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Heirat und Migration aus der Türkei

2012
978-3-8233-7633-0
Gunter Narr Verlag 
Inken Keim
Necmiye Ceylan
Sibel Ocak
Emran Sirim

Seit dem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte 1973 gehört die Migration in Verbindung mit einer Heirat zur wichtigsten Form der türkischen Zuwanderung. Sie kann viele unterschiedliche Gründe haben. Der vorliegende Band bietet eine ethnografisch-soziolinguistische und biografieanalytische Pilotstudie zu diesem noch wenig erforschten gesellschaftlichen Bereich, der in den letzten Jahren in den Fokus sozial- und bildungspolitischer Debatten kam. Die Autorinnen zeichnen ein differenziertes, vielgestaltiges Bild über die Lebensrealität türkischer Frauen, das in maximalem Kontrast zu gängigen Stereotypen und Vorurteilen steht und einen Beitrag zur Versachlichung der Integrationsdiskussion leisten kann.

Inken Keim / Necmiye Ceylan Sibel Ocak / Emran Sirim Heirat und Migration aus der Türkei Biografische Erzählungen junger Frauen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 5 8 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 58 Inken Keim / Necmiye Ceylan Sibel Ocak / Emran Sirim Heirat und Migration aus der Türkei Biografische Erzählungen junger Frauen Redaktion: Franz Josef Berens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Tröster/ Volz, Mannheim Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6633-1 Inhalt Inken Keim Zum Zustandekommen der Studie und zur Anlage des Buches ............. 11 1. Bezug zur gegenwärtigen Diskussion über Zuwanderung und Integration ........................................................ 11 2. Zustandekommen der Studie........................................................... 13 3. Zur Anlage des Buches ..................................................................... 16 4. Literatur ............................................................................................ 20 Teil I Inken Keim Zu Theorie und Methode unserer Studie: Der biografische Ansatz in Verbindung mit Ethnografie und Gesprächsanalyse............................... 23 1. Zum ethnografischen Ansatz ........................................................... 23 2. Zum biografischen Ansatz ............................................................... 25 2.1 Verschränkung von Biografie und Sozialwelt in biografischen Erzählungen ........................................................................................ 26 2.2 Erlebte und erzählte Lebensgeschichte............................................... 29 2.3 Lebensgeschichte als Selbstpräsentation ............................................ 30 2.4 Einzelfall und Verallgemeinerung ...................................................... 31 3. Identitätsbezogene Erzählforschung............................................... 32 4. Datenerhebungsmethoden ............................................................... 34 5. Untersuchungsdesign unserer Studie.............................................. 37 5.1 Auswahl der Informantinnen und Spezifik der Gesprächssituation.............................................................................. 37 5.2 Datenerhebung: Offenes Interview..................................................... 38 5.3 Einbezug weiterer Daten .................................................................... 40 5.4 Analyse des „doing biography“ .......................................................... 41 5.4.1 Fragen der Analyse ...................................................................... 41 5.4.2 Analysekonzepte ......................................................................... 42 6. Literatur ............................................................................................ 46 Inhalt 6 Teil II Inken Keim Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand... 53 0. Einleitung .......................................................................................... 53 1. Gesetzliche Grundlagen der Heiratsmigration nach Deutschland ....................................................................................... 57 2. Heiratsmigration aus der Türkei nach Deutschland ..................... 59 2.1 Heiratsmigration, Zwangsheirat und Ehrenmord in öffentlichen Diskursen ............................................................................................ 62 2.2 Wissenschaftliche Untersuchungen .................................................... 69 2.3 Arrangierte Ehen................................................................................. 72 3. Konsequenzen der Heiratsmigration für Frauen und Männer....................................................................................... 78 4. Deutsch-türkische transnationale Ehen in Mannheim.................. 82 4.1 Motive für die Migration: Perspektive der Heiratsmigrantinnen ........................................................................... 85 4.2 Motive für die Heirat mit einer Migrantin: Perspektive der deutsch-türkischen Männer und ihrer Familien.................................. 86 4.3 Motive für die Heirat mit einem Migranten: Perspektive der deutsch-türkischen Frauen und ihrer Familien ................................... 88 4.4 Verfahren der Eheanbahnung.............................................................. 89 5. Leben in Deutschland ....................................................................... 91 5.1 Migrantinnen in der Ehe mit einem Deutsch-Türken ......................... 91 5.1.1 Leben in der Schwiegerfamilie ..................................................... 91 5.1.2 Leben getrennt von der Schwiegerfamilie ...................................... 94 5.2 Deutsch-Türkinnen in der Ehe mit einem Migranten ......................... 94 6. Die „glückliche Ehe“ zwischen einer Deutsch-Türkin und einem Mann aus der Türkei............................................................. 95 7. Literatur .......................................................................................... 100 Inhalt 7 Teil III Inken Keim Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen - Ehe-Arrangement zwischen einer Deutsch-Türkin und einem „Importmann“........................................................................................... 105 1. Gegenstand und Ziel....................................................................... 105 2. Yeliz' Leben vor der Ehe: Selbstdarstellung als eigenständige, bildungsbewusste junge Frau ........................................................ 110 3. Kennenlernen des Mannes ............................................................. 115 4. Heirat: der Sprung ins kalte Wasser .............................................. 123 5. Die Schwiegerfamilie ...................................................................... 131 6. Konsequenzen der Heirat: der „Importmann“ ........................... 135 6.1 Das Leben als „Importmann“ ........................................................... 136 6.2 Interaktive Herstellung des „Importmannes“ ................................... 137 7. Hintergründe zum Zustandekommen der Heirat........................ 141 7.1 Die Perspektive der Frau .................................................................. 141 7.2 Die Perspektive des Mannes............................................................. 145 7.3 Motive für die Heirat ........................................................................ 147 8. Eheliche Situation .......................................................................... 152 8.1 Distanzierung vom erlebten Heiratsverfahren .................................. 153 8.2 Heirat unter Druck ............................................................................ 156 8.3 Typizität des Auswegs für den Mann: Abhauen ............................... 160 8.4 Typizität des Auswegs für die Frau: Frei-werden durch Scheidung ............................................................................... 162 9. Fazit.................................................................................................. 163 10. Literatur .......................................................................................... 165 Inhalt 8 Teil IV Emran Sirim Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen - Scheitern des traditionellen Ehemodells ................................................. 169 1. Gegenstand und Ziel....................................................................... 169 2. Verlobung und Eheschließung....................................................... 171 2.1 Verlobt ohne gefragt zu werden........................................................ 174 2.2 Die Verlobungszeit und Heirat.......................................................... 186 3. Leben in Deutschland ..................................................................... 189 3.1 Charakterisierung der Schwiegereltern ............................................ 189 3.2 Die Rolle der Schwiegertochter........................................................ 195 4. Das Eheleben: Unerfüllte Wünsche .............................................. 200 5. Das Scheitern der Ehe .................................................................... 205 5.1 Die Affäre ......................................................................................... 205 5.2 Gönüls Reaktion ............................................................................... 208 6. Fazit.................................................................................................. 213 7. Literatur .......................................................................................... 214 Teil V Sibel Ocak Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist - Migration und die Entscheidung für ein paarbezogenes Familienmodell.......................................................................................... 217 1. Gegenstand und Ziel....................................................................... 217 2. Sevims Leben in einer wohlhabenden patriarchalischen Familie ............................................................................................ 218 2.1 Die behütete und unselbständige Tochter ......................................... 219 2.2 Die traditionelle Orientierung in Bezug auf Heirat .......................... 223 2.2.1 Ortsgebundenheit: Der Partner soll aus derselben Region kommen ........................................................................ 223 2.2.2 Ehe-Arrangement mit Vermittlerinnen ........................................ 224 2.2.3 Heiratsantrag und Eheschließung: Meine Hochzeitsfeier war klein und vornehm ..................................................................... 228 Inhalt 9 3. Erste Begegnung mit einer Heiratsmigrantin: Herstellung eines maximalen Kontrasts ............................................................ 237 4. Selbstpositionierung in Kontrast zu typischen Schwiegertöchtern .......................................................................... 247 5. Leben in der Migration .................................................................. 251 5.1 Anfangsschwierigkeiten und Trennungsschmerz ............................. 251 5.2 Sevims Blick auf die Deutschen ....................................................... 255 5.3 Das soziale Leben der jungen Familie.............................................. 258 6. Fazit.................................................................................................. 260 7. Literatur .......................................................................................... 262 Teil VI Necmiye Ceylan Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle - der kritische Blick auf Türken und Deutsche............... 267 1. Gegenstand und Ziel....................................................................... 267 2. Herkunft aus einer bildungsorientierten und „modernen“ Familie ............................................................................................. 269 3. Leben vor der Migration................................................................ 279 4. Heirat aus „Liebe“.......................................................................... 283 4.1 Das Kennenlernen des Paares........................................................... 283 4.2 Das „Versprechen“ des Paares .......................................................... 287 4.3 Die Hochzeit ..................................................................................... 291 5. Leben in Deutschland nach der Heirat......................................... 295 5.1 Sanems Sicht auf die Migrantengemeinschaft.................................. 296 5.2 Sanems Sicht auf und ihre Erfahrung mit Deutschen....................... 297 5.2.1 Nichtanerkennung der beruflichen Qualifikation .......................... 297 5.2.2 Der stereotype Blick der Deutschen ............................................ 300 5.2.3 Der Wall zwischen Deutschen und Migranten .............................. 304 6. Ethnografische Beschreibung der „typischen türkischen Heiratsmigrantin“ .......................................................................... 308 6.1 Bezeichnungen.................................................................................. 308 6.1.1 „Typische Türken“ .................................................................... 308 6.1.2 Ithal gelin (‘Importbraut’) und ithal damat (‘Importbräutigam’) ... 309 Inhalt 10 6.2 Merkmale des Stereotyps „typische Heiratsmigrantin“ bzw. ithal gelin (‘Importbraut’) ........................................................ 310 6.2.1 Merkmale, die auf die Herkunft aus der Türkei bezogen sind: Die Sicht von Türkei-Türken und Deutsch-Türken ....................... 310 6.2.2 Merkmale, die auf das Leben in Deutschland bezogen sind: Die Sicht von Deutsch-Türk(inn)en und Deutschen ...................... 311 7. Literatur .......................................................................................... 314 Teil VII Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim ................................................. 319 1. Ausgangspunkt................................................................................ 319 2. Idee zu einem Praxisprojekt .......................................................... 322 3. Projektdurchführung ..................................................................... 323 3.1 Informationsveranstaltungen zu den von den Frauen gewünschten Themenbereichen.............................................................................. 324 3.2 Deutschunterricht.............................................................................. 325 3.3 Probleme der Eltern .......................................................................... 326 3.4 Unternehmungen und Ausflüge ........................................................ 328 4. Die Teilnehmerinnen und ihre Kinder.......................................... 330 4.1 Die Frauen ........................................................................................ 330 4.2 Die Kinder ........................................................................................ 331 4.2.1 Das Türkische ........................................................................... 331 4.2.2 Das Deutsche ............................................................................ 331 4.3 Gelungene Kooperation zwischen Migranteneltern und einer Sprachförderlehrerin ......................................................................... 332 5. Evaluation des Programms ............................................................ 335 6. Ungelöste Probleme ........................................................................ 337 7. Literatur .......................................................................................... 339 Anhang: Transkriptionskonventionen .................................................... 343 Inken Keim Zum Zustandekommen der Studie und zur Anlage des Buches 1. Bezug zur gegenwärtigen Diskussion über Zuwanderung und Integration Seit dem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte 1973 gehört die Migration in Verbindung mit einer Heirat zur wichtigsten Form der türkischen Zuwanderung. Sie ist durch das Grundgesetz gesichert und wird über das Gesetz zur Familienzusammenführung geregelt. Die Migration durch Heirat hat viele Gründe: z.B. die Hoffnung auf wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg, der Wunsch nach Zusammenführung von (Groß-)Familien, die Liebe zu einem Partner oder das mangelnde Angebot an Partnern in der eigenen Lebenswelt. Bis zur Verabschiedung des Zuwanderergesetzes 2005 wurden von deutscher Seite keine integrativen Leistungen von den Zuwandernden gefordert, wie z.B. Deutschkenntnisse, Kenntnisse über die rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, Kenntnisse über das Schulsystem etc., und von deutscher Seite aus gab es keine ausreichenden Eingliederungsmaßnahmen und -angebote. So entstanden in den letzten 30-40 Jahren in vielen deutschen Städten Migrantenlebenswelten, die auf die Selbstorganisation des täglichen Bedarfs und auf die Aufrechterhaltung und Fortentwicklung mitgebrachter Werte und Traditionen hin orientiert waren. Auf Seiten der deutschen Gesellschaft wurden die entstehenden Migrantenlebenswelten entweder unter dem Label einer „Multi-Kulti-Gesellschaft“ gefasst oder sie wurden als „fremde Welten“ misstrauisch beobachtet. Da die offizielle Politik darauf nicht reagierte bzw. unter dem Motto „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ Einbürgerung und Integration für lange Zeit zu Tabuthemen machte, konnte sich keine verantwortliche gesellschaftspolitische Diskussion über das zukünftige Bild einer Gesellschaft entwickeln, in der fast ein Drittel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat und Menschen aus vielen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen und Traditionen friedlich und produktiv zusammen leben sollen. 1 Der von konservativen Politikern beschworene Nationalstaat mit einer nur fiktiven kulturellen und sozialen Homogenität kann nicht als Modell für eine „neue“ Gesellschaft dienen, ebenso wenig wie das von der Politik viel zu lange praktizierte „laissez-faire“. Da die notwendige öffentliche Diskussion dar- 1 In Mannheim z.B. gibt es derzeit etwa 170 Sprachen. Inken Keim 12 über, wie eine „neue“ Gesellschaft aussehen könnte und wie die berechtigten Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigt werden könnten, lange Zeit nicht stattfand bzw. nicht stattfinden konnte, scheint sie sich derzeit mit Macht Bahn zu brechen. Was wir tagtäglich über mangelnde Integrationsbereitschaft und Intergrationsverweigerung, über fehlende Bildung und das Ausnützen sozialer Systeme etc. in den Medien hören und lesen, sind vor allem stark vereinfachende, schrille, ideologisch aufgeladene und generalisierende Behauptungen über muslimische Migranten. Ein vorläufiger Höhepunkt der Erregung wurde im August 2010 durch das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin erreicht, der eine Reihe realer Missstände benennt und damit enttabuisiert, der jedoch sachlich verkürzte oder falsche Erklärungen liefert und ausgrenzende, diffamierende Lösungen nahelegt. 2 Aus unserer Perspektive ist das Erschreckende nicht so sehr das Buch an sich, sondern sein Erfolg und die Reaktion, die es in Öffentlichkeit und Politik auslöste: Es erreichte in kurzer Zeit eine Millionenauflage, es gab Tausende von Zustimmungen zu Sarrazins Thesen in Leserbriefen, Interneteintragungen, Buchbesprechungen und in der jüngsten repräsentativen Umfrage eine 55 prozentige Zustimmung zu seinen Thesen. 3 Von politischer Seite gab es ausgrenzende und populistische Äußerungen; das jüngste Beispiel ist die Forderung von CSU -Parteichef Seehofer: „keine Zuwanderung mehr aus anderen Kulturkreisen“. 4 2 Vgl. Sarrazin (2010). Als Beispiel für eine besonders diffamierende, unbelegte Behauptung aus diesem Buch: „Ganze Clans haben eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behinderungen. Es ist bekannt, dass der Anteil der angeborenen Behinderungen unter den türkischen und kurdischen Migranten weit überdurchschnittlich ist. Aber das Thema wird gern totgeschwiegen. Man könnte ja auf die Idee kommen, dass auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich sind.“ (Sarrazin 2010, S. 316). Außerdem diskutiert er eine Eroberung Deutschlands durch die höhere Fertilität türkischer und arabischer Familien. Dass sich türkischstämmige Familien in der Migration an die Geburtenrate des Aufnahmelandes angeglichen haben, nimmt er nicht zur Kenntnis; vgl. dazu u.a. Klaus (2008). 3 Vgl. Mannheimer Morgen, 10.10.2010, S. 15, Artikel „Unsere Türken“. Darin heißt es, dass nach einer repräsentativen Umfrage des Allensbach-Instituts 55% der Befragten der Meinung sind, dass „muslimische Migranten sozial und finanziell wesentlich mehr gekostet als wirtschaftlich gebracht haben“ und stimmen Sarrazins Ausführungen zu. Lediglich ein Fünftel zieht eine positive Bilanz der Migration. Besonders groß ist die Skepsis dort, wo es kaum Ausländer gibt, in Ostdeutschland. Während in zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen Sarrazins Thesen zu muslimischen Migrant(inn)en widerlegt werden, hat er in der öffentlichen Debatte nach wie vor großen Erfolg. 4 Vgl. den Artikel im Mannheimer Morgen, 11. Oktober 2010, S. 1. Hier heißt es: „Keine Türken und Araber mehr nach Deutschland: Mit der Forderung nach einem Zuwanderungsstopp für Ausländer aus fremden Kulturkreisen hat CSU - Chef Horst Seehofer die Integrationsdebatte angeheizt. [...] Seehofer sagte dem Magazin „Fokus“: „Es ist doch klar, dass sich Zum Zustandekommen der Studie und zur Anlage des Buches 13 Das von uns vorgelegte Buch wurde weit vor der aktuellen Diskussion um die mangelnde Integration von muslimischen Migranten geplant und geschrieben. Eines unserer Ziele war, gegen in der deutschen Gesellschaft weit verbreitete Stereotypen und Vorurteile über Migrantinnen vorzugehen, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen und ihnen Gelegenheit zu geben, ihre biografischen Erfahrungen und ihre Sicht auf das Leben in der Migration darzustellen. Doch durch die gegenwärtige emotional aufgeheizte Debatte erhält unsere Studie eine zusätzliche Aktualität. Wir können einen substanziellen Beitrag zur Versachlichung und Entemotionalisierung der Diskussion über Zuwanderung und Integration leisten, da unsere qualitative Studie und das gewählte Untersuchungsdesign - Ethnografie und biografische Interviews - das Potenzial haben, einen Einblick in die Heterogenität der Welt der Migration zu ermöglichen, die Biografie sehr unterschiedlicher Frauen, ihre Relevanzen und Handlungsorientierungen zu rekonstruieren und ihren Blick auf die umgebenden Lebenswelten zu erfassen. Auf diese Weise ist es möglich, ein differenziertes Bild über das Leben der Frauen in der Migration zu zeichnen und die Vielschichtigkeit biografischer Erfahrungen aufzuzeigen. Auf der Basis des aufgezeichneten Gesprächsmaterials können wir mit Methoden der Biografie- und Gesprächsanalyse rekonstruieren, wie die Informantinnen ihr Leben vor der Migration sahen, was ihre Motive zur Migration waren, wie sie den Umbruch erlebten und verarbeiteten, mit welchen Problemen sie in der Migration konfrontiert sind und mit welchen Mitteln und Verfahren sie sie täglich zu meistern versuchen. Das empirische Vorgehen und die analytischen Methoden ermöglichen aspektreiche biografische Rekonstruktionen, zeigen Hintergründe, Handlungsorientierungen und Lebensbrüche auf und führen zu umfassenden, mehrperspektivischen Beschreibungen von Lebenswegen, aktuellen Lebenslagen und Planungen für die Zukunft. Das Ergebnis ist ein differenziertes, vielgestaltiges Bild über die Lebensrealität der Frauen, das in maximalem Kontrast zu gängigen Stereotypen und Vorurteilen steht, und - so hoffen wir - einen Beitrag zur Versachlichung der Integrationsdiskussion leisten wird. 2. Zustandekommen der Studie Seit dem Erscheinen der PISA -Studien (2001) wird in der Bildungsdiskussion in Deutschland immer wieder der alarmierend schlechte Bildungsstand von Kindern aus türkischstämmigen Familien thematisiert. Als wesentlicher Grund dafür wird u.a. die Bildungsferne der Eltern hervorgehoben, vor allem dann, wenn die Frau als Heiratsmigrantin nach Deutschland kam, kein Deutsch Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun.“ Inken Keim 14 spricht und das Kind schulisch nicht unterstützen kann. In Bildungsdebatten werden Vorschläge zur Verbesserung der Situation gemacht und in einer Reihe von Praxis-Projekten, die z.T. von Stiftungen getragen werden, 5 gibt es Anstrengungen, die Mütter zu schulen. 6 Ziel dieser Anstrengungen ist nicht nur der Deutschunterricht, sondern auch die Heranführung der Mütter an Schulstandards und die Vermittlung von Wissen darüber, was von den Kindern in der Schule erwartet wird. Im Zuge dieser Bewegung zur Qualifizierung von Migrantenmüttern hatten auch wir die Gelegenheit, ein Praxisprojekt zu entwickeln, das auf die Unterrichtung von türkischen Müttern ausgerichtet war und aus EU -Mitteln finanziert wurde. Von 2006-2008 führten wir - Necmiye Ceylan, Emran Sirim und ich - das Projekt „Fortbildung türkischer Mütter“ durch. An dem Projekt nahmen ca. 40 junge Frauen mit kleinen bzw. schulpflichtigen Kindern teil. Die Frauen waren als Heiratsmigrantinnen nach Mannheim gekommen und lebten zwischen 2 und 15 Jahren in Mannheim in einem Stadtgebiet mit einem hohen Migrantenanteil (zur Beschreibung des Projektes und der Projektdurchführung vgl. den Beitrag von Ceylan/ Sirim/ Keim i.d.Bd.). Im Laufe des Projekts entstanden zu den Frauen enge persönliche Kontakte. Wir lernten Frauen kennen, die nicht dem in der anhaltenden öffentlichen Diskussion verbreiteten stereotypen Bild einer Heiratsmigrantin entsprachen, die eingesperrt, isoliert und unglücklich lebt. Wir erlebten z.T. sehr selbständige, lernmotivierte Frauen, die sich mit der Familien- und Lebenssituation in Deutschland intensiv auseinandersetzten und große Anstrengungen unternahmen, um ihre Kinder schulisch voranzubringen. Wir erlebten auch Frauen, die über ihr unglückliches Leben in der Schwiegerfamilie bzw. ihre unglückliche Ehesituation klagten und begierig waren, sich aus den bedrückenden Lebensverhältnissen zu lösen. Diese Frauen waren besonders motiviert, Deutsch zu lernen, um den Lebensunterhalt für sich und die Kinder verdienen zu können. Unser Interesse an der Thematik ‘transnationale Ehen bzw. Heiratsmigration’ entstand im Zuge dieses Praxisprojekts. Unsere Motive für die Durchführung der Studie waren, einen empirisch basierten Einblick in die Normalität des 5 Im Mannheimer Raum sind das vor allem die Freudenberg- und die Heinrich-Vetter- Stiftung. 6 Vgl. die in Mannheimer Kindergärten durchgeführten Projekte „Mama lernt Deutsch“, „Sprache macht stark“, und die Unterstützung von Eltern im Rahmen der Sprachförderung für Erstklässler, die in dem von der Heinrich-Vetter-Stiftung getragenen Sprachförderprojekt für Schulanfänger stattfindet. Informationen zu diesen Sprachförderprogrammen sind bei der Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit (Leitung Prof. Tracy) an der Universität Mannheim erhältlich. Zum Zustandekommen der Studie und zur Anlage des Buches 15 Alltags und die Erfahrungen von türkischen Heiratsmigrantinnen zu erhalten. Uns interessierten vor allem folgende Aspekte: - Welche Formen transnationaler Ehen gibt es und wie sind die Lebens- und Familienverhältnisse? - Was sind die Hintergründe und Voraussetzungen, die junge Frauen aus der Türkei dazu veranlassen, ihren Lebensraum zu verlassen und einen Mann zu heiraten, über den sie wenig wissen? - Wie verarbeiten sie die durch die Migration bedingte Umbruchsituation und - wie ist ihre Sicht auf die neue Lebenswelt? Wir sammelten mediale und wissenschaftliche Informationen zur Heiratsmigration aus der Türkei und führten Gespräche mit Personen, die a) in ihrem Lebensumfeld transnationale Ehen kannten; und b) beruflich mit über Heirat migrierten Frauen und Männern zu tun hatten, mit Personen aus Verwaltung, Bildung und Sozialtherapie (Behördenvertreter(innen), Lehrkräfte, Sozialpädagog(inn)en, Therapeut(inn)en etc.). Dann führten wir Gespräche mit Heiratsmigrantinnen aus unseren Kursen und regten im Rahmen des Unterrichts Diskussionen über Erfahrungen im Zuge der Migration und über das Leben in Deutschland an. Viele der Frauen lebten mit Mann und Kindern bei den Schwiegereltern, andere lebten getrennt von der Schwiegerfamilie. Im Laufe der Gruppendiskussionen konnten wir viel über den Alltag der Frauen erfahren, über ihre Aufgaben und Pflichten in der Schwiegerfamilie, ihre Beziehung zu den Schwiegereltern und zu ihren Männern, über ihre Sorgen wegen der Kinder, ihren Ärger mit Behörden und ihre Wünsche nach Kontakten mit Deutschen. Auf der Basis der gesammelten Informationen aus medialen Darstellungen und wissenschaftlichen Untersuchungen, des lebensweltlich erworbenen Wissens von Necmiye Ceylan, Sibel Ocak und Emran Sirim über die Migrantengemeinschaft in Mannheim, 7 unserer ethnografischen Interviews und unserer Beobachtungen aus den Kursen konnten wir uns einen Überblick zur Heiratsmigration verschaffen und ein ethnografisches Panorama zur Situation in Mannheim entwerfen (vgl. meinen Beitrag, Teil II). Aus den Kursen wählten wir Informantinnen aus, deren Lebens- und Migrationsgeschichte wir auf der Basis des gewonnenen ethnografischen Wissens als kontrastierende Fälle fassten: einerseits gebildete Frauen aus gut situierten 7 Necmiye Ceylan, Emran Sirim und Sibel Ocak gehören zur zweiten und dritten Migrantengeneration in Deutschland, sind hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und haben hier Germanistik studiert und abgeschlossen. Sie arbeiten z.Zt. im Bildungsbereich mit Migranteneltern und -kindern. Inken Keim 16 Familien, die vor der Migration ein anspruchsvolles (Berufs-)Leben geführt hatten, aus Liebe zu ihrem Mann nach Deutschland migrierten und in Mannheim getrennt von der Schwiegerfamilie leben; andererseits Frauen aus ärmlichen Verhältnissen, deren Familie eine Ehe mit einem Deutschtürken arrangiert hatte in der Hoffnung, dass es der Tochter in Deutschland besser als im Herkunftsort in der Türkei ergehen werde; in solchen Familien lebt das junge Paar in der Regel zusammen mit den Schwiegereltern. Zwischen diesen beiden Kontrasttypen gibt es viele Mischformen. Wir baten Frauen, die wir grob dem einen oder anderen Typ zuordnen konnten, um ein Gespräch, in dem wir sie über die Geschichte ihrer Migration befragen wollten: über das Leben vor der Migration, die Entscheidung zur Heirat und das Leben in der Migration. In den Beiträgen von Necmiye Ceylan, Sibel Ocak und Emran Sirim (Teil IV- VI) stellen wir drei der Frauen vor; die Gespräche führten die Autorinnen in Türkisch. Komplementär zu den Heiratsmigrantinnen und ihrer Lebenssituation interessierte uns dann auch die Situation von deutsch-türkischen Frauen, die einen Mann aus der Türkei geheiratet hatten. Wir wollten etwas über die Hintergründe und Motive erfahren, die die in Mannheim sozialisierten Frauen dazu veranlassten, einen „Importmann“ aus der Türkei zu heiraten, und wir wollten auch etwas über ihre aktuelle Lebenslage erfahren. Deutsch-Türkinnen, die mit einem Mann aus der Türkei verheiratet sind, fanden wir über ein „Schneeballsystem“. Wir sprachen Freundinnen oder Bekannte von uns an und über diese wurden uns weitere Frauen vermittelt. Die Gespräche mit den Deutsch-Türkinnen führte ich in Deutsch; zwei der Frauen werden von mir in Teil II, Kap. 6 und Teil III vorgestellt. Dass wir nur Frauen auswählten, war zum einen durch den Zugang zum „Feld“ über unser Bildungsprojekt bedingt, das sich gezielt an Frauen richtete; zum anderen geschlechtsbedingt, da uns als Frauen der Zugang zu weiblichen Informantinnen leichter und ergiebiger erschien. 3. Zur Anlage des Buches Die vorliegende Studie ist eine ethnografisch-soziolinguistische und biografieanalytische Pilotstudie zu einem noch wenig erforschten gesellschaftlichen Bereich, der in den letzten Jahren in den Fokus sozial- und bildungspolitischer Debatten kam. In Teil I skizziere ich unseren theoretischen und methodischen Ansatz und stelle unser Untersuchungsdesign dar. In Teil II führe ich in den Gegenstandsbereich ein, die Migration aus der Türkei infolge von Eheschließungen, und gebe eine ethnografische Panoramadarstellung der Situation in Zum Zustandekommen der Studie und zur Anlage des Buches 17 Mannheim. Im Anschluss werden fünf Frauen im Alter zwischen Anfang und Ende 30 vorgestellt. In Teil II, Kap. 6 beginne ich mit der Darstellung der Deutsch-Türkinnen. Die erste Informantin ist eine zufriedene, beruflich sehr erfolgreiche Frau, die ihren Mann aus der Türkei selbst wählte. Das Paar lebt derzeit in gesicherten Verhältnissen in einem Vorort von Mannheim. Die familiäre Situation ist exemplarisch für eine gelungene transnationale Verbindung. Die von mir in Teil III vorgestellte Informantin lebt in einer wenig „glücklichen“ Ehe und ist zur Zeit unseres Gesprächs in einer Phase, in der sie nach einem für alle Beteiligten akzeptablen Weg aus ihrer Ehe sucht. In ihrem Fall werden die Widersprüche zwischen dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben einerseits und den Anforderungen aus einer traditionellen Herkunftsfamilie andererseits sehr deutlich. Die Informantin lässt sich zur Heirat überreden und stimmt mit „der Idee des Aussteigens“ einer arrangierten Ehe mit einem Mann aus der Türkei zu. Der Prozess der Ehe-Anbahnung verläuft unwürdig und bei der Hochzeitsfeier wird ihr schockartig klar, dass sie sich in ein inakzeptables Arrangement hat treiben lassen, das für beide Partner zur Katastrophe wird. Diese Erkenntnis motiviert sie auf eine Scheidung hinzuarbeiten mit dem Ziel, endlich „frei“ zu leben. Aus ihrer Sicht ist dazu der Umweg über Ehe und Scheidung notwendig, da es in ihrer Lebenswelt viel eher akzeptiert wird, dass eine geschiedene Frau (mit oder ohne Kind) alleine lebt, als eine unverheiratete. In den Teilen IV-VI werden die Heiratsmigrantinnen vorgestellt: zunächst eine Frau, die früh verheiratet wurde, seit einiger Zeit getrennt von ihrem Mann lebt und in einer Lebensphase ist, in der sie versucht mit zwei ihrer Kinder ein finanziell unabhängiges und selbständiges Leben zu führen (Beitrag von Emran Sirim); dann zwei Frauen, die mit ihrem Familienleben zufrieden sind und sich in einer Phase der intensiven Auseinandersetzung befinden mit einerseits der türkischen Gemeinschaft in Mannheim (die Beiträge von Sibel Ocak und Necmiye Ceylan) und andererseits der deutschen Gesellschaft, von der sie abgelehnt und ausgeschlossen werden (Beitrag von Necmiye Ceylan). Obwohl die familiären, sozialen und individuellen Voraussetzungen der Heiratsmigrantinnen sehr unterschiedlich sind, gibt es thematische Bereiche, die für alle mehr oder weniger relevant sind: - die Auseinandersetzung mit verschiedenen Familienmodellen und die Suche nach einer befriedigenden individuellen Lösung; - die Auseinandersetzung mit der türkischen Migrantengemeinschaft und - die Auseinandersetzung mit der deutschen Umwelt. Inken Keim 18 Die erstgenannte Thematik spielt vor allem bei den von Emran Sirim und Sibel Ocak vorgestellten Informantinnen eine Rolle (Teil IV und V). Für beiden Frauen, die aus traditionellen Familien kommen, die in einem engen Familienverbund leben, bedeutet Migration der Übergang von einer Großfamilie (aus ländlichen oder städtischen Regionen) in eine türkischstämmige Familie in Deutschland. Der entscheidende Unterschied zu ‘normalen’ Umbrüchen, wie sie für junge Frauen in traditionellen Familien mit der Heirat verbunden sind, ist, dass sie in der Migration ohne den Rückhalt ihrer Herkunftsfamilie auskommen müssen; sie stehen ihrem neuen Umfeld ‘alleine’ gegenüber. Sie müssen sich mit neuen Lebensformen auseinandersetzen, wie z.B. die von Sibel Ocak vorgestellte Informantin (Teil V), die aus einer wohlhabenden patriarchalisch organisierten Familie kommt. Gegen den Willen des Vaters entscheidet sie sich für die Heirat nach Deutschland, mit der die Loslösung aus der väterlichen Obhut und Vormundschaft und die Entscheidung für Eigenverantwortung verbunden sind. Die Neuorientierung fällt ihr schwer; lange Zeit pendelt sie zwischen alten, auf die Großfamilie bezogenen, und neuen Lebensformen, bis es ihr gelingt, eigenständig und ohne Einbindung in übergreifende verwandtschaftliche Strukturen zu leben. Oder die Migrantinnen müssen sich mit traditionellen Regeln ihrer Schwiegerfamilie und mit Widersprüchen zwischen individuellen Bedürfnissen und dem gelebtem (kollektivistischen) Familienmodell auseinandersetzen, wie z.B. die von Emran Sirim vorgestellte Informantin (Teil IV). Sie stammt aus einer traditionellen Familie und wurde ohne ihr Wissen mit einem türkischstämmigen Mann in Deutschland verlobt. Für die Informantin war das traditionelle Familienmodell, das in erster Linie der Erfüllung sozial-ökonomischer Bedürfnisse (Nachkommen und Altersversorgung) dient, selbstverständlich; sie kannte nichts anderes. Sie fügte sich in die Rolle der traditionellen Schwiegertochter, ordnete sich den Regeln der Schwiegerfamilie unter und sicherte sich so das wirtschaftliche Überleben. Eine Veränderung setzte bei ihr ein, als sie individuelle Bedürfnisse entdeckte, die in diesem Modell nicht befriedigt werden konnten. Die Ehe scheiterte und die Trennung geschah unter dramatischen Umständen. Danach findet die Informantin für sich und ihre Kinder eine neue Lebensform, die an ihren individuellen Bedürfnissen orientiert ist. Die Auseinandersetzung mit der türkischstämmigen Migrantengemeinschaft führen die Informantinnen, die sich in der Türkei den gebildeten städtischen Milieus zuordnen. Exemplarisch dafür sind die beiden von Sibel Ocak und Necmiye Ceylan vorgestellten Frauen (Teil V und VI). Sie distanzieren sich scharf von den aus ländlichen Regionen stammenden (Heirats-)Migrant(inn)- Zum Zustandekommen der Studie und zur Anlage des Buches 19 en, die sie als „rückständig“ beurteilen und deren Werte, Normen und Lebensstil sie in maximalen Kontrast zu den eigenen setzen, vor allem in Bezug auf folgende Aspekte: städtische Herkunft, eigenständige Wahl des Ehepartners (im Kontrast zur arrangierten Ehe), Motiv zur Migration (der verständnisvolle, unterstützende Mann, nicht die wirtschaftliche Not); höhere Bildung, gehobene Lebensweise und der Wille zur Integration in Deutschland. Diese beiden Informantinnen thematisieren auch die deutsche Umwelt und die Auseinandersetzung mit deutschen Institutionen und Bildungseinrichtungen. Während die Informantin aus Teil V (Beitrag von Sibel Ocak) bisher vor allem positive Erfahrungen gemacht hat und (über ihren Mann) gute Kontakte zu Deutschen unterhält, fokussiert die Informantin aus Teil VI (Beitrag von Necmiye Ceylan) negative Erfahrungen. Aus einer politisch-emanzipatorischen Perspektive beklagt sie, dass die Bildungsinstitutionen die Fähigkeiten von Migrantenkindern nicht erkennen und nicht genügend unterstützen; sie bedauert die mangelnde Bereitschaft von Deutschen, Kontakte zu Migranten zu pflegen, obwohl diese nach Kontakten suchen; und sie sieht sich als Heiratsmigrantin immer wieder mit negativen Stereotypen konfrontiert, die sie metaphorisch als undurchdringbaren „Wall von Vorurteilen“ beschreibt. Im letzten Kapitel stellen wir, Necmiye Ceylan, Emran Sirim und ich, unser Praxisprojekt „Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen“ vor, beschreiben die Konzeption und Durchführung unserer Fortbildungsveranstaltungen und berichten über unsere Erfahrungen mit den Kursteilnehmerinnen, über ihre Voraussetzungen, ihre Lernmotivation und ihre Lernerfolge. Ein wichtiges Ergebnis dieses Projekts ist unsere Erkenntnis, dass die Verbesserung der Lernleistungen der Kinder zusammen mit den Eltern gelingen kann; und dass es einer intensiven, vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrenden bedarf, in der beide Parteien gleichsinnig an der Erziehung des Kindes beteiligt sind. In unserem Projekt gelang das durch die bilingualen Kursleiterinnen, die gleichzeitig auch an der Sprachförderung für Kinder beteiligt waren. Sie konnten sich mit den Müttern verständigen, ihr Denken und ihre Erziehungsvorstellungen verstehen und sie behutsam zu neuen Einsichten führen. Dadurch, dass sich die Frauen als gleichwertige Partner behandelt fühlten und mit den Lehrenden ‘an einem Strang zogen’, verbesserten sich in kurzer Zeit Lernmotivation und Leistungen der Kinder. Unser Buch richtet sich an alle, die mit Fragen der Migration durch Heirat befasst sind, an Lehrende (an Schulen und Hochschulen), Studierende, Sozialpädagog(inn)en, Angestellte kommunaler Behörden und Einrichtungen, Inken Keim 20 Sozial- und Migrationspolitiker(innen) etc.; es richtet sich darüber hinaus an Interessierte (mit oder ohne Migrationshintergrund), die etwas über eine Bevölkerungsgruppe und deren Lebensverhältnisse, Sichtweisen und Schwierigkeiten erfahren wollen, die ihnen bisher eher fremd war. Wir haben uns bemüht, allgemeinverständlich zu schreiben und (mit Ausnahme von Teil I) fachspezifische Termini zu vermeiden. 4. Literatur Klaus, Daniela (2008): Sozialer Wandel und Geburtenrückgang in der Türkei. Wiesbaden. Oberndörfer, Dieter (2007): Einwanderungsland Deutschland: Worüber reden wir eigentlich? In: Frech, Siegfried/ Meier-Braun, Karl-Heinz (Hg.): Die offene Gesellschaft. Zuwanderung und Integration. Schwalbach/ Ts., S. 59-88. Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München. Teil I Inken Keim Zu Theorie und Methode unserer Studie: Der biografische Ansatz in Verbindung mit Ethnografie und Gesprächsanalyse Als theoretischen und methodischen Ausgangspunkt für die Anlage unserer qualitativen Studie wählten wir den ethnografischen Ansatz in Verbindung mit der Biografie- und identitätsbezogenen Erzählforschung. Die Analyse des aufgezeichneten Gesprächsmaterials erfolgte mit den in Gesprächsanalyse und Gesprächsrhetorik entwickelten Analyseinstrumentarien unter Einbezug von Konzepten, die in verschiedenen Ausprägungen der Interaktionsanalyse (soziologisch, linguistisch-gesprächsanalytisch, psychologisch) entwickelt wurden. Das werde ich im Folgenden darstellen. 1. Zum ethnografischen Ansatz Eine geeignete Methode zur Erfassung der sozial-kulturellen Zusammenhänge, in denen Interaktionsbeteiligte leben, und in denen sie die Wissensbestände erwerben, auf die sie bei der interaktiven Bedeutungsherstellung rekurrieren, ist die Ethnografie. 1 Durch die Ethnografie erhält der Forscher Einblick in möglichst viele Lebensbereiche, Ereignisse, Situationen, Strukturen und Prozesse einer sozialen Welt und kann aus der Perspektive der Angehörigen einer sozialen Welt ihre Kultur und Wertorientierungen erfassen. 2 Mit dem ethnografischen Ansatz ist es möglich, Interaktionen in größeren gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen zu erfassen und sie in ihrer Relevanz, Typizität und Repräsentativtiät zu bestimmen (vgl. dazu Deppermann 2000, S. 105ff.). Ziel einer ethnografischen Beschreibung ist, eine fremde Kultur in ihrer Normalität und inneren Logik zu begreifen und darzustellen, ein Bild der Gesellschaft „von innen“ zu liefern und die Handlungen der Gesellschaftsmitglie- 1 Sie wurde von Gumperz/ Hymes (Hg.) (1964, 1972) in der soziolinguistischen Forschung etabliert. Für die Autoren bildet Ethnografie die Basis der Soziolinguistik und der sozialen Bedeutungsanalyse. In interaktionalen Arbeiten in Großbritannien wurde sie zur linguistischen Ethnografie weiterentwickelt (vgl. Rampton et al. 2004) und in Deutschland zu einer ethnografischen Konversationsanalyse (vgl. Deppermann 2000) bzw. zu einer ethnografisch basierten und konversationsanalytisch ausgerichteten Soziostilistik; vgl. die IDS -Publikationen zu „Kommunikation in der Stadt“, Kallmeyer (Hg.) (1994), Keim (1995), Schwitalla (1995) und zu den Migrantenprojekten, Keim (2008), Cindark (2010). 2 Einen guten Einblick in die ethnografische Forschung und ethnografische Praxis gibt Honer (1993). Inken Keim 24 der aus deren Perspektive zu beschreiben. Bei der ethnografischen Arbeit hat der Forscher zwei Anforderungen zu erfüllen: Er muss die kulturelle Distanz zu den Fremden überwinden und sich gleichzeitig von den ihm vertrauten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern distanzieren. 3 Beide Aspekte gehören zum methodisch kontrollierten Fremdverstehen; es setzt einen kontrollierten Umgang mit dem eigenen Vorverständnis voraus, das in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand „Schicht um Schicht abgetragen werden muss“ (Bergmann 1987, S. 6). Der ethnografische Forschungsansatz setzt eine intime Vertrautheit des Untersuchenden mit der untersuchten sozialen Welt und eine langfristige Teilnahme an Alltagshandlungen der Angehörigen dieser Welt voraus. Zentrale Erhebungsmethoden sind die teilnehmende Beobachtung, die Audio- und Videodokumentation natürlicher Interaktionsereignisse und das ethnografische Interview. 4 Mit dem ethnografischen Ansatz ist es möglich, Interaktionen in größeren gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen zu erfassen und sie in ihrer Typizität, Repräsentativität und Relevanz zu bestimmen. Die teilnehmende Beobachtung umfasst stärker teilnehmende ebenso wie stärker aus der Distanz beobachtende Verfahren. Wichtige Erkenntnisquellen sind die Reaktionen des Forschers auf die fremde Welt; er ist Teilnehmer und reagiert immer auch aus seiner kulturell verankerten Perspektive. Seine Schwierigkeiten im Umgang mit dem Neuen können Einsichten in die eigene und die fremde Kommunikationspraxis und die dazu gehörenden Regeln des Sprechens liefern. Neben der teilnehmenden Beobachtung wird das ethnografische Interview eingesetzt, in dem den Interviewten viel Raum eingeräumt wird, ihre Sicht auf die eigene Welt, auf Normen und Werte, auf relevante Andere und auf die Beziehung zwischen sich selbst und relevanten Anderen darzulegen. Um ein möglichst perspektivenreiches Bild über die zu erforschende Welt zu erlangen, ist die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven auf ein Ereignis oder einen Sachverhalt notwendig. Dazu müssen einerseits verschiedene Perspektiven der Akteure erfasst und Unterschiede herausgearbeitet, andererseits auch die Perspektivenunterschiede zwischen Beobachter und 3 Vgl. dazu die Beiträge in Hirschauer/ Amann (1997). 4 Die analytischen Foki und die Vorgehensweise bei der Datenerhebung werden in Auseinandersetzung mit den konkreten Felderfahrungen entwickelt und der Untersuchende muss „vor Ort“ untersuchungspraktische Fragen wie Zugang zum und Rolle im „Feld“, Qualität der Beziehung zu den Untersuchten, Möglichkeiten der Datenaufnahme u.Ä. entscheiden. Zu Theorie und Methode unserer Studie 25 Beobachteten ebenso wie zwischen verschiedenen Beobachtern berücksichtigt werden. 5 Ergebnis einer Ethnografie sind einerseits Panoramadarstellungen der ausgewählten sozialen Welt, die Einsichten in soziale Schauplätze, soziale Netzwerke, soziale Kategorien und in soziale Orientierungen, Normen und Werte geben; andererseits soziale Porträts von typischen Milieus, Gruppen oder Kategorien dieser Sozialwelten. 6 In unserer Studie haben wir eine ethnografische Panoramadarstellung der Heiratsmigration in Mannheim erstellt (vgl. Teil II, Kap. 4-6). Die in den Beiträgen von Inken Keim, Emran Sirim, Sibel Ocak und Necmiye Ceylan (Teil III-VI) dargestellten Fälle können als eine Art Porträt ausgewählter (kontrastierender) Typen von Heiratsmigrantinnen bzw. von durch Heiratsmigration betroffenen Menschen betrachtet werden. Es werden Ausschnitte ihrer Biografie, die Verarbeitung biografischer Erfahrungen, die aktuelle Sicht auf ihre Lebenswelt, die Selbstverortung in Relation zu relevanten Anderen und ihr in der aktuellen Gesprächssituation beobachtbares Kommunikations- und Interaktionsverhalten beschrieben. 2. Zum biografischen Ansatz Unter ‘biografischer Forschung’ werden in den Sozialwissenschaften alle Ansätze gefasst, die als Datengrundlage Lebensgeschichten haben, d.h. Darstellungen der Lebensführung, Lebenserfahrung und Lebensbilanzierung aus der Perspektive dessen, der über sein Leben erzählt. Die Biografieforschung ist ein qualitativer Forschungsansatz in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen (Geschichtswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Ethnologie, Psycho- und Soziolinguistik und in der Migrationsforschung) und wird vor allem in For- 5 Das Erfassen und Berücksichtigen unterschiedlicher Perspektiven wird als „Perspektiventriangulation“ bezeichnet. Dabei geht es sowohl um den Vergleich von Daten, die aus unterschiedlichen Perspektiven stammen, als auch von Daten aus unterschiedlichen Phasen der Feldarbeit und aus unterschiedlichen Erhebungsverfahren, z.B. aus der Tonund/ oder Videodokumentation eines Ereignisses bei der teilnehmenden Beobachtung und aus späteren Berichten oder Erzählungen bei einem ethnografischen Interview, die das Ereignis in einen größeren biografischen oder sozial-historischen Zusammenhang bringen. Durch die Kombination von Beobachtungen aus verschiedenen Perspektiven und aus unterschiedlichen Datenquellen kann der Beobachtungsgegenstand aspektreich und vielgestaltig beschrieben werden. Zentral für die Validität ethnografischer Untersuchungen ist die Ausrichtung auf die methodologischen Prinzipien, die für qualitative Forschung charakteristisch sind; vgl. dazu Kallmeyer (2005). 6 Zu ethnografischen Panorama-Darstellungen und Sozialporträts vgl. Kallmeyer (Hg.) (1994), (Hg.) (1995); Keim (1995); Schwitalla (1995). Inken Keim 26 schungsarbeiten eingesetzt, die danach fragen, „wie Individuen angesichts eines [...] immer schwerer überschaubaren sozialen Wandels historische und institutionelle Umbrüche verarbeiten und wie sie historische Prozesse aktiv mitgestalten“ (Völter et al. (Hg.) 2009, S. 7). In der Biografieforschung kommt Individuelles und Gesellschaftliches gleichermaßen in den Blick. Vor allem aber lassen sich fremde Kulturen und Erfahrungen aus der Perspektive der Handelnden oder Erleidenden durch biografisches Material typischer Vertreter dieser Kulturen erschließen. Außerdem eignet sich biografische Forschung für solche Forschungsbereiche, über die noch wenig bekannt ist (vgl. Fuchs- Heinritz 2009, S. 144). Diese Aspekte, die für die Wahl des biografischen Ansatzes sprechen, treffen in unserer Untersuchung von Lebengeschichten aufgrund transnationaler Eheschließung zu: Der Objektbereich ist noch relativ wenig erforscht; wir wollen Einblick in fremde Kulturen und in fremde Orientierungs- und Handlungsmuster erhalten; und unsere Informantinnen haben biografische und sozialkulturelle Brüche infolge der Migration erlebt, in denen individuelle und gesellschaftliche Aspekte eng verwoben sind. Mit unseren Fallstudien wollen wir einige charakteristische, transnational ausgerichtete Lebensgeschichten rekonstruieren, die sich wandelnden Selbst- und Fremddarstellungen der Biografinnen in Relation zu der sich verändernden sozial-kulturellen Lebenswelt beschreiben, und zeigen, welche Konsequenzen es für die Betroffenen hat, wenn bisher gültige sozial-kulturelle Orientierungsmuster nicht mehr greifen oder divergierende Muster im Widerstreit stehen. 2.1 Verschränkung von Biografie und Sozialwelt in biografischen Erzählungen Biografische Forschung unterstellt einen „signifikanten Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und individuellen Strukturbildungsprozessen, zwischen der Formation sozialer Lebenswelten und der Erfahrungsbildung von Individuen“ (Fuchs-Heinritz 2009, S. 144). Biografie wird als soziales Konstrukt verstanden, das Muster individueller Erfahrung und Erfahrungsverarbeitung in bestimmten Interaktionskontexten hervorbringt, dabei aber „immer auf gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen verweist“, die in Einzelfallanalysen „strukturell beschrieben und re-konstruiert werden können“ (ebd., S. 8). Lebensgeschichten sind immer Ausdruck individueller Existenz und enthalten gleichzeitig Hinweise auf übergreifende sozial-kulturelle Strukturen, Orientierungen und Werte. Biografische Forschung befasst Zu Theorie und Methode unserer Studie 27 sich also mit der Rekonstruktion individueller oder kollektiver Lebensverläufe und Sinnkonstruktionen und versucht dahinter stehende und mit ihnen zutiefst verwobene übergreifende gesellschaftliche Strukturen zu erfassen. Sie ist keine fest etablierte Disziplin, „kein traditioneller Methodenbereich mit von allen gemeinsam verwendeten [...] Grundbegriffen und Verfahrensschritten“ (Fuchs-Heinritz 2009, S. 9). Die Biografieforschung bedeutet Einzelfallstudien, womit eine Herangehensweise an den Objektbereich bezeichnet wird, aber keine spezifische Methode. 7 Exkurs: Die biografische Methode als Untersuchungsansatz für größere Gruppierungen wurde zuerst von Florian Znaniecki ab 1920 in die polnische Soziologie eingeführt und dort als Ansatz der empirischen Sozialforschung weiter entwickelt. Der von Znaniecki und William I. Thomas publizierten Untersuchung über Bauern in Polen und polnische Immigranten in den USA liegt eine umfangreiche Sammlung von Tagebüchern, Briefen, Memoiren, Autobiografien und Verwaltungsdokumenten zugrunde, die thematisch geordnet und interpretiert wurden. Der biografische Forschungsansatz bildete eine wichtige Grundlage für die Entwicklung der Chicagoer Schule, die später den symbolischen Interaktionsmus hervorbrachte. Ein weiterer Schritt in der Entwicklung der Biografieforschung waren die von Clifford R. Shaw 1930 und 1931 verfassten Analysen von Lebensläufen straffälliger Jugendlicher. Aufgrund des Erfolges quantitativer Methoden und strukturfunktionalistischer Theorien sank nach 1945 das Interesse an der Biografieforschung. Doch seit den 1980er Jahren erlebte die Biografieforschung einen neuen Aufschwung und entwickelte sich zu einem anerkannten Forschungsansatz in der qualitativen Sozialforschung (vgl. die Arbeiten von Martin Kohli, Werner Fuchs-Heinritz, Fritz Schütze u.a.). Vor allem Fritz Schütze hat in seinen Forschungsarbeiten den biografischen Ansatz etabliert und die Methode des „narrativen Interviews“ entwickelt. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch eine tendenzielle Abkehr in der soziologischen Forschung von Konzepten wie „System“ und „Struktur“ hin zu phänomenologischen Theorieansätzen und Konzepten wie „Lebenswelt“, „Alltag“ und „Akteur“. Die Soziologie wandte sich auch wieder einzelnen, sonst unauffälligen, aber als exemplarisch wertvoll erachteten Fallstudien von Lebensläufen zu. Die Erzählung einer Lebensgeschichte ist, obwohl sie auf individuellen Erlebnissen und Erfahrungen basiert, nach Ordnungsprinzipien strukturiert, die sich an sozial-kulturellen Vorstellungen des Erzählers orientieren, und die er beim Rezipienten voraussetzt, in der Annahme, dass beide einen ähnlichen sozial-kulturellen Hintergrund haben. Wichtige Vorgaben für die Organisation einer Lebensgeschichte sind sozial institutionalisierte Vorstellungen von der Erwartbarkeit von Ereignissen im Lebenszyklus, z.B. Ausbildung, Berufsein- 7 Einen guten Überblick über die Entwicklung der Biografieforschung gibt Fuchs-Heinritz (2009, Kap. II). Inken Keim 28 tritt, Heirat und Familiengründung. Diese Vorstellungen sind sozial-kulturell vorgegebene „Vorschriften“, was man in welchem Alter gemacht und erlebt haben sollte oder was man aufgrund bestimmter sozialer Voraussetzungen erreicht haben müsste. Was biografisch „normal“ ist, variiert nach Geschlecht und sozial-kultureller Herkunft. Wer auf dem Hintergrund dieser „Normalität“ ein bestimmtes Stadium zu früh oder spät (oder gar nicht) erreicht hat, nimmt eine Sonderstellung ein. Das schlägt sich auch in der biografischen Darstellung nieder; je nachdem wie der Erzähler den Rezipienten einschätzt und wie er sich ihm gegenüber präsentieren möchte, wird er die Sonderstellung begründen und bewerten oder sich dafür rechtfertigen. Neben individuellen spielen immer auch kollektive Aspekte eine Rolle. Es gibt kollektive Lebensentwürfe, die in sozialen Traditionen, in Religionen und Ideologien von sozialen Milieus gründen; sie enthalten Vorstellungen darüber, wie die Angehörigen dieses Milieus miteinander leben, was sie verbindet, wer als Vorbild fungiert, wieweit das eigene Territorium reicht und wo das der anderen anfängt, wie man „richtig“ und „sozial angesehen“ lebt etc. Die Angemessenheit des Lebensverlaufs wird von den Angehörigen des Milieus immer wieder thematisiert, in dem sie die Lebensgeschichten einzelner bewerten, verurteilen oder gutheißen. 8 In der Regel ist der biografische Erzähler nicht der einzige, der Kenntnis über seine Lebensgeschichte hat, sondern ihm Nahestehende, Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn etc. kennen zumindest Phasen daraus. D.h. der biografische Erzähler wird je nach sozialer Nähe zum Rezipienten seine Lebensgeschichte darauf abstimmen, was der andere weiß bzw. was er vermutet, dass der andere weiß. 9 Er wird auf jeden Fall versuchen, seine Lebensgeschichte so zu verfassen, dass der Rezipient sie nachvollziehen und auf der Basis seines (ihm unterstellten) Wissens akzeptieren kann. 10 8 Hier ist ein direkter Bezug zu ethnografischen Forschungsansätzen angelegt; Biografieforschung und Ethnografie können als komplementäre und eng verknüpfte Ansätze zur Erforschung von sozial-kulturellen Lebenswelten und dem dialektischen Bezug zwischen individuellen und kollektiven Orientierungen, Werten, Lebensentwürfen, Lebensgeschichten und -krisen betrachtet werden. 9 Die eigene Biografie wird auch über andere vermittelt; vgl. dazu Goffmans Begriff des „biographischen Anderen“ (Goffman 1975, S. 85ff.). 10 Hier ist ein direkter Bezug zu dem gesprächsanalytischen und gesprächsrhetorischen Konzept des „recipient design“. Zu Theorie und Methode unserer Studie 29 2.2 Erlebte und erzählte Lebensgeschichte Zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte besteht eine grundsätzliche Differenz. In den frühen Studien der Biografieforschung wurde großer Wert darauf gelegt, aus zusätzlichen Quellen (Verwaltungsakten, Chroniken, Darstellungen Dritter usw.) den tatsächlichen Verlauf der Biografie zu rekonstruieren und somit „Fehlerquellen“ in der Erinnerung und Darstellung durch den Befragten auszuschalten. Heute geht man davon aus, dass der tatsächliche, erlebte Verlauf nicht rekonstruiert werden kann, dass die Erlebnisse immer schon in der Wahrnehmung interpretiert und in der Rückerinnerung im Rahmen der Gesamtbiografie eingeordnet werden. Von Interesse sind gerade die Deutungen und Sinnkonstruktionen, die der Erzähler leistet, um die eigene Biografie in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Mit jeder Veränderung der Lebenserfahrung verändert sich auch die Interpretation des Vergangenen, es kommen andere Ereignisse in den Vordergrund und werden mit früheren sinnhaft verbunden. Von Interesse sind gerade die Deutungen und Sinnkonstruktionen, die der Erzähler leistet, um die eigene Biografie in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Einschneidende Umbrüche, wie z.B. die Migration in eine andere Gesellschaft, können zu einer völlig neuen Sicht auf vergangene Ereignisse und zur Umdefinition der bisherigen Lebensgeschichte führen. Vergangenes kann z.B. als schrittweise Vorbereitung/ Hinführung auf den Umbruch neu geordnet und interpretiert werden. Gegenstand der Forschung ist also die vom Erzähler präsentierte biografische Darstellung, die aus Rekonstruktionen erlebter Ereignisse besteht, die unter vielfachen Gesichtspunkten selektiert, gewichtet, zeitlich und handlungslogisch angeordnet und bewertet werden. Das Wissen über berufs-, sozial- und geschlechtstypische Lebenswege, ebenso wie das Wissen dazu, was man tun muss, um sie auszuführen, gehört zum Basiswissen aller Gesellschaftsmitglieder. Es bildet die Folie für individuelle Konstruktionen von Lebensgeschichten. Erzähler ordnen biografische Ereignisse und einzelne Lebensphasen in solche typischen Karrieren ein und plausibilisieren sie für sich und die Rezipienten, um dem eigenen Leben einen übergreifenden Sinn zu geben. Bei der Sinnkonstruktion orientieren sie sich an sozial-kulturellen bzw. milieuspezifischen Vorstellungen dazu, was z.B. ein sinnerfülltes Leben ausmacht, wie typische Lebenswege verlaufen und welche Erfahrungen dabei gemacht werden. In Bezug auf diese Aspekte interessiert in unserer Untersuchung, bei der wir von sozial-kulturellen Unterschieden zwischen den Gesprächspartnerinnen ausgehen müssen, welche Leistungen die Erzählerinnen erbringen, um ihre Geschichte für die Rezipientin nachvollziehbar zu machen oder sie in „gutem Licht“ erscheinen zu lassen. Inken Keim 30 2.3 Lebensgeschichte als Selbstpräsentation Lebensgeschichten sind keine Aneinanderreihungen einzelner Ereignisse, die der Erzähler erlebt hat, sondern sie sind immer strukturierte Selbstbilder (vgl. Fuchs-Heinritz 2009, S. 159ff.). Dabei kommt - in Anknüpfung an Garfinkels Konzept der „dokumentarischen Methode“ - dem Einzelfall die Bedeutung zu, „Dokument von etwas“ zu sein, das anstelle und im Namen von einem zugrunde liegenden Muster steht. Das zugrunde liegende Muster wird aus dem individuellen Beleg hergeleitet und umgekehrt wird der individuelle Fall auf der Basis dessen interpretiert, was über das Muster bekannt ist. Die Interpretation besteht in prozessual aufeinander bezogenen Bewegungen zwischen Einzelfall und Grundmuster für viele Einzelfälle (vgl. Garfinkel 1973, S. 199ff.). Grundlagentheoretische Voraussetzung für diese Annahme ist, dass das Allgemeine z.B. nicht durch Summierung der Einzelfälle gewonnen werden kann, sondern dass das Allgemeine im Einzelfall durchscheint. In biografischen Darstellungen präsentiert der Erzähler viele seiner Meinungen, Überzeugungen und Handlungsweisen nicht nur als zu ihm gehörig, sondern als für größere soziale Einheiten gültig, für die Familie, die Gruppe, seine Lebenswelt. Die von ihm geleisteten Selbst- und Fremdkategorisierungen mit den entsprechenden Bewertungen sind immer eingebunden in seine Lebenswelt. D.h. der Erzähler stellt sich in sozialen Kategorien dar, die in seiner Lebenswelt für die jeweiligen Kontexte erwartbar und akzeptiert sind. Dieser Aspekt ist für die Analysen unserer Fallstudien besonders relevant, da wir aufgrund der „interkulturellen“ Gesprächskonstellationen von sozial-kulturellen Differenzen in der Kategorisierung und der Bewertung von Kategorien ausgehen müssen, und die Erzählerin ebenso wie die Rezipientin besondere Anstrengungen unternehmen müssen, damit sie verstanden bzw. nicht missverstanden werden. In jeder biografischen Selbstpräsentation gilt es, die richtige Balance zwischen einer Darstellung als „Normalfall“ und der Stilisierung zum Besonderen zu wahren. Um einerseits als akzeptiertes Mitglied in der eigenen Lebenswelt zu erscheinen, wird der Erzähler daran interessiert sein, die Normalität seines Falles im Rahmen seiner Lebenswelt darzustellen. Um die Geschichte situativ erzählenswert zu machen, wofür er besondere interaktive Anerkennung erwarten kann, kann er sich vor dem Hintergrund gegebener sozialer Voraussetzungen aber auch zum besonderen Fall stilisieren. Um das eine oder das andere zu erreichen, kann der Erzähler durch eine bestimmte zeitliche und/ oder kausale Anordnung, durch Hinzufügen, Weglassen oder Neufokussierung vergangenes Handeln oder Erleiden in einen neuen inneren Zusammenhang bringen. Er hat z.B. die Möglichkeit, ehemals Bedrohliches aus der Zu Theorie und Methode unserer Studie 31 späteren Kenntnis heraus als bewältigt darzustellen; er kann aber auch die frühere Bedrohlichkeit für die Rezipienten re-inszenieren, um die damalige Angst begreiflich zu machen; außerdem kann er damals unterlassene Reaktionen nachträglich einfügen, um bestimmte positive Eigenschaften, z.B. Schlagfertigkeit, besondere Kühnheit etc. hervorzuheben; Bedrohliches kann aber auch weggelassen werden, weil sich der Erzähler dafür schämt. D.h. der Erzähler kann seine Biografie so gestalten, dass sie sowohl den unterstellten Erwartungen der Rezipienten entgegen kommt als auch dem Bild entspricht, das er von sich hat oder darstellen will. Er schafft Kontinuität in seiner Lebensgeschichte dort, wo sie notwendig ist, um das angestrebte Bild von sich selbst in einer stimmigen biografischen Darstellung zu präsentieren. Diesen Konstruktionsaspekt biografischer Darstellung fasst Rosenthal (1993) folgendermaßen zusammen: „Die biographische Selbstpräsentation [...] dient [...] zur Herstellung von Konsistenz und Kontinuität. Biograph(inn)en erzählen ihre Leben, weil sie sich über ihre zum Teil brüchige Vergangenheit, Gegenwart und antizipierte Zukunft vergewissern möchten. Mit der Erzählung versuchen sie, entweder ihr Leben in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen und sich die Geschichte ihrer Veränderungen zu erklären, oder aber [...] Zusammenhänge in der Erzählung zu vermeiden oder [...] aufzulösen, sofern diese für sie bedrohlich und unangenehm sind.“ 11 2.4 Einzelfall und Verallgemeinerung Nach Oevermann (1981) produziert ein Akteur in einer Situation immer mehr und anderen Sinn als er wahrnimmt. Eine Aufgabe des/ der Analysierenden ist es daher, beide Arten von Sinngebungen zu rekonstruieren. Hinter den Äußerungen der Erzähler liegen latente Sinnstrukturen, die den Lebenssinn konstituieren und die in der Darstellung einzelner Lebensstadien auch mehr oder weniger offen erkennbar werden können. In diesen Sinnstrukturen sind individuelle Erfahrung und gesellschaftliche Bedingtheit miteinander verflochten. Sie geben dem Leben „hinter dem Rücken“ der Akteure eine Richtung und einen Handlungsrahmen vor. Besonders deutlich hat Rosenthal (2009, S. 49ff.) den Zusammenhang zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelfall formuliert. Aus Sicht der Autorin strebt die Biografieforschung „theoretische Verallgemeinerungen“ an, die auf einzelnen Fallrekonstruktionen basieren. Vom Einzelfall wird nicht auf viele Fälle geschlossen, sondern auf „gleichartige Fälle“ (ebd., S. 50). Für die Bestimmung eines typischen Falles ist die Auftretenshäufigkeit irrelevant. „Bestimmend für die Typik eines Falles sind [...] die 11 Vgl. Rosenthal (1993, S. 133) zitiert aus Fuchs-Heinritz (2009, S. 70ff.). Inken Keim 32 Regeln, die ihn erzeugen und die die Mannigfaltigkeit seiner Teile organisieren.“ Am Beispiel von Migrationsprozessen zeigt sie auf, was das bedeutet: Neben dem Rekonstruktionsverlauf eines Informanten, muss die „Lebensphase und -erfahrung der Migration im gesamtbiographischen und [...] im kollektivgeschichtlichen Zusammenhang“ begriffen werden (Rosenthal 2009, S. 50). Das heißt, dass die Erfahrungen vor und nach der Migration und das Thematischwerden der Migration und die damit zusammenhängenden Reinterpretationen dieser Erfahrungen bis in die Gegenwart rekonstruiert werden müssen. Die Erfahrungen im Verlauf der Migration sind eingebettet in unterschiedliche soziale Kontexte, Gesellschaftssysteme und Diskurse. Außerdem geben sozial-kulturelle, institutionelle Regeln und die Regeln verschiedener gesellschaftlicher Diskurse (im Sinne von Foucault) vor, was, wie, wann und in welchen Kontexten thematisiert werden kann und was nicht. Die Art und Weise des Rückblicks und die Art des Sprechens über die in der Vergangenheit erlebten Situationen „konstituiert sich [...] über die meist hinter dem Rücken der Akteure wirksamen, sowohl in der Vergangenheit internalisierten als auch in der Gegenwart geltenden Regeln“ (ebd., S. 51). 12 Die in der Vergangenheit und in der Gegenwart in sozialen Kontexten und in gesellschaftlichen Diskursen wirksamen, unterschiedlichen Regeln gilt es in den Lebenserzählungen aufzuspüren. Deshalb sind die erlebte und die erzählte Lebensgeschichte analytisch zu trennen. Dazu verwendet Rosenthal außer dem Interviewmaterial auch andere Quellen (historische und demografische Daten, Daten aus Beobachtungen und Aufzeichnungen, ethnografische Daten, gesellschaftliche Diskurse etc.); sie können Einsichten liefern in Ereignisse, die in der biografischen Darstellung nur am Rande oder gar nicht erwähnt wurden. Solche Einsichten tragen zum besseren Verständnis des biografischen Materials bei und zu seiner Einordnung in den jeweiligen historischen und sozial-kulturellen Kontext. 3. Identitätsbezogene Erzählforschung Theoretisch und methodisch sehr nahe zu unserem Ansatz sind die Forschungen zur Identitätskonstruktion in Erzählungen, wie sie in den Arbeiten von Bamberg und Georgakopoulou vorgestellt werden. Anliegen dieser Forschungsrichtung ist es „to explore identity formation processes from the perspective of the narratives“ (Bamberg 2004, S. 223). Ausgangspunkt für die Analyse ist ein ethnografisch-soziolinguistischer und gesprächsanalytischer 12 In dieser Formulierung wird der Bezug zu Oevermann sehr deutlich. Zu Theorie und Methode unserer Studie 33 Ansatz, der danach fragt, was Sprecher/ Erzähler mit Erzählungen bewirken. Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion „of the accounting function that stories have in interaction“ (Bamberg 2006, S. 13), und vor allem der Funktionen, die auf das Identitätsmanagement des Erzählers in der Interaktion bezogen sind. Alltagserzählungen offenbaren immer Identitätsaspekte des Erzählers, denn „by offering and telling a narrative, the speaker lodges a claim for him/ herself in terms of who he/ she is“ (Bamberg 2004, S. 223). In Anlehnung an Antaki/ Widdicombe (Hg.) (1998) verstehen die Autoren Identitäten als dialogisch und relational konstruiert, als in interaktiven, lokalen Prozessen gestaltet und immer wieder umgestaltet. Die identitätsbezogene Erzählforschung entwickelte sich in Kontrast zu Erzähltheorien, die sich aus kognitiven Positionen entwickelt haben und nach kanonischen Erzählformen (was sind Erzählungen) und psychologischen Realitäten (was sagen sie über die Identität des Erzählers) hinter einer Erzählung fragen. In diesen Erzähltheorien wird unter Erzählung ein monologisches, vom umgebenden Kontext getrenntes Textstück über ein erzählenswertes vergangenes Ereignis verstanden, das der Rezipient nicht kennt, das eine bestimmte Moral enthält, raum-zeitlich bestimmt und nach temporalen und kausalen Prinzipien geordnet ist. Als Datenmaterial gelten vor allem „big stories“, 13 wie sie in therapeutischen Sitzungen oder in narrativen Interviews (im Sinne von Schütze und Rosenthal, vgl. Kap. 4) gewonnen werden, in denen der Interviewte die Aufgabe hat, über sein Leben zu erzählen, bei größtmöglicher Zurückhaltung des Interviewers. Im Gegensatz dazu plädiert Bamberg für eine Neubestimmung der Erzählforschung durch einen soziolinguistischen und gesprächsanalytischen Zugang. Ihn interessieren Alltagserzählungen, die aus natürlichen Interaktionen erwachsen und von den Rezipienten mitgestaltet werden. Für die Identitätsanalyse in Erzählungen dient Bamberg vor allem das Konzept des „positioning“. Dabei unterscheidet er zwei Dimensionen: zum einen wie die Personen in der Geschichte in Raum und Zeit zueinander positioniert werden, und zum anderen wie der Erzähler sich über die Erzählung in der aktuellen Situation zu den Rezipienten zu positionieren versucht bzw. wie diese seinen Positionierungsversuch behandeln (akzeptieren, modifizieren, zurückweisen). Die Analyse beginnt mit einer genauen Beschreibung der Abfolge der Handlungsschritte in der Geschichte und der Art und Weise wie die Charaktere der Geschichte präsentiert werden. Raum-Zeit-Koordinaten und Bewertungen der Charaktere werden daraufhin betrachtet, ob und inwieweit sie zu sozialen Ka- 13 Zu dem Terminus vgl. u.a. Bamberg (2004, 2006) und Georgakopoulou (2006). Inken Keim 34 tegorien und ihrem Handlungspotenzial in Beziehung stehen. 14 Dann wird untersucht, ob die referenziellen Aspekte der Geschichte einen Bezug haben zu den Teilnehmern der Interaktion und der Art und Weise ihrer sequenziellen Beteiligung. Erzähler können bestimmte Beschreibungen und Bewertungen wählen, um Missinterpretationen zu begegnen, sie abzuschwächen oder ihnen vorzubeugen. Durch die Analyse der sequenziellen und relationalen Struktur von Erzählungen in Interaktionen können die Relevanzsetzungen der Beteiligten, das geteilte kulturelle Hintergrundwissen ebenso wie die Herstellung ihres Selbst und das relevanter Anderer rekonstruiert werden. Eines der Ergebnisse der Analysen, die Bamberg und Georgakopoulou durchgeführt haben (u.a. Bamberg 2004 und Georgakopoulou 2006), ist, dass es auf Seiten der Erzähler eine starke Tendenz gibt, festgelegte Identitäten zu vermeiden bzw. eine Präferenz dafür, verschiedene Positionen, auch kontrastierende, gleichzeitig einzunehmen (Bamberg 2006, S. 14). Die Interaktionsanalyse zeigt die Uneinheitlichkeit, die Widersprüchlichkeit und das ständige Navigieren zwischen verschiedenen Versionen von Identität in verschiedenen lokalen Kontexten. 15 Beim Erzählen sind Erzähler nicht nur mit „doing self“ beschäftigt, sondern sie stimmen ihre Erzählungen ab auf lokale, interpersonelle Zwecke und richten sie sequenziell an Vorhergegangenem ebenso wie an Zukünftigem aus. 4. Datenerhebungsmethoden Die Datenerhebungs- und Analysemethoden in der Biografie- und Erzählforschung sind vielfältig; sie kommen aus der qualitativen Soziologie, aus Ethnografie, Diskursanalyse, Hermeneutik und Linguistik (Erzähl- und Textanalyse, Gesprächsanalyse). Zur Rekonstruktion sozialer Strukturen in Lebensgeschichten werden biografische Ansätze vor allem mit ethnografischen und gesprächsanalytischen Ansätzen kombiniert, 16 einen Ansatz, den auch wir für unsere Studie gewählt haben. 14 Nicht jede Selbst- oder Fremdpositionierung muss in einen Prozess der sozialen Kategorisierung münden. 15 In einem gemeinsamen Aufsatz (2008) positionieren die Autoren sich in Kontrast zu dem was sie als „canonical narrative studies“ in den Sozialwissenschaften bezeichnen, deren Gegenstand „big stories“ (narrative Interviews, Interviews zu therapeutischen Zwecken) sind. Mithilfe des Positionierungskonzepts, das eine Verbindung zwischen Mikroanalyse und Erklärungen („accounts“) auf der Makro-Ebene erlaubt, zeigen sie, dass die Analyse der interaktiven Hervorbringung einer Erzählung integraler Bestandteil der Erzählung ist. Und sie zeigen, wie Erzählinhalte, wenn sie als Funktion einer interaktiven Herstellung gesehen werden, neue Einsicht erlauben in Identitätskonstruktionen von „sameness“ angesichts gegensätzlicher Bedingungen und ständigem Wechsel (Bamberg/ Georgakopoulou 2008, S. 393). 16 Vgl. die Beiträge von Dausien/ Kelle (2009), Köttig (2009), Roberts (2009), Rosenthal (2009) und Schäfer/ Völter (2009) in dem Sammelband von Völter et al. (Hg.) (2009). Zu Theorie und Methode unserer Studie 35 Bevorzugte Datenerhebungsmethode ist das qualitative Interview, vor allem in Form des „narrativen Interviews“ (vgl. Schütze 1983) oder des offenen Leitfadeninterviews (vgl. Lamnek 1995). Ausgehend von der zentralen Bedeutung des Narrativen in der alltagsweltlichen Kommunikation und in empirischen Forschungsprozessen entwickelte Schütze (1983) eine Technik der Interviewführung, die auf Erkenntnissen der Sprachsoziologie, Linguistik, Erzähltheorie und Ethnografie gründet: - Im Alltag spielen Erzählungen eine herausragende Rolle. Erzählungen dienen der Verarbeitung und der Bewertung von Erfahrungen, übergreifende Handlungszusammenhänge und -verkettungen werden sichtbar, subjektiver Sinn wird re-konstruiert. - Die Interviewpartner werden zu einer umfassenden und detaillierten Stegreiferzählung persönlicher Erlebnisse in einem vorgegebenen Themenbereich aufgefordert und nicht mit standardisierten Fragen konfrontiert. - In der freien Narration selbsterlebter Ereignisse schälen sich subjektive Bedeutungsstrukturen heraus, die sich einem systematischen Abfragen im Interview verschließen würden. Aus den Erfahrungen mit dem lebensgeschichtlichen Erzählen und der Forschungsmethode des narrativen Interviews hat vor allem Rosenthal die Methode der „biografisch-narrativen“ Gesprächsführung entwickelt. Dabei wird ebenfalls dem Informanten Gelegenheit gegeben, eigene Erlebnisse und Erfahrungen narrativ in möglichst selbstgesteuerter Form zu rekonstruieren und zu präsentieren. Biografische Narration ist eine spezifische Form der Selbstreflexion. Biografisch-narrative Gesprächsführung begleitet den autobiografischen Erinnerungsprozess, um die erzählende Person bei der Re-Konstruktion und Vergewisserung ihrer persönlichen und sozialen Identität/ en zu unterstützen. Gleichzeitig zielt diese Art der Gesprächsführung auf die Erhöhung des Fremdverstehens durch die interviewende Person. Die Konzeption von Rosenthal (1993) orientiert sich am dreiphasigen Aufbau der Schütze'schen narrativen Technik: In der ersten Phase wird der Informant durch erzählgenerierende Eingangsimpulse zur narrativen Exploration einer biografischen Haupterzählung angeregt, in der er in einer möglichst selbst gesteuerten Form die eigene Lebensgeschichte vor dem Interviewer ausbreitet. Gefördert wird der Erzählprozess durch eine äußerst zurückhaltende Haltung des Interviewers, der durch keinerlei Interventionen Einfluss auf die präsentierten Inhalte und die Vollständigkeit oder Konsistenz der Erzählung nimmt. In der zweiten Gesprächsphase werden durch den Interviewer gezielte Fragen nach Themen Inken Keim 36 oder Ereignissen gestellt, die in der Haupterzählung erwähnt, aber nicht detailliert wurden. Der Informant wird aufgefordert, einzelne Aspekte seiner Lebensgeschichte ausführlicher darzustellen. In der dritten Phase werden vom Interviewer gezielt Themen angesprochen, die bisher noch nicht erwähnt wurden, die aus seiner Sicht aber interessant sind. Biografisch-narrative Gesprächsführung im Sinne von Rosenthal versteht sich nicht als Gesprächstechnik im engeren Sinne, sie besteht nicht aus dem exakten Befolgen von Gesprächsregeln und Fragetechniken, sondern in der grundlegenden Haltung gegenüber dem Informanten. Voraussetzung für die Interviewenden sind Neugierde, authentisches Interesse am Informanten und Zurückhaltung in der Gesprächsführung. Neuere Entwicklungen in der Biografieforschung verwenden auch weniger streng geregelte Interviewformen und lassen neben narrativen Phasen auch problemzentrierte oder thematisch strukturierte Phasen zu. 17 Außerdem sehen sie auch den Einbezug weiterer Daten vor, die die biografische Erzählung erhellen und vertiefen können. 18 In Orientierung an der Interaktions- und Gesprächsanalyse plädieren Bamberg und Georgakopoulou für den Einbezug von Alltagsinteraktionen und Alltagserzählungen. Diese Datenerweiterung kommt unseren Forschungsinteressen und bisherigen wissenschaftlichen Erfahrungen sehr entgegen. In mehreren Großprojekten am Institut für Deutsche Sprache, an denen ich beteiligt war, hat sich eine Kombination aus Ethnografie, Soziolinguistik und Interaktionsbzw. Gesprächsanalyse als besonders fruchtbar erwiesen für die Beschreibung kommunikativer Stile in bestimmten Lebenswelten und für ihre Erklärung aus den jeweils spezifischen sozial-ökologischen und kulturellen Bedingungen, in denen sie entwickelt wurden. 19 Aus den dort gewonnenen Einsichten halten wir es auch in dieser Studie für not- 17 Nach Fuchs-Heinritz (2009, S. 180) stellt sich unter forschungspraktischen Aspekten der Unterschied zwischen Leitfaden- und narrativem Interview im Sinne von Schütze und Rosenthal nicht so prinzipiell. In einer Reihe von Forschungen werden z.B. thematisch strukturierte, problemzentrierte und narrative Verfahren kombiniert. 18 Vgl. die Beiträge in Völter et al. (Hg.) (2009), vor allem die Beiträge von Rosenthal, Köttig, Roberts und Dausien/ Kelle. 19 Vgl. die im IDS durchgeführten Projekte „Kommunikation in der Stadt“, veröffentlicht in vier Bänden: Kallmeyer (Hg.) (1994), (Hg.) (1995); Keim (1995) und Schwitalla (1995) und zu Migrantenjugendgruppen, z.B. Keim (2008), Cindark (2010); zu den Projektpublikationen vgl. http: / / www.ids-mannheim.de/ prag/ soziostilistik/ tuerkisch.html. In diesen Projekten führte die theoretische, methodische und analytische Kombination aus Soziolinguistik, Ethnografie und Gesprächsanalyse zu differenzierten Beschreibungen von verschiedenen sozialen Welten, ihren Organisationen, ihren Normen, Werten und Handlungsorientierungen und den in ihnen entwickelten sozial-kommunikativen Stilen. Zu Theorie und Methode unserer Studie 37 wendig, die Interviewmaterialien um weitere Materialien zu ergänzen: durch historische Materialien und ethnografische Daten, wie Erzählungen und Beobachtungen aus der Lebenswelt der Informantinnen, und durch gesellschaftliche Diskurse zu verschiedenen Aspekten der Migration und zu verschiedenen Zeitpunkten. 5. Untersuchungsdesign unserer Studie 5.1 Auswahl der Informantinnen und Spezifik der Gesprächssituation Wie bereits ausgeführt, suchten wir Informantinnen aus unserem sozialen Nahumfeld aus: a) Bekannte, Freundinnen und frühere Studentinnen, die in Mannheim aufgewachsen sind und einen Mann aus der Türkei geheiratet haben, der dann nach Mannheim migriert ist; und b) Teilnehmerinnen aus Integrationskursen und aus unseren sprach- und bildungsbezogenen Kursen, die als Heiratsmigrantinnen nach Mannheim kamen. D.h. mit allen Interviewpartnerinnen bestand bereits eine berufliche oder persönliche Beziehung, deren Qualität bei der Gesprächsgestaltung berücksichtigt werden musste. Qua Definition ist die Interviewsituation eine asymmetrische Interaktion mit unterschiedlichen Beteiligungsrollen und unterschiedlich verteilten Rechten und Pflichten bei der Gestaltung des Gesprächs. In Anschluss an Goffmans Konzept des Territoriums (1974) haben die Interviewten das alleinige „Recht“ auf Darstellung und Bewertung ihrer Lebensgeschichte oder von Ausschnitten davon. D.h. aus Gründen der Höflichkeit und der Wahrung des „Face“ beider Gesprächspartnerinnen muss das Agieren der Interviewerinnen von Zurückhaltung in Bezug auf die Art und Weise der Konstruktion der Lebensgeschichte und in Bezug auf (negative) Bewertungen des Dargestellten geprägt sein. Für die Interviewte ist das Offenlegen der eigenen Lebensgeschichte neben der Möglichkeit zur Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung vor allem auch ein Akt der Selbstentblößung, auf den die Rezipientin mit großem Respekt, aufrichtiger Anteilnahme und mit dem Bemühen um Verstehen reagieren muss, wenn sie das „rituelle Gleichgewicht“ (vgl. Goffman 1971) aufrecht erhalten will; es kann nicht suspendiert werden, wenn sich die Beteiligten nach dem Gespräch ohne Scham oder peinliches Berührtsein in ihren alltäglichen Rollen wieder begegnen wollen. Da sich die Gesprächspartnerinnen kannten, hatten die Interviewten eine begründete Vorstellung über das Hintergrundwissen der Interviewerinnen und über deren Annahmen und Bewertungen in Bezug auf das Thema „transna- Inken Keim 38 tionale Ehe“. D.h. man kann davon ausgehen, dass die biografischen Konstruktionen in besonderer Weise auf die der jeweiligen Interviewerin unterstellten Vorkenntnisse, Annahmen und Sichtweisen zugeschnitten sind. Gleichzeitig betreibt die Interviewte Image-Arbeit für sich selbst: Sie arbeitet an einer positiven Selbstdarstellung und versucht der Rezipientin die eigene Wahl - warum sie nach Deutschland kam bzw. warum sie einen Mann aus der Türkei heiratete - plausibel und akzeptabel zu machen. Bei den Heiratsmigrantinnen geschieht die biografische Darstellung auch vor dem Hintergrund der öffentlichen und halb-öffentlichen Diskurse zu Chancen und Risiken transnationaler Ehen in der Türkei zur Zeit ihrer Ausreise. Bei den interviewten Deutsch-Türkinnen geschieht die biografische Darstellung vor dem Hintergrund der seit einiger Zeit in Deutschland geführten öffentlichen Diskurse zur „arrangierten Ehen“ und zu „Zwangsheirat“. Die Informantinnen wissen über die öffentlich diskutierten Bewertungen zur „arrangierten Ehe“ im Kontrast zur „Ehe, in der sich die Partner selbst wählen“; vor dieser Folie werden sie Vermutungen über die Einstellung der deutschen Gesprächspartnerin zu diesem Themenbereich anstellen. 5.2 Datenerhebung: Offenes Interview Wir wählten nicht das Verfahren des „narrativen Interviews“, das uns durch seine strenge Phasengliederung in der Gesprächsgestaltung zu sehr eingeschränkt hätte, 20 sondern wir entschieden uns für eine offene und - unter den Bedingungen der Asymmetrie der Beteiligungsrollen - möglichst „natürliche“ Gesprächsführung. Wir führten die Interviews mit der dafür charakteristischen Art der Gesprächsführung durch, wie sie in Ethnografie und Biografieforschung beschrieben wurde: zurückhaltend, interessiert, empathisch, auf Rückmeldungen und auf Erzählung generierende Fragen oder Bemerkungen fokussiert. Die Informantinnen sollten breiten Raum zur Darstellung ihrer Perspektive erhalten. 20 Helfferich (2004, S. 11, zitiert nach Fuchs-Heinritz 2009, S. 180) sieht die Notwendigkeit einer strikten Trennung zwischen narrativen und anderen qualitativen Interviewformen, vor allem dem Leitfadeninterview, nicht bzw. sieht die Grenzen zwischen verschiedenen Typen wesentlich fließender. Aus seiner Sicht hat auch das narrative Interview „Nachfrage- und Bilanzierungsteile, in denen die Interviewenden nicht mehr strikt die Rolle von Zuhörenden einnehmen und die so ‘problemzentriert’ sein können, und auch in problemzentrierten Interviews werden Erzählungen generiert wie in kleinen narrativen Interviews.“ Der Autor schließt mit der Feststellung, dass sich „in der Praxis Mischformen zwischen narrativen und Leitfaden-Interviewformen bewährt“ haben. Zu Theorie und Methode unserer Studie 39 Im Rahmen unseres Untersuchungsinteresses gab es nur wenige auf die natürlichen Lebensphasen der Informantinnen bezogene thematische Vorgaben. In den Gesprächen mit den Heiratsmigrantinnen interessierten folgende Themenkomplexe: - Gründe für die Entscheidung zur Migration nach Deutschland; - Kennenlernen des Mannes, Heirat und Migration; - gemeinsames Leben in Mannheim. Die Gespräche mit den Heiratsmigrantinnen führten Necmiye Ceylan, Sibel Ocak und Emran Sirim in Türkisch durch. Die Interviewerinnen haben einen türkischen Hintergrund, sind in Deutschland aufgewachsen, haben hier ihren linguistischen Studienabschluss gemacht und sind beruflich mit Heiratsmigrantinnen befasst. In den Gesprächen mit den Deutsch-Türkinnen, die einen Türkei-Türken geheiratet haben, interessierten folgende Themenkomplexe: - Kennenlernen des Mannes; - Heirat und Migration des Mannes; - gemeinsames Leben in Mannheim. Diese Gespräche führte ich in Deutsch. In beiden Gesprächskonstellationen mussten wir von sozial-kulturellen Differenzen zwischen den Gesprächpartnerinnen ausgehen: zwischen den deutsch-türkischen Interviewerinnen und den türkischen Informantinnen einerseits, und den deutsch-türkischen Interviewten und mir als einer Deutschen andererseits. D.h. wir mussten, obwohl wir die Informantinnen aus anderen sozialen Kontexten kannten, mit Verstehensproblemen aufgrund von kulturell gebundenen Darstellungsmustern, nicht geteilten Wissensvoraussetzungen und unterschiedlicher Sprachgebrauchsmuster rechnen. Deshalb fragten wir direkt nach, wenn Darstellungen unverständlich waren; wenn etwas überraschend und neu war, baten wir sofort um Erklärung. Oder wir holten nachträglich weitere Informationen ein, wenn uns im Verlauf der Analyse Zusammenhänge nicht durchsichtig waren. Wenn die Informantinnen spezielle Kulturpraktiken zur Sprache brachten, wollten wir - als mehr oder weniger Kulturfremde - darüber genaue Auskunft haben. D.h. im Verlauf der Gespräche wechselten biografisch-narrative, auf das Erleben, die Erfahrung und die Erfahrungsverarbeitung der Informantin bezogene Phasen mit ethnografischen Phasen, die auf sozial-kulturelle Aspekte, auf Denktraditionen und auf Handlungs- und Darstellungsmuster in der Lebenswelt der Informantinnen bezogen waren. Inken Keim 40 5.3 Einbezug weiterer Daten Neben den Interviewdaten wurden vor allem ethnografisch gewonnene Daten in die Analyse mit einbezogen, Informationen zur Lebenswelt der Informantinnen in der Türkei und in Mannheim. Das waren z.B. Erzählungen und Berichte von Freundinnen und Nachbarn, Informationen aus früheren Gesprächen, Beobachtungen aus dem Sprachunterricht mit den Informantinnen, Informationen aus der Migrationsliteratur und aus medialen Darstellungen zu Heirat und Migration. 21 Ethnografisch gewonnene Daten wurden nicht verwendet, um die biografischen Darstellungen der Informantinnen zu verifizieren oder falsifizieren, sondern um eine perspektivische Anreicherung durch den Einbezug von verschiedenen Außenperspektiven zu erhalten. Perspektivenvielfalt erlaubte es, Auslassungen und Herab- oder Hochstufungen einzuordnen und bestimmte Deutungen als charakteristisch für bestimmte soziale Rollen oder Kategorien zu erkennen. Dabei wurden die Außenperspektiven nicht direkt auf die biografischen Darstellungen bezogen, sondern zunächst in ihrer Eigengesetzlichkeit erfasst und dann zu Ergebnissen der Biografieanalyse in Bezug gesetzt. Das zusätzliche Wissen wurd also nicht als Erklärungsfolie für das Interviewmaterial verwendet, sondern es musste „gezeigt werden, dass ein vermuteter Zusammenhang für die Beteiligten in der Situation konsequenzhaft ist“ (vgl. Kallmeyer/ Schwitalla i.Dr., Kap. 5). Um das zu beurteilen, wird - so die Autoren - anhand der Interaktionsgegebenheiten geprüft, ob ein bestimmter Aspekt überhaupt relevant wird. Und es muss gezeigt werden können, „dass systematisch angewendete Verfahren [...] mit für die Beteiligten relevanten Bedingungen und Interessen zusammenhängen“ (ebd.). Nach Kallmeyer/ Schwitalla (i.Dr.) gilt das nicht nur für die gesetzten thematischen Relevanzen, sondern auch für die Ausklammerung bestimmter Aspekte (z.B. Erklärungen und Detaillierungen) selbst dann, wenn sie nachgefragt wurden. 21 Für eine Verbindung von ethnografischen und biografischen Verfahren plädierten bereits Schütze (1994) und Marotzki (1998). Lüders (1999, S. 144) hob die situative Konstruktion von Biografie hervor, d.h. die in Interaktionen eingebettete Produktion von biografischer Selbstverständigung. Eine ausführliche methodologische Diskussion zum Verhältnis zwischen Ethnografie und Biografie liefern Dausien/ Kelle (2009, S. 207) und schlagen vor, „Ethnographie und Biographieforschung als zwei miteinander verschränkte Perspektiven zu betrachten, die im Horizont der gemeinsamen Theorietradition des interpretativen Paradigmas je eigene Konzepte und Methoden entwickelt haben und die sich in der Konstruktion ihres Gegenstandes unterscheiden, aber auch wechselseitig beleuchten und konturieren“. Beide „überschneiden sich [...] und können zur wechselseitigen Kontextualisierung und [...] als Herausforderung genutzt werden, die „Schnittstellen“ zwischen situierter Praxis und biographischer Strukturbildung theoretisch zu reflektieren. - Geschichten werden in Situationen erzählt, aber Situationen haben auch ihre Geschichte(n)“ (ebd., S. 209). Zu Theorie und Methode unserer Studie 41 5.4 Analyse des „doing biography“ Das Konzept des „doing biography“ fokussiert den Aspekt der interaktiven Herstellung von biografischen Konstruktionen, sowohl den konkreten Vorgang biografischen Erzählens als auch die konstruktivistische Annahme, dass Erzähler nicht einfach eine Biografie haben, über die sie verfügen, 22 sondern dass sie ihre Biografie und Besonderheiten ihrer Biografie in der Interaktion mit anderen konstruieren. 23 In biografischen Erzählungen entsteht das „doing biography“ als Zusammenhang zwischen interaktiver Ko-Konstruktion und selbst-reflexiver Re-konstruktion. 5.4.1 Fragen der Analyse In jeder unserer Fallanalysen werden Fragen zur sozialen Situation der Informantinnen bearbeitet. Dazu gehören Fragen wie: - Woher kommen die Migrant(inn)en, aus welchen Herkunftsregionen, welchen sozialen Milieus; wie sehen die Strukturen der Herkunftsfamilien aus, welche Familien- und Eherollen herrschen vor? - Wie kamen die Ehen zustande, wurden sie arrangiert oder wählten sich die Partner selbst? - Wie sieht die eheliche und familiäre Realität in Mannheim aus, in welchen Familien leben die Migrant(inn)en, welche Aufgaben/ Pflichten haben sie? - Gibt es für sie ein soziales Leben außerhalb der Familie? - Wie bewerten die Informat(inn)en ihre gegenwärtige Situation und wie sehen sie ihre Zukunft? - Gibt es migrationsbedingte Veränderungen in den Familienstrukturen und wie sehen sie aus? Bei der Datenanalyse orientieren wir uns zunächst an Methoden der Interaktions- und Gesprächsanalyse bzw. der Gesprächsrhetorik mit dem Fokus auf rhetorisch-diskursiven Verfahren. 24 Die Interaktions- und Gesprächsanalyse geht in folgenden Schritten vor: 25 Zunächst interessiert die interaktive und si- 22 Ähnlich wie man „Geschlecht“ oder „sozialen Status“ nicht einfach hat, sondern in der Interaktion mit anderen relevant setzt und interaktiv herstellt. 23 Vgl. dazu vor allem Goffmans Ausführungen zum „biografisch Anderen“, der Teil der sozialen und persönlichen Identität ist (Goffman 1975, S. 85ff.). 24 Zu gesprächsrhetorischen Arbeiten vgl. die Beiträge in Kallmeyer (Hg.) (1996). 25 Ich gehe davon aus, dass Ansätze der Interaktions- und Gesprächsanalyse hinreichend bekannt sind und stelle hier nur einige Prinzipien vor. Inken Keim 42 tuative Herstellung des „doing biography“. 26 Die Frage lautet, welche Art von Biografie bzw. Biografieausschnitt wird gemeinsam zwischen Interviewerin und Informantin hergestellt und mit welchen wechselseitigen Deutungen. Es gilt die biografische Entwicklung der Informantin in den Zeiträumen, die sie uns präsentiert, zu rekonstruieren, die Zeitlinien zu verfolgen und gegebenenfalls Zeitbrüche aufzudecken. Dann wird die interaktive Herstellung und Verarbeitung von Krisen, von Bedrohungen oder besonderen Herausforderungen analysiert: Zunächst unter dem Aspekt des „recipient design“: Welches Wissen und welche Bewertungen unterstellt die Erzählerin der Rezipientin bei der Präsentation ihrer Erfahrungen und wie strukturieren diese Unterstellungen ihre Formulierungen? Bei der Analyse der Selbst- und Fremddarstellung ebenso wie der Selbst- und Fremdeinordnung in die soziale Welt und den lokalen Kontext interessieren Fragen wie: Welche Aspekte des Selbstbildes lassen sich aus der Darstellung biografischer Erfahrungen rekonstruieren? Stellt sich die Informantin z.B. in bestimmten biografischen Phasen als selbst bestimmte Akteurin dar oder als das Geschehen Erleidende? Gibt es Brüche in der Selbstdarstellung und wie sind sie motiviert? Was sind die charakteristischen Eigenschaften, die die Erzählerin fokussiert und in welchen Textsorten werden sie präsentiert? Werden sie z.B. als Schwank aus dem Leben, als Kampf- oder Konflikterzählung, als Erleidensinszenierung oder als Beschreibungen und Argumentationen präsentiert? Wie positioniert die Erzählerin sich in Relation zu relevanten Anderen in ihrer biografischen Darstellung? In welchen Relationen positioniert sie andere Akteure zueinander? Und in welchen sozialen Kategorien fasst die Erzählerin sich selbst und andere? Die Analyse auf der Formulierungsebene geht folgenden Fragen nach: Mit welchen sprachlichen Mitteln und Verfahren erfolgt die Selbst- und Fremdkategorisierung? Welche sprachlichen Formen werden wann und wie verwendet? Welche Formeln, Metaphern und Argumentionsmuster werden verwendet und welche kognitiven Figuren spielen eine Rolle und mit welchem interaktiven Erfolg? Aus welchen Perspektiven wird dargestellt und wie werden diese Perspektiven versprachlicht? 5.4.2 Analysekonzepte Für die Analyse steht ein reiches Angebot aus den gewählten Ansätzen zur Verfügung. Sie kann auf Konzepte aus der Interaktions- und Gesprächsanalyse zurückgreifen („recipient design“, konditionelle Relevanz und Präferenzor- 26 Eine gute Einführung dazu geben Lucius-Hoene/ Deppermann (2004). Zu Theorie und Methode unserer Studie 43 ganisation), ebenso wie auf Goffmans Konzepte des „Face“ und des rituellen Gleichgewichts. Für die Erzählanalyse werden Konzepte aus der Erzählforschung verwendet, 27 und für die Analyse sozialer Bedeutungen stehen Konzepte aus dem ethnografischen und biografischen Ansatz, ebenso wie Gumperz' Kontextualisierungskonzept zur Verfügung. 28 Für die Analyse der Beziehungs- und Rollenstrukturen kann auf das Positionierungskonzept und das Konzept der sozialen Kategorisierung zurückgegriffen werden. Sowohl der ethnografische Ansatz als auch die Konzepte der Positionierung und der Kontextualisierung erlauben einen Bezug zwischen Mikro-Analyse und Makro-Ebene, d.h. der Ebene von übergreifenden gesellschaftlichen Strukturen und gesellschaftlichen Diskursen (im Sinne Foucaults). Da im Rahmen der bisherigen Darstellung unserer theoretischen und methodischen Anknüpfungspunkte die meisten der genannten Analysekonzepte bereits charakterisiert wurden, 29 werde ich zum Abschluss das Konzept der sozialen Kategorisierung etwas ausführlicher darstellen, da es in unseren Analysen ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Sacks (1972, 1979, 1992) hat in seinen Arbeiten gezeigt, dass Gesellschaftsmitglieder sich und andere unter Be- 27 Zur Analyse von Erzählungen vgl. u.a. Gülich/ Quasthoff (1985), Gülich/ Hausendorf (2000); zu Zugzwängen von Erzählungen vgl. Kallmeyer/ Schütze (1975); zur Interaktivität des Erzählens vgl. Quasthoff (2001), Bamberg (2004, 2006), Georgakopoulou (2006) und Bamberg/ Georgakopoulou (2008). 28 Ein zentrales Konzept für die Bedeutungsanalyse ist das der Kontextualisierung, das von Gumperz (u.a. 1992) entwickelt wurde. Darunter versteht Gumperz den Prozess, in dem der Rezipient eine Interpretation dessen, was der Sprecher meint, im fortlaufenden Äußerungsprozess entwickelt. Dieser Prozess schließt mehrere Äußerungsdimensionen ein und gründet in kontextuell relevant gemachten und kulturell geteilten Wissensvoraussetzungen. Die Mittel und Verfahren, die Inferenzen ermöglichen, die Bedeutung signalisieren, die Interpretation leiten und thematische Kohärenz ermöglichen, nennt Gumperz „contextualization cues“. Gumperz bezeichnet Kontextualisierung als „speakers' and listeners' use of verbal and nonverbal signs to relate what is said [...] to knowledge acquired through past experience, in order to retrieve the presuppositions they must rely on to maintain conversational involvement and access to what is intended“ (Gumperz 1992, S. 230). Kontextualisierung umfasst also alle Aktivitäten, mit denen die Gesprächsbeteiligten ihre Äußerungen im Interaktionsprozess interpretierbar machen und mit denen sie den Kontext herstellen, in dem ihre Äußerungen verstanden werden sollen (vor allem auch prosodische Verfahren). Kontext ist das Produkt gemeinsamer Hervorbringung durch die Interaktanten, die sich in jedem Moment der Interaktion signalisieren, was für sie relevant ist. Das können materielle Faktoren der Situation sein, es können aber auch aus der Situation emergierende oder von ihr unabhängige Parameter sein. 29 Oder so bekannt sind, dass sich nähere Ausführungen erübrigen. Inken Keim 44 nutzung eines Systems von Kategorien einordnen, die in ihrer Lebenswelt für die sozialen Orientierung und für die Selbst- und Fremddefinition zur Verfügung stehen. Solche Kategorien beziehen sich auf Geschlechtszugehörigkeit, auf Alter und Generationendifferenz, auf soziale Schichtung und Hierarchie, auf mit bestimmten Rollen verbundene Aufgaben und Pflichten, auf moralische Bewertungen u.Ä. Konstitutiv für Kategorien sind kategoriengebundene Eigenschaften und Handlungsweisen, die das angeben, was man als Kategorienangehöriger zeigt und tut. Sowohl die kategoriengebundenen Eigenschaften, als auch die Organisation von Kategorien in Systemen und die Festlegung der Relationen zwischen Kategorien sind sozial-kulturell gebunden, ebenso wie die für die Kategorisierung verwendeten Ausdrucksformen. Bestimmte soziale Kategorien werden von Gesellschaftsmitgliedern als zusammengehörig betrachtet; sie bilden eine Kollektion, in die nicht jede beliebige andere Kategorie aufgenommen werden kann. Wenn eine Kollektion eine geschlossene Einheit bildet, ist sie ein System, in dem Kategorien in Relation zueinander definiert sind. Nach Sacks gibt es eine begrenzte Anzahl von Kategorien, die so genannten „Basiskategorien“, denen die meisten Gesellschaftsmitglieder zugeordnet werden können; das sind Kategorien wie Geschlecht, Alter, Konfession, Ethnie u.Ä. Solche Kategorien sind „inference rich“, d.h. über sie erschließt sich ein weites Hintergrundwissen über Personen, die ihnen zugeordnet werden (Sacks 1992). In Gesprächen erscheinen Basiskategorien im Zusammenhang mit der Selbst- und Fremdzuordnung meist als zweiwertige Klassifikationsmuster, z.B. „Frau“ vs. „Mann“, „Einheimischer“ vs. „Zuwanderer“ u.Ä.; d.h. Sprecher unterscheiden dichotomisch zwischen „ich/ wir“- und „du/ ihr“-Zuordnungen. Sacks' Arbeiten zu Kategorisierungen sind vor allem wissenssoziologisch orientiert, den Prozess der sprachlichen Realisierung berücksichtigen sie kaum. In neueren linguistisch-gesprächsanalytischen Arbeiten, die die Kategorisierungsanalyse weiterentwickelt haben, steht die sprachliche Realisierung von Kategorienzuschreibungen und Kategorisierungsprozessen im Gespräch im Fokus der Untersuchung; das sind vor allem die Arbeiten aus dem Mannheimer Projekt „Kommunikation in der Stadt“ 30 und Arbeiten, die im Rahmen der Bielefelder Forschergruppe „Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch“ 31 entstanden sind. Grundlegende Annahme dieser Arbeiten ist, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie nicht „objektiv“ gegeben ist, so dass Handlungen 30 Vgl. vor allem Kallmeyer/ Keim (1994), Keim (1995, Kap. 4.3 und 6), Schwitalla (1995, Kap. 4 und 6). 31 Vgl. die Untersuchungen in Czyzewski et al. (1995) und Hausendorf (2000). Zu Theorie und Methode unserer Studie 45 davon determiniert werden, sondern dass sie in Gesprächen konstituiert wird, durch Handlungen hervorgebracht und von anderen bestätigt, modifiziert oder abgelehnt werden kann. Prozesse der Selbst- und Fremdkategorisierung sind eng verknüpft mit dem Identitätsmanagement in Gesprächen. Nach Antaki/ Widdicombi (Hg.) (1998, S. 3) bedeutet eine Identität haben, „being cast into a category with associated characteristics and features“. Die Selbst- oder Fremdzuordnung zu bestimmten Kategorien hat Konsequenzen für Interaktionen, da mit der Kategorienzuordnung bestimmte Eigenschaften und Handlungen erwartbar und relevant gesetzt sind, die im Interaktionsverlauf eingelöst, modifiziert oder in Frage gestellt werden können. Kategorisierungen sind perspektivisch und abhängig von der lokalen Relevantsetzung spezifischer Kategorienaspekte. Es können nur bestimmte Aspekte einer Kategorie hervorgehoben, andere im Hintergrund belassen werden, oder es kann an der inhaltlichen Füllung neuer Kategorienbezeichnungen gearbeitet werden. Den Begriff der sozialen Kategorie verwenden wir dann, wenn Gesprächsbeteiligte zur Charakterisierung von Personen und ihren Eigenschaften und Handlungsweisen einen festen Bestand von Inhaltsfiguren und Ausdrucksweisen verwenden, die in einem System organisiert sind. Unter dem Prozess der sozialen Kategorisierung im Gespräch verstehen wir die Art und Weise, wie Gesprächsbeteiligte auf der Basis ihres sozialen Wissens sich und andere typisieren und bewerten und die Relationen zwischen Personen so festlegen, dass sie auf das dahinter stehende Kategoriensystem verweisen (und dieses System analytisch rekonstruiert werden kann). Die Zuordnung einer Person zu einer Kategorie kann durch explizite Benennung erfolgen; sie kann aber auch mithilfe der Präsentation kategoriengebundener Merkmale in szenischen Darstellungen, in Illustrationen, Zitaten, Beispielbelegen u.Ä. erfolgen. Dabei spielt polyphones Sprechen eine entscheidende Rolle: 32 Sprecher setzen die Akteure ihrer Darstellung als Angehörige bestimmter sozialer Typen oder Kategorien in Szene, und über die Art und Weise dieser Inszenierung bringen sie ihre Bewertung zum Ausdruck. Auch für die kategorielle Selbstzuordnung gibt es verschiedene Verfahren; neben der expliziten Benennung kann die Selbstzuordnung durch die Markierung von Kontrast zu negativ bewerteten Fremdkategorien bis zur pragmatischen Verdeutlichung (enaktieren) von kategoriengebundenen Merkmalen erfolgen. Im letzten Fall sprechen und handeln die Akteure wie ein Kategorienangehöriger. 32 Vgl. Günthner (1999), die die Mehrperspektivität in Redewiedergaben als „polyphony“ und „layering of voices“ bezeichnet. Inken Keim 46 Die Analyse der Selbst- und Fremddarstellung geht also folgenden Fragen nach: - Welche soziale Kategorien werden verwendet, welche Eigenschaften haben sie und mit welchen charakteristischen Sprech- und Handlungsweisen werden sie inszeniert oder enaktiert? - Wie sind die Kategorien in Relation zueinander bestimmt und wie sieht das dahinterliegende System aus? - An welchen sozial-kulturellen Mustern orientieren sich die Handlungsweisen, die für die soziale Kategorie charakteristisch sind, was sind akzeptierte, was abweichende Handlungen und Bewertungen? Die Analyse der Gespräche führten wir gemeinsam durch; für die Beiträge (Teil III-VI) sind ist die Autorinnen verantwortlich. Die unterschiedlichen sozial-kulturellen Wissenshintergründe der Autorinnen erleichterten einen „fremden Blick“ auf das jeweilige Material ebenso wie die wechselseitige Kontrolle der Interaktions- und Bedeutungsrekonstruktionen; außerdem erleichterten sie die Distanzierung von mitgebrachten Vorstellungen und die Aufdeckung von als selbstverständlich erachtetem sozial-kulturellem Wissen. 6. Literatur Antaki, Charles/ Widdicombe, Sue (Hg.) (1998): Identities in talk. London/ New Delhi. Bamberg, Michael (2004): Narrative discourse and identities: In: Meister, Jan-Christoph/ Kindt, Tom/ Schernus, Wilhelm/ Stein, Malte (Hg.): Narratology beyond literary criticism. Berlin/ New York, S. 213-237. Bamberg, Michael (2006): Biographic-narrative research, quo vadis? A critical review of „big stories“ from the perspective of „small stories“. 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Einleitung Zur wichtigsten Form der türkischen Zuwanderung nach Deutschland gehört in den letzten Jahren nicht mehr die Arbeitsmigration, wie noch in den 60er und 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts, sondern die Migration durch Heirat. Die Heirat von Migrant(inn)en mit Partner(inne)n aus dem Herkunftsland der Familien wird in der migrationssoziologischen Forschung als „transnationale Eheschließung“ bezeichnet (u.a. Pries 2010, Straßburger 2003,Vertovec 2009). Unter „transnational“ versteht Pries (2010, S. 13) „grenzüberschreitende Phänomene [...], die - lokal verankert in verschiedenen Nationalgesellschaften - relativ dauerhafte und dichte soziale Beziehungen, soziale Netzwerke und Sozialräume konstituieren“. Solche Verbindungen entstehen z.B. wenn Mitglieder einer (Groß-)Familie in ein anderes Land migrieren, über lange Zeiträume stabile Kontakte zur Herkunftsfamilie bzw. -gruppe aufrechterhalten, z.B. durch regelmäßige Telefongespräche und Besuche, durch Internetkontakte, Geldtransferleistungen, gemeinsam ausgerichtete Feste, gegenseitige Unterstützung bei Ausbildung und Arbeitssuche etc. Diese Kontakte werden oft durch eheliche Verbindungen der Kinder und Enkel intensiviert und stabilisiert. Pries (ebd., S. 15) spricht von „transnationalen Familien“, die „sich plurilokal über verschiedene Nationalgesellschaften hinweg aufspannen. [...] Durch den Intensitätsgrad der Austauschbeziehungen konstituieren sich neue transnationale Sozialeinheiten, die für die alltägliche Lebenspraxis, das Normen- und Wertesystem, die Arbeitsmarkt- und Berufsstrategien [...] oder die persönlichen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen [...] von unmittelbarem Gewicht sind“. 1 1 Ähnlich beschreibt das auch Vertovec (2009, S. 78): „The degrees to and ways in which today's migrants maintain identities, activities and connections linking them with communities outside their places of settlement are unprecedented. [...] the strongest sense of cohesion or belonging may remain with others in a homeland or elsewhere in a diaspora. However, this needn't mean they are not becoming integrated in their places of settlement. [...] that is, the ‘more transnational’ a person is does not automatically mean he or she is ‘less integrated’.“ Inken Keim 54 Der Autor sieht zwischen Nationalgesellschaften und den neuen transnationalen Sozialräumen „kein Verhältnis des wechselseitigen Ausschlusses, sondern eines der möglichen Symbiose“ (Pries 2010, S. 16). Menschen, die in transnationalen Bezügen leben, müssen dies nicht notwendig als „innere Zerrissenheit oder Gespaltenheit, als vorübergehende Entscheidungssituation oder ‘anormale’ Wurzellosigkeit erleben“; ihre transnationale Orientierung muss nicht im Widerspruch zu ihrer Integrationsbereitschaft in die Aufnahmegesellschaft stehen. 2 Vor allem die in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg verfolgte Politik der „Gastarbeit“, d.h der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte für begrenzte Zeit und die Nicht-Eingliederung in die deutsche Gesellschaft, unterstützte die Entwicklung und Stabilisierung transnationaler sozialer Netzwerke. Über mehrere Jahrzehnte wanderten Arbeitskräfte für befristete Zeit zu, kehrten nach Ablauf der Frist in ihre Herkunftsländer zurück, mussten aus ökonomischen Gründen meist wieder zuwandern und versuchten dann auch ihre Familien nachzuholen. Die meisten „Gastarbeiter“ planten die spätere Rückkehr in die Heimat. Viele Kinder der ehemaligen „Gastarbeiter“ sind in Deutschland geboren und aufgewachsen, haben das äußere und innere „Pendeln“ ihrer Eltern erlebt und sind in die transnationalen sozialen Netzwerke der Eltern hineingewachsen. Die Nachkommen der ehemaligen „Gastarbeiter“ haben im Gegensatz zu ihren Eltern ein viel größeres Spektrum an Heiratsoptionen. Während die Eltern in der Regel Partner aus dem familiären oder nahen sozialen bzw. lokalen Umfeld heirateten, die meist auch derselben Religionsgemeinschaft angehörten (sunnitisch, alevitisch, schiitisch), haben die Kinder wesentlich größere Möglichkeiten. Sie können innerethnisch heiraten, einen Partner aus der Türkei oder einen türkischstämmigen Migranten aus Deutschland bzw. einem Nachbarland; oder sie können interethnisch heiraten, einen Deutschen oder einen Migranten nicht-türkischer Herkunft. Wie mehrere Untersuchungen zeigen, 3 bevorzugen türkischstämmige Migrant(inn)en der zweiten und dritten Generation die innerethnische Heirat. Die Untersuchung von Straßburger (2003), die auf statistischen Daten von 2 Auch Vertovec sieht auf der Basis der gegenwärtigen Forschung „that transnationalism does not hinder integration. [...] Empirical research has demonstrated the complex relationships between modes of transnationalism and integration“ (Vertovec 2009, S. 79). 3 Vgl. u.a. Straßburger (2003), Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005) und Kizilocak/ Sauer (2006). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 55 1994 bzw. 1996 basiert, 4 kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Ehen türkischstämmiger Frauen und Männer nicht nur innerethnisch geschlossen werden, sondern auch transnationale Ehen sind. 5 Ehen mit einem Partner/ einer Partnerin aus der Migrantengemeinschaft in Deutschland sind wesentlich seltener, der Anteil von Ehen mit Deutschen ist sehr gering. Bei der Frage nach den Hintergründen für die „transnationale“ Partnerwahl listet die Autorin folgende Faktoren auf: - Der nationalitätsinterne Heiratsmarkt in Deutschland ist begrenzt. Außerdem gab es unter der zweiten türkischstämmigen Generation zum damaligen Zeitpunkt mehr junge Männer im heiratsfähigen Alter als junge Frauen; d.h. junge Männer waren auf den transnationalen Heiratsmarkt angewiesen (Straßburger 2003, S. 260). - Da die transnationalen Netzwerke der Eltern stabil und meist sehr intensiv sind, werden die Partner in der Herkunftsregion der Eltern gefunden, im Freundeskreis der Eltern, in der Nachbarschaft und im sozialen Umfeld, oft bei Festen oder Familien- und Nachbarschaftstreffen; die Partner kennen sich oft schon seit Jahren. - Transnationale Ehen sind, entgegen der in der Öffentlichkeit verbreiteten Meinung, dass es sich dabei um arrangierte oder um Zwangsehen handelt, häufig selbst organisiert und selbst bestimmt. 6 Die meisten transnationalen Eheschließungen sind keine Verwandtschaftsehen. Neben den genannten Faktoren - Struktur des Heiratsmarktes und Dichte transnationaler Netzwerke - führt Straßburger noch folgende Kriterien an, die bei der Entscheidung für eine transnationale Eheschließung eine Rolle spielen können: - Die Kompatibilität der Partner in Bezug auf Lebensstil und Lebensweise und vor allem hinsichtlich religiöser und moralischer Wertvorstellungen; 4 Die Daten aus Straßburgers Untersuchung stammen aus deutschen Standesämtern, aus türkischen Konsulaten und vom statistischen Bundesamt aus den Jahren 1995 und 1996, einige auch aus dem Jahr 1994. 5 Die Daten aus Bamberg, die Straßburger mit heranzieht, zeigen, dass 1994 drei Viertel der Männer mit einer Frau verheiratet waren, die im Rahmen des Ehegattennachzugs nach Deutschland kam (Straßburger 2003, S. 123). Auch für Frauen lag die Präferenz sehr deutlich bei transnationalen Eheschließungen. Die Zahlen für Frauen, die über Ehegatten-Nachzug kamen, lagen jedoch niedriger als die der Männer. Straßburger deutet das als Folge des traditionellen Konzepts der Virilokalität, d.h. sie geht davon aus, dass viele deutschtürkische Frauen nach der Eheschließung ihrem Mann in die Türkei gefolgt sind. 6 Dieser Befund ergab sich sowohl in Straßburgers Studie als auch in den in Frankreich und Belgien durchgeführten Studien, vgl. Straßburger (2003, S. 258). Inken Keim 56 - der soziale Druck innerhalb transnationaler Netzwerke, da die zurückgebliebenen Angehörigen der Großfamilie oder des Freundkreises hoffen oder erwarten, dass ihnen eine Migration durch Heirat ermöglicht wird. Die Untersuchung von Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005) zur Lebenslage junger Migrantinnen italienischer, griechischer, russischer und „ jugoslawischer“ Herkunft bestätigt einige Befunde Straßburgers. Allerdings erfasst die Untersuchung nicht bereits bestehende Ehen, sondern (nur) die Partnerwünsche der befragten jungen Frauen und ihre Vorstellungen zu dem Leben nach der Heirat. 7 Die Autorinnen fanden heraus, dass türkischstämmige junge Frauen eine innerethnische Ehe präferieren; sie wünschen sich im Vergleich zu den Migrantinnen anderer Herkunft (italienisch, griechisch, russisch, „jugoslawisch“) wesentlich häufiger (75% der Befragten) einen Mann gleicher ethnischer Herkunft. Als Grund dafür nennen sie die ablehnende Haltung der Eltern zu einer interethnischen Ehe. Außerdem wollen die jungen Frauen selbst über die Wahl des Partners bestimmen, und sie erteilen einer von den Eltern arrangierten Ehe eine deutliche Absage. Nur 11% würden der Mitwirkung der Eltern bei der Partnersuche zustimmen, weitere 12% machen die Zustimmung von den jeweiligen Bedingungen und dem Kandidaten abhängig. Im Vergleich zu Straßburgers Befunden in Bezug auf die Einstellung zu einer transnationalen Ehe ergibt sich allerdings eine interessante Veränderung: Während sich in Straßburgers Daten eine sehr deutliche Präferenz für transnationale Eheschließungen zeigt, wünschen sich mehr als die Hälfte der von Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005) befragten türkischstämmigen Mädchen einen deutsch-türkischen Partner. 8 Trotz unterschiedlicher Anlage machen die Befunde beider Untersuchungen deutlich, 9 dass es eine Veränderung im Heiratsverhalten gibt: Die jungen Frauen zeigen keine Präferenz mehr für eine 7 Die Studie wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt; die Daten wurden zwischen November 2001 und März 2002 erhoben. Befragt wurden 950 Mädchen und unverheiratete Frauen im Alter von 15 bis 21 Jahren italienischer, griechischer und türkischer Herkunft, ebenso Informantinnen aus dem ehemaligen Jugoslawien und Aussiedlerinnen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Es wurden persönliche Interviews mittels eines standardisierten Fragebogens geführt und bilinguale Interviewerinnen eingesetzt, d.h. die Befragten konnten ihre Sprache wählen. 8 Nur 46% sind bereit, auch einen Partner aus dem Herkunftsland der Eltern, also eine transnationale Verbindung, in Betracht zu ziehen. 9 Die Befunde beider Studien können nicht direkt verglichen werden, da Straßburger (2003) das Heiratsverhalten beider Geschlechter untersucht, während Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005) nur Frauen berücksichtigen; außerdem erlauben die Aussagen zu Heiratswünschen nicht den Schluss auf das aktuelle Heiratsverhalten. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 57 transnationale Ehe, 10 auch wenn sie weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Außerdem betreffen transnationale Eheschließungen Männer und Frauen in ähnlichem Ausmaß. 11 Heiratsmigration ist vor allem durch mediale Berichte in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, durch Berichte über sehr junge Frauen aus ländlichen Regionen der Türkei, die in Deutschland in „arrangierten“ Ehen oder in Zwangsehen sozial isoliert leben und von ihren Männern und den Schwiegerfamilien ausgebeutet werden. In diesem Zusammenhang wird auch über schwere Menschenrechtsverletzungen, Gewaltkriminalität und sog. „Ehrenmorde“ berichtet. Außer diesen äußerst dramatischen Fällen ist nur wenig über das Leben von Frauen und Männern bekannt, die über Heirat nach Deutschland zugewandert sind. Im Folgenden werde ich auf der Basis gesetzlicher Grundlagen (Kap. 1), amtlicher Daten und von Forschungsergebnissen aus Migrationssoziologie und Sozialpädagogik (Kap. 2 und 3) eine Einführung in den Gegenstandsbereich geben und verschiedene Facetten von Heiratsmigration vorstellen. Dann werde ich auf der Basis ethnografischer Daten die Situation von Heiratsmigranten und -migrantinnen in Mannheim darstellen (Kap. 4 und 5) und abschließend eine Deutsch-Türkin vorstellen, die einen Mann aus der Türkei geheiratet hat und sich als „glücklich verheiratet“ charakterisiert (Kap. 6). 1. Gesetzliche Grundlagen der Heiratsmigration nach Deutschland Heiratsmigration nach Deutschland, d.h. Migration durch Eheschließung mit einem Partner in Deutschland, hat es in unterschiedlichem Ausmaß immer gegeben. Häufig handelt es sich um Menschen aus wirtschaftlich schwächeren Ländern (z.B. Russland, Thailand, Polen, Ukraine etc.), die nach Deutschland migrieren. 12 Amtliche Statistiken haben nur eine beschränkte Aussagekraft über das Ausmaß der Heiratsmigration, da in der offiziellen Statistik nur Eheschließungen auftauchen, die vor einem deutschen Standesamt oder in 10 Auch für Straßburger (2003) ist eine ähnliche Veränderung für die Zukunft zu erwarten. In Kapitel 8.3 „Entwicklungstendenzen“ heißt es: Die „Diversifizierung der sozialen Netzwerke bewirkt, dass Eheschließungen mit am Herkunftsort lebenden bzw. zur unmittelbaren Herkunftsgruppe zählenden Partnern und Partnerinnen an Bedeutung einbüßen. [...] Die Herkunftsgruppe [...] verliert ihre ursprüngliche Funktion als wichtigster Heiratsmarkt“ (Straßburger 2003, S. 282). 11 Vgl. „Migrationsbericht 2007“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007, S. 119). 12 Vgl. Stelzig (2005). Inken Keim 58 einem deutschen Generalkonsulat im Ausland geschlossen wurden. Viele Paare mit einem deutschen und einem ausländischen Partner entschließen sich jedoch im Ausland zu heiraten, wenn dies mit weniger Bürokratie verbunden ist oder es für den ausländischen Partner unmöglich ist, die für die Eheschließung in Deutschland erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Nach der Heirat im Ausland stellen die in Deutschland lebenden Partner in der Regel einen Antrag auf Familienzusammenführung, der, wenn die gesetzlichen Bedingungen erfüllt sind, auch genehmigt wird. Der zugereiste Partner hat zunächst kein eigenständiges Aufenthaltsrecht, sondern sein Aufenthalt ist vom Ehepartner abhängig. Ehepartner, die im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen sind, können im Scheidungsfall ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten. Voraussetzung dafür ist, dass die Ehe seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig Bestand hatte (Aufenthaltsgesetz § 31 (1)). 13 Durch das am 28. August 2007 in Kraft getretene Richtlinienumsetzungsgesetz wurden wesentliche Neuregelungen für den Ehegattennachzug in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen und es wurden einige Ausschlussgründe für den Familiennachzug eingeführt. 14 Der Familiennachzug wird nicht zugelassen, wenn feststeht, dass eine sog. Schein- oder Zwangsehe vorliegt (§ 27 Abs. 1a AufenthG). Zusätzliche Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Ehegatten sind nunmehr, dass beide Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) und der nachziehende Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Er muss einfache Deutschkenntnisse auf der „Kompetenzstufe A1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen“ ( GER ) nachweisen, und zwar vor der Einreise bei der Beantragung des Visums für den Ehegattennachzug in der deutschen Auslandsvertretung. Als Nachweis gilt in der Regel ein Sprachzertifikat des Goethe- Instituts oder seiner Lizenznehmer. Vor dem 28. August 2007 waren Deutschkenntnisse noch keine Voraussetzung für die Aufenthaltserlaubnis. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, warum Heiratsmigrant(inn)en, die vor 2007 einreisten, in der Regel keine Deutschkenntnisse vor ihrer Einreise erwarben. 15 13 Ausnahmen bestehen bei besonderer Härte, wenn z. B. die Frau von ihrem Ehemann schwer misshandelt oder zur Prostitution gezwungen wurde. In solchen Fällen kann auch von der Mindestbestandsdauer der Ehe abgesehen werden (Aufenthaltsgesetz § 31 (2)). 14 Vgl. dazu den „Migrationsbericht 2007“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007, S. 116ff.). 15 Doch auch für diese Zuwanderer kann es die Verpflichtung zum Deutschlernen geben. Seit dem Zuwanderungsgesetz (2005) wird zwischen Altzuwanderern, die vor 2005 eingewandert sind, und Neuzuwanderern, die danach eingereist sind, unterschieden. Neuzuwanderer Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 59 Weitere Voraussetzungen für den Familiennachzug sind, dass der hier lebende Partner, wenn er nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hat, eine Niederlassungserlaubnis, eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt- EG oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzen und ausreichender Wohnraum zur Verfügung stehen muss (§ 29 Abs. 1 AufenthG). Außerdem muss der Lebensunterhalt des zuziehenden Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert sein. Eine wichtige Grundlage für die Erfassung des Ehegatten- und Familiennachzugs bietet die Visastatistik des Auswärtigen Amtes. 16 Sie weist diejenigen Fälle aus, in denen in einer deutschen Vertretung im Ausland ein Visum auf Nachzug eines Ehegatten oder Familienangehörigen erteilt worden ist. Neben der Visa-Statistik des Auswärtigen Amtes kann auch das Ausländerzentralregister ( AZR ) als Datenquelle für den Ehegatten- und Familiennachzug genutzt werden. Doch die Zahlen der Visa-Statistik und des AZR lassen sich nur bedingt vergleichen, so dass es - so Straßburger (2003, S. 66ff.) - insgesamt immer noch keine zuverlässigen Zahlen gibt. Dies liegt auch daran, dass die Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen an Personen erteilt werden kann, die zunächst zu einem anderen Zweck eingereist sind, und dass im AZR auch der Nachzug sonstiger Familienangehöriger und der Nachzug von Staatsangehörigen, die visumfrei in das Bundesgebiet einreisen können, erfasst werden. 2. Heiratsmigration aus der Türkei nach Deutschland 17 Heiratsmigration findet vor allem entlang transnationaler Strukturen und Netzwerke statt. 18 Es gibt Heiratsmigration aus der Türkei nach Deutschland und von Deutschland in die Türkei. So stellen deutsche Frauen mit oder ohne türkikönnen von den Behörden zu einem Integrationskurs verpflichtet werden, wenn sie sich nicht zumindest auf einfache Weise in deutscher Sprache verständigen können. Altzuwanderer können dazu verpflichtet werden, wenn sie ‘Hartz IV ’ bekommen und als „besonders integrationsbedürftig“ gelten, d.h. nach Festlegung des Bundesjustizministeriums: „wenn es (dem Zuwanderer) bisher nicht gelungen ist, sich ohne staatliche Hilfe in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben [...] zu integrieren“, zit. aus einem Artikel in der Zeit vom 17.06.2010, S. 14. 16 Zur Datenbasis und den folgenden Ausführungen vgl. Straßburger (2003, S. 63ff.). 17 Zu den folgenden Ausführungen vgl. „Migrationsbericht 2007“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007, Kap. 2.7). 18 Straßburger (2003, S. 122ff.) zeigt, dass für deutsch-türkische Frauen und Männer der transnationale Heiratsmarkt attraktiv war und viele einen Partner aus der Türkei heirateten. Für beide Geschlechter war „der relevante Heiratsmarkt transnational“. Ähnlich lagen in den 1990er Jahren auch die Verhältnisse in Belgien und Frankreich (zitiert nach Straßburger 2003, S.127). Inken Keim 60 schen Hintergrund die größte Gruppe der mit türkischen Männern verheirateten Ausländerinnen in der Türkei dar, 19 und Türkinnen und Türken, die als Ehepartner von Deutschen bzw. von in Deutschland lebenden Migrant(inn)en türkischer Herkunft zuwandern, stellen unter den Heiratsmigrant(inn)en in Deutschland insgesamt die größte Gruppe dar. 20 Bei der transnationalen Partnersuche werden Partner(innen) aus dem Herkunftsort bzw. der Herkunftsregion der Eltern bevorzugt. 21 Nach Auskunft der Visa-Stellen in der Türkei kamen von 1998 bis 2003 jährlich zwischen 21 000 und 27 000 Personen durch eine Heirat nach Deutschland. In den Folgejahren ging die Zahl zurück und sank bis auf weit unter 10 000. Die Zuwanderung von weiblichen und männlichen Ehepartnern ist ähnlich hoch: Im Jahr 2007 z.B. kamen 3 513 Ehefrauen (erteilte Visa) und 3 113 Ehemänner (erteilte Visa) nach Deutschland. Im „Migrationsbericht 2007“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007) wird bezüglich des Alters der Heiratsmigrant(inn)en nicht nach Ländern spezifiziert, und Zahlen für die Zuwanderer aus der Türkei sind nicht gesondert angegeben. Generell lässt sich sagen, dass der Anteil ganz junger Zuwanderer (18-21 Jahre) gering ist und dass bei dieser Gruppe die Frauen überwiegen (81% - 88%). So waren bei den 2007 nachziehenden Ehegatten aus allen Ländern nur insgesamt 0,4% jünger als 18 Jahre; 22 in der Altersgruppe zwischen 18 bis unter 21 Jahre kamen in demselben Jahr 5,5% ausländische Ehegatten. In den höheren Altersgruppen, die 94% der Heiratsmigrant(inn)en ausmachen, ist der Anteil der Geschlechter ziemlich ausgeglichen. Auch wenn Migrantinnen der zweiten Generation in Deutschland (immer noch) bevorzugt in der Herkunftskultur heiraten, 23 so modifizieren sie doch durch ihre kritische Haltung traditionelle Ehe- und Partnerschaftskonzepte; 19 Nach Informationen des Verbandes binationaler Familien (2002) machten deutsch-türkische Verbindungen die Mehrheit der binationalen Verbindungen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei aus; zitiert nach Straßburger (2003, S. 127). 20 Vgl. „Migrationsbericht 2007“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007, S. 119ff.). 21 Vgl. dazu Kizilocak/ Sauer (2006) . 22 In absoluten Zahlen waren es 2007 154 Personen und 2006 323 Personen. 23 Dass viele Deutsch-Türkinnen bevorzugt intra-ethnisch heiraten und nicht über ethnische Grenzen hinweg, hat viele Gründe. Die von mir untersuchten „türkischen Powergirls“ (Keim 2008) z.B. nannten folgende: a) religiöse Unterschiede: es sei einer Muslimin verboten einen Andersgläubigen zu heiraten; b) familiäre Probleme: die Eltern lehnten einen „kulturell Fremden“ als Schwiegersohn ab, und c) die Töchter befürchteten den Verlust der Familiensolidarität, wenn sie einen „Fremden“ heirateten. Im Fall des Scheiterns der Ehe könnten sie Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 61 sie lehnen z.B. Verwandtenehen ab 24 und fordern einen Wandel bzw. die Auflösung traditioneller Rollenverteilungen im Bereich von Partnerwahl und Ehe. 25 Einen Wandel traditioneller patriarchalischer Ehe- und Familienrollen scheinen sich türkischstämmige junge Männer weniger zu wünschen. Für viele scheinen immer noch die traditionellen Vorstellungen zu gelten, denn die „türkischen Powergirls“ z.B. charakterisieren die jungen Männer in ihrem sozialen Umfeld als Machos, die alles in der Familie bestimmen und sich von Frauen bedienen lassen wollen. Die Anbahnung einer transnationalen Ehe geschieht entweder auf Initiative der jungen Leute selbst oder in Form eines Arrangements durch Familienangehörige oder Freunde bzw. Bekannte. Wenn das junge Paar sich für ein Leben in Deutschland entscheidet, sieht der technisch-organisatorische Verlauf einer transnationalen Ehe folgendermaßen aus: 26 Der in Deutschland lebende Partner kann den türkischen über „Familiennachzug“ nach Deutschland holen. Als Voraussetzung dafür muss er einen Arbeitsplatz nachweisen. Er oder sie fliegt im Urlaub in die Türkei und heiratet dort standesamtlich; 27 danach reist er oder sie wieder zurück. Der türkische Partner stellt dann einen Antrag auf Ausreise und Familienzusammenführung und wartet, bis der Antrag genehmigt wurde. Das kann bis zu einem Jahr dauern. In der Zwischenzeit oder danach wird in der Regel die religiöse und im Anschluss daran die öffentliche Hochzeit mit einem großen Fest gefeiert. Erst dann gilt das Paar als „verheiratet“ und kann gemeinsam leben. 28 nicht mit der Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie rechnen. Im Rahmen meiner Untersuchung lernte ich aber auch junge Deutsch-Türkinnen kennen, die mit einem Nicht-Moslem und Nicht-Türken glücklich verheiratet sind. 24 Viele der von Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005) befragten jungen Frauen türkischer Herkunft schließen eine durch die eigenen Verwandten arrangierte Eheschließung mit Partnern aus der Türkei aus (fast 80%). 25 Vgl. Herwartz-Emden/ Westphal (2003), vgl. auch die jungen Deutsch-Türkinnen, die ich beschrieben habe (Keim 2008); vgl. auch die in Kap. 5.2 und 6 dargestellten Einstellungen und Erfahrungen junger Deutsch-Türkinnen. 26 Vgl. dazu Straßburger (2003, S.121); vgl. dazu auch unsere Fallstudien. 27 Für religiöse Türk(inn)en hat die standesamtliche Trauung nur eine geringe Bedeutung, sie wird von vielen Betroffenen als eine Art Vorstufe zur Ehe, als eine Art „Verlobung“ (nişan) betrachtet. 28 Hochzeitsfeierlichkeiten, standesamtliche und religiöse Trauung, öffentliche Feier können auch in anderer Reihenfolge verlaufen. Inken Keim 62 2.1 Heiratsmigration, Zwangsheirat und Ehrenmord in öffentlichen Diskursen Mediale Darstellungen über Heiratsmigration aus der Türkei und die öffentliche Debatte darüber fokussieren vor allem sehr junge Migrantinnen mit geringer Schulbildung aus ländlichen Regionen der Türkei, die von ihren Familien „verheiratet werden“. 29 Die Berichterstattung über Zwangsehen und sog. „Ehrenmorde“ und über die Verfolgung von Menschenrechtlerinnen, die sich für den Schutz von Frauen und die bedingungslose Bestrafung der „Ehrenmörder“ einsetzten, wurde vor allem durch den Mord an der jungen Türkin Hatun Sürücü 2005 ausgelöst, die aus einer erzwungenen Ehe geflohen war. „Ehrenmorde“ beherrschten für einige Zeit die Medien. 30 Heiratsmigration hat jedoch nichts mit Zwangsehe zu tun und muss sehr genau davon unterschieden werden. Der Organisation Terres des Femmes zufolge wird unter „Zwangsehe“ eine Ehe verstanden, in der einer der Partner oder beide gegen ihren Willen verheiratet werden. 31 Neben psychischer (Erpressung, Drohung, Unterdrückung) und physischer Gewalt (körperliche Misshandlung, Tötung) gilt auch Zwangsheirat als Menschenrechtsverletzung und als eine Form von Gewalt, die oft im Namen der „Ehre“ begangen wird. Die so genannte „ehrbezogene“ Gewalt kommt innerhalb stark patriarchalischer Familien und Gesellschaften vor und richtet sich vor allem gegen Frauen, in einigen Fällen auch gegen Männer. Zu den Ländern, in denen Gewalt im Namen der „Ehre“ vorkommt, gehören z.B. Irak, Iran, Afghanistan, Kosovo/ Albanien, Libanon, Syrien, Pakistan und Jordanien. In der Türkei kommen Zwangsehen eher in den östlichen Landesteilen vor, in Gegenden, in denen Clans (aşiret) einflussreich 29 Dass sehr junge Zuwanderinnen (unter 18 Jahre) insgesamt nur eine sehr kleine Gruppe darstellen, zeigten die oben angeführten Zahlen aus dem „Migrationsbericht 2007“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007); d.h. in medialen Darstellungen wird eine zahlenmäßig sehr kleine Gruppe thematisiert und ihre Relevanz äußerst hoch gestuft. 30 Vgl. z.B. den Artikel von Werner Schiffauer in der Süddeutschen Zeitung vom 25.02.2005 mit dem Titel „Schlachtfeld Frau. Die Zahl der „Ehrenmorde“ an türkisch-stämmigen Frauen nimmt in der letzten Zeit drastisch zu. Mit dem Islam haben sie wenig zu tun - aber viel mit Selbstausgrenzung.“. Auch die öffentlichen Auftritte der Juristin Seyran Ateş und ihre Publikationen, ebenso wie das Buch der türkischen Journalistin Ayşe Önal (2008): „Warum tötet ihr? Wenn Männer für die Ehre morden“ trugen zur öffentlichen Beschäftigung mit dem Thema Ehrenmord bei. In Mannheim fand am 26.06.2006 eine Tagung über „Zwangsverheiratung“ statt, veranstaltet vom Beauftragten für ausländische Einwohner, bei der Vertreterinnen aus ganz Deutschland über ihre Erfahrungen berichteten; vgl. den Bericht zur Tagung unter www.mannheim.de/ tagungsdokumentation_zwangsheirat_ma_26_6_06-1.pdf . 31 Vgl. Böhmeke/ Walz-Hildenbrand (2007, S. 9). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 63 sind. 32 Ehrbezogene Gewalt ist ursprünglich kein religiöses Phänomen, wird aber immer wieder religiös begründet und gerechtfertigt. 33 Sie kommt nicht nur in muslimischen, sondern auch in anderen religiösen Gemeinschaften vor, u.a. in Süditalien, Makedonien und Indien. 34 Der Einsatz von Gewalt wird mit dem Erhalt bzw. mit der Wiederherstellung der Familienehre begründet und von nahen männlichen Familienangehörigen ausgeführt. Mädchen und Frauen müssen sich „ehrenhaft“ verhalten, da davon die Familienehre abhängt. Wenn ein Mädchen oder eine Frau in den Augen der Familie die „Ehre“ verletzt hat, wird die Bestrafung, die Verstoßung oder der „Ehrenmord“ vom Familienrat gemeinsam beschlossen; die Wiederherstellung der „Ehre“ muss durch männliche Familienmitglieder geleistet werden. 35 Frauen und Männer stehen in Bezug auf die Bewahrung der Familienehre unter einem enormen gesellschaftli- 32 Vgl. auch die englischsprachige Zusammenfassung einer neuen Dissertation über die Praxis des berdel in der Südosttürkei. Darunter wird die gleichzeitige und wechselseitige Verheiratung eines Sohnes und einer Tochter einer Familie mit dem Sohn und der Tochter einer anderen Familie verstanden. Hintergrund dieser Doppelhochzeit sind oft wirtschaftliche Probleme. Die Notwendigkeit eines başlık (Brautgeld) entfällt und die Bindungen zwischen zwei Familien werden gestärkt. Die Familien verlieren keine Arbeitskraft. Im Fall des Scheiterns der Ehe eines Paares wird auch das andere Paar getrennt. Das ist eine alte Tradition, die nach Erkenntnis der Verfasserin der Befriedung zwischen Familien dienen soll. Begünstigt wird die Tradition durch die patriarchalen Familien- und feudalen Besitz- und Stammesstrukturen. Die Bekämpfung dieser Sitte ist offizielle Regierungspolitik der Türkei. Zur Dissertation über berdel vgl. Şebnem Eraş, Bericht in Hürriyet Daily News vom 07.01.2010, Internet: http: / / www.hurriyetdailynews.com/ n.php? n=are-woman-victim-of-berdel-marriageor-not-2010-01-06 (Stand: 11/ 2011). 33 Vgl. dazu Antes (2004, S. 16-22). 34 Vgl. dazu u.a. die Studie von Khanum (2008) über Gewalt im Namen der „Ehre“ in Großbritannien. 35 Dass solche patriarchalischen Familienstrukturen und auf das „Familienansehen“ bezogene Denkmuster auch in einigen Migrantenfamilien in Deutschland noch vorherrschen, zeigen zwei Fälle, die in jüngster Zeit durch die Presse gingen, und dem beschriebenen Prozedere folgten: Ein 21jähriger wurde wegen „Ehrenmordes“ zu 14 Jahren Haft verurteilt. Nach Darstellung des Richters „hatte ein Familientribunal [...] den Tod der jungen Frau beschlossen“, deren „westlich orientierter Lebensstil die konservative Familie“ zutiefst empörte; vgl. Bericht im Mannheimer Morgen vom 20.01.2010, S. 13: „‘Ehrenmord’ an Cousine führt für 14 Jahre in Haft“. Der Cousin der jungen Frau, der die Tat ausführen sollte, wurde von seinem Onkel unterstützt, der zu diesem Zweck aus Finnland angereist war. Derselbe Artikel berichtet von einem weiteren aktuellen Fall, in dem ein Vater den Mord an seiner Tochter in Auftrag gab, weil sie schwanger geworden war und abgetrieben hatte; der Mörder war ihr Bruder. Der Vater wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, der Bruder zu neuneinhalb Jahren Jugendhaft. Vgl. in jüngster Zeit auch den Film „Die Fremde“, in dem Zwangsheirat und der sog. Ehrenmord sehr differenziert dargestellt werden. Inken Keim 64 chen Druck: Wird der Mann seiner Aufpasser- und Schutzfunktion nicht gerecht oder kommt er seiner Verpflichtung zur Wiederherstellung der „Ehre“, wenn die Frau sie verletzt hat, nicht nach, gilt er als Schwächling und wird gesellschaftlich ausgegrenzt und geächtet. Die in patriarchalischen Familien vorherrschende Vorstellung von Ehre basiert auf einer Familien- und Rollenstruktur, die ich hier nur kurz skizzieren kann. 36 Alle Familienmitglieder sind der Familienehre verpflichtet, denn darauf gründen das Ansehen der Familie und ihre soziale Position in der Gemeinschaft. Jedes Familienmitglied hat eine bestimmte Familienrolle, verbunden mit Aufgaben und Pflichten: Der Vater entscheidet als Oberhaupt der Familie in allen Familienangelegenheiten und vertritt die Familie nach außen. Die Mutter erzieht die Kinder, ist Vertraute der Kinder und bei Konflikten Vermittlerin zwischen Vater und Kindern. Hat z.B. eines der Kinder einen bestimmten Heiratswunsch, wird er zuerst der Mutter offenbart; sie versucht den Wunsch dem Vater zu vermitteln. Mädchen müssen sich zurückhaltend und unterordnend verhalten und jungfräulich in die Ehe gehen. Um Jungfräulichkeit zu garantieren, werden sie möglichst früh verheiratet. Die Jungen werden schon früh in die Rolle als „Beschützer“ der weiblichen Mitglieder eingeführt; sie überwachen die Außenkontakte der Schwestern, um eine Verletzung der Familienehre möglichst auszuschließen. 37 Die Auslöser für Gewalt im Namen der „Ehre“ können vielfältig sein: z.B. das Tragen unpassender Kleidung und auffallende Aufmachung; ein Gespräch oder ein Flirt mit einem Fremden; die Beziehung zu einem Mann, den die Eltern nicht akzeptieren. Vergewaltigung kann als Ehrverletzung gelten, wobei die Schuld der Frau zugewiesen und ihr unterstellt wird, den Mann durch unehrenhaftes Verhalten provoziert zu haben. Auch der Wunsch sich zu trennen oder scheiden zu lassen, kann als Ehrverletzung gelten. Die Schuld bei Eheproblemen wird oft der Frau angelastet, die sich nicht richtig verhalten hat, keine „gute“ Ehefrau war und den Mann zu Vergeltungsmaßnahmen getrieben hat. Einem Bericht des Justizministeriums Baden-Württemberg (2006, S. 30) zufolge ist die Gefahr zwangsverheiratet zu werden für Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren besonders groß. Gründe für eine Zwangsheirat können Terres 36 Vgl. ausführliche Darstellungen u.a. in Schiffauer (1991), Nauck (1994, 2000, 2004) und Keller (2004). 37 Diese Aufgabe gilt unabhängig vom Alter des Jungen bzw. von der Altersdifferenz zwischen Bruder und Schwester; auch ein „kleiner“ Bruder wird zum Beschützer seiner „großen“ Schwester. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 65 des Femmes zufolge sein: Die Eltern wollen das „abweichende Verhalten“ des Kindes (Sohn oder Tochter) durch eine Ehe korrigieren und das Kind vor der „schiefen Bahn“ bewahren; sie wollen einem Verwandten die Migration durch Heirat ermöglichen, verwandtschaftliche Beziehungen zu Verwandten durch eine Ehe zwischen Cousin und Cousine festigen, die Beziehungen zur Herkunftsregion aufrecht erhalten, oder sie haben bestimmte finanzielle Interessen. 38 Verbrechen im Namen der „Ehre“ geschehen weltweit. Doch weder in Europa noch in Deutschland existieren genaue Zahlen über das Ausmaß von ehrbezogener Gewalt. Bei der Frauenrechtsorganisation Terres des Femmes meldeten sich 2005 und 2006 insgesamt 364 Mädchen und Frauen, die in Deutschland von Zwangsheirat und Gewalt im Namen der Ehre betroffen waren. 39 In Großbritannien gibt es eine erste qualitative Studie von Nazia Khanum über Zwangsheirat (Khanum 2008). Über das Ausmaß wird folgendes gesagt: „Forced marriage is a serious problem. The Government's Forced Marriage Unit deals with 250-300 cases per year. These are the most difficult cases, representing the tip of the iceberg. Many more - perhaps several thousand - are not reported. Nevertheless [...] the great majority [of marriages] in the UK [...] are consensual. Only a small minority of marriages are forced.“ (ebd., S. 8). Das Thema Heiratsmigration im Zusammenhang mit Menschrechtsverletzungen hat durch das Buch von Necla Kelek „Die fremde Braut“ (2005) große Popularität erfahren. Obwohl im Fokus des Buches verschiedene Gewaltphänomene in der türkischen Migrantenpopulation stehen, die durch neue Untersuchungen über familiäre Gewalt in der Türkei z.T. untermauert werden, 40 38 Vgl. Böhmeke/ Walz-Hildenbrand (2007, S 12). Eine neue Studie des Bundesfamilienministeriums (vorgestellt am 09.11.2011 in der Süddeutschen Zeitung) zu Zwangsehen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass fast 30 Prozent der Opfer von Zwangsehen minderjährig sind. Fast zwei Drittel der Fälle stammen aus religiösen Familien aus der Türkei, Serbien, Kosovo, Montenegro und Irak. Die Studie basiert auf Angaben aus Beratungseinrichtungen, die im Jahr 2008 etwa 3 400 Menschen betreut hatten, der Dokumentation von Einzelfällen sowie Informationen von Schulen und Migrantenorganisationen; es ist also keine repräsentative Befragung von Betroffenen. Die Motive der Familie waren: Wahren des sozialen Ansehens der Familie und Zusagen an Kandidaten aus der Herkunftsregion. Die Ehe wurde auch als Mittel gegen unerwünschte Freunde und Freundinnen oder sogar gegen Homosexualität betrachtet. Internet: http: / / www.sueddeutsche.de/ politik/ zwangsehen-in-deutschlandzum-ja-wort-genoetigt-1.1184418 (Stand: 11/ 2011). 39 Zitiert aus Böhmeke/ Walz-Hildenbrand (2007, S. 11). 40 Vgl. die Survey-Studie zu familiärer Gewalt gegen Frauen in der Türkei, die von Ayşe Gül Altınay and Yeşim Arat 2006/ 2007 landesweit durchgeführt und vom Scientific and Techno- Inken Keim 66 kommt das Thema Heiratsmigration in den Fokus, da sich vor allem Heiratsmigrantinnen aufgrund ihrer schwachen rechtlichen und sozialen Position kaum zur Wehr setzen können, wenn sie in einer von Gewalt geprägten Ehe leben müssen. Doch es wäre fatal - allein schon aufgrund der Datenlage bei Kelek (2005) (50 Gespräche mit ausgewählten Frauen) - den Schluss zu ziehen, dass alle Heiratsmigrantinnen Opfer von familiärer Gewalt oder von Zwangsehen sind. 41 Allerdings verleiten Keleks generalisierende Darstellungen sehr leicht zu solchen Annahmen. Die typische Heiratsmigrantin bzw. „Importbraut“ beschreibt sie z.B. folgendermaßen: (Sie) ist meist gerade eben 18 Jahre alt, stammt aus einem Dorf und hat in vier oder sechs Jahren notdürftig lesen und schreiben gelernt. Sie wird von ihren Eltern mit einem ihr unbekannten, vielleicht verwandten Mann türkischer Herkunft aus Deutschland verheiratet. Sie kommt nach der Hochzeit in eine deutsche Stadt, in eine türkische Familie. Sie lebt ausschließlich in der Familie, hat keinen Kontakt zu Menschen außerhalb der türkischen Gemeinde. Sie kennt weder die Stadt noch das Land, in dem sie lebt. Sie spricht kein Deutsch, kennt ihre Rechte nicht, noch weiß sie, an wen sie sich in ihrer Bedrängnis wenden könnte. In den ersten Monaten ist sie total abhängig von der ihr fremden Familie, denn sie hat keine eigenen Aufenthaltsrechte. Sie wird tun müssen, was ihr Mann und ihre Schwiegermutter von ihr verlangen. Wenn sie nicht macht, was man ihr sagt, kann sie von ihrem Ehemann in die Türkei zurückgeschickt werden - das würde ihren sozialen oder realen Tod bedeuten. Sie wird bald ein, zwei, drei Kinder bekommen. Ohne das gilt sie nichts und könnte wieder verstoßen werden. Damit ist sie logical Research Council of Turkey's ( TÜBİTAK ) Social and Human Sciences Research Group finanziert wurde. Ein Ergebnis der Studie ist, dass 35% der verheirateten Frauen in der Türkei von familiärer Gewalt betroffen waren. Dabei gibt es keine nennenswerten Unterschiede zwischen östlichen und westlichen Landesteilen. Interessant ist außerdem, dass es eine signifikante Korrelation gibt zwischen der Form der Eheschließung und der Wahrscheinlichkeit eheliche Gewalt zu erfahren: „Those couples who met each other and got married with their families' approval suffer less violence in their marriages than those who married without their families' approval, whether after meeting on their own or being part of arranged marriages. Twenty-eight percent of those who met each other and got married with their families' approval have been subjected to physical violence at least once, while the figure for those who are part of arranged marriages rises to 37 percent and the percentage for those who met each other but got married without their families' approval is even higher, at 49 percent“; zitiert aus einem Artikel von Ayşe Karabat in der englischsprachigen online- Version der Tageszeitung Today's ZAMAN vom 04.05.2009, http: / / www.todayszaman.com/ newsDetail_getNewsById.action? load=detay&link=174285 (Stand: 11/ 2011). 41 Dass dieser Schluss in der deutschen Öffentlichkeit gezogen wird, zeigt folgende Aktion von Gabi Straßburger: Sie verfasste 2005 zum Thema „Zwangsehe“ ein Statement, in dem sie sich gegen die von der CDU in NRW verbreitete Schätzung wendet, dass in Deutschland jährlich 30 000 Zwangsehen geschlossen würden. Die Autorin legt dar, dass diese Zahl höchstens der Gesamtzahl aller jährlich bundesweit geschlossenen Ehen im Zusammenhang mit Migration entspreche. Zwangsehen seien selten und dürften auf keinen Fall mit einer arrangierten Ehe gleichgesetzt werden; vgl. Straßburger (2005, S. 2). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 67 auf Jahre an das Haus gebunden. Da sie nichts von der deutschen Gesellschaft weiß und auch keine Gelegenheit hat, etwas zu erfahren, wenn es ihr niemand aus ihrer Familie gestattet, wird sie ihre Kinder so erziehen, wie sie es in der Türkei gesehen hat. Sie wird mit dem Kind türkisch sprechen, es so erziehen, wie sie erzogen wurde, nach islamischer Tradition. Sie wird in Deutschland leben, aber nie angekommen sein. Kaum jemand spricht mit diesen Frauen, weil diese in der Öffentlichkeit meist auch gar nicht auftauchen. Sie sind in den Familien, in den Häusern versteckt, sie können sich nicht mit Deutschen verständigen, sie haben keinen Kontakt zu Menschen, die ihnen helfen könnten, zu Behörden, Sozialarbeitern oder Beratungsstellen. [...] Am ehesten trifft man diese Frauen in den Moscheen. [...] Mit den Deutschen wollen sie in der Regel gar nichts zu tun haben. Sie sprechen deren Sprache nicht, sie verstehen deren Kultur nicht, und die Lebensweise der Deutschen wird gerade von den überzeugt religiösen Musliminnen verachtet. (Kelek 2005, S. 171ff.). In dem Buch von Kelek sehen Straßburger/ Ucan (2009) einige typische Opferdiskurse über muslimische Frauen realisiert, die in der Öffentlichkeit immer wieder geführt werden: 42 - Die jungen Frauen werden dargestellt als naive Dorfmädchen, die einem archaischen Brauch folgend von ihren Eltern verheiratet werden. Die Eltern wählen einen Partner, von dem sie glauben, dass die Mädchen eine bessere Zukunft haben. - Enge innerethnische Sozialkontakte und ein Leben, das auf die ethnische Kolonie beschränkt ist, erschweren den Heiratsmigrantinnen eine Entwicklung hin zur Mehrheitsgesellschaft. Die jungen Frauen leben nur auf die Familie und den Bekanntenkreis des Mannes beschränkt. Eine eigenständige Entwicklung erscheint unmöglich. - Außerdem erscheint die Heiratsmigrantin in totaler Abhängigkeit von ihrem Mann und seiner Mutter. Sie hat keine Kontakte nach „draußen“. Gleichzeitig wird sie zum Schicksal ihrer Kinder, an die sie die Ausweglosigkeit ihres eigenen, eingeschränkten Lebens weitergibt. - Kelek ist der Ansicht, dass viele Heiratsmigrantinnen unter dem Einfluss von Moscheegemeinden stehen, die mit Deutschen nichts zu tun haben wollen und die deren Lebensweise verachten. Aus Fallschilderungen ist bekannt, dass es solche Fälle gibt, auf die Aspekte all dieser Opferdiskurse zutreffen. 43 Vor allem Psychotherapeut(inn)en und 42 Huth-Hildebrandt (2002) hat bereits solche Diskurse ausführlich behandelt, darauf verweisen Straßburger/ Ucan (2009). 43 Vgl. das Dossier „Muslime Vielfalt in Deutschland der Heinrich Böll Stiftung“ (Interview mit Ayten Kilicarslan), vgl. den Bericht von Jörg Lau in Zeit online vom 21.04.08, http: / / blog.zeit. de/ joerglau/ 2008/ 04/ 21/ arrangierte-ehen-machen-krank_1151 (Stand: 11/ 2011), in dem er ein Ge- Inken Keim 68 Sozialpädagog(inn)en, die sich mit Gewaltphänomenen in Migrantenfamilien befassen, bestätigen, dass es Fälle gibt, die ähnlich sind, wie die von Kelek beschriebenen. In einem Spiegel-Artikel vom 27.11.2005 heißt es: „Auf der Suche nach einem Ehepartner heiraten viele in Deutschland lebende Türken Frauen aus der Türkei. Aber die importierten Lebenspartner erwartet oft ein Martyrium.“ 44 Als Beispiel wird über eine junge Türkin berichtet, die in der Türkei gut ausgebildet ist und einen guten Job hat. Sie lernt einen schlecht qualifizierten Deutschtürken kennen, verliebt sich und heiratet ihn, weil Heirat zu ihrem Lebensplan gehört und der Mann ihr von dem schönen Leben in Deutschland erzählt. Sie zieht nach Deutschland, ihr Mann entpuppt sich als gewalttätiger Tyrann, die Lebensverhältnisse sind ärmlich und sie hat niemanden, an den sie sich wenden könnte. Dass solche Fälle häufig vorkommen, wird durch den Verweis auf eine Sozialpädagogin belegt, die „viele solcher Schicksale aus der Nähe erlebt [hat]“. Die Pädagogin ist überzeugt, dass „95 Prozent der Ehen scheitern“, die zwischen einem Partner aus der Türkei und einem türkischstämmigen Partner aus Deutschland geschlossen werden. In der öffentlichen Debatte wird Heiratsmigration auch als Hindernis für die Integration junger Familien in die deutsche Gesellschaft angeführt, weil die Kinder aus solchen Ehen in einer Familie aufwachsen, in der ein Elternteil oft nur eine minimale Bildung und keine oder nur geringe Deutschkenntnisse hat. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel in der Berliner Zeitung vom 06.11.2008 mit dem Titel „Nachzügler ohne Abschluss. Ein Fünftel der türkischen Frauen kommt aus Dörfern“. 45 Zusammenfassend: In Medienberichten und in der öffentlichen Debatte im Zusammenhang mit Heiratsmigration werden vor allem spektakuläre negative Aspekte beleuchtet und dramatische Fälle geschildert, so dass mit „Heiratsmigration“ eher negative, problembeladene Vorstellungen evoziert werden. Die reale Situation von Heiratsmigranten und -migrantinnen in Deutschland, ihre soziale Lage, ihr alltägliches Leben und ihre Integrationsspräch mit der Psychiaterin Meryam Schouler-Ocak in der „taz“ zitiert; vgl auch die in meinen Gesprächen mit Sozialpädagoginnen und einer Therapeutin gewonnenen Informationen und Erfahrungen, die zeigen, dass es solche Fälle gibt und dass sie dramatisch verlaufen können. Was jedoch die Darstellung Keleks so ärgerlich macht, sind Pauschalisierung, Generalisierung und Bündelung negativer Aspekte, deren Übertragung auf eine ganze Population suggeriert wird. 44 Vgl. den Artikel von Ferda Ataman in Spiegel online vom 27.11.2005, „Heiratsmigration, Türkisch, ledig sucht ...“, http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ 0,1518,380583,00.html (Stand: 11/ 2011). 45 Vgl. http: / / www.berliner-zeitung.de/ archiv/ ein-fuenftel-der-tuerkischen-frauen-kommt-aus-doerfern -nachzuegler-ohne-abschluss,10810590,10598360.html (Stand: 11/ 2011). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 69 leistungen kommen in medialen Darstellungen in der Regel nicht in den Blick. Die „Normalität“ ihres Lebens ist weitgehend unbekannt. 2.2 Wissenschaftliche Untersuchungen Derzeit gibt es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zur Heiratsmigration aus der Türkei, doch sie zeigen ein ganz anderes Bild über Heiratsmigrant(inn)en. Die im Zentrum für Türkeistudien in Essen durchgeführte Studie von Aydın/ Sauer/ Güntürk (2003) widerlegt eine Reihe der den Heiratsmigranten pauschal zugeschriebenen Eigenschaften, wie ‘weiblich’, ‘sehr jung’ und ‘ungebildet’; 46 und sie zeigt, dass auch viele Männer über Heirat nach Deutschland kommen (45,2% Männer gegenüber 54,8% Frauen) und die meisten Antragsteller(innen) zwischen 20 und 25 Jahre alt waren. 47 Interessant ist, wie sich die Paare gefunden haben (Aydın/ Sauer/ Güntürk 2003, S. 54): Eheschließungen mit Verwandten - zu denen auch weit entfernte oder angeheiratete Verwandte zählen - machen rund ein Sechstel (15,6%) aller Ehen aus; 11,8% der Befragten geben an, dass sie ihren Partner schon lange kennen. Arrangierte Ehen liegen mit 28,1% deutlich hinter Ehen, bei denen die Ehepartner selbst die Initiative ergriffen haben (44,3%), nachdem sie sich im Urlaub oder im Bekanntenkreis kennengelernt hatten. Auch in Bezug auf die Bildung von Heiratsmigrantinnen zeigt die Studie ein anderes Bild: Ca. ein Drittel (31,3%) der Befragten hat die Pflichtschulzeit von 8 Jahren absolviert, ebenfalls ein Drittel (31,1%) hat das lise abgeschlossen. 48 Lediglich 3,4 Prozent geben an, dass sie keine Schule besucht haben. Die Übrigen haben Schulabschlüsse erworben, für die es in Deutschland keine passende Entsprechung gibt. Außerdem haben fast 12% der Befragten einen Universitätsabschluss erreicht. 49 46 Zum Folgenden vgl. Aydın/ Sauer/ Güntürk (2003); es wurden 1 500 Frauen und Männer interviewt, als sie vor einer Auslandsvertretung in der Türkei warteten, um einen Antrag auf Ehegattennachzug einzureichen. Die Zahl der Interviewten entsprach etwa einem Zehntel aller Personen, die damals im Rahmen einer Heiratsmigration aus der Türkei nach Deutschland kamen. 47 Vgl. dazu auch Straßburger/ Ucan/ Witt (2008). 48 Das lise ist dem deutschen Abitur vergleichbar. 49 Aufgrund dieser Befunde formulieren die Autor(inn)en folgendes Fazit (Aydın/ Sauer/ Güntürk 2003, S. 58): „Diese Ergebnisse sind wichtig für die Planung von Maßnahmen für Heiratsmigranten aus der Türkei. Der [...] Anteil von Personen, die in der Türkei die Hochschulreife erzielt haben, zeigt nicht nur, dass die Heiratsmigration auch für Personen mit höherem Schulabschluss in Betracht kommt, sondern dass für sie andere Bildungsvoraussetzungen bestehen, die bei der Sprachvermittlung als auch bei den Möglichkeiten beruflicher Qualifizierung berücksichtigt werden müssen bzw. genutzt werden sollten.“ Inken Keim 70 Aus der Migrationsforschung ist bekannt, dass im Zuge der Einwanderung aus „vormodernen Übergangsgesellschaften“ (Nauck 1994), wie sie auch ländliche Regionen der Türkei darstellen, oft eine Wechselwirkung von Integration und Individualisierung erfolgt; d.h. im Prozess der Integration der Zuwanderer in die neue Gesellschaft findet ein Individuierungsprozess statt. Zuwanderer lösen sich oft abrupt aus bisherigen auf das Kollektiv ausgerichteten Wertorientierungen und sozial streng kontrollierten Milieus, um individuelle Lebenswege zu planen und zu führen. Nauck (1994, S. 206ff.) sieht in ihnen ein „Musterbeispiel von individualisierter Lebensführung“, da sie im „historischen Zeitraffer“ den Wandel von verwandtschaftlich organisierten Zweckverbänden zur modernen Ehe durchlaufen können. Diesen Prozess hat Schiffauer (1991, S. 43ff.) detailliert dargestellt, der Informanten zuerst in ihrem Dorf Subay in der Türkei beobachtet und sie dann in die Migration nach Deutschland begleitet hat. Im türkischen Dorf war die Partnerwahl eng mit der Funktion verbunden, die die Eheschließung für den Gesamthaushalt der Heiratskandidaten hatte. Jedes Individuum hatte einen festen Platz in der Gesellschaft und musste die damit verbundenen Verpflichtungen erfüllen, wenn es von der Gesellschaft respektiert werden wollte. Der gesellschaftliche Platz des Individuums war eng mit dem Familienverband verwoben. Die sozialen Beziehungen zwischen Familienverbänden hatten auch eine ökonomische und sozial-politische Dimension, die das Ansehen (şeref) des Haushaltsvorstandes mit bestimmte. D.h. die Ehe hatte neben der sozial-emotionalen auch eine wirtschaftliche und sozial-politische Bedeutung. Da alle mit der Ehe verbundenen Dimensionen berücksichtigt werden mussten, entschied die Familie gemeinsam über eine eheliche Verbindung und die Heiratskandidaten hatten nur ein Vetorecht. Gefühle der Heiratskandidaten spielten in diesem Ehemodell nur eine sekundäre Rolle. Im Zuge der Migration hat Schiffauer einen erheblichen Wandel feststellen können. Die Stellung der Familie im sozialen Umfeld veränderte sich, die Kernfamilie löste sich aus dem Großverband und wurde zunehmend zu einem eng umgrenzten privaten Raum. Die Familien waren nicht mehr der sozialen Kontrolle des Dorfes ausgesetzt, die Migranten konnten sich dem Zugriff des Haushaltsvorstandes entziehen und individuelle Lebens- und Familienentwürfe planen. „Man ist mit dem anderen zusammen, weil man es selbst will und nicht weil die Gruppe es will. Konnte man in der traditionellen Gesellschaft seinen Willen nur [...] als Negation äußern, so jetzt in der positiven Wahl.“ (Schiffauer 1991, S. 236). Die Lösung aus dem Großfamilienverband führte dazu, dass die Ehegatten viel mehr aufeinander angewiesen und die Ansprüche an die Paarbeziehung gestiegen waren; damit wurde die sozial-emotionale Dimension zum entscheidenden Faktor der Ehe. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 71 Schiffauers Beobachtungen zu einem radikalen Wandel der ehelichen und familiären Strukturen und Beziehungen betreffen die erste Migrantengeneration, die als junge Erwachsene aus der Türkei nach Deutschland migrierten. Straßburger (2003) hat sich mit der zweiten türkischstämmigen Migrantengeneration in Deutschland befasst und mit quantitativen und qualitativen Methoden den Partnerwahlprozess und die Beziehungsgeschichte von jungen Paaren zu rekonstruieren versucht. 50 Die Interviewten sind in Deutschland aufgewachsen, ihre Eltern stammen aus der Türkei und die Familien leben in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland. 51 Im Vergleich zu der Wanderergeneration, die Schiffauer beschrieben hat, hat Straßburger entscheidende Veränderungen im sozialen Umfeld der zweiten und dritten Generation festgestellt, die eine Abkehr von eher individuellen Eheformen zur Folge haben und zurück zu traditionellen Eheformen führen. Die jungen Leute leben in Deutschland in ethnischen Gemeinschaften (ethnischen Kolonien), in die sie fest eingebunden sind und deren Normen und Werte für sie große Bedeutung haben. Diese Gemeinschaften sind im Vergleich zu der dörflichen Struktur der Herkunftsregionen zwar wesentlich durchlässiger und „milieudifferenziert“. Doch knüpfen viele Migranten der zweiten und dritten Generation in ihrer Partnerwahl weniger an „westliche“, auf das Paar bezogene Beziehungskonzepte an, als an Konzepte der dörflichen Strukturen, wonach das junge Paar sich an den Vorstellungen der Eltern orientiert und fest in die Netzwerke der Migrantengemeinschaft eingebunden bleibt (Straßburger 2003, S. 168ff.). Ausführlich beschäftigt sich die Autorin mit den Formen der „arrangierten Ehe“ einerseits und der „selbst organisierten“ bzw. „Liebesehe“ andererseits und arbeitet die Unterschiede heraus. Für beide Eheformen gilt, dass es sich um eine freie Entscheidung der Partner handelt. Bei der selbst organisierten Partnerwahl geht man davon aus, dass sich der Gedanke an eine mögliche Heirat während einer Paarbeziehung erst entwickelt; die Heirat basiert auf einem intensiven Prozess der Annäherung der Partner, die im Laufe ihrer vorehelichen Beziehung feststellen, dass sie gut zueinander passen, sich lieben und heiraten wollen. Im Gegensatz dazu ist bei arrangierten Ehen der Gedanke an eine mögli- 50 Materialbasis für die qualitative Analyse sind 14 Interviews mit verheirateten Frauen und Männern. Zur Beschreibung des Forschungsdesigns und der Datenanalyse vgl. Straßburger (2003, S. 63-95). 51 Aus der Perspektive Straßburgers werden arrangierte Ehen in der deutschen Bevölkerung meist abgelehnt und gelten als Relikt der Vergangenheit. Wenn von Eheschließungen türkischer Migrantinnen und Migranten die Rede ist, werden selbst organisierte Ehen kaum wahrgenommen und arrangierte Ehen vornehmlich dann thematisiert, wenn sie unglücklich sind. Oft würden in Medienberichten arrangierte Ehen mit Zwangsehen gleichgesetzt, vgl. Straßburger (2003, S. 176ff.; 2005). Inken Keim 72 che Heirat bereits Ausgangspunkt der Beziehungsaufnahme. Die arrangierte Begegnung der Partner basiert auf der Absicht, einander möglicherweise zu heiraten, und im Prozess der Annäherung geht es darum, herauszufinden, ob etwas gegen eine Heirat spricht. 52 Bei arrangierten Ehen basiert der Heiratsentschluss darauf, dass die Familie gemeinsam zu dem Ergebnis kommt, dass die Basis für eine glückliche und stabile Ehe vorhanden ist. Dazu gehört neben dem Einverständnis der Kandidat(inn)en die insgesamt positive Bewertung ihres Charakters und ihrer sozialen, familiären und beruflichen Lebensumstände. Man versucht, das Gelingen der Ehe dadurch zu sichern, dass man vor der Heirat im Familienverband abwägt, ob die Rahmenbedingungen so positiv sind, dass sich eine stabile Paarbeziehung entwickeln kann. Die vergleichende Analyse der Eheschließungen in Straßburgers Studie zeigte, dass arrangierte und selbst organisierte Eheschließungen ineinander übergehen. Einige Informanten bemühten sich z.B., ihren bereits feststehenden Heiratsentschluss nachträglich in den Rahmen einer familiären Entscheidung einzupassen, indem sie die Entscheidung als noch offen darstellten und ihre Eltern um Zustimmung baten. Die Autorin schlägt deshalb vor, beide Ehe-Typen als auf einem Kontinuum angeordnet zu betrachten mit „stark arrangierten Ehen“ an einem Ende, „teil-arrangierten“ bzw. „zum Teil selbst organisierten“ Ehen im mittleren Bereich und „völlig selbst organisierten“ Ehen am anderen Ende. Stark arrangierte Eheschließungen weisen die folgenden Phasen auf: kollektive Partnersuche, familiäre Vorstellungsbesuche, kollektive Entscheidungsfindung, kollektive Heiratsverhandlungen und öffentliche Hochzeitsfeier. Völlig selbst organisierte Ehen basieren dagegen überhaupt nicht auf solchen im Familienkollektiv betriebenen Aktivitäten. In Straßburgers Studie waren Übergangsformen viel häufiger anzutreffen als Reinformen. 2.3 Arrangierte Ehen Da im Zusammenhang mit Heiratsmigration arrangierte Ehen eine wichtige Rolle spielen und auch in unseren Fallstudien neben den „selbst organisierten“ Ehen vorkommen, werde ich diese Eheform im Folgenden ausführlich darstellen. Arrangierte Ehen sind weltweit verbreitet. Nach Angaben des „Fischer Atlas der Sexualität“ sind heute noch etwa 60 Prozent aller auf der Welt geschlossenen Ehen keine „Liebesheiraten“; sie kommen nicht durch ein mehr oder weniger zufälliges Kennenlernen der Partner zustande, sondern werden durch Eltern oder Dritte arrangiert und haben die soziale Verträglichkeit und 52 In dieser Hinsicht ist die arrangierte Ehe mit einer selbst organisierten Ehe vergleichbar, die durch eine Heiratsannonce oder eine Partnervermittlung zustande kommt. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 73 ökonomische Absicherung der Ehepartner bzw. der beteiligten Familien zum Ziel. Bei den Ehepartnern handelt es sich häufig um Verwandte, z.B. Cousin/ Cousine zweiten Grades, manchmal aber auch um Unbekannte, die sich erst nach der Heirat kennen lernen. Diese Form des ehelichen Arrangements kommt vor allem in traditionellen Gesellschaften vor, in denen die Familie als wirtschaftliche Produktionseinheit und Ort sozialer Nähe und Sicherheit grundlegend für die Existenz jedes Einzelnen ist und der Staat keine oder nur wenig soziale Unterstützung und Absicherung bietet. 53 Bei einer durch Vermittlung Dritter zustande gekommenen Heirat spricht man von „arrangierter Heirat“. Voraussetzung für diese Form der Eheanbahnung ist, dass Ehelosigkeit vor allem für Mädchen kaum oder gar nicht akzeptiert wird. So kommt es oft dazu, dass Mädchen, wenn sie das heiratsfähige Alter erreicht haben, dem sozialen Druck ausgesetzt sind, sich (endlich) zu entscheiden, damit die Hochzeit stattfinden kann. Je nachdem wie stark der tatsächliche oder vermeintliche Druck ist, kann es dabei auch zur Zwangsheirat kommen. Viel hängt von den Heiratskandidaten selbst ab, wie deutlich sie ihre Vorstellungen vom Ehepartner artikulieren und wie selbstbewusst sie sich in den Vermittlungsprozess einbringen. Die arrangierte Ehe kommt heute noch in vielen Ländern vor, z.B. in Indien, Pakistan, Usbekistan, Bangladesch, Sri Lanka und Japan. In Indien z.B. spielt die arrangierte Ehe immer noch eine sehr große Rolle, obwohl die indische Mittelschicht sich eher an westlichen Vorbildern orientiert und Liebesheiraten zunehmen. Auch in Japan gibt es noch arrangierte Ehen; der Anteil liegt bei ungefähr 5% und betrifft in erster Linie besonders wohlhabende oder traditionsreiche Familien, die genau darauf achten, wen ihre Kinder heiraten. 54 Bis ins 20. Jhd. war es auch in Ländern Europas Aufgabe der Familien, für die Kinder passende Ehepartner zu finden, und in traditionellen Gemeinschaften spielt bei der Heiratsvermittlung die Familie auch heute noch eine wichtige Rolle. Zur Sondierung der Ehevoraussetzungen gab (und gibt es) in zahlreichen Kulturen, auch in Deutschland, professionelle Heiratsvermittler(innen). 55 Sie wurden eingesetzt, um einer Familie, die für die heiratsfähigen Kinder Partner suchte, im Falle von Misserfolg eine Beschämung zu ersparen. Zur 53 Vgl. dazu Pahnke (2005). 54 Vgl. Wikipedia, Artikel „Heiratsvermittler“, http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Heiratsvermittlung ; Artikel „Omiai“, http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Omiai (beide Stand: 11/ 2011). 55 Sie wurden als Brautwerber oder Freiwerber bezeichnet, im Ostjudentum als Schadchen und in Bayern als Schmuser. Inken Keim 74 Eheanbahnung dienten auch soziale Ereignisse wie z.B. Bälle in Adel und Bürgertum. Die künstlerische Bearbeitung des Themas findet sich in französischen, englischen und deutschen Gesellschaftsromanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 56 In Irland findet heute noch im Herbst das traditionelle Matchmaking Festival statt. Ursprünglich fanden sich dazu Bauern ein, um am Rande des großen Viehmarkts mit Hilfe professioneller Heiratsvermittler auf Brautschau zu gehen. Heute besuchen mehrere Tausend Singles das Festival, um dort den Partner fürs Leben zu finden. Im Großbürgertum in Deutschland waren von den Eltern arrangierte Ehen bis Anfang des 20. Jhds. weit verbreitet. Auch in ländlichen Regionen, vor allem in Bayern, wurde bis vor dem Ersten Weltkrieg selten „aus Liebe“, sondern vor allem über Dritte vermittelt geheiratet. 57 Im Raum Aichach und Dachau z.B. wurden Ehen durch Unterhändler vermittelt, sog. „Schmuser“, die im Hauptberuf oft Viehhändler waren. 58 Mit Hilfe einer Vertrauensperson testete der Schmuser im Haus der Bewerber das Terrain; bei positivem Ergebnis traten die beiden Familien dann in Verhandlungen über die zukünftigen Vermögensverhältnisse. Arrangierte Ehen werden auch im modernen deutsch-türkischen Kino verarbeitet. Der Filmemacher Hark Bohm erzählt in seinem Film „Yasemin“ (1988), wie das junge deutsch-türkische Liebespaar Jan und Yasemin gegen die Tyrannei von Yasemins Vater kämpft. Dieser sieht in der Liebesbeziehung eine Gefährdung der Ehre seiner Tochter, vor der er sie, sich und seine Familie schützen will. Die Lösung sieht er in einer „ehrenhaften“ Verheiratung der Tochter in die Türkei. In Fatih Akins Film „Gegen die Wand“ (2004) organisiert sich die selbstbewusste Hauptdarstellerin Sibel einen Schein-Ehepartner, um der Kontrolle ihrer Eltern zu entkommen und sie in dem Glauben zu wiegen, sie hätte durch die Heirat mit einem „Deutsch-Türken“ eine gute Partie gemacht. Arrangierte Eheschließungen sind immer noch weit verbreitet in ländlichen Regionen der Türkei. 59 Sie folgen bestimmten Regeln, deren Einhalten gewährleisten soll, dass Selbstbestimmung und Familienorientierung ausbalanciert werden, und kein allzu großer Heiratsdruck auf die potenziellen Kandidat(inn)en ausgeübt wird. Wie aus der Untersuchung von Straßburger (2003) hervor- 56 Vgl. z.B. für England im 19. Jhd. die Romane von Jane Austen und George Eliot, und für Deutschland im frühen 20. Jhd. „Die Buddenbrooks“ von Thomas Mann. 57 Vgl. Kaltenstadler (o.J.). 58 Ludwig Thoma hat den Dachauer Schmuser in der Erzählung „Hochzeit“ (1902) sehr präzise geschildert. 59 Die folgende Darstellung basiert auf Straßburger (2003, Kap. 7). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 75 geht, basiert die Anbahnung einer arrangierten Ehe auf vier Vorstufen, die grundsätzlich ergebnisoffen sind. Der Prozess kann an jeder Stelle abgebrochen werden, obwohl mit jedem weiteren Schritt das Risiko negativer Konsequenzen wächst (z.B. Ansehensverlust oder Konflikte zwischen den Familien). Straßburger (2003, S. 213ff.) hat folgende vier Vorstufen rekonstruiert: a) Die Suche nach einer Kandidatin Die Seite des Mannes - Familienangehörige, Verwandte oder Bekannte - beginnt mit der Suche nach einer potenziellen Partnerin. Hierfür werden bestehende Netzwerkbeziehungen aktiviert, wobei es häufig vorkommt, dass Anfragen bereits im Vorfeld negativ beschieden werden. Während der Aktivitäten der Familie des Mannes nimmt die Familie der Frau eine reagierende Haltung ein. Sie antwortet lediglich auf mehr oder weniger direkte Anfragen, um herauszufinden, ob ein weiteres Engagement Aussicht auf Erfolg hat. Dabei handeln die Haushaltsmitglieder (Eltern, verheiratete Geschwister, Tanten etc.) stellvertretend für die junge Frau und erwägen ausführlich die Gründe, die für oder gegen eine Ehe sprechen. Eine wichtige Aufgabe der Eltern der Frau besteht darin, Anfragen, die als irrelevant erachtet werden, abzulehnen und nur solche Interessenten zu ermutigen, die als Heiratspartner in Frage kommen oder die aus bestimmten Gründen nicht sofort abgewiesen werden können, so dass sie zumindest formal eine Chance bekommen. b) Familiäre Vorstellungsbesuche Bleibt von der Seite der Frau eine negative Reaktion aus oder wird ein positives Signal gegeben, stattet die Seite des Mannes einen Besuch bei der Familie der Frau ab. Dieser erste Besuch führt eine sozial kontrollierte Begegnung der beiden Familien herbei. Falls sie sich nicht schon vorher begegnet sind, können sie jetzt einen ersten Eindruck voneinander bekommen und entscheiden, ob sie eine weitere Annäherung wünschen. Dem ersten Besuch folgt ein Gegenbesuch bzw. eine Reihe gegenseitiger Besuche, die dem weiteren Kennenlernen dienen. Solche Vorstellungsbesuche sind relativ unverbindlich; sie können auch abgebrochen werden, ohne dass das dem Ansehen der beteiligten Familien schadet. Folglich kommt es oft zu Treffen mit mehreren Familien, bevor ein Heiratsantrag gestellt wird. Die Interaktionsstruktur dieser Besuche ist stark ritualisiert und formell-distanziert. Hauptakteure sind nicht die potenziellen Heiratskandidat(inn)en, sondern die Eltern oder auch die Heiratsvermittler. Inken Keim 76 c) Heiratsantrag und Entscheidungsfindung Bevor die Familie des Mannes einen Heiratsantrag stellt, versucht sie im Vorfeld zu erfahren, ob mit einer positiven Antwort zu rechnen ist, denn eine Zurückweisung wäre möglicherweise mit Gesichtsverlust verbunden. Mit dem Heiratsantrag beginnt die gezielte Brautwerbung und die Seite des Mannes präsentiert ihren Kandidaten im besten Licht. Die Familie der Frau lässt sich Zeit, um den Heiratsantrag zu diskutieren und Erkundigungen über die andere Familie einzuholen. Sie signalisiert zunächst nur, dass sie die Anfrage verstanden hat und verschiebt die Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt. Dadurch kräftigt sie das Ansehen ihres Haushaltes und die gesellschaftliche Stellung der Braut; d.h. eine zu schnelle Zusage würde den Wert der Braut mindern. 60 Allerdings ist auch ein zu langes Hinauszögern der Entscheidung nicht günstig, da das auf familiäre oder persönliche Probleme der Braut hindeuten könnte. Durch das Hinauszögern der Entscheidung wird außerdem ein Zeitrahmen eröffnet, der es der jungen Frau ermöglicht, sich über eine mögliche Heirat klar zu werden oder sich mit dem Bewerber zu treffen, um zu überprüfen, ob er ihren Vorstellungen entspricht. Dies kann offiziell erfolgen, wobei die Familie der Frau Treff-Gelegenheiten arrangiert, bei denen das Paar von Anstandspersonen begleitet oder aus der Entfernung beobachtet wird. Bei solchen Begegnungen werden u.a. Vorstellungen von der Beziehungsgestaltung besprochen (z.B. künftige Berufstätigkeit der Frau, Gründung einer Familie, gemeinsame oder getrennte Freizeitaktivitäten etc.). Ergänzend zu den legitimierten Begegnungen treffen sich die potenziellen Partner aber oft auch heimlich, um herauszufinden, ob sie zueinander passen. 62 d) Heiratsverhandlungen und -zeremonien Hat die Familie der Frau dem Antrag zugestimmt, beginnen die mit der Heirat verknüpften Verhandlungen, an denen beide Seiten aktiv beteiligt sind. 60 Wie stark der rituelle Verlauf einer Werbung auch in der Migrantengemeinschaft in Mannheim verwurzelt ist, zeigt folgendes Beispiel: Ein junges Paar, beide in Mannheim aufgewachsen, kennt sich seit langem und plant seit einiger Zeit die Heirat. Als es zur rituellen Werbung kommt und die Familie des Mannes bei der Familie der Frau um die Hand anhält, sagt der Vater sofort zu, da er weiß, dass die Beziehung der jungen Leute schon seit längerem besteht und seine Tochter den Mann liebt. Die schnelle Zusage wird in der Familie des jungen Mannes spielerisch-ironisch kommentiert, da es für sie so aussah, als ob der Vater die Tochter möglichst schnell loswerden wollte. 61 Vgl. dazu Schiffauer (1991), der zeigt, dass in dem von ihm beschriebenen traditionellen Dorfleben die jungen Leute viele Möglichkeiten finden, um sich heimlich zu treffen und besser kennen zu lernen, bevor die offizielle Eheverhandlung vorgenommen wird. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 77 Auch in dieser Phase kann ein Ehearrangement noch scheitern, wenn man sich nicht einigen kann, welchen finanziellen Beitrag die Familien jeweils zu Aussteuer, Hochzeitsfeier und Hausstandsgründung leisten werden. Welche Bedeutung finanziellen Fragen zugestanden wird, hängt davon ab, wie stark die Kandidat(inn)en selbst an der Heirat interessiert sind. Sollten sie zweifeln, können tatsächliche oder provozierte Unstimmigkeiten ein legitimer Grund sein, den Prozess abzubrechen. Wenn das Paar unbedingt heiraten will, und die Eltern sich nicht einigen können, entsteht für die Familien die Gefahr, dass die jungen Leute gemeinsam „durchbrennen“, um die Eltern zur Zustimmung zu zwingen. An einem Beispiel zeigt Straßburger (2003, Kap. 5 und 6) den idealtypischen Verlauf einer arrangierten Ehe mit den Phasen Partnersuche, Vorstellungsbesuche, Entscheidungsfindung, Heiratsverhandlungen und Hochzeitsfeier, den ich zur Verdeutlichung des Verfahrens kurz anführe: Kibriye war zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt und seit einem halben Jahr verheiratet. Ihre Familie stammt aus einem südostanatolischen Dorf, aus dem der Vater 1973 als Arbeitsmigrant nach Deutschland kam. Kibriye wurde in Deutschland geboren; als sie 14 Jahre alt war, erhielten die Eltern in der Türkei die ersten Anfragen bezüglich einer Eheschließung. Auch in den kommenden Jahren wurde die Familie im Urlaub immer wieder mit Besuchen konfrontiert, die als Brautwerbung gedacht waren, und von den Eltern mit dem Argument zurückgewiesen wurden, Kibriye wäre dafür zu jung. Als Kibriye volljährig war, trafen sie und ihre Eltern in Deutschland zufällig die Familie Kuzu, die sie vor Jahren kennengelernt hatten und die aus derselben südostanatolischen Gegend stammte. Ihr Sohn Kenan war 20 Jahre alt und hatte eine Ausbildung zum Industriemechaniker absolviert. Einige Monate nach dieser zufälligen Begegnung kam Familie Kuzu mit Kenan zu Besuch bei Kibriyes Eltern. Kurz danach stattete Kibriyes Familie einen Gegenbesuch ab. 14 Tage später hielt Familie Kuzu um Kibriyes Hand an und kam von da an jede Woche zu Besuch. In dieser Zeit begannen Kibriye und Kenan sich heimlich zu treffen. Nach einigen Verhandlungen zwischen Kenans Familie und Kibriyes Brüdern, und nachdem Kibriye ihr Einverständnis gegeben hatte, wurde das Heiratsgesuch einige Monate später akzeptiert und eine Woche danach die Verlobung gefeiert. Vier Monate später wurde das Paar in der Türkei standesamtlich getraut. Die Hochzeitsfeier fand zwei Monate danach in Deutschland statt und Kibriye zog am Abend der Hochzeitsfeier zu ihrem Mann. In der Analyse dieses Falles hebt Straßburger hervor, dass bei den mit der Brautwerbung verbundenen Familienbesuchen das Thema Heirat nie offen angesprochen wurde. Über den Besuch der schon lange bekannten Familie Kuzu berichtet Kibriye, dass ihre Mutter den eigentlichen Zweck sofort vermutet hatte. Doch die Frage, was Kibriye von einer möglichen Ehe halte, Inken Keim 78 wurde nicht offen thematisiert. Aber sie gab indirekt zu erkennen, dass ihr Kenan gefiel und sie an einer Heirat mit ihm interessiert war. Erst nachdem der offizielle Heiratsantrag gestellt war, wurde sie explizit nach ihrer Meinung gefragt. Davor war sie jedoch sicher, dass die Mutter genau verstanden hatte, was sie wollte, so dass sie sich immer an der familiären Entscheidung beteiligt gefühlt hatte, auch wenn sie sich erst relativ spät explizit dazu äußern konnte. An diesem Beispiel zeigt die Autorin, dass die arrangierte Ehe einerseits tief in den familiären Kontext eingebettet ist und andererseits aber auch nicht über den Kopf der Braut entschieden wird, sondern dass sie - allerdings indirekt - in den Entscheidungsprozess einbezogen ist. Die Autorin macht aber auch deutlich, dass gerade in dem indirekten Beteilungsmodus die Gefahr liegt, dass der Wille der Braut „überhört“ wird, wenn er im Kontrast zum Elternwillen steht, da es keine strukturelle Gelegenheit gibt, ihn offen kund zu tun. Wenn die Machtposition des Vaters in der Familie sehr stark ist, kann es dazu kommen, dass die Braut nicht den Mut hat, sich dem Willen des Vaters zu widersetzen und sich stattdessen in eine nicht gewünschte Ehe drängen lässt. 3. Konsequenzen der Heiratsmigration für Frauen und Männer Die sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Konsequenzen einer Heiratsmigration nach Deutschland sind für Frauen und Männer, die aus traditionellen, patriarchalisch geprägten Gesellschaften kommen, sehr unterschiedlich. 62 Ein Nachziehen der Frau zum Arbeits- und Wohnort ihres Mannes ist in diesen Gesellschaften weit verbreitet und akzeptiert, da es mit dem vorherrschenden ehelichen Rollenverständnis kompatibel ist: der Mann verdient den Familienunterhalt, die Frau bleibt zuhause, kümmert sich um Familie und Kinder. Vor dem Hintergrund eines solchen Ehe-Rollenverständnisses erscheint es auch bei transnationalen Ehen „normal“, dass die Frau migriert und zum Wohn- und Arbeitsplatz des Mannes zieht, da so die ökonomische Sicherheit der jungen Familie gewährleistet ist. Heiratsmigrantinnen in Deutschland sind in den ersten Jahren, auf jeden Fall solange sie nur geringe Deutschkenntnisse haben, auf ihren Mann und seine Familie angewiesen und rechtlich von ihm abhängig, da sie in der Anfangszeit keinen eigenen Aufenthaltsstatus erwerben können (vgl. oben Kap. 1). Außerdem fehlt ihnen bei Eheproblemen bzw. bei Problemen in der Schwiegerfamilie die Unterstützung durch die Herkunftsfamilie oder durch ein von der Schwiegerfamilie unabhängiges soziales Netzwerk (Freundinnen, Beraterinnen). Durch den Verlust von Herkunftsfamilie 62 Vgl. dazu u.a. Straßburger (2003, Kap. 8), Keim (2008, S. 77ff.). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 79 und Freundeskreis infolge der Migration erfahren die jungen Frauen zunächst eine Verschlechterung ihrer sozial-emotionalen Situation. Die familiäre Rollenstruktur verändert sich jedoch nicht: Die Frau bleibt zuhause und versorgt Familie und Kinder. Für Männer hat eine Migration durch Heirat andere Konsequenzen. Sie erleben in der Regel eine dramatische Veränderung der Familien- und Ehe-Rollenstruktur. Sie verlassen ihr gewohntes soziales Umfeld, ihre Familie und meist auch den Arbeitsplatz und ziehen zu ihrer Frau nach Deutschland. Dort müssen sie in der Regel mit einem erheblichen Verlust ihres Sozialprestiges rechnen, denn ohne ausreichende Deutschkenntnisse und ohne eine in Deutschland anerkannte Ausbildung haben sie zunächst keinen Zugang zum Arbeitsmarkt; wenn sie Arbeit finden, dann oft unter ihrer Qualifikation. Da in Deutschland die Arbeitsmarktlage für gering qualifizierte Arbeitskräfte angespannt ist, ist es fraglich, ob sie jemals in der Lage sein werden, den Unterhalt für ihre Familie zu verdienen. Wenn die in Deutschland sozialisierte Frau einen guten Schul- und Berufsabschluss erreicht hat, verdient sie den Familienunterhalt und der Mann ist finanziell von ihr abhängig. Die Heiratsmigration der Männer verläuft gegen ihre Geschlechts- und Familienrolle, und die Männer erfahren eine Umkehr traditioneller Ehe-Rollenmuster und eine Umkehr von Familienstrukturen. Nicht die junge Frau - wie allgemein üblich -, sondern der junge Mann verlässt seine Familie und sein soziales Umfeld und zieht in die Familie seiner Frau. Aus finanziellen Gründen wird er in der Regel auch längere Zeit in der Schwiegerfamilie leben müssen. Die Position des eingeheirateten Schwiegersohnes hat in der türkischen Gemeinschaft wenig Prestige, auf jeden Fall dann, wenn er längere Zeit in der Schwiegerfamilie wohnt (wohnen muss); 63 die jungen Männer werden eher bedauert. In der Studie von Straßburger (2003, S. 159) werden die „importierten“ Schwiegersöhne als „problematisch und damit als Risiko für die Stabilität der Ehe angesehen“ . Obwohl ähnlich viele Männer über Heirat nach Deutschland kommen wie Frauen und sich ihre Situation eher noch mehr als die der Frauen als potenziell problemhaltig darstellt - zumindest in Bezug auf Ehe- und Familienrollen - , wird die Heiratsmigration von Männern in den Medien und in öffentlichen Diskussionen kaum behandelt. Ich kenne nur einen Spiegel-Artikel, der den Fall eines leidenden türkischen Mannes schildert, der über die Heirat mit einer 63 Im Türkischen wird auch lexikalisch zwischen einem „normalen“ Schwiegersohn, damat, und einem Schwiegersohn, der als Migrant bei den Eltern der Braut lebt, unterschieden: er wird ithal damat (Import-Schwiegersohn) genannt, eine Bezeichnung, die negativ konnotiert ist. Inken Keim 80 Deutschtürkin nach Deutschland gekommen ist. 64 Er bezeichnet sich selbst als „Import-Ehemann“ und meint: „Wir sind hier nichts wert und werden auch so behandelt.“ Seine Geschichte wird folgendermaßen dargestellt: Aykut, der in der Türkei lebt, verliert seine erste Frau 1999 bei dem großen Erdbeben in Istanbul. Später führt er eine Fernbeziehung mit seiner Jugendfreundin Selma, die in Deutschland lebt. Da er einen kleinen Sohn aus der ersten Ehe hat, will er Selma heiraten. Zwar hat er einen guten Job bei einer Firma in Istanbul, doch sie erzählt ihm, wie einfach das Leben in Deutschland ist und überzeugt ihn, dass er zu ihr nach Deutschland ziehen soll. „Ich wollte, dass mein Sohn eines Tages in Europa studieren kann“, erklärt Aykut. Doch in Deutschland verändert sich Selma, sie verhält sich herrisch und hysterisch. Sie hilft ihm nicht, einen Arbeitsplatz zu finden - also wird er finanziell abhängig. Nur ungern akzeptiert sie, dass Aykut Deutsch lernt. Sie lässt ihn kochen, putzen und sich zu ihrem Arbeitsplatz chauffieren. Schließlich erfährt Aykut, dass sie 75 000 Euro Schulden hat. Als er seine Aufenthaltsgenehmigung von der Ausländerbehörde erhält, macht sie eine Insolvenzerklärung - das geht nur, wenn man einen Ehepartner versorgen muss. Aykut begreift allmählich, dass er ausgenutzt wird. Im Gegensatz zu den Importfrauen - so der Artikel weiter - werden die Ehemänner in der Regel nicht durch körperliche Gewalt unterdrückt, sondern, so erklärt der Informant Aykut, das „schlimmste Druckmittel gegen uns Import- Männer ist die Drohung, uns bei der Polizei als prügelnden Ehemann anzuzeigen“. Vielen sei das schon passiert, auch ihm; die Polizisten hätten türkischen Männern gegenüber starke Vorurteile. Aykut wird mehrmals behandelt wie ein Krimineller. „Ich verstehe das ja“, meint Aykut, „wer glaubt einem Mann schon so eine Geschichte? “ Aykut sieht sich nicht als Ausnahme; er weiß von anderen Import-Männern aus der Türkei, die von der Schwiegerfamilie sogar verprügelt werden. In Gesprächen mit Kennern der türkischen Migrantengemeinschaft in Mannheim (vgl. Keim 2008, S. 77ff.) wird hervorgehoben, dass Ehen, in denen ein Partner in der Türkei und der andere in Deutschland sozialisiert ist, oft stark gefährdet seien, da zwischen den Partnern Welten liegen. Die sozialen und familiären Probleme, die als Konsequenzen der Heiratsmigration entstehen können, werden für Frauen und Männern unterschiedlich charakterisiert: Wenn die Männer in Deutschland aufgewachsen sind, gebe es vor allem sexuelle Probleme, so ein Pädagoge, da ein junger Mann, der die jungen Frauen hier kennt, für seine unerfahrene, anatolische Frau kein großes Interesse hat. Das bestätigt eine Sozialpädagogin, die Heiratsmigrantinnen betreut: Die unerfahrenen Frauen aus dem Dorf seien unglücklich, die Männer gingen fremd 64 Vgl. Ferda Ataman: „Heiratsmigration, Türkisch, ledig, sucht ... “, Spiegel online vom 27.11.2005, http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ 0,1518,380583,00.html (Stand: 11/ 2011). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 81 oder würden die Zeit in Männercafés, in Spielhallen oder bei Freunden verbringen. Wenn die Frau in Deutschland aufgewachsen ist und einen „Importmann“ heiratet, werden vor allem Rollenprobleme genannt: Die Frauen haben andere Vorstellungen vom ehelichen Zusammenleben als ihre Männer; sie sind meist besser ausgebildet und berufstätig und die Männer sind von ihnen finanziell abhängig. Bei Männern aus sehr traditionellen Familien führe diese Konstellation zu massiven Problemen, die eine Informantin durch folgendes Beispiel verdeutlicht: Die gut ausgebildete Frau wurde von ihren traditionellen Eltern mit einem Mann aus der Türkei verheiratet und lebt mit ihm jetzt in Mannheim. Sie passt nicht in sein Bild von einer Ehefrau, doch er ist sozial und wirtschaftlich von ihr abhängig. Er fängt an zu trinken und zu spielen, und es kommt zu Schlägereien in der Familie. Als Ausweg sieht die junge Frau nur die Scheidung, die für ihn die Rückkehr in die Türkei bedeutet. Mit dem Zuwanderergesetz 2005 und dem 2007 geänderten Zuwanderungsrecht haben sich für Frauen und Männer die Voraussetzungen für die Migration durch Heirat erschwert, da der Ehegattenzuzug nur genehmigt wird, wenn der Antragssteller den vorgeschriebenen Sprachtest bestanden hat. 65 Die Sprachkurse und die Prüfungen werden in der Türkei von den Goethe-Instituten in Ankara, Izmir und Istanbul durchgeführt. 66 Der Kurs kostet rund 500 €, kann wiederholt werden und führt zum Sprachniveau A1 des Europäischen Sprachenrahmens. Der Sprachunterricht wird fast ausschließlich von jungen Deutsch-Türk(inn)en durchgeführt, die in Berlin, Essen, Augsburg, Duisburg und Mannheim studiert haben. In Gesprächen mit einigen von ihnen konnte ich folgende Details zu den Kursen und den Kursteilnehmer(inne)n erfahren: Der Druck auf die Kursteilnehmer ist groß, denn meist zahlen die Schwiegerfamilien aus Deutschland die Kursgebühren. Wer die Prüfung nicht besteht, bekommt kein Visum, d.h. der in Deutschland lebende Partner muss, wenn er die Ehe aufrechterhalten will, in die Türkei ziehen. Die Kurse, die in der deutschen und türkischen Öffentlichkeit heftig kritisiert wurden, 67 werden von den Durchführenden und den Kursteilnehmer(inne)n jedoch positiv bewertet. In den Kursen wird nicht nur Deutsch gelehrt, sondern es gibt Informa- 65 Vgl. oben Kapitel 1 und die Artikel von Armfrid Schenk in der Zeit vom 14.09.2009: „Sprachtest. 650 deutsche Wörter“, http: / / www.zeit.de/ 2009/ 38/ C-Sprachtest-Einreise sowie von Michael Thumann vom 11.09.2009: „Einwanderungstest in der Türkei. Alles für die Ehe“, http: / / www.zeit.de/ 2009/ 38/ C-Zuwanderung-Tuerkei (beide Stand: 11/ 2011). 66 Die meisten Kursteilnehmer(innen) hat das Goethe-Institut in Istanbul. 67 Vgl. die Berichte und Stellungnahmen in den Tageszeitungen nach Einführung der Kurse; Hauptargument war, dass die Regelung dem Grundrecht zum Schutz von Ehe und Familie zuwiderlaufe. Inken Keim 82 tionen über das Leben in Deutschland und es werden die Themen behandelt, die die Teilnehmenden bewegen. Außerdem entstehen in den Kursen freundschaftliche Bindungen unter den Teilnehmenden, die sie auch in Deutschland pflegen wollen. Ein wichtiger Nebeneffekt der Kurse ist außerdem, dass sie für türkische Partner, die die Ehe nicht aus freier Entscheidung eingegangen sind und/ oder nicht in Deutschland leben wollen, eine geeignete Möglichkeit zur Verweigerung sind, ohne dass für die Familien ein Gesichtsverlust entsteht. Wenn sie den Kurs nicht bestehen, gibt es keine Möglichkeit zur Ausreise nach Deutschland; d.h. wenn sie nicht ausreisen wollen, können sie das Nicht-Bestehen provozieren. Eine Kursleiterin in Istanbul berichtet von einem jungen Mann, der ganz offenkundig kein Lerninteresse zeigte und sofort die Sprachprüfung machen wollte. Als sie ihn darauf hinwies, dass er durchfallen würde, meinte er das will ich ja gerade, ich gehe nicht nach Deutschland. Über einen ähnlichen Fall berichtet ein Artikel in der Zeit: Dort ist eine junge Kurdin, die nicht zur Schwiegerfamilie nach Deutschland wollte, absichtlich in der Sprachprüfung durchgefallen. 68 4. Deutsch-türkische transnationale Ehen in Mannheim In Mannheim, einer mittleren Großstadt mit 326 899 Einwohnen, leben z.Zt. 64 667 Einwohner mit nicht-deutschem Pass aus 169 Nationen. 69 Wesentlich höher ist die Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund; sie machen ca. 35% der Gesamtbevölkerung von Mannheim aus. 70 Die mit Abstand größte Zuwanderergruppe bilden nach wie vor türkische Staatsangehörige und Einwohner mit einem türkischen Migrationshintergrund. In den Stadtteilen, aus denen unsere Informant(inn)en stammen, machen Einwohner mit Migrationshintergrund 60-65% der Bevölkerung aus. Die ethnografische Studie zur türkischstämmigen Gemeinschaft in Mannheim (vgl. Keim 2008, Teil I) hat gezeigt, dass die türkischstämmigen Migrant(inn)en in einer weit ausdifferenzierten Gemeinschaft leben, in einer Art ethnischer Kolonie. 71 Die türkische 68 Vgl. den Artikel von Michael Thumann in der Zeit vom 11.09.2009, http: / / www.zeit.de/ 2009/ 38/ C-Zuwanderung-Tuerkei (Stand: 11/ 2011). 69 Vgl. die Informationsvorlage der Stadt Mannheim vom 18.03.2009 unter http: / / www.mannheim. de/ 2009_I-Vorlage144_2009_statistik_MHG-1.pdf (nicht mehr online); Stichtag war der 31.12.2008. 70 Vgl. den Bildungsbericht 2010 der Stadt Mannheim, http: / / www.mannheim.de/ bildungsbericht (Stand: 11/ 2011). 71 Der Terminus „ethnische Kolonie“ stammt aus der Migrationssoziologie; auch wenn die in Mannheim in den letzten Jahrzehnten entstandenen Migrantenwohngebiete bei weitem nicht alle strukturellen Merkmale einer ethnischen Kolonie im soziologischen Sinne erfüllen, erscheinen sie in der Wahrnehmung von Bewohnern und Außenstehenden doch als türkisch dominierte, geschlossene Gebiete. Aus der Außenperspektive gibt es Bezeichnungen wie Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 83 Migrantengemeinschaft hat eine hohe Infrastruktur entwickelt; es gibt türkische Lebensmittelgeschäfte, Bäckereien, Haushaltswaren- und Kleidergeschäfte, Banken und Immobilienbüros, Fahrschulen, Friseure, Ärzte und Rechtsanwälte. Alle täglichen Angelegenheiten können in Türkisch erledigt werden. Im Leben vieler Familien kommen Deutsche kaum vor und Deutsch hat im Alltag keine große Bedeutung. Ein weiteres Charakteristikum ist die hohe Heiratsmigration, deren Auswirkungen vor allem in den Kindergärten und Grundschulen des Stadtgebiets wahrgenommen werden: Viele Kinder aus türkischen/ türkischstämmigen Familien kommen ohne Deutschkenntnisse in die Bildungseinrichtungen, da in den jungen Familien Türkisch die Familiensprache ist und Deutsch wegen mangelnder Deutschkenntnisse des zugewanderten Elternteils im Familienalltag keine oder nur eine geringe Rolle spielt. D.h. Kindergärten und Grundschulen müssen im Bereich Deutschförderung der Kinder erhebliche Anstrengungen unternehmen. Amtliche Daten zur Heiratsmigration aus der Türkei sind für Mannheim nur unvollständig vorhanden. Zur Lebenssituation von Frauen, die im genannten Stadtgebiet in transnationalen Ehen leben, können wir auf Informationen und Erfahrungen von Therapeut(inn)en, Sozialpädagog(inn)en und Leiter(inne)n von Integrations- und Unterstützungskursen für Heiratsmigrant(inn)en und auf Gespräche mit betroffenen Personen zurückgreifen. Da der Fokus unserer Fallstudie auf Frauen liegt, die in transnationalen Ehen leben, werde ich im Folgenden ihre Situation beleuchten: zum einen die Situation von Frauen, die über Heirat migriert sind, und zum anderen die Situation von Deutsch-Türkinnen, die mit einem „Importmann“ verheiratet sind. Die Heiratsmigrantinnen in unserer Studie (ca. 40 Frauen) stammen aus allen Regionen der Türkei. 72 Ein Teil der Frauen ist zwischen Ende 20 und Mitte 30, „klein Istanbul“ oder „klein Türkei“. Von jungen Deutsch-Türkinnen, die sich von ihrer Herkunftsgemeinschaft distanzieren, wird das Stadtgebiet auch als „Ghetto“ bezeichnet. Als Beleg zwei Zitate von jungen Deutsch-Türkinnen; die eine meint: der Jungbusch (Name des Stadtgebiets) * der is schrecklich ne * des=n ghetto * jeder nennt des ghetto hier jeder * die türken auch und die deutschen sowieso * weil da würd kein deutscher leben der normal is * wenn er geld verdient; und die andere meint: des is wirklisch ni“scht normal was hier im Jungbusch los is ↑* is wi“rklisch nischt normal↓ des=s genauso wie in den amerikanischen filmen da↓ den ghettos↓, vgl. Keim (2008, S. 34ff.). Ein türkischstämmiger Sozialpädagoge, der in dem Gebiet arbeitet, meint, dass es von außen als geschlossene Gesellschaft, die sich in ihren Wertegefügen und Normen nicht besonders flexibel erweist, wahrgenommen wird. 72 Necmiye Ceylan, Sibel Ocak und Emran Sirim lernten die Frauen in den Fortbildungs- und Integrationskursen kennen, die sie leiteten. Ein Integrationskurs besteht aus einem Sprachkurs und einem Orientierungskurs, in dem der/ die Zuwandernde grundlegende Werte der deutschen Gesellschaft kennenlernt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ( BAMF ) Inken Keim 84 lebt bereits seit 6-12 Jahren in Mannheim und hat schulpflichtige Kinder. 73 Der andere Teil ist Mitte 20 und lebt erst seit 2-3 Jahren in Deutschland. 74 Alle Frauen haben die Pflichtschulzeit absolviert, ein Teil hat das lise abgeschlossen und eine Fach(hoch)schule besucht. Keine der Frauen hatte früher einen Deutschkurs besucht. Über Deutschland wussten die Frauen vor ihrer Ausreise nicht viel; sie kamen nicht wegen des Landes, sondern im Zuge der Heirat. Aber Deutschland war für sie nicht „fremd“: Deutschland kennt man aus Erzählungen von Verwandten, es ist sehr vertraut, auch wenn man noch nicht dort war. England und Amerika, das ist fremd, davor hätten die Frauen Angst gehabt, so die türkischstämmige Leiterin eines Integrationskurses. Ein Teil der Frauen lebt in einer mehr oder weniger stark arrangierten Ehe mit einem entfernten Verwandten oder mit einem vorher unbekannten Mann; die anderen leben mit einem selbst gewählten Partner zusammen. Nach übereinstimmender Information von Kursleiter(inne)n und Sozialpädagog(inn)en sind viele Heiratsmigrant(inn)en zufrieden mit ihrer Situation; die Ehe- und Familienverhältnisse werden als normal beschrieben, d.h. sie sind ohne von außen wahrnehmbare Auffälligkeiten; nicht funktionierende Ehen sind eher die Ausnahme. Es sei beeindruckend, wie viele Frauen die einschneidenden oft auch krisenhaften Erfahrungen der Migration bewältigten und wie gut sie sich in die neuen Verhältnisse in der Schwiegerfamilie eingelebt hätten, so ein Pädagoge. Eigenschaften wie Ausdauer, Ehrgeiz, Gewissenhaftigkeit, Wissbegierde und Zuverlässigkeit ermöglichten es ihnen, sich in der neuen Umwelt zurechtzufinden. Der Informant erklärt die Einpassungsleistung der jungen Frauen mit ihrer kulturellen Herkunft: Da in orientalischen Gesellschaften der Lebensentwurf des Einzelnen auf das Kollektiv bezogen ist, und Ehre und Ansehen der Familie eine wichtige Rolle spielen, wüssten die Frauen sehr genau, welche Rolle sie in der Schwiegerfamilie in Deutschland zu erfüllen haben. Das schafft für sie Klarheit und Überschaubarkeit. Sie haben in jungem Alter Kinder, tragen Verantwortung und sind bietet 11 verschiedene Arten von Kursen an, u.a. für Jugendliche, Frauen und Analphabeten. Nach 645 Schulstunden kommt die Prüfung, bei Analphabeten nach 945 Stunden. Fällt ein Teilnehmer durch, hat aber regelmäßig teilgenommen, bekommt er zusätzliche 300 Stunden; zitiert aus der Zeit vom 17.06.2010, S. 14. 73 Da diese Frauen in der 1990er Jahren bzw. Anfang 2000 nach Deutschland kamen, gehören sie - rein statistisch - zu der Gruppe von Heiratsmigrantinnen, die Straßburger (2003) beschreibt. Rechtlich gehören sie zu den „Altzuwanderern“, die von der Behörde zu einem Integrationskurs verpflichtet werden können, wenn sie von staatlicher Hilfe abhängig sind. Nach Bestehen des Sprachkurses sind sie dann auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar. 74 Diese Frauen gehören zu den Neuzuwanderern, die zum Integrationskurs verpflichtet werden können, wenn sie sich nicht „auf einfache Weise“ in Deutsch verständigen können. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 85 früh erwachsen. Aus seiner Perspektive ist die Festgefügtheit der Familienrolle, die aus deutscher Perspektive einengend und unterdrückend erscheinen mag, für die Frauen eine wichtige Orientierung in der krisenhaften Umbruchsituation. Ehen, die nach traditionellen Mustern aufgebaut sind, sind aus seiner Perspektive sehr gut organisiert; und ein Leben in der Großfamilie ist für viele Migrantinnen ausgesprochen attraktiv. Bei allen Befragten, Heiratsmigrantinnen und Deutsch-Türkinnen, spielten Sympathie oder auch Liebe eine wichtige Rolle bei der Partnerwahl. Das gilt auch für Frauen, die in einer mehr oder weniger arrangierten Ehe leben. Auch die Informantinnen, die sich zur Zeit der Befragung als unglücklich bezeichneten, waren zumindest zu Beginn der Ehe zufrieden oder auch glücklich. 4.1 Motive für die Migration: Perspektive der Heiratsmigrantinnen Einige Frauen nennen als Motiv für die Migration die Liebe zu ihrem Mann (vgl. Teil V und VI). Sie grenzen sich scharf ab von den Frauen, die mehr oder weniger offen zugestehen, dass der finanzielle Aspekt, die Aussicht auf ein besseres Leben in Deutschland, das entscheidende Motiv für die Heiratsmigration war (vgl. Teil IV). Die letztgenannten Frauen kommen meist aus Familien mit finanziellen Problemen, und die Heirat mit einem (entfernten) Verwandten oder guten Bekannten aus Deutschland erschien attraktiv. Bei einer Gruppendiskussion über das Leben in Deutschland meldete sich eine Kursteilnehmerin zu Wort mit der Feststellung: wir sind doch alle aus finanziellen Gründen nach Deutschland gekommen, das müssen wir zugeben und damit müssen wir leben. Sie spricht aus, was aus ihrer Perspektive auch für die anderen gilt: Vor 10-15 Jahren hatten die almancılar (Deutschländer) in den Herkunftsregionen der Eltern noch ein hohes Ansehen, denn sie kamen immer wieder mit neuen Autos, vielen Geschenken und modernen Geräten. 75 Da war es etwas besonderes, wenn man in Deutschland leben konnte. Als eine Familie aus Deutschland um ihre Hand anhielt, sahen ihre armen Eltern das als die Rettung für die Tochter an, ihr sollte es gut gehen. Ein Hintergedanke war, dass die ganze Familie von der Heirat profitieren würde. 75 Eine andere Frau glaubte in Deutschland ist alles schön und reich. Sie sah, dass die Verwandten jedes Jahr mit einem neuen Auto kamen und dachte, die müssen Geld haben. Doch sie wusste nicht, dass das Auto nur für einen Monat geleast war. Aus der Sicht der Informantin ging es den Verwandten dabei jedoch nicht um Betrug, sondern um ihr eigenes Image: Sie haben für die Migration Opfer gebracht, ihre Familien verlassen, die schwere Zeit in Deutschland durchlebt. Da wollten sie wenigstens im Urlaub den Anschein erwecken, dass es ihnen gut geht, dass sie Geld haben. Inken Keim 86 In ländlichen Regionen der Türkei ist die Ehe mit einem (entfernten) Verwandten weit verbreitet. 76 Ist ein Zweig der Familie bereits migriert, versucht man durch eine Heirat weiteren Verwandten die Möglichkeit zur Migration und zu einem besseren Leben zu verschaffen. Der Vorteil einer Ehe mit einem Verwandten oder guten Bekannten ist, dass die junge Frau sicher sein kann, dass sie von den Schwiegereltern gut aufgenommen wird. Solchen Frauen geht es in der Migration meist sehr gut, da sie in der Schwiegerfamilie wie die eigene Tochter behandelt werden. Bei einer Ehe mit einem relativ Unbekannten dagegen besteht das Risiko, dass die Frau in eine Familie einheiratet, von der sie nur die offensichtlichen bzw. die ihr mitgeteilten Informationen hat. Über die reale Lebenssituation der Familie in Deutschland, über die berufliche Situation ihres zukünftigen Mannes und über (Charakter-)Eigenschaften, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, weiß sie nichts. Eine Informantin berichtet folgenden Fall: Sie wurde mit 19 Jahren von der Familie gedrängt, zu heiraten, weil der Vater gestorben war und sie die Mutter entlasten sollte. Sie kannte die Familie des Mannes nicht, sagte aber trotzdem einer Heirat zu. In Deutschland stellte sich heraus, dass der Mann arbeitslos, spielsüchtig und gewalttätig war. Das Ziel der jungen Frau ist es jetzt, möglichst schnell Deutsch zu lernen, um eine eigenständige Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeit zu bekommen. Eine Rückkehr in die Türkei kommt für sie nicht in Betracht. Eine andere Informantin berichtet, dass ihr Mann bereits drogenabhängig und Dealer war, als seine Eltern zur Brautwerbung in die Türkei kamen. Das wusste die Familie der Informantin jedoch nicht. Da die Eltern des Mannes religiös waren und bereits eine Pilgerreise nach Mekka gemacht hatten, stimmten ihre Eltern der Heirat zu. Zu Beginn der Ehe ging alles gut, doch nach einiger Zeit begann das Unglück: Der Mann nahm wieder Drogen, verkehrte in einem Spielercafé, lernte dort eine Russin kennen und betrog seine Frau. Es kam zu Gewaltszenen in der Ehe, und die junge Frau sieht als einzige Lösung die Scheidung. 4.2 Motive für die Heirat mit einer Migrantin: Perspektive der deutsch-türkischen Männer und ihrer Familien Ein wichtiges Motiv für junge deutsch-türkische Männer, eine Frau aus der Türkei zu heiraten, ist Sympathie und Liebe. Oft kennen sich die jungen Leute bereits über Jahre, haben schon als Kinder in den Ferien in der Türkei mitein- 76 Auf die Frage, ob sie nicht Bedenken hätten, einen Verwandten zu heiraten, antworteten einige Heiratsmigrantinnen: nein, das ist bei uns so üblich. Da die Verwandten des Vaters als nicht so eng gelten wie die Verwandten der Mutter, sei es weit verbreitet einen entfernten Cousin/ eine Cousine der Vatersseite zu heiraten. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 87 ander gespielt und sind mit den Familien vertraut. Die Mädchen aus dem Herkunftsort der Eltern erscheinen den jungen Männern z.B. weniger frech oder besser als die Altersgenossinnen in Mannheim, und die Familien sind mit einer Verbindung einverstanden. Doch es gibt auch eine Reihe türkischer Eltern/ Mütter, die für den Sohn eine Schwiegertochter in der Türkei suchen. Dabei sind folgende Motive ausschlaggebend: a) Aufrechterhaltung traditioneller Familienstrukturen: Die Mutter eines Sohnes strebt dadurch, dass sie eine „perfekte“ Schwiegertochter ins Haus holt, den angesehenen Status der Schwiegermutter an. „Perfekt“ bedeutet in Bezug auf die Schwiegertochter, dass sie der Schwiegermutter mit Respekt begegnet, sich im Haushalt gut auskennt und die Hausarbeit übernimmt. Mit solch einer Schwiegertochter kann die Frau zu einer typisch türkischen Schwiegermutter werden, die anweist, kontrolliert und sich bedienen lässt. Bei einer Schwiegertochter aus Deutschland würde es schwerer werden, den erstrebten Status zu erreichen, da die (= junge Frau) zu freizügig ist, selbst Geld verdienen und Karriere machen will. Deshalb wird in der Türkei nach der perfekten Schwiegertochter gesucht. Ein Mädchen, das die Verhältnisse in Deutschland nicht kennt, kein Deutsch kann, kein Geld verdienen und damit keine Unabhängigkeit erreichen kann, lässt sich viel leichter in die Rolle einer „perfekten Schwiegertochter“ drängen als eine Deutsch-Türkin. b) Schutz des Sohnes: Die frühe Ehe mit einem reinen Mädchen wird in manchen Familien als Prophylaxe gegen soziale Abweichungen des Sohnes betrachtet oder auch als Therapie, wenn der Sohn schon auf die schiefe Bahn geraten ist. 77 Der Phraseologismus auf die schiefe Bahn geraten kann Folgendes bedeuten: Der junge Mann hat die Schule abgebrochen, hat deutsche Freundinnen, spielt, trinkt, nimmt Drogen oder dealt. Da manche Eltern Angst haben, dass ihr Sohn auf die schiefe Bahn geraten könnte und damit das Ansehen der Familie beschädigen würde, versuchen sie ihn möglichst früh zu verheiraten. Sie gehen davon aus, dass wenn er Familie hat, es da oben Klick macht, er sich um die Familie kümmert und nicht auf die schiefe Bahn gerät. 78 Nach der Heirat lebt der noch unselbständige Sohn 77 Bei Eltern, deren Sohn ein Leben auf der schiefen Bahn droht (yoldan cıktı oder kötü yola düştü), ist der Wunsch, eine junge Frau aus der Türkei zu holen, besonders stark. 78 Im Türkischen gibt es Sprichwörter, die genau diese Zusammenhänge thematisieren. Wenn ein junger Mann so aussieht, als ob er auf die schiefe Bahn geraten könnte, gibt es zwei Möglichkeiten der Prophylaxe bzw. der Therapie: das Militär oder die frühe Heirat, aklı başına gelsin (damit er zu Vernunft kommt). Der Sohn wird verheiratet, bevor er selbständig geworden ist bzw. „bevor ihm die Augen geöffnet werden“ (tk.: gözü acılmadan), d.h. bevor er die Welt kennen gelernt hat. Inken Keim 88 mit Frau und Kindern bei den Eltern. Wenn er arbeitet, gibt er dem Vater das Geld, der es für ihn verwaltet. Auf diese Weise können die Eltern den Sohn und seine junge Familie weiterhin eng führen und dafür sorgen, dass er das Ansehen der Familie nicht beschädigt. c) Notlösung für den bereits straffällig gewordenen Sohn: Junge Männer, die straffällig geworden sind, haben in der türkischen Gemeinschaft in Mannheim kaum eine Chance eine Frau zu finden, weil sie jeder kennt. Auch das ist ein Grund, eine Frau aus der Türkei zu suchen, in der Hoffnung, dass Schwächen des jungen Mannes dort nicht bekannt sind. Doch - so eine Informantin - die Familien in der Türkei haben in den letzten Jahren gelernt, dass es den Gelins (= Schwiegertöchter) in Deutschland manchmal sehr schlecht geht, und sind viel vorsichtiger gegenüber Heiratsangeboten aus Deutschland geworden. 4.3 Motive für die Heirat mit einem Migranten: Perspektive der deutsch-türkischen Frauen und ihrer Familien Wichtigstes Motiv für die Suche nach einem Mann in der Türkei ist der Mangel an geeigneten Kandidaten in der türkischen Gemeinschaft in Mannheim. Hier haben Deutschtürkinnen im Allgemeinen einen höheren Schulabschluss und eine bessere Berufsausbildung erreicht als ihre männlichen Altersgenossen, 79 und sie können in ihrem sozialen Umfeld oft keinen geeigneten Partner finden. Deshalb suchen sie bzw. ihre Familien nach einem passenden Schwiegersohn in der Türkei. Es gibt aber auch einige Fälle, in denen andere Motive eine Rolle spielen: - Die Aufrechterhaltung traditioneller Familienstrukturen durch Disziplinierung der Tochter: Wenn eine junge Frau sich den Regeln der Familie widersetzt, z.B. ein freizügiges Leben anstrebt, kann es vorkommen, dass die Eltern eine Heirat der Tochter mit einem Mann aus ihrer Herkunftsregion als Disziplinierungsmaßnahme planen. Sie hoffen, dass der junge Mann die Tochter den traditionellen Ehe-Rollenvorstellungen entsprechend kontrolliert und dafür sorgt, dass sie ein anständiges Leben führt. - Die Beschaffung einer Arbeitskraft im Familienbetrieb: Eine Informantin berichtet von einem Mann, der in Mannheim ein größeres Geschäft hat. Er hat drei Töchter, die er mit jungen Männern aus seinem Heimatdorf in der Türkei verheiratet hat. Die drei Schwiegersöhne arbeiten in seinem Ge- 79 Vgl. dazu auch Keim (2008, S. 114ff.). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 89 schäft. Den jungen Frauen gefällt die Konstellation, sie fühlen sich geborgen, da der Vater die jungen Männer kontrolliert. Den Schwiegersöhnen gefällt die enge Kontrolle allerdings weniger; sie würden lieber ohne die Schwiegerfamilie leben. 80 Da in einer Ehe mit einem „Import-Ehemann“ die Frau aufgrund ihres Wissens über das Leben in Deutschland die maßgebliche Rolle spielt, kehren sich im Vergleich zu traditionellen Familienstrukturen die Rollenverhältnisse oft um (vgl. Teil III). Das spiegelt sich auch im Sprachgebrauch: Manche Frauen bezeichnen ihre Männer als Kinder, die sie neben dem Nachwuchs betreuen und führen. Eine mit einem „Importmann“ verheiratete Deutsch-Türkin beschreibt ihre Situation folgendermaßen: ich habe drei Kinder, meinen Mann und die beiden Kleinen. Er ist völlig auf sie angewiesen; sie begleitet ihn bei Behörden- und Arztbesuchen, erledigt alle Familienangelegenheiten und verdient den Unterhalt. Da sie sehr liebevoll mit ihm umgeht, gibt es in der Ehe bisher keine Probleme. Es gibt aber „Importmänner“, die unter dem Verlust ihrer traditionellen Rolle, ihrer innerfamiliären Bedeutungslosigkeit und der Dominanz ihrer Frauen leiden. Die befragten Frauen jedoch, die mit einem „Import-Ehemann“ leben, bezeichnen sich als zufrieden oder auch als glücklich. Sie haben den geachteten Status einer verheirateten Frau und leben in einer Ehe-Konstellation, in der sie die Frauen- und Männerrolle im Vergleich zum traditionellen Muster erheblich verändert haben. 4.4 Verfahren der Eheanbahnung Bei Verwandten-Ehen kennen sich die Partner vor der Heirat und wissen oft seit langer Zeit, dass sie heiraten werden. Partner, die sich selbst wählten, lernten sich bei Türkeiurlauben, bei Verwandten- und Bekanntenbesuchen kennen. Nach dem Urlaub wurde die Beziehung meist über E-Mail- und Telefon bis zum nächsten (Urlaubs-)Treffen vertieft. Sobald die Partner sich zur Heirat entschieden hatten, wurden die Eltern einbezogen und ihre Zustimmung erbeten. In den uns bekannten Fällen wurde keine Ehe, in der die Partner sich selbst gewählt hatten, gegen den ausdrücklichen Willen der Eltern geschlossen. Arrangierte Ehen haben ein weites Spektrum. In den meisten Familien wird große Rücksicht auf die Meinung der Kinder genommen. Nur ganz selten - so eine Informantin - gibt es noch Fälle, da sieht das Mädchen 80 Dieses Beispiel erinnert an Familienstrukturen, wie sie für Großfamilien und Clans beschrieben wurden; vgl. auch Anm. 18. Inken Keim 90 den Mann bei der Hochzeit zum ersten Mal. Alle Befragten kennen viele arrangierte Ehen, die gut funktionieren und in denen die Partner zufrieden sind. Bei arrangierten Ehen verläuft der Prozess des Kennenlernens ähnlich, wie das Straßburger (2003) beschrieben hat (vgl. oben Kap. 2.3): - Die Vorentscheidung über die Partner treffen die Eltern, Familienmitglieder oder gute Bekannte. Die Familie aus Mannheim erkundet (über Verwandte in der Türkei), ob eine Familie aus der Herkunftsregion als potenzielle Schwiegerfamilie in Betracht kommt. Wichtig ist vor allem, dass sie ein gutes Ansehen hat und dass gut über sie gesprochen wird. „Gut“ bedeutet, dass die Familienmitglieder anständig leben und nach außen hin eine integre Familie präsentieren. Gelegentlich spielt auch die Religiosität der Eltern eine Rolle, die daran bemessen wird, ob sie die Hac (= Pilgerreise) gemacht haben. - Wenn die Familien zusammen passen, und die jungen Leute keine Einwände gegen eine Verbindung haben, können sie sich bei der nächsten Türkeireise kennen lernen, sich ohne Eltern treffen und überprüfen, ob sie zusammenpassen. - Die junge Frau kann dann immer noch ablehnen, wenn sie ihn unsympathisch findet und wenn sie triftige Gründe vorbringen kann. Wenn sie z.B. entdeckt hat, dass er alkohol- oder spielsüchtig ist oder dass er ein zweifelhaftes Vorleben hatte, geschieden ist oder ein uneheliches Kind hat. Das praktische Vorgehen bei einer arrangierten transnationalen Ehe schildern die Informantinnen folgendermaßen: Wenn eine passende Familie in der Türkei gefunden ist, stattet die Familie aus Mannheim ihr im Urlaub einen Besuch ab und bringt den Heiratswunsch vor, z.B.: wir wollen unseren Sohn mit eurer Tochter verheiraten. 81 Nach der Zusage nehmen die jungen Leute Kontakt auf. Eine Migrantin erzählt, wie das vor 10 Jahren vonstatten ging: sie wurde mit dem Jungen etwa eine halbe Stunde in ein Zimmer gesteckt. Sie wusste nicht, was sie ihn fragen sollte und er wusste auch nicht so recht was er fragen sollte. Aus der Rückschau meint sie, dass wir uns sehr dumm angestellt haben und auch dumme Fragen gestellt haben. Noch in demselben Urlaub wurde die Verlobung und im nächsten Urlaub die Hochzeit gefeiert. Danach kam die Informantin nach Deutschland. 81 Vor 10-15 Jahren wurde ein Antrag aus Deutschland hoch geschätzt; die Eltern sagten natürlich zu, ebenso wie die Tochter, wenn der Junge einigermaßen sympathisch war, berichtet eine Informantin. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 91 5. Leben in Deutschland 5.1 Migrantinnen in der Ehe mit einem Deutsch-Türken Für viele junge Frauen aus der Türkei bedeutet die Migration nach Deutschland, dass sie ihre Familie, ihre Freundinnen und ihr soziales Netzwerk im Herkunftsort verlassen. Das Leben in Deutschland besteht für sie zunächst aus dem Leben in der Schwiegerfamilie, da die Schwiegereltern aus finanziellen und familiären Gründen darauf bestehen, dass das junge Paar zumindest in der Anfangszeit bei ihnen wohnt. Schwiegermutter und Schwägerinnen führen die junge Ehefrau in den familiären Alltag ein (Einkaufen, Haushalt), leisten ihr Gesellschaft, solange der Mann bei der Arbeit ist und beraten bzw. führen sie bei allen Angelegenheiten außer Haus, da sie kein Deutsch kann und sich in Mannheim nicht auskennt. Für alle migrierten Frauen, die eng mit der Schwiegerfamilie zusammenleben, bedeutet „das Leben in Deutschland“ vor allem „ein Leben in der Schwiegerfamilie“. Kontakte zu Deutschen gibt es kaum, und die wenigen Kontakte mit deutschen Institutionen (Ausländerbehörde, Arbeitsamt) werden oft negativ erlebt. Seit dem neuen Zuwanderungsgesetz und der Verpflichtung zum Integrationskurs sind die Kontakte mit der Ausländerbehörde intensiver geworden: Neuzuwanderer bekommen die Aufenthaltsgenehmigung nur, wenn sie den Integrationskurs regelmäßig besuchen, und wenn sie ihre Familien in der Türkei besuchen wollen, müssen sie die Erlaubnis vom Integrationskurs oder vom Arbeitsamt einholen. Auf der Ausländerbehörde wird der Fortschritt in Deutsch überprüft, und die Betroffenen müssen alle Fragen in Deutsch beantworten. Eine Kursleiterin hat erlebt, dass den jungen Frauen in der Ausländerbehörde das Gefühl gegeben wird, unerwünscht zu sein. Für viele ist das der einzige Kontakt zu Deutschen, und sie haben Angst davor. 5.1.1 Leben in der Schwiegerfamilie In den Gesprächen mit Migrantinnen, die in der Schwiegerfamilie leben, liegt der thematische Fokus auf Darstellungen zu innerfamiliären Machtverhältnissen, zum Verhältnis zwischen den Generationen und Geschlechtern, zu Art und Ausmaß von familiären Aufgaben und Pflichten, zum Umgang der Familienmitglieder untereinander und zur Selbstpositionierung der Migrantin in Relation zu Mitgliedern der Schwiegerfamilie. Je nach der Qualität der Beziehung zur Schwiegerfamilie empfinden die jungen Frauen ihr Leben entweder als angenehm und glücklich oder es wird für sie zur Ursache allen Unglücks. Die beiden Typen von Migrantinnen - die einen, die sich eher als „glücklich“ Inken Keim 92 und die anderen, die sich eher als „unglücklich“ bezeichnen - sind Prototypen. Man kann sie sich als Eckpunkte auf einer Skala mit vielen Zwischenformen vorstellen. Im Folgenden werde ich einige charakteristische Lebensbedingungen und Eigenschaften der beiden Typen vorstellen: a) Die „Glücklichen“ Entscheidend für die Qualität des Lebens in der Schwiegerfamilie ist das Verhältnis zur Schwiegermutter. Wenn sie gleichzeitig die Tante ist, geht es der Schwiegertochter meistens gut. Aus der Sicht einer Kursleiterin machen junge Frauen aus Verwandten-Ehen einen zufriedenen und glücklichen Eindruck. Der Mann und seine Familie (die Verwandten) kümmern sich um alles und geben den jungen Migrantinnen viel Freiheit. Sie fühlen sich hier sehr wohl, besuchen regelmäßig Freundinnen und gehen gemeinsam einkaufen; einige haben auch den Führerschein gemacht und sind sehr mobil. Die jungen Frauen kamen nach Deutschland, weil man hier Geld verdienen kann und es hier sehr schön ist. Diese Vorstellung wurde nicht enttäuscht: Die Familie erfüllt ihnen jeden Wunsch und erledigt alles für sie. Die jungen Migrantinnen wurden in das türkische Netzwerk in Mannheim aufgenommen und haben sich darin eingerichtet. Eine Konsequenz der geglückten Integration in die türkische Gemeinschaft in Mannheim ist allerdings, dass das Interesse der Migrantinnen an Deutsch und an den Deutschen gering ist; sie sind - so eine Kursleiterin - wenig motiviert Deutsch zu lernen, da sie es im Alltag nicht brauchen. b) Die „Unglücklichen“ Über das Leben der „unglücklichen“ Frauen ist viel mehr zu erfahren als über das der „glücklichen“. Ausschlaggebend für das „Unglück“ sind einerseits ein Ehemann, der sich als „schlechter Ehemann“ entpuppt hat, d.h. die Frau vernachlässigt oder sie betrügt, und andererseits ein schlechtes Verhältnis zur Schwiegermutter. Oft trifft auch beides zusammen (vgl. Teil IV). Der Alltag einer „unglücklichen“ Frau sieht dann typischerweise so aus: Frühstück zubereiten, putzen, kochen, waschen, einkaufen für alle Mitglieder der (Groß-)Familie, und wenn Besuch da ist, Tee kochen und servieren. Die Schwiegermutter delegiert alle Aufgaben im Haushalt an die Schwiegertochter. Das ist jedoch nur dann der Fall - so eine Therapeutin -, wenn der junge Mann kein großes Interesse an seiner Frau hat und sich seiner Mutter gegenüber nicht für sie einsetzt. Oft besteht in solchen Familien zwischen Mutter und Sohn eine emotional sehr enge Beziehung; und wenn es um die Beziehung zu ihrem Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 93 Sohn geht, betrachtet die Mutter die Schwiegertochter als Rivalin. Sie lässt sie ihre Macht spüren, indem sie sie streng kontrolliert, und genießt ihre Vormachtstellung als Schwiegermutter. Ihr Ziel ist es, die junge Frau möglichst lange unselbständig zu halten. Einige unserer Informantinnen gaben an, dass sie lange Zeit keinen Deutschsprachkurs besuchen durften, weil die Schwiegermutter befürchtete, dass sie zu selbständig werden. 82 Für eine „unglückliche“ Informantin ist das Leben in der Schwiegerfamilie wie eine Gefangenschaft, (‘burada hapis hayat yaşayıyoruz’), man ist immer unter Kontrolle, die Hände sind einem gebunden und man kann die Sprache (Deutsch) nicht. Die jungen Migrantinnen sind sozial und rechtlich von dem Mann und seiner Familie abhängig; ihre Kontakte nach draußen werden streng kontrolliert aus Angst, dass sie Menschen treffen, die ihr Mut machen, sich der Kontrolle der Schwiegerfamilie zu widersetzen. 83 „Unglückliche“ Informantinnen beklagen das monotone und langweilige Leben, das sie in Deutschland (d.h. in der Schwiegerfamilie) führen. Hauptgrund dafür ist ihre soziale Isolation, die durch die sozial-räumliche Begrenztheit und ihre Hilflosigkeit aufgrund fehlender Deutschkenntnisse noch verstärkt wird. Die jungen Frauen kennen sich weder mit den lokalen Verhältnissen noch im öffentlichen Verkehrswesen aus; sie trauen sich nicht, das enge Umfeld der Schwiegerfamilie eigenständig zu verlassen, da sie Angst haben, sie könnten sich verlaufen oder sonst auf Gefahren treffen. Bei einer Diskussion über das Leben in Deutschland, die wir in den Fortbildungskursen mit den Frauen führten, ergab sich die einhellige Meinung: şimdiki aklım olsa, evlenip Almamya’ya gelmedim (‘wenn man mich heute fragen würde, würde ich nicht mehr nach Deutschland heiraten’). Da die meisten Informantinnen jedoch nicht in die Herkunftsfamilie zurückkehren wollen oder können (aus finanziellen Gründen oder aus Gründen der „Familienehre“), versuchen sie das Beste aus ihrem Leben hier zu machen, d.h. sie 82 Das ist nach der Einführung des Zuwanderergesetzes (2005) und der Verpflichtung zum Integrationskurs jetzt nicht mehr möglich. Doch es braucht einige Zeit, bis sich die Kenntnis in den Familien durchsetzt. Die Verpflichtung zum Integrations- und Deutschkurs bietet den „unglücklichen“ Heiratsmigrantinnen eine große Chance, von ihrer Schwiegerfamilie unabhängiger zu werden. Die betroffenen Frauen sehen das genauso. 83 Auch in Bezug auf die soziale Isolation der Migrantinnen haben die Integrationskurse positive Aspekte: Sie lernen in den Kursen andere Frauen kennen, können selbst neue Beziehungen knüpfen und außerhalb der Familie über ihr Leben und ihre Probleme reden. Oft betrachten die Frauen die deutsch-türkische Kursleiterin als Freundin und Beraterin. Wenn z.B. der Mann sie schlägt und die Schwiegermutter ihn unterstützt, suchen sie Hilfe und bitten die Kursleiterin, sie aus ihrer Ehe zu retten. Doch wenn die Kursleiterin dann den Kontakt zur Sozialeinrichtung herstellt, schrecken die Frauen zurück aus Scheu, sich Außenstehenden gegenüber zu öffnen. Gewalt in der Familie wird als Tabu-Thema behandelt. Inken Keim 94 wollen möglichst schnell Deutsch lernen um eine Arbeit zu finden und sie wollen, dass es ihren Kindern in Deutschland gut geht. 84 5.1.2 Leben getrennt von der Schwiegerfamilie Eine Sozialpädagogin, die Heiratsmigrantinnen betreut, sieht als wichtige Voraussetzung für eine positive Entwicklung junger Heiratsmigrantinnen in Deutschland, dass sie nicht mit den Schwiegereltern zusammen leben, sondern mit dem Mann und den Kindern eine eigene Wohnung haben. Wenn es dem jungen Paar außerdem gelingt, mit der Planung der Kinder solange zu warten, bis die junge Frau eine gewisse Selbständigkeit erreicht, sich eigenständige Kontakte aufgebaut und Deutsch gelernt hat, dann sind aus der Perspektive dieser Informantin wesentliche Bedingungen dafür erfüllt, dass die Ehe funktionieren und die Migration der Frau erfolgreich werden kann. Diese Einschätzung der Pädagogin wird bestätigt durch die jungen Frauen selbst: Für diejenigen, die getrennt von der Schwiegerfamilie leben, verläuft das Familienleben meist zufrieden stellend; sie haben sich von der Schwiegerfamilie distanziert und in der Kernfamilie eingerichtet. Diese Informantinnen thematisieren kaum innerfamiliäre Spannungen und Konflikte, und auch die Beziehung zum Ehemann erscheint unproblematisch. Sie richten den Blick nach „draußen“, versuchen ihre Umwelt zu ordnen, relevante Andere festzulegen und sich in Relation zu ihnen zu positionieren. Was diese Frauen bewegt und worüber sie ausführlich und mit großer Intensität sprechen, sind einerseits ein bestimmter Typ von Heiratsmigrantin, von dem sie sich scharf distanzieren (vgl. Teil V und VI), und andererseits die bedrohlich wirkende deutsche Umwelt und die schwierigen Kontakte mit Deutschen (vgl. Teil VI). 5.2 Deutsch-Türkinnen in der Ehe mit einem Migranten Die Situation von jungen Deutsch-Türkinnen, die einen „Importmann“ geheiratet haben, stellt sich ganz anders dar (vgl. Teil III). Die Frauen haben eine mittlere oder höhere Schul- und Berufsausbildung erreicht, leben nicht mehr bei ihren Familien, sondern wohnen mit ihren Männern in eigenen Wohnungen. Das eigenständige Leben des jungen Paares scheint auch hier eine Voraussetzung für das Gelingen der Ehe zu sein. Eine weitere wichtige Voraussetzung ist, dass es dem Mann gelingt, in Deutschland eine befriedigende Arbeit zu finden. Wenn das nicht gelingt bzw. in der Zeit bis das gelingt, kommt es 84 Während die „glücklichen“ Frauen nur geringes Interesse an Deutsch haben, da sie es nicht brauchen, sind die „unglücklichen“ Frauen stark daran interessiert, Deutsch zu lernen, weil sie unabhängig und selbständig werden wollen. Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 95 zu all den Problemen, die oben (Kap. 3) angeführt wurden: Die Männer erleben Frustrationen, werden wütend, depressiv, unglücklich und entwickeln ein Gefühl von Minderwertigkeit, weil sie die traditionell vorgesehene Ehe- und Familienrolle nicht ausfüllen können. 85 Solange der Mann (noch) nicht arbeitet oder zu wenig verdient, sorgen in der Regel die Frauen für den Familienunterhalt. Wenn Kinder da sind, unterbrechen sie ihre Berufstätigkeit, haben aber vor, sobald wie möglich wieder zu arbeiten. Während die Männer in solchen Ehe-Konstellationen zumindest in der Anfangszeit „unglücklich“ sind, sehen die befragten Frauen die Situation anders; sie sind mit der Rollenumkehr zufrieden. Einige bezeichnen sich sogar als glücklich, allerdings erst dann, wenn dem Mann die berufliche Eingliederung gelungen ist. Semra z.B. hat eine mittlere Schul- und Berufsausbildung und einen guten Arbeitplatz. Ihr Mann kommt aus der Türkei und hat dort studiert. Seine Großeltern leben in Mannheim, und die Väter des Paares kennen sich seit Jahren. So lernten sich auch die jungen Leute kennen. Semra hat zwei Kinder und bezeichnet sich als glücklich, denn sie hat den Mann, den sie sich wünschte; beide haben viele Gemeinsamkeiten. Der Mann hat hier Deutsch gelernt und einen guten Arbeitsplatz gefunden. Semras Schwester hat ebenfalls einen ihrer Familie bekannten jungen Mann aus der Türkei geheiratet und zwei kleine Kinder. In dieser Familie versorgt der Mann die Kinder und die Frau verdient den Familienunterhalt. Der Mann hat bisher noch keinen Arbeitsplatz gefunden; die Frau ist mit der Situation zufrieden. In vielen Fällen war das Zustandekommen der Ehe mehr oder weniger arrangiert; Mitglieder beider Familien kannten sich und schafften für die jungen Leute Gelegenheiten zum Kennenlernen. Auch wenn sich nach der Eheschließung herausstellt, dass der Mann nicht den Vorstellungen der Frau entspricht, hat die Eheschließung für die Frau Vorteile (vgl. Teil III): Sie hat den angesehenen Status einer verheirateten Frau, der ihr viele Freiheiten ermöglicht; und im Falle des Scheiterns der Ehe hat sie als geschiedene Frau eine wesentlich bessere soziale Position, als wenn sie ledig geblieben wäre. 6. Die „glückliche Ehe“ zwischen einer Deutsch-Türkin und einem Mann aus der Türkei 86 Da die Fallanalysen im Hauptteil dieses Buches kein Beispiel für eine „glückliche“, mit einem Mann aus der Türkei verheiratete, Deutsch-Türkin enthalten, werde ich im Folgenden etwas ausführlicher eine junge Frau vorstellen, 85 Zu solchen Erfahrungen der „Importmänner“ vgl. Keim (i.Dr.); vgl. auch Teil III. 86 Für eine ausführliche Analyse dieses Falles siehe Keim (i.Dr.) Inken Keim 96 die sich als „glücklich“ bezeichnet, weil sie den Mann geheiratet hat, den sie liebt, und weil es beiden gelungen ist, sich in Mannheim erfolgreich zu etablieren. Es handelt sich um Lale, das jüngste von fünf Kindern einer ehemaligen „Gastarbeiterfamilie“ aus dem Südosten der Türkei. Der Vater migrierte 1967 allein nach Mannheim, zwei Jahre später folgte die Mutter. Die zwei jüngsten Kinder, Lale und ihre ältere Schwester, sind in Mannheim geboren und in einem typischen Migrantenwohngebiet der Mannheimer Innenstadt aufgewachsen. Nach der Grundschule besuchte Lale zunächst die Realschule, dann das Gymnasium, das sie mit Fachabitur abschloss. Sie machte eine Ausbildung als Industriekauffrau und arbeitet seitdem bei einer internationalen Firma in Mannheim als Vertriebsassistentin. Alle fünf Geschwister sind gut ausgebildet und haben Partner aus der Türkei geheiratet. Kurz vor Abschluss der Ausbildung heiratet Lale einen Mann aus dem Heimatdorf ihrer Eltern, der dann zu ihr nach Mannheim migriert. Bei der Schilderung des beruflichen Werdegangs stellt Lale sich als „kämpferisch“ und „durchsetzungsfähig“ dar: Zu Beginn der Ausbildung war es schwer für sie, sich als junge Ausländerin in einer von Männern dominierten Firma durchzusetzen. Sie arbeitete hart, machte viele Überstunden, wehrte sich gegen abschätzige Bemerkungen ihrer Kollegen, wurde sehr patzig und setzte sich schließlich aufgrund guter Leistungen durch. Ihr gelang der Aufstieg in der Firma. Im Vergleich zu typisch türkischen Frauen bezeichnet sich Lala als anders. Eigenschaften des „Anders-Seins“ werden bei der Darstellung innerfamiliärer Beziehungen, der Beziehung zu ihren Eltern und ihrem Mann bestimmt und in Szenen präsentiert. Das werde ich an einigen Beispielszenen aus Lales biografischer Erzählung zeigen, in denen sie sich gegenüber ihrem Mann durchsetzt. Lale schildert, dass sie ihren Mann seit frühester Kindheit kennt. Er ist der Sohn der Nachbarfamilie im Heimatort der Eltern, und sie spielte mit ihm in den Schulferien, die sie regelmäßig in der Türkei verbrachte. Der Junge gefällt ihr schon seit langem, und als sie 14 und er 18 Jahre alt ist, initiiert sie eine Klärung ihrer Beziehung: Beispiel 1 (Lale = LA ; Interviewerin = IN ): 01 LA: und dann mit vierzehn * ich war vierzehn als ich ihn zum 02 LA: ersten mal gefragt hab ob er was von mir will ↑ LACHT 03 IN: sie“ haben ihn gefragt ↑ LACHT wie hat=a reagiert↑ 04 K ERSTAUNT # Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 97 05 LA: +er war ja schon achtzehn und ich war ja vierzehn 06 IN: ja ↓ 07 LA: ja: er war geschockt ↓ äh: 08 IN: jetz no=mal aso=sie“ haben 09 IN: i“hn gefragt ↑ sie warn vierzehn ↑ 10 LA: eh des war so lustig ↓ 11 IN: +ja ↓ erzählen=se ↓ LALE ERZÄHLT Auf Lales Feststellung, dass sie den Jungen fragte, ob sie ihm gefällt, reagiert die Interviewerin ( IN ) mit Erstaunen (Kontrastakzent auf dem Personalpronomen sie“ in sie“ haben ihn gefragt↑), hervorgerufen durch die Ungewöhnlichkeit der Rollenverteilung bei diesem Ereignis. IN stuft den geschilderten Sachverhalt hoch und projiziert damit für die Erzählerin eine entsprechend hochgestufte Darstellung der Reaktion des Jungen. Lale erfüllt diese Erwartung und schildert, dass der Junge geschockt war. Gemeinsam charakterisieren die Interaktionspartnerinnen das Ereignis als „außergewöhnlich“ und in hohem Maße erzählenswert. 87 Die Bedeutung „außergewöhnlich“ ist vor dem Hintergrund konventioneller Regeln inferierbar: Der Konvention entsprechend ist es Aufgabe des jungen Mannes bzw. seiner Familie, den Prozess der Werbung zu initiieren und um die Hand des ausgewählten Mädchens anzuhalten. Doch Lale kehrt die Rollen- und Aufgabenverteilung um, sie initiiert den Prozess der Werbung. Das Ereignis findet bei einem großen Fest im Heimatort der Eltern statt, zu dem die Eltern und die Nachbarn eingeladen waren, auch Lale und der Nachbarjunge. Im Folgenden stellt Lale dar, wie sie den Jungen dazu brachte, ihr eine Liebeserklärung zu machen. Beispiel 2 (vereinfachte Transkription): 01 LA: ich war wie gesagt vierzehn ↓ auch noch sehr klein gewesn ↓ 02 LA: un lustig gewesn ↓ äh magst du mich hab ich ihn gefragt ↓ * 03 LA: da guckt=a * >ja: < ** natürlich kla: r ↓ hat er gemeint ↓ * 04 LA: und ich so: ja wie: magst du mich ↓ magst du mich wie 05 LA: deine schwester ↑ * oder magst du mich anders ↓ LACHT ja 06 K LACHT LEICHT # 07 LA: un=dann war er sehr sehr geschockt gewesen ↑ dann 08 LA: hat=a gemeint * ich weiß nisch irgendwie ni“scht wie 09 LA: meine schwester ↑ schon anders ↓ * hat=a gemeint ↓ und- * 10 LA: ja jedenfalls sind wir dann zusammengekommen ↓ 87 In der Vergewisserungsfrage jetz no=mal aso=sie“ haben i“hn gefragt↑ markiert IN nochmals die Außergewöhnlichkeit des Geschilderten, und Lale charakterisiert das Ereignis vorausgreifend als so lustig. Inken Keim 98 Lale fragt den Jungen unvermittelt, ob er sie mag. Überrascht (da guckt=a) bejaht er die Frage. Da die beiden Türkisch sprechen, verwendet Lale in ihrer Frage das Verb sevmek (‘lieben, mögen’), 88 dessen lokale Bedeutung kontextuell geklärt werden muss. Am Anschluss führt Lale vor, wie sie zur Klärung der Bedeutung kommt: Sie fragt ihn, ob es sich bei seinem Gefühl ihr gegenüber um „Liebe“ wie unter Geschwistern handelt (magst du mich wie deine schwester↑), oder um eine andere Art der „Liebe“, die Liebe zwischen Frau und Mann (oder magst du mich anders↓). Die Reaktion des Jungen stellt sie dann dar durch: er war sehr sehr geschockt gewesen. Was den Jungen so sehr aus der Fassung bringt, ist zunächst der völlig überraschende und unvorbereitete Versuch des sehr kleinen und lustigen Mädchens, die emotionale Beziehung zu ihm in dieser Dimension zu klären. 89 Dann muss ihn die Direktheit der Frage und vor allem der Bruch der traditionellen Geschlechterrollen geschockt haben. Er lässt sich trotzdem auf die Frage ein und bekennt er ihr seine Liebe (irgendwie ni“scht wie meine schwester↑ schon anders↓). Und nach diesem Bekenntnis, so stellt es die Erzählerin dar, sind die beiden zusammengekommen. In dieser entscheidenden Szene stellt Lale sich als forsches Mädchen dar, das die Liebeserklärung des Jungen provoziert, rollengebundenes Handeln umkehrt, Konventionen bricht und die Zukunftsplanung selbst in die Hand nimmt. In dieser ersten Darstellung der Paar-Konstellation bestimmt sie die Rollen der Partner komplementär: Sie ordnet sich selbst der primären Kategorie, der Initiativkategorie, zu und bestimmt deren Eigenschaften: forsch, selbstbestimmt, entgegen traditioneller Konventionen handelnd. Den Partner ordnet sie der sekundären, der Reaktivkategorie zu und bestimmt seine Eigenschaften komplementär zu ihren: Er lässt sich auf ihre Initiative ein, erfüllt die von ihr eröffnete konditionelle Relevanz und beantwortet ihre Frage positiv. 90 Diese erste Festlegung der Paarkonstellation bleibt im Verlauf des Gesprächs mit Lale konstant; sie stellt sich in der Beziehung zu ihrem Mann durchgehend als initiativ dar, stellt die Bedingungen, definiert die Vorgaben und forciert Entscheidungen. Lale und der Nachbarjunge führen über acht Jahre eine Fernbeziehung, sie schreiben sich, telefonieren regelmäßig und sehen sich in den Ferien. Die Beziehung halten sie vor den Eltern geheim. Als Lale 22 Jahre ist, hält der Mann offiziell um ihre Hand an und die beiden verloben sich. Danach kehrt sie nach 88 Im Türkischen gibt es keine lexikalisierte Unterscheidung zwischen lieben und mögen. Das Verb sevmek wird in beiden Bedeutungen verwendet. 89 Bei der Reformulierung dieser Szene expandiert Lale seine Reaktion zu aso er war erstaunt gewesen↑ * er wusste in dem moment gar net/ er hat damit ga“r nicht gerechnet↓ * überhaupt nich↓ 90 Zu komplementären Paarkonstellationen vgl. Kallmeyer/ Keim (1994, S. 337ff.). Heirat und Migration aus der Türkei: Einführung in den Gegenstand 99 Deutschland zurück und holt einige Monate später den Mann zur Eheschließung nach Mannheim. Sie setzt sich dem Mann gegenüber bei der Entscheidung durch, wo die Heirat stattfinden soll (nicht in der Türkei, sondern in Deutschland), ebenso wie bei der Entscheidung über den zukünftigen Lebensmittelpunkt des Paares. Der Mann besteht zunächst auf einem Leben in der Türkei, da er dort studiert und einen guten Arbeitsplatz hat. Doch sie will in Mannheim leben, ihre Ausbildung beenden und hier einen guten Arbeitsplatz finden. Wie sie die länger anhaltende Diskussion beendete, schildert sie folgendermaßen: Beispiel 3 (vereinfachte Transkription): 01 LA: un jedenfalls hab ich dann gemeint * irgendwann ne ↑ <aso 02 LA: entweder kommen wir hie“rher ↑ oder aber es ge“ht net ↓ > 03 LA: weil ich kann mir ein leben in der türkei nich vorstellen ↓ 04 LA: hab ich dann direkt gesagt ↓ * und dann war des thema 05 LA: eigentlich sehr schnell erledigt gewesen ↓ ja ↓ Sie forciert die Entscheidung, indem sie dem Mann das Ultimatum stellt: entweder kommen wir hie“rher↑ oder aber es ge“ht net↓. Das ist die Androhung von Trennung bzw. Scheidung für den Fall, dass er ihrer Forderung, nach Mannheim zu migrieren, nicht nachkommt. Die Forderung begründet sie mit einer generalisierenden Absage an die Türkei (ich kann mir ein leben in der türkei nicht vorstellen↓) und beendet damit den Entscheidungsprozess in ihrem Sinne (und dann war des thema eigentlich sehr schnell erledigt gewesen↓). In dieser szenischen Darstellung kommt nur die Perspektive Lales zum Ausdruck; die Perspektive des Mannes findet keine Berücksichtigung, obwohl für seine Position (ein gemeinsames Leben in der Türkei) ebenso stichhaltige Argumente hätten vorgebracht werden können. Die Nichtberücksichtigung der Perspektive des anderen und die ausschließliche Darstellung der Eigenperspektive bei Entscheidungen, deren Konsequenzen beide Partner betreffen und für den anderen möglicherweise schwerer wiegen, sind rhetorische Verfahren zur Herstellung von „Dominanz“. Lale erscheint hart, rücksichtslos, nur Eigeninteressen verfolgend. Andere Eigenschaften wie Rücksicht, Fürsorge, Verständnis oder Zuneigung kommen an dieser Stelle nicht vor. Dass sie solche Eigenschaften hat, stellt sie in anderen Zusammenhängen dar. Als sie die Anfangsschwierigkeiten ihres Mannes in der Migration schildert (sein Studium wird in Deutschland nicht anerkannt, er ist arbeitslos, hat Heimweh und ist zutiefst unglücklich), zeigt sie großes Verständnis: Sie hilft ihm über die anfängliche Arbeitslosigkeit hinweg, finanziert seinen Deutschinten- Inken Keim 100 sivkurs, fördert seine sozialen Kontakte und ermutigt ihn bei der Arbeitssuche. Seit zwei Jahren geht es ihm beruflich gut, er hat sich, wie Lale sagt, integrieren können. Lale konstruiert ihr Selbstbild der deutschen Interviewerin gegenüber (und das bereitet ihr offensichtlich Freude) in starkem Kontrast zu negativ bewerteten Modellen für türkische Frauen, die in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet sind. Sie entwirft ihre Ehe im Kontrast zu unglücklichen Ehen und führt modellhaft vor, unter welchen Bedingungen eine Ehe zwischen einer Deutsch- Türkin und einem „Importmann“ erfolgreich sein kann: Wenn es dem Paar gelingt, sich aus einschränkenden Traditionen zu lösen und unter Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und Bedürfnisse die Aufgaben und Pflichten der Partner neu zu regeln. Aus der Retrospektive bewertet Lale die Entscheidung für ein Leben in Deutschland als richtig und die früheren Einwände ihres Mannes als entkräftet. Diese Erfahrung findet Ausdruck in der Art ihrer Darstellung. Möglicherweise spielt auch Lales Migrationserfahrung eine Rolle für ihr kompromissloses Auftreten. Ihr Leben in Deutschland verlief nicht selbstverständlich; sie musste (über Jahre hinweg) hart für die soziale und berufliche Anerkennung kämpfen, eine Anstrengung, die durch einen Umzug in die Türkei vergeblich gewesen wäre, und deren Erfolg sie nicht hätte erleben können. Eine vergleichbare Anstrengung hatte der Mann während seiner Sozialisation in der Türkei nicht zu erbringen; seine Biografie verlief eher geordnet und in selbstverständlichen Bahnen. 7. Literatur Antes, Peter (2004): Verbrechen im Namen der Ehre - ein religiöses Phänomen? Ehre und Religion. In: Terres des Hommes/ Böhmeke, Myria (Hg.): Tatmotiv Ehre. Tübingen, S. 16-22. Aydın, Hayrettin/ Sauer, Martina/ Güntürk, Reyhan (2003): Bestandsaufnahme und Situationsanalyse von nachreisenden Ehepartnern aus der Türkei. Zentrum für Türkeistudien, Essen. Ms., S. 111-119. Böhmeke, Myria/ Walz-Hildenbrand, Marina (2007): Im Namen der Ehre - misshandelt, zwangsverheiratet, ermordet. Tübingen. Internet: www.cileli.de/ Hilfsleitfaden. pdf (Stand: 12/ 2011). Boos-Nünning, Ursula/ Karakaşoğlu, Yasemin (2005): Viele Welten leben. Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit griechischem, italienischem, jugoslawischen, türkischem und Aussiedlerhintergrund. Münster. 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Auf meine Anfrage nach einem Gespräch war sie nach einigem Zögern bereit. Yeliz lebt seit ihrer Kindheit in einem Stadtgebiet von Mannheim, in dem ca. 60% der Einwohner einen Migrationshintergrund haben. 1 Aus der Innen- und Außenperspektive wird das Gebiet als Ghetto bezeichnet; 2 es hat eine Reihe von Merkmalen, die charakteristisch für eine „ethnische Kolonie“ sind. 3 Nach Aussage der jüngeren Generation gibt es verschiedene Familientypen, einerseits eher „traditionelle“, andererseits eher „moderne“ Familien, und viele Familien vereinen in sich Charakteristika aus beiden Typen. 4 Yeliz kommt nach eigener Aussage aus einer eher „traditionellen“ Familie mit vier Töchtern. Ihre Eltern stammen aus einem Dorf in der Westtürkei. Die Mutter hat eine geringe Schulbildung, der Vater kam als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Die Mutter, die zentrale Person in der Familie, ist sehr bildungsorientiert und strebt für die Töchter eine gute Schulbildung an, damit sie das erreichen, was sie selbst nie erreichen konnte. Diese Bildungsorientierung ist charakteristisch für sozial aufstrebende Migrantenfamilien des Stadtgebiets und widerlegt die 1 Ich habe eine ausführliche Ethnografie des Stadtgebiets verfasst, in der die Sozial- und Familienstruktur der türkischen Gemeinschaft, die wichtigsten Territorien und die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen beschrieben sind; vgl. Keim (2008, Teil I). 2 Vgl. Keim (2008, S. 38ff.). 3 Vgl. oben Teil I, Kap. 4. 4 Vgl. zu diesen Familientypen Keim (2008, S. 66ff.). Inken Keim 106 in öffentlichen Bildungsdiskussionen den Migranteneltern pauschal unterstellte Bildungsferne und das Desinteresse an der Schulbildung ihrer Kinder. 5 Auch andere Studien konstatieren eine hohe Bildungsorientierung in türkischen Familien und zeigen, dass vor allem Töchter höhere Bildungsabschlüsse erreichen; 6 sie werden von den Müttern unterstützt, auch wenn diese keine oder nur geringe schulische Voraussetzungen haben. Viele Eltern streben den sozialen Aufstieg der Töchter über eine akademische Ausbildung an, weil sie darin die beste Voraussetzung für deren eigenständiges, finanziell unabhängiges Leben sehen, unabhängig vom Einkommen des Ehemanns und seiner Familie. Sie verbinden mit Bildung ein emanzipatorisches Interesse für die Tochter. Es gibt aber auch Eltern, die den sozialen Aufstieg durch eine Heirat „nach oben“ anstreben. Sie betrachten eine universitäre Ausbildung der Tochter als notwendige Voraussetzung für den Zugang zu einer statushöheren Schwiegerfamilie. D.h. diese Eltern orientieren sich eher an einem traditionellen Leitbild für junge Frauen, und die akademische Bildung erscheint als ein geeignetes Mittel, um in eine angesehene Familie einzuheiraten. An einem solchen Modell orientieren sich Yeliz' Eltern, vor allem die Mutter. Für sie ist Heirat ein konstitutiver Bestandteil des Lebensentwurfs für die Töchter, und je besser die Töchter verheiratet werden können, desto mehr erfüllt das die Mutter mit Stolz, so eine Informantin. 7 Im früheren Interview führt Yeliz zur Bildungsorientierung ihrer Mutter Folgendes aus: (Vereinfachte Transkription) YL: meine mutter wollte dass ich studiere ↓ sie hat eine YL: familie gekannt und diese familie ist zu bruch also äh in die YL: brüche gegangen ↑ * weil der mann war gebildet und die frau war YL: nicht gebildet ↓ * und die familie des mannes hat die frau niemals YL: akzeptieren wollen ↓ * deshalb hat er sich scheiden lassen ↓ * YL: und des hat meine mutter sehr beschäftigt und deshalb wollte YL: sie ni“cht dass ihre töchter ni“cht gebildet sind ↓ 5 Vgl. ausführlich dazu Keim (2008, S. 135ff.). 6 Vgl. dazu u.a. Apitzsch (2003) und Boos-Nünning/ Karakasoglu (2005); vgl. auch die 2009 erschienene Studie von Behrensen/ Westphal. In dieser Studie wird auch die starke Bindung junger Migrantinnen der 2. Generation an ihre Familien hervorgehoben. 7 Das sind Beobachtungen aus dem sozialen Umfeld von Yeliz. Für die Mutter gilt aber auch das umgekehrte Prinzip: Wenn es einer Tochter nicht gelingt, für sich gute Voraussetzungen zu schaffen und in der akademischen Lebenswelt einen Partner zu finden, läuft sie Gefahr, weniger Achtung und Fürsorge der Mutter zu erfahren. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 107 Aus der Perspektive der Mutter sind Bildung und eheliches Glück der Töchter eng miteinander verzahnt; die universitäre Ausbildung erscheint ihr als wichtige Voraussetzung für eine gute Heirat und den Bestand der Ehe. Yeliz ist die älteste Tochter und musste bereits früh familiäre Aufgaben übernehmen, die vier jüngeren Schwestern versorgen und ihnen bei den Hausaufgaben helfen. Sie richtete ihren Alltag nach den Bedürfnissen der Geschwister aus, war für sie Bezugsperson und musste immer wieder eigene Interessen zurückstellen. Yeliz folgt zunächst dem von der Mutter entworfenen Plan; sie absolviert das Gymnasium und studiert Germanistik. Im Laufe des Studiums merkt sie jedoch, dass sie sich für das falsche Fach entschieden hat, bricht kurz vor dem Abschluss ab und entscheidet sich für eine Ausbildung als Deutsch- und Kunstlehrerin. Der Abschluss verzögert sich, und sie schließt, u.a. auch wegen finanzieller Probleme, erst im Alter von 34 Jahren das Studium ab. Zu diesem Zeitpunkt ist sie (immer noch) unverheiratet und wohnt bei den Eltern, während die jüngere Schwester den Lebensentwurf der Mutter in idealer Weise erfüllt hat: Sie hat während des Studiums einen passenden Lebenspartner gefunden, einen deutsch-türkischen Kommilitonen, und ihn nach Studienabschluss geheiratet. Das Gespräch mit Yeliz findet in ihrer Wohnung statt. Die jüngere Schwester ist zu Beginn anwesend und beteiligt sich auch gelegentlich am Gespräch. Yeliz' Mann, der nur wenig Deutsch versteht, sitzt die ganze Zeit dabei, beobachtet das Gespräch intensiv, beteiligt sich einige Male in Türkisch und, auf meine Initiative hin, auch einmal in Deutsch. 8 Yeliz lässt sich auf meine Gesprächsvorgabe ein, präsentiert zunächst Details zu ihrem Studium, zu Studienentscheidung und -erfolg, kommt dann zu den Vorgängen vor der Heirat, wie und wo sie ihren Mann kennenlernte, zur Heirat selbst, zur Begegnung mit der Schwiegerfamilie, präsentiert dann relevante Hintergründe zum Zustandekommen der Ehe und abschließend Details aus dem Alltag der jungen Familie in Mannheim. Yeliz stellt ihre Ehe als unter äußerem Druck zustande gekommene Verbindung zweier ungleicher Partner dar, für die das Zusammenleben problemhaltig ist. Ihr Leben und ihre Erfahrungen vor und während der Ehe sind geprägt von einem tief empfundenen Widerspruch zwischen kontrastierenden Lebensmodellen, deren Unvereinbarkeit sie bei der Hochzeitsfeier schockartig erlebt. Gegenwärtig versucht sie sich klar zu werden, welche Lösungen es für sie geben kann. 8 Die Transkription des Interviews und die Übersetzung der türkischen Äußerungen fertigte Emran Sirim an. Inken Keim 108 Das Gespräch mit Yeliz war beeindruckend und anstrengend zugleich aus folgenden Gründen: a) In Bezug auf die Gesprächsaufgabe „biografisches Erzählen über die Ehe mit einem Migranten/ Importmann“ war die Gesprächskonstellation - Yeliz, ihr Mann und ich - ungewöhnlich: Yeliz adressierte ihre biografische Darstellung an mich, sie sprach in Anwesenheit ihres Mannes über ihn und seine Familie, kontrastierte seine Vorstellungen zu Ehe und Familie mit ihren eigenen und beurteilte sie. Details aus seiner Biografie wurden in einer Sprache verhandelt, die er kaum verstand, so dass er keine Möglichkeit zur Kontrolle darüber hatte. Diese Gesprächskonstellation führt notwendigerweise zur Verletzung der von Goffman (1971, 1974) beschriebenen Interaktionsregeln zur Wahrung des „Face“ der Gesprächsbeteiligten und zur Aufrechterhaltung des „rituellen Gleichgewichts“: Der Mann kann nicht für sich selbst sprechen und entscheiden, ob etwas aus seiner Biografie verhandelt wird und wenn, in welcher Art und Weise; er kann die Darstellungen und Bewertungen seiner Frau nur teilweise verstehen und nicht dazu Stellung nehmen. Für Yeliz stellen sich komplexe kommunikative Aufgaben: Sie hat dem Gespräch zugestimmt und muss den Erwartungen der Interviewerin entgegenkommen; sie muss ihre Entscheidung, einen „Importmann“ zu heiraten, verstehbar machen, denn sie weiß, dass solche Ehen in der türkischen Gemeinschaft und der deutschen Gesellschaft als eher „problemhaltig“ eingeschätzt werden; d.h. sie fühlt sich möglicherweise unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Da ihre aktuelle Lebenslage problematisch ist, muss sie ihre Handlungen/ Entscheidungen (die für die Problemsituation (mit-)verantwortlich sind) so darstellen, dass ihr eine Selbstpräsentation gelingt, die für sie selbst befriedigend und für die Rezipientin überzeugend ist. Und sie muss aus Gründen des Selbst- und Partnerschutzes in hohem Maße face-work betreiben: Sie muss sich selbst und ihren Mann in der Gegenwart einer Außenstehenden vor dem unkontrollierten Ausbruch negativer Gefühle schützen und gleichzeitig die innere Dramatik ihrer Situation für die Rezipientin verstehbar machen. Die Komplexität der situativen Anforderungen erschien für alle Anwesenden belastend: Während Yeliz agierte, beobachtete ihr Mann intensiv ihre Sprech- und Handlungsweisen, ebenso meine Reaktionen auf ihre Beiträge. An einigen Stellen hatte ich den Eindruck, dass ihm die Selbstkontrolle schwer fiel und er einen emotionalen Ausbruch nur aus Gründen des „Face“-Schutzes für alle Beteiligten vermied. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 109 b) Yeliz spricht äußerst konzentriert und kontrolliert. 9 Sie hält sich mit offen negativen Bewertungen bei der Darstellung schwieriger Aspekte des gemeinsamen Lebens zurück und kontrolliert ihr gesprächsbegleitendes Verhalten. Die Anstrengung zur Selbstkontrolle wird auf allen Äußerungsebenen deutlich: - auf der Ebene der Formulierungsdynamik: viele Abbrüche, Neustarts, Verzögerungen und Selbstkorrekturen; - auf der diskursiv-rhetorischen Ebene: Verwendung von andeutenden, abschwächenden oder beschönigenden Verfahren (z.B. durch Euphemismen, Litotes) und von Verfahren zur Bagatellisierung, De-Fokussierung, Verschleierung oder Ausblendung; - auf der lexikalischen Ebene: Verwendung abstrakter, vager und ‘harmloser’ Bezeichnungen; - auf der para- und nonverbalen Ebene: leises, oft zögerndes Sprechen, geringe Expressivität, Minimalisierung von Gestik und Mimik. Ziel meiner Analyse ist es, zu rekonstruieren, wie Yeliz unter den besonderen situativen Anforderungen die wichtigen Phasen ihrer Biografie präsentiert: das Leben vor der Ehe, das Kennenlernen des Mannes, die Heirat, das Kennenlernen der Schwiegerfamilie und das gemeinsame Leben in Mannheim. Dabei sind folgende Fragen von Interesse: - Wie schlägt sich ihr Wissen über Kenntnisse, Vorstellungen und Bewertungen der Rezipientin in ihrer Darstellungsweise und ihrer Plausibilisierungsleistung nieder (‘recipient design’); - in welchen sozial-kulturellen Rahmen verortet sie ihre Ehe und welche Motive und Begründungen gibt sie dafür; - wie verarbeitet sie kontrastierende sozial-kulturelle Lebensentwürfe und Ehemodelle; - wie verortet sie sich selbst in verschiedenen Kontexten, wie ihre Familie, ihren Mann und seine Familie, und wie positioniert sie sich zu anderen und andere Akteure zueinander; 9 Ein weiterer Grund für das vorsichtige, zurückhaltende Formulieren könnte sein, dass Yeliz wusste, dass das Interview im Rahmen einer Studie stattfand, die veröffentlicht werden sollte. Da sie davon ausging, dass das Thema viele Deutsch-Türk(inn)en interessiert, scheute sie vermutlich zu große Offenheit, da Freundinnen, Freunde und Bekannte ihre Geschichte lesen könnten. Inken Keim 110 - welche Verfahren zur sozial-kulturellen Selbst- und Fremdkategorisierung verwendet sie und - welche Zukunftsvorstellungen entwirft sie auf der Basis ihrer aktuellen Lebenslage. Die Analyse folgt dem sequenziellen Verlauf des Gesprächs. In die Analyse werden auch Informationen aus dem früheren Interview mit Yeliz einbezogen, ebenso wie Informationen von Freundinnen und Nachbarn und Daten aus eigenen ethnografischen Beobachtungen. Außerdem diskutierte ich das Material mit Serap Devran, einer in Deutschland aufgewachsenen, türkischen Germanistin, die seit ihrem 19. Lebensjahr in der Türkei lebt und arbeitet. Ihre Hinweise aus einer vorwiegend türkischen Perspektive bereichern die Analyse mit zusätzlichen Aspekten. 2. Yeliz' Leben vor der Ehe: Selbstdarstellung als eigenständige und bildungsbewusste junge Frau Zum Einstieg in das Gespräch knüpft die Interviewerin an das frühere Interview an und erinnert Yeliz an den damals dargestellten Bildungswunsch der Mutter. In Reaktion darauf stellt Yeliz ihre Überlegungen vor der Studienwahl dar. Interessant in dieser Gesprächssequenz ist Yeliz' Selbstdarstellung in Bezug auf die Studienentscheidung und ihre Selbstpositionierung in Relation zur Mutter. Hier gibt es bereits Hinweise auf die Orientierung an unterschiedlichen Lebensmodellen, die das gesamte Gespräch durchziehen, das Modell einer „traditionellen“ im Kontrast zu dem einer „eigenständigen“ jungen Frau. Auf die Frage der Interviewerin, wie es nach dem damaligen Interview mit der Ausbildung weiterging, antwortet Yeliz folgendermaßen: 13 IN: wie war das dann ↑ wie ging des dann weiter ↑ 14 YL: also ich 15 YL: hab halt ähm- * weitergemacht mit dem studium ↓ 16 IN: ja ↓ 17 YL: aber- ** also der grund war auch nicht mehr dass es 18 YL: meine mutter gewollt hatte ↑ des ging ja von mir aus ↓ 19 YL: |also| ich wollte ja selbst äh mit dem studium 20 IN: |ja ↓ | 21 YL: fertig werden ↓ oder studieren ↑ äh: m- * eh * 22 IN: ja ↓ „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 111 23 YL: weil ich wollte-* nicht zu hause sitzen ↓ und ich 24 YL: wollteähm ** einen beruf erlernen wo ich arbeiten 25 YL: wo/ den ich gerne ausübenkann 26 IN: mhm ↓ mhm ↓ ← mhm ↓→ 27 YL: und nicht einfach irgendwas ↓ an der kasse sitzen 28 YL: oder so ↓ 29 IN: mhm ↓ *3,0* und sind sie- * dann jetzt Yeliz korrigiert den Hinweis der Interviewerin, dass sie in ihrer früheren Darstellung dem Studienwunsch der Mutter gefolgt war, und hebt hervor, dass das Studium vor allem für sie selbst wichtig war. Mit der Feststellung des ging ja von mir aus (Z. 18) stuft sie die Bedeutung der Mutter herab, den eigenen Anteil an der Entscheidung für ein Studium hoch, und beansprucht in der Reformulierung die alleinige Verantwortung für die Entscheidung: also ich wollte ja selbst äh mit dem studium fertig werden (Z. 19f.). Als Begründung dafür führt sie an: weil ich wollte * nicht zuhause sitzen↓ und ich wollteähm ** einen beruf erlernen wo ich arbeiten wo/ den ich gerne ausübenkann (Z. 23-25). Sie gibt zwei Begründungen für ihre Entscheidung: Im ersten Teil nennt sie eine Lebensalternative, die sie ohne Studienabschluss gehabt hätte (die sie aber nicht wollte und die sie zum Studienabschluss trieb): weil ich wollte * nicht zuhause sitzen↓ (Z. 23). Diese Begründung impliziert einen Deutungsrahmen, in dem die Konsequenz von „das Studium nicht abzuschließen“ bedeuten würde „zuhause zu sitzen“ im Sinne von ‘für eine Studentin, die ihr Studium nicht abschließt, heißt es: zurück nach Hause in die Familie’. Eine solche Begründung ist nur verstehbar, wenn man sie vor der Folie eines Lebensentwurfs betrachtet, wie ihn die Mutter für die Tochter hat: Studium abschließen und während des Studiums einen akademisch gebildeten Mann finden. Gelingt das nicht, ist die Chance auf den sozialen Aufstieg, salopp formuliert, verpasst; die junge Frau geht zurück in die Familie - entsprechend dem traditionellen Ehe-Anbahnungsmodell 10 - und wartet dort bis sich ein passender Brautwerber zeigt. In dieser Begründung spricht Yeliz ganz im Sinne der Mutter und übernimmt deren Perspektive. Die zweite Begründung beginnt mit ich wollte, dann folgt, nach Verzögerungspartikel und längerer Pause, in einem Schub die Äußerung einen beruf erlernen wo ich arbeiten, die 10 Dieses Ehemodell wird in Teil II, Kap. 2.3 dargestellt und in dem Beitrag von Emran Sirim (Teil IV) ausführlich behandelt. Inken Keim 112 abgebrochen und dann zu den ich gerne ausüben kann (Z. 23f.) korrigiert wird. Diese Äußerung ist einem ganz anderen Deutungsrahmen zuzuordnen, dem Rahmen ‘Berufsmöglichkeiten mit und ohne Studium’. Durch die Selbstkorrektur von arbeiten zu gerne ausüben wird die Bedeutung des Studiums für das Erreichen eines emotional und intellektuell befriedigenden Berufs betont und im Anschluss nochmals gesteigert: Wenn Yeliz nicht studiert hätte, wäre die berufliche Alternative ein anspruchsloser, langweiliger Job zum Zweck des Geldverdienens gewesen: an der kasse sitzen oder so (Z. 27f.). 11 Das ist eine übertreibende Kontrastierung von Berufsmöglichkeiten mit und ohne Studienabschluss, 12 die jedoch die eigene Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in ihrer Bedeutung hochstuft: Yeliz macht klar, dass ihre eigene Motivation - und nicht der Lebensentwurf der Mutter 13 - der entscheidende Faktor für die Berufsplanung war. Die beiden Begründungen, die Yeliz für ihre Studienentscheidung anführt, deuten auf zwei kontrastierende Lebensmodelle hin, die für sie relevant sind, und die bei ihren Entscheidungen im Widerstreit stehen: einerseits das tief einsozialisierte Familien- und Lebensmodell für junge Frauen, das ihr die Mutter vermittelt hat, andererseits das Modell eines selbst bestimmten, eigenständigen Lebens, an dem sie sich bei ihrer Studien- und Berufswahl orientiert. Auf IN s Frage nach der Zufriedenheit mit dem Studium erfolgt eine ausführliche Darstellung ihrer breit gefächerten Interessen, zunächst im Kunstbereich: 29 IN: und sind sie- * dann jetzt zufrieden |gewesen mit dem studium ↑ | 30 YL: |ja ↓ isch hab mir | 11 Wie Serap Devran bestätigt, drückt an der Kasse sitzen eine gesellschaftliche Abwertung aus. Wenn Mädchen an der Kasse sitzen, bedeutet das, dass sie zu nichts Besserem taugen, weil sie eben nicht „intelligent“ genug waren, um zu studieren, und deshalb auch keine Chance hatten, einen Mann mit Studium zu bekommen. 12 Nach Auskunft meiner Mitautorinnen ist entweder studierst du oder du musst an der kasse sitzen ein weit verbreitetes Argumentationsmuster in Familien, um Töchter zum Studieren zu motivieren. D.h. Yeliz greift hier auf eine in ihrer Lebenswelt gebräuchliche Metapher zurück, mit der die Differenz zwischen Berufen mit und ohne Studium übertreibend zum Ausdruck gebracht wird. 13 In dem früheren Interview stellte Yeliz z.B. dar, dass sie sich durch die Vorgaben der Mutter stark eingeengt fühlte. Wann immer sie einen Schritt in die Selbständigkeit wagen wollte und sich z.B. für einen Kommilitonen interessierte, befürchtete die Mutter, dass sie an den falschen Mann geraten würde und versuchte sie davon abzuhalten. Die Abhängigkeit von der Mutter beschrieb sie damals folgendermaßen: ich musste immer mit der Angst meiner Mutter leben, nie konnt ich etwas allein entscheiden. Im Kontrast dazu hebt Yeliz im aktuellen Gespräch ihre Eigenständigkeit sehr deutlich hervor. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 113 31 YL: isch hab mir sehr lange überlegt was ich studieren ähm 32 IN: ja ↓ 33 YL: möchte ↓ und welchen beruf ich ähm erlernen möchte ↓ 34 IN: ja ↓ 35 YL: ausüben möchte ↓ und ähmmeine idee war halt etwas 36 IN: mhm ↓ 37 YL: künstlerisches zu machen ↓ am anfang ja ↓ also k/ irgendwas 38 YL: mit kunst zu machen ↓ entweder grafik design hatte 39 IN: ja ↓ 40 YL: ich mir überlegt ↓ oder foto design oder kunsterziehung 41 IN: ja ↓ ja ↓ Das zweite Interesse gilt der Pädagogik und der Psychologie. Beide Interessen wollte Yeliz verbinden und das künstlerische Interesse nicht nur für den Kunstunterricht nutzen, sondern auch zum eigenständigen künstlerischen Schaffen: 42 YL: und dann hab ich/ eh ich hab aber auch interesse gehabt an 43 YL: pädagogischen ↑ ä: hsachen ↑ äh psychologie 44 IN: mhm ↓ mhm ↓ 45 YL: und pädagogik hat mich interessiert ↑ also menschen 46 IN: ja ↓ 47 YL: ham=misch interessiert ↑ und kunst ↓ und deshalb hab 48 IN: mhm ↓ 49 YL: isch des als ähm so verbindung gesehen ↓ also diese 50 IN: ja ↓ 51 YL: kunstpädagogik ↓ also mit schülern zu arbeiten ↓ 52 IN: ja: ↓ 53 YL: +und dann hab isch auch als hintergrund ähm die idee hab 54 YL: ich auch gehabt ähm * dass ich kunst ähm produziere also 55 YL: als künstlerin ↑ <ja> als künstlerin 56 IN: also selbst machen ↑ 57 YL: zu arbeiten und das |vielleicht| zu präsentieren ↓ 58 IN aha ↑ |sagenhaft ↓ | Inken Keim 114 In der gesamten Sequenz stellt Yeliz sich als selbstbewusst, reflektiert und verantwortlich Handelnde dar. Ihre Berufsplanung ist praxisbezogen und baut direkt auf ihren künstlerischen und pädagogischen Interessen auf. Sie stellt ihre Berufs- und Studienwahl nicht vom Endpunkt her dar, sondern sie führt den Prozess der Entscheidungsfindung Schritt für Schritt vor. In einer Art Inszenierung präsentiert sie, 14 wie sie zu ihrer Entscheidung kam, wohlüberlegt und konsequent abgeleitet aus ihren Fähigkeiten und Interessen. Dieser Selbstentwurf kontrastiert deutlich zur Vorstellung der Mutter, die mit dem Studium in erster Linie einen Gewinn an Image und sozialem Kapital für die Familie und bessere Heiratschancen für die Tochter verbindet. Vor diesem Hintergrund wird die expandierte, in ihrer Relevanz sehr hoch gestufte Darstellung der Tochter verstehbar, dass die Wahl des Studiums ihre eigene Entscheidung ist, und der Studienabschluss nicht primär dem Zugewinn an sozialem Ansehen für die Familie diente, sondern dem selbst bestimmten Ziel, einen befriedigenden Beruf zu erreichen, der den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht. Die expandierte und detaillierte Darstellung sozialer und künstlerischer Fähigkeiten dient gleichzeitig auch der Selbstdarstellung als etwas „Besonderes“, dem Yeliz durch künstlerisches Schaffen zur öffentlichen Anerkennung verhelfen will. Im Anschluss knüpft die Interviewerin nochmals an das frühere Gespräch an, an die strenge Kontrolle der Mutter und deren Angst, dass Yeliz den falschen mann kennenlernen könnte. Yeliz wendet sich an die anwesende Schwester und beide bestätigen, dass die Mutter während der Schulzeit und bis zum studium (der Töchter) extrem war und beide Töchter wirklich eingeengt hat. Beide stellen übereinstimmend dar, dass die Voraussetzung für ein Studium war, dass sie weiterhin bei den Eltern wohnten. Nur wenn das gewählte Studienfach nicht in der nähe gewesen wäre, hätte man vielleicht=en konpromiss machen können. Auch hierin folgt Yeliz' Familie den in der türkischen Gemeinschaft in Mannheim verbreiteten Normen und Werten: Für eine unverheiratete junge Frau ist ein eigenständiges Leben nur unter besonderen Bedingungen möglich, z.B. wenn sie in einer entfernten Stadt einen Studienplatz bekommen hat. Erst mit der Heirat ist es für sie möglich, „geregelt“ den elter- 14 Zum gesprächsrhetorischen Verfahren des Inszenierens vgl. Schmitt (2003). Inszenierungen sind reaktive Verfahren; sie dienen vor allem der positiven Selbstdarstellung in Reaktion auf Vorgängeraktivitäten, die Eigenschaften oder Verhaltensweisen des Sprechers in einer Weise thematisieren (z.B. in Frage stellen, kritisieren etc.), die der Sprecher modifiziert, korrigiert oder zurückweist. Yeliz korrigiert IN s Annahme (dass sie dem Plan der Mutter folgte, als sie ihr Studium aufnahm) durch die Inszenierung ihrer Eigenverantwortlichkeit in Bezug auf die Studienentscheidung. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 115 lichen Haushalt zu verlassen. 15 D.h. die Mutter hat über das Leben der Töchter, über deren Freiräume und soziale Kontakte, bis weit ins Erwachsenenalter hinein eine enge Kontrolle. Nur auf Territorien, zu denen die Mutter keinen Zutritt hat, wie z.B. der Universität, ist es den Töchtern möglich, eigene Wege, Kontakte und Beziehungen auszuprobieren. Wenn es ihnen auf diesen Territorien nicht gelingt, einen Partner zu finden, sind sie auf traditionelle Wege der Partnerfindung zurückgeworfen. 3. Kennenlernen des Mannes Nach der Darstellung des einengenden Einflusses der Mutter auf das Leben der Töchter stellt die Interviewerin die Frage, wie Yeliz ihren Ehemann, der in der Türkei lebte, kennen lernen konnte. Die Frage ist offen formuliert (äh wie ham sie dann ihren mann kennengelernt ↑); sie zielt im Kontext der Möglichkeiten, die Yeliz in der damaligen Lebenssituation hatte, darauf ab, herauszufinden, inwieweit die Familie in den Prozess der Partnerfindung involviert war. Interessant ist Yeliz' Reaktion: Die Art des Kennenlernens, die sie beschreibt, entspricht einer Kontaktherstellung zwischen potenziellen Partnern, wie sie im Rahmen des Ehe-Arrangements vorgesehen ist. Doch dieser Sachverhalt wird nicht explizit genannt, sondern verundeutlicht und verschleiert durch Formulierungsverfahren des Herabstufens, Bagatellisierens und Ausblendens. 16 74 IN: äh wie ham sie dann ihren mann kennengelernt ↑ *2,0* 75 YL: des war über bekannt/ bekanntschaft ↓ LACHT LEICHT aso die 76 YL: nachbarin ↓ * ja ↓ in Ma/ in Mannheim ↓ wir 77 IN: hier ↑ >in Mannheim ↓ < 78 YL: hattn eine nachbarin ↑ |die | hat oben gewohnt ↑ und ähm * 79 IN: |mhm ↓ | ja ↓ 80 YL: also wir hattn so kontakt ↑ irgendwie ganz wenig ↑ |aber| sie 81 IN: |mhm ↓ | 82 YL: hattn irgendwie schon gedacht gehabt dass/ eh dass wir gut 83 YL: zusammenpassen ↑ mit ihrm bruder ↑ 84 IN: ach des=s der bruder ihrer 15 Ein Hauptargument der Mitglieder der „Powergirls“ z.B. auf die Frage, warum sie so früh heiraten wollen, war, damit ich von zuhause weg komme. Ohne Eheschließung auszuziehen, wäre für sie unmöglich gewesen, hätte ernste familiäre und soziale Konsequenzen gehabt, z.B. Bruch mit der Familie, Verlust des sozialen Ansehens und des „guten Rufs“. 16 Zu Formulierungsverfahren des Verschleierns, Versteckens und Tabuisierens vgl. Keim (1996). Inken Keim 116 85 YL: ja genau↓ und dann sind sie halt ähm- * sie 86 IN: nachbarin ↓ a: h ↓ 87 YL: ham mich angesprochen auf: : / |auf den/ | auf so was halt ↑ 88 IN: |mhm ↓ | 89 YL: |dass| |wir uns mal kennenlernen könnten ↓ | und dann 90 IN: |mhm ↓ | |LACHT LEICHT | mhm ↓ 91 YL: ham wir uns kennengelernt ↓ ähm wir ham uns über des internet 92 YL: ähm über msn kennengelernt ↓ ** 93 IN: wie geht das über=s internet ↑ Nach einer längeren Pause beantwortet Yeliz die Frage mit der Feststellung des war über bekannt/ bekanntschaft↓. Nach leichtem Lachen folgt die Präzisierung aso die nachbarin (Z. 75f.), und auf IN s Rückfrage die lokale Verortung: die bekanntschaft war die nachbarin, die in demselben Haus wie Yeliz' Eltern wohnte. Dann charakterisiert Yeliz das Verhältnis zwischen ihrer Familie und dieser Nachbarin: und ä: hm- * also wir hattn so kontakt↑ irgendwie ganz wenig↑ (Z. 80). Mit adversativem Anschluss erfolgt dann die entscheidende Äußerung: aber sie hattn irgendwie schon gedacht gehabt dass/ dass wir gut zusammenpassen↑ mit ihrem bruder↑ (Z. 80-83). Auffällig ist der Kontrast zwischen der Herabstufung der Bedeutung des Kontakts zur Nachbarin durch Vagheitspartikel (so kontakt und irgendwie) und negative Charakterisierung ganz wenig einerseits, und der Darstellung der Intention der Nachbarin andererseits: Sie hat Yeliz als potenzielle Ehefrau für ihren Bruder in der Türkei ins Auge gefasst. D.h. die Nachbarin ergreift die Initiative in einem Ehe-Anbahnungsprozess (vgl. Teil II, Kap. 2.3), leitet für den Bruder die Wahl einer Partnerin ein und spricht Yeliz daraufhin an. Diese Bedeutung der Initiative der Nachbarin wird nicht explizit genannt, sondern in einer herabgestuften Formulierung präsentiert (irgendwie schon gedacht gehabt, Z. 82). Weiterhin auffallend sind die pronominalen Referenzen: die nachbarin wird im Singular eingeführt, die pronominale Referenz auf sie erfolgt im Plural: sie hatten gedacht; d.h. es geht nicht nur um die Nachbarin, sondern um die ganze Nachbarfamilie. Dasselbe gilt bei der Selbstreferenz: Yeliz verwendet nicht das Pronomen ich (‘dass ich gut zu dem Bruder passe’), sondern wir: dass wir gut zusammenpassen mit ihrem bruder (Z. 82f.); d.h. nicht nur Yeliz als Person, sondern ihre Familie passt zum Bruder und dessen Familie. Neben dem Hinweis, dass ein Familienmitglied des Mannes, seine Schwester, die Initiative zur Partnerwahl ergreift, weist jetzt auch das Kriterium für die Wahl, die Passung der Familien, auf ein Ehe-Anbahnungsverfahren im Rahmen des Arrangement-Modells hin. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 117 In diesem Zusammenhang ist auch die Darstellung des praktischen Vorgehens der Familie der Nachbarin interessant: und dann sind sie halt ähm- * sie ham mich angesprochen auf: : / auf den/ auf so was halt↑ dass wir uns mal kennen lernen könnten↓ (Z. 85-89). Yeliz beginnt die Äußerung (und dann sind sie halt ), bricht ab, beginnt nach Verzögerungspartikel und Pause neu sie ham mich angesprochen auf: : / , bricht wieder ab, startet noch einmal auf den/ , bricht wieder ab und beendet die Äußerung statt mit der Nennung des thematischen Objekts mit einer vagen Formulierung auf so was halt ↑ (Z. 85-87). Die Formulierungsdynamik spiegelt das Formulierungsproblem wider: Yeliz weicht vor der Bennennung dessen aus, worauf sie angesprochen wurde, nämlich: dass sie als potenzielle Partnerin für den Bruder ausgewählt wurde. Auf Yeliz' Anstrengung, eine geeignete Formulierung zu finden, reagiert die Interviewerin mit leichtem Lachen (Z. 90); sie zeigt, dass sie verstanden hat, was Yeliz andeutet. Im Anschluss beschreibt Yeliz die Intention der Nachbarin durch dass wir uns mal kennen lernen könnten (Z. 89). Die Formulierung kennen lernen ist unspezifisch, klingt unverbindlich und vermittelt - adressiert an eine Gesprächspartnerin, die aus einem anderen Kulturkreis stammt - keineswegs die tiefere Bedeutung der Initiative der Nachbarfamilie: 17 Dass Yeliz Kontakt zu dem Bruder aufnehmen soll, um ihn als potenziellen Ehepartner zu prüfen. D.h. Yeliz macht der Interviewerin gegenüber nicht klar, dass es sich um ein Angebot im Rahmen einer arrangierten Ehe handelt, in dem die Seite des Mannes Interesse an ihr als potenzieller Ehepartnerin geäußert hat. In dieses Muster der Verundeutlichung passt auch die Darstellung des weiteren Handlungsverlaufs: und dann ham wir uns kennengelernt↓ ähm wir ham uns über des internet ähm über msn kennen gelernt (Z. 89-92). Hier wird der Prozess des Kennenlernens knapp und berichtend mit Fokus auf einem technisch-organisatorischen Detail dargestellt: Die beiden haben über Internet Kontakt aufgenommen und über msn miteinander gesprochen. 18 Mit dieser Fokussierung wird „Technik“ zum nächsten Thema und andere Aspekte des Kennenlernens (z.B. Eindruck 17 Kommentar von Serap Devran: Yeliz übersetzt eine türkische Formel birbiriyle tanişmak (‘sich miteinander kennenlernen’) ins Deutsche, die für (erste) Kontakte zwischen potenziellen Partnern im Rahmen des Ehe-Arrangements gebraucht wird. Diese Bedeutung ist für kulturell fremde Gesprächspartner nicht inferierbar. Weitere Formeln für den ersten persönlichen Kontakt zwischen potenziellen Partnern sind bi tanışırsınız oder bi konuşursunuz (‘wir haben uns kennengelernt’) 18 msn ist die Abkürzung für Messenger Service Network, ein Chat-Programm von Microsoft. Nach Wikipedia hat der Dienst über 300 Millionen Benutzer weltweit. Mit dem Windows Live Messenger ist es möglich, neben dem üblichen Chatten auch Webcam-Konferenzen abzuhalten und über das Internet zu telefonieren. Inken Keim 118 vom Partner, eigene Aufgeregtheit, Verlegenheit etc.) werden aus dem Fokus gebracht. Da IN das technische Verfahren nicht kennt, folgen Erklärungen, in deren Verlauf deutlich wird, dass der Mann zur damaligen Zeit in der Türkei lebte und bei der entscheidenden Initiative, der Brautwerbung, nicht bei seiner Schwester in Deutschland war. 19 Im gesamten Gesprächsausschnitt taucht Yeliz' Innensicht nicht auf; sie beschreibt keine Reaktion auf die Initiative der Nachbarin, z.B: Zurückweisung des Verfahrens, Empörung über die Einmischung oder aber Interesse an dem Angebot. Yeliz erscheint in der Darstellung des für ihr weiteres Leben so entscheidenden Ereignisses weder als Akteurin noch als Erleidende. Diese Art der Darstellung wird besonders auffällig, wenn man sie mit der vorangehenden Gesprächssequenz vergleicht, in der Yeliz ihre Studienentscheidung darstellt. Dort erscheint sie als selbst bestimmte, einzelne Handlungsschritte aus der Innenperspektive begründende Akteurin; im Gegensatz dazu blendet sie hier ihre Überlegungen und ihr Erleben aus der Darstellung aus. Die Verfahren der Bagatellisierung und Ausblendung können durch Anforderungen erklärt werden, die sich aus den Prinzipien des ‘rezipient design’ ergeben. Wenn die Erzählerin davon ausgeht, dass die Rezipientin das im Hintergrund stehende Modell einer arrangierten Ehe als eher problemhaltig sieht, wird sie aus Gründen des beiderseitigen „Face“-Schutzes eine Explizierung vermeiden. 20 Dadurch, dass weder der Bedeutungsrahmen, in dem die Nachbar-Initiative zu verstehen ist, noch die Qualität des Angebots explizit gemacht, sondern bagatellisiert und die Perspektive der Erzählerin ausgeblendet werden, wird einer kulturell-fremden Rezipientin das Verstehen der eigentlichen Bedeutung erheblich erschwert. Damit schützt sich Yeliz vor der weiteren Bearbeitung des Themas: Was nicht explizit gemacht wird, kann nicht diskutiert, sondern höchstens erfragt werden. Und durch die Bagatellisierung vermindert Yeliz das Risiko für Nachfragen. Exkurs: Auf eine weitere Deutungsmöglichkeit macht Serap Devran aufmerksam. Vor dem Hintergrund des Verfahrens einer arrangierten Ehe weist Yeliz' Nicht-Reaktion auf das Angebot der Nachbarin auf ein „stilles Einverständnis“ hin, dass sie sich auf eine 19 Die erstaunte Nachfrage von IN : ach so ihr mann hat damals in der türkei gelebt↑ a: h↓ aso der war nich bei seiner schwester↑, die verneint wird, zeigt, dass die bisherige Darstellung des Handlungsverlaufs für IN noch nicht ganz durchsichtig war. 20 Bei einer Explizierung könnte sie die Rezipientin zu Reaktionen veranlassen, wie z.B. Überraschung, Zweifel, Neugierde, die dann zu Rechtfertigungen, Entschuldigungen u.Ä. führen könnten. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 119 arrangierte Ehe einzulassen bereit ist. Was für die deutsche Rezipientin wie ein harmloser Vorschlag aussieht, dass sich zwei Menschen mal kennen lernen könnten, bedeutet aus ‘türkischer’ Perspektive für eine eher traditionell erzogene junge Frau, wie das Yeliz für sich in Anspruch nimmt, bereits den ersten Schritt auf eine arrangierte Ehe hin. Da sie nicht ablehnt, kein Erstaunen o.Ä. zeigt, bestärkt sie die Nachbarin in der Annahme, dass ‘sie die richtige Braut für den Bruder ist’. D.h. in diesem Deutungsrahmen entspricht die Art der Darstellung dem thematisierten Sachverhalt „arrangierte Ehe“. Dass Yeliz den Sachverhalt in dieser Weise darstellt, sieht Serap Devran als Hinweis darauf, dass in ihr „zwei unterschiedliche und nicht vereinbare Orientierungen“ in Widerstreit liegen: einerseits die Orientierung an der traditionellen Herkunftsfamilie, für die das Ehe-Arrangement ein gängiges und akzeptiertes Modell ist, das in Yeliz' aktueller biografischer Phase relevant wird, und andererseits das durch Schul- und Hochschulbildung erworbene Lebensmodell einer selbst bestimmten jungen Frau, das Yeliz bei der Darstellung ihrer Entscheidung für Studium und Beruf offenbart. Die verschiedenen Orientierungen spiegeln sich in unterschiedlichen Darstellungsformaten wider. Vermutlich spielen beide Motive bei der Darstellung von Sachverhalten in unterschiedlichen Formaten und bei Yeliz' unterschiedlichen Selbstdarstellungen eine Rolle: einerseits im Rahmen des ‘recipient design’ rekonstruierbare Motive und andererseits die Vorgaben kulturell gebundener Formate. Nach den Erläuterungen zur technischen Seite des Kontakts zwischen der in Mannheim lebenden Yeliz und dem in der Türkei lebenden Bruder der Nachbarin führt die Interviewerin zum Thema des persönlichen Kennenlernens mit der Feststellung ja↓ dann ham sie ihn kennengelernt↑ und ähm (Z. 120). Noch bevor sie ihre (durch und ähmbegonnene) Formulierung weiterführen kann, beginnt Yeliz mit der weiteren Darstellung der Ereignisse. Durch die Selbstinitiierung zeigt sie, dass sie die Kontrolle über die folgende Sequenz behalten will, in der sie die über msn geführten Gespräche mit dem Mann darstellt: 120 IN: ja ↓ dann ham sie ihn kennengelernt ↑ |und| ähm-* 121 YL: |ja ↓ | 122 YL: ← dann ham wir halt so: → * ähm- * das nötigste irgendwie so- 123 YL: ganz nötige sachen ham wir besprochen wahrscheinlich ↓ irgendwie 124 YL: wie wirdie welt an-/ äh anschauen↓ |oder| ähm was wir 125 IN: ja ↓ | ja ↓ |ja ↓ 126 YL: für ideen ha/ von zukunft haben ↓ |oder| so interessengebiete 127 IN: mhm ↓ |mhm ↓ | 128 YL: |ham |wir unsähähm- * ham wir besprochen ↓ und- ** ja 129 IN: |mhm ↓ | mhm ↓ Inken Keim 120 130 YL: also en bisschen kennengelernt |halt| ähm im |internet↓| 131 IN: |mhm ↓ | |mhm ↓ | ** Nach zweimaligem Anlauf ←dann ham wir halt so: → * ähm- * das nötigste irgendwie soganz nötige sachen ham wir besprochen wahrscheinlich↓ (Z. 122f.) charakterisiert sie den Gegenstand der Gespräche zunächst generalisierend. Dann folgt die Detaillierung des Nötigsten in drei Sequenzen, die abstrakt und allgemein formuliert sind: wie wir die welt anschauen, was wir für ideen von zukunft haben und so interessengebiete (Z. 124-126). Auffallend an der gesamten Darstellung sind die vielen Verzögerungen, Satz- und Wortabbrüche und Neustarts, die vielen Vagheitspartikel (so, halt so, irgendwie) und das Modaladverb wahrscheinlich, das eine Erinnerungslücke suggeriert. Dann folgt ein die Bedeutung der Gespräche nochmals herabstufendes Resümee: also en bisschen kennengelernt halt ähm im internet (Z. 130). Einerseits versucht Yeliz durch abstrakte Lexik der Gesprächspartnerin den besonderen Stellenwert der Gespräche zu vermitteln; andererseits stuft sie die Bedeutung der Gespräche durch Vagheitspartikel und ‘hedges’ erheblich herab. Durch die widersprüchlichen Signale wird eine Spannung aufgebaut zwischen einerseits der Konsequenzhaltigkeit der Gespräche aus der damaligen Perspektive - Erkunden des Partners, Prüfen ob man zueinander passt und ein gemeinsames Leben planen kann - und anderseits der Bewertung der Gespräche aus der heutigen Perspektive: Yeliz beurteilt diese Art des Kennenlernens als völlig ungeeignet, um darauf eine lebenslange Partnerschaft aufzubauen, das wird im weiteren Gesprächsverlauf überaus deutlich (vgl. dazu unten Kap. 8.1). Exkurs: Weitere Deutungshinweise gibt Serap Devran: Die angeführten Themen, „Sicht auf die Welt“, „Ideen für die Zukunft“ und „Interessengebiete“, gehören zum festen Katalog des ersten Kontakts der Partner bei arrangierten Ehen. Mit dem ersten Themenbereich sind Fragen zu Lebensorientierung und Lebensstil verbunden (z.B. religiös orientiert, eher traditionell oder eher modern, präferiertes Familienmodell, u.Ä.); zum zweiten Bereich gehören Fragen zu Vorstellungen über ein gemeinsames Leben (Berufstätigkeit und Selbständigkeit der Frau, Haushaltsführung, Kindererziehung etc.) und zum letzten Bereich gehören Fragen zu Freizeitgestaltung, Hobbys etc. Dass Yeliz sich über diesen Fragekatalog mit dem Bruder der Nachbarin unterhalten hat, zeigt wiederum ihre damalige Bereitschaft, sich auf ihn als potenziellen Ehemann (eventuell auch nur versuchsweise) einzulassen; sie erfüllt die im Verfahren vorgesehenen Schritte. Mit der nächsten Frage fokussiert die Interviewerin die erste Face-to-Face- Begegnung der beiden Partner: „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 121 132 IN: und wie ham se sich dann getroffen ↑ *2,0* 133 YL: ich bin in 134 K 135 YL: |die türkei gefahren ↓ | * und dann ham wir uns gesehen ↓ 136 K |LEICHT LACHEND | 137 YL: +>ja ↓ < | ← äh ja ↓→ verliebt ↓ | 138 K |SEHR ZÖGERND | 139 IN: mhm ↓ und verliebt ↑ LACHT LEICHT 140 YL: * am anfang ham wir uns ja nich so richtig gekannt ↓ * 141 YL: |des| hat sich so mit der zeit entwickelt ↓ 142 IN: |ja ↓ | >ah ja ↓ gut ↓< ** Auf die Frage der Interviewerin (Z. 132) folgt eine längere Pause und dann die leicht lachend geäußerte Feststellung ich bin in die türkei gefahren↓ * und dann ham wir uns gesehn↓ (Z. 133/ 135). Vor der Folie des Verfahrens der arrangierten Ehe ist dieser Schritt erstaunlich und kehrt die vorgesehenen Rollenverhältnisse um: Nicht die Familie des Bräutigams besucht die Familie der Braut, wie im Verfahren vorgesehen, sondern Yeliz als potenzielle Braut fährt zum Wohnort des potenziellen Bräutigams. Die Selbstverständlichkeit (ohne Zögern und in einem Schub formuliert) und Amüsiertheit (leichtes Lachen), mit der Yeliz diesen Schritt darstellt, geben keinerlei Hinweise auf die Bedeutung, die dieser Schritt im Rahmen eines Ehe-Arrangements hat oder auf Hintergründe, die zu dieser Umkehrung geführt haben könnten. Im Gegenteil, es wird der Eindruck von Leichtigkeit oder Abenteuerlust erweckt. 21 Die Interviewerin geht auf die Modalisierung ein, indem sie, ebenfalls leicht lachend, mit der Vermutung und verliebt↑ (Z. 139) spielerisch an die Vorgängerformulierung anknüpft, nach dem Format „kam, sah und siegte“. Auf diesen spielerischen Zug verändert sich die Interaktionsmodalität abrupt; Yeliz reagiert ernst und formuliert sehr zögernd: ←äh ja↓→ verliebt↑ * am anfang ham wir uns ja nich so richtig gekannt↓ * des hat sich so mit der zeit entwickelt↓ (Z. 137-141). Die Äußerung hat Charakteristika einer dispräferierten Reaktion, 22 die durch den Wechsel der Interaktionsmodalität von „amüsiert“ zu „ernst“ verstärkt werden: langsames, zögerndes Sprechen, Verzögerungspartikel (←äh ja↓→), 21 Serap Devrans Kommentar: Durch das Bild einer abenteuerlustigen Frau, die bereit ist, Risiken einzugehen, weil sie glaubt, nichts befürchten zu müssen, überspielt Yeliz die Situation, in die sie geraten ist. Vor der türkischen Gesellschaft bedeutet die Fahrt in die Türkei auf der Suche nach einem passenden Mann einen starken Gesichtsverlust. Damit hat sie implizit ihre Einwilligung in das Ehe-Arrangement gegeben. 22 Zu präferierten und dispräferierten Reaktionen vgl. u.a. Levinson (1994), Pomerantz (1975). Inken Keim 122 Wiederholung des Vorgängerausdrucks mit fallender Intonation (verliebt↓) und dann der Verweis auf das Anfangsstadium der Beziehung (nich so richtig gekannt↓). Yeliz weist IN s spielerischen Zug zurück und signalisiert, dass die Charakterisierung verliebt für die Beziehung zwischen ihr und dem Mann unpassend ist. Nach einigem Zögern, mehreren Abbrüchen und Neustarts initiiert die Interviewerin einen Themenwechsel (vgl. Kap. 4), ein deutliches Indiz dafür, dass sie Yeliz' Antwort als Reaktion auf einen Übergriff verstanden hat und sich bemüht, die Störung möglichst schnell zu überwinden. Der Zurückweisung von IN s spielerischem Zug kann eine Thematisierungsregel zugrunde liegen, die besagt, dass „Liebe“ kein Thema ist, über das man mit Außenstehenden spricht. Diese Regel gilt auf jeden Fall bei einer arrangierten Ehe, die implizit ja den Rahmen für die bisherige Darstellung der Kontaktanbahnung bildet. Doch Yeliz' Darstellung enthält keinerlei Hinweis auf eine emotionale Reaktion beim ersten Direktkontakt. 23 Es gibt nur den Hinweis, dass es sich mit der Zeit entwickelt hat. Die Qualität der Beziehung, die sich entwickelt hat, wird nicht benannt (z.B. Sympathie, Gemeinsamkeit, Zärtlichkeit, Respekt etc.), auf sie wird nur durch das neutrale Pronomen es referiert. Diese Charakterisierung aus der heutigen Perspektive der Erzählerin deutet darauf hin, dass die beiden auch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine befriedigende emotionale Beziehung haben aufbauen können. Auch auf der para- und nonverbalen Ebene gibt es keine modalisierenden Hinweise (z.B. „warme Stimme“, Lächeln etc.), so dass Formulierungs- und Sprechweise eher den Eindruck vermitteln, dass sich im Laufe der Zeit das Gegenteil von verliebt entwickelt hat. 24 Exkurs: Serap Devran betrachtet Yeliz' Reaktion auf IN s Vermutung verliebt wieder unter dem Aspekt kulturbedingter Darstellungsmuster. Nur bei einer Partnerwahl auf Eigeninitiative oder bei jungen Liebespaaren geht man von Sympathie und Liebe aus, die dann auch dargestellt werden. In Yeliz' Situation - sie hat sich ja auf das Modell der arrangierten Ehe eingelassen - wäre es unpassend, von „Verlieben“ zu sprechen. Bei einer arrangierten Ehe werden emotionale Annäherungen nach außen hin eher nicht dargestellt. Das passt nicht zum sozialen Image einer reifen Frau und schon gar nicht, wie im Fall von Yeliz, zum Bild einer Frau mit Hochschulabschluss. 23 Yeliz hätte z.B. durch ‘verliebt hab ich mich nicht gerade, aber ganz nett/ sympathisch fand ich ihn schon’ u.Ä. reagieren und IN s Vermutung damit korrigieren können; dass sie gar nichts über ihren ersten Eindruck sagt, ist auffallend. 24 Das vorsichtige Sprechen kann außerdem durch die situativen Bedingungen, die Anwesenheit des Mannes und (zu diesem Zeitpunkt auch noch) der Schwester bedingt sein und aus Gründen des Selbstschutzes erfolgen. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 123 Außerdem ist Yeliz bereits im fortgeschrittenen Alter und immer noch unverheiratet, auch aus diesem Grund wäre die Darstellung einer „Liebesheirat“ unpassend. Passend für Yeliz' Situation ist die Darstellung einer Art mantık evliliği, einer „logischen Heirat“ bzw. einer Vernunftehe. In einer solchen Paarbeziehung geht es in erster Linie um Weltanschauung, Zukunftsvorstellungen und Interessen der Partner, nicht um die emotionale Qualität der Beziehung. Man geht davon aus, dass sich mit der Zeit eine positive emotionale Beziehung entwickelt, wenn die primären Aspekte stimmen. Da Yeliz zum Zeitpunkt des Interviews keinen Hinweis auf positive Emotionen gibt, kann das allerdings als Hinweis darauf verstanden werden, dass die beiden sich emotional immer noch nicht näher gekommen sind. 4. Heirat: der Sprung ins kalte Wasser Vor der Analyse des nächsten Gesprächsstücks, der Schilderung der Hochzeitsfeier, gebe ich eine kurze Beschreibung einer typischen Hochzeitsfeier, wie sie Yeliz für sich im Folgenden in Anspruch nimmt, und wie sie von vielen Familien der türkischen Gemeinschaft gestaltet wird. 25 Die Hochzeitsfeier findet nach der standesamtlichen und religiösen Trauung statt. Sie wird öffentlich gefeiert. Mit der Hochzeitsfeier wird die Verbindung der beiden Familien öffentlich gemacht; erst danach zieht das junge Paar zusammen. 26 Für die Finanzierung der Hochzeitsfeier ist die Familie des Bräutigams verantwortlich, d.h. die Hochzeitsfeier bietet die Möglichkeit, sich in aller Öffentlichkeit standesgemäß darzustellen (als wohlhabend, großzügig, geschmackvoll etc.). Zur Hochzeitsfeier können zwischen 200 und 800 Gäste geladen werden, Familienmitglieder, nahe und entfernte Verwandte, Bekannte, Geschäftsfreunde der Eltern, Arbeitskollegen, Freunde und Freundinnen des Brautpaars, Nachbarn etc. 27 Bei der Auswahl der Gäste wird darauf geachtet, dass sie zahlenmäßig in etwa gleich auf die beiden Familien verteilt sind. Die Feier findet in einer 25 Die Darstellung beruht auf eigenen Beobachtungen (ich habe an vier Hochzeiten teilgenommen), auf Schilderungen von Informantinnen, auf TV -Dokumentationen und dem Artikel von Başpınar (2010). Die Autorin kontrastiert deutsche und türkische Hochzeitsfeiern und kommt zu dem Schluss: „Eher würde ein Taliban seine Tochter zu einem Table-Dance-Kurs schicken, als dass eine türkische Familie eine Hochzeit nach deutschem Vorbild ausrichten würde.“ 26 Auf den Öffentlichkeitscharakter einer türkischen Hochzeit weist auch Başpınar (2010) hin: „Ein Hochzeitsfest ist ein zentrales soziales Ereignis, das nicht privaten, sondern gesellschaftlichen Charakter hat.“ 27 Nach der Darstellung von Başpınar ist das „gesellschaftliche Leben der Türken gekennzeichnet durch das Prinzip der Inklusion, das heißt zu allen Ereignissen werden alle einbezogen [...]. Die Eingeladenen bringen ihrerseits Gäste mit. Alle sind willkommen, niemand wird ausgeschlossen.“ Im Gegensatz dazu sieht die Autorin deutsche Hochzeitsfeiern durch das Prinzip der Exklusion charakterisiert, das zu „geschlossenen Feiern“ führt. Inken Keim 124 großen Halle statt, 28 die je nach finanziellen Mitteln der Familie des Bräutigams mehr oder weniger reich geschmückt ist. In langen Tischreihen sitzen auf der einen Seite der Halle die „Leute“ des Bräutigams, auf der anderen Seite die der Braut. Am Kopfende der Halle ist die Tanzfläche, links davon steht ein reich geschmückter Tisch, an dem das Brautpaar getrennt von den anderen sitzt; vorne rechts ist die Kapelle (2-3 Musiker) und der „Mann mit der Kamera“. 29 Eine Hochzeitsfeier dauert in der Regel 6 Stunden. Das Zeremoniell sieht folgendermaßen aus: Wenn die Gäste eingetroffen sind - sie werden vom Vater der Braut und des Bräutigams am Halleneingang begrüßt - und entsprechend ihrer verwandtschaftlichen oder sozialen Nähe zum Brautpaar Platz genommen haben, 30 führen die Freundinnen der Braut das Paar mit Kerzen/ Wunderkerzen in den Saal, oft begleitet durch eine Hochzeitsmusik aus der Herkunftsregion der Familie des Bräutigams. Wenn das Brautpaar an seinen Tisch geleitet ist, beginnt die Tanzmusik. Das Brautpaar eröffnet mit einem innigen, langsamen Paartanz die erste Tanzphase. Dann kommen allmählich auch die Gäste auf die Tanzfläche. Getanzt wird nicht in enger Paarformation, sondern in offener Formation. Die Freundinnen und Freude des Brautpaars tanzen in getrennten Gruppen; die Freundinnen nehmen die Braut in ihre Mitte, die Freunde den Bräutigam und fordern sie abwechselnd zu besonderen Tanzleistungen heraus. Die erste große Tanzphase kann bis zu 2 Stunden dauern. Dann folgt das gemeinsame Essen, mehr oder weniger üppig, je nach den finanziellen Möglichkeiten der Bräutigamfamilie. Nach dem Essen führt das Brautpaar wieder mit einem langsamen Paartanz in die nächste Tanzrunde ein. Der Höhepunkt des Zeremoniells ist die Geschenkübergabe. Dazu stellt sich das Brautpaar auf der Tanzfläche auf, rechts und links davon die engsten Familienmitglieder (Eltern und Geschwister). Ein Moderator (mit Mikro) ruft zur Geschenkübergabe auf. Die Gäste stellen sich entsprechend ihrer verwandtschaftlichen und sozialen Nähe zum Brautpaar in Reihe auf, übergeben ihr Geschenk, vor allem Geld oder Gold, das dem Brautpaar angesteckt oder angeheftet wird, oder Haushaltsgegenstände, die sich das Paar vor- 28 Meist wird eine Festhalle, Gemeindehalle, u.Ä. gemietet. Eine Hochzeitsfeier, zu der ich eingeladen war, fand in der Baumhainhalle im Luisenpark Mannheim statt; 800 Gäste waren geladen. 29 Es ist üblich, dass Hochzeitsfeste gefilmt werden. Dazu gibt es professionelle Filmer, die das gesamte Hochzeitsereignis filmen. Bis vor kurzem gab es in Deutschland ein türkisches TV - Programm, „düğün TV “ (Hochzeits- TV ), auf dem man jeden Abend eine türkische Hochzeitsfeier betrachten konnte. 30 Am Kopfende einer Tischreihe, also nahe beim Brautpaar und der Tanzfläche, sitzen die Eltern, die Geschwister, die Familien von Tanten und Onkel. Dann folgen Bekannte der Familien, Freunde/ Freundinnen des Brautpaars, dann die Nachbarn und weniger gute Bekannte. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 125 her ausgesucht hat. Der Moderator nennt jeden Schenkenden namentlich, ebenso den Wert des Geschenks. Das Gold gehört der Braut, das Geld dem Bräutigam. Mitglieder beider Familien kontrollieren die Geschenkübergabe sehr genau. Wenn alle Gäste ihr Geschenk dem Brautpaar bzw. den beiden Familien übergeben haben, beginnt die letzte Tanzrunde, in der oft sehr ausgelassen getanzt wird. Gegen Mitternacht endet die Feier. In Reaktion auf die Interaktionsstörung (vgl. Transkriptzeile 142) leitet die Interviewerin einen Themenwechsel ein und fokussiert die Hochzeitsfeier. Dabei greift sie auf ihr Wissen über türkische Hochzeitsfeiern zurück, die sie in Mannheim erlebt hat, und möchte wissen, ob Yeliz' Feier ähnlich verlief. Damit wechselt sie von der persönlichen und emotionalen (verliebt sein) zur zeremoniellen Ebene: 149 IN: und wie war dann ihre hochzeit ↑ weilich will einfach 150 IN: wissen äh äh ist des jetzt ähnlich oder ist des/ eh ham 151 IN: sie was andres gemacht ↑ wird=s/ ham sie=s in der türkei 152 IN: gemacht ↑ oder hier ↑ 153 YL: also es is so“ ähnlich wie die anderen 154 YL: hochzeiten ↑ ähm: aso mit brautkleid und ph: ähm: - 155 IN: ja: ↓ mhm ↓ 156 YL: leute: aus seiner umgebung ↓ * weil ich war ja bei ihm 157 YL: dann zuhause ↓ 158 IN: +ach sie ham in der türkei geheiratet ↓ 159 YL: ja ich hab in der türkei geheiratet ↓ und äh nich 160 IN: +ja: ↓ 161 YL: in Mannheim Auf die Frage reagiert Yeliz direkt und ohne Zögern, und formuliert in einem Schub also es is so“ ähnlich wie die anderen hochzeiten↑ (Z. 153-155), d.h. sie nimmt Bezug auf IN s Wissen und ordnet ihr Fest in den Rahmen ‘türkischer Hochzeitsfeiern’ ein, wie IN sie kennt. Nach kurzem Zögern führt sie als erstes Detail der Feier ähm: aso mit brautkleid (Z. 151) an, auf das jedoch keine weiteren Details zur Ausstattung, Größe der Halle, Musik, Bewirtung, Schmuck etc. folgen, sondern mit mehrfachen Hinweisen des Zögerns (langsames hörbares Ausatmen, gedehnte Endlaute, Verzögerungspartikel) der Verweis auf die Zusammensetzung der Hochzeitsgäste: Es waren (nur) Leute aus der Umgebung des Mannes anwesend. Als Erklärung fügt Yeliz hinzu weil ich Inken Keim 126 war ja bei ihm dann zuhause↓ (Z. 156f.). Erst da versteht IN , dass die Hochzeitsfeier in der Türkei stattfand (erstaunte Rückfrage und Bestätigung von YL ) und nicht in Mannheim. Danach erläutert Yeliz, dass sie eine zweite Feier in Mannheim geplant hatte, weil sie gern auch ihre leute, Verwandte, Bekannte, Freundinnen, dabei gehabt hätte, dass dazu aber das Geld fehlte. Nach dieser Erläuterung präsentiert Yeliz - unter Vorwegnahme einer potenziellen Frage der Interviewerin - ihre Bewertung der Hochzeitsfeier. Die Selbstinitiierung deutet darauf hin, dass sie über das Folgende wieder die Darstellungskontrolle behalten will: 175 IN: mhm ↓ >mhm< ↓ 176 YL: äh ja ↓ aso so- * ehm- * von der ho/ wie es 177 YL: mir gefallen hat wenn sie mich fragen↓ aso 178 IN: ja ↓ ja ↓ ja ↓ 179 YL: so toll fand ich es jetz nich ↓ weilmeine leute- * 180 IN: warum ↑ 181 YL: ja gefehlt habn ↓ es ging auch nich nach mei“nem motto ↓ 182 IN: aso ↓ 183 YL: nach s/ nach dem motto seiner familie und des hat 184 IN: ehe ↓ 185 YL: mir halt nich so gut gefallen ↓ 186 IN: und wie war das dann ↑ * was 187 YL: es war nur=ne äh organisation 188 IN: hat ihnen da nich gefallen ↑ 189 YL: seinerseits ↑ und ä: hm ich hab mich/ meine familie hat sich 190 YL: nich so viel eingemischt sozusagen ↑ Auffallend an der selbst initiierten Äußerung sind die mehrfachen Formulierungsanläufe, Abbrüche, Verzögerungspartikel, und vor allem der Abbruch vor der Nennung des Ereignisses „Hochzeitsfeier“ (von der ho/ , Z. 176). Dann erfolgt die Referenz auf das Ereignis durch das neutrale Pronomen es (Z. 176, 179). Alle Merkmale deuten darauf hin, dass es Yeliz schwer fällt über das Hochzeitsereignis zu sprechen. Die Bewertungen so toll fand ich es jetzt nich (Z. 179) und halt nich so gut gefallen↓ (Z. 183/ 185), in der rhetorischen Figur der Litotes formuliert und verstärkt durch ‘hedges’, sind auf der Äußerungsebene herabgestuft, bewirken auf der semantisch-pragmatischen Ebene jedoch eine Hochstufung und Verstärkung der negativen Bewertung im Sinne „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 127 von ‘ich fand es schrecklich’ und ‘es hat mir überhaupt nicht gefallen’. Auf IN s Nachfrage was hat ihnen da nich gefallen (Z. 188) gibt Yeliz folgende Erläuterung: es war nur=ne äh organisation seinerseits↑ und ä: hm ich hab mich/ meine familie hat sich nich so viel eingemischt sozusagen↓ (Z. 187-190). Interessant sind zwei Selbstkorrekturen; die erste von nach s/ zu nach dem motto seiner familie (Z. 183), 31 und die zweite von ich hab mich/ zu meine familie hat sich (Z. 189). In den abgebrochenen Formulierungen wird dem Mann (nach s/ ) bzw. Yeliz (ich hab mich/ ) ‘agency’ zugeschrieben, 32 d.h. beide werden zunächst als Handelnde eingeführt. Dann erfolgt die Korrektur zur ‘agency’ seiner bzw. ihrer Familie (nach dem motto seiner familie und meine familie). Durch diese Korrekturen ordnet Yeliz das Geschehen unauffällig in den Rahmen einer arrangierten Ehe ein, in der nicht das Paar selbst, sondern die Familien von Braut und Bräutigam handeln und entscheiden. Interessant ist auch die Darstellung der Beteiligung von Yeliz' Familie bei der Ausrichtung der Hochzeit: meine familie hat sich nich so viel eingemischt. Mit Bezug auf die Eigenständigkeit der Braut, wenn es um Entscheidungen zu ihrer Hochzeit geht, kann die Formulierung (meine familie hat sich nich so viel eingemischt) positiv gedeutet werden im Sinne von: Yeliz' Familie hielt sich zurück und nahm keinen störenden Einfluss auf die Hochzeitsplanung. Betrachtet man das Verhalten der Brautfamilie jedoch im Rahmen der arrangierten Ehe, ergibt sich eine andere Bedeutung: Obwohl relativ genau festgelegt ist, welche Familie welche Kosten trägt - in der Regel bezahlt die Familie der Braut den Henna-Abend (die Verabschiedungsfeier der Braut aus ihrer Familie) und die Familie des Bräutigams die Hochzeitsfeier - achtet doch die Brautfamilie darauf, dass das Hochzeitsfest so gestaltet wird, dass sie der Braut gefällt und sie gebührend geehrt wird. D.h. die Zurückhaltung der Brautfamilie in Yeliz' Darstellung (ausgedrückt durch sich nicht einmischen) kann auf eine entscheidende Auslassung hinweisen: Ihre Familie setzte sich nicht gebührend für sie ein bzw. Yeliz fühlte sich bei der Gestaltung der Hochzeitsfeier zu wenig von ihrer Familie unterstützt. 33 31 Die Bezeichnung motto für die Ausrichtung/ Organisation einer Hochzeitsfeier ist salopp umgangssprachlich und schwächt die Bedeutung ab, die eine Hochzeitsfeier für die beteiligten Familien hat. 32 Zum Konzept ‘agency’ vgl. Bamberg (1999); darunter werden die Handlungsmöglichkeiten und die Handlungsinitiativen eines Erzählers im Hinblick auf Ereignisse in seinem Leben verstanden; z.B. ob er sich als handelnde und kontrollierende Person mit Entscheidungsspielräumen sieht oder ob er sich von anderen geleitet/ dirigiert oder anonymen Mächten/ Institutionen ausgeliefert fühlt und das Geschehen erleidend darstellt. 33 Auf eine weitere Deutungsdimension zur Nicht-Einmischung von Yeliz' Familie macht Serap Devran aufmerksam. Da Yeliz in ihrer Lebenswelt die Grenze des heiratsfähigen Alters bereits überschritten hat - dafür gibt es die Formel evde kalmış (‘zuhause sitzen geblieben’) Inken Keim 128 Im Anschluss an die vorherige Gesprächsstelle fragt die Interviewerin, ob Yeliz' Eltern und Schwestern bei der Hochzeitsfeier in der Türkei waren; YL bestätigt das und fährt dann - wieder selbst initiiert - mit der Schilderung ihrer Hochzeitsfeier fort. Es ist das erste Mal, dass sie das damalige Geschehen aus der Innenperspektive darstellt: 191 YL: meine eltern warn dort ↓ 192 IN: un=die schwestern ↑ sie warn auch dort ↑ 193 YL: ja ↓ die warn auch dort ↓ ja ↓ *2,0* also vom publikum her 194 YL: und so weiter ↓ war alles fremd ↓ ich |war | in 195 IN: ja klar ↓ |>klar<| 196 YL: einer fremden umgebung ↓ |und | |ä: hm| 197 IN: ja |klar ↓ | des versteh |ich ja ↓ | 198 YL: ä: h irgendwie so wie im äh schaukasten ↓ irgendwie als braut ↓ 199 YL: und so beobachtet und th: |ich weiß| es net ↓ irgendwie so ↓ 200 IN: ehe ↓ |hmh ↓ | 201 YL: |es hätt=sich | so langsam entwickeln müssn 202 IN: ehe ↓ * ja: ↓ ds kann |ich verstehn ↓ | 203 YL: eigentlich ↓ ä: h ich hätte die leute langsam kennenlernen 204 IN: ja: ↓ 205 YL: müssen ↓ und ä: hm ** dadurch dass ich sie halt nicht ge/ 206 IN: ja: ↓ 207 YL: richtig gekannt hatte ↑ hab ich mich nich so wohl gefühlt ↓ 208 IN: +mhm ↓ 209 YL: |f: / | es is/ war wie in einer äh fremden umgebung ↓ |sozu|sagen 210 IN: |hm ↓ | |mhm ↓ | Nach der Bestätigung der Fragen der Interviewerin folgt eine längere Pause. Dann beginnt Yeliz mit der Schilderung ihrer Empfindungen bei der Hochzeitsfeier also vom publikum her und so weiter↓ war alles fremd↓ (Z. 193f.), reformuliert zu ich war in einer fremden umgebung↓ (Z. 194-196), stuft dadurch die Relevanz des Fremheitsgefühls hoch und steigert es zu einem Ge- - hält sich ihre Familie natürlicherweise mit Ansprüchen an die Schwiegerfamilie zurück. Die Formulierung weist eher auf ein Einverständnis zwischen den Familien und zwischen Yeliz und ihrer Familie hin. Hätte sich ihre Familie unter den gegebenen Voraussetzungen eingemischt, wäre das für sie teuer geworden. Dadurch dass sie sich nicht eingemischt hat, konnte sie die Hochzeitskosten niedrig halten. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 129 fühl des Ausgesetztseins: irgendwie so wie im äh schaukasten↓ irgendwie als braut↓ und so beobachtet (Z. 198f.). Die exponierte Stellung als Braut ist Strukturmerkmal jeder Hochzeitsfeier: Braut und Bräutigam sitzen an exponierter, besonders geschmückter Stelle im Saal, getrennt von den Gästen; außerdem ist die Braut in ihrem üppigen weißen Hochzeitskleid Blickfang für alle, besonders wenn sie inmitten ihrer Freundinnen und Familienangehörigen tanzt, die sie anfeuern, ihr Mut machen, ihr zulachen und mit ihr scherzen; oder wenn sie allein mit ihrem Mann den innigen Paartanz vorführt. Immer steht sie im Mittelpunkt, bzw. die anderen machen sie zum Mittelpunkt. Diese Sonderstellung erlebt Yeliz nicht als etwas Besonderes und Schönes, 34 sondern die ihr gegenübersitzenden Gäste empfindet sie als bedrohlich und fremd. Die Bezeichnung der Gäste als publikum, der Gefühlsausdruck sich beobachtet fühlen und die Metapher wie im schaukasten implizieren kritische, begutachtende Blicke, denen sich Yeliz ohne Möglichkeit des Ausweichens ausgeliefert fühlt. Dass sie in diese Situation geraten ist, erklärt sie durch den Zeitdruck, unter dem die Hochzeit stattfand; wieso der Zeitdruck entstanden ist, erklärt sie nicht. Sie beschreibt nur, dass sich zwischen den Familien und den jeweiligen sozialen Netzwerken keine Beziehung hat entwickeln können, deren Höhepunkt die gemeinsame Hochzeitsfeier hätte sein können. Die Gefühle des Fremdseins und Sich-Unwohl-Fühlens werden wieder durch Litotes ausgedrückt und abgeschwächt nicht so wohl gefühlt (Z. 207) im Sinne von ‘ganz und gar nicht wohlgefühlt’. Einen weiteren negativen Aspekt hatte Yeliz vorher bereits angeführt, allerdings ohne die tiefere Bedeutung explizit zu machen: Bei der Feier fehlten meine leute, d.h. ihre (Groß-)Familie, ihre Freundinnen und ihre Nachbarn. Aus ihrer Sicht war die Feier sozial und emotional ‘halbiert’. 35 Dass Yeliz in der für sie fremden Umgebung nicht wenigstens die Anwesenheit von Eltern und Schwestern als tröstlich erwähnt - dass sie anwesend waren, erfragt die 34 Aus anderen Gesprächen mit jungen türkischstämmigen Frauen erfuhr ich, dass sie die Hochzeitsfeier mit der Sonderstellung als Braut als anstrengend, aber auch als schön empfanden. Anstrengend bezieht sich eher auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch das schwere, weit ausladende Hochzeitskleid und die Verpflichtung immer wieder mit Leuten der „eigenen Seite“ ebenso wie mit Leuten der Schwiegerfamilie zu tanzen. Aber die hervorgehobene Stellung und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden genossen die Informantinnen. Nach dem Fest wurde die filmische Dokumentation immer wieder mit Verwandten und Freundinnen betrachtet. 35 Die Bezeichnung meine leute zur Referenz auf die von ihrer Familie eingeladenen Hochzeitsgäste ist eine direkte Übersetzung aus dem Türkischen bizim kiler oder bizim taraf (‘meine Leute’). Bizim kiler wird zur Referenz auf die Gäste verwendet, die von der eigenen Familie eingeladen wurden. Inken Keim 130 Interviewerin, in der Hochzeitsschilderung kommen sie nicht vor - ist ein weiteres Indiz dafür, dass sie sich in der damaligen Situation von der eigenen Familie allein gelassen fühlte. Dazu korrespondiert die Ausdrucksmodalität: Yeliz stellt sich nicht als aktiv Handelnde dar, sondern als das Ereignis Erleidende, dem Fremden allein und ohne Unterstützung ihrer Familie ausgesetzt. Diese Selbstdarstellung kontrastiert mit der am Beginn des Interviews präsentierten, in der Yeliz als eigenständig Entscheidende und Handelnde erschien. Hier dagegen unterwirft sie sich dem Verfahren, lässt sich von Entscheidungen und Handlungen anderer treiben und erleidet die Konsequenzen der Fremdhandlungen. 36 Für diese Diskrepanz in der Selbstpräsentation in Lebensphasen, die für ihr weiteres Leben ähnlich konsequenzhaltig sind, gibt es mehrere Deutungsmöglichkeiten. Zum einen können die vorher angeführten, sehr unterschiedlichen sozial-kulturellen Orientierungen und Leitbilder ein Rolle spielen, die auf verschiedene Lebensbereiche verteilt sind: Im beruflichen Bereich orientiert Yeliz sich eher am Leitbild der selbst bestimmten jungen Frau, im privaten und familiären Bereich eher an traditionellen Leitbildern. Zum anderen können bisher noch nicht aufgedeckte Hintergründe der Heirat eine Rolle spielen und zu charakteristischen Formulierungsmerkmalen wie Herabstufen, Verdecken, Ausblenden etc. und zu Darstellungsformaten des Erleidens geführt haben. Nach einer kurzen Zwischensequenz 37 führt die Interviewerin wieder zur Hochzeitsthematik zurück und reformuliert Yeliz' Wunsch, dass sie die Leute aus seiner Umgebung gerne vor der Hochzeit kennen gelernt hätte. Nach längerer Pause folgt eine Feststellung, die den Höhe- und Schlusspunkt der Schilderung der Hochzeitsfeier darstellt: 230 YL: *2* mhm ↓ ja : ↓* ja ↓ wär nich so schlecht gewesen ↓ des war 231 IN: ja ↓ 232 YL: wie ins kalte wasser springen war des dann ↓ so ↓ 233 IN: hmh ↓ +ja des 234 IN: versteh ich ↓ 36 In Bezug auf die Gestaltung der Hochzeitsfeier stellt sich z.B. die Frage, warum sie diese Art des Ereignisses nicht antizipiert und nicht versucht hat, ihre Vorstellungen frühzeitig durchzusetzen. 37 Yeliz berichtet über den Wohnort des Mannes. Dabei vermeidet sie die Explizierung, dass er aus einem Dorf kommt, sondern hebt hervor, dass er immer in der Stadt gearbeitet hat; d.h. sie verschleiert seine dörfliche Herkunft. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 131 Durch die Metapher „ins kalte Wasser springen“ bringt Yeliz das Erlebte auf den Punkt: Die Hochzeit war für sie ein Schock, der ihre ganze Person erfasste und sie erstarren ließ. Damit wird das Hochzeitsereignis metaphorisch eindrücklich und umfassend negativ bewertet. Exkurs: Aus dem sozialen Umfeld von Yeliz konnte ich erfahren, warum bei der Hochzeit nur die Eltern und Schwestern anwesend waren, aber z.B. nicht in der Türkei lebende Verwandte. Die Informanten vermuten, dass es den Eltern unangenehm war, den eigenen Verwandten Yeliz' Mann und seine Familie zu präsentieren, da er nicht standesgemäß war. Aus der Sicht des Umfeldes haben die Eltern Yeliz mit dem Mann verkuppelt. Sie war als älteste von fünf Schwestern, im fortgeschrittenen Alter und immer noch nicht verheiratet. Der Familie wäre es peinlich gewesen, wenn Yeliz weiterhin zuhause gesessen hätte, obwohl die jüngere Schwester bereits verheiratet war. Die gesamte Familie fühlte sich sozial sehr stark unter Druck, endlich einen Mann für sie zu finden. Aus der Außenperspektive - und wie später deutlich wird, auch aus der Innenperspektive - wird der jetzige Mann als eine Art Notlösung betrachtet. Er fällt gegen den Ehemann der Schwester ab und entspricht weder den sozialen Ambitionen der Familie noch dem sozialen Status, den Yeliz aufgrund ihrer Ausbildung erreicht hat. 5. Die Schwiegerfamilie Auf die nächste Frage der Interviewerin was is ihnen da noch aufgefallen * des war ja für sie=ne total neue umgebung reagiert Yeliz mit einer interessanten Korrektur: aso so: fremd fühlt ich mich jetz nich↑ [...] weil ich kenn des aus meiner traditionellen familie aus deräh aus meinem dorf oder aus meiner stadt * ähm das sind ähm die ähnlichen verhaltensweisen gewesen↓. Im Gegensatz zum Hochzeitserlebnis empfand sie die Lebenswelt des Mannes, das Dorf und seine Bewohner nicht als fremd. Als Begründung führt sie an, dass ihr das traditionelle, die Kleidung der Frauen, das Verhalten, das Essen, die Hochzeitsvorbereitungen und die Hochzeitszeremonie vertraut waren. Mit dieser Differenzierung wird die Bedeutung des Adjektivs fremd retrospektiv vereindeutigt: Es ist auf das emotionale Erleben bei der Hochzeitsfeier bezogen. Die kulturelle Seite der Hochzeitsfeier war Yeliz vertraut, den rituellen Verlauf kannte sie aus ihrer Herkunftsfamilie. Das impliziert, dass die beiden (Groß-)Familien ähnliche Gebräuche für zentrale Ereignisse im Leben haben und sich damit kulturell sehr ähnlich sind. Yeliz stellt die beiden Familien auch in ähnlicher Weise dar: Sie korrigiert von meinem dorf zu meiner stadt, vergleichbar der Korrektur bei der vorherigen Herkunftsbeschreibung ihres Mannes. D.h. Yeliz ‘schönt’ die Herkunft bei- Inken Keim 132 der und versucht die mit dorf konnotierte Rückständigkeit zu verdecken. 38 Betrachtet man die Ehepartner unter dem Aspekt der „Herkunfts-Passung“, ein wesentlicher Aspekt im Rahmen des Modells einer arrangierten Ehe, wird deutlich, dass beide Partner aus Familien kommen, die aus dörflichen Verhältnissen mit einer traditionell und religiös geprägten Alltagskultur stammen; d.h. unter diesem Aspekt passen die Partner zusammen. Der Unterschied liegt - das wird später ausgeführt - in Yeliz' Aufstieg durch Bildung und in neuen durch die Migration bedingten Sozialisationseinflüssen. Nach einer weiteren Zwischensequenz schildert Yeliz, 39 dass die standesamtliche und die religiöse Trauung ebenfalls in der Türkei stattfanden. Auch die religiöse Zeremonie war ihr vertraut, da ihre Famile sehr religiös ist und sie an so was gewöhnt ist. Die Zeremonie verläuft folgendermaßen: Sie findet in der Wohnung des Bräutigams statt und dauert etwa zehn Minuten. Anwesend sind neben dem Brautpaar drei Zeugen. Der Imam liest einen religiösen Text vor, das Brautpaar muss seine Fragen beantworten, und dann folgt ein gemeinsames Gebet. 40 Normalerweise ist der Ablauf der vier mit einer Eheschließung verbundenen Ereignisse wie folgt: Zuerst wird der Henna-Abend gefeiert, die Verabschiedung der Braut aus ihrer Familie (diese Feier fehlte bei Yeliz' Heirat), dann folgen die standesamtliche und die religiöse Trauung und den Abschluss bildet die große öffentliche Hochzeitsfeier. 38 Etwas später im Gespräch, als die Interviewerin nach dem Herkunftsort des Mannes fragt, wird Yeliz' Bemühen, die regionale Herkunft des Mannes zu „schönen“ und die traditionelle dörfliche Herkunft zu verstecken, sehr deutlich. Sie antwortet zunächst aus der nähe von Balıkesir, einer Stadt zwischen Bursa und Izmir, korrigiert dann zu in der nähe von Marmara, und ein weiteres Mal zu in der nähe von Istanbul, der interessantesten und modernsten Stadt der Türkei. In dieser Korrekturfolge rückt der Herkunftsort des Mannes bis in die Nähe von Istanbul und wird abschließend durch ist schon westlich geprägt charakterisiert. 39 Yeliz gibt ethnografische Informationen zu regionalen und sozialen Unterschieden bei Hochzeitsfeiern. Sie unterscheidet zwischen modernen Hochzeiten der High Society und traditionellen Hochzeiten mit Mitgift, Gold und Geld. Moderne Hochzeiten verortet sie in Großstädten, z.B. Istanbul, traditionelle in Dörfern und Kleinstädten. Als Beispiel für eine weniger traditionelle Hochzeit führt sie die der Schwester an, die in Istanbul geheiratet hat. Dass sie die eigene traditionelle Hochzeit mit der der Schwester vergleicht, impliziert, dass sie die Schwiegerfamilie der Schwester, die die Hochzeit ausgerichtet hat, als „städtischer“ und weniger traditionell bewertet als ihre eigene. In diesem Zusammenhang räumt die Schwester auch ein, dass Yeliz' Hochzeitsfeier halt en bisschen extrem war, da sie keine freunde dabei hatte und auch die leute von seiner familie gar nicht kannte. D.h. auch aus der Perspektive der Schwester wird Yeliz' Hochzeitsfeier negativ bewertet. 40 Aus Yeliz' Perspektive ist die religiöse Trauung irgendwie so=ne nebensache. Fast alle Türken heiraten religiös, des is=en muss unter moslems * aso des gehört dazu. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 133 Auf die Frage der Interviewerin, wie sie die Schwiegereltern erlebt hat (und äh wie warn/ wie ham sie so ihre schwiegereltern erlebt) antwortet Yeliz folgendermaßen: 450 YL: die warn aufgeschlossen ↓ und aso: ← die fanden mich → ne“tt 451 YL: und ja ** LACHT LEICHT ja schon ↓ aso die wollten mich als 452 YL: braut haben ↓ ja ↓ 453 IN: ja ↑ a: h ja ↓ gut ↓ *2* LACHT LEICHT ** 454 YL: d=sin/ ah die sind sehr alt und- ** 455 IN: >ah so ↓ < ehe ↓ *1,5* >die 456 IN: wollten sie als braut< 457 YL: ja: ↓ die ham sich halt beeilt ↓ dass 458 YL: der sohn endlich mal heiraten ä: h kann ↓ ** dürf/ darf und so ↓ 459 K& YELIZ SCHWESTER UNTERBRICHT UND VERABSCHIEDET SICH Zunächst beschreibt Yeliz, dass die Schwiegereltern sich ihr gegenüber offen (aufgeschlossen) und emotional positiv eingestellt zeigten; sie fühlt sich als nett wahrgenommen und aufgenommen. Dann, eingeleitet durch leichtes Lachen und die abwägende Formel ja schon, folgt eine Einschränkung: aso die wollten mich als braut haben↓ (Z. 451f.). 41 Hier liegt der Fokus nicht mehr auf Yeliz als Person, sondern (nur noch) auf ihrer Funktion als Braut für den Sohn. D.h. aus der Perspektive der Schwiegereltern - so wie Yeliz sie darstellt - ist sie vor allem unter funktionalen Aspekten interessant. In der folgenden Sequenz, charakterisiert durch lange Pausen, zögerndes Sprechen, Selbstkorrekturen und IN s Verständnis anzeigende Rückmeldungen, werden schrittweise weitere Hintergründe der Eheanbahnung aufgedeckt: Die Schwiegereltern waren sehr alt (Z. 454) und hatten deshalb große Eile, wenn sie ihrer Aufgabe, für den Sohn eine Frau zu finden, noch nachkommen wollten. Außerdem war der soziale Druck auf sie groß, da der Sohn, wenn er noch älter werden würde, kaum noch vermittelbar gewesen wäre (Z. 457f.). In dieser sequenziellen Abfolge (zunächst der Blick der Schwiegereltern auf Yeliz als Person, dann auf ihre Funktion als Braut, dann die Darstellung der Zwangssituation der Schwiegereltern) erscheint Yeliz den Schwiegereltern als eine günstige Gelegenheit zur Verheiratung des Sohnes. Die Selbstdarstellung, die sie hier vornimmt, ist instrumental: Yeliz fungiert als Lösung für eine drängende Notsituation der 41 Das ist wieder eine Übersetzung aus dem Türkischen: beni gelin olarak istediler (‘sie wollen mich als Schwiegertochter/ Braut’). Das ist eine übliche Formel, mit der die junge Frau ausdrückt, dass die Schwiegerfamilie sie als Braut und Schwiegertochter akzeptiert. Inken Keim 134 Schwiegerfamilie. In dieser Sequenz wird ein Formulierungsmuster deutlich, das vorher schon aufgefallen war. Zuerst erfolgt eine eher glatte, unproblematische Darstellung, dann werden sukzessive Hintergründe aufgedeckt, die das Geschehen differenzieren und andeutungsweise negativ charakterisieren. Im vorliegenden Fall sind die Merkmale vorsichtigen, abwägenden Formulierens: langsameres und zögerndes Sprechen, leichtes Lachen, abschwächendes ja schon im Anschluss an die Formulierung aso: ←die fanden mich →ne“tt (Z. 450) und die Feststellung: aso die wollten mich als braut haben (Z. 451f.). Nach der leicht lachenden Wiederholung, mit der IN andeutet, dass sie das zwischen den Zeilen Gesagte verstanden hat, erfolgt die Aufdeckung der eigentlichen Hintergründe dafür, dass die Eltern sie als Braut akzeptierten: der hohe persönliche und soziale Druck, unter dem sie und der Sohn standen. Exkurs: Serap Devran erklärt den sozialen Druck, unter dem die Schwiegereltern standen, folgendermaßen: In eher traditionellen Familien ist allein zu leben kein gesellschaftlich akzeptiertes Lebenskonzept. Eine Familie zu haben ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass man ein ordentliches Leben führt. Alte Eltern, die noch unverheiratete Kinder haben, machen sich große Sorgen um deren Zukunft. Die Gedanken der Mutter kreisen dann immer darum, wen der Sohn/ die Tochter heiraten könnte, und im familiären und sozialen Umfeld wird intensiv nach einer Partnerin/ einem Partner gesucht. Die Sorgen der Eltern unterscheiden sich, je nachdem ob sie auf einen unverheirateten Sohn oder eine Tochter bezogen sind. In Bezug auf die Tochter sind die Sorgen gesellschaftlich basiert. Die Eltern fürchten, dass der Tochter etwas passieren könnte oder dass sie die geltenden Anstandsregeln nicht einhalten und Anlass zu bösem Gerede werden könnte. In Bezug auf den allein stehenden Sohn kreisen die Sorgen zum einen darum, dass der Familienname nicht weiter gegeben wird und zum anderen um seine Versorgung. Ein Mann, der keine Familie hat, für die er sorgen muss, und für den nicht gekocht, gewaschen und geputzt wird, läuft Gefahr, dass er kein ordentliches Leben führt. Die Eltern befürchten, dass er dann verwahrlost, sozial verkommt, sein Geld verspielt oder mit Frauen durchbringt. Typische Redeweisen, die ältere Mütter in Gesprächen über ihre unverheirateten Söhne verwenden, sind: çok merak ediyorum onu (‘ich mache mir große Sorgen um ihn’), onun hali ne olacak (‘was wird aus ihm’), kendine bakamaz (‘er kann sich nicht selbst versorgen’), yemegini ve çamaşırını, eve kim bakacak (‘sein Essen, seine Wäsche, wer macht den Haushalt’), çoluk çocuğu yok (‘er hat keine Familie und keine Kinder’). Auch für Söhne gibt es eine Art Deadline für die Familiengründung, die in Formeln zum Ausdruck kommt, wie z.B. mit vierzig soll er noch kinder kriegen und groß ziehen? Sind Sohn oder Tochter geschieden, kann die Situation ganz anders sein. Es gibt geschiedene Kinder, die es nicht mehr zulassen, dass die Eltern sich in ihr Leben einmischen und über einen möglichen neuen Partner (mit-)bestimmen. In eher modernen Familien wird es auch akzeptiert, dass Geschiedene alleine leben. Doch in traditionel- „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 135 len Familien ist es üblich, dass die geschiedenen Töchter wieder in die Herkunftsfamilie zurückkehren, da eine allein stehende Frau sehr leicht in den Verdacht gerät eine Schlampe zu sein. 42 6. Konsequenzen der Heirat: der „Importmann“ 43 Nach der Hochzeit entscheidet Yeliz, dass sie auf keinen Fall in der Türkei leben will, obwohl es für sie leichter wäre, in der Türkei eine Stelle zu bekommen (z.B. als Lehrerin an der deutschen Schule in Istanbul), als für den Mann in Deutschland eine entsprechende Arbeit zu finden. 44 Yeliz' Entscheidung bedeutet für den Mann die Migration nach Deutschland. Bereits vor der Heirat hatte er Angst sich fremd [zu] fühlen und Zweifel, ob ihm ohne Sprachkenntnisse in Deutschland ein beruflicher Neuanfang überhaupt gelingen könne. Es gab allerdings ein Motiv, das ihn veranlasste, trotz Bedenken zu migrieren: weil seine schwester hier lebt und sein bruder auch hier is. D.h. die Heirat ist für ihn funktional und ermöglicht die Nähe zu Mitgliedern seiner Herkunftsfamilie in Deutschland. 42 Vgl. dazu Keim (2008, S. 79ff.). 43 Die Bezeichnung „Importmann“ verwendet Yeliz nicht. Aber die Lebenssituation des Mannes, wie andere mit ihm umgehen und er mit ihnen, hat charakteristische Züge des „Importmanns“; zur Beschreibung des Importmannes vgl. Teil II, Kap. 5.2. 44 Yeliz' Blick auf die Türkei, der zu diesem Entschluss geführt hat, ist durch ihre Sozialisation in der Migrantengemeinschaft in Deutschland geprägt. Sie sieht die Türkei in manchen Sachen nicht so entwickelt, in Deutschland sind die aktuellsten Entwicklungen, hier ist es offener gegenüber anderen Kulturen * alles passiert hier in Deutschland, in Europa, der Wissensstand ist aktuell. Dieser Blick ist äußerst einseitig, bezieht sich eher auf ein rückständig dörfliches Leben als auf die moderne Türkei, die in den letzten Jahren einen enormen wirtschaftlichen und gesellschaftspoltischen Wandel durchgemacht hat; vgl. u.a. Hermann (2008). Die Regierung Erdogan steuert sukzessive einen modernen Staat an, die ländlichen Regionen verändern sich in rasantem Tempo, und die Türkei gehört aktuell zu den Staaten mit dem größten Wirtschaftswachstum hinter China; vgl. den Artikel im Tagesanzeiger vom 30.06.2010, „Das Wachstumswunder“ unter: www.tagesanzeiger.ch/ wirtschaft/ konjunktur/ Das-Wachstumswunder/ story/ 23910078 . Auch der Blick auf Deutschland ist einseitig und idealisierend; es ist der Blick einer Hochschulabsolventin, die ihr Wissen in Deutschland erworben hat und von diesem Standpunkt aus ‘Deutschland’ mit dem ‘Dorf in der Türkei’ vergleicht. Ein weiteres Motiv für ein Leben in Deutschland ist, dass Yeliz nicht möchte, dass ihr Kind nur mit der türkischen Kultur aufwächst, sondern dass es sich multikulturell entwickelt. Die Chance dafür sieht sie eher in Deutschland gegeben als in der Türkei. Inken Keim 136 6.1 Das Leben als „Importmann“ Das gemeinsame Leben beginnt zunächst in der Wohnung von Yeliz' Eltern. Doch der Mann fühlt sich nicht wohl, und das junge Paar bezieht eine eigene Wohnung. Der Mann ist arbeitslos 45 und besucht einen Integrationskurs; Deutsch fällt ihm sehr schwer. Seit der Geburt des Kindes sieht die innerfamiliäre Arbeitsorganisation folgendermaßen aus: Da Yeliz wegen der Fürsorge für das Baby ans Haus gebunden ist, muss der Mann die Arbeit draußen erledigen. Da er das wegen fehlender Sprachkenntnisse nicht kann, muss sie ihn lenken von zuhause aus. Das heißt: ich muss ihm die Sachen erklären, und immer beschreiben und auch die Bedeutungen immer sagen [...] so lernt er auch, ich lass ihn auch nich zuhause, ich geb ihm schon die Arbeit, dass er das dann draußen erledigt und auch beherrscht mit der Zeit. Yeliz gibt ihm täglich detaillierte Anweisungen, was er wo einkaufen muss, was auf der Bank oder der Behörde zu erledigen ist. Sie organisiert, erklärt und ordnet an und behält den sprachlichen und wissensbezogenen Fortschritt des Mannes im Auge; sie bestimmt die Aufgaben (isch geb ihm die arbeit) und kontrolliert das Ergebnis (dass er das beherrscht). Bei der Aufgabenverteilung geht sie nach dem traditionellen Ehe-Modell vor, für sich beansprucht sie die Rolle der Hausfrau und für den Mann sieht sie die Arbeit außer Haus vor (die arbeit draußen). Das ist in der aktuellen Situation wegen der intensiven Fürsorge für das Neugeborene auch plausibel. Es gibt in ihrer Schilderung allerdings keinen Hinweis darauf, dass sie die Aufgabenverteilung als nur vorübergehend ansieht, sondern durch die Dauer (immer), die Intensität (erklären, beschreiben, Bedeutungen sagen) und das Ziel ihrer Bemühungen (die Arbeit draußen [zu] beherrschen) wird der Eindruck erweckt, dass sie diese Rollenverteilung eher längerfristig vorsieht. Das ist auffallend, denn in vielen Ehen, in denen der Mann migriert ist, wird die traditionelle Rollenverteilung aufgebrochen, da die Frau die Sprache kann, meist eine Berufsausbildung erreicht und die besseren Berufschancen hat. 46 Das gilt auch für Yeliz: Sie hat alle Voraussetzungen, den Familienunterhalt zu sichern - im Gegensatz zu ihrem Mann, der sich die Mindestvoraussetzungen für eine Berufstätigkeit (Bestehen des Integrationskurses) erst noch erarbeiten muss, und dessen Berufsaussichten aufgrund seiner geringen Qualifikation eher ungünstig sind. Dass sie trotz dieses Ungleichgewichts in selbstverständlicher Weise ihr Handeln im Rahmen der traditionellen Aufgabenverteilung darstellt, legt mehrere Deutungen nahe: 45 Über die Arbeitsvermittlung kann er erst Arbeit bekommen, wenn er den Integrationskurs bestanden hat. 46 Vgl. dazu die Beschreibung „gemischter“ Ehen in der türkischstämmigen Migrantengemeinschaft in Keim (2008, S. 78ff.) und Teil II, Kap. 4 und 5. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 137 - Sie hält am traditionellen Familienmodell fest, weil für sie ein neues (noch? ) nicht denkbar ist, d.h. das traditionelle Modell wird entgegen vernünftiger Erwägungen fortgeschrieben. 47 Dadurch, dass sie ihm die „Männer“-Rolle zuschreibt und ihn bei der Aufgabenbewältigung unterstützt, versucht sie seine Position und sein Image innerhalb der Familie zu stärken. - Yeliz handelt strategisch; das würde bedeuten, dass sie davon ausgeht, dass neue Familienrollen zum gegenwärtigem Zeitpunkt weder ihrem Mann noch seiner Familie gegenüber durchgesetzt werden können. Damit nimmt sie in Kauf, dass das traditionelle Modell für alle sichtbar scheitert, und sie lässt den Mann erleben, wie schwer es ist, die Rolle des Familienernährers in der neuen Lebenswelt zu übernehmen. Wenn er scheitert - davon scheint sie auszugehen (vgl. dazu unten) -, müssen alle Beteiligten einsehen, dass neue Lösungen gefunden werden müssen. - Es ist auch möglich, dass Yeliz, obwohl sie weiß, dass ihr Mann die Familienexistenz nicht wird sichern können, sich im traditionellen Modell einrichtet, in der Hoffnung, dass beide Familien das junge Paar unterstützen. Welche Motive Yeliz' Handlungen zugrunde liegen, ist an dieser Stelle nicht zu klären. Im weiteren Gesprächsverlauf gibt es jedoch Hinweise, die die strategische Deutung erhärten. 6.2 Interaktive Herstellung des „Importmannes“ Als Yeliz über den geringen Fortschritt ihres Mannes Zafer ( ZA ) beim Deutschlernen klagt (es mangelt halt an wortschatz und an: an verständigung bei ihm), wird er sichtlich unruhig. Die Interviewerin wendet sich an ihn, spricht sehr langsam und artikuliert überdeutlich. In der folgenden Sequenz ergibt sich aus der Interaktion zwischen Yeliz, der Interviewerin und Zafer die interaktive Herstellung des „Importmannes“ mit den Eigenschaften „kommunikativ inkompetent“, „unselbständig“, „unterlegen“ und „hilflos“: 610 IN: ← ihre frau“ spricht türkisch mit ih“nen ↑ * oder deutsch ↓→ 611 ZA: türkisch ↓ türkisch ↓ 612 YL: |LACHT| 613 IN: |LACHT| muss deutsch mit ihnen sprechen ↓ 614 K LACHEND 47 Für diese Deutung plädiert Serap Devran: Yeliz drängt den Mann nach außen, schickt ihn in den öffentlichen Bereich, damit er die Arbeit außer Haus zu beherrschen lernt. Yeliz versucht angestrengt nach dem Prinzip des traditionellen Familienmodells zu handeln; sie ordnet seine Aufgaben dem öffentlichen Bereich zu. Inken Keim 138 615 ZA: ja ↓ muss deutsch ama eh- verjössem ↓ |ich| 616 IN: is schwer |>ja| klar ↓ < 617 ZA: bin verjössem ↓ 618 YL: LACHT |LACHT| |LACHT| 619 IN: |LACHT| sie vergessen |LACHT| ü“ben viel 620 K LACHEND 621 IN: ü“ben ↓ ** prakti/ viel praktizieren ↓ immer sprechen↓ 622 ZA: ja ↓ 623 YL: hab isch heute gesagt ↓ er hat für seinen führerschein gelernt ↑ 624 IN: ja ↓ Die Frage der Interviewerin ←ihre frau“ spricht türkisch mit i“hnen↑ * oder deu“tsch→↓ (Z. 610) versteht der Mann und antwortet: türkisch (Z. 611). Darauf lachen beide Frauen, und die Interviewerin gibt lachend den Ratschlag muss deutsch mit ihnen sprechen↓ (Z. 613). Auch das versteht der Mann, bestätigt die Nützlichkeit des Ratschlags ja↓ muss deutsch (Z. 615) und beginnt dann eine Einwandsformulierung ama eh: (=aber eh), die IN zu is schwer vervollständigt (Z. 615f.). Dann fährt er mit einer Erklärung fort: verjössem↓ ich bin verjössem↓ (Z. 615/ 617). Seine Äußerungen haben lernersprachliche Merkmale. Wieder lachen beide Frauen, IN korrigiert die lernersprachliche Version verjössen zu sie vergessen (Z. 619), lacht und gibt ihm Ratschläge, wie er sich sprachlich verbessern kann. Dabei wechselt sie in eine einfache Form des Deutschen: ü“ben viel ü“ben↓ ** prakti/ viel praktizieren↓ immer sprechen↓ (Z. 619-621). Sie verwendet Zweiwortäußerungen bestehend aus Verb im Imperativ Plural + Partikel viel oder immer. Die Sprech- und Formulierungsweise erinnert an den „foreigner talk“, eine vereinfachte Sprechweise, in die Muttersprachler im Gespräch mit Ausländern wechseln, von denen sie wissen, dass sie die Sprache (noch) nicht beherrschen. 48 Diese Sprechweise wird verwendet in der Annahme, dass der Austausch mit dem Zweitsprachenlerner dadurch erleichtert wird. Durch die Verwendung wird der Adressat jedoch auch zu einem inkompetenten Sprecher gemacht, dem gegenüber der Sprachkompetente sich erlaubt, Lob, Ratschläge und Anweisungen zu geben. Yeliz stimmt mit der Interviewerin überein und bestätigt, dass sie ihrem Mann den Rat bereits gegeben hat (hab isch heute gesagt, Z. 623). Von da an kooperieren beide Frauen in den Beteiligtenrollen der Lehrenden, Ratschläge Erteilenden und Überlegenen: Yeliz schildert, dass er sie um Rat fragt und wie sie ihn belehrt; die Interviewerin bestätigt sie darin. Dann kritisiert Yeliz die 48 Der „foreigner talk“ wurde zuerst von Ferguson (1971) beschrieben und in Nachfolgeuntersuchungen mehrfach bestätigt; vgl. z.B. Meisel (1975), Hinnenkamp (1989). „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 139 Lernleistung ihres Mannes (durch ‘hedges’ abgemildert) und stellt fest, dass sie an seiner Stelle mehr erreicht hätte: ja er ist ähm * einfach en bisschen äh faul also- * ich hätte ein bisschen mehr gelernt an seiner stelle. Lachend fordert die Interviewerin sie auf mal strenger mit ihm zu sein, worauf Yeliz bestätigt, dass sie das bereits getan hat: ja: ↓ * ab und zu bin ich streng↓ ja↓ (unten Z. 635). Wieder lachen beide. In dieser Sequenz sprechen die beiden Frauen über den anwesenden Mann, über seine mangelnde Lernleistung und seine mangelnde Anstrengung. Yeliz beurteilt ihn offen negativ, wenn auch abgeschwächt durch Verzögerungspartikel und ‘hedges’ (en bisschen faul ). IN nimmt die Negativbeurteilung lachend auf, bestärkt Yeliz in ihrer Lehrerrolle (wodurch der Mann zum „Schüler“ gemacht wird) und fordert sie - wieder spielerisch gebrochen - zu schärferen Maßnahmen auf. Gemeinsam machen die beiden Frauen den Mann, der an dieser Stelle vermutlich vieles versteht, sich aber verbal nicht angemessen zur Wehr setzen kann, zum hilflosen Rezipienten. Da er die ihm zugewiesene Rolle annimmt - er könnte von seiner Frau auf Türkisch Auskunft verlangen, sie zur Rede stellen oder aus dem Raum gehen -, gesteht er den beiden Frauen die Definitionsmacht über sich zu. Die gesamte Sequenz ist durch Lachen abgemildert, was die Rollenzuschreibung für den Mann etwas erträglicher macht; er hat die Möglichkeit über das Lachen mit den beiden Frauen Gemeinsamkeit herzustellen. Die ihm zugewiesene Rolle ändert er jedoch nicht. Das wird in der direkt anschließenden Sequenz noch deutlicher: 635 YL: ja: ↓ * ab und zu bin ich streng ↓ ja ↓ |LACHT| 636 IN: LACHT |LACHT|sie is 637 ZA: |LACHT| 638 IN: die lehrerin LACHT |ja ↑ | 639 ZA: lehrerin |ama: | ä: h nicht sprechen 640 IN: ja sie/ er kann es geht doch ↓ 641 ZA zuhause ↑ ja ↓ türkisch ↓ 642 YL: LACHT 643 IN: |ja ↓ | >ja ↓ < <viel deutsch ↓ > 644 ZA: |LACHT| >ja ↓ < >ja ↓ < >ja ↓ < Lachend und an den Mann adressiert bestätigt die Interviewerin Yeliz' Rolle als Lehrerin: sie is die lehrerin (Z. 636-638). Darauf antwortet er: lehrerin ama: äh nicht sprechen zuhause (Z. 639-641). Im aktuellen Gesprächskontext kann die lernersprachliche Äußerung normalisiert werden zu ‘sie ist zwar die Lehrerin, aber sie spricht zuhause kein Deutsch’. In diesem Sinne wäre die Inken Keim 140 Äußerung eine Klage über Yeliz' mangelnde Bereitschaft, im Alltag Deutsch mit ihm zu üben. Doch die Interviewerin inferiert diese Bedeutung nicht. Sie nimmt seine Äußerung auf: ja sie/ , bricht ab und wechselt dann abrupt das Thema und die Adressierung: Sie wendet sich an Yeliz und kommentiert ihr gegenüber seine sprachliche Leistung; d.h. sie spricht mit Yeliz über ihn: er kann es geht doch (640). Damit bringt sie ihn aus der Rolle des „Gesprächspartners“ in die Rolle des „Schülers“, dessen Leistung sie der verantwortlichen Lehrerin gegenüber gutheißt. Yeliz lacht und lässt den Wechsel der Beteilgtenrolle zu. Der Mann, der den schnellen Themen- und Adressatenwechsel nicht hat nachvollziehen können, bestätigt seine vorangegangene Feststellung mehrfach (>ja<, >ja<, >ja<, Z. 644) und die Interviewerin erteilt ihm mit Nachdruck den Rat: <viel deutsch↓> (Z. 643). Die kurze Sequenz ist charakteristisch für eine misslungene Kommunikation zwischen Sprachkompetenten und einem Sprachenlerner. Sie zeigt, dass auch dann, wenn der kompetente Sprecher dem Sprachlerner wohlwollend begegnet und sich Mühe gibt, ihn zum Sprechen zu ermutigen, eine Kommunikation zustande kommen kann, in der der Lerner erlebt, dass er nicht als gleichberechtigter Gesprächspartner ernst genommen, sondern korrigiert, begutachtet und in die Rolle des Schülers gedrängt wird. Das muss besonders für einen „Importmann“, der ohnehin verunsichert ist, weil er die traditionelle „Männer-Rolle“ nicht ausfüllen kann, zu ständigen Herabsetzungen und Demütigungen führen. Er wird in asymmetrische Interaktionsituationen gebracht, in die untergeordnete Rolle gedrängt und zum Hilflosen gemacht, weil er solche Übergriffe sprachlich nicht kompetent zurückweisen kann. Dann nimmt Yeliz den vorherigen Beitrag ihres Mannes auf, reformuliert ihn als Klage (er sagt immer ich würd mich nich bemühen ihm des beizubringen) und bestätigt deren Berechtigung. Sie gesteht zu, dass es ihr schwer fällt, mit ihm zu arbeiten (ich hab nich die nerven dazu), illustriert in einer generalisierenden Szene seine Lernunfähigkeit und karikiert ihn: ich sag ihm immer dass er vom buch lernen soll↓ und dann LACHT nimmt er das wörterbuch und guckt sich die sachen im wörterbuch an LACHT . Sie amüsiert sich über sein Unwissen (darüber wie man eine Sprache lernt), führt seine Hilflosigkeit vor (er versucht die Sprache aus dem Wörterbuch zu lernen) und entblößt ihn gegenüber der Interviewerin. Dann breitet sie detailliert aus, welche Anstrengungen sie mit ihm unternommen hat, und wie man ihn unterrichten müsste, damit er vorankommt. 49 Im Verlauf dieser Darstellung wird deutlich, dass das 49 Sie führt vor, wie man vorgehen müsste: systematisch aufbauend, in kleinen Schritten mit ständigen Wiederholungen und Übungen. Aber dazu ist sie derzeit nicht in der Lage und nicht bereit. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 141 Lachen über seine Lernunfähigkeit weniger Ausdruck von Überlegenheit ist, als vielmehr von beginnender Verzweiflung über die Belastung, die sie seit Beginn ihrer Ehe spürt. 7. Hintergründe zum Zustandekommen der Heirat Im Anschluss an die Offenlegung innerfamiliärer Probleme wechselt die Interviewerin den thematischen Fokus mit der Frage: wielange haben sie sich kennen gelernt bevo“r sie geheiratet/ wielange kannten sie sich vor der heirat. Die Frage löst die Darstellung weiterer Hintergründe für das Zustandekommen der Ehe aus, in deren Verlauf Yeliz schrittweise aufdeckt, dass sie sich sowohl von der Familie des Mannes als auch von der eigenen Familie getäuscht, überrumpelt und hintergangen fühlt. Sukzessive schließt sie eine Reihe von Lücken in der Sachverhalts- und Handlungsdarstellung, die in den vorangegangenen Gesprächsabschnitten aufgefallen waren: warum sie ihn und nicht er sie besucht hat, wie im Arrangement-Modell vorgesehen (vgl. Kap. 3); wie ihre Familie bei der Vorbereitung der Heirat agierte (vgl. Kap. 4); und wie ihr Mann den Prozess der Ehe-Anbahnung erlebt hat. Die Perspektive des Mannes und seine Beteiligungsweise kamen in der bisherigen Darstellung noch nicht vor. 7.1 Die Perspektive der Frau Auf IN s Frage führt Yeliz aus, dass sie mit dem Mann drei Monate über das Internet Kontakt hatte, ihn aber erst bei ihrem Besuch in der Türkei persönlich kennenlernte. IN s überraschte Nachfrage, ob er vorher nicht in Mannheim war, löst folgende Schilderung aus: 670 IN: der kam gar nicht her ↑ 671 YL: nee ↓ das hab ich mir auch gewünscht 672 YL: gehabt * aber seine familie hat gemeint dass=s nich 673 YL: möglich sei ↓ die hätten ihn irgendwie schon mal 674 IN: warum ↑ 675 YL: eingeladen ↑ * aber des hätte nich geklappt ↑ * des sag 676 YL: ich ihm auch immer wieder ↓ des wollten=se nich ↓ sie 678 YL: wollten nich so viel kosten machen ↓ wahrscheinlich deshalb ↓ 679 YL: es kostet ja die einladung * die ganz prozedur * und äh Inken Keim 142 680 YL: der sagt immer weil er ledig war ham=sie ihn nich zugelassen ↓ 681 YL: ihm kein visum gegeben ↓ des kann aber nich sein ↓ Jetzt wird klar, wieso der erste Direktkontakt zwischen den Partnern in der Türkei und nicht in Mannheim stattgefunden hat, obwohl nach dem traditionellen Verfahren der Mann zur Brautschau nach Mannheim hätte kommen müssen. Seine Familie unternahm nichts für seine Ausreise. D.h. bereits die Organisation des ersten Kontakts zwischen den Partnern führte zu Abweichungen vom Arrangement-Modell. Yeliz glaubt die Version seiner Familie nicht (dass er als Lediger kein Visum bekommen hätte), sondern vermutet, dass der Geiz seiner Familie der eigentliche Grund war. 50 Diesen Verdacht äußert sie auch ihrem Mann gegenüber. Dass sie immer wieder mit ihm darüber diskutiert, er aber bei der Version seiner Familie bleibt, zeigt, dass Zweifel an ihr nagen und sie dem Mann und der Schwiegerfamilie misstraut. Aus ihrer Perspektive hat die Schwiegerfamilie dadurch, dass sie das Normalverfahren im Arrangement-Modell verletzt hat, ihren Wert als Braut herabgesetzt. Ihre damalige Reaktion auf das verletzende Verhalten schildert sie folgendermaßen: 685 YL: aber ich hab schon gemeint ich möchte ja schon mal se“hen 686 YL: wie der-/ wie der so wirkt und wie der ä: hm- ** 687 IN: wie er is ↓ 688 YL: äh f/ f/ ja ↓ 689 IN: ob=se sich überhaupt verstehen können ↓ 690 YL: ja: ↓ des: hab isch mir schon gewünscht ↓ aber die warn 691 IN: mhm 692 YL: irgendwie auch ähm * ganz stur ↓ un=dann ham=se gemeint 693 YL: des geht net * mhm ↓ ** 694 IN: mhm ↓ und ihre eltern ham dann nich 695 IN: en bisschen nachgeholfen ↑ LACHT dass des doch geht ↑ ** 696 YL: ähm: nee ↓ nee ↓ >ja< 697 IN: war nich ↑ >schade< tut=s ihnen leid ↑ 698 YL: *1,5* natürlich ↓ aso ich hätt schon gewünscht dass er 699 IN: mhm 50 Ein Visum für die Einreise nach Deutschland zu bekommen ist aufwändig und kostspielig. Die Einladenden in Deutschland müssen für den Eingeladenen bürgen und im Krankheitsfall für die Kosten aufkommen. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 143 700 YL: ähm d/ dass er- * kommt ↓ dass er gekommen wäre und 701 IN: mhm 702 YL: wir uns hier kennengelernt hätten und äh: dass 703 IN: mhm * 704 YL: er das gesehen hätte ↓ wie=s in deutschland is 705 IN: mhm mhm Sie beginnt mit einem Eigenzitat, in dem sie ihren Wunsch den Mann zu treffen ausdrückt (mehrfach abgeschwächt durch Partikel ja, schon), stockt bei der Begründung wie der-/ wie der so wirkt und wie der ä: hm- ** (Z. 686), und IN ergänzt die abgebrochene Struktur (wie er is↓ und ob=se sich überhaupt verstehen können↓, Z. 687-689). Yeliz bestätigt, dass sie sich genau das gewünscht hat (ja: ↓ des: hab isch mir schon gewünscht↓, Z. 690). Dann formuliert sie die Position der Schwiegerfamilie, abgeschwächt (irgendwie) und mit kurzem Zögern vor dem negativ bewertenden Adjektiv: aber die warn irgendwie auch ähm * ganz stur↓ un=dann ham=se gemeint des geht net (Z. 690-693). Auf IN s Frage, ob Yeliz durch die Eltern Unterstützung bei der Durchsetzung ihres Wunsches erhalten hat, antwortet Yeliz nach längerer Pause und zögernd: ähm: nee↓ (Z. 696); auch auf IN s Nachfrage (war nich↑, Z. 697) reagiert sie nur mit der Negationspartikel (nee↓), und bestätigt dann IN s Ausdruck des Bedauerns (schade, Z. 697). Yeliz reagiert auf die Frage nach der Unterstützung durch die Eltern mit minimalen Zügen und gibt keine Erläuterungen, warum sie ihr bei einem derart wichtigen Ereignis nicht geholfen haben. Vor dem Hintergrund des Modells der arrangierten Ehe bedeutet das Verhalten der Eltern, dass sie nicht im Sinne der Tochter verhandelt haben, ihrem Wunsch keine Geltung verschafft und nichts unternommen haben, um ihre Würde und ihr Ansehen zu verteidigen. Sie haben die Begründung der Schwiegerfamilie fraglos akzeptiert, ohne die Triftigkeit zu überprüfen. D.h. zwischen den beiden Familien herrschte ein (möglicherweise stillschweigendes) Einvernehmen darüber, dass sie die potenziellen Partner möglichst schnell, ohne zusätzliche Kosten (z.B. für das Visum des Mannes) und ohne Rücksicht auf die Wünsche der Braut verheiraten wollten. Oberste Priorität hatten Familieninteressen, die in Reaktion auf den sozialen Druck im Lebensumfeld in Mannheim und im Heimatort des Mannes entstanden waren. Berechtigte Interessen der Kandidaten, beide erwachsene und beruflich eigenständige Menschen, wurden hartnäckig (stur, Z. 692) übergangen. 51 Die Ehe-Unterhändler brachten ein Arrangement zustande, das - vor der Folie einer verantwortlich arrangier- 51 Die Charakterisierung, dass seine Familie stur war, setzt voraus, dass intensiv diskutiert wurde; es wird aber nicht erwähnt worüber. Inken Keim 144 ten Ehe - für die Braut unwürdig verlief und Merkmale des „Verschacherns“ hatte. Die Art der Darstellung, die Herabstufungen, Vagheiten, Auslassungen, die minimalen Hinweise auf einen für Yeliz sehr verletzenden Sachverhalt und der fehlende Ausdruck von Emotionalität (Empörung, Wut, Enttäuschung u.Ä.) verschleiern die Dramatik des Geschilderten. Die Art der Darstellung kann durch Regeln zur Beachtung des „Face“-Schutzes für alle Beteiligten erklärt werden. Yeliz weiß, dass aus der Perspektive der Interviewerin das dargestellte Geschehen, das Handeln der Eltern, der Schwiegereltern und die eigene Passivität äußerst befremdlich erscheinen müssen. Von daher lassen sich die Herabstufungs- und Verschleierungsverfahren, der Verzicht auf Explizierung und Detaillierung und das Vermeiden offen negativer Bewertung verstehen. Außerdem mögen Scham und Schmerz über das enttäuschende Handeln der eigenen Familie eine Rolle spielen. IN s Frage tut=s ihnen leid ↑ (Z. 697) bejaht Yeliz nach kurzem Zögern (natürlich↓ Z. 698) und führt dann aus, was sie sich gewünscht hätte: aso ich hätt schon gewünscht dass er ähm-/ d/ dass er * kommt↓ dass er gekommen wäre und dass wir uns hier kennen gelernt hätten * und dass er gesehen hätte↓ wie des in deutschland is↓ (Z. 698/ 704). Beim Kontakt über Internet fehlte das Menschlische, Physikalische, die Nähe. D.h. ein wichtiger Schritt in einem aus ihrer Perspektive akzeptablen Verfahren zur Ehe-Anbahnung fehlte. Nach dieser Offenlegung erfolgt ein abrupter Fokuswechsel: 712 YL: wir haben uns dann dort kennen gelernt ↓ aso- ich hätte 713 IN: mhm 714 YL: ja absteigen können ↓ +ja ↓ 715 IN: ja ↓ des frag ich jetz grad ↓ warum 716 YL: ähm weil er mir da schon en bisschen 717 IN: ham=se=s nich gemach ↓ * 718 YL: sympathisch vorkam ↓ oder +ja ↓ ja: ↓ 719 IN: ja ↑ is doch gut ↓ LACHT mhm 720 YL: war doch mei“ne entscheidung ↓ ja: ↓ mhm ↓ *3* 721 IN: → gut ↓← ja: ↓ gut ↓ Ohne Ankündigung wechselt Yeliz von der erzählten Zeit zur Erzählzeit, von der Handlungsdarstellung auf die Ebene der Selbst-Reflexion und zur Innensicht: aso ich hätte ja absteigen können↓ (Z. 712-714) Yeliz nimmt Stellung zu ihrer damaligen Handlung (dass sie in die Türkei gefahren ist) und begrün- „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 145 det sie dadurch, dass sie für sich jederzeit die Option des Ausstiegs sah. Das veranlasst IN zur Frage warum ham=se=s nich gemacht (Z. 715-717), worauf Yeliz zugesteht, dass der Mann ihr da schon en bisschen sympathisch vorkam, und sie stellt fest: war doch mei“ne entscheidung (Z. 720). In dieser Sequenz, die der Selbstvergewisserung ebenso wie der Plausibilisierung der eigenen Handlung der Interviewerin gegenüber dient, stellt Yeliz klar, dass sie sich für den Mann entschied und nicht (nur) dem durch die Familien getroffenen Arrangement folgte. 7.2 Die Perspektive des Mannes Nach längerer Pause fragt die Interviewerin: und bei ihm auch↑ war=s sei“ne entscheidung↑. Yeliz bittet, das den Mann zu fragen und bietet Übersetzungshilfe an. Der Mann stellt fest, dass es seine Entscheidung war. In der folgenden Gesprächssequenz zu dritt ( IN befragt den Mann, Yeliz übersetzt und kommentiert) schildert der Mann seine Situation: Er ist arbeitslos, würde gerne arbeiten, darf aber nicht, da er kaum Deutsch kann. Er fühlt sich hier ya yeniden dünyaya gelmek yan (‘also, wie neu auf die Welt gekommen’). Manchmal sagt er (so Yeliz), er müsste den kopf mit dem kopf eines deutschen wechseln damit er hier integriert is, und er ergänzt: psikoloji bozuyo yani buraya gelenler (‘es macht die Psyche kaputt von denen die hierher kommen’) bi“lhassa erkekler (‘besonders die Männer’). Daraufhin reformuliert IN die vorherige Frage (deswegen frag ich ihn ob=s wirklich seine entscheidung war↓), was Yeliz dazu veranlasst, weitere Hintergründe zum Zustandekommen des Ehe-Arrangements aufzudecken, die dem widersprechen, was der Mann zu Beginn dieses Gesprächssegments behauptet hatte, dass es seine entscheidung war. Dabei gewährt Yeliz Einblick in ihre aktuelle emotionale Verfassung, die geprägt ist von Misstrauen gegenüber dem Mann und seiner Familie und von Angst offen über Handlungsmotive zu sprechen: 738 IN: ob=s wirklich seine entscheidung war ↓ * es=s unheimlich schwer ↓ 739 YL: un des=s auch interessant ↓ das war ni“cht seine entscheidung ↓ 740 YL: der is: ja auch überrumpelt und so weiter ↓ 741 IN: er is überrumpelt 742 YL: der hätt ja eine andere geheiratet in der 743 IN: worden ↑ von wem ↑ 744 YL: türkei ↑ und der ä: hm * sein * schwager hat ihn überredet mich 745 YL: zu heiraten ↑ weiß ich nich ↓ ich wär vielleicht 746 IN: warum das ↑ Inken Keim 146 747 YL: besser als die andere frau ↓ * aso ** ä: hm: ** die wollten ihn 748 YL: vielleicht hier in deutschland haben ↓ dabei haben ↓ Yeliz stellt fest, dass er sich nicht selbst für sie und die Migration nach Deutschland entschieden hat und begründet das durch: der is ja auch überrumpelt (Z. 740). Die Formulierung zeigt, dass aus ihrer Perspektive beide in ähnlicher Weise manipuliert wurden. In seinem Fall benennt sie das explizit überrumpelt, im eigenen Fall deutet sie das nur an. Auf IN s Frage, von wem der Mann überrumpelt wurde, liefert sie weitere Details: Seine Familie hatte sich in der Türkei bereits auf Brautschau begeben und eine Frau ausgewählt, doch sein Schwager überredete ihn, Yeliz zu heiraten. Das Motiv des Schwagers kennt Yeliz nicht (weiß ich nich↓, Z. 745), vermutet aber: ich wär vielleicht besser als die andere frau↓ (Z. 745-/ 747). Sie führt als mögliches Motiv ihre Person an, stockt und fährt nach einigem Zögern mit einer Äußerung aus der Eigenperspektive fort: * aso- ** ähm: ** die wollten ihn vielleicht hier in deutschland haben↓ dabei haben↓ (Z. 747f.). D.h. Yeliz vermutet, dass seine Familie sie nicht aufgrund ihrer persönlichen Vorzüge, sondern in ihrer Eigenschaft als ‘Braut in Deutschland’ gewählt hat, und dass der Mann zu dieser Wahl überredet werden musste. Aus ihrer Perspektive, wie sie sich aus der bisherigen Darstellung rekonstruieren lässt, sind beide Partner von ihren Familien funktional eingesetzt worden: Die angestrengte Suche nach einem Bräutigam für Yeliz wurde von der Familie des Mannes als Gelegenheit genutzt, ihn nach Deutschland zu holen. Für Yeliz' Familie war die Gelegenheit günstig, um sie schnell und ohne große Kosten zu verheiraten. In dieser Rekonstruktion erscheinen Yeliz und der Mann als Einsatz in einem Spiel, in dem es primär um das soziale Ansehen und das Interesse beider Familien geht und bei dem die Würde und Integrität des betroffenen Paares nur eine untergeordnete Rolle spielen. Getragen von der Dynamik des Aufdeckens von Hintergründen wendet sich Yeliz an ihren Mann und konfrontiert ihn mit ihrer Vermutung (in Form einer Vergewisserungsfrage): eh senin kendi düşüncen değildi buraya almanyaya gelmek de=me↑ (‘es war nicht deine eigene Idee hierher nach Deutschland zu kommen, nicht wahr’). Er reagiert zögernd, weicht aus, bricht die begonnene Formulierung ab und schweigt: ya tabi onlar şey yaptı ama * >ondan sonra/ < ** (‘nun klar, haben die dings gemacht, und dann/ ’). IN vermutet hinter seinem Ausweichen ein emotionales Motiv (hat er die andere frau gern gehabt), das von Yeliz jedoch als unpassend zurückgewiesen wird: der hat sie auch nich gekannt * äh des is tradtionell so * um hand anhalten. Emotionen spielen „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 147 im streng traditionellen Arrangement-Modell keine Rolle, auch nicht in seinem Fall, da seine Eltern um die Hand der Frau anhielten, ohne dass sich die beiden Kandidaten gesehen hatten. Auf IN s Initiative liefert Yeliz ethnografische Informationen zur arrangierten Ehe und kontrastiert sie mit neueren Verfahren der Eheanbahnung. In neueren Verfahren können sich die jungen Leute vor der Ehe kennen lernen, eine Beziehung haben und selbst entscheiden, ob sie heiraten wollen. Die streng traditionelle Form, an der sich auch die Familie ihres Mannes orientierte, ordnet Yeliz einem sozial-kulturellen Milieu zu, in dem die Leute nich in die Schule gehen und nich studieren. Die jungen Männer haben wenig Gelegenheit, selbständig eine Frau kennen zu lernen, da sie ihre Familien- und Dorfgemeinschaft kaum verlassen. Für sie sei die Ehe-Anbahnung über die Eltern halt vielleicht irgendwie der bessere oder der geeignetere Weg. Denn für einen jungen Mann aus dem Dorf sei es unmöglich, eine Frau zu heiraten, die er zufällig kennen gelernt hat, z.B. in der Disko. Ihr Mann bestätigt das: Eine Frau aus der Disko würde er nie ernst nehmen können; das Verfahren des Arrangements über die Familie erscheint ihm wesentlich vertrauenswürdiger. 7.3 Motive für die Heirat Im nächsten Gesprächsabschnitt füllt Yeliz durch die Aufdeckung von Heiratsmotiven weitere Lücken in der bisherigen Darstellung und macht das Geschehen und die Handlungsmotive der Beteiligten besser verstehbar. Als die Interviewerin die Metapher „Sprung ins kalte Wasser“, die Yeliz zur Charakterisierung ihres Hochzeiterlebens verwendet hatte (vgl. Kap. 4), aufgreift und sie auf das Erleben beider Partner beim Ehe-Arrangement bezieht (Z. 780-782), weist Yeliz diese Einschätzung zurück (Z. 785): 780 IN: aso was mich fasziniert an so einer situation wie sie sie 781 IN: geschildert ham * es is für beide für sie wie für ihn en 782 IN: sprung ins kalte wasser oder ↑ seh ich des falsch ↑ 783 YL: mhm ↓ ja: ↓ 784 K ZÖGERND 785 YL: ja ↓ * es liegt daran dass ich sehr mutig war ↑ * und ähm ich 786 YL: hab an mich geglaubt ↑ * und ähm: * 787 IN: warum ham sie des gemacht ↓ 788 IN: was war denn das motiv ↓ * ich mein des=s mutig ↓ is klar ↓ Inken Keim 148 789 YL: ja: ich: es hätte irgendwie mir nich/ äh so schlimm 790 YL: passieren können ↓ aso: * ich hab jetz studiert ↓ un=dann 791 YL: kann ich immer noch aso w/ als geschiedene frau 792 IN: mhm ↓ 793 YL: wenn es nich klappen würde jetz ↓ LACHT kann ich immer 794 IN: mhm ↓ 795 YL: noch weiterhin gut leben ↓ hab ich mir gedacht↓ 796 IN: mhm ↓ 797 YL: ich hab keine angst gehabt davor ↓ bisher hab ich 798 IN: mhm Yeliz widerspricht (Z. 785) und beginnt ihre Sicht auf das Ehe-Arrangement darzustellen. Sie charakterisiert zunächst ihr damaliges Selbstverständnis: es liegt daran dass ich sehr mutig war↑ * und ähm ich hab an mich geglaubt↑ (Z. 785f.), eine Selbstdarstellung als selbstgewisse junge Frau, die IN zur Frage nach dem Motiv des damaligen Handelns veranlasst (warum ham sie des gemacht↑ was war denn das motiv↑, Z. 787f.). Darauf erklärt Yeliz die Beweggründe für ihre damalige Handlung: Sie fühlte sich aufgrund ihrer bildungs- und berufsmäßigen Voraussetzungen sicher und - für den Fall, dass die Ehe nicht funktioniert - würde sie sich scheiden lassen und weiterhin gut leben (Z. 795). D.h. sie sah zum damaligen Zeitpunkt kein großes Risiko bei ihrem Vorhaben, da es für sie im Falle des Scheiterns eine akzeptable Lösung gab. Die Vorstellung, nach der Scheidung weiterhin gut leben zu können, verweist auf die Perspektive einer jungen Frau, die ihr Leben eigenverantwortlich gestaltet. Sie steht in deutlichem Kontrast zu traditionellen Lebensmodellen, wonach geschiedene Frauen in die Herkunftsfamilie zurückkehren - solange, bis sich eine weitere Gelegenheit zur Heirat bietet. 52 Yeliz präsentiert sich hier als selbstgewisse Frau, die ein Wagnis unternimmt und das Risiko genau einkalkuliert. Die Charakteristika der Selbstpräsentation sind ähnlich wie bei der vorherigen Darstellung der Studien- und Berufsentscheidung (vgl. oben Kap. 2) und stehen in maximalem Kontrast zur Selbstdarstellung, die sie im Rahmen der Hochzeitsschilderung vornimmt: Hier die selbstgewisse und vorausplanend Handelnde - dort die passive, sich treiben lassende junge Frau. Diese Unterschiede in der Selbstdarstellung sind weiterhin erklärungsbedürftig. 52 Durch die Scheidung sinkt der Wert der Frau bei einer neuen Ehe-Verhandlung allerdings erheblich; d.h. die Kosten (Brautgeld, Hochzeitsfeier, Geschenke etc.) die bei der Ehe mit einer geschiedenen Frau veranschlagt werden, sind niedriger. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 149 Im Anschluss erklärt Yeliz, warum sie den Schritt in die Ehe erst jetzt gewagt hat. Während des Studiums hatte sie immer angst vor anderen anwärtern, weil sie damals von den Eltern abhängig war und keinen no“ch unselbständigeren mann mi“tnehmen wollte. Die Charakterisierung noch unselbständigerer mann kann sich nicht auf einen deutsch-türkischen Kommilitonen an der Universität beziehen - er wäre (im schlimmsten Fall) ähnlich unselbständig gewesen wie sie -, sondern nur auf einen Heiratsmigranten, der auf jeden Fall unselbständiger ist als sie. Das zeigt, dass sie schon seit längerem davon ausgeht, einen Mann aus der Türkei zu heiraten, da sich vermutlich in der türkischen Gemeinschaft in Mannheim kein geeigneter Partner für sie gefunden hat. Dann präsentiert sie ein weiteres Motiv für die Heirat: Sie wollte ihm helfen, da er auch en bisschen unglücklich [war], dass seine schwester hier war und der bruder hier war, und dass er nicht kommen konnte, ich wollte ihm einfach he“lfen; d.h. sie wollte ihm durch die Heirat die Migration zu seinen Geschwistern ermöglichen. Dieses Motiv ist in der türkischen Gemeinschaft zur Begründung von transnationalen Ehen weit verbreitet. Das Motiv „Hilfe zur Migration“ lässt außerdem die Person, die die Hilfe anbietet, uneigennützig und großherzig erscheinen, eigene Interessen können im Hintergrund bleiben. Als IN fragt, ob der Mann das ebenso sieht (hat er das Gefühl dass sie ihm geholfen ham), wendet sich Yeliz an ihren Mann und übersetzt die Frage. Darauf entwickelt sich zwischen den Ehepartnern eine Diskussion, in der deutlich wird, dass zwischen ihnen in Bezug auf die behandelte Thematik Zweifel und Misstrauen herrschen: 820 YL: >yardım etmek istedim ↓ < farkında mısın onu soruyo ↓ 821 Ü: ich wollte helfen bist du dir dessen bewusst, fragt sie 822 ZA: ehe ehe 823 YL: hissediyor musun yani diyo ↓ *4,0* 824 Ü: merkst du das, fragt sie 825 ZA: ya işte ↓ ** benim gelmem 826 Ü ja, halt für mich war 827 ZA: için geç oldu yani ↓ 828 Ü es zu spät zu kommen 829 YL: ama ben yardım etmek istedim ↓ 830 Ü aber ich wollte helfen 831 YL: onu hissediyor musun ↑ *4,0* 832 Ü merkst du das 834 ZA: bilmiyorum ki yardım 835 Ü: ich weiß es nicht, hast Inken Keim 150 836 YL: he ↑ der weiß es net ↓ nee ↓ 837 ZA: ettin mi ↑ *2,0* LACHT LEICHT 838 Ü du mir geholfen 839 ZA: onun için mi yoksa e: : h * ne bilyim ↑ |evle|nmek 840 Ü: deswegen oder äh was weiß ich weil du 841 YL evlenmek iste|dim ↑ | 842 Ü: ich wollte heiraten 843 ZA: istediğin için mi * |aca|ba bilmiyorum * her kimsen 844 Ü: heiraten wolltest ich weiß nicht man weiß ja 845 YL: |mhm| 846 ZA: içini bilemezsin ki ↓ 847 Ü: bei niemandem, was er denkt 848 YL: der weiß es anscheinend nich ↓ Zafer bezweifelt, dass die von seiner Frau vorgetragene Version - dass sie ihn heiratete, um ihm zu helfen - ihrem wahren Motiv entspricht. D.h. er unterstellt, dass es zwei Motiv-Versionen gibt, die offizielle Version, in der sie sich als uneigennützig Handelnde darstellt und eine inoffizielle, die er nicht kennt, aber vermutet. Die Art und Weise, wie beide mit der Frage dieses Motivs umgehen, enthält deutliche Hinweise darauf, dass es sich um ein heikles Thema handelt: - die z.T. sehr langen Pausen (4 Sek.) zwischen den Redebeiträgen deuten auf sorgsames Formulieren hin; - auf ihre erste Frage >yardım etmek istedim↓< farkında mısın onu soruyo↓ hissediyor musun yani diyo↓ *4,0* (‘ich wollte helfen, bist du dir dessen bewusst, fragt sie, merkst du das, fragt sie’, Z. 820-824) weicht er aus: ya işte↓ ** benim gelmem için geç oldu yani↓ (‘ja, halt, für mich war es zu spät zu kommen’, Z. 825-828); - auf die drängende Reformulierung ihrer Frage ama ben yardım etmek istedim↓ onu hissediyor musun↑ *4,0* (‘aber ich wollte helfen merkst du das’, Z. 829/ 832) reagiert er mit einer zweifelnden Rückfrage: bilmiyorum ki yardım ettin mi↑ (‘ich weiß es nicht, hast du mir geholfen’, Z. 834-838) und leichtem Lachen (Z. 837); - darauf reagiert sie mit dem Ausruf he↑ der weiß es net↓ (Z. 836) und er begründet seine Zweifel durch die generalisierende Feststellung: her kimsen içini bilemezsin ki↓ (‘man weiß ja bei niemandem, was er denkt’, Z. 843-847); - Yeliz wendet sich wieder an die Interviewerin, beantwortet mit der weiß es anscheinend nich↓ Z. (848) deren Eingangsfrage und schließt den strittigen Punkt als weiterhin offen ab. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 151 Diese kurze Interaktion zwischen den Partnern gibt Einblick in den aktuellen Stand ihrer Beziehung, die in Bezug auf die Motivfrage durch Ungewissheit, Zweifel und Misstrauen charakterisiert ist. Durch die Äußerung von Misstrauen hat Zafer seine Frau unter Erklärungsdruck gebracht, dem sie begegnet, indem sie weitere Überlegungen vor der Ehe anführt. Es ging ihr nicht darum, um jeden Preis zu heiraten (sie hatte vorher bereits Gelegenheit dazu), sondern sie wollte die Ehe mit ihm ausprobieren, da sie ihn nett fand (seine menschliche Art war nett ). Dabei hatte sie immer die Idee, wenn es nicht geklappt hätte hätt ich aussteigen können. 53 D.h. Yeliz ist von Beginn an eine Ehe auf Versuchsbasis eingegangen. Der mehrfache Hinweis auf den einkalkulierten Ausstieg aus der Ehe veranlasst IN zur Frage, ob sie nicht hätte allein leben können. In Reaktion darauf deckt Yeliz ihr zentrales Motiv für die Heirat auf: Sie wollte aufgrund der in ihrer Lebenswelt geltenden Normen und Werte nie alleine und unverheiratet leben, da die türkische Kultur es nich so gern sieht wenn Frauen alleine leben. Wenn eine Frau unverheiratet lebt, denken die Leute sie kann eigentlich alles anstellen, sie is frei. In diesem Kontext hat frei die Bedeutung von ‘ungezügelt und ausschweifend leben’. D.h. eine unverheiratet lebende junge Frau steht unter besonderer Beobachtung ihres sozialen Umfeldes, da ihr unterstellt wird, dass sie - da die familiäre Kontrolle fehlt - in ein zügel- und haltloses Leben gerät. Da Yeliz im Rahmen dieser sozialen und moralischen Normen erzogen wurde, war alleine zu leben für sie nie eine Option; die Ehe war die selbstverständliche Konsequenz. Yeliz nennt folgende Gründe für die Heirat mit Zafer, wobei vor dem Hintergrund der bisherigen Darstellung die beiden ersten überzeugend sind: - Aufgrund der Sozialisation in der türkischstämmigen Gemeinschaft war es selbstverständlich und notwendig zu heiraten. Sie war aufgrund ihres Alters unter Zeitdruck. Da Zafer ihr bei der Begegnung in der Türkei nett (ein bisschen sympathisch) erschien, versuchte sie die Ehe mit ihm. - Das persönliche Risiko, die Ehe mit einem weitgehend unbekannten Mann, erschien ihr aufgrund ihrer bildungsmäßigen Überlegenheit kalkulierbar. 53 Die Ehe war wirklich so probieren ob=s funktioniert; wenn nicht, kann man sich scheiden lassen des=s ja kein problem. Allerdings sieht sie eine Scheidung jetzt, nachdem sie das Kind hat, als problematisch. Ohne Kind hätt=es keine probleme gegeben↓ ich hätt mir kei“ne sorgen gemacht mit der scheidung. Diese Formulierung deutet darauf hin, dass sie sich ohne Kind bereits hätte scheiden lassen, dem Kind gegenüber aber verantwortungsvoll handeln will, nach anderen Lösungen sucht (muss halt überlegen) und hofft, dass alles gut wird. Inken Keim 152 - Sie wollte ihm zur Migration nach Deutschland verhelfen, ein Motiv, das er allerdings bezweifelt. Weiterhin ungeklärt bleibt die Frage, wieso Yeliz, nachdem sie bei ihrem Besuch in der Türkei die soziale Herkunft ihres Mannes, seine Familie und seine Lebenswelt kennengelernt hatte, die Differenz zwischen ihren eigenen Ansprüchen an eine Partnerschaft und seinen Vorstellungen nicht erkannt hat, bzw. wenn sie sie erkannt hat, warum sie den Ehe-Anbahnungsprozess nicht abgebrochen hat. 8. Eheliche Situation Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass Zafer einverstanden ist, dass seine Frau nach dem Mutterschutz arbeitet, 54 allerdings nicht aus emanzipatorischen Gründen, sondern weil sein Gehalt nicht zum Familienunterhalt ausreichen würde. IN s Frage, ob der Bildungsunterschied zwischen den Partnern ein Problem sei, löst dann die Darstellung aktueller Beziehungsprobleme aus und die negative Bewertung der Ehe mit einem ungleichen Partner: 900 YL: vom bildungsstand/ standard her is es: - * ähm ** ist er nicht 901 YL: auf meinem niveau ↓ und das: äh: ne“rvt mich manchmal * 902 YL: ich mu“ss ihm immer die zusammenhänge erklären äh: : 903 IN: ja: ↓ 904 YL: ich hab dann nich viel von sei“ner seite aus ↓ 905 IN: und=äh ah ja ↓ 906 YL: des is äh des ähm ja ↓ des is schon=en problem ↓ 907 IN: >ja< ↓ ** 908 YL: des würd ich niemandem empfehlen ↓ 909 K: LEICHT LACHEND 910 IN: wirklich ↑ * >mhm< Yeliz bestimmt die Relation zwischen sich und dem Mann folgendermaßen: Sie ist die Überlegene (er ist nicht auf meinem niveau, Z. 901), er derjenige, der von ihrem Wissen profitiert (ich muss ihm die zusammenhänge erklären, Z. 902). Dass sie dieses Ungleichgewicht nervt, zeigt, dass sie sich an einem egalitären Partnermodell orientiert, und es als Defizit ihrer Beziehung empfin- 54 Für den Fall jedoch, dass er genügend verdienen sollte, will er, dass sen evinin hanımı ol (du Hausfrau wirst). Das ist eine übliche Formel, die verwendet wird für junge Frauen, die nach der Ehe ihren Beruf aufgeben. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 153 det, dass sie nich viel von seiner seite aus hat (Z. 904). Die mit dem Bildungs- und Wissensunterschied verbundenen Probleme stuft sie zwar durch ‘hedges’ herab (schon, manchmal), doch ihre Bedeutung wird in der abschließenden Bewertung klar: des würd ich niemandem empfehlen↓ (Z. 908). Die Äußerung hat die Form eines generellen Appells und einer impliziten Warnung, sich nicht auf derartige Beziehungen einzulassen. Damit ordnet Yeliz ihren Fall und ihre Erfahrung einem bestimmten, sozial-kulturell definierten Konstellationstyp zu, dem „ungleichen Paar“, bestehend aus einer gebildeten Deutsch-Türkin und einem weniger gebildeten Heiratsmigranten mit dörflichem Hintergrund. Sie spricht aus der Perspektive der Expertin, die potenziellen Kandidat(inn)en von einer solchen Verbindung abrät. Der Entwurf dieses Szenarios geschieht vor der Folie eines realen Sachverhalts in ihrer Lebenswelt: der ungleichen Verteilung von gut gebildeten jungen Frauen und weniger gebildeten Männern. 55 Im Gegensatz zu Yeliz stört ihren Mann die Differenz im Bildungsniveau nicht, 56 er kann sich nicht vorstellen, dass Bildungsunterschiede zwischen den Partnern zum Problem werden können. Auch ihre Eltern (obwohl selbst sehr bildungsorientiert) haben den gering gebildeten Schwiegersohn in Kauf genommen. In Bezug auf Bildung und das Erleben von Bildungsdifferenzen distanziert sich Yeliz dezidiert von ihrem Mann und von ihren Eltern. 8.1 Distanzierung vom erlebten Heiratsverfahren Nach weiteren Details zu schwerwiegenden Differenzen zwischen den Ehepartnern 57 stellt die Interviewerin die vor dem Hintergrund der bisherigen Darstellungen naheliegende Frage: 930 IN: würden sie nochmal alles so machen wie sie=s gemacht ham ↑ 931 YL: * ä: h natürlich nicht ↓ ich würde erst mal- gut 932 IN: echt ↑ 55 Es gibt viele „ungleiche Paare“ in der türkischstämmigen Community. Das sind einerseits Paare, die aus einem deutsch-türkischen Partner und einem Heiratsmigranten bestehen; andererseits Paare, die unterschiedliche Bildungskarrieren durchlaufen haben: die Frauen sind in der Regel gut ausgebildet, haben studiert, die Männer sind weniger gut oder gar nicht ausgebildet. In Yeliz' Ehe kommt beides zusammen. 56 Dass sie eine Universitätsbildung hat, stört ihn nicht, da er dafür andere Dinge weiß, so Yeliz. Er sagt, er hätte (im Gegensatz zu ihr) das Leben kennen gelernt. Er hat ihr gegenüber kein Minderwertigkeitsgefühl, sondern er genießt es dass er immer die Informationen durch mich bekommt [...] der hat es gerne wenn ich alles weiß. 57 Differenzen gibt es auch in Bezug auf Kindererziehung: er plädiert für Härte, auch körperliche Strafe, sie verurteilt beides. Inken Keim 154 933 YL: kennenlernen ↓ |des is |wichtig ↑ ä: h und man braucht 934 IN: ja ↓ |ach so ↓ ja ↓ | ja ↓ 935 YL: diese ganzen ke“nnenle“rnpha“sen bevor |man | heiratet ↓ 936 IN: |mhm ↓ | >mhm ↓ < 937 YL: man sollte nicht * so: abrupt |heiraten ↓ | vielleicht is es 938 IN: |mhm ↓ | 939 YL: gut dass ich jetzt geheiratet hab vielleicht auch ni“cht ↓ ich 940 YL: weiß es ni“cht ↓ aber- * es is wichtig dass man vorher 941 IN: mhm ↓ 942 YL: so=ne verlobungsphase hat ↓ |äh | kennenlernpha|se ↓ is wichtig| 943 IN: |mhm ↓ | |>mhm ↓ mhm ↓ < | 944 YL: und wenn man zusammen * ausgeht erst mal is auch wichtig ↓ 945 IN: mhm ↓ 946 YL: nicht nur jetzt ähm kennenlernen |und | kaffee oder so ↓ 947 IN: |mhm ↓ | >mhm ↓ < 948 YL: eine beziehung is schon wichtig ↓ |wenn| man vorher |eine | 949 IN: |mhm ↓ | |ja=ja ↓ | 950 YL: beziehung |hat ↓ | weil so weiß man ob man wirklich zusammen 951 IN: |klar ↓ |>klar< ↓ 952 YL: passt oder |nicht ↓ | 953 IN: |ja: ↓ |ja: ↓ also bei Aus der Rückschau erteilt Yeliz der Art der Ehe-Anbahnung, die sie erlebt hat, eine klare, eindeutige Absage (natürlich nicht↓, Z. 931). Sie plädiert für eine lange und intensive Kennenlernphase, die sie Verlobungsphase (Z. 937) nennt, 58 und die es ermöglicht eine Beziehung aufzubauen und zu entscheiden, ob man wirklich zusammenpasst oder nicht (Z. 950-952). Das Heiratsverfahren, das ihr widerfuhr, charakterisiert sie als abrupt (Z. 937), eine Bezeichnung deren Bedeutung sie kurze Zeit später klärt. Eine voreheliche Phase des intensiven Kennenlernens grenzt sie von rituell vorgesehenen Begegnungen im Rahmen des Arrangement-Modells ab durch: kennen lernen und kaffee oder so (Z. 946). Damit weist sie auf das „Kaffee-Ritual“ im traditionellen Arrangement hin, das stattfindet, wenn die Familie des Mannes die Familie der Frau besucht und 58 Yeliz hatte weder die Verlobungsfeier noch den Henna-Abend erlebt, die rituelle Verabschiedung aus ihrer Familie. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 155 offiziell um die Hand der Tochter anhält. 59 Kennenlernen, wie es im Rahmen der „Kaffee-Rituals“ vorgesehen ist, kontrastiert maximal zu dem Modell, das Yeliz hier propagiert. Sie vertritt ein individuenbezogenes Modell, das auf die beiden Partner orientiert ist und auf die zwischen ihnen entstehende emotionale und soziale Gemeinsamkeit. Dass sie dieses Modell jetzt so nachdrücklich vertritt, hat mit ihrer Erfahrung zu tun: Sie hatte keine Möglichkeit zu prüfen, ob man wirklich zusammenpasst. Und aus ihrer heutigen Perspektive - diese Schlussfolgerung ist impliziert - passen sie und ihr Mann nicht zusammen. Als Yeliz dann auf „Scheidung“ zu sprechen kommt, wird eine weitere Differenz zwischen den Partnern deutlich, die in Zukunft zu schwerwiegenden Eheproblemen führen dürfte: die gegensätzliche Einstellung zu „Scheidung“. Während für Yeliz und ihre Lebenswelt eine Heirat auf Probe, d.h. heiraten und sich dann scheiden lassen im Fall dass es nicht klappt akzeptiert ist, 60 kommt dieses Modell für ihren Mann auf keinen Fall in Frage: bizde yok yani evlenip te boşanmak (‘das gibt es bei uns nicht, also heiraten und sich dann scheiden lassen’); außerdem hat es in seiner Familie noch nie eine Scheidung gegeben. Nach dieser apodiktisch formulierten Position gegen Scheidung deckt Yeliz (nach einigem Zögern) die letzten Hintergründe für die Eheschließung auf und klärt die Frage, warum sie, als sie in der Türkei die Differenzen zwischen beiden erkannt hat, das Heiratsunternehmen nicht abgesagt hat. Sie schildert entwürdigende Erfahrungen, mit denen sie der Interviewerin gegenüber plausibilisiert, wieso sie weiterhin auf eine Scheidung hinarbeitet bzw. aus ihrem Selbstverständnis heraus hinarbeiten muss, obwohl ihr klar geworden ist, dass sie für ihren Mann nicht in Frage kommt. 59 Wenn die Männer beider Familien zur Aushandlung zusammensitzen, bereitet die zukünftige Braut den „Kaffee“, einen besonders starken Mokka, und serviert ihn allen Anwesenden. Das Ritual dient dazu, dass die Braut ihre hausfraulichen Fertigkeiten der Familie des Mannes vorführen kann. Für den Bräutigam kann das Kaffee-Zeremoniell zu einem besonderen Test werden: Die Braut gibt Salz statt Zucker in den Kaffee, um an seiner Reaktion seine Haltung ihr gegenüber zu testen. Reagiert er mit Abscheu, deutet sie das negativ; trinkt er den salzigen Kaffee, ohne sich etwas anmerken zu lassen, deutet sie das als Hinweis auf Liebe und Treue. Im Ehe-Arrangement ist dieses Zeremoniell der erste offizielle Kontakt zwischen dem jungen Paar, das sich nach dem „Kaffee-Ritual“ unter stiller Beobachtung von Familienmitgliedern zu einem kurzen Zweier-Gespräch zurückziehen darf; vgl. auch Teil II, Kap. 2.3 und Teil IV. 60 Für Yeliz' Lebenswelt gilt: des is negativer wenn man ähm eine beziehung [hat]↑ als dass man verheiratet ist und sich dann scheiden lässt. Inken Keim 156 8.2 Heirat unter Druck Auf IN s Bemerkung zu der vorher manifest gewordenen Divergenz in Bezug auf Scheidung ( ja da müssen=se sich zusammenraufen, Z. 980) reagiert Yeliz folgendermaßen: 980 IN: ja da müssen=se sich zusammenraufen ja *denk 981 YL: mhm ↓ *2* mhm ↓ ja ↓ 982 IN: ich schon ↓ >klar ↓ < ** 983 YL: aso des ähm: ** ich: finde es: als ähm 984 YL: *3* also ich finde es jetzt als ähm- * ähm ** studierte frau 985 YL: finde ich es schon wichtig dass man sich kennen lernt ↓ also 986 YL genau kennen lernt ↑ und äh: ** diese phasen sind auch 987 IN: mhm ↓ 988 YL: wichtig für die beziehung hinterher ↓ dass man: nich gleich 989 IN: mhm ↓ Auf IN s Bemerkung reagiert Yeliz zunächst zögernd und bestätigend (mhm↓ ja↓, Z. 981). Dann beginnt sie mit der Formulierung eines neuen Aspekts (aso des ähm: ), zögert, bricht ab, beginnt neu (ich finde es: als ähm), bricht wieder ab und nach einer langen Pause (*3*) beginnt sie mit der Selbstpositionierung als „studierte Frau“ (also ich finde es jetzt als ähm- * ähm, ** studierte frau, Z. 984) und erhebt aus dieser Position heraus den Anspruch auf das von ihr vorher propagierte Ehe-Anbahnungsmodell: finde ich es schon wichtig dass man sich kennen lernt↓ (Z. 985). Dann stuft sie es durch Reformulierung und Präzisierung hoch (also genau kennen lernt↑, Z. 986) und stellt die zentrale Bedeutung auch für das spätere Eheleben dar: und äh diese phasen sind auch wichtig für die beziehung hinterher↓ (Z. 986-988). Durch die explizite Verknüpfung zwischen der Kategorienbezeichnung „studierte Frau“ und dem propagierten Modell erhält letzteres kategorialen Wert im Sinne von ‘für eine studierte Frau kommt nur dieses Modell in Frage’. Damit eröffnet Yeliz den Rahmen für die folgende Darstellung eines Verfahrens, das diesem Modell diametral entgegengesetzt und - so der Umkehrschluss - für sie als Angehörige der Kategorie „gebildete Frau“ absolut inakzeptabel ist. Sie deckt den großen familiären und sozialen Druck auf, der zur ihrer abrupten Eheschließung führte: 990 YL: so: / aber i“ch ich hab keine andere chance gehabt da ↓ 991 IN: mhm ↓ „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 157 992 YL: ich bin/ ich hab schon gesagt ich muss kennen lernen ↓ 993 IN: mhm ↓ 994 YL: ähm: die ham mich aber so“: in die enge getrieben ↓ 995 IN: wer die ↓ 996 YL: die verwandten von ihm ↓ aso schwester und verwandte die hier 997 YL: gelebt haben ↓ und als ich dann in der türkei war ↑ äh 998 IN: mhm ↓ 999 YL: äh ham=se schon die hochzeit organisiert gehabt ↓ 1000 IN: ach gott ↓ 1001 YL: +mhm ↓ ja ↓ * die hochzeit war schon geplant ↓ 1002 IN: wirklich ↑ 1003 YL: als/ |als | ich dann dort war ↓ un=dann musst ich nur des 1004 IN: |mhm ↓ | 1005 YL: brautkleid anziehen und/ dann |äh| 1006 IN: |un| de“s war ihnen vorher nich 1007 YL ä: : hm- ** ja ↓ sch/ 1008 IN: klar ↑ dass des so schnell dann geht ↑ ** 1009 YL: war eigentlich schon klar ↓ aber- ** ich hätte ja immer noch 1010 YL: halt sagen können nei“n ↓ äh ja mit dem gedanken 1011 IN: ja ↓ ja ↓ 1012 YL: bin ich gegangen ↓ aber ↑ * es/ ich hab mich halt so m/ äh wie 1013 YL: sagt man ähm- * +treiben lassen |ja: ↓ | 1014 IN: treiben lassen ↑ |treiben| 1015 IN: lassen ↓ >mhm ↓ mhm ↓ mh ↓ < *2,5* Yeliz schildert noch einmal, dass sie ihren Wunsch nach vorehelichem Kennenlernen geäußert hat (ich hab schon gesagt ich muss kennen lernen↓, Z. 992), jedoch so“: in die enge getrieben↓ wurde (Z. 994), dass sie (das wird durch die sequenzielle Organisation deutlich) in die Türkei reiste und damit nach außen hin ihre Bereitschaft zur Heirat signalisierte. Sie spart aus, von wem und womit sie in die Enge getrieben wurde, doch ihre damalige Situation lässt sich aus dem bisher Dargestellten folgendermaßen rekonstruieren: Yeliz strebt eine Heirat an, weil sie Familie haben will. Sie ist im fortgeschrittenen Alter, hat zum damaligen Zeitpunkt keinen anderen Bewerber und fühlt sich unter Entscheidungsdruck. Das weiß die Schwiegerfamilie. Sie verstärkt den Inken Keim 158 Druck durch die Drohung, dass der Mann in der Türkei in ein Brautwerbeverfahren involviert ist und er sich - vermutlich möglichst schnell - zwischen beiden Frauen entscheiden muss. Wenn Yeliz das Verfahren durch ihren Sonderwunsch ihn erst kennen zu lernen hinausgezögert hätte, 61 hätte der Mann abspringen und die andere heiraten können. Ihr innerer Konflikt war: Wenn sie auf ihrem Ehe-Anbahnungsmodell besteht, beraubt sie sich möglicherweise einer ernstzunehmenden Heiratschance. Sie fährt also in die Türkei. Ihr ist zwar klar, dass sie sich damit weit auf den Heiratsprozess einlässt, 62 doch für sich selbst geht sie davon aus, ich hätte ja immer noch halt sagen können * nei“n↓ * äh ja mit dem gedanken bin ich gegangen↓ (Z. 1004-1012). 63 Doch als sie in der Türkei ankommt, wird sie mit harten Tatsachen konfrontiert: Die Schwiegerfamilie hat schon die hochzeit organisiert, alles ist vorbereitet, auch das Brautkleid ist besorgt, sie muss es nur noch anziehen. Womit Yeliz nicht gerechnet hat ist, dass alle Hochzeitsvorbereitungen bereits getroffen waren, und zwar unter Einbezug der Öffentlichkeit (Organisation des Festes, Einladung der Gäste, Kauf des Brautkleides), so als ob ihre offizielle Zusage vorliegen würde. In dieser Phase des Prozesses konnte sie nicht mehr zurück, ohne alle Beteiligten sozial, emotional und moralisch zu diskreditieren. Wäre sie zurückgetreten, hätte sie das Image des Mannes und seiner Familie vor aller Öffentlichkeit schwer beschädigt, sie hätte ihre eigene Familie und sich selbst in der türkischen Gemeinschaft in Mannheim diskreditiert, weil sie das Verfahren nicht beizeiten abgebrochen hat, und sie hätte sich selbst vor aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht. D.h. die Entscheidungsfreiheit, die sie für sich in Anspruch nehmen wollte, gab es faktisch nicht. 64 Ihre 61 Yeliz hat bisher mehrfach verdeutlicht, dass weder für ihren Mann und seine Familie, noch für ihre eigene Familie eine Kennenlern-Phase wichtig erschien. 62 Das wird auf die Frage der Interviewerin de“s war ihnen vorher nich klar dass des so schnell dann geht↑ deutlich. Yeliz gesteht zu, dass ihr das bewusst war: ä: : hm- ** ja↓ sch/ war eigentlich schon klar↓ aber-. 63 Aus der Perspektive von Serap Devran schätzt Yeliz die Situation und ihre eigene Position innerhalb des sozialen Systems in der Herkunftskultur unrealistisch ein. Obwohl es ihr klar war, dass der Heiratsprozess sehr schnell ablaufen würde, ging sie immer noch davon aus, dass sie die Initiative ergreifen und den Ablauf der Dinge beeinflussen könne. D.h. sie überschätzt ihre Position als Individuum und glaubt eine Lawine aufhalten zu können, nachdem sie sie selbst in Bewegung gebracht hat. 64 Ohne Gesichtsverlust aussteigen wäre nur möglich gewesen - so Serap Devran - wenn sie in Bezug auf den Bräutigam Dinge hätte entdecken können, die bisher verschwiegen worden waren. Ein akzeptierter Grund zum Aussteigen ist z.B. eine schwere Krankheit oder Behinderung des Bräutigams, Vorbestrafung, Sucht, ein uneheliches Kind, geschieden oder allgemein gesellschaftlich stigmatisiert. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 159 Reaktion darauf: durch diese ganzen psychischen Belastungen hab ich mich treiben lassen. Der Schock und das Erwachen kommen dann bei der Hochzeitsfeier. Was Yeliz in dieser Darstellung ausspart, ist die Beteiligung ihrer eigenen Familie an dem Überraschungscoup. Die Hochzeitsvorbereitungen hätten ohne das Wissen der eigenen Familie nicht so weit gebracht werden können. Allem Anschein nach hat die Familie die Aktivitäten der Schwiegerfamilie geduldet, möglicherweise auch unterstützt, und ihr Wissen vor Yeliz geheim gehalten. Kurze Zeit später deckt sie einen Aspekt auf, der die Schilderung ihrer damaligen Zwangslage wieder relativiert und sie als aktiv Handelnde in den Fokus bringt. Da auch der Mann auf ihre Zusage drängte (er war ähnlich wie sie unter familiärem und sozialem Druck) und ihr drohte die andere Frau zu heiraten, hab=isch geheiratet mit der hoffnung / also mit dem gedanken↑ äh falls es nich klappen würde↑ mich doch scheiden zu lassen↓ * so hab ich ihn sicher in der hand gehabt↓. D.h. sie hat zugegriffen, bevor er eine andere heiratet, sich den Wunsch nach Mann und Familie erfüllt und gleichzeitig den familiären und sozialen Druck hinter sich gelassen, mit dem Ausweg „Scheidung“ fest im Blick. Doch nachdem das Kind geboren wurde, ist „Scheidung“ auch für sie etwas in die Ferne gerückt ( jetzt gibt=s erstmal keine alternative mehr); aus Rücksicht auf das Wohl des Neugeborenen sieht sie nur die Möglichkeit, sich zumindest in der nächsten Zeit mit dem Mann zu arrangieren. Exkurs: Informantinnen aus dem sozialen Umfeld von Yeliz bestätigen ihre Version, dass sie mit der Trauung in der Türkei überrumpelt wurde und dass sie, als sie hinflog, nicht wusste, dass Trauung und Hochzeitsfeier bereits vorbereitet waren. Ein Indiz dafür ist, dass Yeliz ihre Freundinnen in Mannheim nicht über die Hochzeit informiert hat. Für eine Braut ist es selbstverständlich, dass sie ihre Freundinnen frühzeitig informiert und zum Henna-Abend und zur Hochzeitsfeier einlädt. Wenn sie es nicht tut, ist das ein starker Affront mit entsprechenden sozialen Konsequenzen. Dass Yeliz keine entsprechenden Informationen an die Freundinnen gab, sehen diese als sicheren Beleg dafür, dass sie nichts wusste. Aus der Perspektive der Freundinnen wurde Yeliz mit der vorbereiteten Hochzeitsfeier vor Tatsachen gestellt, vor denen sie nicht mehr ausweichen konnte. Ein weiteres Indiz ist, dass der Mann keineswegs Yeliz' Vorstellung von einem Ehepartner entsprach. Ihr Traum war, einen gebildeten Deutschtürken zu heiraten, der aus einer guten Familie stammt. Sie wollte eine schöne Hochzeitsfeier haben und mit ihren Freundinnen feiern; sie wollte als Braut schön aussehen. Auch nach der Rückkehr aus der Türkei wurde deutlich, dass Yeliz von der eigenen Familie zur Heirat mit dem Mann gedrängt wurde. Während des ersten Ehejahres fühlte sie sich unglücklich, alles war viel zu schnell gegangen und sie wusste immer noch nicht was mit ihr passiert war. Inken Keim 160 Von Yeliz' Mutter wird berichtet, dass sie zu einer Nachbarin gesagt hat, wir haben sie verheiratet, wenn es nicht klappt, kann sie sich scheiden lassen. Für die Mutter war es nicht wichtig, ob Yeliz glücklich wird; wichtig war nur, dass sie geheiratet hat, denn wenn sie sich scheiden lässt, kann sie immerhin sagen ich war verheiratet. Die „schnelle“ Heirat von Yeliz wurde in der türkischen Gemeinschaft kommentiert und negativ beurteilt; die Leute fragten sich warum so schnell? was sind die Gründe? Da solche Reaktionen für Yeliz' Familie antizipierbar gewesen sein müssen, sie aber trotzdem das Verfahren durchgezogen und einen Imageverlust in Kauf genommen hat, sehen die Informanten als Hinweis darauf, wie mächtig der Druck zur Heirat in der Familie gewesen sein muss. Am Beispiel von Yeliz wird die hohe soziale Bedeutung von „Heirat“ offenkundig, da nur die Ehe als Lebensmodell sozial akzeptiert ist. Auch andere Informantinnen berichten, dass der familiäre und gesellschaftliche Druck enorm ist: Heiraten ist selbstverständlich, unverheiratete, alleinstehende Frauen sind die Ausnahme und sind mit dem ständigen Druck ihrer Familie, endlich zu heiraten, konfrontiert. 65 8.3 Typizität des Auswegs für den Mann: Abhauen Nach der Klärung des vergangenen Geschehens aus der Perspektive von Yeliz wendet sich die Interviewerin der Situation des Mannes zu: ich denk ihm geht=s auch nicht gut. Yeliz erklärt, dass die Ungewissheit über seine Zukunft ihn pessimistisch macht (er weiß nicht ob er=s hier beherrscht, deshalb is er pessimistisch). Die Darstellung seiner Lage führt zur allgemeinen Darstellung der Situation von Heiratsmigranten, zu der sie feststellt: des gibt viele männer * die gehen dann wieder zurück↓, 66 und wendet sich dann an ihren Mann: 1040 YL: die gehen dann wieder zurück ↓ * erkekler kaçıyo di=mi ↑ 1041 Ü die Männer hauen ab, nicht wahr 65 Diese Beschreibung der türkischen Gemeinschaft wird gestützt durch eine aktuelle Nachricht im Mannheimer Morgen vom 20.04.2010, S. 14. Unter dem Titel „Türken heiraten eher als Deutsche“ heißt es: Nach einer Befragung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ist die „Ehe für junge Türken in Deutschland die erste Wahl“. Während bei jungen Deutschen „nichtkonventionelle Lebensformen“ fest etabliert sind, kommen sie bei gleichaltrigen Türken kaum vor; Zusammenleben ohne Trauschein gaben nur 2,7% der Befragten an; auch ein Leben als Single ist unüblich. 66 Yeliz unterscheidet zwei Typen: Heiratsmigranten, die mit der Frau zusammen bei deren Eltern wohnen; für sie sieht sie keine Zukunft in Deutschland: bei manchen is es so dass die bei den Eltern wohnen↑ und die flüchten wirklich nochmals zurück in die Türkei↓. Die anderen haben einen eigenen Hausstand gegründet; ihnen gibt sie eine etwas bessere Prognose, da sie getrennt von den Schwiegereltern leben und sich nicht unterordnen müssen. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 161 1042 YL: bunalım geçiriyorlar↓ he: ↓ türkiye 1043 Ü sie werden depressiv ja sie hauen in 1044 ZA: nasıl ↑ burda mı ↑ 1045 Ü wie? hier 1046 YL: kaçıyorlar ↓ nasıl ↑ 1047 Ü die Türkei ab wie? 1048 ZA: burda kaçıyo zaten ↓ ** ya burda- 1049 Ü hier hauen sie sowieso ab ja, hier / 1050 ZA: yan=benim gibi gelenler ↑ türkiyeye kaçıyo ↓ çoğunu kaçıyo ↓ 1051 Ü also wenn sie wie ich gekommen sind, hauen sie in die Türkei ab, 1052 Ü die meisten hauen ab 1053 YL: |er hat=s| 1054 ZA: | ağabim | ablam olmasa ben de kaçardım yani ↓ 1055 Ü wenn mein Bruder, meine Schwester nicht wären, würde ich auch abhauen 1056 YL: mhm ↓ 1057 IN: ham sie: - * von den frauen wo sie da reden also die Gemeinsam charakterisieren Yeliz und Zafer die Situation von Heiratsmigranten, generalisieren deren Eigenschaften und Handlungsweisen und bestätigen sie wechselseitig. Gemeinsam stellen sie die soziale Kategorie „Heiratsmigrant“ als Erleidenskategorie her mit den Eigenschaften: sie scheitern in der Migration, werden depressiv und fliehen zurück in die Herkunftsgesellschaft. Dann ordnet sich Zafer ebenfalls dieser Kategorie zu: wenn sie wie ich gekommen sind, hauen sie in die Türkei ab, die meisten hauen ab und stellt seinen Fall als exemplarisch für die Kategorie „Heiratsmigrant“ dar. „Abhauen“ wird zur typischen Reaktion auf eine familiär und sozial äußerst unbefriedigende Situation, in der es nicht gelungen ist, die Rolle des Ehemanns auszufüllen und soziales Ansehen zu erlangen. Dass Heiratsmigranten einfach abhauen können, zeigt aber auch, dass sie sich in der Herkunftsgemeinschaft ohne große Verluste wieder eingliedern und ein sozial akzeptiertes Leben gestalten können. Zafer belegt sein Wissen über Heiratsmigranten durch Beispiele aus seinem Bekanntenkreis; d.h. er ist Teil eines Netzwerkes von „Schicksalsgenossen“, vergleicht seine mit ihrer Situation und arbeitet Unterschiede in Bezug auf Chancen und Risiken heraus. Aus Zafers Perspektive ist die zentrale Bedingung für das Überleben in der Migration die Unterstützung durch seine Herkunftsfamilie, die vor ihm migriert ist: ağabim ablam olmasa ben de kaçardım yani (‘wenn mein Bruder, meine Schwester nicht wären, würde ich Inken Keim 162 auch abhauen’). Nicht die neue Familie bindet ihn, sondern die Herkunftsfamilie, sie gibt ihm emotionalen und sozialen Rückhalt. Auch ökonomische Unterstützung kann er eher von der Herkunftsfamilie, als von der Schwiegerfamilie erwarten. 67 Emotionale und moralische Erwägungen der neuen Familie gegenüber, z.B. die Bindung an sein Kind, kommen in dieser Darstellung nicht vor. Hier wird auch deutlich, dass Zafer die apodiktische Ablehnung einer Scheidung nur auf der Basis der Unterstützung durch die Geschwister aufrechterhalten kann; hätte er sie nicht, würde er einer Scheidung vermutlich nicht mehr entgegenstehen. 8.4 Typizität des Auswegs für die Frau: Frei-werden durch Scheidung Als die Interviewerin nach weiteren Fällen fragt, generalisiert auch Yeliz ihre Vorstellung von der Lösung ihres Eheproblems. Sie verweist auf junge Frauen in Mannheim, die ebenfalls einen Mann aus der Türkei geheiratet, aber noch kein Kind haben und also immer noch aussteigen können. Die generalisierende Feststellung der Interviewerin, dass Frauen wie Yeliz mit der idee des aussteigens heiraten, beantwortet sie klar und eindeutig durch: des hab ich ja. Yeliz' letzte Äußerung bei der Verabschiedung an der Wohnungstür macht dann auch deutlich, dass sie trotz der schwierigen Lage eine befriedigende Zukunft vor sich sieht: Leise, so dass der Mann es nicht hören kann, sagt sie: ich kann mich später immer noch scheiden lassen und dann alleine leben mit dem Kind, ich hab ja meinen Beruf, eigentlich fühl ich mich frei. Yeliz' Plan für die Zukunft sieht also folgendermaßen aus: auf die Scheidung hinarbeiten in einer Art und Weise, dass auch Zafer sie als Ausweg akzeptiert, 68 und dann als berufstätige Frau mit dem Kind alleine leben. Die abschließende Bewertung ihrer Situation eigentlich fühle ich mich frei zeigt, dass sie aus der heutigen Perspektive davon ausgeht, dass es ihr trotz der schlimmen Erfahrungen gelingen kann, das zu erreichen was sie wollte: sich frei zu fühlen. In diesem Kontext bedeutet frei ein eigenständiges Leben führen, emotional befriedigend durch die Beziehung zu dem Kind, ohne sozialen Druck und ohne die 67 Dass Geschwister, auch wenn sie eine eigene Familie haben, sich finanziell unterstützen, wenn der eine in Not geraten ist, gegebenenfalls gegen den Willen der eigenen (neuen) Familie, habe ich in mehreren Fällen gehört. 68 Diese Äußerung von Yeliz unterstützt die in Kap. 6.1 angeführte Deutung: Yeliz scheint strategisch zu handeln, um durch ein Scheitern des Mannes, zu dem sie beiträgt, ihn und die beiden Familien von der Notwendigkeit einer Scheidung zu überzeugen. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 163 belastende Beziehung zu dem Mann. 69 Der Ausweg aus der persönlichen (Ehe-)Katastrophe erscheint ihr durch Kompetenzen möglich, die sie in der Migration erworben hat; ihre persönliche und berufliche Eigenständigkeit. 9. Fazit Im Gespräch mit Yeliz und ihrem Mann wird an vielen Stellen der Zusammenhang zwischen Einzelschicksal und den Strukturen, Normen und Werten des sozialen Milieus, aus dem die Personen kommen, manifest: bei der Planung, Durchführung und Darstellung von Handlungen, bei der Bewertung von Handlungsschritten und in verschiedenen Darstellungsformaten und Ausdrucksweisen. Dass Yeliz' Fall kein Einzelfall ist, sondern in den grundlegenden Strukturen typisch für eine bestimmte Konstellation des „ungleichen Paares“ in der türkischen Migrantengemeinschaft, macht sie selbst deutlich. Die normative Voraussetzung für ihr Handeln ist, dass es in ihrer Lebenswelt nicht akzeptiert ist, dass junge Frauen unverheiratet leben. Der gesellschaftliche Druck auf junge Frauen verstärkt sich, wenn sie das Alter von Mitte bis Ende 20 erreicht haben. Wenn der Druck zu groß wird, heiraten sie gegebenenfalls auch einen ungeeigneten Partner mit der „Idee des Aussteigens“, da es in ihrer Lebenswelt sozial eher akzeptiert ist, wenn sie als Geschiedene alleine leben, als wenn sie unverheiratet einen eigenen Haushalt führen. Die sozialen Kategorien zur Selbstdarstellung und die Formate, die Yeliz verwendet, sind rekonstruierbar aus den unterschiedlichen sozial-kulturellen Orientierungen und Leitmodellen für adäquates Handeln: Einerseits die Selbstdarstellung als selbstbestimmte und überlegt handelnde Frau, andererseits die Selbstdarstellung als passive Frau, die es zulässt, dass andere sie instrumentalisieren. Die Spezifik der Gesprächssituation, der Beteiligungsrollen der Gesprächspartner und die Anforderungen des wechselseitigen „Face“-Schutzes motivieren die Verwendung bestimmter Formulierungsverfahren, herabstufende, verschleiernde, verharmlosende und ausblendende Verfahren. Das macht die Analyse des Gesprächs aufwändig und komplex. In Yeliz' Darstellung lassen sich folgende Differenzen zwischen dem Ehepaar rekonstruieren, die durch die Migration bedingt sind und die die gegenwärtigen Probleme auslösten: Beide Familien haben ursprünglich einen ähnlichen sozial-kulturellen Hintergrund, stammen aus einer dörflichen Lebenswelt der Türkei und orientieren sich an ähnlichen Traditionen, Normen und Werten. Für beide Familien ist die Verheiratung der Kinder eine unabdingbare Not- 69 Im Gegensatz dazu bedeutete frei im Kontext oben Kap. 7.3 ‘ohne soziale Kontrolle leben’ und ‘die Möglichkeit zu einem ausschweifenden Leben haben’. Inken Keim 164 wendigkeit, und beide sehen in einem Ehe-Arrangement ein normales und vertrauenswürdiges Verfahren. Doch im Unterschied zur Familie des Mannes hat Yeliz' Familie in der Migration eine hohe Bildungsorientierung entwickelt und strebt über gute Bildungsabschlüsse den sozialen Aufstieg an, bei gleichzeitiger Beibehaltung traditioneller Lebensentwürfe für die Töchter. Die im Bildungsprozess entwickelten Vorstellungen zu einem eigenständigen und selbstbestimmten Leben kontrastieren zu den traditionell-kollektivistischen Lebensentwürfen der Umwelt und führen für Yeliz zu einem unauflösbaren Konflikt: Unter der normativen Vorgabe, wonach eine Ehe unausweichlich ist, lässt sie sich auf einen aus ihrer Perspektive unwürdigen Prozess der Ehe- Anbahnung ein. Sie beugt sich dem sozialen Druck in dem Glauben, dass für sie als „gebildete Frau“ das persönliche Risiko, sich auf ein traditionelles Verfahren einzulassen, relativ gering ist. Sie kommt in die Zwangssituation, weil sie der Selbsttäuschung erliegt, bis kurz vor Ende des Verfahrens noch „aussteigen“ zu können. Und sie schätzt die soziale Macht und Konsequenzhaltigkeit des traditionellen Verfahrens falsch ein, das sie zwar kannte, das aber vermutlich in ihrem studentischen und beruflichen Alltag weit in den Hintergrund getreten und verblasst ist. Sie glaubt, ihre individuelle Stärke einer mächtigen sozialen Institution entgegenstellen zu können, von der sie dann vereinnahmt wird. Zu Yeliz' Selbstbild als „gebildete Frau“ gehört, dass die Partner (und nicht die Familien) vor einer Ehe-Entscheidung genügend Zeit und Raum haben, um zu prüfen, ob sie individuell zusammenpassen oder nicht. Die Hervorhebung der eigenständigen, individuellen Entscheidung ist ein eindeutiges Indiz für die Differenz zwischen den sozialen Orientierungen ihrer Eltern und ihres Mannes einerseits, und den eigenen andererseits, die sie durch Sozialisation in einer Lebenswelt in der Migration entwickelt hat, in der Bildung und Individualität als erstrebenswert gelten. Dieser Widerspruch wird Yeliz beim Durchleiden des Hochzeitsverfahrens schockartig klar: Sie hat sich - metaphorisch ausgedrückt - „sehenden Auges“ in ein soziales Arrangement treiben lassen, das für sie inakzeptabel und erniedrigend war und das aus heutiger Sicht für beide Partner zur Katastrophe führte. Ihre auf Bildungserfolge gegründete Selbstgewissheit hat zur Fehleinschätzung der sozialen Macht des traditionellen Verfahrens beigetragen; gleichzeitig aber bietet sie auch die Möglichkeit zur Lösung der gegenwärtigen Probleme: Yeliz ist zuversichtlich, dass es ihr gelingt, über den Umweg einer inakzeptablen Ehe und einer Scheidung ihr Lebensziel „frei zu leben“ doch noch zu erreichen. Auch in dieser Hinsicht ist ihr Fall kein Einzelfall. „Ich hab geheiratet mit dem Gedanken mich scheiden zu lassen“ 165 10. Literatur Apitzsch, Ursula (2003): Migrationsbiographien als Orte transnationaler Räume. 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Gegenstand und Ziel Gegenstand meines Beitrags ist die Heiratsmigrantin Gönül, die ihre Ehe mit einem Deutsch-Türken als „unglücklich“ charakterisiert. Gönül stammt aus Bursa und wurde als junges Mädchen mit einem Mann aus Deutschland verheiratet. Sie migrierte nach Deutschland und lebt seit 14 Jahren hier. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Gönül bereits fünf Jahre von ihrem Mann getrennt. Sie ist 35 Jahre alt und Mutter von drei Kindern; zwei der Kinder erzieht sie allein, das älteste lebt bei den Schwiegereltern bzw. beim Vater. Ich habe Gönül im Deutschkurs kennengelernt, 1 in dem ich unterrichtete. Hier erlebte ich sie als selbstbewusste und im Rahmen ihrer Möglichkeiten - sie verfügte nur über geringe Deutschkenntnisse - selbständige Frau. Sie hatte keine Scheu ihre Meinung offen auszusprechen, zu kritisieren und ihr Recht einzufordern. Sie hatte schon mehrmals im Unterricht über ihre Ehe und die Trennung von ihrem Mann erzählt, bevor ich sie um ein Interview bat. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie anonym bleibt, stimmte sie zu. Das Gespräch beginnt im Klassenzimmer der Schule. Als das Zimmer von einer anderen Klasse gebraucht wird, gehen wir in ein türkisches Café in der Nähe der Schule. Grundlage der folgenden Analyse ist das ca. zweistündige Gespräch mit Gönül. Das Gespräch war aus folgenden Gründen interessant und aufschlussreich: - Gönül spricht sehr offen über das Zustandekommen und den Verlauf ihrer Ehe. Dabei erwies sie sich als versierte, routinierte Erzählerin und erweckte den Anschein, als ob sie ihre „Geschichte“ schon häufiger erzählt habe. - Gönül orientiert sich sehr stark an den Familienrollen im traditionellen Familienmodell mit festgeschriebenen Aufgaben und Pflichten. Das zeigt sich nicht nur an ihrem Verhalten, sondern auch an ihrer Darstellungs- und Formulierungsweise. Sie verwendet ein festes Inventar von Familienkategorien mit kategoriengebundenen Aufgaben und Pflichten. Und sie bedient sich vieler Formeln, Routinen und Stereotype, die auf typische Familienpflichten und -aufgaben bezogen sind. 1 Der Deutschkurs wurde im Rahmen des Urban-Projekts organisiert; vgl. hierzu Teil VII. Emran Sirim 170 - Im Lauf des Interviews kritisiert Gönül das traditionelle Familienmodell in zunehmendem Maße bis hin zur Ablehnung. Aufgrund des gemeinsamen kulturellen Hintergrunds frage ich an vielen Stelle nicht gezielt nach Hintergrundinformationen bzw. hinterfrage manche Aussagen von Gönül nicht, so dass sich zwischen uns bald ein Gespräch wie unter Vertrauten entwickelt. Aufgrund des gemeinsamen kulturellen Wissens ist auch an heiklen Stellen im Gesprächsverlauf ein reibungsloser interaktiver Austausch möglich. Ich konnte die „richtigen“ Fragen stellen, die einer kulturell Fremden nicht möglich gewesen wären, und die der Interviewten das Gefühl vermittelten, dass ich sie verstand. Das will ich an einem kleinen Beispiel zeigen: Als Gönül ( GL ) beschreibt, wie sie unter dem ständigen Fernbleiben ihres Mannes leidet, frage ich ( EM ), ob sie von ihren Schwägerinnen keine Unterstützung bekam: 317 GL: |çoh ağlıyodum ↓ | Ü: Ich weinte sehr. EM: |görümcelerin ve| eltilerin de mi: pek ilgilenmiyordu seninle ↑ Ü: Haben sich auch deine Schwägerinnen nicht so um dich gekümmert? Die Frage nach der Unterstützung durch die Schwägerinnen ist folgendermaßen motiviert: In der türkischen Gesellschaft sind Eheprobleme ein eher heikles Thema und werden nur mit den nächsten weiblichen Verwandten besprochen, da nur sie Unterstützung bieten können. Außenstehende, wie z.B. Freundinnen oder eine Beratungsstelle, würde Gönül nie um Rat fragen, da sie nicht die Möglichkeit haben, aktiv in das innerfamiliäre Geschehen einzugreifen und Gönül den Schwiegereltern oder dem Mann gegenüber tatkräftig zu unterstützen. Für Gönül sind die Schwestern ihres Mannes die nächsten zugänglichen Verwandten; alle weiblichen Mitglieder ihrer Herkunftsfamilie leben in der Türkei. Deshalb frage ich nach dem Verhalten der Schwägerinnen, die die einzigen Personen sind, von denen sie Hilfe erwarten kann. Ziel meiner Analyse ist es, die Kategorie der traditionellen, türkischen Familie zu rekonstruieren und Gönüls Rolle innerhalb dieser Familienkonstellation zu beschreiben. Dabei sind folgende Fragen von Interesse: - Aus welcher Familie kommt Gönül? Wie ist sie strukturiert? - Wie kommt die Heirat zustande? Welche Traditionen und Riten spielen eine Rolle? „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 171 - In welche Familie heiratet Gönül? Wie sind die Aufgaben und Pflichten der Familienmitglieder bestimmt und wie sind die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander geregelt? - An welcher Ehe- und Familienrolle orientiert sich Gönül und wie stellt sie sich in Relation zu anderen Familienmitgliedern dar? - Was sind die Gründe für das Scheitern der Ehe? Gönül stellt sich vor allem zu Beginn des Gesprächs als leidende Frau dar, die in die Rolle des Opfers gerät, weil sie sich an den vorgegebenen Rollenanforderungen einer „guten“ Tochter, Schwiegertochter und Ehefrau orientiert. Ihre Beteiligung am Geschehen wird oft herabgestuft und ihre Ahnungslosigkeit hervorgehoben. In diesem Zusammenhang sind folgende Fragen relevant: - Gibt es Brüche in ihrer Selbstdarstellung als Opfer und in welchen Zusammenhängen? - Gibt es weitere Selbstbilder und wie sehen sie aus? Die Analyse folgt dem Lauf der Ereignisse, wie sie Gönül in ihrer biografischen Darstellung präsentiert. Sie orientiert sich im Wesentlichen an der chronologischen Abfolge der Ereignisse: Verlobung, Eheschließung, Migration nach Deutschland, Leben in der Schwiegerfamilie und Scheitern der Ehe. 2. Verlobung und Eheschließung Ich beginne das Gespräch mit der Frage nach Gönüls Kindheit und ihrer Familie. Sie erzählt, dass sie das fünfte von acht Kindern - vier Jungen und vier Mädchen - ist. Danach geht sie übergangslos auf die Bildung der Geschwister ein und erzählt, dass mit Ausnahme der ältesten Schwester trotz ihrer schwierigen finanziellen Situation allen eine Schulbildung ermöglicht wurde. Die meisten haben - wie Gönül auch - einen Lise-Abschluss. 2 Gönüls eigentliche Ambition war es, Jura zu studieren; auch ihr Vater hatte den Wunsch, dass zumindest eines seiner Kinder Richter oder Anwalt würde. Gönül erreicht ihren Lise-Abschluss vorzeitig, 3 d.h. sie war eine außerordentlich gute Schülerin und hatte die Fähigkeiten und den Willen zu einem Studium. Sie erwähnt dieses Detail, da es für die Einführung des eigentlichen Themas - die völlig über- 2 Das lise entspricht in etwa dem deutschen Gymnasium, dauert drei bis vier Jahre und ist allgemeinbildend, berufsbildend oder technisch. Der Abschluss berechtigt zur Teilnahme an den Aufnahmeprüfungen an einer Universität. 3 In der Türkei ist es möglich, bei entsprechend guten Noten die Schule schon nach dem ersten Schulhalbjahr der Abschlussklasse zu beenden. Emran Sirim 172 raschend erfolgte Verlobung und anschließende Eheschließung - relevant ist und Gönüls Ahnungslosigkeit in Bezug auf Brautwerbung und Verlobung plausibilisiert. Vor der Analyse der Schilderung der Verlobung stelle ich in einem Exkurs den typischen Verlauf einer Brautwerbung dar, das Um-die-Hand-Anhalten und die anschließende Verlobungszeremonie. Exkurs 1: Brautwerbung, Um-die-Hand-Anhalten und Verlobungszeremonie 4 Der Brauch des ‘Um-die-Hand-Anhaltens’ ist in der türkischen und in der gesamten islamisch-orientalischen Kultur verbreitet. Er ist ein wesentlicher Bestandteil im Prozess der Eheschließung und wird auch dann eingehalten, wenn das Paar sich nicht über Dritte kennengelernt hat, es sich also nicht um eine arrangierte Ehe handelt. Die Werbung folgt dabei einem rituellen Verlauf, der streng eingehalten werden muss, auch dann, wenn dem Brauch nur pro forma gefolgt wird. 5 Wenn ein junger Mann bereit ist, zu heiraten, beginnen die Mutter und weitere in der Regel weibliche Familienmitglieder, sich nach einer geeigneten Frau für ihn umzusehen, falls er sich nicht bereits eine Frau ausgesucht hat. Die Suche bezieht sich zunächst auf den Bekanntenkreis und - je nach Herkunftsregion 6 - auch auf die Verwandtschaft. Die zukünftige Braut soll möglichst aus der gleichen Region stammen und dem gleichen Glauben angehören. Oft macht die Mutter den Heiratswunsch des jungen Mannes auch publik, um auf diese Weise ihr näheres Umfeld, Bekannte und Nachbarinnen, zu mobilisieren. Hierfür werden Formeln verwendet wie oğlumuzu evlendirmek istiyoruz (‘wir wollen unseren Sohn verheiraten’) oder tanıdığınız iyi bir aile kızı var mı (‘kennt ihr ein Mädchen aus guter Familie’). Wird ein Mädchen mit gutem Ruf empfohlen, besuchen die Brautschauer die Familie des Mädchens ein oder mehrere Male, um die Braut und ihre Familie in Augenschein zu nehmen. Dabei wird nicht nur auf die äußerliche Erscheinung des Mädchens geachtet, sondern besonders auch auf ihr Benehmen gegenüber den Gästen. Hat die Familie des Mannes einen positiven Eindruck gewonnen, kündigt sie - meist telefonisch - einen weiteren Besuch an und deutet dabei mit den Worten hayırlı bir iş için geleceğiz (‘wir werden für eine segensreiche Tat kommen’) an, dass sie nicht als Gäste, sondern als Brautwerber kommen werden. Während dieses Besuches sind meist die gesamte Familie des Man- 4 Die Vorgehensweise bei der Brautwerbung wird auch von Straßburger (2003) beschrieben; vgl. auch Teil II. 5 Auch wenn ein Paar sich seit langem kennt und dann beschließt zu heiraten, besucht die Familie des Bräutigams die Familie der Braut, um beim Vater um die Hand der Braut anzuhalten. Mit der Einhaltung und Durchführung dieses rituellen Brauchs bekräftigt das Paar auch in modernen Familien seine Heiratsabsichten und eröffnet damit die Hochzeitsvorbereitungen. 6 In manchen Regionen der Türkei, wie z.B. Thrazien, wird streng darauf geachtet, dass keine Blutsverwandtschaft zwischen heiratswilligen Paaren besteht. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 173 nes sowie die Eltern und Geschwister des Mädchens anwesend. Nach einem kurzen Gespräch, an dem sich nur die Eltern, evtl. auch die verheirateten Geschwister beteiligen, jedoch nicht die jungen Leute selbst, eröffnet der Vater des jungen Mannes die Brautwerbung mit der Formel Allahın emri peygamberin kavli ile kızınızı oğlumuza istiyoruz (‘Auf Gottes Befehl und mit den Worten des Propheten wollen wir ihre Tochter für unseren Sohn.’). In der Regel reagiert der Brautvater mit der nötigen Zurückhaltung und vertröstet die Brautwerber mit den Worten, dass die Familie es sich überlegen muss. Eine sofortige Zusage wäre nicht schicklich und würde den Anschein erwecken, dass die Eltern das Mädchen loswerden wollen. Nach dem Besuch beginnt die Familie der jungen Frau Erkundigungen über die Brautwerber einzuholen. Hierbei sind das Ansehen der Familie und der Ruf des jungen Mannes von besonderer Bedeutung. Der Mann muss eine (gute) Arbeit haben, um später eine Familie versorgen zu können und darf über keine schlechten Angewohnheiten (wie z.B. Alkoholkonsum, Glücksspiel) verfügen. Mit der Tochter sprechen meist die Mutter oder die älteren Schwestern. Wenn die Tochter ihr Einverständnis gibt und für den Brautvater und die anderen männlichen Familienmitglieder nichts gegen die Verbindung spricht, wird die Tochter dem jungen Mann versprochen. Die anschließende Verlobung kann im kleinen Rahmen, also nur in Anwesenheit der beiden Familien, erfolgen. Hierfür wird die Familie des Mannes von der Familie der Braut eingeladen, und im Beisein aller Familienmitglieder werden den jungen Leuten die Verlobungsringe angesteckt. Die Verlobung kann aber auch mit einem großen Fest gefeiert werden, das ähnlich wie eine Hochzeitsfeier verläuft: 7 hier tauscht das Paar die Ringe in Anwesenheit der Gäste. Mit der Verlobungsfeier ist das Paar offiziell verlobt und kann sich in der Öffentlichkeit zeigen. In eher traditionellen Familien ist es jedoch nicht üblich, dass das Paar sich ohne Begleitung trifft. In der Regel begleitet ein weibliches Familienmitglied die Braut bei Treffgelegenheiten außer Haus. Die Verlobungsphase dient dem gegenseitigen Kennenlernen und kann zwischen wenigen Monaten bis hin zu zwei Jahren dauern. In dieser Zeit hat das Paar Gelegenheit, zu prüfen, ob sie zueinander passen, und Zukunftspläne zu schmieden. Die Zeit dient der Brautfamilie, die Aussteuer vorzubereiten, und der Bräutigamfamilie, die Hochzeitsvorbereitungen zu treffen. Die Dauer der Verlobungszeit muss wohlüberlegt sein, da eine zu kurze wie auch zu lange Verlobungszeit zu Klatsch führen kann. Eine zu schnelle Hochzeit ist für die Familie der Braut nicht schicklich, da dies den Eindruck erweckt, dass womöglich mit der Braut ‘etwas nicht stimmt’. Das Hinauszögern der Hochzeit wiederum kann dahingehend interpretiert werden, dass der Bräutigam es nicht ernst meint und die Braut nur hinhält. Beide Fälle sind problematisch, da sie das Ansehen vor allem der Familie der Braut in der Gesellschaft schädigen. Außerdem versucht die Familie des Bräutigams eine zu lange Verlobungszeit zu vermeiden, da dies mit Kosten verbunden ist. Schließlich erhält die Braut zu jedem religiösen Fest (Opfer- und Zuckerfest) und zu jeder persönlichen Feier (Geburtstag, Silvester) teure Geschenke. 7 Zur Beschreibung einer Hochzeitsfeier vgl. Teil III. Emran Sirim 174 2.1 Verlobt ohne gefragt zu werden Gönüls Ehe wird ohne ihr Wissen vom Vater zu einem Zeitpunkt arrangiert, als sie es am wenigsten erwartet. Sie ist gerade 17 Jahre alt und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfungen an der Universität vor. Sie verfolgt also ganz andere Ziele, ist bestrebt, den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen und einen Studienplatz für Rechtswissenschaften zu bekommen. An Heirat denkt sie nicht und sie rechnet auch keineswegs damit, dass ihre Familie Heiratspläne für sie unterhält. Während der Halbjahresferien, kurz nachdem Gönül das lise abgeschlossen hat, besuchen die Brautschauer ihre Familie. Gönül führt selbstinitiiert in das Thema ein und stellt das Zustandekommen des Ehearrangements ohne Nachfragen durch die Interviewerin dar: 25 GL: ben kendim de liseyi bitirdim ↑ lise e: h onbeş tatilinde ↑ hani Ü: Ich habe auch das lise beendet. Lise äh während der 26 GL: bitiriyorsun ya ↑ lise son sınıfın ↑ Ü: fünfzehntägigen Ferien, wenn man doch fertig ist. Auf dem lise EM: mhm ↓ mhm ↓ 27 GL: on |beş tatilinde ↑ | evet ↓ ondan Ü: während der Halbjahresferien. Ja. Und dann, während dieser EM: |ilk dönemden | sonra >değil mi< ↑ Ü: nach dem ersten Halbjahr, nicht wahr? 28 GL: sonra o tatilde e: h- >şu görücüler diyim ↓ < LACHT LEICHT geldiler ↓ Ü: Ferien ähsind, ich sage mal, diese Brautschauer LACHT LEICHT gekommen. Mit der Bestimmung des Zeitpunktes, der fünfzehntägigen Halbjahresferien, beginnt sie diese Episode. Bereits zu Beginn zeigen sich Formulierungsschwierigkeiten; Gönül startet mehrfach mit der Zeitbestimmung (Z. 25-27) und führt dann beim letzten Anlauf, beginnend mit einer Verzögerungspartikel (e: h-) das Ereignis ein: sonra o tatilde e: h- >şu görücüler diyim↓< LACHT LEICHT geldiler↓ (‘und dann während dieser Ferien äh sind, ich sage mal, diese Brautschauer LACHT LEICHT gekommen’). Durch die Verwendung des despektierlich wirkenden şu (‘diese’), die herabstufende Formel ‘ich sage mal’, die zurückgenommene Sprechweise (>şu görücüler diyim↓< - ‘ich sage mal diese Brautschauer’) und das leichte Lachen erhält die Darstellung des Ereignisses eine negative Bedeutung. Gönül vermeidet die Bezeichnung ‘Schwiegereltern’ und benutzt den Ausdruck görücüler (‘Brautschauer’). Sie stellt die Schwiegereltern in ihrer damaligen Funktion als Brautschauer dar und nicht in der späteren familiären Beziehung zu ihr. Die Darstellung der Szene erfolgt aus der damaligen Perspektive (Gönül nimmt die späteren Schwiegereltern als blo- „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 175 ße Besucher wahr), die ironisch-kritische Sicht auf die Szene erfolgt aus der heutigen Perspektive. Außerdem fällt auf, dass sie das Thema ‘Brautschau’ wie eine Nebensächlichkeit einführt. Sie berichtet über ihren Schulabschluss und die anschließenden Ferien und kommt dann, durch unauffällige Reihung (ondan sonra ‘und dann’, Z. 27f.) an das Vorherige angeschlossen, direkt auf das Thema. Diese unfokussierte Einführung, ohne Vorankündigung, erstaunt angesichts der Tragweite, die dieses Ereignis für das weitere Leben von Gönül hat. Auch das ist ein Hinweis, dass sie in der damaligen Perspektive bleibt und in die Rolle des damals naiven, ahnungslosen Mädchens schlüpft. Anschließend beschreibt Gönül den Prozess der Brautschau. Die Vermittler sind in ihrem Fall die Nachbarn. 29 GL: işte bi komşunun aracılıyla ↑ e: h işte oğlunu evlendirmek Ü: Halt über die Nachbarn. Sie sollen halt gesagt haben, dass sie ihren Sohn 30 GL: istediklerini söylemişler ↑ hani daha gözü açılmadan ↓ beyim de Ü: verheiraten möchten. Also bevor er zu selbständig wird. Mein Mann war 31 GL: onyedi yaşındaydı ↑ e: h şey yaptılarbizi işte tavsiye etmişler ↓ Ü: auch siebzehn Jahre alt. Sie haben ding gemacht. Sie haben uns halt 32 GL: çok e: h efendi bi- * aile var demişler ↑ beni tavsiye etmişler ↑ Ü: empfohlen. Sie sollen gesagt haben, es gibt eine sehr anständige Familie. Sie haben mich empfohlen. Die Brautschau wird über die Nachbarn eingeleitet. In dieser Hintergrundinformation stellt Gönül dar, dass die Brautschau zunächst dem typischen Verlauf folgt, indem der Kontakt zwischen Brautfamilie und Interessenten über beiden Parteien bekannte Vermittler hergestellt wird. Dann folgt eine Redewiedergabe bezüglich der Heiratsabsichten (e: h işte oğlunu evlendirmek istediklerini söylemişler↑ ‘Sie sollen halt gesagt haben, dass sie ihren Sohn verheiraten möchten.’) zusammen mit einer formelhaften Begründung (hani daha gözü açılmadan↓ ‘Also bevor er zu selbständig wird.’/ wörtl.: ‘Also bevor sich seine Augen öffnen.’). Gönül gibt ein Zitat aus dem rituellen Gespräch wieder, an dem sie damals nicht beteiligt gewesen sein kann. D.h. sie kennt den rituellen Verlauf der Brautschau und kann davon ausgehen, dass ihre Schwiegereltern mit diesen oder ähnlichen Formeln die Nachbarn um Mithilfe bei der Suche nach einer passenden Braut gebeten haben. Die Erläuterung, warum die Eltern des jungen Mannes gerade zu diesem Zeitpunkt eine Braut suchen, ist ein deutlicher Hinweis auf das im Hintergrund stehende traditionelle Ehemodell: Der Sohn ist - wie Gönül auch - 17 Jahre alt, steht also an der Schwelle zum Erwachsensein und damit zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit, dar- Emran Sirim 176 gestellt in der Metapher des Mannes, dessen Augen noch nicht geöffnet sind, sich aber bald öffnen werden. Bevor dies geschieht, soll in traditionellen Familien der junge Mann verheiratet werden, damit er ein freizügiges Leben erst gar nicht kennenlernt oder sich eine (Ehe-) Frau sucht, die möglicherweise nicht den Kriterien der Eltern entspricht. Die Wahl einer standesgemäßen Kandidatin ist nicht nur abhängig von den Eigenschaften einer geeigneten Ehefrau, sondern viel mehr von denen einer guten Schwiegertochter. Dies begründet sich aus der Rolle der Schwiegertochter im traditionellen Familienmodell. Exkurs 2: Das traditionelle Familienmodell Für die Türkei werden zwei Verwandtschaftssysteme unterschieden: das „patrilineare Deszendenzsystem und das bilineare Affinalsystem“ (Klaus 2008, S. 65ff.). Bei letzterem ist die eheliche Beziehung bestimmend, was eine strikte Trennung von Herkunfts- und Gattenfamilie bedeutet. Diese Art der ehelichen Beziehung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Ehepartner eigenständig gewählt werden, das Paar nach der Eheschließung einen eigenen Haushalt gründet und die Erbschaftsregeln den hinterbliebenen Gatten begünstigen. Kinder werden in der Regel erst dann geboren, wenn die ökonomischen Voraussetzungen erfüllt sind. Im Deszendenzsystem hingegen dienen Kinder der Sicherung der ökonomischen Verhältnisse, wodurch eine Reihe von Erwartungen an die Kinder geknüpft ist. Das Deszendenzsystem ist in der Türkei patrilinear organisiert, der Forterhalt der männlichen Abstammungslinie ist von höchster Bedeutung. Die Ehen werden in diesem System oftmals arrangiert und das Paar lebt im Haus des Bräutigams. Das patrilineare Deszendenzsystem ist meist bei der ländlichen Bevölkerung vorzufinden, das Affinalsystem eher bei der städtischen Bevölkerung mit höherem Bildungsniveau. Der Anteil der arrangierten Eheschließungen ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, insbesondere von solchen, die ohne die Einwilligung der Partner geschlossen wurden. Klaus verzeichnet einen Rückgang von 27% (1959-1968) auf 5% (1989- 1998). Entsprechend stiegen die Eheschließungen, die von den Paaren selbständig entschieden wurden, insbesondere jene, die mit der Zustimmung der Herkunftsfamilien geschlossen wurden, von 16% (1959-1968) auf 42% (1989-1998) (Klaus 2008, S. 68f.). Die Verheiratung nach den Regularitäten des Deszendenzsystems verliert demnach immer mehr an Bedeutung. Gründe für diese Entwicklung sind neben der Wirkung rechtlicher Maßnahmen 8 auch wirtschaftliche und soziale Veränderungen, die den traditionellen Heiratsvorgang schwieriger und gleichzeitig weniger erforderlich machen. Denn „ist das Heiratsverhalten auf die Funktionserfordernisse der Familie abgestimmt, so muss sich ihr Funktionswandel folglich auch in verändertem Heiratsverhalten niederschlagen“ (Klaus 2008, S. 70). Die Verheiratung einer Frau wird im traditionellen Kontext als eine Art ‘Übergabe’ oder ‘Überantwortung’ aufgefasst. Schiffauer (1987, S. 27) verbindet die Verheira- 8 Diese sind vor allem die Festsetzung eines Mindestheiratsalters und die alleinige Anerkennung standesamtlicher Eheschließungen (Klaus 2008, S. 69f.). „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 177 tung einer Frau mit der Metapher der „Transplantation“ mit den Phasen „Isolation, Schnitt und Inkorporation“ (ebd., S. 22), die sich in den Hochzeitsriten widerspiegelt (ebd., S. 16). Eine Hochzeit ist nicht nur ein Fest, sondern bedeutet Trennung von der Herkunftsfamilie und Aufnahme in die neue Familie des Ehemannes. Damit untersteht die Braut dem Haushalt ihres Mannes. Neben der Metapher der Transplantation geht Schiffauer von der „Idee des Tausches“ (Schiffauer 1987, S. 27) aus. Da alle Beziehungen in der dörflichen Gesellschaft von symmetrischer oder asymmetrischer Reziprozität geprägt sind, erfordert die Hergabe der Tochter an einen anderen Haushalt eine Gegengabe, den Brautpreis. Dieser leitet sich ursprünglich aus dem Recht des Vaters bzw. der Mutter ab. Da ein Kind seinen Eltern Leben, Ernährung und Pflege in der Kindheit verdankt - eine zunächst einseitige Gabe der Eltern - ist es im Gegenzug seinen Eltern gegenüber zu Achtung und Respekt (sowie zu Unterstützung im Alter) verpflichtet. Durch den Brautpreis wird dieses Recht auf den Ehemann übertragen. Die Eltern der jungen Frau verzichten auf ihre Ansprüche und Rechte. Damit wird der Tausch, die Transaktion perfekt. In der Dorfstruktur gleicht die Eheschließung somit einem wirtschaftlichen Vertrag zwischen zwei Haushalten, bei dem es um die Transaktion von Humankapital geht, die Gabe der Tochter. Die Kompensation des Verlustes einer Arbeitskraft erfolgt durch die Zahlung des Brautpreises, kann aber auch durch „reziproke Heiraten“ (Klaus 2008, S. 68) aufgefangen werden, so dass ein Ausgleich der weiblichen Arbeitskräfte erfolgt. Neben dem ökonomischen Nutzen muss die Eheschließung auch von politischem Nutzen sein, da durch die Verheiratung eines jungen Paares die beiden Haushalte, deren Mitglieder jeweils Braut und Bräutigam sind, eine Verbindung eingehen bzw. ein bereits bestehendes Bündnis bekräftigen. Aufgrund der Komplexität einer solchen Verbindung werden Ehen nicht von den Partnern selbst, sondern von den Haushaltsvorständen beschlossen, die die Interessen der Familien im Auge haben und einen wirtschaftlichen Ausgleich erreichen wollen. Bei der Wahl der Schwiegertochter (gelin) ist ihre „Sauberkeit“ (Schiffauer 1987, S. 189) von wesentlicher Bedeutung. Diese umfasst sowohl ihren untadeligen Ruf, als auch ihre Bereitschaft, sich in den neuen Haushalt zu integrieren und die ihr übertragenen Aufgaben sorgfältig auszuführen. Die Schwiegermutter erwartet in erster Linie, dass die Schwiegertochter im Haushalt hilft und ihr gegenüber respektvoll und gehorsam ist. Dabei sind Probleme fast unvermeidbar, wie Schiffauer darstellt: Die Schwiegermutter-Schwiegertochter-Beziehung gilt als eine der schwierigsten im Dorf. Die Bauern führen dies auf die ‘Eifersucht’ der Schwiegermutter zurück. Im Alltag machen sie die meisten Konflikte am Problem der Integration in die Wirtschaft des Haushalts fest. Die Schwiegermütter klagen oft über die Faulheit der gelin [...]. Auch würden sich die Schwiegertöchter gegen die Befehle auflehnen. Die Schwiegertöchter ihrerseits beschweren sich, daß die Schwiegermutter bei der Verteilung der Arbeiten ihre eigenen Töchter bevorzuge und die gelin die unbeliebten Arbeiten erledigen lasse. [...] Nicht minder häufig sind die Vorwürfe, die Schwiegermutter mische sich in alles ein, ‘bis zum Einschenken des Tees’, und schreie bei jeder Kleinigkeit. (Schiffauer 1987, S. 189f.) Emran Sirim 178 Dass die Schwiegertochter trotz des andauernden Drucks und der Kritik der Schwiegermutter ihren Teil der Arbeit übernimmt, ist damit zu erklären, dass dies Teil ihrer Rolle im familiären Gefüge ist. In der Dorfstruktur stellt die Großfamilie eine wirtschaftliche, politische und soziale Einheit dar: Wirtschaftseinheiten, weil in den Hauhalten gemeinsam produziert und konsumiert wird; soziale Einheiten, weil die soziale Absicherung nur durch die Familie verbürgt ist; politische Einheiten, weil nur die Solidarität der Haushaltsangehörigen angesichts der relativ abgelegenen Lage des Dorfes die Rechtssicherheit und den politischen Status des einzelnen gewährleistet. (Schiffauer 1987, S. 13) Das vornehmliche Ziel dieser Produktionseinheit ist die Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens. Angesichts dieser Orientierung an Sicherheit und Autarkie wird Arbeit im Dorf nicht als bloße Tätigkeit, sondern als Teil der Verpflichtungen eines Haushaltsmitglieds betrachtet, die dem Vorstand geschuldet wird (ebd., S. 105ff.). Mit der bereitwilligen Übernahme einer Arbeit zeigt man seine Bereitschaft an, seiner Stellung im Haus gerecht zu werden, wodurch im Gegenzug ein Anrecht auf die Erfüllung aller elementarer Bedürfnisse durch die Familie erworben wird. Die Arbeitsteilung spiegelt die autoritären Strukturen in der Familie wider. So werden die Arbeiten der Männer vom Vorstand eingeteilt, die Einteilung der Arbeiten der Frauen wird der Ehefrau übertragen. Die Familie als wirtschaftliche Produktionseinheit erhält dadurch eine klare Organisationsstruktur, in der jedes Mitglied eine bestimmte Position innehat, die mit einer fest umrissenen Rolle und mit spezifischen Aufgaben verknüpft ist. Sämtliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen sind klar geregelt, auch die der Schwiegertochter, die in ihrer neuen Familie auf der untersten Stufe der Hierarchie beginnt. Durch die Verinnerlichung ihrer Rolle und besonderen Fleiß verdient sie sich den Respekt der anderen. Um zu gewährleisten, dass eine junge Frau sich in die ihr von der (ländlich-bäuerlichen) Gesellschaft zugedachte Rolle fügt, wird sie schon früh dazu erzogen, sich so zu verhalten, wie es sich für Frauen ziemt: sauber und ordentlich zu sein, fleißig mitzuarbeiten, nicht frech und unhöflich zu sein sowie die Körperhaltung zu kontrollieren (Schiffauer 1983, S. 95f.). Werden die Erwartungen und Forderungen nicht erfüllt, bestraft die Mutter die Tochter mit Liebesentzug. Eine Entspannung der Mutter-Tochter-Beziehung erfolgt erst dann, wenn die Tochter das von einer Frau erwartete Verhalten erlernt hat und von sich aus die angemessene Position im Haushalt einnimmt. [...] Die soziale Situation der Mädchen in dieser Zeit ähnelt stark derjenigen, die sie später als gelin, als junge Ehefrauen zu bewältigen haben: Beide Male werden sie mit den Anforderungen einer unnachgiebigen Umwelt konfrontiert, müssen sie um die äußere Anerkennung kämpfen. (ebd., S. 96) Viele Aspekte, die Schiffauer und Klaus beschreiben, sind für die ländliche, agrarische Bevölkerung gültig. Ein Großteil dieser Verhaltensweisen findet sich auch bei den aus den ländlichen Regionen in die Städte Migrierten (Klaus 2008), sowie bei den „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 179 nach Europa ausgewanderten Familien. Bei einem Teil der türkischen Migranten ist sogar zu beobachten, dass sie fester an traditionellen, religiösen Werten und Normen festhalten, als die Landsleute in der alten Heimat (Kızılhan 2008). Die Entwicklung, die die Gesellschaft im Herkunftsland durchmacht, haben die Migranten verpasst oder lehnen sie sogar ab. 9 Dieses mehr oder minder starke Festhalten an Traditionen, der unterschiedliche Grad des Konservatismus bringt Variationen der traditionellen Familie hervor. D.h. das Modell der traditionellen Familie ist kein monolithischer Block, sondern weist Vielfalt und Komplexität auf. Gönüls Schwiegerfamilie scheint zur Gruppe besonders konservativer Migranten zu gehören, so dass sie von ihr ein für den ländlich, agrarisch geprägten Kontext typisches Rollenverhalten erwartet. Die Aufgaben der Braut sind: für den Forterhalt der Familie Kinder gebären, im Haushalt die aufgetragenen Aufgaben erfüllen und die Schwiegereltern im Alter versorgen (Kağıtçıbaşı/ Sunar 1997, S. 152f.). Dementsprechend achten die Eltern bei der Auswahl einer Schwiegertochter darauf, dass die Kandidatin diese Kriterien erfüllt. Gönül scheint diesen Vorstellungen zu entsprechen, so dass sie von den Nachbarn empfohlen wird. Auch hier beschreibt Gönül die Situation (die sie nicht selbst erlebt hat) szenisch und stellt das Gespräch zwischen der Familie ihres Mannes und den Vermittlern dar. Ihre Familie wurde als eine efendi aile (‘anständige Familie’) empfohlen; 10 diese Charakterisierung liefert eine ausreichende Begründung für die Empfehlung. Dann macht Gönül klar, dass sie die Empfohlene ist (beni tavsiye etmişler↑ ‘Sie haben mich empfohlen.’); vermutlich sind Gönüls Schwestern ebenfalls im heiratsfähigen Alter, so dass eine Präzisierung notwendig ist. Im traditionellen Ehemodell sind neben den Eigenschaften der zukünftigen Schwiegertochter ihre Familienverhältnisse und der Ruf ihrer Familie von entscheidender Bedeutung. Deshalb ist für die Empfehlung das Kriterium der Eignung der Brautfamilie als çok efendi bir aile ausschlaggebend. Vermutlich haben die Vermittler bei der Beschreibung von Gönüls Familie noch weitere positive Merkmale der Familie hervorgehoben (ein häufig genannter Punkt ist z.B. die besondere Religiosität der Familie); doch Gönül nennt nur das wichtigste Kriterium, die Anständigkeit der Familie, die Grundvoraussetzung dafür, dass die Brautschauer eine Ehekandidatin für den Sohn überhaupt in Betracht ziehen. 9 Dies beobachten viele aus der Türkei nach Deutschland neu Zugewanderte, wie die Interviewpartnerin Sanem: burdaki türkler↓ geldiği senedeki gibi kalmışlar↓ … hiç ilerle yememişler↓ (‘Die Türken hier sind so geblieben, wie in dem Jahr, in dem sie gekommen sind. [...] Sie haben sich überhaupt nicht weiterentwickelt.’), vgl. Teil VI. 10 Sie beschreibt das so: çok e: h efendi bi- * aile var demişler↑ (‘Sie sollen gesagt haben, es gibt eine sehr anständige Familie.’). Emran Sirim 180 Im Anschluss daran erzählt Gönül in einem hohen Sprechtempo und ohne Abbrüche den weiteren Verlauf der Brautschau. 33 GL: geldiler bunlar ↑ haberim yok benim ↓ iki hafta bunlar sü“rekli bize Ü: Die sind gekommen. Ich habe keine Ahnung. Zwei Wochen lang sind sie 34 GL: geliyor ↓ burdan gelmişler ya ↑ babamı ziyarete Ü: ständig zu uns gekommen. Sie sind doch von hier 11 gekommen. Sie sagen, sie 35 GL: gelmişler diyorlar ↓ birisi de tabi gelip gidiyo yani o aracıyla ↑ Ü: seien gekommen, um meinen Vater zu besuchen. Natürlich ist ständig jemand 36 GL: bizim haberimiz yoh ↓ Ü: gekommen, also zusammen mit diesem Vermittler. Wir haben keine Ahnung. Sie beginnt mit der Darstellung, dass die Interessenten zu Besuch kamen. Dann folgt der Kommentar haberim yok benim↓ (‘Ich habe keine Ahnung.’). Die Formel für Ahnungslosigkeit, die mehrfach vorkommt, verweist darauf, dass sie über den Grund des Besuches und die eigentliche Absicht der Besucher nicht informiert war. Gönül setzt bei der Interviewerin das nötige kulturelle Hintergrundwissen über das Eheanbahnungsverfahren voraus und schneidet ihre Äußerungen den Praktiken des ‘recipient design’ entsprechend auf sie zu. 12 Die Besuche der Familie aus Deutschland häufen sich, in einem Zeitraum von zwei Wochen herrscht eine reges Kommen und Gehen. Die Besucher begründen ihre Besuche damit, dass sie den Vater sehen wollen, und die Häufigkeit der Besuche damit, dass sie aus Deutschland kommen und sich nur begrenzte Zeit in der Türkei aufhalten. Dass Gönül die Besuche damals in dieser Weise verstanden hat, erscheint wenig plausibel. 13 Die Familien kannten sich zuvor nicht, die Besuche erfolgten nur in Begleitung der Nachbarn und die Besucher hatten ihren heiratsfähigen Sohn dabei. Das hätte Gönül 11 Gemeint: aus Deutschland. 12 Zum Konzept des ‘recipient design’ vgl. u.a. Deppermann (2008). 13 Schiffauer beschreibt einen ähnlichen Fall: Dem heiratsinteressierten Mann, Süleyman, soll eine junge Frau, Alime, vorgestellt werden. Die Vermittler sind Verwandte des Mannes und Nachbarn der Familie der potenziellen Braut. Bei dem Besuch, bei dem die Kandidatin in Augenschein genommen wird, lässt man Alime über das Heiratsinteresse der Besucher im Unklaren. Dennoch ahnt sie schnell, dass es bei dem Besuch eigentlich um sie geht: „Daraufhin wurde ein Besuch von Süleyman und dem als Mittler dienenden Verwandten arrangiert. Alime wurde die eigentliche Absicht des Besuches verheimlicht: Ihr Pflegevater hatte ihr erzählt, der Besuch hätte Kaufabsichten für das Haus. Diese Fiktion wurde noch aufrechterhalten, als sie schon über den Brautpreis verhandelten und es Alime allmählich deutlich wurde, daß das Gespräch sich um sie drehte.“ (Schiffauer 1991, S. 55). Vgl. auch Straßburger (2003, S. 188ff.). „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 181 vermuten lassen müssen, dass das eigentliche Interesse nicht dem Vater, sondern ihr bzw. den unverheirateten Töchtern der Familie galt. Dennoch stellt sie sich wiederholt als ahnungslos in Bezug auf das Interesse der Besucher dar und stuft ihre Ahnungslosigkeit hoch, indem sie sie auch auf andere Mitglieder ihrer Familie ausweitet: bizim haberimiz yoh↓ (‘Wir haben keine Ahnung.’). Das Personalpronomen wir referiert vermutlich auf Gönül und ihre unverheirateten Schwestern. Mit dieser Feststellung baut sie eine Opposition zwischen ihrem ‘wissenden’ Vater und den ‘Ahnungslosen’ in der Familie auf, sie und ihre Schwestern. Sie stellt sich als ahnungslos, ja realitätsblind dar, denn aufgrund ihres kulturellen Wissens hätte sie vermuten müssen, mit welcher Absicht die Besucher kamen. Entweder wollte sie damals nicht sehen, was hinter den Kulissen vor sich ging oder sie stilisiert sich in der aktuellen Gesprächssituation als die ‘Naive’, der übel mitgespielt wurde. Die Hochstufung ihrer Ahnungslosigkeit steht auf jeden Fall im Kontrast zu den Fähigkeiten, die sie in den vorangegangenen Sequenzen anführte: Intelligenz, schulische Leistung und beruflicher Ehrgeiz. Später räumt Gönül ein, dass auch die Mutter Bescheid wusste. Sie stand mit der Mutter des Bräutigams in Verhandlungen und wollte durchsetzen, dass die Tochter die Ausbildung an der Universität beenden kann: annem yani söylemişti onlara kızım devam edcek↓ yani hayatını kurtarsın demişti↓ üniversitesi var↓ * onu söz verirseniz olur↓ annem o şeyleri onlarla konuşmuş daha önceden↓ (‘Also meine Mutter hatte ihnen gesagt, meine Tochter wird weiter machen. Sie hatte gesagt, sie soll ihr Leben sichern. Sie hat die Universität vor sich. Wenn ihr dieses Versprechen gebt, geht es in Ordnung. Meine Mutter hat diese Dinge mit ihnen vorher besprochen.’). Die Brautschauer sagten zu, dass Gönül nach der Heirat ihre Ausbildung fortsetzen darf. Doch dieses Versprechen wurde nie eingelöst. Nach zwei Wochen überschlugen sich die Ereignisse. Wie sehr Gönül von dem damaligen Geschehen überrollt wurde, drückt sich in ihrer Darstellungsweise aus. Auch heute noch scheint es ihr schwer zu fallen, den Hergang ihrer Verlobung sprachlich zu fassen. Ohne klare Referenz auf die Agierenden und ohne das Resultat des Ereignisses, nämlich die Verlobung, explizit zu benennen, stellt sie in der folgenden Szene dar, wie sie verlobt wird. 36 GL: sonra iki hafta Ü: Dann waren zwei 37 GL: geçti ↑ bir gün şey oldu ↓ bahtım dediler kiodaya geldi ↓ bizeh Ü: Wochen vorbei. Eines Tages ist ding passiert. Sie haben gesagt / er ist Emran Sirim 182 38 GL: kadınlar ayrı bi odada oturuyoruz ↑ erkekler ayrı bi odada ↑ Ü: ins Zimmer gekommen. Wiräh Frauen saßen in einem anderen Zimmer. Und 39 GL: bi gün geldi dediler ki şey e: h kaynanamın adı Safiye ↑ Safiye Ü: die Männer in einem anderen Zimmer. Eines Tages haben sie gesagt, ding / 40 GL: yüzük var mı sende ↓ biz de şoka girdik ↓ meğerse babamlan bunlar Ü: äh der Name meiner Schwiegermutter ist Safiye. Safiye hast du einen Ring 41 GL: işi yani bağlamışlar ↓ bei dir? Und wir waren geschockt. Dabei hatten sie die Angelegenheit 42 GL: bizim haberimiz olmadan ↓ Ü: mit meinem Vater unter Dach und Fach. Ohne dass wir Bescheid wussten. Bei der Verlobungsszene ist der Bräutigam nicht anwesend, da er vorher wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist. Die Braut hat er sich bei einem Besuch angesehen und war mit der Wahl seiner Eltern einverstanden; 14 sein Fehlen erklärt Gönül mit dringenden Angelegenheiten in Deutschland. Währenddessen schlossen seine Eltern das Ehearrangement in der Türkei ab. Gönül beginnt die Szene mit einer Zeitangabe sonra iki hafta geçti↑ (‘Dann waren zwei Wochen vorbei.’, Z. 36) und leitet dann in das Ereignis ein: bir gün şey oldu↓ (‘Eines Tages ist ding passiert.’, Z. 37). Sie verwendet für das thematische Subjekt den Platzhalter şey (‘ding’), fügt eine Redeeinleitung an und bricht ab (bahtım dediler ki ‘sie haben gesagt/ ’). Dann wechselt sie auf die Handlungsebene, und stellt dar, dass er ins Zimmer kam: odaya geldi↓ (‘Er ist ins Zimmer gekommen.’, Z. 37). Wer die Person ist, die ins Zimmer kam, gibt sie nicht an. Anschließend liefert sie die Hintergrundinformation, dass bei dem Besuch Frauen und Männer getrennt beisammen saßen (bizeh kadınlar ayrı bi odada oturuyoruz↑ ‘Wiräh Frauen saßen in einem anderen Zimmer.’, Z. 38). Nach diesem Einschub führt sie wieder in die Szene zurück und beginnt von neuem: bi gün geldi dediler ki şey e: h (‘eines Tages haben sie gesagt, ding/ äh’, Z. 39). Sie bricht erneut ab und liefert die nächste Hintergrundinformation, den Namen ihrer Schwiegermutter: kaynanamın adı Safiye↑ (‘Der Name meiner Schwiegermutter ist Safiye.’). Dann folgt der Höhepunkt der Geschichte mit einem Zitat: Safiye yüzük var mi sende↓ (‘Safiye, hast du einen Ring bei dir? ’, Z. 40f.). Aus den bruchstückhaften Äußerungen lässt 14 Die Abwesenheit des Bräutigams ist ungewöhnlich. Die Verlobung einer jungen Frau in Abwesenheit des Bräutigams kommt meist nur dann vor, wenn die Frau nicht der türkischen Idealvorstellung einer Braut entspricht, wenn sie z.B. eine körperliche oder geistige Behinderung hat, sie schon einmal verheiratet war oder ihr guter Ruf geschädigt ist. Keiner dieser Gründe trifft auf Gönül zu. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 183 sich das folgende Geschehen rekonstruieren: Die Familie des Mannes kommt zusammen mit dem Vermittler zu Besuch. Frauen und Männer sitzen in getrennten Zimmern. Plötzlich kommt der Vater des Mannes ins Zimmer der Frauen und fragt seine dort sitzende Frau Safiye nach einem Ring. 15 Der Ring, das wird in der Darstellung ausgelassen, soll Gönül als Verlobungsring angesteckt werden; dass das geschieht, wird ebenfalls ausgelassen. Gönül gibt keine weiteren Informationen, sondern beschreibt nur die Reaktion auf das bis heute noch schockierende Geschehen: biz de şoka girdik↓ (‘Und wir waren geschockt.’, Z. 40). Anschließend wird nachgeliefert, was dem Ereignis vorausgegangen sein musste: Ihr Vater ist ein Ehearrangement für sie eingegangen (meğerse babamlan bunlar işi yani bağlamışlar↓ ‘Dabei hatten sie die Angelegenheit mit meinem Vater geregelt.’), ohne dass sie und die übrige Familie Bescheid wussten (bizim haberimiz olmadan↓ ‘ohne dass wir Bescheid wussten’, Z. 42). Auch hier benutzt Gönül nicht den Ausdruck ‘Verlobung’, sondern weicht auf das inhaltsneutrale Lexem ‘Angelegenheit’ aus. In der gesamten Sequenz kommt kein einziges Mal das Wort ‘Verlobung’ vor, ein Hinweis darauf, dass Gönül auch hier wieder aus der damaligen Perspektive darstellt: Das Geschehen hat sie damals nicht als Verlobung empfunden und bezeichnet es auch nicht so. Erst im weiteren Verlauf des Gesprächs, als sie die Ereignisse damals resümiert, verwendet sie die Bezeichnung ‘Verlobung’. Im Hinblick auf türkische Ehearrangements ist die geschilderte Art der Verlobung ungewöhnlich und deutet entweder auf eine besonders konservative Familie oder auf besondere Umstände hin, unter denen das Arrangement stattfand. 16 Normalerweise werden bei einem Ehearrangement die betroffene Tochter und die gesamte Familie informiert. Gönül wird nicht nur nicht um ihre Meinung bezüglich des Heiratskandidaten gefragt, sondern noch nicht einmal über die Brautwerbung der Besucher aufgeklärt. Im Gegenteil, die Brautwerbung wird verschleiert dadurch, dass die Besucher als Besucher des Vaters ausgegeben werden. Dieses Vorgehen empört sie: 43 GL: ben yani eh eh yani Ü: Ich also äh äh also 15 Dass das Referenzobjekt von odaya geldi↓ (‘Er ist ins Zimmer gekommen.’) nur der Vater der Mannes sein kann, ist aus dem Kontext erschließbar. Der Verlobungsring wird von einem männlichen Mitglied der Schwiegerfamilie angesteckt. Da der Schwiegervater anwesend ist, kann nur er es sein, der Safiye, seine Frau, um einen Ring bittet, der als Verlobungsring verwendet und Gönül angesteckt wird. 16 Möglicherweise spielten auch finanzielle Gründe (hohes Brautgeld) eine Rolle; Gönül jedoch sagt darüber nichts. Emran Sirim 184 44 GL: hiç u“mmuyordum ↓ hanibendaha hedeflerim var Ü: ich habe überhaupt nicht damit gerechnet. Also / ich / habe noch Ziele 45 GL: diyordum ↓ sonra bahtım ki şey yüzük yüzük dediler ↑ şey sor/ Ü: sagte ich. Dann sah ich, Ding Ring her, haben sie gesagt. Ding ohne 46 GL: sormadan banayani hiç sormadan danışmadan Ü: gefr / ohne mich zu fragen. Also ohne mich auch nur zu fragen, zu befragen. 47 GL: sağolsunlar ↑ Ü: Vielen Dank auch. 17 Hier stellt Gönül ihre Reaktion auf das Geschehen dar. Die Frage der Verlobung kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem sie nur an ihre Ausbildung und nicht an eine Heirat denkt. Ihre Einwände in der damaligen Situation (hanibendaha hedeflerim var diyordum↓ ‘Also/ ich/ habe noch Ziele sagte ich.’) konnte sie jedoch - davon gehe ich aufgrund meines ethnografischen Wissens aus - niemandem gegenüber äußern, d.h. die Einwandsäußerung geschieht in einem inneren Monolog. Als nächsten Handlungsschritt, eingeleitet mit sonra bahtım (‘dann sah ich’, Z. 45), stellt Gönül eine Redewiedergabe der anderen Familie dar şey yüzük yüzük dediler↑ (‘Ding Ring her, haben sie gesagt.’), in der nicht genannte Sprecher (Mitglieder der anderen Familie) in einem recht groben Ton einen Ring fordern. Durch die Art der Redewiedergabe wird die Hast und Aufregung in dieser Situation deutlich, in der in einer Art Überfall eine ultimative Forderung gestellt wird. Ohne Erläuterung dazu, wer fordert und wozu der Ring gebraucht wird, folgt Gönüls empörter Kommentar über das Verhalten der Akteure und darüber, dass sie selbst überfallartig - durch Mithilfe ihres Vaters - in eine ausweglose Situation gebracht wurde. Die mehrfache Reformulierung, dass ‘sie nicht gefragt’ wurde, und die mit sarkastischem Unterton geäußerte Formel sağolsunlar↑ (‘Vielen Dank auch.’, im Sinne von: ‘Das haben die mir eingebrockt.’, Z. 47) drücken deutliche Kritik aus und ihre Verbitterung darüber, dass ihr Vater sie nicht in seine Ehepläne eingeweiht hat. Doch sofort nach dieser Kritik am Vater rückt sie ihn wieder in ein positives Licht. Sie nennt seine Beweggründe, die sie als fürsorglich und berechtigt darstellt. 18 Er handelte nur in bester Absicht und sah in der Übersiedlung nach 17 Wörtl.: ‘Mögen sie lange leben.’; hier gebraucht im Sinne von: ‘Das haben die mir eingebrockt.’. 18 Auch heute noch ist mit der Migration nach Deutschland in weiten Teilen der Türkei die Vorstellung von einem Leben in Wohlstand und Sicherheit verbunden. Auch Gönüls Vater glaubt, dass er mit der Einwilligung in das Ehearrangement eine gute Wahl für seine Tochter getroffen und ihr durch diese Ehe eine Garantie auf ein besseres Leben ermöglicht hat. Das Eheangebot empfindet er als Rettung für seine Tochter aus der Armut. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 185 Deutschland die Möglichkeit eines für sie vor allem in finanzieller Hinsicht sorgenfreien Lebens: meğerse babam hani düşüncesi oraya giderse hayatı kurtulur↓ daha iyi yaşam sürer diye↑ eh buralarda belki hani e: h o imkanı bulamaz diye↑ (‘Dabei war der Gedanke meines Vaters, wenn sie dorthin geht, ist ihr Leben gerettet. Damit sie ein besseres Leben führt. Also hier hat sie halt nicht die Möglichkeiten.’). Daher hat man sie verlobt (orda beni nişanlamışlar ‘Da hat man mich also verlobt.’). Die Verbform nişanlamışlar mit der mış- Endung als Vergangenheitsmarker für indirekte Erfahrung und Hörensagen zeigt, dass ihr erst im Nachhinein klar wurde, dass bereits alles geregelt und organisiert war. Gönül präsentiert sich hier als ahnungslose Tochter, die der Vater in gut gemeinter Absicht in die gegenwärtige missliche Lage gebracht hat. Auch diese Darstellung schließt sie sarkastisch mit der Formel ab: sağolsunlar↑ (‘Vielen Dank auch.’, im Sinne von: ‘Das haben die mir eingebrockt.’); sie kritisiert nicht nur das Vorgehen ihres Vaters, sondern auch ein Ehearrangement, das es möglich macht, dass die Tochter ohne Zustimmung vergeben werden kann. 19 Als weitere Gründe für die Entscheidung des Vaters zählt Gönül einen Katalog von Eigenschaften auf, die für die Zusage des Ehearrangements von Bedeutung sind. Ihr Vater beschreibt die Familie des Bräutigams als çok iyi (‘sehr gut’). Da die Eltern bereits zur Pilgerreise in Mekka waren (hacca gitmişler↓ ‘Sie sind nach Mekka gefahren.’) schließt der Vater, dass auch Gönül ein sorgenfreies Leben in dieser Familie führen werde. Ihm ist zwar klar, dass der Bräutigam zu jung für die Ehe ist; 20 doch er ist davon überzeugt, dass der zukünftige Schwiegervater seiner Tochter die Geschicke des jungen Paares lenken wird, wie man es von einem Vater in der türkischen Kultur erwartet: oğlu daha yaşı küçük↓ onları yönlendirebilir gibisi ↑ (‘Sein Sohn ist noch jung, so auf die Art, der [der Schwiegervater] kann die beiden lenken.’). Gönüls Vater vertraut also mehr dem Vater des Bräutigams als dem Bräutigam selbst: ve kaynatama çok güvenmiş↓ yani beni de- * o adam yani seni ezdirmez demiş↑ (‘Und er soll meinem Schwiegervater sehr vertraut haben. Und mich/ er soll gesagt haben, dieser Mann lässt nicht zu, dass du unterdrückt wirst.’). 19 In der Regel können bei Hochzeitsentscheidungen die jungen Frauen den Mann nicht vorschlagen, den sie heiraten möchten. Doch meist haben sie die Möglichkeit, in die Entscheidung einzugreifen und ein Nein der jungen Frau findet Gehör (Schiffauer 1987, S. 200f.). Doch es gibt auch Fälle, in denen die junge Frau keine Möglichkeit hat, ihren Willen kund zu tun und eine Ehe eingehen muss, die sie nicht will (Straßburger 2003). 20 Er ist zum Zeitpunkt der Verlobung 17 Jahre alt, ein auch für türkische Verhältnisse ungewöhnlich früher Zeitpunkt für die Verlobung eines Jungen. Emran Sirim 186 In diesen Zitaten wird ein wichtiger Aspekt des traditionellen Ehemodells offenbar: Der Schwiegervater als Patriarch der Familie wird zum neuen Vormund der Schwiegertochter. Die Tochter geht mit allen Rechten und Pflichten aus ihrer Herkunftsfamilie in die Schwiegerfamilie über (Schiffauer 1987). 2.2 Die Verlobungszeit und Heirat Die Verlobungszeit dauert nur wenige Monate bis zum Sommer. In dieser Zeit, in der sich Gönül und ihr zukünftiger Mann näher kommen sollten, gibt es dazu keine Gelegenheit. Noch vor der Verlobung abgereist, kommt der Bräutigam erst zur Trauung wieder. Der Kontakt des Paares beschränkt sich auf die wöchentlichen Telefongespräche. Gönül betont, dass es auch während der kurzen Zeit der Hochzeitsvorbereitungen nicht möglich war, mit ihrem zukünftigen Mann zusammen zu sein, gemeinsam Pläne zu schmieden und die weitere Zukunft zu planen ( yani baş başa oturup da hani bu hayalim var şunu yapalım şöyle yapalım↑ o konuşma şeyimiz olmadı↓ ‘Also dass wir uns allein zusammensetzen und so, ich habe diesen Traum, lass uns dies machen, lass uns das machen. So ein Ding zum Reden hatten wir nicht.’). Auf die Frage, ob sie nicht Angst davor hatte, dass sie sich mit ihrem Mann nicht verstehen würde, antwortet sie zunächst nicht. Ihr Schweigen deutet darauf hin, dass sie ihre Wünsche nicht äußern konnte und ihre Gefühle in der damaligen Situation für alle Beteiligten wohl nicht relevant waren. Dann liefert sie mehrere Erklärungen, durch die sie sich mit zunehmender Deutlichkeit als fügsame Tochter charakterisiert. Sie beginnt mit der stereotypen Formel: ya olan zaten olmuştu (‘Es war nunmal geschehen.’), die ausdrückt, dass die einmal gegebene Zusage ihres Vaters nicht ohne weiteres zurückgenommen werden konnte. 21 Anschließend beschreibt sie die Phase vor der Hochzeit, in der sich alles so schnell ereignete, dass es nicht mehr aufzuhalten war. Nachdem die Schwiegerfamilie mit dem Bräutigam wieder in die Türkei gekommen war, werden innerhalb weniger Tage die standesamtliche und die religiöse Trauung vollzogen und das Hochzeitsfest in kleinem Rahmen organisiert und ausgerichtet (öyle üç beş gün içinde zaten hemen düğün oldu↓ ‘So nach drei, vier Tagen fand ohnehin die Hochzeit statt.’). Dann nennt Gönül den zentralen Punkt, warum sie sich nicht gewehrt hat. Für die Formulierung braucht sie mehrere Anläufe: 21 Für die Auflösung einer Verlobung bedarf es eines triftigen Grundes, z.B. eine schwere Krankheit oder ein Umstand, der den guten Ruf des jungen Mannes und seiner Familie schädigt, wie eine zuvor verheimlichte Scheidung, uneheliche Kinder etc. Da keiner dieser Gründe zutraf, ist es Gönül nicht möglich, sich der Eheschließung zu widersetzen. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 187 151 GL: o/ orda ben itiraz etsem bile şey yohtu yani Ü: Selbst wenn ich da protestiert hätte, hätte ding nichts gebracht 152 GL: bence- * benim görüşüm ↓ eh benim sözümü şey değer Ü: also meine Meinung * meiner Meinung nach. Niemand würde ding Wert auf 153 GL: veren olmazdı diyordum ↓ kendi kendimce >bilmiyorum ↓ < * ama Ü: meine Meinung legen, sagte ich mir selbst. Ich weiß es nicht. * Aber 154 GL: şey: hani tanıma fırsatımız da olmadı ↓ belki anlaşırız diyordum ↓ Ü: ding, wir hatten auch nicht die Gelegenheit, uns kennen zu lernen. Ich dachte, vielleicht verstehen wir uns. Sie beginnt ihre Äußerung, bricht sofort ab, setzt erneut an und schildert aus heutiger Perspektive ihre damalige Lage: o/ orda ben itiraz etsem bile şey yohtu yani (‘Selbst wenn ich da protestiert hätte, hätte Ding nichts gebracht.’). 22 Ein möglicher Protest ihrerseits hätte nichts gebracht; für das Objekt, auf das sich der Protest gerichtet hätte, verwendet sie einen Platzhalter (şey ‘Ding’) und betont, dass das ihre Meinung sei. Durch die zweifache Wiederholung (bence↓ * benim görüşüm↓ ‘also meiner Meinung nach * meine Meinung’) stuft sie ihre Sichtweise in der damaligen Situation hoch, möglicherweise in Antizipation kritischer Fragen meinerseits in Bezug auf ihre Passivität. Dann präzisiert sie dahingehend, dass niemand Wert auf ihre Meinung gelegt hätte, und fügt leise hinzu: >bilmiyorum↓< (‘Ich weiß es nicht.’). Was Gönül hier nachdrücklich darstellt - dass ihre Meinung und vor allem ihr Gefühl in der damaligen Situation keine Rolle spielten - stimmt mit Straßburgers (2003) Beschreibungen zum Verfahren und der Beteiligungsweise der Heiratskandidaten beim Ehearrangement überein. 23 Sich aus emotionalen Gründen zu widersetzen wäre zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich wirkungslos gewesen. Die Heiratsverhandlungen zwischen den Familien waren bereits abgeschlossen und das Heiratsangebot war angenommen worden. Hätte Gönül früher über das Interesse der Brautschauer Bescheid gewusst, hätte sie ihrem Vater ihre Ablehnung signalisieren können. Sich jetzt gegen den familiären 22 Mit dieser Haltung stellt sie sich gleichzeitig auch als „gute“ (hayırlı) Tochter dar, die die Entscheidungen des Vaters nicht in Frage stellt und keine Rechenschaft von ihm verlangt. Denn damit würde sie ein Verhalten zeigen, das als edepsiz (‘unartig, unzüchtig’), saygısız (‘respektlos’) oder hayırsız (‘nichtsnutzig’) bezeichnet wird. hayırlı (wörtl. ‘gut, segensreich’) bedeutet bezogen auf Kinder, dass das Kind seinen Eltern nur ‘Gutes’ und nur Freude bringt; hayırsız das Gegenteil. Ein hayırsız Kind würde seinen Eltern Probleme und Sorgen bereiten. Der Ausdruck wird meist im Zusammenhang elterlicher Enttäuschung verwendet, z.B. dann, wenn sich Eltern nicht auf ihr Kind verlassen können, insbesondere im Alter. 23 Vgl. oben Teil II. Emran Sirim 188 Druck aufzulehnen, war besonders dadurch erschwert, dass Außenstehende involviert waren. Ihr Vater hatte bereits die Zusage gegeben, ein Schritt, der Gönüls Handlungsspielraum stark einengte und sich nicht ohne Probleme hätte rückgängig machen lassen. Dadurch wurde ein „Konformitätsdruck“ (Straßburger 2003, S. 211) auf Gönül erzeugt, dem sie sich nicht ohne Gesichtsverlust für die Familie entziehen konnte. 24 Nach einer kurzen Pause klagt sie nochmals darüber, dass ihr und ihrem Verlobten nicht die Gelegenheit zum gegenseitigen Kennenlernen gegeben wurde, schließt aber an die Klage die damalige Hoffnung an, dass sie sich verstehen würden. Dann führt sie aus, worauf diese Hoffnung beruhte: Sie fand den für sie ausgesuchten Mann ‘gutaussehend’, er war der ‘Mann ihrer Träume’: yahışıhlıydı↓ tam beğendiğim hayal ettiğim bi gençti↓ (‘Er sah gut aus. Er war ein junger Mann, der mir sehr gut gefiel, genau wie ich es mir erträumt habe.’). Hier erfolgt ein Bruch in der bisherigen Selbstdarstellung als „ahnungslos und Opfer der väterlichen Entscheidung“. Sie offenbart, dass ihr der Junge gut gefiel und sie nicht abgeneigt war, ihn zu heiraten. Damals erschien er ihr als ‘Mann ihrer Träume’. D.h. sie war an der Entscheidung über den Ehemann beteiligt und mit der Wahl ihrer Eltern einverstanden. Gönül stellt sich hier erstmals als Agierende dar, die einer Verbindung mit einem gut aussehenden jungen Mann zustimmt. Dann folgt ein Perspektivenwechsel zur Jetzt-Zeit: biz genç kızlar da hemen yakışıklılara hemen tamam diyoruz↓ (‘Und sofort sagen wir jungen Mädchen okay zu den Gutaussehenden.’). Mit dieser formelhaften Äußerung beschreibt sie sich als damals zur Gruppe junger Mädchen gehörend, die sich vom Äußeren eines Mannes blenden lassen. Ihr war die Attraktivität des jungen Mannes Grund genug, eine Ehe mit ihm einzugehen, eine Haltung, die sie aus der heutigen Perspektive kritisiert. Gönül beendet die Sequenz mit einer Formel für Schicksalsergebenheit: sonra işte kader de oldu diyom↑ evlendik↑ (‘Dann denke ich halt auch, es war Schicksal, wir haben geheiratet.’). Mit dieser Formel, die eine fatalistische Sicht auf das Leben und den Glauben an das von Gott festgelegte Schicksal kader ausdrückt, stellt sie sich wieder als die ihr Schicksal erleidende Frau dar; sie geriet in diese Situation und es gab für sie keinen Ausweg aus dieser Verbindung. 24 Straßburger stellt hierzu dar: „[...] wenn sich diese [die Heiratskandidat(inn)en, E.S.] nicht konform verhalten, gefährden sie nicht nur die Beziehungen innerhalb der Familie, sondern auch das Ansehen der Familie in ihrem sozialen Umfeld. Dieser Umstand kann dann dazu führen, daß jemand eher dazu neigt, sich in eine ungewollte Ehe zu fügen als das Ansehen der Familie und damit auch das eigene Ansehen aufs Spiel zu setzen.“ (Straßburger 2003, S. 211). „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 189 3. Leben in Deutschland 25 Für Gönül ist das Leben in Deutschland ein Leben in der Schwiegerfamilie. Da ihr Mann das jüngste von fünf Geschwistern ist und die älteren Geschwister verheiratet sind, wird es als selbstverständlich betrachtet, dass das junge Paar bei den Schwiegereltern lebt. Sie bestehen auf dieser engen Bindung, da sie zum einen emotional an ihm (und den Enkelkindern) hängen, zum anderen der finanziellen Unterstützung des Sohnes bedürfen, denn der Schwiegervater ist arbeitslos. Darüber hinaus erwarten sie die Hilfe der Schwiegertochter im Haushalt und später im Alter. Ein Auszug aus der gemeinsamen Wohnung und die Gründung eines eigenen Hausstandes werden nie thematisiert. Auch Gönüls Mann ist emotional sehr an die Eltern gebunden und hätte den Bezug einer eigenen Wohnung nie befürwortet. 26 Das erste Jahr der Ehe beschreibt Gönül als sehr glücklich; der Mann verwöhnte sie, war aufmerksam und liebevoll. Danach kühlte sein Interesse jedoch merklich ab, er begann eigene Wege zu gehen und sie zu vernachlässigen. Nach der glücklichen Anfangszeit folgt eine Phase, in der die Ehe aus Gönüls Perspektive zumindest funktionierte. Es gab für sie keinen Grund zur offiziellen Klage, da ihr Mann (immer noch) die kategoriendefinierenden Eigenschaften eines „guten Ehemannes“ erfüllte: 27 Er verdiente Geld, rauchte nicht, trank nicht, hatte keine Affären und war nicht jeden Abend außer Haus. Solange er diesen Anforderungen nachkam, musste sie das Eheleben akzeptieren und damit auch ein Leben nach den Vorstellungen der Schwiegereltern. 3.1 Charakterisierung der Schwiegereltern Gönül kam mit hohen Studien- und Berufsambitionen nach Deutschland und erwartete, dass sie mit der Unterstützung der Schwiegerfamilie ihre beruflichen Ziele erreichen konnte. Doch sie sah sich bei der Ankunft 25 Gönül blieb die ersten Monate nach der Eheschließung noch in der Türkei; sie musste die Vollendung des achtzehnten Lebensjahres abwarten, um nach Deutschland zu kommen. Danach erhielt sie ein dreimonatiges Touristenvisum, das aufgrund ihrer Schwangerschaft bis zur Geburt verlängert wurde. Nach der Geburt des Kindes musste sie erneut in die Türkei reisen und sich die notwendigen Papiere für die Familienzusammenführung beschaffen. Danach konnte sie endgültig nach Deutschland migrieren. 26 Gönül weiß das und äußert einen derartigen Wunsch nie ihrem Ehemann gegenüber: kendi beyimi bildiğim için↑ onlardan ayrılmadığını biliyordum↑ o sözü hiç etmedim yani↓ (‘Da ich meinen Mann kannte. Ich wusste, dass er sich nicht von ihnen trennen würde. Also ich habe das nie erwähnt.’) 27 Vgl. auch Kapitel 4. Emran Sirim 190 in Deutschland mit einer Familie und mit Rollenerwartungen konfrontiert, die von ländlich-bäuerlichen Strukturen und Verhaltensweisen geprägt sind. Exkurs 3: Autoritätsstrukturen in der traditionellen türkischen Familie 28 Die traditionelle türkische Familie ist geprägt von einer Autoritätsstruktur, in der Erwachsene die Autorität über Kinder und Männer die Autorität über Frauen haben. D.h. die Autoritätsbeziehungen sind nach Alter und Geschlecht gegliedert. Das Familienoberhaupt bildet das älteste männliche Familienmitglied, also der Vater (Schiffauer 1987, S. 23ff .). Er ist der Ernährer und gleichzeitig Beschützer und Repräsentant der Familie nach außen. Diese Dominanzstellung behält er auch dann bei, wenn die Kinder bereits erwachsen sind. Erst mit seinem Tod übernimmt der älteste Sohn seinen Platz in der Familie. Die weitere Rangfolge geht vom Vater zur Mutter und weiter zu den Kindern. Genauso wie die elterliche Beziehung zu den Kindern ist die Beziehung zwischen Ehepartnern charakterisiert von Autorität. Der Mann hat sämtliche Entscheidungsmacht und Handlungskontrolle in der Familie und muss keine seiner Entscheidungen mit seiner Frau oder anderen Familienmitgliedern absprechen. Daher ist es die Pflicht der Ehefrau und der Kinder, gehorsam zu sein und die Entscheidungen des Vaters nicht in Frage zu stellen. Ein Widersprechen würde als aufmüpfiges Verhalten aufgefasst. In seiner Anwesenheit müssen alle Familienmitglieder besonders auf ihr Verhalten achten und respektvoll sein. Das bedeutet, dass sie seinen Anweisungen sofort und ohne Widerrede Folge leisten, in seiner Gegenwart Gefühle unter Kontrolle halten (z.B. nicht laut sprechen oder offene Wutausbrüche zeigen) und vor ihm nicht rauchen oder Alkohol trinken. Vor allem aber dürfen Paare keine Zärtlichkeiten austauschen (vgl. Schiffauer 1987, S. 55; 1991, S. 47). All das würde als Respektlosigkeit aufgefasst. Die Position der Schwiegertochter beginnt ganz unten in der Hierarchie. Das bedeutet, dass sie von allen erwachsenen Mitgliedern der Familie Befehle entgegennehmen und sie bedienen muss. Hält sie sich konsequent an ihre Rolle, wächst ihr Ansehen in der Familie. Eine wesentliche Verbesserung ihrer Position erreicht sie durch die Geburt eines Kindes, insbesondere eines Sohnes. Dadurch steigt sie in der Hierarchie auf und genießt neues Ansehen. Gleichzeitig bringt es in der Regel auch eine Entlastung bei den häuslichen Pflichten mit sich. Alle Beziehungen im traditionellen Familienmodell sind durch Reziprozität charakterisiert. Die Eltern schenken ihren Kindern das Leben und versorgen sie in der Kindheit, wodurch diese ihren Eltern gegenüber in einer grundsätzlichen Schuld stehen. Sie müssen ihnen das ganze Leben Respekt erweisen und sich um sie kümmern. Die gleiche Leistung können die Kinder später von ihren eigenen Kindern erwarten. Durch diesen zyklischen „intergenerationalen Gabenfluss“ (Schiffauer 1991, S. 237f.) wird gewährleistet, dass die Elterngeneration im Alter versorgt ist. Die Familie fungiert als soziales Netz, das die Älteren auffängt. Die Umkehrung dieses Gabenflusses sehnen besonders die Frauen herbei. Ihre soziale Rangstellung erreicht dann den Höhepunkt, wenn der erwachsene Sohn heiratet und die Schwiegertochter in der Rolle der Untergebenen ihr Achtung entgegenbringt; da- 28 Vgl. hierzu Schiffauer (1987) und Kağıtçıbaşı/ Sunar (1997, S. 156ff.). „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 191 durch beginnt der Kreislauf von neuem (Kağıtçıbaşı/ Sunar 1997, S. 149). Kağıtçıbaşı/ Sunar (1997) stellen in diesem Zusammenhang einen interessanten Unterschied im Vergleich türkischer und westlich-europäischer Kulturen in Bezug auf Alter und Status von Frauen fest. Die soziale Rangstellung einer westlichen Frau hängt im Wesentlichen von ihrer Schönheit und Jugend ab, so dass sie im Alter oft ihren Status verliert. Der Status einer türkischen Frau hingegen nimmt mit fortschreitendem Alter und den Veränderungen im Familienzyklus zu. Sunar (1994) kommt in einer generationenübergreifenden Studie über Familien der türkischen Mittelschicht zu dem Ergebnis, dass das Selbstwertgefühl von Frauen mittleren Alters deutlich stärker war, als das ihrer Töchter. Die Söhne ermöglichen den Müttern die Steigerung ihres Selbstwertgefühls - ein Grund, warum Frauen ihren männlichen Nachwuchs bevorzugen. Ein familienstruktureller Grund für die Favorisierung von Söhnen erklärt sich aus dem Wert, den Eltern mit ihren Kindern in Bezug auf ihre Zukunftswünsche verbinden. So kann nur der Sohn den Familiennamen weiterführen. Die Eltern können nur von ihrem Sohn finanzielle Hilfe im Alter erwarten. Mädchen werden als „‘fremder Besitz’ betrachtet, da sie nach der Heirat zum Wohlstand der Familie ihres Ehemannes beitragen und nicht zu dem ihrer eigenen“ (Kağıtçıbaşı/ Sunar 1997, S. 146f.). Dies erklärt die starke Bevorzugung von Jungen, besonders in traditionellen Familien. Außerdem werden Töchter eher als Last betrachtet, so dass man dazu neigt, heiratsfähige Frauen früh zu verheiraten. Ein Grund dafür ist die Bewahrung der Ehre (namus). Ehre bedeutet in diesem Zusammenhang das Kontrollieren der Sexualität der Frauen. Wird die Ehre einer unverheirateten Frau ‘beschmutzt’, so ist das Ansehen und die Ehre der gesamten Familie und besonders die des Vaters beschädigt. Um das zu vermeiden, versuchen Väter, sich von dieser Last zu befreien, indem sie mit einer frühen Verheiratung der Tochter die Verantwortung dem Schwiegersohn und seiner Familie übertragen. Daher unterstehen junge Frauen in traditionellen Familien immer einer starken Kontrolle (Toprak 2005, S. 71). Gönül erlebt ihre Schwiegerfamilie als deutlich rückschrittlicher im Vergleich zur eigenen Familie: <ama↑> biraz eh hani ben öyle düşünyodum↓ biraz daha ileri görüşlü olabilirlerdi↓ (‘Aber, also ich dachte so, sie hätten ein wenig fortschrittlicher sein können.’). Sie verwendet das Kontrastpaar ileri görüşlü (‘fortschrittlich’) und geri kalmış (‘zurückgeblieben, rückständig’). ‘Fortschrittlich’ ist auf die eigene Familie, ‘rückständig’ auf die Schwiegerfamilie bezogen. Diese Differenzierung zeigt, dass Gönül innerhalb der Kategorie der „traditionellen türkischen Familie“ Variabilität beobachtet. Die Bedeutung von ‘rückständig’ ergibt sich aus dem Kontext, in dem das qualifizierende Adjektiv auftritt: Gönül verwendet es im Zusammenhang mit der Charakterisierung der Verhaltensweisen der Schwiegereltern und deren Erwartungen in Bezug auf die Rolle der Schwiegertochter. Sie beschreibt insbesondere ihre Schwiegermutter als ‘extrem’ und ‘rückständig’, Eigenschaften, die sich darin zeigen, dass sie ihr vorschreibt, wie sie sich zu verhalten und zu kleiden hat. Emran Sirim 192 Gönül hatte z.B. bis zu ihrer Heirat kein Kopftuch getragen; die Schwiegermutter verlangt von ihr, dass sie Kopftuch trägt, wegen der Anwesenheit des Schwiegervaters auch innerhalb des Hauses. Sie achtet peinlich genau darauf, dass bei Gönül die Haare stets bedeckt und keine nackten Arme oder Füße zu sehen sind. 29 Vor allem aber ist sie eifersüchtig (<çok kıskançlık yapıyordu yani↓> ‘Also sie war sehr eifersüchtig.’) in Bezug auf Gönüls Beziehung zu ihrem Sohn. Sie kontrolliert sehr genau die Beziehung zwischen Sohn und Schwiegertochter und mischt sich in die persönlichsten und intimsten Dinge ein. Zwischen Gönüls Mann und der Mutter besteht ein sehr enges, emotionales Verhältnis und er ist von ihrer Meinung und ihrem Urteil abhängig. Die enge Bindung zwischen Mutter und Sohn ist charakteristisch für traditionelle Familien und hat familienstrukturelle Gründe. Exkurs 4: Die Mutter-Sohn-Beziehung und die Rolle der Schwiegertochter Im Islam hat die Mutter eine besondere Bedeutung. Sie wird als ‘heilig’ betrachtet und verdient höchsten Respekt und Fürsorge mehr noch als der Vater. Durch diese Überhöhung gilt die Mutter als gütig, liebevoll, unfehlbar und damit auch als unangreifbar. Die Kinder entwickeln ein sehr enges Verhältnis zur Mutter, die zum wichtigsten Ansprechpartner und zur Vertrauten wird. Die gesamte Kommunikation der Familie läuft über sie. Bei Problemen, die aus Scham dem Vater gegenüber nicht angesprochen oder die eventuell als Schwäche interpretiert werden könnten, und Wünschen (z.B. Heiratswunsch) wenden sich die Kinder an sie, die dann entweder als Vermittlerin auftritt oder die Kinder gegenüber dem Vater deckt. In traditionellen Familienstrukturen wird die Erziehung der Töchter weitgehend von der Mutter übernommen, die der Söhne vom Vater. Dies ermöglicht es den Müttern ihren Söhnen gegenüber liebevoll, nachgiebig und verwöhnend zu sein, während die Töchter die Strenge der Mütter erleben (Schiffauer 1983, S. 96ff.). Die Mutter bestraft die Söhne nicht, da dies die Aufgabe des Vaters ist. Daher haben Söhne ein besonders liebevolles Verhältnis zu ihrer Mutter. Die enge emotionale Beziehung zwischen Mutter und Sohn kann die Beziehung eines jungen Mannes zu seiner Frau stark belasten. Die Schwiegertochter ist zunächst „die ‘Tochter des Fremden’ (el kızı) im eigenen Haus“ (Schiffauer 1987, S. 127). Auch wenn die junge Frau mit der Eheschließung in die Familie ihres Mannes übergeht, wiegen die eigenen familiären Bande aufgrund der Verpflichtungen, die aus Kindschaftsverhältnissen resultieren, schwerer als die neu geknüpften. Daher bleibt auf der Seite der Schwiegereltern (besonders der Schwiegermutter) ständig ein Misstrauen gegenüber der jungen Frau, da sie fürchtet, dass diese versucht den Sohn von den Eltern 29 Gönül beschreibt das folgendermaßen: ben gelir gelmez hemen e: h yani baş kapatmalar↓ şöyle azıcık kolum kaysa kaynanam hemen karışırdı↓ kolun çıktı↓ yok saçın çıktı↓ çorabın çıktı↓, <çok kıskançlık yapıyordu yani↓> (‘Sobald ich hier war, also das Bedecken meiner Haare. Wenn so ein bisschen mein Ärmel verrutschte, hat sich meine Schwiegermutter sofort eingemischt. Dein Arm ist zu sehen. Dein Haar ist zu sehen. Dein Strumpf ist verrutscht. Also sie war sehr eifersüchtig.’). „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 193 emotional zu distanzieren. D.h. es besteht zwischen vor allem Schwiegermutter und Schwiegertochter eine Rivalität in Bezug auf die „Liebe“ des Sohnes. Von daher ist die Bezeichnung eifersüchtig zu verstehen, die viele junge Frauen in Bezug auf ihre Schwiegermutter verwenden. 30 Die Schwiegertochter hat also einen schwierigen Stand in der neuen Familie: Sie muss die Eifersucht und ständigen Einmischungen der Schwiegermutter ertragen, wird mit Haushaltsaufgaben überhäuft und steht bei Auseinandersetzungen alleine da. Die Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter wird auch strukturell belastet dadurch, dass „die Schwiegertochter die Nachfolgerin der Schwiegermutter sein wird: Sie steht im Augenblick zwar noch unter ihrer Autorität, wird aber spätestens nach ihrem Tod ihren Platz einnehmen, und erst dann endet im Grunde ihre Zeit als gelin“ (Schiffauer 1983, S. 81). Mit der Geburt eines Sohnes ändert sich ihr Status im neuen Haushalt: Die Beziehung zu ihm [dem Sohn, E.S.] ist die sicherste und dauerhafteste, die eine Frau haben kann: Die Tochter wird sie früher oder später verlassen, für ihren Mann bleibt sie im Grunde eine Fremde, ihre eigenen Eltern hat sie mit ihrer Heirat verlassen. Die einzige, die diese Beziehung zum Sohn in Frage stellen kann, ist die Schwiegertochter: Es ist nur natürlich, daß sie als Rivalin betrachtet wird. Die Rollenverteilung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter bildet sich so in jeder Generation aufs neue. (ebd., S. 82) Auf Seiten der jungen Männer besteht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber ihren Frauen, da sie die Ehre des Mannes zerstören können (ebd., S. 79). Bei einem Konflikt zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter stellt der Sohn sich in der Regel auf die Seite seiner Mutter. Das scheint den meisten Männern als gerechtfertigt: „‘Natürlich ergreife ich die Partei meiner Mutter. Frauen gibt's viele. Eine Mutter dagegen nur einmal. Wenn meine Frau mich lieben würde, würde sie auch meiner Mutter Ehrerbietung zeigen.’“ (Schiffauer 1987, S. 191). Dieses Zitat ist in Bezug auf die Rolle der Ehefrau aus der Perspektive ihres Mannes aufschlussreich. Demnach könnte eine junge Frau die Achtung und Liebe ihres Mannes gewinnen bzw. erhalten, wenn sie die Rolle als Schwiegertochter perfekt ausfüllt. An solchen Vorstellungen orientierte sich Gönül, was sich als ein schwerer und folgenreicher Irrtum erwies. Auch Gönüls Mann richtete sein Verhalten nach diesem Modell aus. Im Urteil über seine Frau verließ er sich vollkommen auf die Mutter, wie folgendes Beispiel zeigt: Da Gönül über kein eigenes Geld verfügte, musste sie die Schwiegermutter um einen neuen Rock bitten, den sie zu einem Fest anziehen wollte. Die Schwiegermutter verweigerte ihr den Wunsch mit der Begründung, dass sie noch genügend Röcke hätte. Die Bitte um neue Kleidung brachte ihr nicht nur eine demütigende Zurückweisung ein, sondern auch be- 30 Das habe ich häufig in meinem Umfeld beobachtet. Emran Sirim 194 leidigende Äußerungen von ihrem Mann. Denn die Schwiegermutter bestrafte sie zusätzlich dadurch, dass sie den Wunsch an den Sohn weitergab und sie bei ihm als unersättlich anschwärzte. Bei der Schilderung dieses Ereignisses bezeichnet Gönül die Schwiegermutter als ‘Diktatorin’. 31 Aus Gönüls Darstellung des Schwiegervaters lässt sich ableiten, dass er seine Rolle als Haushaltsvorstand und Patriarch der traditionellen Vorstellung entsprechend ausfüllte. Er trägt die Verantwortung für sämtliche Familienmitglieder, vertritt die Familie nach außen und ist für alle Angelegenheiten außer Haus zuständig. Bei innerfamiliären Konflikten und größeren Auseinandersetzungen zwischen Sohn und Schwiegertochter vermittelt er. Das Verantwortungsbewusstsein von Gönüls Schwiegervater geht so weit, dass er seinem Sohn die väterlichen Pflichten abnimmt, sich um die Enkel kümmert und sie z.B. zum Arzt bringt, wenn sie krank sind. In seiner Rolle als Haushaltsvorstand verwaltet er auch die Finanzen der Familie. Gönüls Mann liefert nach der Konvention in traditionellen, bäuerlichen Familien seinen Lohn dem Vater ab, der ihm dann ein Taschengeld gibt. 32 Damit wird er von allen häuslichen Aufgaben entbunden, bleibt aber für lange Zeit in der Abhängigkeit vom Vater. In der traditionellen Familie sollen Kinder, vor allem Söhne, grundsätzlich in Abhängigkeit bleiben. Dieser Wunsch der Eltern begründet sich aus dem Wert, den Söhne für sie im Alter haben. 33 31 Vgl.: Bi de kaynanam da diktatör bi kadın↓ hani öyle bi yumuşak bi kaynana değil ki↑ (‘Und meine Schwiegermutter ist eine Diktatorin. Sie ist keine liebe Schwiegermutter.’) 32 Wie Schiffauer (1987, S. 121f.) darstellt, gehört das im Dorf durch die Arbeit Erwirtschaftete zunächst dem Vater, da man für ihn, den Repräsentanten des Haushaltes, arbeitet. Er wiederum verteilt es im Interesse der Familie. Dabei hat jedes Mitglied ein Recht auf die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse und darüber hinaus auch weitergehender Ansprüche. Daher bekommen die Söhne von den Bauern ein Taschengeld, nicht aber die Töchter. Für die Bedürfnisse der Mädchen erhalten in manchen Familien die Hausfrauen ein eigenes Budget. 33 In der kulturübergreifenden VOC -Studie wurde festgestellt, dass in den meisten Ländern männliche Nachkommen bevorzugt werden, auch in türkischen Familien. Dies gilt besonders für den ländlich-traditionellen Kontext (Kağıtçıbaşı/ Sunar 1997, S. 154ff.). Die gegenseitige Abhängigkeit von Eltern und Söhnen in Bezug auf materielle Dinge bildet sich auch in den sozialen Werten ab: „Zum Beispiel befaßte sich eine Frage in der VOC -Studie mit den Qualitäten, die sich die Eltern am meisten bei ihren Kindern wünschten. Unter all den zur Auswahl gestellten positiven Eigenschaften wurde Gehorsam als die wertvollste betrachtet (60%), während Unabhängigkeit und Selbstbewußtsein (18%) am seltensten genannt wurden.“ (Kağıtçıbaşı/ Sunar 1997, S. 153). Aufgrund des wirtschaftlichen Fortschritts verliert der ökonomische Wert der Kinder zwar an Bedeutung, was aber den psychologischen Wert eines Kindes nicht mindert. In der türkischen Gesellschaft steigt dieser sogar (Kağıtçıbaşı 1982); d.h. trotz finanzieller Unabhängigkeit bleibt eine große Abhängigkeit auf emotionaler Basis bestehen. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 195 3.2 Die Rolle der Schwiegertochter Gönüls gesamtes Leben wird von der Schwiegermutter kontrolliert. Ob und wann sie das Haus verlassen darf und zu welchem Zweck, legt die Schwiegermutter fest. Meist verhindert sie einen Ausgang oder Stadtbummel mit der Begründung, der Weg in die Stadt sei zu weit und die Kinder könnten sich erkälten. Daher beschränken sich Gönüls Aufenthalte außer Haus auf Nachbarschaftsbesuche, die aber ebenfalls von der Schwiegermutter genehmigt sein müssen. Gönül führt ein sehr eingeschränktes, abhängiges und vor allem einsames Leben in der Familie ihres Mannes; eigene Freunde hat sie nicht, so dass die Schwiegermutter trotz des schwierigen Verhältnisses Gönüls einzige Ansprechpartnerin ist. Als ich frage, ob Gönül sich nicht gegen die Behandlung durch die Schwiegereltern und ihren Mann auflehnte, reagiert sie folgendermaßen: 640 GL: ama ben ordaşimdi hepsi birbirlerini tutyordu ↑ ben kalıyordum Ü: Aber ich da- Also alle hielten zusammen. Ich blieb allein. Ich konnte 641 GL: yalnız ↓ ben kendimi savunamıyodum ↓ hani savunma hakkı Ü: mich nicht verteidigen. Also sie gaben mir nicht das Recht, mich zu 642 GL: vermiyorlardı ki ↑ hepsi bir olunca sen bi kişi olunca ↑ susuyodum ↓ Ü: verteidigen. Wenn sie alle zusammenhielten, und du allein warst. Ich blieb still. Hier schildert Gönül sehr eindringlich, welche Konsequenzen die Rolle der traditionellen Schwiegertochter für sie hatte. Verhaltensweisen, wie sie aus der Außenperspektive erwartbar wären - Auflehnung gegen unwürdige Anforderungen und ungerechte Behandlung - sind für Gönül unmöglich. Sie erlebt sich als allein gegenüber allen anderen, d.h. die Schwiegereltern und ihr Mann bilden ihr gegenüber eine Front, ausgedrückt durch: hepsi birbirlerini tutyordu (‘Also alle hielten zusammen.’, Z. 640); und sie verweigern ihr das Recht auf Verteidigung (Z. 641). In dieser Darstellung wird die Rolle der Schwiegertochter symbolisch ausgedrückt als außerhalb der Schwiegerfamilie stehend und als Fremde. Für sie gelten andere Regeln; sie ist abhängig davon, was die Schwiegerfamilie ihr gewährt, nicht nur in Bezug auf materielle Dinge, sondern auch auf Aspekte, die ihre persönliche Integrität betreffen. Sie hat weder ein Recht auf Selbstbestimmung noch auf Schutz ihrer Würde, sondern ist der Macht der anderen Seite ausgeliefert; sie ist ‘allein’. Die einzig mögliche Reaktion, die Gönül in der damaligen Situation für sich sieht, ist susuyodum↓ (‘Ich blieb still.’); sie unterwirft sich und nimmt die Rolle der traditionellen Schwiegertochter an. Emran Sirim 196 Gönül ‘dient’ im Haus der Schwiegereltern. Sie kümmert sich um den Haushalt, putzt, wäscht, kocht und bedient ihre Schwiegereltern und deren häufige Gäste. Sie kümmert sich um die Kinder; Zeit für sich selbst bleibt ihr kaum. 34 Meine Frage, ob sie die Rolle der traditionellen Schwiegertochter erfüllt hat, beantwortet sie mit ‘ja’ zusammen mit der formelhaften Formulierung, dass ‘sie sich hat unterdrücken und ausnutzen lassen’. 35 Damit übt sie aus der heutigen Perspektive offen Kritik am traditionellen Familienmodell und an der Rolle, die sie damals ausfüllte. Auf meine Frage nach den Motiven für ihr Verhalten, zieht Gönül folgendes Resumee: 266 EM: neden izin verdin buna ↑ ** gençliğinden dolayı mı ↑ yoksa bu: Ü: Warum hast du das erlaubt? * Weil du jung warst? Oder weil 267 EM: doğru olduğunu düşündüğün için mi ↑ * Ü: du dachtest, dass das so richtig war? GL: şöyle diyim ben evlilik Ü: Lass es mich so sagen, 268 GL: ne olduğunu bilmiyordum ↓ hani nasıl davranması gerek ↑ eh yani Ü: ich wusste nicht, was eine Ehe ist. Also wie man sich verhalten muss, 269 GL: nasıl acaba davranmam/ hani annemin babamın sözü gelirdi onların Ü: also wie ich mich ungefähr verhalten / also mir fielen die Worte meiner 270 GL: sözünden çıkma diye ↑ zannediyordum ki öyle gidecek ↓ evlilik böyle Ü: Eltern ein, also dass ich ihnen folgen soll. Ich dachte, das würde so 271 GL: bi şey zannediyordum ↓ LACHT BITTER hani danışacak kimse (yoh) ↓ Ü: weitergehen. Die Ehe ist so, dachte ich. Also es gab niemanden, den man um Rat fragen konnte. Gönül beginnt mit einer resümierenden Formel şöyle diyim (‘lass es mich so sagen’, Z. 266), die die zusammenfassende Darstellung ihrer damaligen Sicht aus der heutigen Perspektive einleitet. Sie stellt ihre damalige Unwissenheit in 34 Das schildert sie folgendermaßen: bütün işler üzerimdeydi↓ ama yemekmiş temizlikmiş çocuklarmış- * e: h misafirmişyani zaman bulamıyordum ki↑ böyle beş dakka böyle oturup bi kahve içmeye↓ (‘Um die ganze Arbeit musste ich mich kümmern. Essen, Putzen, die Kinder * äh der Besuch-. Also ich fand keine Zeit, mich mal fünf Minuten hinzusetzen und einen Kaffee zu trinken.’). 35 Gönül stellt fest: kaynanamın çoh baskısında kaldım yani↓ (‘Ich geriet sehr unter den Druck meiner Schwiegermutter.’) und charakterisiert die Schwiegermutter erneut: ço“h geri kalmıştı↓ (‘Sie war sehr zurückgeblieben.’), hiç ilerleme yoktu yani↓ (‘Also es gab keine Entwicklung.’) und hiç kendini geliştirmemiş↓ (‘Sie hat sich überhaupt nicht weiter entwickelt.’). Mit der dreifachen Reformulierung dieses Sachverhalts stuft Gönül die Rückständigkeit der Schwiegermutter besonders hoch. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 197 einer dreiteiligen Formulierung dar: Sie beginnt mit ben evlilik ne olduğunu bilmiyordum↓ (‘Ich wusste nicht, was eine Ehe ist.’), fährt dann fort mit: hani nasıl davranması gerek↑ (‘Also wie man sich verhalten muss.’, Z. 268) und schließt mit einer abgeschwächten Reformulierung eh yani nasıl acaba davranmam/ (‘also wie ich mich ungefähr verhalten/ ’, Z. 269). Ehe bedeutet in diesem Kontext das Leben in der Schwiegerfamilie. Das Leben der Schwiegertochter ist reduziert auf Regeln, nach denen ihre Aufgaben organisiert sind und die sie strikt einhalten muss. Diese Regeln kannte sie zu Beginn ihrer Ehe nicht, sie wusste nicht ‘wie man sich verhalten muss’. Gönül stellt die Ehe als ein von den (Schwieger-) Eltern fest vorgegebenes statisches Modell dar, in dem sie die vorgegebene Rolle einhalten und ausfüllen muss. Als Orientierung für die Rollenausübung diente ihr nur die Handlungsanweisung der Eltern, dass sie ‘den Schwiegereltern folgen soll’ (Z. 270). Ihr damaliges Verständnis von Ehe stellt sie dar als geprägt durch die elterliche Ermahnung und die Erfahrungen mit den Schwiegereltern: evlilik böyle bi şey zannediyordum↓ (‘Die Ehe ist so, dachte ich.’, Z. 271). Sie versuchte die Erwartungen ihrer Schwiegereltern zu erfüllen, in der Annahme, dass sie als gute Schwiegertochter auch eine gute Ehefrau sein würde. Die Kritik an diesem Modell wird durch den sarkastischen Ton und das bittere Lachen ausgedrückt. Gönül kritisiert sowohl ihre damalige Ahnungslosigkeit und Gutgläubigkeit als auch die mangelnde Vorbereitung auf ein eheliches Leben durch die Eltern und das soziale Umfeld. Vor allem aber distanziert sie sich von dieser Art von Ehemodell, das für die Ehefrau in erster Linie die totale Unterordnung unter ein durch strenge Regeln geleitetes Leben in der Schwiegerfamilie bedeutet. Aus der heutigen Perspektive war ihr damaliger Blick auf „Ehe“ völlig unzureichend. Wegen der finanziellen Abhängigkeit von der Schwiegerfamilie blieb ihr jedoch keine andere Wahl, als sich deren Regeln zu unterwerfen. Die totale Unterordnung bietet Gönül jedoch auch Schutz, denn sie kann sich damit gegen Vorwürfe aus der Schwiegerfamilie verteidigen. Als es nach einem tätlichen Streit mit ihrem Mann zu einer familiären Aussprache kommt, und die Schwiegermutter ihr Vorwürfe macht, 36 verteidigt sich 36 Die Schwiegermutter ergreift die Partei des Sohnes und beleidigt Gönül, indem sie dem Sohn vorschlägt, sie zur Strafe für ihr aufmüpfiges Verhalten ihm gegenüber nach Hause zurückzuschicken. In traditionellen Familien droht man Schwiegertöchtern bei einem schweren Fehlverhalten damit, sie in ihre Herkunftsfamilie zurückzuschicken. Dies ist eine der schwerwiegendsten Sanktionen, da so ihr Fehlverhalten nicht in der Familie bleibt, sondern in die Öffentlichkeit getragen wird. Eine ins Elternhaus zurückgeschickte Frau gilt als stigmatisiert. Mit dieser Drohung wird der Schwiegertochter auch stets bewusst gemacht, dass sie eine Fremde in einem fremden Haushalt ist. Die schlimmste Schmach, die einer jungen Frau angetan werden kann, ist das Zurückschicken in der Hochzeitsnacht, wenn sie Emran Sirim 198 Gönül mit dem Argument, dass sie immer die Anforderungen der Schwiegereltern erfüllt und sich untergeordnet hat: 498 GL: çünki onlara karşı hiç <bi: -> yani ne bi saygısızlığım Ü: denn ihnen gegenüber kein einziges Malich war nie respektlos, 499 GL: ya da kendimi savunma hakkım bile olmuyodu ↓ […] Ü: ich hatte nicht einmal das Recht, mich zu verteidigen [ … ] 500 GL: ben onlardan habersiz dedim Ü: Gehe ich, ohne ihnen Bescheid zu sagen, etwa mal 501 GL: bi ko“mşuya mı gidiyorum dedim ↓ Ü: zu den Nachbarn, habe ich gesagt 502 GL: onlardan habersiz bi arkadaş mı bana geliyor dedim ↓ Ü: kommt etwa eine Freundin zu mir, ohne dass sie Bescheid wissen, habe ich gesagt. Die Verteidigung beginnt sie mit der generalisierten Feststellung, dass sie den Schwiegereltern gegenüber ‘nie respektlos war’, d.h. Respekt-Bezeugung führt sie als oberstes Gebot an, an dem sie sich orientierte. Dann führt sie an, dass sie sogar duldete, dass ihr das Selbstverteidigungsrecht verweigert wurde. Der damit verbundene Vorwurf an die Schwiegereltern impliziert, dass Gönül auf ein Recht verzichtete, das üblicherweise Schwiegertöchtern zugestanden wird; durch diesen Verzicht belegt sie ihre völlige Unterordnung. Dann führt sie Belege für ihr gehorsames, regelbezogenes Verhalten an: Ohne die Erlaubnis der Schwiegermutter verließ sie nie das Haus und lud sich keine Freunde ein. In dieser Auseinandersetzung ergreift der Schwiegervater in seiner Rolle als Streitschlichter Partei für sie. Er bestätigt ihr tadelloses Verhalten, unterstützt und lobt sie. Aus seiner Sicht hat sie die konstitutiven Kriterien der ‘traditionellen Schwiegertochter’ - Respekt, Gehorsam und Fleiß - erfüllt und sich damit seinen Schutz und seine Verteidigung verdient: 544 GL: yani allah için dedi kadının bize saygısızlığını görmedim dedi ↓ Ü: Nun wirklich, hat er gesagt, sie war nie respektlos uns gegenüber, hat 545 GL: ben kızlarımdan daha da üstün tutyorum onu seviyorum dedi ↓ çünkü Ü: er gesagt. Sie ist mir sogar wichtiger als meine Töchter, ich habe sie keine Jungfrau war: „Einem Mädchen, das keine Jungfrau war, droht Schande [...]. Unter Spott und Beschimpfungen werde sie dann in ihr Elternhaus zurückgeführt.“ (Schiffauer 1987, S. 21f.). Die Ehe ist damit sofort aufgelöst. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 199 546 GL: bize saygısızlığı olmamış dedi ↓ kadın dört dörtlük dedi ↓ * biz Ü: sehr gern, hat er gesagt. Denn sie war nie respektlos uns gegenüber, 547 GL: şimdi kalkıp ta kadının günahını alsak desek kadın hani bizi Ü: hat er gesagt. Die Frau ist ohne Tadel. Wenn wir ihr jetzt 548 GL: dinlemiyor takhmıyordesek yalan olur dedi↓ işte kayınpeder Ü: Unrecht tun und sagen würden, die Frau hört halt nicht auf uns, schert 549 GL: biraz dedie: : hyani hizmetinden şeyinden olsun bize Ü: sich nicht um uns- Wenn wir das sagen würden, wäre das gelogen, hat er 550 GL: saygısızlığından saygı olma/ yani saygısızlık falan yapmadığından ↓ Ü: gesagt. Der Schwiegervater hat halt ein bisschen gesagtähalso von ihren Haushaltspflichten, von ihren Dings, von Respektlosigkeit, Respekt hat es nicht / also sie war nie respektlos oder so. Der Schwiegervater fokussiert hier, wie vorher Gönül, nur die rollengebundenen Aufgaben einer Schwiegertochter. Durch die tadellose Erfüllung dieser Aufgaben - an oberster Stelle steht auch bei ihm ‘Respekt-Bezeugung’ - genießt sie nicht nur seinen Schutz, sondern auch seine Wertschätzung; sie ist ‘ohne Tadel’ (Z. 547) und ihm ‘wichtiger’ als die eigenen Töchter (Z. 545). In dieser Bewertung der Schwiegertochter drückt er seine Orientierung am traditionellen Familienmodell sehr deutlich aus: Das Weggehen der eigenen Tochter (durch Heirat in eine andere Familie) wird durch den Gewinn der Schwiegertochter (als Arbeitskraft) kompensiert. Den Status einer ‘Tochter’ in der neuen Familie muss sie sich durch Respektbezeugung, Gehorsam und widerspruchslose Unterordnung verdienen. Aus der Perspektive des Schwiegervaters hat Gönül diese Leistung erbracht. Dann kritisiert er Mitglieder der eigenen Familie, seine Frau und seinen Sohn, und hält ihnen vor, dass Vorwürfe an die Schwiegertochter, die sich auf die mangelnde Erfüllung ihrer Aufgaben beziehen, ungerecht und lügenhaft seien. Mit dieser Rede in der Rolle des Streitschlichters erweist sich der Schwiegervater als unparteiisch und gerecht; Gönül hat in ihm einen Verteidiger gefunden. In der Darstellung dieser dramatischen Auseinandersetzung (ihr Mann hatte sie geschlagen, da sie ihm vorgeworfen hatte, sie mit einer anderen Frau zu betrügen) wird Gönüls damalige Vorstellung in Bezug auf die enge Verknüpfung der Rolle als Schwiegertochter und Ehefrau offenbar. Sie beschwert sich nicht darüber, dass sie von ihrem Mann geschlagen und betrogen wurde, sondern sie hebt ausschließlich ihre tadellosen Eigenschaften als Schwiegertochter hervor. Sie spricht in den kategoriengebundenen Eigenschaften der Schwiegertochter, die Rolle als Ehefrau, die misshandelt und betrogen wurde, bleibt Emran Sirim 200 ausgeblendet. Mit dieser Verteidigungsstrategie hat sie Erfolg bei dem einzigen Mitglied der Schwiegerfamilie, das sie verteidigen kann: der Schwiegervater in der Rolle als Streitschlichter. Ein weiterer Grund für das Ausblenden der Rolle als Ehefrau könnte sein, dass Gönül mit der Thematisierung Vorzüge hervorheben müsste, die mit dieser Rolle verbunden sind. Aus der Schilderung ihrer Ehe lässt sich schließen, dass die einzige mit dem Mann privat verbrachte Zeit die Nacht ist. Bei einer Beschwerde über den Mann hätte sie argumentieren müssen, dass sie immer eine gute Frau war (was sich nur auf die Nachtzeit beziehen kann), d.h. sie hätte einen sehr privaten und intimen Bereich thematisieren müssen. Bei einem innerfamiliären Streitgespräch kann sie über intime Details nicht reden; das ist nur im Gespräch unter Frauen möglich. 37 4. Das Eheleben: Unerfüllte Wünsche Gönül empfindet ihre Ehe als Zweckgemeinschaft, als ein Leben nebeneinander, nicht miteinander. Sie sieht ihren Ehemann nur zu den Mahlzeiten, ein Gespräch zwischen den Eheleuten findet kaum statt. 38 Der Alltag ihres Mannes besteht aus Arbeit, Sport und Treffen in Männercafés. 39 Trotz der Schwierigkeiten mit Schwiegereltern und Ehemann führt Gönül etwa acht Jahre lang eine nach außen hin funktionierende Ehe - eine Ehe, in der sie zwar nicht glücklich, aber zumindest versorgt ist. Warum Gönül die wenig glückliche Ehe fortführt, gibt sie in einer formelhaften Äußerung wieder; sie zählt wieder den Minimal- 37 Mir gegenüber deutet Gönül als möglichen Grund für das Fremdgehen ihres Mannes an, dass er mit ihr nicht zufrieden war und sich deshalb eine andere Frau gesucht hat. 38 Vgl. hierzu Olson (1982), der eine ‘duofokale’ Familienstruktur in der Türkei beschrieben hat, in der die Ehepartner in jeweils unterschiedlichen Welten leben. Die Frauen sind im häuslichen Bereich und leben in einer Welt der weiblichen Verwandten, Nachbarn und Kinder. Die Männer sind im öffentlichen Bereich und leben in einer Welt der männlichen Verwandten, Arbeitskollegen und Freunde. Die Einschränkungen in den Lebensbereichen führen dazu, dass es zu keinem Austausch zwischen Ehepartnern kommt. Dieses Verhalten ist auch in der städtischen Bevölkerung und bei vom Land in die großen Städte Zugewanderten zu beobachten (Kağıtçıbaşı 1982). Darüber hinaus zeigt es sich auch bei den in Deutschland lebenden Migranten aus der Türkei. 39 Das stellt sie folgendermaßen dar: akşam altıda gelirdi↓ o zaman yemeği hazırlandıişte banyosunu yapardıyemeğini yerdi↑ * e: h ya fitnese giderdi↑ ya iki saatliğine e: h şeye giderdi kahveye giderdi gelirdi↓ gelip öyle yatardı↓ yani LACHT görüşmemiz o kadardı↓ fazla öyle diyaloğumuz olmuyordu↓ (‘Er kam abends um sechs. Da war sein Essen vorbereitet, er badete, aß sein Essen, ging ins Fitness-Center oder für zwei Stunden ins Männercafé und kam dann. Er kam und ging schlafen. Also so viel sahen wir uns. Also wir sprachen nicht viel miteinander.’). „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 201 katalog von relevanten Eigenschaften eines Ehemannes auf: yani en azından şey yoktu↓ hani böyle size eh bahsettiğim gibi içki kumare: hkarı kız↓ böyle dışarı hayatı yo“htu↓ (‘Also zumindest gab es dings nicht. Also wie ich Ihnen erzählt habe, Alkohol, Glücksspiel, Frauengeschichten. Er ging nicht viel aus.’). Der hier angeführte Katalog von Merkmalen in Bezug auf einen Ehemann ist in traditionellen Milieus weit verbreitet. Es sind äußere Merkmale und Verhaltensweisen, die die materielle Existenz sichern. Andere Eigenschaften, wie z.B. ‘Verständnis’, ‘Zuneigung’ etc. kommen nicht vor. 40 Gönül beginnt mit den Merkmalen içki (‘Alkohol’), kumar (‘Glücksspiel’) und karı kız (‘Frauengeschichten’) und fasst sie dann in der Metapher dışarı hayat (‘das Leben außer Haus’) zusammen, die die zuvor genannten Eigenschaften enthält. Die Negation dieser Merkmale ist charakteristisch für den „guten“ Ehemann, die Zuschreibung dieser Merkmale verweist auf einen „schlechten“ Ehemann. In dieser Phase der Ehe erfüllte der Mann noch alle nach außen hin sichtbaren Anforderungen; und solange er das tat, war eine Auflösung der Ehe für Gönül nicht möglich. Das innere Scheitern der Ehe war für sie und die Familie kein ausreichender Grund, sich scheiden zu lassen; deshalb hielt sie durch. Doch gleichzeitig hegte sie heimliche Wünsche und träumte von einem Leben ohne die Schwiegereltern und von gemeinsamen Unternehmungen mit ihrem Mann. Auf meine Frage, welche Gemeinsamkeiten sie sich wünschte, antwortet sie folgendermaßen: 240 EM: yedi sekiz sene çok iyiydik ama bi şeyi paylaşamıyorduk ↓ Ü: Du sagst, wir haben uns sieben acht Jahre gut verstanden, aber wir haben 241 GL: |işte-| Ü: nun EM: |yani | neyi paylaşmak istiyordun ki ↑ * Ü: nichts miteinander teilen können. Also was wolltest du denn mit 242 GL: |biz e: : h- * | hani- *1,5* hani dersin ya karı koca hani Ü: wir äh- Also, also, man sagt doch, also das Ehepaar geht zusammen EM: |da olmuyordu ↓ | Ü: ihm teilen. 243 GL: birlikte doktora giderler ↓ çocuklarıyla ilgilenirler ↓ en azından Ü: zum Arzt. Sie kümmern sich um die Kinder. Sie gehen zumindest 40 Die in Teil V vorgestellte Informantin z.B. nennt als Auswahlkriterien für einen Ehemann, dass er ‘gut’, ‘verständnisvoll’ und ‘unterstützend’ sein muss. Sie orientiert sich nicht am traditionellen, kollektivistischen Familienmodell, sondern an einem auf das Paar bezogenen Modell. Emran Sirim 202 244 GL: bi dışarı çıkarlar ↓ bi kahve içmeye giderler ↓ bizim o şeyimiz olmadı ↓ Ü: mal aus. Sie gehen mal Kaffee trinken. Das gab es bei uns nicht. Gönül braucht einige Zeit, um meine Frage zu beantworten. Sie beginnt mit biz (‘wir’), auf das eine gefüllte Pause folgt, setzt erneut an (hani ‘also’), macht wieder eine längere Pause und startet dann neu (Z. 242-244). Sie skizziert das, was ‘man’ als Ehepaar normalerweise gemeinsam tut: Man geht gemeinsam zum Arzt, 41 kümmert sich um die Kinder, geht mal ins Café (Z. 242- 244). Diesen Katalog für eheliche Gemeinsamkeit ordnet sie einem allgemeinen Wissen zu (‘man sagt doch’), an dem auch sie sich orientiert und vergleicht damit die eigene Situation (bizim o şeyimiz olmadı↓ ‘Das gab es bei uns nicht.’); bezogen auf diesen Katalog fehlte in ihrer Ehe jede Gemeinsamkeit. Interessant sind die hier genannten Kriterien für Gemeinsamkeit; sie bezeichnen keine auf das Paar bezogenen Attribute, sondern Tätigkeiten, die in der Öffentlichkeit sichtbar werden. D.h. die eheliche Gemeinsamkeit, die Gönül sich wünscht, ist auf die soziale Umwelt bezogen; dort will sie mit ihrem Mann auftreten und als Paar wahrgenommen werden. Dass das nicht gelingt, schreibt sie zum einen der Schwiegermutter zu; die bürdet ihr die gesamte Arbeit im Haus auf, so dass sie für sich und ihren Mann keine freie Zeit findet (zaten kaynana kalk kalk otur otur↓ * ben öyle bi olmuştum yani↓ robot gibi↓ iş güç↓ sadece iş güç↓ yani hiç zaman ayıramadım kendime↓ beyime↓ ‘Sowieso die Schwiegermutter: steh auf, setz dich, also so wurde ich, wie ein Roboter, Arbeit, nur Arbeit, also ich hatte nie Zeit für mich, für meinen Mann.’). Zum anderen macht Gönül die Unerfahrenheit ihres Mannes und seine Abhängigkeit von den Eltern dafür verantwortlich. 42 41 Die hier als Beispiel angeführten gemeinsamen Arztbesuche lassen sich von daher erklären, dass die migrierten Frauen meist nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, so dass sie in solchen Situationen stets einen Dolmetscher brauchen. Gönül wünscht sich ihren Ehemann als Begleiter, der diese Aufgabe jedoch stets seinen Eltern überlässt. 42 Sie erklärt, dass ihr Mann selbst noch ein Kind war und nicht wusste, was eine Ehe bedeutet: o da belki de hani o da daha çocuhtu belki de o da daha evliliğin ne olduğunu bilmiyordu↑ (‘Vielleicht er auch, also er war auch noch ein Kind. Vielleicht wusste er auch noch nicht, was eine Ehe ist.’). Das Verhalten der Schwiegereltern versperrt dem jungen Paar die Möglichkeit, ein eigenständiges Leben zu führen. Dem Sohn wird keine Verantwortung übertragen, so dass er kein Pflichtgefühl für die eigene Familie entwickelt (yani demek istediğim şey↑ sorumluluk vermediler ellerine↓ ‘Also was ich sagen will, ist, man hat ihm keine Verantwortung übertragen.’). Wie wenig der Mann über seine eigene Familie weiß, wird im Folgenden klar: hani bu da sonuçta evli↓ çoluh çocuk sahibi bi“lsin en azından↓ çocuh hastalanır beyimin hiç haberi olmazdı↓ (‘Schließlich ist er verheiratet, er hat Kinder. Er soll es zumindest wissen. Das Kind wurde krank, mein Mann bekam davon überhaupt nichts mit.’). „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 203 Als Beispiel für eine glückliche Ehe, in der das Paar seine Gemeinsamkeit nach außen hin demonstriert, nennt sie die Ehe einer Schwägerin: 295 EM: peki şey eh diyer kardeşleri nasıldı ↑ onlar da evliydi onların Ü: Ja. Also ding äh wie waren seine Geschwister? Die waren auch 296 EM: da çocuk/ çoluk çocuğu vardı herhalde değil mi ↑ Ü: verheiratet. Die hatten doch auch Kinder, nicht wahr? GL: +onlar aynısı Ü: Die waren nicht so. 297 GL: değildi ↓ onlar daha: de/ bence/ * <be“nce yani> benim görüşüm ↑ Ü: Die mehr / meiner Meinung nach / also meiner Meinung nach / nach meiner 298 GL: onlargüzel bir yaşamları vardı ↓ ben görünceme özenirdim ↓ * Ü: Auffassung hatten die ein schönes Leben. Ich sehnte mich danach, so zu 299 GL: çünki beyiyle birlikte bize gelmek istese bi yere gitmek Ü: sein wie meine Schwägerin. Denn wenn sie mit ihrem Mann zu uns kommen 300 GL: istese yan=düğünlere gitse beyiyle birlikte giderdi hep ↓ Ü: wollte, irgendwohin gehen wollte, also wenn sie auf Hochzeiten ging, 301 GL: eh/ eh ben kendim özenyodum yani ↓ hani- * nasıl ilgileniyo ↓ * Ü: ging sie immer mit ihrem Mann zusammen. Also ich sehnte mich danach, so 302 GL: acaba ben de içimde diyodum ki kayınbabam felan olmasaydı onlar Ü: zu sein wie sie. Also wie er sich kümmert. Und ich habe gedacht, 303 GL: da/ benim beyim de böyle yapar mıydı diye↑ Ü: vielleicht wenn mein Schwiegervater und so nicht da wären und sie / ob mein Mann auch so handeln würde. Bei der Beschreibung braucht sie mehrere Anläufe, bricht drei Mal ab (daha: de/ bence/ * <be“nce yani> benim görüşüm↑ ‘die mehr/ meiner Meinung nach/ also meiner Meinung nach/ nach meiner Auffassung hatten’) und charakterisiert dann mit einer glatten Formulierung das Leben der Schwägerin als ‘schön’ (onlargüzel bir yaşamları vardı ‘Die hatten ein schönes Leben.’). Nach einem solchen Leben sehnt sie sich (ben görünceme özenirdim↓ ‘Ich wäre gerne so gewesen wie meine Schwägerin.’). Dann folgt die Begründung dafür: çünki beyiyle birlikte bize gelmek istese bi yere gitmek istese yan= düğünlere gitse beyiyle birlikte giderdi hep↓ (‘Denn wenn sie mit ihrem Mann zu uns kommen wollte, irgendwohin gehen wollte, also wenn sie auf Hochzeiten ging, ging sie immer mit ihrem Mann zusammen.’). Hier stellt Gönül das dar, was ihr in ihrer Ehe fehlt: der gemeinsame Auftritt mit Emran Sirim 204 dem Mann in der Öffentlichkeit; sie möchte öffentlich als seine Ehefrau wahrgenommen werden. Dieser Wunsch ist wahrscheinlich auch dadurch motiviert, dass Klatsch im Bekannten- und Verwandtenkreis über ihre Ehe sich nur dadurch vermeiden lässt, wenn sich ihr Mann gelegentlich mit ihr zeigt. Dass Gönül das Unglück in ihrer Ehe auf das Fehlen von Eigenschaften zurückführt, die nach außen hin das Leben als Paar sichtbar machen, zeigt, dass sie sich bei der Analyse ihrer Eheprobleme (noch) im Rahmen des traditionellen Ehemodells bewegte (in dem die eheliche Beziehung unter äußeren Aspekten definiert ist) und in diesem Rahmen nach Lösungen sucht. Doch in der nächsten Äußerung kommen andere Qualitäten einer ehelichen Beziehung in den Fokus: nasıl ilgileniyo↓ (‘wie er sich kümmert’, Z. 301), beziehungsbezogene Eigenschaften eines Ehemanns, seine Fähigkeit zu Fürsorge und Anteilnahme, die Gönül an dem Mann der Schwägerin bewundert. Noch deutlicher wird ihr Wunsch nach solchen Eigenschaften in dem folgenden inneren Monolog: ben de içimden diyodum ki kayınbabam felan olmasaydı onlar da/ benim beyim de böyle yapar mıydı diye↑ (‘und ich habe gedacht, vielleicht wenn mein Schwiegervater und so nicht da wären und sie/ ob mein Mann auch so handeln würde’), in dem sie sich fragt, ob sich ihr Mann ohne die ständige Anwesenheit des Schwiegervaters anders verhalten würde. Die Referenz auf den Schwiegervater impliziert den Rahmen des traditionellen Familienmodells, in dem in Gegenwart des Patriarchen Verhaltens- und Gefühlskontrolle verlangt wird; in seiner Anwesenheit ist jede emotionale Annäherung zwischen dem jungen Paar unmöglich. In dieser Sequenz macht Gönül zwei Dinge deutlich: Zum einen fehlen ihr in der Beziehung zu ihrem Mann wesentliche emotionale Qualitäten; und zum anderen sieht sie, dass diese sich im Rahmen des traditionellen Familienmodells nicht entwickeln können. Mit dieser Erkenntnis bewegt sie sich außerhalb des Modells und zeigt die aus ihrer Perspektive entscheidenden Defizite auf: Es gibt keine strukturell vorgesehene Möglichkeit zur Entwicklung einer Paarbeziehung. Gönül hat Bedürfnisse entdeckt, die sich im Rahmen des strengen traditionellen Modells nicht erfüllen lassen. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 205 5. Das Scheitern der Ehe Nachdem das Eheleben acht Jahre in der beschriebenen Weise verlief, entwickelte sich die Katastrophe. 5.1 Die Affäre Gönüls Mann verändert sich und beginnt ein Leben ‘außer Haus’ zu führen. Er geht in Bars, bleibt nachts immer länger weg, bis er ganze Tage nicht mehr erscheint; er hat eine Affäre und fängt an zu trinken und Drogen zu nehmen. 43 Anlass für die Veränderung ist der Bruder, ein Frauenheld und Spieler. Er bringt Gönüls Mann zum Glücksspiel, in Männercafés und in Kontakt zu Frauen: 308 GL: kaynım çoh böyle dışarı hayatını seven bi insandı ↑ […] Ü: Mein Schwager ist ein Mensch, der das Leben außer Haus sehr liebte. [ … ] 309 GL: çoh böyle […] karı kız peşinde↑ Ü: Er ist […] ständig hinter Frauen her. 310 GL: kumarda kahveden çıkmayan bi insandı ↑ * ama hanımı alışmıştı Ü: Ein Mensch, der ständig beim Glücksspiel, in der Kneipe war. Aber seine 311 GL: herhalde ↑ kabulleniyordu kadın yani ↓ LACHT Ü: Frau hatte sich vermutlich daran gewöhnt. Also die Frau nahm es hin. 314 GL: ama ben kendim bana çoh zor geliyordu↓ Ü: Aber ich selbst, mir fiel es sehr schwer. Wenn der Mann nicht nach Hause 315 GL: adam eve gelmediği zaman ↑ ben eh çoh Ü: kam, ich äh wurde sehr depressiv. 316 GL: bunalıma giriyodum ← ağlıyodum ↓→ * paylaşacah şm/ kimse de Ü: Ich weinte. Und wenn man niemanden hat, mit dem man das teilen kann. 317 GL: olmayınca ↑ çoh içime atıyodum ↓ çoh ağlıyodum ↓ LACHT BITTER Ü: Ich habe viel in mich hinein gefressen. Ich weinte sehr. Die Frau dieses Bruders scheint sich an die Ausschweifungen ihres Mannes gewöhnt zu haben; Gönül charakterisiert sie als eine das ausschweifende Leben ihres Mannes duldende Frau (‘Sie nahm es hin.’, Z. 311). Diese Charakterisierung ist nicht negativ konnotiert; Gönül respektiert das Verhalten der 43 Mit zwei formelhaften Wendungen beschreibt Gönül die Veränderung ihres Mannes: ama sonradan bi“ bozuldu ta“m bozuldu adam↓ tam yoldan çıktı↓ (‘Aber dann hat er sich zum Schlechten verändert, so richtig zum Schlechten. Er geriet völlig aus der Bahn.’). Durch den dreigliedrigen Aufbau wird die Äußerung hoch gestuft und ihre Totalität zum Ausdruck gebracht. In dem Bild des vom Weg abgekommen Mannes fasst sie die Entwicklung, die ihr Mann durchmacht, zusammen. Emran Sirim 206 Frau, da in der türkischen Kultur eine Frau, die trotz des offenkundigen Fehlverhaltens des Ehemannes zu ihm hält, hoch geschätzt wird und die Achtung ihrer Familie und des gesamten Umfelds genießt. Für sich selbst jedoch lehnt Gönül diese Rolle ab. Sie stellt dar, dass sie unter dem Verhalten ihres Mannes sehr gelitten hat; die Schwägerin dient ihr als Kontrastfigur für die Darstellung ihres eigenen Leidens. Mit verschiedenen Ausdrücken des Leids (‘ich wurde depressiv, ich weinte, ich habe viel in mich hineingefressen’, Z. 315-317) und der mehrfachen Verwendung des Adverbs çok (‘viel’) stuft sie ihren damaligen Kummer hoch. Gleichzeitig demonstriert sie durch ihr bitteres Lachen, dass sie Distanz zu ihrem damaligen Empfinden hat. Ihrem Mann gegenüber gibt sie nicht zu erkennen, dass sie ihn des Fremdgehens verdächtigt. Aber sie beobachtet sein Verhalten, sucht nach Hinweisen für den Betrug und versucht Gewissheit zu bekommen. Auch als sie sich der Affäre nahezu sicher ist, lässt sie sich den Verdacht nicht anmerken. Wenn sie zeigen würde, was sie vermutet, würde sie ihm die Gelegenheit geben, zu gestehen und seine Affäre weiter zu führen, ohne die Mühen der Geheimhaltung. Gönül wäre damit - wie ihre Schwägerin - zur Duldung der Affäre gezwungen. Das versucht sie zu verhindern. Sie gibt sich unwissend, da ihr Mann nicht glauben soll, sie sei eine Frau, die eine Affäre einfach hinnimmt. Damit unterscheidet Gönül sich von dem Verhalten der Frauen in traditionellen Ehen, die die Eskapade ihrer Ehemänner hinnehmen, da ihnen aus Versorgungsgründen keine andere Wahl bleibt. Gönüls Entscheidung gegen die Rolle der wissend-duldenden Frau ist ein weiterer Schritt in Richtung Emanzipation von der Rolle der Frau im traditionellen Ehemodell. Der Schwiegervater versucht auf seinen Sohn einzuwirken und ihn wieder ‘auf den rechten Weg zu bringen’, indem er an sein Verantwortungsgefühl appelliert und ihn daran erinnert, dass er Frau und Kinder hat. In der patriarchalischen Familienstruktur ist es nur dem Vater erlaubt, seinen Sohn zu kritisieren und zurechtzuweisen. Doch sein Appell fruchtet nichts; Gönüls Mann sieht Frau und Kinder in der Obhut seines Vaters gut versorgt und lebt sein Leben unbekümmert weiter. Da Gönül eine direkte Kritik ihrem Mann gegenüber nicht möglich ist, 44 wendet sie sich an ihre Schwägerinnen mit dem Appell, für sie aktiv zu werden. Auf die Frage nach der Unterstützung durch die Schwägerinnen antwortet sie folgendermaßen: 44 Personen, denen man Respekt schuldet, darf man nicht kritisieren. Stattdessen richtet man seine Kritik an Dritte (vgl. Schiffauer 1991). „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 207 317 EM: görümcelerin ve eltilerin de mi: Ü: Haben sich auch deine Schwägerinnen 318 EM: pek ilgilenmiyordu seninle ↑ Ü: nicht so um dich gekümmert? GL: o e: h şimdi allah için diyim ↑ Ü: Um es mal so zu sagen, meine Schwägerinnen 319 GL: görümcelerim yani onlarlan paylaşıyordum↓ hani kardeşin e: h eve Ü: also mit denen redete ich. Also dein Bruder kommt nicht nach 320 GL: gelmiyo ↓ * → yani gelmediği zamanları söyliyim ↑← hani gelmiyo Ü: Hause. * Also ich meine die Zeiten, wenn er nicht kam. Ich sagte, 321 GL: diyodum ↓ ilgilenmiyo diyodum ↓ * sabr=et diyodu ↓ inşallah döner Ü: er kommt nicht. Ich sagte, er kümmert sich nicht. Sei geduldig, sagten 322 GL: diyodu ↓ yani bana moral vermeye çalışyolardı o sıralarda ↓ Ü: sie. So Gott will, kommt er zurück, sagte sie. Also sie versuchten, mir Mut zu machen zu der Zeit. Sie beginnt mit einer modalisierenden Einleitungsformel mit relevanzhochstufender Funktion, die signalisiert, dass die Antwort wohlüberlegt ist: o e: h şimdi allah için diyim↑ (‘um es mal so zu sagen’). Gleichzeitig schwingt auch Enttäuschung über nicht geleistete Unterstützung mit. In einer Redewiedergabe, in der sie sich an die Schwägerinnen wendet, charakterisiert sie das Verhalten ihres Mannes und führt zwei Kriterien aus dem Minimalkatalog für Anforderungen an einen Ehemann an, die er nicht mehr erfüllt: hani gelmiyo diyodum↓ ilgilenmiyo diyodum↓ (‘Ich sagte, er kommt nicht. Ich sagte, er kümmert sich nicht.’). Damit zeigt sie den Schwägerinnen den Ernst der Lage. Die darauf folgende Redewiedergabe der Schwägerinnen macht in ihrer Formelhaftigkeit sehr deutlich, dass die Unterstützung, die Gönül erfuhr, kein wirklicher Beistand war. Sie gaben ihr zwei stereotype Ratschläge: - sabr=et diyodu↓ (‘Sei geduldig, sagten sie.’) - inşallah döner diyodu↓ (‘So Gott will, kommt er zurück, sagten sie.’). Die Schwägerinnen wiegeln ab: Der Ratschlag, geduldig zu sein, ist charakteristisch für eine Frau, die Probleme eher aussitzt, als aktiv an einer Lösung zu arbeiten. Und mit der Formel für Schicksalsergebenheit inşallah weisen sie auf eine höhere Ebene; der Bruder wird zu seiner Familie zurückkehren, so Gott will. Damit entlasten sie ihn von seiner Verantwortung. Diese Art von Hilfe charakterisiert Gönül als ‘emotionale Unterstützung’ ( yani bana moral Emran Sirim 208 vermeye çalışyolardı o sıralarda↓ ‘Also sie versuchten, mich emotional zu unterstützen zu der Zeit.’). Die Reaktion der Schwägerinnen ist bezeichnend für patriarchalisch-traditionelle Familien, in der sich die Frauen emotional unterstützen; aber tatkräftige Hilfe wird in der Regel nicht angeboten. Denn das In-Frage-Stellen des Verhaltens der männlichen Familienmitglieder steht den weiblichen Mitgliedern nicht zu. Nur der Vater oder ältere männliche Familienmitglieder dürfen die jüngeren Männer der Familie kritisieren und zur Ordnung rufen. Offene Kritik ist kaum möglich, da zum einen die Schwestern den Bruder nicht bloßstellen wollen, zum anderen solch eine Vorgehensweise bedeuten würde, dass sie gegen ein Mitglied der eigenen Familie agieren. 5.2 Gönüls Reaktion Nach einem Jahr kommt es schließlich zum Bruch zwischen Gönül und ihrem Mann. Mit großer innerer Distanz schildert sie, wie sie eines Morgens Zeugin eines Telefongesprächs ihres Mannes und seiner Geliebten wird. Jetzt macht sie ihm zum ersten Mal Vorwürfe und bezichtigt ihn des Fremdgehens. Als sie ihn als pezevenk (‘Zuhälter’) beschimpft, eskaliert die Situation. Er geht auf sie los und schlägt sie. Gönül will ihn nach diesem Angriff verlassen, doch der Schwiegervater greift ein. Er versucht, den Streit zu schlichten, und überredet sie zum Bleiben. Doch weder Gönül noch ihr Mann sind ernsthaft an der Aufrechterhaltung der Ehe interessiert; er droht mit Scheidung, sie ist nicht mehr gewillt, um ihre Ehe zu kämpfen (boşuyosa boşasın↓ ‘Wenn er sich von mir scheiden lassen will, soll er das.’). Nach dem Selbstverständnis einer traditionellen Frau wäre es ihre Pflicht, ihren Mann von der Scheidung abzubringen. Doch Gönül distanziert sich von dieser Rolle; sie kämpft nicht um ihre Ehe. Trotz der Bemühungen der Älteren versöhnt sich das Paar nicht. Gönüls Ehemann zieht aus dem gemeinsamen Schlafzimmer und dann aus der Wohnung aus. Alle Versuche des Schwiegervaters, seinen Sohn zurückzuholen, erweisen sich als vergebens. Gönül führt ihr Leben in der Schwiegerfamilie unverändert fort, 45 leidet aber sehr in dieser Zeit. 46 Immer wieder erreichen sie Nachrichten über ihren Mann, der sich ein Leben mit seiner Geliebten auf- 45 Dedim ki hani adam gelmiyorsa da ev nasıl olsa bizim diyordum↓ ben oturur çocuklarıma bakarım↓ […] canı cehenneme diyordum↓ gelmese de gelmesin yaşarım diyordum↓ (‘Ich sagte mir, also auch wenn der Mann nicht kommt, das Haus gehört schließlich uns, sagte ich. Ich bleibe da und ziehe meine Kinder groß. Zum Teufel mit ihm, sagte ich. Wenn er nicht will, soll er nicht kommen, ich führe mein Leben weiter, sagte ich.’). 46 Sie gesteht ein, dass sie ihren Mann zum Wohl der Kinder doch wieder aufgenommen hätte, da sie nicht ohne Vater aufwachsen sollten. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 209 baut: Mit ihr lebt er all das aus, was Gönül sich immer gewünscht hat: Er zeigt sich mit ihr in der Öffentlichkeit, macht ihr teure Geschenke und richtet sich mit ihr eine Wohnung ein. Bald kommt es zum nächsten Eklat. Als der Schwiegervater Gönül bittet, eine SMS , die er auf sein Handy bekommen hat, zu öffnen, liest sie eine Nachricht von ihrem Mann, in der er seinem Vater verkündet, dass er bald einen Enkel bekommt. 662 GL: telefonda diyor ki benim beyim yani güya onlarlan Ü: im Telefon 47 sagt mein Mann, also angeblich hatte er keinen 663 GL: görüşmüyormuş diyor ki babacığım diyor ts: hatırladığım Ü: Kontakt zu ihnen, er sagt, mein lieber Vater sagt er, ts: so weit 664 GL: kadarıyla tam akhlıma gelmiyo da↑ diyor ki babacığım diyo Ü: ich mich erinnere. Ich habe es nicht mehr ganz im Kopf, er sagt 665 GL: bu mutlu günümüzde keşke yanımızda olsaydın diyo ↑ biz eh: : m * Ü: mein lieber Vater, sagt er, wenn du doch nur an diesem 666 GL: bi- * bi oğlun- * bi oğlan torunun oluyo diye ↓ […]LACHT LEICHT Ü: glücklichen Tag bei uns sein könntest. Wir ä: hein, ein Junge, * du bekommst einen Enkel. [ … ] LACHT LEICHT 667 GL: kadın hamile olduğunu hani duyuyorsun ya ↑ […]ondan sonra orda Ü: Du hörst, dass die Frau schwanger ist. […] 668 GL: elim ayağım titredi: sesim titriye titriye okuyorum ↑ Ü: Und dann zitterten da meine Hände und Beine, mit zitternder Stimme 669 GL: ama orda patladım ↓ […] orda ağzıma geleni saydım ↓ […] Ü: lese ich es. Aber da bin ich geplatzt. [ … ] Da habe ich 670 GL: dedim sokak orospusunun piçi dedim ne kadar değerli Ü: Schimpfwörter benutzt. […] Ich habe gesagt, 671 GL: oluyormuş ↓ oğlu/ iki tane da“ğ gibi dedim oğlu Ü: wie wertvoll doch der Bastard einer Straßenhure ist. Sein 672 GL: var allaha çoh şükür ↓ […] Ü: Sohn / er hat zwei prachtvolle Söhne Gott sei Dank […]. 673 GL: yani sanki ilk çocuğu oluyomuş gibi müjdeyi veriyo dedim ↓ Ü: Also so, als ob er sein erstes Kind bekommt, überbringt er 47 Im Sinne einer SMS -Nachricht. Emran Sirim 210 674 GL: şurdakiler bunun/ bunlar onun çocukları değil mi dedim ↓ […] Ü: die Freudenbotschaft. Die hier seine / Sind die etwa nicht seine Kinder, habe ich gesagt […] 675 GL: hiç onlara karşı öyle konuşmamıştım ↓ ondan sonra işte kayınpeder Ü: Ich hatte nie so mit ihnen geredet. Und dann halt hat der Schwiegervater 676 GL: dedi onun da canı cehenneme bunun da dedi: ↓ Ü: gesagt, zur Hölle mit ihm und ihr auch, hat er gesagt. Sie beginnt mit einer szenischen Beschreibung (telefonda diyor ki benim beyim ‘im Telefon sagt mein Mann’, Z. 662), bricht ab und liefert als Hintergrundinformation, dass ihr in diesem Augenblick klar geworden ist, dass ihr Mann noch immer Kontakt zu seinen Eltern hat (yani güya onlarlan görüşmüyormuş ‘Also angeblich hatte er keinen Kontakt zu ihnen.’). Dann fährt sie mit der szenischen Beschreibung fort und gibt (nach einem weiteren Einschub) den Wortlaut der SMS wieder: babacığım diyo bu mutlu günümüzde keşke yanımızda olsaydın diyo↑ (‘Er sagt, mein lieber Vater, sagt er, wenn du doch nur an diesem glücklichen Tag bei uns sein könntest.’, Z. 664f,). Für den folgenden SMS -Teil braucht sie drei Anläufe, um zu formulieren, dass ihr Mann einen Sohn ankündigt, den seine Geliebte erwartet: biz eh: : m * bi- * bi oğlun- * bi oğlan torunun oluyo diye↓ (‘wir ä: h-, ein, ein Junge, du bekommst einen Enkel’, Z. 665f.). Mit dem leichten Lachen zeigt sie, wie distanziert sie das Ereignis aus heutiger Sicht betrachten kann. Dann wechselt sie von der szenischen Darstellung zur Darstellung ihrer damaligen Innenperspektive und schildert, wie sie auf die Nachricht reagierte: Sie zitterte am ganzen Körper und ihre Stimme zitterte, als sie die Nachricht laut vorliest (Z. 668f.). Dann schildert sie, wie sich ihre Wut und Empörung gegen den anwesenden Schwiegervater richtete (ama orda patladım↓ ‘Aber da bin ich geplatzt.’, Z. 669) und sie ihm gegenüber ihren Mann in einem heftigen Ausbruch beschimpfte (orda ağzıma geleni saydım↓ ‘Da habe ich Schimpfwörter benutzt.’, Z. 670). In dem folgenden Eigenzitat bezeichnet sie das ungeborene Kind der Geliebten als sokak orospusunun piçi (‘Bastard einer Straßenhure’, Z. 670) und empört sich, dass ihr Mann sich über diesen Sohn so freut, als ob es sein erster Sohn wäre. Damit stellt er ihn über seine ehelichen Söhne (iki tane da“ğ gibi oğlu ‘seine zwei prachtvollen Söhne’, Z. 671), und schätzt ihn höher als die ehelichen Kinder. Nach diesem Ausbruch folgt der selbst-reflexive Kommentar: hiç onlara karşı öyle konuşmamıştım↓ (‘Ich hatte nie so mit ihnen geredet.’, Z. 675). Gönül bringt Wut, Empörung, Schmerz und Enttäuschung dem Schwiegervater gegenüber direkt und offen zum Ausdruck und verwendet dazu eine derbe „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 211 Ausdrucksweise. Damit bricht sie alle Regeln, die in traditionellen Familien für die Interaktion zwischen jüngeren weiblichen Familienmitgliedern und dem Familienvorstand gelten. Doch vom Schwiegervater erfolgt keine Sanktion, sondern er verflucht seinen Sohn und dessen Geliebte. Die Reaktion des Schwiegervaters macht die Schwere des Vergehens des Sohnes deutlich, und er stimmt mit Gönüls moralischer Verurteilung überein. Die Nachricht von der Schwangerschaft der Geliebten ihres Mannes trifft Gönül schwer - und das in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist damit die Trennung endgültig; zum anderen fühlt sie sich von ihren Schwiegereltern hintergangen. Denn mit der Entscheidung für die Geliebte verließ Gönüls Mann auch seine Familie und seine Familie trennte sich (angeblich) von ihm. Gönül glaubte, dass die Schwiegereltern aus Protest gegen den Lebensstil des Sohnes den Kontakt zu ihm abgebrochen hätten. Der Schwiegervater hatte ihr mehrmals versichert, dass er sie hoch schätzt und sie seinen Schutz genießt, so lange sie sich nach ihm richtet. 48 Darauf verließ sie sich und wollte weiterhin in der Schwiegerfamilie bleiben. Mit der Nachricht wird ihr nun klar, dass die Schwiegereltern immer noch Kontakt zu ihrem Sohn haben, was aus ihrer Sicht einer Billigung seiner außerehelichen Beziehung gleichkommt. Auch dieser Vertrauensbruch und die Empörung darüber spielten bei ihrem Wutausbruch eine wesentliche Rolle. Aus Gönüls Perspektive betreiben die Schwiegereltern ein Doppelspiel. Ihr gegenüber verurteilen sie das Fehlverhalten ihres Sohnes und brechen offiziell den Kontakt zu ihm ab. Doch inoffiziell stehen sie zu ihrem Sohn und pflegen den Kontakt, so dass er es sich erlauben kann, die Nachricht von der Schwangerschaft seiner Geliebten den Eltern als Freudenbotschaft zu verkünden. Sie verfolgen damit zwei Ziele. Zum einen wollen sie durch die offizielle Trennung von ihrem Sohn in der türkischen Gemeinde das Gesicht wahren, da das skandalöse Verhalten des Sohnes sanktioniert werden muss, wenn sie weiterhin ein angesehenes Mitglied der Community bleiben wollen. Zum anderen wollen sie Gönül in der Familie behalten, sie soll auch weiterhin ihre Schwiegertochter sein. Doch mit dem Vertrauensbruch glaubt Gönül die wahren Beweggründe zu erkennen: Sie wollen sie nach dem Auszug ihres Mannes nur noch als hizmetçi (‘Dienstmädchen’) benutzen. Denn - so drückt es Gönül mit 48 Da Gönül mit ihrer Heirat in den familialen Verbund ihres Ehemannes übergetreten ist, muss der Patriarch auch dann für seine Schwiegertochter sorgen, wenn ihr Mann verstirbt oder sich von seiner Frau trennt. Dies macht der Schwiegervater Gönül deutlich. Er knüpft aber die Bedingung daran, dass sie auch weiterhin ein Leben in Abhängigkeit von den Schwiegereltern führen muss. Emran Sirim 212 Bitterkeit aus - würde sie die Familie verlassen, müssten die Schwiegereltern auf den Komfort verzichten, jemanden im Haus zu haben, der den Haushalt erledigt und sie bei Bedarf pflegt. 49 Als Gönüls Schwiegervater Gerüchte zu Ohren kommen, dass sein Sohn die Scheidung einreichen will, begreift Gönül, dass sie handeln muss. Sie ruft heimlich ihre Schwester an und bittet sie, den Vater über die Entwicklungen zu informieren. Der Vater soll für Gönül das weitere Vorgehen entscheiden. Hier verhält sie sich wieder wie die gehorsame Tochter, die sich bei allen wichtigen Fragen an ihre Älteren wendet; sie bewegt sich in dem von ihrer Familie abgesteckten Spielraum. Ihr Vater soll bestimmen, was sie tun soll. Dieses Verhalten ist familienstrukturell begründet: Gönül erhält nur die Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie, wenn sie tatsächlich alles Erdenkliche getan hat, um ihre Ehe zu retten. Der Vater honoriert das und lässt ihr ausrichten, dass sie angesichts der Scheidungsabsichten ihres Mannes nicht länger bei den Schwiegereltern bleiben soll. Jetzt kann Gönül sich von Mann und Schwiegerfamilie trennen. Sie packt ihre Sachen, nimmt ihre Kinder und verlässt heimlich das Haus. Sie muss das heimlich tun, da sie weiß, dass ihre Schwiegereltern sie nicht mit den Kindern gehen lassen würden. 50 Doch die Trennung hat für Gönül noch ein Nachspiel. Die Schwiegereltern drohen, ihrer Familie Gewalt anzutun, wenn sie die Söhne nicht zurückgibt. Nach längerem Hin und Her einigen sich die Parteien, dass der älteste Sohn bei den Schwiegereltern lebt, da er sehr an seinem Großvater hängt, die beiden jüngeren Kinder leben bei Gönül. Heute zieht Gönül für sich ein positives Fazit. Sie hat es geschafft, sich aus der Abhängigkeit der Schwiegerfamilie und aus ihrer Ehe zu befreien; sie lebt allein mit den Kindern und sorgt eigenständig für den Unterhalt ihrer kleinen Familie. 49 Meğerse ben onların hizmetçisiyim↓ çocuklarına bakhyorum↓ onlara bakhyorum sonuçta↓ (‘Dabei war ich ihr Dienstmädchen. Schließlich versorge ich ihre Kinder, ich versorge sie.’) 50 Gönül fürchtet ihre Kinder zu verlieren, denn nach traditioneller Vorstellung hat der Schwiegervater auch die Autorität über die Enkelkinder. Dies bedeutet, dass im Falle einer Trennung oder Scheidung des Ehepaares die Kinder in der Obhut der Schwiegereltern bleiben. In traditionellen Familien gehören die Kinder des Sohnes in dessen Familie. Auch heute noch raten manche Familien bei einer Scheidung der Tochter, die Kinder in der Familie des Ehemannes zu lassen. „Ich habe mich völlig umsonst unterdrücken lassen“ 213 6. Fazit In der Präsentation ihrer Biografie stellt Gönül dar, dass sie sich lange Zeit an dem traditionellen Ehemodell orientierte; es war für sie selbstverständlich, als junge Frau kannte sie nichts anderes. Das erste Schockerlebnis kommt für sie mit der hastig und lieblos durchgeführten Eheschließung. Das Leben in der Migration ist ausschließlich auf die Schwiegerfamilie beschränkt; Außenkontakte, durch die sie andere Sichtweisen hätte kennenlernen können, hat Gönül nicht. Sie fügt sich vollständig in die Rolle der traditionellen Schwiegertochter ein, erreicht dadurch die Anerkennung der Schwiegerfamilie und sichert sich das wirtschaftliche Überleben. Die allmähliche Veränderung ihrer Orientierung geschieht durch ihr unglückliches Leben in der Schwiegerfamilie und in der Ehe. Sie erlebt die Defizite, die mit dem Familienmodell verbunden sind, und kommt - gezwungen durch die äußeren Ereignisse (die Affäre des Mannes und die folgende Trennung) allmählich zur Erkenntnis, dass sie sich aus diesen Familienstrukturen befreien muss. Das Scheitern des traditionellen Modells war in dem Moment vorhersehbar, als sie individuelle Bedürfnisse entdeckt, die in diesem Modell, das in erster Linie der Erfüllung sozial-ökonomischer Bedürfnisse (Nachkommen und Altersversorgung) dient, nicht befriedigt wurden. Gönüls biografische Entwicklung kommt auch in der Darstellung zum Ausdruck. Die Kritik an verschiedenen Aspekten des traditionellen Familienmodells wird immer deutlicher, ihre Distanzierung davon immer expliziter. Dem entspricht die Darstellung der allmählichen Wandlung vom ahnungslosen Mädchen, das (wie im traditionellen Modell vorgesehen) im Vertrauen auf die Fürsorge des Vaters ein Ehearrangement eingeht, sich zunächst allen Regeln der Schwiegerfamilie unterwirft, doch sich allmählich auflehnt, bis es am Ende offen rebelliert und es zum Bruch mit Mann und Schwiegerfamilie kommt. Nach den dramatischen Ereignissen in der Ehe und Schwiegerfamilie findet Gönül schließlich ein alternatives Lebensmodell für sich, in dem sie allein mit ihren Kindern lebt. Damit wechselt sie vom kollektivistischen zu einem an individuellen Bedürfnissen orientierten Familienmodell. Emran Sirim 214 7. Literatur Deppermann, Arnulf (2008): Verstehen im Gespräch. In: Kämper, Heidrun/ Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprache - Kognition - Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2007. Berlin/ New York, S. 225-261. Kağıtçıbaşı, Çiğdem (1982): The changing value of children in Turkey. Honolulu, HI . Kağıtçıbaşı, Çiğdem/ Sunar, Diane (1997): Familie und Sozialisation in der Türkei. In: Nauck, Bernhard/ Schönpflug, Ute (Hg.): Familien in verschiedenen Kulturen. Stuttgart, S. 145-162. Kızılhan, Ilhan (2008): Islam, Migration und Integration: Konflikte jugendlicher Migranten mit islamischem Hintergrund. Internet: http: / / www.cco.regener-online.de/ 2008_1/ pdf/ kizilhan_2008.pdf (Stand: 07/ 2010). Klaus, Daniela (2008): Sozialer Wandel und Geburtenrückgang in der Türkei. Der Wert von Kindern als Bindeglied auf der Akteursebene. Wiesbaden. Olson, Emelie A. (1982): Duofocal family structure and an alternative model of husband-wife relationship. In: Kağıtçıbaşı, Çiğdem (Hg.): Sex roles, family and community in Turkey. Bloomington, IN , S. 33-72. Schiffauer, Werner (1983): Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem deutsch-türkischen Sexualkonflikt. Frankfurt a.M. Schiffauer, Werner (1987): Die Bauern von Subay - Das Leben in einem türkischen Dorf. Stuttgart. Schiffauer, Werner (1991): Die Migranten aus Subay - Türken in Deutschland: Eine Ethnographie. Stuttgart. Straßburger, Gaby (2003): Heiratsverhalten und Partnerwahl im Einwanderungskontext: Eheschließungen der zweiten Migrantengeneration türkischer Herkunft. Würzburg. Sunar, Diane (1994): Changes in child rearing practices and their effect on self esteem in three generations of Turkish families. Paper presented at the American Psychological Association 102nd Annual Convention, August 12-16, 1994, Los Angeles. [zitiert nach Kağıtçıbaşı/ Sunar (1997)]. Toprak, Ahmet (2005): Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Freiburg. Teil V Sibel Ocak Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist - Migration und die Entscheidung für ein paarbezogenes Familienmodell 1. Gegenstand und Ziel Das 1,5-stündige Interview findet in der Wohnung der Informantin Sevim ( SV ) statt. Während des Gesprächs bin ich mit ihr allein, der Ehemann ist mit dem kleinen Sohn im Stadtzentrum, damit wir uns ungestört unterhalten können. Sevim ist zum Zeitpunkt des Interviews Mitte 30, verheiratet und hat einen zweijährigen Sohn. Nach Deutschland kam sie wegen ihres Ehemannes. Ich lernte sie vor ungefähr drei Jahren in dem von mir geleiteten multinationalen Integrationskurs kennen. Sie fiel mir auf, weil sie sehr bemüht war, Deutsch zu lernen und sich aktiv am Unterricht beteiligte. Im Gegensatz zu den übrigen türkischen Kursteilnehmerinnen, die nur über eine Pflichtschulbildung verfügten, hatte sie einen Lise-Abschluss. 1 Sie distanzierte sich von den anderen Türkinnen und suchte den Kontakt zu anderssprachigen Teilnehmerinnen, mit denen sie Deutsch praktizieren konnte. Sevim glich aufgrund ihres Kleidungs- und Lebensstils den modisch gekleideten Großstadtfrauen in der Türkei. Sie betonte mehrfach, dass sie nicht aus finanziellen Gründen nach Deutschland kam, da sie aus einer wohlhabenden Familie stammt. Sie kam wegen ihres Ehemannes. Hinweise auf einen Lebensstil, der modischen Trends folgt, gab sie mit kurzen Erlebnisschilderungen im Rahmen des Deutschunterrichts: Sie feierte mit ihrem Ehemann Silvester in einem vornehmen Hotel in Istanbul 2 und sie machte mit ihrem deutsch-türkischen Freundeskreis Skiurlaub in Kitzbühel. Sevim fragte mich oft nach geeigneten Musik- oder Theaterkursen für Kinder, in die sie ihren Sohn schicken könnte. Dabei orientierte sie sich an den Bildungsangeboten, die in den Großstädten der Türkei üblich sind. 3 Während ei- 1 Äquivalent zum deutschen Abitur. 2 An Silvester bieten fast alle Hotels in Groß- und Kleinstädten der Türkei ein Programm mit Live-Musik und Menü an. In modernen sozialen Milieus ist es „schick“ bzw. „hip“, Silvester in einem Hotel zu feiern. 3 Kinder wohlhabender Familien werden in den Großstädten der Türkei von klein auf in Sibel Ocak 218 nes Türkeiaufenthalts schickte sie ihren Sohn für zwei Wochen in den Kindergarten ihrer Nichte, damit er von den dortigen Angeboten profitiert. Sie ist bemüht, das Kind optimal zu fördern. Ziel meiner Analyse ist es, zu zeigen, wie Sevim die Phasen ihrer Biografie rekonstruiert, die im Zusammenhang mit ihrer Migration nach Deutschland stehen: das Leben in ihrer Herkunftsfamilie, das Kennenlernen des Ehemannes, die Eheschließung, die Migration nach Deutschland und das Leben in Deutschland. Sevim stellt sich im gesamten Interview als gepflegte, moderne Städterin dar, die keineswegs den Heiratsmigrantinnen gleicht, die sie umgeben. An vielen Stellen des Interviews grenzt sie sich überaus deutlich von der Kategorie „Heiratsmigrantin“ ab, wie sie sie täglich in Mannheim erlebt. Von analytischem Interesse ist, wie sie den Kontrast herstellt, welche biografischen Ereignisse für sie dabei von Relevanz sind, und welche Eigenschaften und Handlungsweisen sie zur Kontrastherstellung und für die Selbst- und Fremddarstellung verwendet. Die Analyse geht folgenden Fragen nach: - Wie stellt Sevim ihre Herkunftsfamilie dar? Was sind die Gründe für ihre Migration? - Wie kam die Beziehung zu ihrem Mann zustande, wie verlief der Ehe- Anbahnungsprozess und was ist für Sevim wichtig? - Wie positioniert Sevim sich in Relation zu anderen Heiratsmigrantinnen und über welche Eigenschaften? Welche sprachlichen Mittel und Verfahren verwendet sie zur Selbst- und Fremdkategorisierung? - Welchen Lebensstil führt Sevim mit ihrem Mann in Deutschland? An welchem Familienmodell orientieren sich die beiden? 2. Sevims Leben in einer wohlhabenden patriarchalischen Familie Vor der Ehe bzw. Migration nach Deutschland lebte Sevim mit ihren Eltern und den zwei jüngeren Geschwistern in einer Stadt nahe Istanbul. Der Vater führte lange Jahre einen eigenen Betrieb, den er inzwischen seinem Sohn übergeben hat, die Mutter ist Hausfrau. Sevims ein Jahr jüngere Schwester ist Sprachkurse, Schwimmkurse, Theaterkurse etc. geschickt. SV sagte, dass sie gerne - wie es in den Großstädten in der Türkei üblich ist - ihr Kind in verschiedene Kurse schicken würde: ben farklı kurslara götürürüm çocuğumu“↓ (‘ich würde mein Kind zu verschiedenen Kursen schicken’). „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 219 verheiratet, der ledige Bruder lebt wie sie bei den Eltern. Sevim ist ein sehr familiengebundener Mensch und betont mehrfach, dass es in ihrer Familie einen sehr starken Zusammenhalt gibt (biz birbirimize çok bağlı bir aileyiz↓ ‘wir sind eine sehr stark aneinander gebundene Familie’). 2.1 Die behütete und unselbständige Tochter Sevim machte den Lise-Abschluss an einem Berufsgymnasium für Mädchen, danach wollte sie Jura studieren und nahm an der Prüfung für die Universitätszulassung teil. 4 Die Mutter unterstützte ihre Studienpläne sehr, der Vater war ablehnend; er wollte nicht, dass die Tochter wegen eines Studiums von zu Hause weggeht. 5 Trotzdem begleitete er sie zur Prüfung, um ihr eine Freude zu bereiten: götürüyordu babam beni sınava diyordu ki sabahları hadi çok istiyosun götüreyim↓ ben kazamsamda çok uzağa gönderemem seni falan↓ (‘mein Vater brachte mich zur Prüfung und sagte morgens, komm du willst es so sehr, ich bringe dich, doch auch wenn du bestehst, ich kann dich nicht weit wegschicken’). Auf die Frage, warum er sie nicht weglassen wollte, gibt Sevim zunächst keine Erklärung (bilmiyorum↓ ‘ich weiß nicht’), charakterisiert dann aber ihren Vater folgendermaßen: aslında o kadar şey kafalı e: görüşlü bi“r adam değil yani↑ ço/ modern↓ biz çünkü rahat yetiştik↓ (‘eigentlich ist er nicht so ein rückständiger Mann, sondern se/ modern, wir sind nämlich nicht streng erzogen’). Zunächst führt sie zwei Formeln für Rückständigkeit an, 6 die sie in Bezug auf die Eigenschaft des Vaters, der die Tochter nicht zum Studieren in eine andere Stadt gehen lassen will, in Erwägung zieht, dann aber verneint. Die Eigenschaft „rückständig“ passt nicht zu dem Bild, das sie von ihrem Vater vermitteln will. Dann charakterisiert sie ihn als ço/ modern↓ (‘sehr modern’) und spezifiziert modern zu biz çünkü rahat yetiştik↓ (‘wir 4 In der Türkei müssen Schüler, die studieren möchten, an einer zentralen Prüfung für die Universitätszulassung teilnehmen. Der Prüfungstag ist ein besonderer Tag, der in den türkischen Medien intensiv behandelt wird. Die meisten Schüler werden von ihren Eltern zu Prüfungszentren begleitet. Während die Schüler die Prüfung ablegen, warten und beten die Eltern in den Vorgärten der Prüfungszentren. Das ganze Land fiebert an diesem Tag mit den Jugendlichen. Da nur ein Hochschulabschluss den Jugendlichen gute Berufschancen bietet, schicken viele Eltern ihre Kinder schon von klein auf in Privatschulen und Nachhilfezentren oder engagieren einen Nachhilfelehrer; vgl. Gottschlich (2008, S. 129). 5 Je nach Ergebnis bei der Zulassungsprüfung zur Universität werden die angehenden Studierenden einer Universität zugeteilt. Sevim musste damit rechnen, dass sie von zu Hause hätte ausziehen müssen. Das wollte der Vater nicht: annem çok istekli babam da çok istekli değildi o kadar↑ (‘meine Mutter wollte es [das Studium] sehr, mein Vater war nicht so sehr dafür’). 6 Die beiden unvollständig verwendeten Formeln şey kafalı (richtig: geri kafalı) und e: görüşlü (richtig: dar görüşlü) stehen für Rückständigkeit. Sibel Ocak 220 sind nämlich nicht streng erzogen’). Die Bedeutung von modern ist auf den ‘nicht-strengen’ Erziehungsstil des Vaters bezogen, und über die Kontrastherstellung ergibt sich die Bedeutung für rückständig: Praktizieren eines strengen Erziehungsstils. Mit dieser Bedeutungsfestlegung wird ein kultureller Rahmen eröffnet (über den Sevim und die Interviewerin gemeinsam verfügen), in dem ein strenger, eng an sozial vorgegebene Regeln gebundener Erziehungsstil charakteristisch für einen traditionellen Vater ist. Er verbietet den Töchtern ein Leben außer Haus, da er es nicht kontrollieren kann. Zu den verbotenen Dingen gehört z.B. auch ein Studium in einer anderen Stadt. Aus der Sicht von Töchtern, die dagegen rebellieren, werden die Väter (und Mütter) als „rückständig“ bezeichnet. 7 Die Haltung von Sevims Vater in Bezug auf den Studienwunsch der Tochter deutet zwar auf einen eher traditionellen, rückständigen Vater hin. Doch andere Eigenschaften des Vaters und vor allem die Beziehungsstrukturen zwischen Vater und Tochter stehen im Gegensatz dazu. Im gesamten Gespräch wird deutlich, dass zwischen Sevim und dem Vater ein sehr vertrautes Verhältnis besteht; er ist liebevoll und fürsorglich und Sevim hat eine enge emotionale Bindung an ihn. Eine solche Beziehungsstruktur steht im Kontrast zur traditionellen Familienstruktur, bei der die Beziehung zwischen dem Vater und den Kindern, vor allem den Töchtern distanziert ist. 8 Eine weit verbreitete Formel bringt die distanzierte innerfamiliäre Rolle des Vaters zum Ausdruck: en son babalar duyar (‘zuletzt erfahren es die Väter’) und bestätigt indirekt die Rolle der Mutter als Vertraute der Kinder. 9 Im Unterschied zur Beziehungsstruktur in traditionellen Familien bespricht Sevim mit ihrem Vater direkt und offen ihre Heiratspläne. Als es zur offiziellen Brautwerbung kommt, ist die anstehende Entscheidung bereits zwischen Vater und Tochter abgesprochen: sonra isteme oldu↓ tamam dedi↓ zaten konuyu babam biliyodu↓ konuşuyoduk ** (‘dann hat man um meine Hand angehalten, er [der Vater] hat okay gesagt, mein Vater war sowieso über die Sache informiert, wir hatten miteinander gesprochen’, Z. 252). Der Vater gerät nur in Sorge, weil sie sich für einen Mann aus Deutschland entscheidet. Er hat keine Einwände gegen den Mann, sondern gegen die Migration: 126 SV: hele babam sen yapamazsın orda dedi ↓ Ü: mein Vater vor allem sagte, du kannst es dort nicht schaffen 7 Vgl. auch die deutsch-türkischen Informantinnen in Keim (2008), die um Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der Familie kämpfen, und einengende, „strenge“ Väter als „rückständig“ bezeichnen. 8 Traditionelle Väter gelten als autoritär, streng auf die Einhaltung sozialer Regeln bedacht und als Strafinstanz bei Abweichungen. Innerhalb der Familie haben sie in der Regel die alleinige Entscheidungsgewalt. 9 Zu innerfamiliären Beziehungen vgl. Kağıtçıbaşı/ Sunar (1997, S. 157ff.), Nauck (2005, S. 374), Schiffauer (1983, S. 66ff.). „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 221 127 SI: mhm ↓ niye ↓ yani nerden onu* düşündü öyle ↓ Ü: warum? das heißt, warum hat er so gedacht? 128 SV: yalnızsın dedi ↓ çünki ben mesela kendi/ hiç sorumluluk Ü: er sagte, du bist allein, weil ich z.B. nie Verantwortung 129 SV: almadım ↑ anladın mı ↑ hayatımda ↓ Ü: getragen habe in meinem Leben, verstehst du 130 SI: ha ↑ Ü: ach so 131 SV: ha ↑ işte onun için ↑ →kendi başına kalıcaksın Ü: genau deshalb, du wirst alleine bleiben, musst 132 SV: sorumluluk alıcaksın dedi yapamazsın dedi ← Ü: Verantwortung übernehmen, sagte er, das schaffst du nicht, sagte er Die Redewiedergabe des Vaters sen yapamazsın orda (‘du kannst es dort nicht schaffen’) ist für die Interviewerin nicht nachvollziehbar und sie fragt nach (Z. 127). Darauf erläutert Sevim den Grund für die Sorge des Vaters und gibt einen Einblick in die Tochter-Vater-Beziehung. Der fürsorgliche und behütende Vater hat Angst, seine Tochter aus seinem Einflussbereich und seiner Obhut zu entlassen. Um sie von der Heirat in ein fremdes Land abzubringen, führt er zwei Argumente an: zum einen befürchtet er, dass die Tochter in Deutschland alleine bleiben wird, und zum anderen hat die Tochter nicht gelernt Verantwortung zu tragen. Beide Argumente sind erklärungsbedürftig. Die formelhafte Formulierung sorumluluk alıcaksın dedi yapamazsın dedi← (‘Verantwortung zu übernehmen, das schaffst du nicht, sagte er’) bedeutet in diesem Kontext, dass Sevim sich bisher noch nie für sich selbst oder für andere verantwortlich fühlen musste. Sie lebte von der Zeit nach der Schule bis zur Entscheidung zur Heirat zu Hause; der Vater - das erklärt sie an anderer Stelle - erfüllte alle Wünsche, innerfamiliäre Aufgaben gab es für sie nicht, da die Mutter und eine Haushaltshilfe alles erledigten. Sevim musste nie in ihrem Leben arbeiten, um ihren Lebensunterhalt (mit) zu finanzieren und führte bis zur Heirat ein völlig sorgloses Leben. Der Vater als Familienoberhaupt und Betriebsinhaber sah sich zuständig für die finanzielle Sicherung und den Wohlstand der Familie. 10 Jetzt fürchtet er, dass die Tochter unfähig zur Verantwortungübernahme ist, da sie 10 Bei einem anderen Treffen erzählte mir SV , dass die Fürsorge des Vaters heute noch andauert und er immer noch die Verantwortung für sie übernimmt, indem er sie monatlich finanziell unterstützt. Er sorgt sozusagen dafür, dass sie auch in der Ehe vom Ehemann ökonomisch unabhängig ist. Diese Fürsorge des Vaters unterscheidet sich sehr stark vom traditionellen Familienmodell. Sibel Ocak 222 bisher nie gefordert war. Die Sorge des Vaters, dass sie in Deutschland yalnız (‘allein’, Z. 128) sein wird, obwohl sie verheiratet ist, ist nur vor dem Hintergrund des patriarchalisch organisierten (Groß-)Familienmodells zu verstehen: Sevim wäre in Deutschland ohne die Fürsorge des Vaters oder anderer Familienmitglieder, da sie keine (Bluts-)Verwandten dort hat; d.h., in Problem- oder Notsituationen hätte sie keine Vertrauensperson aus ihrer Herkunftsfamilie, an die sie sich wenden könnte. 11 Interessant ist, dass in der Äußerung des Vaters der Ehemann nicht vorkommt; aus der Perspektive des Vaters gehört er zu einer anderen Familie, der gegenüber er Verpflichtungen hat, die im Konfliktfall (möglicherweise? ) Priorität haben. Doch Sevim weist die Befürchtungen des Vaters zurück: 133 SV: yaparım dedim ↓ sonra işte ilk doğumda geldi babam buraya Ü: ich sagte, ich kann es, danach halt, ist mein Vater zum ersten Mal zur Entbindung hierher gekommen 134 SI: geldi buraya ↑ Ü: er ist her gekommen 132 SV: geldi * <geldi> ↓ Ü: er ist gekommen, er ist gekommen. Mit der Feststellung yaparım dedim↓ (‘ich sagte, ich kann es’, Z. 133) entscheidet sie sich für die Migration nach Deutschland und damit auch für die Übernahme von Eigenverantwortung, für das Vertrauen in ihren Mann und für eine Lösung aus der Fürsorge ihrer Herkunftsfamilie. Interessant ist, dass sie direkt im Anschluss - selbstinitiiert - berichtet, dass der Vater zu ihrer Entbindung nach Deutschland kam: sonra işte ilk doğumda geldi babam buraya↓ (‘danach halt ist mein Vater zum ersten Mal zur Entbindung hierher gekommen’). Auf die überraschte Nachfrage der Interviewerin (geldi buraya↓ (‘er ist hergekommen? ’) bekräftigt Sevim, dass der Vater zu ihr kam ( geldi * <geldi>↓). Aus der Sicht der Tochter zeigt der Vater, dass er sich auch nach der Eheschließung für sie immer dann verantwortlich fühlt, wenn er annimmt, dass sie familiäre Unterstützung braucht. In dieser Sequenz greift Sevim auf die Attribute zurück, die ihr der Vater zuschreibt, und verwendet sie zur Selbstcharakterisierung als behütete, aber bis zum Zeitpunkt der Eheschließung auch unselbständige Tochter. Mit der Ent- 11 In der türkischen Gesellschaft ist das kollektive Leben weit verbreitet. Bereits zu Zeiten des Osmanischen Reiches war das Gemeindeleben, die soziale Kontrolle, der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft der Gemeindemitglieder von großer Bedeutung (vgl. Ortayli 2009, S. 24f.). Ein individuelles Leben wird eher abgelehnt und mit westlichem Lebensstil gleichgesetzt, bei dem Verwandtschaftsbeziehungen unwichtig sind. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 223 scheidung für einen Mann aus Deutschland und der damit verbundenen Migration entscheidet sie sich für Eigenverantwortung und Eigenständigkeit und löst sich aus der väterlichen Obhut. Damit löst sie sich auch aus einem patriarchalischen und kollektivistischen Familienmodell und orientiert sich auf ein individuelles Paarmodell hin, in dem das Ehepaar außerhalb der (Groß-)Familie eigenständig und selbstverantwortlich lebt. Exkurs: Das traditionelle, patriarchalische Familienmodell wird in Sozialpsychologie und Soziologie als Modell gefasst, das auf einem „interdependenten Selbstkonzept“ basiert. In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden die bipolaren Konzepte „Individualismus“ und „Kollektivismus“ zur Charakterisierung von Familienmodellen und Sozialisationszielen eingeführt und weiterentwickelt zu „independenten“ Selbstkonzepten einerseits und zu „interdependenten“ Selbstkonzepten andererseits. Keller (2004, S. 107) beschreibt beide Konzepte folgendermaßen: Das independente Selbstkonzept wird als „geschlossene und von anderen abgegrenzte Einheit aufgefasst, die einmalig ist [...] und durch [...] stabile Wesensmerkmale und Persönlichkeitseigenschaften charakterisiert“ ist. „Neugier, Kreativität und Entdeckungslust helfen, ein einmaliges und unverwechselbares Profil zu entwickeln.“ Das interdependente Selbstkonzept dagegen „als grundsätzlich verbunden mit anderen aufgefasst, fügt sich harmonisch in die Gruppe ein und kooperiert mit den anderen Mitgliedern der Gruppe. [...] Konformität, Harmonie und Empathie mit anderen sind wesentliche Bestandteile der interdependenten Identität.“ Die interdependenten Sozialisationsziele, die in türkischen Gemeinschaften gelten, sind „absolute moralische Autorität“ der Eltern, vor allem des Vaters über die Kinder und auf Seiten der Kinder Gehorsam gegenüber den Eltern, Respekt für ältere Familienmitglieder, Rücksicht und Pflichtbewusstsein. Dagegen sind independente Sozialisationsziele, die Kinder zu „Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Selbstbewusstsein“ zu führen. In solchen Familien sind Konflikte zwischen Eltern und Kindern üblich, können auch zur Trennung führen, eine Vorstellung, die in einer interdependenten Familie „unvorstellbar“ wäre. Zum traditionellen Familienmodell vgl. auch Keim (2008, S. 67ff.). 2.2 Die traditionelle Orientierung in Bezug auf Heirat 2.2.1 Ortsgebundenheit: Der Partner soll aus derselben Region kommen Bevor Sevim ihren Mann kennenlernte, konnte sie sich nicht vorstellen, einen Mann außerhalb des Heimatortes zu heiraten: 145 SV: aslında ↑ yani benim aklımda Almanyaya* yurt dışına Ü: eigentlich also hatte ich nie im Kopf gehabt nach Deutschland 146 SV: evlenmeyi bırak (LACHT) şehirlerarası bile bir evlilik Ü: oder ins Ausland zu heiraten, geschweige denn in eine andere Sibel Ocak 224 147 SV: düşünmüyordum ↑ yapmayı ama ülkelerarası oldu Ü: Stadt zu gehen, aber es wurde dann international Sevim verdeutlicht über eine Steigerung der ortsbezogenen Lexeme Almanyaya (‘nach Deutschland’), yurt dışına (‘ins Ausland’) bis hin zu ülkelerarası (‘international’) eindrucksvoll, dass eine Heirat außerhalb des ihr vertrauten sozialen Raums ihr nie in den Sinn kam. Damit zeigt sie eine traditionelle Denkweise, denn in traditionellen türkischen Familien werden die Partner für die Kinder in der Herkunftsregion gesucht. 12 So auch in Sevims Familie. Der Mann (Mehmet) stammt aus derselben Stadt wie sie, was die familiäre Entscheidung erheblich erleichtert: Mehmeti zaten tanıyolar o da bizim memleketli↓ ailesini falan da tanıyolar↓ onunla iligili hiç bir sorun yoktu yani↓ i/ aile yapısını bildikleri için iyi bir insan olduğunu (‘Mehmet kennen sie sowieso, er ist auch ein Landsmann von uns, seine Familie und so kennen sie auch, damit gab es also keinerlei Probleme, weil sie seine Familienstruktur kennen und er ein guter Mensch ist’, Z. 119-126). Damit erfüllt Mehmet aus der Sicht von Sevims Familie die Voraussetzungen dafür, dass sie einer Ehe zustimmen kann: Er kommt aus derselben Gegend (ist ein Landsmann), die Familien kennen sich, über seine Familie wird nichts Nachteiliges berichtet und er wird als iyi bir insan (‘ein guter Mann’) geschätzt, d.h. er hat keine Eigenschaften, die einer Verbindung entgegenstehen könnten. Diese Auswahlkriterien für einen geeigneten Schwiegersohn entsprechen ebenfalls dem traditionellen Ehemodell. 2.2.2 Ehe-Arrangement mit Vermittlerinnen Sevim lässt sich, wie im traditionellen Familienmodell üblich, auch auf ein Ehearrangement mit Vermittlerinnen ein. Sie lernt den Mann über eine Bekannte kennen, die Nichte des Mannes. Als diese Bekannte erzählt, dass es 12 Als Grund wird immer genannt, dass für das Ehepaar und die Familien regionsspezifische Sitten bekannt und somit Meinungsverschiedenheiten über unterschiedliche Lebensgewohnheiten nicht zu erwarten sind. Außerdem ist es bei einem Mann aus der eigenen Region viel einfacher, sich über ihn und seine Familienangehörigen zu informieren als bei einer Person aus einer anderen Region. Wichtig ist dabei, dass es sich um eine gute und angesehene Familie handelt, über die nichts Schlechtes bekannt ist, z.B. Gewaltbereitschaft, Verschuldung, Alkoholmissbrauch, Spielsucht, etc. Nicht zu verwechseln ist der Aspekt der regionalen Herkunft bei der Wahl des Partners in Verwandtschaftsehen. Denn nach Tezcan (2000, S. 57f.) werden Verwandtschaftsehen aus ganz anderen Gründen eingegangen: Familienvermögen und Landbesitz bleiben innerhalb der Familie; die Weiterführung der Großfamilie wird gesichert; eine verwandte Schwiegertochter erweist den Älteren mehr Respekt als eine angeheiratete Fremde; die Aussteuer für die Braut verringert sich (die Aussteuer für eine „fremde“ Braut wäre wesentlich teurer). „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 225 sich bei dem Kandidaten um einen Mann aus Deutschland handele, stimmt sie sofort zu, da sie davon ausgeht, dass ein Treffen ohnehin nicht zustande kommen würde: 158 SV: eh söyledi eşimi bana iste/ tanışmak istermisin ↓ Almanya Ü: hat mir halt von meinem Mann erzählt, ob ich ihn kennen lernen 159 SV: deyince* → a: ben dedim olur olur falan yani ciddiye Ü: möchte, als sie Deutschland sagte, habe ich ach ja okay okay 160 SV: ala“rak söylemedim olur olur diye çünkü düşündüm ki Ü: und so gesagt, ich habe sie aber nicht ernst genommen und das 161 SV: ordan buraya gelip yani Türkiyeye gelip de tanışma/ Ü: gesagt, weil ich dachte, dass er von dort hierher kommt, d.h. in die Türkei kommt, 162 SV: tanışmak için gelmez diye düşündüm ↓← <sonra geldi Ü: um mich kennenzulernen, ich dachte nicht, dass er kommen 163 SV: Mehmet ↓ > (LACHT LAUT) ay ben de inanamadım yani Ü: würde, dann kam Mehmet, ach, ich konnte es nicht glauben 164 SV: gerçekten inanamadım ↓ * geldi tanıştık * tanıştık gitti ↓ Ü: wirklich, ich konnte es nicht glauben, er ist gekommen, wir haben uns kennengelernt, wir haben uns kennnengelernt, er ist gegangen Für Sevim war es unvorstellbar, dass Mehmet aus Deutschland anreisen würde, um sie kennenzulernen. Ihre Einwilligung gab sie nur, weil sie ein Treffen ciddiye ala“rak söylemedim (‘nicht ernst genommen hat’). Dann, mit lauter Stimme und lachend, drückt sie ihr Erstaunen aus, dass Mehmet kam (<sonra geldi Mehmet↓> ‘dann kam Mehmet’) und dass er ihretwegen kam. Die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses wird durch die Reformulierung gerçekten inanamadım (‘ich konnte es wirklich nicht glauben’) hervorgehoben, und über die Außergewöhnlichkeit stuft sie indirekt auch sich selbst hoch, da sie es ist, deretwegen er die weite Reise unternommen hat. Dann folgt die Information: geldi tanıştık * tanıştık gitti↓ (‘er ist gekommen, wir haben uns kennengelernt, wir haben uns kennengelernt, er ist gegangen’). In dieser Formulierung, bestehend aus zweigliedrigen Äußerungen, die kreuzweise aufeinander bezogen sind, stellt Sevim den Prozess des Kennenlernens dar. Auffällig ist, dass sie nicht auf Details der Begegnung eingeht, den Prozess der Annäherung nicht von innen beschreibt, sondern nur den äußeren Ablauf in einer dichten Konstruktion darstellt. Die Innenperspektive ist ausgespart. Sibel Ocak 226 Nachdem sich die beiden persönlich kennengelernt hatten, vertieften sie den Kontakt per Telefon. Sevim erwähnt, dass nicht sie ihm ihre Telefonnummer gegeben hatte (hatta ben vermedim yani↓ ‘ich hatte sie ihm nicht gegeben’, Z. 170), sondern Mehmets Interesse an ihr so groß war, dass er die Telefonnummer bei der Vermittlerin erfragte. Auch hier verhält sich Sevim nach dem traditionellen Muster, sie ist zurückhaltend und wartet die Initiative von Seiten des Mannes ab. 13 Auch Sevims Tante war als Vermittlerin in die Sache involviert; sie kannte die Nichte des Mannes, da beide aus demselben Ort stammen (işin içine teyzem de↑ aynı yer* teyzemle onun yeğeni daha iyi tanışıyor hatta↓ ‘auch meine Tante ist in die Sache involviert, es ist derselbe Ort, meine Tante und seine Nichte kennen sich sogar viel besser’, Z. 172). Diese Information ist interessant; sie zeigt, dass auch ihre Familie aktiv auf der Suche nach einem passenden Mann war, vermutlich deswegen, weil sie Anfang 30 und noch immer unverheiratet war. 14 Sevim erwähnt die Vermittlung der Tante erst viel später, führt sie beiläufig ein und stuft ihre Vermittlerrolle herab. Bei der Schilderung des weiteren Verlaufs des Ehe-Anbahnungsprozesses hat Sevim Schwierigkeiten mit der chronologischen Darstellung. 15 Sie thematisiert ihre Erinnerungsprobleme (dur şimdi bak karıştırmaya başladım↓ ‘warte, guck jetzt fange ich an, es durcheinander zu bringen’, Z. 176) und stellt dann fest, dass Mehmet und sie im Sommer eine Beziehung hatten, 16 lässt aber offen, was sie darunter versteht. 17 Die Beziehungsphase dauerte wahrscheinlich 4 Wochen, die Zeit von Mehmets Urlaub. 13 Eine ausführliche Beschreibung des traditionellen Ehe-Anbahnungsprozesses findet sich in Teil II. 14 In der türkischen Gesellschaft ist es unüblich, im fortgeschrittenen Alter zu heiraten. Unverheiratete Frauen zwischen 30 und 40 werden als evde kalmış (‘zu Hause sitzengeblieben, alte Jungfer’) bezeichnet. Die Betroffenen, aber auch ihre Familien stehen unter dem Druck des sozialen Umfelds, weil sie häufig mit der Frage nach Familienplanung konfrontiert werden. Daher suchen die Familien im Verwandten- und Bekanntenkreis nach potenziellen Ehepartnern. Diese Art der Ehevermittlung ist keineswegs mit einer Zwangsheirat vergleichbar. Bei der Zwangsheirat wird die Entscheidung von den Eltern gefällt, ohne dass die Tochter um ihr Einverständnis gefragt wird; außerdem ist das Alter der Frauen relativ niedrig; vgl. Teil IV. 15 Das zeigen die sich wiederholenden Abbrüche (yeni yıl ak/ o gün bir iki gün iki gün falan gör/ iki üç de/ ‘am Silvesterab/ diesem Tag, ich habe ihn ein zwei Tage so zwei Tage gese/ zwei drei Ma/ ’); sie verdeutlichen, dass sie sich nicht mehr genau an diese Zeit erinnern kann. 16 Sie beschreibt das folgendermaßen: ondan önce yazın geldi yazın bir süre çıktık↓ görüştük↓ (‘davor kam er im Sommer, im Sommer hatten wir eine Zeit lang eine Beziehung, wir haben uns gesehen’, Z. 176ff.). 17 Im Türkeitürkischen wird für eine Beziehung die Formulierung çıkmak (‘ausgehen’) verwendet. Mit „eine Beziehung haben“ kann von gemeinsamen Ausgehen über Händchen halten bis hin zur intimen Beziehung alles gemeint sein. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 227 Dass das Kennenlernen der Partner arrangiert wird, gehört zum traditionellen Ehe-Anbahnungsprozess (vgl. Straßburger 2003). Im Falle eines positiven Verlaufs des ersten Treffens arrangiert die Vermittlerin ein weiteres und überlässt dann dem Paar bzw. den Eltern den weiteren Weg bis zur Eheschließung. Dass im Falle von Sevim die Vermittlung durch ein Mitglied ihrer Familie unterstützt wird, und Sevim sehr bereitwillig dem Angebot zustimmt, zeigt, dass sie heiratswillig war, möglicherweise auch bereits wegen einer Heirat unter sozialem Druck stand. Die damalige Heiratsbereitschaft belegt sie gegen Ende des Interviews. Auf die Frage der Interviewerin, warum sie so spät geheiratet hat, deckt sie ein äußerst interessantes Motiv auf: Sie wollte einen Mann heiraten, den sie sevebilecem veya hani elektrik alabilcem bir kişi (‘lieben könnte oder mit dem die Chemie stimmt’, Z. 552), war ihm aber bisher noch nie begegnet. Außerdem musste ein ihren Vorstellungen entsprechender Mann folgende Eigenschaften haben: iyi bir insan (‘ein guter Mensch’), çok anlayışlı (‘sehr verständnisvoll’), çok yardımı oldu (‘sehr hilfsbereit’) und çok desteği oldu (‘sehr unterstützend’). „Liebe“ oder „wechselseitige Anziehung“ gehören als Heiratsmotive nicht zum traditionellen Ehemodell. Dass solche Motive für die Absage an bisherige Bewerber ausschlaggebend waren, zeigt, dass Sevim sich bereits seit längerer Zeit von traditionellen Vorstellungen in Bezug auf die Partnerwahl gelöst und sich in Richtung auf ein Modell „Liebesheirat“ hin orientiert hat. Damit stimmen auch die Eigenschaften überein, die sie bei einem Mann sucht: er muss verständnisvoll, sehr hilfsbereit und sehr unterstützend sein. Das sind ganz andere Eigenschaften als die, die traditionelle Frauen nennen und die sie als Kriterien für eine funktionierende Ehe angeben: Der Mann darf nicht (übermäßig) rauchen, nicht (übermäßig) trinken, keine Affären haben und sich nicht ständig außer Haus aufhalten (vgl. Teil IV). Die dort genannten Charakteristika beziehen sich auf Eigenschaften, die von außen beobachtet werden können, auf Geldverschwendung, Sucht bzw. eheliche Untreue hinweisen und dem sozialen Umfeld Anlass zu Klatsch geben könnten. Die von Sevim genannten Merkmale beziehen sich auf das Paar selbst und auf die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung; es sind individuenbezogene Eigenschaften. Auffallend an der Darstellung der Kennenlernphase ist, dass Sevim ihre Innenwelt ausblendet. Nur an einer Stelle drückt sie freudige Überraschung aus (als sie erzählt, dass er aus Deutschland anreiste, um sie kennenzulernen). Sonst wird von außen und eher sachlich dargestellt. Die erste Begegung mit dem Mann wird im zeitlichen Ablauf skizziert, über den Eindruck, den er bei ihr hinterließ, wird nichts erwähnt. Das Vermeiden von Gefühlsausdruck bei Sibel Ocak 228 der Darstellung des Ehe-Anbahnungsprozesses kann mehrfach motiviert sein: zum einen ist Sevim in Bezug auf Heirat schon im fortgeschrittenen Alter, und für eine „reifere“ Frau wäre es unschicklich, über Liebe etc. zu sprechen; zum anderen war das Treffen Teil eines Ehe-Arrangements, zu dessen Konventionen es gehört, dass Emotionen nicht verbalisiert werden. Sevim spricht über die Begegung mit ihrem Mann nach dem für arrangierte bzw. für Vernunftehen üblichen Muster. 18 Sevims Mann lebt seit 26 Jahren in Deutschland und führt in Mannheim einen kleinen Betrieb. Freunde in Deutschland verhalfen ihm zur Migration, indem sie ihn in ihrem Betrieb als Geschäftspartner aufnahmen. Vor der Migration lebte Mehmet in Istanbul, obwohl er aus derselben Stadt wie Sevim stammt. Mehmet hat keine Verwandten in Deutschland, sondern einen großen deutschtürkischen Freundeskreis. Als Mehmet Sevim kennenlernt, ist er Anfang 40. Es kann angenommen werden, dass er ähnlich wie Sevim heiratsbereit war und möglichst bald eine Familie gründen wollte. 2.2.3 Heiratsantrag und Eheschließung: Meine Hochzeitsfeier war klein und vornehm Ein zweites Treffen des Paares erfolgt an Silvester, als Mehmet in die Türkei reist und um Sevims Hand anhält. Noch vor der offiziellen Brautwerbung verbringt das Paar den Silvesterabend gemeinsam mit Freunden in einem Istanbuler Club. 19 Bei der Darstellung des Silvester-Ereignisses hebt Sevim - in Vorwegnahme einer möglichen Frage der Interviewerin - hervor, dass ihre Familie über die Beziehung zu Mehmet und die gemeinsame Feier informiert war: ailem biliyodu yani ↑ (‘meine Familie wusste es schon’, Z. 192). Sie arbeitet der Annahme entgegen, etwas hinter dem Rücken ihrer Familie unternommen zu haben und macht gleichzeitig deutlich, dass sie ebenso wie ihre Familie sich nicht an die Regeln des traditionellen Ehe-Anbahnungsprozesses halten, wonach sich das Paar erst dann in der Öffentlichkeit zeigt, wenn die Beziehung durch „Versprechen“ oder „Verlobung“ offiziell bekannt gemacht wurde. Mit dem Bruch dieser Regeln distanziert Sevim sich und ihre Familie manifest von traditionellen Konventionen. 18 Eine Vernunftehe basiert auf rationalen Erwägungen, gemeinsame Interessen reichen aus, um eine Ehe einzugehen. Im Vordergrund steht der Gedanke des Heiraten-Wollens und des gegenseitigen Nutzens ohne hohe Erwartungen an den Partner. Liebe und Leidenschaft sind nachrangig. Arrangierte Ehen sind in der Regel Vernunftehen. Doch können sich auch bei einer Vernunftehe im Laufe der Zeit Gefühle entwickeln; vgl. dazu Straßburger (2003), vgl. auch http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Vernunftehe (Stand: 11/ 2011). 19 Sevim nennt den Namen eines angesehenen Clubs und weist damit sich und Mehmet als zugehörig zu angesehenen Istanbuler Milieus aus. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 229 Unmittelbar nach dem Silvesterabend erfolgt der Heiratsantrag. Das Thema erscheint der Interviewerin interessant, sie will wissen, wo und wie das Ereignis stattfand. Darauf reagiert Sevim mit Anzeichen leichter Gereiztheit (namentliche Adressierung, ‘gereizter Ton’): (eh: : Sibelcim şeydeydik↓ Bebek Cafedeydik↓ denizin önünde↓ (‘liebe Sibel, wir waren in Dings, im Bebek Café, direkt am Meer’, Z. 202). Sie schildert nicht, wie der Heiratsantrag stattfand, sondern nennt lediglich den Ort, das Bebek Café. 20 Sie zeigt, in welch gehobenem Ambiente ihr der Heiratsantrag gemacht wurde (und setzt dabei voraus, dass die Interviewerin das Café kennt), gibt aber keinen Hinweis auf die Art des Antrags und was er in ihr auslöste. Sevim bleibt bei dem bisher beobachteten Darstellungsmuster: Schilderung eines Ereignisses aus der Außenperspektive (Zeit, Ort, Ablauf) und Vermeiden von inneren, emotionalen Aspekten. 21 Auch bei der Darstellung der offiziellen Brautwerbung (vgl. Straßburger 2003), des Um-die-Hand-Anhaltens, fokussiert Sevim nur die äußeren Umstände des Ereignisses. Sie beschreibt ausführlich das zu dem Zeitpunkt (Winter) herrschende schlechte Wetter und das Verkehrschaos auf den Straßen der Region, bevor sie auf das Ereignis selbst eingeht. Aufgrund der schlechten Wetterbedingungen schloss sie aus, dass Mehmet und seine Familie, wie geplant, an diesem Tag kommen würden. Doch die Brautwerber kamen (ama geldiler o gece↓ ben geleceklerini tahmin etmedim↑ ‘sie sind aber gekommen in dieser Nacht, ich dachte nicht, dass sie kommen’, Z. 214), obwohl es sehr stark schneite. Aus Sevims Perspektive nahm Mehmet zu große Risiken wegen des Rituals ‘ Um-die- Hand-Anhalten’ auf sich, doch gleichzeitig fühlte sie sich geschmeichelt. 22 Dass ihr das Ritual nicht viel bedeutete, macht sie durch folgende Schilderung deut- 20 Das Bebek Café ist ein altes, renommiertes Café in einem gehobenen Viertel von Istanbul. 21 Aus ethnografischen Beobachtungen weiß ich, dass Gespräche über Liebe, Intimitäten und Gefühle auch unter jungen Frauen kaum stattfinden, dass Sexualität z.B. ein Tabuthema ist und als ayıp (ungehörig, schändlich) betrachtet wird. Unter älteren Frauen ist das Thema Sexualität nicht mehr tabuisiert; es ist eher ein Gesprächsthema, über das sie sich intensiv austauschen. Für sie gilt das Gebot des ayıp (ungehörig, schändlich) in Bezug auf die Thematisierung von Sexualität nicht mehr. Außerdem sprechen Frauen viel eher über Leidvolles und Negatives als über positive Empfindungen. Auch zahlreiche türkische Filme, Lieder und Gedichte erzählen die Geschichten von leidenden Frauen oder Männern. Die arabeske Kultur des Leids, der Sehnsucht und des Schmerzes ist in der Türkei stets präsent. Als Konsumenten der arabesken Musikrichtung gelten in der Türkei insbesondere Menschen aus der Unterschicht (vgl. Baraz/ Diaconu 2006, S. 231). Bekanntester Vertreter der Arabesk-Musik in der Türkei ist Orhan Gencebay, den auch Fatih Akın in seinem Dokumentarfilm über die türkische Musikkultur „Crossing the Bridge“ (2005) vorstellt. 22 Lachend kritisiert sie, dass man wegen einer Brautwerbung nicht so viel Risiko auf sich nehmen dürfe: ama o kadar kar yağıyo ki: o kadar riski göze alıp da kız istemeye ** gelin- Sibel Ocak 230 lich: Da sie wegen des schlechten Wetters nicht mit dem Brautwerbe-Besuch rechnete, hatte sie sich mit Freundinnen in einem Café verabredet. Als sie abends nach Hause kam, riefen die Brautwerber an, um sich anzukündigen. Das wäre in einer tradtionellen Familie nie möglich gewesen; die Tochter hätte durch ihr Ausgehen am Tag der Brautwerbung das Ansehen der gesamten Familie erheblich geschädigt. D.h. mit dieser Schilderung verweist Sevim wieder auf die Unkonventionalität ihrer eigenen Familie. Auch bei der Schilderung der Brautwerbung beschränkt sich Sevim auf Äußerlichkeiten, sie listet die anwesenden Personen auf. Erst auf ein Nachhaken der Interviewerin (ne yaptın sen↓ nasıl istediler↓ (‘Was hast du gemacht? Wie haben sie um deine Hand angehalten? ’, Z. 243) nennt sie lachend eine traditionell-religiöse Formel (Allahın emri: peygamberin kavli ‘im Auftrag Gottes und der Zustimmung des Propheten’, 23 Z. 244), mit der Mehmet ihren Vater um die Hand der Tochter bat. Den Vorgang insgesamt beschreibt sie knapp durch çikolatasınla çiçeklerinle geldiler↓ (‘mit seinen Pralinen und seinen Blumen sind sie gekommen’, Z. 248). Am zweiten Tag nach der offiziellen Brautwerbung fand die standesamtliche Trauung statt. Da Mehmet vermutlich nur für kurze Zeit angereist war, musste das Verfahren schnell durchgeführt werden. 24 Die Schilderung dieses Ereignisses erfolgt wieder aus der Außenperspektive; es werden die anwesenden Personen genannt und das gemeinsame Essen nach der amtlichen Handlung: yemeğe gittik↓ yemekte↑ onun yeğenleri geldi↓ benim şey erkek kardeşim geldi↓ kız kardeşim eşinle falan geldi↓ öyle yemek yedik↓ (‘wir waren essen, beim Essen mez (‘Aber es schneit so viel. Wegen der Brautwerbung so viel Risiko einzugehen. Das macht man nicht. LACHT LAUT’ ). Dass Mehmet es trotzdem tat, gefällt ihr aber - das zeigt ihr Lachen. 23 Es gibt zahlreiche traditionelle Formeln, die bei der Brautwerbung verwendet werden, z.B. beni istemeye geldiler (wtl. ‘sie sind gekommen, um mich zu wollen’; ‘sie sind gekommen, um um meine Hand anzuhalten’); gelin almak (wtl. ‘eine Braut nehmen’; ‘um eine Braut werben’), u.a, vgl. dazu Schiffauer (1991). 24 Die Eheschließung zwischen Paaren aus Deutschland und der Türkei geht in der Regel sehr schnell vonstatten. Der deutsche Partner hat meist nur wenig Zeit (Urlaub) zur Verfügung. Nicht selten gibt es für nur standesamtlich verheiratete Paare Probleme. Bis zur Hochzeitsfeier darf das Ehepaar nicht in einem gemeinsamen Zimmer schlafen, weil dies ein Verstoß gegen geltende Wert- und Normvorstellungen darstellt. Bevor die Ehe nicht vor der Gesellschaft durch eine Hochzeitsfeier bekannt gemacht worden ist, ist sie gesellschaftlich nicht legitimiert (vgl. Azizefendioglu 2000, S. 50). Das gemeinsame Übernachten vor diesem Fest würde - sofern es bekannt wird - geächtet werden. Aus Erfahrungen mit Studienfreunden ist mir bekannt, dass sich das Einhalten solcher Regeln keineswegs auf streng religiöse Familien beschränkt, sondern auch von anderen Familien, traditionellen wie modernen, befolgt wird. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 231 waren seine Nichten und Neffen da, mein Ding jüngerer Bruder war da, meine jüngere Schwester ist mit ihrem Mann und so gekommen, wir haben halt so gegessen’). Auch hier gibt es keine Hinweise auf die Stimmung des Paares bei der Trauung oder auf die Atmosphäre beim gemeinsamen Essen. Circa sechs Monate später wird das Hochzeitsfest in Istanbul gefeiert. Als die Interviewerin nach der Hochzeitsfeier fragt, gibt Sevim folgende Beschreibung: die Hochzeitsfeier war schön (düğün güzeldi↓, Z. 362) und fand am Bosporus statt (boğazda oldu↓, Z. 364). Da eine Hochzeitsfeier am Bosporus sehr kostspielig ist, fragt die Interviewerin nach dem genauen Ort und erfährt, dass im „Lehrerhaus“ gefeiert wurde. 25 Dann gibt Sevim folgende Beschreibung der Feier: 383 SI: düğünün nasıldı ↓ Ü: wie war deine Hochzeit 384 SV: düğün güzeldi ↓ fazla kalabalık değildi ↓ Ü: die Hochzeitsfeier war schön, war nicht so 385 SV: küçük nez/ nezih bir şeydi ↓ ben zaten öyle istedim ben Ü: voll, etwas Kleines, Vornehmes, ich wollte es sowieso so haben 386 SV: teferruatı sevmiyorum ↓ fazla teferruatı ↓ eğlenceli geçti ↓ Ü: ich mag nichts Übertriebenes, zu viel Übertriebenes, es hat Spaß gemacht, 387 SV: güzeldi * sonra balayına gittik ↓ Ü: schön war es, danach sind wir in die Flitterwochen gegangen. Sevim beantwortet die Frage der Interviewerin in Standardtürkisch und verwendet das hochsprachliche Adjektiv nezih (‘vornehm’). Sie verwendet bei der Referenz auf das Fest nicht das Possesivpronomen, d.h. sie spricht nicht von ‘meiner Hochzeit’ (düğünüm), sondern von der Hochzeit (düğün). Zur Charakterisierung der Feier führt sie die Eigenschaften an, die zu ihrer bisherigen Selbstdarstellung passen: düğün güzeldi↓ fazla kalabalık değildi↓ küçük nez/ nezih bir şeydi↓ (‘die Hochzeitsfeier war schön, nicht so voll, etwas Klei- 25 In der Türkei gibt es für Beamte aller Berufsgruppen staatliche Einrichtungen, in denen sie Vergünstigungen bekommen. In allen Städten der Türkei gibt es so genannte „Lehrerhäuser“, große, gut ausgestattete und in der Regel schön gelegene Restaurants mit großen Sälen, die Lehrer zu günstigen Konditionen mieten können. Außerdem bieten „Lehrerhäuser“ auch kostengünstige Unterkunftsmöglichkeiten für Lehrer und ihre Angehörigen an. Das „Lehrerhaus“, auf das Sevim referiert, liegt direkt am Bosporus, ist ein schönes großes Anwesen mit weitläufiger Terrasse und gepflegten Grünanlagen. Es gibt einen sehr würdigen Rahmen für eine Hochzeitsfeier ab. Sibel Ocak 232 nes, Vornehmes’, Z. 384). Die genannten Merkmale kontrastieren zu den Eigenschaften, die für eine traditionelle Hochzeitsfeier charakteristisch sind: sie wird mit sehr großem Aufwand, sehr vielen Gästen und nach einem rituellen Muster gefeiert, das überregional Geltung hat, auch wenn Details regional unterschiedlich sein können (Musik, Kleidung der Braut, Kleidung der Gäste etc.). 26 Über die ‘kleine, vornehme’ Feier grenzt sich Sevim manifest von großen traditionellen Feiern ab und beurteilt sie explizit negativ: ben teferruatı sevmiyorum↓ fazla teferruatı↓ (‘ich mag nichts Übertriebenes, zu viel Übertriebenes’, Z. 385f.). Auf der Basis meines Wissens über türkische Hochzeitstraditionen kann Sevims Feier als „modern“ bezeichnet werden. Moderne Familien feiern Hochzeitsfeste in diesem Stil, d.h. in einem vornehmen Rahmen mit wenigen, ausgewählten Gästen. Solche Hochzeitsfeiern finden inzwischen auch in Deutschland statt. Viele Paare entscheiden sich, wenn sie ihr Hochzeitsfest selbst organisieren dürfen, für ein Fest im kleinen Rahmen. Sevim schließt das Thema „Hochzeit“ ab 27 und leitet selbstinitiiert zu den Flitterwochen über, die sie an der türkischen Riviera in einem vornehmen Clubhotel verbrachten: bir hafta↓* golf kulübüne gittik↓* güzeldi↓ (‘eine Woche, wir waren im Golfclub, es war schön’, Z. 396). Diese Information findet die Anerkennung der Interviewerin (sen güzel evlenmişsin↑ ‘du hast schön geheiratet’, Z. 397), und Sevim fügt hinzu, dass alles ihren Wünschen entsprach: herşey istediğim gibiydi↓ (‘alles war so, wie ich es mir gewünscht habe’, Z. 397). Dass sie die Hochzeit nach ihren Vorstellungen und ohne Einmischung der Familie gestalten konnte, spricht für deren unkonventionelle Haltung im Gegensatz zu traditionellen Familien, in denen sich die Braut nach den Wünschen der Eltern bzw. der Schwiegereltern richten muss. 28 Interessant ist, dass Sevim die Hochzeitsfeier unter Aspekten darstellt, die auf der stilistischen Ebene liegen. Relevant sind gehobene Orte für die Durchführung, gehobene Ausstattung, wenige ausgewählte Gäste, Dinge, die in maximalem Kontrast zu traditionellen Hochzeiten stehen. Und sie hebt hervor, dass es ihre eigenen Stilentscheidungen waren. 29 Die durchgehende Fokussierung stilistischer Details bei der Schilderung der Hochzeit zeigt die Relevanz, die 26 Vgl. die Beschreibung einer traditionellen Hochzeitsfeier oben in Teil III. 27 In einer späteren Sequenz erwähnt Sevim, dass sie die Hochzeitsnacht im Istanbuler Holiday Inn Hotel verbracht haben. Auch hier geht es nicht um irgendein Hotel, sondern der Name des gehobenen Hotels wird hervorgehoben. 28 Vgl. dazu die Informantinnen in Teil III und IV. 29 Die häufige Verwendung des Personalpronomens ben (‘ich’), das nur zur Hervorhebung verwendet wird, weist darauf hin. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 233 Sevim Stilentscheidungen zuschreibt. Sie sind für sie Symbole für soziale Differenz. D.h. über die Hervorhebung von Stilunterschieden verweist sie symbolisch auf die sozialen Unterschiede zwischen ihrer Familie einerseits und traditionellen Familien andererseits. Mit welcher Vehemenz sich Sevim gegen die in traditionellen Familien vorgesehenen Rituale abgrenzt, zeigt die folgende Interaktion. Als die Interviewerin direkt im Anschluss wissen möchte, ob bei ihr auch die Brautabholung vom Elternhaus stattfand, zielt sie auf ein sehr traditionelles Ritual. Die vorsichtige Formulierung (Verzögerungspartikel, Pronomen) und der Verweis auf andere (Kursteilnehmerinnen) zeigen, dass die Interviewerin das Thema als „heikel“ behandelt: 389 SI: sizde ama bu * hani kursda duyduğumuz şeylerden * ehm: Ü: bei euch aber, die Dinge, die wir im Kurs gehört haben 390 SI: ** gelin almak şey * öyle bir şeyler oldu mu ↓ Ü: Abholung der Braut, Ding, gab es solche Dinge 391 SV: yani o kadar teferruat yok bende ↑ bizde yok yani ↓ Ü: also so viel Übertriebenes gibt es bei mir nicht bei uns gibt es das nicht 392 SI: yani gelenek görenekte böyle eh: Ü: also in der Tradition, so etwas wie, ähm 393 SV: ya biz o kadar değil Ü: wir sind nicht so 394 SI: başlık parası* veya o t/ * o tür şeyler ↓ Ü: Brautgeld oder so ähnliche Dinge 395 SV: +<yo yo hayır ↑ o tür şeyler yok bizde Ü: nein, nein, solche Dinge gibt es bei uns nicht 396 SV: ← ı ↓ ı ↓ klasik şeyler yok yani ↓→ > Ü: diese klassischen Dinge gibt es also nicht 397 SI: ha ↓ Ü: aha 398 SV: be/ benim ailemde de yok ↓ benim çevremde de yok yani ↑ Ü: mei / in meiner Familie auch nicht, in meinem Umfeld 399 SV: bizim orda da yok Ü: nicht und auch in unserer Gegend nicht Das von der Interviewerin genannte Ritual gelin almak (‘Abholung der Braut’) beurteilt Sevim negativ und lehnt es entschieden ab: yani o kadar teferruat Sibel Ocak 234 yok bende↑bizde yok yani↓ (‘also so viel Übertriebenes gibt es bei mir nicht, bei uns gibt es das nicht’, Z. 391); dabei reformuliert sie yok bende↑ (‘bei mir nicht’) zu bizde yok yani↓ (‘bei uns nicht’) und schließt damit ihre Familie ein. Die Interviewerin hakt nach, fragt nach Traditionen ( yani gelenek görenekte böyle ‘also in der Tradition, so etwas wie, ähm’, Z. 392), wird, noch bevor sie die Äußerung beenden kann, von Sevim durch entschiedene Zurückweisung unterbrochen (ya biz o kadar değil ‘wir sind nicht so’, Z. 393). Doch die Interviewerin setzt nochmals nach und fragt nach einem noch traditionelleren Ritual, der Zahlung von Brautgeld: eh: başlık parası* veya o t/ * o tür şeyler↓ ‘Brautgeld oder so ähnliche Dinge’, Z. 394). 30 Die der Frage zugrunde liegende Annahme, dass in ihrer Familie solche Traditionen eine Rolle spielen könnten, weist Sevim jetzt vehement zurück: Mit schnellem Anschluss, lauter Stimme und verstärkt durch zweifache Negationspartikel stellt sie fest: +<yo yo hayır↑o tür şeyler yok bizde (‘nein, nein, solche Dinge gibt es bei uns nicht’, Z. 395). Dann folgt die explizite Charakterisierung der ‘Dinge’, die sie so vehement zurückweist: Es sind die ‘klassischen Dinge’: ←e↓e↓ klasik şeyler yok yani↓→> (‘diese klassischen Dinge gibt es also nicht’, Z. 396), die in ihrem Lebensraum keine Rolle spielen. Die sukzessive Ausweitung des sozialen Raumes, in dem ‘diese klassischen Dinge’ nicht existieren, geschieht in einer parallel konstruierten Dreierstruktur. Sevim beginnt mit ihrer Familie: benim ailemde de yok (‘in meiner Familie gibt es das auch nicht’), weitet dann auf ihr soziales Umfeld aus: benim çevremde de yok yani↑ (‘in meinem Umfeld auch nicht’, Z. 398) und schließt mit der Region, aus der sie kommt: bizim orda da yok (‘und auch in unserer Gegend nicht’, Z. 399). Mit dieser nachdrücklichen und mehrfach hochgestuften Feststellung stellt sie sich, ihre Familie und ihr gesamtes Herkunftsgebiet in maximalen Kontrast zu eng traditionellen Familien und verortet sie in einem anderen regionalen und sozialen Raum. Kurze Zeit später relativiert Sevim jedoch und gesteht zu, dass in ihrer Gegend die Abholung der Braut aus dem elterlichen Haus vorkommt: yani isteyen mesela hani kızı evden alıyorlar alayla↑ var yani↓ (‘also wer will, z.B. das Mädchen wird doch von zu Hause mit einer Feier abgeholt, das gibt es schon’, Z. 419). 30 Der Brautpreis wird von der Familie des Mannes der Familie der Frau übergeben. Seine Höhe ist vom sozialen Status der Vertragsparteien abhängig, doch er ist im Verhältnis zum durchschnittlichen Einkommen der Familie des Bräutigams oft sehr hoch. Der Brautpreis kann folgende Funktionen haben: Er besiegelt den Ehevertrag, er soll die Stabilität der Ehe garantieren und er entschädigt die Herkunftsfamilie der Frau für den Verlust eines Mitglieds. Bei traditionellen Familien in ländlichen Regionen ist der Brautpreis auch heute noch üblich. Über Verwandtschaftsehen wird versucht, ihn zu umgehen bzw. niedrig zu halten. Zu Hintergründen und Bedeutung des Brautpreises vgl. Toprak (2007, S. 102ff.). „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 235 Dieses Zugeständnis veranlasst die Interviewerin erneut, nachzufragen, ob auch Sevim mit einer Feier vom Elternhaus abgeholt wurde. Obwohl Sevim das vorher bereits vehement bestritten hatte, schildert sie jetzt folgenden Hergang: geldi * eşim↓ yeğeni geldi↓ e: sonra e: nikah yapıldı↓ imam nikahı↓ (‘er kam, mein Mann, und seine Nichte kam, äh und dann äh war die Trauung, die religiöse Trauung’, Z. 425). Nach der religiösen Trauung (imam nikahı; vgl. dazu Toprak 2007, S. 81ff.) begleiteten Vater und Bruder Sevim aus dem Haus: nikah yapıldı↓ ondan sonra işte babam geldi kardeşim falan e: evden çıktı↓ (‘die Trauung war zu Ende, dann kamen mein Vater und mein Bruder und so, dann sind wir aus dem Haus gegangen’, Z. 427) und übergaben sie dem Bräutigam. Die Schilderung der Brautabholung ist durch hedges wie işte (‘halt’) und falan (‘und so’) herabgestuft, ein Hinweis darauf, dass Sevim den traditionellen Inhalt abschwächt. Dass das Ritual der Brautabholung stattfand, ist wieder ein Indiz für traditionelle Züge in ihrer Familie (und der des Bräutigams), Züge, die sie vorher abgewehrt hatte. An dieser Stelle deckt sie Hintergründe auf, die sie vorher verborgen gehalten bzw. zurückgewiesen hatte. Bei der Darstellung des Ehe-Anbahnungsprozesses bis zur Eheschließung vermischen sich traditionelle mit neueren Formen der Durchführung. Die traditionellen Schritte des Ehe-Anbahnungsprozesses werden zwar weitgehend beibehalten (das streng traditionelle Ritual der Brautgeldzahlung allerdings nicht), doch der Umgang damit erscheint an vielen Stellen unkonventionell: Sevim bespricht ihre Heiratspläne offen in der Familie; sie zeigt sich vor der offiziellen Brautwerbung mit dem Mann und misst dem Ritual keine große Bedeutung zu; sie bestimmt die Ausstattung und Durchführung ihrer Hochzeitsfeier. In ihrer Darstellung stuft sie die traditionellen Elemente eher herab oder blendet sie aus; 31 sie werden vor allem durch Nachhaken der Interviewerin aufgedeckt. Was Sevim hervorhebt und ausführlich beschreibt, sind die sozial-stilistischen Unterschiede zwischen einer eher dörflich-traditionellen Hochzeitsfeier und der „vornehmen“ Durchführungsweise ihrer eigenen Feier. 32 31 Aus der heutigen Perspektive betrachtet, ist es erstaunlich, wie SV während des Interviews im Jahre 2008 ihre Religiosität herunterstufte. In weiteren Gesprächen mit ihr kristallisierte sich heraus, dass sie großen Wert auf Religion und Religionsausübung legt. Es ist daher anzunehmen, dass SV damals nach der Goffman'schen Imagetheorie interagiert hat. Diese besagt, dass jeder Mensch sich im Kontakt mit anderen Leuten eine Verhaltensstrategie aneignet, um sich dem Anderen angenehm zu machen. Nach Goffman (1971) ist Image ein in „Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild“. 32 Zum Konzept des sozialen Stils vgl. Debus/ Kallmeyer/ Stickel (Hg.) (1994-1995); vgl. auch Keim (2008, S. 211). Sibel Ocak 236 Exkurs: Das Konzept des kommunikativen sozialen Stils wurde in dem IDS -Projekt „Kommunikation in der Stadt“ zur Erfassung der sozialstilistischen Differenz zwischen unterschiedlichen sozialen Welten der deutschen Gesellschaft (vom Bildungsbürgertum bis zu den „einfachen Leuten“) entwickelt. Es wurde dann auf bi- und multikulturelle Kontexte übertragen und zur Beschreibung und Erklärung von in türkischstämmigen Migrantenjugendgruppen ausgebildeten Kommunikationsweisen und Sprachpraktiken verwendet (vgl. Cindark 2010, Keim 2008). Bei diesem Konzept handelt es sich um das z.Zt. umfassendste Stilkonzept. Es knüpft an ethnografische Arbeiten an, an soziologische und anthropologische Stilkonzepte und die der cultural studies, an Gumperz' rhetorische Konzeption von Sprachvariation, an die neuere Stilforschung unter gesprächsanalytischem Einfluss und an den kultursoziologischen Ansatz Bourdieus. In kommunikativen sozialen Stilen durchdringen sich sozial-kulturelle und interaktive Bedingungen, und sie bilden die Brücke zwischen lokal stattfindenden Interaktionen und übergreifenden sozialen Strukturen und kulturellen Traditionen. Stile sind Mittel zum Ausdruck sozial-kultureller Zugehörigkeit und Abgrenzung; Sprecher setzen Stilformen zur sozialen Positionierung in Relation zu relevanten Anderen ein. Stile dienen als Mittel zum Ausdruck sozialer Präsenz auf wichtigen Schauplätzen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit anderen sozialen Welten. Das Konzept des sozialen Stils ist u.a. durch folgende Eigenschaften bestimmt: - es ist ein Gestalt-Konzept, in dem Elemente auf allen Ausdrucksebenen homolog miteinander kombiniert werden; - Stile setzen Konventionalisierung voraus; sie haben Kontextualisierungsfunktion und werden interaktiv hergestellt; - sie werden zum Ausdruck von sozialer Zugehörigkeit und sozialer Abgrenzung verwendet und unter Aspekten der ästhetischen Performanz mit dem Ziel der Hochstufung von sozialer Differenz entwickelt. Zur Beschreibung des kommunikativen Stils sozialer Gruppen werden Ausdrucksweisen auf allen Ebenen des Handelns berücksichtigt: der Umgang miteinander und mit Außenstehenden; die Verwendung sprachlicher Ressourcen; die Ausprägung eines Systems sozialer Kategorien für die Selbst- und Fremddefinition; die Bevorzugung bestimmter Kommunikationsformen und rhetorischer Verfahren zur Lösung von Interaktionsaufgaben; die Bevorzugung einer bestimmten Sprachästhetik und bestimmter Räume, Gegenstände, Symbole zum Ausdruck von Geschmack. Sevim stellt klassisch (im Sinne von „traditionell“) in Kontrast zu vornehm. Die Bedeutung von vornehm ist rekonstruierbar durch den Kontrast zu klassisch; die Kontrastrelation bezieht sich auf Unterschiede in Geschmack und Stil, wie z.B. die Ausstattung der Feier, die Orte, an denen Sevim sich wohlfühlt, der ausgewählte Freundeskreis etc. In Sevims Darstellung spielten zwar Traditionen in den rituell geprägten Ereignissen wie Brautwerbung, religiöse Trauung und Hochzeitsfeier eine Rolle; doch sie werden - wenn möglich - „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 237 geschmackvoll vornehm ausgestaltet. Im alltäglichen Leben von Sevim spielen dagegen an individuellen Bedürfnissen ausgerichtete Umgangsformen und Handlungsweisen eine wichtige Rolle, z.B. ihre vertraute Beziehung zum Vater und die liebevolle Fürsorge des Vaters gegenüber der Tochter auch nach der Eheschließung. Zu dem von Sevim präsentierten vornehmen sozialen Stil gehört möglicherweise auch eine Darstellungsweise aus der Außenperspektive und ohne Ausdruck emotionaler Befindlichkeit, die bei der Schilderung wichtiger biografischer Ereignisse aufgefallen ist: bei der Schilderung - des Kennenlernens ( geldi tanıştık * tanıştık gitti↓ ‘er ist gekommen, wir haben uns kennengelernt, wir haben uns kennengelernt, er ist gegangen’, Z. 162), - des Heiratsantrags (Bebek Cafedeydik↓ denizin önünde↓ ‘wir waren im Bebek Café, am Meer’), - der Brautwerbung ( geldiler↓ istediler↓ ‘sie sind gekommen, haben um meine Hand angehalten’, Z. 242), - der Hochzeitsfeier (düğün güzeldi↓ fazla kalabalık değildi↓ küçük nez/ nezih bir şeydi↓ ‘die Hochzeitsfeier war schön, nicht so voll, etwas Kleines, Vornehmes’, Z. 384) und - der Flitterwochen (bir hafta↓* golf kulübüne gittik↓*güzeldi↓ ‘eine Woche, wir waren im Golfclub, es war schön’, Z. 396). In diesen Darstellungen bleibt die Gefühlswelt ausgespart. Diese Zurückhaltung in der Schilderung von Ereignissen kann mit den oben bereits angeführten Konventionen (in der arrangierten Ehe spricht man nicht über Liebe) oder mit dem fortgeschrittenen Alter Sevims als Braut erklärt werden; wahrscheinlich ist sie aber auch eine Frage des sozialen Stils, zu dessen Regeln es gehört, dass über Privates nicht aus der Innenperspektive gesprochen wird. Emotionale Schilderungen finden sich in diesem Gespräch vor allem dann, wenn Sevim sich und ihre Familie in Kontrast zu traditionsgebundenen, klassischen Familien und den dort geltenden Regeln setzt. 3. Erste Begegnung mit einer Heiratsmigrantin: Herstellung eines maximalen Kontrasts Die im Folgenden analysierte Erzählung zur Begegnung mit einer Heiratsmigrantin ist eine Art Schlüsselerzählung für Sevims soziales Selbst- und Fremdbild. In dieser Begegnung, die im deutschen Konsulat in Istanbul stattfindet, Sibel Ocak 238 wird Sevim zum ersten Mal mit den sozialen Konsequenzen von Heiratsmigration konfrontiert, die sie - so stellt sie es dar - bisher nicht wahrgenommen hat. Die Erzählung ist selbstinitiiert und die am meisten ausgebaute Narration im gesamten Interview mit szenischen Darstellungen, expliziten Bewertungen und inneren Monologen, in der Sevim ihre emotionalen Reaktionen verarbeitet. Das ist ein Hinweis auf die Bedeutung, die das Ereignis für sie hat, und auf seine Erzählwürdigkeit. 33 Das Ereignis wird aus der damaligen Perspektive reinszeniert, wobei auch Evaluationen aus der Jetzt-Zeit mit einfließen. Die Erzählung entsteht im Kontext der chronologischen Schilderung der Ausreise aus der Türkei nach der Eheschließung, die Sevim auf die Frage der Interviewerin ausbreitet: Am 3. Januar war die standesamtliche Heirat und im darauf folgenden März stellte sie den Antrag auf Ausreise im deutschen Generalkonsulat in Istanbul. Die Nennung des Ortes wird zum Auslöser für die Erzählung des Ereignisses, das beim ersten Besuch stattfindet. Als Sevim im Warteraum des Konsulats auf die Bearbeitung ihres Antrags wartet, setzt sich eine Frau neben sie, die ebenfalls auf ihr Visum nach Deutschland wartet. Unvermittelt äußert die Fremde Sevim gegenüber die Hoffnung auf baldige Ausreise, damit sie gerettet werden würde. Diese Äußerung verwirrt und schockiert Sevim; die Begegnung mit der Frau wird zum Anlass, um die eigene Migration vor dem Hintergrund der Situation von anderen türkischen Heiratsmigrantinnen zu reflektieren. Die Erzählung ist folgendermaßen strukturiert: a) Vorausgreifende Begründung für die eigene Ausreise (Z. 465-470) Nach der im Rahmen der chronologischen Darstellung erfolgten Nennung des deutschen Konsulats beginnt die Erzählung: 465 SV: mart ya da nisan ayında başvuruda bulunduk konsolosluğa Ü: im März oder April haben wir einen Antrag gestellt auf dem Konsulat 466 SV: orda mesela* be“n buraya ↑ yani Almanya diye gelmedim ↓ Ü: dort zum Beispiel, ich bin hierher gekommen also nicht weil es Deutschland ist 467 SV: yani ya da başka bir ülkeye gidip yaşamak için d/ Ü: also ni / um in ein anderes Land zu gehen und dort zu leben 33 Vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann (2004, S. 127), Fuchs-Heinritz (2009, S. 61). „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 239 468 SI: hmm ↓ 469 SV: sadece eşim iyi bir insan olduğu için ↓ Ü: nur weil mein Mann ein guter Mensch ist, weil 470 SV: anlaşabildiğim için * buraya geldim Ü: ich mich mit ihm verstehe, bin ich hierher gekommen Dass es sich im Folgenden um die Darstellung eines Ereignisses handelt, macht Sevim mit der einleitenden Äußerung orda mesela (‘dort zum Beispiel’) deutlich. Sie bricht abrupt ab, lässt die Rezipientin im Unklaren darüber, wofür sie ein Beispiel anzuführen beabsichtigt und führt eine Begründung für die eigene Migration an: Ihr Beweggrund ist ihr Mann (mit dem sie sich verbunden fühlt) und nicht ihre Absicht, in Deutschland zu leben. Die Realisierung und Akzentuierung des Personalpronomens be“n (‘ich’) projiziert eine Kontrastrelation zwischen dem eigenen Migrationsmotiv und dem anderer Personen, 34 die an dieser Stelle nicht genannt werden. Die Bezeichnung für die Kontrastkategorie bleibt offen, doch die negative Bewertung ist über die Kontrastrelation erschließbar. Mit dieser Begründung setzt die Erzählerin das eigene Migrationsmotiv relevant und bettet die folgende Erzählung in den Rahmen kontrastierender Motive für die Migration nach Deutschland ein: Die Migration aus Zuneigung zu einer Person vs. die Migration mit der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen. b) Vorausgreifende Bewertung des Ereignisses und Orientierungssequenz (Z. 470-473) Nach der Nennung des eigenen Motivs für die Migration führt Sevim zur Ereignisdarstellung zurück: konsolosluğa gittim↓ (‘ich bin aufs Konsulat gegangen’): 470 SV: buraya geldim ben mesela konsolosluğa gittim ↓ Ü: bin ich hierher gekommen, ich bin aufs Konsulat gegangen 471 SV: o i/ ilk defa çok şaşırdım ↓ Ü: das er / erste Mal war ich total verblüfft 472 SV: böyle işte içeriye alıyorlar ↓ oturuyorsun ↓ yanıma Ü: sie bitten so rein, du sitzt da. 473 SV: bir bayan oturdu ay dedi Ü: neben mich hat sich eine Frau gesetzt, ach sagte sie 34 Im Türkischen enthält die Verbmorphologie die Personalmarkierung; Personalpronomina werden nur zur Hervorhebung, Kontrastherstellung etc. realisiert. Sibel Ocak 240 Nach der Nennung des Schauplatzes erfolgt die Angabe zum Zeitpunkt, an dem das Ereignis stattfand: beim ersten Besuch im Konsulat (ilk defa ‘das erste Mal’), also zu dem Zeitpunkt, als Sevim sich aus dem Familienkreis in den institutionellen und öffentlichen Raum begibt. 35 Dann folgt die vorausgreifende Bewertung des Ereignisses: çok şaşırdım↓ (‘war ich total verblüfft’), mit der sie die Interviewerin auf den Charakter und die Qualität des Ereignisses einstimmt, das sie als außergewöhnlich und bestürzend charakterisiert. Es folgt die Orientierungssequenz, in der das Setting beschrieben und die Personen eingeführt werden: böyle işte içeriye alıyorlar↓ oturuyorsun↓ yanıma bir bayan oturdu (‘sie bitten so rein, du sitzt da, neben mich hat sich eine Frau gesetzt’, Z. 472f.). Die Erzählerin sitzt im Warteraum des deutschen Generalkonsulats, eine Frau setzt sich direkt neben sie, die wie sie selbst darauf wartet, von einem Konsulatsmitarbeiter zur Bearbeitung ihres Ausreiseantrags aufgerufen zu werden. c) Konfrontation mit der Fremden (Z. 473-486) Direkt im Anschluss folgt die szenische Darstellung der Konfrontation mit der Fremden. Die Szene besteht aus eingeleiteten Fremd- und Eigenzitaten, einem inneren Monolog, in dem Sevim ihre damalige Verwirrung verarbeitet und einem an die Interviewerin gerichteten Appell um Verständnis für den damaligen Verwirrtheitszustand. 473 SV: bir bayan oturdu ay dedi Ü: neben mich hat sich eine Frau gesetzt, ach sagte sie 474 SV: bir an önce de çıksa da şu vize kurtulsak dedi ↑ Ü: wenn das Visum nur schnell erteilt werden würde und wir gerettet wären 475 SV: nerden kurtuluyoruz dedim ↑ sonra dedim ki Ü: wovor retten wir uns denn sagte ich, dann sagte ich 476 SI: LACHT 477 SV: yani nerden ↑ ben gittim gördüm çok güzel Ü: wovor denn, ich bin schon dort gewesen und habe es gesehen, es ist sehr schön, 478 SV: dedi ↓ güzeldir dedim yani ↓ Ü: sagte sie, ist bestimmt schön, sagte ich 479 SI: hmm ↓ LACHT 35 Die vorher geschilderten Ereignisse fanden alle im Raum der Familie oder zwischen SV und ihrem Mann statt. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 241 480 SV: oh ** ben dedim ki nereye gidiyorum ↓ * Ü: Oh, sagte ich mir, wohin gehe ich denn nur. 481 SI: LACHT 482 SV: gerçekten bak nereye gidiyorum ne olu/ yani ne Ü: glaub mir, wohin gehe ich nur? was passiert 483 SV: oluyor böyle e ilginç yani nereyi/ Ü: denn nur? ja, interessant halt, was/ 484 SI: ay çok ilginç ↓ Ü: ach, sehr interessant 485 SV: nerden kurtuluyoruz ki ↑ Ü: wovor retten wir uns denn 486 SI: mhm ↓ Die Szene beginnt mit einem Zitat der fremden Frau: ay: dedi bir an önce de çıksa da şu vize kurtulsak dedi↑ (‘ach sagte sie, wenn das Visum nur schnell erteilt werden würde und wir gerettet wären’, Z. 473f.). Die Äußerung erfolgt ohne Gruß, ohne Adressierung oder Einleitung, und mit prosodischen Mitteln verstärkt Sevim den Eindruck von Dringlichkeit und Erregtheit. Die fremde Frau spricht aus der Perspektive einer Notleidenden, der die Migration nach Deutschland als „Rettung“ erscheint. 36 Durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie das eigene Elend und die Hoffnung auf Rettung offenbart, ebenso wie durch die Verwendung des inklusiven „wir“ drückt sie aus, dass sie davon ausgeht, dass die Adressatin sich in derselben Situation befindet wie sie, zu derselben sozialen Gruppe gehört und die Migration ebenfalls als Rettung begreift. Diese Annahme ist motiviert durch den Ort der Begegnung (das deutsche Konsulat, Ausreisestelle), die dort wartende Person (junge Frau ohne Begleitung) und die damit vermutlich implizierten sozialen Konsequenzen (Migration zum Ehemann nach Deutschland). In der Äußerung gibt es keine Markierung von sozialer Distanz zwischen Sprecherin und Adressatin: die Sprecherin vereinnahmt die Adressatin unter ihrer Perspektive und ihrer Bewertung. Durch diese Handlungs- und Sprechweise erscheint die Frau als distanzlos, emotional und in eine Situation verstrickt, die Sevim fremd und unverständlich ist. Mit der Rückfrage nerden kurtuluyoruz dedim↑ (‘wovor retten wir uns denn, sagte ich’, Z. 475) und der verstärkenden Reformulierung (sonra dedim ki yani nerden↑ ‘dann sagte ich wovor denn’, Z. 475/ 477) dringt sie auf Klärung. Darauf präzisiert die Fremde das, was als Rettung 36 Kendini kurtarmak ist eine Formel und bedeutet ‘sich selbst retten’ im Sinne von ‘sich aus dem Elend retten’. Sibel Ocak 242 erscheint: ben gittim gördüm çok güzel dedi↓ (‘ich bin schon dort gewesen und habe es gesehen, es ist sehr schön, sagte sie’, Z. 477f.), d.h. die Ausreise in ein sehr schönes Land, das sie aus eigener Anschauung bereits kennt. Sevim reagiert mit einer Bestätigung güzeldir dedim yani↓ (‘ist bestimmt schön, sagte ich’, Z. 478). Dann wechselt sie von der szenischen Darstellung zu einem inneren Monolog, in dem sie ihre damalige Reaktion auf das Ereignis ausdrückt: oh ** ben dedim ki nereye gidiyorum↓* (‘oh, sagte ich mir, wohin gehe ich denn nur’, Z. 480). Die Begegnung mit der Frau lässt die Ausreise und das, was sie in dem neuen Land erwartet, plötzlich in einem fragwürdigen Licht erscheinen. Die Interjektion (oh), die längere Pause und die rhetorische Frage (wohin gehe ich denn nur) verleihen der Äußerung eine theatralische Qualität, die bei der Interviewerin ein amüsiertes Lachen hervorruft (Z. 479). Doch Sevim weist die Modalität (Amüsement) zurück, wirbt um Glaubwürdigkeit (gerçekten bak ‘glaub mir’), reformuliert ihren damaligen Zustand und stuft ihn in einer dreiteiligen Sequenz hoch: nereye gidiyorum ne olu/ yani ne oluyor böyle↓ [...] nerden kurtuluyoruz ki↑ (‘Wohin gehe ich nur? Was passiert denn nur? [...] wovor retten wir uns denn? ’, Z. 482/ 485). Die Begegnung mit der fremden Frau, so stellt es Sevim dar, verunsichert, verwirrt und bestürzt sie. d) Erklärung für das Verhalten der fremden Frau: Herkunft aus dem Dorf (Z. 487-497) Das verwirrende Verhalten der Fremden löst in Sevim ein Nachdenken über mögliche Hintergründe aus. Dabei entwirft sie das negative Fremdbild einer „Dörflerin“ vor der Folie ihres positiven Selbstbildes als „Städterin“ und erklärt sich das ungewöhnliche Verhalten der Fremden als typisch für das einer „Dörflerin“, die nach Deutschland migriert: 485 SV: nerden kurtuluyoruz ki ↑ sonra dedim ki yani * Ü: wovor retten wir uns denn dann dachte ich mir halt, 486 SI: mhm ↓ 487 SV: bir sürü hayatlar var ↓ yani herkes e: benim Ü: es gibt so viele Lebensweisen, es kann sein, dass 488 SI: mhm ↓ 489 SV: gibi mesela* iyi veya şehirde yaşamış veya her imkana Ü: nicht jeder äh so wie ich z.B. so gut oder in einer Stadt 490 SV: sahip olmayabilir yani ↓ Ü: gelebt hat oder halt jede Möglichkeit hatte 491 SI: mhm ↓ „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 243 492 SV: o or/ şimdi düşün belli bir şehirin bir Ü: da / überleg jetzt mal, wenn jemand aus einer Gemeinde, 493 SV: kasabasından bir yerden buraya geldiği zaman Ü: einem kleinen Ort, von irgendwo hierher kommt, dann findet 494 SI: hmm ↓ 495 SV: çok değişik gelir burası ↓ bana çok değişik gelmedi ↓ Ü: er es hier sehr anders, ich fand es nicht sehr anders 496 SI: doğru sen Istanbula gidip geldiğin için ↑ Ü: stimmt, weil du oft in Istanbul bist 497 SV: geldiğim için çok değişik gelmedi ↓ Ü: weil ich von dort komme, fand ich es nicht sehr anders. Die Perspektive der Fremden erklärt Sevim aus drei Faktoren: yani herkes e: benim gibi mesela* iyi veya şehirde yaşamış veya her imkana sahip olmayabilir yani↓ (‘es kann sein, dass nicht jeder äh so wie ich z.B. so gut oder in einer Stadt gelebt hat oder halt jede Möglichkeit hatte’, Z. 487/ 489). Sie vermutet, dass Menschen, die die Migration so erleben wie die Fremde, andere Voraussetzungen haben, als sie selbst. Sie lebte vor ihrer Entscheidung zur Migration gut (iyi, Z. 489); sie lebte in der (Groß-)Stadt (veya şehirde yaşamış) und sie hatte jede Möglichkeit (veya her imkana sahip, Z. 490), die ein urbanes und wohlbehütetes Leben bietet. Für Menschen, die diese Voraussetzungen nicht haben, also nicht gut und nicht in einer Großstadt lebten und in ihrem Leben ‘keine Möglichkeiten’ hatten, mag das Leben in Deutschland anders und schön erscheinen (çok değişik gelir burası↓, Z. 495). Im Kontrast zu diesen Menschen empfand Sevim Deutschland nicht als anders (bana çok değişik gelmedi↓ ‘ich fand es nicht sehr anders’, Z. 495). Durch diese Charakterisierung der Lebenssituation vor der Migration bringt Sevim sich in die Nähe der Lebensverhältnisse im Einwandererland und setzt sich in maximalen Kontrast zu Migrant(inn)en aus der Türkei, die aus dem Dorf kommen. Der eigene Hintergrund wird noch durch eine Fremdkorrektur hervorgehoben: Die zustimmende Äußerung der Interviewerin doğru sen Istanbula gidip geldiğin için↑ (‘stimmt, weil du oft in Istanbul bist’) korrigiert sie zu geldiğim için (‘weil ich von dort komme’) und macht den Kontrast zwischen sich als Weltstädterin und einer Dörflerin überaus deutlich. Mit der Kontrastrelation „Städterin“ vs. „Dörflerin“ sind nicht nur unterschiedliche Lebensverhältnisse impliziert, sondern vor allem tiefgreifende sozial-kulturelle Differenzen. „Dörfler“ gelten aus der Sicht von (Groß-)Städtern als eng traditionell, wenig gebildet, insgesamt rückständig und von gro- Sibel Ocak 244 bem Stil. 37 Dass Sevim das Verhalten der fremden Frau und die Differenz zu ihr im Rahmen dieser sozial-kulturellen Kontrastrelation erklärt, 38 zeigt, dass - sie sich im Rahmen eines in der Türkei weit verbreiteten Topos bewegt, der häufig zur Erklärung sozial-kultureller Differenzen verwendet wird (und der auch von der Interviewerin geteilt wird); - sie an Argumentationsmuster anknüpft, die für die Charakterisierung der ersten Migrantengeneration (Arbeitsmigranten) typisch sind; Angehörige dieser Generation werden von Türkeitürken pauschal der Kategorie „Dörfler“ zugeordnet; - sie etwas über die Motive der Heiratsmigration nach Deutschland weiß, 39 denn die Charakterisierung der Fremden stimmt mit dem in der Türkei und in Deutschland weit verbreiteten Stereotyp über Heiratsmigrantinnen überein: 40 sie kommen aus dem Dorf, sind arm und wenig gebildet und hoffen auf ein besseres Leben in Deutschland. Außerdem entspricht die szenische Darstellung der Fremden, ihre fehlende soziale Distanz und mangelnde emotionale Kontrolle eher dem stereotypen Kommunikationsstil, der „Dörflern“ zugeschrieben wird, als dem von „Städtern“; d.h. Sevim enaktiert durch die Art und Weise, wie sie die Fremde sprechen und handeln lässt, die stereotype Frau aus dem Dorf. e) Rückführung zur Erzählung und Ende des Gesprächs (Z. 498-509) Nach einem zustimmenden Rückmeldesignal führt die Interviewerin zur Ereignisdarstellung zurück und fragt nach dem Ausgang des Gesprächs: 497 SV: geldiğim için çok değişik gelmedi ↓ Ü: weil ich von dort komme, fand ich es nicht sehr anders 498 SI: hm ↓ sonra ↓ * Ü: und dann 37 Dieses Hintergrundwissen teilt auch die Interviewerin, wie die zustimmende Äußerung doğru sen Istanbula gidip geldiğin için↑ (‘stimmt, weil du oft in Istanbul bist’) zeigt. 38 Mögliche Erklärungen dafür, dass die Fremde die Migration nach Deutschland als Rettung betrachtet, hätten auch aus anderen Bereichen kommen können, z.B. politische Probleme, Familienprobleme etc. 39 Ein Hinweis darauf, dass Sevim nicht so ahnungslos ist, wie sie sich in der vorangegangenen Szene dargestellt hat. Doch auch wenn sie von solchen Heiratsmigrantinnen wusste, in der geschilderten Situation begegnet sie einer solchen zum ersten Mal face-to-face und muss sich damit auseinandersetzen. 40 Vgl. dazu Teil VI. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 245 499 SI: bayanla konuşmanız nasıl bitti ↓ Ü: wie endete euer Gespräch 500 SV: ben kalktım yanından ↓ Ü: ich bin aufgestanden, 508 SV: şok oldum zaten ↑ hemen yerimi değistirdim ne oluyorum Ü: ich war sowieso schockiert, habe sofort meinen Platz 509 SV: diye ↓ ama baya: bir moralim bozuldu ↓ dışarıya çıktım Ü: gewechselt, was passiert mit mir, die Frau verdarb mir die Laune, ich bin rausgegangen Sevim beendet das Gespräch mit der Frau abrupt; sie steht auf, wechselt zunächst den Platz und verlässt dann den Raum. Der abrupte, wortlose Rückzug aus einer Interaktion ohne Wahrung rudimentärer Formen von Höflichkeit (wie Entschuldigung, Erklärung, Gruß etc.) ist eine überaus deutliche Form sozialer Distanzierung und ein Affront für die Rezipientin. Als Begründung für dieses rüde Verhalten führt sie die negativen Emotionen an, die die Frau in ihr auslöste: Sevim war schockiert (şok oldum zaten↑), bestürzt, ausgedrückt durch die rhetorische Frage ne oluyorum diye↓ (‘was passiert mit mir? ’ Z. 509) und wütend auf die Frau (ama baya: bir moralim bozuldu ‘die Frau verdarb mir die Stimmung’). Diese überaus negative Reaktion verdeutlicht die tiefe soziale Kluft zwischen zwei Frauen, die zu maximal kontrastierenden sozialen Kategorien gehören, deren Bedeutung in den gesellschaftlichen Ideologien der türkischen Gesellschaft gründet. Doch darüber hinaus verdeutlicht sie die Brisanz, die die Begegnung im Konsulat für Sevim hat: Sie erlebt plötzlich, dass es durch ihre Entscheidung zur Migration nach Deutschland von jetzt an eine Menge an Gemeinsamkeiten zwischen ihr und solchen „Dörflerinnen“ gibt: Beide sind Heiratsmigrantinnen, müssen dieselben bürokratischen Verfahren durchlaufen, ähnliche migrationsbedingte Schwierigkeiten bestehen und sich in beiden Bezugsgesellschaften mit den Stereotypen auseinandersetzen, die mit der Kategorie „Heiratsmigrantin“ verbunden sind. Das schockartige Erleben dieser mit der Heirat verbundenen sozialen Implikationen kommt in der Art der szenischen Darstellung zum Ausdruck: in der Hochstufung der eigenen Verwirrtheit, der Grobheit des eigenen Verhaltens und der Unfähigkeit, die negativen Emotionen zu kontrollieren, die die Frau in ihr auslöste. Dass die Szene so eindrucksvoll präsentiert und die Differenz zwischen den Frauen so scharf gezeichnet ist, lässt vermuten, dass Erfahrungen, die Sevim nach dem damaligen Ereignis im Zuge ihrer Migration gemacht hat, mit eingeflossen sind: In Mannheim trifft sie im Alltag, bei Behördengängen und im Integrationskurs immer wieder auf solche Migrantinnen; sie muss sich mit ihnen auseinandersetzen und sich mit ihnen arrangieren. Sibel Ocak 246 f) Nachbereitung der Erzählung (Z. 510-512) Direkt im Anschluss schildert Sevim, dass sie nach Verlassen des Generalkonsulats ihren Familienangehörigen von ihrer Begegnung mit der Frau erzählte. In der Familie wird der Fall diskutiert, und Sevims Erklärung für das Verhalten der fremden Frau erhält Bestätigung: 509 SV: diye ↓ ama baya: bir moralim bozuldu↓dışarıya çıktım * Ü: gewechselt, was passiert mit mir, die Frau verdarb mir die Laune, ich bin rausgegangen 510 SV: anlatıyorum şimdi böyle böyle dediler sonra konuşmaya Ü: ich erzähle es sofort, so so haben sie gesagt, dann fingen wir halt an 511 SV: başladık işte aynı şekilde fark/ yani farklı yerlerden Ü: es zu besprechen, so in der Art, sie können aus verschiedenen 512 SV: gelebilir ↓ ya kurtuluş olarak görüyorlar Ü: Orten kommen sie sehen es als Rettung 513 SI: doğru ↓ yani ↓ Ü: stimmt schon 514 SV: buraya gelmeyi ↑ Ü: hierher zu kommen 515 SI: gören var tabi ki ↑ Ü: es gibt natürlich welche, die es so sehen. 516 SV: belli küçük bir kasabada küçük bir köyde yaşıyor Ü: offenbar leben sie in einer kleinen Gemeinde, in 517 SV: burdaki imkanlar cazip geliyo: geldiği zaman ↓ Ü: einem kleinen Dorf, die Möglichkeiten hier sind für sie attraktiv, wenn sie hierher kommen 518 SI: geliyo canım ↓ Ü: klar, sie empfinden es schon so. Nach Verlassen des Warteraums im Konsulat führt Sevim nahtlos in die Phase der Nachbereitung über. Sie schildert, dass sie das Erlebte sofort weiter erzählte, allerdings ohne den/ die Adressaten zu nennen (anlatıyorum şimdi ‘ich erzähle es sofort’). Vermutlich ist es ihre Familie, in der das Ereignis auf großes Interesse trifft: sonra konuşmaya başladık işte aynı (‘dann fingen wir halt an es zu besprechen’). Dann fasst sie die Familiendiskussion zusammen und trägt dabei genau die Argumente vor, die sie direkt nach der Konfrontation mit der Frau (oben unter d) als Erklärung angeführt und über die sie sich „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 247 als „Städterin“ in maximalen Kontrast zur Fremden als „Dörflerin“ positioniert hat. Auch in der Familiendiskussion wird das Verhalten der Frau generalisiert und sozial-kulturell typifiziert: Es ist charakteristisch für Menschen, die aus ländlichen Regionen kommen (yani farklı yerlerden gelebilir↓, Z. 511f.); 41 sie sehen die Migration nach Deutschland als Rettung (ya kurtuluş olarak görüyorlar buraya gelmeyi↑, Z. 512), da sie hier bessere Lebensmöglichkeiten erwarten (burdaki imkanlar cazip geliyo: geldiği zaman↓). Damit positioniert Sevim jetzt auch ihre Familie in Kontrast zur sozial-kulturellen Kategorie der zurückgebliebenen „Dörfler“. Die Interviewerin stimmt dem Kategorisierungsprozess mehrfach zu und bestätigt aus ihrer Erfahrung, dass es Menschen gibt, die zu dieser Kategorie gehören: gören var tabi ki↑ (‘es gibt natürlich welche, die es so sehen’). 4. Selbstpositionierung in Kontrast zu typischen Schwiegertöchtern Da Sevim in der Türkei auf das Visum warten muss, fragt die Interviewerin, ob sie bis zur Ausreise bei der eigenen Familie oder der Schwiegerfamilie gelebt hat. Die Vorstellung, bei der Schwiegerfamilie zu leben, weist sie entschieden zurück: 530 SI: sen ondan sonra ↓ evlendikten sonra ↓ ailenin yanında mı Ü: danach bist du, nach der Eheschließung bist du bei deiner 531 SI: kaldın ↓ | yoksa onun ailesinin yanında mı ↓ | Ü: Familie oder bei seiner Familie geblieben? 532 SV: | ailemin yanında↓ hayır ben ailemin| Ü: bei meiner Familie, nein, ich bin bei meiner Familie 533 SV: yanında kaldım ↓ Ü: geblieben 534 SI mhm ↓ ** buraya geldin↓ Ü: dann bist du hierher gekommen 535 SV: ben ailemin yanında kaldım ↓ buraya geldim ↓ ben kalamazdım Ü: ich bin bei meiner Familie geblieben, dann hierher gekommen 536 SV: ki onun ailesinin yanında ↓ o bunu biliyor ↓ o yokken ↓ Ü: ich hätte in seiner Abwesenheit gar nicht bei seiner Familie bleiben können, das weiß er 41 Kurz danach präzisiert sie zu belli kücük bir kasabada küçük bir köyde yaşıyor (‘offenbar leben sie in einer kleinen Gemeinde, einem kleinen Dorf’). Sibel Ocak 248 537 SV: o yokken kalamam ki ben ↓ her ne olursa olsun yani ↓ **ban/ Ü: wenn er nicht da ist, kann ich doch nicht bleiben, was auch immer sein mag 538 SV: ben yapamam yani ↑ ben rahat bir insanım ↓ yapamam yani Ü: Ich kann es halt nicht, ich bin ein bequemlicher Mensch, ich kann 539 SV: Sibel ↓ ama ben rahat yani ben rahat ↓ rahat yapıda bir Ü: es halt nicht Sibel, ich bin bequemlich, bequemlich, ich bin ein 540 SV: insanım ↓ öyle baskıya gelemem hani Ü: bequemlicher Mensch, so einen Druck halte ich nicht aus Sevim lebte nach der Heirat bis zur Ausreise bei der eigenen Familie. Obwohl die konditionelle Relevanz, die durch die Frage der Interviewerin etabliert wurde, mit der Äußerung ben ailemin yanında kaldım↓ buraya geldim↓ (‘ich bin bei meiner Familie geblieben, dann hierher gekommen’, Z. 535) erfüllt ist, fährt Sevim selbstinitiiert fort und begründet das Leben bei der eigenen Familie folgendermaßen: ki onun ailesinin yanında↓ o bunu biliyor↓ o yokken↓ o yokken kalamam ki ben↓ her ne olursa olsun yani↓ (‘ich hätte in seiner Abwesenheit gar nicht bei seiner Familie bleiben können, das weiß er, wenn er nicht da ist, kann ich doch nicht bleiben, was auch immer sein mag’, Z. 536f.). Die expandierte Begründung dafür, dass sie im Hause der Eltern gelebt hat, erfolgt vor dem Hintergrund, dass es bei eher traditionellen Familien üblich ist, dass Schwiegertöchter nach der Eheschließung bei den Schwiegereltern leben. Diese Konvention weist Sevim nachdrücklich zurück; sie hätte nie im Haus der Schwiegereltern leben können, und schon gar nicht ohne ihren Mann. Die Zurückweisung begründet sie damit, dass sie sich mehrfach und eindringlich als rahat (‘bequemlich, die Ruhe bevorzugend’) bezeichnet, als ein Mensch, der nicht gestört und in Ruhe gelassen werden will. Und sie schließt ihre Ausführung mit: öyle baskıya gelemem hani (‘so einen Druck halte ich nicht aus’, Z. 540). Diese expandierte, nachdrückliche Begründung ist nur verstehbar vor der im Hintergrund stehenden Rolle der traditionellen Schwiegertochter im Haus der Schwiegereltern. Gegen die Übernahme dieser Rolle wehrt sich Sevim. Sie unterstellt, dass sie im Haus der Schwiegerfamilie die für Schwiegertöchter vorgesehenen Aufgaben erfüllen müsste und damit unter einem Druck stünde, den sie nicht aushalten könne (öyle baskıya gelemem hani ‘so einen Druck „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 249 halte ich nicht aus’). 42 Mit der Schwiegerfamilie assoziiert sie ein fremdbestimmtes, an engen Regeln ausgerichtetes Leben. Auf ein solches Leben ist sie nicht vorbereitet; in ihrer Herkunftsfamilie wurde es ihr ermöglicht, sorglos, bequem, ohne Anweisungen und Verpflichtungen zu leben. Um der Interviewerin zu verdeutlichen, auf welche rollengebundenen Aufgaben einer Schwiegertochter sie referiert, nennt Sevim ein Gespräch zwischen zwei Teilnehmerinnen aus dem Integrationskurs, dem sie zugehört hat. D.h. sie macht einen chronologischen Vorgriff, um die Gründe für ihre Entscheidung vor ihrer Migration zu belegen: 541 SV: işte şimdi anla/ dün geçen gün kursda anlatıyorlardı Ü: also, nun ich erzäh / gestern, vor ein Paar Tagen erzählten sie 542 SV: şeyle şey konuşuyordu: Hilalle* Semra ↓ benim diyo bir Ü: im Kurs, die Ding hat mit Ding gesprochen, Hilal mit Semra 543 SV: arkadaşım diyo geldi diyo işte diyo kayınvalde diyo Ü: eine Freundin von mir, sagt sie, ist gekommen, sagt sie sie fühlt sich verpflichtet vor der 544 SV: kalkmadan kalkıyomuş sabah kahvaltıyı hazırlıyo“muş ↓ eh Ü: Schwiegermutter aufzustehen, das Frühstück vorzubereiten, äh 545 SV: so/ kayınvaldeler hazır kahvaltıya oturuyolarmış ↓ sonra Ü: dann setzen sich die Schwiegermütter an den gedeckten Frühstückstisch 546 SV: topluyomu“ş ↓ * eh bu ne bu hizmetçilik yani ↓ Ü: danach räumt sie ab, und was ist das? das ist doch Dienstmäd- chen sein Sevim rekonstruiert die Unterhaltung zweier Teilnehmerinnen des Integrationskurses in Mannheim, in der die eine Frau eine Freundin zitiert. Im Zitat dieser Freundin werden die Aufgaben genannt, die diese als Schwiegertochter im Haus der Schwiegereltern erfüllt: kayınvalde diyo kalkmadan kalkıyo“muş sabah kahvaltıyı hazırlıyo“muş↓ (‘sie fühlt sich verpflichtet vor der Schwiegermutter aufzustehen, das Frühstück vorzubereiten’, Z. 542f.). Die Pflichten der Schwiegertöchter werden durch Akzentuierung hervorgehoben und der zitierte Fall wird generalisiert (Wechsel von Sg. kayınvalde ‘Schwiegermutter’ zu Pl. Kayınvaldeler ‘Schwiegermütter’). Das Leben der Schwiegertöchter be- 42 Zur traditionellen Schwiegertochter und ihren Aufgaben und Pflichten vgl. Teil IV. Schwiegerfamilien gehen davon aus, dass die Schwiegertochter alle Aufgaben erfüllt; unter diesem Gesichtspunkt wurde sie von ihnen ausgewählt, vgl. auch Schiffauer (1983, S. 80ff.). Sibel Ocak 250 zeichnet Sevim (nach der rhetorischen Frage eh bu ne ‘was ist das? ’ ) als: bu hizmetçilik yani↓ (‘das ist doch Dienstmädchen sein’). 43 Schwiegertöchter werden in traditionellen Familien wie Bedienstete behandelt, eine Rolle, die sie nie übernehmen würde. Sie bezeichnet solche Regeln als ağır (‘streng’) und schließt aus, dass sie in ihrer Herkunftsgegend existieren: bu kadar a/ ağır adetler bizim orda yok yani↓ (‘solche strengen Traditionen gibt es halt in unserer Gegend nicht’). 44 Als die Interviewerin versucht, Traditionen regional zu verorten und das negative Bild, das Sevim von Schwiegertöchtern zeichnet, zu relativieren, bekräftigt Sevim die eigene Position. Mit Anzeichen von Erregung (erhöhtes Sprechtempo, durchgängige Akzentuierung) führt sie weitere Aufgaben von Schwiegertöchtern an, die sie von den Frauen in den Integrationskursen erfahren hat: kullanıyorlar resmen yani↓ eh →kahvaltıyı topluyor öğle yemeği hazırlıyo evi temizliyo çamaşırları ü/ ← hiç bir hayatı yok burda↓ (‘sie nutzen sie ja regelrecht aus, äh, sie räumt das Frühstück ab, kocht das Mittagessen, putzt die Wohnung, bü/ die Wäsche, sie hat gar kein Leben hier’). Mit diesem Katalog von Haushaltsaufgaben - Frühstück und Mittagessen bereiten, putzen, Wäsche waschen - umfasst sie alle Aufgaben innerhalb des Hauses. 45 Aus eigener Erfahrung kennt Sevim solche Aufgaben nicht; in ihrer Familie musste sie nie im Haushalt helfen, weil die Mutter und eine Putzhilfe alle Aufgaben übernahmen. 46 Deshalb rekurriert sie bei der Darstellung von Aufgaben der Schwiegertöchter auf Gespräche aus den Integrationskursen. 43 Aus meinem ethnografischen Wissen weiß ich, dass es weit verbreitet ist, Schwiegertöchter als Bedienstete zu bezeichnen, wenn sie alle im Haushalt anfallenden Aufgaben erfüllen müssen. Auch wenn Schwiegertöchter diese Aufgaben freiwillig und aus Respekt vor der „älteren“ Schwiegermutter oder aus Hilfsbereitschaft übernehmen, werden sie mit der Rolle der Bediensteten assoziiert; vgl. Teil VI. Diese Art von Behandlung seitens der Schwiegermutter belegt auch eine an der Universität Mannheim damals auf Lehramt studierende ehemalige Kommilitonin, die selbst in dieser Situation war. Als sie ihre Schwiegermutter in Zentralanatolien besuchte, musste sie alle für Schwiegertöchter vorgesehenen Aufgaben erfüllen. Sie musste für die Schwiegermutter das Frühstück vorbereiten und durfte abends nicht vor ihr ins Bett gehen. 44 Dass die verschiedenen Regionen der Türkei sehr unterschiedliche Traditionen haben, beschreibt z.B. auch Gottschlich (2008), der seit 10 Jahren als Korrespondent in Istanbul lebt. Er beschreibt, dass aus der Perspektive des westlich orientierten türkischen Mittelstandes Ehrenmorde, Zwangsehen und die gesamte Verfügungsgewalt über Frauen in traditionellen Familien genauso weit vom eigenen persönlichen Leben entfernt sind, wie es in Berlin der Fall wäre. 45 Aufgaben außerhalb, wie Einkaufen, Gänge zu Behörden oder zum Arzt gehören nicht dazu; das erledigen die Schwiegereltern; vgl. dazu Teil IV. 46 In der Türkei haben viele Haushalte eine Putzhilfe, die regelmäßig im Haushalt hilft. Das gilt für traditionelle und für moderne Familien. In einem anderen Kontext beschreibt SV ihr Verhältnis und das ihrer Familie zur Haushaltshilfe als sehr eng und stellt sie als eine Art Familienmitglied dar. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 251 Sevims Empörung über die Ausbeutung von Schwiegertöchtern ist erstaunlich, da sich für sie das Problem der Rolle einer Schwiegertochter nie gestellt hat; die Mutter ihres Mannes war bereits vor Jahren verstorben. Zudem pflegt ihr Mann keine engen Kontakte zu seiner Familie (Mehmetin ailesinle çok fazla diyaloğumuz olmadı bizim↓ ‘wir hatten mit Mehmets Familie sowieso keinen regen Kontakt’, Z. 703), sie selbst kennt die Mitglieder seiner Familie kaum ( yani tüm aileyi ço/ çok iyi tanımıyom↓ çünkü çok bir arada olmadık↓ ‘also seine ganze Familie kenne ich nicht se/ sehr gut, weil wir uns nicht so oft gesehen haben’, Z. 715/ 717). In Sevims Leben spielt also die Schwiegerfamilie überhaupt keine Rolle. Dass sie sich trotzdem so vehement gegen die Rolle einer traditionellen Schwiegertochter ausspricht, hat andere Gründe: Sie führt ihr (über andere erworbenes) Wissen an, um sich selbst möglichst weit von dieser Negativkategorie zu distanzieren; sie dient ihr als Kontrastfolie für die Selbstdarstellung als eine Frau, die nie in eine Familie geheiratet hätte, die diese Rolle von ihr erwartet hätte. Mit der Ablehnung der Schwiegertochterrolle eng verbunden ist die Ablehnung eines verwandtschaftlich und kollektivistisch organisierten Familienmodells, 47 in dem jedes Familienmitglied die ihm traditionell zugewiesenen Aufgaben zu übernehmen hat; nur das garantiert ihm das materielle Überleben und den sozialen Schutz der Familie. Zu Beginn des Gesprächs hat Sevim in Bezug auf ihre eigene Familie deutlich gemacht, dass sie sich mit der Migration gegen die Fürsorge und Obhut des Vaters und für ein eigenverantwortliches Leben (mit ihrem Mann) entschieden hat (vgl. oben Kapitel 2.1). Jetzt markiert sie auch gegenüber der Schwiegerfamilie deutliche Grenzen. Die Trennung von beiden Familien bedeutet die Absage an das traditionelle verwandtschaftliche Familienmodell und weist auf eine neue Orientierung auf ein paarbezogenes Modell hin. 5. Leben in der Migration 5.1 Anfangsschwierigkeiten und Trennungsschmerz Bei der Schilderung der Anfangsschwierigkeiten in Deutschland beschreibt Sevim ihr Erleben detailliert; sie stellt Emotionen der Trauer und ihre Unsicherheit in dem neuen Leben aus der Innensicht dar. Die Trennung von der Herkunftsfamilie fällt Sevim äußerst schwer. Sie beschreibt die Anfangszeit in Deutschland als Schockzustand: ilk geldiğimde şoklardaydım↓ (‘anfangs war ich im Schockzustand’, Z. 568), den sie nur 47 Zur Darstellung eines verwandtschaftlichen Familienmodells vgl. Teil IV; vgl. auch Keim (2008, S. 67ff.). Sibel Ocak 252 durch die Vorstellung durchstehen konnte, vorübergehend (wie im Urlaub) hier zu sein und wieder in die Türkei zurückkehren zu können. Sie litt unter starkem Heimweh und weinte viel: o kadar çok ağladım ki ↑ (‘ich habe ja so viel geweint’, Z. 572). Sie reiste oft für längere Zeit in die Türkei. Die innere Zerrissenheit beschreibt sie eindringlich durch ein Bild, in dem Kopf und Körper in verschiedenen Ländern leben müssen, der Kopf in der Türkei, der Körper in Deutschland: 745 SV: yani buraya adapte olamadığım için aklımın yarısı Ü: weil ich mich nicht an hier gewöhnen konnte, weil die 746 SV: Türkiyedeyk/ yani aklım Türkiyede kendim burdaydım ↓ Ü: Hälfte meiner Gedanken in der Türkei waren, also meine Gedanken waren in der Türkei und ich hier. Trost fand sie bei ihrem Ehemann, der alles in seiner Macht Stehende tat, damit sie sich eingewöhnte: yani * ben sıkılmayayım diye ya beni i/ dışarıya çıkıyorduk↓ birlikte gece dolaşıyoduk↓ yani yemeğe gidiyoduk↓ yani sinemaya gidiyoduk↓ işte kısa tatillere gidiyoduk↓ u/ o/ onun çok yardımı oldu↓ çok desteği oldu↓ (‘also, damit ich Zerstreuung finde, hat er mich/ wir sind rausgegangen, wir sind zusammen nachts spazieren gegangen, Essen gegangen, ins Kino gegangen, wir haben Kurzurlaube gemacht, er hat mir sehr viel geholfen, mich sehr unterstützt’, Z. 580). In dieser Schilderung skizziert Sevim ein neues, auf das Paar bezogenes Familienmodell: Zwischen den Ehepartnern gibt es vertraute, tröstende Gespräche; sie drückt ihm gegenüber Heimweh und Trauer aus, er zeigt Verständnis und tröstet sie. Er versucht ihr die schönen Seiten des neuen gemeinsamen Lebens zu zeigen, indem er viel Zeit mit ihr verbringt, sie ausführt, mit ihr in Urlaub fährt. Bei der Schilderung seiner Reaktion auf ihren Trennungsschmerz fokussiert sie genau die Eigenschaften, die bei ihrer Entscheidung für eine Ehe mit ihm ausschlaggebend waren - seine Güte, sein Verständnis und seine Fähigkeit, andere zu unterstützen (vgl. Kapitel 2.2.2). Die Erfahrungen mit ihm unter den schwierigen Bedingungen der Anfangszeit bestätigen die Richtigkeit ihrer Entscheidung. 48 Sevim entschied sich für die Migration, weil sie sich aus dem kollektivistischen Familienmodell lösen wollte und weil sie Vertrauen hatte, dass es mit ihrem Mann gelingen könnte. Das Leben als Paar, das Sevim beschreibt, unterscheidet sich sehr deutlich von dem Leben eines jungen Ehepaares in traditionell patriarchalischen Fami- 48 Über die schwere Anfangszeit sagt sie zusammenfassend: eşim zaten iyi bir insan olmasa ben burda duramazdım↓ (‘wenn mein Mann kein guter Mensch wäre, würde ich es hier nicht aushalten’, Z. 576). „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 253 lien (vgl. Teil IV). Dort leben und arbeiten Männer und Frauen getrennt, gemeinsame Unternehmungen von Paaren außerhalb der Familie sind selten. 49 Die jungen Frauen sprechen nur mit weiblichen Mitgliedern der Schwiegerfamilie über ihre Sorgen, vor allem mit den Schwägerinnen. Wenn diese nicht in der näheren Umgebung leben, schweigen sie und tragen ihre Traurigkeit nicht nach außen. Das junge Paar lebte in einem kleinen Vorort von Heidelberg. Sevim war nicht daran gewöhnt, tagsüber alleine zu sein. Nur um nicht alleine in dem kleinen Ort bleiben zu müssen, stand sie morgens mit ihrem Mann auf und fuhr mit ihm in sein Geschäft. Aus der Retrospektive vergleicht sie ihr damaliges Verhalten selbstironisch mit dem eines Kindes: saat altıda kalkıyodum akşam kalıcam diye: ↑ küçük çocuklar nasıl oluyo ya↑ ya Burakdan bir farkım yok↓ elimden tutup her yere götür↓ (‘um 6 Uhr bin ich aufgestanden, bis zum Abend geblieben, wie bei kleinen Kindern, ich unterscheide mich nicht von Burak, nimm mich an der Hand und bring mich überall hin’, Z. 873f.). Über das Bild des verängstigten Kindes, das sich nicht von der Hand des Erwachsenen lösen will und mit ihm überall hingeht, aus Angst alleine zurückzubleiben, beschreibt Sevim sehr eindrucksvoll ihre Unsicherheit, ihr völliges Angewiesen- Sein auf die Anwesenheit und Führung eines Erwachsenen. Ihr damaliges Erleben bestätigt aus der Retrospektive auch die Sorge ihres Vaters und seine Einwände gegen die Migration (vgl. Kapitel 2.1). D.h. Sevim erlebt das, was der Vater antizipiert hatte; Erfahrungen, die für eine wohlbehütete, umsorgte Tochter charakteristisch sind. Der Lösungsprozess aus der väterlichen Obhut und Fürsorge war lang und schmerzhaft; sie musste lernen, sich ohne die väterliche Fürsorge (liebevolle Bevormundung) zurechtzufinden. Erschwerend in dieser Zeit war, dass ihr Deutsch (noch) nicht so gut war, dass sie Kontakte knüpfen oder eine Beschäftigung finden konnte. Es dauerte sehr lange, bis Sevim bereit und fähig war, sich ein Leben ohne die Herkunftsfamilie aufzubauen, d.h. ein gemeinsames Leben mit ihrem Mann. Die Wende kommt, als sie schwanger wird; da wird ihr schlagartig klar, dass sie Deutschland von jetzt an zu ihrem Lebensmittelpunkt machen muss: 600 SV: baya bir zaman aldı benim alışmam ama ↓ kabullenmem ↓ Ü: es hat aber lange gedauert, bis ich mich gewöhnt habe, es akzeptiert habe. 49 Die in Teil IV dargestellte Informantin leidet sehr unter der fehlenden Gemeinsamkeit mit ihrem Mann; über ihre Probleme spricht sie nicht mit dem Mann, sondern mit den Schwägerinnen. Sibel Ocak 254 601 SI: ne kadar ↓ ne zaman kabullendin↓ Ü: wie lange, wann hast du es akzeptiert 602 SV: ** d/ ne zaman ↑ hamile kaldıktan sonra ↓ Ü: wann, als ich schwanger wurde 603 SI: ** niye hamile kaldıktan sonra ↓ Ü: warum als du schwanger wurdest? 604 SV: ki yani ↑ artık yani ↑ e: ben tatilde olmadığımı ↑ * Ü: also von da an halt, äh, dass ich nicht im Urlaub bin 605 SV: ben hamile de isteyerek kaldım yani Ü: schwanger werden, wollte ich selbst, 606 SV: mhm ↓ tatilde olmadığımı burda yaşi“camı Ü: dass ich hier nicht im Urlaub bin und hier leben werde Auf die Frage der Interviewerin, warum die Wende mit der Schwangerschaft kam, gibt Sevim die Begründung, dass sie erkannte, tatilde olmadığımı burda yaşi“camı (‘dass ich nicht im Urlaub bin und hier leben werde’, Z. 606). Die Urlaubsmetapher zeigt, dass nicht Deutschland an sich (oder die Deutschen) Sevims Problem war, 50 sondern ihre mangelnde Bereitschaft es als neuen Lebensmittelpunkt zu sehen, und sie zeigt auch, dass Sevim bis zu diesem Zeitpunkt ihren Herkunftsort (die Herkunftsfamilie) als „Heimat“ betrachtete, von der aus sie zeitweise in Urlaub fuhr. Dass die Schwangerschaft bei ihr die Bereitschaft zu einem Umdenken auslöste, hat mit dem hohen Stellenwert zu tun, den Kinder in der türkischen Gesellschaft haben, 51 sie sichern den Familienfortbestand und den Familienzusammenhalt. In der eingeschobenen Äußerung ben hamile de isteyerek kaldım yani (‘schwanger werden wollte ich selbst’, Z. 605) macht Sevim eine Feststellung, die vor dem Hintergrund kulturellen Wissens verständlich ist: Junge Paare aus traditionellen Familien stehen nach der Heirat unter erheblichem sozialem Druck, möglichst bald für Nachwuchs zu sorgen. Wenn sich kein Nachwuchs einstellt, kann das für Frauen weitreichende soziale Konsequenzen haben. 52 Mit der Feststellung 50 Sonst würde sie den Aufenthalt hier nicht als Urlaub bezeichnen. 51 In türkischen Familien sind Kinder wichtig: „mainly in agrarian regions of Turkey, children were seen as a source of manpower [...] children were an essential source of security against risks of life such as unemployement, illness, and old age.“ (vgl. Nauck/ Klaus 2008, S. 302). In Bezug auf die besondere Stellung von Jungen stellt Nauck (2005) fest: „Especially giving birth to a boy raises women's status, which in tradtional settings is the only chance to improve her subordinate position in within the family.“ 52 Wenn ein verheiratetes Ehepaar nach spätestens zwei Jahren kein Kind hat, wird dies vom sozialen Umfeld in erster Linie mit der Unfruchtbarkeit der Frau in Verbindung gebracht; „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 255 von Eigenständigkeit bei der Schwangerschaftsentscheidung stellt Sevim sich in Kontrast zu Frauen aus traditionellen Familien, die sich dem sozialen Druck beugen. 5.2 Sevims Blick auf die Deutschen Die fehlenden Sprachkenntnisse hinderten Sevim an einem Kontakt zum deutschen Umfeld, den sie sich wünschte. Das motivierte sie, möglichst schnell Deutsch zu lernen und dabei erfolgreich zu sein: 53 620 SV: konuşamıyosun ↓ yani e: insanlarla diyalog kuramıyosun ↓ Ü: du kannst nicht sprechen, du kannst halt mit den Menschen 621 SV: o bende baskı ya/ baskı* hissediyorum onu üzerimde ben Ü: keinen Kontakt knüpfen, das hat bei mir Druck ausgeü / , den Druck spüre ich auf mir 622 SV: |halen ↑ | Ü: immer noch 623 SI: |ama kendi | kendine mi bu baskıyı yapıyosun ↓ Ü: aber machst du dir selber diesen Druck 624 SV: kendi kendime yapıyorum ↓ çevreden bir şey görmedim ↑ Ü: ich mache ihn mir selber, vom Umfeld habe ich nichts Negatives erfahren Sevim stellt klar, dass sie aus Eigeninteresse Deutsch lernt und nicht, weil es gesetzlich vorgeschrieben ist. 54 Nicht der Druck der Behörde ist ihr Motiv, sondern der Wunsch nach Kontakten zu Deutschen und vor allem der Wunsch, sich im Interesse des Kindes mit den Bildungsinstitutionen auseinandersetzen zu können. 55 Sie war (und ist) hoch motiviert und hatte Erfolg. Damit baut sie einen Kontrast zu einem anderen Typ von Heiratsmigrantin auf: Diese besucht das beschädigt das Ansehen der Familie. In extrem traditionellen und religiösen Familien legitimiert die Unfruchtbarkeit der Frau auch eine Scheidung. Vgl. Toprak (2007, S. 89f.). 53 Sevim hat in diesem Jahr die Sprachprüfung „Deutsch-Test für Zuwanderer“ ( B1-GER ) erfolgreich abgelegt. 54 Vgl. oben Teil II; Zuwanderer, die vor 2005 kamen, können behördlich zur Teilnahme am Integrationskurs verpflichtet werden. Das ist bei Zuwanderern der Fall, die aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden. Zuwanderer, die nach 2007 kamen, sind zur erfolgreichen Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet. 55 Das drückt sie folgendermaßen aus: →ben istiyorum ki kendim bire bir kendim konuşup benim yani arada dolmetscherim olmasın↓←her seferinde çocuğumla ilgili gidip ke/ kendim fikrimi çocuğumun durumunu sormak veya tartışmak onları ben söylemek veya istiyorum çünkü zaten (‘ich möchte, dass ich selber ich persönlich spreche, ich brauche, d.h. Sibel Ocak 256 die Kurse aus Pflicht und hat wenig Interesse an Kontakten zu Deutschen, da sie in der Migrantengemeinschaft sozial vernetzt ist. Dieser Kontrasttyp hat stereotype Merkmale, wie sie in der deutschen Öffentlichkeit, aber auch in Teilen der Migrantengemeinschaft (die sich davon distanzieren) weit verbreitet sind. 56 Im Zusammenhang mit der Darstellung eigener Sprachprobleme geht Sevim selbstinitiiert auf ihre Erfahrungen mit Deutschen ein: 625 SV: ben yani *Almanlar ↑ tarafından da hiç bir şeyle Ü: ich also, war auch nicht mit etwas Negativem seitens der Deutschen 626 SV: karşılaşmadım hani anlatıyorlar ya ↑ şöyle davranıyorlar ↓ Ü: konfrontiert, sie erzählen doch, sie behandeln uns so, halt so 627 SV: işte şöyle ü/ farklı farklı şey * ben hiç bir şeyle Ü: verschiedene verschiedene Ding, ich habe nichts dergleichen 628 SV: karşılaşmadım ↓ Ü: erlebt 629 SI: mhm ↓ daha * güzel ↓ Ü: ist doch sehr schön 630 SV: yani hiç ters bir tepkiyle karşıla/ ha hepsi: sevecen Ü: d.h. ich war noch nie mit einer falschen Reaktion konfron / 631 SV: insanlardı ↓ benim karşılaştığım ↓ Ü: alle waren sehr liebe Menschen, denen ich begegnet bin Sevim hebt hervor (dreimalige Wiederholung von karşılaşmadım ‘ich habe es nicht erlebt / war damit nicht konfrontiert’), dass sie im Gegensatz zu anderen Migranten keine schlechten Erfahrungen mit Deutschen gemacht hat; Diskriminierungserfahrungen kennt sie nur aus Erzählungen anderer (hani anlatıyorlar ya↑ şöyle davranıyorlar↓ işte şöyle ü/ farklı farklı şey ‘ sie erzählen doch, sie behandeln uns so, halt so verschiedene Dinge’, Z. 626f.). Die Formulierung zeigt, dass Sevim davon ausgeht, dass die Interviewerin weiß, um welche Erzählungen und um welche Menschen es sich handelt (Modalpartikel ya (doch) in hani anlatıyorlar ya ‘sie erzählen doch’ und farklı farklı şey ‘halt so verschiedene Dinge)’; die Referenzobjekte sind aller Wahrscheinlichkeit eine Dolmetscherin soll nicht vermitteln, jedes Mal möchte ich die Gespräche über mein Kind sel/ ich möchte meine Meinung sagen oder fragen, wie es um mein Kind steht oder diskutieren, das alles möchte ich ja sowieso’). 56 Vgl. dazu Teil VI. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 257 Frauen aus den Integrationskursen, die beide kennen. 57 Im Integrationskurs war sie auch mit einer Heiratsmigrantin befreundet, die negative Erfahrungen mit Deutschen gemacht hatte; sie suchte mit ihrem Mann acht Monate lang eine Wohnung, bekam aber nur Absagen, obwohl der Mann ein gut verdienender Ingenieur ist. Das Paar ist wieder in die Türkei zurückgekehrt und lebt in Istanbul. Von dieser Freundin erfuhr sie zum ersten Mal über Schwierigkeiten von Türken in Deutschland (ama↓* ben o zaman görmüştüm mesela türklerin e bu kadar zor ev bulabildik/ ↓ inan“mıyodum↑ ‘aber, erst da habe ich zum Beispiel gesehen, dass Türken so schwer eine Wohnung fin/ ich hatte es nie geglaubt’, Z. 838). Sevim kontrastiert die eigenen Erfahrungen mit denen dieser Migrantinnen: Sie selbst hat nur nette Menschen erlebt, die sie als sevecen insanlar↓ (‘liebe Menschen’, Z. 631) bezeichnet. Die Frage der Interviewerin, ob sie in ihrem Umfeld auch deutsche Freunde hat, bejaht sie nachdrücklich: 632 SI: çevrende* çevrende de alman arkadaşların var mı ↑ Ü: in deinem Umfeld, hast du auch in deinem Umfeld deutsche Freunde 633 SV: var var alman arkadaşlarım var ↓ Ü: ja, ja habe ich, deutsche Freunde habe ich Interessant ist, dass Sevim sich in der Anfangszeit nicht in die türkische Migrantengemeinschaft zurückzog und dort ihre Sozialkontakte organisierte. Ihr Freundeskreis besteht aus Deutschen und vor allem Deutsch-Türkinnen, die sie über ihren Ehemann kennenlernte. Sevims anfängliche Schwierigkeiten in Deutschland beziehen sich auf die fehlenden Sprachkenntnisse; ihr Bild von den Deutschen ist positiv, 58 sie hat gute Kontakte und deutsche Freunde. 57 Möglicherweise rekurriert Sevim auf ein Stereotyp, wonach traditionelle, dörflich gekleidete, Kopftuch tragende und schlecht Deutsch sprechende türkische Migrantinnen im Alltag diskriminiert werden. Eher westlich und modern orientierte Migranten dagegen werden von der deutschen Gesellschaft positiv aufgenommen. Aus eigenen Erfahrungen kann ich bestätigen, dass modern orientierte Türken von Deutschen oft als Ausnahmen bezeichnet werden durch: „Sie sind ja nicht typisch türkisch, sondern ganz modern.“ Die vor allem von den Medien verbreiteten stereotypen Bilder von türkischen Migranten verstärken bzw. schaffen Vorurteile, anstatt ihnen entgegen zu wirken. 58 Im Gegensatz zu Sevims Eindrücken stehen jene, die ich von vielen Heiratsmigrant(inn)en gehört habe. Deutschland wird aus ihrer Sicht als ein monotones und langweiliges Land bezeichnet, die Türkei dagegen als lebhaft, wo man auch sonntags viele Menschen auf den Straßen und in den Cafés antrifft. Die Deutschen werden als kühle, distanzierte und regelorientierte Menschen wahrgenommen, wohingegen Türken als warmherzig, offen und lebenslustig charakterisiert werden. Sibel Ocak 258 5.3 Das soziale Leben der jungen Familie Sevims Mann habe ich als einen höflichen, zuvorkommenden und netten Menschen kennengelernt, der seine Frau in jeder Hinsicht (Erlernen der deutschen Sprache, berufliche Karriere etc.) unterstützt und motiviert. Da eigenständiges Handeln Sevim immer noch schwerfällt, übernimmt er neben seinem anstrengenden Beruf auch alle im deutschen Kontext zu erledigenden Aufgaben. Im sozialen Selbstverständnis ist sich das Paar sehr ähnlich; beide markieren ihre Zugehörigkeit zu modernen städtischen Milieus, indem sie deren Schauplätze und Ereignisse bevorzugen und sich von Migrantenwohngebieten und typischen Migrantenlokalen fernhalten. Ich sehe das Ehepaar oft mit und ohne Kind in „schicken“ Cafés und Restaurants im Mannheimer Stadtzentrum, in denen Bewohner des Migrantenwohngebiets weniger anzutreffen sind. Auch durch die anspruchvollen Reisen (z.B. Skiurlaube in Kitzbühel) mit türkischen und deutschen Freunden unterscheidet sich das Ehepaar von den eher traditionellen Migranten in Mannheim. Fast jedes Wochenende findet ein Treffen mit Freunden in Mannheim oder in Heidelberg statt (arkadaş çevresiyle hemen hemen her hafta sonu buluşuyoruz biz↓ mesela bugün cumartesi hepsi stadta geliyo↓ ‘mit seinem Freundeskreis treffen wir uns fast jedes Wochenende, heute ist z.B. Samstag, alle kommen in die Stadt’, Z. 755). 59 Restaurant- und Kinobesuche gehören zum gemeisamen Lebensstil ( gece yemeğe çıkıyodu“k↓ deği/ yani değişik restoranlara gidiyoduk↓ e pf: bişey sinemaya gidiyoru/ gidiyoduk mesela↓ (‘nachts sind wir Essen gegangen, versch/ in verschiedene Restaurants sind wir gegangen, äh, pf/ etwas, ins Kino gehen wi/ sind wir zum Beispiel gegangen’, Z. 780ff.), den das Ehepaar vor der Geburt des Kindes pflegte; doch seitdem werden solche gemeinsamen Unternehmungen seltener. Der Mann beteiligt sich an der Kinderbetreuung, so dass auch Sevim weiterhin Zeit außer Haus verbringen kann: 785 SV: bazen ↑ eşim bakıyor çocuğa ↓ ben arkadaşlarımla gidiyorum Ü: manchmal passt mein Mann auf das Kind auf, ich gehe mit 786 SV: sinemaya ↑ gitmiyorum demim ↓ bazen dışarı çıkıyorum Ü: meinen Freunden ins Kino, ich will nicht sagen, dass ich nicht gehe. Manchmal gehe ich 59 Linguistisch interessant ist die Insertion des deutschen Lexems Stadt in die türkische Konstruktion hepsi stadta geliyo (‘alle gehen in die Stadt’), die morphologisch integriert ist. Sevim beginnt deutsche und türkische Elemente zu mischen, ein sprachlicher Hinweis darauf, dass sie in deutschen und türkischen Netzwerken verkehrt. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 259 787 SV: arkadaşlarımla ↓ e Mehmet çocuğa bakıyor ↓ sağolsun Ü: mit meinen Freunden raus, und Mehmet passt auf das Kind auf, 788 SI: LACHT 789 SV: gerçekten ↑ |evet yani ↓ eve: t ↑ | Ü: wirklich ja, schon, wirklich 790 SI: e inanırım |çok güzel bence ↑ | süper bişey ↑ Ü: äh, ich glaube es, es ist super 791 SV: mesela iş/ kesinlikle kısıtlama getirmez mesela ↑ Ü: zum Beispiel n / schränkt er mich beispielsweise auf keinen Fall ein 792 SV: çıkalım derse bir arkadaşım bu akşam ↓ çıkarız ↓ Ü: wenn eine Freundin sagt, lass uns heute Abend ausgehen, gehen wir aus, 793 SV: yani gidip hiç birşey yapmasak bi cafede oturup sohbet Ü: auch wenn wir gehen und nichts machen, sitzen wir einfach in 794 SV: ediyoruz ↓ o bakıyor ↓ Ü: einem Café und unterhalten uns, und er passt auf Während Sevim sich mit Freundinnen trifft und ins Kino geht, passt ihr Mann auf das Kind auf. Auf diese Information lacht die Interviewerin, worauf Sevim nachdrücklich versichert, dass sie die Situation wahrheitsgemäß schildert (gerçekten↑ evet yani↓ eve: t↑ ‘wirklich, ja, also wirklich’, Z. 789). Sevims Reaktion zeigt, dass sie das Lachen der Interviewerin als Ausdruck von Überraschung deutet. Darauf versichert die Interviewerin, dass sie Sevim glaubt und bewertet das Verhalten des Mannes explizit positiv: süper bişey↑ (‘es ist super’, Z. 790). Diese Anerkennung veranlasst Sevim dazu ihren Ehemann folgendermaßen zu charakterisieren: kesinlikle kısıtlama getirmez (‘er schränkt mich auf keinen Fall ein’). Damit setzt sie ihn in Kontrast zu einschränkenden Ehemännern, zu autoritären, dominanten und konservativen türkischen Männern, die ihren Frauen außer Haus keinen Freiraum zugestehen. Die Entscheidung, ob und wann sie sich mit Freundinnen trifft, liegt ausschließlich bei ihr: çıkalım derse bir arkadaşım bu akşam↓ çıkarız↓ (‘wenn eine Freundin sagt, lass uns heute Abend ausgehen, gehen wir aus’). Dass sie auch am Abend ohne den Mann ausgeht, ist ein deutliches Indiz dafür, dass es dem Paar gelungen ist, ein Ehemodell zu leben, in dem die Frau auch zu außergewöhnlichen Tageszeiten über Freiräume außerhalb des Hauses verfügt, während der Mann Aufgaben übernimmt, die in traditionellen Ehen Frauensache sind. Die hier geschilderte Aufgabenverteilung zwischen den Partnern hat Eigenschaften, wie sie für ein gleichberechtigt lebendes Ehepaar charakteristisch sind. Sibel Ocak 260 Den jährlichen Sommerurlaub verbringt die junge Familie in Bodrum in der Türkei, einem beliebten Urlaubsziel gut situierter türkischer Familien und ein für sein Nachtleben bekannter Badeort. 60 Bevor das Kind auf die Welt kam, machte das Ehepaar auch Kurzreisen nach Monaco, Monte Carlo, Mailand und Rom. Die Nennung dieser Urlaubsziele erinnert an den Lebensstil von städtischen, wohlhabenden Türkeitürken 61 und kontrastiert maximal zu vielen in Deutschland lebenden Migrantenfamilien. 62 Das Paar legt großen Wert auf ein bürgerliches Leben, durch das es sich vom Leben anderer Migranten unterscheidet. 6. Fazit Sevim kommt aus einer wohlhabenden patriarchalischen Familie, die einen gehobenen Lebensstil pflegt. Zur Selbstcharakterisierung greift sie anfangs auf Attribute zurück, die der Vater ihr zuschreibt; sie ist die behütete und unselbständige Tochter. Gegen die Einwände des Vaters entschließt sie sich für die Heirat mit einem Mann aus Deutschland und damit für die Migration. Mit dieser Entscheidung verbunden sind die Loslösung aus der väterlichen Obhut und Vormundschaft und die Entscheidung für Eigenverantwortung und Eigenständigkeit. Das bedeutet gleichzeitig die Abwendung von einem patriarchalischen und kollektivistischen Familienmodell und die Orientierung auf ein individuenbezogenes Modell, in dem das Ehepaar außerhalb der (Groß-)Familie eigenständig und selbstverantwortlich lebt. Diese Neuorientierung fällt Sevim sehr schwer; lange Zeit ‘pendelt’ sie zwischen beiden Modellen (bildlich durch die Reisen zwischen Deutschland und der Türkei ausgedrückt). Doch mit der Zeit gelingt es ihr, sich gemeinsam mit ihrem Mann ein neues Familienmodell aufzubauen. 60 Vor der Ehe verbrachte Sevim mit ihrer Familie regelmäßig in Antalya einen Strandurlaub (biz Antalyaya gidiyoduk↓ biz Antalyayı seviyoduk↓ ‘wir sind immer nach Antalya gefahren, wir mochten Antalya’, Z. 978), ein nochmaliger Hinweis darauf, dass sie in einer wohlhabenden Familie aufwuchs, die einen freizügigen Lebensstil pflegte. 61 Viele Türkeitürken der Mittel- und Oberschicht nutzen die gesetzlichen sowie religiösen Feiertage, um mit einer Reisegruppe in die Metropolen Europas oder nach Asien, vor allem nach Thailand, zu reisen. In fast allen Tageszeitungen werden solche Reisen angeboten, wonach anzunehmen ist, dass eine große Nachfrage besteht. Die in Deutschland lebenden türkischen Migranten dagegen reisen in die Metropolen Europas nur dann, wenn sie ihre Verwandten oder Bekannten, die ebenfalls in diese Länder migriert sind, besuchen wollen, und nicht, um die Städte zu besichtigen. 62 Viele türkischstämmige Migranten fahren im Urlaub zu den Verwandten in ihre Herkunftsregion der Türkei. Andere Gebiete der Türkei kennen sie kaum. „Ich bin hierher gekommen, weil mein Mann ein guter Mensch ist“ 261 In Sevims Herkunftsfamilie vermischen sich traditionelle Lebens- und Familienformen mit modernen Beziehungsstrukturen und mit Elementen aus einem gehobenen städtischen Lebensstil. Der Vater nimmt zwar die Rolle des Patriarchen ein und will die Tochter nicht aus seiner Kontrolle entlassen. Doch die innerfamiliären Beziehungsstrukturen entsprechen nicht dem traditionellen Modell: Sevim hat eine enge, vertraute Beziehung zu ihrem Vater, die auch nach der Heirat fortbesteht; sie bespricht ihre Angelegenheiten offen innerhalb der Familie. Der Vater lässt zu, dass sie Konventionen bricht (sie zeigt sich vor der offiziellen Brautwerbung mit dem Mann etc.) und eigenständig Ausstattung und Durchführung ihrer Hochzeitsfeier bestimmt. In Bezug auf den Ehe-Anbahnungsprozess werden die traditionellen Schritte weitgehend eingehalten, die Sevim bei ihrer Schilderung eher herabstuft oder ausblendet. Was sie hervorhebt und ausführlich beschreibt, sind die sozialstilistischen Unterschiede zwischen einer traditionellen Hochzeitsfeier und der „vornehmen“ Durchführungsweise ihrer eigenen Feier. Die Bedeutung von vornehm ist im Kontrast zu klassisch definiert und bezieht sich auf Unterschiede in Geschmack und Stil. D.h. Traditionen spielen in stark rituell geprägten Ereignissen (Ehe-Arrangement, Brautwerbung, religiöse Trauung, Hochzeitsfeier) eine Rolle; doch sie werden geschmackvoll ausgestaltet. Die durchgehende Fokussierung stilistischer Details zeigt die Relevanz, die Sevim Stilentscheidungen zuschreibt. Sie sind für sie Symbole für soziale Differenz. D.h. über die Hervorhebung von Stilunterschieden verweist sie symbolisch auf die sozialen Unterschiede zwischen ihrer Familie einerseits und traditionellen Familien andererseits. Zu diesem vornehmen Sozialstil gehört möglicherweise auch eine Darstellungsweise aus der Außenperspektive und ohne Ausdruck emotionaler Befindlichkeit, die bei der Schilderung wichtiger biografischer Ereignisse aufgefallen ist. Diese Darstellungsweise kann mit bestimmten Konventionen (in der arrangierten Ehe oder in fortgeschrittenem Alter spricht man nicht über Liebe) erklärt werden; sie ist möglicherweise aber ein Element des sozialen Stils, zu dessen Regeln es gehört, dass über Privates nicht aus der Innenperspektive gesprochen wird. Emotionale Schilderungen treten dann auf, wenn Sevim sich und ihre Familie in Kontrast zu traditionsgebundenen, klassischen Familien und den dort geltenden Regeln setzt. Die negative Kontrastkategorie für sie als Heiratsmigrantin sind Heiratsmigrantinnen, die aus solchen Familien stammen; das wird bei der Erzählung ihres Erlebnisses im deutschen Konsulat in Istanbul deutlich. In einer szenischen Darstellung arbeitet sie die Merkmale einer typischen türkischen Dörflerin heraus, die über die Heirat mit einem Deutsch-Türken ihrer Sibel Ocak 262 wirtschaftlichen Not durch Migration nach Deutschland entkommen will. Diese Dörflerin setzt sie in maximalen Kontrast zu sich als Großstädterin. Bei vielen Aspekten ihrer biografischen Darstellung distanziert sie sich von solchen Frauen bzw. hebt für sich die Eigenschaften und Handlungsweisen hervor, die in größtmöglichem Gegensatz zu Eigenschaften dieser Frauen stehen: die eigene gehobene Lebensweise vor der Migration, das Motiv zur Migration (der verständnisvolle, unterstützende Mann), der positive Blick auf Deutsche, das Ziel, gut Deutsch zu sprechen, das Leben in einem paarbezogenen Familienmodell, der gehobene Lebensstil des Paares und seine räumlich-soziale Abgrenzung zu anderen Miganten. 7. Literatur Azizefendioglu, Hüseyin (2000): Die Zukunftsperspektiven türkischer Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland. Herbolzheim. Baraz, Zeynep/ Diaconu, Mädälina (2006): Die volkstümliche Musik des Musikantenstadls in Beziehung zu nahöstlichem Arabesk und südosteuropäischen Manele. In: Binder, Susanne/ Fartacek, Gebhard (Hg.): Der Musikantenstadl. 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Ich lernte Sanem in einem Deutschkurs kennen, den ich durchführte. 1 Als Sanem in meinen Kurs kommt, ist sie bereits über ein Jahr in Deutschland. Das erste Gespräch (ca. 1,5 Std.) findet nach dem Unterricht im Klassenraum statt, das zweite (ebenfalls ca. 1,5 Std.) 2 führten wir ungefähr fünf Monate später in einem türkischen Café. Sanem wurde als Informantin interessant, da sich ihr Verhalten, ihre Ausdrucks- und Sprechweise von den anderen Kursteilnehmerinnen unterscheidet. Sie spricht sehr gepflegt, ist wendig und mobil und kennt sich - im Gegensatz zu anderen Migrantinnen, die bereits seit Jahren in Mannheim leben - auch in anderen Stadtteilen Mannheims aus. Sie ist aktives Mitglied in einem türkischen Verein, der Arbeiterinteressen vertritt. Sie besucht Konzerte und Theater und organisiert kulturelle Veranstaltungen im Rahmen ihrer Vereinsmitgliedschaft. Sie betont mehrfach, dass sie nur an türkischsprachigen Aktivitäten teilnehmen kann, 3 da ihr Deutsch noch nicht ausreichend ist. 1 Zu den Kursen vgl. Teil VII. 2 Die Analyse ist auf der Grundlage zweier Interviews entstanden, die im Text als Transkript I (abgekürzt: TR I) und Transkript II (abgekürzt: TR II) gekennzeichnet werden. Da die beiden Transkripte im Original getrennt und neu nummeriert wurden und die Analysen nicht immer der Sequenzstruktur folgen, wird im Text auf eine fortlaufende Nummerierung verzichtet. Vor jeder Sequenzanalyse wird in Klammern angezeigt, ob es sich um einen Ausschnitt aus Transkript I oder aus Transkript II handelt. 3 Sie erklärt ihr aktives Leben in türkischen Organisationen und bei türkischen Veranstaltungen mit ihrer geringen Deutschkenntnis folgendermaßen (TR II): eh yani şu anda eh eh almancada yetersiz olduğum için bu faaliyetleri türkçe yapmak zorunda +kalıyorum türkçe yapmayı tercih ediyorum yani- (‘äh, also im Moment äh, äh weil ich in Deutsch nicht ausreichend bin, muss ich diese Aktivitäten auf Türkisch machen, ich kann es nur auf Türkisch machen also/ ’). Sie drückt aber gleichzeitig ihre Hoffnung aus, sich auch bald an deutschsprachigen Aktivitäten beteiligten zu können. Necmiye Ceylan 268 Im Kurs tritt Sanem sehr selbstbewusst auf, sie präsentiert sich als engagierte, gebildete und aktive Frau, die stets bemüht ist, sich weiter zu entwickeln und Neues zu lernen. Sie ist offen für Diskussionen, zugleich aber auch dominant und belehrend; bei jeder Gelegenheit betont sie ihr Allgemeinwissen und ihre Belesenheit. 4 Sie liefert Erklärungen, Definitionen und Begründungen ohne dass sie von anderen dazu aufgefordert oder befragt worden ist. Das führte in einem Kurs nur für Türkischsprachige zu Schwierigkeiten, da andere Teilnehmerinnen mit ihrer belehrenden Art nicht zurechtkamen. Deshalb kam Sanem in meinen Kurs. Sanem ist Ende 30 und in zweiter Ehe verheiratet; sie heiratete einen Deutsch- Türken aus „Liebe“ und migrierte nach Mannheim. Vor ihrer Einreise nach Deutschland ging sie davon aus, dass aufgrund ihrer guten Vorbildung und ihrer langjährigen Berufstätigkeit die Integration in einem europäischen Land leichter wäre; mit den Problemen, mit denen sie zur Zeit konfrontiert ist, hatte sie nie gerechnet. In unserem ersten Gespräch spricht sie vor allem darüber, über die Verhältnisse türkischer Migrant(inn)en in Deutschland, über die Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache, über die Ausgrenzung, die türkische Migrant(inn)en durch die deutsche Gesellschaft erleben und über die Schul- und Bildungsprobleme von Migrantenkindern. Bei diesem Gespräch erfährt man wenig über ihre Familie und über Familienstrukturen. Vor dem zweiten Interview klagt sie über bürokratische Hindernisse: Sie bekommt nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung, hat gerade die amtliche Mitteilung erhalten, dass ihre Ausbildung aus der Türkei nicht anerkannt wird 5 und sie nur in einen Putz-Job vermittelt werden könne, da ihre Deutschkenntnisse immer noch nicht ausreichend seien. 6 Außerdem hätten ihr die Beamten geraten, in die Türkei zurückzukehren. Aufgrund dieser Schwierigkeiten habe sie auch mit ihrem Mann Streit, und sie überlegt, ob sie dem Rat des Beamten 4 Dafür ein Beispiel: Sie kritisiert, dass viele türkische Kursteilnehmer(innen) Türkisch nicht richtig können und erklärt deren schlechtes Deutsch mit der mangelnden Beherrschung der Muttersprache. Dabei greift sie auf Belege aus der „Wissenschaft“ zurück (TR II): eh genelde bilimsel olarak da zaten açıklıyorlar bilim adamları hani kendi ana dilini“ eh gırammatik olarak eh çö“zemeyen bir eh insan↑ eh başka bir eh dili de çözmekte zorlanıyor↓ (‘äh es wird auch wissenschaftlich/ die Wissenschaftler zeigen, dass Menschen die ihre Muttersprache grammatikalisch nicht beherrschen, äh, Probleme haben eine andere Sprache zu beherrschen’). 5 Türkiyedeki aldığın hiç bir diploma- * bu“rda dikkate alınmıyor↓ (‘in der Türkei erworbene Diplome werden hier nicht berücksichtigt’, TR I). 6 Aus den Integrationskursen und aus der Migrantenpopulation ist mir bekannt, dass Migrant(inn)en aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und weil ihre in der Türkei bzw. im Ausland erworbene Ausbildung nicht anerkannt wird, hier hauptsächlich Putzjobs angeboten werden, obwohl sie z.T. jahrelange Berufserfahrung mitbringen. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 269 nicht folgen solle. Im Gespräch selbst öffnet sie sich mir gegenüber; sie erzählt jetzt, wie sie ihren zweiten Mann kennen lernte, wie die Hochzeit gefeiert wurde und sie danach nach Mannheim migrierte. Ziel meiner Analyse ist die Rekonstruktion von Ausschnitten aus Sanems Biografie, in denen sie ihre Herkunftsfamilie, ihr Leben vor der Migration, das Kennenlernen des Mannes, die Heirat und das Leben in der Migration darstellt. Dabei werde ich folgende Fragen behandeln: - Wie charakterisiert Sanem ihre Herkunftsfamilie und sich selbst? - Wie positioniert sie ihre Familie und sich selbst in Relation zur Gesellschaft in der Türkei? - Über welche Eigenschaften/ Handlungsweisen charakterisiert sie sich als „anders“? Welche Kontrastkategorien spielen eine Rolle? - Welche Partnermodelle und Lebensentwürfe spielen für sie eine Rolle? - Wie ist ihre Beziehung zu kulturellen Traditionen, wie sie in Verlobungs- und Hochzeitsritualen zum Ausdruck kommen? Wie geht sie damit um? - Wie erlebt sie die Migrantengemeinschaft in Deutschland? Wie positioniert sie sich in Relation dazu? - Wie sieht sie die deutsche Gesellschaft? - Und wie sieht sie ihre Zukunft in Deutschland? In die Analyse werde ich beide Gespräche einbeziehen; ebenso wie eigene Beobachtungen und Beobachtungen anderer aus meinem Lebensumfeld. 2. Herkunft aus einer bildungsorientierten und „modernen“ Familie Sanem ist in einer Kreisstadt der Schwarzmeerregion geboren. Sie ist das jüngste von vier Kindern, sie hat zwei ältere Schwestern und einen älteren Bruder. Der Vater ist von Beruf Grundschullehrer und die Mutter hat einen mittleren Bildungsabschluss (orta okul), sie war nie berufstätig. Die älteste Schwester hat in Istanbul Finanzwesen studiert und migrierte später nach England, die zweite Schwester hat die Berufsschule für Krankenschwestern besucht und arbeitet als Laborantin in einem Krankenhaus. Der Bruder hat das türkische Abitur (lise) abgeschlossen und hat sich dann selbständig gemacht. Aus beruflichen Gründen hat die Familie in verschiedenen Regionen der Türkei gelebt, zuletzt hat sie sich in Istanbul niedergelassen. In Istanbul hat Sanem an der Fachhochschule studiert und als Bautechnikerin abgeschlossen. Sie war mehrere Jahre in der Textilbranche tätig. Das erste Mal heiratet sie Necmiye Ceylan 270 einen Mann aus Istanbul. Die Ehe geht schief, sie lässt sich scheiden und kehrt mit ihrem Kleinkind in den Haushalt der Eltern zurück. Der Vater, der im Ruhestand einen Kiosk erwarb, überlässt ihn seiner Tochter, damit sie für sich und das Kind den Lebensunterhalt verdienen kann. Durch ihre Arbeit im Kiosk lernt sie einen Deutsch-Türken kennen, verliebt sich in ihn und reist mit dem Kind nach Deutschland. Dort lebt sie einige Monate, bevor sie sich zur Ehe entscheidet. Nach der Hochzeit beginnt für Sanem der Alltag und sie wird mit migrationsspezifischen Problemen konfrontiert. Sanem spricht Standardtürkisch, 7 wie es in Istanbul gesprochen wird. In beiden Gesprächen spricht sie routiniert und meist sehr elaboriert. Sie stellt sich und ihre Herkunftsfamilie als bildungsorientiert dar und sie hebt mehrfach hervor, dass ihr Vater und sie „moderne“ und „intellektuelle Menschen“ sind. Das zeigen die folgenden Belege: - Im Zusammenhang mit der Schilderung von Problemen, die sie in Deutschland hat, sagt sie Folgendes über sich selbst: ama şu anda yaşadığım zorlukları hiç düş/ düşünemedim açıkcası↓ eh daha doğrusu benim dışımda ki“ eh şu anda yaşadığım bu engellemelerin olabileceğini düşünmediğim için kendimde işte üniversite meğzunu↑ eh kendince aydın↓ (‘aber die Schwierigkeiten die ich momentan habe, habe ich um ehrlich zu sein überhaupt nicht bedacht, äh genauer gesagt, mit den Hindernissen, für die ich nichts kann und auf die ich zurzeit treffe, habe ich nicht gerechnet, weil ich eine Hochschulabsolventin bin und eine Intellektuelle’, TR II). - Über die Familie sagt sie: biraz şeyiz yapı olarakta aile olarakta geleneklerden göreneklerden e: h biraz eh kendini kurtarmış↑ böyle anlamsız kurallara kendini bağlamaya“n bir yapıdayız yani aile olarak babamda çok modern aydın bi insandır↓ (‘meine Familie, wir sind auch so Menschen, die Traditionen und Bräuche hinter sich gelassen haben, wir klammern uns nicht an sinnlose Regeln, so als Familie, mein Vater ist ein sehr moderner und intellektueller Mensch’, TR II). Damit setzt Sanem sich selbst und ihre Familie in Kontrast zu Familien, die ihr Leben von Traditionen, Bräuchen und von engen sozialen/ religiösen Regeln bestimmen lassen. Diese Regeln bezeichnet sie als unsinnig, lächerlich, sinnlos (anlamsız kurallar ‘sinnlose Regeln’). Im Kontrast zu traditionsbestimmten Menschen bezeichnet sie den Vater, das Oberhaupt ihrer Familie, als çok modern aydın bi insan (‘einen sehr modernen und intellektuellen Menschen’) und sich selbst ebenfalls als aydın (‘Intellektuelle’). Der soziale Rahmen für diesen Vergleich ist der Kontrast zwischen der „traditionellen Fa- 7 Das Türkeitürkische stützt sich auf den Istanbuler Dialekt. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 271 milie“ und der „modernen Familie“, der in vielen Gesprächen mit türkischstämmigen (Heirats-)Migrant(inn)en einen zentralen Bezugspunkt für die Selbst- und Fremddarstellung bildet. Als ich Sanem frage, ob sie als Einzige von den Geschwistern studiert hat, holt sie weit aus und gibt eine Kurzfassung der Bildungs- und Berufsbiografie aller Familienmitglieder. Sie beginnt mit den Eltern (TR I): 4 NC: hmhm ↓ peki ähm- * okul seviyesi yani okudunuz Ü: mhm, also ähm- * der Schulstand, also habt ihr 5 NC: mu hepiniz sadece sen mi okudun ↑ Ü: alle studiert oder hast nur Du studiert 6 SA: +äh babam ilk Ü: äh mein Vater 7 NC: + → evet ↓← Ü: Ja. 8 SA: okul öğretmeni- annem ev hanımıydı↑ Ü: ist Grundschullehrer meine Mutter war Hausfrau 9 SA: eh türkiyenin bir çok yerinde“ görev icabı- Ü: ä h aus dienstlichen Gründen mussten wir in 10 NC: hmhm ↓ 11 SA: eh yaşamak zorunda kaldık ↓ äh en son Ü: verschiedenen Regionen der Türkei leben, äh zuletzt 12 SA: Istanbula yerleştik ↓ * Ü: haben wir uns in Istanbul niedergelassen Da direkt vor dem Gesprächsausschnitt Sanems Geschwister thematisiert waren, kann das Indefinitpronomen alle in meiner Frage (habt ihr alle studiert oder hast nur du studiert, Z. 4/ 5) auf sie als Referenzobjekt bezogen werden. Doch Sanems Antwort bezieht sich nicht auf die Geschwister, sondern sie nennt den Beruf des Vaters: +äh babam ilk okul öğretmeni- (‘äh mein Vater ist Grundschullehrer’, Z. 6/ 8) und erwähnt dann den der Mutter: annem ev hanımıydı↑ (‘meine Mutter war Hausfrau’, Z. 8). Danach folgt die Information, dass die Familie aufgrund des Berufs des Vaters in verschiedenen Regionen der Türkei gelebt hat (Z. 9/ 11), bevor sie sich in Istanbul niederließ (Z. 12). Auf meine Eingangsfrage hätte eine Antwort wie z.B. wir haben alle das lise abgeschlossen, drei von uns haben studiert zur Erfüllung der konditionellen Relevanz genügt. 8 Dass Sanem so weit ausholt, mit dem Beruf des Vaters be- 8 Zur konditionellen Relevanz vgl. u.a. Deppermann (2008). Necmiye Ceylan 272 ginnt, die damit verbundenen Ortswechsel und die Niederlassung in Istanbul erwähnt, hat soziale Bedeutung. Neben dem Beruf des Vaters führt sie zwei weitere wichtige Details ein: die breite Kenntnis über verschiedene Regionen der Türkei und das Leben in der Großstadt Istanbul. Der Beruf „Lehrer“ hat in der Türkei einen hohen Prestigewert. Auch wenn Lehrer in staatlichen Schulen nicht sehr viel verdienen, sind sie doch Beamte (memur olmak), haben einen Status, der ihnen Respekt verschafft und eine finanzielle Absicherung im Alter. Im Hinblick auf gesellschaftliche Diskurse in der Türkei hat also die Nennung des Berufs des Vaters sozialen Prestigewert. Im Hinblick auf die Migrantengesellschaft in Mannheim markiert Sanem die Differenz ihrer gebildeten Familie zu den übrigen Migrantenfamilien, die aus deutscher und türkeitürkischer Perspektive als „ungebildet“ charakterisiert werden (vgl. dazu ausführlich unten Kap. 4 und 5). 9 Mit der Formulierung eh türkiyenin bir çok yerinde“ görev icabıeh yaşamak zorunda kaldık↓ (‘äh aus dienstlichen Gründen mussten wir in verschiedenen Regionen der Türkei leben’, Z. 9/ 11) hebt sie hervor (Akzent auf yerinde ‘Regionen’), dass die Familie in verschiedenen (Minderheiten-) Kulturen der Türkei lebte; ein Hinweis drauf, dass sie sozial flexibel und fähig ist, sich in anderen Kulturen zurechtzufinden. 10 Dann folgt die Niederlassung in Istanbul: äh en son Istanbula yerleştik↓ (‘äh zuletzt haben wir uns in Istanbul niedergelassen’, Z. 12). Mit der Nennung dieses Wohnsitzes ist ebenfalls Prestige verbunden; Sanem ist Großstädterin. 11 Nachdem zuerst der Vater und dann die Mutter eingeführt wurden, ist erwartbar, dass die Geschwister nach Rang und Alter vorgestellt werden, d.h. die älteren Geschwister zuerst, dann die jüngeren. Das erfolgt im Anschluss in chronologischer Reihenfolge (TR I): 12 NC: hmhm ↓ 13 SA: ablalarım 12 iki tane ablam äh li/ liseyi Ü: meine älteren Schwestern, meine beiden Schwestern, äh, 14 SA: bitirdi ↓ birisi Istanbul üniversitesi maliye Ü: haben das lise abgeschlossen, die eine hat an der 9 Aus türkeitürkischer Perspektive werden die in Deutschland lebenden Türken als almancılar (‘Deutschländer’) bezeichnet und abgewertet, die als ungebildete Dörfler in Deutschland Arbeit suchten. Aus deutscher Perspektive wurden sie als Gastarbeiter bezeichnet, die Anlerntätigkeiten verrichteten; vgl. Kap. 4 unten. 10 In der gegenwärtigen Türkei gibt es ca. 60 ethnische Minderheiten und viele Minderheitensprachen, die allerdings keinen Minderheitenstatus haben. 11 Vgl. die Bedeutung, die das Kontrastpaar „Städter/ in“ - „Dörfler/ in“ auch in anderen Gesprächen hat, in Teil IV und V. 12 Abla bedeutet ‘ältere Schwester’. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 273 15 NC: hmhm ↓ 16 SA: bölümü okudu ↓ sonradan Ingiltereye Ü: Universität Istanbul Finanzwesen studiert, später 17 SA: gitti ↓ * Ingilterede äh bilgisayar Ü: ist sie nach England gegangen, in England hat sie 18 NC: ne güzel ↓ Ü: Wie schön. 19 SA: programcılığı okudu tekrar↓ şu anda Ü: noch Programmieren gelernt im Moment 20 SA: bir bilgisayar/ * programı hazırlayan bir Ü: arbeitet sie in einer Firma, die Computerprogramme 21 NC: +hmhm- 22 SA: şirkette çalışmakta- + → Ingilterede ayrıca Ü: erstellt außerdem hat sie in 23 NC: hmhm ↓ 24 SA: da bir ingilizle de evlendi ↓← Ü: England auch einen Engländer geheiratet Zunächst erfolgt die Darstellung der Schulbildung der beiden älteren Schwestern, die das lise abgeschlossen haben (ablalarım iki tane ablam äh li/ liseyi bitirdi↓ ‘meine älteren Schwestern, meine beiden Schwestern haben das lise abgeschlossen’, Z. 13-14). 13 Dann fokussiert Sanem den Ausbildungsgang der einen Schwester (der ältesten): birisi Istanbul üniversitesi maliye bölümü okudu↓ (‘die eine hat an der Universität Istanbul Finanzwesen studiert’, Z. 14/ 16). Interessant ist die Erwähnung des Namens der Universität, Istanbul Üniversitesi (‘Universität Istanbul’) und die Nennung der Fachrichtung maliye bölümü (‘Finanzwesen’). 14 Unter Türkeitürken ist es weit verbreitet, renommierte und bekannte Orte, Schulen und Universitäten mit Namen zu nennen. 15 Das hat mit Prestige zu tun, denn nur Wenige haben die Möglichkeit, an einer Eliteuniversität zu studieren, und nur finanziell gut Situierte können ihren Kindern die 13 Das lise entspricht in etwa dem deutschen Gymnasium. Der Lise-Abschluss ist Voraussetzung für die Teilnahme an der Aufnahmeprüfung zur Universität. 14 Die Universität Istanbul ist mit über 70 000 Studenten und 6 000 wissenschaftlichen Mitarbeitern die größte und eine der renommiertesten staatlichen Universitäten der gesamten Türkei (vgl. Wikipedia). Außerdem haben die Fakultäten Betriebswirtschaft und Finanzwesen einen guten Ruf. 15 Vgl. auch die Informantin in Teil V, die bekannte Cafés, Hotels und Restaurants in Istanbul namentlich nennt, in denen wichtige Ereignisse in ihrem Leben stattfanden. Necmiye Ceylan 274 Ausbildung an einer renommierten Fakultät ermöglichen. 16 Nach dem Studienabschluss in Istanbul geht die Schwester nach England, um dort Programmieren zu lernen (sonradan Ingiltereye gitti↓ Ingilterede äh bilgisayar programcılığı okudu tekrar↓ ‘später ist sie nach England gegangen, in England hat sie noch Programmieren studiert’, Z. 16/ 19). Die Information zum Ausbildungsweg der Schwester zeigt, dass sie gute Abschlüsse erreicht haben muss und verweist gleichzeitig auch auf die Weltoffenheit der Familie, denn nur solche Familien schicken ihre Töchter zum Studieren ins Ausland. 17 Dass die Familie sehr weltoffen ist, kommt in der nächsten Äußerung zum Ausdruck: +→Ingilterede ayrıca da bir ingilizle de evlendi↓← (‘außerdem hat sie in England auch einen Engländer geheiratet’, Z. 22/ 24). Die Heirat der Schwester mit einem Engländer wird doppelt hervorgehoben, sowohl durch die Partikel ayrıca da (‘außerdem’) als auch durch die Endpartikel de in ingilizle de (‘auch einen Engländer’). 18 Diese Information ist besonders prestigehaltig, denn nur eine wirklich moderne Familie lässt die Heirat mit einem Nicht-Türken und Nicht- Muslim zu. Bei einer traditionell religiösen Familie wäre das unvorstellbar. Die gesamte Kurzbiografie der Schwester macht Folgendes deutlich: Sie ist nicht wie die „typischen Heiratsmigrantinnen“ (vgl. dazu unten Kap. 5) wegen des Mannes oder aus finanziellen Gründen ins Ausland migriert, sondern das Streben nach einer guten und breiten Berufsausbildung ist Migrationsmotiv. Die Heirat in England hat sich ergeben, war aber nicht das Ziel der Migration. Interessant ist, dass in beiden Interviews die Ehe der Schwester mit einem Engländer erwähnt wird. D.h. es ist für die Informantin äußerst berichtenswert, dass ihre Familie einer binationalen Ehe zugestimmt hat. 19 Bei der Darstellung der 16 Die Studiengebühren sind an renommierten Fakultäten meist sehr hoch. 17 Zu den beliebtesten Zielen gehören die USA , Europa (England, Deutschland, Österreich) und Japan. 18 Dadurch entsteht eine grammatisch nicht korrekte Äußerung. Grammatisch korrekt wäre: Ingilterede ayrıca da bir ingilizle evlendi↓ (‘in England hat sie außerdem einen Engländer geheiratet’) oder Ingilterede ayrıca bir ingilizle de evlendi↓ (‘in England hat sie zudem einen Engländer geheiratet’). 19 Beim zweiten Treffen führt SA in einem anderen kontextuellen Zusammenhang die Bildung der Geschwister in derselben Reihenfolge ein. Sie berichtet, dass sie nach der Trennung vom ersten Ehemann zu den Eltern zog, obwohl sie sich hätte eine eigene Wohnung leisten können. Daraufhin frage ich, ob die Geschwister zu der Zeit verheiratet sind, weil ich davon ausgehe, dass auch in ihrer Familie alle bei der Erziehung eines Kindes helfen, wenn sie räumlich verfügbar sind. SA bejaht meine Frage und berichtet dann selbstinitiiert über die Berufe der Geschwister; damit plausibilisiert sie, dass sie sie nicht unterstützen konnten (TR II): kardeşlerim evli ablamın birisi eh istanbul üniversitesi maliye bölümü meğzunu eh i“ngiltereye gitti eh ö/ önce dil öğrenmek için gitmişti ↑ mesleğini geliştirmek için gitti ama daha sonra orda bir ingilizle tanıştı evlendi şu anda orda yaşıyor↓ ablam eh diğer ablam eh ankarada XXX hastanesinde laborant↓ bir tane abim var o da eh doğal gaz tesisat „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 275 übrigen Geschwister gibt Sanem auf Nachfrage Hinweise auf deren Ehen; sie haben nach traditionellen Riten türkische Partner geheiratet. Nach der ältesten Schwester folgt die Darstellung der Zweitältesten, danach die des Bruders und zum Abschluss stellt sie sich selbst dar (TR I): 25 SA: äh diğer ablam liseyi bitirdikten sonra- Ü: äh, nachdem meine andere Schwester lise beendet hat, 26 NC: hmhm ↓ 27 SA: äh- * hemşirelik yüksek okulu okudu ↓ şu Ü: äh, hat sie die Fachhochschule für Kranken- 28 SA: anda Ankara XXX Hastanesinde laborant olarak Ü: schwestern besucht, im Moment arbeitet sie als Laborantin 29 SA: çalışıyor ↓ ** abim 20 liseyi bitirdi ↓ * äh * Ü: in Ankara im XXX Krankenhaus, mein älterer Bruder hat das 30 SA: binaların äh doğal gaz ve elektrik tesisatı/ nı Ü: lise abgeschlossen, er leitet selbst eine Zeitarbeitsfirma, 31 SA: döşemeyle ilgili äh bir taşıron şirket çalıştırıyor Ü: die für die Ausstattung von Gebäuden mit Gasleitungen und 32 NC: hmhm ↓ 33 SA: kendisi ↓ ä: h be”ninşaat meslek yüksek Ü: Elektrizität zuständig ist, äh ich habe die Fachhochschule 34 NC: hmhm ↓ 35 SA: okulu bitirdim ↓ +yani inşaat teknikeriyim ↓ ** Ü: für Bauwesen abgeschlossen, also ich bin Bautechnikerin Auch die zweite Schwester hat das lise abgeschlossen. Danach stockt Sanem, auf die Verzögerungspartikel äh folgt eine kurze Pause, dann eine generelle Bezeichnung für den Schultyp, an dem die Schwester ihre Ausbildung absolviert hat: hemşirelik yüksek okulu okudu↓ (‘hat sie die Fachhochschule für Krankenschwestern besucht’, Z. 27). Die Schule wird nicht mit Namen genannt. Dann folgt die Nennung des jetzigen Arbeitsplatzes, eines renommierten Krankenhauses in Ankara: şu anda Ankara XXX Hastanesinde laborant işleriyleuğraşıyor↑ (‘Meine Geschwister sind verheiratet, die eine Schwester äh hat an der Universität Istanbul Finanzwesen studiert äh sie ist nach England gegangen äh zu/ zuerst ging sie um die Sprache zu lernen, um in ihrem Beruf weiter zu kommen, aber dann hat sie dort einen Engländer kennen gelernt, hat geheiratet und lebt jetzt dort. Meine andere Schwester äh ist in Ankara im XXX -Krankenhaus in der Onkologie Laborantin. Ich habe einen Bruder und er ist mit Gasinstallationstätigkeiten beschäftigt.’). 20 Abi ist die Bezeichnung für den älteren Bruder. Necmiye Ceylan 276 olarak çalışıyor (‘im Moment arbeitet sie als Laborantin in Ankara im XXX - Krankenhaus’, Z. 27-29). Die Auslassung bzw. die Nennung von Ausbildungs- und Arbeitsort kann folgendermaßen gedeutet werden: Die Schwester hat (zwar) an einer unbedeutenden Fachhochschule studiert, arbeitet aber dennoch an einem renommierten Krankenhaus in Ankara als Laborantin. Dieser ‘Aufstieg’ verweist auf die beruflichen Kompetenzen und den sozialen Erfolg der Schwester. Nach kurzer Pause (und Verzögerungspartikel äh) wird der Bildungs- und Berufsweg des Bruders dargestellt, dabei hat Sanem ganz offensichtlich Formulierungsschwierigkeiten. Der Bruder hat ebenfalls das lise abgeschlossen (abim liseyi bitirdi↓, Z. 29). Für die Darstellung der weiteren Ausbildung braucht Sanem mehrere Anläufe: Nach kurzer Pause folgt eine Sequenz, die durch Verzögerungspartikel, Abbrüche, Neustart und Reformulierungen charakterisiert ist; auf binaların (‘den Gebäuden’) folgt die abgebrochene Formulierung doğal gaz ve elektrik tesisatı/ (‘die Ausstattung mit Gasleitungen und Elektrizität’, Z. 30), dann der Neustart: nı döşemeyle ilgili äh bir taşıron şirket çalıştırıyor kendisi↓ (‘er leitet selbst äh eine Zeitarbeitsfirma, die für die Ausstattung von Gebäuden zuständig ist’, Z. 31-33). Soviel wird deutlich: Der Bruder hat nicht studiert, es wird kein Name einer Bildungseinrichtung genannt, ebenso wenig wie der Name der Firma, die er leitet. Das deutet darauf hin, dass der Berufsweg des Bruders im Vergleich zu den Schwestern weniger prestigeträchtig ist. Hätte er eine universitäre Ausbildung absolviert, kann angenommen werden, dass Sanem das (wie bei den Schwestern auch) mit Bezeichnung der Universität bzw. des Fachbereichs dargestellt hätte. Sie formuliert jedoch unpräzise und verschleiert eher, als dass sie eindeutig beschreibt (vgl. Keim 1997). Zuletzt stellt Sanem sich selbst vor (akzentuiertes Personalpronomen be“n- ‘ich’). Sie führt den Typ der Institution an, in der sie studiert hat inşaat meslek yüksek okulu bitirdim↓ (‘ich habe die Fachhochschule für Bauwesen abgeschlossen’, Z. 33/ 35), nicht aber den Namen der Hochschule. Dann nennt sie ihren Berufsabschluss: +yani inşaat teknikeriyim↓ (‘also ich bin Bautechnikerin’, Z. 35). Diese Art der Darstellung zeigt, dass Sanem, ähnlich wie die zweitälteste Schwester, an einer wenig bedeutenden Hochschule ausgebildet wurde, aber einen angesehenen akademischen Beruf erreicht hat. Der Fokus der Darstellung liegt auf der Bildungsanstrengung, nicht auf der Bildungseinrichtung. Aus den Kurzbiografien der vier Geschwister zieht Sanem dann für die gesamte Familie folgendes Fazit (TR I): 36 SA: äh ailede e/ e/ → annem ve babam çocukların okuması Ü: äh in der Familie e / e / meine Mutter und mein Vater haben für das Studieren der Kinder also „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 277 37 NC: | → hmhm hmhm ↓← | 38 SA: için büyük bi çaba |sarf etti yani| Ü: eine große Anstrengung unternommen. 39 NC: +hmhm ↓ * 40 SA: +bu bizim için okumak çok önemliydi ↓← Ü: dies war für uns, das Studieren, war sehr wichtig. 41 SA: ä: h ve ** okumuş bi: r baba- * ve annenin →annem Ü: äh, und ein gebildeter Vater und die Mutter, 42 SA: her ne kadar ev hanımı o”lsada ↑← orta okul Ü: auch wenn meine Mutter eine Hausfrau ist, 43 NC: hmhm ↓ hmhm ↓ 44 SA: meğzunu bir anne olduğu için ↑ okumuş Ü: schließlich ist sie eine Mutter mit Mittlerer Reife 45 SA: bir anne ve babanın çocukları olarak bizde Ü: als Kinder von einer gebildeten Mutter und einem 46 NC: hmhm ↓ * 47 SA: okumayaäh çok değer verdik ↓ Ü: gebildeten Vater war auch für uns äh das Studieren sehr wichtig. Sanem beginnt zunächst zögernd äh ailede e/ e/ (‘äh in der Familie/ ’), bricht ab, startet neu und präsentiert dann in einem Schub →annem ve babam 21 çocukların okuması için büyük bi çaba sarf etti yani← (‘also meine Mutter und mein Vater haben für ein Studium der Kinder eine große Anstrengung unternommen’, Z. 36/ 38). Mit der Formel çaba sarf etmek (‘sich angestrengen’) werden die erheblichen (finanziellen) Leistungen der Eltern in den Vordergrund gerückt, die trotz des nicht sehr hohen Gehalts des Vaters den drei Töchtern eine universitäre Ausbildung ermöglicht haben. 22 Das war aller 21 Sie beginnt mit der Formel →annem ve babam (‘meine Mutter und mein Vater’). Auch wenn der Vater das Oberhaupt in der Familie bildet, wird in bestimmten Situationen die Mutter als erste erwähnt. Möglicherweise ist das der Fall, weil Mütter die Aufgabe der Kindererziehung bzw. den innerfamiliären Bereich (vgl. Morgenroth/ Merkens 1997) übernehmen und die Kinder zu der Mutter einen besseren Zugang haben. Eine weitere Vermutung ist, dass in der mündlichen Sprache diese Formel benutzt wird, um eine Verwechslung zu vermeiden, denn im Türkischen gibt es die Bezeichnung babaanne für ‘Oma (väterlicherseits)’. Beim Sprechen können die Bezeichnungen babaanne (‘Oma’) und babam ve annem (‘mein Vater und meine Mutter’) leicht verwechselt werden. 22 Die achtjährige Schulpflicht in der Türkei (seit 28.02.1997) umfasst die Grundbildung in der fünfjährigen Grundschule (ilkokul) und die dreijährige Bildung in der Mittelschule (orta okulu). Da in den Schulen oft das Geld für den laufenden Betrieb fehlt, müssen die Eltern finan- Necmiye Ceylan 278 Wahrscheinlichkeit nach nur durch erhebliche Einschränkungen im Alltag zu meistern. Die nächste Äußerung folgt mit schnellem Anschluss und in einem Schub: +bu bizim için okumak çok önemliydi↓ (‘das war für uns, das Studieren, war sehr wichtig’, Z. 40). D.h. die Bildungsorientierung der Eltern hat sich auf die Kinder übertragen, sie haben sich an den Eltern orientiert. Dann folgt das Fazit in Form eines Schlussverfahrens (Syllogismus): Sanem beginnt mit einer Feststellung zu ihrem ‘gebildeten Vater’ (okumuş bi: r baba- ‘ein gebildeter Vater’, Z. 41), bricht ab, fährt nach kurzer Pause mit der Mutter fort (ve annenin ‘und die Mutter’) und bricht wieder ab. In dem folgenden Einschub →annem her ne kadar ev hanımı o“lsada↑← (‘auch wenn meine Mutter eine Hausfrau ist’, Z. 41/ 42), stuft sie zuerst die Hausfrauentätigkeit der Mutter zurück, dann ihre Schulbildung hoch (orta okul meğzunu olduğu için↑ ‘schließlich ist sie eine Mutter mit Mittlerer Reife’, Z. 44), und macht auf diese Weise auch die Mutter zu einer ‘gebildeten Mutter’. Aus den beiden Prämissen (Vater war gebildet, die Mutter war gebildet) folgt dann der Schluss: okumuş bir anne ve babanın çocukları olarak bizde okumayaäh çok değer verdik↓ (‘als Kinder von einer gebildeten Mutter und einem gebildeten Vater war auch für uns äh das Studieren sehr wichtig’, Z. 44/ 45/ 47), der mit dem phraseologischen Ausdruck çok değer vermek (‘etwas eine große Bedeutung zuordnen’) endet. Sanem vertritt hier die in Bildungsmilieus weit verbreitete These, dass gebildete Eltern ihren Kindern Vorbild für erfolgreiche Bildungskarrieren sind. Die z.T. enormen finanziellen Leistungen, die bildungsorientierte Eltern für ihre Kinder aufzubringen bereit sind, erzeugen vor allem in wenig begüterten Familien einen sehr hohen Bildungsdruck für die Kinder, die sich dazu verpflichtet fühlen, den Anstrengungen der Eltern gerecht zu werden. Das war ganz offensichtlich auch in Sanems Familie der Fall. Die weit ausholende und detaillierte Darstellung der Bildungsbiografien der Familienmitglieder auf meine Eingangsfrage hin dient vor allem der Imagearbeit für die Herkunftsfamilie, 23 für die Eltern, die Geschwister und die Inforzielle Mittel zur Unterstützung der Schulen aufbringen. Wenn die Kinder studieren, kommen die Kosten für die dershane (‘Nachhilfezentrum als Vorbereitung für die Universitätsprüfung’) und die z.T. sehr hohen Studiengebühren an der Universität dazu. Um den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, müssen Eltern finanziell sehr viel leisten. Die Investition in die Kinder hat für sie auch einen ökonomischen Nutzen; sie sichert ihnen die Pflege im Alter. Da die Lebensrisiken nicht ausreichend durch staatliche Leistungen abgesichert sind, müssen sie durch die Familien getragen werden. Die ökonomische Nutzerwartung hat zur Folge, dass in vielen Familien die Geburt eines Sohnes erwünscht ist, da man erwartet, dass er einen höheren Beitrag zur ökonomischen Absicherung der Eltern leistet als ein Mädchen (vgl. Kağıtçıbaşı 1982b zit.n. Morgenroth/ Merkens 1997, S. 305). „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 279 mantin selbst. Über die Biografie der Schwester zeigt Sanem, dass auch Bildung ein Motiv zur Migration sein kann und dass in einer modernen türkischen Familie eine binationale Ehe möglich ist. Damit setzt Sanem ihre Familie in maximalen Kontrast zu traditionellen Familien, die ihre Töchter in Abhängigkeit halten, sie auf keinen Fall zur beruflichen Selbständigkeit ermutigen und sie nur mit einem Mann derselben Ethnie und Religion verheiraten (vgl. Kağıtçıbaşı/ Sunar 1997). Doch bei aller „Modernität“, die Sanem für sich und ihre Familie in Anspruch nimmt, weist ihre Darstellung auch Merkmale von Traditionalität auf: Dazu gehören die Rangfolge, in der die Familienmitglieder vorgestellt werden, zuerst der Vater als Oberhaupt der Familie und dann die Mutter. Die Geschwister werden nach Alter und Bedeutung innerhalb der familiären Rangordnung vorgestellt. Außerdem werden die Bezeichnungen abla, abi verwendet, traditionelle Bezeichnungen für ‘große Schwester’ und ‘großer Bruder’. Da das Alter in der türkischen Kultur eine große Rolle spielt, sprechen sich Geschwister untereinander mit Namen und der Rangbezeichnung oder nur mit der Rangbezeichnung als abi oder abla an. In modernen Familien werden Geschwister jedoch meist nur mit Namen, ohne die Rangordnung angesprochen. 3. Leben vor der Migration Als Studentin an der Fachhochschule in Istanbul lernt Sanem ihren ersten Mann kennen, einen Fußballspieler. Sie verlieben sich ineinander und heiraten, als sie im letzten Studienjahr ist (zur Art der Hochzeit vgl. unten Kap. 4). Nach dem Studium nimmt sie an Weiterbildungskursen teil und arbeitet später in der Textilbranche. Als sie schwanger wird, beginnen die Eheprobleme: Der Mann hat eine Geliebte, sie kann das nicht akzeptieren und entscheidet sich, das Kind alleine zu erziehen. Sechs Monate nach der Entbindung trennt sie sich von dem Mann. Sie zieht wieder zu ihren Eltern, die sie bei der Kinderbetreuung unterstützen. Da sie in ihrem erlernten Beruf keine Arbeit finden kann, wechselt sie die Branche und arbeitet fünf Jahre als Geschäftführerin in der Textilbranche (TR II): 44 SA: eh kendim inşaat teknikerliği meğzunuyum ↓ eh o Ü: äh ich bin Bautechnikerin. Äh ich hatte in der 45 SA: alanda iş yapmadım ama eh tekstil satın alma Ü: Branche nicht gearbeitet, aber ich war als Einkaufs- 23 Image wird bei Goffman als ein positiver Wert definiert; Image ist ein im Terminus „sozial anerkannter Eigenschaften“ umschriebenes Selbstbild. Das eigene Image und das der anderen sind Konstruktionen derselben Ordnung (vgl. Goffman 1971). Necmiye Ceylan 280 46 NC: hmhm ↓ 47 SA: müdürlüğü yaptım ↓ yaklaşık beş yıl falan ↓ Ü: leitung in der Textilbrance tätig, circa fünf Jahre. Sanem stellt sich in Bezug auf ihre Berufstätigkeit als flexibel und lernfähig dar, da sie in einem Gebiet erfolgreich war, das sie nicht erlernt hatte. Sie brachte es zu einer leitenden Position und arbeitete als Geschäftsführerin. Dass sie diesen beruflichen Erfolg trotz ihrer privaten Situation - alleinerziehende Mutter mit einem Kleinkind - erreicht hat, zeigt ihre Tatkraft und ihr Streben nach Selbständigkeit und finanzieller Unabhängigkeit sowohl von ihrem Ex-Mann als auch von der eigenen Familie. Doch die anstrengende berufliche Vollzeit-Tätigkeit geht zu Lasten des Kindes, für das Sanem kaum noch Zeit hat. Ihr Vater findet eine Lösung (TR II): 52 SA: eh çok yorucu oluyordu mesaileri çok oluyordu Ü: äh es war sehr anstrengend, es gab viele Überstunden, 53 SA: çocuğuma bir tane de çocuğum var oğlum ↓ şu Ü: meinem Kind, ich habe ein Kind, einen Sohn, 54 SA: anda ondört yaşında ↓ fazla vakit ay/ Ü: er ist jetzt 14 Jahre alt, weil ich meinem 55 SA: ayıramadığım için babam o o büfeyi satın aldı Ü: Kind nicht soviel Zeit widmen konnte, hat mein 56 SA: kendi de yaşlı olduğu için dedi ben dedi hani- * Ü: Vater einen Kiosk gekauft und weil er alt war, hat er 57 SA: sana veriyorum sen işlet bunu hem çocuğuna da Ü: gesagt, ich also- * gebe es dir, führe du es, dann 58 SA: vaktin kalmış olur ↓ Ü: hast du auch Zeit für dein Kind Der Vater kauft einen Kiosk und übergibt ihn der Tochter, damit sie zeitlich nicht mehr so stark eingebunden ist und mehr Zeit für die Kindererziehung hat. Der Vater wird als fürsorglich charakterisiert, als jemand der sich um die geschiedene Tochter sorgt, ebenso wie um sein Enkelkind. Die Verantwortung für das Kind steht im Vordergrund, bei Sanems Vater ebenso wie bei ihr. Sie entscheidet sich, die Stelle als Geschäftsführerin aufzugeben und den Vorschlag des Vaters anzunehmen. Damit zeigt sie sich bereit, die eigene Karriere zu Gunsten ihres Kindes zurückzustellen. Auch die Entscheidung, bei den Eltern zu wohnen, wird mit der Fürsorge für das Kind begründet. Sie verzichtet auf eine eigene Wohnung, um dem Kind den Verlust des Vaters durch den Großvater zu ersetzen; der Großvater übernimmt bei seinem Enkel die Vaterrolle. 24 „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 281 In dieser Darstellung bildet die Herkunftsfamilie das Zentrum für die alleinerziehende Mutter und ihr Kind. Beide werden vom Vater fürsorglich aufgenommen; der Vater verzichtet sogar auf sein Eigentum, überträgt es vorzeitig auf die Tochter, um ihr die Eigenständigkeit und dem Enkel die mütterliche Fürsorge zu sichern. Die Schilderung dieser Familiensituation nach der Scheidung steht in deutlichem Kontrast zur Situation in traditionellen Familien: Kinder aus einer geschiedenen Ehe werden meist dem Vater und seiner Familie zugesprochen. Die geschiedene Frau kann nur für eine kurze Übergangszeit bei ihren Eltern leben, denn die versuchen, sie so schnell wie möglich wieder zu verheiraten; zum einen aus finanziellen Gründen (solange sie bei den Eltern lebt, müssen diese sie versorgen), zum anderen aus Gründen der Familienehre, da es sehr schnell Gerede über eine geschiedene Frau gibt, die (zu) lange bei ihren Eltern lebt (bzw. leben muss). 25 Bei der Charakterisierung der eigenen Familie arbeitet Sanem genau die Merkmale heraus, die sie von einer traditionellen Familie unterscheiden, d.h. die traditionelle Familie dient als Kontrastfolie für die Charakterisierung der eigenen Familie durch folgende Merkmale: Das Kind lebt nach der Scheidung bei der Mutter; der Vater nimmt die geschiedene Tochter langfristig in seinen Haushalt auf; eine Wiederverheiratung der Tochter spielt keine Rolle, sondern der Vater tritt der Tochter etwas von seinem Eigentum ab, damit sie als finanziell selbständige und verantwortungsvolle Mutter leben kann. Während im Zentrum der traditionellen Familie die „Familienehre“ steht, die die möglichst reibungslose Unterbringung der Tochter in einer neuen Schwiegerfamilie vorsieht (ein Kind aus der geschiedenen Ehe wäre dabei hinderlich), steht im Zentrum von Sanems Familie die Fürsorge für das Enkelkind und die finanzielle Eigenständigkeit der geschiedenen Tochter. Sanem nennt keine Bezeichnung für den Typ ihrer Familie; da sie jedoch als eine Art Gegenentwurf zur traditionellen Familie konzipiert wird, kann man sie als Sanems Bild von einer „modernen Familie“ bezeichnen. 24 Kurz nach der angeführten Gesprächssequenz begründet SA ihre Entscheidung, nach der Trennung von ihrem Mann zu ihren Eltern zu ziehen, folgendermaßen: eşimden eh çocuğum daha altı aylıkken ayrılmıştım→ben ailemin yanından hiç ayrı kalmadım← çünkü eh çocuğum: daki baba eksikliğini benim babam doldurdu hep↓ (‘Ich habe mich von meinem Mann getrennt als mein Kind sechs Monate alt war. Ich habe mich nie von meiner Familie getrennt, weil äh bei meinem Kind mein Vater den fehlenden Vater immer ersetzt hat.’, TR II). 25 In solchen Fällen wird vermutet, dass ‘mit ihr etwas nicht stimmt’, d.h. dass sie z.B. unattraktiv ist, krank, unsittlich etc.) Necmiye Ceylan 282 Doch zur inhaltlichen Bestimmung der Familie (und besonders des Vaters) als „modern“ kontrastieren einige Formulierungen, die arabesk wirken 26 und eher zur Ausdrucksweise eines traditionellen Vaters passen, der in pathetischem Ton zu seiner Tochter spricht, als zu einem intellektuellen Vater, der die Tochter in die Eigenständigkeit entlässt. Als Sanem erzählt, dass sie ihren zweiten Mann über den Kiosk kennenlernte, erklärt sie (auf meine Frage, ob der Kiosk ihr gehörte), dass der Vater ihn ihr übergeben hat. Die Schilderung der Übergabe hat arabeske Eigenschaften (TR II): 26 NC: kendine mi aitti ↑ Ü: gehörte er Dir? 27 SA: e: h aile şeyi=idi eh Ü: äh es war ein Familiending 28 NC: hmhm ↓ 29 SA: babama aitti ↓ ama ben eh işte yıllar Ü: äh gehörte meinem Vater, aber, weil ich mich 30 SA: önce eşimden ayrıldığım için eh babam bana Ü: vor vielen Jahren von meinem Mann getrennt hatte, 31 SA: derdi yani dedi ki sen dedi bunu ömür Ü: sagte mein Vater immer wieder zu mir, äh du 32 SA: boyu senin olsun yani işlet ↓ →gelirine de Ü: sagte er, das soll dir ein ganzes leben lang gehören, 33 SA: karışmıyorum giderine de karışmıyorum Ü: also führe es, ich mische mich nicht in 34 SA: yani kendi ayakların üzerinde durursun dedi ↓← Ü: die Einnahmen und Ausgaben ein, du kannst damit auf eigenen Beinen stehen, sagte er. 26 Unter „arabesk“ werden Eigenschaften verstanden, die mit der orientalischen Musikrichtung „Arabeske“ assoziiert sind, deren Texte bilderreich, sentimental und pathetisch von unerfüllter Liebe, vom Leid an der Welt sowie von den bedrückenden Sorgen des Alltags handeln. Arabeske ist heute in der Türkei ein Bestandteil der orientalischen Popkultur. Arabeske Musik ist arabischen Ursprungs, enthält viele volkstümliche Elemente und stammt vom Raqs-e Scharqı (arab. für ‘östlicher Tanz’), dem Bauchtanz, ab. In der Türkei wurde arabeske Musik in den 1940ern populär und erreichte mit Orhan Gencebay ihren Höhepunkt. Er nennt seine Arbeiten serbest çalışma (‘Freistil’), eine Mischung aus vielen Stilelementen. Aufgrund der blumigen, arabischen Elemente, der düsteren, leid- und schmerzvollen Texte und der Vermischung asiatischer, arabischer und europäischer Musikelemente wurde die Musik von Orhan Gencebay vom staatlichen türkischen Fernsehen TRT lange Zeit als „untürkisch“ boykottiert. Von seinen Fans wird er als Orhan abi (‘großer Bruder Orhan’) oder Orhan baba (‘Vater Orhan’) bezeichnet. Der deutschtürkische Sänger Muhabbet hat eine eigene arabeske Musikrichtung entwickelt und macht volkstümliche Liedtexte auf Deutsch und Türkisch. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 283 Die Übergabe des Kiosks an die Tochter wird durch eine stilisierte Szene illustriert, in der der Vater die Tochter adressiert (die Tochter tritt als Sprecherin nicht auf). Die Szene wirkt im Türkischen sehr pathetisch, hat arabeske Eigenschaften und erinnert an Szenen aus alten türkischen Filmen. Die Szene wird eingeleitet durch die Redeeinleitung: babam bana derdi yani (‘sagte mein Vater immer wieder zu mir’, Z. 30f.), in der der Aorist der Vergangenheit verwendet wird, der die Nachdrücklichkeit und Eindringlichkeit des Sprechens vermittelt. Auch die Redewiedergabe dedi ki sen dedi bunu ömür boyu senin olsun yani işlet↓ (‘du sagte er, das soll dir ein Leben lang gehören, also führe es’, Z. 30-32) hat arabeske Züge: Der Imperativ ‘führe es’ wirkt pathetisch, ebenso wie die Formulierung ‘das soll dir gehören’, und die Formel ömür boyu (‘ein ganzes Leben lang’) kommt in vielen arabesken Liedern vor. Auch die temporale Formel yıllar önce (‘vor vielen Jahren’), die in der einleitenden Sequenz vorkommt, ist eine arabeske Ausdrucksweise. In der abschließenden Äußerung der Redewiedergabe des Vaters wird ein Parallelismus verwendet, der die große Bedeutsamkeit des väterlichen Handelns zum Ausdruck bringt: →gelirine de karışmıyorum giderine de karşmıyorum yani kendi ayakların üzerinde durursun dedi↓← (‘ich mische mich nicht in die Einnahmen und ich mische mich nicht in die Ausgaben ein, du kannst damit auf eigenen Beinen stehen, sagte er’, Z. 32-34). Auch diese Formulierung wirkt eindringlich-pathetisch. Mit dieser Rede übergibt der Vater der Tochter die Verantwortung für das eigene Leben und das des Enkels; er entlässt sie in die Selbständigkeit. Der Vater in der Szene hat die Eigenschaften eines „modernen“ Vaters, 27 doch sie werden mit dramatisierend-arabesken Ausdrucksmitteln dargestellt. Diese Art der Darstellung hat ähnliche Eigenschaften wie die Vorstellung des Vaters in Kap. 2: „Moderner“ Inhalt wird in traditionellen - hier: arabesken - Ausdrucksweisen verpackt. 4. Heirat aus „Liebe“ 4.1 Das Kennenlernen des Paares Sanem übernimmt den Kiosk und führt ihn erfolgreich. Über ihre Arbeit dort lernt sie ihren zweiten Mann kennen, der sich regelmäßig in Istanbul aufhält, in ihrer Nähe wohnt und an ihrem Kiosk einkauft. Der Mann ist Deutsch- 27 Die Eigenschaften des „modernen“ Vaters, die SA in dieser Szene illustriert, kontrastieren nicht nur mit denen eines traditionellen Vaters, der die Verantwortung für die Tochter möglichst schnell an Ehemann und Schwiegerfamilie abgibt, sondern auch mit denen eines behütenden Vaters, der die Tochter bis weit ins Erwachsenenalter versorgt und verwöhnt, sie damit aber unselbständig und von sich abhängig hält; vgl. den in Teil V dieses Bandes dargestellten Vater. Necmiye Ceylan 284 Türke, geschieden und hat einen kleinen Sohn, der bei ihm lebt. Da in der Familie des Mannes Türkisch Familiensprache ist, soll der Junge, der vor allem Deutsch spricht, auch in Türkisch kompetent werden. Deshalb besuchen Vater und Sohn regelmäßig Istanbul, damit er dort Türkisch spricht und lernt. Anfangs besteht zwischen Sanem und dem Mann eine Geschäftsbeziehung, später wird daraus Liebe (TR II): 18 SA: aynı mahallede bir ev tutmuş ↓ eh müşterimdi Ü: er hatte im gleichen Viertel eine Wohnung gemietet, 19 SA: benim büfeye gelip giderken yani konuştuk ↓ Ü: er war mein Kunde, er kam und ging zu meinem Kiosk, 20 SA: e: h anlaştık sevdik bir birimizi daha doğrusu ↓ Ü: so haben wir uns kennen gelernt, uns gut verstanden, ehrlich gesagt, haben wir uns verliebt Die Entwicklung der emotionalen Beziehung stellt Sanem in einem Dreierschritt dar, der eine natürliche Abfolge in der Zeit nachbildet: sich kennenlernen, sich verstehen und sich verlieben. Durch die regelmäßige Geschäftsbeziehung am Kiosk entsteht die Gelegenheit, miteinander zu sprechen und sich näher kennenzulernen. Für die Entwicklung zu einer privaten Beziehung sind die situativen Voraussetzungen im Kiosk sehr günstig, 28 da sich wegen der räumlichen Enge nur wenige Kunden gleichzeitig aufhalten können und es zwischen Kundenbesuchen oft Freiräume gibt, die ein persönliches Gespräch ermöglichen. So hat sich die Beziehung offensichtlich auch zwischen Sanem und ihrem Mann entwickelt. Erstaunlich ist, dass Sanem das Lexem ‘lieben’ verwendet: sevdik bir birimizi daha doğrusu↓ (‘ehrlich gesagt, wir haben uns verliebt’, Z. 20). 29 Doch durch die Modalisierung (‘ehrlich gesagt’) markiert sie, dass das Offenlegen von Liebe für sie nicht selbstverständlich ist. Aus der türkischen Community in Mannheim ist mir bekannt, dass viele Heiratsmigrantinnen nicht über Liebe sprechen. Erwähnt wird höchstens, dass man sich gut versteht, dass der Ehemann ein guter Mann ist oder dass man gut miteinander auskommt. Mit guter Mann und gut miteinander auskommen implizieren die meisten Frauen, dass der Mann den Minimalkatalog eines „guten Ehemanns“ erfüllt und finan- 28 Vgl. die Studie von Schmitt (1992) zur Sozialwelt eines Kiosks und dem sozialen Austausch zwischen Kioskinhabern und Kunden. 29 Auch im ersten Gespräch spricht SA von Liebe zu ihrem Mann: karşılıklı äh bi e/ e/ çekim doğdu aramızda birbirimizi sevdik↓ (‘es entstand eine gegenseitige Anziehung und wir liebten uns’, TR I). „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 285 ziell für die Familie sorgt. 30 Außerdem wird in Sanems Darstellung deutlich, dass es bei der Beziehungsanbahnung keine vermittelnden Personen gab; die Partner lernten sich zufällig kennen und wählten sich selbst. Nachdem Sanem dargestellt hat, dass die beiden sich ineinander verliebten, fährt sie folgendermaßen fort: 21 SA: eh aslında benim yani e: h evlenmeye karar Ü: äh eigentlich also ich / äh wir entschlossen uns zu 22 SA: verdik eh aslında benim eh e/ yani yurtdışına Ü: heiraten äh eigentlich äh / also ich hatte nie den 23 SA: gitmek gibi almanyaya gelmek gibi bir Ü: Traum gehabt ins Ausland zu gehen geschweige 24 SA: ha”yalim hiç bir zaman olmadı ↓ Ü: denn nach Deutschland zu kommen 25 SA: +çünkü orda çok rahattım kendi işim vardı ↓ Ü: weil es ging mir dort sehr gut, ich hatte mein eigenes Geschäft. Sie beginnt mit eh aslında benim yani (‘äh eigentlich also ich/ ’) bricht ab, liefert die Information evlenmeye karar verdik (‘wir entschlossen uns zu heiraten’), die die Voraussetzung für die nachfolgende Sequenz ist. Sanem nimmt die abgebrochene Eingangsformulierung wieder auf (eh aslında benim eh ‘äh eigentlich also ich’) und führt dann aus, dass sie nie die Absicht gehabt hat ins Ausland oder gar nach Deutschland zu heiraten (yani yurtdışına gitmek gibi almanyaya gelmek gibi bir ha”yalim hiç bir zaman olmadı↓ ‘also ich hatte nie den Traum gehabt, ins Ausland zu gehen geschweige denn nach Deutschland zu kommen’, Z. 22/ 24). Mit dieser selbst initiierten Erläuterung hebt sie hervor, dass sie die Beziehung zu dem Mann auf keinen Fall mit dem Hintergedanken einer Heirat nach Deutschland verband, d.h. sie hatte auf keinen Fall eine Migration durch Heirat geplant. Dass sie diese Erklärung abzugeben beabsichtigt, noch bevor sie die Heiratsabsicht selbst dargestellt hat (vgl. die abgebrochene Eingangsformulierung), zeigt, dass sie in der aktuellen Gesprächssituation, mir gegenüber, 31 eine deutliche Abgrenzung zu anderen 30 Zum Minimalkatalog von Eigenschaften/ Anforderungen, die ein Ehemann erfüllen muss, vgl. Teil IV. Solange der Mann diesen Katalog erfüllt, hat die Frau keinen für ihre Umwelt und ihre Familie akzeptierbaren Grund, sich von ihm zu trennen. 31 Ich bin Angehörige der Migrantengemeinschaft, vertraut mit den familiären Verhältnissen von Heiratsmigrantinnen, ebenso wie mit den Diskursen über Heiratsmigrantinnen in der Migrantengemeinschaft und der deutschen Gesellschaft. Necmiye Ceylan 286 Frauen für nötig hält, die eine Migration über Heirat geplant hatten. Sie reagiert damit auf einen in der Migrantengemeinschaft und der deutschen Öffentlichkeit geführten Diskurs, wonach Frauen aus der Türkei nach Deutschland heiraten, weil sie in einer wirtschaftlichen Notlage sind. 32 Zu diesem Diskurs setzt sich Sanem vorausgreifend in Kontrast. In der Folgeäußerung liefert sie die Begründung dafür, dass sie zu den Kontrastfällen gehört: +çünkü orda çok rahattım kendi işim vardı↓ (‘weil es ging mir dort sehr gut, ich hatte mein eigenes Geschäft’). Sanem hatte keinen wirtschaftlichen Grund, eine Ehe mit einem Mann aus Deutschland einzugehen, ihr ging es gut. Interessant ist ein Vergleich mit der in Teil V dargestellten Informantin und der Art und Weise, wie sich diese Informantin zu anderen Heiratsmigrantinnen in Kontrast setzt. Auch sie hebt mehrfach hervor und setzt es eindrucksvoll in Szene, dass sie eine gebildete Großstädterin ist, der es an nichts fehlte, dass sie nie nach Deutschland heiraten wollte, dass es ihr in der Türkei sehr gut ging und dass sie den Mann aus Deutschland aus emotionalen Gründen heiratete. Die Übereinstimmungen in beiden Fällen legen die Annahme nahe, dass Frauen, die sich in maximalen Kontrast zu „typischen Heiratsmigrantinnen“ setzen, das über diese Merkmale tun: - Sie sind gebildet und großstädtisch, - sie wählen den Partner selbst, - sie heiraten aus Sympathie oder Liebe, - sie leben vor der Ehe in der Türkei in Wohlstand, auf keinen Fall in wirtschaftlicher Not. Diese Merkmale kontrastieren maximal mit den Merkmalen, die für „typische Heiratsmigrantinnen“ charakteristisch sind (vgl. Teil IV in diesem Band und unten Kap. 5 und 6): Sie kommen aus ländlichen Gebieten, die Familien suchen einen Partner für sie aus, die Heirat kommt unter sozialem bzw. familiärem Druck zustande und die jungen Frauen müssen wirtschaftlich versorgt werden. 33 Die Bedeutung, die die genannten Merkmale für Sanem haben, wird über die Art der Thematisierung, der Darstellung und der Ausgestaltung von 32 Vgl. auch die Informantin aus Teil V, die sich ebenfalls sehr deutlich abgrenzt von Frauen, für die eine Migration über Heirat erstrebenswert ist. Für beide Informantinnen ist es wichtig, die Selbstwahl des Partners und die Entscheidung für ihn aus Sympathie bzw. Liebe hervorzuheben. 33 Exemplarisch wird ein solcher Fall in Teil IV dargestellt; vgl. auch die Darstellung in Kelek (2005). „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 287 Szenen deutlich, wie z.B. in der Szene der Kioskübergabe, bei der Darstellung der Liebesbeziehung zu ihrem Mann und der mehrfachen Hervorhebung der finanziellen Eigenständigkeit. 4.2 Das „Versprechen“ des Paares Auf meine Frage, ob sich die Eltern, nachdem sich das Paar ineinander verliebt hatte, bei einem offiziellen Besuch kennenlernten, reagiert Sanem folgendermaßen (TR II): 124 NC: +evet peki tanıştınız sonra aileleriniz Ü: ja, also ihr habt euch kennengelernt, haben sich 125 SA: biz tanıştık ↓ Ü: wir haben uns 126 NC: mi tanıştı nasıl oldu ↑ Ü: dann die Eltern kennengelernt, wie war es? 127 SA: e: h karar verdik hatta ailelerimizin Ü: kennengelernt, äh, haben uns entschieden, 128 SA: haberi yoktu kendi aramızda yüzük taktık ↓ Ü: unsere Eltern hatten überhaupt keine Ahnung, 129 SA: işte türkiyede buna sö“z yüzüğü derler ↓ Ü: wir haben Ringe getauscht, in der Türkei spricht man vom Versprechungsring. K: LACHEND 130 NC: LACHT 131 SA: söz yüzüğü taktık ailelerimize Ü: w ir haben uns versprochen und es den 132 SA: söyledik ↓ Ü: Eltern gesagt Nachdem sich Sanem und der Mann entschieden hatten, beisammen zu bleiben, ‘geben sie sich einander das Versprechen’ und informieren erst dann die Eltern. D.h. das Paar entscheidet sich gegen das übliche Vorgehen, das vorsieht, dass vor dem Sich-Versprechen die Eltern eingeweiht und ihre Zustimmung erbeten wird. Erst dann werden (Verlobungs-)Ringe getauscht. Die Eigenständigkeit des Paares und seine Unabhängigkeit von elterlichen Entscheidungen wird in einem Dreierschritt dargestellt, in dem nur das Paar als Agens erscheint: biz tanıştık↓ (‘wir haben uns kennengelernt’, Z. 125), karar Necmiye Ceylan 288 verdik (‘haben uns entschieden’, Z. 127) und yüzük taktık (‘wir haben Ringe getauscht’, Z. 128). Die Perspektive der Eltern und der elterliche Wille kommen nicht vor. Die Entscheidung für ein gemeinsames Leben wird durch das Ringe-Tauschen besiegelt. Dafür verwendet Sanem zunächst die allgemeine Bezeichnung yüzük taktık (‘wir haben Ringe getauscht’). Um die Bedeutung der Ringe klarzumachen, erklärt sie dann, wie dieses Ritual im Türkischen bezeichnet wird: als Austausch von Versprechungsringen (söz yüzüğü, Z. 129). Dass sie mir das erklärt, weist darauf hin, dass sie davon ausgeht, dass mir diese Bezeichnung unbekannt ist. In der Türkei gibt es feste Rituale für Verlobung und Hochzeit und entsprechende Bezeichnungen dafür. Wenn sich ein Paar offiziell das Versprechen gibt, spricht man von söz kesmek 34 (wörtlich: ‘Versprechen schneiden’ im Sinne von „sich das Versprechen geben“). Als Symbol dafür gilt der söz yüzüğü (Versprechungsbzw. Verlobungsring). Nach dem söz kesmek ist man offiziell einander versprochen, danach findet die offizielle Verlobung (nişan yapmak) statt. Die rituellen Bezeichnungen werden in allen Gesellschaftsschichten verwendet, also unabhängig davon, ob sich die Familie als „traditionell“ oder als „modern“ bezeichnet. In modernen Familien ist es weit verbreitet, dass das junge Paar sich füreinander entscheidet und erst danach die Eltern informiert. Genau das gilt auch für Sanem und ihren Mann: söz yüzüğü taktık ailerimize söyledik↓ (‘wir haben uns versprochen und es dann den Eltern gesagt’, Z. 131-132). Sanems Eltern akzeptieren ihre Wahl und stimmen auch der Ehe mit einem Deutsch-Türken zu, da ihnen nur das Wohl der Tochter am Herzen liegt. Dass sie der Tochter die alleinige Entscheidung in Bezug auf die Partnerwahl zugestehen, kann mit dem fortgeschrittenen Alter der Tochter zusammenhängen, denn in der türkischen Kultur haben Kinder mit fortschreitendem Alter mehr Entscheidungsfreiheit. 35 Doch um zu verdeutlichen, dass in ihrer Familie solche Überlegungen keine Rolle gespielt haben, führt Sanem - selbstinitiiert - entsprechende Informationen aus ihrer ersten Ehe an (TR II): 34 Bei diesem Ritual sind die Ringe mit einer roten Schleife verbunden, ein Familienmitglied, meist ein älterer Mensch, der geachtet und geliebt wird, steckt dem Paar die Ringe an. Dann wird die Schleife in der Mitte durchgeschnitten. 35 Das macht SA deutlich, als sie über die Reaktion der Eltern ihres Mannes berichtet. Die stimmen seiner Entscheidung zu mit dem Argument: sen hani işte kırk yaşını geçmiş bir insansın kendi kararını kendin verebilirsin↓ (‘du bist ein Mann über vierzig du kannst deine eigene Entscheidung treffen’, TR II). Auch wenn eine Frau oder ein Mann geschieden ist, hat sie/ er mehr Entscheidungsfreiheit und Mitspracherecht und muss sich nicht mehr eng an die Forderungen und Wünsche der Eltern halten. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 289 134 SA: +benim daha önceki evliliğimde de ailem Ü: auch in meiner ersten Ehe hat meine Familie 135 SA: hiç bir zaman hani fi“krini belirtir ama Ü: niemals äh für meine äh sie bringen zwar ihre 136 NC: hmhm ↓ 137 SA: şey olmaz yani müdaheleci o“lmadı ↓ Ü: Meinung zum Ausdruck aber es wird nicht Dings, sie stellen sich nicht dagegen. 138 SA: yaptırımcı olmadı ↓ ilk evliliğimede kendim Ü: sie waren nicht bestimmend, auch in meiner 139 SA: karar vermiştim ↓ onlar yanlızca bizim Ü: ersten Ehe hatte ich selbst entschieden. 140 SA: mutluluğumuzu perçinlemek için uğraştılar ↓ Ü: s ie waren nur um unser Glück besorgt Sanems Eltern ließen ihr auch als junge Frau die Entscheidungsfreiheit. Das Verhalten der Eltern beschreibt sie folgendermaßen: Sie bringen ihre Meinung zum Ausdruck, aber sie stellen sich der Entscheidung der Tochter nicht entgegen, die Tochter entscheidet selbst, den Eltern liegt nur am ‘Glück des Paares’. In dieser Darstellung kommen die Kriterien nicht vor, die bei anderen Heiratsentscheidungen ausschlaggebend sind, z.B. verwandtschaftliche Beziehungen oder finanzielle Überlegungen. 36 Auch die Autorität des Vaters und seine Entscheidungsgewalt spielen keine Rolle. In der gesamten Darstellung charakterisiert Sanem ihre Eltern und sich selbst im Kontrast zu traditionellen Familien und hebt die Eigenschaften hervor, die denen traditioneller Familien entgegenstehen oder dort nicht vorkommen. Kurze Zeit später erkundige ich mich, ob es auch kein offizielles Um-die- Hand-Anhalten gab, keine offizielle Brautwerbung. 37 Dieses Ritual ist sehr weit verbreitet, und auch in Familien, in denen die Kinder ihre Partner selbst 36 In einer Reihe von traditionell orientierten Familien, vor allem aus den östlichen Landesteilen der Türkei wird bevorzugt unter Verwandten geheiratet (vgl. Tezcan 2000). 37 Bei dem Ritual kommt die Familie des Mannes bei der Familie des Mädchens zu Besuch. Sie bringt einen Blumenstrauß und Pralinen mit (in ländlichen Regionen auch Baklava). Der junge Mann und seine Familie werden begrüßt, man nimmt im Gästezimmer Platz und jeder wird nach dem Wohlbefinden gefragt. In der Zwischenzeit kocht die Braut den türkischen Mokka und serviert ihn den Gästen. Danach hält der Vater des Mannes mit der religiös-traditionellen Formel um die Hand des Mädchens an. Die Formel lautet: Allahın emri Peygamberin kavliyle kızınızı oğlumuza istiyoruz (‘Mit Gottes Willen und mit dem Befehl vom Propheten möchten wir um die Hand ihrer Tochter anhalten.’). Zur Beschreibung dieses Rituals vgl. auch Teil IV. Necmiye Ceylan 290 wählen, kommt es sehr häufig zu offiziellen Besuchen beider (Groß-)Familien, in deren Verlauf das rituelle Mokka-Trinken und das offizielle Um-die- Hand-Anhalten stattfindet, obwohl das Paar sich schon längst gewählt hat und alle Beteiligten das wissen (TR II): 38 156 NC: peki böyle ähm karar verdiniz ama yine de Ü: also ähm ihr habt so entschieden aber sind nicht 157 NC: böyle aileler gelipte isteme faslı Ü: trotzdem die Familien gekommen und haben um die 158 SA: isteme olmadı ↓ Ü: es gab keine Brautwerbung, 159 NC: falan oldu mu ↑ olmadı ↓ Ü: Hand angehalten? gab es nicht 160 SA: öyle bir şey olmadı Ü: so was gab es nicht Sanem verneint die Frage; es gab keine offizielle Brautwerbung. Auch dieses Ritual wird in Sanems Familie nicht gepflegt. Sie beschreibt dann, wie sich die Familien kennenlernten, die ja weit entfernt voneinander lebten: Die Schwiegermutter besuchte Sanems Familie, der Schwiegervater konnte aus Altersgründen nicht kommen; Sanems Eltern erstatteten keinen Gegenbesuch, nur sie selbst reiste zum Schwiegervater. In der Darstellung spielt das Treffen der Großfamilien keine besondere Rolle, Sanem stellt es eher beiläufig dar; wichtig ist ihr nur - und das hebt sie nochmals hervor -, dass es keine offizielle Brautwerbung gab. Damit führt sie explizit zur Eingangsfrage zurück und schließt die Sequenz folgendermaßen (TR II): 175 SA: yani özel bi isteme merasimi olmadı Ü: also eine offizielle Brautwerbung gab es 176 SA: eh açıkçası e/ *3,0* Ü: nicht, äh gab es einfach nicht *3,0* Als ich kurze Zeit später frage, ob es auch bei der ersten Eheschließung keine offizielle Brautwerbung gab, berichtet Sanem über das frühere Prozedere: Es gab auch damals keine Brautwerbung; Sanem lernte ihren Mann kennen, als sie an der Universität studierte, die beiden verliebten sich ineinander, versprachen sich einander (söz yaptık), sie informierte ihre Familie und stellte danach ihren Verlobten den Eltern vor. Danach brachte er sie zu seinen Eltern, noch bevor sich die beiden (Groß-)Familien in einem offiziellen Treffen kennenge- 38 Vgl. dazu die Darstellung der Informantin Lale in Teil III. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 291 lernt hatten. Erst danach besuchten sich die Familien - nur um sich kennenzulernen und nicht wegen des Rituals der Brautwerbung. Die beiden Ehe-Anbahnungsverfahren verliefen sehr ähnlich. Damit stellt Sanem klar, dass ihre Familie sich nicht an traditionell vorgesehenen Ritualen orientiert, auch nicht bei so entscheidenden Angelegenheiten wie Verlobung, Heirat und Zusammenfinden der beiden Großfamilien. Nachdem sich die Familien kennen gelernt hatten, wurde geheiratet: ondan sonra evlilik nikah oldu yani↓ (‘dann kam die Hochzeit, die Trauung und so’, TR II). Interessant ist, dass Sanem hier die Bezeichnung evlilik (‘Ehe’) verwendet und die Bezeichnung für das große, offizielle Hochzeitsfest düğün nicht gebraucht. Mit der Vermeidung dieser Bezeichnung (düğün) grenzt sie sich von den türkischen Hochzeitsfeiern ab, wie sie auch von vielen Türkischstämmigen in Deutschland gefeiert werden. 39 Nach meinen Beobachtungen in der Migrantengemeinschaft in Mannheim finden das Ritual des Um-die- Hand-Anhaltens ebenso wie die große Hochzeitsfeier auch in Familien statt, deren Kinder sich als „modern“ verstehen. Die jungen Paare finden diese Rituale zwar „lächerlich“ oder „klassisch“, doch bestehen in der Regel die älteren Familienmitglieder darauf; und aus „Respekt“ vor den Älteren fügen sich die Jüngeren und machen bei den Ritualen mit. 4.3 Die Hochzeit Etwas später komme ich noch einmal auf die erste Hochzeit zurück und frage nach der Art der Hochzeitsfeier (TR II): 221 NC: evlilik derken normal düğün balo gelinlik/ Ü: mit der Ehe, normale Hochzeit mit Feier und Brautkleid / 222 SA: düğün olmadı aile arasında bir kutlama Ü: es gab keine große Hochzeitsfeier, es war 223 NC: hmhm ↓ 224 SA: gibi birşey oldu ↓ düğün olmadı ben Ü: so was wie eine Feier mit der Familie, es gab 39 Die Art, wie man eine Hochzeit feiert und wie man sie bezeichnet, ist sozial spezifisch und deutet auf das soziale Milieu hin, aus dem man kommt bzw. dem man sich zugehörig fühlt. Menschen, die der „oberen Schicht“ angehören oder angehören möchten, übernehmen traditionelle Riten, ändern sie aber ab und geben ihnen moderne Bezeichnungen. Auf diese Weise grenzen sie sich von traditionellen Milieus ab. So wurde z.B. aus der köy düğünü (wörtlich: ‘Dorfhochzeit’) eine kır düğünü (wörtlich: ‘Wiesenhochzeit’); die Wiesenhochzeit wird im Freien gefeiert, findet aber in kleinerem Rahmen statt in Abgrenzung zur großen Bauernhochzeit ebenso wie zur Salonhochzeit mit großer Ausstattung und bis zu 600 Gästen. Necmiye Ceylan 292 225 SA: ben ikinci evliliğimde düğün yaptım ↓ Ü: keine Hochzeitsfeier, ich habe bei meiner zweiten Ehe eine Hochzeitsfeier gemacht. Bevor ich die Frage beenden kann, stellt Sanem fest, dass es keine Hochzeitsfeier gab, sondern nur eine kleine Familienfeier. Sie weist die Bezeichnung düğün (‘Hochzeitsfeier’), die ich einführe, 40 entschieden zurück und wählt zur Bezeichnung der Feier, die für sie stattfand, aile arasında bir kutlama (‘eine Feier unter der Familie’, Z. 222). Diese Bezeichnung wird von jungen Menschen verwendet, die sich als modern verstehen, um den Ausdruck düğün zu vermeiden. Doch bei der zweiten Heirat gab es eine große Hochzeitsfeier, eine düğün (Z. 225). Auf meine überraschte Nachfrage bestätigt Sanem, dass es eine große Hochzeitfeier gab (TR II): 226 NC: ikinci evliliğinde yaptın ↑ Ü: bei deiner zweiten Hochzeit? 227 SA: evet şu şimdiki evliliğimde yaptım yani ↓ Ü: ja, bei meiner jetzigen Ehe also 228 SA: ilk ilk e/ Ü: weil ich bei 229 NC: böyle gelinlikli falan ↑ Ü: so mit Brautkleid und so? 230 SA: evliliğimde giymediğim için eh gelinliği ↑ Ü: meiner ersten ersten Hochzeit kein Brautkleid trug 231 SA: hep içimde öyle bir şey vardı yani- Ü: habe ich mir immer gewünscht also / 232 NC: hmhm ↓ Sie bestätigt auch, dass sie bei der zweiten Hochzeit ein Brautkleid trug und begründet das damit, dass sie immer den Wunsch hatte, einmal ein Brautkleid zu tragen, da sie bei der ersten Hochzeit keines hatte. Dann erläutert sie die 40 Düğün impliziert eine große Feier in einem angemieteten Salon mit vielen Gästen. Zur düğün gehört auch die Henna-Nacht. In Deutschland werden Hennanacht und Hochzeitsfeier in zwei Tagen gefeiert. In der Türkei, vor allem in ländlichen Regionen, ist die Hochzeit ein großes Ereignis, das meist drei Tage und Nächte gefeiert wird. Die Familien beginnen Monate voraus mit den Vorbereitungen. Zu den Gästen zählen Verwandte, Freunde und Nachbarn. Eine Dorfhochzeit ist meist ein großes Ereignis für alle Dorfbewohner. Am ersten Abend findet der Hennaabend statt; am zweiten Tag gibt es zu Mittag reichlich zu essen. Am Abend gibt es die Hochzeitsfeier. Am dritten Tag besucht das Brautpaar die Eltern der Braut; dabei wird die Braut endgültig aus der Familie verabschiedet. Natürlich gibt es regionale Unterschiede bzw. Besonderheiten. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 293 Hintergründe: Sie war damals auf der Universität und als Studentin hat sie das Tragen eines Brautkleides als zu ‘klassisch’ empfunden (ama bu üniversite ortamında bu tür şeyler şey gelirdi ah işte bu kla“sik falan ne gerek var ‘aber in der universitären Atmosphäre kamen einem diese Dinge, ach das ist doch zu klassisch oder so, das braucht man nicht’, TR II). Außerdem gehörte das damals nicht zu einer Studentin, die sich als „modern“ verstand: yani şey üniversite ortamında daha mo“dernsinbu tür şeylere gerek yok (‘an der Universität ist man viel moderner, diese Dinge braucht man nicht’, TR II). Damit entschied sich Sanem gegen wesentliche mit einer Heirat verbundene Rituale und Symbole zu einer Zeit (Anfang der 1990er Jahre), zu der es für die meisten Mädchen in der Türkei - auch in städtischen Lebenswelten - unvorstellbar war, ohne Brautkleid zu heiraten. Mit der damaligen Entscheidung war Sanem ihrer Zeit weit voraus; sie und ihre Eltern entscheiden sich gegen gängige Rituale und Bräuche. Interessant ist allerdings, dass das damalige Streben nach „Modernität“, das mit dem Verzicht auf übliche Rituale verbunden war, sie jahrelang beschäftigt hat, so dass sie bei der zweiten Heirat das damals bewusst ‘Abgewählte’ nachholt. Sie veranstaltet eine düğün und trägt ein Hochzeitskleid. 41 Die Tradition hat sie, die Vorkämpferin für die „Moderne“, eingeholt; so stellt sie das dar. Meine Vermutung, dass dann auch die Henna-Nacht gefeiert wurde, 42 weist sie entschieden zurück (vereinfachte Transkription, TR II): 41 Das Tragen eines Brautkleides hat in der türkischen Kultur eine lange Tradition. Die Farbe des Hochzeitskleides (gelinlik) sagte etwas über den sozialen Stand aus. Im Osmanischen Reich war die Farbe rot, auf dem Land gab es verschiedene Farben. Das erste weiße Brautkleid wurde in der Türkei 1898 von Naime Sultan, der Tochter von Abdülhamid II., getragen. Mit der Gründung der Republik und der Demokratisierung wurde das weiße Brautkleid üblich (vgl. Gül 2002: http: / / www.gelinlik.com/ osmanlida_gelinlik.php ). 42 Die Henna-Nacht, eine alte türkische Tradition, ist eine Feier am Abend vor dem eigentlichen Hochzeitstag, mit der die Braut vom Elternhaus und ihren Freundinnen Abschied nimmt. Die Braut, ihre Verwandten und Freundinnen treffen sich zu einem großen Abschiedsfest (es sind vor allem Frauen anwesend), bei dem die Handflächen der Braut feierlich mit Henna gefärbt werden. Die rote Henna-Farbe symbolisiert Fruchtbarkeit, Liebe, Wohlstand und eine lange glückliche Ehe. Die Braut ist besonders prächtig geschmückt, sie trägt einen roten Schleier. Dann wird Henna mit brennenden Kerzen auf einem Tablett herein getragen. Dabei werden Klagelieder gesungen. Die Braut zieht den roten Schleier vor ihr Gesicht, während ihre Hände mit Henna bemalt (von einer angesehenen Frau, z.B. einer Tante mütterlicherseits), zusammen mit einer Goldmünze in ein weißes Tuch eingewickelt und in rote Handschuhe gesteckt werden. Auch dazu werden traurige Lieder gesungen, um die Braut zum Weinen zu bringen. Weinen wird von ihr erwartet. Die Lieder handeln von der Mutter und von der Trennung von ihr, von Kummer und Unrecht, von der Fremde und den Schwierigkeiten des Lebens. Auch die Gäste bestreichen ihre Hände mit Henna. Nach dem Necmiye Ceylan 294 235 NC: kına gecesi de yaptın o zaman ↓ Ü: dann hast du auch eine Henna-Nacht gemacht? 236 SA: yok kına gecesi falan olmadı Ü: nein, Henna-Nacht und so etwas gab es 237 SA: tamamen bu şey yani ya yani- * tamamen Ü: nicht, das war völlig also nun, also * das war 238 SA: bu örf ve adetlerin dışında birşey- Ü: absolut nicht traditionell 239 SA: +yanlızca gelinlik giymek modern Ü: nur ein Brautkleid, obwohl 240 SA: bi davet şeklinde olduğuna rağmen gelinlik Ü: es ein moderner Empfang war, habe ich ein 241 SA: giydim yani ↓ işte müzik vardı yemek vardı Ü: Brautkleid getragen, es gab also Musik, Essen 242 SA: eh yakın dostlar vardı öyle ha/ hani Ü: äh, die engsten Freunde, so / es war nichts 243 SA: herkesi çağırırsın falan öyle birşey Ü: wo jeder eingeladen wird, es war nicht so 244 SA: değildi yani ↓ * kına olmadı ↓ Ü: etwas also es gab kein Henna. Die Feier der Hennanacht gab es bei Sanems Hochzeit nicht. Im Kontext ihrer weiteren Ausführungen wird manifest, dass das für sie zu traditionell war, denn sie setzt die Feier, die sie wählte, in Kontrast dazu: tamamen bu örf ve adetlerin dışında birşey (‘das war absolut nicht traditionell’, Z. 237-238). Nur auf dem Brautkleid besteht sie (yanlızca gelinlik giymek ‘nur ein Brautkleid tragen’, Z. 239), den Rest der Feierlichkeiten bezeichnet sie als einen modernen Empfang (modern bi davet şeklinde, Z. 239-240) mit Musik, Essen, Tanz und den engsten Freunden. Sanem stellt fest, dass sie trotz des Brautkleides keine traditionelle düğün veranstaltete (hani herkesi çağırırsın falan öyle birşey değildi Henna-Ritual wird die Atmosphäre fröhlicher, den Gästen wird Essen serviert und dann wird ausgelassen getanzt. Die alte Tradition der Henna-Nacht besteht bis heute. Henna wird aus den getrockneten und zerriebenen Blättern des im Orient vorkommenden Henna-Strauches gewonnen. Die Blätter enthalten den rötlich-braunen Farbstoff, der früher auch zum Haarefärben verwendet wurde. Henna hat auch eine religiöse Bedeutung und ist in islamischen Ländern von großer Bedeutung; der Henna-Baum wächst im Paradies, Henna kommt auch bei den Hadithen vor. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 295 yani ‘es war nichts wo jeder eingeladen wird, es war nicht so etwas’, Z. 242- 244), sondern eine moderne Hochzeitsfeier ‘in kleinem Rahmen’. Mit dieser Art der Feier grenzt sie sich von den großen türkischen Hochzeitsfeiern ab und von Familien, die ihre Kinder in dieser Form verheiraten. Da es für moderne Hochzeiten (noch) keine feste Bezeichnung gibt, umschreibt Sanem mit modern bi davet (‘ein moderner Empfang’) oder aile arasında kutlama (‘eine Feier mit der Familie’, Z. 222). Es werden auch andere Umschreibungen verwendet wie z.B. nezih bir davet (‘ein vornehmer Empfang’) 43 oder küçük bir kutlama (‘eine kleine Feier’). Mit solchen Bezeichnungen grenzen Sprecherinnen ihre Hochzeitsfeier von traditionell geprägten Hochzeitsfeiern ab. 5. Leben in Deutschland nach der Heirat Während Sanem im zweiten Gespräch sehr ausführlich über ihre beiden Ehen und über ihre Familie spricht, kreist das erste Gespräch fast ausschließlich um Themen, die mit dem Leben in Deutschland zu tun haben. Sanem thematisiert die Situation der türkischen Migranten in Deutschland, verbindet historische mit politischen Aspekten, kritisiert die fehlende deutsche Zuwanderer- und Integrationspolitik ebenso wie die mangelnden Anstrengungen von Migranten, sich in Deutschland einzugliedern. Vor allem klagt sie das deutsche Bildungssystem und die Bildungsbürokratie an, die die Fähigkeiten von Migrantenkindern nicht erkennen und sie nicht genügend unterstützen, wie sie das bei ihren beiden Kindern erlebt; sie sind wiss- und lernbegierig, erreichen aber wegen fehlender Deutschkenntnisse nicht die Absschlüsse, die sie erreichen könnten. Und sie bedauert die mangelnde Bereitschaft von Deutschen, Kontakte zu Migranten zu pflegen, obwohl diese immer wieder nach Kontakten suchen. In der Darstellung wechseln erzählende, beschreibende und weit ausholende argumentative Phasen ab. Sanem präsentiert ihre Erlebnisse und Erfahrungen in Deutschland aus einer politisch-emanzipatorischen Perspektive heraus, die sie durch ihre Aktivitäten in (linken) Migrantenorganisationen verortet. Dabei stellt sie sich selbst als kritisch abwägende Sprecherin dar, die ihre Positionen begründet (auch durch wissenschaftliche Verweise), mehrere Perspektiven berücksichtigt und daraus dann zu einem Schluss kommt. Sanem lebt seit fast zwei Jahren in Mannheim zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Im Gegensatz zu den anderen Informantinnen spielen in ihrer Darstellung familiäre Beziehungen bzw. Probleme mit der Schwiegerfamilie keine Rolle. Ihr Leben in der Kernfamilie verläuft unauffällig. Thematisierungswürdig sind für sie vor allem zwei Aspekte des Lebens in Deutschland, 43 Vgl. auch die Informantin in Teil V. Necmiye Ceylan 296 die mehrfach bearbeitet, expandiert und vielseitig beleuchtet werden: zum einen die Auseinandersetzung mit der türkischen Migrantengemeinschaft, die sie für das negative Bild der Deutschen auf türkische Migranten verantwortlich macht; und zum anderen die Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft, von der sie sich ausgeschlossen fühlt, in die sie sich aber integrieren möchte. Beide Aspekte werde ich im Folgenden ausführlich darstellen. 5.1 Sanems Sicht auf die Migrantengemeinschaft Vor der Einreise nach Deutschland freute sich Sanem darauf, in einem europäischen Land zu leben. Doch ihre Enttäuschung ist groß, als sie sich in der Migrantengemeinschaft in Mannheim wiederfindet, in der ihr Mann lebt. Sie erlebt die umgebende türkischstämmige Gemeinschaft als „stehen geblieben“, damit meint sie, dass diese Menschen, die vor fünfzig Jahren gekommen sind, in der Kultur von damals stehen geblieben sind: burdaki türkler↓ geldiği senedeki gibi kalmışlar↓ * hiç ilerliyememişler↓ (‘die Türken hier, sie sind so geblieben wie in den Jahren, in denen sie gekommen sind, sie haben sich überhaupt nicht weiterentwickelt’, TR I). Für diesen Zustand macht sie einerseits die deutsche Politik verantwortlich, die damals Menschen nur aufgrund körperlicher Leistungsfähigkeit als „Gastarbeiter“ anwarb, auf Bildung und Kultur keinen Wert legte und die Menschen sich dann selbst überließ. Andererseits sieht sie auch Fehler bei den Migranten selbst, die sich nicht oder zu wenig organisiert hätten, sich nicht für Entwicklung und Integration eingesetzt, sondern sich in eigene Wohngebiete zurückgezogen hätten, 44 was eine Entwicklung ihrer Kinder noch zusätzlich erschwert habe. Sanems Problem ist, dass sie aus der Außenperspektive immer wieder dieser Migrantengemeinschaft zugeordnet wird, obwohl sie nicht dazugehören will und sich aufgrund ihrer Herkunft, ihres höheren Bildungsabschlusses und des sozialen Status, den sie in der Türkei erreicht hat, auch nie dazugehörig fühlen könnte. Trotzdem muss sie aus finanziellen Gründen derzeit noch deren Lebensbedingungen teilen, und ihre Kinder müssen sich mit Schul- und Sprachproblemen auseinandersetzen, die mit ihrem Wohn- und Lebensraum zusammenhängen. Ihnen fehlen eine anregende Lernumgebung und deutschsprachige Vorbilder. 44 Sanem macht für die Entstehung von ethnischen Wohngebieten folgende Faktoren verantwortlich: finanzielle Gründe (günstige Wohnungen), der Wunsch unter Menschen zu leben, die einen verstehen; außerdem hatten die meisten Migranten keine oder mangelnde Deutschkenntnisse, konnten keinen Kontakt zu Deutschen herstellen, so dass ihnen als einzige Möglichkeit nur das Leben unter ihresgleichen blieb. Sanem sieht allerdings auch bei einer kleinen Gruppe von Türken Tendenzen zur Abschottung, weil sie sich nicht integrieren wollen (TR I). „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 297 Sanem beschreibt hier, was in der Migrationssoziologie als negative Effekte eines Lebens in der ethnischen Kolonie bezeichnet wird. 45 Ethnische Kolonien sind durch sozial-räumliche Segregation, durch eine relativ homogene ethnische Bevölkerung, durch weitgehend geteilte soziale Regeln, Normen und Werte, durch Solidarität und Unterstützung nach innen und Abgrenzung nach außen hin und eine ausgebaute Infrastruktur gekennzeichnet. Der Wohn- und Lebensraum, auf den Sanem referiert, entspricht in vieler Hinsicht einer ethnischen Kolonie bzw. wird von den Bewohnern selbst als sozial-räumliche Einheit betrachtet. 46 Die ethnische Kolonie, die für Neuzugewanderte Anlaufstelle in der Fremde ist, Unterstützung bei Orientierungsproblemen und Sicherheit in Krisensituationen bietet, ist für Sanem zu einer Art Falle geworden. Die scharfsinnige Analyse ihrer Situation als Migrantin, die in einer ethnischen Kolonie lebt, den sozialen Aufstieg erstrebt und dabei die Herkunft aus der ethnischen Kolonie als Hindernis erlebt, verbindet Sanem mit einer Anklage gegen die Deutschen. 5.2 Sanems Sicht auf und ihre Erfahrungen mit Deutschen Da Sanem bereits vor unserem ersten Gespräch über Probleme mit Deutschen geklagt hat, frage ich jetzt gezielt nach diesen Problemen. Das löst eine lange Gesprächsphase aus, in der Sanem ihre Erfahrungen mit Deutschen und die Schwierigkeiten, die sie und ihre Kinder haben, ausbreitet. Die Analyse folgt der Sequenzstruktur. 5.2.1 Nichtanerkennung der beruflichen Qualifikation Auf meine Frage nennt Sanem als erstes Problem die Nichtanerkennung der Ausbildung, die sie in der Türkei absolviert hat (TR I): 61 NC: peki äh sen ne gibi sorunlarla karşılaştın ↑ Ü: nun äh, welche Probleme sind dir begegnet, 62 NC: → senin için de kola”y olmamıştır herhalde ↓← Ü: bestimmt war es auch für dich nicht einfach 63 SA: eh eh ben aslında bu kadar zorluk çekeceğimi Ü: ä h äh, eigentlich dachte ich nicht, dass ich mit so 45 Zu ethnischen Kolonien und Parallelgesellschaften vgl. u.a. Micus/ Walter (2007). 46 Türkische Bewohner des Stadtgebiets sagen, dass sie unter Türken leben; junge Migrant(inn)en der 2. und 3. Generation, die in dem Wohngebiet aufgewachsen sind, sich aber davon distanzieren, bezeichnen es als „Ghetto“ (vgl. Keim 2008, S. 38ff.). Necmiye Ceylan 298 64 NC: >hmhm ↓ < SA: düşü“nmemiştim ↓ ä: h- ** e/ en azından Ü: vielen Schwierigkeiten rechnen muss, äh, wenigstens 65 SA: eh/ gelirken äh şunları bilmiyordum ↓ → şimdi ben Ü: äh, als ich kam, äh, wusste ich das nicht, also 66 SA: üniversite meğzunuyum ↓← äh burda buraya gelince Ü: ich habe einen Studienabschluss, wenn man hierher kommt, 67 SA: eğitim ve- * eğitim hayatına sıfırdan başlama b/ Ü: Bildung und / ich wusste nicht, dass man mit der 68 NC: hmhm ↓ 69 SA: başlanacağına bilmiyordum ↓ +türkiyedeki Ü: Schulbildung von Null anfangen muss, in der Türkei 70 SA: aldığın hiç bir diploma- HOLT LUFT bu“rda dikkate Ü: erworbene Diplome HOLT LUFT werden hier nicht 71 NC: hmhm ↓ 72 SA: alınmıyor ↓ sanki burda yeni doğmuş bir Ü: berücksichtigt, es ist als ob man hier zu einem 73 SA: bebek oluyorsun ↑ dil bilmediğin için aslında Ü: neu geborenen Baby wird, weil man die Sprache nicht kann. Sanem, die sich als gut gebildete und beruflich erfahrene Frau versteht, ging davon aus, dass ihr Können auch in Deutschland anerkannt und sie eine Arbeit finden würde. Doch sie erlebt, dass das in der Türkei Erreichte hier nicht anerkannt wird, dass man hier ‘von Null’ anfangen muss (Z. 69). Über diese äußerst frustrierende und deprimierende Erfahrung berichten auch andere Migranten, deren akademische Ausbildung und erfolgreiches Berufsleben in der Türkei bei der Ankunft in Deutschland nichts mehr wert sind. Sie fühlen sich zurückgestuft, abgewertet und wertlos. 47 Das Zurückgeworfensein auf einen Anfangszustand fasst Sanem in dem Bild eines neugeborenen, hilflosen Babys (sanki burda yeni doğmuş bir bebek oluyorsun↑ ‘es ist als ob man hier zu einem neugeborenen Baby wird’, Z. 72f.). Als Begründung dafür, dass das, was früher erworben wurde, hier keine Geltung hat, nennt sie die mangelnden Deutschkenntnisse (dil bilmediğin için aslında ‘weil man die Sprache nicht kann’, Z. 73). Mit dieser Begründung wird das Erleben von Hilflosigkeit und 47 Vgl. die Erfahrungen von Lales Mann, der in der Türkei studiert hat und dessen Studium hier nicht anerkannt wurde, Teil III; vgl. auch Yeliz' Mann, der nicht auf seinen beruflichen Erfahrungen aufbauen konnte und für die Darstellung seines Erlebens ebenfalls das Bild vom hilflosen Baby verwendet, siehe Teil II. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 299 Unfähigkeit noch gesteigert: Sanem ist nicht nur mit der Nicht-Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikationen konfrontiert, sondern sie hat aufgrund ihrer ‘Sprachlosigkeit’ überhaupt keine Aussicht auf eine angemessene Arbeit und damit auch keine Aussicht auf ein selbst bestimmtes Leben. Die Rolle des „neugeborenen Babys“ wird noch für einige Zeit ihre Rolle bleiben (müssen). 48 Erstaunlich ist, dass Sanem vor ihrer Einreise über diese Bedingungen nicht informiert war bzw. dass ihr Mann sie darüber nicht aufgeklärt hat. Dass der Ehemann davon nicht wusste, ist unwahrscheinlich. Das legt die Vermutung nahe, dass er sie darüber (aus welchen Gründen auch immer) im Unklaren ließ, und dass sie sehr ‘blauäugig’ war und sich nicht ausreichend über das Land informiert hat, in das sie zu migrieren beabsichtigte (insbesondere nicht über die gesetzlichen Bedingungen, die sie direkt betreffen). Eine solche Haltung, die mir des Öfteren bei Migrant(inn)en begegnet ist, 49 erstaunt bei einer Frau, die sich selbst als Intellektuelle bezeichnet und sich von der umgebenden Migrantengemeinschaft distanziert. Sanem unterlag einer Art Selbsttäuschung, da sie davon ausging, dass sie den Status und das Ansehen, das sie aufgrund ihrer Ausbildung im Heimatland genoss, unbeschadet in ein anderes Land transferieren könnte. 50 Das macht sie direkt im Anschluss deutlich (TR I): 74 SA: eh türkiyede ä: h kültürlü- * bir gurup i/ insan Ü: eigentlich äh, während ich in der Türkei äh, * zu einer 48 Heiratsmigranten und -migrantinnen haben erst dann eine Aussicht auf Arbeit (vermittelt über die Arbeitsagentur), wenn sie ausreichende Deutschkenntnisse nachweisen können. 49 Ich habe in meinen Kursen häufig erlebt, dass die Migrantinnen vor ihrer Einreise kaum etwas über Deutschland wussten; über das Leben hier, die bürokratischen Verfahren und die gesetzlichen Vorschriften, die sie direkt betreffen (Aufenthaltsrecht, Arbeitsrecht, Anerkennung beruflicher Qualifikationen etc.). 50 Dass im Ausland erworbene Qualifikationen in Deutschland oft nicht anerkannt werden, ist ein noch ungelöstes Problem der Zuwanderungspolitik. Es gibt Studienabschlüsse aus dem Ausland, die in Deutschland anerkannt werden. Aber dazu muss es bilaterale Abkommen zwischen Universitäten zu gemeinsamen Studienabschlüssen geben; oder ein Arbeitgeber sucht im Ausland gezielt nach bestimmten Studienabgängern, die er in Deutschland nicht finden kann, gegenwärtig z.B. nach Ingenieuren oder Informatikern. Aber auch da gibt es Hürden, besonders finanzieller Art. Dass die Zuwandererpolitik noch viele Schwachstellen hat, zeigen immer wieder Pressenachrichten, die von schwer nachvollziehbaren behördlichen Entscheidungen berichten. Ein aktueller Fall im Tagesspiegel in Berlin: Obwohl der betroffene Ausländer gut qualifiziert ist und seine Einstellung vom Arbeitgeber gewollt ist, bekommt er keine Arbeitsgenehmigung, weil er die vorgeschriebene (sehr hohe) Einkommensstufe nicht erreicht; unter www.tagesspiegel.de vom 27.07.2010 mit dem Titel „Ein Kanadier in Berlin: Job ja, Arbeitsgenehmigung nein“. Necmiye Ceylan 300 75 NC: +hmhm ↓ 76 SA: arasında sayılan bir kişi is/ kişi iken Ü: Gruppe von gebildeten Menschen zählte, 77 SA: +burda almanca bilmediğim için ↑ äh her yerde e/ Ü: weil ich hier kein deutsch kann, äh, behandeln sie 78 SA: aptal muamelesi yapıyorlar ↓ Ü: mich überall wie einen Idioten Sanem gehörte in der Türkei zu den Gebildeten, deshalb dachte sie (wie sie kurz vorher ausführte), dass sie in Deutschland nicht mit Schwierigkeiten rechnen müsse, da Bildung und Können hier etwas zählten. Doch jetzt erlebt sie, dass keiner danach fragt und dass sie überall nur aufgrund ihrer fehlenden Sprachkenntnisse beurteilt und als aptal (‘Idiot’, Z. 79) behandelt wird. Die Informantin schildert eine interessante Erfahrung. Auch ich konnte immer wieder beobachten, dass es einerseits Situationen gibt, in denen mangelnde Sprachkenntnisse (grammatische Fehler oder fehlende Lexik) toleriert werden bzw. den Sprechern bei der Suche nach dem richtigen Ausdruck geholfen wird. 51 Andererseits aber gibt es Situationen, in denen mangelnde Sprachkenntnisse das einzige Beurteilungskriterium sind, und Menschen, die diesem Kriterium nicht entsprechen, ignoriert, abgewertet und zurückgewiesen werden. Aus meiner Erfahrung erleben Heiratsmigrant(inn)en die zuletzt genannte Situation besonders häufig in Institutionen, Behörden und im Bildungskontext (Kindergarten, Schule). 52 Hier empfinden sich Migrant(inn)en häufig nur aufgrund ihrer Deutschkenntnisse bewertet, andere Aspekte ihrer Person finden keine Berücksichtigung. Solche Erfahrungen kränken und demütigen die Betroffenen. 5.2.2 Der stereotype Blick der Deutschen Kurz nach der Darstellung dieser schmerzlichen Erfahrung sucht Sanem nach einer Begründung für das Verhalten der Deutschen und findet sie in der ersten Generation der Migranten, den so genannten „Gastarbeitern“ (TR I): 90 SA: birde- * buraya i“lk gelen türkler ↓ yanlızca Ü: außerdem * da man die ersten Türken, die herkamen, 51 Z.B. wenn der nette Professor aus Frankreich überall sprachliche Hilfe erhält; oder wenn man auf das rudimentäre Deutsch des Kollegen aus Amerika mit Lächeln reagiert und dann aus Höflichkeit in seine Sprache wechselt. 52 Mein Eindruck wird von Leiterinnen der Integrationskurse bestätigt, die ihre „Schülerinnen“ zur Behörde oder in die Schule begleiteten. Dort werde den Migrantinnen der Eindruck vermittelt, „nicht erwünscht zu sein“. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 301 91 SA: çalışma açısından gücüne bakıldığın/ bakıldığı Ü: als Arbeiter nach ihrer Kraft beurteilt und nicht 92 SA: için →eğitim seviyesine bakılmadığı için ↑← Ü: nach ihrer Schulbildung beurteilt hat, 93 SA: sonraki gelen türklere de hay/ hep aynı Ü: haben sie die Türken, die später kamen auch 94 NC: hmhm ↓ 95 SA: kefeye koymuşlar yani si/ size sormuyorlar Ü: immer in den gleichen Topf geworfen, sie fragen 96 SA: → okul bitirdiniz mi okudunuz mu kültürünüz Ü: nicht, haben sie die Schule abgeschlossen, studiert, 97 NC: hmhm ↓ 98 SA: nedir ↑← HOLT LUFT yani türksünüz ↓ ve Ü: was ist ihre Kultur? HOLT LUFT also, ihr seid Türken Zu Beginn des Ausschnitts referiert Sanem auf die Anwerbung von türkischen „Gastarbeitern“, wie sie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts stattfand. Im damaligen wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands wurden männliche Arbeitskräfte für Hilfs- und Anlernarbeiten gesucht, die man bei der einheimischen Bevölkerung nicht mehr ausreichend fand. Deshalb wurden sog. „Gastarbeiter“ von Außenstellen des deutschen Arbeitsamtes in der Türkei angeworben. 53 Die Auswahlkriterien waren folgende: die Männer sollten jung, gesund, stark und körperlich belastbar sein, da sie im Bergwerk, in der Stahlindustrie, im Tief- und Straßenbau etc. eingesetzt werden sollten, an Arbeitsplätzen, die schwere körperliche Arbeit erforderten. 54 Schul- und Berufsausbildung spielten für die Anwerber keine Rolle. Auf diese Auswahlkriterien referiert Sanem mit: yanlızca çalışma açısından gücüne bakıldığın/ bakıldığı için →eğitim seviyesine bakılmadığı için↑← (‘man hat sie als Arbeiter nach ihrer Kraft beurteilt und nicht nach ihrer Schulbildung’, Z. 91f.). Diese Sicht der deutschen Arbeitsbürokratie auf türkische Zuwanderer, die sich in der da- 53 Ab Mitte der 1950er Jahre wurden Abkommen über die Anwerbung von Arbeitskräften mit Italien, Spanien, Griechenland, dem ehemaligen Jugoslawien und zuletzt mit der Türkei abgeschlossen. 54 Die Arbeitsverträge waren befristet, eine Daueransiedlung der angeworbenen Arbeiter war weder von Deutschland noch den Vertragsländern vorgesehen. Dass die Entwicklung ganz anders verlief, wurde von der deutschen Politik Jahrzehnte ignoriert; es gab keine verantwortliche Zuwanderungs- und Integrationspolitik bis zur Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes 2005. Necmiye Ceylan 302 maligen Zeit herausgebildet hatte und über die Medien verbreitet wurde, schreibt Sanem jetzt - generalisierend - der gesamten deutschen Bevölkerung zu und beklagt sie: Die Deutschen beurteilen Türken, die jetzt zuwandern, immer noch als „Gastarbeiter“, sie ‘werfen sie in den gleichen Topf’ (sonraki gelen türklere de hay/ hep aynı kefeye koymuşlar yani ‘sie haben die Türken, die später kamen auch immer in den gleichen Topf geworfen’, Z. 93/ 95). Sie beurteilen die türkischen Zuwanderer nicht nach individuellen und schon gar nicht nach bildungsbezogenen Gesichtpunkten, und sie fragen nicht →okul bitirdiniz mi okudunuz mu kültürünüz nedir↑ (‘haben sie die Schule abgeschlossen, studiert, was ist ihre Kultur’, Z. 96/ 98). Im Anschluss an diese Anklage präsentiert Sanem in einer eindrucksvollen Szene die aus ihrer Perspektive typische Sicht der Deutschen auf die Türken in Deutschland (vereinfachte Transkription, TR I): 97 NC: hmhm ↓ 98 SA: nedir ↑← HOLT LUFT yani türksünüz ↓ ve Ü: was ist ihre Kultur? HOLT LUFT also, ihr seid Türken, 99 SA: i“lk gelen türkler gibisiniz → yani okuma Ü: und ihr seid wie die ersten Türken, also ihr 100 SA: yazma bilmiyorsunuz yanlızca gücünü“z için Ü: könnt nicht lesen und nicht schreiben, ihr seid nur 101 SA: buraya geldiniz burda çalıştırılacaksınız ↑← Ü: wegen eurer Kraft hierher gekommen und werdet hier als Arbeitskräfte eingesetzt. 102 SA: äh yani eh şey yapamadım ↓ Ü: äh, also äh, ich konnte nichts machen 103 NC: hmhm ↓ Die Szene besteht nur aus einer nicht eingeleiteten Redewiedergabe eines generalisierten Deutschen, der eine unbestimmte Menge von Zuwanderern adressiert; nur der Deutsche spricht, die Adressaten äußern sich nicht. Die Redewiedergabe beginnt mit einer ethnisch-nationalen Kategorisierung der Adressaten in Form einer Feststellung: türksünüz (‘ihr seid Türken’); damit sind die Adressaten der Rede festgelegt. Über die ethnische Kategorisierung erfolgt dann ein Vergleich und eine Gleichstellung mit den „Gastarbeitern“ (i“lk gelen türkler gibisiniz ‘ihr seid wie die ersten Türken’, Z. 99). Was diese Gleichstellung bedeutet, macht der fiktive Sprecher im Anschluss deutlich: yani okuma yazma bilmiyorsunuz (‘also ihr könnt nicht lesen und nicht schreiben’, Z. 99f.). D.h. er schreibt den Adressaten seiner Rede die Eigenschaften zu, die in der deutschen „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 303 (und auch der türkei-türkischen) Öffentlichkeit den damaligen Gastarbeitern zugeschrieben wurde: fehlende literale Kompetenzen. Außerdem ist sich der generalisierte Sprecher sicher, die Hintergründe für die Einreiseerlaubnis zu kennen und über den Einsatz der Zuwanderer in Deutschland Bescheid zu wissen: Die Zulassung zur Einreise erfolgte ausschließlich aufgrund der körperlichen Kraft, da sie für harte körperliche Arbeit gebraucht wurden: yanlızca gücünü“z için buraya geldiniz burda çalıştırılacaksınız↑← (‘ihr seid nur wegen eurer Kraft hierher gekommen und werdet hier als Arbeiter eingesetzt’, Z. 100f.). D.h. der Sprecher ordnet den Adressaten alle die Merkmale zu, mit denen ehemalige „Gastarbeiter“ aus der deutschen (und der türkei-türkischen) Perspektive charakterisiert wurden. In dieser Szene maßt sich der deutsche Sprecher die Definitionsmacht über die Zuwanderer an. Dabei greift er auf eine historische Kategorie von Zuwanderern zurück, die heute nicht mehr gilt 55 und schreibt Merkmale, die in dieser Form auch nicht zur historischen Kategorie gehörten, den neu Zugewanderten zu. Es gab damals viele schulisch gut gebildete „Gastarbeiter“; nur waren Bildung und Literalität keine Auswahlkriterien für die Anwerbung. Da der in der Szene adressierte Zuwanderer nicht auf die stereotype negative Zuschreibung reagiert, weder widerspricht noch sich abwendet, entsteht der Eindruck des Verstummens, so als sei der Adressat sprachlos geworden durch die Ignoranz und anmaßende Arroganz, mit der der Deutsche ihm gegenübertritt. In dieser Szene stellt Sanem ihre Erfahrungen in Kontakten mit Deutschen dar und bringt die Emotionen, die sie auslösen, metaphorisch zum Ausdruck: Sie ist wütend und sprachbzw. hilflos: äh yani eh şey yapamadım↓ (‘äh, also äh, ich konnte nichts machen’, Z. 102). Die durch die Szene ausgedrückte Kritik am Verhalten von Deutschen ist eindeutig: Sie sind vorurteilsbehaftet, orientieren sich an nicht mehr gültigen Kategorien, sehen türkische Zuwanderer generell stereotyp negativ und sind nicht bereit oder nicht fähig zu einem individuenbezogenen, offenen und freundlichen Blick. Konfrontiert mit einer derart harten, abwertenden und abweisenden Haltung bleibt den Betroffenen nur das Verstummen und der Rückzug. 55 Heute gibt es keine „Gastarbeiter“ aus der Türkei mehr. Die ehemals als „Gastarbeiter“ gekommenen Zuwanderer sind entweder zurückgekehrt, oder haben sich in Deutschland integriert. Die frühere Zuwanderergeneration hat sich in den letzten 50 Jahren weit ausdifferenziert: Einige sind erfolgreiche Geschäftsleute oder mittlere Unternehmer (einige auch Großunternehmer) geworden, andere haben eine Fachausbildung oder eine akademische Ausbildung erreicht. Aus der Perspektive von Prof. Maria Böhmer (Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration) hat „der überwiegende Teil der bei uns lebenden Migrantinnen und Migranten [...] längst einen Platz in unserer Gesellschaft gefunden und ist voll integriert. Viele sind in der Zwischenzeit zu „Aufsteigern“ in unserer Gesellschaft geworden“ (Böhmer 2007, S. 47). Necmiye Ceylan 304 5.2.3 Der Wall zwischen Deutschen und Migranten Doch trotz dieser deprimierenden Erfahrung will Sanem in Deutschland bleiben, akzeptiert und erfolgreich werden. Direkt im Anschluss an die vorangegangene Szene drückt sie diesen Willen sehr deutlich aus (TR I): 104 SA: alman toplumun içine girmek istiyorum ↓ Ü: ich will in die deutsche Gesellschaft rein, 105 SA: dil öğrenmeyi çok istiyorum ama bu toplum Ü: ich will die Sprache lernen, aber diese 106 NC: hmhm ↓ 107 SA: äh- ** sanki bir siper koymuş önümüze- Ü: Gesellschaft äh ** als ob sie einen Wall vor 108 SA: +bu toplumun içine i/ yani giremiyoruz ↓ Ü: uns aufgebaut hat, wir kommen nicht in diese Gesellschaft rein. Hier bringt Sanem ihren Willen, Deutsch zu lernen und von Deutschen akzeptiert zu werden, unabgeschwächt und unmissverständlich zum Ausdruck. Doch ihre Bereitschaft trifft auf ein unüberwindbares Hindernis, das sie metaphorisch als siper (‘Wall’, Z. 107) bezeichnet, den die deutsche Gesellschaft vor Zuwanderern aufbaut. Interessant ist der pronominale Wechsel vom ich in ihrer Absichtsbekundung (Z. 104f.) zum wir, das sie im Zusammenhang mit der Wall-Metapher verwendet. D.h. Sanem generalisiert die hier ausgedrückte Erfahrung und macht sich zum Sprachrohr für eine Gruppe türkischer Zuwanderer, die wie sie diese Erfahrung gemacht haben. Mit der Wall-Metapher wird in Bild evoziert, in dem Zuwanderer als Eindringlinge erscheinen, gegen die sich die deutsche Gesellschaft mithilfe eines Bollwerks schützt, um ein Eindringen zu verhindern. Woraus der metaphorisch ausgedrückte Wall besteht, wird an dieser Stelle noch nicht geklärt. Direkt im Anschluss führt Sanem aus, welche Auswirkungen die Abschottung der Deutschen gegenüber Zuwanderern auf deren Spracherwerb hat: Die Zuwanderer können nur in Kursen oder in ihrer Alltagswelt in der Migrantengemeinschaft Deutsch lernen; d.h. ihnen fehlen Sprachvorbilder und ermunternde, lernmotivierende Kontakte mit Deutschen, die ihnen das Deutschlernen erleichtern und erstrebenswert machen. Damit setzt sich ein Kreislauf in Gang, der in Erfolglosigkeit mündet: Da die Deutschen die Zuwanderer ablehnen, haben sie keine Gelegenheit Deutsch zu lernen und bieten dadurch den Deutschen wiederum Anlass zu erneuter Ablehnung mit dem Argument der fehlenden Deutschkenntnisse. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 305 Nach längeren Ausführungen über die Erfahrungen ihrer Kinder in der Schule und ihre sprachlichen Schwierigkeiten führe ich mit der Frage, ob es noch weitere Schwierigkeiten gibt, wieder zu Sanems Erfahrungen mit Deutschen zurück. Sie fokussiert sofort wieder ihr Sprachproblem und äußert die Hoffnung, dass sich ihre Erfahrungen mit Deutschen ändern werden, wenn sie erst einmal besser Deutsch kann. 56 Sie schränkt allerdings sofort wieder ein (TR I): 159 SA: äh ama- * eh ne yazık ki şöyle düşünüyorum yani/ e/ Ü: äh aber, * äh, ich glaube doch, also / e / auch 160 SA: dil öğrensem de biz ä: h ne kadar alman toplumun Ü: wenn ich die Sprache lerne, äh auch wenn wir in die 161 SA: içineäh girsek de- * eh sanki bir eh si“per Ü: deutsche Gesellschaft äh reinkommen, * äh kommt es mir 162 NC: hmhm ↓ 163 SA: varmış gibi geliyor bana ↓ +yani hemen bir Ü: vor, als ob ein Wall da wäre, also sofort 164 NC: hmhm ↓ 165 SA: önyargı işte- * ca”hil türk ↓ äh işte i/ i/ Ü: ein Vorurteil, der ungebildete Türke, äh, also d / 166 SA: diye bir önyargı ↓ * Ü: doch so ein Vorurteil Sanem projiziert hier folgende Situation: Auch wenn sie Deutsch gelernt haben wird, also die Voraussetzungen zu einem Kontakt erreicht und sich Zutritt in die deutsche Gesellschaft verschafft haben wird, vermutet sie, dass sie auch dann noch auf einen „Wall“ treffen werde: sanki bir eh si“per varmış gibi geliyor bana↓ (‘kommt es mir vor, als ob ein Wall da wäre’, Z. 161/ 163). Jetzt wird das Bild vom Wall erklärt: Der Wall besteht aus einem Vorurteil, das ihr die Deutschen entgegenbringen, und dieses Vorurteil heißt: ca“hil türk↓ (‘der ungebildete, dumme Türke’, Z. 165). Sanem projiziert hier ein Szenario, das vermutlich auf realen Erlebnissen und Erfahrungen anderer Migrant(inn)en basiert. Viele Migrant(inn)en haben mir von Erfahrungen berichtet, die ähnlich wie die in der Szene entworfenen waren; und ich selbst habe Ähnliches 56 Dil öğrenirsem äh o zorluğu büyük bir oranda↑ aşacağı düşünüyorum↓ →tabii ki ilk geldiğim anlardaki gibi değil↓← yani biraz rahatlama var↑ (‘wenn ich die Sprache lerne, äh, glaube ich, dass ich diese Schwierigkeiten zum großen Teil überwinden werde, natürlich ist es nicht mehr wie es am Anfang war, es ist ein bisschen besser geworden’, TR I). Necmiye Ceylan 306 erlebt: 57 Gute Deutschkenntnisse schützen türkischstämmige Migranten nicht vor ethnischen Vorurteilen und verletzenden Stereotypen. Sie helfen nicht, den Wall von Vorurteilen zu durchbrechen, so dass durch das harte, undurchdringliche, abweisende Verhalten von Deutschen weiterhin das Gefühl entsteht, nicht angenommen zu werden. Wie bei der vorangegangenen Sequenz, in der Sanem vom Wall der Deutschen spricht und dann ihren Willen zur Integration kundtut (Z. 104ff.), drückt sie auch jetzt mit Nachdruck ihre Absicht aus, in der deutschen Gesellschaft aufgenommen zu werden. Die beiden Sequenzen sind sequenziell ähnlich organisiert: zuerst die deprimierende Erfahrung des Ausschlusses durch den „Wall“ und dann der Ausdruck des unbeirrbaren Willens, den Wall zu durchbrechen. Diese sequenzielle Anordnung hat eine rhetorische Wirkung: die eigene Kraftanstrengung wird hochgestuft und die Überzeugung vermittelt, dass die Sprecherin davon ausgeht, am Ende doch erfolgreich zu sein. So auch in diesem Ausschnitt : [166] SA: diye bir önyargı ↓ * yani be“n istiyorum ki bu Ü: doch so ein Vorurteil, also ich will in diese [167] NC: hmhm ↓ [168] SA: toplumun içine girmek ↓ yani onlarla Ü: Gesellschaft reinkommen, also mit ihnen [169] SA: arkadaş olabilmek ↓ ** yani gerçekten çok Ü: Freundschaften schließen, also ich will es [170] SA: istiyorum ↓ ama yapamıyorum sanki o siperi Ü: wirklich, aber ich kann es nicht, als ob ich diesen [171] NC: hmhm ↓ [172] SA: kıramıyorum ↓ +ama yine de bekleyeceğim↓ Ü: Wall nicht brechen kann, aber ich werde trotzdem warten [173] SA: → çaba edi/ çaba gösteri mücadele ediceğim ↓← Ü: ich werde mir Mühe geb / meine Mühe zeig / kämpfen [174] SA: belki dil öğrendikten sonra- HOLT LUFT daha Ü: vielleicht nachdem ich die Sprache gelernt habe, [175] SA: kolaylaşalacak bu toplumun içine girip adapte Ü: wird es einfacher in diese Gesellschaft reinzukommen 57 Als Beispiel ein einschneidendes Erlebnis in Bezug auf das Stereotyp vom „dummen Türken“: Als die Deutschlehrerin einer Freundin in der Abiturklasse fragte, welchen Beruf sie ergreifen wollte, sagte sie: „Ich will Germanistik studieren.“ Darauf antwortete die Lehrerin: „Wieso willst du als Türkin Germanistik studieren? Das kannst du doch nie.“ „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 307 [176] SA: olmak ↑ … Ü: und sich anzupassen. Auf die im vorherigen Abschnitt ausgedrückte Erfahrung mit Vorurteilen (Z. 163-166) folgt in diesem Abschnitt die Darstellung der unbeirrbaren Absicht, in die deutsche Gesellschaft aufgenommen zu werden. Mit diesem rhetorischen Darstellungsmuster, in dem gegenläufige Positionen unvermittelt nebeneinander gestellt werden, wird sowohl die Unüberwindbarkeit des „Walles“, als auch der unbändige Wille Sanems, trotz aller Widerstände den „Wall“ zu überwinden, eindrucksvoll veranschaulicht. Der Wille zur Überwindung wird in einer dreigliederigen Konstruktion ausgedrückt, in der sich die aufeinander folgenden Konstruktionsteile in Bezug auf die Intensität der Willensbekundung steigern. Dem ersten Teil, einer expliziten Ankündigung, dass Sanem in die deutsche Gesellschaft aufgenommen werden will: be“n istiyorum ki bu toplumun içine girmek↓ (‘ich will in diese Gesellschaft reinkommen’, Z. 166/ 168), folgt die Darstellung ihres Beziehungswunsches zu Deutschen: yani onlarla arkadaş olabilmek↓ (‘also mit ihnen Freundschaften schließen’, Z. 168f.). Den Abschluss bildet die gesteigerte Absichtsbekundung: yani gerçekten çok istiyorum↓ (‘also ich will es wirklich’, Z. 169f.). Dieser Bekundung des Willens zur Integration wird dann die Ausschlusserfahrung entgegengestellt, wieder durch die „Wall“-Metapher ausgedrückt: ama yapamıyorum sanki o siperi kıramıyorum↓ (‘aber ich kann es nicht, als ob ich diesen Wall nicht durchbrechen kann’, Z. 170/ 172). Darauf folgt - wieder unvermittelt - die Ankündung dessen, was die Sprecherin in Reaktion auf den Ausschluss durch den „Wall“ beschlossen hat. Zur Darstellung verwendet sie wieder eine mehrgliedrige Konstruktion, deren Teile sich hinsichtlich der Intensität des Dargestellten steigern: Zunächst stellt Sanem ihre Geduld und Ausdauer dar, mit der sie ihre Absicht verfolgt: ama yine de bekleyeceğim↓ (‘aber ich werde trotzdem warten’, Z. 172). Dann folgt die Darstellung der Anstrengungen, die sie zu unternehmen beabsichtigt, um anerkannt zu werden. Dabei korrigiert sie sich zweimal, bis sie die adäquate Formulierung gefunden hat. Die Äußerung →çaba edi/ (‘ich werde mir Mühe geb/ ’) wird korrigiert zu çaba gösteri/ (‘ich werde meine Mühe zeig‘/ , Z. 173), die den Aspekt des Demonstrativen hervorhebt: Sanem will den Deutschen vorführen, wie sie sich anstrengt. Doch auch hier bricht sie wieder ab und schließt dann die endgültige Formulierung an: mücadele ediceğim↓← (‘ich werde kämpfen’, Z. 173). Die gesamte Äußerung enthält eine Kampfansage an die deutsche Gesellschaft: Sanem wird sich durch den „Wall“ nicht abschrecken und zurückdrängen lassen, sondern sich mit Ausdauer, Hartnäckigkeit Necmiye Ceylan 308 und durch Demonstration ihres Integrationswillens mit der deutschen Gesellschaft, ebenso wie mit ihren Vorbehalten gegenüber türkischen Migranten auseinandersetzen. Sie will auf jeden Fall um ihre Rechte kämpfen, die ihr die deutsche Gesellschaft vorenthält. Abschließend drückt sie die Hoffnung aus, dass es für sie dann, wenn sie Deutsch gelernt hat, einfacher sein wird, sich mit den Deutschen auseinanderzusetzen und sich einzupassen (Z. 174-176); sie versichert nochmals, dass sie sich voller Energie dem Deutschlernen widmet. Damit schließt sie das Thema „Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft“ ab. 6. Ethnografische Beschreibung der „typischen türkischen Heiratsmigrantin“ Abschließend versuche ich Sanems Erfahrungen in Deutschland, die sie durch die „Wall“-Metapher ausdrückt, durch ethnografisches Wissen aufzufüllen und ein Bild der „typischen türkischen Heiratsmigrantin“ zu skizzieren, mit dem Sanem und andere junge Frauen tagtäglich konfrontiert sind. Dabei wird deutlich, dass das von Sanem genannte Stereotyp vom „dummen Türken“ nur einen Teil der Vorurteile aus macht, die in der türkischen Migrantengemeinschaft ebenso wie in der deutschen Gesellschaft vorherrschen. Sanem und viele andere junge Frauen werden mit verschiedenen Aspekten des stereotypen Bildes der „typischen Heiratsmigrantin“ konfrontiert, sie müssen sich damit auseinandersetzen und ihr Verhalten daran orientieren. 6.1 Bezeichnungen In der türkischen Gemeinschaft gibt es für Frauen und Männer, die aus der Türkei migriert sind, verschiedene Bezeichnungen. Dabei wird zwischen der ersten Generation von Migrant(inn)en (den ehemaligen „Gastarbeitern“) und den Zuwanderern, die über die Heirat migriert sind, unterschieden. 6.1.1 „Typische Türken“ Zu dieser Kategorie zählen die Zuwanderer, die vor 40-50 Jahren als „Gastarbeiter“ kamen, 58 ebenso wie ihre Familien. Als „typisch“ gelten negativ bewertete Eigenschaften, ähnlich wie sie Sanem angeführt hat: Herkunft aus dem Dorf, geringe Bildung, beschäftigt mit schweren, einfachen Anlernarbeiten, traditionell und religiös orientiert. Die Bezeichnung „typische Türken“ wird von Sozialaufsteigern der zweiten Generation (Studierende, Jungakade- 58 „Gastarbeiter“ ist eine Bezeichnung aus der deutschen Perspektive. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 309 miker) und von neu zugewanderten Türk(inn)en verwendet, wenn sie sich von den damit Bezeichneten distanzieren. Wenn neu zugewanderte Türk(inn)en sich von „typischen“ Heiratsmigrantinnen abgrenzen, handelt es sich meistens um Menschen, die aus Städten der Türkei kommen, einen höheren Bildungsstand (Lise-Abschluss, Berufserfahrung etc.) erreicht haben, bildungsorientiert und politisch aktiv sind (Engagement in Vereinen etc.). Beispielhaft dafür ist Sanem. Neben den Bezeichnungen „typische Türken“ oder „typisch Türkisch“ gibt es weitere Bezeichnungen wie burda yaşayan tipik türkler (‘typische hier lebende Türken’) oder tipik buraya gelen türkler (‘typische hierher gekommene Türken’). Auch bei den Deutschen gibt es das Stereotyp des „typischen Türken“. Es kommt vor allem dann zum Ausdruck, wenn junge Deutsch-Türk(inn)en mit Bemerkungen konfrontiert werden, wie z.B.: „du bist aber anders als die typischen Türken hier“ u.Ä. Die Betroffenen kommen dann unter Erklärungs- oder Rechtfertigungsdruck. Das Bild der Deutschen vom „typischen Türken“ hängt sehr eng mit dem Bild des „Gastarbeiters“ zusammen, das sich in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Aus der Sicht vieler Deutscher haben sie sich nicht integriert, sondern leben abgegrenzt von anderen in ihren Wohngebieten. Aus der Sicht von gebildeten Deutschtürken und von gebildeten Neuzuwanderern haben diese Menschen keine Entwicklung durchgemacht, sondern ihre sozialen Orientierungen und ihren Lebensstil konserviert, so wie sie sie vor 40 oder 50 Jahren mitgebracht haben. Auch das wird in Sanems Darstellung exemplarisch formuliert. 59 6.1.2 Ithal gelin (‘Importbraut’) und ithal damat (‘Importbräutigam’) Für Zuwanderer, die über Heirat nach Deutschland gekommen sind, gibt es in der türkischen Gemeinschaft Bezeichnungen wie ithal gelin (‘Importbraut’) und ithal damat (‘Importbräutigam’) oder ısmarlama gelin/ damat (‘bestellte/ r Braut/ Bräutigam’, vgl. Tezcan 2000). Diese Ausdrücke sind ebenfalls negativ konnotiert. Die deutschen Entsprechungen, die auch in den Medien verbreitet wurden, sind „Importbraut“ oder „Importbräutigam“. 60 In der türkischen Gemeinschaft werden diese Bezeichnungen zur Distanzierung verwendet, z.B. bunlar ithal biz yerliyiz (‘das sind Importe, wir sind Einheimische’) oder 59 Vgl. die Feststellung Sanems: burdaki türkler↓ geldiği senedeki gibi kalmışlar↓ hiç ilerliyememişler↓ (‘die Türken hier sind so geblieben, wie in dem Jahr, in dem sie gekommen sind’) (TR I). 60 Vgl. die medialen Darstellungen zu arrangierter Ehe und Zwangsheirat in Teil II; vgl. auch Kelek (2005). Necmiye Ceylan 310 Türkiye`den gelin/ damat ısmarladılar (‘die haben aus der Türkei eine Braut/ einen Bräutigam bestellt’). Die Betroffenen selbst bezeichnen sich selbstironisch oder selbstherabstufend auch als ithal gelin (‘Importbraut/ -schwiegertochter’), wie z.B. in biz ithal geliniz, bunlar buralı (‘wir sind Importbräute und die sind von hier’). Wenn die Betroffenen unmarkiert und in ernster Modalität über ihren Status sprechen, werden Umschreibungen verwendet wie z.B. evlenipte geldim (‘ich habe geheiratet und bin hergekommen’), gelin geldim (‘ich bin als Schwiegertochter gekommen’) oder evlilik neticesinde geldim (‘ich bin auf dem Weg der Ehe gekommen’). 6.2 Merkmale des Stereotyps „typische Heiratsmigrantin“ bzw. ithal gelin (‘Importbraut’) Im Folgenden werde ich aus unterschiedlichen Perspektiven charakteristische Merkmale vorstellen, die mit der Bezeichnung „typische Heiratsmigrantin“ bzw. ithal gelin in Bezug gebracht werden. 6.2.1 Merkmale, die auf die Herkunft aus der Türkei bezogen sind: Die Sicht von Türkei-Türken und Deutsch-Türken Welche Merkmale eine typische ithal gelin aus der Sicht von Türkei-Türken hat, hat Sanem (ähnlich auch die Informantin aus Teil V) dadurch überaus deutlich gemacht, dass sie sich dazu maximal in Kontrast setzt. Aus Sanems Sicht hat die „typische Heiratsmigrantin“ folgende Merkmale: sie kommt aus einer traditionellen Familie, hat nur geringe Schulbildung, die Familie stammt aus einer ländlichen Region und hat die Tochter aus finanziellen Gründen mit einem Mann aus Deutschland (einem Deutsch-Türken) verheiratet. Diese auf die soziale und familiäre Herkunft in der Türkei bezogenen Charakteristika der „typischen Heiratsmigrantin“ nennen auch Deutschtürk(inn)en (vgl. u.a. Kelek 2005). Diese Charakteristika können in einigen Fällen zutreffen, an anderen stimmen sie jedoch nicht, das zeigen die Biografien von Sanem und der Informantin aus Teil V. In Mannheim haben eine Reihe von Heiratsmigrantinnen einen Lise-Abschluss 61 oder - wie Sanem - einen Studienabschluss erreicht und z.T. mehrjährige Berufserfahrung. Auch Frauen, die aus ländlichen Regionen stammen, haben in der Regel mindestens die achtjährige Pflichtschulzeit absolviert. D.h. viele junge Zuwandererinnen bringen eine gute 61 Zum Beispiel wurden 2007 in einem Stadtteil in Mannheim an einem türkischen Frauentreffpunkt Daten von zirka 80 Frauen erfasst; 30 Prozent der Frauen hatten einen Lise- Abschluss. „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 311 Schul- und Berufsausbildung mit, auf der sie in Deutschland nicht aufbauen können. Ihre Kompetenzen bleiben ungenutzt. 62 6.2.2 Merkmale, die auf das Leben in Deutschland bezogen sind: Die Sicht von Deutsch-Türk(inn)en und Deutschen Zu den Merkmalen, die auf das Leben in Deutschland bezogen sind, und die als „typisch“ charakterisiert und negativ bewertet werden, gehören die im Folgenden angeführten Zuschreibungen: a) Heiratsmigrantinnen lassen sich von der Schwiegerfamilie ausnutzen 63 Dieses Stereotyp ist unter Deutsch-Türk(inn)en verbreitet; es bezieht sich auf Heiratsmigrantinnen, die in der Schwiegerfamilie leben (müssen). Verbunden damit ist die Vorstellung einer völlig abhängigen unterwürfigen Frau, die allen Anforderungen der Schwiegermutter nachkommt. Es gibt solche Fälle, das zeigt z.B. die Informantin in Teil IV. Doch es gibt auch Fälle, in denen Schwiegereltern und Schwiegertochter sehr gut miteinander auskommen; die junge Frau fühlt sich in der Schwiegerfamilie wohl, weil sie wie eine Tochter behandelt und ‘geliebt’ wird. Oder sie übernimmt Haushaltsaufgaben in selbstverständlicher Weise, weil das zu ihren rollengebundenen Aufgaben gehört und sich ihr Alltag dadurch überschaubar und berechenbar gestaltet (vgl. Teil II); d.h. sie bewertet die traditionellen Aufgaben einer Schwiegertochter positiv, weil sie sich darüber Ansehen in der Schwiegerfamilie verschaffen kann. b) Heiratsmigrantinnen haben keine Deutschkenntnisse Dies ist ein Stereotyp, das unter Deutschen weit verbreitet ist. Seit dem Zuwanderergesetz 2005 gibt es eine Verpflichtung für Neuzuwanderer zum Deutschlernen und zur Teilnahme an Integrationskursen, die vom BAMF verantwortet und durchgeführt werden. 64 Heiratsmigrantinnen, die davor kamen, mussten keine Sprachkenntnisse nachweisen; sie können aber, wenn sie von staatlicher Unterstützung abhängen, zur Teilnahme am Integrationskurs aufgefordert bzw. gezwungen werden. Seit 2007 gibt es auch in der Türkei (in Istanbul, Izmir, 62 Aus vielen Äußerungen, die ich bei meinen Besuchen in der Türkei gehört habe, weiß ich, dass eine Heirat nach Deutschland z. Zt. wesentlich zurückhaltender betrachtet wird; Eltern haben von gescheiteren Ehen mit einem Deutsch-Türken erfahren und sagen: almancıya kız/ gelin verilmez (‘einem Deutschländer gibt man kein Mädchen / keine Braut’). 63 In solchen Fällen heißt es, die jungen Frauen werden als Dienstmädchen (hızmetçi) benutzt. 64 Seit 2005 haben rund eine halbe Million Zuwanderinnen und Zuwanderer an den Kursen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) teilgenommen (http: / / www.migration-online.de/ beitrag._aWQ9NjkzNw_ .html ); vgl. zu weiteren Details oben Teil II. Necmiye Ceylan 312 Ankara und einigen Städten in Süd- und Ostanatolien) Integrationskurse für Türk(inn)en, die über den Familiennachzug nach Deutschland kommen wollen. Sie bekommen die Einreiseerlaubnis erst, wenn sie die Abschlussprüfung des Integrationskurses bestanden haben. Das bedeutet, dass die seit 2007 Zugewanderten Grundkenntnisse in Deutsch haben und die vor 2005 Eingereisten zum Sprachunterricht verpflichtet werden können. Die Feststellung „Heiratsmigrantinnen haben keine Deutschkenntnisse“ hatte vor 2005 in vielen Fällen Gültigkeit; in der Zwischenzeit kann sie in den meisten Fällen so nicht mehr zutreffen. Dass Heiratsmigrantinnen trotz der Verpflichtung zum Deutschlernen oft keine ausreichenden Kenntnisse erworben haben, hat andere Gründe. Auch das macht Sanem in ihrer Darstellung sehr deutlich. Sie bemüht sich im Kurs Deutsch zu lernen, hat jedoch außerhalb des Kurses keine Gelegenheit Deutsch zu üben. Ähnliche Erfahrungen haben auch andere Kursteilnehmerinnen; sie beklagen, dass sie keine Möglichkeit haben, mit Deutschen zu sprechen. Sie haben kaum deutsche Nachbarn, mit denen sie Kontakte pflegen und ihr Deutsch üben könnten (es fehlt an Sprachanlässen), und wenn, besteht auf Seiten der Deutschen kein Interesse an einer Kommunikation. c) Heiratsmigrantinnen zeigen kein Interesse an Integration 65 Das ist ein verbreitetes Stereotyp unter Deutschen und Deutsch-Türken, ebenso wie unter Türkei-Türken. Dass Migrant(inn)en aus derselben Herkunftskultur auch in der Migration zusammenleben, ist in der Migrationssoziologie vielfach beschrieben und gilt für Migrantengruppen weltweit. In der türkischen Kultur spielen familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen eine große Rolle; es ist wichtig, ein starkes soziales Netzwerk an Freunden und Verwandten zu haben. Daher ist es selbstverständlich, dass Menschen aus derselben Region auch in Deutschland in demselben Stadtteil, oft auch in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander wohnen. Das war vor allem bei der ersten Migrantengeneration der Fall. Bei der zweiten und dritten Generation dagegen spielen Verwandte in der Nachbarschaft keine große Rolle mehr. Doch es ist für junge Paare aus Migrantenfamilien oft sehr schwer, außerhalb ethnischer Wohngebiete eine Wohnung zu finden, 66 so dass sie weiterhin im Mi- 65 Im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet man ‘Integration’ im Sinne einer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft. Aus etymologischer und wissenschaftlicher Perspektive betrachtet handelt es sich beim Terminus ‘Integration’ um ein Phänomen, bei dem zwei Bereiche miteinander verbunden und in Einklang zu bringen sind, demnach bedeutet Integration die Balance zwischen Elementen der Herkunftskultur (etwa der Türkei) und der Aufnahmekultur (der deutschen) (vgl. Esser 2006). 66 Vgl. auch die Erfahrungen der „türkischen Powergirls“, die als „Ausländer“ auf dem freien Wohnungsmarkt keine Wohnung erhielten; siehe Keim (2008). „Ich bin anders: ich bin eine Hochschulabsolventin und eine Intellektuelle“ 313 grantenwohngebiet leben müssen; d.h. für die Konzentration von ethnischen Gruppen in bestimmten Wohngebieten sind auch hohe Barrieren auf dem Wohnungsmarkt verantwortlich (vgl. Nauck/ Kohlmann 1998). 67 d) Heiratsmigrantinnen haben kein Interesse am Bildungserfolg ihrer Kinder Dieses Stereotyp ist in Bildungsinstitutionen weit verbreitet, kommt aber auch bei gebildeten Türk(inn)en häufig vor. Bildungsinstitutionen beklagen, dass Migrantinnen nicht an Aktivitäten der Schule teilnehmen oder nicht zu Elternabenden kommen. Türk(inn)en sind überzeugt, dass „typische Heiratsmigrantinnen“ keinen Zugang zur Bildung ihrer Kinder haben können, da sie selbst nur wenig Bildung genossen haben. Nach meinen Beobachtungen sind Heiratsmigrantinnen sehr an der Schulbildung und der Sprachförderung ihrer Kinder interessiert. Die Klage, dass sie nicht an Aktivitäten der Schulen teilnehmen, hat andere Gründe: Zum einen spielt das mangelnde Wissen über die Bildungssituation in Deutschland eine Rolle, vor allem darüber, was von Eltern in Kindertagesstätten und Schule an Mitarbeit erwartet wird. Migrantinnen aus der Türkei gehen davon aus, dass die Pädagogen und Pädagoginnen sich um Erziehung und Bildung der Kinder kümmern und eine Beteiligung der Eltern sie eher stören würde. Zum anderen spielen negative Erfahrungen mit Vertretern der Institutionen eine Rolle, z.B. deren herablassendes, abwertendes Verhalten, wenn Migrantinnen sich (noch) nicht adäquat in Deutsch ausdrücken können. Solche Erfahrungen hat Sanem sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Aus diesen Gründen meiden die Betroffenen Bildungseinrichtungen, sie fürchten den schroffen und herabsetzenden Ton, der ihnen dort entgegengebracht wird. Ich weiß von den Sorgen junger Mütter über die Zukunft ihrer Kinder; sie beschaffen sich aus dem Umfeld (Freunde, Bekannte, Verwandte) Informationen über eine Schule, bevor sie ihr Kind dort anmelden, sind bereit umzuziehen, damit das Kind in eine gute Schule kommt, und sie wollen, dass das Kind gefördert wird. Heiratsmigrantinnen gehören zu den engagierten und bildungsorientierten Müttern; aufgrund ihrer Sozialisationserfahrungen bringen sie Bildungsinstitutionen großes Vertrauen entgegen. 67 Nauck (1997) weist darauf hin, dass familiären Bindungen kein Hemmnis für den Eingliederungsprozess darstellen, sondern als Unterstützung in der Einwanderungssituation zu betrachten sind. Necmiye Ceylan 314 7. Literatur Böhmer, Maria (2007): Integrationspolitik aus bundespolitischer Sicht: Herausforderungen und Leitlinien. 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Ausgangspunkt 1 In der erziehungswissenschaftlichen Forschung werden vor allem sozialisatorische Ansätze vertreten, die den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg untersuchen. Sie fragen danach, ob und welchen Zusammenhang es zwischen Elternhaus und Schulkarriere der Kinder gibt und sie zeigen, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand und den sozialen/ kulturellen Kommunikations- und Erziehungsstilen der Eltern und dem Schulerfolg der Kinder besteht. Den schulischen Misserfolg der Kinder führen sie auf „Passungsprobleme“ zwischen der Sozialisation des Kindes und den Erwartungen und Anforderungen in der Schule zurück, die sie durch die divergierenden sprachlichen und kulturellen „Codes“ in Elternhaus und Schule erklären. Doch neuere psycholinguistische, soziolinguistische und migrationssoziologische Studien zeigen, dass sozialisatorische Ansätze für die Erklärung komplexer Phänomene wie Schulerfolg bzw. Misserfolg von Migrantenkindern meist zu kurz greifen. Trotzdem werden zur Erklärung des schulischen Misserfolgs von Migrantenkindern in der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion vor allem sozialisatorische Argumente und Grundüberzeugungen herangezogen, vor allem die folgenden: 2 1) die geringe Schulbildung der Eltern und ihre geringen schriftkulturellen Kompetenzen werden als Ursache für die Sprach- und Bildungsprobleme der Kinder betrachtet; die Kinder zeigten eine geringe Lern- und Leistungsbereitschaft, da sie von zuhause zu wenig motiviert würden; 2) die geringe Bildungsorientierung in muslimischen Familien gelte vor allem in Bezug auf die Töchter; sie würden bereits früh auf die weibliche Rolle in traditionellen Familien vorbereitet; 1 Zum Folgenden vgl. auch Keim (2008, S. 94-113). 2 Vgl. dazu auch die jüngste Debatte, die sich an dem Buch von Thilo Sarrazin (2010) und den von ihm vertretenen Thesen entfachte. Die vielen zustimmenden Leserbriefe und Internetbeiträge und die in Umfragen dokumentierte Zustimmung zu seinen Thesen enthalten sozialisatorische Argumente und Grundüberzeugungen. Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 320 3) die Sprachdefizite der türkischen Eltern, die aus der Sicht der türkischen Lehrkräfte „kein richtiges Türkisch“ und aus der Sicht der deutschen Lehrkräfte „kaum Deutsch“ könnten, beeinflussten die geringen Sprachkenntnisse der Kinder in beiden Sprachen; die Folge sei doppelte Halbsprachigkeit; 4) die Kinder könnten durch die ständige Konfrontation mit verschiedenen Sprachen und Kulturen keine stabile soziale und kulturelle Orientierung entwickeln. Diesen in der Öffentlichkeit immer wieder genannten Grundüberzeugungen stellen wir einige Ergebnisse aus neueren Forschungen gegenüber, die sie widerlegen oder zumindest erheblich modifizieren. Zu 1: Gegen die Pauschalisierung der „türkischen Familie“ sprechen vor allem die Befunde von Merkens (1997), Nauck (2000) und (2004), Keim (2008a) und Cindark (2010). Türkische Migrantenfamilien sind weit ausdifferenziert und unterliegen einem enormen Wandel. Es gibt unterschiedlich strukturierte Familientypen, die von sehr traditionellen bis hin zu sehr modernen Familien reichen, mit unterschiedlichen sozial-kulturellen Orientierungen. Nauck (2000) hat vor allem in türkischen Familien hohe Bildungsorientierungen und hohe Leistungserwartungen festgestellt. Und die in unseren Projekten untersuchten jungen Migrant(inn)en der 2. Generation, 3 die aus ehemaligen Gastarbeiterfamilien stammen, sind alle schulisch, beruflich und sozial erfolgreich (mittlere Abschlüsse, Abitur und Studium). Auch in Kunst, Kultur, Politik und Wissenschaft gibt es viele Erfolgreiche mit Migrationshintergrund. Es gibt zwar einen statistischen Bezug zwischen den Bildungsvoraussetzungen der Eltern und dem Schulerfolg der Kinder, der in Deutschland besonders deutlich ausgeprägt ist; 4 es gibt aber keinen kausalen Zusammenhang. Zu 2: Auch die Bildungsbenachteiligung muslimischer Mädchen konnte nicht nachgewiesen werden, wie die Untersuchungen von Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005), Gültekin (2003), Karakaşoğlu-Aydın (2000), Keim (2008) und Ofner (2003) zeigen. Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005) stellen z.B. fest, dass 36% der befragten Migrantenfamilien mit niedrigen (oder keinen) Schulabschlüssen die Töchter zu mittleren und höheren Schul- und Berufsabschlüssen gebracht haben. Gerade muslimische Mädchen nutzen die Migration als 3 Vgl. Aslan (2005), Cindark (2005, 2010), Keim (2008). 4 Vgl. die PISA - und IGLU -Studien, Deutsches PISA -Konsortium (2001) und Bos et al. (2004), nach denen es einen starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg gibt. Z.B. haben Kinder mit vergleichbaren kognitiven Fähigkeiten keine vergleichbaren Bildungschancen: Akademikerkinder sind viermal so oft in Gymnasien wie Arbeiterkinder. Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 321 Chance zur Veränderung traditioneller Frauenbilder, die in vielen muslimischen Gesellschaften (immer noch) weit verbreitet sind. Sie sind in der Migration schulisch und sozial erfolgreicher als Jungen. Das haben auch Untersuchungen in Frankreich und England gezeigt (vgl. Lucassen 2004); dort sind muslimische Frauen der 2./ 3. Generation sozial und beruflich erfolgreicher als Männer und sie sind weniger als diese von den negativen Folgen (Kriminalität und Abweichung) der Migration betroffen. Aus der Sicht der Forschung zeigen vor allem schulisch erfolgreiche muslimische Mädchen ein hohes Maß an Disziplin, Leistungsvermögen und Selbständigkeit (Boos-Nünning/ Karakaşoğlu 2005, Keim 2008, Ofner 2003). Zu 3: In Migrationskontexten ist es normal und weltweit vorzufinden, dass die mitgebrachte Sprache für kürzere oder längere Zeit Familiensprache bleibt. Der Wille zur Aufrechterhaltung/ Pflege der Herkunftssprache steht in engem Zusammenhang zu der sozialen, kulturellen und politischen Situation der Migranten im Aufnahmeland. Unter bestimmten Bedingungen können mitgebrachte Sprachen über Generationen (auch Jahrhunderte) Familiensprache bleiben. Wenn in Migrantenfamilien die Zweitsprache verwendet wird, geschieht das meist über die Kinder und Enkel, für die sie im Laufe ihrer Schul- und Berufsbildung an Bedeutung gewonnen hat. Die von uns untersuchten jungen Migrant(inn)en haben Eltern, die als junge Erwachsene nach Deutschland kamen und Deutsch in der Regel ungesteuert am Arbeitsplatz und im Alltag erworben haben. Ihr Deutsch ist meist auf einem mehr oder weniger rudimentären Lernniveau fossilisiert, viele grammatische Strukturen sind nur unvollständig angeeignet, doch das Lexikon ist in der Regel weit ausgebaut. Diese Eltern konnten für ihre Kinder keine sprachlichen Vorbilder für die Zweitsprache sein. Die Kinder erwarben Deutsch mit dem Eintritt in Kindergarten und Schule. Das gelang ihnen, weil sie bildungsorientierte Eltern, u.a. auch verständnisvolle Pädagog(inn)en und deutsche Freunde hatten, die ihren Zweitspracherwerb unterstützten. Die guten Schul- und Universitätsabschlüsse belegen ihren Erfolg. Das rudimentäre Deutsch der Eltern hatte keinen nachteiligen Einfluss auf den Zweitspracherwerb der Kinder, da die Kinder im Laufe ihrer Schul- und Ausbildungszeit kompetente Sprachvorbilder und ausreichenden deutschsprachigen Input erhalten hatten. Neben Deutsch sprechen viele der untersuchten jungen Migrant(inn)en die Familiensprache und deutsch-türkische Mischungen. Sprachliche Mischungen sind kein Anzeichen für defizitären Spracherwerb, das hat die Forschung zu Genüge gezeigt. 5 Mischungen zeugen von musterorientierten Verknüpfun- 5 Vgl. die sehr umfangreiche Forschung zum Code-Switching und Code-Mixing, die mit der Arbeit von Poplack (1980) zu einem weltweiten Boom führte. Auch in unseren Untersu- Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 322 gen der verfügbaren Sprachen, 6 zeigen die hohe Kreativität der Sprecher und bilden stilistische Ressourcen. Sprecher, die virtuos mischen, haben sehr oft eine hohe Kompetenz in beiden Sprachen (auf jeden Fall im grammatischen Bereich). Mischungen machen nur einen Teil ihres Sprachrepertoires aus. Zu 4: Eine gesunde Identitätsentwicklung ist nicht an nur eine Sprache gebunden. Es gibt prinzipiell keinen Grund, warum sich mehrsprachige Menschen nicht zu mehreren Sprachgemeinschaften zugehörig fühlen sollten. Viele beanspruchen auch dezidiert und selbstbewusst eine hybride Identität (vgl. dazu die Arbeiten in Hinnenkamp/ Meng (Hg.) 2005, Keim 2008, Myers-Scotton 2006). Mehrsprachigkeit bedeutet nicht, dass Sprecher in all ihren Sprachen in allen Situationen und über alle Themen gleich differenziert kommunizieren können. Die „perfekte“ Beherrschung einer Sprache ist eine Idealvorstellung; auch Monolinguale beherrschen in der Regel nicht alle Facetten ihrer Sprache, viele nur Ausschnitte davon. In unserer Untersuchung in Mannheim haben wir auch bei sog. „Problemhauptschülern“ ein weit ausdifferenziertes Sprachrepertoire festgestellt. Was sie jedoch (noch) nicht ausreichend beherrschten, waren die schriftkulturellen Anforderungen der Schule. Dieser Befund deutet darauf hin, dass ihre mündlichen Fähigkeiten in der Schule nicht erkannt oder unterschätzt und nicht zu schriftkulturellen Kompetenzen weiterentwickelt wurden. 7 2. Idee zu einem Praxisprojekt Die Autorinnen - Necmiye Ceylan, Emran Sirim und Inken Keim - hatten 2005 die Möglichkeit, ein Praxisprojekt zur sprachlichen Unterstützung von Heiratsmigrant(inn)en zu entwickeln. 8 Das Projekt war auf zwei Jahre angelegt und wurde aus Mitteln der EU finanziert. Wir führten das Projekt von Anfang 2006 bis Ende 2007 in drei Mannheimer Stadtteilen mit einem hohen Migrantenanteil durch. Ziel unseres Projektes war es, chungen konnten wir zeigen, dass die meisten Informant(inn)en neben grammatisch korrektem Deutsch auch Code-Switching und Code-Mixing praktizierten und ihre weiten sprachlichen Fertigkeiten als kommunikative Ressource einsetzen. 6 Wobei die Regeln der beteiligten Sprachen berücksichtigt werden. 7 Vgl. Keim/ Knöbl (2007) und Keim (2008). 8 Das Projekt war zunächst als Begleitprojekt geplant zu einem Sprachförderprojekt für Grundschulkinder der 1. Klasse, das unter Leitung der Forschungs- und Kontaktstelle für Mehrsprachigkeit an der Universität Mannheim (Leitung Prof. R. Tracy) durchgeführt wurde; zur Sprachförderung vgl. Tracy (2005, 2008). Die Eltern bzw. Mütter dieser Kinder sollten über Lernen in zwei Sprachen, über den Umgang mit Mehrsprachigkeit, über Lerntechniken, über Schulprobleme der Kinder etc. informiert werden. Doch unsere Initiative bekam eine starke Eigendynamik, so dass wir gemeinsam mit den Frauen ein eigenständiges Projekt entwickelten. Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 323 - die Erziehungs- und Bildungskompetenz der Migranteneltern zu stärken, um den Schulerfolg der Kinder zu erhöhen und - die Kompetenz der Eltern in Herkunftssprache und -kultur für eine bilinguale Entwicklung der Kinder zu nutzen. Wir wollten den Eltern Informationen über das deutsche Schulsystem, über Schulkarrieren, über schulische Anforderungen an die Kinder und an die Mitarbeit der Eltern vermitteln, und ihnen Wissen über sprachliche und fachliche Fördermöglichkeiten anbieten. Wir wollten die Mütter und Väter ermutigen, ihren Kindern ein reiches Angebot in der Herkunftssprache zu machen, mit ihnen zu spielen, zu singen, ihnen Geschichten zu erzählen und vorzulesen. Die Eltern sollten zu Alltagsangelegenheiten in Deutschland und zu dem Wissen, das ihre Kinder in der Schule in Deutsch erwerben, ein entsprechendes Wissen in den Erstsprachen aufbauen bzw. mobilisieren. Aufgrund der starken Nachfrage, der sprachlichen Homogenität der Interessierten - es kamen fast ausschließlich junge Mütter aus der Türkei, insgesamt 40 Personen - und aufgrund ihrer Wünsche entwickelten wir ein Projektprogramm, das sich an diesen Frauen orientierte. Sie wollten Informationen zum deutschen Schul- und Bildungssystem, zur Verbesserung der Lernmotivation der Kinder und zu Anlaufstellen bei sozialen und schulischen Problemen. Sie hatten viele Fragen zum Umgang mit Zwei- und Mehrsprachigkeit in Familie und Schule und zum Umgang mit Medien (Fernsehen, Computer, Internet). Außerdem wollten sie Erziehungsfragen mit uns diskutieren, ebenso wie Fragen zur Religion. Die Frauen beklagten ihre gesellschaftliche Isolation aufgrund fehlender Deutschkenntnisse, und ihr größtes Interesse war es, Deutsch zu lernen. Bei der Planung und Durchführung nahmen wir alle Interessen der Frauen auf. Bei Themen, die wir aufgrund unserer Vorkenntnisse nicht professionell behandeln konnten, holten wir uns Unterstützung in den Schulen, bei Sozialpädagog(inn)en oder in der Fachliteratur. Wir planten wöchentlich 8 Stunden, die meiste Zeit sahen wir für den Deutschunterricht vor. Die Kurse wurden von Emran Sirim und Necmiye Ceylan durchgeführt, beide Linguistinnen und Migrantinnen türkischer Herkunft. 3. Projektdurchführung Wir befragten zunächst die Schulen, was aus ihrer Perspektive den Schulstart der Kinder erleichtern würde, was die Schule von Kindern und Eltern erwartet und wie die Eltern am Schulleben der Kinder beteiligt werden könnten. Die Schulen begrüßten unsere Projektidee, stellten Unterrichtsräume zur Verfü- Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 324 gung, gaben uns die notwendigen Informationen und waren zu Treffen mit den Eltern bereit. Im Rahmen eines Elternabends warben wir bei den Eltern der Erstklässler für unser Angebot. Im Juni 2006 starteten wir mit den Kursen an drei Mannheimer Schulen, jeweils an zwei Tagen vormittags (9.00-12.00, während des Unterrichts der Kinder). Unser Angebot wurde sehr gut angenommen. Wenn wir parallel zu den Kursen auch eine Betreuung für Kleinkinder hätten anbieten können, hätten noch mehr Mütter teilgenommen. Unseren Zielen entsprechend führten wir zwei Typen von Angeboten durch, die im Folgenden dargestellt werden: Informationsveranstaltungen und Deutschkurse. 3.1 Informationsveranstaltungen zu den von den Frauen gewünschten Themenbereichen Diese Veranstaltungen fanden in Türkisch statt. Zusammen mit den Frauen wurden umfangreiche Informationen zu folgenden Themen zusammengetragen: - Monolingualer und bilingualer Spracherwerb und der Umgang mit mehreren Sprachen; dazu konnten wir auf unsere eigenen Forschungsarbeiten und auf Forschungsergebnisse zum mono- und bilingualen Spracherwerb zurückgreifen. - Erwerb von Lesekompetenz und Schriftsprachlichkeit; dazu verwendeten wir die entsprechende linguistische Fachliteratur. - Religion und religiöse Feste, Islam und Christentum; dazu holten wir uns Informationen aus der Fachliteratur. - Umgang mit Medien. - Verbesserung der Lernmotivation und -haltung der Kinder. - Anforderungen/ Erwartungen der Schule und Informationen für die Schullaufbahnen der Kinder. Die letzten drei Themen bereiteten wir in enger Zusammenarbeit mit den Schulen und mit Sozialpädagog(inn)en vor. Es gelang uns auch Treffen zwischen Eltern und Lehrenden zu organisieren. Die Veranstaltungen wurden nicht nur von den Kursleiterinnen vorbereitet, sondern je nach Vorkenntnissen bereiteten auch die Frauen selbst Kurzreferate vor, indem sie Informationen aus dem Internet, aus Zeitschriften, aus Gesprächen mit Lehrkräften u.Ä. vorstellten und eigene Probleme, Fragen und Wün- Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 325 sche formulierten. Bei der Informationsbeschaffung wurden sie von den Kursleiterinnen unterstützt, z.B. durch gemeinsamen Besuch eines Internetcafés und der Stadtbibliothek. Die Referate der Frauen wurden von den Kursleiterinnen problematisiert, erweitert und ergänzt. Über verschiedene Positionen zu Einzelaspekten wurde diskutiert, die Ergebnisse wurden von den Kursleiterinnen zusammengefasst und allen zur Verfügung gestellt. Durch das Verfassen von Kurzreferaten und durch die anschließende Diskussion konnten die Teilnehmerinnen die Herstellung von Texten, die Anwendung argumentativer Strukturen und die Durchsetzung eigener Positionen üben. In einem Fall modifizierten wir auf Anraten der Schulrektorin unser Angebot. Wir knüpften an Unternehmungen der Schulklassen an (Ausflüge, Stadtbibliothek, Kindertheater), bereiteten (in Absprache mit den Klassenlehrerinnen) die Eltern sprachlich auf die Unternehmung vor, boten das für die Unternehmung notwendige organisatorische und kulturelle Wissen in Deutsch und in Türkisch an, so dass die Eltern über die Unternehmung Bescheid wussten und mit ihren Kindern alles besprechen konnten. Das stärkte sowohl ihre Kompetenz (sie wussten Bescheid), als auch das Selbstbewusstsein der Kinder, die die Schulunternehmung wesentlich besser verstehen und verarbeiten konnten. 3.2 Deutschunterricht Den Heiratsmigrant(inn)en sollte ein Deutschkurs angeboten werden, der sie mit den alltäglichen und schulischen Anforderungen in Deutsch vertraut machen sollte; ihnen sollte die Angst vor dem Fremden und vor der deutschen Schul- und Lebenswelt genommen werden. Alle Teilnehmerinnen waren Anfängerinnen. Wir richteten den Unterricht nach den schulischen Vorkenntnissen und dem Lernverhalten der Teilnehmerinnen aus. Zentrales Ziel der Kurse war, den Teilnehmerinnen die Grundstrukturen des Deutschen zu vermitteln und sie dazu zu bringen, die Angst vor dem Sprechen zu verlieren. Deswegen begrenzten wir die Teilnehmerzahl pro Kurs auf 6-8 Teilnehmerinnen. Während des Unterrichts sollte es viele Gelegenheiten zu Interaktionen, Frage-Antwort-Folgen, Rollenspielen, Berichten und Erzählungen geben, und jede Teilnehmerin sollte die Möglichkeit haben, mehrmals in Deutsch zu formulieren. Ausgangspunkt jeder Unterrichtseinheit war ein Thema, das die Frauen gewählt hatten. Es waren alltagsrelevante Themen wie: Familie, Schule, Beruf, Medien, Behörden, Verkehr, Körper, Krankheiten (Kinder und Erwachsene), Lebensmittel, Feste und Erziehung. Dazu wurde von uns ein thematisch passender Text vorbereitet bzw. angefertigt - Sachtext, Geschichte oder Dialog-, Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 326 der auf dem Kenntnisniveau der Teilnehmerinnen aufbaute, und der gleichzeitig einen neuen grammatischen Bereich einführte. Unsere Materialien besorgten wir uns aus gängigen Lehrbüchern für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache oder aus Lehrtextsammlungen aus dem Internet. Die Arbeit mit den Texten wurde folgendermaßen gestaltet: - Lesen der Texte, Einüben der deutschen Phonetik, Prosodie und Intonation; - Erklären neuer Vokabeln und Sichern des Textverständnisses, zunächst satz-, dann absatzweise; Wortschatzarbeit, Zusammenstellen von Wortfeldern; - Fragen zum Text und Antworten mit dem Sprachmaterial des Textes; Einüben der neuen Lexik und der neuen Grammatikstrukturen, selbständiges Formulieren von Äußerungen; - mündliches Zusammenfassen bzw. Nacherzählen des Textes; Einüben von Textstrukturen; - Weiterspinnen des Textes, eigene Interessen und Erfahrungen einbringen; freier Umgang mit dem Textmaterial, Bezug zu eigenem Erfahrungsbereich, Rollenspiel. Grammatikarbeit: Zu jeder Unterrichtseinheit gab es Übungen zu den neuen grammatischen Strukturen und dem neuen lexikalischen Material, z.B. Lückentexte, Umformulierungen, Zuordnungsübungen etc. Die Übungen wurden im Unterricht mündlich und zuhause schriftlich erledigt und am Beginn der Folgesitzung korrigiert. Die Mütter arbeiteten mit hohem Eifer, erledigten Hausaufgaben und wollten in Deutsch regelmäßig Tests mit Noten. Ihrem Wunsch nach mehr Deutschunterricht konnten wir leider aus Kapazitätsgründen nicht nachkommen. 3.3 Probleme der Eltern Als wesentliches Problem der Eltern erkannten wir, dass sie nicht wussten, wie sie selbst aktiv an der Schulkarriere ihres Kindes teilnehmen könnten, und was das im Detail für sie bedeutete. Das deutsche Schulsystem, die Möglichkeiten, die es für Schulkarrieren gibt, und die Anforderungen der Schule an Kinder und Eltern sind vielen Migranteneltern immer noch zu wenig bekannt. Die in deutschen Bildungsinstitutionen geltenden Erziehungsgrundsätze für Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 327 Kinder - die Erziehung zu Selbständigkeit, zu Selbstdisziplin und zu Eigenverantwortung - sind vielen Familien eher fremd, da sie sich an anderen Werten und Normen orientieren und ihre Kinder danach erziehen wollen. Oft unterschätzen sie auch die Bedeutung der mündlichen und schriftlichen Beherrschung des Deutschen für den Schulerfolg der Kinder. Wir versuchten klarzumachen, dass eine Förderung der sozialen und sprachlichen Kompetenzen der Kinder sehr früh in den Familien einsetzen sollte und dass dazu das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern, das Erzählen und Vorlesen von Märchen und Geschichten, das Erklären von Zusammenhängen und das Begründen und Einüben von sozialen Regeln gehörte. Aus den Förderkursen für Kinder wussten wir, dass es vielen schwer fällt, eine Geschichte zu erzählen, einen Zusammenhang darzustellen oder ein Spiel zu erklären; diese Probleme bestehen sowohl im Türkischen als auch im Deutschen. D.h., den Kindern fehlte nicht nur sprachliches Wissen, sondern auch das Wissen über Kommunikationsformen wie Erklären, Beschreiben und Erzählen. Hier können die Eltern die schulischen Bemühungen unterstützen, indem sie den Kindern in der Erstsprache sprachliches und kommunikatives Wissen vermitteln: Wie sieht eine spannende Erzählung aus? Was ist eine plausible Erklärung oder eine präzise Beschreibung? Ein weiteres Problem sind der Erziehungsstil und die Kommunikationskultur in vielen Familien. 9 Kinder werden angehalten, in Gegenwart von Erwachsenen zurückhaltend, bescheiden und still zu sein; Neugierde, Initiativen, Erfragen von Informationen, Bitten um Begründungen etc. werden einem Erwachsenen gegenüber eher als ungehorsam bewertet und unterbunden. Außerdem beschreiben und erklären in einer Reihe von Familien die Eltern den Kindern wenig, sie ordnen an und erwarten Gehorsam. 10 Diese Art des Umgangs zwischen Eltern und Kindern wird in der soziolinguistischen Forschung für viele Länder beschrieben; 11 sie gilt als charakteristisch für bestimmte soziale Milieus, 9 Zur Familienstruktur in türkischen Familien vgl. u.a. die Arbeiten von Merkens (1997), von Nauck (2000, 2004). Keller (2004, S. 104ff.) beschreibt unterschiedliche Erziehungsstile in türkischen und deutschen Familien. Sie charakterisiert das Selbstkonzept, das dem türkischen Erziehungsstil zugrunde liegt, als „interdependent“, wonach das Individuum sich als „mit anderen verbunden“, sich „harmonisch in die Gruppe einfügend“ und „mit anderen Mitgliedern kooperierend“ versteht. „Konformität, Harmonie und Empathie mit anderen sind wesentliche Bestandteile der interdependenten Identität.“ Sozialisationsziele sind absolute Autorität der Eltern über die Kinder und auf Seiten der Kinder Gehorsam, Respekt, Rücksicht und Pflichtbewusstsein gegenüber den Eltern. 10 Wenn sich allerdings Großeltern um die Kinder kümmern, haben wir auch intensive Kommunikationen zwischen Opa/ Oma und Enkel beobachtet. 11 U.a. für die USA , für England und auch die einheimische deutsche Bevölkerung. Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 328 unabhängig vom ethnisch-kulturellen Hintergrund. 12 In den von uns beobachteten Fällen werden z.B. alltägliche Gegenstände nicht explizit benannt, sondern auf sie wird durch das ding da verwiesen. In unseren Fortbildungsveranstaltungen wiesen wir auf die mangelnde Kommunikation mit Kindern und die oft fehlende Explizitheit (die „Ding-Kultur“) hin. Und immer wieder erlebten wir, dass den Müttern gar nicht bewusst war und sie erstaunt darüber waren, wie wenig sie im Alltag mit ihren Kindern sprachen. Die neue Erkenntnis formulierte eine der Mütter folgendermaßen: Seit dem Gespräch mit dir (N. Ceylan) verbringe ich viel mehr Zeit mit meinem Kind, wie du gesagt hast gehe ich mit meinem Kind einkaufen und ich spreche viel und versuche vieles zu benennen, das fällt mir sehr schwer weil ich das nicht kenne, alles zu benennen, ich merke auch dass mir viele Begriffe unbekannt sind, aber ich verbringe qualitative Zeit mit meinem Kind, ich beobachte welche Entwicklungen es macht, es ist einfach schön, ich danke dir dafür. 3.4 Unternehmungen und Ausflüge Wir führten Ausflüge und Unternehmungen mit und ohne Kinder durch. Die thematischen und organisatorischen Vorbereitungen erledigten die beiden Kursleiterinnen. Ohne Kinder gingen wir in die Stadtbibliothek, den deutschtürkischen Leseladen und ein Internetcafé. Die Stadtbibliothek wurde von der Bibliotheksleitung vorgestellt (wir halfen bei der Übersetzung) mit dem Fokus auf den Angeboten, die die Frauen interessierte: Spiele und Bücher für Kinder, Beratungsliteratur für Eltern. Im Leseladen gibt es ein Angebot an deutschen und türkischen Kinderbüchern und Spielen und an Büchern für Erwachsene. Die Einrichtung wird von einer deutsch-türkischen Sozialpädagogin geleitet, die für viele Frauen die erste Anlaufstelle bei familiären oder Erziehungsproblemen ist; außerdem wird Nachhilfe und Deutschunterricht für die Kinder angeboten. Das Internetcafé interessierte die Frauen besonders; hier konnten sie sich zu allen interessierenden Themen Informationen in Türkisch beschaffen. 12 Vgl. Bernstein (Hg.) (1975), der den restringierten Code für die soziale Unterschicht in England beschrieben hat; vgl. auch Bernstein/ Brandis/ Henderson (1973), die einen engen Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Sprachgebrauch zeigen, wonach die geringe Bereitschaft zur Kommunikation, der Gebrauch kategorischer Ge- und Verbote, wenig komplexe Begründungen, geringe Explizitheit etc. in Unterschichtfamilien mit dem restringierten Code der Kinder korreliert; für Deutschland haben u.a. Oevermann (1972) und für die USA u.a. Heath (1983) Studien zum Zusammenhang von Sozialstruktur und Sprachbzw. Kommunikationsverhalten durchgeführt; vgl. auch die Arbeiten von Milroy (1980), die zeigt, dass in verschiedenen sozialen Netzwerken ein unterschiedliches sprachliches und kommunikatives Verhalten praktiziert wird. Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 329 Die Unternehmungen zusammen mit den Kindern waren Tagesausflüge, die die Frauen nur an den Wochenenden durchführen wollten. Wir begrenzten sie auf die Städte Mannheim und (das benachbarte) Heidelberg und bereiteten sie folgendermaßen vor: Wir besorgten Stadt- und Nahverkehrspläne und suchten gemeinsam mit den Frauen den Zielort aus, z.B. den Zoo oder das Schloss in Heidelberg, oder den Luisenpark in Mannheim. Dann suchten wir gemeinsam nach günstigen Nahverkehrsverbindungen und klärten anhand der Stadtpläne den Weg zu den Sehenswürdigkeiten. Auf diese Weise lernten die Frauen, die das noch nicht konnten, Stadt- und Fahrpläne lesen. Auf dem Heidelberger Schloss besuchten wir neben der Ruine und den zugänglichen Schlossräumen auch das deutsche Apothekenmuseum. 13 Für die meisten Frauen war das der erste Besuch eines Museums. Sie waren überwältigt von der Ausrichtung des Museums, dem für sie völlig neuen Wissensgebiet, der mittelalterlichen Apothekenausstattung und dem mittelalterlichen Labor zur Herstellung von „Gold“. Da wir die Neugierde der Kinder und den Wissensdurst der Frauen vor Ort nicht befriedigen konnten (auch uns fehlten viele Details), schrieben alle die Bezeichnungen von Exponaten auf, die sie besonders interessierten. Zuhause sollten Informationen zu den Exponaten im Internet recherchiert oder in der Stadtbibliothek eruiert und in den nächsten Unterrichtsstunden zusammengetragen werden. Wir stellten gemeinsam eine Art Basis-Sachwissen (in Bild und Text) in Deutsch und in Türkisch zusammen, das die Frauen mit ihren Kindern betrachten und besprechen konnten. Nach dem Besuch des Schlosses und einem Gang durch die Stadt Heidelberg nahmen sich die Frauen vor und trauten es sich auch zu, selbständig mit den Kindern nochmals einen Ausflug nach Heidelberg zu machen. Sie hatten gelernt, sich Informationen über Sehenswürdigkeiten zu beschaffen, Stadtplan und Fahrpläne zu lesen, die Nahverkehrsmittel zu benutzen und bei Bedarf nach Informationen zu fragen. Eine besondere Erfahrung war auch der Besuch im Mannheimer Luisenpark, 14 einem großen Freizeitpark mit Tiergehegen, Pflanzenschauhaus und Spiel- 13 Das seit 1957 in Heidelberg ansässige Deutsche Apotheken-Museum ist das zentrale deutsche Museum zur Geschichte der Pharmazie. Es besitzt umfangreiche Sammlungen, deren Exponate den gesamten deutschsprachigen Raum von der Antike bis ins 21. Jhd. umfassen. Die Ausstellung zeigt z.B. vollständige Apothekeneinrichtungen aus der Zeit der Renaissance, des Barock, des Biedermeier und aus den 1930er Jahren, eine große Sammlung emailbemalter Gläser des 18. Jahrhunderts, technische Geräte aus dem 17.-19. Jhd. und Fayencen aus dem 16.-18. Jhd. Zu den Exponaten gehören auch Haus- und Reiseapotheken, Gewürze und „magische“ Mittel wie Alraune und Mumia. Zu den Höhepunkten gehört ein Laboratorium im kuppelüberwölbten Apothekerturm des Schlosses, das an die Wirkungsstätte des Dr. Faustus erinnert. 14 Der Mannheimer Luisenpark entstand von 1892 bis 1903 und wurde 1896 nach der Großherzogin Luise benannt. Überregionale Bedeutung erhielt der Park durch die Bundesgarten- Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 330 plätzen. Da es regnete, konnten wir nur die überdachten Sehenswürdigkeiten im Luisenpark besuchen, das Pflanzenschauhaus und die Aquarien. Die Kinder waren begeistert und die Frauen erlebten, dass man auch bei Regen mit den Kindern wunderbare Dinge unternehmen kann. Wir hatten viel Zeit, die einzelnen Tiere, wie z.B. Fische, Schlangen, Kröten, Eidechsen und Krokodile eingehend zu beobachten und darüber zu sprechen. Die Frauen schrieben wieder die Namen der sie besonders interessierenden Tiere auf, fragten entweder direkt in der Ausstellung nach Informationsmaterial oder besorgten es sich aus dem Internet bzw. aus Büchern der Bibliothek. Das Urteil einer Teilnehmerin über die Ausflüge mit den Kindern: Sie waren schön, sehr lehrreich und haben viel Spaß gemacht. 4. Die Teilnehmerinnen und ihre Kinder 4.1 Die Frauen Die Frauen waren zwischen 25 und 36 Jahren alt. Sie kamen alle als Heiratsmigrantinnen nach Deutschland und lebten seit 3 bis 15 Jahren in Mannheim. Mit einer Ausnahme hatten alle Frauen Kinder im Alter zwischen 4 und 14 Jahren. Der Alltag der Frauen spielte sich vor allem in der Familie ab. Keine der Frauen hatte vorher einen Deutschkurs besucht, alle hatten die Pflichtschulzeit in der Türkei absolviert, einige das Gymnasium abgeschlossen und zwei Frauen eine akademische Ausbildung. Einige Frauen waren in der Türkei berufstätig gewesen und hatten als Bauzeichnerin, Bauingenieurin oder Lehrerin gearbeitet. Einige wollten arbeiten, bekamen aber wegen fehlender Deutschkenntnisse keine Arbeit. Keine der Frauen hatte private Kontakte zu Deutschen, und nur eine Frau arbeitete als Putzfrau mit einer deutschen Frau zusammen. Die Frauen waren hoch motiviert Deutsch zu lernen. Zu Beginn der Kurse hatten einige Frauen bereits eine Art „Gastarbeiterdeutsch“ erworben, eine pidginisierte Form des Deutschen, in der eine Reihe morpho-syntaktischer Regeln nicht vorhanden waren (z.B. ich putzen machen, nix Fabrik gehen). Für diese Frauen - wie für alle Sprecher pidginisierter Formen - war es äuschau 1975, zu der er auf insgesamt 41 Hektar erweitert wurde. Hauptattraktionen sind der 40 000 Quadratmeter große „Kutzerweiher“ mit Booten, die an einem Unterwasserseil gezogen werden; die Open-Air-„Seebühne“, auf der Konzerte, Musicals und Operetten aufgeführt werden; das Chinesische Teehaus (das größte Teehaus in Europa) und das „Pflanzenschauhaus“ mit dem Schmetterlingshaus, den exotischen Pflanzen, den Volieren und den Süß- und Salzwasseraquarien. Außerdem gibt es einen Vogelzoo, einen Streichelzoo und einen großen, gut ausgestatteten Spiel- und Bolzplatz. Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 331 ßerst schwierig, die pidginisierten Formen abzubauen und morphologischsyntaktisch richtige Formen aufzubauen, deren Beherrschung eine unabdingbare Voraussetzung für qualifizierte Arbeit ist. Dieser „beschwerliche Umweg“ kann nur durch einen frühzeitigen und intensiven Unterricht in der Zweitsprache verhindert werden. 4.2 Die Kinder 15 4.2.1 Das Türkische Da die Frauen mindestens die Pflichtschulzeit absolviert hatten und viele einen Lise 16 -Abschluss aus der Türkei mitbrachten, sprachen viele Kinder ein standardnahes Umgangstürkisch mit dialektalen Einflüssen. Außerdem beeinflussten die türkischen Medien und eine dichte türkischsprachige Gemeinschaft den Türkischerwerb der Kinder. Ihr Türkisch war im morphologischen und syntaktischen Bereich altersgemäß gut ausgebildet. Die Wortschatzentwicklung hing von der Kommunikation und Wissensvermittlung zuhause ab. In den Lebensbereichen Familie, Feste und Religion war das Lexikon im Türkischen differenziert ausgebaut; im Bereich Kindergarten und Schule war der Wortschatz in Deutsch weiter ausgebaut als in Türkisch. 4.2.2 Das Deutsche Für die meisten Kinder war Deutsch die Zweitsprache. Es gab Kinder, die zuhause von älteren Geschwistern oder den Eltern (der 2. oder 3. Generation) Deutsch gehört hatten; ihr Deutsch war oft weit entwickelt. Kinder, deren Mutter Heiratsmigrantin ist, hatten meist nur die Erstsprache gehört und gesprochen. Mit dem Eintritt in den Kindergarten begann ihr Zweitspracherwerb Deutsch (wie beim Erstspracherwerb) mit Ein- und Zweiwortäußerungen, z.B. puppe, ball da, ich des, du machen. Wenn diese Kinder konstant reichen und vielfältigen Input in Deutsch bekommen und viele Möglichkeiten zur Interaktion mit kompetenten Sprechern haben, erwerben sie in kurzer Zeit die Grundstrukturen des Deutschen; das konnten wir in Fallstudien zeigen. 17 Wenn 15 Inken Keim und Sema Aslan dokumentierten die sprachlich-kommunikative Entwicklung von einigen Kindern im letzten Kindergartenjahr und im 1. Schuljahr mit Ton- und Video. Diese Aufnahmen wurden von Keim (2007, Fallanalyse) und Aslan (i.Vorb.) ausgewertet und analysiert. Zum kindlichen Erwerb des Türkischen vgl. den Forschungsbericht von Sirim (2009). 16 Lise entspricht dem deutschen Gymnasium. 17 Keim (2007) zeigt in einer Fallanalyse, dass ein Kind, das mit minimalen Deutschkenntnissen (Zwei- und Dreiwortsätze) in die Schule kam und in unserem Sprachförderprogramm Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 332 sie jedoch kaum deutschsprachige Vorbilder haben, weil es z.B. keine deutschsprachigen Spielkameraden gibt und die Erzieherin als einzige Deutschsprecherin kaum Zeit für die einzelnen Kinder hat, bilden die Kinder eigene, kindergruppenspezifische Kommunikationsweisen aus: einerseits Mischungen, andererseits reduzierte Formen des Deutschen, das sie als lingua franca verwenden (vgl. Aslan i.Vorb.). 4.3 Gelungene Kooperation zwischen Migranteneltern und einer Sprachförderlehrerin Mit einem Erfahrungsbericht wollen wir zeigen, wie eine gelungene Kooperation zwischen Migranteneltern und Lehrenden zum Lernerfolg der Kinder beitragen kann. Der Erfahrungsbericht stammt von Necmiye Ceylan, die eine Sprachförderung von Erstklässlern durchführte. In ihrem Bericht zeigt sie, dass es ihr erst durch die Mitwirkung der Eltern gelang, die Kinder zum Deutschlernen zu motivieren und sie zu einem erfolgreichen Zweitspracherwerb zu bringen. In meiner Gruppe waren sechs Kinder türkischer Herkunft, vier Mädchen und zwei Jungen, zwischen 5-6 Jahren. Den Kindern verschwieg ich zunächst, dass ich Türkisch spreche. Die Kinder waren sehr unmotiviert und wollten kein Deutsch lernen. Sie waren lebhaft, unruhig, zappelig und unkonzentriert, langweilten sich schnell, waren untereinander und mir gegenüber unhöflich, nahmen sich Stifte ab ohne zu fragen, beschimpften sich in Türkisch, da sie davon ausgingen, dass ich sie nicht verstand etc. Bevor ich mich auf Sprachförderung konzentrieren konnte, musste ich in der Gruppe zunächst Disziplin herstellen und das Sozialverhalten der Kinder verbessern. Das gelang mit sehr viel Geduld, mit vielen Gesprächen und Erklärungen und vor allem mit Hilfe der Eltern. Ich sprach sie auf Türkisch an, beschrieb ihnen das Verhalten der Kinder und beriet mit ihnen, wie sie mich bei der Arbeit unterstützen könnten. Die Eltern waren überaus bereit, mit mir die Erziehung der Kinder vorzunehmen. Sie sprachen mit den Kindern, verstärkten die Kontrolle von Verhaltensregeln und fragten immer wieder nach, ob sich etwas verbessert hätte. Über jeden Fortschritt freuten sie sich. Nach ungefähr drei Monaten sah das Bild im Klassenzimmer ganz anders aus. Die Kinder kamen regelmäßig und freuten sich mich zu sehen. Wenn sie von mir oder den Mitschülern etwas haben wollten, fragten sie höflich, ein danke und bitte war immer dabei. Die Kinder unterstützten sich gegenseitig und machten sich nicht mehr übereinander lustig. Nachdem die Kinder wussten, dass ich auch Türkisch spreche, wollten sie wiszweimal wöchentlich 2 Stunden in einer kleinen Gruppe gefördert wurde, nach 9 Monaten die Grundstrukturen des Deutschen erworben hatte. Vgl. auch die Analysen von Aslan (i.Vorb.). Allerdings bräuchten die Kinder langfristige Unterstützung, wenn im Laufe der Schulzeit auch die Aneignung von Schriftsprachlichkeit gelingen soll. Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 333 sen, warum ich mit ihnen nur Deutsch gesprochen hatte. So kamen wir ins Gespräch über Sprache bzw. die Sprachen, die ein Mensch lernen kann. Einige Kinder aus der Gruppe behaupteten, dass ihre Mütter kein Deutsch könnten, aber trotzdem zurecht kämen, und sie erklärten, dass sie auch kein Deutsch lernen wollten, weil jeder sagen würde, dass sie es lernen müssten. Auch darüber sprach ich mit den Eltern; sie sollten die Kinder davon überzeugen, dass sie ohne Deutschkenntnisse nie gut in der Schule sein könnten. Vor allem aber sollten die Eltern/ die Mütter ihnen klar machen, wie schwer es sei, ohne Deutsch zurechtzukommen, und dass sie selbst Deutsch lernen wollten. Allmählich gelang es mir, dass die Kinder Spaß an der Sprache bekamen. Ich verfolgte (unserem Förderansatz entsprechend) ein offenes Konzept; d.h. ich richtete mein Angebot nach den Wünschen der Kinder. Ich besorgte interessante deutschsprachige Wettkampf-Spiele, Rätsel, Tiergeschichten, für die sich einige Kinder begeisterten; andere wollten etwas über Erdbeben, Urgeschichte und Dinosaurier wissen. Damit der Wunsch jedes Kindes erfüllt werden konnte, behandelten wir bei jedem Treffen ein „Thema“, das durch Bildmaterial, kleine Geschichten, Lieder oder durch Malen und Rollenspiele vertieft wurde. In der Kleingruppe überwanden schüchterne Kinder die Angst vor dem Sprechen und nahmen aktiv am Geschehen teil. Vor allem aber gaben sich die Kinder große Mühe, im Unterricht Deutsch zu sprechen; sie wollten mir zeigen, dass sie das ebenso gut konnten wie ich, und sie wollten, dass ich ihren Eltern darüber berichtete. Wenn sie etwas auf Türkisch sagen wollten, fragten sie mich um Erlaubnis. Ein weiteres Problem war der hohe Medienkonsum der Kinder. In vielen Migrantenhaushalten läuft der Fernseher fast den ganzen Tag, sogar in der Küche. Oft steht auch in den Kinderzimmern ein Gerät, und da kleine Kinder mit größeren Geschwistern ein Zimmer teilen, haben die Kleinen schon sehr früh Kontakt mit dem Fernseher. In vielen Familien gilt Fernsehen als etwas Selbstverständliches und es wird kaum kontrolliert, welche Sendungen sich die Kinder anschauen. In jener Zeit lief in den türkischen Medien eine bekannte Telenovela, und diese Serie war den meisten Kindern meiner Gruppe bekannt. Die Kinder kamen oft müde in den Unterricht, weil sie sich am Vorabend diese Novela angeschaut hatten, und wollten ständig darüber sprechen. Das änderte sich, nachdem ich mich mit den Eltern darüber unterhalten hatte. Der Fernsehkonsum wurde eingeschränkt und feste Bett-Geh-Zeiten wurden vereinbart. Kleine Gruppen bewährten sich, ebenso wie der intensive Kontakt mit den Eltern, die meine Bemühungen unterstützten. Die Kinder entwickelten Spaß am Deutschsprechen, begleiteten ihre Handlungen beim Malen und Spielen verbal, bei Erzählungen lieferten sie Hintergrundinformationen, sie korrigierten und halfen sich gegenseitig. Sie sind jetzt motiviert, weitere Sprachen zu lernen und wollen auch ihre Eltern dazu motivieren. Einige Mütter berichteten: mein Kind fragt mich die ganze Zeit warum ich nicht Deutsch kann, ich soll doch auch Deutsch lernen, es sei doch nicht so schwer. Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 334 Für die Frauen waren die Kursleiterinnen bei vielen Alltagsproblemen, Familien- und Erziehungsfragen die ersten Ansprechpartnerinnen. Das zeigt der folgende Bericht von Emran Sirim: In den Deutschkursen bestand von Anfang an eine enge Beziehung zu uns. Wir wurden sehr schnell in die Familien eingebunden, lernten weitere Familienmitglieder kennen und wurden in die Familien und zu großen Feiern, wie z.B. Hochzeiten und Beschneidungsfesten eingeladen. Der Kontakt blieb auch nach Abschluss der Kurse bestehen. Geprägt von der türkei-türkischen Kultur und dem Schulsystem, in dem Lehrer großes Ansehen genießen, hatten die Frauen großen Respekt, empfanden uns aber gleichzeitig als kompetente Ansprechpartnerinnen in allen Bereichen, in denen sie Probleme hatten oder für die sie sich interessierten. Dies waren hauptsächlich die Bereiche Schule, Ausbildung, Beratungsstellen, aber auch ihre Rechte und Pflichten sowie deutsche Gesetze. Die Teilnehmerinnen der Deutschkurse wandten sich mit all ihren Problemen und Sorgen an uns und vertrauten unserem Urteil in allen Fragen. Wir waren stets die ersten Ansprechpartnerinnen. Ratschläge in Bezug auf Schule, Ausbildung usw., die die Frauen von anderen bekamen, teilten sie uns mit und holten unsere Meinung dazu ein. Für unser Engagement waren die Frauen sehr dankbar, und nicht selten hörten wir den Spruch: Allah razı olsun sizden (‘Gott möge es euch vergelten.’). Die Frauen hingen so sehr an uns, dass sie sich weigerten, in Kurse zu wechseln, die für sie geeigneter gewesen wären, insbesondere dann, wenn die Leiterin des anderen Kurses nicht türkischsprachig war. Die Anhänglichkeit nutzten wir auch zur Förderung der Lernmotivation: Wenn eine der Frauen z.B. nicht fleißig genug war, drohten wir scherzhaft, sie in einen anderen Kurs zu schicken. Das brachte sehr schnell die gewünschte Verhaltensänderung. Der Fall einer Teilnehmerin hat mich besonders beschäftigt. Vor ca. einem Jahr rief mich diese Frau an und erzählte mir, dass ihre Tochter seit einem Monat nicht mehr in die Schule ginge. Das damals 11-jährige Kind weigerte sich, die Schule zu besuchen, da sie Angst hatte. Warum bzw. wovor sie Angst hatte, konnte das Kind nicht sagen. Auf Bitten der Mutter besorgte ich Adressen und Telefonnummern von türkischsprachigen Ärzten, Psychologen und Pädagogen. Die Eltern waren sehr an einer schnellen Lösung des Problems interessiert und arbeiteten mit Lehrern, Ärzten und Psychologen zusammen. Trotz ärztlicher und psychologischer Betreuung verbesserte sich die Situation nicht, so dass das Kind in eine Klinik für Psychiatrie eingewiesen wurde. Während des zweimonatigen Aufenthalts in dieser Klinik verschlechtere sich sein Zustand zusehends, so dass die Eltern beschlossen, das Kind wieder nach Hause zu holen. Die Ärzte waren jedoch dagegen, so dass die Eltern einen Anwalt hinzuzogen. Denn aufgrund der sehr abweisenden Haltung der Ärzte und Psychologen sahen die Eltern ihre Rechte gefährdet. Schließlich einigten sich die Parteien darauf, dass das Kind noch eine kurze Zeit in der Klinik bleibt, eine neue Schule besucht und nach Hause darf, wenn es regelmäßig und ohne Probleme dort den Unterricht besucht. Während des gesamten Prozesses (der nun seit ca. einem Jahr andau- Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 335 ert) wurde ich bei jeder Entscheidung, bei jedem Schritt zu Rate gezogen. Ich versuchte, der Familie zu helfen, indem ich nützliche Informationen besorgte; vor allem aber versuchte ich, der Mutter Mut zu machen, die extrem unter der Situation litt und inzwischen selbst psychisch angeschlagen ist. 5. Evaluation des Programms Die Frauen kamen regelmäßig zu unseren Kursen und nahmen die angebotenen Informationen begierig auf. Dabei ergaben sich auch viele Kontakte zwischen den Frauen und dem Schulpersonal. In den Informationsveranstaltungen wurde die Leistung auf der Basis der von den Teilnehmerinnen in Türkisch verfassten Referate zu den oben angeführten Themen dokumentiert. Ziel der Referate war die strukturierte Verarbeitung von Informationen, die Produktion von Sachtexten und die Schulung argumentativer Fähigkeiten. Die schriftlichen Unterlagen zu den Referaten wurden regelmäßig ausgewertet, gemeinsam „verbessert“ und es wurde nach Formulierungs- und Darstellungsalternativen gesucht. Zu Beginn des Programms wagte keine der Teilnehmerinnen etwas in Deutsch zu sagen. Das besserte sich nach kurzer Zeit, da wir gleich zu Beginn mit kleinen Alltagsdialogen starteten, die mit verteilten Rollen gespielt werden mussten. Den Lernfortschritt kontrollierten wir durch schriftliche Deutschtests, die wir nach der Erarbeitung eines thematischen und/ oder grammatischen Programmpunktes durchführten. Die Testergebnisse dienten als Grundlage für die Arbeit in den noch nicht beherrschten Bereichen. Über die gesamte Laufzeit des Projekts wurden die Testarbeiten in Kopie gesammelt, so dass der Lernfortschritt bis zum Ende der Projektlaufzeit dokumentiert ist. Der Lernfortschritt wurde auch durch Gespräche in Deutsch dokumentiert, die wir am Ende des Programms auf Band aufnahmen. Uns war wichtig, dass sich die Kommunikationsbreitschaft der Teilnehmerinnen verbessert hatte und sie sich zutrauten zu sprechen, auch wenn nicht alle grammatischen Regeln angewendet worden waren. Die Frauen interessierten sich auch für die Hausaufgaben der Kinder und lernten mit ihnen gemeinsam deutsche Wörter. Der schulische Erfolg der Kinder war für die Frauen wichtig geworden, und sie hatten gelernt, was sie dazu beitragen konnten. Am Ende der Kurse hatten alle Frauen folgende Zeile erreicht: - Sie verstanden die Aufgabenstellungen in Deutsch; - sie konnten einfache Texte lesen und verstehen und den Inhalt in Deutsch wiedergeben; Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 336 - sie hatten einige schriftsprachliche Fähigkeiten in Deutsch erworben und ihre türkischen Fertigkeiten erweitert; - sie konnten in Deutsch Informationen erfragen und Fragen beantworten; - sie hatten viel über das deutsche Schulsystem gelernt, über Mechanismen des mono- und bilingualen Spracherwerbs, über die Normalität von Sprachmischungen, über den Umgang mit Mehrsprachigkeit, über die Entwicklung von schriftkulturellen Fähigkeiten und über Möglichkeiten, die Lernmotivation und die Leistungsfähigkeit ihrer Kinder zu erhöhen. Vor allem aber war es gelungen, das Selbstbewusstsein der Frauen zu stärken. Zu Beginn des Kurses hatten einige gesagt, ich bin zu dumm für Deutsch, ich kann das nie und sie hatten beklagt, dass ihre 6-8 jährigen Kinder sagten, dass sie nichts können und über nichts Bescheid wissen. Nach Abschluss des Kurses waren sie stolz, dass sie etwas gelernt hatten und dass sie jetzt kontrollieren konnten, wenn die Kinder etwas falsch übersetzten. Das stärkte ihre Position den Kindern gegenüber. Alle Frauen wünschten sich mehr Gelegenheiten zum Kontakt mit Deutschen. Ihnen fehlte die Sprachpraxis, das tägliche Anwenden, Einüben und Ausweiten des Gelernten. 18 Sie wollten sich mit Deutschen austauschen, viel von ihnen erfahren und von ihnen gesellschaftlich akzeptiert werden. Und sie wünschten sich für ihre Kinder deutsche Freunde und Freundinnen. Sie wollten, dass ihre Kinder mehrsprachig werden, eine gute schulische Ausbildung erreichen und beruflich die gleichen Chancen wie deutsche Kinder haben. Was den Frauen besonders gefiel war, dass die Kurse - in der Nähe ihrer Wohnungen stattfanden; - in der Schule während des Unterrichts der Kinder eingerichtet werden konnten, wodurch sie viel vom Schulalltag der Kinder erfahren konnten; 18 Nach unserer Beobachtung haben einige Frauen, da sie nach Abschluss der Kurse keine Kontakte zu Deutschen und kaum Gelegenheit zum Deutschsprechen hatten, das Erlernte z.T. wieder vergessen. D.h. in Wohngebieten, in denen es (aus welchen Gründen auch immer) nur wenige Möglichkeiten zum natürlichen Kontakt zwischen Migrant(inn)en und Deutschen gibt, müssten solche Kontakte organisiert und institutionalisiert werden, z.B. durch regelmäßige Eltern-Treffen in Bildungseinrichtungen und Kirchen, Kreativangebote in Bildungs- und Freizeiteinrichtungen oder Angebote gesellschaftspolitischer Gruppen, die Informations- und Diskussionsangebote für Einheimische und Zuwanderer machen. In Ansätzen gibt es solche Initiativen bereits; doch sie müssten verstärkt und in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen als attraktiv dargestellt werden. Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 337 - von zweisprachigen Kursleiterinnen geführt wurden, die eigene Erfahrungen als Migrantinnen und viel Verständnis für die Herkunft der Frauen, für ihre Lebensbedingungen, ihre Werte und ihre sozialen Regeln hatten; - die grammatischen Erklärungen in der Herkunftssprache erfolgten und kontrastiv Unterschiede zwischen Deutsch und Türkisch herausgearbeitet wurden; dadurch konnten sie viel über die Strukturen beider Sprachen lernen; - die Kursleiterinnen die Schul- und Bildungsprobleme der Kinder aus eigener Erfahrung kannten und viele Hinweise für den Umgang mit Kindern und für deren schulische und berufliche Aufstiegsmöglichkeiten geben konnten. Viele Frauen würden gerne in der Schule tätig werden. Aus unserer Perspektive könnte das in einem Bereich sein, in dem sie etwas anzubieten haben. Da sie handwerklich sehr versiert und geschickt sind, könnten sie sich gemeinsam mit deutschen Frauen an schulischen Angeboten zum Handarbeiten (nähen, stricken, häkeln, Stoffmalerei etc.) beteiligen und hätten so Gelegenheit, Deutsch zu praktizieren, freundschaftliche Beziehungen zu Deutschen aufzubauen und ihre soziale Isolation zu überwinden. Solche Gelegenheiten müssten im Rahmen der Schule organisiert werden. Uns ist klar, dass die Frauen, die in unsere Kurse kamen, nur einen Teil der Heiratsmigrantinnen in Mannheim ausmachen. Insgesamt haben unsere Erfahrungen gezeigt - und damit schließen wir an Beobachtungen von Straßburger/ Ucan/ Witt (2009) an -, 19 dass die in der Öffentlichkeit verbreiteten Meinungen und Bewertungen (wenn überhaupt) nur einen Teil der Heiratsmigrantinnen betreffen, und dass es viele junge Frauen gibt, die Unterstützungs- und Kontaktangebote offen und motiviert annehmen. 6. Ungelöste Probleme Migranteneltern und Lehrende haben oft ein äußerst distanziertes Verhältnis zueinander, geprägt von unklaren Erwartungen, von Misstrauen und wechselseitigen Vorurteilen. Die Eltern beklagen die hohen Leistungserwartungen der 19 Die Autorinnen zeigen in ihrer Studie (über die erfolgreiche Arbeit mit Migrantenfamilien in Neukölln), dass die aktuelle Situation vieler Heiratsmigrantinnen in starkem Kontrast zu den öffentlich diskutieren Fällen steht und dass - da die angebotenen Unterstützungsprojekte vor allem von Heiratsmigrantinnen genutzt werden - sie in hohem Maße an Informationen und Unterstützung interessiert sind; unter www.buergergesellschaft.de/ praxishilfen/ sozialraumorientierteinterkulturelle-arbeit/ 106523 ist ein Praxishandbuch für die soziale Arbeit mit Migrantenfamilien verfügbar. Necmiye Ceylan / Emran Sirim / Inken Keim 338 Lehrer(innen), die mangelnde Beachtung der Lernerfolge ihrer Kinder und die meist negative Bewertung ihrer sprachlichen Entwicklung. Die Lehrenden beklagen die inadäquate Erziehung der Kinder, ihre mangelnde Lernfähigkeit oder -bereitschaft und die fehlende Motivation Deutsch zu sprechen und zu schreiben. Und die Eltern würden sich zu wenig um Hausaufgaben und schulische Anforderungen kümmern. Auf beiden Seiten gibt es die Angst vor dem Kontakt: Die Eltern fürchten nicht ernst genommen zu werden, sich nicht adäquat ausdrücken zu können und missverstanden zu werden; 20 die Lehrenden scheuen den Kontakt mit Menschen, die nicht einmal richtig Deutsch sprechen können. Auch dürfte die Auseinandersetzung mit Eltern, denen gegenüber sie mangelnden Lehrerfolg eingestehen müssen, unangenehm für sie sein. Deshalb scheint ihre Strategie die Kontaktvermeidung. Durch die Gespräche mit den Frauen erfuhren wir auch, dass sie in den Schulen oft widersprüchliche, auch falsche Auskünfte zum Umgang mit Zwei- und Mehrsprachigkeit erhielten, und dass die Bilingualität ihrer Kinder meist negativ bewertet wurde. Was die Kinder in Deutsch gelernt hatten, fiel den Lehrenden nicht auf; sie beurteilten nur die Fehler. Diese Klage der Eltern deutet darauf hin, dass es zum Bereich Bi- und Multilingualität, zum frühen Zweitspracherwerb Deutsch und zu Sprachmischungen in den Schulen immer noch viel zu wenig Wissen gibt, auch bei bilingual deutsch-türkischen Lehrenden. 21 Solche erheblichen Wissenslücken müssten die Schulen möglichst schnell schließen, wenn sie zu kompetenten Partnern und Ratgebern von Migranteneltern und -kindern werden und die Leistungen der Kinder angemessen bewerten wollen. Sonst verschärfen sich die Stereotype und Vorurteile auf beiden Seiten mit weiterhin katastrophalen Konsequenzen für die Kinder. Aus unserer Erfahrung könnte sich die psychologische und soziale Distanz zwischen Schule/ Lehrenden einerseits und Migranteneltern andererseits verringern lassen, wenn mehr Lehrkräfte mit guten Kenntnissen zum (mono- und bilingualen) Spracherwerb und zum sprachlich-kommunikativen Handeln unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit eingesetzt würden; und wenn vor allem (in Zwei- und Mehrsprachigkeit) gut ausgebildete Lehrkräfte mit oder 20 Nach unseren Beobachtungen hatten die Eltern Scheu vor den Lehrenden. Wenn wir sie jedoch bei einem Termin mit den Lehrern begleiteten, verloren sie die Hemmungen. Auch der Besuch des Deutschkurses, der in der Schule der Kinder stattfand, trug dazu bei, dass die Angst vor der Schule abgebaut wurde. 21 Bei vielen Lehrern herrscht immer noch die veraltete Sichtweise vor, dass die türkischen Kinder in Deutschland weder Deutsch noch Türkisch richtig beherrschen. Nach unserer Beobachtung sind auch bilingual türkisch-deutsche Lehrende vom Semilingualismus türkischer Kinder überzeugt und verbreiten ihre Auffassung in den Schulen, wodurch die deutschen Lehrenden in ihrer Sichtweise bzw. in ihren Vorurteilen zusätzlich bestärkt werden. Unterstützung und Fortbildung von Heiratsmigrantinnen in Mannheim 339 ohne Migrationshintergrund eingesetzt werden würden, die bereit sind, sich auf die Innenperspektive der Familien einzulassen und ihre Situation zu verstehen. Zu ihnen könnten die Familien Vertrauen aufbauen, und die Ratschläge und Unterstützungsangebote würden dann bereitwilliger angenommen und umgesetzt. In den Schulen könnten sie verdeutlichen, wie in Konfliktfällen die Innenperspektive der betroffenen Familien aussieht; und den Kindern könnten sie als sprachliche und soziale Vorbilder dienen. 7. Literatur Aslan, Sema (2005): Aspekte des kommunikativen Stils einer Gruppe weltläufiger MigrantInnen türkischer Herkunft: die „Europatürken“. 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Außerdem werden folgende Zeichen verwendet: ja |aber | simultane Äußerungen stehen übereinander; Anfang und |nein nie|mals Ende werden auf den jeweiligen Textzeilen markiert + unmittelbarer Anschluss/ Anklebung bei Sprecherwechsel * kurze Pause (bis max. 1/ 2 Sekunde) ** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden = Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir ) / Wortabbruch (... ...) unverständliche Sequenz (drei Punkte = Silbe) ↑ steigende Intonation (z.B. kommst du mit ↑ ) ↓ fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es ↓ ) - schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier- ) " auffällige Betonung (z.B. aber ge"rn ) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig ) ← immer ich → langsamer (relativ zum Kontext) → immerhin ← schneller (relativ zum Kontext) > vielleicht < leiser (relativ zum Kontext) < manchmal > lauter (relativ zum Kontext) LACHT Wiedergabe nichtmorphemisierter Äußerung auf der Sprecherzeile in Großbuchstaben IRONISCH Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile, K ) QUIETSCHEN nicht-kommunikatives (akustisches) Ereignis in der Gesprächssituation (auf der global. Kommentarzeile, K& ) Seit dem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte 1973 ist die Migration in Verbindung mit einer Heirat eine der wichtigsten Formen der türkischen Zuwanderung nach Deutschland. Sie kann viele unterschiedliche Gründe haben. Der vorliegende Band bietet eine ethnografisch-soziolinguistische und biografieanalytische Pilotstudie zu diesem noch wenig erforschten gesellschaftlichen Bereich, der in den letzten Jahren in den Fokus sozial- und bildungspolitischer Debatten kam. Die Autorinnen zeichnen ein differenziertes, vielgestaltiges Bild der Lebensrealität türkischer Frauen, das in maximalem Kontrast zu gängigen Stereotypen und Vorurteilen steht und einen Beitrag zur Versachlichung der Integrationsdiskussion leisten kann. ISBN 978-3-8233-6633-1