten Kreis, vor allem das Elternhaus, gebunden. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung: In der Schule wird nicht nur die schriftliche Seite der Sprache - von der Alphabetisierung bis zur Routine im Umgang mit anspruchsvollen Texten - erlernt, sondern es werden auch komplexe Ausdrucksmittel erworben und trainiert, etwa die Verwendung komplexerer Syntax, spezieller Lexik usw., und es wird eine Sprachform erlernt, die Gogolin (2009) als „Bildungssprache“ bezeichnet. Dieser Teil des Spracherwerbs entfällt für die Herkunftssprache meist, wenn sie keine institutionelle Unterstützung erhält, da er alleine durch die Eltern bzw. Familie kaum gewährleistet werden kann, so dass der Erwerb der ganzen Breite sprachlicher Mittel stark erschwert ist. Darüber hinaus übt die Umgebungssprache allgemein einen starken Druck aus - sie ist die Sprache der Kommunikation mit gleichaltrigen Freunden, die Sprache der meisten Medien, der zukünftigen Berufstätigkeit usw. In verschiedenen Studien (z.B. zu spanischsprachigen Immigranten in den USA , vgl. Hakuta/ D'Andrea 1992) wurde entsprechend beobachtet, dass die zweite Generation in der Regel dazu neigt, zur jeweiligen Landessprache als dominanter Sprache überzugehen, die Herkunftssprache hat im Vergleich dazu einen nachgeordneten Status. 7 Ein weiteres Problem ist, dass die Herkunftssprache nicht nur oft unvollständig erworben wird, sondern auch wieder schwinden kann. Studien der jüngeren Zeit zeigen, dass unter dem Druck einer starken Zweitsprache die bereits erworbene Erstsprache in großem Umfang wieder abgebaut werden kann („Attrition“), wenn der Kontakt mit der dominierenden Zweitsprache vor der Pubertät einsetzt. Besonders drastische Folgen konnten Pallier et al. (2003, siehe auch Pallier 2007) nachweisen: Unter extremen Umständen kann eine Erstsprache bei Wechsel der sprachlichen Umgebung im Kindesalter sogar vollständig schwinden. 8 7 Eine Längsschnittstudie zu einigen russlanddeutschen Familien, in der dieses Phänomen für die nachwachsenden Kinder ebenfalls deutlich beobachtet wurde, führte Meng (2001) durch. 8 Einen Überblick über diese Prozesse und über die Rolle des Alters bietet Bylund (2009). Tanja Anstatt 108 2. Pilotstudie zu russisch-deutschen Jugendlichen der zweiten Generation Im Folgenden präsentiere ich Ergebnisse einer 2008 durchgeführten Pilotstudie zur Sprachsituation russisch-deutscher Jugendlicher, an der insgesamt 17 junge Migranten zwischen 15 und 18 Jahren teilnahmen. 9 Es handelt sich bei Informant Nr. Geschlecht Einreisealter Alter bei Datenerhebung Herkunftsland Schule 01 f 0 15 Kasachstan 9. Kl. Hauptschule 02 m 1 16 Ukraine 10. Kl. Gymnasium 03 f 4 16 Kasachstan 9. Kl. Realschule 04 f 4 17 Kasachstan 10. Kl. Gymnasium 05 f 5 18 Usbekistan Realschule abgeschlossen (sucht Ausbildungsplatz) 06 m 7 15 Kasachstan 9. Kl. Realschule 07 f 7 15 Kasachstan 9. Kl. Realschule 08 f 7 16 Kasachstan 9. Kl. Realschule 09 m 7 15 Kasachstan 9. Kl. Realschule 10 f 8 16 Ukraine 9. Kl. Realschule 11 f 8 17 Kasachstan 10. Kl. Realschule 12 f 8 16 k.A. 8. Kl. Hauptschule 13 m 10 17 Kasachstan Realschule abgeschlossen (sucht Ausbildungsplatz) 14 m 11 15 Kasachstan 8. Kl. Hauptschule 15 m 11 16 Russland 9. Kl. Gymnasium 16 f 12 16 Russland 11. Kl. Gymnasium 17 m 12 16 Kasachstan 9. Kl. Realschule ∑ f 10 m 7 Ø 7,1 Ø 16 Tab. 1: Biografische Daten der befragten Jugendlichen 10 9 Für ihre Mitarbeit bei der Datengewinnung danke ich Hanna Robilka (Datenerhebung, Transkription der Sprachproben) und Vera Malachow (Datenerhebung). 10 Auf die genauere Angabe des Alters bei Einreise und bei Aufnahme in Monaten musste verzichtet werden, da ein Teil der Befragten nur Jahresangaben nannte. Die Schultypen sind in keiner Weise repräsentativ verteilt, da die Jugendlichen nicht durch Russisch in der zweiten Generation 109 ihnen um Russischsprecher der zweiten Generation: Sie sind in einem Alter von 0 bis 12 Jahren eingereist (in Deutschland geboren wurde keiner von ihnen). Da die Menge der Befragten klein ist, sind die Schlussfolgerungen als weiter zu überprüfende Hypothesen zu verstehen, werfen jedoch ein Schlaglicht auf die Situation der russisch-deutschen Jugendlichen. Es ist auffällig, dass sich die Befragten in manchen Angaben sehr stark ähneln, was nahelegt, dass es hier um breite Tendenzen geht. Eine Übersicht über biografische Daten der befragten Jugendlichen gibt Tabelle 1. Die meisten Informanten stammen aus Kasachstan, einige andere aus der Ukraine und Russland. Der größte Teil gibt an, Spätaussiedler zu sein, zwei nennen jüdische Herkunft, zu sechs Jugendlichen liegen diesbezüglich keine Angaben vor. Die Jugendlichen leben in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets und besuchen die 8. bis 10. Klasse unterschiedlicher Schulformen, zwei haben die Schule bereits abgeschlossen. Für alle befragten Jugendlichen gilt, dass Russisch die Familiensprache ist, sie wird mit den Eltern und meist noch weiteren Familienmitgliedern verwendet. Alle 17 Jugendlichen geben an, neben den Eltern regelmäßigen Kontakt mit weiteren Verwandten aus demselben Herkunftsland (meist Großeltern, auch Tanten und Onkel) zu haben. Bis auf einen Befragten stehen auch alle in regelmäßiger Verbindung mit Verwandten bzw. guten Freunden im Herkunftsland. Deutsch wurde laut eigenen Angaben zum Teil im Kindergarten, vorwiegend aber in der Schule erworben. In der Pilotstudie wurden zwei verschiedene Datentypen erhoben. 11 Zum einen wurden anhand eines umfangreichen Fragebogens Informationen zur Sprachbiografie, zur Sprachverwendung, zu den Einstellungen gegenüber den Sprachen Russisch und Deutsch und zur Einschätzung der eigenen Sprachkompetenzen abgefragt. 12 Dabei handelte es sich überwiegend um geschlossene Fragen, bei denen die Jugendlichen aus vorgegebenen Antworten eine auswählen konnten. 13 Zum anderen wurde eine Sprachprobe zum Russischen und eine Zufallsstichprobe gewonnen, sondern überwiegend direkt an den Schulen aufgesucht wurden, die Realschule ist daher überrepräsentiert. Die Jugendliche 01 kam als drei Monate altes Baby nach Deutschland. 11 Als weiterer Datentyp wurde eine Grammatikalitätsurteilsaufgabe durchgeführt; da diese jedoch nur von 13 der 17 Probanden absolviert wurde, werden die Ergebnisse hier nicht berücksichtigt. 12 Die Fragen sind in vielen inhaltlichen Aspekten und zum Teil auch in den Formulierungen an dem von Achterberg (2005) verwendeten umfangreichen Fragebogen orientiert. 13 In der Regel war Raum für weitere Kommentare gegeben, der jedoch nur selten genutzt wurde. Tanja Anstatt 110 zum Deutschen erhoben, bei der die Jugendlichen eine Bildergeschichte in beiden Sprachen nacherzählten. Aus diesen Daten sollen im Folgenden einige Ergebnisse präsentiert werden. 2.1 Einstellungen zum Russischen Ich möchte mich zunächst den Einstellungen zuwenden, die die Jugendlichen gegenüber dem Russischen zum Ausdruck bringen und diese anhand der Antworten auf die folgenden Fragen illustrieren (in eckigen Klammern jeweils die im Fragebogen anzukreuzenden Antwortmöglichkeiten): 1) Welche Sprache würden Sie als Ihre Muttersprache bezeichnen? (Mehrere Angaben möglich) [Russisch/ Deutsch/ Sonstige (bitte nennen Sie die Sprache/ Sprachen)] 2) Gut Russisch sprechen zu können ist mir ... [sehr wichtig/ etwas wichtig/ gar nicht wichtig] 3) Gut Russisch zu verstehen ist mir ... [sehr wichtig/ etwas wichtig/ gar nicht wichtig] 4) Möchten Sie, dass Ihre Kinder auch einmal Russisch lernen? [auf jeden Fall/ vielleicht/ nein] 5) Sind Sie stolz darauf, Russisch zu können? [ja/ nein/ weiß nicht] 6) Ist es Ihnen unangenehm, in der Öffentlichkeit Russisch zu reden? [ja/ nein/ weiß nicht] Mit der Frage „Welche Sprache würden Sie als Ihre Muttersprache bezeichnen? “ sollte ermittelt werden, welcher Sprache die Loyalität gilt, welcher Sprache die Jugendlichen sich subjektiv zugehörig fühlen. 14 Alle Jugendlichen gaben Russisch an, vier von ihnen zusätzlich als zweite Muttersprache Deutsch, keiner kreuzte nur Deutsch an. Mehr als der Hälfte der Befragten ist es „sehr wichtig“, Russisch gut zu beherrschen, die übrigen bezeichnen es als „etwas wichtig“, niemand als „gar nicht wichtig“. Interessant ist, dass zumindest die passive Kenntnis, nämlich das gute Verstehen, von fast allen (94%) als „sehr wichtig“ betrachtet wird. Ebenfalls möchten fast alle Jugendlichen (94%) das Russische an ihre Kinder weitergeben, und ausnahmslos alle sind stolz darauf, Russisch zu können. 88% der Befragten ist es nicht unangenehm, in der Öffentlichkeit Russisch zu reden. 14 „Muttersprache“ ist ein Begriff, der unterschiedlich gedeutet werden kann, die Interpretation muss daher vorsichtig bleiben. Er wurde hier verwendet, da er alltagssprachlich für diejenige Sprache verwendet wird, der ein Sprecher sich emotional eng verbunden fühlt. Russisch in der zweiten Generation 111 Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Antworten auf diese Fragen. Inf. G. EA 1. Muttersprache 2. Gut Russisch sprechen 3. Gut Russisch verstehen 4. Kinder Russisch lernen 5. Stolz auf Russ. 6. Russ. öffentl. unangen. 01 f 0 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 02 m 1 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 03 f 4 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja ja 04 f 4 russ., dt. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 05 f 5 russ., dt. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 06 m 7 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 07 f 7 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 08 f 7 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 09 m 7 russ. sehr wichtig sehr wichtig vielleicht ja nein 10 f 8 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 11 f 8 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 12 f 8 russ., dt. etw. wichtig etw. wichtig auf jeden Fall ja nein 13 m 10 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 14 m 11 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 15 m 11 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 16 f 12 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein 17 m 12 russ., dt. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja ja Summe abs. russ. 13 russ.+dt. 4 dt. 0 sehr w. 10 etwas w. 7 gar nicht w. 0 sehr w. 16 etwas w. 1 gar nicht w. 0 auf jeden F. 16 vielleicht 1 nein 0 ja 17 nein 0 weiß n. 0 ja 15 nein 2 weiß n. 0 Summe in % russ. 76 russ.+dt. 4 dt. 0 sehr w. 59 etwas w. 41 gar nicht w. 0 sehr w. 94 etwas w. 6 gar nicht w. 0 auf jeden F. 94 vielleicht 6 nein 0 ja 100 nein 0 weiß n. 0 ja 88 nein 12 weiß n. 0 Tab. 2: Einstellungen zum Russischen So lässt sich hier ein deutliches Bild erkennen: Quer durch die verschiedenen Bildungsschichten und unabhängig davon, ob die Jugendlichen eine bewusste Erinnerung an ihr Herkunftsland haben oder schon als sehr kleine Kinder nach Deutschland kamen, ist das Russische für sie die Sprache, der ihre Loyalität gilt, die wichtig für ihre Identität ist, zu der sie stehen, und die sie in ihrer Familie auch in der nächsten Generation erhalten möchten. Tanja Anstatt 112 2.2 Sprachverwendung Wenden wir uns nun einigen Antworten auf Fragen nach der Sprachverwendung zu. Gefragt wurde im Fragebogen detailliert nach der Verwendung des Russischen und Deutschen mit verschiedenen Personen und in verschiedenen Situationen sowie nach verschiedenen Medien. Daraus werden in Tabelle 3 die Antworten auf folgende Fragen wiedergeben: 1) Bei welchen Gelegenheiten sprechen Sie Russisch? Angaben für Wert „Zu Hause“: 15 [immer/ oft/ gelegentlich/ selten/ nie] 2) Mit meinen Freunden und Freundinnen aus russischsprachigen Familien 16 spreche ich a) Russisch: [immer/ oft/ gelegentlich/ selten/ nie] b) Deutsch: [immer/ oft/ gelegentlich/ selten/ nie] 3) Bücher lese ich a) auf Russisch: [täglich/ mehrmals in der Woche/ mehrmals im Monat/ selten/ nie] b) auf Deutsch: [täglich/ mehrmals in der Woche/ mehrmals im Monat/ selten/ nie] 4) Filme/ Fernsehen sehe ich a) auf Russisch: [täglich / mehrmals in der Woche/ mehrmals im Monat/ selten/ nie] b) auf Deutsch: [täglich/ mehrmals in der Woche/ mehrmals im Monat/ selten/ nie] Die Werte wurden in der Übersicht (Tab. 3) folgendermaßen zusammengefasst: - immer/ oft bzw. täglich/ mehrmals in der Woche: 2 - gelegentlich bzw. mehrmals im Monat: 1 - selten/ nie: 0 15 Diese Fragen waren im Fragebogen tabellarisch zusammengestellt. 16 Dieser Frage wurde eine Frage danach vorausgeschickt, ob der/ die Befragte Freunde aus russischsprachigen Familien hat, was ausnahmslos alle bejahten. Russisch in der zweiten Generation 113 Inf. G. EA 1) Russisch zu Hause 2a) sprechen mit russ. Freunden: Russisch 2b) sprechen mit russ. Freunden: Deutsch 3a) Bücher lesen: Russisch 3b) Bücher lesen: Deutsch 4a) Filme/ TV: Russisch 4b) Filme/ TV: Deutsch 01 f 0 2 1 2 0 1 2 2 02 m 1 2 2 2 1 2 0 2 03 f 4 2 1 1 0 2 1 2 04 f 4 1 1 2 0 1 0 2 05 f 5 1 1 2 0 2 0 2 06 m 7 2 2 2 0 0 1 1 07 f 7 0 0 2 0 0 2 2 08 f 7 2 1 2 0 1 0 2 09 m 7 2 1 1 0 0 0 2 10 f 8 2 2 1 0 2 0 2 11 f 8 2 1 2 0 1 2 2 12 f 8 2 1 1 0 0 1 2 13 m 10 2 1 2 0 1 2 2 14 m 11 2 2 2 0 1 0 2 15 m 11 2 2 0 0 1 0 2 16 f 12 2 2 1 0 1 0 2 17 m 12 2 2 0 0 0 2 2 Summe abs. 2 14 1 2 0 1 2 7 1 9 0 1 2 10 1 5 0 2 2 0 1 1 0 16 2 4 1 8 0 5 2 5 1 3 0 9 2 16 1 1 0 0 Summe in % 2 82 1 12 0 6 2 41 1 53 0 6 2 59 1 29 0 12 2 0 1 6 0 94 2 24 1 47 0 29 2 29 1 18 0 53 2 94 1 6 0 0 Ø 1,8 1,4 1,5 0,1 0,9 0,8 1,9 Tab. 3: Verwendung des Russischen und des Deutschen Die Antworten der Jugendlichen auf diese Fragen zeichnen folgendes Bild: Russisch ist zu Hause fast durchgehend die dominante Sprache. Mit Freunden aus russischsprachigen Familien hingegen wird im Durchschnitt in etwa gleich oft Deutsch und Russisch gesprochen. Dies ist überraschend, wenn man sich die hohe Loyalität dem Russischen gegenüber vor Augen hält und unterstreicht die dominante Rolle der Umgebungssprache. Unterteilen wir die Jugendlichen nach Einreisealter in zwei Gruppen, so wird das Bild noch klarer. Die Jugendlichen 01-13 mit einem Einreisealter bis 10 Jahre sprechen mit ihren Freunden aus russischsprachigen Familien vorwiegend Deutsch: Der Tanja Anstatt 114 Durchschnitt für die Verwendung des Russischen liegt für die Informanten 01-13 (Einreisealter 0-10 Jahre) bei 1,2, für die Verwendung des Deutschen bei 1,7. Die vier Jugendlichen mit einem Einreisealter von 11-12 Jahren sprechen hingegen mit diesen Freunden meist Russisch, ihr Durchschnittswert für Russisch liegt bei 2,0, für Deutsch bei 0,8. Russische Bücher werden praktisch gar nicht konsumiert; wenn Bücher gelesen werden, dann auf Deutsch. Allerdings zählen sich viele der befragten Jugendlichen offenbar grundsätzlich nicht zu den Viellesern: Fünf von ihnen lesen auch auf Deutsch selten oder nie Bücher, weitere acht nur gelegentlich. In Bezug auf den Konsum russischer Filme und Fernsehprogramme ist das Bild sehr heterogen und dürfte u.a. davon bestimmt sein, ob zu Hause Zugang zu russischen Fernsehprogrammen besteht. Demgegenüber geben alle Jugendlichen an, Filme bzw. Fernsehen „immer“ oder „oft“ auf Deutsch zu sehen. Das Deutsche ist also auch zu Hause schon aufgrund der Medien ständig präsent. 2.3 Selbsteinschätzung der Sprachfähigkeiten Als dritten Themenblock der Fragebogendaten möchte ich einige Antworten dazu darstellen, wie die Jugendlichen ihre Sprachfähigkeiten einschätzen. Natürlich dürfen diese Selbsteinschätzungen auf keinen Fall ohne weiteres mit den tatsächlichen Kompetenzen gleichgesetzt werden; es ist damit zu rechnen, dass Faktoren der Spracheinstellung eine Rolle spielen. Andererseits wurde in einigen Studien bestätigt, dass die Selbsteinschätzung sehr gut mit Ergebnissen formaler Sprachtests übereinstimmt (siehe Köpke/ Schmid 2004, S. 25) und insofern ein recht objektives Bild abgibt. Der Fragebogen enthielt zunächst eine Tabelle, zu der die Aufforderung lautete: „Bitte bewerten Sie Ihre eigenen Sprachkenntnisse mit Punkten von 0 bis 5 (0 = keine, 5 = sehr gute Kenntnisse) und tragen Sie diese Punkte in die Tabelle ein.“ In der auszufüllenden Tabelle wurden vier Teilkompetenzen getrennt abgefragt; wie sie aussah, zeigt Abbildung 2, hier mit den Angaben einer Jugendlichen, die sehr typisch sind. Abb. 2: Fragebogenausschnitt zur Selbsteinschätzung der Sprachfähigkeiten mit Angaben der Jugendlichen 03 Russisch in der zweiten Generation 115 In der folgenden Auswertung beschränke ich mich auf die Angaben zu den Bereichen „Sprechen“ und „Lesen“ und stelle diese jeweils für das Russische und das Deutsche dar. Die von den einzelnen Jugendlichen angegebenen Eigenbewertungen sowie die Durchschnittswerte sind in Tabelle 4 angeführt. Hier fällt zunächst auf, dass die Jugendlichen sich im Gesamtdurchschnitt im Russischen sowohl im Bereich „Sprechen“ als auch im Bereich „Lesen“ deutlich schlechter einschätzen als in den entsprechenden deutschen Teilkompetenzen. Inf. G. EA Russisch Sprechen Russisch Lesen Deutsch Sprechen Deutsch Lesen 01 f 0 3 2 5 5 02 m 1 5 4 5 5 03 f 4 4 2 5 5 04 f 4 3 3 5 5 05 f 5 2 3 5 5 06 m 7 4 3 5 5 07 f 7 2 1 5 5 08 f 7 3 2 5 5 09 m 7 5 0 5 4 10 f 8 5 3 4,5 5 11 f 8 2 2 4 4 12 f 8 3 1 4 4 13 m 10 4 2 5 5 14 m 11 5 3 4 4 15 m 11 5 5 4 5 16 f 12 5 5 4 5 17 m 12 5 5 3 4 Ø gesamt 3,8 2,7 4,6 4,7 Ø Inf. 01-13 3,5 2,2 4,8 4,8 Ø Inf. 14-17 5 4,5 3,8 4,5 Tab. 4: Selbsteinschätzung der Sprachkompetenzen (0 = keine, 5 = sehr gute Kenntnisse) Tanja Anstatt 116 Auch in diesem Fragenblock lassen sich die Jugendlichen in zwei Gruppen unterteilen, die mit dem Einreisealter korreliert sind - in diejenigen, die als jüngere Kinder nach Deutschland eingereist sind, gegenüber denen, die bereits etwas älter waren. Eine scharfe und allgemeingültige Grenze zu ziehen ist auf dieser Datenbasis natürlich nicht möglich; sie kann provisorisch zwischen dem Einreisealter von 10 Jahren gegenüber demjenigen von 11 Jahren angesetzt werden, da sich hier eine Wende in der Selbsteinschätzung andeutet: Die Jugendlichen mit einem Einreisealter zwischen 0 und 10 Jahren bewerten ihre Deutschkompetenzen durchgehend höher als ihre Russischkompetenzen. Bei den vier Jugendlichen mit Einreisealter 11-12 Jahre ist das Bild umgekehrt. Zur Erklärung dieser Wende sind in erster Linie drei Faktoren zu nennen: 1) Je niedriger das Einreisealter, desto leichter ist der Erwerb des Deutschen als zweiter Sprache, desto leichter kann aber auch die Erstsprache Russisch verdrängt werden. 17 2) Je älter das Kind bei der Emigration, desto länger hat es im Herkunftsland Schulunterricht in der Erstsprache erhalten, entsprechend sind die Schreib- und Lesekompetenz stabiler und der Erwerb komplexerer sprachlicher Mittel weiter fortgeschritten. In jüngster Zeit wurde auch gezeigt, dass die Alphabetisierung selbst einen stabilisierenden Effekt auf die Kompetenz in der Herkunftssprache ausübt (Zaretsky/ Bar Shalom 2010). 3) Das Einreisealter ist korreliert mit der Aufenthaltsdauer, d.h. für die befragten Jugendlichen mit dem höchsten Einreisealter liegt die Immigration am kürzesten zurück, entsprechend ist auch die Dauer der zweisprachigen Situation weniger lang. Was die Angaben zu den genannten Teilkompetenzen betrifft, so fällt weiterhin auf, dass die Jugendlichen im Russischen ihre mündlichen Fähigkeiten deutlich höher bewerten als ihre Lesefähigkeit; wie oben diskutiert liegt die Ursache darin, dass der schriftliche Bereich der Sprache oft nur ansatzweise erworben bzw. nicht viel trainiert wird, wenn die Migration im frühen Schulalter oder sogar vor Beginn desselben erfolgt. Im Deutschen geben die meisten Jugendlichen sich hingegen in beiden Teilkompetenzen die höchste Punktzahl. Umgekehrt verhält es sich bei den Jugendlichen Nr. 14-17 (Einreisealter 11-12 Jahre): Fast alle bewerten beide 17 Siehe hierzu die in Kapitel 1.5 angesprochene Forschung zur Attrition im Kindesalter. Russisch in der zweiten Generation 117 Teilkompetenzen für das Russische mit Höchstpunktzahl. Im Deutschen bewerten sie interessanterweise ihre Lesekompetenz meist höher als diejenige im Sprechen. 18 2.4 Sprachdaten Im letzten Kapitel möchte ich mich nun den Sprachproben zuwenden, die im Rahmen der Pilotstudie erhoben wurden. Dabei sollen einerseits die russischen und die deutschen Erzählungen der Jugendlichen unter einigen quantitativen Perspektiven miteinander verglichen werden, andererseits möchte ich diese dann wiederum mit Erzählungen von bilingualen und monolingualen Vorschulkindern und monolingualen Erwachsenen vergleichen. Bei der Erhebung der Sprachdaten wurden die Informanten gebeten, eine Bildergeschichte, die sog. „Frog story“ von Mercer Mayer, nachzuerzählen. Dies ist eine aus 24 Bildern bestehende Geschichte ohne Worte; sie handelt von einem Jungen und seinem Hund, die auf der Suche nach ihrem entlaufenen Frosch in Feld und Wald einige Abenteuer erleben. Diese Bildergeschichte wurde in der Spracherwerbsforschung bereits sehr oft verwendet (vgl. Bamberg 1987, Berman/ Slobin 1994) und wird in jüngster Zeit auch für die Erhebung von Sprachdaten Bilingualer eingesetzt (siehe Anstatt 2008, 2010; Polinsky 2008). 19 Für die hier untersuchte Gruppe erscheint sie auch insofern als geeignet, als es sich um einen Texttyp handelt, mit dem die Jugendlichen im Russischen noch am ehesten vertraut sind, denn wir können annehmen, dass sie in ihrer Kindheit mit den Eltern Bilderbücher auf Russisch angesehen haben. Polinsky (2008) diskutiert eine Reihe von Möglichkeiten, wie die Nacherzählungen dieser Bildergeschichte im Hinblick auf sprachliche Fähigkeiten analysiert werden können. In Anstatt (2010) habe ich mich mit lexikalischen Strategien bei mono- und bilingualen Jugendlichen und Kindern beim Nacherzählen dieser Geschichten auf Russisch und auf Deutsch befasst; in Anstatt (2008) habe ich die Verwendung von Verbalaspekt und Tempus bei bilingualen Kindern ebenfalls anhand von Nacherzählungen dieser Geschichte untersucht. An dieser Stelle möchte ich ein Schlaglicht auf den Umfang der Erzählungen in den beiden Sprachen werfen und beispielhaft den Wortschatz der Jugendlichen beleuchten. 18 Eine Erklärung hierfür könnte der „Akzent“ im Mündlichen sein, also russische Einflüsse im phonetischen/ phonologischen Bereich. Darüber hinaus spielt wohl eine Rolle, dass das Lesen in der Schule unablässig praktiziert wird. 19 Ihre weite Verwendung hat den Vorteil, dass umfangreiche Daten zu verschiedenen Probandengruppen vorliegen, die zu Vergleichszwecken herangezogen werden können, reiches Material findet sich z.B. im Internet-Projekt CHILDES . Tanja Anstatt 118 2.4.1 Umfang der Erzählungen: Verwendete Wortformen und versprachlichte Situationen Tabelle 5 stellt dar, wie viele einzelne Wortformen (Tokens) die Jugendlichen in ihren jeweiligen Nacherzählungen auf Russisch (1a) und auf Deutsch (1b) verwendeten. 20 Hier zeigt sich, dass in den deutschen Erzählungen erheblich mehr gesprochen wurde: Die Zahl der Wortformen liegt im Gesamtdurchschnitt im Russischen um rund ein Drittel niedriger als im Deutschen. Untergliedern wir die Jugendlichen wiederum nach Einreisealter in zwei Gruppen, so ist der Unterschied für die bis zum Alter von 10 Jahren Eingereisten noch etwas größer, während er bei den vier Jugendlichen mit dem Einreisealter 11- 12 Jahre deutlich kleiner ist - aber auch bei den letzteren liegt die Zahl mit Ausnahme des Jugendlichen Nr. 17 im Deutschen höher als im Russischen. Als zweite Methode wurden versprachlichte relevante Situationen ermittelt (Tabelle 5, 2a und 2b): Um die wiedergegebenen Sachverhalte für jeden Informanten jeweils in beiden Sprachen quantitativ vergleichen zu können, habe ich ein Set von insgesamt 46 Kernpropositionen definiert, die für den Gang der Geschichte wesentlich sind und gezählt, wie viele von ihnen jeweils versprachlicht wurde. Dies möchte ich mit einem Beispiel illustrieren. Für die beiden in Abbildung 3 dargestellten Bilder habe ich angenommen, dass als relevante Situationen das Hineinfallen des Jungen in einen Teich oder ein Gewässer sowie das Aufsetzen bzw. Lauschen in Abbildung 3 zu benennen sind. 21 Die Informantin Nr. 08 versprachlicht in ihrer deutschen Erzählung beide Situationen (Beispiel 1a), in ihrer russischen dagegen nur die erste (Beispiel 1b), die zweite lässt sie unerwähnt. (1a) Und (er) ist in eine Pfütze gefallen. Äh ja dann hat der Junge wahrscheinlich etwas gehört und hat genau hingehört woher das Geräusch kam. (Inf. 08, deutsche Erzählung) (1b) ė nu upal v vodu. ‘äh na (er) ist ins Wasser gefallen.’ (Inf. 08, russische Erzählung) 20 Hierbei wurden alle vorkommenden Wortformen gezählt, so ergeben lese, lese, las insgesamt drei Wortformen. Ich verwende hier Wortformen als Maß, da sich diese eher für einen Vergleich zwischen den beiden Sprachen eignen. 21 Die Beschränkung auf die Kernsituationen erfolgte, um die theoretisch offene Menge an Kommentaren (ein Hirsch guckt hinunter, es sind Pflanzen zu sehen, das Wasser ist flach usw.) auf ein vergleichbares und handhabbares Maß zu reduzieren. Russisch in der zweiten Generation 119 Abb. 3: Bild 12a und 12b der „Frog story“ Die Auszählung ergab, dass die Jugendlichen mit Einreisealter bis 10 Jahre auf Russisch im Durchschnitt deutlich weniger Kernpropositionen versprachlichen als auf Deutsch; dabei war die Zahl bei einigen ausgeglichen, bei anderen waren die Unterschiede beträchtlich (z.B. bei den Informanten Nr. 03, 07, 09). Die vier Jugendlichen mit höherem Einreisealter benannten auf Russisch etwas mehr Situationen, Informant Nr. 17 sogar bedeutend mehr. Inf. G. EA 1a) Anzahl der Wortformen russisch 1b) Anzahl der Wortformen deutsch 2a) Kernpropositionen russisch 2b) Kernpropositionen deutsch 01 f 0 209 332 22 24 02 m 1 507 570 36 35 03 f 4 212 457 26 36 04 f 4 292 405 24 23 05 f 5 344 431 33 32 06 m 7 326 439 26 29 07 f 7 121 413 17 37 08 f 7 282 472 33 38 09 m 7 304 497 22 34 10 f 8 328 530 41 37 Tanja Anstatt 120 Inf. G. EA 1a) Anzahl der Wortformen russisch 1b) Anzahl der Wortformen deutsch 2a) Kernpropositionen russisch 2b) Kernpropositionen deutsch 11 f 8 215 353 30 40 12 f 8 180 243 29 28 13 m 10 145 211 15 21 14 m 11 181 236 30 28 15 m 11 164 215 17 19 16 f 12 223 310 34 33 17 m 12 329 275 38 23 Ø alle 257 376 28 30 Ø 01-13 267 412 27 32 Ø 14-17 224 259 30 26 Tab. 5: Umfang der Erzählungen der bilingualen Jugendlichen im Russischen und Deutschen 2.4.2 Wortschatzphänomene Werfen wir nun einen genaueren Blick auf das sprachliche Verhalten der Jugendlichen, wobei ich mich auf Wortschatzphänomene beschränken möchte. 22 Für die Jugendlichen 01 bis 13 mit einem Einreisealter bis 10 Jahre (deren Erzählungen im Hinblick auf den Wortschatz in Anstatt (2010) im Detail analysiert wurden) ist zu erkennen, dass die russische Erzählung ihnen beträchtlich mehr Mühe bereitet als die deutsche. Deutliches Anzeichen dafür ist, dass erheblich mehr Hesitationsphänomene (v.a. gefüllte und ungefüllte Pausen) auftreten, die zum Teil sehr lang sind. Hesitationen gelten als der zentrale Indikator für Sprachplanungsprozesse: Sie weisen darauf hin, dass eine besondere kognitive Belastung vorliegt und zusätzliche Verarbeitungszeit benötigt wird (Fehringer/ Fry 2007). Auffällig ist weiterhin, dass die Jugendlichen in den russischen Erzählungen deutlich mehr Ersatzstrategien, etwa Umschreibungen, aufweisen als in den deutschen. Diese Phänomene treten auch bei den Jugendlichen auf, die allgemein über ein recht sicheres Russisch verfügen. Als Beispiel möchte ich den Informanten Nr. 02 anführen, einen Schüler der zehnten Klasse des Gymnasiums, der im Alter von einem Jahr nach Deutschland kam. Er schätzt sich selbst als 22 Der Wortschatz gilt im Zusammenhang mit der Attrition von Herkunftssprachen als der anfälligste Bereich, siehe dazu z.B. Ammerlaan (1996), ein Überblick findet sich bei Schmid/ Köpke (2004). Russisch in der zweiten Generation 121 kompetenten Sprecher beider Sprachen ein und bestätigt dies auch in den Sprachproben: Er führt beide Erzählungen souverän und detailreich durch und versprachlicht in beiden Sprachen dieselbe Zahl von Kernpropositionen. Auffällig ist jedoch, dass er für seine russische Erzählung mehr Verarbeitungszeit benötigt: Hesitationspausen - Pausen von über 0,8 Sekunden Länge; 23 sie werden vom Hörer als deutliche Stockung wahrgenommen - treten in seiner russischen Erzählung 23-mal auf, in seiner deutschen lediglich sechsmal. Wortfindungsprobleme sind nur im Russischen festzustellen, er löst sie durch Umschreibungen. Beides illustrieren die Beispiele (2a) und (2b). (2a) und der Junge wurde vom Baum geschubst von einer Eule, die sich im Baum versteckt hatte, im hohlen Baum. (Inf. 02, deutsche Erzählung, Beschreibung von Bild 8 der Froschgeschichte) (2b) potom v sledujuščej scene ėm s dereva vyletaet ė # ė # ė ## [10 sec.] nu zver’ kotoryj možet letat’ (lacht). ‘dann in der nächsten Szene ähm fliegt aus dem Baum äh # äh # äh ## [10 sec.] na ein Tier das fliegen kann’ (lacht). (Inf. 02, russische Erzählung, Beschreibung von Bild 8 der Froschgeschichte) 24 Deutlich stärker treten die genannten Phänomene bei anderen Informanten auf, die zum Teil große lexikalische Unsicherheiten aufweisen. Diese Unsicherheiten führen zu Vermeidungsstrategien, d.h. einzelne, zum Teil auch sehr relevante Sachverhalte werden nicht versprachlicht (vgl. oben Beispiel 1b) und reichen bis zu Abbrüchen von Äußerungen. Hierzu möchte ich als Beispiel zwei Ausschnitte aus der deutschen und der russischen Erzählung der 16-jährigen Jugendlichen Nr. 03 anführen, die mit vier Jahren nach Deutschland gekommen ist. Sie führt die deutsche Erzählung souverän durch und hat keine erkennbaren Wortschatzprobleme. Auch auf Russisch führt sie die Erzählung durch, stockt aber häufig und ist unsicher. Sie lässt viele Situationen unerwähnt, die sie in ihrer deutschen Erzählung versprachlicht hat. Bei Wortnot greift sie mehrfach auf das Deutsche zurück; in einem Fall bricht sie nach einer langen Hesitation die Erzählung ab (Beispiele 3a und 3b). (3a) aus diesem Baum kommt eine Eule raus und der Junge fällt vom Baum. (Inf. 03, deutsche Erzählung, Beschreibung von Bild 8 der Froschgeschichte) (3b) [Pause von 8 sec.] Kann ich nix zu sagen. (Inf. 03, russische Erzählung, Beschreibung von Bild 8 der Froschgeschichte) 23 Zur Diskussion der Länge der Hesitation und weiterer Literatur siehe Anstatt (2010). 24 Das Doppelkreuz (#) symbolisiert eine ungefüllte Hesitationspause, ein zweifaches Doppelkreuz (##) stellt eine besonders lange Hesitationspause dar. Tanja Anstatt 122 Wie oben erwähnt treten in den russischen Erzählungen der Jugendlichen erheblich mehr Ersatzstrategien zur Füllung von lexikalischen Lücken auf als in den deutschen. Dabei werden nicht nur Umschreibungen wie in Beispiel (2b) verwendet, sondern häufiger auch Wörter aus dem Deutschen. Grundsätzlich ist festzustellen, dass der Rückgriff auf die jeweils andere Sprache ausschließlich im Russischen vorkommt: Hier verwenden die Jugendlichen regelmäßig deutsche Wörter, siehe Beispiel (4). In ihren deutschen Erzählungen treten hingegen überhaupt keine russischen Wörter auf. Die Verwendung deutscher Wörter wird stets von metasprachlichen Kommentaren begleitet wie „mir fällt das russische Wort nicht ein“ o.Ä., siehe Beispiel (4), das zeigt, dass diese Lösungsstrategie unter hohem kommunikativem Druck erfolgt. (4) on iščet svoj ėtot ė # ė frosch ė # ja ne znaju kak frosch teper’ na russkom ‘er sucht seinen diesen äh # äh Frosch äh # ich weiß nicht, wie Frosch jetzt auf Russisch heißt’ (Jugendl. Nr. 09) Insgesamt bleibt das Deutsche auch während der russischen Erzählung offenbar „angeschaltet“, also aktiviert, während umgekehrt das Russische während der deutschen Erzählung deaktiviert scheint. Dies kann mit dem Modell der bilingualen Modi von Grosjean (2001) erklärt werden: Bilinguale verfügen über einen monolingualen Modus, in dem ihre zweite Sprache weitgehend deaktiviert ist, so dass es kaum oder gar nicht zu lexikalischen Übernahmen aus dieser kommt. Dieser Modus tritt im Gespräch mit einsprachigen Sprechern auf. Im bilingualen Modus, der im Gespräch mit bilingualen Sprechern derselben beiden Sprachen auftritt, ist auch die gerade nicht verwendete Sprache aktiviert, und es kann leicht auf sie zugegriffen werden. Die Russischsprecher der zweiten Generation sind nun, was das Russische angeht, kaum je im monolingualen Modus, da sie ja fast nur mit ihrerseits zweisprachigen Russischsprechern interagieren. Das Deutsche bleibt also immer aktiviert, und es ist ein Leichtes, auf ein Wort aus dem Deutschen zurückzugreifen, wenn eine aktuelle Wortnot auftritt, zumal dieses ja vom Gesprächspartner verstanden wird. Ein Problem wird dies dann, wenn der monolinguale Modus für die Herkunftssprache gar nicht zur Verfügung steht, der Gesprächspartner aber kein Deutsch spricht. Im Deutschen sind die Jugendlichen hingegen regelmäßig im monolingualen Modus, da sie sehr oft mit Sprechern kommunizieren, die kein Russisch sprechen. Russisch in der zweiten Generation 123 2.4.3 Vergleich der Jugendlichen mit Vorschulkindern und Erwachsenen Zum Abschluss möchte ich einen quantitativen Vergleich der Erzählungen der Jugendlichen mit Erzählungen derselben Geschichte durch einige andere Sprechergruppen vorstellen. Ich beziehe mich im Folgenden nur auf die 13 Jugendlichen, deren Einreise bis zum Alter von 10 Jahren erfolgte. Die Abbildungen 4 und 5 stellen die durchschnittliche Zahl der pro Erzählung verwendeten Wortformtypen 25 für insgesamt vier Sprechergruppen dar: 26 1) 11 bilinguale Vorschulkinder zwischen 4 und 6 Jahren (Durchschnittsalter 5,5 Jahre), Geburt in Deutschland oder Einreisealter zwischen 0 und 2 Jahren; 2) 13 bilinguale Jugendliche (Einreisealter 0-10 Jahre); 3) 10 russisch monolinguale Vorschulkinder zwischen 4 und 6 Jahren (Durchschnittsalter 5,1 Jahre); 4) 10 russisch monolinguale Erwachsene; 5) 10 deutsch monolinguale Vorschulkinder im Alter von 5 Jahren; 6) 10 deutsch monolinguale Erwachsene. Betrachten wir nun zunächst die von unseren Jugendlichen im Deutschen verwendeten Wortformtypen im Vergleich zu den entsprechenden Zahlen im Deutschen von mono- und bilingualen Vorschulkindern und monolingualen Erwachsenen (Abb. 4). Es zeigt sich, dass die bilingualen Jugendlichen (2. Säule) hier deutlich über den Kindergartenkindern (sowohl den bilingualen, Säule 1, als auch den monolingualen, Säule 3) liegen und leicht unter den monolingualen Erwachsenen. Der durchschnittliche Wort- und Formenreichtum in ihren Erzählungen ist also beträchtlich größer als bei den 4bis 6-jährigen Kindern. Wenden wir uns nun den analogen Werten der russischen Erzählungen (Abb. 5) zu. Hier liegen die Durchschnittswerte der Jugendlichen 25 Dabei werden die unterschiedlichen verwendeten Wörter bzw. Wortformen gezählt; die Wortformen lese, lese, las zählen beispielsweise als zwei Wortformtypen, aß, lief, läuft, lief sind drei Wortformtypen usw. Für die hier vorgestellte Übersicht gebe ich Wortformtypen deswegen an, da so die Menge an verwendeten unterschiedlichen Lemmas und grammatischen Formen zwischen den verschiedenen Gruppen verglichen werden kann. 26 Die Daten zu den bilingualen Kindern sowie zu einigen Informanten aus den anderen Gruppen wurden im Rahmen des DFG -geförderten Projektes „Aspekterwerb bei bilingualen Kindern“ im SFB 441 an der Universität Tübingen erhoben, die Daten zu den russisch- und deutschsprachigen Erwachsenen sind teilweise sowie zu den deutsch monolingualen Kindern ganz dem Internetprojekt CHILDES entnommen. Tanja Anstatt 124 mit Einreisealter bis 10 Jahre auf derselben Höhe wie diejenigen der mono- und bilingualen Kindergartenkinder und erheblich niedriger als die der monolingualen Erwachsenen. 27 Diese beiden Zahlen weisen darauf hin, dass sich das Deutsche der Jugendlichen altersgemäß weiterentwickelt, während ihr Russisch im Durchschnitt betrachtet stagniert. Abb. 4: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortformtypen in den deutschen Erzählungen Abb. 5: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortformtypen in den russischen Erzählungen 3. Fazit Das Russische ist in Deutschland derzeit eine vitale Sprache; sie wird - bei einigen Verwendungsmöglichkeiten außerhalb der Kernfamilie - in allererster Linie innerhalb von Familien verwendet, die aus russischsprachigen Ländern stammen. Der größte Anteil der Russischsprecher sind Russlanddeutsche (so genannte (Spät-)Aussiedler); diesen wurde in jüngster Zeit ein stark integratives Verhalten bescheinigt. Eine weitere relevante Gruppe sind aus der ehemaligen Sowjetunion stammende jüdische Russischsprecher. In Bezug auf die sprachliche und auch soziokulturelle Integration kann die Immigrationsgeneration als der entscheidende Faktor betrachtet werden: In der zweiten Generation findet ein Integrationsschub in die aufnehmende Gesellschaft statt, der sich auch in der sprachlichen Situation widerspiegelt. Dieser Prozess wurde im zweiten Teil dieses Beitrags auf der Grundlage einer empirischen Studie untersucht, an der 17 in Deutschland lebende 15bis 18-jährige Jugendliche aus russischsprachigen Familien teilnahmen. Die Studie ergab, dass das Russische für die Jugendlichen ausnahmslos eine wichtige ideelle Rolle spielt: Sie stehen loyal zu dieser Sprache, die sie als Muttersprache ansehen, und möchten sie an die nächste Generation weitergeben. Was die 27 Natürlich gibt es hier zwischen den einzelnen Jugendlichen individuelle Unterschiede, ebenso bei den Kindern (siehe dazu Anstatt 2009). Abb. 4: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortformtypen in den deutschen Erzählungen Abb 5: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortformtypen in den russischen Erzählungen Russisch in der zweiten Generation 125 Verwendung der Sprachen angeht, so ist Russisch klar die Sprache der Familie. Die Jugendlichen mit einem Einreisealter von 0-10 Jahren sprechen mit Freunden aus russischsprachigen Familien hingegen im Durchschnitt mehr Deutsch und nur gelegentlich Russisch. Bücher werden von allen Befragten praktisch ausschließlich auf Deutsch gelesen, der Konsum von Filmen und Fernsehen auf Russisch divergiert stark. In Bezug auf die Kompetenzen im Russischen und Deutschen wird auf der Basis sowohl der Selbsteinschätzung als auch der Sprachproben Folgendes deutlich: Für die Jugendlichen, die bis zum Alter von 10 Jahren immigrierten, ist das Deutsche die eindeutig stärkere Sprache. Hier betrachten die Jugendlichen ihre Kompetenzen weit überwiegend als vollständig; die Sprachproben, die in Bezug auf Wortschatzumfang und Flüssigkeit ausgewertet wurden, unterstützen dieses Bild. Die Kompetenz im Russischen wird hingegen in der Selbsteinschätzung als deutlich schwächer beurteilt, insbesondere für das Lesen ordnen sich die Jugendlichen niedrigere Kompetenz zu, aber auch das Sprechen liegt in der Bewertung deutlich niedriger als im Deutschen. Dies wird ebenfalls durch die Sprachproben unterstützt, in denen einige Jugendliche große Schwierigkeiten hatten, ihre Verbalisierungsabsichten auf Russisch umzusetzen. Andere meisterten die Aufgabe ohne größere Probleme, aber es wurde dennoch deutlich, dass die Verwendung des Russischen beträchtlich höheren Verarbeitungsaufwand bedeutet und der Wortschatz schwerer abrufbar bzw. eingeschränkter ist als im Deutschen. Anders ist das Bild bei den Jugendlichen mit höherem Einreisealter: Sie beurteilen ihr Russisch als die stärkere Sprache und hatten weniger Wortschatzprobleme in der russischen Sprachprobe. Diese Beobachtungen basieren auf einer Pilotstudie mit einer kleinen Gruppe von Jugendlichen; aufgrund ihrer großen Einheitlichkeit lässt sich jedoch annehmen, dass es sich um allgemeinere Tendenzen handelt, zumal sie im Einklang mit den Ergebnissen größerer Studien zu benachbarten Fragestellungen stehen. Für die Zukunft des Russischen in Deutschland zeigt sich auf dieser Grundlage, dass von der ersten zur zweiten Generation (v.a. bei den Personen, die bis zum Alter von 10 Jahren immigrierten) ein beträchtlicher Rückgang der Russischkompetenz und ein gleichzeitiger ebensolcher Anstieg der Deutschkompetenz zu verzeichnen ist. Trotz der hohen Loyalität zum Russischen ist somit auf die Dauer mit einem Schub in Richtung monolinguale Assimilation zu rechnen, der durch die vom Berlin-Institut (Hg.) (2009) ermittelten soziokulturellen Assimilationstendenzen (v.a. dem sehr hohen Anteil an Eheschließungen mit Einheimischen) verstärkt werden dürfte. Tanja Anstatt 126 Wenn es ein politisches Ziel ist, die Mehrsprachigkeit in der Bevölkerung Deutschlands zu stärken, dann wäre das mehrsprachige Potenzial, das die Mitglieder russischsprachiger Familien in Deutschland mitbringen, zu nutzen. Dafür ist aber eine institutionelle Unterstützung unumgänglich. 4. Literatur Achterberg, Jörn (2005): Zur Vitalität slavischer Idiome in Deutschland. Eine empirische Studie zum Sprachverhalten slavophoner Immigranten. München. Ammerlaan, Ton (1996) „You get a bit wobbly ...“ exploring bilingual lexical retrieval processes in the context of first language attrition. Nijmegen. Anstatt, Tanja (Hg.) (2007): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb - Formen - Förderung. Tübingen. Anstatt, Tanja (2008): Aspect and tense in storytelling by Russian, German and bilingual children. In: Russian Linguistics 32, 1, S. 1-26. Anstatt, Tanja (2009): Der Erwerb der Familiensprache: Zur Entwicklung des Russischen bei bilingualen Kindern in Deutschland. 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İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft am Beispiel der türkisch-deutschen Grundschulklassen in Hamburg Abstract: Üblicherweise werden Migrantensprachen in Deutschland nur im Rahmen des herkunftssprachlichen Unterrichts gefördert. Bilinguale Modelle beziehen sich meist auf das Deutsche und so genannte Weltsprachen wie Englisch, die für die Schülerinnen und Schüler zumeist Fremdsprachen sind. Evaluationen von bilingualen Modellen in den USA , in denen neben der Amtssprache in einer Migrantensprache unterrichtet wird, zeigen, dass und wie diese Art der bilingualen Erziehung zu sprachlichen bzw. schulischen Lernerfolgen führt. Auf Grund diverser bildungspolitischer und soziokultureller Differenzen lassen sich die Modelle allerdings nicht eins zu eins auf den bundesdeutschen Kontext übertragen. Der Beitrag thematisiert den Fall des Hamburger Schulversuchs Bilinguale Grundschule. Zunächst wird der Schulversuch unter Nutzung von Analysen der wissenschaftlichen Begleitung vor allem am Beispiel der türkisch-deutsch bilingualen Klassen vorgestellt. Anschließend wird gezeigt, welche Herausforderungen die bilinguale schulische Erziehung in Deutsch und einer Migrantensprache enthält und welche didaktisch-methodischen Strategien erfolgversprechend sind. Die Analysen der wissenschaftlichen Begleitung stützen sich vor allem auf die Datenerhebungen in den türkisch-deutsch-bilingualen Klassen des Schulversuchs, die sich über einen Zeitraum von vier Jahren erstreckten. Erhoben wurden Daten zur mündlichen und schriftlichen Sprachentwicklung, zu familialen Rahmenbedingungen und Schulleistungen sowie den didaktisch-methodischen Aspekten des Unterrichts. In Germany, migrant languages are usually promoted only in the context of home language instruction for migrants. Bilingual models usually refer to German and so-called world languages such as English, which are mostly the foreign languages learned by pupils at school. Evaluations of bilingual models in the USA , in which instruction is given in a migrant language as well as in the official language, show that and how this kind of the bilingual education leads to successful learning in language and in school in general. However, because of various political, educational and sociocultural differences the models cannot be transferred one to one to the German context. The article discusses the Bilingual Primary School experiment in Hamburg. First this experiment is described with particular reference to the Turkish-German bilingual classes, drawing on the analyses of the accompanying evaluation study. This is followed by a discussion of the challenges confronting a bilingual school education in German and a migrant language and of promising strategies and teaching methods. The analyses of the accompanying evaluation study are based mainly on data collected in the Turkish-German bilingual classes of the experiment, covering a period of four years. Data were collected on the development of spoken and written language, on the family backgrounds and performance at school and on aspects of the teaching methods used. İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 130 1. Der Hamburger Schulversuch Bilinguale Grundschule Im Zuge der Diskussionen über mögliche Wege der besseren schulischen Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund wird auch über bilinguale Beschulungsmodelle debattiert. Die Positionen hierzu sind konträr, die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern (z.B. Cummins 2008) und Gegnern bilingualer Modelle (z.B. Esser 2006) sind leidenschaftlich. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nicht, eben diese Diskussion nachzuzeichnen und zu bewerten. Im Mittelpunkt stehen stattdessen Erkenntnisse zur Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten in zwei bilingualen Klassen, in denen Kinder, die die Minderheitensprache Türkisch sprechen, gemeinsam mit Sprechern der Mehrheitssprache Deutsch unterrichtet werden. Untersuchungen aus den USA und Kanada hatten Two-Way-Immersion-Modelle für die gemeinsame Beschulung als besonders geeignet herausgestellt - die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den deutschsprachigen Raum war jedoch unklar (vgl. Reich/ Roth 2002). Im Schuljahr 2000/ 2001 startete der Hamburger Schulversuch Bilinguale Grundschule, mit dessen Einrichtung von behördlicher Seite vor allem die Nutzung von Migrantensprachen als gesamtgesellschaftliche Bildungsressource und die Leistung eines besonderen Beitrags zur Verbesserung der Bildungssituation von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund verfolgt wurden. Die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sollten die Möglichkeit erhalten, ihre nichtdeutschen Herkunftssprachen im Rahmen ihrer Schulbildung zu nutzen und auszubauen; die Kinder ohne Migrationshintergrund sollten die Möglichkeit erhalten, von der sie umgebenden Mehrsprachigkeit zu profitieren. Mit Unterstützung der jeweiligen Konsulate wurden an bestehenden Grundschulen insgesamt sechs bilinguale Schulzweige mit den Sprachenpaaren Italienisch-Deutsch, Portugiesisch-Deutsch, Spanisch- Deutsch und Türkisch-Deutsch eingerichtet. Die jeweils erste Klasse wurde vom ersten bis zum vierten Schuljahr wissenschaftlich begleitet. Den begleiteten Modellklassen folgten an den beteiligten Schulen in jedem neuen Schuljahr weitere bilinguale Klassen. Für die Modellklassen gilt kein festes Einzugsgebiet; es können Kinder aus dem gesamten Hamburger Stadtgebiet angemeldet werden. Wie die parallel dazu geführten regulären Klassen sind sie nach dem Prinzip der ‘Verlässlichen Halbtagsgrundschule’ organisiert. Die Kinder gehen von 8 bis 13 Uhr zur Schule und erhalten Unterricht nach denselben Richtlinien und Bildungsplänen wie Kinder in Regelklassen. Für den Unterricht in Italienisch, Portugie- Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 131 sisch, Spanisch oder Türkisch (bezeichnet als „Partnersprachen“) gilt derselbe Plan wie für den Herkunftssprachlichen Unterricht. 1 Die bilingualen Klassen sollen etwa zur Hälfte von Kindern mit Kenntnissen in der Partnersprache besucht werden. Die Lehrerinnen und Lehrer der Partnersprachen sind Beamte ihrer jeweiligen Herkunftsstaaten und erteilen pro Klasse zwölf Stunden Unterricht. Zwei weitere Stunden erhalten sie und die deutschen Klassenlehrerinnen für Koordinationsbedarf. Da es sich um einen Schulversuch handelt, besitzen die Schulen und Lehrkräfte relativ viel Freiraum in der Gestaltung des Unterrichts. Es steht ihnen u.a. frei, ob sie die Klassen für den Sprachunterricht in Lerngruppen aufteilen oder ob die Lehrkräfte der beiden Sprachen im Team unterrichten. Festgelegt ist lediglich, dass der Schriftspracherwerb bereits im ersten Schuljahr in beiden Sprachen erfolgen soll, und dass der Sachunterricht von einem zunächst einsprachigen Unterricht im Deutschen, in dem nur zentrale Begriffe auch in der Partnersprache vermittelt werden sollen, allmählich zu einem einsprachigen Unterricht in der Partnersprache wird. Die übrigen Fächer wie z.B. Mathematik werden auf Deutsch unterrichtet. 2 Auf den Zeugnissen wird der Lernerfolg in den Partnersprachen (in Form einer Gesamtnote) zusätzlich zu den übrigen Fächern und Deutsch (Sprechen und Gespräch, Lesen, Texte schreiben, Richtig schreiben, Sprache untersuchen) ausgewiesen. 3 Die Herangehensweisen der Türkischlehrkräfte an die bilinguale Unterrichtssituation waren unterschiedlich. Alle Türkischlehrkräfte verfügten über Deutschkenntnisse und agierten im Unterricht nicht einsprachig türkisch, sondern in verschiedenen Formen und Gewichtungen zweisprachig. Der Deutschanteil in ihrem Unterricht variierte; er wurde von den Lehrkräften auf ca. 30 Prozent geschätzt. Im täglichen Miteinander verwendeten die Kinder entsprechend der gesellschaftlichen und der schulischen Bedeutung der Sprachen seltener die Partnersprachen als das Deutsche. Die beiden Sprachen sind somit nicht gleichgestellt, das Deutsche dominiert in den Klassen merklich. 1 Für den Rahmenplan herkunftssprachlicher Unterricht vgl. http: / / lbs.hh.schule.de/ bildungsplaene/ Grundschule/ HU_Grd.pdf (Stand: 05/ 2011) 2 Tatsächlich ist in keiner der Klassen ein einsprachig partnersprachlicher Unterricht verwirklicht worden, sondern es wurde in der Regel im Team zweisprachig unterrichtet, vielfach in Form von „Stationen- oder Werkstattlernen“ mit Arbeitsblättern und Aufgaben in zwei Sprachen. 3 Diese Beurteilung beruht auf einer Analyse der Zeugnisse, die in den bilingualen Modellklassen vergeben wurden (vgl. hierzu im Einzelnen den Bericht von Gogolin/ Neumann/ Roth 2003, S. 16-20). İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 132 Die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung war sehr daran interessiert, den Schulerfolg der Kinder in sprachlicher und sachlicher Hinsicht zu sichern. Daher übertrug sie dem Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg den Auftrag, die Sprachentwicklung der Kinder in beiden Sprachen zu beobachten. Die Planung und Realisierung der wissenschaftlichen Begleitung der bilingualen Begleitung oblagen Ingrid Gogolin, Ursula Neumann und Hans-Joachim Roth. Die Begleitung umfasste unter anderem eine Eingangserhebung im ersten Schuljahr, in der der Sprachstand der Kinder in beiden Sprachen und ihre familiäre Situation erfasst wurden. Für die Sprachstandsfeststellung wurde ein Vorläufer des Hamburger Verfahrens zur Sprachstandsanalyse 5-Jähriger ( HA- VAS 5, Reich/ Roth 2004, 2007) verwendet. Angaben zum familiären Hintergrund wurden durch standardisierte mündliche Interviews auf Deutsch oder in der Partnersprache erhoben. Die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten der Kinder wurde im Laufe der Grundschulzeit jährlich im Hinblick auf die mündliche Textproduktion, das Schreiben und die Lesekompetenz durch den Einsatz verschiedener altersgemäßer Verfahren (z.T. von der wissenschaftlichen Begleitung entwickelt, z.T. mit bereits erprobten Verfahren wie dem IGLU -Leseverständnis-Test etc.) beobachtet. Die Zufriedenheit der Eltern mit dem Schulversuch wurde am Ende des vierten Schuljahres durch einen mehrsprachigen Fragebogen erhoben. Die Lehrerinnen und Lehrer im Schulversuch wurden modellbegleitend in Form von narrativen Einzelinterviews zu didaktisch-methodischen Regelungen und Erfahrungen befragt. Ergänzend wurden in jedem Schuljahr Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt, die weiteren Aufschluss darüber gaben, wie bilingualer Unterricht in den verschiedenen Klassen realisiert wurde. Daneben wurden im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung jährlich Workshops durchgeführt, in denen den Lehrerinnen und Lehrern zum einen Zwischenergebnisse der Evaluation zurückgemeldet und zum anderen Fachvorträge zu modellrelevanten Themen präsentiert wurden. Die Workshops dienten den Lehrkräften darüber hinaus als Forum, um sich mit Kollegen zu unterrichtlichen Belangen auszutauschen. Im Jahr 2007 wurden die zentralen Ergebnisse der Abschlussuntersuchungen in den italienisch-, portugiesisch- und spanisch-deutschen Klassen vorgelegt (vgl. Roth/ Neumann/ Gogolin 2007), über die Ergebnisse der türkisch-deutschen Klassen wurde im Sommer 2009 berichtet (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009). Der vorliegende Beitrag fasst die zentralen Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung zusammen und gibt damit einen Einblick in die sprachliche Entwicklung der Kinder der beiden Klassen. Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 133 2. Türkisch-deutsche Modellklassen Während des vierjährigen Begleitungszeitraums besuchten insgesamt 28 Schülerinnen und 25 Schüler die beiden türkisch-deutsch bilingualen Klassen. In beiden Klassen kam es zu Fluktuationen, Kinder verließen die Klassen oder kamen neu dazu. In den Begleituntersuchungen wurden für die Beschreibung der Stichprobe und die Untersuchung der Sprachentwicklung ausschließlich die Daten von Kindern (48 an der Zahl) herangezogen, die mindestens zwei Jahre am Unterricht in den Modellklassen teilnahmen. Die Kinder sind überwiegend in Deutschland geboren (94,6 Prozent; siehe Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009, S. 9); etwa zwei Drittel der Kinder haben einen Migrationshintergrund, d.h. sie haben mindestens einen im Ausland geborenen Eltern- oder Großelternteil. Zu Beginn des ersten Schuljahres bzw. beim Eintritt in die bilingualen Modellklassen wurden durch standardisierte Interviews mit einem Elternteil Daten zu sozialen und sprachlichen Dispositionen der Familien erhoben. Die Angaben zu beruflicher Tätigkeit sowie zum Bildungshintergrund der Eltern wurden international vergleichbar skaliert. Dominierend waren mittlere und höhere Bildungsabschlüsse; der ISCED -Mittelwert ( ISCED = International Standard Classification of Education, skaliert nach der in PISA 2000 verwendeten Klassifikation) der Familien lag bei 4,56 (vgl. Tab. 1; Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009). Der sozioökonomische Hintergrund der Familien beider Schulklassen lag mit einem ISEI -Mittelwert ( ISEI = International Socio-Economic Index of Occupational Status) von 42,95 etwas unter dem 2004 für Viertklässler ermittelten Bundesdurchschnitt von 45,4 (vgl. Schwippert/ Bos/ Lankes 2004, S. 173). Differenziert man bei der Betrachtung der Werte nach sprachlichem Hintergrund der Kinder, 4 fällt auf, dass sich die Sprachgruppen im Hinblick auf ISEI und ISCED nur wenig voneinander unterscheiden (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009). Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder weisen zwar tendenziell günstigere Werte auf, eine Signifikanz lässt sich für die Differenzen jedoch nicht nachweisen. 4 Im Laufe der wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs hatte sich bewährt, im Hinblick auf die sprachlichen Fähigkeiten bzw. Eingangbedingungen der Kinder bei Schuleintritt zwischen einsprachig deutschen, einsprachig partnersprachigen, bilingual deutsch-partnersprachigen und bilingualen Kindern ohne Kenntnisse der Partnersprache zu unterscheiden. Die Auswertung der Sprachdaten der türkisch-deutschen Klassen hat jedoch gezeigt, dass eine Differenzierung in die zwei Gruppen ‘Kinder ohne Türkischkenntnisse bei Einschulung’ (einsprachig deutsche und bilinguale Kinder ohne Türkischkenntnisse) und ‘Kinder mit Türkischkenntnissen bei Einschulung’ (deutsch-türkische sowie einsprachig türkische Kinder) für die beiden türkisch-deutschen Klassen angemessener ist (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009). İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 134 Sprachgruppe ohne Türkischkenntnisse mit Türkischkenntnissen gesamt ISCED ' MW 4,71 4,45 4,56 N 14 22 36 SD 1,20 1,30 1,25 ISEI '' MW 47,57 40,25 42,95 N 14 24 38 SD 17,02 15,88 16,47 Tab.1: Mittelwerte Bildungshintergrund und sozioökonomischer Status der Eltern (nach Sprachgruppen); Mann-Whitney-U-Test: ') p = 0,597, '') p = 0,3613. 3. Sprachliche Entwicklung im Deutschen und Türkischen Zur Nachzeichnung der sprachlichen Entwicklung im Deutschen und Türkischen wurden in jedem Schuljahr Erhebungen zum Stand der Aneignung der gesprochenen und geschriebenen Sprache durchgeführt (vgl. Roth/ Neumann/ Gogolin 2007, S. 4ff.). Auf Grund großer Forschungs- und Entwicklungslücken in diesem Bereich war die wissenschaftliche Begleitung gefordert, Pionierarbeit zu leisten und die meisten Instrumente im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten selbst zu entwerfen. Dabei konnten Erkenntnisse für die zukünftige Entwicklung von sprachstandsdiagnostischen Verfahren zu Erfassung von Bilingualität gewonnen werden. Im vorliegenden Artikel kann nicht auf alle mit diesen Instrumenten erhobenen Daten eingegangen werden; im Zentrum der Darstellung stehen stattdessen Erhebungen (und deren Ergebnisse) des ersten und vierten Schuljahres, also zu Beginn und Ende der Grundschulzeit. Berücksichtigt werden dabei sowohl mündliche als auch schriftliche Daten. Zu Beginn und am Ende des ersten Schuljahres wurden zwei Bildimpulse, die Bildergeschichte „Katze und Vogel“, in der ein kleiner Vogel eine Katze narrt (später für das HAVAS 5 verwendet, vgl. Reich/ Roth 2004), und das „Küchenbild“, das etliche Akteure bei der Verrichtung verschiedener Arbeiten im häuslichen Alltag in einer Küche darstellt, eingesetzt, um den Kindern in beiden Sprachen Äußerungen zu elizitieren, die aufgenommen, transkribiert und mittels profilanalytischer Raster (vgl. Reich 2001) ausgewertet wurden. 5 In bei- 5 Das Analyseraster für die Bildergeschichte „Katze und Vogel“ wurde später in überarbeiteter Form für die Auswertung von HAVAS 5-Sprechproben eingesetzt (Reich/ Roth 2004, 2007). Eine Prüfung des Verfahrens wurde im Jahr 2002 durch das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung durchgeführt (vgl. Reich/ Roth 2007). Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 135 den Sprachen werden dabei die allgemeine Sprachhandlungsfähigkeit sowie morphologisch-syntaktische und semantische Fähigkeiten anhand von Indikatoren erfasst. Am Ende der Grundschulzeit wurden mündliche Daten durch zwei weitere Bildimpulse, „Topfszene“ und „Ultraschall“, erhoben. Beim ersten Impuls handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem im ersten Schuljahr verwendeten „Küchenbild“, der die starke Schaumbildung beim Aufkochen einer Flüssigkeit und das damit verbundene Überlaufen eines Topfes fokussiert; der zweite Impuls zeigt eine Frau bei einer ärztlichen Untersuchung mit einem Ultraschallgerät. Beide Impulse sind geeignet, Äußerungen zu gesellschaftlich-sozialen sowie am Ende der Primarstufe zunehmend wichtiger werdenden naturwissenschaftlich-technischen Themen zu elizitieren (Roth/ Neumann/ Gogolin 2007, Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009). Im Bereich der schriftsprachlichen Fähigkeiten wurden im ersten Schuljahr im Abstand von jeweils drei Monaten dreimal Tests zur Erfassung des Standes der Alphabetisierung in beiden Sprachen, die Sofa- und para-Tests (Dehn 1988, Reich 2001), durchgeführt. Die Kinder werden aufgefordert, im Deutschen die Wörter Sofa, Mund, Limonade, Reiter und Kinderwagen und im Türkischen die Wörter para (Geld), kitap (Buch), eldiven (Handschuh), sandalye (Stuhl) und kalem (Stift) zu schreiben. Die Gegenstände sind auf einem Arbeitsblatt abgebildet, es kann direkt neben die Abbildungen geschrieben werden. 6 Zur Erfassung der Lesefähigkeiten der Kinder wurden am Ende des vierten Schuljahres Lesetests mit den aus der IGLU -Studie bekannten Instrumenten durchgeführt (Bos et al. (Hg.) 2003). 3.1 Allgemeine sprachliche Handlungsfähigkeit Die allgemeine Sprachhandlungsfähigkeit wird im Deutschen wie im Türkischen durch die so genannte Aufgabenbewältigung (vgl. Reich/ Roth 2004, 2007) festgestellt. Für jede einzelne in den beiden Bildimpulsen „Katze und Vogel“ und „Küchenbild“ dargestellte Szene wird eingeschätzt, inwieweit die Kinder die Handlungen der verschiedenen Akteure versprachlichen. Die Übereinstimmung der Äußerungen mit zielsprachlichen Normen spielt dabei keine Rolle. Im Fokus steht die Frage, was die Kinder mit ihren bereits erworbenen sprachlichen Fähigkeiten zu kommunizieren vermögen. Die Aufgabenbewältigung ist unabhängig von den Spezifika einzelner Sprachen und kann daher für einen direkten Vergleich der sprachlichen Fähigkeiten in den verschiedenen Sprachen eines mehrsprachigen Kindes herangezogen werden. 6 Beide Tests sind unter http: / / www.li-hamburg.de/ projekte/ projekte.liq.daten/ projekte.liq.daten.elli/ projekte.liq.daten.elli.mat/ projekte.liq.daten.elli.mat.2/ index.html verfügbar (Stand: 05/ 2011). İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 136 Die Ergebnisse der ersten Erhebung zeigen für das Deutsche deutliche und hoch signifikante Differenzen bei den von den beiden Sprachgruppen erzielten Mittelwerten (vgl. Tab. 2). Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder erreichen erwartungsgemäß deutlich höhere Werte im Deutschen als die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder. Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder konnten sich zu Beginn des ersten Schuljahres erwartungsgemäß noch nicht auf Türkisch äußern. Deutsch Türkisch Sprachgruppe 1. Halbjahr 2. Halbjahr 1. Halbjahr 2. Halbjahr ohne Türkischkenntnisse MW 2,62 2,96 0,00 0,00 N 16 16 16 16 SD 0,50 0,67 0,00 0,00 mit Türkischkenntnissen MW 1,67 2,38 2,23 2,23 N 21 21 21 21 SD 0,75 0,96 0,75 0,78 gesamt MW 2,08 2,63 1,26 1,27 N 37 37 37 37 SD 0,80 0,88 1,25 1,26 Tab. 2: Mittelwerte, Aufgabenbewältigung Sprechproben, 1. Schuljahr 7 Am Ende des ersten Schuljahres ist im Deutschen für beide Gruppen ein Zuwachs der Mittelwerte zu verzeichnen, die Unterschiede zwischen den Gruppen verfehlen knapp die Signifikanzgrenze (Mann-Whitney-U-Test: p = 0,059). Besonders deutlich ausgeprägt ist der Zuwachs bei den mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kindern. Die Gruppe der ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder weist weiterhin einen deutlichen Vorsprung vor den mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kindern auf. Die Ergebnisse im Türkischen lassen am Ende des ersten Schuljahres gegenüber den Werten der Eingangserhebung wider Erwarten keinen Zuwachs erkennen. Die mündliche Darstellungsfähigkeit der Kinder, die bei Einschulung bereits über Türkischkenntnisse verfügten, gleicht sich im Deutschen zum Ende des ersten Schuljahres an die Darstellungsfähigkeit im Türkischen an. Der Spracherwerb der Kinder, die mit Türkischkenntnissen eingeschult wurden, konzentriert sich im ersten Schuljahr offenbar auch im bilingualen Modell vorwiegend auf das Deutsche. Die ohne Türkischkenntnisse eingeschul- 7 In den Berechnungen, die die Entwicklungen während des ersten Schuljahres betreffen, werden ausschließlich Daten von Kindern berücksichtigt, von denen im ersten und zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres beide Sprechproben erhoben werden konnten (N=37). Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 137 ten Kinder mochten auch am Ende des ersten Schuljahres nicht versuchen, auf Türkisch zu den Bildimpulsen zu sprechen. Allerdings konnten die Kinder auf die Bitte der Interviewerin hin einige wenige im Unterricht gelernte türkische Begriffe, wie baba (dt. Papa) und anne (dt. Mama), nennen. Die im vierten Schuljahr erhobenen Sprechproben wurden in Bezug auf die sprachliche Handlungsfähigkeit anhand anderer, altersangemessenerer Kriterien analysiert. Ein direkter Vergleich der Ergebnisse mit denen des ersten Schuljahres ist vor diesem Hintergrund nicht möglich. Es haben sich jedoch zwei bedeutsame Phänomene gezeigt: Einerseits wurde festgestellt, dass die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder auch am Ende der Grundschulzeit kaum Türkisch sprechen mochten. Wenn sie sich auf Türkisch äußerten, handelte es sich überwiegend um die Benennung von in den Impulsbildern dargestellten Gegenständen und Personen (z.B. çocuklar, dt. Kinder). Ein weiterer zentraler Befund ist, dass die Häufigkeit der Sprachhandlung Deuten/ Vermuten sowohl im Deutschen als auch im Türkischen signifikant mit klassischen Sprachstandsindikatoren (verbaler Wortschatz, syntaktische Komplexität etc.) korreliert; sie steht also mit einer fortgeschrittenen allgemeinen Sprachkompetenz in Zusammenhang (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009, S. 47f.). 8 3.2 Morphologisch-syntaktische Fähigkeiten im Deutschen Die Beschreibung der Entwicklung morphosyntaktischer Fähigkeiten im Deutschen kann durch die Erfassung verbmorphologischer Phänomene und Satzmuster realisiert werden (vgl. Döll/ Roth/ Siemon 2009, Kemp/ Bredel/ Reich 2008). Für das Türkische eignen sich Suffixe als Indikator (vgl. Reich/ Roth 2007). Tabelle 3 zeigt die Menge der in den deutschen Sprachproben verwendeten verschiedenen Formen und Stellungen des Verbs im Satz (Types). Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Schülerinnen und Schüler verwenden sowohl im ersten als auch im zweiten Schulhalbjahr mehr unterschiedliche Verbformen und -stellungen als die der anderen Sprachgruppe zugehörigen Kinder; signifikant sind die Differenzen jedoch nicht. Beide Sprachgruppen verzeichnen eine Zunahme der Vielfalt verwendeter Formen und Stellungen des Verbs von der Eingangserhebung zur Erhebung am Ende des ersten Schuljahres, aber auch hier konnte keine Signifikanz nachgewiesen werden. 8 Korrelationen von Deuten/ Vermuten für das Deutsche: Tokens der Verben (r = 0,379, p = 0,016) und Satzgefüge (r =0,316, p = 0,047); Korrelationen von Deuten/ Vermuten für das Türkische: Types Suffixe an Verben (r = 0,417, p = 0,043) und Menge komplexer Sätze (r = 0,484, p = 0,017). İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 138 Sprachgruppe 1. Halbjahr 2. Halbjahr ohne Türkischkenntnisse MW 7,69 7,88 N 16 16 SD 1,014 0,957 mit Türkischkenntnissen MW 6,67 7,10 N 21 21 SD 0,75 0,96 gesamt MW 7,11 7,43 N 37 37 SD 1,87 1,46 Tab. 3: Mittelwerte, Formen und Stellungen des Verbs (Types), 1. Schuljahr (Deutsch) Die Vielfalt der verwendeten Formen und Stellungen des Verbs wurde auch in den mündlichen Sprechproben des vierten Schuljahres, die jetzt allerdings mit den Impulsen „Topfszene“ und „Ultraschall“ erhoben wurden, analysiert. Vom Ende des ersten zum Ende des vierten Schuljahres ist erneut eine Zunahme der verwendeten Formen und Stellungen des Verbs zu beobachten (vgl. Tab. 4); die Veränderungen vom ersten Halbjahr des ersten Schuljahres zum vierten Schuljahr verfehlen die Signifikanzgrenze nur knapp (Wilcoxon- Test: p = 0,063). Trotz der geringen Größe der untersuchten Gruppe kann von einem systematischen Zusammenhang ausgegangen werden. Die Kinder brachten zur Bewältigung der gestellten sprachlichen Aufgaben am Ende des vierten Schuljahres ein weiter entfaltetes morphologisch-syntaktisches System in Anwendung als bei ihrer Einschulung. Es fällt jedoch auf, dass die von mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kindern erzielten Werte auch im vierten Schuljahr hinter den Ergebnissen der Kinder, die ohne Türkischkenntnisse eingeschult wurden, zurückbleiben. Eine Signifikanz des Unterschieds zwischen den Gruppen lässt sich (wie im ersten Schuljahr) jedoch nicht nachweisen. Neben der Vielfalt der verwendeten Verbformen und -stellungen änderten sich vom ersten zum vierten Schuljahr auch die Typen verwendeter morphosyntaktischer Konstruktionen (vgl. Tab. 5). Im Gegensatz zum ersten Schuljahr kommen in den Äußerungen der Kinder am Ende der Grundschulzeit keine unflektierten Verbformen mehr vor. Verbformen im Präsens, Kopulakonstruktionen, Verben in Nebensatzendstellung werden am Ende des vier- Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 139 ten Schuljahres von allen Kindern verwendet; auch invertierte Hauptsätze, Perfekt und Verben mit getrennt stehendem Präfix sind in den Äußerungen fast aller Kinder zu finden. Komplexere (und zugleich schulsprachlichere) Formen wie Passiv und Konjunktiv, die Kemp/ Bredel/ Reich (2008) zu den ontogenetisch späten Entwicklungen zählen, werden auch im vierten Schuljahr nur von wenigen Kindern verwendet. 1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr ohne Türkischkenntnisse MW 7,80 7,93 8,33 N 15 15 15 SD 0,94 0,96 1,11 mit Türkischkenntnissen MW 7,27 7,47 7,80 N 15 15 15 SD 1,58 0,99 1,01 gesamt MW 7,53 7,70 8,07 N 30 30 30 SD 1,31 0,99 1,08 Tab. 4: Mittelwerte, Formen und Stellungen des Verbs (Types), 1. bis 4. Schuljahr (Deutsch) 9 Als Indikator für die Entwicklung syntaktischer Fähigkeiten im Deutschen wurde auch erfasst, welche Konnektoren und wie viele Satzgefüge die Kinder in den Sprechproben verwendeten (vgl. Döll/ Roth/ Siemon 2009, Kemp/ Bredel/ Reich 2008). Im ersten Schuljahr produzierten ohne Türkischkenntnisse eingeschulte Kinder zu beiden Erhebungszeitpunkten im Mittel mehr Konnektoren als ihre mit Türkischkenntnissen eingeschulten Mitschülerinnen und Mitschüler, signifikant sind die Differenzen jedoch nicht (vgl. Tab. 6). Für beide Gruppen lässt sich vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres eine enorme und zugleich hoch signifikante Zunahme der Zahl verwendeter Konnektoren verzeichnen (Wilcoxon-Test: p = 0,000). Die im zweiten Halbjahr erhobenen Äußerungen der Kinder zeichnen sich also insgesamt durch eine weitaus größere Kohärenz aus. Da im vierten Schuljahr auf die Erfassung einfacher Konnektoren wie und, dann sowie und dann verzichtet wurde, fallen die absoluten Werte hier geringer aus als im ersten Schuljahr. 9 In die Berechnungen, die die Entwicklungen vom ersten bis vierten Schuljahr betreffen, sind ausschließlich Daten von Kindern eingeflossen, von denen vom ersten bis vierten Schuljahr alle Sprechproben erhoben werden konnten (N=30). İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 140 Ein direkter Vergleich mit den Ergebnissen des ersten Schuljahres ist daher nicht möglich, wenngleich die im ersten und vierten Schuljahr verwendeten Impulse in gleichem Umfang geeignet sind, unterschiedliche Konnektoren zu elizitieren. Die Daten können jedoch zum Vergleich der beiden Sprachgruppen herangezogen werden. Dabei wird deutlich, dass die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder im Vergleich zu ihren Mitschülern und Mitschülerinnen mehr Konnektoren verwenden. 10 ohne Türkischkenntnisse N = 15 mit Türkischkenntnissen N = 15 Schuljahr 1.(1) 1.(2) 4. 1.(1) 1.(2) 4. Vollverb in unflektierter Form 0 0 0 1 1 0 Präsens 15 15 15 15 15 15 Kopulakonstruktionen 15 15 15 14 15 15 Modalverbkonstruktionen 13 15 10 14 15 13 Verb mit getrenntem Präfix 15 15 14 15 14 13 Inversion 15 13 15 14 10 14 Endstellung im Nebensatz 15 15 15 10 14 15 Perfekt 12 15 14 12 14 12 Präteritum 6 7 10 8 11 13 Passiv 3 2 7 3 1 2 Konjunktiv II 2 0 5 0 0 3 Verbalperiphrase 6 7 5 4 3 2 Tab. 5: Morphologisch-syntaktische Phänomene, 1. bis 4. Schuljahr Deutsch; dargestellt ist die Zahl der Kinder, die die jeweilige Konstruktion in ihren Äußerungen verwendeten Analog zu den Ergebnissen der Konnektorenverwendung nimmt auch die Menge der verwendeten Satzgefüge vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres stark zu (vgl. Tab. 7; Wilcoxon-Test: p = 0,000). Das bedeutet, dass nicht nur die Menge der Verknüpfungen im Text zunimmt, sondern auch die Qualität der Verknüpfungen steigt. Im ersten Schuljahr verwenden die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder zu beiden Erhebungszeit- 10 Eine Signifikanz der berichteten Differenzen lag zu keinem Zeitpunkt vor. Da die Werte angesichts der kleinen Stichprobe jedoch Tendenzen erkennen lassen, werden sie in diesem Beitrag aufgeführt. Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 141 punkten im ersten Schuljahr weniger Satzgefüge als die Kinder, die ohne Türkischkenntnisse eingeschult wurden. Im vierten Schuljahr liegen dann beide Gruppen nahezu gleichauf. Konnektoren 1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr ohne Türkischkenntnisse MW 9,10 14,90 6,77 N 15 15 15 SD 4,98 7,47 5,58 mit Türkischkenntnissen MW 7,53 13,66 7,53 N 15 15 15 SD 5,08 7,01 4,76 gesamt MW 8,32 14,28 7,15 N 30 30 30 SD 5,01 7,15 5,11 Tab. 6: Mittelwerte, verwendete Konnektoren je Impuls im Deutschen, 1. bis 4. Schuljahr Satzgefüge 1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr ohne Türkischkenntnisse MW 5,22 8,11 4,60 N 15 15 15 SD 2,54 3,89 2,62 mit Türkischkenntnissen MW 4,15 7,43 4,40 N 15 15 15 SD 2,74 3,43 2,55 gesamt MW 4,68 7,77 4,50 N 30 30 30 SD 2,65 3,62 2,54 Tab. 7: Mittelwerte, verwendete Satzgefüge je Impuls im Deutschen, 1. bis 4. Schuljahr 3.3 Morphologisch-syntaktische Fähigkeiten im Türkischen Das Türkische unterscheidet sich als agglutinierende Sprache strukturell erheblich von den indoeuropäischen Sprachen. Alle grammatischen Formen (Numerus, Genus, Kasus, Tempus usw.) werden durch das Anhängen von Suffixen an Wortwurzeln realisiert. Für die Einschätzung morphologischer Fähigkeiten im Türkischen ist daher die Verwendung von Suffixen in den Sprech- İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 142 proben analysiert worden (vgl. Sırım/ Reich 2008). Mit dem im Modellversuch verwendeten Auswertungsraster werden zwölf Suffixtypen bzw. Suffixkombinationen erfasst (vgl. Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009, S. 32). In Tabelle 8 sind die Mittelwerte der in den Sprechproben verwendeten unterschiedlichen Suffixtypen abgebildet. Deutlich wird, dass vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres keine Veränderungen zu beobachten sind, zum vierten Schuljahr die Zahl der verwendeten Suffixtypen vor allem für die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder stark ansteigt, wobei der Zuwachs nicht nur deutlich, sondern auch signifikant ist (für die Gesamtgruppe: Wilcoxon-Test p = 0,030; für die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder: Wilcoxon-Test p = 0,098). Die Kinder verwenden also am Ende der Grundschulzeit ein breiteres Repertoire an Suffixen zur Realisierung der gestellten Sprechaufgaben, was darauf schließen lässt, dass sich das morphologische System des Türkischen im Laufe der Grundschulzeit weiter entfaltet und ausdifferenziert hat. 1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr ohne Türkischkenntnisse MW 0,00 0,00 0,40 N 15 15 15 SD 0,00 0,00 1,06 mit Türkischkenntnissen MW 3,87 3,73 5,33 N 15 15 15 SD 1,64 1,39 2,32 gesamt MW 1,93 1,87 2,87 N 30 30 30 SD 2,27 2,13 3,07 Tab. 8: Mittelwerte, Types der verwendeten Suffixe, 1. bis 4. Schuljahr (Türkisch) 11 Die von den ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kindern erzielten Werte liegen weit hinter denen der mit Türkischkenntnissen eingeschulten Schülerinnen und Schüler zurück, was angesichts der auch im vierten Schuljahr anhaltenden Zurückhaltung dieser Kinder beim Türkischsprechen nicht verwundert. Trotz großer Bemühungen durch die Interviewerinnen, die Kinder zum Sprechen zu motivieren, haben nur wenige der Kinder türkische Äußerungen getroffen. 11 In die Berechnungen sind ausschließlich Daten von Kindern eingeflossen, von denen vom ersten bis vierten Schuljahr alle Sprechproben erhoben werden konnten (N=30). Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 143 Für die Beobachtung der Entwicklung syntaktischer Fähigkeiten im Türkischen wurden verschiedene Formen von Aussageverbindungen (z.B. einfache Verbindungswörter wie ve, de und da und komplexere wie das relativsatzäquivalente Suffix -dik) erfasst (vgl. Sırım/ Reich 2008). Es zeigt sich, dass komplexere Aussageverbindungsformen nur selten vorkommen und stattdessen sowohl im ersten als auch im zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres einfachere Formen dominieren (vgl. Tab. 9). Aussageverbindungen 1. Halbjahr gesamt einfache komplexe ohne Türkischkenntnisse MW 0,00 0,00 0,00 N 16 16 16 SD 0,00 0,00 0,00 mit Türkischkenntnissen MW 7,60 4,93 2,69 N 21 21 21 SD 5,87 4,32 2,48 gesamt MW 4,31 2,80 1,53 N 37 37 37 SD 5,81 4,06 2,29 Aussageverbindungen 2. Halbjahr gesamt einfache komplexe ohne Türkischkenntnisse MW 0,00 0,00 0,00 N 16 16 16 SD 0,00 0,00 0,00 mit Türkischkenntnissen MW 9,86 6,48 3,24 N 21 21 21 SD 6,52 4,08 2,95 gesamt MW 5,59 3,68 1,84 N 37 37 37 SD 6,94 4,45 2,73 Tab. 9: Mittelwerte, verwendete Aussageverbindungen je Impuls im Türkischen, 1. Schuljahr Auch für das Türkische zeigt sich vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres ein Anstieg der Menge der verwendeten Verbindungen, d.h. auch im Türkischen sind die Äußerungen am Ende des ersten Schuljahres kohärenter İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 144 als zu Beginn. Aber auch die Vielfalt der von den Kindern verwendeten Verbindungen hat vom ersten zum zweiten Halbjahr zugenommen (vgl. Tab. 10). Die Werte und Anstiege beziehen sich jedoch nur auf Kinder, die bereits mit Türkischkenntnissen eingeschult wurden. Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Schülerinnen und Schüler verwendeten keine Aussageverbindungen. Die Verwendung von Aussageverbindungen wurde auch in den Sprechproben des vierten Schuljahres analysiert. Dabei wurde deutlich, dass die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Schülerinnen und Schüler am Ende der Grundschulzeit keinerlei Aussageverbindungen im Türkischen produzieren (siehe Tab. 10). Types Aussageverbindungen 1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr ohne Türkischkenntnisse MW 0,00 0,00 0,00 N 15 15 16 SD 0,00 0,00 0,00 mit Türkischkenntnissen MW 3,33 3,87 4,20 N 15 15 15 SD 1,45 1,46 3,65 gesamt MW 1,67 1,93 2,50 N 30 3 30 SD 1,97 2,21 3,29 Tab. 10: Mittelwerte, Types verwendeter Aussageverbindungen im Türkischen, 1. bis 4. Schuljahr 3.4 Semantische Fähigkeiten Für die Beobachtung und Einschätzung der Entwicklung semantischer Fähigkeiten hat sich sowohl für das Deutsche als auch für das Türkische die Menge der verwendeten verschiedenen Verben (Types) als Indikator etabliert (Komor/ Reich 2008, Sırım/ Reich 2008). Die im Laufe des ersten Schuljahres erhobenen Daten zeigen, dass die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder in beiden Erhebungen im Deutschen mehr verschiedene Verben verwenden, d.h. sich differenzierter äußern, als die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder (vgl. Tab. 11). Die Differenz zwischen den beiden Sprachgruppen ist zu Beginn des ersten Schuljahres signifikant (Mann-Whitney-U-Test: p = 0,034) und verfehlt am Ende des ersten Schuljahres die Signifikanzgrenze nur knapp (Mann-Whitney-U-Test: p = 0,069). Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 145 1. Halbjahr Types 2. Halbjahr Types ohne Türkischkenntnisse MW 13,34 15,78 N 16 16 SD 3,10 3,32 mit Türkischkenntnissen MW 11,09 13,74 N 21 21 SD 5,27 5,28 gesamt MW 12,07 14,62 N 37 37 SD 4,55 4,60 Tab. 11: Mittelwerte, Menge der durchschnittlich verwendeten Verben (Types) pro Sprechimpuls, 1. Schuljahr, Deutsch Für das Türkische hat sich gezeigt, dass die Menge der verwendeten verschiedenen Verben vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres leicht abnimmt (vgl. Tab. 12). Signifikant ist diese Veränderung nicht, man kann daher eher von einer Stagnation der semantischen Entwicklung während des ersten Schuljahres sprechen. Diese Beobachtung stärkt die eingangs formulierte Vermutung, dass die Sprachaneignung der mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder im ersten Schuljahr vorwiegend auf das Deutsche konzentriert ist. 1. Halbjahr Types 2. Halbjahr Types ohne Türkischkenntnisse MW 0,00 0,00 N 16 16 SD 0,00 0,00 mit Türkischkenntnissen MW 12,61 11,62 N 21 25 SD 4,48 3,30 gesamt MW 7,16 7,09 N 37 41 SD 7,16 6,28 Tab. 12: Mittelwerte, Menge der durchschnittlich verwendeten Verben (Types) pro Sprechimpuls, 1. Schuljahr, Türkisch İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 146 3.5 Bildungssprachliche Fähigkeiten Ein erklärtes Ziel des Modellversuchs war es, die Kinder in beiden Sprachen an die (jeweilige) Bildungssprache heranzuführen. Wenngleich der Begriff ‘Bildungssprache’ aktuell im Zusammenhang mit der Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund zu Recht häufig gebraucht wird, ist noch nicht eindeutig geklärt, welche Phänomene Bildungssprache charakterisieren (Gogolin 2010). In Roth/ Neumann/ Gogolin (2007) wird für das Deutsche ein Modell vorgeschlagen, das Passivkonstruktionen, Konjunktiv, weitere unpersönliche Ausdrücke, Nominalisierungen, Komposita, Attribute und Konstruktionen mit lassen umfasst. Die Sprachproben der Kinder wurden im vierten Schuljahr daher zusätzlich auf diese Phänomene hin analysiert. Durch eine Hauptkomponentenanalyse konnten drei sprachliche Modi identifiziert werden: umgangssprachlicher, akademischer und elaborierter Modus (ebd., S. 59). 12 Für die Einschätzung der bildungssprachlichen Fähigkeiten der Kinder der türkisch-deutsch-bilingualen Klassen wurden diese Modi für die Analyse der im vierten Schuljahr erhobenen Sprechproben aufgegriffen. Signifikante Unterschiede zwischen den beiden Sprachgruppen ergeben sich nur für den die Phänomene Konjunktiv und Passiv umfassenden elaborierten Modus, der von den ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kindern deutlich häufiger verwendet wird als von den Kindern, die bei der Einschulung bereits über Kenntnisse im Türkischen verfügten (vgl. Abb. 1; Mann-Whitney-U-Test: p = 0,008). Diese Beobachtung steht im Einklang mit Hans H. Reichs allgemeiner Feststellung, dass zwei- oder mehrsprachigen Kindern der Übergang von der deutschen Alltagskommunikation zur schulischen Bildungssprache besondere Probleme bereitet (Reich 2008, S. 165). Der Modellversuch zeigt, dass die mit und ohne Deutschkenntnisse eingeschulten Kinder in der vor- und nebenschulischen informellen Bildung Kapazitäten in unterschiedlichen Sprachen entwickeln, wodurch die Kinder, die dominant nichtdeutsch aufwachsen und in die deutsche Schule eingeschult werden, einen Wettbewerbsnachteil mitbringen - es sei denn, in der Schule wird auch mit ihren nichtdeutschen Herkunftssprachen gearbeitet. 12 Kurzcharakterisierung der drei Modi: umgangssprachlicher Modus: häufige Verwendung sprechsprachlicher Floskeln und umgangssprachlicher Wendungen, weiterhin Verwendung von Satzgefügen; akademischer Modus: Substantivierung, Gebrauch von Komposita, begleitet von einem hochfrequenten Einsatz von Verben, unpersönlichen Ausdrücken und Konnektoren; elaborierter Modus: Konjunktiv und Passiv (Roth/ Neumann/ Gogolin 2007, S. 59) Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 147 Abb. 1: Verwendung des elaborierten Modus im Deutschen, 4. Schuljahr 13 Für die Beschreibung bildungssprachlicher Fähigkeiten im Türkischen wurden Genitivverbindungen, komplexe Sätze und die Verwendung der Suffixe -ir und -dir erfasst. Ein Vergleich der Fähigkeiten der Kinder ist über die Menge der verwendeten bildungssprachlichen Elemente möglich, die in starkem und hoch signifikantem Zusammenhang mit der Menge der Types verwendeter Suffixe (vgl. Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009, S. 54) steht, was ihre Eignung als Sprachstandsindikator untermauert. Die Verwendung bildungssprachlicher Elemente durch ohne Türkischkenntnisse eingeschulte Kinder ist minimal: Nur eines der Kinder verwendet ein solches Element, eine Genitivverbindung (vgl. Abb. 2). 13 Bei den Abbildungen 1 bis 3 handelt es sich um Boxplots, die Median, Quartile, Extremwerte und Ausreißer zeigen. İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 148 Abb. 2: Verwendung bildungssprachlicher Elemente im Türkischen, 4. Schuljahr 3.6 Schriftsprachliche/ literale Fähigkeiten In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind in Deutschland etliche Projekte zur bilingualen Alphabetisierung im Deutschen und Türkischen durchgeführt worden; es liegen viele Erfahrungen, aber kein Konsens über die geeignetste Vorgehensweise vor. 14 Diskutiert werden nach wie vor hauptsächlich die Fragen, ob parallel oder zeitlich versetzt alphabetisiert werden soll und in welcher Folge Buchstaben eingeführt werden sollten, um produktive Transfers zu begünstigen und Interferenzen vorzubeugen. Aufgrund der Verwendung des lateinischen Alphabets zur Verschriftlichung beider Sprachen und der Vielzahl von Ähnlichkeiten in der Phonem-Graphem-Repräsentanz birgt die türkisch-deutsch bilinguale Alphabetisierung erhebliches Potenzial für positive Transfers. Transferbedingte Abweichungen von orthografischen Normen der beiden Sprachen sind jedoch nicht auszuschließen - wenn nicht sogar zu erwarten. In den Hamburger türkisch-deutsch bilingualen Klassen wurden im Hinblick auf die Alphabetisierung unterschiedliche Wege eingeschlagen. Eine der Schu- 14 Als Veröffentlichung zum Thema, wenn auch meist nicht auf türkisch-deutsche Ansätze bezogen, sei auf den Sammelband von Budach et al. (Hg.) (2008) verwiesen. Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 149 len alphabetisierte im Türkischen zunächst nach der „türkischen Methode“. Es handelt sich dabei um einen analytischen Ansatz, bei dem vom Satz zum Wort, vom Wort zur Silbe und dann zum Buchstaben übergegangen wird. Für die Alphabetisierung im Deutschen wurde mit der Fibel „Leseschule“ (Franz/ Laufer/ Regelein 2008) gearbeitet, die die Einführung einzelner Buchstaben vorsieht. Die Entscheidung, im Deutschen und Türkischen mit unterschiedlichen Methoden zu alphabetisieren, stellte sich nach wenigen Wochen als ungünstig heraus, so dass die Lehrkräfte dazu übergingen, in beiden Sprachen mit Anlauttabellen zu arbeiten. Sukzessive wurden den Kindern dabei Buchstaben vorgestellt, während gleichzeitg schon ganze Worte geschrieben und gelesen wurden. Die zeitgleiche Einführung von in den beiden Sprachen unterschiedlichen Graphemen, die jedoch lautlich ähnlich besetzt sind (z.B. der deutsche Buchstabe <w> und der türkische Buchstabe <v>) wurde dabei vermieden. In der zweiten türkisch-deutschen Modellklasse wurde mit Silbenbögen gearbeitet; türkische Grapheme wurden jeweils mit verschiedenen Wörtern eingeführt, um zugleich die Wortschatzentwicklung der ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder zu unterstützen. Zur Erfassung schriftbasierter Fähigkeiten wurden mit den Kindern zu Beginn, in der Mitte und am Ende des ersten Schuljahrs der Sofa-Test (Dehn 1988, Reich 2001) und sein Pendant für das Türkische, der para-Test (vgl. Reich 2001, S. 19), durchgeführt, um die Entwicklung in der Alphabetisierung in beiden Sprachen abbilden zu können. Ausgewertet wurden die Tests nach der von Reich vorgeschlagenen Methode, bei der die Schreibung der einzelnen Silben einer Reihe von vorgegebenen Wörtern (z.B. Limonade) mit Hilfe einer verbalisierten zehnstufigen Skala beurteilt wird. Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder erzielten im Deutschen im Mittel in allen drei Erhebungen etwas höhere Werte als ihre mit Türkischkenntnissen eingeschulten Mitschüler und Mitschülerinnen (vgl. Tab. 13). Beide Sprachgruppen steigerten ihre Leistungen von Erhebung zu Erhebung (Wilcoxon-Test jeweils: p = 0,000), d.h. die Kinder beider Sprachgruppen machten im Hinblick auf die Alphabetisierung im Deutschen deutliche Fortschritte. Auffällig ist, dass die absoluten Unterschiede der Ergebnisse der beiden Sprachgruppen im Verlauf des ersten Schuljahres abnehmen, ab dem zweiten Erhebungszeitpunkt jedoch schwach signifikant sind bzw. die Signifikanzgrenze äußerst knapp verfehlen - ein Hinweis darauf, dass die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder weniger leicht Zugang zur Orthographie des Deutschen fanden als ihre mit Türkischkenntnissen eingeschulten Mitschülerinnen und Mitschüler (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009, S. 53f.). İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 150 Sofa-Test 1 Sofa-Test 2 Sofa-Test 3 ohne Türkischkenntnisse MW 7,24 9,23 9,59 N 16 16 16 SD 1,65 0,66 0,43 mit Türkischkenntnissen MW 6,50 8,71 9,28 N 25 25 25 SD 1,83 0,78 0,65 gesamt MW 6,79 8,91 9,40 N 41 41 41 SD 1,78 0,77 0,59 para-Test 1 para-Test 2 para-Test 3 ohne Türkischkenntnisse MW 6,94 9,08 9,59 N 16 16 16 SD 1,45 1,04 0,63 mit Türkischkenntnissen MW 6,90 9,00 9,71 N 25 25 25 SD 2,40 0,94 0,47 gesamt MW 6,92 9,03 9,58 N 41 41 41 SD 2,06 0,97 0,55 Tab. 13: Punktwerte in Sofa- und para-Tests (nach Sprachgruppen) Die Ergebnisse des para-Tests zeigen, dass die Kinder beider Sprachgruppen in der Entwicklung der Alphabetisierung des Türkischen zunächst (während der ersten und zweiten Erhebung) etwa gleichauf liegen (vgl. Tab. 13). Wie für das Deutsche nehmen die Leistungen von Erhebung zu Erhebung deutlich zu (Wilcoxon-Test jeweils: p = 0,000). Erst am Ende des ersten Schuljahres zeigt sich ein Vorsprung der ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder vor ihren mit Türkischkenntnissen eingeschulten Mitschülerinnen und Mitschülern. Die Differenzen zwischen den Sprachgruppen sind jedoch zu keinem Zeitpunkt signifikant (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009, S. 53f.). Die Prüfung der Zusammenhänge der Testergebnisse in beiden Sprachen zeigt, dass die Ergebnisse in beiden Sprachen zu jedem Zeitpunkt hoch signifikant korrelieren, die Stärke des Zusammenhangs im Laufe der Zeit jedoch abnimmt. Die Schreibfähigkeit der Kinder entwickelt sich also von einer allgemeinen hin zu einer sprachspezifischen (ebd.). Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 151 Am Ende des vierten Schuljahres wurden Lesefähigkeiten der Kinder mit den aus der IGLU -Studie bekannten Instrumenten getestet (Bos et al. 2003). Verwendet wurden die beiden Testhefte „Der Hase kündigt das Erdbeben an“ und „Die Nächte der jungen Papageientaucher“, ausgewertet wurde nach IGLU - Vorgaben. Unter Einbezug von Datensätzen von insgesamt 242 Kindern anderer bilingualer Klassen aus Hamburg und von anderen Standorten wurden die Werte raschskaliert (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009). Abb. 3: IGLU -Lesetestergebnisse türkisch-deutsche Klassen, Deutsch und Türkisch Deutsch Türkisch ohne Türkischkenntnisse MW 106,3725 82,8888 N 16 16 SD 12,27377 6,58656 mit Türkischkenntnissen MW 102,2867 95,2788 N 24 24 SD 11,71447 15,02093 gesamt MW 103,921 90,3227 N 40 40 SD 11,95741 13,69438 Tab. 14: IGLU -Lesetestergebnisse türkisch-deutsche Klassen, Deutsch und Türkisch İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 152 Die Ergebnisse (vgl. Abb. 3 und Tab. 14) zeigen, dass sich die Lesefähigkeiten der beiden Sprachgruppen im Deutschen nicht signifikant unterscheiden, wenngleich die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder im Mittel etwas niedrigere Ergebnisse erzielen - dieses Resultat lässt sich in allen Hamburger Modellklassen wiederfinden (vgl. Roth/ Neumann/ Gogolin 2007) und steht erfreulicherweise in Kontrast zu den Ergebnissen bislang vorliegender Untersuchungen und der IGLU -Studie, in der Kinder mit Migrationshintergrund durchweg geringere Leistungen erzielten als ihre deutschstämmigen Mitschülerinnen und Mitschüler. 15 Die Entwicklung der Lesekompetenz im Deutschen ist in den bilingualen Modellklassen vom sprachlichen Hintergrund der Familien entkoppelt. Gleiches gilt für den Sozialstatus und das Bildungsniveau der Familien (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009). Die in den begleiteten bilingualen Modellklassen (und hier sind nicht nur die türkisch-deutschen Klassen gemeint) erzielten Mittelwerte im Deutschen liegen allesamt zwischen 102 und 114 Punkten und damit im Bereich des nationalen Mittelwerts (ebd., S. 60ff.). Eine Benachteiligung der Schülerinnen und Schüler der bilingualen Klassen gegenüber Kindern, die eine Regelklasse besuchen, ist im Bereich des Erwerbs von Lesekompetenz im Deutschen demnach nicht zu erkennen (ebd.). Im Hinblick auf die Lesefähigkeiten im Türkischen sind die Gruppendifferenzen deutlicher und signifikant (Mann-Whitney-U-Test: p = 0,013). Die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder erzielen hier erwartungsgemäß bessere Ergebnisse als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die erst mit Eintritt in die Grundschule mit der Aneignung des Türkischen begonnen haben; die während vier Grundschuljahren erworbene Lesekompetenz ist dennoch - auch, aber nicht ausschließlich, angesichts der kargen Resultate im Bereich der mündliche Darstellungsfähigkeit - beachtlich. Es bildet sich hier ein Vorsprung der rezeptiven und literalen vor den produktiven mündlichen Fähigkeiten ab, der möglicherweise auf den im Rahmen von Unterrichtsbeobachtungen festgestellten stark an fremdsprachendidaktischen Konzepten orientierten Unterrichtsstil der Türkischlehrkräfte (Dirim/ Döll/ Neumann/ Roth 2009, S. 13) zurückgeführt werden kann. Klassischer Fremdsprachenunterricht in der Türkei ist durch eine hohe Konzentration auf die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten gekennzeichnet. Das Sprechen der anzueignenden Sprache steht dort meist deutlich im Hintergrund. 15 Ein direkter Vergleich der Untersuchungsergebnisse ist aufgrund der unterschiedlichen Anlage und Datenstruktur jedoch nicht möglich. Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 153 In den bilingualen Klassen scheint es gelungen zu sein, die heterogenen Dispositionen der Schülerinnen und Schüler weitgehend auszugleichen: Auch für die Testergebnisse im Türkischen wurden keine Zusammenhänge mit dem Sozialstatus und dem Bildungsniveau der Familien gefunden. 4. Resümee Die Ergebnisse der Hamburger Modellklassen rechtfertigen in jeder Weise deren Einrichtung, denn sie zeigen auf der einen Seite, dass bilinguale Kinder mit Migrationshintergrund unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und dem ökonomischen Status ihrer Familien dort sehr gut Deutsch lernen können. Sie können offensichtlich mit demselben Zeitaufwand, der ihnen auch in einer nichtbilingualen Lernsituation zugestanden würde, in zwei Sprachen lesen und schreiben lernen. Die Ergebnisse zeigen, dass es lohnenswert wäre, umfassende Konzepte für einen die Migrantensprachen einbeziehenden bilingualen Unterricht auszuarbeiten. Ziel sollte eine Didaktik der Zweisprachigkeit sein, die sich weniger an Fremdsprachenkonzepten orientiert, als es in den türkisch-deutschen Klassen der Fall war. Eine solche Didaktik hätte nicht nur Elemente einer Didaktik des Türkischen, Italienischen, Spanischen etc. als Zweitsprache in einer deutschsprachigen Umgebung zu berücksichtigen, sondern auch zeitliche und unterrichtsorganisatorische Aspekte. 16 Die Erwartungen an bilinguale Modelle dürfen aber auch nicht zu hoch sein. Auch nach vier Jahren Schulzeit sind die sprachlichen Ausgangsbedingungen noch spürbar: Einige der ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder erwerben nur Grundkenntnisse der Partnersprache; den mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kindern wiederum bereiten elaborierte Formen des Deutschen tendenziell noch mehr Probleme als ihren ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Klassenkameraden. Dies ist auch als empirische Evidenz dafür zu bewerten, dass Kinder in der schulischen Bildung ihre mitgebrachten Sprachen (sei diese Sprache Deutsch oder eine andere Sprache) am besten weiterentwickeln. Damit wäre eines der Argumente für die bilinguale Bildung für Kinder aus Migrantenbzw. Minderheitenfamilien gestärkt: diese Kinder sollten unbedingt die Möglichkeit erhalten, virtuose Kompetenzen in der Mehrheitssprache zu entwickeln, aber sie sollten in diesem Prozess und mit ihren nichtdeutschen Herkunftssprachen im Sinne einer für den Wissensaufbau zentralen Ressource arbeiten können, was heißt, dass auch diese Sprachen systematisch zu Bildungssprachen ausgebaut werden. 16 Vgl. zu den Schlussfolgerungen für die Didaktik in sprachlich heterogenen Klassen allgemein auch Neumann (2009). İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann 154 Ob die hier begleiteten ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder die in den Modellklassen erworbenen Basisfähigkeiten in der Partnersprache weiter werden ausbauen können, hängt - abgesehen von dafür günstigen Lebensumständen wie z.B. intensiver Kontakt zu türkischsprachigen Personen - im schulischen Bereich davon ab, ob in der Sekundarstufe didaktisch passend gestaltete Lernangebote im Türkischen bereitgestellt werden. Auch die Gruppe der mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder hat den Erwerb des bildungssprachlichen Türkisch nicht abgeschlossen. Um den eingeschlagenen positiven Weg fortsetzen und das Türkische wie das Deutsche weiter entfalten zu können, bedürfen auch diese Kinder didaktisch angemessener weiterführender Angebote in der Sekundarstufe. 17 Die Einrichtung der türkisch-deutschen Klassen in Hamburg löst immer wieder Erstaunen aus: Ob tatsächlich deutsche Eltern bereit seien, dort ihre Kinder einzuschulen; welcher Schicht die türkischen Kinder angehörten; was die Türkischkenntnisse den Kindern für Vorteile brächten, ob die deutschen Kinder erfolgreich Türkisch lernten etc.; Italienisch- und Spanischklassen hingegen sind vollkommen akzeptiert. Neben den in diesen Fragen zum Ausdruck kommenden Zweifeln an der Sinnhaftigkeit bilingualer Klassen mit Sprachenpaaren, die ein geringes soziales Prestige besitzen, wird aber auch Nachahmungswille und Interesse an ähnlichen Modellen geäußert. Für bilingual aufwachsende Kinder mit Migrationshintergrund bedeutet die Möglichkeit der bilingualen Erziehung die Nutzung beider Sprachen im Lernprozess und den Ausbau beider Sprachen auf dem Weg zu einer Bildungszweisprachigkeit. 5. Literatur Bos, Wilfried/ Lankes, Eva/ Prenzel, Manfred/ Schwippert, Knut/ Walther, Gerd/ Valtin, Renate (Hg.) (2003): Erste Ergebnisse aus IGLU . Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster. Behörde für Bildung und Sport, Senat der Freien und Hansestadt Hamburg (2003): Rahmenplan herkunftssprachlicher Unterricht, Bildungsplan Grundschule Klassen 1-4. Internet: http: / / lbs.hh.schule.de/ bildungsplaene/ Grundschule/ HU_Grd.pdf (Stand: 2/ 2009). Budach, Gabriele/ Erfurt, Jürgen/ Kunkel, Melanie (Hg.) (2008): Écoles plurilingues - multilingual schools: Konzepte, Institutionen und Akteure. Frankfurt a.M. Cummins, James (2008): Total immersion or bilingual education? 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Die neuen Formen haben große Überschneidungsbereiche mit den regionalen Varietäten, unterscheiden sich aber prosodischphonetisch, lexikalisch und morphosyntaktisch. Meist werden sie nur in bestimmten Kontexten verwendet, und die Sprecher wechseln virtuos zwischen regionalen Varietäten, Herkunftsvarietäten, sprachlichen Mischungen und ethnolektalen Formen. Auf der Basis von drei ethnografischen Fallstudien in Mannheim wird gezeigt, wie die von den Migrantenjugendlichen entwickelten ethnolektalen Formen aussehen und zu welchen Zwecken die Jugendlichen sie verwenden. Die Jugendlichen haben ein weites Sprachrepertoire, verfügen über ethnolektale sowie standardnahe Formen und nutzen die Differenz zwischen beiden als kommunikative Ressource. In recent years, ethnolectal forms of German have developed in many large cities among young people of the 2nd and 3rd generations of migrants. They are characteristic of multilingual contexts, in which speakers of different linguistic backgrounds use the regional vernacular of the country in which they live as a lingua franca. The new forms have large areas of overlap with the regional varieties, but they show prosodic-phonetic, lexical and morphosyntactic differences. Mostly they are used only in certain contexts, and the speakers switch with great ease between regional varieties, varieties of their mother tongue, mixed languages and ethnolectal forms. On the basis of three ethnographic case studies in Mannheim it is shown what the ethnolectal forms developed by the young migrants look like and the purposes for which the young people use them. The young people have a wide linguistic repertoire, have a command of ethnolectal and standard forms and make use of the difference between the two as a communicative resource. 1. Gegenstand und Ziel In den letzten 20 bis 30 Jahren entwickelten sich in vielen europäischen Großstädten, in denen im Zuge der Arbeitsmigration komplexe multilinguale Lebenswelten entstanden waren, neue Sprach- und Kommunikationsformen unter Jugendlichen der 2. und 3. Migrantengeneration: einerseits Praktiken des Inken Keim 158 Code-Switching und Code-Mixing und andererseits ethnolektale Ausprägungen von Standardvarietäten. Während Praktiken des Code-Switching und Code- Mixing in Gesprächen zwischen bilingualen Sprechern, die über dieselben Sprachen verfügen, zu beobachten sind, sind ethnolektale Formen charakteristisch für multilinguale Kontexte, in denen Sprecher unterschiedlicher Herkunftssprachen (die über die Sprache(n) der anderen nicht oder nicht ausreichend verfügen) die regionale Umgangssprache des Landes, in dem sie leben, als lingua franca benutzen, wie z.B. in Schulklassen, Jugendzentren und Jugendgruppen. Die neuen Formen haben große Überschneidungsbereiche mit den regionalen Varietäten, unterscheiden sich aber prosodisch-phonetisch, lexikalisch und morphosyntaktisch. Meist werden sie nur in bestimmten Kontexten verwendet, und die Sprecher wechseln virtuos zwischen regionalen Varietäten, Herkunftsvarietäten, sprachlichen Mischungen und ethnolektalen Formen. Nach einem kurzen Forschungsüberblick (Kap. 2) und einer Charakterisierung von Ethnolekten, die sich in den letzten Jahren in urbanen Kontexten herausgebildet haben (Kap. 3 und 4), werde ich auf der Basis ethnografischer Studien, die ich in Mannheim durchgeführt habe, zeigen, wie die dort entwickelten ethnolektalen Formen aussehen und zu welchen Zwecken sie von den jugendlichen Sprecher(inne)n verwendet werden (Kap. 5 und 6). 2. Forschungsüberblick In der noch jungen Forschung zu Struktur und Funktion ethnolektaler Formen besteht weitgehende Übereinstimmung in Bezug auf folgende Aspekte: Sie sind charakteristisch für Jugendliche und junge Erwachsene in multiethnischen städtischen Lebenswelten und werden - neben anderen Varietäten - als eigenständige Sprechweisen verwendet; sie sind sehr variabel und zeigen Phänomene, die nicht aus den jeweiligen Herkunftssprachen erklärt werden können; sie sind keine Lernervarietäten, auch wenn einige Merkmale, z.B. Simplifizierungen und Übergeneralisierungen, Ähnlichkeit mit Lernervarietäten haben; sie werden auch von einheimischen Jugendlichen verwendet, und sie werden mit bestimmten multiethnischen Milieus und Jugendgruppen assoziiert. Charakteristisch für die gegenwärtige Forschung in Europa ist die Diskussion, ob es sich bei (Multi-)Ethnolekten um neu entstehende, diskrete Varietäten von Standardsprachen handelt oder um (soziale) Stile, die Sprecher zur Bewältigung interaktiver und sozialer Aufgaben einsetzen. Der jeweils gewählte Ansatz hat Implikationen für den Zugang zum Forschungsgegenstand; es lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden: a) varietätenlinguistische und b) interaktional (sozio-)stilistische Studien. Form und Funktion ethnolektaler Formen 159 Zu a) Varietätenlinguistische Studien Diese Studien versuchen eine formale Beschreibung der neuen (Jugend-) Sprachformen im Vergleich zu den jeweiligen Standardsprachen. Kotsinas (1988, 1998) hat als erste die in Rinkeby, einem multiethnischen Stadtteil Stockholms, entstandene Varietät beschrieben. Im Anschluss an ihre Arbeiten wurde diskutiert, welchen Status die neuen Sprachformen haben und ob sie als Dialekt, Interlanguage oder Jugendstil gefasst werden könnten (vgl. z.B. Fraurud 2004). Kotsinas' Beobachtungen, dass ethnische Varietäten nicht Ausdruck eines mangelnden Schwedischerwerbs sind, sondern als eigenständige (Jugend-)Varietäten betrachtet werden können, da die Sprecher zwischen ethnolektalen und regionalen Varietäten wechseln, wurde in nachfolgenden Untersuchungen in Schweden und den Niederlanden, 1 ebenso wie in Dänemark und England bestätigt: Hinskens/ Muysken (2007) untersuchen in Amsterdam und Nijmegen die Prozesse, die bei der Entstehung von Ethnolekten eine Rolle spielen; 2 Quist (2005 und 2008) beschreibt ethnische Varietäten in multiethnischen Einwanderergebieten in Kopenhagen; und in London und Birmingham untersucht eine Projektgruppe (Kerswill i.Vorb.) die Verbreitung ethnolektaler Merkmale über ethnische Grenzen hinaus. 3 In Deutschland begann die Forschung mit der kleinen Studie von Füglein (2000) zum ethnolektalen Deutsch türkischer Jugendlicher der 2./ 3. Generation in München, Böblingen und Nürnberg. Die darauf folgenden Arbeiten von Auer (2003) und Dirim/ Auer (2004) kommen zu dem Ergebnis, 4 dass es sich bei den bisher beobachteten ethnolektalen Formen um eine potenziell neue „Varietät des Deutschen“ handelt (ebd., S. 207). Wiese (2006) und Freywald et al. (i.Vorb.) finden im Deutsch von Berliner Migrantenjugendlichen ähnliche Charakteristika wie die Vorgängerstudien. Auf 1 In den Niederlanden beschreiben Appel/ Schoonen (2005) die sog. Straattaal (‘Straßensprache’); zur Beschreibung des Sprachgebrauchs von Jugendlichen in multilingualen Kontexten in Schweden vgl. z.B. Bodén (2004). 2 Hinskens/ Muysken (2007) untersuchen in dem quantitativ-soziolinguistischen Projekt „The roots of ethnolects. An experimental comparative study“ den Bezug ethnolektaler Merkmale zu den Herkunftsvarietäten der Sprecher, den Regionalvarietäten der Aufnahmegesellschaft und zu lernersprachlichen Prozessen. 3 Die bisher publizierten Ergebnisse zeigen, dass ethnolektale Merkmale sich über multiethnische Jugendnetzwerke ausbreiten und zur Entstehung von Multi-Ethnolekten führen. 4 Die Autoren vergleichen die Ergebnisse von Füglein, die Daten, die Tertilt (1996) zu den „Turkish Power Boys“ erhoben hat, mit eigenen Daten aus ihrer Hamburger Untersuchung. Ihre Erkenntnis basiert auf einem Vergleich dieser verschiedenen Datensätze und der hohen Übereinstimmung bestimmter Phänomene. Inken Keim 160 der Basis von Informantenbefragungen zeigen auch sie, dass ethnolektale Formen als eigenständige Form des Deutschen betrachtet werden können. 5 Zu b) Soziostilistische und interaktionale Studien Frühe Studien in England zu ethnolektalen Formen in multiethnischen Kontexten zeigen, 6 dass Sprecher Formen, die zu einer bestimmten ethnischen Gruppe gehören, in einem Akt des ‘crossing’ zum Ausdruck von Zugehörigkeit zu dieser Gruppe oder zur Abgrenzung davon einsetzen. Auch neuere interaktional (sozio-)linguistisch und ethnografisch ausgerichtete Studien in Dänemark 7 und Deutschland 8 fokussieren vor allem die funktionale Verwendung ethnolektaler Merkmale. Quist (2008) beschreibt die stilistischen Praktiken jugendlicher Sprecher in Kopenhagen und kommt zu dem Ergebnis, dass - unabhängig von der ethnischen Herkunft - multiethnolektale Merkmale zusammen mit anderen Stilmerkmalen (wie Kleidung, Geschmack, Lernorientierung, Freizeitverhalten) der sozialen Positionierung der Sprecher in Relation zu anderen Gruppen dienen. Kern/ Selting (2006), Selting (i.Vorb.) und Kern (i.Vorb.) machen deutlich, dass prosodische, phonetische und syntaktische Strukturen, die im Deutschen vorhanden sind, im ‘Türkendeutsch’ eine strukturelle und funktionale Veränderung erfahren und als stilistische Ressource zur Erledigung diskursiver Aufgaben dienen. Ausgehend von der Beschreibung des sprachlichen Repertoires der Sprecher(innen) zeigen Keim (2004b, 2007) und Keim/ Knöbl (2007), dass ethnolektale Formen nur einen Teilbereich des Sprachrepertoires ausmachen und dass sie zu diskursiv-rhetorischen Zwecken ebenso wie zum Ausdruck sozialer Identität eingesetzt werden. Madsen (i.Vorb.), der einen ähnlichen Ansatz wählt, führt vor, wie die von ihm untersuchten jugendlichen Sprecher vom Standarddänischen abweichende Elemente zur interaktionalen Aushandlung einer „rough masculine identity“ verwenden. 9 5 Vgl. die Studie zu Wahrnehmung und Bewertung von ‘Kiezdeutsch’ durch Informanten aus einem multiethnischen und monoethnisch-deutschen Stadtgebiet: Merkmale des ‘Kiezdeutsch’ werden von beiden Informantengruppen eindeutig vom regionalen Standard oder von zufällig grammatisch falschen Äußerungen unterschieden und Sprechern des multiethnischen Stadtgebiets zugeordnet, vgl. Freywald et al. (i.Vorb.). 6 Vgl. Hewitt (1986), Sebba (1993) und Rampton (1995). 7 Vgl. Quist (2008) und Madsen (i.Vorb.). 8 Vgl. Keim (2004a, b; 2007; 2008a), Keim/ Knöbl (2007), Kern/ Selting (2006) und Kern (i.Vorb.). 9 Madsen (i.Vorb.) untersucht eine multiethnische Gruppe von Taekwondo-Kämpfern in Kopenhagen. In detaillierten Interaktionsanalysen zeigt der Autor, dass mit der Verwendung ethnolektaler Merkmale nicht Ethnizität fokussiert wird, sondern der soziale Status in Bezug auf sportliche und schulische Leistungen verhandelt wird. Form und Funktion ethnolektaler Formen 161 3. Bezeichnungen und Definitionen Für die neuen Sprachformen gibt es Bezeichnungen sowohl aus der Sprecherperspektive als auch aus der Perspektive von Außenstehenden. Das bedeutet, dass es ein weit verbreitetes gesellschaftliches Wissen über die neuen Sprachformen gibt und dass sie mit bestimmten Sprechergruppen assoziiert werden. In Stockholm heißen die neuen Varietäten Rinkebysvenska (‘Rinkeby-Schwedisch’) oder invandrerska (‘Immigrantisch’), in Malmö und Göteburg kebebspråk (‘Kebab-Sprache’) oder spaggesvenska (‘Spaghetti-Schwedisch’, vgl. Kotsinas 1998). Madsen (i.Vorb.) nennt als Sprecherbezeichnungen perger-stil (‘Nigger-Stil’) oder perger-sprog (‘Pergersprache’), und Quist (2005) führt die aus der Außenperspektive abwertenden Bezeichnungen perkerdansk (‘Perkerdänisch’) und indvandrerdansk (‘Einwandererdänisch’) an. In den Niederlanden gibt es Sprecherbezeichnungen wie Straattaal (‘Straßensprache’, vgl. Nortier 2000) und in Norwegen Byvankerspråk (‘Straßensprache’, zitiert aus Quist 2005, S. 145). In Berlin bezeichnen Informanten ethnolektale Formen als „Kiezsprache“. 10 In Mannheim sprechen deutsche Jugendliche, die in multiethnischen Stadtgebieten leben, von „unser(em) Ghettoslang“ und drücken aus, dass er zu ‘ihnen’ gehört. Bezeichnungen aus der Außenperspektive sind „Stadtteilsprache“ oder „Ghettodeutsch“ (Keim 2008a). Linguistische Bezeichnungen unterscheiden sich je nach Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsperspektive. Füglein (2000) verwendet die Bezeichnung „Kanak Sprak“ zur Beschreibung des ethnolektalen Deutsch von türkischstämmigen Jugendlichen, das aus ihrer Perspektive sozial negativ markiert ist; 11 Androutsopoulos (2001a, b) spricht vom „Ethnolekt des Deutschen“, der sich in den ‘Ghettos’ deutscher Großstädte unter männlichen türkischstämmigen Jugendlichen entwickelt hat; Auer (2003) bezeichnet das Deutsch türkischstämmiger Jugendlicher als „Türkenslang“, Kern/ Selting (2006) sprechen von „Türkendeutsch“ und Keim/ Knöbl (2007), die ebenfalls türkischstämmige Jugendliche untersuchen, von „Ethnolekt“. Andere Autoren, die hervorheben, dass die neu entstehenden Formen nicht an bestimmte 10 Wiese (2006) übernimmt diesen Ausdruck eines türkischstämmigen Informanten, der kein Sprecher des Ethnolekts ist, sondern ihn aus der Außenperspektive benennt und beschreibt. 11 Die Bezeichnung „Kanak Sprak“ führt der türkischstämmige Schriftsteller Feridun Zaimoğlu mit seinem 1995 erschienenen gleichnamigen Werk ein. Mit dieser Bezeichnung fasst der Autor die Ausdrucksweise türkischstämmiger Migranten der zweiten Generation zusammen, die geprägt ist durch eine kolloquiale Sprechsprache, Drastik, Bilderreichtum und Neuschöpfungen, auch in Verbindung mit türkischen Formeln. Inken Keim 162 ethnische Gruppen gebunden sind und auch von einheimischen Jugendlichen verwendet werden, sprechen von „multiethnolect“, 12 „multicultural varieties“ 13 oder „late modern urban youth style“. 14 Ausgehend von Androutsopoulos (2001b) entwirft Auer (2003) eine Typologie ethnolektaler Formen: Die in den deutschen Großstadt-‘Ghettos’ entstandene und vor allem von männlichen türkischstämmigen Jugendlichen verwendete Form nennt er „primären Ethnolekt“. Diese ist der Bezugspunkt für den „sekundären Ethnolekt“, eine mediale Verarbeitung und Stilisierung, die in Filmen, Comedies, Comics und Zeitungsartikeln einer bestimmten Gruppe von männlichen Migrantenjugendlichen zugeschrieben wird. 15 Wird der „sekundäre“ Ethnolekt von deutschen Jugendlichen in Versatzstücken zitiert und weiterentwickelt, spricht Auer von „tertiärem Ethnolekt“. Wenn nicht-türkische und deutsche Jugendliche, die in multiethnischen Stadtgebieten leben, Formen des primären Ethnolekts als ihre normale Ausdrucksweise übernehmen, versteht Auer das nicht als Transgression einer ethnischen Grenze, sondern als De-Ethnisierung des Ethnolekts; für diese Jugendlichen sind ethnolektale Formen zur „eigenen Stimme“ geworden. 4. Merkmale von Ethnolekten Die bisher untersuchten (Multi-)Ethnolekte sind entstanden aus dem Kontakt zwischen unterschiedlichen Einwanderersprachen, wie Türkisch, Arabisch, Russisch, Italienisch, Chinesisch u.a. mit den National- und Regionalvarietäten der Einwanderländer. Ein interessantes Ergebnis der bisherigen Forschung ist, dass sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Das kann zum einen damit zusammenhängen, dass die bisher untersuchten Ethnolekte in Einwandererländern mit germanischen Sprachen entstanden sind (Schwedisch, Niederländisch, Dänisch, Englisch und Deutsch), dass also ähnliche ethnolektale Strukturen aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten der dominanten Sprachen entstanden sind. Zum anderen können auch universelle Prinzipien des 12 Der Terminus „multiethnolect“ geht auf Clyne (2000, S. 87) zurück, der die neue Sprachform so bezeichnet, „because several minority groups use it collectively to express their minority status and/ or as a reaction to that status to upgrade it“. Quist (2005) übernimmt diesen Terminus. 13 Kerswill (i.Vorb.), den die Verbreitung der neuen Sprachformen über ethnische Grenzen hinweg interessiert, spricht von „multicultural varieties“. 14 Madsen (i.Vorb.) wählt die Bezeichnung „late modern urban youth style“, um keinen direkten Bezug zwischen Stil und Ethnizität zu suggerieren und auf die Altersgruppe der Sprecher und ihre städtischen Lebenswelten zu verweisen. 15 Die mediale Verwendung des primären Ethnolekts ist ein „crossing“ im Sinne Ramptons (1995). Form und Funktion ethnolektaler Formen 163 Spracherwerbs wie Simplifizierungen, Generalisierungen oder Reduktionen eine Rolle bei der Ausprägung ähnlicher ethnolektaler Merkmale spielen, z.B. bei der Vereinfachung morphologischer Strukturen. 16 In den bisher genannten Untersuchungen werden eine Reihe ethnolektaler Merkmale genannt, über deren Herkunft noch relativ wenig bekannt ist: a) Prosodie: In allen Studien werden prosodische Eigenschaften hervorgehoben; Kotsinas (1998) beschreibt sie eher impressionistisch als „choppy“ oder „uneven“; Dirim/ Auer (2004) sprechen von silbenzählendem Rhythmus und der Nicht- Reduktion von Nebensilben; Quist (2005) beschreibt ein „staccato“-artiges Sprechen und eine unübliche Akzentstruktur; Keim/ Knöbl (2007) beobachten einen Silben zählenden kurz getakteten Rhythmus und Akzentzuweisungen, die für die Informationsstruktur deutscher Äußerungen nicht passen. Die bisher umfassendste Untersuchung (Kern i.Vorb.) legt dar, dass die rhythmische Struktur mit kurzen Einheiten von fast gleicher zeitlicher Länge die phonetische und die syntaktische Struktur beeinflusst: Es werden akzentisochrone und isometrische Einheiten produziert, und Linksversetzungen, Ausklammerungen ebenso wie Reduktionen von Phrasen (z.B. durch Tilgung von Präposition und Artikel) kommen häufig vor. In den Studien, in denen türkische Sprecher(innen) beteiligt sind, können Einflüsse aus dem Türkischen identifiziert werden; es kommen aber auch Merkmale vor, die nicht aus dem Türkischen erklärt werden können (ebd.). b) Phonologie/ Phonetik: Vor allem folgende Merkmale spielen eine Rolle: - Koronalisierung von [ç] zu [ς], z.B. / ich/ →/ isch/ ; 17 - Reduktion von [ts] zu [s] oder [z] am Wortanfang; 18 - Nicht-Vokalisierung von auslautendem / r/ und die apikale Realisierung in Anlautclustern; 19 16 Zur Klärung der Frage, ob ethnolektale Merkmale auf universellen Prinzipien beruhen oder einzelsprachenabhängig sind, sind weitere Forschungen notwendig. Vor allem müssten Ethnolekte, die ohne Beteiligung germanischer Sprachen entstanden sind, einbezogen werden. Mit der Frage der Wurzeln ethnolektaler Merkmale beschäftigt sich derzeit die Studie von Hinskens und Muysken, vgl. Hinskens/ Muysken (i.Vorb.). 17 Vgl. Dirim/ Auer (2004), Keim/ Knöbl (2007), Selting (i.Vorb.), Wiese (2006). 18 Vgl. Kotsinas (1998), Androutsopoulos (2001b), Dirim/ Auer (2004), Keim/ Knöbl (2007), Wiese (2006). 19 Vgl. Kotsinas (1998), Dirim/ Auer (2004), Keim/ Knöbl (2007). Inken Keim 164 - Verstimmhaftung und Längung des stimmlosen Frikativs [s]→[z] oder [z: ], die Längung der Frikative / sch/ und / f/ , z.B. in isch: weiß und die sehr deutliche Verstimmhaftung von / b/ und / d/ ; 20 - Reduktion der Differenz zwischen kurzen und langen Vokalen. 21 c) Lexik: 22 Lexikalische Entlehnungen kommen vor allem aus den Sprachen großer Minderheitengruppen, in Deutschland aus dem Türkischen, in den Niederlanden aus dem Arabischen. Lexikalische Entlehnungen aus dem Türkischen werden z.B. als Adressierungen, Diskurspartikel oder Interjektionen verwendet, z.B. kız (‘Mädchen’), lan (‘Mann’), moruk (‘Alter’). Einleitungsformeln wie hadi (‘los, auf geht's’), çüş (‘stopp, hör auf du Idiot’) oder Intensivierer wallah (‘wirklich’) gebrauchen auch Sprecher, die kein Türkisch sprechen; es gibt Bedeutungsveränderungen bzw. -erweiterungen, und es werden neue Slangwörter und Beschimpfungsformeln aus dem Türkischen inkorporiert, z.B. inek (‘Kuh’), siktir lan (‘verpiss dich, verfick dich’). d) Morphologische und syntaktische Merkmale: In den deutschen, dänischen und niederländischen Studien werden die folgenden Merkmale angeführt: 23 Bevorzugung nur eines bzw. eines falschen Genus, fehlende Kongruenz in komplexen Nominalphrasen, fehlende Inversion, Nomen ohne Artikel und Präposition bzw. mit anderer Präposition, in einigen Fällen Veränderung des Valenzrahmens, Ausfall anaphorischer und suppletiver Elemente und die sehr häufige Verwendung von Diskursmarkern (weiß=du, verstehs=du, hey alder, hey lan). Das legt die Annahme nahe, dass es sich um generelle Simplifizierungsprozesse handelt, die in den Sprachen Schwedisch, Dänisch und Deutsch zu ähnlichen Ergebnissen führen. Eine interessante Perspektive eröffnen Wiese (2006) und Freywald et al. (i.Vorb.), die die genannten Merkmale als den Beginn sprachlicher Innovationen sehen: Sie zeigen (ähnlich wie Kern/ Selting 2006 für den phonetisch-prosodischen Bereich), dass im „Kiezdeutsch“ syntaktische Strukturen, die es mit eingeschränkter Funktion auch im Standarddeutschen gibt, ausgeweitet und generalisiert wer- 20 Vgl. Hinskens (i.Vorb.), Keim (2008a), Keim/ Knöbl (2007). 21 Vgl. Kotsinas (1998), Dirim/ Auer (2004), Keim/ Knöbl (2007), Kern (i.Vorb.). 22 Alle Studien aus Deutschland nennen diese oder ähnliche Merkmale. 23 Vgl. die Studien in Kopenhagen (Madsen i.Vorb., Quist 2005), in Utrecht und Amsterdam (Hinskens 2007, i.Vorb.; Nortier 2001), in Hamburg (Dirim/ Auer 2004), in Berlin (Selting i.Vorb., Wiese 2006) und Mannheim (Keim 2007, 2008a). Form und Funktion ethnolektaler Formen 165 den; und sie stellen fest, dass grammatische Reduktionen nicht unverbundene Phänomene sind, sondern dass aus einem komplexen Zusammenspiel von morphosyntaktischer Reduktion, grammatisch-lexikalischer und prosodischer Neuerung neue systematische Muster zur Informationsstrukturierung entstehen. 24 5. Eine multiethnische und multilinguale Lebenswelt in Mannheim 25 Mannheim, eine mittlere Großstadt im Südwesten Deutschlands, hat fast 327 000 Einwohner, davon über 64 000 mit nicht-deutschem Pass aus 169 Nationen (Stichtag: 31.12.2008); die größte Gruppe bilden türkische Staatsangehörige. 26 Wesentlich höher ist die Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund (ca. 30%); aus der Türkei stammen ca. 13% der Mannheimer Bevölkerung. Das von mir untersuchte Stadtgebiet ist multiethnisch und multilingual: 60-65% der Bewohner haben einen Migrationshintergrund; neben Deutsch gibt es Türkisch, Arabisch, Italienisch, Russisch, Kroatisch, Griechisch, Vietnamesisch u.a. In den Grundschulen liegt der Anteil von Migrantenkindern zwischen 70 und 90%, in der Hauptschule beträgt er fast 90%. Aus der Perspektive der Bewohner ebenso wie aus der Außenperspektive wird das Stadtgebiet als Migranten-„Ghetto“ bezeichnet. 27 In Schulklassen, Jugendgruppen und Jugendzentren, in denen Kinder aus vielen Nationen regelmäßig zusammen lernen, spielen und arbeiten, haben sich ethnolektale Formen des Deutschen als lingua franca herausgebildet, die von den Sprecher(inne)n, einheimischen und zugewanderten, als „unser Ghet- 24 So kommen z.B. auch im Deutschen „bare nouns“ in Verbindung mit semantisch reduzierten Verben vor (z.B. er macht Karriere, er macht Rehabilitation), ebenso Präpositionalphrasen ohne Präposition und Artikel (z.B. ich steig Bismarckplatz aus). Durch die Lockerung grammatischer Regeln entstehen neue Informationsstrukturen: Wenn z.B. die XV …-Stellung im Deutschen bei präverbalen Adverbialphrasen in SVO umgewandelt wird (z.B. jetz isch geh hauptschule) und das linke Element eine prosodisch selbstständige Einheit bildet (vgl. Kern/ Selting 2006), wird es zur Fokussierung benutzt. 25 Zur ethnografischen Beschreibung des Stadtgebiets, vgl. Keim (2008a), Teil I. 26 Vgl. die Informationsvorlage der Stadt Mannheim vom 18.3.2009 ( http: / / www.mannheim. de/ 2009_I-Vorlage144_2009_statistik_MHG-1.pdf ); die exakten Zahlen sind: 326 899 Einwohner, 64 667 mit nicht-deutschem Pass; davon sind 19 222 Personen türkische Staatsangehörige. 27 Vgl. dazu Keim (2008a), Teil I. Das Migrantenwohngebiet wird aus der Innen- und Außenperspektive als „Ghetto“ bezeichnet, z.B. der Jungbusch (= Name des Wohngebiets) * der is schrecklich ne↑ * des=n ghetto * jeder nennt des ghetto hier jeder * die türken auch und die deutschen sowieso * weil da würd kein deutscher leben der normal is * wenn er geld verdient (ebd. S. 39). Inken Keim 166 toslang“ bezeichnet wird. 28 Das ist eine vereinfachte Form der regionalen durch den rheinfränkischen Dialekt geprägten Umgangssprache, die eine Reihe der oben (Kap. 4) aufgeführten Merkmale aufweist. Dabei kommen einige relativ durchgängig, andere nur vereinzelt vor. Relativ durchgängig, d.h. in vielen möglichen Positionen, kommen folgende Merkmale vor: - Wegfall von Präposition und Artikel in Lokal- und Richtungsangaben: Beispiele dafür sind sie is schule, isch muss toilette, wir gehn schwimmbad; - Generalisierung des Verbs ‘machen’: z.B. isch mach disch krankenhaus (‘ich schlag dich krankenhausreif’), isch mach wasserfarben (‘ich male mit Wasserfarben’), wir machen puppe (‘wir spielen mit der Puppe’); - Verwendung von Formeln wie isch schwör zur Bestätigung und isch hass des zur negativen Bewertung; - Verwendung türkischer Formen zur Anrede oder als Diskursmarker (lan, moruk, ‘Mann’, ‘Alter’) bzw. zur Beschimpfung (siktir lan, ‘verpiss dich, Mann’); 29 - eine spezielle Art der Informationsvermittlung, die einen hohen Grad an geteiltem Wissen voraussetzt und nur einen geringen Teil dessen explizit macht, was für den Gesprächspartner zum Verständnis notwendig ist (vgl. Kallmeyer/ Keim 2003); - ein Komplex prosodisch-phonetischer Merkmale. 30 Gelegentlich, d.h. nur an wenigen möglichen Positionen, kommen vor: - Ausfall des Artikels in Nominal- und Präpositionalphrasen: z.B. gib mir kippe, isch war schlechteste, bevor=sch von klassenzimmer rausgeh; 28 Vgl. dazu die BA -Arbeit von Oberle (2006). Die Bezeichnung ‘Ghettoslang’ stammt von einem deutschsprachigen Schüler, der auf die Frage, warum er so seltsam Deutsch spreche, antwortete: des is eben unser Ghettoslang. Die Bezeichnung ‘Kanakensprache’ habe ich bisher nur unter türkischstämmigen Jugendlichen gehört, die damit jedoch nicht auf ethnolektale Formen, sondern auf deutsch-türkische Mischungen verweisen. Sie verbinden mit dieser Bezeichnung eine positive Selbstcharakterisierung, da das Sprechen von ‘Kanakensprache’ Bilingualität und eine hohe Kompetenz in Deutsch und in Türkisch voraussetzt; vgl. Keim/ Knöbl (2007). 29 Siktir ist eine verkürzte Version der Formel siktitir git (‘lass dich ficken und hau ab’). Die Bedeutung von siktir kann je nach Verwendungskontext mit ‘verpiss dich’ oder ‘verfick dich’ wiedergegeben werden. 30 Vgl. Keim/ Knöbl (2007); ähnliche Merkmale beschreiben auch Auer (2003) und Kern/ Selting (2006). Form und Funktion ethnolektaler Formen 167 - Ausfall von Pronomina und suppletiven Elementen: z.B. wann has=du (sie) fotografiert; - andere Genera: z.B. rischtiges tee, meine fuß; - andere Verbrektion: z.B. wenn=sch mit ihm heirate; er geht mir fremd; - andere Wortstellung: z.B. hauptsache lieb isch ihn. Mit Beginn des Schullebens erfahren Migrantenkinder die Differenz zwischen Umgangsdeutsch und Ethnolekt und beginnen situativ zwischen beiden zu unterscheiden: Die Lehrenden sprechen und erwarten Umgangsbzw. Standarddeutsch, in der Kinder- und Jugendgruppe dagegen sind ethnolektale Formen üblich. Kerstin Mehler zeigt in ihrer Studie, dass ein sechsjähriger, türkischstämmiger Junge auf die Rüge einer Lehrerin du bist vielleicht ein angeber mit der stolzen Selbstbezeichnung abba coole angeba * isch bin gangsta reagiert. 31 Die Äußerung ist durch Ausfall des Artikels in angeba und gangsta charakterisiert und durch abweichendes Genus (fem. statt mask.) in coole angeba. Mit dieser Selbstcharakterisierung setzt sich der Junge in Kontrast zur Fremdcharakterisierung der Lehrerin und verwendet dazu die in der Kindergruppe übliche Formulierungsweise. Als derselbe Junge der Lehrerin erklärt, warum sein Freund traurig ist, formuliert er das folgendermaßen: er hat geweint * weil sein=mama nich gekommen is↓. 32 In dieser Situation und bei diesem Anlass spricht er standardnäher, d.h. es gibt im untersuchten Material des Jungen Belege dafür, dass er zwischen beiden Sprachformen situativ zu unterscheiden beginnt. Die Kinder erleben, dass die Lehrenden ethnolektale Formen korrigieren, und sie können unterschiedlich darauf reagieren. Im folgenden Beispiel (vgl. Mehler 2009) übernimmt eine Erstklässlerin die Korrektur der Lehrerin. Als das 31 Die Beispiele stammen aus der Masterarbeit von Kerstin Mehler (2006, Universität Mannheim), veröffentlicht 2009: „Zur grammatischen und kommunikativen Kompetenz von Kindern mit Migrationshintergrund“. Die Autorin diskutiert auf der Basis ihres Materials (Sprachaufnahmen aus dem Unterricht mit vier Erstklässlern) auch die Frage, inwieweit ein vom Standardgebrauch abweichendes Merkmal als lernersprachlich oder ethnolektal klassifiziert werden kann. In einer Reihe von Fällen ist eine Unterscheidung nicht möglich; doch es scheint eine Tendenz zu geben, dass die kindlichen Sprecher bei der Selbstcharakterisierung als „stark, cool, grausam“ verstärkt formelhafte und ethnolektale Formen gebrauchen. Das ist auch im angeführten Beispiel der Fall, als der Junge sich als coole angeba und gangsta bezeichnet. Die Präferenz für ethnolektale Formen bei solchen Selbstcharakterisierungen erklärt die Autorin durch den Einfluss älterer Jungen aus dem Umfeld oder durch den Einfluss medialer Figuren aus Film und Comedy. 32 Eine systematische Unterscheidung zwischen Umgangsdeutsch und ethnolektalen Formen nach situativen, personellen oder thematischen Aspekten kommt bei den Schulanfängern allerdings (noch) nicht vor. Inken Keim 168 Mädchen sich mit der Äußerung isch muss toilette an sie wendet, reagiert die Lehrerin mit einer grammatisch korrekten Antwort: wir sind doch fertig * du kannst auf die toilette. Daraufhin fragt das Kind die gleichaltrige Freundin kommst du mit mir auf die toilette↑ und übernimmt dabei die grammatisch korrekte Äußerung der Lehrerin. Die Differenz zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch kann aber auch zu einem Spiel mit dem Lehrer genutzt werden. Keim (2004a) beschreibt einen Fall, in dem sich ein Erstklässler mit isch muss toilette an den Lehrer wendet. Als der ihn rügt und eine korrekte Formulierung einfordert, grinst der Junge und reformuliert sein Anliegen: darf ich bitte auf die toilette gehen. Der Junge kennt die korrekte Form und es macht ihm offensichtlich Spaß, vom Lehrer zur Korrektur aufgefordert zu werden. Im Laufe der Schulzeit lernen Migrantenkinder und -jugendliche die Differenz zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen als kommunikative Ressource zu nutzen, beide Formen kontextspezifisch zu gebrauchen und sie zu diskursiven und sozial symbolisierenden Zwecken einzusetzen. Wenn man Schüler(innen) höherer Klassen in unterschiedlichen Situationen beobachtet, erkennt man, dass sie systematisch zwischen Situationen unterscheiden, in denen standardnahes Deutsch erforderlich ist, und Situationen, in denen ethnolektale Formen die Normalform darstellen. Ein 15-jähriger kroatischer Schüler, der seinen Klassenfreund mit komm wir gehen Pause auffordert, mit ihm auf den Schulhof zu gehen, wendet sich kurze Zeit später an die Klassenlehrerin mit der Bitte: darf isch ma bitte auf die Toilette Frau Brand. Ein türkischstämmiger Schüler fragt seinen Freund Can, wann gehst du Kino? Als er mit seinem Klassenlehrer spricht, verwendet er grammatisch korrekte Formen: isch hab die auf=m Hof gesehn Herr Wolf, die is nisch in der Klasse. Im Folgenden werde ich auf der Basis von drei Fallstudien zeigen, dass Migrantenjugendliche, die ethnolektale Formen verwenden, auch über grammatisch korrektes Umgangsbzw. Standarddeutsch verfügen, dass sie systematisch zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen variieren und in spezifischen Situationen ethnolektale Formen in diskursiv-rhetorischen und sozial-symbolisierenden Funktionen einsetzen. 6. Variation zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen 6.1 Fallstudie: Murat 33 Der 17-jährige Murat ist in dem oben (Kap. 5) charakterisierten Migrantenwohngebiet in Mannheim geboren und zur Grund- und Hauptschule gegangen. Bereits mit Beginn der Hauptschule ist für ihn das Leben nach der Schule 33 Für eine ausführliche Beschreibung dieser Fallstudie vgl. Keim/ Knöbl (2007). Form und Funktion ethnolektaler Formen 169 viel wichtiger als das in der Schule. Mit seinen türkischstämmigen Freunden streunt er durch das Stadtgebiet, macht Kampfspiele und hängt auf den Spielplätzen herum. Die Jungen schwänzen die Schule, bleiben sitzen und machen einen schlechten Hauptschulabschluss. Zur Zeit des Gesprächs ist Murat arbeitslos. Er ist eloquent und hat ein weites sprachliches Repertoire, das standardnahes Deutsch, dialektale Formen, deutschtürkische Mischungen und ethnolektale Formen umfasst. Das Gespräch, aus dem die folgenden Beispiele stammen, findet auf dem zentralen Spielplatz des Migrantenwohngebiets statt. Während des Gesprächs, in dem Murat seine Karriere zum „schlechten Schüler“ darstellt, kommen drei seiner Freunde dazu, und in dieser Gesprächsphase erzählt Murat von einer Schlägerei, zu der ihn ein Rivale aufgefordert hatte. Kurze Zeit bevor der Kampf stattfand, hatte Murat einen Unfall; sein Fuß ist in Gips, er kann nur mit Krücken laufen, nimmt aber dennoch die Herausforderung an. In dieser Kampferzählung, die gleichzeitig an die Interviewerin und an die Freunde adressiert ist, treten ethnolektale neben standardsprachlichen Formen auf. Eine detaillierte Analyse (Keim/ Knöbl 2007) zeigt, dass ethnolektale Formen nur in der Kampfschilderung vorkommen, bei Hintergrundinformationen etc. jedoch nicht. Im folgenden Gesprächsausschnitt sind die Strukturteile, die zur Kampfschilderung gehören, fett gedruckt: Beispiel 1: „Kampferzählung“ (vereinfachte Transkription): 34 MU: un dann halt bin isch rau“s ↑ * hab noch krü“ckn- * MU: un dana“ch* hat=a gemeint di“ng ↓ * → hal=der wollt MU: u“nbedingt> n=kampf mit mir ↓← un=isch MU: konnt net sagn isch hab/ isch kann jetz net MU: weil mein fuß gebrochn is odda so * bin MU: isch trotzdem hingegangn obwohl meine fuß noch MU: zusammngenäht war * da hab=sch halt zur sischerheit MU: einn schlagstock mitgenommn ↑ * falls es MU: wirklisch schiefgehn sollte odda so ↑ MU: der is halt auf misch drauf ↑ hab=sch MU: schlagstock rausgezogn * hab=sch ihm vom MU: hals so gepackt=nach hintn ↑ * hab=sch MU: den gepa“ckt ↑ (…) wollt wegrennn * dann MU: hat=a mir fuß gestellt ↓ In diesem Erzählausschnitt gibt es unterschiedliche Formulierungsmuster, die für die folgenden Strukturteile verwendet werden: 34 Zu den Transkriptionskonventionen vgl. Kapitel 8. Inken Keim 170 - Verdichtete Vordergrundschilderungen: 35 mit Detaillierungen und kleinschrittiger Darstellung des Kampfgeschehens (fett gedruckt), mit kurzen syntaktischen Einheiten, asyndetisch gereiht, mit Verbspitzenstellung und ethnolektalen grammatischen Merkmalen wie Ausfall des Artikels in den NP (schlagstock und fuß), falschem Verbrahmen (ihm gepackt) und falscher Präposition (vom hals): hab=sch schlagstock rausgezogn * hab=sch ihm vom hals so gepackt nach hintn (...) hab=sch den gepackt (...) wollt wegrenn * dann hat=a mir fuß gestellt - Hintergrunddarstellungen: Dazu gehören die Erläuterung von Motiven, die Begründung von Handlungen oder der Nachtrag situativer Voraussetzungen; sie sind charakterisiert durch komplexe Satzstrukturen (Kausal-, Temporal- und Konzessivsätze) und haben keine grammatischen Auffälligkeiten: hal=der wollt unbedingt en kampf mit mir * un isch konnt net sagn isch kann jetzt net weil mein fuß gebrochen is odda so und da hab=sch zur sicherheit einn schlagstock mitgenommn * falls es wirklich schiefgehn sollte odda so - eine Art Übergangssequenz zwischen Hintergrund und Vordergrund (fett und unterstrichen): bin isch trotzdem hingegangn obwohl meine fuß noch zusammngenäht war. Sie ist charakterisiert durch Merkmale aus beiden Formulierungsmustern: Verberststellung (bin isch) und falsches Genus (fem. statt mask. in meine fuß) gehören eher zum Muster für Vordergrunddarstellung, das komplexe Satzgefüge (Subjunktion obwohl) eher zum Muster für Hintergrunddarstellung. Der Kontrast zwischen den Formulierungsmustern für Vordergrund und Hintergrund wird besonders deutlich in den NP s, die in der Hintergrundschilderung mit Artikel (mein fuß und einn schlagstock), in der Vordergrundschilderung jedoch ohne Artikel ( fuß und schlagstock) realisiert sind. Der Vergleich mit einer Erzählsituation, in der nur die Interviewerin anwesend ist, zeigt, dass dort keine ethnolektalen Merkmale vorkommen, auch nicht in Vordergrundschilderungen mit hoher Verdichtung. Im folgenden Beispiel erzählt Murat über einen Konflikt mit seinen Lehrern: Nachdem er mehrere Tage die Schule geschwänzt hat, wird er zum Gespräch beim Rektor gebeten. Im Zimmer sind sein Klassenlehrer, der Rektor und der Konrektor, und - so empfindet es Murat - alle drei wollen ihn als faulen und feigen Schüler fertigmachen: 35 Reihungen von Hauptsätzen mit Erststellung des Finitums bezeichnet Günthner (2006, S. 99ff.) als „uneigentliche Verbspitzenstellung“ und als „dichte Konstruktionen“. Sie erscheinen vor allem in mündlichen, narrativen Produktionen, und zwar in den Erzählteilen, die einen hohen Grad an Detaillierung und Vergegenwärtigung erfordern. Form und Funktion ethnolektaler Formen 171 Beispiel 2: „Auseinandersetzung mit den Lehrern“ (vereinfachte Transkription): M U: dann hat mein lehrer gesagt * → eigentlisch will=isch MU: ja jedem he“lfn bei der prüfung * abba bei so einem MU: schleschtn schüler wie dir wi“ll=isch ja gar nisch MU: helfn es lohnt sisch gar nischt >und so< ← * <halt MU: i“mmer so- * un=dann hat ei“ner was gesagt und alle MU: drei ham misch ausgelacht ↓ * dann bin=isch au“sgerastet MU: hab=isch gemeint * isch hab keine lust mehr misch MU: mit eusch zu unterha“ltn und bin gega“ngn ↓ (…) Als Murat das Rektorenzimmer verlässt, hört er, noch bevor er die Tür geschlossen hat, dass die drei Lehrer sich über ihn lustig machen: MU: ham misch ausgelacht- * ja“ dann bin=isch rei“n- * MU: hab zu meinem lehrer gesagt wenn noch ei“ner von eusch/ MU: → also ri“schdisch au“sgerastet isch konnt net mehr isch MU: hätt fast geweint ← * isch bin rei“nhab gemeint wenn MU: ei“ner von eusch noch ei“nmal über misch lacht- * dann MU: seid ihr tot- * isch mach eusch kaputt >hab=isch gemeint< ↓ MU: * halt * aus wu“t- (…)un=isch hab meine sachen gepackt MU: an dem tag und bin weg von der schule ↓ * einfach so rau“s ↓ In dieser dramatischen Konfliktschilderung mit szenischen Darstellungen kommen viele Strukturmerkmale für Verdichtung vor: kurze syntaktische Einheiten, asyndetische Verknüpfung, Verberststellung (hab=isch gemeint, hab zu meinem lehrer gesagt), elliptische Formulierungen (halt aus wut; einfach so raus), aber keine ethnolektalen Merkmale. Murat schildert das Konfliktereignis spannend und emotionsgeladen. Der Vergleich der beiden Konfliktschilderungen - die vorherige Kampferzählung, die an die Freunde und die Interviewerin adressiert ist, und die Erzählung über die Auseinandersetzung in der Schule, die nur an die Interviewerin adressiert ist - legt die Vermutung nahe, dass die Verwendung ethnolektaler Formen in der Kampferzählung mit der Spezifik der Erzählsituation zusammenhängt: Murat muss auf das unterschiedliche Hintergrundwissen der Adressaten Rücksicht nehmen; die Interviewerin hat kein Hintergrundwissen über das Ereignis, die Freunde dagegen wissen Bescheid. Außerdem muss er unterschiedliche Beziehungsstrukturen herstellen und diese sprachlich anzeigen. Ethnolektale Merkmale erscheinen nur in der Vordergrundschilderung des Kampfes, d.h., diese Teile sind in besonderem Maße auch an die Freunde (mit-)adressiert. Komplexe, standardsprachliche Formen dagegen erscheinen in den Hintergrunderläuterungen, die Inken Keim 172 an die Interviewerin gerichtet sind, die z.T. auch von ihr evoziert werden und auf die sie reagiert. 36 Diese ausgebauten Formen werden also verwendet, um der Interviewerin gegenüber eine freundliche, aber sozial eher distanzierte Beziehung anzuzeigen. 6.2 Fallstudie: Mädchen der 8. Hauptschulklasse 37 Die folgende Studie wurde in einer 8. Hauptschulklasse durchgeführt. Das in Auszügen präsentierte Gespräch fand im Klassenraum in einer der Hauptschulen des Mannheimer Stadtgebiets statt. Es sind nur Mädchen anwesend, alle sind türkischstämmig. Sie erzählen im Beisein ihrer Deutschlehrerin und der Interviewerin über Ereignisse, die sie auf einer Klassenfahrt nach Berlin erlebten. Zu Gesprächsbeginn stellt die Interviewerin Fragen an die Mädchen, die sie bereitwillig und ausführlich beantworten. Diese ersten Gesprächssequenzen sind standardnah formuliert und enthalten auf der grammatischen und lexikalischen Ebene keine ethnolektalen Merkmale. 38 Das zeigen die folgenden Beispiele, in denen eines der Mädchen, Canan ( CA ), einige Fotos der Berlinfahrt kommentiert und von ihren Freundinnen unterstützt wird: Beispiel 3: „Berlinfahrt“ (vereinfachte Transkription): CA (zeigt auf die entsprechenden Fotos) CA: also da warn wir noch auf dem we“g * un=da ham wir ein paar CA: fotos gemacht- * da frau Kranz * die kuckt auf dem zettel da * CA: da bin isch ↑ * da war isch am schlafen- (...) und=a warn wir CA: noch-/ wo war des ↑ (...) * ah ja da warn wir in Berlin ↑ eh CA: Alexanderplatz ↑ * da auch ** da warn wir im bu“s (...) un=da CA: eine frau Käfer * Anna Käfer Auf die Nachfrage der Interviewerin, wer diese Anna ist, antwortet Canan: CA: da ham wir eine frau kennen gelernt * von DDR oder ↑ Die Vergewisserungsfrage von DDR oder↑ richtet Canan an ihre Freundin Alara ( AA ), die die Frage sofort beantwortet: AA: sie hat in de=DDR-zeit gelebt 36 Vgl. die Analyse in Keim/ Knöbl (2007, S. 179ff.). 37 Für eine ausführliche Beschreibung dieser Fallstudie vgl. Keim (2007). 38 Auf der prosodisch-phonetischen Ebene jedoch gibt es ganz ähnliche Merkmale wie bei dem vorher beschriebenen Murat; vgl. dazu Keim/ Knöbl (2007). Form und Funktion ethnolektaler Formen 173 Daraufhin ergänzt eine dritte Sprecherin, Dilara ( DI ): DI: und die hat dann auch in de“m hotel gewohnt wo wir auch DI: gewohnt haben ↑ * und wir ham sie hal=dort kennen gelernt ↑- * DI: sie war auch allei“ne ↑ > gell ↑ * ja * un wir ham zusammen DI: ausflüge gemacht ↑- Und die erste Sprecherin detailliert die Situation des Kennenlernens: CA: sie hat gefragt wo das schloss Charlottenburg is glaub=sch * CA: un=da ham wir gemeint da gehen wir au“ch hin * so ham wir CA: uns kennen gelernt In dieser ersten, gemeinsam hergestellten Gesprächsphase treten keine ethnolektalen Merkmale auf, auch nicht in Nominal- oder Präpositionalphrasen. Die Vergewisserungsfrage (von DDR oder↑), die eine Präpositionalphrase ohne Artikel enthält, wird von der Freundin unaufwändig im folgenden Beitrag repariert: sie hat in de=DDR-zeit gelebt. Doch im weiteren Verlauf des Gesprächs, als sich eine Interaktionsdynamik unter den Mädchen entwickelt und sie sich wechselseitig ergänzen und präzisieren, Details expandieren, um das Rederecht oder um die ‘richtige’ Version einer Ereignisdarstellung kämpfen, treten ethnolektale Formen auf: z.B. Ausfall des Artikels in Nominal- und Präpositionalphrasen, falsches Genus und falscher Kasus. In diesen Interaktionsphasen, die in Anwesenheit der Interviewerin stattfinden, in denen diese aber nicht aktiv beteiligt ist, setzt sich eine Kommunikationsweise durch, in der auch jugendsprachliche und ethnolektale Elemente auftreten. Ein Vergleich dieser Interaktionsphasen mit den Sequenzen zu Beginn des Gesprächs (vgl. oben) zeigt, dass die Mädchen zwischen Situationen bzw. Gesprächskonstellationen unterscheiden, in denen sie standardnahe Formen verwenden, und solchen, in denen sie auch Ingroup-Kommunikationsweisen gebrauchen. Sie nutzen also die Differenz zwischen beiden Sprachformen zur Herstellung unterschiedlicher Gesprächskonstellationen und unterschiedlicher Beziehungsstrukturen: Wenn nur die fremde Erwachsene adressiert ist, werden durchgehend standardnahe Formen eingesetzt; in den Beiträgen, die nur oder auch an die Gruppenmitglieder gerichtet sind, kommen ethnolektale Formen vor, die im Kontrast zu den (ausschließlich) standardnahen Formen der Fremden gegenüber eine vertraute Ingroup-Beziehung signalisieren. In den Gesprächsphasen, die vordergründig auf die Ingroup bezogen sind, die Interviewerin jedoch anwesend und in unterschiedlicher Weise (mit-)adressiert ist, treten ethnolektale Formen nicht durchgehend auf, d.h. nicht in jeder Inken Keim 174 möglichen Position, sondern es gibt eine reiche Variation zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen. Der Wechsel zwischen beiden ist vor allem diskursiv-rhetorisch motiviert; es lassen sich einige relativ stabile diskursivrhetorische Muster rekonstruieren. Im Folgenden werde ich zwei davon vorstellen. 39 a) Kontrast zwischen Ethnolekt vs. Standard bei Widerspruch Der Kontrast zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen wird genutzt, um in der Ingroup-Kommunikation inhaltliche Gegenpositionen zwischen zwei Parteien hervorzuheben. Im folgenden Beispiel geht es um die ‘richtige’ Version bei der Lokalisierung eines Fotos. Beispiel 4: „Der zweite Tag“ Canan deutet auf ein Foto und stellt die Alternativfrage: 01 CA: und <da“> des war erste=tag * gell ↑ |oda=zweite| 02 FI: nei“n des|war nischt| 03 FI: erste=tag nei“n * du hattest da 04 AA: doch des war der erste tag 05 FI: blaue |(....)| 06 CA: |ah ja-| des war zweiter tag oder so * Canan ist sich nicht sicher, ob das Foto, das sie gerade beschreiben will, am ersten oder am zweiten Tag der Berlinfahrt aufgenommen wurde und richtet die Vergewisserungsfrage des war erste=tag * gell↑ * oda= zweite (Z. 01) an die anderen Mädchen. Die Freundin Fidan ( FI ) ist sicher, dass es nicht der erste Tag war (nei“n des war nischt erste=tag, Z. 02/ 03), doch Alara ( AA ) widerspricht und behauptet: doch des war der erste tag (Z. 04). Darauf liefert Fidan ein Zusatzargument für ihre Version (ein bestimmtes Kleidungsstück, das CA auf diesem Foto trägt), das Canan überzeugt, dass das Foto doch am zweiten Tag aufgenommen wurde (Z. 06). Interessant an diesem Ausschnitt ist, dass Canan in der Vergewisserungsfrage (Z. 01) die Temporalangabe ethnolektal (ohne Artikel) realisiert des war erste= tag * gell↑ * oder zweite und ihre Freundin Fidan, die ihr bei der Entscheidung hilft, die ethnolektale Form übernimmt nei“n des war nischt erste=tag (Z. 02/ 03). Alara dagegen, die die Gegenversion zu Fidans Version liefert, verwendet Standardformen wie doch des war der erste tag (Z. 04). Die endgültige Version, die Canan formuliert, nachdem sie von Fidan überzeugt wurde, ist dann wieder ethnolektal realisiert 39 Für weitere Variationsmuster vgl. Keim (2007). Form und Funktion ethnolektaler Formen 175 ah jades war zweite=tag oder so (Z. 06). D.h. Canan passt sich auf der Formulierungsebene nicht den standardsprachlichen Formen ihrer Kontrahentin an, sondern stellt - unterstützt durch Fidan - die endgültige Version her: Dabei behält sie - im Kontrast zum Standard der Kontrahentin - die ethnolektalen Formen bei. Diese Interaktion zur Klärung der „richtigen“ Version findet ausschließlich zwischen den Mädchen statt; die Interviewerin spielt keine Rolle, auch nicht als Rezipientin. b) Ethnolektale Formen zur Spannungserzeugung Dieses Muster wird deutlich in der Ausgestaltung des erzählerischen Höhepunkts bei der Schilderung eines wichtigen Erlebnisses auf der Berlinfahrt. Die Erzählung ist an die Interviewerin gerichtet, die anderen Mädchen arbeiten bei der Herstellung mit. Nach einer Discofeier, bei der die Mädchen voll süße Jungen kennengelernt hatten, und in deren Verlauf auch Alkohol getrunken wurde, trafen sie nachts in ihrem Jugendhotel, in dem auch die Jungen wohnten, auf einen splitternackten und total betrunkenen Jungen. Dieses Ereignis wird von Dilara ( DI ) erzählt, die sich zu dem Zeitpunkt, als die anderen auf den nackten Jungen trafen, bereits in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Als sie im Flur Krach hörte, ging sie hinaus und entdeckte dort den nackten Jungen: Beispiel 5: „Der naggische Junge“ 01 DI: un=dann ↑ isch bin kurz in die dusche oder so ↑ oder isch 02 DI: hab mein gesischt gewaschen ↑ isch hab mein jogging anzug 03 DI: angezogn |ah|un=dann/ * un=dann drau“ßen ↑ 04 AA: <ja: > wir gingn |ja| 05 DI: ← war voll krach → |un=dann-| isch hab gesagt ↑ 06 AA: LACHT HELL |(...) | 07 DI: isch wollte schlafen un=dann ↑ isch hab gesagt hey sind 08 DI: die schon wieder da → ds=war=so=halbe=stunde=später un=sch 09 DI: so des kann sei/ ← isch kuck ↑ oh ma“mmy ↑ 10 AA: KREISCHT 11 K& LACHEN 12 IN: was war da ↑ 13 DI: ← da war eine na“ggische ju“nge → 14 AA: KREISCHT 15 K& HELLES LACHEN Inken Keim 176 17 IN: wo kam der her ↑ 18 DI: un= der war halt besoffn ↑ Der Höhepunkt der Erzählung wird durch eine kleinschrittige Handlungsschilderung mit kurzen, Spannung erzeugenden Äußerungen (Z. 01/ 05) und dem eingeschobenen Selbstgespräch (Z. 05/ 09) wirkungsvoll vorbereitet. In diesem Erzählsegment kommen keine ethnoktalen Merkmale vor, PP und NP sind grammatisch korrekt realisiert. Der Höhepunkt selbst ist durch hinauszögernde, Spannung steigernde Mittel gestaltet: Er besteht aus der knappen Einleitungsäußerung isch kuck↑ (Z. 09), die kreischendes Lachen der Mädchen hervorruft, der stark wertenden Interjektion oh mammy, auf die die Interviewerin mit gespannter Nachfrage reagiert (was war da↑, Z. 12) und der langsam und bedeutungsvoll gesprochenen Feststellung ←da war eine na“ggische ju“nge→ mit starker Akzentuierung auf na“ggische und ju“nge. Die NP ist durch das falsche Genus ethnolektal markiert. Die Erzählerin ist durch die Art der Höhepunktdarstellung ausgesprochen erfolgreich; die Mädchen, die das Ereignis ja bestens kennen, fiebern am Höhepunkt mit (vgl. AA s Versuche zur Beteiligung) und belohnen die Darstellung durch helles und kreischendes Lachen. In diesem Beispiel kommt nur eine ethnolektale Form vor, und zwar bei der Ausgestaltung des Höhepunktes. Dieselbe Sprecherin verwendet in ihrer Antwort auf die Nachfrage der Interviewerin wo kam der her↑ (Z. 17) das korrekte Genus: un=der war halt besoffn↑ (Z. 19). Das zeigt, dass die ethnolektale Form zusammen mit den übrigen diskursiven und prosodischen Verfahren zu den Mitteln und Verfahren gehört, die in narrativen Darstellungen zur Erzeugung von Spannung eingesetzt werden. Unter diesem Aspekt ist das hier gezeigte Verfahren ähnlich dem in der vorherigen Fallstudie beschriebenen Verfahren: ethnolektale Formen in Sequenzen, die in besonderer Weise auch an die Peergroup adressiert sind. 6.3 Fallstudie: 12-jährige Sprachförderschüler 40 Die letzte Studie zeigt, dass die Fähigkeit, zwischen Ethnolekt und Standardformen situativ zu unterscheiden, auch im Zusammenhang mit dem Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen entwickelt wird. Das im Folgenden analysierte Gesprächsmaterial stammt wieder von Hauptschüler(inne)n aus dem untersuchten Migrantenwohngebiet. Es handelt sich um eine Sprach- 40 Vgl. zu dieser Fallstudie Keim (2009a und 2009b). Form und Funktion ethnolektaler Formen 177 fördergruppe der 6. Klasse mit vier Migrantenkindern. Sie sind 12 Jahre alt und werden von einer Studentin wöchentlich vier Stunden am Nachmittag in den Räumen der Schule in Deutsch gefördert. 41 Die Studentin, die mit den Kindern arbeitet, war mit drei der Kinder in dem von ihnen gewählten Kinofilm „Happy Feet“. Im anschließenden Förderunterricht sollten die Kinder dem vierten Kind, das den Film noch nicht gesehen hatte, und der Interviewerin Episoden aus dem Film erzählen, zuerst mündlich und dann schriftlich. Die schriftlichen Versionen wurden am Computer verfasst und sollten in eine von den Kindern zusammengestellte Geschichtensammlung aufgenommen werden. Gegenstand des Films ist die Lebensgeschichte eines kleinen Pinguins, der anders als seine Stammesgenossen ist. Er kann nicht singen wie sie, aber wunderbar tanzen, deswegen wird er „Happy Feet“ genannt. Wegen seines „Anders-Seins“ wird er aus der Pinguinkolonie ausgeschlossen, geht in die Welt, besteht viele Gefahren und wird schließlich wieder in die Kolonie aufgenommen, nachdem er sich für die anderen als nützlich erwiesen hat. Im folgenden Beispiel bittet die Studentin ( BO ) den Jungen Fatih ( FA ), dem Mädchen Gülay und der Interviewerin ( IN ) von dem Film zu erzählen. Damit schafft sie für die Kinder eine natürliche Erzählsituation. Fatih folgt der Aufforderung und erlebt gleich zu Beginn, dass er seine Erzählung in Konkurrenz zu seiner Freundin Betül ( BE ) gestalten muss. Beispiel 6: „Pinguin Happy Feet“ 01 BO: Fatih * erzählst=e Gülay ma um was es ging ↑ 02 BE: +ich weiß=s 03 FA: +<des ging um pinguin happy feet ↑ > * happy feet bedeutet/ 04 FA: bedeutet glücklische füße und eh * alsoehm die 05 IN: mhm 41 Der Sprachförderunterricht findet im Rahmen des Sprachförderprogramms der Mercator- Stiftung statt, die bundesweit an 35 Standorten vertreten ist. Das Programm sieht vor, dass Studierende Migrantenkinder der Sekundarstufe I in kleinen Gruppen mindestens vier Stunden wöchentlich in Deutsch mündlich und schriftlich fördern. Das Mercatorprojekt ist auch an der Universität Mannheim vertreten und wird von Rosemary Tracy und mir geleitet. Vorrangiges Ziel der Förderung ist es, die Textrezeptions- und -produktionsfähigkeiten (mündlich und schriftlich) der Kinder zu verbessern. Dazu greifen die Studierenden die Kinder interessierende Themen auf, bieten ihnen dazu Sachinformationen und Text-, Spiel- Audio- oder Filmmaterial an und unterstützen die Kinder bei der Produktion mündlicher und schriftlicher Versionen. Zur Projektbeschreibung siehe Tracy/ Keim (2009). Inken Keim 178 06 FA: mutter von happy feet ↑ war voll geil/ eh voll gute sängerin ↑ 07 FA: sehr gute ↑ * un die hat einen/ → wie/ wie soll=sch des sagn ←↑ 08 K LACHEND # 09 BE: einen freund 10 FA: die hat einfach mit mann rumgemacht also ↑ * 11 FA: un dann ham die ei gekriegt ↑ * un dann hat der mann des ei 12 FA: unter dem ding versteckt ↑ 13 IN: wo ↑ wo hat=a=s versteckt ↑ 14 BE: >popo< 15 FA: un dann eines tages hat eh der mann so eh nachricht 16 FA: gegebn glaub=sch * und der hat den ei runter fallen 17 FA: lassen → net allein * aus versehn runtergefallen ↑ * und dann 18 FA: * nächste tag is die mutter gekommn wo is unsere kind ↑- * 19 FA: kind war da ↑ und wer macht unsere kind diese füße so ↑ * 20 FA: eh einfach der hat glücklische füße ↑ * und dann ↑ eh sind 21 FA: die singen gegangen * der junge macht so <giiaah> * der kann 22 K KRÄCHZT 23 FA: |nischt rischtisch singn ↑ der kann nisch rischtisch singen| 24 BE: |<darf=sch was dazu sagn ↑ > SCHNIPPT MIT DEN FINGERN | In dieser ersten Erzählepisode sind folgende Strukturteile realisiert, die für das Genre ‘Erzählung’ konstitutiv sind: - Einführung der Akteure: Die zentrale Figur des kleinen Pinguin des ging um pinguin happy feet (Z. 03), Erläuterung seines ungewöhnlichen Namens (Z. 03/ 04) und Einführung seiner Eltern (Z. 04/ 10); dabei wird ein wesentliches Merkmal der Mutter fokussiert (gute Sängerin) und dadurch ein entsprechendes Merkmal für das Kind projiziert; - Darstellung eines Ereignisses aus der Vorgeschichte, das zur Deformation und dem Anderssein führt (Z. 15/ 20): Der Vater lässt das Ei aus Versehen fallen; als das Kind schlüpft, hat es verkrüppelte Füße; - Darstellung eines Ereignisses, das die Unfähigkeit zu singen offenbart (Z. 20/ 23). Form und Funktion ethnolektaler Formen 179 Beide Ereignisse liefern die Gründe für den Ausschluss aus der Kolonie; das erste wird in einer minimalen Szene präsentiert (zwei Zitate der Mutter), das zweite beginnt mit einer szenischen Darstellung, die von Betül unterbrochen wird. Die Realisierung dieser erzählkonstitutiven Strukturteile zeigt, dass Fatih bereits beträchtliches Genre-Wissen erworben hat und einem komplexen Erzählkonzept folgt: Die wichtigen Akteure werden eingeführt und charakterisiert, die Charakteristika sind in Bezug auf die weitere Entwicklung der Handlung relevant, und es werden die Ereignisse dargestellt, die den weiteren Handlungsverlauf motivieren. Diese Ereignisse werden hoch gestuft und ansatzweise szenisch detailliert. Die sprachliche Realisierung dieser Erzählepisode enthält - grammatisch unauffällige, umgangssprachliche Formen, d.h. Fatih hat wesentliche grammatische Strukturen des Deutschen erworben: des ging um happy feet * happy feet bedeutet glückliche füße (...) und dann hat der mann des ei unter dem ding versteckt (...) und dann sind die singn gegangen (...) der kann nischt richtisch singn. - jugendsprachliche Formen: die Äußerung voll geil/ eh voll gute sängerin, in der das Adjektiv voll als Intensivierer (im Sinne von sehr) und das qualifizierende Adjektiv geil auftritt. 42 Als jugendsprachlich kann auch der derbe Ausdruck rummachen charakterisiert werden. Interessant ist die Selbstkorrektur in der Äußerung war voll geil/ eh voll gute sängerin * sehr gute; Fatih korrigiert den jugendsprachlichen Bewertungsausdruck geil zu dem sozialstilistisch neutralen gut und den jugendsprachlichen Intensivierer voll zu sehr. Die Korrekturen zeigen seine zunehmende stilistische Bewusstheit. - eine Reihe ethnolektaler Formen: 43 Ausfall von Artikel in NP und PP (5), z.B. und dann ham die (ein) ei gekriegt oder die hat einfach mit (einem) mann rumgemacht; Ausfall von Artikel und Präposition (2), z.B. und dann (am) nächste(n) tag is die mutter gekommen; anderes Genus (1) und anderer Kasus (1) unsere kind (fem.) statt unser kind (neutr.) und wer macht unsere kind diese füße so statt unserem kind (Dat.); analytische Wortbildung diese füße so statt solche füße; 42 Solche Konstruktionen sind in der Jugendsprachforschung beschrieben, wie z.B. voll dumme tussi, oder des is voll geil u.Ä. Auch andere Migrantenjugendliche verwenden Konstruktionen mit dem jugendsprachlichen Intensivierer voll. In Keim (2008b, S. 227) z.B. wird eine Deutsch-Türkin zitiert: des war voll schlimm für mich, des war irgendwie voll die qual (ebd.). 43 Die fehlenden Elemente sind in Klammern und fett markiert; die Zahlen in den Klammern bezeichnen die Häufigkeit des Vorkommens. Inken Keim 180 Diese ethnolektalen Formen werden weder von den anderen Kindern noch von den deutschsprachigen Erwachsenen korrigiert. Auch Betül, die im Erzählverlauf immer wieder die Erzählerrolle übernimmt und expandierte narrative Sequenzen produziert, gebraucht ethnolektale Formen, wie das folgende Beispiel zeigt: Beispiel 7: „Im Zoo“ 01 IN: wo war der pinguin noch ↑ 02 BE: in so zoo“ * er war in zoo ↓ 03 BE: Mexico ↑ glaub isch * ja“ * un danach 04 IN: in welchem land ↑ 05 BE: ham die/ danach kam ein mädchen ↑ ein kleines mädchen 06 BE: die hat so geklopft an ding/ des war doch schei“be- * 07 IN: der war hinter ner gla“sscheibe ↑ 08 BE: ja“ damit die menschen 09 BE: es sehn konntn un man konnt ja in wasser reinschwimmen 10 IN: mhm Auch hier fehlen in einigen Präpositional- und Nominalphrasen der Artikel: in so zoo, in zoo, an ding, in wasser reinschwimmen, des war doch scheibe. Nach den mündlichen Erzählungen setzen sich die Kinder an ihre Computer und versuchen die erzählten Episoden zu schreiben. Im Prozess des Schreibens ändert sich bei den Kindern die Formulierungsweise. Das zeigt das nächste Beispiel: Betül sitzt am Computer, überlegt und beginnt folgendermaßen zu schreiben: Beispiel 8: „Unter den Arsch“ (vereinfachte Transkription) 02 BE: und jetz ↑ * da wurden sie ein pärchen und sie bekamen ein kind 05 BE: LACHT nein * sie bekamen ein * sie bekamen ein ei“ 07 IN: ein ei ↓ richtich ↓ * was is dann weiter passiert ↑ * 08 IN: was macht mer mit nem ei ↑ <der mann> ↑ 09 FA: >unter den arsch< 11 FA: der mann hat den ei * un|ter den- |po gelegt| 12 BE: |unter den po |gelegt Form und Funktion ethnolektaler Formen 181 Betül beginnt mit einer schriftsprachlich formulierten Äußerung: da wurden sie ein pärchen und sie bekamen ein kind (Z. 02/ 03). Die Äußerung hat keine gesprochensprachlichen Merkmale (z.B. Reduktionen, Elisionen, Kontraktionen, Verzögerungspartikel, Abbruch und Neustart u.Ä.), Tempusgebrauch und Wortstellung sind charakteristisch für Schriftsprache. Dann lacht sie, reformuliert ihre Version sie bekamen ein (Z. 05/ 06), bricht ab und korrigiert zu sie bekamen ein ei“. IN bestätigt die Korrektur (ein ei↓ richtich↓, Z. 07) und stellt die nächste den Erzählprozess vorantreibende Frage: was is dann weiter passiert↑ (Z. 07/ 08). Da keine Reaktion erfolgt, schränkt sie den Fragefokus ein: was macht mer mit nem ei ↑ (Z. 08). Jetzt antwortet Fatih und verwendet für den Vorgang des Brütens den derben Ausdruck: >unter den arsch< (Z. 09). IN fragt nach dem Agens der elliptischen Formulierung (<der mann>↑), und Fatih reformuliert zu der mann hat den ei * unter den- (Z. 11), zögert dann aber vor der Nennung des Nomens in der Präpositionalphrase. D.h. er wählt das Wort arsch ab und sucht nach einem alternativen Ausdruck für den Körperteil, unter den der Pinguin-Vater das Ei legt. Noch bevor er fortfahren kann, nennt Betül (überlappend mit seiner Formulierung) als Alternative für den derben Ausdruck arsch den umgangssprachlichen unter den po gelegt (Z. 12); 44 Fatih übernimmt diese Alternative (Z. 10). Betül zeigt hier ihre Fähigkeit zum situationsadäquaten Gebrauch von stilistischen Alternativen; in dieser Sequenz bewegt sie sich bereits nahe an schriftsprachlichen Formen. Das wird besonders deutlich im Vergleich zu den Formulierungen von IN , die Merkmale des Mündlichen enthalten (Elision, Kontraktionen). Kurze Zeit später sitzt Fatih am Computer und schreibt ohne Hilfe von Betül oder der Interviewerin den folgenden schriftsprachlichen Satz, den er laut vorliest: Beispiel 9: „Der Anführer“ 01 FA: LIEST LAUT er hat bei den möwen ein band entdeckt 02 IN: un was war mit dem band ↑ * warum war des wichtig ↑ 03 FA: das 04 FA: band bedeutete dass er dass er der anführer war 05 IN: ja gut 06 FA: SCHREIBT Auf IN s Frage was war mit dem band ↑ warum war des wichtig↑ (Z. 02) antwortet Fatih: das band bedeutete dass er der anführer war (Z. 03/ 04). In die- 44 Der Ausdruck Po ist umgangssprachlich gebräuchlich und für Kinder üblich. Inken Keim 182 ser Sequenz produziert Fatih im Prozess des Schreibens schriftsprachliche Formen mit korrekten grammatischen Strukturen, einer komplexen Syntax und ohne gesprochensprachliche oder ethnolektale Merkmale. 7. Fazit und Ausblick Die Fallstudien zeigen, dass die jugendlichen Sprecher(innen) ein weites Sprachrepertoire haben bzw. - wie in der letzten Studie - dabei sind, es aufzubauen. Sie verfügen über ethnolektale und standardnahe Formen und nutzen die Differenz zwischen beiden als kommunikative Ressource. Interessant ist, dass die vorgestellten Jugendlichen, die unterschiedlichen sozialen und Altersgruppen angehören, beide Sprachformen zu ähnlichen Zwecken verwenden: Gegenüber Außenstehenden, zu denen sie eine freundliche, sozial-distanzierte Beziehung herstellen, verwenden sie standardnahes Deutsch, ebenso in Situationen, in denen schriftsprachliche Fertigkeiten erforderlich sind. In Kommunikationssituationen mit Zweifachadressierungen, einerseits an Mitglieder der Peergroup, andererseits an außenstehende Erwachsene, dient die Variation zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen sozial-symbolisierenden und diskursiv-rhetorischen Zwecken: zur Differenzierung zwischen Ingroup-und Outgroup-Beziehungen, zum Ausdruck von Zugehörigkeit zur „Ghetto“-Jugendszene (oder auch zur Abgrenzung davon, vgl. Keim 2008a, Kap. 4.3) und zur Fokussierung, Aufmerksamkeitssteuerung, Kontrastherstellung und Spannungserzeugung. Der virtuose Umgang mit beiden Sprachformen setzt Kompetenz in beiden voraus und vor allem ein Wissen über den adäquaten Gebrauch in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zwecken. Beides haben die etwas älteren Migrantenjugendlichen in hohem Maße erreicht; die jüngeren sind dabei, ein solches Wissen aufzubauen. Aus diesen Befunden ergeben sich eine Reihe weiterführender Fragen: Aus linguistischer Perspektive interessieren vor allem die Wurzeln, die Entstehung und Verbreitung ethnolektaler Merkmale. Unter bildungspolitischer Perspektive ist die Frage zu klären, ob alle Jugendlichen aus dem Migrantenwohngebiet über ein ähnlich weites kommunikatives Repertoire und über ähnliche Gebrauchsweisen verfügen oder ob es Kinder und Jugendliche gibt, die in allen Kontexten ethnolektale Formen präferieren bzw. für die ethnolektale Formen die einzig möglichen Ausdrucksformen im Deutschen sind. Was sind die Bedingungen (sozial, motivational u.a.) für den Aufbau eines weiten oder eines eingeschränkten Repertoires? Und wie sehen ethnolektale Formen bei Sprecher(inne)n anderer Herkunftssprachen, z.B. Russisch oder Arabisch, aus und wie werden sie von diesen Sprechern eingesetzt? Um solche Fragen klären zu können, ist es notwendig, mehr über die ökonomischen, sozialen und kulturel- Form und Funktion ethnolektaler Formen 183 len Bedingungen zu erfahren, die für die Ausbildung und Stabilisierung von Ethnolekten notwendige Voraussetzungen sind. Aus einer globaleren soziolinguistischen Perspektive ist von Interesse, ob sich ethnolektale Formen zu Soziolekten weiterentwickeln und wer die Träger einer solchen Entwicklung sein könnten. Außerdem ist es notwendig, mehr über die Bewertung von und den Umgang mit ethnolektalen Formen in den Gruppen der Mehrheitsgesellschaft zu erfahren, die in Medien, Mode und Werbung Einfluss haben und in Jugendmagazinen, in Fernseh-Jugendsendungen, in Comedys und Spielfilmen, in Literatur und Musik „neue Trends setzen“. 45 Über solche „Trendsetter“ sind möglicherweise auch Einflüsse auf die Standardsprache möglich. 8. Transkriptionskonventionen Die Sprecherbeiträge sind in Partiturschreibweise angeordnet. Dabei werden folgende Konventionen verwendet: ja |aber | simultane Äußerungen stehen übereinander; Anfang und |nein nie|mals Ende werden auf den jeweiligen Textzeilen markiert + unmittelbarer Anschluss / Anklebung bei Sprecherwechse l * kurze Pause (bis max. ½ Sekunde) ** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde ) *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden = Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laut e zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir ) / Wortabbruch (... ...) unverständliche Sequenz (drei Punkte = Silbe) (war) vermuteter Wortlaut ↑ steigende Intonation (z.B. kommst du mit↑ ) ↓ fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es↓ ) - schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier- ) ” auffällige Betonung (z.B. aber ge ” rn ) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig ) ← immer ich → langsamer (relativ zum Kontext) → immerhin ← schneller (relativ zum Kontext) > vielleicht < leiser (relativ zum Kontext) < manchmal > lauter (relativ zum Kontext) LACHT Wiedergabe nichtmorphemisierter Äußerung auf der Sprecherzeile in Großbuchstaben IRONISCH Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile ) QUIETSCHEN nicht-kommunikatives (akustisches) Ereignis in der Gesprächssituation (auf der globalen Kommentarzeile) 45 Vgl. 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Abstract: Ausgangspunkt für diesen Beitrag sind soziodemografische Daten, die darauf hindeuten, dass in Deutschland relevante Teile der Wohnbevölkerung anlassbezogen in anderen Sprachen als dem Deutschen kommunizieren müssen oder wollen. Aus dieser veränderten Sprachenlandschaft ergeben sich neue Anforderungen an öffentliche Einrichtungen, Behörden und Unternehmen, aber auch neue Möglichkeiten der Nutzung dieser sprachlichen Ressourcen. So spielen Mitarbeiter mit guten Kenntnissen der Herkunftssprachen in vielen Unternehmen und Einrichtungen eine wichtige Rolle bei der Kommunikation mit Personen mit geringen Deutschkenntnissen. Der Einsatz dieser Personen ist teilweise jedoch auch problematisch, da sie in den Herkunftssprachen den Anforderungen des Sprachgebrauchs in beruflichen Kontexten nicht immer gewachsen sind. Daher werden ein reflektierter Umgang mit den Sprachenpotenzialen und eine aktive Gestaltung mehrsprachiger Kommunikationspraxen in öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen gefordert. The starting point for this article is provided by socio-demographic data which point to the fact that significant sections of the German population have to or want to use languages other than German for communication according to the situation. This changed language landscape makes new demands on public institutions, authorities and companies, but also creates new opportunities to make use of these linguistic resources. Thus in many companies and institutions employees with good knowledge of migrant languages play an important role in communication with people who have a limited knowledge of German. However, the use of these people also has its problems, since they are not always equal to the task of using the migrant languages adequately in professional contexts. For this reason the article proposes reflection on the handling of the language potential and an active organisation of multilingual communication practices in public institutions and companies. 1. Deutschland dem Deutschen? Fundierte sprachpolitische Debatten finden in Deutschland selten statt. Sie werden zum einen durch die Kulturhoheit der Länder behindert, durch die kultur- und bildungspolitische Themen von nationaler Bedeutung den landespolitischen Interessen untergeordnet werden (Ehlich/ Krumm 2004). Zum anderen aber steht einer informierten Debatte über den Status des Deutschen in Deutschland auch ein bestimmtes Verständnis der deutschen ‘Muttersprache’ im Wege, die als konstitutives Merkmal von Volksgemeinschaft, Nation und Staat aufgefasst wird. Diese Auffassung lässt sich auf eine im neunzehnten Jahrhundert verstärkt einsetzende emotionale und politische Aufladung der Bernd Meyer 190 Sprachenfrage zurückführen (Ahlzweig 1994). Als Nachhall kommt es heute dazu, dass sich sprachpolitische Diskussionen meist nur um den angeblichen Niedergang des Deutschen drehen bzw. seine Bedrohung durch andere Sprachen oder neue Schreibnormen. Lauscht man der vox online in den Leserkommentaren deutscher Tageszeitungen - aktuell (Januar 2010) etwa anlässlich einer überparteilichen Initiative, das Englische in Ausnahmefällen als optionale Gerichtssprache zuzulassen -, so ist ein deutschtümelnder Unterton kaum zu überhören: Sprachliche Vielfalt erscheint, egal in welcher Form, vor allem als Bedrohung der deutschen Identität. Vor diesem Hintergrund überrascht weder die im Winter 2008 auf dem Bundesparteitag der CDU zur offiziellen Parteilinie erhobene Forderung nach einem Bekenntnis zur deutschen Sprache im Grundgesetz noch die daran anschließende Kontroverse um den Umgang mit sprachlicher Vielfalt in Deutschland. Immerhin gab es eine Debatte: Immigrantenverbände hatten eine ausgrenzende Absicht der Grundgesetzinitiative ausgemacht und sahen sich durch beschwichtigend gemeinte Äußerungen aus der Bundesregierung in ihrem Verdacht bestätigt. So warb die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer für die CDU -Initiative, indem sie die deutsche Sprache zum „Band, das uns verbindet“ erklärte. Worin aber besteht die Verbindung, wenn jemand kein oder wenig Deutsch spricht? Ist die Beherrschung des Deutschen das neue Schibboleth, der Ausweis von Zugehörigkeit? Ist Integration eine Bringschuld von Einwanderern, die sich insbesondere im Erwerb des Deutschen manifestiert? Ein Kommentator in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ verstieg sich in diesem Zusammenhang zu der kühnen Behauptung, Deutsch sei nun mal „die Umgangssprache in Deutschland“; darauf zu bestehen sei kein Assimilierungsdruck (Georg Paul Hefty, FAZ v. 9.12.2008). Bei solchen realitätsfernen Äußerungen liegt die Vermutung nahe, dass das, was geleugnet wird (die Ausübung von Assimilierungsdruck), in Wahrheit der geheime Wunsch des Autors ist. Die Idee, auf der Verwendung einer bestimmten Umgangssprache zu bestehen, also andere Menschen auf eine Sprache des Alltags, des Nah- und Familienbereichs, festzulegen, ist eine Allmachtsphantasie und als solche nicht soziolinguistisch, sondern allenfalls psychologisch interessant. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man Aussagen wie die aus der FAZ mit dem Umstand entschuldigen, dass über die Vitalität von Herkunftssprachen innerhalb der Wohnbevölkerung Deutschlands tatsächlich wenig bekannt ist. Während die Dialekte des Deutschen und zumindest manche der anerkannten (d.h. als indigen geltenden) Minderheitensprachen (Dänisch, Frie- Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 191 sisch, Niederdeutsch, Romanes, Sorbisch) sich regional eines gewissen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses erfreuen, ist über die Verbreitung und den Gebrauch anderer Sprachen in Deutschland wenig zu erfahren. Wie Extra/ Gorter (2005) feststellen, ist diese Differenzierung zwischen den regionalen Minderheitensprachen und den Herkunftssprachen von Migranten kein spezifisch deutsches Problem, sondern typisch europäisch. Schon die EU -Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 schließt Herkunftssprachen von Migranten explizit aus ihrem Wirkungsbereich aus. Es ist daher nur konsequent, dass bestimmte regionale Minderheitensprachen ganz selbstverständlich als zum eigenen kulturellen Erbe gehörig wahrgenommen werden und die entsprechende institutionelle Förderung erhalten, ‘fremde’ Sprachen wie Türkisch oder Russisch hingegen als nicht-indigen gelten, obwohl Millionen von Einwohnern Deutschlands (und Hunderttausende von deutschen Staatsbürgern) diese Sprachen neben dem Deutschen als Umgangs- und Familiensprachen täglich verwenden. Die selektive Wahrnehmung und Förderung der regionalen Minderheitensprachen ist dabei nicht einfach mit einem höheren Schutzbedürfnis aufgrund der geringeren Sprecherzahl und dem möglichen Aussterben dieser Sprachen zu begründen. Auch für die Herkunftssprachen von Migranten ist keineswegs klar, in welchem Umfang sie in Zukunft noch in Deutschland zu finden sein werden. Schon heute zeichnet sich ab, dass Varietäten des Russischen und des Türkischen in Deutschland gesprochen werden, die sich von dem in den Herkunftsländern gesprochenen Standard merklich unterscheiden. Offenbar unterscheiden sich Gruppen auch in ihren Bemühungen um die Tradierung ihrer Herkunftssprachen (Extra/ Yagmur 2009). Auch wenn eine seriöse Prognose über die weitere Entwicklung dieser Sprachen an dieser Stelle nicht abgegeben werden kann, ist doch festzuhalten, dass deutsche Landesregierungen durchaus Anstrengungen unternehmen, um einem Dahinscheiden der indigenen Sprachen entgegenzuwirken. Es käme vermutlich jedoch politischem Selbstmord gleich, dies auch in Bezug auf andere Sprachen, beispielsweise das Russische, zu erwägen. Lieber wird das Schwinden der Herkunftssprachen in den verschiedenen Einwanderergruppen als Begleitschaden einer staatlich gewollten und forcierten Ausbreitung des Deutschen billigend in Kauf genommen. Im Folgenden möchte ich einige Argumente gegen diese Unterschätzung der Herkunftssprachen und für die Entfaltung und Gestaltung mehrsprachiger Kommunikationspraktiken in Deutschland vorbringen. Auf der Basis von soziodemografischen Daten, Befragungen von Mitarbeitern in sozialen Einrich- Bernd Meyer 192 tungen, Firmen und Behörden sowie anhand von diskursanalytischen Untersuchungen zur Kommunikation in Krankenhäusern kann gezeigt werden, dass migrantische Zwei- und Mehrsprachigkeit (d.h. die kompetente Beherrschung der deutschen Sprache und einer oder mehrerer Herkunftssprachen) wichtige Ressourcen für die alltägliche Sprachpraxis in öffentlichen Einrichtungen und für den wirtschaftlichen Austausch mit den Herkunftsregionen sind. Der Artikel basiert auf einer Studie für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Meyer 2009), in der untersucht wurde, in welchen Bereichen die Beherrschung von Herkunftssprachen einen beruflichen Vorteil bietet. Dem Beitrag liegt die Auffassung zugrunde, dass zur Förderung von Mehrsprachigkeit im Sinne eines „desirable cooperative goal“ (Clyne 2004, S. 19) auch die konkreten Rahmenbedingungen und Kommunikationspraktiken untersucht und beurteilt werden müssen, die dem Gebrauch von Herkunftssprachen im öffentlichen Raum, in Institutionen und an Arbeitsplätzen zugrunde liegen. 2. Gibt es einen Bedarf an Kommunikation in den Herkunftssprachen? Der Bedarf an herkunftssprachlicher Kommunikation über den Familien- und Nahbereich hinaus ergibt sich z.B. aus den in den verschiedenen Migrantengruppen vorhandenen Kenntnissen und Fertigkeiten in der deutschen Sprache. Personen, die nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen, sind gezwungen, im Kontakt mit deutschsprachigen Institutionen, öffentlichen Einrichtungen, aber auch Firmen und Anbietern von Dienstleistungen auf andere Sprachen zurückzugreifen. Dies geschieht oftmals dadurch, dass Angehörige oder Bekannte als Dolmetscher tätig werden, oder aber dadurch, dass man auf eine Brückensprache, wie etwa Englisch, ausweicht. Kommunikation in anderen Sprachen ergibt sich also nicht gesinnungsethisch aus dem Liebäugeln mit einer offenen und ethnisch vielfältigen Gesellschaft, sondern aus der Macht der demografischen Fakten sowie aus rechtlichen Normen, zu denen sich die BRD zumindest im Prinzip bekennt. Ein weiterer Gesichtspunkt sind die wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu den Herkunftsregionen. 2.1 Soziodemografie der sprachlichen Integration Geht man von den wenigen verfügbaren soziodemografischen Daten aus, wie sie im sozioökonomischen Panel des Berliner DIW erhoben werden, so steht in jeder Einwanderergruppe eine große, sprachlich gut integrierte Gruppe einer kleineren, nicht gut integrierten Gruppe gegenüber (Haug 2008). Das Ver- Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 193 hältnis bewegt sich dabei jeweils zwischen 1: 4 oder 1: 5, wobei passive vor aktiver und mündliche vor schriftlicher Sprachbeherrschung rangieren. Jüngere Befragte schätzen sich als kompetenter ein als ältere, Männer und Frauen driften in manchen Gruppen auseinander. So sind etwa, wenn man nach den Selbstauskünften der Befragten geht, die Deutschkenntnisse türkischstämmiger Frauen deutlich schlechter als die der gleichaltrigen Männer. Die Methode der Sprachstandsbestimmung per Selbstauskunft ist sicherlich unbefriedigend, nimmt man aber die so gewonnen Daten als wenn auch unscharfe, jedoch gültige Zustandsbeschreibung der Sprachenlandschaft in Deutschland, so zeigt sich, dass jeweils ortsbezogen relevante Gruppen von Einwanderern ernsthafte Schwierigkeiten haben, anspruchsvollere Kommunikationssituationen auf Deutsch zu meistern. Die Folgen können anhand eines Rechenbeispiels zur Situation in Hamburg verdeutlicht werden. Das Beispiel, so sei vorausgeschickt, kann sicherlich keinen Anspruch auf uneingeschränkte soziodemografische Stichhaltigkeit erheben, da die amtlichen Statistiken in der Regel keine Aussagen zur sozialräumlichen Verteilung von Migranten auf bestimmte Städte oder Stadtteile erlauben (Schönwälder/ Söhn 2007). Dessen ungeachtet mag so eine realistische Vorstellung von der soziolinguistischen Lage in städtischen Räumen vermittelt werden. Von den 82 000 in Hamburg lebenden Personen mit türkischem Migrationshintergrund sind laut Mikrozensus 2006 38 000 Frauen. Aus dieser Gruppe beschreiben laut Erhebungswelle 2005 des sozioökonomischen Panels ca. 44% ihre Deutschkenntnisse als eingeschränkt bis schlecht - insgesamt handelt es sich somit um gut 16 700 Personen, die nicht in vollem Umfang mit deutschsprachigen Einrichtungen und Institutionen kommunizieren können. 7 488 dieser Frauen in Hamburg sind laut Mikrozensus 20 bis 45 Jahre alt und damit potenziell Mütter von Kindern, die Kindertagesstätten besuchen, zur Schule gehen, oder sich in einer Berufsausbildung befinden. Geht man weiter davon aus, dass oftmals Frauen einen großen Teil der Kommunikation mit Bildungs- und Betreuungseinrichtungen der Kinder bewältigen, so erscheint die Frage berechtigt, wie diese Kommunikation vonstatten geht. Die betroffenen Frauen haben vermutlich Schwierigkeiten, Gesprächsanlässe wahrzunehmen, die sich auf die Ausbildung ihrer Kinder beziehen: Elternabende, Gespräche in der KiTa, Angebote zur Berufsorientierung, Lehrersprechstunden usw. Da Angebote in den Herkunftssprachen aus naheliegenden Gründen kaum existieren, sind die Betroffenen auf die Hilfe von zweisprachigen Personen und das sprachliche Entgegenkommen der jeweiligen Institution angewiesen. Bernd Meyer 194 Aus dieser Gemengelage nähren sich Anekdoten wie die des bosnischen Mädchens, das elterliche Bedenken bezüglich einer Klassenfahrt selbst zerstreuen konnte, indem es als Dolmetscherin im Gespräch mit dem Klassenlehrer dessen Erläuterungen in bestimmten Details abwandelte und so - gestützt auf die „Stimme des Lehrers“ - die eigenen Eltern beruhigte. Solche wahren Geschichten erscheinen zunächst amüsant, die zugrunde liegende Praxis ist jedoch eigentlich unerhört: Die Schulbehörde in einem durch Migration und Mehrsprachigkeit geprägten Stadtstaat wie Hamburg bietet den Schulen keine konkrete Hilfestellung bei der Lösung eines alltäglichen Kommunikationsproblems. Stattdessen behelfen sich Lehrer und Schulleitungen, indem sie die Lösung dieses Problems an die Familien weiterreichen, manchmal auch ältere Schüler als Schuldolmetscher rekrutieren oder - im besten Fall - auf eigene Initiative hin gezielt Kollegen mit herkunftssprachlichen Kenntnissen einstellen. Die Qualität der Dolmetschleistungen, die auf der Basis solcher Ad-hoc-Verfahren zu Stande kommen, ist vermutlich dementsprechend breit gefächert. Ethische Dimensionen, etwa bezogen auf die Vertraulichkeit und Verlässlichkeit der Kommunikation, können so nicht berücksichtigt werden. Die Häufigkeit von Situationen, in denen Bildungseinrichtungen mit Eltern oder Klienten in anderen Sprachen als dem Deutschen kommunizieren, lässt sich auf der Basis der Studie von Meyer (2009, S. 36f.) einschätzen. Dort wurde mit Hilfe eines Fragebogens der Gebrauch von Herkunftssprachen in Kindertagesstätten untersucht. In der Erhebung wird nach den verwendeten Sprachen, den Personen, mit denen diese Sprachen gesprochen werden, der Häufigkeit und dem Einsatz von Angestellten der Einrichtung als Dolmetscher gefragt. Der Fragebogen wurde an 173 Kindertagesstätten der Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten in Hamburg und 148 Kindertagesstätten der Arbeiterwohlfahrt in Hamburg, Brandenburg und Bayern versandt. Diese Bundesländer wurden ausgewählt, um Einrichtungen aus verschiedenen demografischen Kontexten in die Umfrage einzubeziehen. Der Fragebogen richtete sich an die Leitungen der Einrichtungen, die zur Situation in der Kindertagesstätte Auskunft geben sollten. Der Rücklauf aus den AWO -Kindertagesstätten betrug 61% (n=91), von den 178 Kindertagesstätten der „Vereinigung“ füllten 96 den Fragebogen aus (55%). Insgesamt haben also 187 von 321 angeschriebenen Kindertagesstätten geantwortet, woraus sich insgesamt ein Rücklauf von 58% ergibt. 44% der angeschriebenen Einrichtungen (n=142) gaben an, dass in ihnen der Gebrauch anderer Sprachen vorkommt, 16% (n=52) der 321 Einrichtungen geben eine „tägliche“ oder „wöchentliche“ Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 195 Verwendung anderer Sprachen an. In 18% (n=58) des Gesamtsamples werden Mitarbeiter „häufig“ oder „immer mal wieder“ als Dolmetscher eingesetzt. Kommunikation in den Herkunftssprachen gehört also beileibe nicht in allen Kindertagesstätten zum Alltag; vielmehr sind es bestimmte Einrichtungen, die in besonderer Weise durch Mehrsprachigkeit geprägt sind. In diesen Einrichtungen kommt den Sprachpotenzialen der Mitarbeiter eine besondere Bedeutung zu. 2.2 Rechtliche Aspekte Die soziodemografischen Fakten zeigen, dass allein aufgrund geringer Deutschkenntnisse in bestimmten Gruppen ein Bedarf an Kommunikation in den Herkunftssprachen entsteht. Ein Bedarf entsteht jedoch auch aufgrund rechtlicher und ethischer Erwägungen (Meyer 2009, 2010). Solche Aspekte von Mehrsprachigkeit sind in der Bundesrepublik bisher wenig diskutiert worden. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass lange Zeit die überwiegende Mehrheit der Deutschen inklusive der politisch Verantwortlichen der Auffassung war, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Die Debatte um rechtliche Aspekte von sprachlicher Vielfalt ist daher vergleichsweise unterentwickelt. Ein Blick in die Rechtssprechung der EU oder Großbritanniens, aber auch eine Beschäftigung mit den rechtlichen Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht macht jedoch deutlich, dass in bestimmten Zusammenhängen die Pflicht besteht, Kommunikation in anderen Sprachen zu ermöglichen. Die Europäische Union hat im Jahre 2000 mit der Antirassismusrichtlinie 2000/ 43/ EG alle Mitgliedsländer verpflichtet, bis zum Jahre 2003 Standards gegen Ungleichbehandlungen aufgrund von „Rasse“ oder ethnischer Herkunft zu schaffen. Ziel der Richtlinie ist es, die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen - ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft - eine Teilhabe ermöglichen. In der Bundesrepublik wurde die Richtlinie im Jahre 2006 mit dem „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz“ ( AGG ) umgesetzt. Dieses enthält keinen direkten Bezug zu Mehrsprachigkeit oder dem Problem geringer Deutschkenntnisse. Ein solcher Bezug lässt sich allerdings über das in Deutschland noch kaum diskutierte Konzept der ‘reasonable accommodation’ herstellen. Hiernach kann es eine Diskriminierung darstellen, wenn Organisationen auf die besonderen Bedürfnisse bestimmter Gruppen nicht eingehen, obwohl dies möglich wäre. Dieser Ansatz liegt der Antidiskriminierungsgesetzgebung im Bernd Meyer 196 anglo-amerikanischen Raum zugrunde, etwa dem britischen „Race Relations (Amendment) Act 2000“, mit dem öffentliche Stellen gesetzlich verpflichtet werden, im Sinne eines ‘Mainstreaming’ alle Verfahren und Prozesse kontinuierlich auf ihre Auswirkungen auf verschiedene ethnische Gruppen hin zu untersuchen. Nach außen gerichtetes Verwaltungshandeln unterliegt damit nicht nur einem Diskriminierungsverbot, sondern ist auch darauf zu überprüfen, ob mit ihm Gleichstellung gefördert wird. Sofern Institutionen Mehrsprachigkeit nicht berücksichtigen und hierdurch keine angemessenen Dienste für Personen mit geringen Kenntnissen der Landessprache gewährleisten können, lässt sich dies - jedenfalls sofern die Ressourcen eine Berücksichtigung erlauben würden - durchaus als eine institutionelle Diskriminierung werten. Übertragen auf Deutschland würde dies bedeuten, dass in Städten wie Hamburg oder Berlin Behörden und Sozialversicherungsträger zumindest die Sprachen größerer Migrantengruppen berücksichtigen müssten, um diesen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen, da sie in besonderer Weise verpflichtet sind, den Zugang zu ihren Leistungen für alle Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen. Dem Ansatz der ‘reasonable accommodation’ wie auch der Antirassismusrichtlinie 2000/ 43 / EG liegt also der Gedanke zugrunde, die Bedürfnisse aller wesentlichen Gruppen zu berücksichtigen. Dieser Gedanke gleicher Teilhabe ist im deutschen AGG sowie in der Diskussion um den Diskriminierungsschutz kaum aufgegriffen worden. Die europarechtliche Vorgabe bindet allerdings zumindest die Behörden der Bundesrepublik, so dass diese es als ihre Pflicht ansehen könnten, Barrieren nach Möglichkeit abzubauen. Der Abbau von Barrieren wird jedoch auf deutscher Seite nicht nur durch mangelnden politischen Willen, sondern auch durch bestehende Rechtsvorschriften behindert, insbesondere durch den § 23 des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Dieser schreibt für alle Verwaltungsakte verbindlich die Verwendung des Deutschen vor. Entsprechende Vorgaben existieren auch für den juristischen Bereich. Die bisherige behördliche Auslegung dieses Paragrafen bürdet den Bürgern die Überwindung der Sprachbarriere auf; sie müssen für Dolmetscher und Übersetzer ggf. selbst zahlen. So kommt es dazu, dass ein Paar, das in Hamburg auf Englisch heiraten möchte, auf eigene Kosten einen Dolmetscher mitbringen muss, während derselbe Akt auf Niederdeutsch (Ausnahmeregelung für lokale indigene Sprachen) durch entsprechend kompetente Standesbeamte selbst durchgeführt wird - ein Provinzialismus, den sich das Tor zur Welt offenbar leisten kann. Interviews mit mehrsprachigen Behördenangestellten zeigen zudem, dass die Verpflichtung auf die Amtssprache Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 197 Deutsch auch in der mündlichen Kommunikation mit Klienten unterstellt wird. Die Mitarbeiter gehen davon aus, dass andere Sprachen neben dem Deutschen eigentlich nicht verwendet werden dürfen (Meyer 2009, S. 44). Warum aber sollte gesetzlich festgelegt sein, in welcher Sprache eine telefonische Terminabsprache zwischen einem Sachbearbeiter und einem Klienten stattzufinden hat? Die Wahl der Sprache sollte sich allein daran orientieren, das Verwaltungshandeln effektiv zu gestalten. Eine strikte Festlegung auf das Deutsche auch in der mündlichen Behördenkommunikation steht dem entgegen. Würden Angestellte der Vorschrift folgen, so müssten sie selbst für eine Terminabsprache in einer anderen Sprache einen Dolmetscher bestellen und vom Kunden bezahlen lassen. Ein weiterer Bereich, in dem herkunftssprachliche Kommunikation nicht einfach als individuelles, folkloristisches Bedürfnis von Einwanderern abgetan werden kann, sind alle Gespräche, die in Verbindung mit der ärztlichen Aufklärungspflicht stehen (Meyer 2004). Die Aufklärung des Patienten ist eine Berufspflicht des Arztes. Eine Behandlung darf nur dann erfolgen, wenn nach der erforderlichen Aufklärung durch den Arzt der Patient in die Behandlung einwilligt. Diese Aufklärung muss durch den Arzt selbst erfolgen. Im Zweifel ist der Arzt verpflichtet nachzuweisen, dass er seiner Aufklärungspflicht nachgekommen ist. Hierzu hat der Arzt zu dokumentieren, dass er den Patienten persönlich aufgeklärt hat. Die Aufklärung des Patienten durch nichtärztliches Personal ist unzulässig. Ein Arzt muss sich im Gespräch mit einem Patienten darüber vergewissern, dass dieser die Informationen verstanden hat (Amtsgericht Leipzig v. 30.5.2003, in: Medizinrecht 2003, S. 582). Hierzu gehört es auch, sich zu vergewissern, dass der Patient die deutsche Sprache beherrscht, sofern die Aufklärung in dieser vorgenommen wird ( OLG Oldenburg v. 12.6.96, in: Versicherungsrecht 1996, S. 978; OLG Nürnberg v. 28.6.1995, in: Medizinrecht 1996, S. 213). Besteht Unsicherheit darüber, ob der Patient das Deutsche beherrscht, muss der Arzt eine „sprachkundige Person“ hinzuziehen ( OLG Karlsruhe v. 2.8.1985, in: Versicherungsrecht 1997, S. 241). Über die Frage, ob und inwieweit die zum Übersetzen herangezogene Person beide Sprachen beherrschen muss, und inwieweit sich der Arzt über diesen Sachverhalt zu vergewissern hat, scheint keine Rechtsprechung vorzuliegen. Verschiedene Urteile, die jeweils Fragen der Haftung des Arztes wegen unterlassener bzw. mangelhafter Aufklärung betrafen, befassen sich jedoch mit Sprachproblemen des Arztes im Aufklärungsgespräch. Das Amtsgericht Leipzig (Urteil vom 30.5.2003, 17 C 344/ 03) entschied, ein gewissenhaftes Aufklärungsgespräch sei nicht möglich, wenn Bernd Meyer 198 der aufklärende Arzt erhebliche Schwierigkeiten hat, sich in der deutschen Sprache auszudrücken. Diese Schwierigkeiten erkannte das Gericht darin, dass der Arzt als Zeuge vor Gericht „erkennbar immer wieder nach dem passenden Begriff dafür suchte, was er ausdrücken wollte“. Demnach wären Grundkenntnisse der Sprache, in der ein Aufklärungsgespräch geführt wird, nicht ausreichend. Die am Aufklärungsgespräch beteiligten Personen müssen sich vielmehr fließend ausdrücken können. Für Personen, die in einem Aufklärungsgespräch als Dolmetscher tätig werden, müsste also ebenfalls gelten, dass sie sich in beiden Sprachen fließend ausdrücken können. Bislang geht die Rechtsprechung in der Bundesrepublik jedoch noch davon aus, ein Arzt genüge seiner Aufklärungspflicht, wenn er zu einem Aufklärungsgespräch sprachkundige Laien als Dolmetscher hinzuzieht, etwa Pflegepersonal oder Reinigungskräfte. Damit werden unterschiedliche Maßstäbe an die zweisprachigen Kompetenzen von Ärzten und Behelfsdolmetschern angelegt. Während von Ärzten mit anderer Muttersprache eine hohe Kompetenz im Deutschen erwartet wird, reicht für Behelfsdolmetscher irgendeine Art von Zweisprachigkeit aus. Diese Rechtsprechung unterstellt relativ optimistisch, dass die Beteiligung solcher Ad-hoc-Dolmetscher die Verständigung zwischen Arzt und Patient in jedem Fall verbessert und nicht zusätzlich behindert. Immerhin verpflichtet sie aber ganz eindeutig Ärzte in bestimmten Fällen dazu, eine Kommunikation in anderen Sprachen als dem Deutschen zu ermöglichen, wenn Patienten des Deutschen nicht ausreichend mächtig sind. 2.3 Wirtschaftliche Beziehungen zu den Herkunftsregionen Der wirtschaftliche Nutzen herkunftssprachlicher Kenntnisse wird nicht erst seit den Arbeiten von Esser (2006a, b, c) kontrovers diskutiert. Unbestritten ist dabei, dass Sprachenkenntnisse in bestimmten Kontexten zu einer „commodity“ werden können (Budach/ Roy/ Heller 2003). Zu klären ist jedoch, worin der Nutzen im konkreten Fall liegt und welche Schwierigkeiten durch die Nutzung entstehen können. Darüber hinaus muss auch die Metaphorisierung ökonomischer Konzepte in sprachbezogenen Analysen, wie sie für die Arbeiten von Bourdieu kennzeichnend ist („kulturelles Kapital“), hinterfragt werden (Grin 1996, S. 30; Ricento 2005). Grin (1996, S. 36) etwa betont, dass ökonomische Theorien bestimmte sprachbezogene Phänomene kaum erfassen können, wie z.B. die Einstellungen („attitudes“) von Sprechern zu den von ihnen gesprochenen Sprachen. Esser sieht den Wert von herkunftssprachlichen Kompetenzen nur in bestimmten Segmenten des Arbeitsmarktes, etwa bei Übersetzern, oder der - zahlen- Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 199 mäßig geringen - Gruppe der transnationalen Unternehmer mit ökonomischen Beziehungen zum jeweiligen ethnischen Kontext und zur jeweiligen Aufnahmegesellschaft (Esser 2006c, S. 533). Für die generelle berufliche Platzierung von Migranten hingegen sind Essers Arbeiten zufolge Kenntnisse einer Herkunftssprache irrelevant, entscheidend sind vielmehr Kenntnisse der jeweiligen Landessprachen bzw. des Deutschen (Esser 2006a, S. 92ff.). Lediglich wenn eine Herkunftssprache also „einen besonderen regionalen oder globalen Wert hat, der die Produktivität eines bereits höheren Humankapitals dann noch einmal steigert“ (ebd., S. 93), könne Bilingualität einen positiven Effekt auf die entscheidenden Integrationsindikatoren - Bildung und Arbeitsmarkt - haben. Esser (2006b, S. 550) interpretiert seine Ergebnisse konsequent dahingehend, dass Integration nicht über die kollektive Anerkennung ethnischer Gruppen, sondern über den individuellen Zugang zu „relevanten Funktionssystemen“ (Bildung, Arbeitsmarkt) verlaufe. Hierfür seien „ethnische Ressourcen, darunter die muttersprachlichen Kompetenzen“ (ebd., S. 551) nahezu wertlos. Dagegen wurde eingewendet (Meyer 2009, S. 23), dass die sprachlich gut integrierten Einwanderer mit ihrem mehrsprachigen Potenzial eine wichtige Brückenfunktion erfüllen, die jedoch informell genutzt wird und daher in ihrem Wert schwer zu erkennen ist - ein Mitarbeiter, der informelle Dolmetschleistungen erbringt, bekommt dafür nicht mehr Lohn und wird auch nicht vor allem wegen dieses Kommunikationspotenzials eingestellt. Der ‘Wert’ des mehrsprachigen Potenzials erscheint daher insgesamt gering, ist aber für bestimmte Kontexte von großer Bedeutung. Auch seitens der EU wird Mehrsprachigkeit in ihrer Funktion für den sozialen Zusammenhalt und die Kommunikation der Bürger mit den europäischen Institutionen sowie als wichtiger Faktor für die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gesehen. Im Rahmen der ELAN -Studie (2006, „Effects on the European Economy of Shortages of Foreign Language Skills in Enterprise“) ließ die Generaldirektion für Bildung und Kultur Effekte mangelnder Fremdsprachenkenntnisse auf die europäische Wirtschaft untersuchen. Die Studie kann als der erste systematische Versuch gelten, den ökonomischen Nutzen von Sprachkenntnissen für europäische Unternehmen zu quantifizieren. In ihr wurden 2 000 exportorientierte kleine und mittlere Unternehmen ( KMU ) aus 29 europäischen Ländern (inkl. EU -Aufnahmekandidaten) in Bezug auf die Relevanz von Fremdsprachenkenntnissen, entgangenen Aufträgen aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und die Prognosen für den zu- Bernd Meyer 200 künftigen Sprachbedarf aufgrund der eigenen Exportpläne befragt. Zusätzlich wurden auch 30 multinationale Unternehmen sowie für jedes Land jeweils eine Informantengruppe interviewt. Die Studie legt nahe, dass die Investitionen der KMU in Sprachen bzw. sprachbezogene Strategien, ihre Exportorientierung und ihre Produktivität zusammenhängen. Zudem wurde festgestellt, dass 11% der befragten Unternehmen schon die Erfahrung gemacht hatten, dass ihnen ein Auftrag aufgrund mangelnder Sprachenkenntnisse entgangen war. Das Volumen der Aufträge rangierte dabei zwischen 1 Mio. € und 13,5 Mio. €. Im Durchschnitt ergab sich über einen Zeitraum von drei Jahren für jedes der Unternehmen ein Verlust von 325 000 €. Dies bezieht jedoch lediglich die Fälle ein, in denen die Unternehmen selbst die Sprachenproblematik als Ursache für den Misserfolg ansahen. Die Studie zeigt weiter, dass vielen KMU die Sprachenproblematik bewusst ist. Dies manifestiert sich vor allem darin, dass in 15 von 29 Ländern mindestens die Hälfte der Befragten in irgendeiner Weise Maßnahmen ergriffen haben, um die Kommunikation mit Kunden und Zulieferern im Ausland zu verbessern oder effektiver zu gestalten. Zu den häufig genannten Maßnahmen gehören die Einstellung von Muttersprachlern, die Anpassung von Webseiten, der Einsatz von Dolmetschern und Übersetzern sowie Sprachkurse für die Mitarbeiter. Wie erwartet spielt Englisch eine große Rolle für alle Unternehmen. Vor allem große, multinationale Unternehmen versuchen, Englisch als Firmensprache einzuführen. Zudem geben 19% der KMU , die aufgrund von Sprachproblemen Aufträge verloren hatten, an, dass mangelnde Englisch-Kenntnisse in Wort und Schrift die Ursache dafür gewesen seien ( ELAN 2006, S. 18). Neben Englisch werden jedoch auch eine ganze Reihe anderer Sprachen als Grund genannt: Deutsch, Französisch, Italienisch, Russisch und Chinesisch. Zudem gaben 38% der Befragten in der Studie auch mangelnde Kompetenz in „other language situations“ als Grund an, wobei unklar bleibt, ob in dieser Kategorie andere Kommunikationssituationen oder aber andere Sprachen als die genannten zusammengefasst wurden (möglicherweise beides). Somit könnte auch noch eine Reihe anderer Sprachen für exportorientierte KMU eine Rolle spielen. Die Bedeutung des Englischen für die globale wirtschaftliche Kommunikation wird durch die ELAN -Studie relativiert. Gerade die KMU versuchen, sich sehr gezielt auf die kommunikativen Bedürfnisse und Kompetenzen von Part- Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 201 nern und Kunden einzustellen. Dies erfordert Strategien, die auf einzelne Märkte bzw. Länder oder auch bestimmte Kunden oder Partnerfirmen zugeschnitten sind. Dabei sind Sprachen wie Deutsch, Russisch oder Polnisch in osteuropäischen Ländern beispielsweise gefragter als Englisch. Die Autoren stellen deshalb - halb bedauernd - fest: „It is surprising that English is not more widely spread“ ( ELAN 2006, S. 19). Weiter heißt es: Much depends on the multilingual receptivity of the country concerned, as well as geographical and cultural proximity: Russian is used in Bulgaria; Spanish is used to export to Portugal; French is used in Spain and Italy. ( ebd. ) Der vielfältige Bedarf an Sprachen führt durchschnittlich bei 40% der befragten KMU s dazu, Mitarbeiter mit besonderen Sprachkenntnissen einzustellen; bei deutschen Unternehmen lag der Anteil sogar bei 59%. Der Anteil der deutschen Firmen, die solche Mitarbeiter unbefristet (also nicht nur projektbezogen) einstellten, lag bei 44%. Wiederum wurden von den Unternehmen, die diese Strategie verfolgen, neben den wichtigen europäischen Sprachen (Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Russisch) auch in einem hohen Maße andere Sprachen angegeben (im Verhältnis 60 : 40), die jedoch in der Publikation nicht weiter aufgeschlüsselt werden. Mehr als ein Drittel der Firmen haben somit gezielt Mitarbeiter mit Kenntnissen in den kleineren europäischen oder aber außereuropäischen Sprachen rekrutiert. Auch für die Zukunft planen die KMU s vor allem mit den großen europäischen Sprachen; bei etwa 25% sollen jedoch auch Sprachen wie Arabisch, Chinesisch oder Portugiesisch im Mittelpunkt stehen. Ausgehend von dem differenzierten und vielfältigen Bild des Sprachgebrauchs in KMU s empfiehlt die Studie schließlich, im Betrieb vorhandene Sprachenkenntnisse besser zu erfassen und zu nutzen, insbesondere auch die von Einwanderern. Für die Beschreibung des Potenzials der Herkunftssprachen Türkisch und Russisch bezüglich internationaler Geschäftsbeziehungen wurde in der Untersuchung von Meyer (2009, S. 46) ein Online-Fragebogen entwickelt, der mit individuellen E-Mails an in Deutschland ansässige Firmen und Multiplikatoren beworben wurde. In den Monaten Juli und August 2008 füllten 65 Firmen den Fragebogen korrekt aus; mehrfaches Ausfüllen sowie inkohärente Einträge kamen 25-mal vor und wurden aufgrund des Inhalts oder über einen Vergleich der IP -Adressen der Absender identifiziert und aussortiert. Die teilnehmenden Firmen wurden gebeten, ihre Branche zu charakterisieren, sie sollten ungefähre Angaben zur Zahl ihrer Mitarbeiter und ihrer Bilanzsumme machen (gemäß KMU -Definition der EU ) und angeben, ob sie in die Türkei und/ oder die Russische Föderation Geschäftsbeziehungen unterhalten. Bernd Meyer 202 Branche Anzahl Industrietechnik 2 Gastgewerbe 1 Dienstleistung 6 Unternehmens-/ Personalberatung 6 Spedition und Handel 6 Rechtsanwalt 3 Ingenieurwesen 4 Bildungssektor 6 Beratung 1 Soziales 1 Handwerksberufe 2 Energiewesen 2 Medizin 4 Bauwesen 4 Textilprüfung 1 Politik 1 Musikproduktion 1 Automobilbranche 1 Informationstechnologie 3 Umweltschutz 1 Wirtschaft 3 Finanzbranche 4 Möbel 1 Biometrie 1 Industrietechnik 2 Gesamt: 65 Tab. 1: Übersicht über die Teilnehmer der Firmenbefragung Tabelle 1 zeigt das Spektrum der teilnehmenden Firmen: Sowohl Handwerksfirmen oder Speditionen, als auch Rechtsanwälte, Möbelhändler und Unternehmensberatungen sowie Automobilhersteller sind vertreten. Auch hinsichtlich der Größe der Betriebe und ihres Umsatzes decken die 65 Firmen ein breites Spektrum ab. Wider Erwarten haben auch eine Reihe (ca. ein Drittel) großer Betriebe mit mehr als 250 Angestellten und einem jährlichen Umsatzvolumen von über 43 Mio. € an der Umfrage teilgenommen. Die relativ kleine Teilnehmerzahl und die breite Streuung bei den Branchen und Firmengrößen mögen die Aussagekraft der Erhebung schwächen. Die Tatsache, dass ein breites Spektrum an Branchen, Sektoren und Firmentypen teilgenommen hat, Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 203 weist aber auch darauf hin, dass Essers Überlegungen zur marginalen Bedeutung von Herkunftssprachen (nur für bestimmte Berufe, Beschränkung auf „transnationale Unternehmer“) so nicht zutreffend sind. Die Unternehmen, die an der Befragung teilgenommen haben, waren keine transnationalen Nischenbetriebe, sondern zum überwiegenden Teil deutsche oder internationale Unternehmen unterschiedlicher Größe und Ausrichtung, die Geschäftsbeziehungen - unter anderem - in die Herkunftsregionen unterhalten. Ihren Bedarf an Kommunikation in den Herkunftssprachen, also den Sprachen ihrer Kunden und Partner, deckten fast alle Firmen zumindest teilweise durch eigene mehrsprachige Mitarbeiter (Tab. 2). Gut ein Viertel der Firmen gaben zudem an, dass die Partnerfirma auf Deutsch oder Englisch kommuniziert. Nur gut 9% der Firmen nahmen zusätzlich externe Sprachmittler zu Hilfe. Externe Dolmetscher und Übersetzer 9,23% Eigene Mitarbeiter 96,92% Partnerfirma auf Deutsch oder Englisch 27,69% Andere 6,15% Tab. 2: Wer kommuniziert wie? (Online-Umfrage Wirtschaft, n=65) 85% der Firmen gaben an, dass die eingesetzten Mitarbeiter Muttersprachler der verwendeten Sprachen sind. Sprachkurse und universitäre Ausbildungen wurden von 38% der Firmen als weitere Erwerbswege genannt. Auch bei dieser Frage waren Mehrfachnennungen zulässig, sodass eindeutige Zuordnungen nicht ohne weiteres möglich sind. Festzuhalten ist, dass Herkunftssprachen in den Firmen sowohl von Muttersprachlern als auch von Zweitsprachlern verwendet werden, der Anteil der Muttersprachler jedoch deutlich überwiegt. Wie schon in der ELAN -Studie herausgearbeitet wurde, setzen also die befragten Unternehmen Sprachkurse, Verpflichtung externer Sprachmittler und den Einsatz zweisprachiger Angestellter im Verbund ein, in dieser Erhebung jedoch mit einer deutlichen Bevorzugung der muttersprachlichen Mitarbeiter. Auch im Zusammenhang der wirtschaftlichen Beziehungen zu den Herkunftsregionen kann also die eingangs gestellte Frage nach einem Bedarf an Kommunikation in den Herkunftssprachen bejaht werden. Dieser Bedarf wird auch durch Personen gedeckt, die Herkunftssprachen im Rahmen ihrer Ausbildung oder später erlernt haben, etwa im Rahmen eines universitären Studiums. Häufiger sind es jedoch Personen mit mutterbzw. familiensprachlichen Kenntnissen, die die Geschäftskommunikation ermöglichen. Wie in der Untersuchung jedoch auch festgestellt wurde, ist der Ein- Bernd Meyer 204 satz dieser Personen nicht immer unproblematisch. So gaben Firmen an, dass Wortschatz, Fachsprache und kommunikative Kompetenzen der betreffenden Mitarbeiter nicht ausreichend für die Aufgaben sind, die ihnen aufgrund ihrer Sprachpotenziale zufallen. Es scheint also so zu sein, dass nicht das strukturelle Sprachwissen an sich, sondern das mit dem Sprachgebrauch zusammenhängende Wissen der Bereich ist, in dem Unternehmen Defizite im sprachlichen Handeln ihrer Mitarbeiter vermuten. Den Mitarbeitern fehlt also nicht einfach das Wissen über sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten an sich, sondern auch oder insbesondere das Wissen, das für die Kommunikation in bestimmten fachlichen Kommunikationsbereichen benötigt wird. So gaben Firmen z.B. an, dass sie die Unsicherheit der Mitarbeiter mit Kenntnissen einer Herkunftssprache, die mangelnde Aktualität ihrer Sprachbeherrschung, oder auch den Einblick in vertrauliche Themen außerhalb der Mitarbeiterkompetenz für problematisch hielten. 3. Mehrsprachige Praxis - wie werden die Potenziale im Migrationskontext genutzt? Wie Kommunikation in mehrsprachigen Konstellationen verläuft und vor welche Herausforderungen Beteiligte dabei gestellt werden, wird im Folgenden anhand eines Beispiels illustriert. Das Ziel ist, einige der Charakteristika dieser Kommunikationspraxis sowie mit ihr verbundene Probleme herauszuarbeiten. Generell lassen sich drei Konstellationen unterscheiden, in denen mehrsprachige Kommunikation praktiziert werden kann: 1) Muttersprachler - Nichtmuttersprachler 2) Nichtmuttersprachler - Nichtmuttersprachler 3) Muttersprachler - Muttersprachler In allen drei Konstellationen lassen sich empirisch verschiedene Ausprägungen mehrsprachiger Kommunikation beobachten. So können etwa Muttersprachler und Nichtmuttersprachler des Deutschen auf Deutsch miteinander kommunizieren, sie können aber auch einen Mittler einschalten oder auf eine lingua franca, d.h. einen sprachlichen Notbehelf oder eine gemeinsame dritte Sprache, ausweichen. Kombiniert man die verschiedenen Aktantenkonstellationen mit den bisher bekannten Formen von mehrsprachiger Kommunikation, so ergibt sich folgende Matrix: Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 205 Muttersprachler - Nichtmuttersprachler Nichtmuttersprachler - Nichtmuttersprachler Muttersprachler - Muttersprachler Kommunikation in der Mehrheitssprache × × × lingua franca × × × Dolmetschen und Übersetzen × × nicht anwendbar Rezeptive Mehrsprachigkeit × × nicht anwendbar Sprachmischung × × × Tab. 3: Übersicht zu Konstellationen mehrsprachiger Kommunikation (‘×’ = ist möglich) Zusätzliche Dimensionen, die auf diese Kombinationsmöglichkeiten einwirken, sind: - der jeweilige Grad der Sprachbeherrschung in den involvierten Sprachen bzw. die Verwendung von Mehrsprachigkeitssurrogaten; - die durch den jeweiligen Handlungsraum vorgegebenen Bedingungen, Beschränkungen, Normen, aber auch Möglichkeiten (z.B. in Behörden mit einer gesetzlich festgeschriebenen Amtssprache), die sich etwa in der expliziten und impliziten Sprachpolitik von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen manifestieren; - historische Dimensionen, die im Sprachbewusstsein der Öffentlichkeit, der gesellschaftlichen Sprachbildung (Sprachwissen) und dem Grad an mehrsprachiger Normalität bzw. der Menge an mehrsprachigen Kommunikationsangeboten erkennbar werden. So kann es etwa dazu kommen, dass zwei Muttersprachler derselben Sprache auf eine Verkehrssprache bzw. Amtssprache ausweichen müssen (ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Kompetenz in dieser Sprache), weil sie aufgrund gesetzlicher Bestimmungen dazu gezwungen werden. Ebenso ist denkbar, dass Migranten mit verschiedenen Muttersprachen in der Mehrheitssprache des Gastlandes kommunizieren, jedoch auf der Basis unterschiedlicher Sprachbeherrschung, so dass Sprachmischungen auftreten oder der Wechsel in eine lingua franca erforderlich wird. Bernd Meyer 206 Das folgende Beispiel stammt aus dem DFG-Projekt „Dolmetschen im Krankenhaus“, das von 1999 bis 2005 in zwei Förderphasen am Hamburger Sonderforschungsbereich „Mehrsprachigkeit“ durchgeführt wurde. In dem Projekt wurden Arzt-Patienten-Gespräche in einem Hamburger Krankenhaus aufgezeichnet. Diese Audioaufnahmen wurden verschriftlicht (transkribiert). 1 Fünf der Gespräche in dieser Datensammlung wurden mit dem Patienten Herrn Gomes, einem aus Portugal stammenden Rentner, geführt. Herr Gomes war mit Anfang Zwanzig nach Deutschland gekommen und hatte bis zum Renteneintritt als Hilfsarbeiter in verschiedenen Branchen gearbeitet. Seit seiner Übersiedelung nach Deutschland hatte er immer allein gelebt. Seine sozialen Kontakte beschränkten sich auf einige in Hamburg lebende Verwandte und Landsleute. Zum Zeitpunkt des Gesprächs lebte er mehr als dreißig Jahre in Deutschland, hatte jedoch wenig Kontakt zu Muttersprachlern des Deutschen. Herr Gomes kam ins Krankenhaus, weil er in seiner Wohnung plötzlich bewusstlos geworden war. Im Krankenhaus wurden mehrere Untersuchungen durchgeführt, um die Gründe für die Ohnmacht und den Sturz herauszufinden. Herr Gomes lag auf einer internistischen Station, wurde jedoch auch von einer Neurologin untersucht, da er über Depressionen klagte. Aus dem Anamnese-Gespräch mit der Neurologin, das etwa 45 Minuten dauerte, stammt der folgende Transkript-Ausschnitt. Die Teilnehmer des Gesprächs sind die Neurologin Frau Ackermann (A), der Patient Herr Gomes (P) und die portugiesischsprachige Krankenschwester Micaela (D), die in Deutschland aufgewachsen ist und in Hamburg ihre Ausbildung gemacht hat. Bezogen auf die Aktantenkonstellation handelt es sich also um einen Mischtyp: Herr Gomes spricht nicht-muttersprachliches Deutsch mit einer deutschen Ärztin und muttersprachliches Portugiesisch mit der Krankenschwester, die in einer portugiesischen Familie in Deutschland aufgewachsen ist. Die Sprachenkenntnisse der Krankenschwester sind unterschiedlich ausgebaut: Deutsch ist die dominante Sprache von Schule, Ausbildung, Beruf und Freundeskreis; Portugiesisch ist die Familiensprache. Das Gespräch fand im Krankenzimmer statt; es waren keine anderen Patienten anwesend. Der Ausschnitt beginnt nach der Begrüßung am Anfang des Gesprächs. 1 Die Transkriptionen sind online verfügbar unter http: / / www.exmaralda.org/ corpora/ sfb_k2.html (Stand: 04/ 2011). Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 207 Ausschnitt aus dem Gespräch mit Herrn Gomes (DiK, Nr. 25) Originaläußerung Nachträgliche Übersetzung 1 D Ela, ela (é) • ehm médica da neurologia. Sie, sie ( ist ) • ähm Ärztin der Neurologie. 2 P ((unverständlich, 1s))˙ 3 D Eh é um médico dos • nervos, • eh médico da cabeça, dos nervos. Äh das ist ein Nervenarzt, • äh Kopfarzt, Nervenarzt. 4 P (Ai) sim˙ ( Ach ) so 5 A ((1s)) Jà˙ 6 • Man hat mich gebeten, nochmal nach Ihnen zu gucken, weil äh • Sie sagten, • dass wohl so • depressive • • Störungen • da sind. 7 P Ja, stimmt. 8 P Ja. 9 A Hm˙ 10 • Seit wann ist das denn so? 11 P • • • Seit… 12 ((3,5s)) Als ich gefalle hab. 13 • D/ desde que eu caí. • S/ seit ich gefallen bin. 14 D • Seit er hingefallen ist. 15 A Seitdem • ist (da) Depression. 16 D (Seitdem)… 17 P Ja. 18 A Und vorher? 19 P ((1s)) Vor mehrmals äh gewese, ja. 20 ((2s)) Hm aber/ mas ((2s)) äh jetz wer/ äh werd ein bisschen mehr schlimm. Aber... 21 A Hm˙ 22 P E agora é mai/ mais pesado. Und jetzt ist es schl/ schlimmer. 23 D Ja, jetzt, jetzt fühlt er sich auch • schlimmer. 24 Also jetzt findet er diese Depressionen auch schlimmer. Bernd Meyer 208 25 A • • Ähm • seit wann • haben Sie denn • ü/ überhaupt mit • Stimmungsschwankungen • zu tun? 26 D Há quanto tempo já você • tem/ ((1s)) que nota diferenças assim no seu estar? Seit wann schon haben Sie/ bemerken Sie Unterschiede so in Ihrem Befinden? 27 ((2s)) Assim, (que você t)… So, dass Sie h… 28 P Já há vários meses. Schon seit vielen Monaten. 29 D Já há mais tempo que agora você tem eh depress-o (mesmo)? Ist es schon länger her, dass sie jetzt äh ( richtige ) Depressionen haben? 30 P (Há), há mais tempo. Seit, seit längerer Zeit. 31 Há vários, há vários meses. Seit vielen, seit vielen Monaten. 32 D Schon länger, also das is schon n paar Monate her. 33 A Paar Monate. 34 Nich schon Jahre? 35 P ((1s)) Nee. 36 A Hm ' hm ' ˙ 37 Und • äh • • wie • sieht das aus, diese • Depression? 38 Was • äh • ist dann anders? 39 P Ja, eu perco a noç-o. Ja, ich verliere die Besinnung. 40 (Eu) perco a noç-o. Ich verliere die Besinnung. 41 D • Er, er hat das Gefühl, er wird so • • ohnmächtig, dass er so • das Ganze verliert so. 42 ((1s)) Mas você eh/ depress-o • • • é você tar/ ehm • tá triste. Aber Sie äh/ Depressionen dass Sie sin/ ähm traurig sind. 43 P É isso, tar triste por estar só e, e depressivo, exactamente. Genau, traurig sein, weil man allein und, und depressiv ist, genau. 44 D • Ja, w/ ähm weil er sich so alleine fühlt auch. 45 A Hm˙ In diesem Ausschnitt lassen sich vier Arten der Interaktion feststellen: zunächst die direkte Interaktion zwischen Ärztin und Patient auf Deutsch (Z. 6-12), zweitens ein partielles Dolmetschen, bei dem einzelne Äußerungen Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 209 aus einem komplexen Redezug separat ins Deutsche übertragen werden (Z. 18-24), drittens Redezüge, die unmittelbar von der Krankenschwester komplett gedolmetscht werden (Z. 26-27), und viertens Frage-Antwort-Sequenzen, bei denen die Frage auf Deutsch gestellt, die Antwort jedoch zunächst vom Patienten auf Portugiesisch gegeben und dann nachträglich von der Krankenschwester gedolmetscht wird (Z. 37-41). Es wird also nicht der Interaktionsmodus des nachzeitigen Dolmetschens mit einer geordneten Verteilung der Redezüge praktiziert, sondern quasi von Fall zu Fall gedolmetscht oder auch nicht. Die Krankenschwester mit Portugiesisch-Kenntnissen beteiligt sich dabei vor allem dann am Gespräch, wenn die sprachlichen Kompetenzen des Patienten für die Hervorbringung oder Rezeption einer Äußerung nicht ausreichen. Diese flexiblen Formen des Umgangs mit der teilweise durchlässigen Sprachbarriere führen an verschiedenen Stellen zu inhaltlichen Eingriffen und eigenständigen Äußerungen der dolmetschenden Krankenschwester, die offensichtlich bestrebt ist, unklare oder unpassende Antworten des Patienten diagnostisch verwertbar zu formulieren. So scheint etwa die Antwort in Zeile 39 nicht zur ärztlichen Frage nach dem Charakter der Depression zu passen, sondern auf die Ohnmacht als Auslöser des Krankenhausaufenthaltes Bezug zu nehmen (Ja, eu perco a noç-o. (Eu) perco a noç-o. ‘Ja, ich verliere die Besinnung. Ich verliere die Besinnung.’). In ihrer deutschen Version versucht die Krankenschwester, eine passende inhaltliche Bezugnahme zu konstruieren, indem sie Gomes' Umschreibung von Ohnmacht (‘die Besinnung verlieren’) nicht als physischen, sondern als seelischen Zustand interpretiert: Er, er hat das Gefühl, er wird so • • ohnmächtig, dass er so • das Ganze verliert so (Z. 41). Solche inhaltlichen Eingriffe können mit Bolden (2000) als aktive Beteiligung der dolmetschenden Person an der Hervorbringung des diagnostisch relevanten Wissens verstanden werden. Zu bedenken ist jedoch, dass diese Art der Ausgestaltung der Dolmetscherrolle ein erhebliches Fehlerpotenzial beinhaltet. Die Konkretionen oder Erläuterungen vager und unklarer Aussagen mögen vordergründig zu einer Effektivierung der Kommunikation führen. Sie erfolgen jedoch immer auf der Grundlage einer Interpretation der Ausgangsäußerung, die von der dolmetschenden Person vor dem Hintergrund ihres eigenen Wissens- und Erfahrungshorizontes vorgenommen wird. Je nachdem, wie dieser beschaffen ist, wird die zielsprachliche Version dann mehr oder weniger adäquat sein. Dass die Dolmetschleistungen von Ad-hoc-Dolmetschern im Krankenhaus teilweise als sehr problematisch einzuschätzen sind, wurde in verschiedenen diskursanalytischen Arbeiten dargestellt (Bührig/ Meyer 2003, 2004; Meyer 2005; Bührig/ Meyer 2009). Insbesondere die in Krankenhäusern, Schulen Bernd Meyer 210 und sozialen Einrichtungen verbreitete Praxis, Kinder und andere Familienangehörige als Dolmetscher einzusetzen, muss in Frage gestellt werden (Pawlack/ Kliche/ Meyer 2010). 4. Schlussfolgerungen Essers Vermutung, „dass das ethnische Sozialkapital, jedenfalls was den Zugang zu den beruflichen Positionen betrifft, keinen besonderen Wert besitzt“ (Esser 2006c, S. 534), ist plausibel. Die Förderung des Deutscherwerbs ist ein wichtiges Mittel, um die Integration von Migranten in das deutsche Bildungssystem und den Arbeitsmarkt zu verbessern. Was aber bedeutet dies für die Kommunikation mit dem Patienten Herrn Gomes? Wie in diesem Beitrag gezeigt wurde, ist es soziodemografisch unsinnig, ethisch fragwürdig und in manchen Kontexten sogar rechtswidrig, auf der Verwendung des Deutschen zu bestehen. Deutsch ist die wichtigste Umgangssprache in Deutschland, aber eben nicht die einzige. Andere Sprachen sind präsent, werden verwendet und auch benötigt. Denn: Herr Gomes wird keinen Deutschintensivkurs mehr absolvieren. Die Krankenschwester, die die Kommunikation mit ihm unterstützt, ist jedoch auf die Mittlertätigkeit nicht vorbereitet und wird selbst auch nicht institutionell unterstützt. Die fachfremde Tätigkeit des Dolmetschens, für deren Ausübung andere ein Universitätsstudium absolvieren, führt sie nebenher aus und ohne dass sie jemand fragt, ob sie dies überhaupt möchte. Sie hat keine Fortbildungsmöglichkeiten, ihre eigentliche Arbeit bleibt liegen, eine Honorierung der Dolmetschleistung ist nicht zu erwarten. Möglicherweise ist sie sprachlich auch gar nicht zu besonderen Dolmetschleistungen in der Lage, weil ihre Zweisprachigkeit unbalanciert ist und sich ihre sprachlichen Kompetenzen im Deutschen und im Portugiesischen auf verschiedene Zweckbereiche von Sprache beziehen. Der Translationskultur, die in Beispielen wie dem hier präsentierten sichtbar wird, liegt eine naive Auffassung der Voraussetzungen zugrunde, die für eine erfolgreiche sprachliche Vermittlung nötig sind (Meyer et al. 2003). Auch wenn es schwierig ist, Prognosen zur Vitalität der Herkunftssprachen abzugeben: vor dem Hintergrund von „Super-Diversity“ (Vertovec 2006) und „Transnationalisierung“ (Pries 2008) wird die sprachliche Vielfalt Deutschlands auch in Zukunft vermutlich eher zu-, als abnehmen. Es wäre falsch, mittels der alleinigen Fixierung auf die Förderung und Verbreitung des Deutschen gegen diesen Trend zu arbeiten. Vielmehr müsste es darum gehen, neue Verfahren und Standards zu entwickeln und die vorhandenen kommunikativen Potenziale im Deutschen und in den Herkunftssprachen daran zu messen. Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 211 Migranten setzen ihre Mehrsprachigkeit berufsbezogen ein, wo es sich ergibt, und sie werden dies auch in Zukunft tun. Häufig wird der Kontakt zwischen Einrichtungen oder Firmen und ihren Kunden erst durch die Beteiligung von bilingualen Mittlern, Angestellten mit entsprechenden Sprachkenntnissen oder durch andere Formen des kommunikativen Entgegenkommens möglich. Zu bedenken ist jedoch, dass die Kenntnisse der Herkunftssprachen und des Deutschen nicht immer und für jeden Zweck ausreichend ausgebaut sind. In Krankenhäusern, Schulen, aber auch in international ausgerichteten Firmen lässt sich teilweise ein unreflektierter Umgang mit der Ressource Mehrsprachigkeit feststellen. Verbesserungen können erreicht werden, indem unzeitgemäße rechtliche Hürden in den Verwaltungen abgebaut, an spezifischen Tätigkeiten orientierte Fortbildungsmöglichkeiten entwickelt und die organisatorischen und personellen Rahmenbedingungen reflektiert werden. Das ideologisch motivierte Bestehen auf der Verwendung von bestimmten Sprachen müsste durch eine flexible, an gegenseitiger Verständigung orientierte Herangehensweise abgelöst werden, wie sie ein Bankkaufmann, der in einem Hamburger Geldinstitut angestellt ist, formuliert. Auf die Frage, ob denn die türkischsprachigen Kunden alle mit ihm Türkisch sprächen, antwortet er: Ich würde nicht sagen, dass die alle mit mir Türkisch sprechen. Es kommt immer auf die Situation an. Wenn ich auf Türkisch angesprochen werde, dann unterhalte ich mich mit dem Kunden auch auf Türkisch. Aber wenn der Kunde sich mit mir auf Deutsch unterhalten möchte, dann mache ich das auch auf Deutsch weiter. Je nach Situation. (Meyer 2009, S. 43) Diese Flexibilität setzt allerdings voraus, dass Mitarbeiter über die entsprechenden Potenziale verfügen und die jeweiligen Aufgaben auch tatsächlich in beiden Sprachen bewältigen können. Ob dies der Fall ist, kann nicht pauschal beurteilt werden. Vielmehr müssen die spezifischen Anforderungen an berufsbezogene Kommunikation reflektiert werden. Je höher diese Anforderungen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit Mitarbeiter in beiden Sprachen gleichermaßen zweckmäßig handeln können. Erst durch einen solchen berufsbezogenen Ausbau der Zwei- und Mehrsprachigkeit aber werden Herkunftssprachen tatsächlich zu einer kommunikativen Ressource. Bernd Meyer 212 5. Literatur Ahlzweig, Claus (1994): Muttersprache - Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Opladen. Bolden, Galima (2000): Toward understanding practices of medical interpreting: interpreters' involvement in history taking. 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Allerdings sind die verschiedenen Sprachen mit einem unterschiedlichen Prestige ausgestattet. In diesem Beitrag werden Einstellungen gegenüber anderen Sprachen und ihren Sprechern näher untersucht. Dazu werden zum einen die Daten einer bundesweit durchgeführten Repräsentativumfrage herangezogen, zum andern wird eine Erhebung mit Schülern der 9. und 10. Klasse zu ihren Spracheinstellungen ausgewertet. Überwiegend positiv beurteilt werden Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch, während insbesondere Migrantensprachen von der Mehrheit der Sprecher distanziert bewertet werden. Das gilt auch und besonders für die beiden zahlenmäßig größten Sprachminderheiten, Russisch und Türkisch - und hier vor allem für das Türkische. Multilingualism is a social reality in Germany as well as in other countries. Different languages, however, enjoy different levels of prestige. This article analyses attitudes towards other languages and their speakers. The analysis is based firstly on data collected from a nation-wide representative poll, and secondly on a survey of students from the 9th and 10th forms on their attitude towards languages. While French, Italian, Spain and English are mainly considered favourably, the majority of speakers dislike, above all, immigrant languages. This holds true in particular for the two largest minority languages, Russian and Turkish - and here, particularly, for Turkish. 1. Sprachbegegnungen in einsprachigen Gesellschaften Sprache gehört zu den stärksten Identitätsträgern überhaupt, und Alteritätserfahrungen werden zentral über das Erleben der Existenz von Mehrsprachigkeit gemacht. In modernen Industriegesellschaften, die sich durch einen hohen Grad an Mobilität sowohl der dort lebenden Menschen als auch von Waren und Dienstleistungen auszeichnen, ist der Kontakt zu fremden Sprachen sehr leicht und sind die Kontaktanlässe sehr zahlreich geworden. Einen zentralen Begegnungskontext für das Erleben von Anderssprachigkeit stellt der Tourismus dar; Reisen in andere Länder sind in der Regel gleichbedeutend mit einer Kontrasterfahrung anderssprachiger Umwelten (und damit zugleich der eigenen Anderssprachigkeit). Die kontaktierenden Sprachen sind dabei so zahl- Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 216 reich und verschieden wie die Reiseziele. Doch Sprachkontakt ist nicht nur unterwegs möglich; ein ganz anders gearteter Bereich, in dem lebensalltägliche Sprachkontakterfahrungen gemacht werden, ist derjenige der Medien, und zwar der Informationsmedien ebenso wie - zweifellos in weit stärkerem Maße - der gesamte Bereich der Unterhaltungsindustrie (von Hollywood bis Silicon Valley), die stark angelsächsisch dominiert sind. Ein drittes, wiederum ganz anderes Feld schließlich, in dem Sprachbegegnungen stattfinden, liegt im unmittelbaren Erleben von Mehrsprachigkeit im eigenen Lebensumfeld durch den Umgang mit mehrsprachigen Personen. Mehrsprachigkeit in nennenswertem Umfang ist in Deutschland (wenn man von den alten autochthonen Minderheitengebieten und dem Sonderfall des Niederdeutschen absehen will) ein Resultat der Migrationen der letzten Jahrzehnte; im Bewusstsein der meisten seiner Bürger ist Deutschland jedoch nach wie vor ein konzeptionell einsprachiges Land. Das hat mit der europäischen Geschichte der Nationalstaaten und Nationalsprachen zu tun; Reflexe davon zeigen sich regelmäßig in der öffentlichen Debatte, wenn, einem gewissen Konjunkturzyklus folgend, ein Sprachschutzgesetz oder eine grundgesetzliche Verankerung des Deutschen gefordert wird. Zugleich sind solche Diskussionen ein Indiz dafür, dass die Existenz von Mehrsprachigkeit als gesellschaftliche Realität nicht mehr völlig ignoriert werden kann. 1 Diese hier skizzierten möglichen Fremdsprachigkeitskontakte sind in ganz verschiedene mentale Konzepte und Wertgefüge eingebunden, und sie sind in sehr unterschiedlicher Weise an personale Träger und zugehörige soziale Kontexte gebunden. Dementsprechend führen sie zu sehr unterschiedlichen Bewertungen, Haltungen und Einstellungen den beteiligten Sprachen gegenüber. Sozial sind nicht alle Sprachen gleich, Sprachen sind mit einem sehr unterschiedlichen Prestige ausgestattet. Touristische Kontakte führen, weil sie meist in positiver Stimmung stattfinden und weil die mit ihnen verbundene Mehrsprachigkeit für das eigene Lebensalltagsgerüst gewissermaßen neutral ist und somit keine Gefahr darstellt, üblicherweise zu positiveren Affekten 1 Jedenfalls hat ein nennenswerter Anteil der in Deutschland lebenden Personen eine andere Muttersprache als Deutsch. Die Zahlen hierzu sind sehr unsicher, weil in Deutschland (anders als etwa in Österreich und der Schweiz) keine amtlichen Erhebungen zu sprachlichen Verhältnissen durchgeführt werden. Hinweise können die Staatsangehörigkeiten geben: Der letzte Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes weist einen Anteil von 8,8% Ausländern an der Bevölkerung aus, von denen die meisten nicht Deutsch als Muttersprache haben dürften. Mehrsprachig mit abgestufter Kompetenz sind zweifellos auch viele der rund drei Millionen Aussiedler bzw. Spätaussiedler. Hinzu kommen die „Personen mit Migrationshintergrund“, aber „ohne eigene Migrationserfahrung“, die im Mikrozensus auf rund vier Millionen beziffert werden (Statistisches Bundesamt (Hg.) 2010, S. 7). Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 217 (bei Fernreisen kommt der Reiz des Exotischen dazu). Es gibt Sprachen, die signalhaft für kulturelle Attraktivität stehen; Französisch und auch Italienisch, die in Europa traditionelle Prestigesprachen sind, wären Beispiele. Ökonomisch veranlasste Sprachbegegnungen (hier ist vor allem Englisch zu nennen) stehen in einem wieder anderen Kontext. Und es gibt die zahlreichen Sprachen, die im Zuge der (vor allem Arbeits-)Migration der letzten Jahrzehnte zu - größeren und sehr kleinen - Minderheitensprachen in Deutschland geworden sind und die auch ein sehr unterschiedliches Prestige aufweisen. Diese Tatsache, dass reale Mehrsprachigkeit faktisch nicht ein äquivalentes und äquidistantes Nebeneinander mehrerer gleich großer und sozial gleich wertiger Sprachen ist, scheint im politischen Diskurs noch nicht zuverlässig verankert zu sein. Allerdings gibt es auch zu Einstellungen gegenüber anderen Sprachen bisher nicht sehr viele verlässliche Daten. Diesem Problem soll der vorliegende Beitrag ein wenig abhelfen. 2. Deutsch mit fremdsprachigem Akzent Die im Folgenden vorgestellten Daten wurden gewonnen im Rahmen eines Forschungsprojekts zu aktuellen Spracheinstellungen in Deutschland. Es handelt sich um ein interdisziplinäres Projekt, das das Institut für Deutsche Sprache zusammen mit dem Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Universität Mannheim durchführt; als Drittmittelprojekt wird es finanziert von der Volkswagen-Stiftung. Kern des Projekts ist eine repräsentative Meinungsumfrage unter rund 2 000 erwachsenen Personen in Deutschland, die die Projektpartner im Herbst 2008 von der Forschungsgruppe Wahlen als Telefonumfrage haben durchführen lassen. Diese Umfrage deckt mit über 60 inhaltlichen Fragen ein sehr breites Themenspektrum ab; erfragt wurden Einstellungen zum Deutschen, zu Dialekten und zu anderen Sprachen in Deutschland, Meinungen zu Sprachveränderungen, Sprachgebrauch und Sprachpflege sowie Einschätzungen zu Fragen zur Sprachenvielfalt in der EU und zur Fremdsprachenbeherrschung. Die Daten der Gesamtstichprobe wurden nach einem Gewichtungsschlüssel nach Geschlecht, Alter, Bildungsabschluss und Wohnort umgerechnet, so dass die Angaben der Befragten auf die gesamte Wohnbevölkerung Deutschlands übertragen werden können und damit repräsentativ sind. 2 2 Erste Ergebnisse der Umfrage wurden mit Eichinger et al. (2009) und mit Gärtig/ Rothe (2009) vorgelegt; ausführlich dokumentiert ist die Erhebung in Gärtig/ Plewnia/ Rothe (2010). Weitere Publikationen aus dem Projekt zu spezifischen Fragestellungen sind Plewnia/ Rothe (2009) (zu Ost-West-Unterschieden im Bereich der Spracheinstellungen) sowie Plewnia/ Rothe (i.Dr.) (zu Dialektbewertungen). Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 218 Das Erleben von Mehrsprachigkeit, d.h. die Begegnung mit anderen Sprachen, kann sich, wie oben skizziert, auf sehr unterschiedlichem Wege und in sehr unterschiedlichen Kontexten vollziehen. Sieht man von den kontextuell trivialen Fällen ab (etwa Reisen in anderssprachige Länder oder auch der schulische Fremdsprachenunterricht), sind natürlich diejenigen Konstellationen zentral, in denen eine fremde Sprache als Trägerin eines Kommunikationsereignisses unmittelbar als fremde Sprache erlebt wird. Das kann in der direkten Konfrontation mit einem Sprecher erfolgen oder in der indirekten Teilhabe an anderssprachiger Kommunikation im öffentlichen Raum, und es kann - sprecherungebunden - über die Rezeption anderssprachiger (und offen adressierter) Kommunikate in den auch medial verschiedensten Zusammenhängen erfolgen (in Massenmedien ebenso wie in randständiger Alltagskommunikation wie beispielsweise in mehrsprachigen Bedienungsanleitungen o.Ä.). Die andere Form, in der sich Mehrsprachigkeit in einer konzeptionell monolingualen Gesellschaft mit einer dominanten Mehrheitssprache wie der deutschen manifestiert, besteht im Gebrauch der Mehrheitssprache durch Sprecher mit einer anderen Muttersprache, in Bezug auf das Deutsche also der Gebrauch von Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache. Die meisten L2-Sprecher sind für Muttersprachler als solche identifizierbar, weil ihre L1 die L2 in Form eines Akzents grundiert; in diesem Sinne ist der Gebrauch von Deutsch durch Sprecher mit einer anderen Muttersprache als Deutsch in den meisten Fällen zugleich eine Manifestation der Existenz von Mehrsprachigkeit. Im Unterschied zu fremdsprachigen Kommunikationsereignissen, die prinzipiell medial beliebig realisiert werden können, ist der Gebrauch von (in unserem Fall) Deutsch mit einem anderssprachigen Akzent immer an gesprochensprachliche Formen gebunden, und damit gibt es hinter den Kommunikaten auch immer zugehörige Sprecher, die sich als mögliche Projektionsflächen für etwelche Stereotypen anbieten. 3 Ein Themenkomplex der Repräsentativerhebung galt der Wahrnehmung und Bewertung anderer Sprachen. In diesem Zusammenhang wurden die Befragten nach ihrer Bewertung - Sympathie und Antipathie - für fremdsprachige Akzente gefragt (Diagr. 1 und 2). 3 Ein zentrales Interesse unseres Projekts liegt darin, Zusammenhänge zwischen der Bewertung von Sprachen bzw. Varietäten auf der einen Seite und den Stereotypen über die zugehörigen Sprecher auf der anderen Seite sichtbar zu machen. Für die Bewertung von Bairisch bzw. dem „typischen Bayern“ und Sächsisch bzw. dem „typischen Sachsen“ vgl. Plewnia/ Rothe (i.Dr.). Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 219 Diagr. 1: Sympathische Akzente Frage: Gibt es einen oder mehrere ausländische Akzente, die Sie besonders sympathisch finden? Also gemeint ist nicht die Fremdsprache, sondern die Art und Weise, wie Ausländer Deutsch sprechen. Welche sind das? (Frage nur an Personen mit Deutsch als Muttersprache; bis zu drei Nennungen möglich) 4 Offenkundig hat die Zuweisung von Sympathie viel mit Bekanntheit zu tun. Die mit Abstand am häufigsten genannten Akzente sind die der Sprachen der großen romanischen Nachbarn des Deutschen; mehr als ein Drittel der Befragten nennen den französischen, mehr als ein Fünftel den italienischen Akzent. Es folgen der englische und der spanische Akzent mit jeweils knapp 10 Prozent und der niederländische Akzent mit immerhin 7,3 Prozent. Die klar 4 Die Frage war offen formuliert, d.h. es wurde keine Liste o.Ä. vorgegeben. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass tatsächlich aktives Wissen der Befragten (und keine Echoformen) abgebildet wird. In den Diagrammen und Tabellen sind Einzelnennungen bzw. Kategorien mit sehr wenigen Nennungen nicht gesondert aufgeführt. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 220 positive Bewertung des französischen Akzents ist vor dem Hintergrund der engen kulturhistorischen Verbundenheit von Deutschland und Frankreich nicht sonderlich überraschend; Frankreich ist für Deutschland über Jahrhunderte Bezugspunkt der kulturellen Orientierung, und das Französische hat über die ganze deutsche Sprachgeschichte einen prägenden Einfluss auf das Deutsche ausgeübt. 5 Französisch ist eine lang etablierte Schulfremdsprache, und Frankreich ist, nicht zuletzt durch die Versöhnungspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg (mit Städtepartnerschaften, Schüleraustausch usw.), aber auch als attraktives Urlaubsland, beständig präsent. Ähnliches gilt für Italien, das für Deutschland immer ein wichtiger Partner für kulturelle Inspirationen war und das als „Land, wo die Zitronen blühen“ aus deutscher Perspektive immer wieder zum Sehnsuchtsort stilisiert wurde. Dass andererseits Bekanntheit allein keine Garantie für eine positive Bewertung ist, sieht man an der Tatsache, dass sich die deutliche Mehrzahl der Nennungen auf die Akzente der größeren westeuropäischen Nachbarn (Spanien eingeschlossen) konzentriert. Die Akzente der größten Sprachminderheiten in Deutschland hingegen, nämlich Russisch und Türkisch, werden erst an achter (russischer Akzent: 4,4 Prozent) bzw. zehnter Stelle (türkischer Akzent: 3,2 Prozent) genannt. Aus diesen niedrigen Werten lässt sich nun aber nicht etwa schlussfolgern, dass die jeweils zirka drei Millionen Sprecher des Russischen und des Türkischen in Deutschland 6 für die Mehrheit der Befragten so wenig präsent sind, dass sie sich einer aktiven Bewertung entzögen. Darauf deutet Diagramm 2 auf der folgenden Seite hin, in dem die Antworten auf die parallele Frage nach etwaigen unsympathischen Akzenten dargestellt sind. Tatsächlich bildet auch dieses Diagramm, wenngleich gewissermaßen mit dem Vorzeichen der negativen Bewertung, Prominenzen ab. Insgesamt gibt es deutlich weniger Nennungen, und es werden deutlich weniger verschiedene Akzente genannt als bei der positiven Frage. Die weitaus meisten Befragten geben an, keinen Akzent, welcher es auch sei, unsympathisch zu finden. Eine größere Zahl von Nennungen entfällt im Wesentlichen auf nur drei Gruppen: 5 Vgl. Plewnia (2011, S. 440-441). 6 Die Zahlen hierzu sind nicht sehr valide. Mit einiger Vorsicht kann man zumindest in ungefähren Größenordnungen von Herkunft bzw. Staatsangehörigkeit auf Sprachkompetenz schließen. Das Statistische Bundesamt hält im Bericht zu seinem letzten Mikrozensus fest: „Gut 3,0 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund haben ihre Wurzeln in der Türkei, 2,9 Mio. in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion“ (Statistisches Bundesamt (Hg.) 2010, S. 8). Zur Zahl der Russisch-Sprecher vgl. auch die Überlegungen von Tanja Anstatt (i.d.Bd., Kap. 1.1). Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 221 den türkischen Akzent (17,2 Prozent der Befragten), den russischen Akzent (13,3 Prozent) und den polnischen Akzent (8,5 Prozent). Die hohen Werte an dieser Stelle korrespondieren mit den relativ niedrigen Werten für diese Gruppen in Diagramm 1. Diagr. 2: Unsympathische Akzente Frage: Und gibt es einen oder mehrere ausländische Akzente, die Sie besonders unsympathisch finden? (Frage nur an Personen mit Deutsch als Muttersprache; bis zu drei Nennungen möglich) Man kann nun die Gesamtstichprobe nach verschiedenen Kriterien weiter aufschlüsseln, indem man sie in einzelne Untergruppen unterteilt und die Antworten für die jeweiligen Untergruppen gesondert ausweist. Eine solche Aufschlüsselung der Antworten auf die Frage nach Sympathie bzw. Antipathie für fremdsprachige Akzente nach Alter bieten die Tabellen 1 und 2 auf der folgenden Seite. Hier sind die Antworten der jüngeren Befragten (18 bis 29 Jahre), einer mittleren Altersgruppe (30 bis 59 Jahre) und der älteren Befragten (ab 60 Jahre) wiedergegeben. Der französische Akzent wird in allen Altersgruppen mit Abstand am häufigsten genannt; es folgt der italienische Akzent. Signifikante Unterschiede innerhalb der Gruppen gibt es nur beim englischen und beim spanischen Akzent, die jeweils von den Befragten der jüngeren Altersgruppe deutlich positivere Werte erhalten (englischer Akzent: 16,9 Prozent, spanischer Akzent: 15,5 Prozent) als von den beiden anderen Altersgruppen. Das Englische hat eine hohe Präsenz Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 222 und ein hohes Prestige besonders in denjenigen Alltagsbereichen, die sich durch eine programmatische Jugendlichkeit auszeichnen (wie etwa die Elektronikindustrie oder die stark angelsächsisch dominierte Musikindustrie, die ja zugleich ein kulturelles Gesamtsetting transportieren); insofern ist es nicht überraschend, dass der englische Akzent in der jüngeren Altersgruppe deutlich häufiger genannt wird. Beim Spanischen ist ein ähnlicher Generationeneffekt zu sehen; dazu passt beispielsweise, dass Spanisch in jüngerer Zeit als Wahl- Schulfremdsprache an Bedeutung gewonnen hat. 18-29 Jahre (N=246) 30-59 Jahre (N=959) 60+ Jahre (N=630) Französisch 38,0% 37,0% 33,7% Italienisch 19,8% 22,2% 19,4% keinen 15,6% 17,0% 17,3% Englisch 16,9% 9,9% 6,5% Spanisch 15,5% 10,1% 6,7% Tab. 1: Sympathische Akzente (nach Alter) 18-29 Jahre (N=246) 30-59 Jahre (N=959) 60+ Jahre (N=630) keinen 43,2% 49,5% 47,6% Russisch 16,1% 16,2% 10,8% Türkisch 26,7% 10,2% 6,4% Polnisch 4,0% 7,6% 7,5% Französisch 8,0% 1,1% 0% Tab. 2: Unsympathische Akzente (nach Alter) Einen klaren Generationeneffekt sieht man auch bei der komplementären Frage nach den unsympathischen Akzenten. In der jüngeren Altersgruppe nennen über ein Viertel der Befragten den türkischen Akzent; der Unterschied zwischen der jüngeren und der älteren Altersgruppe ist hier statistisch hoch signifikant. Auch beim französischen Akzent, der in der jüngeren Altersgruppe immerhin von 8,0 Prozent der Befragten genannt wird, ist der Unterschied zwischen der jüngeren und der älteren Altersgruppe statistisch hoch signifikant; allerdings steht diesen Nennungen, anders als beim türkischen Akzent, der höchste Wert überhaupt bei den sympathischen Akzenten (38,0 Prozent) Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 223 gegenüber. Ferner ist zu berücksichtigen, dass in der jüngeren Altersgruppe insgesamt absolut wesentlich mehr fremdsprachige Akzente genannt werden und daher die Prozentwerte auch höher ausfallen. 7 Inwieweit hier tatsächlich Sympathie bzw. Antipathie für ein mit fremdsprachigem Akzent gesprochenes Deutsch abgefragt wurde, ist nur anhand der Zahlen kaum zu beurteilen. Tatsächlich ist durchaus damit zu rechnen, dass, trotz der dezidierten Frageformulierung, auch allgemeinere Sympathie-Konzepte, die sich an übergeordneten Stereotypen orientieren, abgerufen werden. Dadurch aber, dass die Fragen offen formuliert waren, ist sichergestellt, dass die Antworten das aktive Wissen der Befragten spiegeln und damit alltagsweltliche Prominenzen abbilden. Muster mit höherer Präsenz fordern stärker zu Bewertungen - positiv wie negativ - heraus. Dass Bekanntheit und Nähe bei der Sympathieverteilung ein entscheidender Faktor ist, zeigt sich besonders deutlich, wenn man die Antworten nach der Herkunft der Befragten aufschlüsselt. In Tabelle 3 sind die Nennungen für einzelne Bundesländer nach ihren Nachbarschaften gruppiert. ehem. DDR (N=428) NI, NW (N=520) SH, HH (N=94) RP, SL, BW (N=285) BY (N=249) Französisch 32,1% 41,0% 31,2% 38,5% 32,5% Italienisch 10,5% 22,7% 9,1% 26,4% 31,7% kein Akzent 18,2% 15,5% 21,6% 14,2% 16,9% Englisch 13,1% 12,0% 7,4% 7,5% 4,7% Spanisch 4,2% 12,4% 3,1% 15,0% 10,3% Niederländisch 7,2% 10,6% 12,2% 4,4% 3,4% ... Russisch 7,2% 3,2% 2,7% 2,6% 4,2% Dänisch 2,9% 4,0% 22,0% 1,9% 0,8% ... Polnisch 2,6% 2,7% 2,3% 2,3% 1,6% Tab. 3: Sympathische Akzente (nach Regionen) Auch hier gilt, dass dem französischen Akzent durchgängig die höchsten Sympathiewerte zugeschrieben werden; im Weiteren unterscheiden sich die 7 In den Tabellen werden die Prozente bezogen auf die Zahl der Befragten ausgewiesen. Da Mehrfachantworten möglich waren, kann die Summe der angegebenen Prozentzahlen mehr als 100 betragen. Je mehr Einzelantworten in einer Gruppe insgesamt gegeben werden, desto höher sind tendenziell auch die Einzelwerte. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 224 einzelnen Teilgruppen aber zum Teil erheblich voneinander. Auf einige Aspekte sei kurz hingewiesen: Deutliche Nachbarschaftseffekte sind bei den „kleinen“ Nachbarsprachen mit bundesweit gesehen geringer medialer Präsenz zu verzeichnen. So nennen beispielsweise in den nördlichen Bundesländern (Schleswig-Holstein, Hamburg) fast ein Viertel der Befragten den dänischen Akzent, der in den übrigen Ländern nur eine marginale Rolle spielt. Ähnlich, wenngleich nicht ganz so markant, sind die Verhältnisse in Bezug auf das Niederländische: Die höchsten Werte für Deutsch mit einem niederländischen Akzent werden in den Grenzländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (10,6 Prozent) und den Nordsee-Anrainern Schleswig-Holstein und Hamburg (12,2 Prozent) erreicht. Der Effekt ist auch beim großen Nachbarn Italien erkennbar: In Bayern nennen 31,7 Prozent der Befragten Deutsch mit einem italienischen Akzent (der damit fast mit dem französischen Akzent gleichzieht), in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hingegen sind es lediglich 22,7 Prozent, und in den ostdeutschen Ländern 8 und im Norden kommt der italienische Akzent nur auf Werte um 10 Prozent. Auffällig ist schließlich, dass der russische Akzent in Ostdeutschland mit (freilich vergleichsweise niedrigen) 7,2 Prozent den höchsten Wert erreicht; das dürfte allerdings weniger mit geografischer Nähe als mit anderen Formen alltagsweltlicher (historischer) Präsenz des Russischen zusammenhängen, die anscheinend bei einigen Befragten zu positiven Bewertungen Anlass gibt. 9 Die Nachbarschaft zu Polen wiederum schlägt sich in Ostdeutschland zumindest nicht in positiven Bewertungen nieder. 10 3. Welche Sprachen Schüler sympathisch finden Der Blick auf die Daten der Repräsentativerhebung hat gezeigt, dass es bei der Frage nach Sympathie und Antipathie für fremdsprachige Akzente einerseits bundesweit recht klare Muster gibt, die sich durchaus als Reflexe der Prominenz einzelner Sprachen lesen lassen, und dass andererseits eine Binnendifferenzierung der Stichprobe sowohl regionale Unterschiede als auch klare Alterseffekte erkennbar werden lässt. Ein klarer Befund ist die in allen Gruppen durchgängige Sympathie für den französischen Akzent. Dezidiert unsympathisch finden die meisten Befragten keinen Akzent; die Akzente aber, die ge- 8 Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen sowie der Ostteil Berlins. 9 Dazu passt auch, dass bei der entsprechenden Frage nach unsympathischen Akzenten der russische Akzent in Ostdeutschland weniger oft genannt wird als in den westlichen Bundesländern (13,5 Prozent im Osten gegenüber 19,2 Prozent im Westen). 10 Immerhin wird der polnische Akzent aber im Osten bei den unsympathischen Akzenten mit 6,5 Prozent etwas seltener genannt als im Westen (dort sind es 9,0 Prozent). Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 225 nannt werden, sind die der Sprachen der großen Migrationsminderheiten, Türkisch, Russisch, auch Polnisch, und zwar von den jüngeren Befragten häufiger als von den älteren. Solche Muster entlang verschiedener Teilstichproben lassen sich auch für andere Spracheinstellungen finden. 11 Allerdings erreichen ab einer gewissen Granularität des Zuschnitts der Untergruppen die einzelnen Teilstichproben nicht mehr zuverlässig die für statistische Aussagen erforderliche Mindestgröße. Im Rahmen des hier beschriebenen Forschungsprojekts wurde daher in Ergänzung zur Repräsentativumfrage im Winter 2010 eine weitere Erhebung durchgeführt. Befragt wurden Schüler der 9. und 10. Jahrgangsstufe, analog zu ausgewählten Themenkomplexen der Repräsentativumfrage, zu ihren Einstellungen zum Deutschen, zu Dialekten und zu anderen Sprachen. In der Repräsentativumfrage wird auch ein gewisser Anteil von Personen mit einer anderen Muttersprache als Deutsch erfasst (nämlich 8,6 Prozent; das entspricht in etwa ihrem Anteil an der gesamten Wohnbevölkerung); doch gerade über diese Gruppe sind, weil sie sehr heterogen ist, statistische Aussagen schwierig. Aus diesem Grund wurde für die Schüler-Erhebung eine Mannheimer Realschule ausgewählt, nahe der Innenstadt, die sich durch einen weit überdurchschnittlich hohen Anteil von Schülern, die familiär in Migrationskontexten stehen, auszeichnet. Die Erhebung erbrachte 254 verwertbare Fragebögen. 12 Komplementär dazu wurde derselbe Fragebogen auch an zwei Schulen am Niederrhein eingesetzt, an einer Realschule im Kreis Wesel und an einem Gymnasium im Kreis Kleve, ebenfalls in den 9. und 10. Klassen; hier kamen 256 Fragebögen zusammen. 13 Insgesamt ergab sich also ein vergleichsweise großes Sample von 510 Fragebögen; in den folgenden Kapiteln werden die Ergebnisse der Auswertung derjenigen Teile des Fragebogens, die die Bewertung anderer Sprachen und ihrer Sprecher zum Gegenstand hatten, präsentiert. 14 11 Vgl. die Analysen in Gärtig/ Plewnia/ Rothe (2010). 12 Im soziodemografischen Teil des Fragebogens wurden die Schüler gebeten anzugeben, welche Sprachen sie selbst beherrschen, verbunden mit der Möglichkeit, die eigene Kompetenz einzuschätzen und die einzelnen Sprachen als „Muttersprache“ und „Vatersprache“ zu kennzeichnen. 166 von den Mannheimer Schülern, d.h. 65,6 Prozent, gaben eine andere Sprache als Deutsch als Mutter-/ Vatersprache (oder als weitere Mutter-/ Vatersprache neben Deutsch) an. 13 Den Schulleitungen und den beteiligten Lehrkräften sei an dieser Stelle für ihre freundliche und überaus bereitwillige Unterstützung herzlich gedankt. 14 Natürlich sind alle Aussagen zunächst einmal nur Aussagen über die drei untersuchten Schulen (von denen die eine ja gezielt wegen ihres vom Durchschnitt abweichenden Profils ausgewählt wurde) und damit - anders als bei der Repräsentativumfrage, über die oben berichtet wurde - nur mit Einschränkungen generalisierbar. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 226 Ein Fragenpaar des Fragebogens zielte, in Anlehnung an die entsprechenden Fragen der Repräsentativumfrage, auf Sympathie bzw. Antipathie für andere Sprachen ab (Diagr. 3 und 4). Die Frage war ebenfalls offen formuliert; die Schüler wurden, weil im Weiteren auch Sprecherstereotype erhoben werden sollten, nicht nach Akzenten, sondern direkt nach Sprachen gefragt. Diagr. 3: Sympathische Sprachen Frage: Gibt es Sprachen, die du besonders sympathisch findest? (bis zu drei Nennungen möglich) Die Schüler zeigen sich insgesamt auskunftsfreudiger als die Befragten der Repräsentativumfrage, d.h. es werden insgesamt deutlich mehr Sprachen genannt. Das Grundmuster ähnelt aber im Großen und Ganzen demjenigen der bundesweit befragten Erwachsenen. Genannt werden als erstes die großen Nachbarsprachen Spanisch, Englisch, Italienisch und Französisch (Spanisch mit großem Vorsprung, Französisch - vermutlich mit einem gewissen „Pflichtsprachen-Malus“ - weiter hinten); die weiteren Sprachen, insbesondere die Migrantensprachen, folgen erst in größerem Abstand. Ob man den Wert für Deutsch (8,6 Prozent) als hoch oder niedrig beurteilen will, hängt von der Perspektive ab; sicher hat eine Rolle gespielt, dass aus Schülerperspektive der Begriff „Sprache“ zunächst einmal prägnant als „Fremdsprache“ verstanden wird und der Gedanke an Deutsch nicht sehr nahe liegt. Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 227 Diagr. 4: Unsympathische Sprachen Frage: Gibt es Sprachen, die du besonders unsympathisch findest? (bis zu drei Nennungen möglich) Das Antwortverhalten bei den unsympathischen Sprachen ähnelt demjenigen der jüngeren Generation der Repräsentativumfrage (vgl. oben Tab. 2), ist jedoch in manchem noch etwas prononcierter. Dominant genannt werden die Migrantensprachen Türkisch (35,9 Prozent) und Russisch (25,3 Prozent), auch Polnisch (15,5 Prozent) und Arabisch 15 (12,4 Prozent); hinzu kommen Französisch (16,7 Prozent) und Latein (9,2 Prozent) als unpopuläre und als schwer geltende Schulfremdsprachen. Ähnlich wie bei der bundesweiten Umfrage, bei deren Auswertung unterhalb der Gesamtergebnisse regionale und altersbedingte Unterschiede nachweisbar sind, ist natürlich auch hier mit Nähe- und Bekanntheitseffekten zu rechnen. Aufschlussreich ist daher eine Binnendifferenzierung der Daten nach Erhebungsorten, wie sie Tabelle 4 auf der folgenden Seite bietet. Das unterschiedliche Profil der Erhebungsorte schlägt sich erkennbar in den Antworten nieder. Besonders deutlich zeigt es sich beispielsweise bei der Bewertung des Niederländischen, das sowohl bei den sympathischen als auch bei den unsympathischen Sprachen bei den beiden niederrheinischen Schulen wesentlich höhere Werte erhält als in Mannheim (11,7 Prozent gegenüber 3,1 Prozent bzw. 18,8 Prozent gegenüber 9,4 Prozent); hier ist klar erkennbar, wie Präsenz - in diesem Fall durch geografische Nachbarschaft - zu Bewertungen, gleich ob positiv oder negativ, motiviert. Ein entsprechender Effekt zeigt sich 15 1,8 Prozent der befragten Mannheimer Schüler geben Arabisch als Muttersprache an. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 228 in Mannheim in Bezug auf die Migrantensprachen, die offenkundig eine höhere alltagsweltliche Relevanz haben: Türkisch wird hier wesentlich positiver bewertet als am Niederrhein (sympathisch: 11,4 Prozent gegenüber 2,7 Prozent) bzw. weniger negativ (unsympathisch: 28,7 Prozent gegenüber 43,0 Prozent); Analoges gilt für Russisch, das in Mannheim etwas häufiger als sympathische und deutlich seltener als unsympathische Sprache genannt wird als am Niederrhein. Polnisch ist in Mannheim weniger unsympathisch (9,8 Prozent in Mannheim gegenüber 21,1 Prozent am Niederrhein); Arabisch hat in beiden Listen, bei Sympathie und bei Antipathie, in Mannheim deutlich höhere Werte. Einen gewissen Sonderfall stellt Latein dar; es spielt nur bei den unsympathischen Sprachen eine gewisse Rolle, doch man darf annehmen, dass hier weniger die Sprache als das Unterrichtsfach bewertet wird. Dass Latein anscheinend am Niederrhein viel weniger geschätzt wird als in Mannheim, ist in Wahrheit ein Schularteneffekt: Von allen Nennungen für Latein kamen nur 17,0 Prozent von den Schülern der beiden Realschulen, wo Latein ja praktisch keine Rolle spielt; der größte Teil der Nennungen (83,0 Prozent) stammte von den Gymnasiasten. Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen Mannheim Niederrhein Mannheim Niederrhein Spanisch 46,9% 54,3% Türkisch 28,7% 43,0% Englisch 32,7% 37,1% Russisch 16,9% 33,6% Italienisch 29,1% 37,9% Französisch 18,1% 15,2% Französisch 24,0% 34,0% Polnisch 9,8% 21,1% Russisch 10,2% 8,6% Niederländ. 9,4% 18,8% Niederländ. 3,1% 11,7% Arabisch 16,1% 8,6% Türkisch 11,4% 2,7% Chinesisch 15,7% 7,0% Polnisch 4,7% 6,3% Latein 2,0% 16,4% Arabisch 8,7% 1,6% Tab. 4: Sympathische und unsympathische Sprachen (nach Erhebungsorten) Die in Tabelle 4 dokumentierten Unterschiede zwischen den beiden Erhebungsorten hängen also einerseits - wie bei der Bewertung des Niederländischen - mit regionalen Faktoren zusammen. Andererseits deuten sie darauf hin, dass die Zusammensetzung der Stichproben, die ja in unterschiedlicher Weise heterogen sind, eine Rolle spielt. In Gesamtdarstellungen mit Durchschnittswerten werden kleinere Teilgruppen von größeren unweigerlich majo- Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 229 risiert; es lohnt sich daher, die Daten noch genauer aufzuschlüsseln. Für diese Untersuchung wurde gezielt ein Kontext von Mehrsprachigkeit gesucht; folglich kann die individuelle Distanz zu den hier bewerteten Sprachen sehr unterschiedlich sein, d.h. es handelt sich keineswegs nur um Distanzbewertungen, sondern unter Umständen auch um Eigenbewertungen. Weist man die Antworten gesondert nach Sprechergruppen aus, ergibt sich ein differenziertes Bild (Tab. 5 bis 8). In Tabelle 5 sind zunächst die Antworten derjenigen Schüler, die als Mutter-/ Vatersprache keine andere Sprache als Deutsch angegeben haben, zusammengefasst. Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen Spanisch 54,6% Türkisch 41,8% Englisch 39,2% Russisch 31,4% Italienisch 34,6% Polnisch 17,3% Französisch 31,7% Französisch 16,0% Niederländisch 10,8% Niederländisch 15,0% Latein 13,1% Tab. 5: Sympathische und unsympathische Sprachen (Deutsch; N=306) Die Unterschiede zum Gesamtdurchschnitt (Diagr. 3 und 4) sind zunächst nicht besonders hoch. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, macht die Gruppe doch den mit Abstand größten Teil der Stichprobe aus (60,0 Prozent). Die Werte für die genannten Sprachen sind durchgängig etwas höher, bei den sympathischen ebenso wie bei den unsympathischen Sprachen. Das lässt bereits erwarten, dass sich bei den anderen Teilgruppen für beide Teilfragen ein etwas anderes Antwortverhalten zeigt. Tabelle 6 auf der folgenden Seite bietet die Antworten derjenigen Schüler, die (auch) Russisch als Mutter-/ Vatersprache angeben. Nicht sehr überraschend ist, dass, als ein Beleg positiver Eigenbewertung, Russisch (zusammen mit Spanisch, das in allen Gruppen vorne liegt) am häufigsten genannt wird. Deutsch erreicht hier mit 14,3 Prozent den höchsten Wert von allen Teilgruppen. Dass Niederländisch nicht vorkommt, hat wiederum damit zu tun, dass die meisten Russisch-Sprecher - 71,4 Prozent - aus Mannheim kommen. Bei den unsympathischen Sprachen wird Türkisch als Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 230 die Sprache der anderen großen Migrantengruppe mit großem Abstand am häufigsten genannt; auch Arabisch ist hier - wie übrigens auch bei den Polnisch-Sprechern (vgl. Tab. 7) - sehr prominent. Russisch spielt bei den unsympathischen Sprachen erwartungsgemäß keine Rolle; Polnisch wird zwar in 14,3 Prozent der Fälle genannt, liegt damit aber unter dem Durchschnitt von 18,6 Prozent. Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen Spanisch 64,3% Türkisch 64,3% Russisch 64,3% Französisch 28,6% Englisch 35,7% Arabisch 28,6% Französisch 28,6% Chinesisch 21,4% Italienisch 21,4% Polnisch 14,3% Deutsch 14,3% Tab. 6: Sympathische und unsympathische Sprachen (Russisch; N=14 16 ) Positive Eigenbewertungen sind auch bei den Schülern mit Polnisch als Mutter-/ Vatersprache erkennbar (Tab. 7). Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen Spanisch 50,0% Türkisch 54,5% Polnisch 45,4% Französisch 31,8% Englisch 40,9% Arabisch 22,7% Italienisch 31,8% Niederländisch 18,2% Chinesisch 13,6% Japanisch 13,6% Tab. 7: Sympathische und unsympathische Sprachen (Polnisch; N=22 17 ) 16 Die Zahl derjenigen, die hier Russisch als Mutter-/ Vatersprache angeben, ist sehr klein und liegt an der Untergrenze des statistisch Auswertbaren. Die tatsächliche Zahl der Russisch-Sprecher dürfte höher liegen; bei der Gruppe der Aussiedler ist nach Aussage einer Lehrkraft zu vermuten, dass - obwohl die Befragung natürlich anonym war - Schüler, die einem russischsprachigen Kontext entstammen, diesen aus Prestigegründen, um nicht als „Ausländer“ wahrgenommen zu werden, nicht kenntlich machen. Analoges gilt für Polnisch (Tab. 7). 17 Auch diese Gruppe ist nicht sehr groß, insofern sind die Zahlen mit Bedacht zu interpretieren. Vgl. im Übrigen Anmerkung 16. Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 231 Auch hier ist Spanisch die sympathischste Sprache; es folgt Polnisch mit 45,4 Prozent, dann, etwas über dem Gesamtdurchschnitt, Englisch mit 40,9 Prozent. Entschieden ist wiederum die Ablehnung des Türkischen (54,5 Prozent); auch Arabisch wird überdurchschnittlich oft genannt. Russisch hingegen nennt von den Polnisch-sprachigen Schülern kein einziger, Polnisch auch nicht. Die sehr deutliche Ablehnung des Türkischen durch die Russisch- und Polnisch-Sprecher, aber auch durch die einsprachig-deutsche Mehrheit, hat keine ganz klare Entsprechung in der Gruppe der Türkisch-sprachigen Schüler (Tab. 8). Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen Spanisch 31,3% Französisch 17,5% Türkisch 30,0% Russisch 16,3% Englisch 25,0% Polnisch 11,3% Französisch 23,8% Chinesisch 11,3% Italienisch 22,5% Arabisch 8,8% Arabisch 18,8% Serbisch 8,8% Tab. 8: Sympathische und unsympathische Sprachen (Türkisch; N=80) Zwar werden hier bei den unsympathischen Sprachen Russisch an zweiter und Polnisch (zusammen mit Chinesisch) an dritter Stelle relativ prominent genannt, doch die Zahlen sind insgesamt erheblich niedriger als in den anderen Teilgruppen, 18 und die Antipathie ist nicht so klar fokussiert. Arabisch wird sogar von 18,8 Prozent als sympathisch bezeichnet (und nur von 8,8 Prozent als unsympathisch). Offenbar gibt es innerhalb der verschiedenen Minderheiten erhebliche Unterschiede in der gegenseitigen Wahrnehmung. Bemerkenswert ist, dass das Türkische von den anderen Minderheiten in weit stärkerem Maße negativ gesehen wird, als dies umgekehrt aus der Sicht der Sprecher des Türkischen für andere Migrantensprachen gilt. 18 Das hängt auch damit zusammen, dass die Zahl derjenigen, die zu dieser Frage keine Angaben machen, mit 36,3 Prozent deutlich höher liegt als bei den anderen Gruppen (nur Deutsch: 15,0 Prozent, Russisch: 7,1 Prozent, Polnisch: 13,6 Prozent). Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 232 4. Welche Sprachen sich Schüler wünschen würden Eine andere Möglichkeit der Annäherung an die Einstellungen gegenüber anderen Sprachen besteht darin, Wunschfremdsprachen zu erfragen, und zwar mit der Implikation, dass die Kompetenz in den ausgewählten Sprachen erstens vollständig gegeben und zweitens vollkommen anstrengungslos erworben ist (so dass Distanz und vermutete Kompliziertheit einer Sprache keine Gegenargumente sind). 19 Die Ergebnisse zeigt Diagramm 5. Diagr. 5: Gewünschte Sprachen Frage: Wenn du den Wunsch frei hättest, drei Sprachen (außer Deutsch) perfekt zu können, welche würdest du aussuchen? (Das können auch Sprachen sein, die du schon kannst, aber nicht Deutsch.) (bis zu drei Nennungen möglich) 20 19 Die Vorstellung eines Kompetenzerwerbs sozusagen durch Zauberei scheint als Gedankenspiel für die Schüler so abwegig nicht zu sein; jedenfalls haben nur 20 Schüler (3,9 Prozent) diese Frage überhaupt nicht beantwortet. 20 In einem Pretest hatte sich gezeigt, dass der Begriff „Sprache“ zumindest im schulischen Kontext im ersten Zugriff überwiegend prägnant als „Fremdsprache“ gelesen wird; der Status von Deutsch war daher vielfach unklar. Für die Mehrheit der Schüler - auch für diejenigen mit einer anderen (oder weiteren) Muttersprache als Deutsch - war die Kompetenz im Deutschen so selbstverständlich, dass an Deutsch in diesem Zusammenhang nicht gedacht wurde. Um solche Missverständnisse - und entsprechende Unklarheiten bei der Auswertung - zu vermeiden, wurde Deutsch dann explizit ausgeschlossen. (Deutsch wurde dann auch tatsächlich von nur einem Schüler genannt.) Allerdings ergibt sich aus dieser Festlegung eine gewisse interpretatorische Schwierigkeit in Bezug auf die Fälle, in denen Schüler mit einer anderen Muttersprache diese nennen bzw. gerade nicht nennen (vgl. unten Anmerkung 24). Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 233 Dass Englisch von mehr als drei Vierteln der Befragten (76,3 Prozent) am häufigsten genannt wird, ist wenig überraschend; allerdings hätte man auch einen noch höheren Wert erwarten können, wenn man etwa die Tatsache in Rechnung stellt, dass in der Repräsentativumfrage 95,6 Prozent der Befragten auf die Frage, welche Fremdsprachen in der Schule unterrichtet werden sollten, Englisch nennen. 21 Es folgt das bei der Sympathie-Frage oft genannte Spanisch (62,2 Prozent), dann, mit einem höheren Wert als bei der Sympathie- Frage (vgl. oben Diagr. 3 und 4), Französisch (40,2 Prozent). Welches im Einzelnen die Beweggründe waren, die zur Nennung der einen oder anderen Sprache geführt haben, lässt sich natürlich aus den Zahlen nicht direkt ablesen. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass hier sowohl Sympathie- und Prestige-Faktoren als auch utilitaristische Erwägungen eine Rolle spielen. Letztere dürften zweifellos für die Mehrzahl der Chinesisch-Nennungen ausschlaggebend gewesen sein; der Vergleich mit der Sympathie-Frage (vgl. Diagr. 3) zeigt, dass auch Englisch von seiner ökonomischen und politischen Bedeutung profitiert, während umgekehrt Italienisch zwar für 33,5 Prozent der Schüler sympathisch ist, sich aber nur 24,5 Prozent wünschen, es perfekt zu können. Türkisch, Russisch, Arabisch und Polnisch werden erst mit größerem Abstand als Wunschsprachen genannt. Natürlich spiegelt sich auch hier die Zusammensetzung der Stichprobe wider, insofern mit dem Effekt der positiven Eigenbewertungen der Minderheiten zu rechnen ist; die Tabellen 9 bis 12 zeigen daher die Ergebnisse wieder gesondert nach den einzelnen Sprechergruppen. Gewünschte Sprachen Englisch 82,0% Spanisch 67,3% Französisch 43,1% Italienisch 25,8% Niederländisch 15,7% Chinesisch 13,1% Russisch 8,2% Türkisch 5,2% Polnisch 4,6% Tab. 9: Gewünschte Sprachen (Deutsch; N=306) 21 Vgl. Gärtig/ Plewnia/ Rothe (2010, S. 253-257). Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 234 Die Zahlen der Nur-Deutsch-Muttersprachler unterscheiden sich vom Durchschnitt nicht erheblich; die Unterschiede ergeben aber ein klares Muster. Jeweils geringfügig höher als beim Gesamtdurchschnitt sind die Werte der Sprachen auf den vorderen Listenplätzen (Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch). Es sind dies die Sprachen der (west-)europäischen Nachbarn. Chinesisch, das viele wohl als Wirtschaftssprache der Zukunft vermuten, liegt auf dem Niveau des Durchschnitts. Niedriger sind die Werte der Minderheitensprachen bzw. die der Sprachen der ost- und südosteuropäischen Länder; 22 für Türkisch ist der Wert nicht einmal halb so hoch wie der Gesamtdurchschnitt. Ganz anders sehen die Ergebnisse erwartungsgemäß für die Teilgruppe aus, die (auch) Russisch als Mutter-/ Vatersprache angibt (Tab. 10). Gewünschte Sprachen Englisch 78,6% Russisch 71,4% Spanisch 50,0,% Französisch 35,7% Chinesisch 14,3% Portugiesisch 14,3% Tab. 10: Gewünschte Sprachen (Russisch; N=14 23 ) Am häufigsten genannt wird auch hier Englisch (etwas häufiger als im Gesamtdurchschnitt, etwas seltener als in der Gruppe der Nur-Deutsch-Muttersprachler); es folgt mit 71,4 Prozent Russisch. Diese sehr positive Eigenbewertung zeugt von einer hohen Sprachloyalität zumindest der befragten Schüler. 24 Spanisch und Französisch werden seltener gewünscht; Türkisch und Polnisch werden von keinem einzigen Schüler genannt. 22 Für Bosnisch, Kroatisch, Serbisch und Griechisch ist dasselbe Muster erkennbar; da die Zahlen insgesamt jedoch sehr klein sind, werden sie hier nicht im Detail referiert. Arabisch wird nur von 1,0 Prozent der Befragten genannt. 23 Zum Problem der niedrigen Probandenzahl vgl. oben Anmerkung 16. 24 Dass Russisch hier vergleichsweise oft gewünscht wird, könnte auch damit zu tun haben, dass die eigene Kompetenz von den Schülern als defizitär wahrgenommen wird; diese Deutung würde auch zu den Untersuchungen von Tanja Anstatt zu den Spracheinstellungen von russischsprachigen Jugendlichen passen (vgl. Anstatt i.d.Bd., Kap. 2.1). Damit ist natürlich noch nichts über die Sprachloyalität der anderen Gruppen gesagt. Die Tatsache, dass Türkisch von den türkischsprachigen Schülern weniger häufig gewünscht wird als Russisch von den russischsprachigen Schülern, wäre demnach nicht ein Indiz für eine geringere Sprachloyalität der türkischsprachigen Schüler, sondern würde eher daran liegen, dass die- Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 235 Die Schüler mit Polnisch als Mutter-/ Vatersprache hingegen nennen Russisch als Wunschsprache durchaus, wenngleich mit 9,1 Prozent noch etwas seltener als der Gesamtdurchschnitt, aber auch etwas häufiger als die Schüler, die nur Deutsch als Mutter-/ Vatersprache angeben (Tab. 11). Gewünschte Sprachen Spanisch 63,6% Englisch 59,1% Polnisch 50,0% Französisch 27,3% Chinesisch 27,3% Italienisch 13,6% Russisch 9,1% Arabisch 9,1% Türkisch 4,5% Tab. 11: Gewünschte Sprachen (Polnisch; N=22) In dieser Gruppe (und nur in dieser) ist Spanisch noch vor Englisch die meistgenannte Sprache; Polnisch hat mit 50,0 Prozent den dritten Platz inne. Französisch und Italienisch werden seltener genannt als im Gesamtdurchschnitt, Chinesisch deutlich und Arabisch etwas häufiger. 25 Bei den Türkisch-Sprechern steht wiederum Englisch vor Spanisch; das Türkische wird häufiger als im Durchschnitt und als bei allen anderen Gruppen genannt (Tab. 12 auf der folgenden Seite). Allerdings wird Türkisch hier nur von 41,3 Prozent der Türkisch-Sprecher genannt; das ist zwar wesentlich mehr als in allen anderen Gruppen, aber für eine Eigenbewertung erstaunlich niedrig. Deutlich häufiger genannt wird auch Arabisch (25,0 Prozent gegenüber 6,3 Prozent im Gesamtdurchschnitt), seltener hingegen Italienisch (15,0 Prozent gegenüber 24,5 Prozent im Gesamtdurchschnitt). Russisch (6,3 Prozent) und besonders Polnisch (1,3 Prozent) liegen jeweils deutlich unter den Durchschnittswerten und auch unter den Werten der Gruppe der Nur-Deutsch-Muttersprachler. sen ihre Türkisch-Kompetenz vielfach so selbstverständlich ist, dass sie sozusagen nicht gewünscht zu werden braucht. (Aus diesem Grund wurde Deutsch auch explizit aus den wünschbaren Sprachen ausgeschlossen.) 25 Allerdings ist auch hier bei der Interpretation die relativ niedrige Probandenzahl zu berücksichtigen. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 236 Gewünschte Sprachen Englisch 71,3% Spanisch 55,0% Türkisch 41,3% Französisch 41,3% Arabisch 25,0% Italienisch 15,0% Chinesisch 15,0% Russisch 6,3% Tab. 12: Gewünschte Sprachen (Türkisch; N=80) Obgleich mit dieser Frage durchaus andere Dinge abgefragt wurden als mit den Sympathie-Fragen, sind ähnliche Muster erkennbar. Für diejenigen, die nur Deutsch als Muttersprache haben, sind offenbar vor allem die großen (west-)europäischen Sprachen attraktiv; die Sprachen der in Deutschland präsenten Migranten werden nur selten als Wunschsprachen genannt. Deren Prestige ist auch innerhalb der anderen Teilgruppen sehr unterschiedlich verteilt. Selbst bei den Eigenbewertungen gibt es deutliche Differenzen; am niedrigsten sind hier die Werte der Sprecher des Türkischen. 5. Sprachgefallen Die bisher vorgestellten Fragen waren offen formuliert, d.h. die Probanden konnten und mussten bei ihren Antworten eigene Formulierungen wählen. Auf diese Weise ist es möglich, aktiv präsente Wissensbestände abzufragen. Die Auswertung offener Fragen ist jedoch vergleichsweise mühsam, weil die Antworten oft relativ heterogen ausfallen und jede Antwort einzeln erfasst und katalogisiert werden muss. Das Verfahren stößt zudem an seine Grenzen, wenn es darum geht, Graduierungen zu erfassen, weil die Probanden nur zwischen Nennung und Nichtnennung entscheiden können. Aus diesem Grund wurde den Schülern ein anders perspektivierter Fragenblock vorgelegt, bei dem für eine Liste von Sprachen (Deutsch, Polnisch, Italienisch, Russisch, Französisch, Spanisch, Türkisch und Englisch) jeweils auf einer Fünferskala von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ angegeben werden sollte, wie gut die betreffenden Sprachen den Schülern gefallen. Zu den Antworten lassen sich Mittelwerte bilden; 26 die Ergebnisse für die hier fokussierten Sprachen zeigt Diagramm 6. 26 Dabei wird für die Diagramme für „sehr gut“ der Wert 2 gesetzt, für „gut“ 1, für „teils/ teils“ 0, für „schlecht“ 1 und für „sehr schlecht“ 2. Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 237 Diagr. 6: Sprachgefallen (ausgewählte Sprachen) 27 Frage: Bitte bewerte nun einige Sprachen danach, wie gut sie dir gefallen. Wie gut gefällt dir …? Tabelle: Deutsch/ Polnisch/ Italienisch/ Russisch/ Französisch/ Spanisch/ Türkisch/ Englisch (Antwortmöglichkeiten jeweils: sehr gut, gut, teils/ teils, schlecht, sehr schlecht, weiß nicht) Diagramm 6 zeigt die Ergebnisse der Mittelwerte für die gesamte Stichprobe. Der Vergleich macht augenfällig, dass Deutsch mit einem Mittelwert von 0,86 insgesamt klar besser bewertet wird als die übrigen drei Sprachen; Türkisch schneidet hier mit 0,39 am schlechtesten ab. 28 Diese Bewertungen sind relativ deutlich und sicher, es gibt bei diesem Fragenblock nur sehr wenig Ausfälle: Die Frage nach Deutsch wurde ausnahmslos von allen Schülern beantwortet, die Zahl der fehlenden Werte für das Türkische liegt bei nur 2,5 Prozent, für das Russische bei nur 3,7 Prozent; lediglich bei Polnisch ist der Wert mit 5,7 Prozent etwas höher. 27 Statistik: Welch F(3, 1072)=156,62, p<0,001, η 2 =0,15; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M D =2,14 (SE D =0,04), M Pol =3,33 (SE Pol =0,05), t(922)=17,56, p<0,001, r=0,50; M D =2,14 (SE D =0,04), M Tü =3,39 (SE Tü =0,07), t(845)=16,10, p<0,001, r=0,48; M D =2,14 (SE D =0,04), M Ru =3,2 (SE Ru =0,06), t(900)=−14,83, p<0,001, r=0,44. - Den statistischen Berechnungen (hier sowie bei den folgenden entsprechenden Diagrammen) liegen jeweils folgende Variablenwerte zugrunde: Sprachgefallen jeweils 1=„sehr gut“, 2=„gut“, 3=„teils/ teils“, 4=„schlecht“, 5=„sehr schlecht“; Stereotype jeweils 1=„sehr freundlich“/ „sehr gebildet“/ „sehr temperamentvoll“, 2=„freundlich“/ „gebildet“/ „temperamentvoll“, 3=„teils/ teils“, 4=„unfreundlich“/ „ungebildet“/ „ruhig“, 5=„sehr unfreundlich“/ „sehr ungebildet“/ „sehr ruhig“. Als Post-hoc-Tests werden bei der ANOVA der Bonferroni-Test und GT2 nach Hochberg und beim Welch-Test die Werte nach Games-Howell berechnet. Verwendete Abkürzungen: Nied=Niederrhein, Ma=Mannheim, D=Deutsch, nD=L-nur Deutsch, Pol=Polnisch bzw. L-Polnisch, Ru=Russisch bzw. L-Russisch, Tü=Türkisch bzw. L-Türkisch, tD=typischer Deutscher, tRu=typischer Russe, tTü=typischer Türke. 28 Die Werte für die anderen abgefragten Sprachen, die im Diagramm nicht abgebildet sind, liegen erwartungsgemäß sämtlich im positiven Bereich: Spanisch 1,37, Englisch 1,24, Italienisch 0,99 und Französisch 0,33. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 238 Die Mittelwerte geben bereits ein einigermaßen klar konturiertes Bild der Bewertung der untersuchten Sprachen. Allerdings wird durch diese Form der Darstellung bei extrem unterschiedlichem Antwortverhalten innerhalb der Gruppe eine etwaige Heterogenität verdeckt, weil positive und negative Antworten gewissermaßen miteinander verrechnet werden. Tatsächlich gibt es durchaus (wie bereits bei den bisherigen Analysen zu erkennen war) einen gewissen Grad an Heterogenität im Antwortverhalten der Schüler. Das zeigt ein Blick auf die Standardabweichungen zu den einzelnen Sprachen (Diagr. 7). Diagr. 7: Sprachgefallen/ Standardabweichungen Das Maß der Standardabweichung gibt an, wie hoch die Streuung aller Werte um den Mittelwert ist. Je „einiger“ sich die Befragten sind, desto niedriger fällt die Standardabweichung aus; je stärker die Antworten divergieren, desto höher ist die Standardabweichung. In Diagramm 7 sieht man, dass die Standardabweichung bei der Bewertung des Spanischen am niedrigsten ist; auch die Urteile über Englisch und Deutsch fallen relativ einhellig aus. Der Wert bei Französisch dagegen ist der zweithöchste. Dies passt zu den Antworten auf die Sympathie-Fragen (vgl. oben Diagr. 3 bzw. 4 und Tab. 4 bis 8), wo Spanisch und auch Englisch ja durchgängig positiv bewertet wurden, Französisch hingegen eher umstritten war. Hoch ist die Standardabweichung auch bei Polnisch, Russisch und Türkisch, d.h. hinter den ohnehin niedrigen Mittelwerten gibt es auch eine große Varianz im Antwortverhalten. Die unterschiedlich hohen Standardabweichungen legen nahe, die Daten nach Untergruppen weiter aufzuschlüsseln. Diagramm 8 bietet zunächst (analog zu Tab. 4) eine Differenzierung nach Erhebungsorten. Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 239 Diagr. 8: Sprachgefallen (nach Schulen) 29 Statistisch signifikant sind die Unterschiede zwischen den beiden Schulen am Niederrhein und der Mannheimer Schule bei Italienisch und Französisch, hochsignifikant sind sie bei Türkisch, das vom Durchschnitt der Mannheimer Schüler wesentlich weniger schlecht bewertet wird als von den Schülern vom Niederrhein (0,06 gegenüber 0,73). 30 Nach den Ergebnissen in Kapitel 3 und 4 ist zu erwarten, dass diesen Differenzen Effekte der Eigenbewertungen zugrunde liegen. In den Diagrammen 9 bis 12 werden daher die Antworten für die einzelnen Sprachen separat dargestellt, wobei wiederum jede Sprechergruppe gesondert ausgewiesen wird. Wie bereits die niedrige Standardabweichung (vgl. Diagr. 7) vermuten ließ, fallen die Antworten der einzelnen Teilgruppen recht ähnlich aus. Das Deutsche wird von den Schülern unabhängig von ihrer Erstsprache/ ihren Erstsprachen im Großen und Ganzen gleich bewertet, und zwar in gleicher Weise positiv; die Unterschiede sind nicht signifikant (Diagr. 9 auf der folgenden Seite). 29 Statistik: Spanisch: M Nied =1,64 (SE Nied =0,05), M Ma =1,62 (SE Ma =0,05), t(498)=0,29, n.s., r=0,01; Englisch: M Nied =1,79 (SE Nied =0,06), M Ma =1,73 (SE Ma =0,05), t(506)=0,71, n.s., r=0,03; Italienisch: M Nied =1,87 (SE Nied =0,06), M Ma =2,15 (SE Ma =0,07), t(499)=3,12, p<0,01, r=0,14; Französisch: M Nied =2,53 (SE Nied =0,08), M Ma =2,82 (SE Ma =0,09), t(496)=2,54, p<0,05, r=0,11; Russisch: M Nied =3,27 (SE Nied =0,08), M Ma =3,13 (SE Ma =0,08), t(485)=1,24, n.s., r=0,06; Polnisch: M Nied =3,4 (SE Nied =0,07), M Ma =3,27 (SE Ma =0,08), t(476)=1,24, n.s., r=0,06; Türkisch: M Nied =3,73 (SE Nied =0,08), M Ma =3,06 (SE Ma =0,1), t(464)=5,23, p<0,001, r=0,24. 30 Für Russisch und Polnisch gilt im Prinzip dasselbe, nur werden (wegen des durch das kleine N relativ hohen Standardfehlers) die Unterschiede nicht signifikant. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 240 Diagr. 9: Sprachgefallen Deutsch (nach Sprechern) 31 Ganz anders sieht die Situation bei den Minderheitensprachen aus. Diagramm 10 zeigt die Bewertungen für das Russische. Von denjenigen, die nur Deutsch als Erstsprache haben, wird Russisch leicht negativ bewertet (0,38); die Eigenbewertungen hingegen sind mit 1,92 klar positiv (und damit so hoch wie die keiner anderen Gruppe; vgl. unten Diagr. 13). Positiv wird Russisch, in einer Art innerslawischen Solidarität, auch von den Polnisch-Sprechern bewertet (mit 0,59), während der Wert der Türkisch-Sprecher leicht negativ ist (0,22). Diagr. 10: Sprachgefallen Russisch (nach Sprechern) 32 31 Statistik: ANOVA F(3, 417)=2,15, n.s., η 2 =0,02; Post-hoc-Tests: Keiner der Mehrfachvergleiche ist signifikant. 32 Statistik: Welch F(3, 58)=171,6, p<0,001, η 2 =0,13; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M nD =3,38 (SE nD =0,07), M Pol =2,41 (SE Pol =0,18), t(27)=4,98, p<0,001, r=0,69; M nD =3,38 (SE nD =0,07), M Ru =1,08 (SE Ru =0,08), t(38)=22,94, p<0,001, r=0,97; M Ru =1,08 Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 241 Diagr. 11: Sprachgefallen Polnisch (nach Sprechern) 33 Der Effekt der positiven Eigenbewertung zeigt sich auch sehr deutlich beim Polnischen. Denjenigen Schülern, die auch Polnisch sprechen, gefällt Polnisch gut (1,55), alle anderen bewerten es negativ. Das gilt auch für die Russisch-Sprecher (die sich also sozusagen nicht richtig revanchieren), deren Wert aber immerhin, abgesehen von den Polnisch-Sprechern selber, mit 0,14 der höchste ist (Diagr. 11). Russisch und Polnisch werden also insgesamt sehr ähnlich bewertet: von der jeweils eigenen Gruppe klar positiv, von allen anderen hingegen leicht negativ. Das Bild, das sich für die Bewertung des Türkischen ergibt, zeigt Diagramm 12 auf der folgenden Seite. Im Prinzip zeigt sich auch hier dasselbe Muster. Die Sprecher des Türkischen - und nur sie - bewerten das Türkische sehr positiv (mit 1,69), alle anderen Gruppen bewerten es negativ. Beim Russischen und Polnischen waren die Fremdbewertungen jedoch nur leicht negativ, hier sind sie klar negativ. Am wenigsten ablehnend äußern sich noch die Schüler mit nur Deutsch als Erstsprache (mit 0,86), noch einmal deutlich distanzierter urteilen die Polnisch- Sprecher (mit 1,05) und die Russisch-Sprecher (mit 1,15; dies ist der nied- (SE Ru =0,08), M Pol =2,41 (SE Pol =0,18), t(28)=6,74, p<0,001, r=0,79; M Ru =1,08 (SE Ru =0,08), M Tü =3,22 (SE Tü =0,15), t(81)=12,7, p<0,001, r=0,82; M Pol =2,41 (SE Pol =0,18), M Tü =3,22 (SE Tü =0,15), t(52)=3,43, p<0,01, r=0,43. 33 Statistik: ANOVA F(3, 394)=23,16, p<0,001, η 2 =0,15; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M nD =3,42 (SE nD =0,06), M Pol =1,45 (SE Pol =0,19), t(26)=9,56, p<0,001, r=0,88; M Ru =3,14 (SE Ru =0,29), M Pol =1,45 (SE Pol =0,19), t(34)=5, p<0,001, r=0,65; M Pol =2,41 (SE Pol =0,18), M Tü =3,22 (SE Tü =0,15), t(91)=7,85, p<0,001, r=0,64. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 242 rigste Wert überhaupt von allen Teilfragen und Teilgruppen). Türkisch scheint bei den Schülern in noch stärkerer Weise zu polarisieren, als dies bei den beiden anderen fokussierten Minderheitensprachen der Fall ist. Diagr. 12: Sprachgefallen Türkisch (nach Sprechern) 34 In Diagramm 13 sind noch einmal die jeweiligen Eigenbewertungen aus den Diagrammen 9 bis 12 gegenübergestellt. Diagr. 13: Sprachgefallen/ Vergleich der Eigenbewertungen 35 34 Statistik: Welch F(3, 37)=204,6, p<0,001, η 2 =0,48; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M nD =3,86 (SE nD =0,07), M Tü =1,31 (SE Tü =0,08), t(197)=24,45, p<0,001, r=0,87; M Ru =4,15 (SE Ru =0,30), M Tü =1,31 (SE Tü =0,08), t(14)=9,25, p<0,001, r=0,92; M Pol =4,05 (SE Pol =0,27), M Tü =1,31 (SE Tü =0,08), t(23)=9,84, p<0,001, r=0,90. 35 Statistik: Welch F(3, 50)=41,11, p<0,001, η 2 =0,12; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M Tü =4,69 (SE Tü =0,08), M nD =3,96 (SE nD =0,05), t(154)=7,49, p<0,001, r=0,52; M Pol =4,55 (SE Pol =0,19), M nD =3,96 (SE nD =0,05), t(325)=2,85, p<0,05, r=0,16; M Ru =4,92 (SE Ru =0,08), M nD =3,96 (SE nD =0,05), t(26)=10,27, p<0,001, r=0,90. Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 243 Man sieht sehr deutlich, dass die Eigenbewertungen derjenigen, die (auch) eine andere Erstsprache als Deutsch haben, wesentlich positiver ausfallen als die Eigenbewertungen derjenigen, die nur Deutsch als Erstsprache haben - wobei es aber in der generell positiven Bewertung des Deutschen einen breiten Konsens zu geben scheint, der keine Extrembewertungen der Eigengruppe erforderlich macht (vgl. Diagr. 9). Anders ist dies bei den Minderheitensprachen; sie leben gewissermaßen von den positiven Eigenbewertungen, die jeweils zugleich weitgehend isoliert sind. Der Wert der Russisch-Sprecher ist der höchste; die Unterschiede innerhalb dieser drei Gruppen sind jedoch statistisch nicht signifikant. 6. Sprecherstereotype Mit den in den bisherigen Kapiteln beschriebenen Fragen wurde versucht, die Einstellungen von Schülern zu anderen Sprachen direkt zu erfassen; die Ergebnisse geben ein einigermaßen klar konturiertes Bild. Allerdings ist durchaus zweifelhaft, dass derartige Antworten als Resultate intensiver sprachreflexiver Prozesse zu interpretieren sind; ebenso wenig kann man erwarten, dass sich die abgegebenen Urteile auf isoliert wahrgenommene und kontextfrei bewertete Sprachen beziehen. Da Sprache nicht isolierbar und nicht von ihren Sprechern zu trennen ist, ist davon auszugehen, dass die Aussagen der Schüler zumindest mitgesteuert sind durch den Rückgriff auf allgemeinere Konzepte, in denen die Sprachnamen mit bestimmten kulturellen Wissensbeständen und Stereotypen und eben auch mit Erfahrungen mit oder Vorstellungen von zugehörigen Sprechergruppen verbunden sind. Natürlich werden bei der Frage nach dem Sprachgefallen zwangsläufig auch - oder vielleicht sogar primär - andere Aspekte als nur die ohnehin schwer greifbare Ästhetik einzelner Systemebenen einer Sprache mitbewertet (was auch plausibel machen mag, dass die Frage nach dem Sprachgefallen für die Probanden offenbar leicht zu beantworten war). Die daraus resultierenden Unschärfen sind unvermeidlich; sie können jedoch gemildert werden, indem man die direkt sprach(en)bezogenen Fragen um ein komplementäres Set an sprecherbezogenen Fragen erweitert. In Ergänzung zu den in Kapitel 3 bis 5 vorgestellten Fragen wurde daher mit Hilfe von semantischen Differenzialen (nach Osgood/ Suci/ Tannenbaum 1957) nach einzelnen Sprecherstereotypen gefragt. Die Schüler sollten mehrere „typische“ Sprecher anhand von drei Eigenschaften bewerten. Dazu wurden ihnen fünfstufige bipolare Skalen, deren Pole durch antonyme Ad- Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 244 jektive bezeichnet waren, vorgelegt. Es handelt sich um die Merkmale freundlich/ unfreundlich, gebildet/ ungebildet und temperamentvoll/ ruhig. 36 Dabei stehen die Merkmale freundlich/ unfreundlich sowie temperamentvoll/ ruhig für die Stereotype konstituierende sogenannte „Wärme“-Kategorie, das Merkmal gebildet/ ungebildet gehört der „Status“-Kategorie an (vgl. Fiske et al. 2002). Die beiden erstgenannten Merkmale ( freundlich/ unfreundlich und gebildet/ ungebildet) spannen eine Skala auf, deren Pole sich hinsichtlich ihrer unterstellten sozialen Erwünschtheit klar in eine positive und eine negative Ausformung übersetzen lassen; hier ist eine eindeutige Wertung impliziert. Beim zweiten Merkmal der „Wärme“-Kategorie (temperamentvoll/ ruhig) ist dies anders: Beide Skalen-Enden können, je nach sozialem Kontext, als positive Eigenschaft gewertet werden. In Diagramm 14 auf der folgenden Seite sind die Mittelwerte 37 der drei abgefragten Eigenschaften für den „typischen Deutschen“, den „typischen Russen“ und den „typischen Türken“ dargestellt. Beim Merkmal freundlich/ unfreundlich liegen die Bewertungen für die drei typischen Sprecher am engsten beieinander; der „typische Deutsche“ wird mit 0,16 leicht positiv bewertet, der „typische Russe“ und der „typische Türke“ leicht negativ (0,04 bzw. 0,21). Dasselbe Grundmuster, jedoch stärker ausgeprägt, findet sich beim „Status“-Merkmal gebildet/ ungebildet; hier wird insbesondere der „typische Deutsche“ deutlich positiver (0,5) und der „typische Türke“ deutlich negativer (0,52) bewertet. Im nominell negativen Bereich liegt beim „typischen Deutschen“ lediglich das dritte Merkmal, temperamentvoll/ ruhig (0,16), wobei damit allerdings, anders als bei unfreundlich und ungebildet, keine sozial negative Zuschreibung verbunden sein muss. Umgekehrt ist dies auch dasjenige Merkmal, bei dem der „typische Russe“ (0,59) und stärker noch der „typische Türke“ (0,98) klar positiv bewertet werden. Es ist denkbar, dass es sich hier zumindest teilweise um eine kompensatorische Bewertung handelt. 38 36 Dieselben Differenziale sind bereits in der Repräsentativstudie in Bezug auf Dialektsprecher (der „typische Bayer“ und der „typische Sachse“) abgefragt worden; vgl. Plewnia/ Rothe (i.Dr.). 37 In den Diagrammen wird für „sehr freundlich (usw.)“ der Wert 2 gesetzt, für „freundlich (usw.)“ 1, für „teils/ teils“ 0, für „freundlich (usw.)“ 1 und für „sehr freundlich (usw.)“ 2. 38 Zum Phänomen kompensatorischer Ausgleichsbewertungen (etwa die Aufwertung in der „Wärme“-Kategorie nach Abwertung in der „Status“-Kategorie) vgl. z.B. Schoel/ Harris/ Stahlberg (u.B.), Yzerbit/ Provost/ Corneille (2005) sowie Judd et al. (2005). Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 245 Diagr. 14: Sprecherstereotype 39 Frage: Stelle dir nun typische Sprecher dieser Sprachen vor: der typische Deutsche (bzw. der typische Russe/ Italiener/ Türke/ Franzose). Wie freundlich (bzw. wie gebildet/ wie temperamentvoll) findest du den typischen Deutschen (bzw. den typischen Russen/ Italiener/ Türken/ Franzosen)? (Antwortmöglichkeiten jeweils: sehr freundlich, freundlich, teils/ teils, unfreundlich, sehr unfreundlich, weiß nicht bzw. sehr gebildet, gebildet, teils/ teils, ungebildet, sehr ungebildet, weiß nicht bzw. sehr temperamentvoll, temperamentvoll, teils/ teils, ruhig, sehr ruhig, weiß nicht) Für die Ermittlung der in Diagramm 14 abgebildeten Mittelwerte wurden die Antworten aller Schüler zugrunde gelegt. Auch hier ist natürlich mit Reflexen der Zusammensetzung der Stichprobe zu rechnen. Diagramm 15 auf der folgenden Seite zeigt die zugehörigen Standardabweichungen. Am niedrigsten ist die Standardabweichung mit einem Wert von 0,76 beim „Status“-Merkmal gebildet/ ungebildet in Bezug auf den „typischen Deut- 39 Statistik: freundlich: Welch F(2, 968)=14,75, p<0,001, η 2 =0,02; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M tD =3,16 (SE tD =0,04), M tRu =2,96 (SE tRu =0,05), t(975)=3,07, p<0,01, r=0,10; M tD =3,16 (SE tD =0,04), M tTü =2,79 (SE tTü =0,06), t(935)=5,33, p<0,001, r=0,17; gebildet: Welch F(2, 927)=159,67, p<0,001, η 2 =0,17; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M tD =3,5 (SE tD =0,03), M tRu =2,88 (SE tRu =0,04), t(952)=11,46, p<0,001, r=0,35; M tD =3,5 (SE tD =0,03), M tTü =2,48 (SE tTü =0,05), t(864)=16,93, p<0,001, r=0,50; M tRu =2,88 (SE tRu =0,04), M tTü =2,48 (SE tTü =0,05), t(923)=6,08, p<0,001, r=0,20; temperamentvoll: ANOVA F(2, 1406)=157,86, p<0,001, η 2 =0,18; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M tD =2,84 (SE tD =0,05), M tRu =3,59 (SE tRu =0,05), t(929)=−11,52, p<0,001, r=0,35; M tD =2,84 (SE tD =0,05), M tTü =3,98 (SE tTü =0,05), t(959)=17,13, p<0,001, r=0,48; M tRu =3,59 (SE tRu =0,05), M tTü =3,98 (SE tTü =0,05), t(924)=5,89, p<0,001, r=0,19. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 246 schen“; am höchsten ist sie mit 1,22 beim Merkmal freundlich/ unfreundlich in Bezug auf den „typischen Türken“. In der Tendenz gilt das auch für die übrigen Merkmale: Beim „typischen Deutschen“ ist die Standardabweichung niedriger, beim „typischen Türken“ (bei dem alle Werte über 1 liegen) ist sie höher, der „typische Russe“ liegt dazwischen. Diagr. 15: Sprecherstereotype/ Standardabweichungen Aufschlussreich ist es in diesem Zusammenhang auch, sich die Quote der fehlenden Antworten bzw. der Enthaltungen anzusehen. Bei allen Befragungen werden einzelne Fragen von einem gewissen Prozentsatz der Befragten nicht beantwortet. Die entsprechenden Werte sind in Diagramm 16 wiedergegeben. Diagr. 16: Sprecherstereotype/ Fehlende Werte Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 247 Die Werte unterscheiden sich einerseits entlang der drei Sprecherstereotype, andererseits entlang der drei abgefragten Merkmale. Für das Merkmal freundlich/ unfreundlich gibt es für alle Sprecher die niedrigsten Ausfallwerte (d.h. die Antwort „weiß nicht“ oder keine Angabe). Gewisse Schwierigkeiten haben die Schüler hingegen mit der Anwendung der Kategorie temperamentvoll/ ruhig; hier finden sich jeweils die höchsten Fehlwerte (zwischen 4,5 Prozent beim „typischen Deutschen“ und 11,2 Prozent beim „typischen Russen“). Die Bewertung des „typischen Deutschen“ bereitet offenbar die geringste Mühe; hier sind für die Merkmale freundlich/ unfreundlich und gebildet/ ungebildet fast keine und für das Merkmal temperamentvoll/ ruhig nur wenige Ausfälle (4,5 Prozent) zu verzeichnen. Etwas höher sind die Ausfälle beim „typischen Türken“ (zwischen 1,6 und 5,9 Prozent), am höchsten sind sie beim „typischen Russen“ (beim Merkmal freundlich/ unfreundlich geben 6,9 Prozent, bei den Merkmalen gebildet/ ungebildet und temperamentvoll/ ruhig 10,6 bzw. 11,2 Prozent keine Antwort). Für den „typischen Deutschen“ und auch für den „typischen Türken“ sind anscheinend bei den meisten Schülern zuverlässig abrufbare Konzepte vorhanden, während ein Bild des „typischen Russen“ bei vielen weniger stabil verankert zu sein scheint. 40 In den folgenden drei Diagrammen werden die Daten wieder nach Sprechergruppen aufgeschlüsselt; in Diagramm 17 sind die Bewertungen des „typischen Deutschen“ für die drei abgefragten Eigenschaften abgebildet. Diagr. 17: Sprecherstereotype: der „typische Deutsche“ 41 40 Eine ähnliche Beobachtung war beim Vergleich der Bewertung von Dialektsprechern in der Repräsentativerhebung zu machen; hier waren beim Vergleich von „typischem Deutschen“, „typischem Bayern“ und „typischem Sachsen“ die Ausfälle für den „typischen Sachsen“ besonders hoch (vgl. Plewnia/ Rothe i.Dr.). 41 Statistik: freundlich: ANOVA F(3, 414)=0,35, n.s., η 2 =0,003; Post-hoc-Tests: Keiner der Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 248 Der linke Säulenblock zeigt die Mittelwerte der Antworten für das Merkmal freundlich/ unfreundlich, der mittlere für gebildet/ ungebildet, der rechte für temperamentvoll/ ruhig. 42 Insgesamt unterscheiden sich die Bewertungen der einzelnen Gruppen nicht erheblich. Bei freundlich/ unfreundlich sind alle Mittelwerte leicht im positiven Bereich (von 0,05 bis 0,22), für gebildet/ ungebildet sind die Werte noch etwas höher (die Gruppe der Russisch-Sprecher weicht mit einem Wert von nur 0,07 etwas ab, leidet aber auch, weil sie relativ klein ist, unter einem höheren Standardfehler). Analoges gilt für temperamentvoll/ ruhig, wo die Werte, diesmal leicht im nominell negativen Bereich, ebenfalls sehr eng beieinander liegen (0,06 bis 0,23). Das Bild des „typischen Deutschen“ ist also, zumal wenn man die geringe Zahl der fehlenden Werte mitberücksichtigt (vgl. Diagr. 16), insgesamt ziemlich konsensuell. Bei den Bewertungen des „typischen Russen“ (Diagr. 18) gibt es hingegen auffällige Unterschiede. Diagr. 18: Sprecherstereotype: der „typische Russe“ 43 Mehrfachvergleiche ist signifikant; gebildet: ANOVA F(3, 412)=1,96, n.s., η 2 =0,01; Posthoc-Tests: Keiner der Mehrfachvergleiche ist signifikant; temperamentvoll: Welch F(3, 37)=0,24, n.s., η 2 =0,002; Post-hoc-Tests: Keiner der Mehrfachvergleiche ist signifikant. 42 „D“: Schüler, die nur Deutsch als Erstsprache angeben, „R“: Schüler, die (auch) Russisch als Erstsprache angeben, „P“: Schüler, die (auch) Polnisch als Erstsprache angeben, „T“: Schüler, die (auch) Türkisch als Erstsprache angeben. 43 Statistik: freundlich: ANOVA F(3, 386)=8,43, p<0,001, η 2 =0,06; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M nD =3,19 (SE nD =0,06), M Ru =1,93 (SE Ru =0,20), t(292)=4,42, p<0,001, r=0,25; M Ru =1,93 (SE Ru =0,20), M Tü =3,03 (SE Tü =0,12), t(86)=3,94, p<0,01, r=0,39; gebildet: ANOVA F(3, 368)=10,98, p<0,001, η 2 =0,08; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M nD =3,2 (SE nD =0,05), M Ru =1,93 (SE Ru =0,29), t(276)=5,37, p<0,001, r=0,31; M Ru =1,93 (SE Ru =0,29), M Pol =2,91 (SE Pol =0,13), t(18)=3,12, p<0,01, Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 249 Hier sieht man sehr deutlich den Effekt der Eigenbewertungen, der auch bei den Sprachsympathiefragen bereits zum Tragen kam. Von der Gruppe der Schüler mit nur Deutsch als Erstsprache wird der „typische Russe“ auf der Skala von freundlich bis unfreundlich leicht im Negativen gesehen (mit 0,19), während die Russisch-Sprecher selbst den „typischen Russen“ entschieden für freundlich halten (mit einem Mittelwert von 1,07). Nur von den Polnisch-Sprechern kommt auch eine verhalten positive Bewertung (0,36), während die Türkisch-Sprecher distanzierter urteilen (0,03). Ähnlich sieht es beim Merkmal gebildet/ ungebildet aus, nur dass die Heterostereotype hier noch etwas stärker in den negativen Bereich reichen (bis 0,25 bei den Türkisch-Sprechern). Einzig beim Merkmal temperamentvoll/ ruhig sind Eigen- und Fremdbewertungen ähnlich gerichtet. Schon bei den Fragen zu Sprachsympathie und Sprachgefallen war erkennbar, dass die Sprachen der Migrationsminderheiten generell einen schweren Stand haben und dass dies im besonderen Maße für das Türkische gilt (vgl. oben Diagr. 12). Dieser Sachverhalt zeigt sich auch sehr deutlich bei der Bewertung der Sprecherstereotype. Diagramm 19 bildet die Bewertungen für den „typischen Türken“ nach Sprechergruppen ab. Diagr. 19: Sprecherstereotype: „der typische Türke“ 44 r=0,59; M Ru =1,93 (SE Ru =0,29), M Tü =3,25 (SE Tü =0,10), t(84)=5,17, p<0,001, r=0,49; temperamentvoll: ANOVA F(3, 363)=4,57, p<0,01, η 2 =0,04; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M nD =2,33 (SE nD =0,06), M Tü =2,71 (SE Tü =0,11), t(329)=2,88, p<0,05, r=0,16; M Ru =1,86 (SE Ru =0,23), M Tü =2,71 (SE Tü =0,11), t(77)=−3,19, p<0,05, r=0,34. 44 Statistik: freundlich: ANOVA F(3, 408)=64,10, p<0,001, η 2 =0,32; signifikante Post-hoc- Tests und entsprechende t-Tests: M nD =3,48 (SE nD =0,06), M Tü =1,77 (SE Tü =0,1), t(140)=14,64, p<0,001, r=0,78; M Ru =3,93 (SE Ru =0,29), M Tü =1,77 (SE Tü =0,1), t(91)=8,09, p<0,001, r=0,64; Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 250 Das Muster für den „typischen Türken“ ähnelt im Prinzip demjenigen für den „typischen Russen“, mit dem Unterschied allerdings, dass die Distanzen zwischen Eigenbewertungen und Fremdbewertungen bei den Merkmalen freundlich/ unfreundlich und gebildet/ ungebildet erheblich größer sind, weil die Fremdbewertungen noch entschiedener im negativen Bereich liegen. 45 Der Vergleich der Diagramme 18 und 19 zeigt, dass die einzelnen Gruppen mit einem sehr unterschiedlichen Prestige ausgestattet sind und dass auch das Verhältnis der Minderheiten untereinander nicht symmetrisch ist. Der „typische Deutsche“ bekommt einvernehmlich von allen Gruppen eine tendenziell positive Bewertung. Klare Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdbewertungen gibt es hingegen beim „typischen Russen“ und beim „typischen Türken“. Der „typische Russe“ wird (bezogen auf die Fremdbewertungen) leicht, der „typische Türke“ klar negativ bewertet. Insbesondere gibt es eine Asymmetrie innerhalb der Minderheiten. Besonders negative Bewertungen erfährt der „typische Türke“ von den Russisch- und den Polnisch-Sprechern, d.h. die Russisch- und die Polnisch- Sprecher bewerten den „typischen Türken“ noch einmal deutlich negativer, als die Türkisch-Sprecher den „typischen Russen“ bewerten. Diagramm 20 auf der folgenden Seite bietet noch einmal eine Gegenüberstellung der Eigenbewertungen. Im linken Balkenblock sind die Mittelwerte der Bewertungen des „typischen Deutschen“ durch die Schüler, die nur Deutsch als Erstsprache haben, aufgetragen, im mittleren die Bewertungen für den „typischen Russen“ durch die Russisch-Sprecher und im rechten die Bewertungen für den „typischen Türken“ durch die Türkisch-Sprecher. Die beiden Minderheitengruppen zeigen eine höhere Eigengruppenloyalität als die Nur-Deutsch-Sprecher; sie bewerten jeweils sich selber deutlich besser, als die Nur-Deutsch-Sprecher den „typischen Deutschen“ bewerten. (Der Unterschied zwischen den Russisch-Spre- M Pol =3,73 (SE Pol =0,23), M Tü =1,77 (SE Tü =0,1), t(99)=−8,69, p<0,001, r=0,66; gebildet: ANOVA F(3, 396)=53,63, p<0,001, η 2 =0,29; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M nD =3,68 (SE nD =0,05), M Tü =2,29 (SE Tü =0,12), t(362)=11,81, p<0,001, r=0,53; M Ru =4,14 (SE Ru =0,28), M Tü =2,29 (SE Tü =0,12), t(90)=6,10, p<0,001, r=0,54; M Pol =4,14 (SE Pol =0,19), M Tü =2,29 (SE Tü =0,12), t(98)=7,52, p<0,001, r=0,60; temperamentvoll: Welch F(3, 40)=7,93, p<0,001, η 2 =0,06; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M nD =2,01 (SE nD =0,06), M Tü =1,58 (SE Tü =0,09), t(358)=3,58, p<0,001, r=0,19; M Ru =2,57 (SE Ru =0,29), M Tü =1,58 (SE Tü =0,09), t(89)=4,07, p<0,05, r=0,40. 45 Dabei ist das Muster sogar stabiler, weil es beim „typischen Türken“ insgesamt weniger fehlende Werte gibt (vgl. Diagr. 16) und weil auch dadurch, dass die Teilgruppe der Türkisch- Sprecher größer ist, der Standardfehler bei den Eigenbewertungen geringer ausfällt. Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 251 chern und den Türkisch-Sprechern beim Merkmal gebildet/ ungebildet wird statistisch nicht signifikant; das ist auf den relativ hohen Standardfehler bei der Gruppe der Russisch-Sprecher zurückzuführen.) Diagr. 20: Sprecherstereotype/ Vergleich der Eigenbewertungen 46 7. Die verschiedenen Sprachen Sprachen sind verschieden. Diese Feststellung, zu deren Beweis es lediglich der Evidenz des Augenscheins bedarf, ist an sich trivial; sie hat jedoch Weiterungen, wenn man sich bewusst macht, dass die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus nicht nur beispielsweise Gegenstand grammatisch-typologischen Interesses ist, sondern auch bestimmte alltagsweltliche und damit soziale Implikationen trägt. Sprache ist immer ein sehr starkes Unterscheidungs-, das heißt - im Wortsinne - Diskriminationsmerkmal; als solches wird sie von Sprechern genutzt. Sprachen haben ein unterschiedliches soziales Prestige; der Frage, wie sich die verschiedenen Prestigelagen in Deutschland verteilen, sind wir in diesem Beitrag nachgegangen. Die Ergebnisse lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 46 Statistik: freundlich: ANOVA F(2, 394)=44,13, p<0,001, η 2 =0,18; signifikante Post-hoc- Tests und entsprechende t-Tests: M Tü =4,23 (SE Tü =0,10), M nD =3,22 (SE nD =0,05), t(381)=8,96, p<0,001, r=0,42; M Ru =4,07 (SE Ru =0,20), M nD =3,22 (SE nD =0,05), t(316)=3,52, p<0,01, r=0,19; gebildet: Welch F(2, 32)=2,73, n.s., η 2 =0,02; signifikante Post-hoc-Tests: Keiner der Mehrfachvergleiche ist signifikant; temperamentvoll: ANOVA F(2, 383)=87,47, p<0,001, η 2 =0,31; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: M Tü =4,42 (SE Tü =0,09), M nD =2,94 (SE nD =0,06), t(370)=12,70, p<0,001, r=0,55; M Ru =4,14 (SE Ru =0,23), M nD =2,94 (SE nD =0,06), t(307)=4,71, p<0,001, r=0,26. Albrecht Plewnia / Astrid Rothe 252 1) Von den zirka 5 000 bis 6 000 Sprachen der Welt ist für die Sprecher in Deutschland nur ein sehr kleiner Teil - einige Dutzend - kognitiv und sozial relevant. Für diese wenigen Sprachen zeigt sich allerdings bezüglich des Prestiges ein ziemlich klares Muster. Bei der im Rahmen unseres Projekts durchgeführten Repräsentativumfrage werden auf die offene Frage nach sympathischen fremdsprachigen Akzenten dominant die Sprachen der großen (west-)europäischen Nachbarn des Deutschen (Französisch, Italienisch, Englisch, Spanisch) genannt; bei den unsympathischen Akzenten entfällt eine größere Zahl von Nennungen auf Russisch, Türkisch und Polnisch. Dieses Muster bestätigt sich grosso modo bei den von uns befragten Schülern. 2) Zu ganz ähnlichen Ergebnissen führt bei den befragten Schülern auch die Aufforderung, eine Reihe vorgegebener Sprachen zu bewerten; besonders schlecht schneiden wiederum die Sprachen der größeren Migrantengruppen ab. Dasselbe Muster erbringt die Frage nach Sprecherstereotypen: der „typische Deutsche“ wird im Schnitt positiv, der „typische Türke“ im Schnitt negativ bewertet. 3) Differenziert man die Antworten nach Sprechergruppen, zeigt sich ein mehrschichtiges Bild. Einerseits sind die Selbstbewertungen durchgängig positiv. Andererseits gelten die Negativstereotype, die die Mehrheitsgruppe gegenüber den einzelnen Minderheiten zeigt (die Deutsch-Sprecher bewerten die Türkisch- und die Russisch-Sprecher negativ), auch für gerade diese Minderheiten (d.h. auch die Türkisch-Sprecher bewerten die Russisch- Sprecher negativ und umgekehrt). Die am stärksten negativen Bewertungen entfallen konsequent auf das Türkische bzw. den „typischen Türken“. Diese Befunde, nach denen insbesondere den beiden größten Sprachminderheiten in Deutschland, den Sprechern des Russischen und des Türkischen, durchgängig (außer bei ihren jeweiligen Eigengruppen) ein sehr geringes Prestige zuerkannt wird, sind zwar in Bezug auf die Schüler-Daten nicht repräsentativ, aber dennoch aufschlussreich und in der Tendenz zweifellos aussagekräftig. Beispielsweise wird so unmittelbar plausibel, warum etwa Vorstöße zur Einrichtung deutsch-türkischer Gymnasien (nach dem Vorbild der sehr erfolgreichen - und prestigeträchtigen - deutsch-französischen Gymnasien) in weiten Teilen der Bevölkerung auf ein sehr verhaltenes Interesse stoßen. Welche integrations- oder bildungspolitischen Konsequenzen nun aus diesen Daten zu ziehen wären, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten. Eine kohärente Sprachenpolitik sollte sie jedenfalls berücksichtigen. Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 253 8. Literatur Eichinger, Ludwig M. et al. 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Schoel, Christiane/ Harris, Nora/ Stahlberg, Dagmar (unter Begutachtung): Heartiness as compensation for lacking competence? - The underlying motives of attitudes towards standard and non-standard language speakers. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2010): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund - Ergebnisse des Mikrozensus 2009. (= Fachserie 1, Reihe 2.2). Wiesbaden. Yzerbyt, Vincent/ Provost, Valérie/ Corneille, Olivier (2005): Not competent but warm ... really? Compensatory stereotypes in the French-speaking World. In: Group Processes & Intergroup Relations 8, 3, S. 291-308. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Die ethnografisch-soziostilistische Fallstudie bietet einen umfassenden Einblick in die Lebenswelt, die sozialen Orientierungen und das Ausdrucksverhalten junger Migrantinnen in Mannheim, die sich „türkische Powergirls“ nennen. Die ethnografische Beschreibung des Migrantenstadtteils bildet den Rahmen für die Rekonstruktion des Entwicklungsprozesses von der ethnischen Jugendclique zu einer Gruppe sozial erfolgreicher junger Frauen. Dieser Prozess ist typisch für junge Migrantinnen in Deutschland, die in Auseinandersetzung mit relevanten Bezugswelten, der Welt der türkischen Gemeinschaft und der Welt der deutschen (Bildungs-)Institutionen, einen eigenständigen Weg zu finden versuchen. Das Selbstbild, das die Mädchen in diesem Prozess entwickeln, bildet die Bezugsgröße für ihren Kommunikationsstil. Der zentrale Teil des Buches beschreibt diesen Stil, den derb-drastischen Umgangston, den schnellen Wechsel zwischen Deutsch und Türkisch und den virtuosen Gebrauch verschiedener Varietäten zum symbolischen Verweis auf soziale Kategorien und zeigt, wie sich der Stil im Prozess des Erwachsenwerdens und in Reaktion auf neue Lebensumstände und (Bildungs-)Anforderungen allmählich verändert. Inken Keim Die »türkischen Powergirls« Lebenswelt und kommunikativer Stil einer Migrantinnengruppe in Mannheim Studien zur deutschen Sprache, Band 39 2., durchges. Auflage 2008, 498 Seiten, €[D] 39,00/ SF r 66,00 ISBN 978-3-8233-6446-7 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BESTELLEN! Ibrahim Cindark Migration, Sprache und Rassismus Der kommunikative Sozialstil der Mannheimer „Unmündigen“ als Fallstudie für die „emanzipatorischen Migranten“ Studien zur deutschen Sprache, Band 51 2010, 283 Seiten, €[D] 72,00/ SFr 121,00 ISBN 978-3-8233-6518-1 In der vorliegenden Arbeit wird mit ethnografischen, gesprächsanalytischen und gesprächsrhetorischen Methoden der kommunikative Sozialstil der „emanzipatorischen Migranten“ untersucht. Ein wesentliches Kennzeichen dieses Milieus von Migranten der zweiten Generation ist, dass seine Akteure offensiv und provokativ mit Rassismen umgehen und sich nicht ethnisch (als „Türken“, „Italiener“, „Griechen“ etc.) definieren. Des Weiteren betrachten sie - neben der dominanten Verwendung des Deutschen als gruppeninterner Kommunikationssprache - (deutsch-türkisches) Code-switching und Code-mixing als wichtigen Ausdruck ihrer migrantischen Identität. Da Potenziale und Konturen von Stilen erst im Kontrast eindeutig hervortreten, werden diese Befunde mit der kommunikativen Praxis einer anderen Sozialwelt von Migranten der zweiten Generation verglichen, derjenigen der „akademischen Europatürken“. Hierbei zeigt sich, dass dieses sich ethnisch und als „Elite“ der türkischen Migranten definierende Milieu moderat auf Diskriminierungen reagiert und deutsch-türkische Sprachvariation als Ausdruck von ,Halbsprachigkeit‘ ablehnt. 085410 Auslieferung Oktober 2010.indd 26 25.10.10 10: 18 Die Frage, wie unter den Bedingungen sich ändernder demographischer Verhältnisse einerseits europäische Mehrsprachigkeit, andererseits Zuwanderung und Integration - individuell und kollektiv - erfolgreich organisiert werden können, ist eine der europäischen Schlüsselfragen. Sprache ermöglicht im Integrationskontext nicht nur den entscheidenden Zugang, sie ist auch einer der wichtigsten Identitätsträger: Will man etwas wissen über die Bedingungen und Möglichkeiten von Integration, dann ist das Wissen um die primären sprachlichidentitären Verortungen der Menschen die Basis dafür. Von Interesse ist dabei nicht nur die Zielsprache der Mehrheitsgesellschaft, sondern sind auch die jeweiligen Erstsprachen. Die spezifischen sprachlichen Kompetenzen von Menschen mit Migrationshintergrund werden gegenwärtig kaum wahrgenommen, geschweige denn genutzt - weder in Programmen zur sprachlichen Integration noch auf dem Arbeitsmarkt oder als Vorteil für die einheimische Wirtschaft. Hier liegt jedoch viel individuelles wie gesamtgesellschaftliches Potenzial. In diesem Band wird die gegenwärtige Situation in Deutschland mit derjenigen in Ländern mit prominenten Mehrsprachigkeitskonstellationen (von der Schweiz bis Indien) kontrastiert.