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Haussmann und die Folgen

2011
978-3-8233-7661-3
Gunter Narr Verlag 
Walburga Hülk
Gregor Schuhen

Der Band ist fokussiert auf die begriffs- und mediengeschichtliche Aufarbeitung der zentralen Kategorie des Boulevards, welche die mediale Öffentlichkeit seit 1900 wesentlich bestimmt. Diese zunächst urbanistische Kategorie hat damit ihren Ausgangspunkt in einer die gegenwärtige Medienkultur prägenden, kulturkritisch-diagnostischen These: Es ist die These der 'Boulevardisierung' unserer Öffentlichkeit. Für die Begriffsge schichte des Boulevards ist bedeutsam, dass schon sehr früh, d.h. um 1900, eine sukzessive semantische Ausweitung des Begriffs stattfindet. Zwar beginnt die strategische Geschichte des Boulevards im Rahmen des pragmatisch- urbanistischen Transformationsprozesses der sogenannten Hausmannisierung von Paris, doch gilt der Boulevard bereits um die Jahrhundertwende 1900 als Metapher für Massenkultur und zugleich als mediale Kategorie, die sich abgelöst hat von der ursprünglichen architektonischen Codierung.

edition lendemains 25 Walburga Hülk / Gregor Schuhen (Hrsg.) Haussmann und die Folgen Vom Boulevard zur Boulevardisierung Haussmann und die Folgen edition lendemains 25 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) Walburga Hülk / Gregor Schuhen (Hrsg.) Haussmann und die Folgen Vom Boulevard zur Boulevardisierung Information bibliographique de la Deutsche Nationalbibliothek La Deutsche Nationalbibliothek a répertorié cette publication dans la Deutsche Nationalbibliografie; les données bibliographiques détaillées peuvent être consultées sur Internet à l’adresse http: / / dnb.dnb.de. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Umschlagabbildung: nach Jean Béraud, La colonne Morris à l’angle de la rue Laffite et du boulevard des Italiens (ca. 1885). Musée Carnavalet. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6661-4 Inhalt Walburga Hülk/ Gregor Schuhen: Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung ......... 7 Uta Felten: Flaneure und Nomadinnen: Medialisierungen des Boulevards im französischen Kino bei Rohmer und Malle ................................................ 11 Rose-Maria Gropp: Flotte und Flora. Der Kunstmarkt auf dem Boulevard .................................. 23 L. Cassandra Hamrick: Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts ................................................................................................... 29 Walburga Hülk: Fait divers und storytelling - Verhandlungen zwischen Presse und Literatur ........................................................................................................ 53 Dominique Kalifa: Das Gegenstück des Boulevards: La tournée des grands-ducs und der Elendstourismus ........................................................................................... 67 Catrin Kersten: Verachtung, Ekel, Hass: Literaturkritik und Moral bei Gustave Planche .............................................. 81 Christina Natlacen: Der Boulevard als Schwellenraum. Fotografische Bildpraxis im Atelier und auf der Straße .................................................................................. 91 Nicole Pöppel: Der kosmopolitische Boulevard ...................................................................... 103 Volker Roloff: Le boulevard du crime und das Melodram im Wechsel der Medien ............ 115 Gregor Schuhen: Vor dem Boulevard. Spektakularität und storytelling in der höfischen Kultur ................................................................................................ 127 Georg Stanitzek: Bohème - Boulevard - Stil: Kommentar zu einem flickr-Bild von Rainald Goetz ............................................................................................. 137 Christian von Tschilschke: La philosophie dans le boulevard. Der französische Intellektuelle zwischen dem Boulevard als Medium und dem Medium als Boulevard ............................................................................................................ 151 Jörg Türschmann: Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris ....... 175 Theresa Vögle: Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“: Émile Zolas La curée und die „chronique scandaleuse“ ....................................................................................................... 195 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ..................................................... 215 Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung Das Buch „Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung“ geht zurück auf die gleichnamige Sektion des Frankoromanistentages 2010 in Essen zum Thema Stadt - Kultur - Raum. Es widmet sich zugleich Fragestellungen des DFG-Projekts Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität, das an der Universität Siegen durchgeführt wird (Leitung: Walburga Hülk-Althoff, Georg Stanitzek). Im Zentrum der nun versammelten Beiträge steht die begriffs- und mediengeschichtliche Aufarbeitung der zentralen Kategorie „Boulevard“, welche die mediale Öffentlichkeit seit 1900 wesentlich bestimmt. Sie hat ihren Ausgangspunkt in einer kulturkritisch-diagnostischen These, welche die gegenwärtige Medienkultur nach wie vor beschäftigt: Es ist die These der ‚Boulevardisierung‘ unserer Öffentlichkeit, die Anlass bot, diesen Befund zu historisieren und rückzukoppeln an den Bau der „grands boulevards“, die der Metropole Paris im späten 19. Jahrhunderts ein neues Gesicht geben und ebenso eine Spektakularität, die Vanessa R. Schwartz ausflaggte als spectacular reality. Für die Begriffsgeschichte des Boulevards ist bedeutsam, dass schon sehr früh, d.h. um 1900, eine sukzessive semantische Ausweitung des Begriffs stattfindet. Zwar beginnt die strategische Geschichte des Boulevards im Rahmen des pragmatisch-urbanistischen Transformationsprozesses der sog. Haussmannisierung von Paris, doch gilt der Boulevard bereits um die Jahrhundertwende 1900 als eine Metapher für Massenkultur und zugleich als mediale Kategorie, die sich abgelöst hat von der ursprünglichen architektonischen Codierung. Stattdessen ist sie seitdem ausgerichtet auf eine Logistik des kulturellen Lebens in der Metropole. Zu entdecken und zu beobachten ist also eine Frühform medial induzierter ‚Boulevardisierung‘, und dieser Begriff eröffnet ein größeres Spektrum an kategorialen Dimensionen, das die sozial- und medienkulturellen Folgen der städtebaulichen Maßnahmen erst begrifflich und analytisch fassbar macht. Es gilt daher, die komplexe Gemengelage dieser vielfältigen um 1900 ablaufenden Prozesse durch eine begriffsgeschichtliche Aufarbeitung von ‚Boulevard‘ und verwandten Begriffen zu erhellen. Dazu gehört u.a. der in Frankreich verwendete Begriff der pipolisation bzw. peoplisation - ein schlecht cachierter Anglizismus, der sich trotz rigider zentralistischer Sprachpolitik durchsetzen konnte. Er steht selbstredend für den unaufhaltsamen Aufstieg Walburga Hülk/ Gregor Schuhen 8 der Massen- und Sensationspresse, der „presse people“, und auch für die Boulevardisierung der Politik, die nicht erst mit der Regierung Sarkozy, mit ihr aber besonders, augenfällig ist. Die zentrale, in den einzelnen Artikeln ausgefaltete These ist, dass der Boulevard ein frühes mediales Dispositiv mit Massencharakter ist, das die Koaleszenz und Dynamik sozialer und medialer Ströme produziert und operationell anordnet und zu einem neuen massentauglichen Boulevard- Format führt, das heute durch die Vermischung von Gebrauchs- und Unterhaltungsmedialität monopolistisch die Massenmedien durchdringt. Der Effekt daraus resultierender neuer diskursiver, medialer und sozialer Homogeneitäten und ‚Distinktionen‘ kann z.B. mit Bourdieu in diesem Zusammenhang neu geprüft werden. Das gilt ganz besonders für das Milieu der Künstler und der Bohème, deren Mythologie „freier kreativer“ Arbeit genau in jenem Moment entstand, zu dem die Künstlerexistenz prekär, die Muse käuflich wurde und Künstler, auch Künstlerinnen, verstärkt auf dem „Boulevard“ ein Auskommen suchen mussten. Und der Verlockung des Boulevards widerstand kaum jemand. So bietet die Fragestellung auch die Möglichkeit, die ironische Konstellation und die intrikate Vermischung von Masse und marge zu erschließen: Boulevard und rue, ‚Bollwerk‘ und Verzweigungen (rues, ruelles) werden zu Chiffren medialer Zirkulationen und Konkurrenzen zwischen grande presse/ presse boulevardière und petite presse (z.B. Le Figaro, Le Petit Parisien als Massenpresse, Le Boulevard, Le Bohème jedoch als kleine, nur kurze Zeit aufgelegte Künstlerzeitungen), zwischen Massenmedien und Kunstpresse, Populärkultur und hermetischen Tendenzen der Bohème im Vorfeld der historischen Avantgarden. Die Modernität dieses Milieus - im Sinne einer sozialen, diskursiven und medialen Figur - erschließt sich über die Kategorie „Boulevard“, die das kulturelle Leben in Paris seit dem 19. Jahrhundert repräsentiert konfiguriert und kanalisiert, und das sich längst auch von der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Benjamin) auf andere Orte, Metropolen ebenso wie Provinzen, verschoben hat. Gängige Metaphoriken und Mythologeme, wie z.B. jene der Schlagadern, treffen den vitalen und energetischen Kern dieser Kategorie und werden in ihrer semantischen Valenz konturiert. Und so spannt sich ein Reflexionsbogen von prä-boulevardesken Kommunikationsformen der höfischen Spektakelkultur im 17. Jahrhundert über die sogenannte „erste“ Pariser Bohème der 1830er Jahre bis zum Stil der Berliner Bohème nach 1968, von Flauberts singulärer Resistenz gegen das Populäre zu Philosophen auf dem Boulevard, von den Freundschaftskreisen des 19. Jahrhunderts zu den Netzwerken der Gegenwart, von den Künstlermansarden in den Gassen von Paris und den exzentrischen Milieus auf dem Boulevard zum „Boulevard du crime“, der „Tournée des Grands-Ducs“ und den Nomadinnen des Großstadtfilms, von den impressionistischen Oberflächen über die Erfindung der Vom Boulevard zur Boulevardisierung 9 Boulevard-Photographie zum Kunstmarkt auf dem Boulevard, und all das vermittelt über Medien: Gerüchte und Klatsch, Bücher, Zeitungen, Malerei, Photographie, Film, Performances. Mit dem topographischen und dem medialen Boulevard also ist ein Schauraum eröffnet, in dem sich Öffentlichkeit und Privatheit, Kunst und Kommerz, Identität und Alterität auf intrikate Weise vermischen und exemplarisch soziale und ästhetische Dynamiken entstehen lassen. Diese zu beobachten, ist das fortlaufende Interesse der Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Bandes. Ihnen allen sei gedankt. Zu danken ist auch dem Redaktionsteam dieses Sammelbandes: Nicole Pöppel, Sandra Ludwig, Wolfgang Ristow, Daniel Seifried, Jennifer Novak und Catrin Kersten. Schließlich Wolfgang Asholt für die Aufnahme des Bandes in die Reihe edition lendemains und den freundlicherweise gewährten Druckkostenzuschuss. Walburga Hülk Gregor Schuhen Uta Felten Flaneure und Nomadinnen: Medialisierungen des Boulevards im französischen Kino bei Rohmer und Malle „Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße […]. Um richtig zu flanieren, darf man nichts Bestimmtes vorhaben.“ (Franz Hessel) 1 Im Jahre 1877 stellt Manet sein berühmt gewordenes Skandalbild Nana im Schaufenster eines auf japanische Dekoware spezialisierten Warenhauses aus und lässt damit als einer der ersten den Boulevard zum Ort eines skandalträchtigen Medienereignisses werden, das Joris-Karl Huysmans wie folgt beschreibt: „matin et soir, l’on s’entasse devant cette toile, et […] elle soulève des cris indignés et des rires“ 2 . Boulevard, Schaulust, Exhibition und Skandal gehen, wie Werner Hofmann und Annabelle Görgen zuletzt gezeigt haben 3 , von Beginn der Boulevardkultur an eine enge Verbindung ein. Die Skandalhaftigkeit des medialen Events - wie man heute sagen würde - ist eine zweifache: Die erste liegt im Bild selbst, in dem von Werner Hofmann vielfach benannten Spiel des Begehrens, das Nana als sich anbietende und entziehende Ware entfacht, sowie in der Anwesenheit des bürgerlichen Freiers im Bild selbst (vgl. Abb. 1). Die zweite uns mehr interessierende Skandalhaftigkeit liegt im modernen, fast schon postmodernen Gestus der Funktionalisierung eines Gemäldes zur profanen Ware auf einem Boulevard. Ist doch die inmitten von japanischem Nippes ausgestellte Nana primär Ware inmitten von Ware, die sich den Passanten darbietet, mit einem Unterschied: Nana blickt zurück, ihr Blick verlässt den Bildraum und macht damit den Betrachter selbst zum Objekt der Betrachtung. Sie entlarvt den Blick des Voyeurs. Uta Felten 12 Abb. 1: Edouard Manet, Nana (1877) In den habitualisierten Paris-Photographien der 60er Jahre wie wir sie von Henri Cartier-Bresson kennen, hat der Voyeur es leichter. Kein Blick wird auf ihn zurückgerichtet, als unbeobachteter Voyeur darf er den Kuss eines Liebespaares in einem Bistro, wahrscheinlich auf einem bekannten Pariser Boulevard genauso ungestört beobachten wie der unter dem Tisch liegende Hund, ein anderer tierischer Voyeur (vgl. Abb. 2). Das französische Kino und die französische Photographie der 60er Jahre stellen zweifellos einen Höhepunkt innerhalb der Geschichte der Medialisierung der Boulevardkultur dar: ein Liebespaar auf der Terrasse eines Pariser Bistros, eine junge Frau im Minijupe in der Brasserie Lipp (vgl. Abb. 3), ein schaulustiger Flaneur auf einem Boulevard (vgl. Abb. 4), Jeanne Moreau, das Gesicht hell erleuchtet auf dem Boulevard Haussmann (vgl. Abb. 5), Jeanne Seberg alias Patricia auf den Champs-Elysées, eine amerikanische Tageszeitung anpreisend (vgl. Abb. 6). Flaneure und Nomadinnen 13 Abb. 2: Henri Cartier-Bresson Abb. 3: Henri Cartier-Bresson Abb. 4: Screenshot aus: Eric Rohmer, L’amour l’après-midi (1972) Abb. 5: Screenshot aus: Louis Malle, L’ascenseur pour l’échafaud (1958) Uta Felten 14 Abb. 6: Screenshot aus: Jean-Luc Godard, À bout de souffle (1960) Wer kennt sie nicht, diese bekannten Medialisierungen des Boulevards der französischen Kinematographie und Photographie der 60er Jahre. Die Photographien von Henri Cartier-Bresson, die Filmbilder von Eric Rohmer, Louis Malle, Jean-Luc Godard sind längst zu Mythen des Alltags geronnen, jederzeit abrufbare Bildklischees im Kino unserer Köpfe geworden. Dennoch lohnt es sich vielleicht diese bekannten Medialisierungen noch einmal nach ihren literarischen und epistemologischen Spuren und ihren genderspezifischen Codierungen zu befragen. Folgende Funktionalisierungen des Boulevards wollen wir hierbei in den Blick nehmen: 1. Der Boulevard als klassische Kartographie von Schaulust und Begehren des Flaneurs 2. Der Boulevard als Topographie der Nomadin 3. Der Boulevard als existentielle Lebensbühne des Spiels von Zufall und Providentia, von Selbst- und Fremdbestimmung Zu den klassischen Medialisierungen gehört zweifelsohne die Inszenierung des Boulevards als ideale Topographie der Flanerie, der Spaziergänge, Balladen, Wanderungen, Irrwege und Abwege der Flaneure, der Träumer und Träumerinnen, der Suchenden und Nomaden, die die Filme der Nouvelle Vague bevölkern. Der Boulevard wird damit auch zum privilegierten Raum der „Promenade de fuite“, der „Ballade ohne Ziel“. Ein zentrales Blickdispositiv innerhalb dieser Anordnung bildet die ephemere Augenlust des Flaneurs, wie sie beispielsweise Eric Rohmer in seinem Film L’amour l’après-midi inszeniert hat. Die Großstadt als Bühne für die imaginären Inszenierungen eines flüchtigen, kontingenten Begehrens, das sich in die erotischen Körper der Passantinnen auf der Straße oder in das zufällige Gegenüber in der Metro Flaneure und Nomadinnen 15 einschreibt, ist seit Baudelaires „À une passante“ ein idealer Raum für die begehrlichen Träumereien des Flaneurs. So überrascht es kaum, dass Rohmer in L’amour l’après-midi die Tagträume seines Protagonisten, eines am „Ennui“ leidenden Rechtsanwalts in einer Traumsequenz gipfeln lässt, in der sich jener dank einer magischen Kette als unwiderstehlicher Liebhaber aller Vorübergehenden imaginiert (vgl. Abb. 7-9). Diese Sequenz liest sich als nahezu ungebrochenes filmisches Kontinuum von Baudelaires Inszenierung der Schaulust in „À une passante“: „ La rue assourdissante autour de moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, Une femme passa, d’une main fastueuse Soulevant, balançant, le feston et l’ourlet; Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. Un éclair...puis la nuit! Fugitive beauté Dont le regard m’a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus dans l’éternité? [...]“ 4 Das schon bei Baudelaire explizit genannte Dispositiv erotischer Schaulust, das sich als eine wahrnehmungsästhetische Verkettung von Straßenlärm und Bewegung der Vorübergehenden manifestiert und seinen Höhepunkt im kurzen Blickkontakt mit der „Fugitive beauté“ erreicht, wird im Film durch die traumanaloge Stilisierung der Filmbilder erzielt, die von der Tonspur mit eben jenem obligatorischen Straßenlärm der Metropole ergänzt werden. Plötzlich lässt Rohmer den erotischen Tagtraum seines Protagonisten von der Vereinigung mit der flüchtigen Schönen wieder abbrechen und inszeniert damit jene berühmte in Walter Benjamins Baudelaire-Lektüre erläuterte Figur des Schocks, des abrupten Abbruchs der erotischen Schaulust des Voyeurs: „Die Entzückung des Großstädters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick. Es ist ein Abschied für ewig [...]. So stellt das Sonett die Figur des Chocks, ja die Figur einer Katastrophe dar.“ 5 Eine ganz andere Medialisierung des Boulevards wählt Louis Malle in seinem berühmten Film L’ascenseur pour l’échafaud, der uns statt eines schaulustigen Flaneur eine um den vermeintlichen Verlust ihrer amour fou trauernde Flaneuse präsentiert. In L’ascenseur pour l’échafaud funktionalisiert Louis Malle den Boulevard als Theaterdispositiv des Verbrechens und der amour fou. Uta Felten 16 Abb. 7- 9: Screenshots aus: Eric Rohmer, L’amour l’après-midi (1972) Flaneure und Nomadinnen 17 Die Handlung lässt sich in wenigen Sätzen resümieren: Da ist Madame Caralla, gespielt von Jeanne Moreau, die ihren Geliebten Julien überredet hat, ihren Ehemann, einen reichen Waffenhändler, zu ermorden. Der Mord gelingt. Einziger Fauxpas: Julien vergisst das Seil, mit dem er in das Büro des Opfers gelangt war, auf dem Balkon. Er kehrt zurück, um das Seil zu holen. Der Nachtwächter schaltet die Sicherungen aus und Julien verbringt eine Nacht im Aufzug. Während dessen flaniert Jeanne Moreau in der schon erwähnten Szene auf dem Boulevard ungeduldig auf und ab, ihren Liebhaber sehnsüchtig erwartend, bis sie plötzlich seinen Wagen vorbeifahren sieht. Doch im Wagen sieht sie eine junge Frau, die ihr bekannt vorkommt: die Blumenverkäuferin des Boulevards. Sie vermutet zwangsläufig Julien am Steuer und erstarrt vor Erstaunen. Gleich einer Nachtwandlerin wird sie die ganze Nacht auf dem Boulevard verbringen, vergeblich nach Julien suchend (vgl. Abb. 10). Tatsächlich befindet sich im Wagen ein junges Paar, die Blumenverkäuferin und ihr Freund, ausgerüstet mit den klassischen Utensilien des Verbrechens - Trenchcoat, Kamera und Revolver -, die auch bald zum Einsatz kommen. Um in den Besitz einer weiteren Luxuslimousine zu kommen, wird der Freund der Blumenverkäuferin noch in der gleichen Nacht ein deutsches Touristenpaar erschießen. Der Boulevard Haussmann wird somit bei Malle zum Ort eines zweifachen Verbrechens: des Mordes und des Autodiebstahls, auf den ein weiterer Mord folgen wird. Abb. 10: Screenshot aus: Louis Malle, L’ascenseur pour l’échafaud (1958) Uta Felten 18 Abb. 11: Screenshot aus: Louis Malle, L’ascenseur pour l’échafaud (1958) Doch der Boulevard ist nicht nur ein privilegierter Raum für das zweifache Verbrechen, sondern auch für die zweifache amour fou der beiden Paare: dem jungen und dem älteren Verbrecherpaar. Er bildet damit ein Theaterdispositiv par excellence und steht im Zeichen der Verdopplung und Vertauschung. Er ist nicht mehr das eher harmlose Dispositiv der Tagträume des bourgeoisen Flaneurs wie noch bei Rohmer, sondern avanciert zum dunklen Dispositiv der Nacht, der Gewalt, des Wahns und des Verbrechens und bildet gleichzeitig den affektiven Raum einer amour fou. Anders gesagt: Jeanne Moreau ist mehr als eine herkömmliche Passantin, deren begehrlicher Körper die ephemere Schaulust des Betrachters provoziert. Sie ist vielmehr eine Mischung aus Traumwandlerin und Königin der Nacht, deren Körper sich in den Boulevard einschreibt (vgl. Abb. 11). Blickend, fragend, suchend, verzweifelt, aber immer machtvoll durchschreitet sie die nächtliche Szene des Boulevards. Nicoleta Bazgan hat Malles berühmte Nachtszene als Inszenierung einer weiblichen Kartographie des Begehrens gedeutet. 6 Gilles Deleuze hat Malle als einen Regisseur beschrieben, der die Bewegung der Welt in Szene setzt. 7 Der Boulevard ist es, der, so könnte man im Anschluss an Deleuze formulieren, genau jene Bewegung der Welt in exemplarischer Weise repräsentiert. Bereits zu Beginn des Films ist es, so Deleuze, „der blockierte Fahrstuhl, der die Bewegung des Mörders vereitelt hat, um an ihre Stelle die Bewegung der Welt zu setzen, von der die anderen Personen mitgerissen werden“ 8 . Im so genannten Kino der Existenzweisen, im cinéma spirituel wie es Malle und Rohmer verkörpern, kommt dem Boulevard damit über seine topische Funktionalisierung als Kartographie des Begehrens, der Schaulust, der amour fou und des Verbrechens noch eine weitere, eine existentielle Va- Flaneure und Nomadinnen 19 lenz zu. Der Boulevard wird zur Lebensbühne, zur Kartographie der Existenzweisen selbst. Als solcher wird er auch in Eric Rohmers erstem Langfilm Le signe du lion inszeniert. Auf dem Boulevard Saint-Germain wird hier ganz in existentialistischer Manier über das Schicksal des vom Millionär zum Clochard degradierten Musikers entschieden. Der Boulevard ist hier Theaterdispositiv und Lebensbühne zugleich. An der Melodie, der petite phrase, erkennen die im Cafe sitzenden Freunde ihren verschollenen Freund wieder und können ihm die frohe Botschaft seiner neuen Existenzweise als Millionär überbringen, während der andere Clochard auf dem Boulevard zurückbleibt (vgl. Abb. 12, 13) und damit in die Bewegung der Welt zurückgeworfen wird. Als Kartographie der Träumenden und Suchenden, der Flaneure und Nomadinnen verkörpert der Boulevard eine Bühne auf der Weltbühne und ist damit zugleich immer auch Kino im Kino unserer Köpfe. Film und Photographie der 60er Jahre konstituieren zweifelsohne einen Höhepunkt innerhalb der Geschichte der Medialisierungen der Boulevardkultur, markieren aber zugleich auch erste Ansätze für Umbrüche und Auflösungserscheinungen ihrer medialen Faszination. Jene Auflösung lässt sich bei Cartier- Bresson nur durch eine einzige Photographie dokumentieren. Sie zeigt eine junge Frau in der gerade entstandenen Trabantenstadt im Pariser Banlieue (vgl. Abb. 14). Aber nicht nur die Photographen, auch die Regisseure der Nouvelle Vague verlassen zunehmend die anthropologischen Orte des Zentrums und wenden sich den neuen Non-lieux der Banlieue zu. Denken wir nur an Jean-Luc Godards Film Deux ou trois choses que je sais d’elle, der zu einem Vorreiter des Banlieue-Films avancieren wird. In seinem kaum rezipierten Kurzfilm Nadja à Paris hat Eric Rohmer seiner Protagonistin Nadja, einer russischen Studentin, die eine thèse über Proust verfasst, schon eine kleine Entweihung des Boulevards Saint-Germain in den Mund gelegt, wenn er sie sagen lässt, wie langweilig das alle Boulevard-Kultur beherrschende endlose Gerede der Intellektuellen im Café de Flore doch sei. Als moderne Stadtnomadin entflieht Nadja dem bürgerlichen Boulevard und begibt sich auf die Suche nach neuen Wahrnehmungsräumen, die sie auf den Märkten der Arbeiterviertel entdeckt. Uta Felten 20 Abb. 12 und 13: Screenshots aus: Eric Rohmer, Le signe du lion (1959) Abb. 14: Henri Cartier-Bresson (1971) Flaneure und Nomadinnen 21 Dennoch und trotz aller geheimen Freude an der Dekonstruktion der Boulevard-Kultur, die mancherorts versucht wird, sind die großartigen Medialisierungen des Boulevards von Malle, Rohmer, Cartier-Bresson und vielen anderen mittlerweile Teil unseres kinematographischen Gedächtnisses geworden und werden es auch weiterhin bleiben. 1 Franz Hessel, Ein Flaneur in Berlin, Berlin, Arsenal, 1984. 2 Joris-Karl Huysmans: „La Nana de Manet“, in: L’artiste de Bruxelles (13.05.1877: 148-149, zitiert nach: Annabelle Görgen: „Exhibition im 19. Jahrhundert. Nana von Edouard Manet. Die Schaustellung von Körper und Kunst als Ware“, in: Jack Bankowsky (ed.): Pop Life, Hamburg, DuMont, 2009, 43. 3 Werner Hofmann: Nana. Eine Skandalfigur zwischen Mythos und Wirklichkeit, Köln, DuMont, 1999; Annabelle Görgen: „Exhibition im 19. Jahrhundert. Nana von Edouard Manet. Die Schaustellung von Körper und Kunst als Ware“, in: Jack Bankowsky (ed.): Pop Life, Hamburg, DuMont, 2009, 39-49. 4 Charles Baudelaire: „À une passante“, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, vol. IV-1, Tillman Rexroth (ed.), Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1991, 40. 5 Walter Benjamin: Charles Baudelaire, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1974, 119. 6 Nicoleta Bazgan: „Paris als weibliche Kartographie des Begehrens“ (Vortrag an der Universität Leipzig 2010). 7 Cf. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Frankfurt a.M., 1997, 84-85. 8 Ibid., 84. Rose-Maria Gropp Flotte und Flora. Der Kunstmarkt auf dem Boulevard Ihre Boulevards sind die Quais. Wenn in Venedig die Kunstbiennale die unbedingt erwarteten exquisiten Präliminarien zelebriert, ehe das gemeine Publikum in die Giardini und das Arsenale eingelassen wird, belagern die Yachten der Schwerstreichen die Serenissima. Waren sie vor ein paar Jahren noch blendend weiß, so sind sie inzwischen grau angestrichen, gewissermaßen getarnt vor dem Horizont, mit deutlich sichtbarem Radar ausgestattet - die Flotte des globalen Kapitals, unter der Flagge der Kunstbeschaffung. Wer so ein Schiff mit seiner Mannschaft vor sich her schicken kann, ehe er das Event persönlich mit dem Glamour seiner Präsenz beglückt, wird wahrscheinlich jedes Kunstwerk - offiziell verkäuflich oder nicht -, das er als seinen Besitz begehrt, zu erwerben wissen. Das jedenfalls ist die Botschaft. Dass man von Paris, der Mutter der Boulevards, aus auch die schärfste Spitze Venedigs einnehmen kann, hat ausgerechnet der französische Luxusgüter-Unternehmer François Pinault eindrücklich bewiesen, als er sich dort für seine weitläufigen Sammlungen mit zeitgenössischer Kunst, nach dem Palazzo Grassi, der Punta della Dogana bemächtigte, einst Sitz der venezianischen Zollbehörden: die unbedingte Vereinigung von Territorialität mit individueller Geschmackskultur. Nenne man das ruhig eine Machtdemonstration und konstatiere, dass sie passgenau ist mit der schieren Vulgarität dieser Schiffe, die Venedigs Ufer möblieren. Dass auch deren Eigner prominente Akteure im globalen Kunstmarkt sind, versteht sich von selbst. Was im Folgenden geschildert wird, sind vor allem Eindrücke aus der Praxis. Es trägt gelegentlich schon Züge ritueller öffentlicher Geißelung, wenn in der seriösen, gern französischen Presse in regelmäßigen Abständen von prominenten Autoren die Teufel des Kunstmarkts an die Wand gemalt werden, mit dem Ziel ihrer (unmöglichen) Exorzierung. Das kann indessen niemals ganz radikal gemeint sein. Denn die, die so schreiben, sind notgedrungen selbst teilnehmende Beobachter, bei aller ihnen konzedierten Aufrichtigkeit. Immer sind solche Beschuldigungen gegen das System Kunstmarkt auch ein bisschen Selbstbezichtigung; nur wer im Betrieb mitmischt, kann ihn durchschauen - wenigstens ein Stück weit. Alle anderen sind die Zuschauer, haben die Rolle der Massen auf dem klassischen Boulevard. Denn eines ist gewiss: Das Ausmaß eben der Boulevardisierung des Kunstmarkts - genauer aller im weiten Sinne gesellschaftlichen Implikationen, die sich unter diesem vagen Rubrum fassen lassen - hat sich seit wenigen Jahrzehnten in unerwar- Rose-Maria Gropp 24 tete Dimensionen gesteigert. So gesehen haben jene zyklisch wiederkehrenden, durchaus ernsthaften und berechtigten Invektiven ein Doppelgesicht: Zum einen ziehen sie ihre Berechtigung aus einem Terrain, dessen innerste Verkommenheit unzweifelhaft ist - mithin naturgemäß den Reiz fürs begierige Publikum steigert -, zum anderen können sie so lebhaftes öffentliches Interesse nur erregen, weil der Kunstmarkt so raumgreifend auf dem sprichwörtlichen Boulevard angekommen ist. Schon immer demonstrierten die Mächtigen und Reichen, die Herrschenden in Europa oder auch in Asien ihren Umgang mit den Künstlern, ihren Dichtern, aber auch ihren Malern, Bildhauern und Architekten. Das Mäzenatentum und die Förderung der Künste gehörten zum unbedingten Auf- und Ausweis von Potenz und Einfluss. Eine radikal neue Qualität indessen brachte tatsächlich die mediale Ausbreitung des dahinter stehenden Marktgeschehens, dessen Aufbereitung auf ganzer Bandbreite, im gesamten Spektrum der Presse. Der Schritt von der Boulevardisierung des Kunstmarkts hin zu seiner Vulgarisierung auf ganzer Front war damit unvermeidlich. Ein erstes Flimmern dieser Entwicklung haben vielleicht schon die Impressionisten auf den Pariser Boulevards festgehalten, als wimmelndes Miteinander der Leute ins Licht gesetzt, ein noch gewissermaßen demokratisches Wogen und Strömen. Damit einher ging bereits der Bedeutungszuwachs von Händlern und Vermittlern, etwa Ambroise Vollard, in der Öffentlichkeit, während der Boulevard sich zum Ort der Massen transformierte. Es war dann nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser Betrieb, der schon immer seine speziellen Reize hatte, weil die Akteure auf seinem Terrain seit jeher ihre sensationsträchtigen Besonderheiten und Idiosynkrasien pflegten, ins Fahrwasser der allfälligen Observation geraten musste. Was davon sukzessiv ins Blickfeld rückte, während diesem die Kunst selbst mehr und mehr entglitt, waren die Allerweltsleute, die sich (den Besitz von) Kunst zur Prothetik ihrer Geldexistenz erwählten. Voilà, Venedig und die Schiffe. Ein Vergleich sei gestattet: Wer heute zum ersten Mal in seinem Leben Paris als eine Sehnsuchtsmetropole aufsuchte, wird auf den Champs Elysées, einst doch Boulevard par excellence, melancholisch werden müssen. Nachdem im neunzehnten Jahrhundert an die Stelle religiöser Kultorte die Museen getreten sind, lässt sich diese Linie leicht in ihrer Verlängerung denken. Nicht nur ist der Künstler als Genie zum Großkünstler als Medienstar mutiert, damit einher geht eine nachgerade groteske Verkultung der gesamten Sphäre. Dass deren merkantilen Wucherungen der Versuch der Intrusion in diese Geschäfte hart auf den Fersen bleiben würde, entspricht aller medieninhärenten Logik. Während ernstzunehmende Theoriebildung vor dem Kunsthandelsgeschehen (bisher) offensichtlich kapituliert, werden unermüdlich dessen schillernde Phänomene betrachtet. Das manifestiert sich in einer Phalanx von Listen, in denen vor allem das handelnde Personal Der Kunstmarkt auf dem Boulevard 25 verzeichnet ist. Die (freilich laufend zu revidierende) Rangfolge der aktuellen „teuersten Kunstwerke“ dient als Vorgabe für die Ermittlung der gerade „höchstbezahlten Künstler“, in deren Gefolge die „global agierenden“ Händler, Galeristen und anderen Vermittler chargieren, unweigerlich illustriert vom Ranking der „wichtigsten Sammler“. Spätestens bei dieser Gruppe wird nicht mehr auseinander gehalten, ob es sich um (selten genug) echte Kenner oder wenigstens Aficionados handelt oder schlicht um (meist schon anderweitig, vor allem in der Finanzsphäre profilierte) Menschen mit zu viel Geld, die sich und ihr Geltungsbedürfnis so ins Universum der Kunst zu katapultieren gedenken. Nur geringste Ansätze der Differenzierung fallen angesichts dieses vanity fair in aller Regel schlicht flach: Ob etwa ein Kunstwerk in einer Auktion so immens hoch bezahlt wurde? Oder bei seinem ersten Verkauf an einen Kunden durch den Galeristen, der dessen Schöpfer, den Künstler also, vertritt? Vulgo die Frage, wer hat da überhaupt kassiert? Die, an sich doch evidente, Unterscheidung zwischen einem Primär- und einem Sekundärmarkt - die für die eigentlichen Akteure des Gewerbes allesentscheidend ist - erreicht die öffentliche Lust an der Hochpreissensation (beinah) gar nicht mehr. Es kommen einfach diese exorbitanten Summen in die Schlagzeilen, die das aktuelle Bild des Kunstmarkts im Boulevard prägen. (Dass hinter den Kulissen dieses Budenzaubers der Kunsthandel zumal in seinem Hochpreissegment, sofern er nicht gerade die laienhaft staunende Öffentlichkeit sucht, weiterhin von extremster Diskretion gekennzeichnet ist, sei hier nur erwähnt.) An die Oberfläche wird das gleisend Augenfällige gespült: Dafür steht paradigmatisch der amerikanische Künstler Jeff Koons mit seinen blechernen, ins Riesenhafte aufgeblasenen Accessoires der Banalität und des Luxus. Dass diese im Wortsinn raumfüllenden „Balloon Flowers“, „Hanging Hearts“ oder „Diamonds“ ihre zweistelligen Dollarmillionen auf Versteigerungen erzielten (dem Sekundärmarkt also), weil sie ein Scheich, ein Oligarch oder ein Hedgefonds-Manager seiner Kollektion einverleiben wollte, bleibt ebenso unterhalb der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle wie die Tatsache, dass die involvierten Händler natürlich alles daransetzen, solche publik gemachten Preise ihrerseits aufrecht zu erhalten. Völlig in den Hintergrund tritt die Erwägung - wenn es denn überhaupt noch um die Kunst selbst gehen soll -, ob diese Käufer, auch nur in einer stillen Stunde, die sanfte Ironie begreifen, die etwa in Koons’ megalomanischen Schöpfungen nistet? Ähnliches gilt für den englischen Superartisten Damien Hirst, dessen in Formaldehyd eingelegte Haie, Schafe oder Kühe schon Aufsehen genug in Auktionen und entsprechend brühwarm kolportierten, privaten Weiterverkäufen machten, ehe er im Jahr 2007 den mit Brillanten besetzten Platinschädel „For the Love of God“ glitzernd durch sämtliche Gazetten kullern ließ, versehen damals mit einer Preisvorstellung von fünfzig Millionen briti- Rose-Maria Gropp 26 schen Pfund. Unwidersprochen sind die (selbst im Internet bei Wikipedia verzeichneten) Herstellungskosten von vierzehn Millionen Pfund für das Objekt, ungekannt im Detail ist das „Konsortium“, das den Platinkopf inzwischen, für eine unbekannte Summe, übernommen haben soll. Unbestritten ist das Exempel, das Hirst statuieren wollte: den höchsten Preis, der jemals für das Werk eines lebenden Künstlers erzielt werden sollte, im sarkastischen Flirt mit seinem Materialwert - als Nagelprobe auf die nackte vanitas. Wahrhaftig, solche Kunststücke gehören in die Historie des Boulevards - und unbedingt in die seiner Depravierung. Oder sind sie vielmehr Zeugnisse einer arroganten Missachtung all jener, die sich in seinem Feld delektieren wollen? Wenn in Frankreich der schlechtmeinende Anglizismus „peoplisation“ gebräuchlich geworden ist für den Boulevard selbst, so charakterisieren solche Werke (eben dort, wo der Kunstmarkt zum blanken Exhibitionismus tendiert) die dunkle Seite des ohne Scham zur Schau gestellten Luxus. Doch auf wessen Seite? Der Künstler, der Klientel? Genau an diesem neuralgischen Punkt sticht die - literarische - Fiktion ein. Michel Houellebecq hat das 2011 hellsichtig getan, kurz nach der Klimax einer globalen ökonomischen Krise, mit seinem wundervollen Roman Karte und Gebiet. Wirklich geht es unter Houellebecqs Feder um nichts Geringeres als den Einsatz auf Leben und Tod, zu dem die sub specie aeternitatis Petitesse einer sardonischen Abrechnung mit dem zeitgenössischen Kunstmarkt gerade recht kommt. Gleich im ersten Abschnitt nimmt sich Houellebecq zweier (oben schon erwähnter) big players an; einigermaßen kryptisch lauten die einleitenden Sätze: „Jeff Koons hatte sich gerade von seinem Sitz erhoben und voller Begeisterung die Arme ausgestreckt. Ihm gegenüber saß Damien Hirst leicht in sich zusammengesunken auf einem weißen Ledersofa, das zum Teil mit Seidenstoff bedeckt war.“ Der Trick des Autors ist vom Feinsten: Der Leser wird erst einige Seiten später begreifen, dass es da um ein Gemälde geht, dessen Schöpfer, dem Künstler Jed Martin in Paris, wiederum ein Foto als Vorlage diente. Dieser leinwanddünne Hinweis auf den Bruch, die unüberwindliche Kluft zwischen Realität und Fiktion, untergründet das ganze Buch. In einem Anfall von trunkener Rage zerstört Jed Martin, der berühmte Porträtist, wiederum wenige Seiten später, sein Gemälde mit dem Titel „Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf“. Und zwar gründlich, erst zerreißt er es, dann trampelt er darauf herum, stolpert und übergibt sich - „er hatte ganz offensichtlich das Ende eines Zyklus erreicht“. Dass darin kurioserweise mehr Wahrheit - weniger emphatisch formuliert: Wirklichkeit - liegt, als Jed Martin selbst spürt und als womöglich auch sein Autor Houellebecq, der ihn erfunden hat, ahnt, ist schon eine Pointe von Gnaden: Nicht nur, weil Jed Martin findet, dass ihm die Darstellung von Koons misslungen sei, sondern weil wenig Echtzeit später (derzeit, Der Kunstmarkt auf dem Boulevard 27 jetzt gerade; also wieder flüchtig genug) die Herrn Koons und Hirst den Kunstmarkt schon gar nicht mehr unter sich aufteilen. Die Zeitgenossenschaft der westlichen Welt hat sich inzwischen, zumal nach Maßgabe der notorischen Listen, der Finanzkraft asiatischer Vorlieben für eigene kulturelle Hervorbringungen zu beugen. (Dass übrigens Houellebecq am Ende seines Romans genau diese, allgemein zivilisatorische Zukunftsvision beschwört, sei immerhin erwähnt.) Houellebecq, diese misanthropische Pflanze, gönnt sich im Zentrum seiner menschlichen Tragikomödie im Gewand von Jed Martins Vaters, der dem Sohn von William Morris, dem weiland Gründer der Arts & Crafts- Bewegung in England, erzählt hat, eine weitere knackige Pointe. Und sein eigenes Alter Ego, das Houellebecq dem Roman in der Rage seiner Sardonik auch nicht erspart, lässt er aus einem Text von William Morris aus dem Jahr 1889 zitieren: „Unsere Lage als Künstler lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wir sind die letzten Vertreter des Handwerks, dem die kommerzielle Produktion den Todesstoß versetzt hat.“ Mit dieser Feier der Handwerklichkeit - die übrigens in schöner Fügung aus der Entstehungszeit der Boulevards stammt (und außerdem kaum verhohlen Houellebecqs Selbstbild trifft) - schlägt der Autor mit dem Zitat des Schriftstellers, der dem Künstler im Roman begegnet, aller zeitgenössischen Freihändigkeit links und rechts ins Gesicht. Es kann zum zynisch-heiteren Schluss kein Zufall sein, wenn Houellebecq das alles entscheidende, ja finale Treffen zwischen seinem Protagonisten Jed und dessen Galeristen Franz - Jed „hatte das deutliche, unleugbare Gefühl, dieses Lokal zum letzten Mal zu betreten; er wusste auch, dass es seine letzte Begegnung mit Franz sein würde“ - in einem Bistro Chez Claude (so heißen alle Kneipen auf der Welt) in der Rue du Chateau-des-Rentiers (was für ein Name; selbstredend gibt es sie in Paris) stattfinden lässt. Dort, wo die ganz normalen Leute sich alltäglich betrinken, ist der Ort, an dem sich Jed verabschiedet aus dem herrschenden künstlerischen Diskurs, der ihm und auch Franz Millionen einbrachte. Es ist eine der zahllosen Seitenstraßen, eine rue eben, abzweigend von der breiten Prachtstraße des Selbstgenusses, der nie einer war, längst keiner mehr ist. Abseits des Boulevards werden da die Nebendinge zu Hauptdingen des Lebens. Und selbst in dieser Volte macht sich Houellebecq noch einmal (vielleicht zum letzen Mal in diesem Roman) lustig, indem er das Klischee der Bohemiens aufruft, flankiert von altklug banalen Sätzen über das Geschehen am Kunstmarkt. Liest man Karte und Gebiet genau, spielt sich diese Szene womöglich bereits in einer nahe(nde)n Zukunft ab - als eine Eröffnung für die finale Wendung des Romans und seines Helden. Begrüße der Leser also freudig die nun folgende Vision einer Zukunft, wie sie gewesen sein wird; die letzten Sätze des Buchs werden lauten: „Dann wird Rose-Maria Gropp 28 alles ruhig, und zurück bleiben nur sich im Wind wiegende Gräser. Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.“ So läuft das aber dann doch nicht, jedenfalls nicht so zügig, egal ob Houellebecq das mit bedacht hat oder nicht. The show must go on. Die metallenen Fetische von Jeff Koons werden nicht absehbar verrotten. Und wenn Damien Hirsts Diamantenschädel Recht behält, wird der Materialwert seiner Schöpfung „For the Love of God“ seinen künstlerischen Mehrwert eines absehbaren Tages an den internationalen Börsen überschreiten. Verrückt genug: Auch das wäre der späte Triumph des Handwerks über die künstlerische Schöpferenergie. Michel Houellebecq, das sagen viele, hat einen Roman über den Kunstbetrieb geschrieben. Das hat er - und hat er nicht. Houellebecq hat vor allem eine Farce geschrieben, eine wilde witzige Parabel über die Unmöglichkeit, dass noch eine irgend zur Verfügung stehende Narration der menschlichen Existenz ihren Zusammenhang spenden könnte. Jed Martin, sein so erfolgreicher Marktkünstler, kapituliert vor der Banalität dieser Zumutung (im Leben wie in der Kunst), die zugleich einzige Hoffnung der menschlichen Kondition hätte sein können. Dass er, bei aller Verweigerung der Vulgarisierung, immerhin kassiert, was er kriegen kann, macht ihn genau zum contemporary artist. So betrachtet, hat Houellebecq schon über die Kunst und ihren Markt geschrieben; denn der Besitz von Kunst sollte immer zur Erhöhung, wenn nicht gleich zur Verewigung dienen. Sollte er doch jenen Sinn generieren, den der schiere Verlauf eines Lebens - als Machthaber oder aufsteigender Bourgeois, als Oligarch oder Entrepreneur, als Scheich oder Investor - nicht leichthin gewährleistet. Houellebecq hadert durchaus, mit jenen Modellen von Sinnstiftung nämlich, unter deren unbedingtem Diktat (der Besitz von) Kunst zur Ego-Prothese hingerichtet wird, zu tragen vor aller Öffentlichkeit. Der Boulevard ist der Laufsteg des kapitalistischen Narzissmus geworden. Michel Houellebecq hat sich da schon mal verdrückt. Vor uns liegen die verkommenen Elysischen Felder. Die Flora wartet. L. Cassandra Hamrick Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts (Mercier, Béranger, Murger, Gautier, Baudelaire) Die Stadt als Thema Das Thema ‚Stadt‘ gilt bereits seit langem als besonders wichtig in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Studien unter anderem von Priscilla Ferguson, Christopher Prendergast und Reinhard Thum haben nochmals gezeigt, wie komplex und vielschichtig die Rolle der Stadt in der literarischen Produktion dieser Epoche ist. 1 Natürlich war die urbane Welt auch vor dieser Zeit in der französischen Literatur präsent. In seiner monumentalen Untersuchung zu Gedichten über Paris erkennt Pierre Citron in dem während des 14. Jahrhunderts lebenden Eustache Deschamps den ersten Dichter, dessen Werk wirklich die Präsenz von Paris widerspiegelt. 2 Doch sollte es bis zum 18. Jahrhundert dauern, ehe die Stadt - und Paris im Besonderen - in Texten wie Lessages Le Diable boiteux (1707), Montesquieus Les Lettres persanes (1721), Restif de la Bretonnes Le Paysan perverti (1776) und seinem Les Nuits de Paris (1788) sowie in Rousseaus Anklage gegen das latente Böse der urbanen Gesellschaft in den Fokus der Schriftsteller gerät. Noch bedeutender für die Entstehung der Stadtlandschaft als Hauptthema literarischer Produktion ist das Erscheinen von Louis-Sébastien Merciers zwölfbändigem Tableau de Paris (1781-88). Denn es ist dieses Werk, welches das Modell für das Schreiben und Neuschreiben der stets unvollendeten von Paris im 19. Jahrhundert werden wird. 3 „Je n’ai fait ni inventaire, ni catalogue, j’ai crayonné d’après mes vues“ schreibt Mercier im Vorwort seines Werkes und fügt hinzu „Je n’ai voulu que peindre et non juger“ 4 . Das entstandene Gemälde, oder tableau, sollte das eines observateur sein, nicht das eines philosophe 5 , ganz im Gegensatz zu dem, was seine aufklärerischen Zeitgenossen hervorgebracht hatten. Dem Projekt liegt ein inhärenter Anspruch auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit zugrunde, ein Zugang, der für viele bekannte Autoren des 19. Jahrhunderts förmlich zur Obsession wird, wenn sie versuchen mit der sich ständig wandelnden und zunehmend komplexeren urbanen Landschaft der französischen Hauptstadt Schritt zu halten. Und tatsächlich bringt der Wahn, all das, was das Pariser tableau ausmacht, zu klassifizieren und zu kategorisieren, nicht nur zahlreiche aufeinander folgende Tableaux (Nouveau Tableau de Paris L. Cassandra Hamrick 30 au XIX e siècle, 1834; Texiers Tableau de Paris, 1852; Vallès Le Tableau de Paris, 1882-83 etc.) und ähnliche Arbeiten (Paris ou le livre des cent-et-un, 1831-35; Les Français peints par eux-mêmes, 1840; Hetzels Le Diable à Paris, 1845-46; Privat d’Anglemonts Paris inconnu, 1861; Du Camps Paris, 1869-75; und nicht zu vergessen die 131 Physiologies 6 , die alleine zwischen 1840-42 erschienen) hervor, sondern kennzeichnet auch direkt oder indirekt viele Texte, die heute als „les grands chefs-d’œuvre“ des Jahrhunderts gelten. Dies zeigt sich am deutlichsten am Roman: Balzac und seine „espèces humaines“; Zola und seine „quatre mondes“; Flaubert, dessen Madame Bovary den Untertitel trug: Mœurs de province, und dessen Éducation sentimentale die beunruhigenden Effekte des urbanen Pariser Raums fokussiert, der von tiefgreifenden Unruhen betroffen ist. Vom Tableau de Paris zu den „Tableaux parisiens“ Selbst ein scheinbar so unwissenschaftlicher und am Quantifizierbaren gänzlich desinteressierter Dichter wie Baudelaire kommt nicht umhin, gewisse Klassifikationen in seine poetische Produktion mit einfließen zu lassen. In Les Fleurs du Mal beispielsweise erkennt man ein bewusstes Bemühen des Autors, etwas zu konstruieren, was Barbey d’Aurevilly als „une architecture secrète, un plan calculé par le poète“ 7 bezeichnet, wo bewusst Trennungen vorgenommen werden, um so zu vereinen, was andernfalls fragmentiert bleiben könnte. Für die 1861 erschienene Ausgabe von Les Fleurs überarbeitete Baudelaire nochmals die architecture des Werks, indem er einen neuen Abschnitt hinzufügte und darin sein eigenes tableau von Paris entwarf. Tatsächlich weisen Baudelaires „Tableaux parisiens“ und sein späteres „Spleen de Paris“ („petits poèmes en prose“) gewisse Parallelen zu Merciers Tableau auf. Dies überrascht kaum, deutet Baudelaire doch gleich bei drei verschiedenen Gelegenheiten an, über den Autor schreiben zu wollen. 8 Ebenso wie Merciers Werk haben einige von Baudelaires „tableaux“ klassifizierbare soziale Typen als Ausgangspunkt, die im allgemeinen durch den Gebrauch des bestimmten Artikels hervorgehoben werden: „Les Petites Vieilles“, „Les Aveugles“ in Les Fleurs du Mal; „Les Foules“, „Les Veuves“ in Spleen de Paris. Gleichermaßen findet sich in beiden tableaux die Figur des „beobachtenden Malers“ als Annäherung an die Stadt. Beide tableaux gehen aus der Fähigkeit zu sehen hervor, entweder indem man die Stadt zu Fuß durchstreift oder indem man die „Pariscape“ vom Fenster oder Balkon aus überblickt. Beide Textarten beziehen so „Szenen“ aus dem urbanen Alltag mit ein, deren wahre Bedeutung der Unachtsame nicht „sehen“ kann. „Ce livre … remettra … des scènes qu’à force de les voir [les habitants de Paris] n’apercevaient pour ainsi dire plus“, erklärt Mercier in seinem Vorwort. Im Falle von Baudelaire ist es des Dichters scharfsinniges Auge, fähig die Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 31 „innombrables rapports“ der „énormes villes“ des modernen Lebens wahrzunehmen, was seinen eigenen „tableaux“ eine erweiterte Dimension verleiht. 9 Und obwohl beide Autoren typische Charakteristika eines „flâneur“ aufweisen, ist es offensichtlich, dass ihre jeweiligen Beobachtungen an völlig unterschiedliche Arten von Malerei gebunden sind. Für Baudelaire kann das physikalisch Beobachtbare ein Fenster in ein tieferes Verständnis des inneren Ich sein. „Qu’importe ce que peut être la réalité placée hors de moi, si elle m’a aidé à vivre, à sentir qui je suis et ce qui je suis? “ schreibt der Dichter am Ende von „Les Fenêtres.“ 10 Die äußere Realität („la réalité placée hors de moi“) oder der öffentliche Raum führt zum Wissen über den ganz eigenen inneren Raum. Im Gegensatz hierzu bleibt das Beobachtbare für Mercier im öffentlichen Raum. Eine scharfe Beobachtung der äußeren Realität führt nicht zum Wissen über das innere Ich, sondern eher über die externe Welt. Laut Mercier (trotz seines Bemühens, sich von der Tradition des philosophe zu distanzieren) beinhaltet Wissen über das physikalisch Beobachtbare einen moralischen und utilitaristischen Wert: „La connaissance du peuple … sera donc toujours la plus essentielle à tout écrivain qui se proposera de dire quelques vérités utiles propres à corriger l’erreur du moment, et je puis dire que c’est la seule gloire à laquelle j’ai aspiré“, bemerkt Mercier zum Ende des Vorworts seines Tableau. Mit Baudelaire verschob die auktoriale Kontrolle, wie Mercier sie über den urbanen Raum ausübte, ihren Fokus nach innen. Urbaner Raum / Künstlerischer Raum Der urbane Raumbegriff - ob nun innen und persönlich oder außen und öffentlich - tritt in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts stark in Erscheinung. Der urbane Raum von Paris im Besonderen wurde von oben betrachtet (von den Türmen Notre-Dames in Hugos Roman, vom Friedhof Père Lachaise in Balzacs Père Goriot und von Montmartre aus in Baudelaires geplantem „Épilogue“ zu Les Fleurs du Mal); von unten (die Pariser Abwasserkanäle in Hugos Les Misérables); von innen heraus (Eugènes Sues Les Mystères de Paris); und als ein zu überwindender Raum (Gautier, Baudelaire). Die Liste scheint endlos. Diese kurze Arbeit widmet sich dem Teil des urbanen Raums, der vom Künstler und Dichter bewohnt wird. Mittels weniger Bilder und Texte - darunter Beispiele von Mercier, Béranger, Murger, Gautier und Baudelaire - soll hier nicht ein komplettes tableau gezeichnet werden, sondern lediglich ein Aufriss davon, wie der künstlerische Raum im sozio-ökonomischen Kontext der Zeit empfunden wurde und wie sich diese Wahrnehmung besonders nach 1851 entwickelte. L. Cassandra Hamrick 32 Die Dachkammer (oder Mansarde) als künstlerischer Raum Für heutige Leser und Musikliebhaber entstammt das Klischee des künstlerischen Raums im 19. Jahrhundert wahrscheinlich Puccinis La Bohème (1896), das auf Henry Murgers und Théodore Barrières Drama La Vie de bohème von 1849 basiert, welches wiederum von bestimmten Teilen aus Murgers Scènes de la vie de bohème, einer Serie von Feuilletons, erstmals erschienen in Le Corsaire-Satan zwischen 1845 und 1849, inspiriert war. Die fraglichen „scènes“ drehen sich vornehmlich um zwei Schauplätze. Der erste ist das Café Momus, ein öffentlicher Raum, in dem der Künstler (ein Begriff, welcher sowohl Maler, Musiker, Philosophen und Dichter umfasst) mit der äußeren, materialistisch eingestellten Welt, häufig unempfänglich für den intrinsischen Wert der Künste, verbunden ist. Der zweite Ort ist die berühmte Dachkammer, ein nur spärlich möblierter Raum in der obersten Etage eines fünf- oder sechsstöckigen Wohnblocks, dessen Mansardenfenster den wohlbekannten Panoramablick über die Kaminrohre und Schrägdächer von Paris überragen. Im Gegensatz zum Café, dessen öffentliche Funktion es als generell offenen Raum festlegt, ist die Dachkammer, deren rein physikalische Lage - weit ab von der öffentlichen Arena, hoch über der gefühllosen, künstlerisch verarmten Masse (Geldeintreiber, unbezahlte Vermieter und Café- Besitzer) - ein überwiegend geschlossener Raum, in dem der Künstler sein ihm angeborenes Genie nutzt, um Kunstwerke (Gedichte, Gemälde, Musik etc.) zu schaffen. Dennoch ist der geschlossene Raum nicht gänzlich von der Außenwelt abgeschottet, da sich das Mansardenfenster auch zum Rest der Welt öffnen lässt. So wurde die Dachkammer zum Tropus für eine bestimmte Form vom künstlerischen urbanen Raum als Rückzugsort. Natürlich lebten nicht alle Künstler dieser Epoche tatsächlich in einem dachkammerartigen Wohnraum. So konnten die räumlichen Dimensionen und die Lichtverhältnisse der Dachstube als zu einengend für die Bedürfnisse des schaffenden Künstlers sein. Der Bildhauer Jehan Duseigneur beispielsweise hatte sein Studio in einem Obstladen. 11 Dies war außerdem der Treffpunkt des Petit Cénacle, dessen Mitglieder (unter anderem Gautier, Nerval, Célestin Nanteuil, Arsène Houssaye) die jungen Anhänger Victor Hugos waren und die eine der ersten Gruppen waren, die das Prinzip der L’art pour l’art (Die Kunst um der Kunst willen) annahmen. Später hausten einige Mitglieder des Petit Cénacle in heruntergekommenen und zum Abriss bereitstehenden Wohnungen im Impasse du Doyenné nahe dem Carrousel und an den Louvre angrenzend. „… nous sommes / Dans la verte oasis, loin du désert des hommes,“ schrieb Houssaye in seinem Gedicht „La Bohème du Doyenné.“ 12 Selbst später wohnten noch Baudelaire, der Maler Boissard, für kurze Zeit Gautier und andere im Hôtel Pimodan (das heute wohl bekannte Hôtel Lauzun) auf der Île Saint-Louis, welche zu dieser Zeit noch überwiegend unbewohnt war. In Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 33 vielen Fällen jedoch hatten Künstler und Dichter keine feste Unterkunft - oder blieben zumindest nicht lange an ein und demselben Ort. Es ist zum Beispiel bekannt, dass allein Baudelaire seinen Wohnsitz in Paris über vierzig Mal wechselte! 13 Doch trotz der Varietät und Fluktuation in den Unterkünften der Künstler erlangte das Bild der Kammer unter dem Dachsims mit Ausblick über das gesamte Stadtbild fast schon allegorische Dimensionen als Symbol für einen Lebensstil, der sowohl räumlich als auch psychologisch abseits der öffentlichen Sphäre lag. Ein interessantes Beispiel dieses Phänomens findet sich im Werk eines Dichters und Liedermachers dieser Zeit, Pierre-Jean Béranger (1780-1857). Bewundert von Menschen aller Schichten - von den großen Schriftstellern (Chateaubriand, Hugo, Sainte-Beuve) bis zum gemeinen Volk - erlangte Béranger ungeheure Popularität durch Texte, die er zu bereits bestehenden Melodien seiner Zeit schrieb. Obwohl heute wenige Kritiker viel Bewundernswertes in Bérangers Werk finden, darf nicht vergessen werden, dass das literarische Umfeld, in dem der Schriftsteller produzierte, noch stark von oralen Traditionen geprägt war. In dieser Epoche zählten „chanson“ und „chansonnier“ ebenso wie die Operette und das Varitété zu den beliebtesten Formen der Unterhaltung für die Bourgeoisie. Somit sind Bérangers „Gedichte“ eigentlich poème-chansons. Dies waren Texte, die zum Singen bestimmt waren und deren ultimativer poetischer Wert an die Interpretation durch die Stimme gebunden war. Wie häufig auch bei einem Opernlibretto, kann der Text allein leer und allzu simpel, voll von Plattitüden und Trivialitäten scheinen. Wie Sainte-Beuve 1850 über Béranger bemerkte, „… du moment que nous ne chantons plus et que nous lisons, le faible, le commun, le recherché et l’obscur nous apparaissent même dans ces petites trames si bien ourdies.“ 14 So etwa im Fall von „Le Grenier“, einem 1828 erschienenen teilweise autobiographischen, decasyllabischen Lied-Gedicht aus fünf Strophen. Durchdrungen von melancholischen Tropen im Zusammenhang mit dem allzeit beliebten romantischen Thema von la fuite du temps, erinnert das Lied an die vergangene Zeit, als der Dichter, ein junger sich abmühender Mann, ein bescheidenes, aber doch freudvolles Leben mit seiner hübschen und lebhaften Lisette führte und in einem Zimmer, „l’asile“ genannt, im sechsten Stock lebte. 15 „Cette petite élégie eut un succès immense“ liest man im Grand Dictionnaire universel. Dies war ein Thema, mit dem sich die breite Masse identifizieren konnte: „L’auteur s’efface; il ne parle pas, il ne chante pas pour le public, il murmure pour lui, et ce n’est point sa faute si dans le public on l’a écouté et compris.“ 16 Das Gedicht enthält einige wichtige „Marker“, die für das Stereotyp des bohemistisch-künstlerischen Raums charakteristisch sind. Am offensichtlichsten ist natürlich, dass der physische Ort der dichterischen Unterkunft als Raum von der öffentlichen Welt entrückt ist. Hingegen stellen sich die L. Cassandra Hamrick 34 sozio-ökonomischen und politischen Dimensionen des künstlerischen Raums in zeitlicher Hinsicht nicht ganz so augenscheinlich dar. „Je viens revoir l’asile où ma jeunesse / De la misère a subi les leçons“ (1-2), vertraut der Dichter dem Leser in seinen Anfangszeilen an und fügt zwei Zeilen später hinzu: „Bravant le monde, et les sots, et les sages, Sans avenir, riche de mon printemps, Leste et joyeux, je montais six étages. Dans un grenier, qu’on est bien à vingt ans.“ (5-8) Neben dem rosigen Bild des fröhlichen Lebens in der Dachkammer tut sich eine Kluft auf zwischen dem mittellosen Dichter („la misère“ kennzeichnet seine Jugend „sans avenir“) und der Öffentlichkeit, die der Sache der Kunst nicht gänzlich wohlgesonnen scheint (der Dichter muss sich sowohl „les sots“ wie „les sages“ zuwenden). In der dritten Strophe etwa zeigt sich nochmals die Realität der sozio-ökonomischen Hintergründe dieses poetischen tableau; denn darin findet der Poet heraus, dass es sich bei seiner liebreizenden, scheinbar bescheidenen amourette (Mitglied dieser legendären Klasse bekannt als grisettes), die ihr Tuch als Vorhang nutzt, um die Intimität des Paars zu wahren („Déja sa main à l’étroite fenêtre / Suspend son châle en guise de rideau“; 19-20), in Wirklichkeit um eine femme entretenue handelt („Jai su depuis qui payait sa toilette“; 23). Schließlich erinnert uns die vierte Strophe an die historischen und politischen Dimensionen der Mentalität des Künstlers und besonders an die Bedeutung des napoleonischen Mythos. Immerhin schien jener naive Optimismus, der so typisch für die bohemistische Figur ist, durchaus angemessen, nachdem Frankreich (und im erweiterten Sinne der Künstler) dank der militärischen Siege des jungen Napoleon im Ausland geradezu unüberwindbar schien: „A Marengo, Bonaparte est vainqueur! Le canon gronde, un autre chant commence. Nous célébrons tant de faits éclatants; Les rois jamais n’envahiront la France.“ (28-31) Auch wenn gelegentliche sozio-ökonomische und politische Anspielungen auf eine gewisse Desillusionierung des alten und weisen Poeten hindeuten, wie er auf eine vergangene Ära zurückschaut, stören diese kaum das Gesamtbild eines „grenier-asile“ als einer Art „paradis perdu“. Ganz im Gegenteil dienen die negativen Aspekte dazu, das bitter süße Bild des zeitlichen Raums weiter zu entwickeln, der die quantifizierbaren Folgen der ökonomischen Zusammenhänge längst überschritten hat. Somit bleibt der „grenier“, ungeachtet aller externen materialistischen Zwänge, letztlich im Bewusstsein von Bérangers Publikum des 19. Jahrhunderts. Und obwohl diese Wahrnehmung des künstlerischen Raums der Vergangenheit an- Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 35 gehört, wird er in Liedern und Bildern weiterleben, als ein Ort „Pour rêver gloire, amour, plaisir, folie“ (37). Als eine Art künstlerischer Raum, gesehen durch die Augen eines Dichters, der Zeuge der Evolution dieses Raumes geworden ist, weist Bérangers „grenier“ einige Parallelen zu der künstlerischen Situation im letzten Kapitel von Henry Murgers 1851er Edition seiner Scènes de la vie de bohème auf. Darin ruft der bohemistische Maler Marcel mit seinem Gesang die vergangene Zeit seiner eigenen, zwar ärmlichen, aber dennoch fröhlichen Jugend in der Gesellschaft seiner amourette, Musette wach. In Murgers Text ist der Künstler im Gegensatz zu Bérangers Gedicht jedoch nicht mehr vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Marcel und seine Freunde, wovon jeder eine Kunstform repräsentiert (Rodolphe der Poet, Schaunard der Musiker, Gustave der Philosoph), haben sich bewusst und mit voller Überzeugung in „le monde officiel“ eingefügt, das heißt, sie sind Teil der bürgerlichkommerziellen Welt geworden. Jenes Kapitel wurde zwei Jahre nachdem die finale Episode der Scènes in Le Corsaire erschienen war geschrieben und sollte einer Serie von feuilletons, welche über einen Zeitraum von fünf Jahren nur unregelmäßig veröffentlicht wurden, eine gewisse Einheit und Kohäsion bringen. Dabei waren die Dimensionen des künstlerischen Raums 1851 gänzlich andere als jene aus früheren Episoden, wovon die erste 1845 erschien. Die Mittelklasse gewann immer mehr Bedeutung als wesentlicher Abnehmer und Künstlern wie Schriftstellern ohne eigene Mittel - also der Mehrheit - wurde klar, dass gewisse Zugeständnisse gemacht werden mussten, um der Nachfrage des Marktes gerecht zu werden. Es war schlichtweg nicht möglich, längere Zeit ohne Nahrung und am Rande der Gesellschaft zu leben, um so seinen Idealen treu zu bleiben. Dies war eine der Illusionen der Jugend. Die Zeit der Ideale und der Aufopferung war um 1851 vorüber. „Nous sommes morts et enterrés. La jeunesse n’a qu’un temps! “ wie Marcel Rodolphe erklärt. 17 Ein offenes Fenster Es ist wichtig anzumerken, dass die Dachkammer oder der „grenier“ sowohl in Bérangers Gedicht als auch in Murgers Scènes einerseits Rückzugsort des Künstlers ist, andererseits aber auch einen Zugang zum öffentlichen Raum ermöglicht. Das Mansardenfenster ist ein offenes Fenster (wie man auch in Hippolyte Pauquets Gravur von Bérangers „Le Grenier“ erkennen kann). 18 Mit anderen Worten bleibt die Möglichkeit einer Verflechtung bestehen. Der Begriff des künstlerischen Raums hat sich seit Vignys Chatterton (1835) weiterentwickelt, in dem sich der innere Raum als Sackgasse herausstellte und nur noch zur Selbstzerstörung führte. „J’ai voulu montrer l’homme spiritualiste étouffé par la société matérialiste“ erklärt Vigny mit Blick auf sein L. Cassandra Hamrick 36 Drama. 19 In seiner Kritik zur Neuinszenierung des Stücks 1857 schreibt Gautier, wie weit sich die Bedingungen seit den ersten Aufführungen zur Hochzeit der Romantik verändert hatten: „En 1835, cela paraissait tout simple d’aimer Chatterton; mais aujourd’hui comment s’intéresser à un particulier qui ne possède ni capitaux, ni rentes, ni maison, ni propriétés au soleil, et qui ne veut pas même accepter de place, sous prétexte ... qu’il est un homme de génie? “ 20 Trotz des immensen Erfolgs des Stücks waren die Gefahren des Chatterton- Modells bereits 1835 allzu offensichtlich, denn Selbstmorde waren unter einigen Künstlern und solchen, die sich für welche hielten, nichts Unübliches. „L’on entendait vraiment dans la nuit craquer la détonation des pistoles solitaires“, wie Gautier in einer Rückschau anmerkt. 21 Als sich der Petit Cénacle und die Bohème du Doyenné bewusst von der künstlerisch unsensiblen Bourgeoisie distanzierten, geschah dies nicht etwa aus einem Impuls zur Grübelei und zum Müßiggang. Im Gegenteil, Arsène Houssaye erinnert in seinen Confessions an die bedingungslos enthusiastische und leidenschaftliche Betriebsamkeit des künstlerischen Lebens der Doyenné: „…tous les jours, vraie fête pour le cœur et pour l’esprit. C’était en chantant comme de gais compagnons qu’on se mettait à l’œuvre, Théo[phile Gautier] à Mademoiselle de Maupin, Gérard [de Nerval] à la Reine de Saba, [Édouard] Ourliac à Suzanne, moi à la Pécheresse… Au fond, nous étions studieux, obstinés, résolus…“ 22 Für diese jungen Schriftsteller repräsentierte die „verte oasis“ nicht nur eine Zuflucht von der Leere des bürgerlichen Lebens („le désert des hommes“), sondern auch einen Ort, an dem ein künstlerisches Projekt innerhalb eines unterstützenden Umfelds konkrete Gestalt annehmen konnte. Genie allein war nicht genug - um sein Ideal herauszubilden, musste der Künstler auch über handwerkliches Geschick verfügen. In einer Zeit, in der die Bourgeoisie die wichtigste Konsumentengruppe darstellte, musste das Kunstwerk außerdem mit Blick auf eben diesen Zielmarkt konzipiert sein. „Toute œuvre demande un public; les difficultés de la vie matérielle sont là“, verkündet Gautier in seinem Artikel „De l’application de l’art à la vie usuelle“, welcher - kurioserweise - ein Jahr nach der Veröffentlichung seines kontroversen Vorworts zu Mademoiselle de Maupin zur Verteidigung von der Kunst um der Kunst willen erschien. „Personne ne nous a jamais soupçonnés d’être utilitaires; humanitaires, négrophiles et philanthropes…“, erklärt Gautier. „Mais nous voudrions que les artistes comprissent qu’ils ont tort de s’isoler ainsi dans je ne sais quelle abstraction idéale en dehors de toute application possible.“ Die Idee, dass der Künstler auch Arbeiter war („Assurément ils sont [poètes], mais ils sont aussi ouvriers“, wie Gautier im gleichen Artikel bemerkte), implizierte dann ein gewisses Maß an Vernetzung von künstleri- Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 37 schem Raum und äußerer Welt. Dies war keine neue Idee. Tatsächlich müssen wir weiter zurückgehen als unser ursprüngliches Modell für das Pariser tableau, Merciers Tableau de Paris, um einen Nachweis für diese Ansicht zu finden. „Parlons d’abord de la partie la plus curieuse de Paris, les greniers“ verkündet Mercier unmittelbar nach seinem einführenden „Coup d’œil général“ 23 . Nach Mercier kann der grenier mit dem erhabensten Teil des Menschen verglichen werden, dem Geist. Jenen, die in den höchstgelegenen Wohngegenden der Hauptstadt leben (der Maler, der Poet, „les enfants de l’art“), wird daher ein privilegierter Platz in Merciers Tableau gewährt, doch ist dies ein Ort, der notwendigerweise nach außen offen ist, womit sich seine Bewohner ständig in Situationen des Austauschs befinden. „Comme dans la machine le sommet renferme la plus noble partie de l’homme, l’organe pensant, ainsi dans cette capitale, le génie, l’industrie, l’application, la vertu occupent la région la plus élevée. Là, se forme en silence le peintre; là le poète fait ses premiers vers; là sont les enfants des arts, pauvres et laborieux, … donnant des inventions utiles et des leçons à l’univers; là se méditent tous les chefs-d’œuvre des arts; là on écrit un mandement pour un évêque, un discours pour un avocat général, un livre pour un futur ministre, un projet qui va changer la face de l’état, la pièce de théâtre qui doit enchanter la nation.“ Als künstlerischer Raum beinhaltet der grenier für Mercier dann sowohl Genie als auch das Ausschöpfen des Genies in konkreten und nützlichen Kontexten. Die Armut ist für diese schaffenden „enfants des arts“ zwar stets präsent, doch der höchste Arbeitsplatz der französischen Hauptstadt ist zugleich ein Ort der Tugend. Merciers grenier-Begriff schien während der meisten Zeit des 19. Jahrhunderts im literarisch-künstlerischen Milieu präsent zu sein, hatte als Prototyp aber besondere Bedeutung während der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Obwohl Edmond Texier 1852 in seinem Tableau de Paris noch Teile von Merciers Definition nachbildet, um das Leben unter der Dachrinne in einem „ausschnitthaften“ Stich eines fünfstöckigen Pariser Wohnblocks zu beschreiben, ließen Veränderungen in den sozio-politischen Dimensionen der Welt des Künstlers Merciers Modell nicht mehr zeitgemäß erscheinen. In der Tat scheint Texiers ganzes Tableau mit seinen stolzen 1500 Stichen seltsam starr und ohne jedes Gefühl für die veränderte Dynamik, von der die Gesellschaft seit den Umstürzen von 1848 ergriffen war. Dennoch ist es kaum verwunderlich, wenn das von Texier erstellte tableau einen künstlichen Eindruck zu erwecken scheint, zeigt sich bei genauerer Betrachtung doch, dass eine Reihe der 1500 Abbildungen (darunter der Stich des Pariser Wohnblocks) schon sieben Jahre zuvor in Hetzels Le Diable à Paris erschienen waren! 24 Edmond Texiers Tableau de Paris ist 1852 also eines, das in der Vergangenheit verankert bleibt. L. Cassandra Hamrick 38 Öffnung des urbanen Raums / Schließen des künstlerischen Raums In den 1850er Jahren und besonders nach dem coup d’état Louis Napoleons scheint eine veränderte Wahrnehmung des künstlerischen Raums einzusetzen. Es erscheint daher lohnenswert, die Parallelen zwischen der Öffnung des Pariser Stadtgebiets in Folge des Haussmann’schen Erneuerungsprojektes einerseits und dem entsprechenden Schließen des inneren künstlerischen Raums andererseits zu erforschen. Früher im gleichen Jahrhundert und entsprechend Merciers Prototyp ernährte jener Aspekt der Geschlossenheit der eng gedrängten Wohnungen der Doyenné diese künstlerische Umwelt, in der eine Öffnung paradoxerweise stets möglich blieb. Doch als die alten, engen Gassen abgerissen wurden, um Platz für die breiten Boulevards zu machen, brachte die daraus resultierende Offenheit ein Gefühl des Unbehagens und der Umsiedlung mit sich. In „Le Cygne“, Baudelaires wohl bekanntestem seiner „Tableaux parisiens“ wird der Begriff der Enteignung vielleicht mit der größten Bitterkeit wiedergegeben. 25 Indem er die urbane Landschaft - oder vielmehr deren Fehlen - heraufbeschwört, bezieht sich Baudelaire besonders auf das „nouveau Carrousel“, also das alte Doyenné Viertel, in dem die Bohème einst logierte. Ach! Äußerlich hat sich alles verändert: „Le vieux Paris n’est plus.“ 26 Vergangen sind die alten, heruntergekommenen Wohnungen, und zumindest nach außen hin sind auch ihre metonymischen Anspielungen verloren. Denn obwohl die Bohème der Doyenné schon seit längerem verstreut war, verblieben die Reste ihres einstigen Habitats (die Wohnungen, aber auch die implizite künstlerische Umgebung) als konkretes Symbol der Leidenschaft und des Glaubens an das künstlerische Unternehmen. Mit ihrem physischen Verschwinden aus dem urbanen und künstlerischen Stadtbild zu Beginn des Second Empire, 27 muss sich der Dichter nach innen - nicht nach außen - wenden, um das fehlende tableau wiederzufinden: „Je ne vois qu’en esprit tout ce camp de baraques, Ces tas de chapiteaux ébauchés et de fûts, Les herbes, les ros blocs verdis par l’eau des flaques, Et brillant aux carreaux, le bric-à-brac confus.“ 28 Der Abriss und die Entrümpelung des alten Viertels bewirken einen Rückzug des Poeten ins Innere, welcher die Veränderungen durch das Aufbrechen des urbanen Raums als äußere Zeichen einer inneren und unveränderlichen Realität sieht. „Paris change! mais rien dans ma mélancolie N’a bougé! palais neufs, échafaudages, blocs, Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie, Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.“ 29 Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 39 Wie der Schwan (der „cygne“, das zentrale „signe“ dieses Gedichts) in einer sterilen und trostlosen Umgebung strandet und wie zahllose andere, die verloren haben, was nie mehr zurückgeholt werden kann („quiconque [qui] a pardu ce qui ne se trouve / Jamais, jamais! “ 30 ), so fühlt sich auch der Poet als Verbannter in einem Raum, der äußerlich bedrückend geworden ist. Mehr noch, der Rückzugsraum von der äußeren Welt ist kein quantifizierbarer, physischer Raum mehr - wie es bei der Dachkammer des Künstlers war - sondern hat eher psychologische und existentielle Dimensionen erhalten. In „Le Cygne“ ist es der Wald, der dem Dichter Zuflucht gewährt, doch handelt es sich um einen inneren Wald: der Wald des Geistes (la forêt où mon esprit s’exile“ 31 ). Victor Hugo gewidmet, der selbst nach dem Staatsstreich von 1851 ins Exil verbannt wurde, zeigt „Le Cygne“ einen Baudelaire „dépolitiqué“, um des Dichters eigene Wendung zu gebrauchen. 32 Baudelaire sowie eine Reihe seiner Zeitgenossen - darunter Gautier 33 und Flaubert - hatten gehofft, die Revolution von 1848 und die Zweite Republik würden in eine Ära von Reformen und neuer Unterstützung der Künste hinüberführen. Der Staatsstreich brachte hingegen Unterdrückung, Zensur und 1857 die wohl bekannten Prozesse um Les Fleurs du Mal und Madame Bovary, die beide wegen Untergrabung der öffentlichen Sitten angeklagt wurden. Das Doyenné-Ideal wurde eingeebnet, physisch und sinnbildlich zu Boden gerissen. Der innere Raum des Künstlers überschnitt sich nicht länger mit der äußeren, öffentlichen Sphäre, was als Verrat empfunden wurde: „Certes, je sortirai, quant à moi, satisfait D’un monde où l’action n’est pas la soeur du rêve,“ 34 verkündet der Poet in Baudelaires „Le Reniement de saint Pierre“. „Le rêve“ beziehungsweise das humanitäre Ideal wurde von „l’action“ oder der Kraft zerdrückt. 35 Wenn der Dichter die Grenzen des öffentlichen Raums überschreiten soll, dann durch den Rückzug ins eigene ‚Ich‘, eine innere Welt, in der die Kunst einen privilegierten Status hat. Das Fenster des Künstlers in die äußere Welt ist nun geschlossen. Folglich erklärt Gautier 1852 in der „Préface“ zu seinem Émaux et Camées: „Sans prendre garde à l’ouragan Qui fouettait mes vitres fermées, Moi, j’ai fait Émaux et Camées.“ 36 Überwiegend während der politischen Umstürze verfasst, von denen die kurze Lebensdauer der Zweiten Republik gekennzeichnet war, ist Émaux et Camées das Produkt eines Künstlers und Poeten, dessen kreativer Raum von der öffentlichen Sphäre isoliert war. L. Cassandra Hamrick 40 „Secoué de toutes parts, … voulant échapper à la meute des ennuis qui aboyaient sur son chemin, il s’en alla dans le pays invisible, fait de lumière et de parfums, où l’on oublie les soucis de ce bas monde en cueillant les fleurs de la poésie“ erklärte später sein Freund Maxime Du Camp. 37 Auch Baudelaires Fenster sollte sich schließen, wie wir im ersten seiner „Tableaux parisiens“ sehen, einem Gedicht, dessen ursprünglicher Titel „Paysage parisien“ später zu „Paysage“ verkürzt wurde - womit dem beschriebenen urbanen Raum eine Spur von Allgemeingültigkeit verliehen wird. Das urbane tableau ist eigentlich jenes, das der Poet sieht, wenn er sich aus seinem Mansardenfenster lehnt, während er seine „églogues“ schreibt. Doch die Öffnung nach draußen wird abrupt geschlossen, sobald die äußere Welt feindlich erscheint. Der Enteignung folgen der Umzug und der Rückzug in einen persönlichen, inneren Raum, in dem die Realität mittels der Vorstellungskraft des Dichters verwandelt wird. „Et quand viendra l’hiver aux neiges monotones, Je fermerai partout portières et volets Pour bâtir dans la nuit mes féeriques palais.“ 38 Wie schon im Falle von Gautiers „Préface“ zu Émaux et Camées stellt das geschlossene Fenster eine metaphorische Barriere zwischen der Öffentlichkeit und der Privatsphäre dar, indem es dem künstlerischen Schaffen einen schützenden Raum fernab vom sozialen und politischen Aufruhr bietet - ob nun den Aufständen in der Zeit von 1848-52 oder der politischen Gewalt im allgemeinen („L’Émeute“ mit kapitalem É): 39 „L’Émeute, tempêtant vainement à ma vitre, Ne fera pas lever mon front de mon pupitre; Car je serai plongé dans cette volupté, D’évoquer le Printemps avec ma volonté, De tirer un soleil de mon coeur, et de faire De mes pensers brûlants une tiède atmosphère.“ 40 Diese Schlusszeilen aus Baudelaires „Paysage“ in der 1861er Ausgabe von Les Fleurs du Mal, die nach der Originalausgabe von 1857 verändert wurden, betonen besonders die Macht der Vorstellungskraft, „cette reine des facultés“ 41 , bei der Erschaffung dessen, was als innerer poetischer Wohnraum gesehen werden kann. Denn als sich das Fenster zur urbanen „paysage“ schließt, öffnet sich wiederum das Fenster des Geistes zu einem inneren „paysage“, durch welches der Wille des Poeten, der Frühling - eine Zeit der Wiedergeburt und des erneuten Wachstums - aufblühen kann. Dieses Paradies im Kleinen, völlig losgelöst von der öffentlichen Sphäre, erlangt in „La Chambre Double“ größere Dimensionen, das ebenso wie neunzehn weitere Prosa Gedichte im Folgejahr (1862) erscheint. Die Mansarde gehört jedoch nicht zur „chambre double“; stattdessen gibt es nur triste, von Schmutz durchzogene Fenster. Die Dachkammer des Künstlers Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 41 hat Platz gemacht für den aller Wahrscheinlichkeit nach billigen Raum eines vergänglichen Dichters, der versucht den Klauen des Geldeintreibers oder des Laufjungen zu entgehen, der kommt, um den letzten Teil eines Manuskripts einzufordern, den der Dichter noch abzuliefern hat. 42 Die bitter-süßen Freuden von Bérangers „grenier“ wurden 1862 von sklavenähnlichen Bedingungen verdrängt („Sue donc, esclave! “ 43 ). Paradoxerweise nimmt der künstlerische Raum jedoch eine verblüffend intellektuelle Dimension an, die in der traditionellen Mansarde zu Beginn des Jahrhunderts noch fehlte. Denn das abgeschlossene Hotelzimmer ist - dank der kreativen Kräfte des Poeten (und zweifellos durch den berauschenden Effekt des Opiums gefördert) - eine „chambre double“, in der der Schrecken der „chambre-taudis“ in eine „chambre paradisiaque“ verwandelt wird. 44 Trotz der ständig vorhandenen Bürde des Lasters und der Trostlosigkeit hat die Menschheit doch stets den Wunsch, über die Trivialität der Existenz hinauszuwachsen und nach einer geistigen Sphäre zu streben. Nach 1851 erscheint die Integration des Künstlers in den öffentlichen Bereich für Autoren wie Baudelaire, Hugo, Gautier und Flaubert nicht mehr machbar zu sein. Während Hugo sich für das Exil im Ausland entscheidet, verbleiben Baudelaire, Gautier und Flaubert als „exilés de l’intérieur“. 45 Inneres Exil steht dabei jedoch nicht im Austausch mit der Außenwelt, sondern impliziert stattdessen eine Verlagerung nach innen. In „La Chambre double“ kommt diese Verschiebung einem „dédoublement“ gleich, indem der Poet eine künstlerische Identität übernimmt, die im Konflikt mit der Identität steht, die ihm von einer feindlichen, materialistisch bestimmten Welt aufgezwungen wird. Wir sind nun weit entfernt von Merciers „grenier“, in dem der künstlerische Raum für die äußere Welt offen bleibt und in dem „Genie, Fleiß, Nutzen und Tugend“ durchaus miteinander zu vereinbarende Vorstellungen sind. Epilog Sollte die Mansarde als sinnstiftendes Bild des künstlerischen urbanen Raums also verworfen werden? Zweifellos lebt der nostalgische Wert dieses Begriffs bis heute weiter, was nicht zuletzt Puccinis Oper, La Bohème, geschuldet ist, die weiterhin begeisterte Massen anzieht und bereits den hundertsten Jahrestag seit der Uraufführung (1896-1996) feiert. 46 Inwieweit die Dachkammer schon in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihre ursprüngliche Bedeutung verloren hatte, kann anhand eines Gedichts von Gautier mit dem - sehr passenden - Titel „La Mansarde“ nachempfunden werden. 47 Anscheinend unter den letzten von Gautier verfassten Gedichten, existieren zahlreiche Varianten von „La Mansarde“, was belegt, dass der sich wandelnde künstlerische Raum immer wieder Gegenstand von L. Cassandra Hamrick 42 Gautiers Überlegungen gewesen war. 48 Dieses Gedicht fällt in die gleiche Zeit wie Gautiers nostalgische Erinnerungen, später in Histoire du romantisme (1874) veröffentlicht, und ist voller Resonanzen und Echos persönlicher Vertreibung im Kontext von künstlerischer Enteignung in Folge der Umstrukturierung der sozio-ökonomischen Kräfte nach 1830. Erstmals in der 1872er Ausgabe von Émaux et Camées erschienen, bietet „La Mansarde“ eine neue Lesart des künstlerischen Raums, der traditionell mit dem „grenier“ verbunden wird und bei Mercier beginnt und sich über die Bohème, Béranger und Murger weiterentwickelt. Es ist offenkundig, dass der Mythos von der Dachkammer des Künstlers zur Entstehungszeit des Gedichts noch immer sehr lebendig in den Köpfen der Leser war. Schließlich ist es zu Beginn des Gedichts der Poet selbst, der andeutet, er könne lügen, wie dies ein Autor tue („comme un auteur“; 6), um eine falsche Atmosphäre des Wohlbefindens („la parer d’un faux bien-être“; 5) auf die Mansarde zu übertragen, die er von seinem Balkon aus wahrnimmt. Ebenso wird die Existenz des „grenier“ im Gesang (28) erwähnt, ein deutlicher Hinweis auf Bérangers „chanson-poème“, wie wir bereits gesehen haben. Doch die Mansarde des Dichters ist real, nicht fiktiv. Einer nach dem anderen, verlieren die unterschiedlichen Signifikanten, die zuvor mit dem künstlerischen Raum verbunden waren und durch die Mansarde hervorgerufen wurden, ihre Bedeutung, da sich der Druck der sich wandelnden sozio-ökonomischen Bedingungen zunehmend auf die finanziell schwache Umgebung der Künstler-Dachstube auswirkt. So kommt es beispielsweise, dass die vielbesungene grisette - sei es Eugène Sues Rigolette oder Bérangers Margot - die Mansarde verlässt, um ihre materielle Situation in einem finanziell aussichtsreicherem urbanen Raum zu verbessern („Margot s’attarde au mont Breda, / Et Rigolette entretenue / N’arrose plus son réséda.“ 49 ), ähnlich dem Poeten, der sein nobles Werk der Lyrik aufgibt, um seinen Lebensunterhalt als Theaterkritiker für Zeitungen zu sichern („[le poète] S’est fait reporter de gazette, / Quittant le ciel pour l’entresol“). 50 Tatsächlich sehen alle, die einst das fröhliche Leben der Mansarde kannten, nun der Ernüchterung entgegen, da die materiellen Zwänge verheerende Schäden an dem ehemals so bitter-süßen Bild des „grenier“ angerichtet haben. Alles, was von dem alten Mansarden-tableau übrig bleibt, sind nur die bloßen Umrisse seiner früheren Existenz: eine Fensterscheibe, durch die man das dünne Profil einer alten Frau ausmacht, wie sie ihre Katze ausschimpft: „Et l’on ne voit contre la vitre Qu’une vieille au maigre profil, Devant Minet, qu’elle chapitre, Tirant sans cesse un bout de fil.“ (45-48) Mit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war die „mansarde“ tatsächlich ein abgenutzter Tropus, dessen frühere Bedeutung nur noch fragmenthaft gegeben war - wie ein Refrain, den man ständig mechanisch Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 43 und gedankenlos wiederholt. Eine einzige Zeile aus Gautiers Gedicht reicht wohl aus, um den alten Begriff der Mansarde nach Baudelaire zusammen zu fassen: „Le grenier n’est beau qu’en chanson“ (28). Abb. 1: Hippolyte Louis Émile Pauquet, Le Grenier 51 Pierre-Jean Béranger: Le grenier 52 Je viens revoir l’asile où ma jeunesse De la misère a subi les leçons; J’avais vingt ans, une folle maîtresse, De francs amis, et l’amour des chansons. Bravant le monde, et les sots, et les sages, Sans avenir, riche de mon printemps, Leste et joyeux, je montais six étages. Dans un grenier qu’on est bien à vingt ans! L. Cassandra Hamrick 44 C’est un grenier, point ne veux qu’on l’ignore: Là fut mon lit, bien chétif et bien dur; Là fut ma table; et je retrouve encore Trois pieds d’un vers charbonnés sur le mur. Apparaissez, plaisirs de mon bel âge, Que d’un coup d’aile a fustigés le Temps; Vingt fois pour vous j’ai mis ma montre en gage. Dans un grenier qu’on est bien à vingt ans! Lisette ici doit surtout apparaître, Vive, jolie, avec un frais chapeau: Déjà sa main à l’étroite fenêtre Suspend son châle en guise de rideau. Sa robe aussi va parer ma couchette; Respecte, Amour, ses plis longs et flottants. J’ai su depuis qui payait sa toilette. Dans un grenier qu’on est bien à vingt ans! A table un jour, jour de grande richesse, De mes amis les voix brillaient en chœur, Quand jusqu’ici monte un cri d’allégresse: A Marengo, Bonaparte est vainqueur! Le canon gronde, un autre chant commence. Nous célébrons tant de faits éclatants; Les rois jamais n’envahiront la France. Dans un grenier qu’on est bien à vingt ans! Quittons ce toit où ma raison s’enivre. Oh! Qu’ils sont loin, ces jours si regrettés! J’échangerais ce qu’il me reste à vivre Contre un des mois qu’ici Dieu m’a comptés. Pour rêver gloire, amour, plaisir, folie, Pour dépenser sa vie en peu d’instants, D’un long espoir pour la voir embellie, Dans un grenier qu’on est bien à vingt ans! Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 45 Abb. 2: Charles Bertell, Cinq étages du monde parisien, in: Edmond Texier, Tableau de Paris (1852) L. Cassandra Hamrick 46 Théophile Gautier: La Mansarde 53 Sur les tuiles où se hasarde Le chat guettant l’oiseau qui boit De mon balcon une mansarde Entre deux tuyaux s’aperçoit. Pour la parer d’un faux bien-être, Si je mentais comme un auteur, Je pourrais faire à sa fenêtre Un cadre de pois de senteur, Et vous y montrer Rigolette Riant à son petit miroir, Dont le tain rayé ne reflète Que la moitié de son œil noir; Ou, la robe encor sans agrafe, Gorge et cheveux au vent, Margot Arrosant avec sa carafe Son jardin planté dans un pot; Ou bien quelque jeune poète Qui scande ses vers sibyllins, En contemplant la silhouette De Montmartre et de ses moulins. Par malheur, ma mansarde est vraie; Il n’y grimpe aucun liseron, Et la vitre y fait voir sa taie, Sous l’ais verdi d’un vieux chevron. Pour la grisette et pour l’artiste, Pour le veuf et pour le garçon, Une mansarde est toujours triste: Le grenier n’est beau qu’en chanson. Jadis, sous le comble dont l’angle Penchait les fronts pour le baiser, L’amour, content d’un lit de sangle, Avec Suzon venait causer. Mais pour ouater notre joie, Il faut des murs capitonnés, Des flots de dentelle et de soie, Des lits par Monbro festonnés. Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 47 Un soir, n’étant pas revenue, Margot s’attarde au mont Breda, Et Rigolette entretenue N’arrose plus son réséda. Voilà longtemps que le poète, Las de prendre la rime au vol, S’est fait reporter de gazette, Quittant le ciel pour l’entresol. Et l’on ne voit contre la vitre Qu’une vieille au maigre profil, Devant Minet, qu’elle chapitre, Tirant sans cesse un bout de fil. (Ins Deutsche übersetzt von Wolfgang Ristow) 1 Priscilla Ferguson: Paris as Revolution. Writing the Nineteenth-Century City, Berkeley, Univ. of California Press, 1994; Christopher Prendergast: Paris and the Nineteenth Century, Oxford, Blackwell, 1992; Reinhard Thum: The City. Baudelaire, Rimbaud, Verhaeren, New York, Lang, 1994. Ich bin James S. Patty und dem (2004) verstorbenen Claude Pichois für ihre Unterstützung bei meiner Arbeit zu diesem Thema sehr verbunden. Ich möchte Professor James S. Patty und Claude Pichois für die sorgfältige Lektüre dieses Aufsatzes danken. Die Originalversion des Aufsatzes erschien unter dem Titel „Artists, Poets and Urban Space in Nineteenth-Century Paris“, in: French Literature in/ and the City, ed. Buford Norman, French Literature Series 24, Amsterdam/ Atlanta, Rodopi, 1997 und wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlags in der vorliegenden Übersetzung wiederabgedruckt. 2 Pierre Citron: La Poésie de Paris dans la littérature française de Rousseau à Baudelaire, Paris, Éditions de minuit, 1961, vol. 1, 25. 3 Zahlreiche Ausgaben ebenso wie unvollständige Ausgaben von Merciers Tableau sind während des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts erschienen. Verweise innerhalb dieses Aufsatzes beziehen sich auf die Nummern der Bände und Kapitelüberschriften aus der vollständigen zwölfbändigen Ausgabe: Louis Sébastien Mercier: Tableau de Paris, Amsterdam, 1783-88. Zu den Untersuchungen über das Mercier-Modell, siehe Ferguson: Paris as Revolution, op. cit., 36-79, und Daniel Oster/ Jean Goulemot: La Vie parisienne, Paris, Sand-Conti, 1989, 19-26. 4 Mercier: Tableau de Paris, op. cit., vol. 1, „Préface“. 5 Mercier: Tableau de Paris, op. cit., vol. 1, „Coup d’œil général“. 6 Andrée Lhéritier/ Jean Prinet/ Claude Pichois/ Antoinette Huon/ Dimitri Stremooukhoff: Les Physiologies, Paris, Univ. de Paris, 1957. Eine detaillierte Liste der Physiologies, die zwischen 1826 und 1896 veröffentlicht wurden, findet sich in Lhéritier et al. Der große Erfolg dieses Genres wird in dem vorliegenden Band von Pichois (59-66) gezeigt. L. Cassandra Hamrick 48 7 Charles Baudelaire: Œuvres complètes, vol. 1, Paris, Gallimard, 1975-76, 798. 8 Baudelaire: Œuvres complètes, Paris, Gallimard, 1975-76. In einigen Notizen aus dem Jahre 1852 für die geplante Zeitschrift Le Hibou philosophe, zählt Baudelaire Mercier zu jenen „auteurs anciens“, die ihrer Zeit voraus waren und lehrreich für „la régéneration de la littérature actuelle“ sein konnten (Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 2, 51.). Zehn Jahre später, in einem Brief an Arsène Houssaye, an den die lettre-dédicace der petits poèmes en prose noch im gleichen Jahr gerichtet wurde, verbindet Baudelaire Mercier mit einem anderen peintre de mœurs, Constantin Guys, der Gegenstand einer Studie ist, die Baudelaire gerade fertiggestellt hat (Charles Baudelaire: Correspondance, Paris, Gallimard, 1973, vol. 2, 245-46). Der Text, der in dem Brief als „Guys, peintre de mœurs“ bezeichnet wird, sollte eineinhalb Jahre später unter dem wohl bekannten Titel „Le Peintre de la vie moderne“ erscheinen. Schließlich informiert Baudelaire seine Mutter ein paar Monate nach dem Brief an Houssaye, dass er ihr „un très beau livre“ bringt, über dass er eine längere Arbeit („un gros travail“) schreibt. Das Buch, um das es sich hier handelt, ist kein geringeres als Merciers Nouveau Paris (Baudelaire: Correspondance, op. cit., vol. 2, 254, 785, Fußnote 2). Baudelaires Platz in der Geschichte des tableau de Paris Genre wird von Stierle diskutiert (Karlheinz Stierle: „Baudelaires ‚Tableaux parisiens‘ und die Tradition des ‚tableau de Paris‘“, in: Poetica 6, 1974, 285-322.). 9 Baudelaire: Correspondance, op. cit., vol. 1, 276. 10 Baudelaire: Correspondance, op. cit., vol. 1, 339. 11 Théophile Gautier: Histoire du romantisme, Paris, Charpentier, 1884, 63. 12 Houssayes Gedicht erschien unter verschiedenen Titeln seit 1839 (siehe Michel Brix: „Nerval, Houssaye et la Bohème galante“, in: Revue romane, 26, 1991, 69-77, 71). „La Bohème du Doyenné“ befindet sich in: Arsène Houssaye: Poésies, Paris, Charpentier, 1887, 73-77. An die Bohème der Doyenné erinnerten sich viele Schriftsteller dieser Epoche darunter Arsène Houssaye (A.H.: Les Confessions. Souvenirs d’un demi-siècle. 1830- 1880, Paris, E. Dentu, 1885, 298-314); Gérard de Nerval: „La Bohème galante”, in: Œuvres complètes, vol. 3, Paris, Gallimard, 1993, 235-41; A.H.: „Petits châteaux de Bohème”, in: ibid., 401-7; Honoré de Balzac: La Cousine Bette, Paris, Librairie Generale Francaise, 1963, 59-61. Gautier beschreibt 1848 das Doyenné Viertel in einer häufig zitierten Passage: „… à deux pas du roulement tumultueux des voitures, vous tombez tout à coup dans une oasis de solitude et de silence...“ (Théophile Gautier: „Marilhat“, in: Revue des Deux Mondes, 01.07.1848, Nachdruck in: Théophile Gautier: Portraits contemporains, Paris, Charpentier, 1886, 234). Für eine umfassende Perspektive der Doyenné Gruppe, siehe René Jasinski: Les Années romantiques de Théophile Gautier, Paris, Vuibert, 1929, 260-82. Das Problem der physikalischen Aspekte des Arbeitsplatzes des Künstlers wird von Lethève aufgegriffen (Jacques Lethève: „Logis et ateliers“, in: La Vie quotidienne des artistes français au XIX e siècle, Paris, Hachette,1968, Kap. 3, 43-61). 13 Eine Karte von Paris mit Baudelaires vielen Wohnsitzen während seines Lebens findet sich im Katalog der Ausstellung Baudelaire à Paris in der Bibliothèque Historique de la Ville de Paris vom 16. November 1993 - 15. Februar 1994. Siehe Claude Pichois/ Jean- Paul Avice: Baudelaire à Paris [Katalog zur Ausstellung ‚Baudelaire Paris‘ der Bibliothèque Historique de la Ville de Paris, 16.11.1993-15.02.1994], Paris, Éditions Paris-Musées et al., 1993, 184-85. Siehe Steinmetz für eine Diskussion der bohemistischen Schauplätze („les châteaux de Bohème“) als konkreten Bezugspunkt auf der inneren Suche nach künstlerischer Identität am Rande der restlichen Gesellschaft („les châteaux de la marge“) (Jean-Luc Steinmetz: „Quatre hantises (sur les lieux de la Bohème)“, in: Romantisme, 59, 1988, 59-69.). 14 Charles-Augustin Sainte-Beuve: „Les Chansons de Béranger“, in: Le Constitutionnel, 15.07.1850; Nachdruck in: Charles-Augustin Sainte-Beuve: Causeries du lundi, 14, s.a., Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 49 293. Für das Grand Dictionnaire universel du XIX e siècle gilt Béranger als „le Chansonnier, comme la Fontaine est le Fabuliste…. La plupart de ses chansons étaient connues et chantées jusqu’au bout de l’Europe avant d’être publiées en volumes.“ (Pierre Larousse: Grand Dictionnaire universel du XIX e siècle, Paris, Administration du Grand dictionnaire universel, 1866-90.) Sein Ruhm war allgemein anerkannt: „il avait des admirateurs enthousiastes dans toutes les classes“ und sein Tod sorgte für öffentliche Trauer: „Il faudrait remonter jusqu’à Marc-Aurèle pour trouver un pareil exemple d’explosion de la douleur publique“ (Sainte-Beuve: Causeries du lundi, 2, op. cit., 558- 63). Für eine tiefgreifende Untersuchung der Bedeutung der „chansonnier“-Tradition in der Lyrik während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe Graham Robb: La Poésie de Baudelaire et la poésie française, 1838-1852, Paris, Aubier, 1993, 243-78. Die Rolle von Bérangers Arbeit in dem sozialen, politischen und literarischen Umfeld seiner Zeit wurde ausführlich von Touchard untersucht (Jean Touchard: La Gloire de Béranger, Paris, A. Colin, 1968.) 15 In Ma Biographie erinnert sich Béranger an die Zeit seines Lebens, als er in einer Dachkammer im sechsten Stock am Boulevard Saint-Martin nahe des Théâtre de l’Ambigu- Comique (Pierre-Jean Béranger: Ma Biographie, Paris, Perrotin 1857, 61, 71) lebte. Der komplexe Text von „Le Grenier“ und der dazugehörende Stich von Hippolyte Louis Émile Pauquet (1797-? ) sind am Ende dieses Aufsatzes abgedruckt. Das Gedicht und der Stich befinden sich in: Pierre-Jean Béranger: Chansons de Béranger contenant cinquante-trois gravures sur acier…, Paris, Garnier, 1876, vol. 2, 130-31. Der Stich erschien bereits vorher in der 1847er Ausgabe von Bérangers Œuvres complètes (Pierre-Jean Béranger: Œuvres complètes, Paris, Perrotin, 1847). Unterhalb des Titels, „Le Grenier“, erscheint der Name der Melodie, zu der die Worte des Texts gesungen werden sollten: „Air du Carnaval, de Meissonnier“. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei dem Komponisten um einen der beiden Meissonnier Brüder, die beide Musik veröffentlichten. Jean Antoine Meissonnier (1783-1857), Autor von Méthode simplifiée pour la lyre ou guitare und Verfasser leichter Musik, gründete 1814 in Paris ein Verlagshaus für Musik. Sein Bruder, Joseph Meissonnier (c. 1790-c. 1855), komponierte Musik, musikalische Arrangements für die Gitarre sowie Melodien für verschiedene Opern. Nach 1824 veröffentlichte er zahllose Musikstücke unterschiedlicher Art. 16 Larousse: Grand Dictionnaire, op. cit., 6, 78. 17 Henry Murger: Scènes de la vie de bohème, Paris, Gallimard, 1988, 393-96. Die Einleitung und die Anmerkungen von Lo c Chotard sowie die „Histoire du texte“ von Graham Robb (438-41) in dieser Ausgabe sind besonders wertvoll für das Verständnis der unterschiedlichen Phasen in der Komposition und der Veröffentlichung von Murgers Text. 18 Siehe Darstellung 1 für Pauquets Stich. Eine andere Version der Dachkammer und dessen offenes Fenster, gestochen von François Grenier [sic! ] (1793-1867), erscheint erstmals in der 1834er Ausgabe von Bérangers Œuvres complètes. Das offene Fenster der Doyenné wird in der Lyrik Houssayes heraufbeschworen. „Entr’ouvrons la fenêtre où fleurit sa jacinthe“ ruft der Dichter Gautier zu in „La Bohème du Doyenné“ (74). Die Hyazinthe (jacinthe) gehört der liebreizenden, aber kränklichen Cydalise, die geschätzte Muse sowohl Bérangers wie seines Künstlers Freundin, Camille Rogier. 19 „Dernière nuit du travail du 29 au 30 juin 1834“ in Alfred de Vigny: „Œuvres complètes“, in: Francois Germain/ André Jarry (eds.): Poésie, Théâtre, vol. 1, 1986, 759. Dieser Text am Anfang von Chatterton diente als eine Art Vorwort für das Stück. 20 Théophile Gautier: Le Moniteur universel, 14.12.1857, Nachdruck in: Gautier: Histoire, op. cit., 158. L. Cassandra Hamrick 50 21 Gautier: Histoire, op. cit., 154. Gautier erinnert an Vignys „Dernière nuit du travail“ (siehe Fußnote 19), die verfasst wurde, um Publikum wie Regierung aufmerksam auf die verzweifelte Situation des mittellosen und unbeachteten Dichters in einer Zeit zu machen, in der, aus Vignys Perspektive, Lyrik allgemeinhin als nicht markttaugliche Ware galt. „Les veaux vers … sont une marchandise qui ne plaît pas au commun des hommes…. Eh! n’entendez-vous pas le bruit des pistoles solitaires? Ne prendrons-nous pas ... une mansarde et un pain pour ceux qui tentent sans cesse d’idéaliser leur nation malgré elle? ... C’est au législateur à guérir cette plaie ...“ (Gautier: Histoire, op. cit., 757- 58). In einer Anmerkung zu seinem Gedicht/ Lied „Le Suicide“, das durch den Doppelselbstmord von Victor Escousse und Auguste Lebras 1830 inspiriert ist, spielt Béranger auf die ernsten Dimensionen an, die das Problem für junge Autoren aus Escousses Generation bekommen hat: „Son malheur fut celui qui menace plus ou moins aujourd’hui beaucoup d’hommes de son âge, dans l’espèce de serre chaude où nous vivons“ (Pierre-Jean Bérenger: Chanson de Béranger contenant cinquante-trois gravures sur acier…, Paris, 1876, 2: 302-5). Selbstmord ist ein häufiges Thema in der Lyrik und in fiktiven Texten dieser Zeit. Siehe, neben zahlreichen anderen Beispielen, („Il n’avait pas vingt ans …“) (Victor Hugo: „Les Chants du crépuscule XIII“, in: Œuvres poétiques, 1, 1961, 855-57.). 22 Arsène Houssaye: Les Confessions, op. cit., 1, 300, 305. 23 Mercier: Tableau, op. cit., vol.1. 24 Der cutaway-Stich des Pariser Wohnblocks mit dem Titel „Cinq étages du monde parisien“ von Charles Bertall (1820-1881) erscheint in Edmond Texier: Tableau de Paris, Paris, Paulin et Le Chevalier 1852-53, vol. 1, 65; er ist am Ende dieses Aufsatzes abgebildet. Der gleiche Stich erschien auch in der Reihe „Paris comique“ unter dem Titel „Coupe d’une maison parisienne le 1er janvier 1845. Cinq étages du monde parisien“ in Pierre-Jules Hetzel (ed.): Le Diable à Paris. Paris et les Parisiens, Paris, Marescq [et al.], 1845-46, vol. 2, 26. Der Stich erschien ebenfalls in Théophile Gautier: „Théophile Gautier“, in: L’Illustration, 11. 01. 1845. Die Diskrepanz zwischen Texiers Tableau de Paris, begonnen 1851 vor dem coup d’État, und der Realität einer urbanen Umwelt, in der wachsende sozio-politische Spannungen und ein sich verschlechternder Zustand der arbeitenden Klassen immer augenscheinlicher wurden, wird von Jules Vallès in seinem eigenen Le Tableau de Paris unterstrichen (Jules Vallès: Le Tableau de Paris, Paris, Messidor, 1989). Vallès, indem er sich auf Texiers Arbeit bezieht, erklärt „Ce Tableau de Paris ne montra guère que la façade de la ville“ (Vallès: Le Tableau de Paris, op. cit., 30). 25 Das Thema der Enteignung in „Le Cygne“ liegt im Fokus von Terdimans Untersuchung (Richard Terdiman: „The Mnemonics of Dispossession: ‚Le Cygne‘ in 1859“, in: Suzanne Nash (ed.): Home and Its Dislocations in Nineteenth-Century France, Albany, State university of New York press, 1993, 169-89). Die Bedeutung des politischen und sozialen Kontexts in der Komposition von „Le Cygne“ wird von Burton in The Context of Baudelaire’s „Le Cygne“ verdeutlicht (Richard Burton: Baudelaire and the Second Republic. Writing and Revolution, Oxford, Clarendon Press, 1991). 26 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 85. 27 „… notre palais est rasé. J’en ai foulé les debris l’automne passé,“ schreibt Gérard de Nerval in La Bohême galante, 1852 in L’Artiste veröffentlicht, das zu jener Zeit von seinem Freund Arsène Houssaye herausgegeben wurde (Nerval: Œuvres complètes, 3, 236). Die Zeitschrift La Lumière notierte am 16. März 1851, dass der Abriss der Doyenné im Gange sei (zitiert in Nerval: Œuvres complètes, 3, 1148, Anmerkung 1). 28 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 86. 29 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 86. 30 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 87. Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts 51 31 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 87. 32 „LE 2 DÉCEMBRE m’a physiquement dépolitiqué,“ schrieb Baudelaire an Narcisse Ancelle am 5. März 1852, in: Baudelaire: Correspondances, op. cit., 1: 188. 33 Lois Cassandra Hamrick: „Repression and Non-Expression: The Case of Gautier“, in: Carrol F. Coates, (ed.): Repression and Expression: Literary and Social Coding in Nineteenth- Century France, New York, Peter Lang, 1996, 247-58. 34 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 122. 35 Cf. Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 1080, Anmerkung 1 für eine Diskussion der möglichen historischen Anspielungen in diesen Zeilen. In Folge des Zusammenbruchs des republikanischen Humanismus scheint sich Baudelaire aus der Politik zurückzuziehen, obwohl die sozialen Ideale des Republikanismus erhalten bleiben. Die Auswirkungen der „Entpolitisierung“ innerhalb der übergeordneten Frage nach der politischen Haltung in Baudelaires Schriften wird von Burton in seiner genau dokumentierten Untersuchung behandelt (Burton: Baudelaire and the Second Republic, op. cit., 170-82.). 36 Théophile Gautier: Poésies complètes, Paris, Nizet, 1970, 3, 3. Der Rückzug aus der politischen Sphäre ist ein ständiges Thema in Gautiers Werk, wovon das Vorwort (datiert auf „Mai 1834“) zu Mademoiselle de Maupin (1835) vielleicht am eindrucksvollsten zeugt. Bereits 1832 im Vorwort zu Albertus spielt Gautier auf den Begriff des geschlossenen poetischen Raums an: „Un espace de quelques pieds où il fait moins froid qu’ailleurs, c’est pour [le poète] l’univers“, wobei der Poet „n’a vu du monde que ce que l’on en voit par la fenêtre“, Gautier: Poésies complètes, op. cit., 1: 81. Im Vorjahr spricht Gautier von „ce Paris grouillant“, wo der Poet „ces plaintes criardes / De l’ouragan qui bat à nos carreaux jaunis! “ ausgeliefert ist, ibid., 3: 137. Dennoch sind diese frühen Jahre von einem fröhlichen Glauben an die Romantik gekennzeichnet, die später von den Ereignissen rund um die 1848er Revolution sowie den Staatsstreich unterdrückt werden sollte. In den 1830er Jahren schien das Fenster neuer Möglichkeiten weiter offen zu bleiben. Doch sogar nach seiner finalen Zustimmung zum Empire als Kritiker der offiziellen Zeitung, Le Moniteur universel, und als regelmäßiger Besucher des salon von Prinzessin Mathilde verblieb das alte romantische Ideal in Gautier. Nach 1851 wurde dieses Ideal aber vorsichtiger bewacht; das Fenster für eine mögliche Integration von künstlerischem und öffentlichem Raum schien fest verschlossen. 37 Théophile Gautier: „Préface“, in: Émaux et Camées, Paris, 1887, V. 38 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 82. 39 Für Burton war das Gedicht „Paysage“, ursprünglich inspiriert durch die aufrührerischen Vorgänge, die Baudelaire als Junge in Lyon beobachtete, vom Poeten überarbeitet worden, um seine Desillusionierung nach den Ereignissen von 1848-51 widerzuspiegeln. Burton sieht „Paysage“ ebenso wie andere Gedichte der 1851-52er Ära nicht notwendigerweise als „unpolitisch“, sondern eher als Gedichte des Rückzugs, „eine politisch motivierte Antwort auf die wachsende politische Krise der Zweiten Republik“ (Burton: Baudelaire and the Second Republic, op. cit.,175-76 und 319-23). Die Rolle der Ironie in diesem Gedicht, das die Möglichkeit nicht-körperlicher Formen politischen Handelns nicht ausschließt, wurde unter anderem von Chambers hervorgehoben (Ross Chambers: „Baudelaire’s Street Poetry“, in: Nineteenth-Century French Studies, 13/ 4, 1985, 244-59, 255). Siehe auch Prendergast: Paris, op. cit., 64-65. 40 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 82. 41 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 2, 585, 620. 42 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 281. 43 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 282. L. Cassandra Hamrick 52 44 Baudelaire: Œuvres complètes, op. cit., vol. 1, 281. 45 Cf. Claude Pichois: Littérature française: Le Romantisme 2, 1843-1869, Paris, B. Arthaud, 1979, 218. 46 Der Erfolg von La Bohème hat dem Stück einen bleibenden Platz im Repertoire von Opernhäusern in London, Paris und New York gesichert. Anlässlich des hundertsten Jahrestags der ersten Aufführung (01. Februar 1896) war die Oper in den Programmen der Opéra Bastille in Paris, des Teatro Comunale in Florenz (Dezember 1995) und der Royal Albert Hall in London (Februar 1996) verzeichnet, ebenso wie spätere Aufführungen sowohl in der Metropolitan wie in der New York City Opera. 47 Gautier: Poésies complètes, vol. 3, op. cit., 113-14. 48 Der Text von Gautiers „La Mansarde“ ist am Ende dieses Aufsatzes abgedruckt. Siehe Charles de Spoelberch de Lovenjoul: Histoire des œuvres de Théophile Gautier, Paris, 1887, vol. 2, 426-29, für die zahlreichen Varianten dieses Gedichts. In ihrer kritischen Ausgabe von Émaux et Camées hat Madeleine Cottin einen Stich von Hippolyte Michauds Gemälde „La Mansarde“, das im Salon von 1865 (185) ausgestellt war, abgebildet. Obwohl nicht sicher ist, ob zwischen dieser Arbeit und der Entstehung von Gautiers Gedicht eine direkte Verbindung besteht, ist das Bild doch ein weiterer Beweis dafür, dass der Mythos der Dachkammer des Künstlers als künstlerischer Raum trotz wirtschaftlicher und sozialer Unruhen in der „äußeren“ Welt weiter besteht. 49 „La Mansarde“ (38-40). Das Bréda Viertel, am Hügel der Butte Montmartre gelegen, war oftmals Wohnsitz der femme entretenue. Béranger und Gautier zählen zu den vielen Beobachtern der Entwicklung und des späteren Untergangs der grisette. „ … depuis que les plus pauvres ouvrières se gênent pour donner de l’éducation à leurs enfants, nous avons beaucoup moins de grisettes proprement dites que Paris n’en comptait autrefois“, bemerkt Paul de Kock 1834 und fügt hinzu „les grisettes ont besoin d’être économes, ne les confondez pas avec les femmes entretenues“ (Nouveau Tableau de Paris, Paris, Mme Charles-Béchet, 1, 170-72). Um 1840 scheint die grisette weniger ein aktiver sozialer Typus, sondern eher ein literarischer Verbrauchsartikel geworden zu sein, eine wiederholend auftretende Figur in Romanen wie denen von Paul de Kock. „La grisette se perd, elle n’existe guère plus que dans les romans de M. De Kock“ behauptet Gautier 1845 (Vorwort zu Œuvres choisies de Gavarni; Nachdruck in Théophile Gautier: Souvenirs de théâtre, d’art et de critique, Paris, Bibliothèque-Charpentier, 1903, 189). In seinem Tableau de Paris hatte ein vorausschauender Mercier das Recht der grisette verteidigt, einen Beruf zu lernen, um einen Ausweg aus der Verarmung von Frauen ohne eigene finanzielle Mittel zu finden: „… que l’on donne aux femmes la même liberté dont jouissent les hommes“ (Louis Sébastien Mercier: Tableau de Paris, Amsterdam, 1783-88, 3, „Les Grisettes“). 50 „La Mansarde“ (43sq.). In der Rückschau auf seine Karriere räumt Gautier 1867 ein, dass seine eigene kreative Leistung in den Jahren nach der Veröffentlichung seiner Kurzgeschichte Fortunio (1837) einen irreparablen Rückschlag erhalten habe: „Là finit ma vie heureuse, indépendante et primesautière. On me chargea du feuilleton dramatique de La Presse…. Le journalisme, pour se venger de la préface de Mademoiselle de Maupin, m’avait accaparé et attelé à ses besognes“ (Théophile Gautier: L’Illustration, 09.03.1867; Nachdruck in: Gautier: Portraits contemporains, op. cit., 10-11). 51 Cf. Endnote 15. 52 Ibid. 53 Cf. Endnote 46. Walburga Hülk Fait divers und storytelling - Verhandlungen zwischen Presse und Literatur Haussmann und die Folgen: Unter diesem Titel beobachtet die gleichnamige Sektion des Frankoromanistentages 2010 zur Thematik Stadt - Kultur - Raum, wie sich im 19. Jahrhundert ein topographisches Phänomen, Effekt einer urbanistischen Operation, zu einer medienkulturellen Kategorie entwickelt, die zunächst verortbar ist, sodann begrifflich entortet wird und heute global agiert. Der grand boulevard, so wie er durch die Pläne Haussmanns in großem Stil entsteht, mag vieles sein: eine hygienische Maßnahme, ein Symbol oder die Repräsentation des Second Empire, ein Ordnungs- und Kontrollinstrument zur Kanalisierung von Massenansammlungen, vorzugsweise aufständischen; er ist aber vor allem die privilegierte Bühne jener spectacular realities der Massenkonsumkultur, deren Emergenz Vanessa Schwartz im Pariser Fin-de-Siècle 1900 diagnostiziert. 1 Der Boulevard ist eine urbane Achse oder, so die geläufige zeitgenössische Metapher, eine „Arterie“ des metropolitanischen Lebens, die Stätten und Medien der Unterhaltungskultur hervorbringt und zirkulieren lässt: die Cafés mit den zur Straße hin gerichteten Stühlen, die großen Theater, Music-Halls und Kaufhäuser, die Morgue sind hierfür häufig genannte Aspekte, der „flâneur“ die emblematische Figur. Der Boulevard privilegiert die Schaulust und evoziert, durch die Vermischung der Blicke und Schicksale, Geschichten, ist Anlass für Narration, Konversation und Klatsch. Der Boulevard ist ein öffentlicher Raum, in dem die zum Publikum versammelten Privatleute sich informieren und unterhalten lassen, Emotionen und Meinungen bilden und austauschen. Nicht von ungefähr annoncieren der englische und der französische Begriff für das, was wir „Öffentlichkeit“ nennen, zunächst einmal einen Ort: espace public/ public sphere. So jedenfalls lautet die Übersetzung der Habermas’schen Formel, die freilich auf die Dynamiken, die hier zu beschreiben sind, nicht unbedingt passt, insofern als sie „Öffentlichkeit“ oder „öffentliche Meinung“, angelehnt an die „opinion publique“ im 18. Jahrhundert 2 , als die durch Kommunikation wirksam hervortretende Vernunft des Gemeinsinns postuliert. Mercier hingegen lenkt 1781 im Tableau de Paris, in den Jahren vor der Französischen Revolution, in denen die „opinion publique“ als politischer Begriff notiert wurde, die Aufmerksamkeit auf einen „Monsieur le Public“, dessen Erscheinungsbild „un composé indéfinissable“ ist und dessen ebenso verworrene Meinung sich auf der Straße bildet. 3 Eine interessante Spur, wie mir scheint. Der Boulevard nämlich ist ein Dispositiv oder Walburga Hülk 54 ein „Schaltkreis“ 4 diffuser massenkultureller public opinion und scheint solcherart anzuschließen an vormoderne Kommunikationsformen, die durch keine philosophische oder staatsbürgerliche Vernunft gebändigt waren. „Ging die öffentliche Meinung in der Straße“, fragt Robert Darnton, „jemals mit dem philosophischen Diskurs synchron? Ich bezweifle es. […] Sie war eine Kraft, die aus den Straßen hervorquoll“ 5 . Und weil der Boulevard eine offene Schneise ist, ist er ein Umschlagsort der „mélanges“ oder „milieus“ voller Durchlässigkeiten und Vermischungen, der affektive, ethische, ästhetische Homogeneitäten begünstigt, aber auch Distinktionen herausfordert. Er ist eine wesentliche Schnittstelle jener Informationsgesellschaft, die Darnton im Sprung vom Ancien Régime zur Internetgesellschaft koppelt, ja kurzschließt. „Die Übertragungslinien kreuzten sich, gabelten sich oder breiteten sich fächerförmig aus, und sie verknüpften sich in einem Kommunikationssystem, das derart dicht war, daß ganz Paris von Neuigkeiten über die öffentlichen Affären widerhallte. Schon lange vor dem Internet existierte die Informationsgesellschaft.“ 6 Der Boulevard lässt zum einen das, was man im Ancien Régime unter „tout Paris“ verstand, hinter sich, denn er bezieht nicht nur die mondäne Welt ein, sondern das nicht mehr überschaubare oder begrenzte, die Hauptstadt und die Provinz, die mondäne und die gemeine Welt verknüpfende Netzwerk einer „offenen“, einer permeablen und dynamischen Gesellschaft. Zum anderen jedoch scheint er zurückzufallen hinter das Habermas’sche Postulat und gleicht darin den vor- und postmodernen Kommunikationssystemen, von denen Darnton spricht, und ebenso Christian Schuldts Buch „Klatsch. Vom Geschwätz im Dorf zum Gezwitscher im Netz“ 7 , das die Archaismen und das Ephemere der oral tradition im avanciertesten Medium wieder entdeckt. Mit der Emergenz der Boulevardmedien in der Mitte des 19. Jahrhunderts freilich korrespondiert die Ausdifferenzierung des l’art pour l’art als Gegenbewegung; und doch erzählen Balzacs Illusions perdues bereits 1843 nicht nur von der Verachtung des Journalismus durch den Dichter, sondern auch von der Verlockung des Bohémien durch den Boulevard oder besser, seine Vorstufen in der presse à grand tirage; Maupassants Bel Ami hingegen kommt 1880 nicht mehr in den Sinn, es könne irgendeinen Grund geben, den Verführungen des Massenmediums zu widerstehen. Wenn wir heute von „Boulevardisierung“ oder schlicht vom „Boulevard“ sprechen, so meinen wir vor allem Entwicklungen, Operationen und Formen des Mediensystems und der Einzelmedien, die das gesamte Feld der Alltagskommunikation überziehen mit einem Stil und einer Haltung. Diese zeichnen sich im 19. Jahrhundert im Pressewesen ab und fallen im Französischen unter die Stichwörter „pipolisation“ oder „peoplisation“. Sie zielen auf Spektakuläres aus der mondänen Welt, „le monde“ oder „tout Paris“, und ebenso auf Sensationelles, das im Alltagsleben von „Jedermann“ ge- Fait divers und storytelling - Verhandlungen zwischen Presse und Literatur 55 schieht und das vermittelt wird als Phänomen von jenem „menschlichen Interesse“, das Roland Barthes als Mythos bezeichnet und kritisiert hat. 8 Auf den Boulevards etablieren sich im Second Empire die Verlagshäuser der großen Presse, und die Zeitungen, die zunächst ausschließlich ihrer Lokalisierung wegen „presse boulevardière“ genannt wurden, führten Formate und Stile ein, die so effizient waren, dass binnen weniger Jahre, häufig innerhalb weniger Tage, die Leserschaft vervielfacht wurde. Die presse à un sou war billig, sie hatte häufig eine illustrierte Beilage, wie das seit 1863 auf dem Boulevard Montmartre ansässige Petit Journal, das sich im Verlagsprogramm an „Monsieur-Tout-le-Monde“ richtete, mit dieser Adressierung bis 1880 eine Auflagenzahl von ca. 2 Millionen pro Exemplar erreichte und nicht nur das Publikum in Paris, sondern die ganze Leserschaft der Provinz und auch die Beamten in den Kolonien im Blick hatte. 9 Abb. 1: Hissen der französischen Flagge in Timbuktu, Le Petit Journal, Februar 1894 10 Walburga Hülk 56 Die presse à un sou war nicht mehr an Abonnements gebunden, wurde zusätzlich über den Tagesverkauf vertrieben, durch Ausrufer auf den Boulevards oder am Kiosk. Die Leserbindung gelang besonders durch den Feuilletonroman und den fait divers. Diese beiden Rubriken, die jahrzehntelang über Verkaufserfolge der Zeitungen entschieden, führten zu einer neuen Erfahrung des Massenpublikums: der täglichen Lektüre oder dem täglichen Vorlesen. Wenn der Begriff storytelling heute nicht mehr nur ein Begriff der Literaturwissenschaften ist, sondern ein Generalbegriff der Politik und des Managements, eine, wie Christian Salmon 2007 schrieb, „machine à raconter des histoires et à formater des esprits“, dann lässt sich diese „machine“ 11 ; bereits ablesen an den Erfolgsrubriken der großen Zeitungen des 19. Jahrhunderts, die Geschichten erzählen, Mythen bilden, Gesinnungsgemeinschaften stiften und Boulevardisierungstendenzen ausbilden. Dazu schreibt Joseph Hanimann: „Gegen diese Sachbeschreibung könnte man einwenden, das Phänomen der Selbstwerdung durch Erzählen sei nicht neu, sondern seit den alten Gründungsmythen der Menschheit bekannt. Wo die großen Geschichten von Homer bis Tolstoi aber Weltwissen aufarbeiteten und Lebensweisheit weitervermittelten, […] geh(t) das ‚storytelling‘ gerade den umgekehrten Weg: Unmittelbare Gegenwart [wird] mit wohlkalkulierter Vergangenheitsfiktion aufgebläht und jeder offene Symbolraum mit gezielten Botschaften sofort verstopft“ 12 . Ich will die beiden Rubriken kurz skizzieren, um dann an einem Mikro- Beispiel zu zeigen, dass sich am fait divers besonders gut die Vermischung von literarischen und journalistischen Genres, aber auch die Kritik der Schriftsteller am Boulevardformat oder der „pipolisation“ und damit einhergehend die Entwicklung des rigoros durchgeführten l’art pour l’art ablesen lässt. Der roman-feuilleton, das ist bekannt und soll hier nur kurz resümiert werden, war das Format, mit dem die großen Zeitungen - Le Journal des débats, Le Constitutionnel, La Presse - das Publikum anzogen und, wie im Fall des erfolgreichsten Feuilletonromans überhaupt, Eugène Sues Les Mystères de Paris (1842/ 43), an der Produktion des Textes beteiligten. Durch die Korrespondenz Sues mit den Lesern wuchs der sentimentale Abenteuerroman um ein Vielfaches seines ursprünglich geplanten Umfangs an und veränderte seinen Ton: Vergleichbar Hugos Roman Les Misérables (1842) erhob er nun soziale Dramen zu seinem Hauptthema und appellierte an die Empathie seiner Leser. Die fiktionalen und narrativen Strategien des Feuilletonromans waren schlicht: ein starker, „spektakulärer“ Plot; eine Dramatisierung durch große Dialogpartien, die schon deshalb geboten waren, weil die Schriftsteller Zeilengeld bezogen; eine auktoriale, moralisierende Präsenz des (extradiegetischen) Erzählers. 13 Mit dem Feuilletonroman etablierte sich die mit Sozialmythen aufgeladene Narration als Kern des journalistischen Marketings. Die monatelange Lektüre der täglichen Lieferungen der Feuilletons stellte Vertrautheit her, eine emotionale Bindung Fait divers und storytelling - Verhandlungen zwischen Presse und Literatur 57 zwischen den literarischen Figuren und den Lesern; Realität und Fiktion, Roman und Leben vermischten sich im Horizont des Überraschenden, dessen Volten freilich eingeklagt wurden. Es war jene Kunst - art industriel, art utile, muse vénale - die die meisten Schriftsteller im selben Maße verachteten wie sie ihr verfallen waren. Kaum ein Schriftsteller, der sich zumeist brotlos abarbeitete an der Kunst, widerstand der Versuchung, Geld zu verdienen mit der Lieferung sensationeller Geschichten für ein Massenpublikum, einen kollektiven, durch Sentimentalität und Clichés homogenisierten Adressaten. 14 „Le cœur est la fiche de consolation de l’homme impolitique“, schreibt Balzac als „axiome“ in seiner kleinen Monographie de la presse parisienne. 15 Vielleicht aber ist auch das schon ein Klischee, wie es nachfolgend in der Soziologie der Masse immer wieder artikuliert worden ist unter den Stichworten „Affekt“ und „Imitation“ 16 . Denn natürlich war das Publikum, wie bereits die Korrespondenz mit Sue zeigt, heterogen, war auch die Vermischung oder der Dialog der beiden medialen Systeme - (Massen-)Presse und Literatur / Dichtung - ein dynamischer Prozess, der noch einmal ein genaueres Hinsehen verdient. Ich konzentriere mich jetzt auf den fait divers, einen Gegenstandsbereich, der in Frankreich, im Anschluss an Studien Dominique Kalifas, Beachtung fand. 17 Der Begriff bezeichnet ein Geschehen, eine Neuigkeit und - das ist der häufigste Gebrauch - eine Zeitungsrubrik, die 1833 nominell von Le Constitutionnel eingeführt wurde. 18 In der Rubrik sind „des nouvelles non classables“ versammelt, die freilich in der Regel „des récits sur des événements hors norme 19 sind: „petits scandales, accidents de voitures, crimes épouvantables, suicides d’amour, couvreurs tombant d’un cinquième étage, vols à main armée, pluies de sauterelles ou de crapauds, naufrages, incendies, inondations, aventures cocasses, enlèvements mystérieux, exécutions à mort, cas d’hydrophobie, d’anthropophagie, de somnambulisme et de léthargie…“ 20 . Dieser Katalog, 1862 von Pierre Larousse für sein Dictionnaire universel du XIXe siècle zusammengestellt, mag unfreiwillig erinnern an die Varia, die Linné bei der Arbeit an seinen Taxinomien zur Verzweiflung brachten, oder an die chinesische Enzyklopädie, die Borges erfand und die Foucault an den Anfang von Les mots et les choses stellte, um die Konstruiertheit der „Ordnung der Dinge“ und der Wissensordnungen zu demonstrieren. Denn die Liste der faits divers widersetzt sich dem Klassifizierungsdruck des modernen Wissens und den Ordnungen von Natur und Kultur gleichermaßen. Wer die faits divers zu sortieren versucht, gerät, so Marine M’sile, in ein „capharnaüm“ 21 von Phänomenen und Neuigkeiten und ebenso an eine Reihe von Reportern, die anonym blieben und schon deshalb als „faitdiversiers“ verachtet wurden. Dieses zudem deshalb, weil der Stil eines fait divers stereotyp ist: die Kürze verdichtet und dramatisiert das Geschehen; sie Walburga Hülk 58 erfordert die Tendenz zur Nominalisierung, hat dadurch einen fachsprachlichen, bürokratischen oder zumindest sachlichen Ton; dieser ist dem „effet de réel“ zuträglich und beglaubigt zusätzlich eine durch Augenzeugenschaft oder verlässliche Quellen verbürgte Information, die das Heterogene, das ganz und gar Unwahrscheinliche hervorspringen lässt aus der Homogeneität, das Spektakuläre aus der Gewohnheit. Der Anfang eines fait divers klingt dann unter Umständen so: „C’était un petit serpent inoffensif…séance pas comme les autres….encore une douloureuse affaire d’enfants déchirés…pas de week-end pour les bandits…la femme de ménage est arrivée trop tard…“ 22 . Der fait divers intendiert zugleich Spannung und Staunen, mithin genuin literarische Effekte; da er Kuriositäten zum Thema hat, ist er spektakulär, selbst wenn der Erzähler, was nicht immer der Fall war, diskret ist. 23 Im Homonym fait divers und fais dix vers 24 tut sich die Kluft auf zwischen den äußersten Erscheinungen von mainstream und marge, Boulevard und Bohème, Massenpresse und brotloser Kunst, also Lyrik. Doch auch wenn „Diverses“, „Vermischtes aus aller Welt“ zur ubiquitären und bereits im Second Empire am meisten gelesenen Zeitungsrubrik wurde und zu einem Genre, das Nicht-Alttägliches alltäglich macht, ist jeder einzelne fait divers überraschend, in sich geschlossen oder, wie Roland Barthes sagt, „immanent“ 25 . Einmal gedruckt, ist er nicht wiederholbar. Überdies beruht er auf einem vorausgesetzten Konsens im Hinblick auf „Normalität“ und kann sich deshalb des Verständnisses der Leser nahezu sicher sein. Insofern ist der fait divers (mit Luhmann) eine „ideale Kommunikation“. Er signalisiert die Präsenz von Reportern an den unterschiedlichsten und verschwiegensten Orten und macht gemein, was geheim ist. Der fait divers ist ein Thesaurus der Kontingenz und des Monströsen, ein Medium des Imaginären im Gewande des Reellen. Indem er zeigt, was so alles geschieht, erzählt er, was umstellt ist von Ambiguitäten, Ängsten und Tabus. Diese lassen sich trotz der Heterogeneität der Nachrichten bestimmten Bereichen zuordnen. Die gängigsten, so Dominique Kalifa, sind Katastrophen, Tiere, Sexualität, Gewalt, Medizin, Frau. Der fait divers informiert, und er unterhält, weil er Neugier und Voyeurismus befriedigt; seine „nouvelle“ wird zum Gegenstand erregter Gespräche und gleicht, so Anne-Claude Ambroise-Rendu, die Mitteilung des Massenmediums und die urbane Konversation dem Dorfklatsch 26 , dem Dorfgerede an; gleichzeitig ist der fait divers ein machtvoller „vecteur d’opinion“, insofern als er Emotionen hervorruft und kommuniziert, die (im doppelten Sinne) anstecken. Der fait divers hat dadurch nicht nur eine medienkulturelle und soziale, sondern auch eine anthropologische Dimension. Er ist, so Roland Barthes, „un art de masse (qui préserve) au sein de la société contemporaine l’ambiguïté du rationnel et de l’irrationnel, de l’intelligible et de l’insondable“ 27 . Mit dem fait divers treten ordinary people aus Masse und Alltag hervor, meistens freilich durch Unglück, Verbrechen, Tod. Da jeder Tag neue faits divers hervorbringt, ist die Aufmerksamkeit ihnen Fait divers und storytelling - Verhandlungen zwischen Presse und Literatur 59 nur augenblicklich, für einen Tag gewährt, es sei denn, die Zeitung macht aus dem fait divers einen „Feuilletonroman“, wie im Fall Troppmann, der zwischen September 1869 und Januar 1870, zwischen der Ermordung einer achtköpfigen Familie und der Verurteilung und Guillotinierung des Täters, zu einer Serie ausgebaut wurde und die Zahl der Leser in der ersten Woche um 100.000, nach vier Monaten noch einmal um 200.000 steigen ließ. 28 Truth is stranger than fiction, lautete Poes Diktum, und wo Blut fließt, fließt auch Tinte; L’Encre et le sang heißt das Buch Dominique Kalifas, das die sicherheitspolitische und journalistische Codierung der Delinquenz um 1900 ausführt. 29 Abb. 2: Scan der Titelseite des Petit Journal vom 23.09.1869 Walburga Hülk 60 Abb. 3: Illustration der Hinrichtung Troppmanns 30 Wenn der fait divers immer schon literarische Züge einer Anekdote, Kurzerzählung oder Novelle hatte, so ist die Zeitungsrubrik selbst, als „petit(s) récit(s) de désordres ordinaires“, immer ein Inzitament der Literatur und auch des Films gewesen. Benjamin spricht im Passagen-Werk anlässlich des Spleen de Paris davon, dass „das fait divers die Hefe (gewesen sei), die die Masse der großen Stadt in Baudelaires Phantasie aufgehen (ließ)“ 31 ; und das Faszinosum der amorphen foule, aus denen Verwandte des Dichters hervortraten - Kriminelle, Apachen, Prostituierte, Trinker -, brachte nicht nur Bilder und Struktur der poèmes en prose hervor, sondern wurde auch beobachtet von einer Künstler-Zeitung der 1860er Jahre, an deren Entstehung Baudelaire mitwirkte und die ironischerweise Le Boulevard hieß. Vor allem aber ist der fait divers immer Erzählanlass gewesen. Bei Stendhal, Flaubert und Gide, im Kriminalroman sowieso, besonders ironisch bei Fred Vargas, bei Hitchcock, Truffaut und Chabrol und ebenso bei den Surrealisten findet sich ein faktischer oder fiktionaler fait divers als Intertext. Er ist Grundidee für den plot - ein crime passionnel in Le Rouge et le Noir, Ehebruch und Selbstmord in Madame Bovary, die Bestialität der Schwestern Papin in Dalís und Lacans Geschichten der Paranoia -, aber im besten Fall auch ein Code in kritischer Absicht, über den Gemeinplätze des Redens und Denkens beobachtet und bloßgestellt werden können. Valérys Schmäh gegen die realistische Erzählweise, bekannt unter dem Stichwort „La marquise sortit à 5 heures“, rechnet gleich Fait divers und storytelling - Verhandlungen zwischen Presse und Literatur 61 ganz ab mit einer Narration, die sich vom Duktus eines fait divers hat affizieren lassen. Ein anderer, bisher unbeachteter Versuch der Austreibung eines boulevardesk aufgeladenen fait divers aus Herz und Hirn findet sich in Madame Bovary, und zwar im Kapitel der Operation, die Charles Bovary misslingt. Das Kapitel II,11 ist, wie schon Walther von Wartburg und Erich Köhler gezeigt haben 32 , die exakte Mitte und Peripetie des Romans; nach diesem Kapitel beschleunigt sich der Automatismus von Liebes- und Geldverzehr und endet im eigentlichen, dem Roman - vielleicht, vielleicht auch nicht - zugrunde liegenden fait divers, Emmas Selbstmord. Flaubert, der als einer von wenigen aus der Literaturszene des Second Empire resistent war gegen die Verlockungen der Massenpresse und der einen Lebens- und Schreibstil exerzierte, der so weit wie kein zweiter entfernt war von den Praktiken des Spektakulären, lässt hier eine Operation durchführen, die sein Vater, ein berühmter Chirurg, nicht gewagt hätte. Er legt sie spektakulär als fait divers an und exerziert in der kleinen Binnenerzählung, für die er wie gewohnt zahlreiche Fachbücher konsultierte, exemplarisch die Verachtung, die er dem Zeitgeist entgegenbrachte. Charles Bovary also führt an dem Pferdeknecht Hippolyte eine heikle Fußoperation durch, die scheitert. Ein ruhmreiches Ende hätte Emma vielleicht - zumindest für kurze Zeit - zu ihrem Ehemann zurückfinden lassen. Der Initiator der Klumpfußoperation ist der Apotheker Homais, der von einer solchen Möglichkeit gelesen hat; er verlockt zunächst Emma, dann ihren gutgläubigen Mann zu dieser medizinischen Waghalsigkeit, indem er dem Gesundheitsoffizier eine „célébrité vite acquise“ 33 in Aussicht stellt. Einmal heißt es von Homais: „Homais parlait“. Homais, „partisan du progrès“, redet und doziert immerzu; in ihm konzentrieren sich Flauberts Hass auf die Idee des Fortschritts als besonders effizientem Mythos und seine Verachtung des schneidig behaupteten, über jeden Zweifel erhabenen Wissens. „Car“, disait-il à Emma, „que risque-t-on? “ Schlussfolgerungen, von Flaubert als meinungsbildender Kern von Klischees inkriminiert, sind die Stärke des Apothekers; „on“ ist die umgangssprachliche Form für eine Sprecherinstanz, die sich formal für das Gesagte nicht mehr verantwortet und im „on-dit“, im Gerede, ihren prägnantesten Ausdruck gewinnt. Homais’ „idée patriotique“ ist also, die kleine Gemeinde Yonville-l’Abbaye müsse, pour se mettre au niveau und um die Aufmerksamkeit der „capitale“ auf sich zu ziehen, „des opérations de stréphopodie“ durchführen. Die Kursivsetzung der Wendung „sich auf Stand bringen“ indiziert den Gemeinplatz; der Fachterminus intendiert Diskurshoheit und elitäre Komplizenschaft, zugleich hat er die ominöse Kraft einer „conjuration“, einer Beschwörung. Homais, Partisan des Fortschritts, ist nämlich nicht nur Dorf-Apotheker, sondern auch Zulieferer der Zeitung Fanal de Rouen, die ausstrahlen und zum Ruhm des Operateurs und der Region beitragen soll: Walburga Hülk 62 „Qui donc m’empêcherait d’envoyer au journal une petite note là-dessus? Eh! mon Dieu! Un article circule…, on en parle…, cela finit par faire une boule de neige! Et qui sait? qui sait? “ Sein Artikel, gegen hinterwäldlerische und klerikale „préjugés“, im Zeichen der „lumière“ geschrieben, feiert die Provinz als „théâtre“ einer spektakulären medizinischen Innovation; man habe einen so großen Menschenauflauf verzeichnet, dass es wahrhaftig zu einem Engpass vor dem Gebäude gekommen sei - in Wahrheit war es so, dass „cinq ou six curieux […] stationnaient dans la cour“. Homais freilich berichtet als Augenzeuge der Operation, und er, der Religionsverächter, vergleicht sie mit einer biblischen Wunderheilung, „l’opération, du reste, s’est pratiquée comme par enchantement, et à peine si quelques gouttes de sang sont venues sur la peau […] Le malade, chose étrange (nous l’affirmons de visu) n’accusa point de douleur […].“ Er habe, so Homais gegenüber Charles Bovary, „pied-bot“ geschrieben statt des „terme scientifique“, „parce que, vous savez, dans un journal…tout le monde peut-être ne comprendrait pas; il faut que les masses…N’est-ce pas le cas de s’écrier que les aveugles verront, les sourds entendront et les boiteux marcheront! […] Nous tiendrons nos lecteurs au courant des phases successives de cette cure si remarquable.“ Von diesen weiteren Zeitungsartikeln erfahren wir erst einmal nichts, denn das „spectacle affreux“, das sich einige Tage später ereignet, beobachtet und kolportiert nicht mehr Homais, der sich in seine Apotheke zurückzieht. Die Hauptstraße der kleinen Gemeinde hingegen verzeichnet diesmal tatsächlich einen Menschenandrang wie sonst üblich bei öffentlichen Hinrichtungen (die zu dieser Zeit in Paris stattfanden auf dem Boulevard Arago); beim Gemischtwarenhändler wird die bevorstehende Amputation diskutiert, und die Frau des Bürgermeisters verlässt ihren Fensterplatz nicht mehr, um die Ankunft des Spezialisten aus Neufchâtel nicht zu verpassen „qui était une célébrité“. „Ce fut dans le village un événement considérable que cette amputation de cuisse par le docteur Canivet! Tous les habitants, ce jour-là, s’étaient levés de meilleure heure, et la Grande-Rue, bien que pleine de monde, avait quelque chose de lugubre comme s’il se fût agi d’une exécution capitale. On discutait chez l’épicier sur la maladie d’Hippolyte; les boutiques ne vendaient rien, et madame Tuvache, la femme du maire, ne bougeait pas de sa fenêtre, par l’impatience où elle était de voir venir l’opérateur.” Die Berichterstattung über die Wende des operativen Geschehens, Blutvergiftung, Wundbrand, Amputation, übernimmt, im direkten Anschluss an die Wiedergabe von Homais’ Zeitungsartikel, der Erzähler selbst. Das Gemetzel, das er den Lesern von Madame Bovary zumutet - in Vorwegnahme Fait divers und storytelling - Verhandlungen zwischen Presse und Literatur 63 der ähnlich gestalteten Agonieszene der Protagonistin - ist Teil der Inszenierung eines Spektakels für das Leserpublikum, das exemplarisch die Ambiguität des Genres fait divers zwischen „effet de réel“ und Induktion des Phantasmas bedient. Flauberts berühmter diskreter, „immuner Erzähler“ 34 agiert als „fait-diversier“; die eingestreuten Fachtermini unterstreichen die Sachlichkeit und sind zugleich, als Idiom des Experten, umgeben von einer Aura des Unheimlichen, des Abnormen, des für die Masse und auch für Charles Bovary Unverständlichen; die „Objektivität“ des Flaubert’schen Stils ist allererst buchstäblich zu nehmen, insofern als sie die Erzählung so lange mit Dingen, mit Details und Nichtigkeiten sättigt, bis dass diese selbst Mythen bilden, Signifikation und Imaginäres freisetzen. Der Operateur also erscheint: „Il arriva dans son cabriolet, qu’il conduisait lui-même. Mais, le ressort du côté droit s’étant à la longue affaissé sous le poids de sa corpulence; il se faisait que la voiture penchait un peu tout en allant, et on apercevait sur l’autre coussin près de lui une vaste boite, recouverte de basane rouge, dont les trois fermoirs de cuivre brillaient magistralement.” Ein weltläufiges flair hält Einzug in Yonville-l’Abbaye; ein „tourbillon“, ein Strudel bildet sich um den ebenso exzentrischen wie robusten Chirurgen. Der versorgt vor der Arbeit Stute und Kutsche, schimpft auf die gemeingefährlichen Erfindungen von Pariser Wunderheilern und die Esel, die ihnen glauben: „redresser les pieds-bot? […] rendre droit un bossu! “ - und gibt zum Besten, er zerlege alles, egal, ob Christenmensch oder Geflügel. Auf dem Beifahrersitz schon, angelehnt an die „célébrité“, sah man nicht eine schöne Frau, sondern die große Kiste mit dem Arztbesteck. Das meisterhafte Glänzen der Kupferbeschläge - so drohend kann eine Metonymie sein! - kündigt den show-down des Geschehens an, das mythische Dimensionen einer Opferung annimmt. 35 Homais, seiner Zartfühligkeit wegen, verweigert dem berühmten Arzt seinen Beistand: „Quand on est simple spectateur, disait-il, l’imagination, vous savez, se frappe! “, während Charles Bovary in völliger Abgeschiedenheit über die bedrohliche Bedeutung der Fachtermini meditiert („il méditait“), in die sich die „fatalité“ eingemischt habe. Hohn und Klatsch fürchtet er „jusqu’à Neufchâtel! jusqu’à Rouen! […] On allait rire, […] clabauder! Cela se répandrait…“, aber darauf müsse er in den Zeitungen reagieren. Am Ende des Kapitels trägt Homais eine große rote Kiste über den Marktplatz. Im Hause Bovary fällt das Barometer zu Boden und zerbricht. Am nächsten Tag nimmt Emma die Liaison mit Rodolphe wieder auf usw. Spectacular reality in der Provinz: Flaubert, das wissen wir, führte einen Krieg gegen den Gemeinplatz; für ihn kontaminierte und infizierte die idée reçue das gesamte Feld des Wissens, der Empfindungen, der Diskurse und der Haltungen seiner Zeit. Mit dem Kapitel II,11 aus Madame Bovary seziert Walburga Hülk 64 er einen Stil, der vom Boulevard der Hauptstadt aus die Hauptstraße des normannischen Dorfes erreicht, zum machtvollen „vecteur d’opinion“ wird und ein doppelt desaströses Geschehen zu verantworten hat. Das Petit Journal, das sich als unpolitisches Blatt ausgibt und das massenmediale storytelling perfektioniert, erscheint erst sieben Jahre später. Flaubert jedoch beobachtet 1856 die Boulevardisierung in ihren Anfängen und ihren ästhetischen, psychischen und ethischen Auswirkungen. Was der Provinzbohémien selbst lauthals im gueuloir seines Landhaus in Croisset einübte, war hingegen eine Sprache, die die nichtigen und alltäglichen Dinge des Lebens, die choses de la vie und ihre überraschenden Energien nachklingen lässt in beschwörender Musikalität - im Eigensinn seines vom Großstadtgetriebe abgewandten Lebensstils und seines zum l’art pour l’art gewendeten Realismus. 36 1 Vanessa R. Schwartz: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, Berkeley 2001. 2 Cf. Reinhart Koselleck (et al.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, vol. 4, „Öffentlichkeit“, besonders „öffentliche Meinung“, Stuttgart, 1978, 448-456; cf. auch allgemein: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied, 1969; fernerhin: Walter Lippmann: Public Opinion, New York, 1922; Pierre Bourdieu: „L’opinion publique n’existe pas“, in: Les Temps Modernes, N o 318, 1973, 1292-1309. 3 Louis-Sébastien Mercier: Tableau de Paris, Amsterdam 1782-1788, VI, 268; siehe dazu im Zusammenhang: Robert Darnton: Poesie und Polizei. Öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., 2002, 142sq. 4 Darnton: ibid., 136. 5 Darnton: ibid., 14sq. 6 Darnton: ibid., 132. 7 Christian Schuldt: Klatsch! Vom Geschwätz im Dorf zum Gezwitscher im Netz, Frankfurt a.M./ Leipzig, 2009. 8 Roland Barthes: Mythologies, Paris, 1957. 9 Michel Lemercier: Histoire générale de la presse française 3. De 1871 à 1940, Paris 1972. Heute gibt es folgendes Online-Portal: lepetitjournal.com. Le média pour les Français et francophones à l’étranger. 10 „Le drapeau français arboré à Tombouctou“, in: Le Petit Journal. Supplément du dimanche, N o 169, 12.02.1894. 11 Christian Salmon: Storytelling; Georges Chétochine/ Olivier Clodong, Le storytelling en action. Transformer un politique, un cadre d’entreprise ou un baril de lessive en héros de saga, Paris, 2009. 12 Joseph Hanimann: „Recht hat, wer eine Geschichte erzählt“, in: FAZ, 10.12.2007, N o 287, 37 - Rezension zu: Christian Salmon: Storytelling. La machine à raconter des histoires et à formater des esprits, Paris, 2007. Fait divers und storytelling - Verhandlungen zwischen Presse und Literatur 65 13 Walburga Hülk: Als die Helden Opfer wurden, Heidelberg, 1985. Siehe auch: Jörg Türschmann: „Der Fall der Mystères de Paris. Literatur- und Sozialkritik als Moraldiskussion in der politischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts“, in: Klaus-Dieter Ertler/ Siegbert Himmelsbach (eds.): Pensées - Pensieri - Pensamientos. Dargestellte Gedankenwelten in den Literaturen der Romania. Festschrift für Werner Helmich zum 65. Geburtstag, Wien: LIT, 2006, 377-394. Sowie: „Spannung in Zeitungsliteratur. Romananfang und serielles Erzählen am Beispiel des frühen französischen Feuilletonromans“, in: Daniela Langer/ Christoph Jürgensen/ Ingo Irsigler (eds.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung, München, edition text+kritik, 2008, 225-246; Ebenso: Hans-Jörg Neuschäfer: Populärromane im 19. Jahrhundert. Von Dumas bis Zola, München, 1976. 14 Anne-Claude Ambroise-Rendu: Petits récits de désordres ordinaires. Les faits divers dans la presse française des débuts de la III e République à la Grande Guerre, Paris, 2004, 313. 15 Ambroise-Rendu, op. cit., 42. 16 Cf. dazu durchaus heikel: Gustave Le Bon: Psychologie des foules, Paris, 1895; vor allem auch: Gabriel Tarde: Les Lois de l’imitation, Paris, 1890; cf. dazu: Gregory Shaya: „The Flâneur, the Badaud, and the Making of Mass Public in France, circa 1860-1910“, in: The American Historical Review, vol. 109, N o 1, February 2004, 41-77. 17 Dominique Kalifa: L'Encre et le sang. Récits de crimes et société à la Belle Époque, Paris, Fayard, 1995 sowie: „L’écriture du fait divers au XIX e siècle: de la négation à la production de l’événement“, in: H.-J. Lüsebrink/ J.-Y. Mollier (eds.): Presse et événement: Journaux, gazettes, almanachs (XVII e -XIX e siècle), Bern, Peter Lang, 2000, 197-311. 18 Marie-Ève Thérenty: La Littérature au quotidien. Poétiques journalistiques au dix-neuvième siècle, collection Poétique dirigée par Gérard Genette, Paris, 2007. 19 Marine M’sili: Le fait divers en République. Histoire sociale de 1870 à nos jours, Paris, 2009, 45. 20 Zitiert in: Ambroise-Rendu, op. cit., 10. 21 Marine M’sili, op. cit., 55. 22 Ulrich Friedrich Müller (ed.): Faits divers. Was so alles passiert. Nachrichten aus französischen Boulevardzeitungen, München 1969, 22, 24, 26, 30, 62. 23 Dominique Kalifa: „L’écriture du fait divers au XIX e siècle: de la négation à la production de l’événement“, in: H.-J. Lüsebrink/ J.-Y. Mollier (eds.): Presse et événement: Journaux, gazettes, almanachs (XVII e -XIX e siècle), Bern, Peter Lang, 2000, 311. Cf. allgemein auch: Ambroise-Rendu: Petits récits de désordres ordinaires. Les faits divers dans la presse française des débuts de la III e République à la Grande Guerre, Paris, 2004; sowie: Annik Dubied: Les dits et les scènes du fait divers, Genf, 2004. 24 Cf. M’sili, op. cit., 45. 25 Roland Barthes: „Structure du fait divers“, in: Essais critiques, Paris, 1964. 26 Cf. Ambroise-Rendu, op. cit., 315. 27 Barthes: „Structure du fait divers“, loc. cit., 197. 28 Der „Fall Troppmann“ ist, so Philippe Nieto, „véritablement le lancement, en France, du fait divers criminel populaire, décliné sur de multiples supports. On s’arrache les portraits de Troppmann, les canards diffusent des images, rivalisant de cruauté, qui montrent notamment les enfants [...] les imageries d’Epinal produisent de belles séries“, in: Crime et châtiment, sous la direction de Jean Clair, Paris, 2010, 319, ibid. 29 Kalifa: L’Encre et le sang, Paris 1995; Kalifa: Crime et culture au XIX e siècle, Paris 2005; Thomas Cragin: Murder in Parisian Streets. Manufacturing Crime and Justice in the Popular Press 1830-1900, Lewisburg, 2006. Walburga Hülk 66 30 Illustration der Hinrichtung Troppmanns aus den Epinal-Werkstätten, „Exécution de Jean-Baptiste Tropmann“ [sic! ], vers 1870, Musée des Civilisations européennes et méditerranéennes, inv. 53.86.4843 C, abgedruckt in: Kalifa: Crime et châtiment, op. cit., 319. 31 Walter Benjamin: Das Passagenwerk, vol. 1, Frankfurt a.M., 1983, 437. 32 Walther von Wartburg: „Flaubert als Gestalter“, in: Deutsche Vierteljahresschrift, 19 (1941), 208sqq.; Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert, ed. Henning Krauß/ Dietmar Rieger, vol. II, Stuttgart et al., 1987, 93-93. 33 Gustave Flaubert: Madame Bovary. Mœurs de province, in: Œuvres, édition établie et annotée par Albert Thibaudet et René Dumesnil, vol. I, Paris, 1951, deuxième partie, XI, 450-461; alle nachfolgenden Zitate, ibid. 34 Zu diesem überzeugenden Begriff cf. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München, 2007. 35 Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M., 2009, 127-132. 36 Walburga Hülk: „Le Masque et la plume. Proust liest Flaubert“, in Druck: Proustiana, Köln, 2012. Dominique Kalifa Das Gegenstück des Boulevards: La tournée des grands-ducs und der Elendstourismus „Il y a à côté du Paris nocturne des grands boulevards, - du Paris joyeux et galant de Maxim’s, de Fantasio et des cabarets de la butte, - il y a un autre Paris, un Paris étrange, quelquefois dangereux, mais combien intéressant, qui offre à l’observateur des scènes et des tableaux de mœurs qui valent ceux des Mystères de Paris. Une expédition nocturne dans les caboulots voisins des Halles fera connaître aux étrangers un des plus curieux aspects d’un quartier que Zola nommait le ventre de Paris. Cette promenade est connue des Parisiens sous le nom de la tournée des grands-ducs.“ 1 Tournée des grands-ducs…, dieser Ausdruck hat Schule gemacht und sich durchgesetzt; er ist heute allgemein geläufig ebenso wie der gleichnamige und erfolgreiche Film von André Pellenc aus dem Jahr 1953 - mit Louis de Funès und Raymond Bussière -, der immer noch häufig ausgestrahlt wird und die Erinnerung an den Begriff wach hält. Doch merkwürdigerweise scheint die Wendung innerhalb von nur einem Jahrhundert ihre ursprüngliche Bedeutung verloren zu haben. Mehr noch, es kam zu einer radikalen Umkehrung der Bedeutung. Heute bedeutet „sich auf die tournée des grandsducs zu begeben“, eine nächtliche Spritztour mit Freunden zu unternehmen, in schicke Restaurants, trendige Bars oder angesagte Clubs zu gehen. Nun bezeichnet der Begriff seit seinem Aufkommen Ende der 1880er Jahre jedoch das genaue Gegenteil: Es handelt sich um eine schmutzige, bisweilen gefährliche Entdeckungsreise einer Handvoll weltmännischer und reicher Ausländer in die Niederungen der Stadt, die Erkundung von Spelunken und möblierten Unterkünften, den Sprung in diesen Abschaum, welcher das Gegenstück der modernen, geordneten Stadt darstellt. Dieser semantischen Verkehrung wohnt eine spannende historische Frage inne, die mit der Demokratisierung der Freizeit, der gewandelten Wahrnehmung von Armut und Kriminalität sowie der sozialen Frage zusammenhängt. Die Antwort auf diese Frage erfordert eine Rückkehr zur ursprünglichen Bedeutung der tournée des grands-ducs, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht und bisher noch nicht Gegenstand einer historischen Analyse 2 war. Ich erinnere kurz an die Entstehung der tournée in ihrer Praxis und als Erzählung, bevor ich versuche, ihren Ablauf zu kartographieren und zu erklären, um schließlich auf die anthropologische und soziale Spannkraft dieser fremdartigen „Attraktion“ einzugehen, die aus der Misere und dem Abschaum ein geschätztes Spektakel machte. Dominique Kalifa 68 Die Praxis und die Erzählung Das Durchstreifen unheilvoller Gegenden auf der Suche nach heftigen Emotionen stellte zweifellos eine Praxis dar, die bereits seit langem von den sozialen Eliten praktiziert wurde. Doch sollte es bis zum 19. Jahrhundert dauern, ehe sie sich in Form von Erzählungen kodifiziert und als Modell verbreitet. Das Phänomen, wie so viele andere, kommt zuerst in England auf, als der bekannte Journalist Pierce Egan 1821 Life in London veröffentlicht, eine amüsante und stürmische Erzählung über die Reisen zweier gentlemen, dem Londoner Tom und Jerry, seinem Cousin aus der Provinz, in die niederen Viertel des East Ends. 3 Abb. 1: Georges Cruikshank: Tom and Jerry Masquerading it (1821) 4 Zwischen gin palaces und coffee shops, treffen die beiden Kameraden auf Arme, Bettler, Prostituierte, Betrunkene, Zuhälter und Kinder in Lumpen, sie nehmen an Maskeraden, Hundesowie Hahnenkämpfen teil und sind schließlich in eine Rauferei verwickelt, bei der sie dank ihrer natürlichen Überlegenheit leicht die Oberhand gewinnen. Die Geschichte von Tom und Jerry hatte so großen Erfolg, dass sie kopiert und im Theater aufgeführt wurde und somit als Vorlage für Erzählungen gleichen Musters diente, wie etwa Doings in London von Georges Smeeton (1828) oder The Dens of London von John Duncombe aus dem Jahr 1835: eine geführte Tour für sensationshungrige gentlemen hinab in die schmutzigen Eingeweide der Stadt. 5 Der Trend zum fashionable slumming war geboren und entwickelte sich in rasantem Tempo: Dickens, für den Life in London zum Lieblingsbuch 6 wurde, berichtet 1851 von seinen nächtlichen Ausflügen mit seinem Freund Inspektor Field in die Spelunken und workhouses 7 , Donald Shaw erzählt von Das Gegenstück des Boulevards 69 seinen Trips mit Lord Hastings in die Subkulturen und penny gaffs von Ratcliff Highways 8 und der new journalism der 1860er Jahre erhebt es zum Leitmotiv. Es ist also in London, der anderen Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, wo die Franzosen das Modell für die tournée des grands-ducs finden. Wer nicht wagte, den Spuren von Pierce Egans oder Dickens zu folgen, galt nicht als weitberühmter Reisender. In seinen unveröffentlichten Memoiren unternimmt der Leiter der Pariser Sûreté, M. Claude, eine geführte Tour durch White-Chapel, das Newgate Gefängnis und den „monde opaque et mystérieux“ der Londoner Kriminalität. 9 1884 besucht der Chronist des Figaro, Albert Wolff, in Begleitung eines Londoner Detektivs die „cabarets borgnes, voir les mendiants de Whitechapel et les voleurs de Spitafield“ 10 . Nach dem Tod Victor Hugos begeben sich Léon Daudet, Charles Floquet und Edouard Locroy unter Führung eines Inspektors von Scotland Yard 11 auf eine ähnliche Tour in London. Das Motiv setzt also über nach Paris. Die Beschreibung der Elendsviertel war dort nicht ganz unbekannt (man denke an die Nuits von Restif de la Bretonne oder an die Mystères de Paris von Eugène Sue), doch sie war bis dahin gänzlich den Romanfiguren vorbehalten. Diese kollektiven oder geführten Besuche entstehen erst nach der Haussmannisierung und sind eng mit ihr verknüpft, ganz so als ginge es darum, den Tod des alten Paris zu konstatieren und die wenigen dreckigen Viertel hervorzuheben, die der Spitzhacke des Abbrucharbeiters entkommen konnten. In Symbiose mit den zahlreichen Werken über Paris disparu, Paris qui s’efface oder Paris ignoré tauchen schließlich auch die ersten Wegbeschreibungen der Elendsviertel auf. Dies ist besonders der Fall bei Paris étrange von Louis Barron, 1883, in dem der Autor, von einem früheren Agenten der Sûreté überzeugt, beschließt, einen Führer der „ville obscure, cachée dans les plis sombres du Paris brillant et luxueux, ville de malfaiteurs, de mendiants et de vagabonds“ 12 zu schreiben. Rund zehn Jahre später, mitten in den 1890er Jahren, wird die Wendung institutionalisiert und erhält ihren Namen tournée des grands-ducs. Dabei verbinden sich zwei Phänomene miteinander. Einerseits war dies in der Zeit der französisch-russischen Allianz die Nachfrage einiger großer Mitglieder der Zarenfamilie, begierig die verrufenen Orte der Hauptstadt in gebührender Begleitung zu besuchen. Für Léon-Paul Fargue war es eine Hoheit aus der Zeit Alexanders III., die mit jener Praxis begann. 13 Laut André de Fouquières wurde die Bezeichnung wegen des Großherzogs Alexis erfunden. 14 Für wieder andere, darunter Jean Lorrain, sind es die Leiter der Sûreté, Macé und besonders Goron, die „l’ingénieuse idée d’offrir aux grands-ducs une descente aux enfers parisiens“ 15 haben - eine Version, die auch durch die Erinnerungen des Präfekten Morain, 1929 in englischer Sprache veröffentlicht 16 , bestätigt wird. Die andere unmittelbare Quelle ist die Lust am schlechten Umgang, von der die Avantgarde dieser Zeit er- Dominique Kalifa 70 griffen ist; dieses Phänomen ist nicht neu, aber es spricht Autoren an, die darüber schreiben, wodurch es zu einem der hervorstechendsten Merkmale des literarischen Snobismus des Fin de siècle wird. 17 Man lässt sich bei Bruant anschnauzen, geht verkleidet zum Ball der Taugenichtse in der Rue Charras 18 und zur Taverne du Bagne, in der die Diener Sträflingskleidung tragen 19 , man mischt sich unter die Prostituierten und Zuhälter. Gegen Ende der 1890er Jahre unterhält die tournée eine beachtliche Druckproduktion. Diese umfasst malerische Texte, wie die „très bizarre excursion nocturne à travers les bas-fonds de la capitale“, die Paul de Chamberet 1897 „au pays du vice et de la misère“ 20 anbietet, aber auch Reiseführer und Almanache, wie der Paris intime et mystérieux, welcher auch Führer vermittelt, im Büro der Pariser cicérones, 17 rue Laférière. 21 Das Thema des Aufeinandertreffens von großer Welt und Unterwelt, ein traditionelles Ressort des Populärromans, erlangt eine gewisse Autonomie, wie im Zyklus La Tournée des Grands-Ducs. Mœurs parisiennes, von Dubut de Laforest: man folgt darin einer Gruppe von clubmen und Lebemännern, die Paris unter der Führung von Harry Smith durchziehen, dem Veranstalter eines „service de guides et d’interprètes chargés de piloter les curieux dans les bouges, dans les asiles de la misère et les antres du crime“ 22 . Aber das Motiv floriert besonders in der Avantgarde-Literatur. In Amants präsentiert Maurice Donnay die junge Claudine, die „aux endroits où l’on trouve des assassins“ 23 gehen möchte. In Les Déracinés von 1897 macht Maurice Barrès Racadot und Mouchefrin zu Führern, die die hübsche Astiné Aravian in die verrufenen Kabaretts des Maubert-Viertels leiten und sie im Morgengrauen an den Steilufern der Seine schließlich umbringen. 24 Der Meister der tournée ist zweifellos Jean Lorrain, Ästhet der „vergifteten Stadt“ und professioneller Dieb. Bereits am 14. Januar 1899 vollzieht er in Le Journal eine tournée des grands-ducs mit Mademoiselle Odette Valéry, einem Star der Folies- Bergères. 25 Zwei Jahre später erhebt er die tournée zum narrativen Kern von La Maison Philibert, in dem die Gauner für „des mondains en mal de curiosité“ auf Mädchenjagd gehen. 26 Im Juni 1905, mit einer Kodak in der Hand, erstellt er für die enzyklopädische Zeitschrift Je Sais Tout von Pierre Lafitte eine lange, und meines Wissens die einzige Fotoreportage. 27 Das Gegenstück des Boulevards 71 Abb. 2: Jean Lorrain: Le Caveau des Innocents (1905) 28 Abb. 3: Jean Lorrain: Chez Fradin (1905) Abb. 4: Jean Lorrain: L’Ange Gabriel (1905) Dominique Kalifa 72 Das junge Kino folgt der Literatur. 1909 dreht Léonce Perret den Film La tournée des Grands-Ducs, in dem er einen Lebemann, einen Gauner und ein Mädchen, dargestellt von Hauptdarstellerin des Café-Concert Polaire, zeigt. Wenig später dreht Bernard Natan eine Porno-Version, La Tournée des Grands-Ducs, mit dem gleichen Trio, allerdings in schlüpfrigeren Positionen. Die tournée verschwindet auch nach dem Krieg nicht, aber sie vollzieht einen tiefgreifenden Wandel. Sie wird alltäglich, sie kodifiziert sich nach dem Maßstab der immer zahlreicheren Führer, die erklären Comment visiter les dessous de Paris. 29 Dabei verändert sich besonders die Intention: Es geht weniger darum, die schmutzigen oder gefährlichen Lokalitäten aufzusuchen, als vielmehr die Orte des Vergnügens, die Cabarets von Montmartre, die Cafés von Montparnasse. Die tournée des grands-ducs, so wie sie Maryse Choisy und Foujita gegen Ende der 1920er Jahre organisieren, findet im Bugatti statt und besteht darin, die Szene-Bordelle zu besuchen. 30 Die Mehrheit der anderen ist Teil touristischer Inszenierungen für Neureiche, schlecht informierte Ausländer oder Provinzler auf Tour. Es gibt keine Poesie mehr, beschwert sich Joseph Kessel 1928, nur noch „bouges truqués“, die für kommerzielle Zwecke ausgenutzt werden. 31 Elie Richard geht noch weiter und meint, es gebe nur noch „des gobeurs et des voyeurs qui croient encore au mythe de Montmartre“ 32 . Das Kino nimmt diesen Niedergang und die Veränderung zur Kenntnis. In Paris la nuit, einem Film des brasilianischen Cineasten Vital Ramos, bei dem Maurice Keppens 1924 Regie führte, vollzieht sich die tournée in den Clubs des Montmartre, den Kabarettshows und den geheimen Opiumhöhlen. 1930 dreht Pierre Colombier Chiqué, bei dem man schnell versteht, dass die besuchten Spelunken voll falscher Apachen sind. 33 Jacques Prévert, der an einem Drehbuch mit dem Titel La tournée des grands-ducs ou l’apache mondain arbeitete, hat es schließlich nicht verfilmt. 34 Das Paris der grands-ducs Es lohnt sich also, den Blick auf die Jahre um 1900 zu werfen, um zu verstehen, was die ursprüngliche tournée ausmacht. Mehrere Strecken bestehen nebeneinander, aber sie laufen alle an einigen Hauptorten und wichtigen Stopps zusammen. Dabei darf die Gruppe nicht zu groß sein, rund zehn Gäste sind das Maximum, Männer und Frauen sind gemischt und werden von einem „pisteur“ oder einem Polizisten geführt. Gegen Mitternacht, wenn die Theater schließen, geht man los. „Minuit tinte au clocher de Saint- Merri quand nous nous enfonçons dans le lacis de ruelles boueuses entourant la vieille église […] Au bruit de nos pas qui sonnaient sur l’antique pavé, des clients d’un horrible bistrot nous regardèrent avec méfiance. Une voix grasse glapit: ‚c’est des grands ducs en ballade‘“ 35 . Der Das Gegenstück des Boulevards 73 Hauptteil des Parcours verläuft in einem begrenzten Umfang: „la Suburre moderne qui commence à la place Maubert et finit à la porte Saint-Martin en englobant tout le quartier des Halles“ 36 . Dieses „Paris étrange, quelquefois dangereux“ 37 setzt sich tatsächlich aus drei unterschiedlichen Bezirken zusammen. Das Maubert-Viertel, „La Maub“, ist das Herz des Rundgangs, weil es einige der berühmten Kaschemmen beherbergt (Le Père Lunette, „la plus célèbre halte de la tournée des grands-ducs“, erklärt Jean Lorrain, in dem sich „des vrais cambrioleurs, des vrais miséreux“ 38 versammeln, und das Château Rouge, die „Guillotine“ genannt, in der rue des Anglais, die das gleiche Publikum anzieht), aber auch weil es das Gebiet ist, in dem die Armut am offensichtlichsten zutage tritt, das „quartier des sous-hommes“ nach Elie Richard. 39 In den Straßen, an den Steilufern, unter den Brücken trifft man auf eine Bevölkerung, in der es nur so wimmelt von Pennern, Bettlern, Verkäufern von Harlekins, betrunkenen Frauen und „la vermine des abris sans noms des venelles cachées“ 40 . Abb. 5: Eugène Atget: Boutique et cabaret du Père Lunette (1902) Ganz in der Nähe, auf der anderen Seite der Seine, bildet das Viertel Saint- Merri den zweiten Fixpunkt. Der Großteil der Straßen dort, rue Brisemiche, rue de Venise, rue Pierre-au-lard, sind abscheuerregend. Es ist „la terre d’élection de la plus basse pègre parisienne“ schreibt Georges Cain 1912, die Höhle der untersten Prostitution. 41 „Vagabonds dangereux, gibier de Dominique Kalifa 74 correctionnelle, arpentent le pavé gras en quête de mauvais coups à faire, de passants attardés à attaquer“ 42 . Les Halles, auf der gegenüberliegenden Seite des Boulevard Sébastopol, beschließen das zentrale Dreieck. Wie „La Maub“ besitzt das Viertel verrufene Etablissements (chez Fradin, le Caveau, l’Ange Gabriel) und, wie man leicht erkennt, eine Ansiedlung von Miserablen: Bettler aus der rue Pierre Lescot und Unglückliche, die auf der rue Montorgueil oder der rue Baltard eingeschlafen sind. „Les pauvres loqueteux, les vieilles épuisées, les sans asile qui errent frissonnant ou dormes quelques heures assis près d’un pavillon […] se traînent, lamentables débris humains, à l’heure de la soupe populaire“ 43 . Der Großteil der Strecke liegt in jenem engen, zentralen Gebiet, in dem sich die Überreste des prä-Hausmann‘schen Paris befinden, die schmalen, kurvigen Sträßchen, die den Renovierungsarbeiten entkommen sind. Aber auch Orte in der Peripherie können für jene, die den wirklichen Schauder wünschen, in die tournée integriert werden. Hierbei kann es sich um besonders gefährliche Etablissements handeln, die von schweren Jungs besucht werden, wie der bal d’Austerlitz, le Polonceau, in dem sich immer wieder Prügeleien ereignen, oder auch das cabaret de la mère Casseflèche in Saint- Denis. Aber es können auch erschreckende und gefährliche Viertel sein: die unmittelbare Umgebung der Métro Combat, ein Ort niederster Prostitution (rue Monjeol), die Viertel Javel und Grenelle, der Rand der Befestigungsanlagen, besonders Richtung Süden, nach Gentilly, Kremlin-Bicêtre, Malakoff und vor allem die Steilufer der Seine zwischen Auteuil und Billancourt. Welcher Weg auch immer begangen wird, jede tournée, die „des spectacles sensationnels“ 44 zeigen möchte, muss die Besuche von drei unterschiedlichen Arten von Orten miteinander verbinden. Zunächst muss man eine Pension oder ein Nachtasyl voller wirklich Armer besuchen. Denn schließlich muss man ja die Leute der Unterwelt, die Zerlumpten, die Wracks der Großstadt sehen und dafür bevorzugt man die Spelunken, in denen man auf dem Seil schläft, „c’est-à-dire avec la faculté d’appuyer la tête sur une corde tendue dans la longueur de chaque pièce“ 45 . Drei Etablissements sind besonders verrufen. Die Auberge Fradin, 35 rue Saint- Denis, „est la pièce de résistance de la tournée, la grande halte sensationnelle de la descente dans ces bas-fonds parisiens. Fradin, c’est le réceptacle de toutes les misères, le refuge suprême de toutes les déchéances, le terminus de toutes les détresses“, schreibt Jean Lorrain. 46 Für vier Sous hat man hier einen Fressnapf und ein Stückchen Boden. La Grappe d’or, rue Courtalon, ist ihr direkter Konkurrent: Hier muss man trinken, um einzuschlafen, und regelmäßig bestellen, nämlich „vin d’Aramon, fort en alcool, qui chauffe l’estomac, mais alourdit la tête et ramollit les jambes. Aussitôt bu, il faut s’étendre“ 47 . Der Konsum räumt einem das Recht ein, sich auf einer Bank oder auf der gestampften Erde schlafen zu legen. Das letzte Etablissement ist Das Gegenstück des Boulevards 75 anderer Natur, l’Hospitalité de nuit, auch bekannt als Maison Livois, war das erste Nachtasyl, eröffnet im Juni 1879 in 59 rue de Tocqueville im siebzehnten Arrondissement und wird in allen Berichten mit Bewunderung beschrieben. Dem Anblick der Armut muss jedoch das Schaudern vor der Gefahr hinzugefügt werden. Die tournée muss also, sei es nur heimlich, an einem wenig sicheren Ort Halt machen. Das Einfachste ist daher, auf einen schändlichen bal musette zu gehen, der von Zuhältern und Mädchen besucht wird. Dies kann „aux Gobelins, le bal de l’Alcazar, un des endroits les plus dangereux de Paris“ 48 oder auch der bal des Gravilliers in der gleichnamigen Straße sein, „presque exclusivement fréquenté par des repris de justice et des souteneurs de bas étage.“ 49 Andere Orte lassen erzittern: der Point du Jour in Billancourt, in dem man häufig die Leichen von Frauen findet, oder bestimmte Gegenden der Vorstädte, wie die schreckliche route de la Révolte in Clichy, „un des plus mauvais endroits de la banlieue“, ein Wirrwarr aus Sackgassen und schlammigen Gässchen, gesäumt von Baracken wie la cité du Soleil oder la cité Foucault. 50 Es passt schließlich, dass die tournée an einem festlichen Ort endet, der idealerweise auch ein verrufener Ort ist. Der Großteil dieser Ausflüge endet also in Les Halles, die mit großer Sicherheit den Vorteil bieten, die ganze Nacht geöffnet zu sein. Hier begibt man sich zu Tisch für eine Käse- oder Zwiebelsuppe oder auch im Ange Gabriel, in dem man auf Herumtreiber, Einbrecher und Mädchen trifft (hier spielt sich 1902 ein Teil der Affäre um den Goldenen Helm ab), oder im Caveau, rue des Innocents, das besucht wird von „des loqueteux, des déchets de toute sorte et des gens qui ont de singuliers métiers“ 51 , oder auch im Chien qui fume, im Grand Comptoir oder im Restaurant Baratte, das jedoch weniger bekannt ist. Freude am Anblick von Misere und Verfall „Nous avons tous, peu ou prou, un incoercible goût pour l’horrible, l’anormal et le monstrueux“, schreibt Emile Gautier in seiner Abhandlung über Gefängnisse, die 1888 veröffentlicht wurde. 52 Die Sache ist offensichtlich nichts Neues. Die Eliten der Restauration und der Julimonarchie eilten nach Bicêtre, um dabei zu sein, wenn die Zwangsarbeiter in Ketten gelegt wurden, die morgue oder die Enthauptungen zogen lange Zeit große Massen an und zählt somit zum gleichen Ressort, das die „Sensationsliteratur“ ausnutzt. 53 Doch die tournée des grands-ducs bietet zumindest drei Besonderheiten, die es näher zu betrachten lohnt. Sie beginnt zunächst damit, eine Stadt neu zu erfinden, teils real, teils erträumt, eine Art hohle, verkehrte Stadt, die sich bemüht, die von der Haussmannisierung vergessenen Orte ans Tageslicht zu bringen oder Dominique Kalifa 76 andere zu erfinden, eine Art Zeugenberg eines verlorenen Paris. Die Elendsviertel bilden das Gegenstück zur normierten Welt. Sie zeigen auf sozialer, moralischer, ästhetischer und urbaner Ebene das doppelte Gegenteil des neuen Paris. In diesem Sinne ist die tournée, geregelter Weg in diese Welt, die genaue Antithese zum Boulevard. Es ist also kein Zufall, dass sie gerade in dem Moment des Triumphs der Haussmann‘schen Stadt entsteht. Das neue Paris braucht ein Gegenstück: Man beutet also die wenigen Gässchen und Gebäude aus, die etwas von dem vergessenen Paris zurückgeben; im Zweifel erfindet man sie. Die Geschichte ereignet sich übrigens zeitgleich, denn die anerkanntesten Etablissements verschwinden zur gleichen Zeit, als sich die tournée organisiert, le Père Lunette 1896, le Château Rouge 1898. Tatsächlich wurde die tournée des grands-ducs immer schon als nostalgisch empfunden und gedacht. „Feu la Tournée des Grands-Ducs“ schreibt Georges Ca n am 8. Oktober 1911 im Figaro. Diese Nostalgie ist nicht nur auf urbane Kriterien zurückzuführen, sie ist auch narrativer Art: Damit eine Erzählung wie die der tournée nicht nur eine anekdotische Bedeutung hat, muss sie der Vergangenheit, der Sehnsucht und einer früheren Welt angehören, von der sich allenfalls ihre stets verschwommenen Konturen wiedererwecken lassen. „Un Paris meurt avec la Tournée des Grands-Ducs“, wie Elie Richard feststellt. 54 Diese Tendenz verfestigt sich besonders nach dem Ersten Weltkrieg. Dem Beispiel von Montmartre, der Befestigungsanlagen und der kleinen Bistrots der Grenzbezirke folgend wird die tournée zu einem Bestandteil der imaginären Belle Epoque. „Ce fut l’âge des rasta, des princes en exil et des autres rois cascadeurs“ schreibt Joseph Casanova bereits 1920. „Le boulevard prit l’accent de Suburre, la fantaisie française eut son bain de crapule.“ 55 Joseph Kessel wird noch expliziter, indem er die tournée zu einem der starken Motive von Paris um 1900 erhebt: „C’était l’époque de la ‚tournée des grandsducs‘, des grisettes, des cocottes… L’époque des premières automobiles. Et, aussi, l’époque du premier engouement pour la boxe.“ 56 Die daraus resultierende Zeitlichkeit erweist sich als überaus komplex: Es geht darum, die Misere und die Untugend der Gegenwart zu beobachten und sie gleichzeitig einer längst vergangenen oder zum Sterben berufenen Zeit zuzuschreiben. Daraus ergibt sich ein Effekt der Derealisierung; das Bild trennt sich von jeder sozialen Dimension und wird allein in die Dimension des Spektakels zu projiziert. Die sehr starke Kodierung der tournée betont diesen Aspekt. Die Strecke ist, wie wir gesehen haben, sowohl in ihrer Geographie als auch in ihrer Thematik begrenzt. Von vornherein wirft man ihr vor, subtilen Inszenierungen zu gehorchen, nichts als gefälschte Szenen und arrangierte Treffen anzubieten. Die anfängliche Präsenz eines Polizisten, gefolgt von den „pisteurs“ oder den „cornacs“ garantiert die Existenz sowie die Sicherheit des Spektakels. Le Père Lunette war, wie sich ein Führer von 1904 erinnert, Das Gegenstück des Boulevards 77 „un bouge au chiqué, comme on dit à Paris. Ici il n’y a rien à craindre.“ 57 Im Roman von Dubut de Laforest hat die tournée ihren Agenten, den Vertrauensanwalt Harry Smith, der die Attraktionen vorbereitet: „Je dois les faire assister, cette nuit, après quelques excursions, à une descente mouvementée de police dans un bouge.“ 58 Schritt für Schritt folgt die Tour einer touristischen Logik, die einige Etablissements bevorzugt und die deren Inszenierungen anordnet. „Au bon moment, ils savaient hurler, tirer quelque couteau de poche, s’apaiser à l’offre d’un saladier de vin brûlé. Les belles dames s’évanouissaient dans les bras des guides ou s’enjouissaient avec des petits cris d’oiselle.“ 59 Die Gefahren der tournée - Diebstahl, Betrügereien, Entführung oder sogar Ermordung - dienen nur als Vorwand für ideologisierende Romane oder grobschlächtige Moralisten. 60 „Cela sent la comédie. Les apaches sont ailleurs.“ 61 Doch eine solche Situation hindert die tournée nicht daran, bei den Teilnehmern eine ganze Palette starker Empfindungen und Emotionen hervorzurufen. Es ist jedoch angebracht, zwischen dem Schauspiel des Verbrechens und dem der Armut, die eng mit der französischen Bezeichnung der „bas-fonds“ verbunden ist, zu unterscheiden. Die verrufenen Viertel zu besuchen, den finsteren Mienen der Zuhälter und der verlorenen Mädchen zu begegnen, provoziert bei all denen, die von den üblichen Freuden gelangweilt sind, ein „délicieux frisson“. „On entrait chez les Assassins avec une contraction délicieuse des entrailles“, erinnert sich Elie Richard. 62 Man schätzt das gemischte, scharfe, beinahe teuflische Gefühl dieser Beengtheit, ebenso wie eine fremde Beziehung, eine existenzielle und ästhetische Ordnung, die seit Villon die Welt der Dichter und die der Gauner miteinander verbindet. Doch zum Verbotenen, zum Exotischen, zum Erotischen, zum Wunsch nach Schatten und nach Verstößen gesellt sich die Furcht, die durch einen scheelen Blick oder eine ängstliche Geste hervorgerufen wird. Dieses Pittoreske entstammt einem wohlbekannten Register, das noch durch das Vergnügen gesteigert wird, im Nachhinein mit dem Nimbus prahlen zu können, dem Bösen gefährlich nahe gekommen zu sein. Anders erscheint das Spektakel der extremen Misere, das durch den Abstieg in bestimmte Kloaken erzeugt wird. Das Exotische ist hier, dass das Spektakel „écœurant et sinistre“ 63 ist, es taucht förmlich ein ins Unbeschreibliche und in die Erniedrigung. Angesichts der vagen, ausgestreckten Figuren auf den Bänken oder auf dem Boden, der Haufen menschlichen Fleischs, der Fetzen, des Schnarchen, des Grunzen, des Röchelns und der Schreie findet der Wunsch nach sozialem Voyeurismus seine Grenzen. In den Pensionen und Nachtasylen werden die Sinne anders auf die Probe gestellt, bis ins Unerträgliche. Zu sehen, wie weit der Niedergang fallen kann, ist eine Sache, es zu hören und zu riechen ist eine andere. In La Grappe d’or „ça sent Dominique Kalifa 78 le vin, la crasse, les vêtements humides“. Anderswo werden der Dreck, der Mief von Erbrochenem und von Exkrementen unausstehlich. „Une odeur de fauves, d’une âcreté insupportable, nous prend tellement à la gorge qu’il nous est difficile d’y séjourner plus de quelques minutes“, bemerkt Paul de Camberet; „nous n’en pouvons plus, nous étouffons, nous avons hâte de respirer. De l’air, de l’air“, klagt Jean Lorrain. Selbst das philanthrope Alibi geht bei dieser Konfrontation zu Grunde. Selten sind die Besucher, denen es, wie Charlie Chaplin, gelingt, die „beauté dans les slums“ wahrzunehmen „[…] en dépit de la saleté et de la sordité. Là-bas, les gens interagissent, on y trouve de la VIE et voilà toute la chose.“ 64 Die tournée verlässt also schrittweise diese schmutzigen Orte, an denen man „le visage sans fard, l’âme sans pantomime des figurants attroces des bas-fonds“ 65 begegnen kann, um es bei einigen Vergnügungsorten bewenden zu lassen, die immer weiter normalisiert werden, wie es dem zeitgenössischen Verständnis des Begriffes entspricht. Die Veränderung spiegelt auch die Erschöpfung eines Imaginären wider, nämlich desjenigen der Niederungen, wie es in den 1830er Jahren aus dem Zusammenlaufen von Misere, Laster und Verbrechen entstanden ist, jedoch zugunsten modernerer Formulierungen, wonach sich das Verbrechen professionalisierte und zu dem sich die Armut entweder hinzugesellte oder ganz entfiel. 1936 dreht Jean Renoir Les bas-fonds. Der Film trägt den Abdruck von Gorkis Theaterstück, an dem er sich orientiert, aber besonders den der Atmosphäre und der Zuversicht des Front Populaire. Seine Botschaft ist jedoch klar: Die kollektive Revolte des Abschaums - Arme, Notleidende, Deklassierte, Diebe, Verrückte - gegen den unausstehlichen Ausbeuter jenes Nachtasyls, in dem sich die Handlung abspielt, markiert das symbolische Ende einer Vorstellung der Elendsviertel. (Ins Deutsche übersetzt von Wolfgang Ristow) 1 Comment visiter les dessous de Paris, la tournée des grands ducs, les bals-musette, etc., guides parisiens, Paris, 1931. 2 Sie wird kurz erwähnt in Charles Rearick: Pleasures of the Belle Epoque. Entertainment and Festivity in Turn-of-the-Century France, New Haven, Yale University Press, 1985, 96- 97 sowie Jenny Lefcourt: „Aller au cinema, aller au people”, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, 51-4, 2004, 98-114. 3 Pierce Egan: Life in London, or the Day and Night Scenes of Jerry Hawthorn, esq., and his elegant friend Corinthian Tom, accompanied by Bob Logic, The Oxonian, in their Rambles and Sprees through the Metropolis, London, 1821. 4 Illustration aus Pearce Egan: Life in London, op. cit. Das Gegenstück des Boulevards 79 5 Georges Smeeton: Doings in London, or the Day and Night Scenes of the frauds, frolics, manners and depravities of the Metropolis, London, Hodgson, 1828; John Duncombe: The Dens of London, London, 1835. 6 Judith Walkowitz (ed.): Unknown London. Early Modern Visions of the Metropolis, 1815- 1845, London, Pickering and Chatto, 2000. 7 Charles Dickens: „On Duty with Inspector Field” (14. Juni 1851), „Down with the Tide“ (5. Februar 1853), in: Reprinted Pieces, London, Chapman and Hall, 1859. 8 London in the Sixties, with a few digressions, London, Everett & Co, 1908, 89. 9 Mémoires de M. Claude, Paris, Rouff, 1881-1885. 10 Albert Wolff: Mémoires d’un Parisien. Voyage à travers le monde, 1. „Londres ténébreux“, Paris, Victor-Havard, 1884, 1-45. 11 Léon Daudet: Fantômes et vivants, Paris, Nouvelle Librairie Nationale, 1914, 333-335 12 Louis Barron: Paris étrange, Paris, Lalouette et Douce, 1883. 13 Léon-Paul Fargue: Refuges, Paris, Emile Paul frères, 1942, 26. 14 André de Fouquieres: Mon Paris et ses parisiens, Pigalle 1900, Paris, Horay, 1955. 15 Jean Lorrain: „La tournée des Grands-Ducs“, in: Je sais tout, Juli 1905, 717-723. 16 Alfred Morain: The Underworld of Paris. Secrets of the Sûreté, New York, Blue Ribbon Book, 1929, 39. 17 Emile Carassus: Le Snobisme et les lettres françaises de Paul Bourget à Marcel Proust, 1884- 1912, Paris, Colin, 1966. 18 „Un bal shocking“, in: Le Gaulois, 8. Januar 1885. 19 Guide de poche 1900: Paris la nuit, 304. 20 Paul de Chamberet: Une nuit de Paris. Au pays du vice et de la misère, Paris, Warnier & Co, 1897. 21 Paris intime et mystérieux. Guide des plaisirs mondains et des plaisirs secrets à Paris, Paris, André Hall, 1904. 22 Dubut de Laforest: La Tournée des grands ducs, mœurs parisiennes, Paris, Flammarion, 1901; vol. 2: Monsieur Pithec et la Vénus des fortifs, Flammarion, 1902. 23 Maurice Donnay: Amants, Paris, Albin Michel, 1895, 19-21. 24 Maurice Barres: Les Déracinés [1897], Paris, Plon, 1967, 370, 397 und 451. 25 Jean Lorrain: Poussières de Paris, Paris, Klincksieck, 2006, 85-86. 26 Jean Lorrain: La Maison Philibert, Paris, Librairie universelle, 1904, 144. 27 Jean Lorrain: „La tournée des Grands-Ducs“, op. cit. 28 Abb. 2-4 aus Jean Lorrain: „La tournée des Grands-Ducs“, op. cit., 717-723. 29 Comment visiter les dessous de Paris, op. cit. Aber auch: Elie Richard: Le Guide des Grandsducs, Paris, Ed. du monde moderne, 1925; E.R.: La Tournée des grands ducs, in: Paris-Soir, 15. April-02. Mai 1930; Guide des plaisirs à Paris. Paris le jour, Paris la nuit. Ce qu’il faut voir, ce qu’il faut savoir, comment on s’amuse, ou l’on s’amuse, Paris, 1931. 30 Maryse Choisy: Un mois chez les filles. Reportage, Paris, Montaigne, 1928, Kap. XV, „La tournée des grands ducs“, 188-222. 31 Joseph Kessel: „Paris la nuit“, Détective, 3, 15. November 1928. 32 Elie Richard: Le Guide des Grands-ducs, op. cit., 232. 33 Zitat nach J. Lefcourt, op. cit. 34 Michel Rachline: Jacques Prévert, Paris, Olbia, 1999, 78. 35 Georges Cain: Les Pierres de Paris, Paris, Flammarion, 1910, 172, zitiert durch Chloé Maurel: „Images et représentations du quartier Saint-Merri dans l’entre-deux-guerres“, Dominique Kalifa 80 in: J.-L. Robert/ M. Tsikounas (eds.): Les Halles. Images d’un quartier, Paris, Publications de la Sorbonne, 2004, 137-158. 36 Jean Lorrain: „La tournée des Grands-Ducs“, op. cit. 37 Comment visiter les dessous de Paris, op. cit. 38 Jean Lorrain: „La tournée des Grands-Ducs“, op. cit. 39 Elie Richard: Le Guide des Grands-ducs, op. cit., 95. Siehe auch: Henri Danjou: Place Maubert (Dans les bas-fonds de Paris), Paris, Albin Michel, 1928. 40 Elie Richard: Le Guide des Grands-ducs, op. cit., 82. 41 Georges Ca n: Le Long des rues, Paris, Flammarion, 78. 42 Joseph Hemard: Le Grand clapier de Paris, Paris, Ed. de la Tournelle, 1946, 24. 43 Comment visiter les dessous de Paris, op. cit., 18. 44 P. de Chamberet: Une nuit de Paris, op. cit., 4. 45 Ibid., 7. 46 Jean Lorrain: „La tournée des Grands-Ducs“, op. cit. 47 Comment visiter les dessous de Paris, 17. 48 Jean Lorrain: „La tournée des Grands-Ducs“, op. cit. 49 P. de Chamberet: Une nuit de Paris, op. cit., 4. 50 Fortuné du Boisgobey: Le Pouce crochu [1885], Paris, Les Belles Lettres, 2006, 78. 51 André Warnod: Visages de Paris, Firmin Didot, 1930, 211-214. 52 Emile Gautier: Le Monde des prisons, Lyon, Storck, 1888, 1. 53 Cf. jeweils Sylvain Rapapport: La Chaîne des forçats, 1793-1836, Paris, Aubier, 2006; Vanessa R. Schwartz: Spectacular Realities. Early Mass culture in Fin-de-siècle Paris, Berkeley, University of California Press, 1998; Bruno Bertherat: La morgue de Paris au XIX e siècle, 1804-1907, [Diss. Université de Paris 1, 2002]; Régis Bertrand/ Anne Carol (eds.), L’Exécution capitale: une mort donnée en spectacle, XVI e -XX e siècles, Aix-en-Provence, 2003. 54 Elie Richard: Le Guide des Grands-ducs, op. cit., 3. 55 Joseph Casanova: La Tournée du grand duc, Paris, Picard, 1920, 63. 56 Joseph Kessel: La piste fauve, Paris, Gallimard, 1954, 126. 57 Paris intime et mystérieux, op. cit.. 58 Dubut de Laforest: La Tournée des Ducs-ducs, op. cit., 156. 59 Elie Richard: Le Guide des Grands-ducs, op. cit., 92-93. 60 Dies ist der Fall bei Barrès’ Déracinés oder, in einem anderen Ton, bei dem Zyklus Les Bas-fonds de Paris von Guy de Téramond (Paris, Tallandier, 1929). 61 Elie Richard: Le Guide des Grands-ducs, op. cit., 149. 62 Ibid., 92-93 63 Jean Lorrain: „La tournée des Grands-Ducs“, op. cit. 64 Charlie Chaplin: My Wonderful Visit, London, Hurst & Blackett, 1922, 130. 65 Elie Richard: Le Guide des Grands-ducs, op. cit., 6. Catrin Kersten Verachtung, Ekel, Hass: Literaturkritik und Moral bei Gustave Planche In Jules Vallès’ Textsammlung Les réfractaires findet sich sein Nachruf auf den Literatur- und Kunstkritiker Gustave Planche; Vallès reiht ihn so, als „réfractaire illustre“ 1 , in die Galerie seiner ‚Abtrünnigen‘ und ‚Ausgestoßenen‘ ein, die ihr Leben auf dem „fumier des villes“ 2 fristeten. Dies entspricht nicht nur schlicht den Gegebenheiten von Planches Biographie: Als Studienabbrecher und im Aufbegehren gegen die Erwartungen seines Vaters versucht er, sich als Journalist durchzuschlagen, und bestätigt also punktgenau Vallès’ Entwurf einer prekären und marginalisierten Existenz in der Großstadt: „Des réfractaires, ces gens qui ont fait de tout et ne sont rien, qui ont été à toutes les écoles: de droit, de médecine ou des chartes, et qui n’ont ni grade, ni brevet, ni diplôme. [...] Le réfractaire de Paris, lui, il marche à travers les huées et les rires, sans ruser et sans feindre, poitrine découverte, l’orgueil en avant comme un flambeau. La misère arrive qui souffle dessus, l’empoigne au cou et le couche dans le ruisseau...“ 3 Der Hinweis auf sein Bohème-Dasein dient auch anderen posthumen Verteidigern Planches beinahe als Rechtfertigung für dessen Ausfälligkeiten, zumindest aber als Entschuldigung für manches unpassende Betragen in bestimmten Kreisen: Émile Montégut, Planches Kollege bei der Revue des Deux Mondes, wirbt in seiner Würdigung des Verstorbenen mit diesem Argument um Verständnis; er schildert ausführlich Planches abgekühltes Verhältnis zum Vater, der ihn, als Apotheker, zum Medizinstudium bestimmt hatte und die brotlosen Ambitionen seines Sohnes nicht unterstützen wollte. 4 Dass Planche einer solchen Verteidigung bedarf, legen die heftigen Polemiken nahe, die seine Auftritte in den entsprechenden intellektuellen Zirkeln begleiteten. Der Kritiker muss als durchaus streitbar beschrieben werden; sein anstößiges, Konventionen missachtendes Verhalten wurde zumeist spöttisch thematisiert, in einem Atemzug mit seinem vernachlässigten, wohl beinahe vogelscheuchenhaften Äußeren. Planche erscheint als eine Persönlichkeit, die zum moralischen Urteil reizte: Juste Olivier, einer jener zahlreichen Schriftsteller, die zum Broterwerb der journalistischen Tätigkeit nachgehen mussten, beschreibt ihn als einen Journalist „sans foi, sans croyance [...] et [...] sans beaucoup de moralité, parlant de choses quelquefois assez sales, et légèrement, comme un jeune Parisien qui a joui Catrin Kersten 82 tous les plaisirs“ 5 . Gleichwohl galt Planche seinen Zeitgenossen als bekannter und einflussreicher Kritiker und ernstzunehmender Konkurrent Sainte-Beuves, dessen Name heute recht exklusiv die französische Literaturkritik des 19. Jahrhunderts vertritt. 6 Wenngleich Planches Wirken also relativ folgenlos bleibt und er sich in seinem konkreten literatur- und kunstkritischen Schaffen als wenig originell erweist 7 - so ist nichtsdestoweniger festzuhalten, dass Planche unter seinen Zeitgenossen durchaus Aufsehen zu erregen vermochte; dieses Aufsehen war nicht selten moralisch motiviert bzw. moralisch formuliert - von Planches Seite wie auch von Seiten seiner Gegenspieler. Gerade in den Artikeln, die sich konkret auf Sachverhalte und Beziehungsgeflechte des literarischen Lebens beziehen, aktiviert Planche Semantiken der Freundschaft und Achtung, weit häufiger jedoch solche der Schmeichelei und Heuchelei, der Feindschaft, des Hasses, des - dezidiert moralischen - Ekels, der Missachtung und Verachtung, des Hochmuts und Neids. Die ‚Moralität‘ der Literatur ist dabei nicht ausschließlich eine Kategorie, die sich auf eine moralische Integrität der beurteilten Werke bezieht, sondern vielmehr auf das literarische Leben, auf die Beziehungen unter Dichtern sowie auf die Beziehungen zwischen Dichter, Kritiker und Publikum. Programmatisch ist seine Streitschrift „De la haine littéraire“ 8 , die sich unverhohlen gegen Henri de Latouches Artikel „De la Camaraderie Littéraire“ 9 wendet, oder besser: persönlich gegen Latouche. Entscheidend sind hierbei nicht die Argumente und Gegenargumente selbst; die literarische Vetternwirtschaft, die Latouche kritisiert, wird Planche später mit ganz ähnlichen Worten und gemünzt auf dieselben Kreise der arrivierten Romantiker zur Sprache bringen. 10 Und auch Latouche argumentiert vor allem moralisch, wenn er sich über den Wandel der „Sitten“ des literarischen Lebens beklagt: „Qui a donc changé nos mœurs littéraires au point de faire qu’on ne rencontre plus que des princes et des courtisans, des grands hommes et leurs serviteurs, ou plutôt des charlatans et des compères? “ 11 Entscheidend ist bei Planche die radikal moralische Bewertung von Praktiken des literarischen Lebens, bzw. die persönlich-moralische Abstrafung desjenigen, der entsprechend verfährt - der sich beispielsweise des Plagiats bedient, oder der seinen eigenen Vorteil im Zirkel von Literaten sucht, die einander mit positiven Kritiken begünstigten. Planche spart nicht mit Ausdrücken der Missachtung, der Verachtung, der Geringschätzung wie des Ekels, um Latouches Vorgehen zu charakterisieren. Moralisch verwerfliche Gefühle des Neids und des Hasses hege Latouche gegen ehemalige Freunde, sobald diese zu Erfolg gelangten; bloße Geringschätzung sei ihm noch zu harmlos. 12 Der Phänomenologe Aurel Kolnai vergleicht den Ekel „mit einem ihm verwandten, allgemeineren moralischen Verwerfungsgefühl, der Verachtung“ 13 ; der Verachtung schreibt er dabei „in ihrer schlichten Gefühlsmäßigkeit etwas über das ablehnende Urteil hinaus“ zu, nämlich „einen Stich ins Literaturkritik und Moral bei Gustave Planche 83 Biologische, einen Anflug von Ekel selbst“ 14 . Planches Insektenvergleiche, seine Verweise auf Fäulnis und Verderbtheit erscheinen so als Ausdruck eines solchen - moralischen - Ekels: „Tout ce qui s’est fait en France depuis vingt ans d’éclatant et de beau, il l’a gâté; il s’est caché comme un ver au fond de tous les fruits qui commençaient à mûrir, pour les corrompre et les empoisonner.“ 15 „[Le] style est l’homme même“ 16 , so lautet das Diktum Buffons: Das Stilurteil über Latouches Roman schließlich ist ein moralisches Urteil. Ganz im Sinne von Kolnais Typologie des „moralisch Ekelhaften“ 17 formuliert es den gelangweilten „Überdrußekel“ vor „lästige[r] Gleichförmigkeit“ 18 genauso wie den Ekel vor der „Geistigkeit am falschen Orte“ 19 . Es sei „etwas Ekelhaftes daran“, so Kolnai, „wenn alles auf Erden mit Grübelei, ‚Gedenke‘, Rechnerei und Haarspalterei beklebt wird“: „Das unfruchtbar Selbstzweckhafte eines ewigen Gedankengeknisters, die dadurch erzeugte Stockung im Ablauf der Lebens- und wohl auch der Denkfunktionen veranlassen ein Schalheitsgefühl, das ganz zweifellos mit Ekel verwandt ist.“ 20 Die Konturlosigkeit und der prätentiöse, manierierte Stil, die Planche Latouche vorwirft, treten als ‚ekelerregende‘ „Geistigkeit, Geistreichheit ohne Härte und Rückgrat“ 21 auf den Plan: „C’est d’ailleurs un livre souverainement ennuyeux, décousu, sans suite, sans commencement et sans fin, écrit d’un style prétentieux et maniéré, où la donnée acceptée et choisie par l’auteur n’est jamais prise par le côté poétique et idéal; ce que la statuaire nous avait révélé avec la grâce et la séduction d’un mystère, le poète, si peu digne d’ailleurs de ce nom, le livre à nos regards comme Messaline livrait ses flancs aux portefaix de Rome. Au lieu de la verve de Juvénal, ou de l’amertume poétiquement cynique de Régnier, c’est la trivialité basse et hideuse de Rétif de la Bretonne, gauchement déguisée sous l’élégance musquée de Grécourt ou de Voisenon.“ 22 Die Trilogie aus Kumpanei, Hass und Freundschaft komplettiert, in gleicher moralisierender Manier, Planches Artikel „Les amitiés littéraires“; er beschreibt das Verhältnis zwischen Dichter und Kritiker als zwar prädestiniert zur idealen, nahezu symbiotischen Freundschaft, jedoch meist verkommen zur Schmeichelei oder Undankbarkeit. 23 Die nahezu obsessive Fixierung auf moralische Kategorien schlägt sich schließlich auch in Planches durchaus ‚moralistisch‘ zu nennenden Ambitionen nieder: Im Stile der Caractères Jean de La Bruyères, den er hinreichend häufig als einen seiner Lieblingsautoren nennt, entwirft der Kritiker eine bissig-karikatureske, wiederum moralisierende Typologie der zeitgenössischen Literaturkritik und ihrer Vertreter. 24 Mag auch seine Meta-Kritik der Kritik wenig Originalität beweisen, so müssen Planches Versuche einer theoretischen Thematisierung der Kritik dennoch hervorgehoben werden: weisen sie doch auf ein hohes Maß an Reflexion über den Beruf des Kritikers und Journalisten hin. 25 Wenn Planches Kritik an den Beziehungsspielen des literarischen Lebens metaphorisch als Hofkritik daherkommt 26 , so ist auch Catrin Kersten 84 dies zwar nicht einzigartig, sondern bei Latouche bereits nachlesbar. Hier schreibt sich aber Planche in eine moralistische Tradition ein; die derart beschriebenen Sachverhalte verankert er in einem Vergleichskontext, der Absolutismus und Unfehlbarkeit konnotiert und der so Planches Aufbegehren dagegen zugleich zur mutigen Revolution geraten lässt: „Le devoir de la critique est-il d’enregistrer l’avènement des nouveaux rois et de prêter serment entre leurs mains? Si cela était, la dialectique littéraire se réduirait à l’office de chancelier.“ 27 Wird wiederum Planche mit ähnlich moralischer bzw. moralisierender Diktion geantwortet, so lässt sich kaum von der Hand weisen, dass er offenbar einen durchaus ‚wunden Punkt‘ treffen konnte. Planches moralisierende Literaturkritik kollidiert mit dem Autonomiestreben der Kunst und Literatur im 19. Jahrhundert: Die schlagartige Expansion des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens, die Ausweitung des Lese- und Freizeitmarktes steht einer sich selbst marginalisierenden ‚l’art-pour-l’art‘- Haltung derjenigen Autoren entgegen, die sich dem Massengeschmack verweigern wollen, häufig jedoch ohne sich aus einer existentiellen Abhängigkeit lossagen zu können. 28 Die Ausdifferenzierung moderner Massen- und Boulevardmedien wie zugleich eines autonomen Kunstsystems wirft die Frage nach dem Ort der Literaturkritik innerhalb dieses Gefüges auf: Die moralische Kommunikation über Kunst bzw. Literatur - die Forderung einer Rückbindung des Autors und seines Werkes an moralische Kriterien, Normen und Vorgaben - mag als rückwärtsgewandt und unzeitgemäß erscheinen, als verhaftet in einer überkommenen Regelpoetik. Doch darum ist es Planche keineswegs zu tun; er verurteilt die „méthode historique“ 29 als „dévot souvenir du passé“ und „culte des aïeux“, 30 die „critique rétrograde“ sei eine bloße „critique de bibliothèque“. 31 Sein Ideal einer „critique prospective“ 32 zielt auf die Frage nach der Zukunft, die sich aus der Betrachtung der Gegenwart speise. Die Moralisierung deutet vielmehr auf den Versuch einer Verortung der Literaturkritik zwischen Publikumsgeschmack und elitärer Programmatik, zwischen dem Feuilletonroman der Massenpresse und literarischen Ambitionen, schließlich: zwischen Boulevard und Bohème. Die Autonomie der Kunst und Literatur bedeutet nicht nur ihre Unabhängigkeit von religiösen und höfischen Kontexten, sondern auch und besonders ihre Unabhängigkeit von Moral bzw. moralischen Kriterien. ‚Autonomie‘ meint also nicht nur eine extreme „l’art-pour-l’art“-Konzeption, sondern schlicht Ausdifferenzierung eines Funktionssystems ‚Kunst‘, das nach seinem eigenen Code operiert. Wenn sich gleichzeitig die Literaturkritik im Laufe ihrer Institutionalisierungsphase im 18. Jahrhundert als „Teilsystem literarischer Kommunikation“ 33 etabliere, dann hätte dieses Teilsystem aber, eben weil es Teilsystem des Kunstsystems ist, nach dessen Code - laute er „schön/ hässlich“ oder „interessant/ langweilig“ 34 - zu verfahren, und nicht nach dem Code der Moral, „gut/ böse“, bzw. „gut/ schlecht“ 35 . Während also die Teilsysteme Literaturkritik und Moral bei Gustave Planche 85 der funktional differenzierten Gesellschaft amoralisch operierten - und das heißt eben auch: ‚unpersönlich‘ -, müsse Moral dann einspringen, wenn es darum ginge, Folgeprobleme funktionaler Differenzierung zu thematisieren. Wenn das System selbst keine adäquate Codierung zur Verfügung stelle, werde Moral personenbezogen aktiviert; sie belohne mit Achtung, bzw. bestrafe mit Missachtung, so Niklas Luhmann: „Sie kristallisiert dort, wo dringende gesellschaftliche Probleme auffallen und man nicht sieht, wie sie mit den Mitteln der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und in den entsprechenden Funktionssystemen gelöst werden können.“ 36 Debatten um literarische Texte und ihre Kritik hat es freilich auch vorher gegeben; jedoch spätestens mit der romantischen Kritik und deren „Bemühen um Vollendung des vom Künstler vorgegebenen Werkes“ 37 sollten sich diese Debatten von moralischen Kategorien gelöst haben und systemintern stattfinden, als „Reflexionsmedium“ 38 im Kunstsystem. Planche aber kommuniziert moralisch, mit dem zum Kunstcode querstehenden Code der Moral - und vermag mit dieser Kommunikation dennoch im Kunstsystem zu irritieren: Dies legen wenigstens die Reaktionen nahe. Die Streitnähe der Moral, ihre ‚polemogene‘ Seite, zeigt sich am Beispiel Planches mehr als deutlich. In „De la haine littéraire“ greift er Henri de Latouche nicht ohne Heftigkeit und sehr persönlich an, als es um dessen literarische ‚Verfehlungen‘ geht; gleiches gilt für seine Invektiven gegen die Kreise der Romantiker. In seiner Geschichte der Literaturkritik qualifiziert René Wellek Planche so als „Typ des streitsüchtigen Kritikers“ 39 , um ihm dann als „einsame[m] Bohémien“ 40 keine weitere Bedeutung beizumessen. Mehr denn als bloße Streitsucht und Lust an der Provokation kann Planches Auftreten als symptomatisch gelten für eine notwendige Positionsbestimmung der Literaturkritik im 19. Jahrhundert: nach der Ausdifferenzierung der Kunst als System um 1800 41 - in der Konfrontation mit der Entstehung einer Massenpresse und der schlagartigen Ausweitung der Leserkreise. Literatur wird zum Konsumartikel, Bücher dienen weniger der Erbauung als vielmehr der Freizeitunterhaltung. 42 Sebastian Neumeister lässt hier die „Stunde der neuen Literaturkritik“ schlagen, „die nicht länger die Einhaltung klassischer Regeln überwacht“, sondern dem neuen, größeren Publikum „helfen muß, der literarischen Tagesproduktion Herr zu werden“ 43 . Gerade an Planche wird deutlich, unter welchen Bedingungen sich die Literaturkritik im 19. Jahrhundert, zwischen Boulevardpresse und autonomer Kunst, zu wandeln hat. Diese ‚Boulevardisierung‘ schlägt sich nieder in den Debatten um Journalismus und Literaturkritik wie um deren Professionalisierung. Welleks Diagnose der „Streitsucht“ des Kritikers Planche ist also zusammenzulesen mit der „Einsamkeit“ des Bohémiens: Wenn Planche von seinen posthumen Verteidigern als randständiger, ‚abtrünniger‘ Bohémien gerechtfertigt wird, so verweist dies auf die zugrundeliegende Ökonomie, auf die monetären Zwänge, denen der Schreibende, der Journa- Catrin Kersten 86 list unterworfen ist - und denen er Einschränkungen hinsichtlich der literarischen Qualität schuldig sein mag. 44 Eben dieser Rand, an dem sich Planche befinde, bedingt ein Zentrum und eine Masse, für die Planche produziert, und deren Werte er weitgehend reproduziert 45 - sei es aus eigener Überzeugung, sei es unter dem Druck des jeweiligen Arbeitgebers. Weniger denn auf eine traditionalistische Haltung also verweist Planches Moralisieren auf eine Standortsuche der Kritik. Der Code, in dem Planche über Kunst kommuniziert, ist nicht der der Kunst, sondern ein zu funktionaler Differenzierung querstehender. Es ist der moralische Code einer Bohème, die sich der eindeutigen Positionszuweisung entzieht, und sich zugleich zu etablieren und zu professionalisieren sucht. 46 In „Les amitiés littéraires“ beklagt Planche die Wandlung „der öffentliche[n] Anerkennung des Literaturkritikers zur Rezensentenschelte“ 47 , die Rainer Baasner für Deutschland schon für das ausgehende 18. Jahrhundert diagnostiziert: „Die Abtrennung des Kritikers vom Autor oder vom Gelehrten, seine einschlägige Professionalisierung zumal, erweckt [...] Misstrauen, die konsensuell unterstellte Qualifikation durch eigene Schriftstellerei wird von den Zeitgenossen schmerzlich vermisst oder misstrauisch als Ausdruck gravierender Defizite aufgefasst.“ 48 So schreibt eben Planche: „... dans tous les temps, les hommes qui produisent des œuvres d’imagination ont eu pour leurs paroles et leurs pensées une admiration persévérante et obstinée; dans tous les temps [...], ils se sont crus méconnus par leur siècle [...]. Mais les poètes de nos jours vont plus loin dans leurs reproches que les poètes d’autrefois; [...] dès que leur mérite est mis en question, dès que le doute ose atteindre un seul de leurs poèmes, ils crient à l’ingratitude.“ 49 Anthony Glinoer konstatiert hier den Beginn des Genres der „critique littéraire périodique“ 50 ; als „premier critique professionnel“ 51 habe Planche, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, selbst nicht den literarischen Ehrgeiz des „écrivain-journaliste“. Planche erscheint als sich auch bereitwillig selbst marginalisierende Figur, 52 zugleich aber als eifrig um Anerkennung bemüht; er bejahe die Degradierung zum Typ des verhassten und verspotteten Kritikers, und beansprucht dabei Gültigkeit und Repräsentativität seines literarischen Urteils. 53 Sein Selbstentwurf als Journalist - seine Selbststilisierung zum von Höflingen umworbenen Machtinhaber - konterkariert seine prekäre Bohème-Existenz genauso wie Hass und Spott, die ihn treffen: „Le journalisme est une royauté nouvelle, la plus jeune à coup sûr de toutes celles qui couvrent aujourd’hui l’Europe [...]. Et cependant, quoique née d’hier, elle n’a pas moins de courtisans que ses sœurs aînées. [...] Il [le journaliste, C.K.] donne audience, écoute les solliciteurs, accueille ou répudie les demandes. Il subit des tortures qui ne sont qu’à son usage, et dont l’ingratitude des lecteurs ne lui tient Literaturkritik und Moral bei Gustave Planche 87 pas compte. C’est pour lui que la vanité [...] réserve ses formes les plus douloureuses et les plus affligeantes.“ 54 Enthusiastisch feiert Planche die Heraufkunft des Journalismus, er beschreibt sich selbstbewusst als Angehörigen jenes relativ neuen Berufsstandes und pocht auf seine Legitimation als journalistischer Literaturkritiker. Wenn ihm mit Befremden begegnet wird, wie zugleich mit dem Vorwurf der Geschwätzigkeit und der Vorliebe für Anekdoten, 55 so mag dies auf einen Wandel hindeuten, der mit der Entstehung der Massenpresse und einer beginnenden ‚Boulevardisierung‘ einhergeht und auf den Literaten wie Kritiker - Luhmanns These entsprechend - zunächst nur moralisierend reagieren können. Es stellt sich mithin die Frage, ob eine solche Literaturkritik als Teilsystem des Kunstsystems gelten kann, wenn sie derart moralisch - also funktionssystemextern - kommuniziert, wenn sie sich als journalistische Literaturkritik professionalisiert. Die Haussmannisierung von Paris, die Konstruktion der großen Boulevards prägt nicht nur das Stadtbild um - sie hat soziale Folgen: „Certes, quand je vis M. Haussmann arriver aux affaires, ce que je savais de son indomptable énergie me fit tout de suite entrevoir l’avenir, et je ne me trompais pas sur les conséquences désastreuses pour moi de cette nomination. On allait refaire Paris, détruire les petites rues, supprimer l’ombre, et il n’y aurait plus place pour les penseurs sans domicile dans les coins obscurs.“ 56 Die urbanistische Boulevardisierung betrifft Vallès’ „Abtrünnige“, sie betrifft die Bohème - die „penseurs sans domicile dans les coins obscurs“, die auf dem Boulevard und in den Boulevardmedien ihren Platz suchen müssen; und so betrifft sie die Literaturkritik und ihre Vertreter, die vehement um eben diesen Platz, um die Anerkennung ihrer Profession verhandeln: „Réfractaire, enfin, tous ces gens qui vous ont des métiers non classés dans le Bottin: inventeur, poète, tribun, philosophe ou héros...“ 57 1 Jules Vallès: Les Réfractaires, in: J.V.: Œuvres, vol. 1, Paris, Gallimard, 1975, 137-320, 205. 2 Ibid., 138. Jules Vallès war Planches Sekretär (cf. Jerrold Seigel: Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, 1830 - 1930, Baltimore/ London, John Hopkins University Press, 1999, 198). 3 Vallès: Les Réfractaires, op. cit., 138sq. 4 Cf. Émile Montégut: „Écrivains modernes de la France. Gustave Planche“, in: Revue des Deux Mondes, 15, 1858, 642-670. Ähnlich auch Fernand Chaffiol-Debillemont: „Gustave le Cruel“, in: Revue des Deux Mondes, Juli 1968, 220-231. Eher ironisch-bissig verweist André Thérive auf Planches „outlaw“-Status, was seinem scharfen Urteil gegenüber dem Kritiker entspricht (cf. „Le critique maudit: Gustave Planche“, in: Écrits de Paris, September 1957, 118-126). Catrin Kersten 88 5 Zitiert nach Anthony Glinoer: „Portrait de Gustave Planche en porte-étendard de la critique littéraire“, in: Revue d’Histoire littéraire de la France, 4, 2006, 885-899, 887. Zur Kritik an Planches Äußerem und seinem Auftreten cf. ibid., 886sqq. 6 Cf. René Wellek: Geschichte der Literaturkritik. 1750 - 1950, vol. 2 (Das Zeitalter des Übergangs), Berlin/ New York, de Gruyter, 1977 (zu Sainte-Beuve: 32-66). Zur Konkurrenz zwischen Sainte-Beuve und Planche auch: Glinoer, „Portrait de Gustave Planche“, op. cit. 7 So beispielsweise die Bewertung von Thérive („Le critique maudit“, op. cit., 126: „Laissons donc Gustave Planche dans la pénombre“); ähnlich Wellek: Geschichte der Literaturkritik, op. cit., 16sq., und Hanspeter Blatt: Untersuchungen zur Literaturkritik Gustave Planches (1808 - 1857), Bonn, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, 1979, 190sqq. 8 Gustave Planche: „De la haine littéraire“, in: Revue des Deux Mondes, 4, 1831, 514-523. 9 Henri de Latouche: „De la camaraderie littéraire“, in: La Revue de Paris, VII/ 3, 1829, 103-110. Zur gesamten Debatte um die „literarische Kumpanei“ cf. Anthony Glinoer: La Querelle de la Camaraderie Littéraire, Genf, Droz, 2008. 10 Cf. Gustave Planche: „Mœurs et devoirs de la critique“, in: Revue des Deux Mondes, 3, 1856, 199-214. 11 Latouche: „De la Camaraderie Littéraire“, op. cit., 103. Cf. auch ibid., 103sq.: „Il se sera rencontré une petite société d’apôtres, qui, se disant persécutée dans les pratiques d’un nouveau culte, s’est enfermée en elle-même pour s’encourager. [...] Mais le danger passé, l’amitié sera devenue une spéculation; la vanité aura servi de lien social, et la charité commencée par soi-même aura fini exactement où elle avait commencé. [...] Là, on s’est fait de la louange une servitude, un vasselage de tous les instans [...]. Entre tout adepte rencontré par un autre adepte, il s’échange à toute heure un regard qui veut dire: Frère, il faut nous louer! “. 12 Cf. Planche: „De la haine littéraire“, op. cit., 516. 13 Aurel Kolnai: „Der Ekel“, in: A.K.: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2007, 7-65, 56. 14 Ibid., 57. 15 Planche: „De la haine littéraire“, op. cit., 515. Zum physischen Ekel vor Insekten cf. Kolnai: „Der Ekel“, op. cit., 33sqq. 16 Buffon: Discours sur le style. A facsimile of the 1753 12 e édition, Hull, Department of French, University of Hull, 1978, xvij. 17 Kolnai: „Der Ekel“, op. cit., 39sqq. 18 Ibid., 39. 19 Ibid., 43. 20 Ibid. 21 Ibid. 22 Planche: „De la haine litéraire“, op. cit., 522. 23 Cf. Planche: „Les amitiés littéraires“, in: Revue des Deux Mondes, 8, 1836, 624-641. 24 Cf. Planche: „Mœurs et devoirs de la critique“, op. cit. Michael Einfalt entschlüsselt die Spottnamen, mit denen Planche seine Kollegen bedenkt, und ordnet sie zeitgenössischen Literaturkritikern zu (cf. Zur Autonomie der Poesie. Literarische Debatten und Dichterstrategien in der ersten Hälfte des Second Empire, Tübingen, Niemeyer, 1992, 139). Zu Planches ‚Moralistik‘ cf. auch Blatt: Untersuchungen zur Literaturkritik Gustave Planches, op. cit., 190sqq. 25 Wie er sie beispielsweise vornimmt in „Les Royautés littéraires. Lettre à M. Victor Hugo“, in: Revue des Deux Mondes, 1, 1834, 506-539, oder in „Mœurs et devoirs de la critique“, op. cit. Die Bewertungen von Planches Darlegungen fallen durchaus unter- Literaturkritik und Moral bei Gustave Planche 89 schiedlich aus: So liest Einfalt sie als symptomatisch für die Behauptung einer eigenständigen und neuartigen Literaturkritik (cf. Zur Autonomie der Poesie, op. cit., 138sqq.); Blatt hingegen stellt die Frage, ob Planche nicht eigentlich einem überkommenen Bild des Kritikers als Kunstrichter nachhänge (cf. Untersuchungen zur Literaturkritik Gustave Planches, op. cit., 121). 26 Gustave Planche: „Les Royautés littéraires. Lettre à M. Victor Hugo“, op. cit., 506sq., und G.P.: „Les amitiés littéraires“, op. cit., 636sq. 27 Gustave Planche: „Les Royautés littéraires. Lettre à M. Victor Hugo“, op. cit., 507. 28 Einfalt verweist auf die „Umstrukturierung des Literaturbetriebs gemäß den kapitalistischen Marktgesetzen“ (Zur Autonomie der Poesie, op. cit., 77), auf das „neue Verhältnis zwischen Literatur und Tagespresse“ und also auch auf ein neues Verhältnis von Literaten und Journalismus: „Der Journalismus entwickelt eine Anziehungskraft auf diejenigen marginalisierten Teile des Bürgertums, die weder zur Politik noch zur Wirtschaft einen Zugang finden. Hier bietet sich eine Möglichkeit des Zugangs zum Kreis der Literaten; der fait divers und die Literaturbzw. Theaterkritik, die immer mehr an Bedeutung gewinnt, werden zu einer wichtigen Einnahmequelle der Schriftsteller.“ (Ibid., 79sq.) Marie-Ève Thérenty untersucht die Wechselwirkungen, die diese Liaison zwischen Literatur und Journalismus, die das Auftauchen der „journalistes écrivains“ bzw. „écrivains journalistes“ auf der stilistischen Ebene wie auch auf der der Poetik zeitigt (La littérature au quotidien. Poétiques journalistiques au XIX e siècle, Paris, Seuil, 2007). 29 Planche: „Mœurs et devoirs de la critique“, op. cit., 507. 30 Ibid., 508. 31 Ibid., 511. 32 Ibid., 513. 33 Wilfried Barner: „Einführung“, in: W.B. (ed.): Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989, Stuttgart, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1990, 1-7, 2. 34 Um nur zwei Vorschläge zu benennen. Zur Version „schön/ hässlich“ cf. Niklas Luhmann: „Ist Kunst codierbar? “, in: N.L.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1981, 245-266; zu „interessant/ langweilig“ cf. Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, 64sqq. 35 Cf. Niklas Luhmann: „Soziologie der Moral“, in: N.L./ Stephan H. Pfürtner (eds.): Theorietechnik und Moral, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1978, 8-116, 57. 36 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1997, 404. Zu Luhmanns Moralbegriff cf. auch N.L.: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1990, und insbes. N.L.: „Soziologie der Moral“, op. cit. 37 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1997, 270. 38 Ibid. 39 Wellek: Geschichte der Literaturkritik, op. cit., S. 17. 40 Ibid. 41 Cf. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, op. cit., 215-300, und Werber: Literatur als System, op. cit., 61-101. 42 Cf. ibid., 75sqq. 43 Sebastian Neumeister: „Lyrik statt Klassik. Anmerkungen zur Entstehung der modernen Literaturkritik in der italienischen und französischen Romantik“, in: Wilfried Barner (ed.): Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989, op. cit., 52-63, 56. Catrin Kersten 90 44 „Es ergab sich [...] für den Schriftsteller im sogenannten bürgerlichen Zeitalter die Möglichkeit einer Doppelexistenz, die Teilung zwischen Broterwerb und Schriftstellerei [...], freilich um den Preis einer quantitätsmäßigen Einschränkung des Werkes. Es ergab sich die Möglichkeit einer Bohèmeexistenz, also die erklärte Außenseiterexistenz zur Gesellschaft, die zumeist mit einem elenden Leben bezahlt wurde. / Es ergab sich [...] die Möglichkeit der Liaison mit den modernen Publikationsmedien, die ihren Mann durchaus ernährten, aber qualitätsmäßig Einschränkungen erzwangen und die literarische Zwielichtigkeit eines Œuvres wie des Balzacs, Dickens’ oder Zolas bewirkten, welche, neben grandiosen Konzeptionen, von Momenten durchaus der Trivialliteratur durchzogen sind.“ (Marianne Kesting: „Buch-Kritik“, in: Heinz-Dietrich Fischer (ed.): Kritik in Massenmedien. Objektive Kriterien oder subjektive Wertung? , Köln, Deutscher Ärzte Verlag, 1983, 217-225, 223. 45 Cf. Hanspeter Blatt: Untersuchungen zur Literaturkritik Gustave Planches, op. cit., 186sqq. 46 Grundlegend zur Bohème cf. Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1968. 47 Rainer Baasner: „Das Bild des Rezensenten“, in: Dieter Heimböckel/ Uwe Werlein (eds.): Der Bildhunger der Literatur, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2005, 69-82, 70. 48 Ibid., 73. 49 Planche: „Les amitiés littéraires“, op. cit., 624. 50 Glinoer: „Portrait de Gustave Planche“, op. cit., 886. 51 Ibid., 899. 52 Zu Planches Selbstinszenierung, um dem Bild des verachteten Literaturkritikers zu entsprechen, cf. ibid., 889sq. 53 Ibid. 54 Gustave Planche: „La Journée d’un Journaliste“, in: Paris, ou Le Livre des Cent-et-un, vol. 6, Paris, Ladvocat, 1832, 133-155, 133-135. 55 Zum Geschwätzigkeitsvorwurf cf. z.B. Glinoer: „Portrait de Gustave Planche“, 887. 56 Vallès: Les Réfractaires, op. cit., 138. 57 Ibid., 139. Christina Natlacen Der Boulevard als Schwellenraum. Fotografische Bildpraxis im Atelier und auf der Straße Privatheit und Öffentlichkeit stehen derzeit im Fokus großen Interesses. Tendenzen des freiwilligen Verzichts auf Privatsphäre und das Phänomen der Intimisierung von Öffentlichkeit lassen auf einen tiefgreifenden Strukturwandel schließen, der mit bisherigen binären Denkschemata bricht. 1 Eine Aufweichung der beiden streng voneinander abgegrenzten Konzepte ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ hat weitreichendere Vorläufer, als man gemeinhin annehmen möchte. Ein Blick auf die Boulevards im Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die hier vorherrschenden Raumkonzepte, vor allem aber deren Verwendungsweisen durch die großstädtischen Passanten soll am Beispiel der fotografischen Porträtkultur zu einer Diskussion früher Symptome für eine öffentliche Privatheit führen. Öffentliche Privatheit auf den Boulevards Der Pariser Boulevard definiert sich als Schwellenraum, bei dem sich Innen und Außen gleichermaßen durchdringen. Diese Verschränkung zweier Zonen wird auch von Vanessa Schwartz in ihrem Buch Spectacular Realities vorgeführt. 2 Ihre Beispiele für diverse Stätten einer urbanen Massenkultur des visuellen Spektakels demonstrieren exemplarisch am Paris des späten 19. Jahrhunderts eine Verschränkung dieser beiden Bereiche. Leichenschauhaus, Wachsfigurenkabinett oder die auf den Boulevards angesiedelten Häuser der Massenpresse dienen ihr als exemplarische Orte, um die Masse als Betrachter unter die Lupe zu nehmen. Zeitgenössisches Stadtleben und seine Attraktionen werden an verschiedenen Orten wahrgenommen, gleich dem Flaneur bewegt sich die schaulustige Menge sowohl im Innen als auch im Außen fort. Die Fotografie als neue visuelle Konsumkultur und als Anziehungspunkt für sensationslüsterne Betrachter bleibt in ihrem Buch aus dem Grund ausgespart, da ihre Rezeption im Gegensatz etwa zum Kino nicht kollektiv, sondern individuell erfolgt. Hier formieren sich auf den ersten Blick kein neues Konzept einer Menschenmenge und auch keine neue Massenkultur. Auf einen zweiten Blick bestehen jedoch sehr wohl Verbindungen zwischen den an den Pariser Boulevards ansässigen Fotoateliers und einer neuen Bildkultur des Spektakulären, die sich an Viele richtet. Die kommerzielle Christina Natlacen 92 Porträtfotografie ist ein Beispiel dafür, wie mehrschichtige Durchdringungen zwischen öffentlich und privat, außen und innen, zwischen der Menge und dem Individuum beziehungsweise den Konzepten Boulevard und Boulevardisierung stattfinden. Ein Beispiel dafür ist Étienne Carjat, der heute für eine Reihe Porträtfotos von bekannten Persönlichkeiten aus den 1860er Jahren - etwa von Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, Alexandre Dumas oder Victor Hugo - in Erinnerung ist. 3 Bevor er diese individuell besonders sorgfältig arrangierten Studiobilder, die sich entgegen dem Zeitgeist durch keine austauschbaren Inszenierungen und stereotypen Posen auszeichnen, herstellt, ist er als Karikaturist tätig. 1861 gründet er schließlich eine Zeitschrift mit dem bezeichnenden Namen Le Boulevard, in der seine Zeichnungen, die ihre Komik zu einem guten Teil aus den grotesk vergrößerten Köpfen beziehen, einem breiteren Publikum zugeführt werden. In diesem Wochenmagazin wird Karikatur mit Literatur und gesellschaftlichem sowie politischem Tratsch kombiniert. Carjats öffentliches Wirken führt nicht zuletzt eine enge Verzahnung von Boulevard und Fotoatelier, den Passanten auf der Straße und der Klientel der Porträtisten, der hohen und der niederen an den Boulevards ansässigen Kulturszene vor. Die ursprüngliche Funktion der Boulevards im Sinn von Baron Haussmann war es, den Durchzug für Viele zu garantieren: Das zunehmende Verkehrsaufkommen sollte bewältigt und militärischen Truppen eine übersichtliche Paradefläche geboten werden. Gleichermaßen sind die Boulevards aber als moderne Flaniermeilen, die dem Passanten in seiner Freizeit sowohl Mobilität und Immobilität als auch Innen und Außen garantieren, vorgesehen. Die zahlreichen Cafés und Theater laden zum Verweilen und Beobachten ein und bilden Schwellenräume zwischen Innen und Außen. Die Bilder von Boulevards aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - allen voran die Gemälde von Jean Béraud, dem wichtigsten Maler der Pariser Boulevards der Belle Epoque, aber natürlich auch die zahlreichen Beispiele aus dem Kreis der Impressionisten - führen diese Verschränkungen nicht nur auf formaler Ebene, sondern auch in zahlreichen motivischen Details vor. Der Boulevard, so zeigen es diese Bilder, wird mehr und mehr mit Charakteristika eines Innenraums ausgestattet. 4 Durch seine Möblierung mit Bänken, Straßenlaternen und Litfaßsäulen ermöglicht er fortan im öffentlichen Raum Tätigkeiten wie Lesen, Tratschen, Beobachten und Sich-Informieren, die vorher nur im Privaten ausgeübt wurden. All diese Tätigkeiten spiegeln durchgängig ein Raumkonzept wider, das nach Henri Lefèbvre die Entstehung von Raum als soziale Praxis begreift. 5 Raum wird demnach nicht als eine rein architektonische oder mathematische Gegebenheit angesehen, sondern definiert sich über die Funktionen für seine Benutzer. Es sind die Menschen, die nach diesem Konzept an der Produktion von Raum fundamental mitwirken. Die Konstitution von Raum, das sogenannte Spacing, Der Boulevard als Schwellenraum 93 geschieht vor allem durch regelmäßige soziale Praktiken oder Alltagsroutinen. 6 Damit ist Raum nichts Feststehendes oder Gegebenes, sondern wird prozesshaft permanent neu hervorgebracht. Cartes de visite oder: Das öffentliche Atelier Die Fotoateliers im Paris des 19. Jahrhunderts sind im Gegensatz zu den Boulevards Orte, in denen nicht das Private in die Öffentlichkeit hineingetragen wird, sondern vielmehr das Öffentliche in einem Innenraum seinen Ausdruck findet. Die repräsentativsten Ateliers der Porträtfotografen befinden sich in den 1860er und 1870er Jahren im zweiten Arrondissement auf dem Boulevard des Capucines und dem benachbarten Boulevard des Italiens. Bekannte Ateliers wie jene von Mayer & Pierson, Disdéri und Nadar siedeln sich in unmittelbarer Nähe zum Théâtre de Vaudeville an, zu renommierten Salons, bekannten Cafés wie etwa dem Grand Café oder dem Café Tortoni sowie der Oper, die schließlich nach einer Bauzeit von fünfzehn Jahren 1875 als repräsentativer Prunkbau fertiggestellt wird. Die Porträtpraxis, die den Zeitgeist des Second Empire am besten repräsentiert, ist die Carte de visite (Abb. 1). Abb. 1: André Adolphe Eugène Disdéri, Prince Napoléon (um 1860) Carte de visite, National Galleries of Scotland Christina Natlacen 94 Dieses Porträtformat wurde von André Adolphe Eugène Disdéri entwickelt und zeichnet sich durch ein mehrfaches Teilen der fotografischen Platte aus, wodurch es möglich wird, die Kosten für ein einzelnes Porträt beträchtlich zu senken. Die Carte de visite als billiges, aber dennoch repräsentatives Bild rangiert in den 1860er Jahren auf Nummer eins der Beliebtheitsskala beim porträtwilligen Publikum. Die Abgebildeten stoßen sich weder an dem kleinen Format noch an den standardisierten Posen, sondern veranstalten einen regelrechten Run auf dieses Porträtgenre, das heute generell als Beginn der Demokratisierung des Mediums Fotografie angesehen wird. 7 Für die Cartes de visite ist vor allem eines charakteristisch: eine gewisse Form der Nonchalance im Akt des Sich-Fotografieren-Lassens. Der berühmte Besuch Napoleons III. im Atelier von Disdéri bringt die Porträtkultur der Carte de visite ziemlich genau auf den Punkt, auch wenn es sich letztendlich um eine Legende handelt. 8 Im Mai 1859 soll Napoleon III. auf dem Weg mit seinen Truppen Richtung Italien ohne Vorankündigung einen kurzen Stopp in Disdéris Atelier eingelegt haben. Von sich ein Carte de visite- Porträt auf diese Weise anfertigen zu lassen, charakterisiert sich somit durch etwas Beiläufiges und Spontanes; man ergreift schnell die Gelegenheit dazu, wenn es einem in den Sinn kommt. Der Weg führt direkt von der Straße in das Fotografenstudio hinein. Cartes de visite weisen demnach Zeichen des öffentlichen Selbst auf. Meist lassen sich die Personen in Straßenkleidung abbilden und nehmen Posen im Stehen ein, die verstärkt durch eine Schrittstellung ein dynamisches Moment symbolisieren, das auf ein Sich-Fortbewegen im Stadtraum verweist. Gerade Personen, die selbst auch in der Öffentlichkeit bekannt sind, kommt diese Form der öffentlichen Selbstrepräsen tation sehr entgegen. Das Interieur als Hintergrundkulisse steht dazu nur scheinbar in einem Widerspruch. Es stellt zwar einen Innenraum dar, funktioniert aber mehr als Repräsentationsforum für ein Selbst, das nicht mehr allein in den eigenen vier Wänden Privatheit vorfindet, sondern sich auch in anderen, semiöffentlichen Räumen Privatsphäre bewahrt. Die bürgerliche Wohnzimmerdekoration ist folglich für die Abgebildeten nicht mehr als sie auch in einem buchstäblichen Sinn ist: reine Kulisse, in die man sich für einen Augenblick und im Bewusstsein um ihren öffentlichen Charakter hineinbewegt. Diese Vermischung von innen und außen, die mitunter komische Bildresultate hervorbringt, wird bereits zu einem Zeitpunkt, als die Carte de visite noch ein sehr junges Medium ist, aufs Korn genommen. Am 18. Februar 1860 erscheinen im Journal amusant zwei Karikaturen von Marcelin mit den Titeln „Un jeune homme se promenant sa balustrade à la main“ und „Un monsieur grave avec un rideau qui lui tombe du ciel“. 9 Die erste genannte Abbildung zielt auf die Inkongruenz zwischen der in der Schrittstellung angedeuteten Bewegung, die auf das Gehen im Außenraum verweist, und der statischen Balustrade, die vielfach als Requisite verwendet wird, ab. Die - Der Boulevard als Schwellenraum 95 zweite Karikatur spielt mit dem Atelierrequisit des Vorhangs, der auf den Cartes de visite sehr oft als bauschiges Ungetüm seitlich ins Bild fällt. In Kombination mit der den Außenraum markierenden Balustrade ergibt sich eine unrealistische Logik, die sich Marcelin allein mit dem Vom-Himmel- Fallen des Vorhangs erklärt. Die Carte de visite entsteht zu einem Zeitpunkt, als es noch keine künstliche Beleuchtung und keinen Magnesiumblitz für Innenraumaufnahmen gibt. Die Fotoateliers mit ihren Oberlichten aus Glas sind daher auf ein Maximum an Tageslicht angewiesen. Um die Lichtsituation in den Griff zu bekommen, führt Disdéri noch seine frühesten Versuche mit dem Visitformat im Außenraum durch. 10 Später wird der Außenraum immer wieder über die Leinwand im Hintergrund ins Atelier hineingebracht. Auffallend ist bei diesen gemalten Kulissen, dass sie kein urbanes Umfeld, sondern einen zivilisierten Naturraum in Form von Park- und Gartenlandschaften darstellen. Es ist damals also noch nicht die Metropole, vor deren Folie sich der moderne Städter abbilden lassen möchte, sondern die stilisierte und gezähmte Natur, die den Abgebildeten laubenartig umfängt. Bezüge zum Außenraum sind jedoch nicht nur auf der Bildebene, sondern ebenso hinsichtlich der Gebrauchsweisen präsent. Cartes de visite haben von Anfang an (auch) einen öffentlichen Auftritt. Fotoateliers und so auch Disdéris Studio am Boulevard des Italiens besitzen Schaukästen an den Fassaden, um den Außenraum als Werbefläche zu nutzen. 11 So werden die Porträts für die vorbeiziehenden Passanten zum Blickfang und die Boulevards um eine visuelle Attraktion reicher. Elizabeth Anne McCauley betont in ihrer grundlegenden Untersuchung zum Visitporträt, dass dieses Bildformat gerade bei der Flaneurgesellschaft auf besonders fruchtbaren Boden fiel. 12 Der Flaneur ist auch nach Walter Benjamin diejenige Figur, die am eindringlichsten eine Verschränkung von innen und außen, von privat und öffentlich verkörpert. Er steht an der Schwelle - an der Schwelle der Großstadt, dessen architektonisches Ideal sich in den Boulevards Haussmanns konkretisieren sollte wie auch an der Schwelle des Bürgertums, das im Begriff ist, zur vorherrschenden urbanen Klasse zu werden. 13 Paris ist dabei jene Stadt, die dem Flaneur eine Vielzahl unterschiedlicher Schwellenräume anbietet: Neben den Boulevards selbst und Unterhaltungslokalen, Kaufhäusern oder Warenhäusern sind als wichtigste Lokalitäten im öffentlichen Raum die Passagen zu nennen. Mit ihren Materialien Eisen und Glas sind sie der modernen Industriearchitektur verpflichtet und tragen so nach Benjamin bereits in ihrer Substanz das Transitorische in sich - denn auch die anderen Bauten, die auf diese Art entstehen, sind alle als Durchgangsorte definiert. 14 Nicht nur optisch, sondern eben auch durch diesen Grundzug des Transitorischen können die Passagen mit den zeitgenössischen Fotoateliers verglichen werden. Diese - an erster Stelle steht unbestritten das prominenteste Christina Natlacen 96 und gigantischste Atelier seiner Zeit von Nadar am Boulevard des Capucines - zeichnen sich durch eine wintergartenähnliche Architektur im Dachgeschoss aus, die so viel Licht wie möglich von außen ins Innere holt. Fotoateliers sind aber noch in einem anderen übertragenen und vielleicht sogar noch wichtigeren Sinn Schwellenräume. Ganz allgemein werden ja heute eher Bewusstseinszustände (wie etwa jener zwischen Wachen und Schlafen) als architektonische Markierungen mit dem Begriff der Schwelle beschrieben. 15 So kann auch der fotografische Akt selbst als liminaler Akt bezeichnet werden. Wie der Großstädter beim Durchschreiten einer Passage nicht nur eine Bewegung vom Außen ins Innen, sondern gleichermaßen im Bewegungsmoment eine Veränderung, beispielweise in der Wahrnehmung, vollzieht, kann auch das Fotografieren als verbindendes Moment zwischen zwei verschiedenen Zuständen angesehen werden. Der Übergang, der im Moment des Auslösens der Kamera markiert wird, wird von Roland Barthes in Die helle Kammer als Übergang vom Subjekt zum Objekt, vom Menschen zum Bild beschrieben. Sobald sich das Objektiv auf eine Person richtet, nimmt diese bereits eine posierende Haltung ein, die den Körper für die Fotografie umformt. 16 Eine solche metaphorische Betrachtung der Fotografie favorisiert einen weiteren mit dem Topos ‚Schwelle‘ in Zusammenhang stehenden Begriff, nämlich den der rites de passage. Ausgehend von der ethnologischen Forschung stammt er aus der Ritualtheorie und meint Übergänge, die meist in Hinblick auf verschiedene Lebensstadien gedacht werden. 17 Die rites de passage führen wohl nicht zufällig jenes Wort in sich, das für Benjamins monumentales unvollendetes Werk titelgebend und im Architektonischen mein Ausgangspunkt war: die Passage. Straßenfotografen oder: Private Porträts im öffentlichen Raum Die Pariser Passagen und die gleichermaßen materiell wie strukturell mit ihnen verwandte Architektur der Fotoateliers sind symptomatische Beispiele für Schwellenräume des 19. Jahrhunderts. In ihnen herrscht ein Raumkonzept vor, das eigenen Regeln gehorcht und das Individuum nicht gänzlich der Öffentlichkeit aussetzt. Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert entwickeln die Stadtbewohner sukzessive Strategien, wie sie sich anstelle einer räumlichen eine imaginäre Schutzzone inmitten der zunehmenden anonymen Menschenmassen auf den Straßen schaffen können. Dafür ist die Ausbildung eines bestimmten Blickregimes elementar. Insbesondere die Geschichte von Frauen in Bezug auf ihre Präsenz im öffentlichen Raum weist darauf hin, dass es in jeder Hinsicht galt, jene Promiskuität zu vermeiden, die durch eine offensichtliche Anziehung der männlichen Blicke zu Stande kam, um die Ehrbarkeit unangetastet zu lassen. 18 Der Boulevard als Schwellenraum 97 Das fotografische Aufnahmesetting im Atelier ist immer dadurch gekennzeichnet, dass man sich als Kunde freiwillig einer Blickregie unterwirft, die der professionelle Fotograf als einzige anwesende Person inszeniert. Diese Intimität ist im Fall der ab 1900 verstärkt auftretenden Freilichtfotografen nicht mehr gegeben. Diese bedienen zunächst die Klientel aus den Vororten, wo die Dichte von Fotografenateliers nicht im gleichen Ausmaß wie im Stadtzentrum gegeben ist, oder schlagen ihre Zelte auf Jahrmärkten auf. In Paris sind diese Straßenfotografen aber trotz der zahlreichen Fotostudios auch im Zentrum präsent. Sie errichten ihre provisorischen Ateliers unter freiem Himmel auf den Boulevards und Quais entlang der Seine, wo sie die schnell geschossenen Bilder als portraits instantanés bewerben (Abb. 2). Abb. 2: Anonym, Freilichtfotograf auf dem Boulevard in Paris (1907) Sammlung Roger Viollet/ Musée Carnavalet; (© Jacques Boyer) Die vorher so ausladenden Requisiten der Porträtstudios sind hier auf ein Minimum reduziert: Eine weiße Leinwand, die nicht einmal bis an den Boden reicht, genügt als Hintergrund, vor dem die Kunden posieren. 19 Dieses Aufnahmesetting zeugt von einer Vermischung von privaten und öffentlichen Aspekten in der Selbstdarstellung, die der damaligen Umbruchsituation geschuldet sind. Wie man sieht, ist der Fotograf bemüht, ein nach außen hin privates Porträt der Kundin zu fertigen, das den gesamten Umraum ausblendet und den Anschein erweckt, aus einem Atelier zu stammen. Die Christina Natlacen 98 Situation während der Aufnahme kann jedoch nur als öffentlicher Akt charakterisiert werden. Kurz nach der Jahrhundertwende ist es nach wie vor ungewöhnlich, Fotografen im Stadtraum bei ihrer Arbeit anzutreffen und daher bleiben viele Passanten schaulustig stehen. Bei der Verdopplung der Aufnahmesituation durch einen weiteren zufällig anwesenden Fotografen ist es den Zuschauern sogar offensichtlich ein Anliegen, selbst mit aufs Bild zu kommen - durchgehend zum Fotografen gerichtete Blicke zeugen davon. Die Schaulustigen auf den Boulevards, die den Fotografen fixieren und sich für die Aufnahme postieren, repräsentieren eine neue paradigmatische Figur der Moderne, die den Flaneur ablöst: den Gaffer. Nach Gregory Shaya, der in seinem Artikel „The Flâneur, the Badaud, and the Making of a Mass Public in France, circa 1860-1910“ einem neuen Konzept der Öffentlichkeit nachgeht, das sich über die Masse und den Zuschauer konstituiert, dominiert um 1900 auf den Straßen der Gaffer oder badaud. 20 Während der Flaneur immer im Vollbesitz seiner Individualität bleibt - auch wenn er sich in die Menge mischt -, definiert sich der Gaffer als Teil der Masse. Schon 1867 führt Victor Fournel in Ce qu’on voit dans les rues de Paris diese Unterscheidung ein. „[L’individualité] du badaud disparaît, […] absorbée par le monde extérieur qui le ravit à lui-même, qui le frappe jusqu’à l’enivrement et l’extase. Le badaud, sous l’influence du spectacle, devient un être impersonnel; ce n’est plus un homme: il est public, il est foule.“ 21 Die Gruppe von Gaffern auf der Aufnahme eines anonymen Fotografen aus dem Jahr 1907 erfüllt innerbildlich zumindest zwei unterschiedliche Funktionen: zum einen misst sie dem fotografischen Porträtakt eine besondere Bedeutung bei und zum anderen ist sie stellvertretender Repräsentant einer Öffentlichkeit. Das gewählte Bildbeispiel führt Fournels Charakterisierung des Gaffers als public sehr einprägsam in seiner doppelten Bedeutung vor: als Publikum, das auf der Straße den öffentlichen Charakter dieser Sphäre unter Beweis stellt ungeachtet der Tatsache, dass fotografisches Porträtieren als etwas Privates betrachtet wird. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erfährt die Momentfotografie eine Erneuerung, die schließlich dem Gaffer keine Bedeutung mehr beimisst. Die Straßenaufnahmen wandeln sich nun in dynamische Bilder von gehenden Städtern, die einen einzigen flüchtigen Augenblick aus dem Leben und Treiben der Großstadt herausgreifen (Abb. 3). Diese Straßenfotografen, die gehende Passanten in der Stadtöffentlichkeit festhalten, verzichten auf jegliche Markierungen eines privaten Raums und lassen sämtliche Schwellen, die eine Zone des Übergangs zwischen innen und außen markieren, hinter sich zurück. Hier gibt es nun keine Anleitung zur Pose mehr durch den Fotografen, auf Kulissen wird verzichtet und das Schauspiel findet so kurz und verdeckt statt, dass es dem Gaffer keine Bühne bietet. Stattdessen wird den Passanten die gesamte Gestaltungsmacht der Selbstinszenierung übertragen, Der Boulevard als Schwellenraum 99 die gerade dadurch ihren Reiz erhält, dass sie direkt aus dem Alltagsleben gegriffen ist. Diese Aufnahmen zeugen von einer neuen Form des Realismus, der dem zeitgenössischen Konzept von Modernität geschuldet ist. Gleich einem Filmausschnitt kommen zufällige Elemente des Straßenlebens mit aufs Bild, so etwa gegenläufig gerichtete Passanten oder Verkehrsmittel im Hintergrund. Abb. 3: Aufnahme eines anonymen Straßenfotografen, undatiert (späte 1920er Jahre), Sammlung Emmanuelle Fructus Der Vorhang der Atelierfotografie ist nun endgültig gefallen und mit ihm die Grenzen zwischen innen und außen, Fiktion und Realität, privat und öffentlich bzw. zwischen Individuum und Masse. Das Bild ist jetzt auf doppelte Weise durch Authentizität charakterisiert: einmal durch die Aufnahme in Schnappschussmanier, die keine Zeit für ausgeklügelte Selbstdarstellungsstrategien lässt und ein andermal durch die unmögliche Inszenierung des Geschehens im Hintergrund. Das Individuum selbst fügt sich diesem neuen Konzept ein, denn es ist nun ein ganz öffentliches geworden. Vorbei sind die Zeiten, als man sich für die Cartes de visite in ein Kulisseninterieur begab oder sich vor einem uniformen weißen Hintergrund auf der Straße ablichten ließ. Zonen des Privaten gehören in der urbanen Stadtöffentlichkeit bereits der Vergangenheit an und werden durch Mittel der Repräsenta- Christina Natlacen 100 tion wie die Fotografie nicht neu heraufbeschworen. Diese photographies des marcheurs stellen ein eindrückliches Zeugnis dafür dar, wie die Passanten den Text einer Stadt mitschreiben. Damit etablieren sie ein neues Konzept von Öffentlichkeit, das den Boulevard nun nicht mehr von anderen Zonen des der Allgemeinheit zugänglichen städtischen Raums unterscheidet. 1 Folgende Publikationen zur Neuausrichtung von Privatheit und Öffentlichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts sollen aus einer Vielzahl hervorgehoben werden: Beate Rössler: Der Wert des Privaten, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2002; Ralph Weiß/ Jo Groebel (eds.): Privatheit im öffentlichen Raum. Medienhandeln zwischen Individualisierung und Entgrenzung, Opladen, Leske + Budrich, 2002; Gerald Raunig (ed.): Publicum, Theorien der Öffentlichkeit, Wien, Turia + Kant, 2005 und Kurt Imhof (ed.): Die Veröffentlichung des Privaten - die Privatisierung des Öffentlichen, Opladen, Leske + Budrich, 1998. 2 Vanessa R. Schwartz: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, Berkeley/ Los Angeles/ London, University of California Press, 1999. 3 Biografische Hinweise zu Etienne Carjat finden sich John Hannavy (ed.): Encyclopedia of Nineteenth-Century Photography, vol. 1, New York, Routledge, 2008, 272-274. Siehe auch Elizabeth Fallaize: Etienne Carjat and ‚Le Boulevard‘ (1861-1863), Genf, Slatkine, 1987. 4 Cf. Bernard Landau et al. (eds.): Les grands boulevards. Un parcours d’innovation et de modernité, Paris, Editions du Seuil, 2000. 5 Cf. Henri Lefèbvre: The Production of Space, Oxford et al., Blackwell, 1991. 6 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2001, 163. 7 Cf. John Tagg: „A Democracy of the Image: Photogaphic Portraiture and Commodity Production“, in: J.T.: The Burden of Representation. Essays on Photographs and Histories, Basingstoke et al., Palgrave Macmillan, 1988, 34-59. 8 Diese Legende geht auf Nadars Autobiografie, Quand j’étais photographe, zurück (Elizabeth Anne McCauley: A.A.E. Disdéri and the Carte de Visite Portrait Photograph, New Haven/ London, Yale University Press, 1985, 45). 9 Marcelin: „Les cartes de visite en photographie“, in: Journal amusant, 216, 18.2.1860, 1-5, 2 (wiederabgedruckt in McCauley 1985, 47). 10 McCauley, op. cit., 31. 11 Ibid., 23. 12 Ibid., 36. 13 Walter Benjamin: „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, in: Rolf Tiedemann (ed.): Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, vol. 1, Das Passagen-Werk, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1982, 54. 14 Benjamin, op. cit., 46. Siehe auch Peter Rautmann und Nicolas Scholz: „Zu einer Theorie der Passage“, in: Victor Malsy et al. (eds.): Passagen. Nach Walter Benjamin, Mainz, H. Schmidt, 1992, 10-16. 15 Thomas Macho: „Schwellen in Mythen und rituellen Praktiken“, in: Herbert Lachmayer/ Peter Plica (eds.): Über die Schwelle, Wien/ Köln/ Weimar, Böhlau, 2003, 23-37, 23. 16 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1985, 18sqq. Der Boulevard als Schwellenraum 101 17 Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M./ New York, Campus, 1989, 94sqq. 18 Elizabeth Wilson: „Bodies in Public and Private“, in: Jane Brettle/ Sally Rice (eds.): Public Bodies, Private States. New Visions on Photogaphy, Representation and Gender, Manchester/ New York, Manchester University Press, 6-23, 14. 19 Vom Antagonismus zwischen Atelier und Straße als grundlegendes Merkmal für die Porträtfotografie gehen auch die Kuratoren der Fotoausstellung Street & Studio aus (cf. Ute Eskildsen et al. (eds.): Street & Studio. Eine urbane Geschichte der Fotografie, Essen, Museum Folkwang 2008). 20 Gregory Shaya: „The Flâneur, the Badaud, and the Making of a Mass Public in France, circa 1860-1910“, in: The American Historical Review, 1, 2004, 41-77, zum Gaffer siehe insbesondere 50sq. 21 Victor Fournel: Ce qu’on voit dans les rues de Paris, Paris, Dentu, 1867, 270. Nicole Pöppel Der kosmopolitische Boulevard Mit der Haussmannisierung von Paris ab den 1850er Jahren wird die ‚kosmopolitische‘ Erscheinung des kulturellen Lebens auf dem Pariser Boulevard zu einem typischen Attribut der Stadtbeschreibung. Das Adjektiv cosmopolite gilt als Synonym für Weltoffenheit und deutet auf die kulturelle und die soziale Vielfalt, die die Boulevards prägt. Unter Boulevardisierung verstehen wir nicht nur einen Prozess, sondern auch die Folgen der urbanen Neuordnung, die der Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann unter Napoleon III. im Paris des Second Empire in die Wege leitet. 1 Die Umstrukturierungen setzen eine intensive Auseinandersetzung mit den räumlich-semantischen Ordnungsmustern der Metropolen-Kultur in Gang; soziale und kulturelle Diversität - Masse und Marginalität - rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Presse und Literatur. Die Pariser Boulevardisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts liefert eine Grundlage für semantische Umkodierungen der Großstadtkultur, die kulturelle Identität(en) und soziale Ordnungen in einem neuen Lichte erscheinen lassen. Die Semantik des Pariser Boulevards als repräsentative Größe des kosmopolitischen Paris unterliegt einem pejorativen Bedeutungswandel, der sich von den 1850er Jahren bis in die 1920er Jahre nachzeichnen lässt. 2 Mit der voranschreitenden Boulevardisierung der Metropole und der wachsenden Bedeutung der Boulevards für das großstädtische Leben kommt auch Kritik an der Massenkultur auf. Anhand literarischer und journalistischer Beschreibungen des Lebens und Wirkens auf dem Boulevard kann man Marginalisierungsstrategien sichtbar machen, die auf der Alterität bestimmter Typen des Boulevardmilieus, der Bohémiens und Rastaquouères, und ihrem Verhältnis zur bürgerlichen Kultur beziehungsweise zur Massenkultur 3 beruhen. Paris als kosmopolitische Stadt in Boulevardbeschreibungen des 19. Jahrhunderts „Les boulevards ce ne sont pas seulement le cœur et la tête de Paris, ils sont encore l’âme du monde. Paris sans boulevard, ce serait l’univers en deuil“ 4 , heißt es in Alfred Delvaus Paris-Reiseführer Les plaisirs de Paris von 1867, der die Bedeutung der Boulevards seit der Haussmannisierung exemplarisch hervorhebt. Auch ausländische Autoren betonen ihren Stellenwert für das kulturelle Leben der Metropole: „Neun Uhr morgens. Um diese Stunde Nicole Pöppel 104 fängt Paris an, sich zu bewegen - das Paris, welches wir meinen, das Herz von Paris, der Kopf von Paris; das, was Paris zu Paris macht: die Boulevards.“ 5 Wenn die Boulevards mit Metaphern wie „Seele der Welt“ oder „Herz und Kopf von Paris“ beschrieben werden, so verdeutlicht dies, dass mit der Bezeichnung ‚Boulevard‘ nicht mehr nur eine architektonische Einheit gemeint ist. Paris als „Gehirn“ oder als „Hauptstadt der Welt“ sind Topoi der Stadtpanoramen und Literatur des 19. Jahrhunderts 6 , die jene Vorstellung vom Boulevard als Mikrokosmos des kulturellen Lebens erzeugen. Edmond Texiers zweibändiges Tableau de Paris (1852/ 1853) kann als Paradebeispiel für die universalistische Metaphorik der Pariser Stadtliteratur 7 um die Mitte des 19. Jahrhunderts dienen: „Encore un livre sur Paris! - Oui. Et tant que Paris sera Paris, c’est-à dire le centre du beau et de l’horrible, du sublime et du ridicule, de l’élégant, du gracieux, du pittoresque, du bizarre, du grotesque, de l’impossible et de l’absurde; tant que Paris restera ce qu’il est, l’œil de l’intelligence, le cerveau du monde, l’abrégé de l’univers […]. [H]eureux si nous sommes parvenus à faire connaître […] la capitale du monde, la merveille des merveilles, l’alpha et l’oméga de la civilisation humaine, l’humanité entière comme nous le disions plus haut, faite ville.“ 8 Augenfällig ist das Lob der Vielfalt und des Disparaten, als dessen Ermöglichungsort die „Welthauptstadt“ Paris erscheint. In der Boulevardmetaphorik des Tableau de Paris finden wir diese Merkmale ebenfalls wieder: „Les Boulevards ont hérité tant de splendeur et de gloire. Ils sont devenus, à leur tour, le rendez-vous de l’univers, le point de ralliement de tous les peuples: forum cosmopolite ouvert à toutes les langues, centre merveilleux où aboutissent les chemins des cinq parties du monde.“ 9 Texier zeichnet ein Bild des Boulevards als „kosmopolitisches Forum“ par excellence, als Ort der praktizierten Gastfreundschaft und der friedlichen Begegnung aller Völker und Kulturen. Jener ‚kosmopolitische‘ Charakter bildet eine der Eigenschaften, die Paris in der Mitte des Jahrhunderts regelmäßig zugeschrieben werden: „representatives from nearly every country on the globe may be seen here, as it is the grand meeting-place for all peoples, nations and tongues“ 10 betrachtet ein englischer Reiseführer den Boulevard als großartige Begegnungsstätte der Nationen, Sprachen und Völker. Eine ebenso positiv gestimmte Deutung der Boulevardkultur und ihrer heterogenen Milieus bieten auch Stadtansichten wie Décembre-Alloniers ausführlicher Band Les merveilles du nouveau Paris, der im Jahre 1867 zur zweiten Pariser Weltausstellung erscheint: „Si maintenant nous examinons Paris dans ses détails, parmi ses deux milles rues, ce sont les boulevards intérieurs, communément appelés les boulevards, tout court, qui attirent notre attention. Ces magnifiques voies offrant chaussées spacieuses, bordées de chaque côté par de beaux trottoirs bitumés et plantés d’arbres, sont les principales artères de la vie parisienne qui s’agite au milieu d’un mouve- Der kosmopolitische Boulevard 105 ment indescriptible; toutes les classes, tous les degrés de la société y ont leur place et s’y coudoient sans se mélanger.“ 11 Die Boulevards werden als „Arterien des Pariser Lebens“ bezeichnet, als Teil eines Organismus, in dem alle Klassen und Schichten der Gesellschaft miteinander in Berührung geraten - allerdings, so heißt es am Ende des Zitats, ohne sich zu vermischen. Die voneinander unberührte Existenz der Kulturen und Milieus ist wichtig für ein Verständnis des Kosmopolitismus, das sich im Zuge der Boulevardisierung; dem wachsenden Einfluss einer Massenkultur sowie der Vorstellung zunehmend gemischter Milieus wandelt und das negativ konnotiert wird. Kosmopolitismus und Kritik an der Massenkultur Die Boulevardisierung von Paris ab den 1850er Jahren macht die Vielfalt in der Metropole sichtbar. Das Paris der Haussmann’schen Boulevards wird mit der ersten Exposition universelle 1855 zum Ausrichtungsort regelmäßiger Weltausstellungen, die ein internationales Publikum sowie Besucher aus der französischen Provinz anlocken. „Nous venons / Arrivons / de tous les pays du monde / […] Italiens / Brésiliens / Japonais / Hollandais / Espagnols / Romagnols […] Nous venons / Arrivons“ 12 , wird die Anziehungskraft der Metropole im Refrain der 1866 uraufgeführten Offenbach’schen Oper La vie parisienne nach einem Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy besungen. Insgesamt fünf der mehrmonatigen Massenveranstaltungen finden zwischen 1855 und 1900 in der Metropole statt; die Boulevards mit ihren Cafés und Theatern werden zu Orten interkultureller Begegnungen: „Le Café Anglais devint bientôt le rendez-vous cosmopolite de tous les fêtards […] pendant l’exposition de 1855.“ 13 Die Präsenz der Fremden und ihr Vordringen in die einstigen Hoheitsgebiete bürgerlicher Leitkultur; die Salons, Cafés und Opern der früheren Grands Boulevards, werden zum Gegenstand der öffentlichen Kritik: „Sous le Second Empire, la diffusion des chemins de fer amena une foule d'étrangers qui vinrent à Paris pour visiter les expositions universelles. Devant cette ruée pacifique, le Café de Paris, établissement traditionnaliste, et dont les portes fermaient à dix heures, préféra mourir que de subir l’invasion des ‚Métèques‘. ‚Le pauvre Café de Paris‘ […] ‚Avec lui ont disparu l’élégance et le confortable, et, disons-le, l’étiquette, le savoir-vivre et la courtoisie qui y étaient observés.‘ ‚Partout le service fut négligé; on introduisit le gaz dans les salons; les garçons, alors silencieux, devinrent effarés et bruyants, et entrechoquèrent les assiettes et les couverts; puis ils inaugurèrent l’argot et parlèrent nègre.‘“ 14 Das zitierte Buch La vie et le monde du boulevard 1830-1870 des Schriftstellers Paul d’Ariste über einen Dandy des Second Empire, Nestor Roqueplan, steht exemplarisch für eine Reihe von Schriften im frühen 20. Jahrhundert, die die Nicole Pöppel 106 Geschichte des Boulevards und den kulturellen Wandel der Stadt seit dem Second Empire nachzuzeichnen versuchen. 15 Der Bedeutungsverlust des Boulevards als Ort kultureller Repräsentation wird hier aus der Sicht einer bürgerlichen Identität sichtbar. Mit der Boulevardisierung treten auch neue Figuren wie der boulevardier 16 und der Flaneur in Erscheinung. Gleichzeitig werden Aversionen gegenüber bestimmten Personentypen deutlich, die mit Diversifizierung des Boulevardmilieus in Erscheinung treten. Der Einfluss des ‚Fremden‘ wird mit einem Wandel des Sprachgebrauchs und der Sitten assoziiert - das zeigen die Hinweise auf das ‚argot‘ und das ‚nègre‘. Auch die Bezeichnung ‚Métèques‘ ist stark pejorativ gemeint, handelt es sich doch um einen veralteten Ausdruck für „Ausländer“, der wohl am ehesten mit „Kanake“ zu übersetzen sein dürfte. Die Vielfalt des internationalen Boulevardmilieus drückt sich in der öffentlichen Darstellung nunmehr häufig in Begriffen wie „foule“, „pêle-mêle“ oder „cohue“ aus, die eine Vorstellung von ungeordneten Menschenmassen evozieren: „Véritablement, Paris l’été est une ville insupportable. On ne peut plus sortir le soir. Je me suis risqué la semaine dernière à l’Opéra. Je m’en suis bien repenti. Il y avait une foule ou plutôt une cohue cosmopolite dont le coudoiement m’est particulièrement désagréable.“ 17 Nicht nur in den gesammelten chroniques mit dem Titel Paris qui passe von 1888 wird jene negative Perspektive auf die kulturelle Diversität der Metropole sichtbar. Das „coudoiement“ 18 - jenes „Zusammentreffen“ oder „in Kontakt geraten“ mit den internationalen Menschenmengen wird hier negativ konnotiert und durch den Bezug auf die Oper mit einem exklusiven Ort der Pariser Kultur kontrastiert. Der Schriftsteller Jean Lorrain skizziert die Weltausstellungen 1889 und 1900 und die zeitgenössische Pariser Stadtkultur in zahlreichen Zeitungsartikeln. Auch für ihn stellt die massenhafte Ankunft von Ausländern und „Provinzlern“ den Stein des Anstoßes dar: „Paris est bien odieux, c’est un perpétuel arrivage d’étrangers et de provinciaux qui promènent de par les rues de bien étranges silhouettes.“ Das einst positiv belegte, kosmopolitische Erscheinungsbild des Boulevards gerät in Lorrains Darstellung zu einer oberflächlichen Aneinanderreihung stereotyper Merkmale, die den verschiedenen Personengruppen zugewiesen werden: „Paris n’est pas plus Paris: c’est Tarascon, Pithiviers, Quimper, Port-Saïd ou Buenos-Ayres; cohue grouillante de veuleries éreintées et de laideurs bizarres, gens habillés de flanelle, chapeaux ronds et casquettes, tenues de cyclistes ou de lawtennis, nez busqués de sémites, crânes ivoiriens d’Ottomans, tous sont là, les Pampas, les Sierras, les Sables et les Cordillères, l’Amérique du Sud, la province de l’Orient.“ 19 Die noch in den Offenbach‘schen Opern 20 der 1860er Jahre euphorisch gefeierte Ankunft von Ausländern, die Paris als Ort zelebrierter Gastfreundschaft kennzeichnete, unterliegt einer Umdeutung und läuft auf einen Höhepunkt Der kosmopolitische Boulevard 107 der Fremdenfeindlichkeit zu, den Jean-Pierre Bernard in der Pariser Öffentlichkeit um 1889 erreicht sieht. 21 Für unseren Kontext ist es interessant, hervorzuheben, dass der semantische Wandel, der mit der Boulevardkultur verknüpft ist, nicht nur auf die Popularität des Boulevards und das Aufkommen einer Massenkultur zielt. Die Ablehnung gegenüber der Diversität des Boulevards spricht auf ethnische Unterschiede ebenso wie auf soziokulturelle Motive an. Dies kann man beobachten, wenn man die Marginalisierung bestimmter Akteure des Boulevardmilieus in den Blick nimmt, die ihrerseits sowohl der bürgerlichen Boulevardkultur als auch dem Einfluss der Massenkultur entgegenstehen. Das Bild des coudoiement, des Aufeinandertreffens verschiedener sozialer Gruppen und Kulturen, ist ein wiederkehrendes Motiv der Boulevardliteratur des 19. Jahrhunderts. Solange sich in dem imaginierten Boulevardkosmos die Sitten bzw. Kulturen nicht vermischen, wie es Texiers Beschreibung von 1852 - „coudoyer sans se mélanger“ - noch nahelegt, symbolisiert der Boulevard eine „Einheit in der Vielfalt“ 22 . Sobald sich jedoch die Wahrnehmung durchsetzt, dass die Milieus und die kulturellen Muster durchlässig - der Boulevard von Métèques und Rastaquouères dominiert wird -, wird der cosmopolitisme zur pejorativen Bezeichnung für den Einfluss der ‚Fremden‘ und Randständigen. „Paris ist nicht mehr Paris“ 23 , heißt es seinerzeit in einem Zeitungsartikel Jean Lorrains, der den kulturellen Wandel Paris‘ thematisiert. Der Boulevard als Bollwerk 24 bürgerlicher Leitkultur erlebt seinen diskursiven Fall, als er die Vielfalt der Kulturen nicht mehr nur repräsentiert, sondern von ihr durchdrungen wird. Typen des kosmopolitischen Boulevardmilieus: Rastaquouères und Bohémiens Die negative Markierung der ethnischen und sozialen Mischung der Milieus tritt verstärkt ab den 1880er Jahren in Erscheinung. 25 Die Boulevard-Diskurse prägten das Bild einer Hauptstadt, die an „exoticomanie“ 26 , einer übermäßigen Vorliebe für das ‚Fremde‘ und ‚Exotische‘ leide. Die Funktion des Boulevards als Teil eines fremdenfeindlichen Dispositivs im späten 19. Jahrhundert kann ein Blick auf die Figur des Rastaquouère veranschaulichen. Beim Rastaquouère handelt sich um einen Typus des kosmopolitischen Großstadtmilieus, der vor allem im Zeitraum von 1880-1900 in Literatur und Presse präsent ist. Ab den 1880er Jahren beschreibt eine Reihe von Romanen und Sittenstudien 27 den Typus des Rastaquouère, der unter anderem als „Neureicher“ oder „Emporkömmling“ übersetzt werden kann. Der Ausdruck bezeichnet Ausländer, deren Einkünfte und Lebensunterhalt von zweifelhafter und unbeständiger Herkunft sind. Ein Definitionsversuch aus Nicole Pöppel 108 der Chronik Paris qui passe (1888) gibt einen Eindruck vom Spektrum der Eigenschaften, die das Rastaquouère-Stereotyp bestimmen: „Sur le boulevard - de la rue Drouot à la Madeleine - on appelle ‚rastaquouère‘ tout individu d’origine étrangère dont les moyens d’existence restent problématiques et qui, en réalité, vit d’expédients au milieu d’un luxe frelaté. 28 Le rastaquouère peut être Anglais, Allemand, Belge, Russe, Valaque ou Levantin: mais il est aussi Napolitain, Espagnol, Portugais, et le plus souvent Américain du Sud. Il a alors le teint cuivré, les cheveux noirs, des yeux de braise ardente, l’allure féline: il exagère la mode dans la coupe de ses vêtements. Il porte des breloques et des diamants à tous les doigts. C’est le type classique, qui peut varier à l’infini d’ailleurs et qu’on aurait de la peine à suivre dans ses diverses transformations.“ 29 In der Charakterisierung des Rastaquouère verbinden sich sozial und rassistisch motivierte Aversionen. 30 Zur Beschreibung der physischen Merkmale bedienen sich die beiden Autoren stereotyper Merkmale, wie sie auch für die rassistische Physiognomie typisch sind: ein katzenhaftes Äußeres, glühende Augen, schwarze Haare und ein dunkler Teint. Des Weiteren gelten ein übertriebener Kleidungsstil, der auffällige Schmuckbehang sowie eine grundsätzliche Verwandlungsfähigkeit als Eigenschaften dieses neuen boulevardier-Typus. Auf den Zusammenhang zwischen der Internationalisierung des Großstadtmilieus, dem Auftauchen des Rastaquouère und der „Zurückweisung des Kosmopolitismus“ weist schon Jean-Pierre Ricard hin. 31 Der Rastaquouère sei - im zeitgenössischen Verständnis - ein Typ, der den „nationalen Geist“ korrumpiere und daher ein Ziel der virulenten Kritik am Kosmopolitismus darstelle. 32 Die Figur des Rastaquouère steht exemplarisch für Marginalisierungsstrategien, die über die neue Öffentlichkeit des Boulevards - seiner Presse und Medien - wirken. So liefert der geschmacklos auftretende, schwer einzuordnende Ausländertypus, den seine Nähe zum Bohèmemilieu 33 kennzeichnet, ein Beispiel für die Popularisierung von gesellschaftlichen Randfiguren, die durch die Boulevardmedien (Oper, Theater, Presse) forciert wird und schon am Beispiel der Rezeption von Henry Murgers Scènes de la vie de Bohème beobachtet werden kann. 34 Die Literatur bietet für diese Prozesse, die sich auch im Wortschatz z.B. in der Bildung von Neologismen niederschlagen, ein besonderes Darstellungspotenzial. 35 Im Dictionnaire de la langue verte (1907), einem argot-Wörterbuch des Schriftstellers Hector France, bezeichnet ein Eintrag zum Ausdruck „Rastapolitisme“ 36 das internationale Milieu als ein heterogenes Soziotop 37 verschiedenster Herkünfte und Berufsgruppen, welche auch die Bohémiens - les futurs amphitryons - anziehe: „Et il part de là pour me décrire cette société bizarre et bariolée, ce coudoiement de diplomates, d’hommes d’affaires, de marchands, de touristes, ce rastapolitisme, où grouillent les futurs amphitryons du faubourg Saint Germain.“ 38 Dass sich nicht nur das Milieu überschneidet, sondern auch die Charakterisierungen des Rastaquouère in mehrerlei Hinsicht eine deutliche Ähnlichkeit zu den Der kosmopolitische Boulevard 109 Schilderungen der Bohème aufweisen, ist für uns besonders interessant. Beide Gruppen zeichnen sich neben der äußerlichen Extravaganz vor allem über einen vom bürgerlichen Milieu abweichenden Lebensstil aus, der allem voran in der spezifischen ökonomischen Situation begründet liegt. 39 Die Bohèmeskizze des Schriftstellers Gabriel Guillemot Le bohême, physionomies parisiennes (1868) definiert den Bohémien als jemanden, der „sich finanziell irgendwie durchschlägt“, allerdings in einer Weise, die keiner polizeilichen Maßregelungen bedürfe: „Tout ce qui vit d’expédients, du haut en bas de l’échelle, - j’entends d’expédients qui ne tombent pas sous le coup de la police correctionnelle, - rentre dans notre programme [die Beschreibung des Bohémien, Anm. N.P.].“ 40 Dieser Lebenswandel, der für die Bohème geltend gemacht wird, gilt ebenfalls für den Rastaquouère: „Le rastaquouère, véritable Protée, fleurit dans tous les mondes où peut s’exercer son industrie, qui consiste principalement à faire des dupes. Son champ d’opération n’a pas de limites, car c’est l’exploitation de la bêtise humaine qui lui sert de base. Cependant, le rastaquouère traverse parfois de cruelles vicissitudes: il subit des revers de fortune qui le mettent dans l’obligation de travailler pour vivre. Il s’y résout toujours le plus tard possible, et encore, réduit à cette extrémité, il invente un de ces métiers inconnus […].“ 41 Die Nähe zum kriminellen Milieu, eine grundsätzliche Wandlungsfähigkeit, der Hang zu Listigkeiten, der extravagante Kleidungsstil und unregelmäßige finanzielle Einnahmequellen teilt die Charakterisierung der internationalen neureichen Halbwelt mit der Bohème. 42 Eine direkte Zuordnung zum Bohèmemilieu erfährt ein Rastaquouère-Typus bei Guillemot: Er nennt den undurchsichtigen, neureichen Ausländer, dessen Wirkungskreis sich mit der Bohème deckt, einen „Bohême exotique“: „En touchant à ce tas d’étrangers dont la position sociale est si difficile à établir, à fixer, à définir, sait-on jamais à qui on a affaire? Simples aventuriers ou princes voyageant incognito? […] Ils fréquentent les mêmes salons, les mêmes cercles, les mêmes femmes. Ils ont les mêmes allures et les mêmes décorations... Marquis douteux, comtes louches, barons borgnes, que j’en vois de ses gaillards, Italiens, Espagnols, Brésiliens, Péruviens, Mexicains et Turcs, Grecs de latitude et de toute longitude, qui, tous, seraient fort en peine d’exposer au public le budget de leurs recettes et dépenses! A les entendre, ils ont dans leur pays tous les titres, tous les grades, tous les honneurs.... Forêts, châteaux, terres à perte de vue. ,A beau mentir qui va de loin.‘ C’est pour ces bohêmes-là que fut fait ce proverbe.“ 43 Bohème und Boulevardisierung „Ort der Boheme war der Boulevard, der schon unter Louis-Philippe den Heimatlosen als Heimat gedient hatte [...]“, so äußert sich Siegfried Kracauer 1937 zur festen Bindung der Bohémiens an den Boulevard. Ferner führt er aus: „Mittlerweile hatte allerdings das Treiben auf dem Boulevard eine Ni- Nicole Pöppel 110 vellierung erfahren, die sich die Dandys von anno dazumal ebensowenig hätten träumen lassen, wie seinen jetzigen kosmopolitischen Zuschnitt.“ 44 Damit blickt Kracauer in den 1930er Jahren auf eine Entwicklung des Boulevards zurück, die ebenso wie Charles Rearicks Aufsatz Bezug auf die soziokulturellen Folgen der Boulevardisierung nimmt. Sieht man den Boulevard als Topos der französischen, bürgerlichen Identitätskonstruktion 45 des 19. Jahrhunderts an, der auf den Problemhorizont kultureller Diversität in einer aufkommenden Massenkultur bezogen werden kann, so ist ein knapper Ausblick auf die Gegenwart interessant. „Boulevardisation lautet der Neologismus, mit dem Urbanisten in Analogie zum Niedergang der Grands Boulevards denjenigen der Champs-Elysées bezeichnen“ 46 , heißt es in einem Zeitungsartikel der NZZ von 2006. Bezeichnend ist, dass der Autor darin aus heutiger Perspektive ganz in der Tradition der oben geschilderten Pariser Boulevardszenen einen Verlust der Boulevardkultur - im Sinne von Hochkultur - konstatiert. Die Champs-Elysées wiesen gegenwärtig jenes Muster kulturellen Verfalls auf, das in der Semantik des 19. Jahrhunderts mit dem „Niedergang der Grands Boulevards“ und dem Einfluss des ‚Fremden‘ und der Massen verknüpft war. Weiter heißt es dort: „Die heutigen Invasionen sind friedlicher. Für Nicht-Pariser aus aller Welt (darunter Scharen von Kids aus der Banlieue) ist die 70 Meter breite und 1910 Meter lange Avenue der Inbegriff des Pariserischen. Hauptstädter hingegen mutet sie ähnlich exterritorial an wie das Quartier des Halles. Keinem Pariser, der etwas auf sich hält, würde es je einfallen, sich hier auf einen Café zu verabreden.“ 47 Die Perspektive des Zeitungsartikels ist von einer räumlichen Semantik bestimmt, die auf dem Gegensatz von Zentrum und Peripherie gründet. Was den Wandel der Boulevardsemantik von Paris angeht, so ist eine interessante Ambiguität zu verzeichnen, die bedeutsam wird, wenn das Verhältnis von Sub- und Massenkultur(en) in den Fokus geraten soll. Man betrachte als Beispiel eine Selbstdarstellung des einstig ex-zentrischen Künstlerviertels Montmartre um 1900 in der Publikation namens Guide de l’étranger à Montmartre: einem Reiseführer der Montmartrer Künstler für den ausländischen Besucher zur Zeit der Weltausstellung 1900: „Montmartre! ce nom a fait le tour du monde; c’est quelque chose comme le Paris de Paris, comme un chef-lieu intellectuel dans la capitale des capitales, c’est la concurrence aux fameux Boulevards, c’est le quartier latin de la rive droite, c’est, en un mot, l’endroit à la mode où Paris s’amuse et convie les étrangers à s’amuser avec lui […].“ 48 Die Rhetorik erinnert an die Darstellungen von Paris und seiner Boulevards, die noch zur Jahrhundertmitte in Stadtpanoramen wie Texiers Tableau de Paris üblich waren. Mehrere Beiträge des Guide verdeutlichen, wie sich die semantische Opposition zwischen Zentrum (Boulevard) und Peripherie in Der kosmopolitische Boulevard 111 dem Moment verschiebt, als Montmartre selbst zu einem attraktiven Ort der Metropole, zum Zentrum der Unterhaltungs- und Massenkultur, wird: „De même que tout chemin mène à Rome, de même toute rue, tout boulevard mènent à Montmartre. Il y a mille et un moyens de se rendre à cette capitale de Paris - car Montmartre, on l’a dit, et on ne saurait trop de le redire, est la capitale de la capitale du monde! “ 49 Die Geschichte des Pariser Boulevards kann man als Bestandteil der repräsentativen Öffentlichkeit der französischen Metropole betrachten. Der Boulevard erscheint sowohl als urbane Einheit als auch als Topos des kulturellen Lebens: einerseits ist er die Referenz der französischen Leitkultur mit ihren ehemaligen Grands Boulevards und ein Spazierplatz der Bürger und Flaneure. 50 Andererseits ist er Aufenthaltsort und Wirkungsstätte ambiguer, heterogener Milieus und gesellschaftlicher Randfiguren. Wegen der mehrdeutigen Funktion des Boulevards und des Bedeutungswandels, den die literarischen und publizistischen Quellen sichtbar machen, sind diese auch diejenige Referenz, die die semantischen Umkodierungen des kulturellen Lebens in der Metropole Paris am ehesten widerspiegeln können. 1 Cf. Pierre Pinon: „Le double mythe Haussmann“, in: Aude Déruelle/ José-Luis Diaz (ed.): La Vie parisienne. Actes du III e Congrès de la SERD: http: / / etudes-romantiques.ishlyon.cnrs.fr/ cariboost_files/ Pinon.pdf. (25.06.2011), 1-4. 2 Cf. Philippe Hamon: „Introduction“, in: ibid.: http: / / etudes-romantiques.ishlyon.cnrs.fr/ cariboost_files/ Hamon.pdf (22.02.2011), 7. 3 Vanessa R. Schwartz zur boulevard culture: Spectacular realities. Early mass culture in Finde-Siècle Paris, Berkeley, University of California Press, 2003. 4 Alfred Delvau: Les plaisirs de Paris. Guide pratique et illustré, Paris, A. Faure 1867, 18. 5 Julius Rodenberg: „Die vierundzwanzig Stunden von Paris“, in: Paris bei Sonnenschein und Lampenlicht. Skizzenbuch zur Weltausstellung, Leipzig, Brockhaus 2 1867, 1. 6 Jean Giraudoux in: Nicolas Di Méo: Le cosmopolitisme dans la littérature française. De Paul Bourget à Marguerite Yourcenar, Genf, Droz, 2009, 121. Christopher Prendergast: Paris and the Nineteenth Century, Oxford, Blackwell, 1995, 6. 7 In der Einführung ordnet sich der Autor in die Tradition der Stadtpanoramen ein. Der Titel des Werks verweist bereits auf das bekannte gleichnamige Vorbild von Louis-Sébastian Mercier (1781-88). Cf. L.C. Hamrick in diesem Band. 8 Edmond Texier: Tableau de Paris. Ouvrage illustré de quinze cents gravures. 2 vol., Paris, Paulin et le Chevalier, 1852, vol. 1, i-ij [Einleitung]. 9 Edmond Texier in: Paul d’Ariste: La vie et le monde du boulevard (1830-1870). Un dandy: Nestor Roqueplan, Paris, Tallandier, 1930, 4sq. 10 „Part of the boulevard crowd’s modern diversity was a sort of democratic cosmopolitanism“, cf. Vanessa Schwartz, op. cit., 25. 11 Décembre-Alonnier: Les merveilles du nouveau Paris: renfermant histoire, description, population, plan, division administrative […], Paris, Bernardin-Béchet, 1867, 51. Nicole Pöppel 112 12 Charles-V. Aubrun: „Rastaquouère et Rasta“, in: Bulletin Hispanique 57, 4/ 1955, 430- 439, 433. 13 Paul d’Ariste, op. cit., 46. 14 Ibid., 213, 216. 15 Cf. Charles Rearick 79sq. Rearick verzeichnet einen „tournant radical de la mémoire collective du ,Boulevard‘“ in der Geschichtsschreibung der 1920er und 1930er Jahren. Die Blütezeit wird auf vor und der Niedergang der großen Boulevards auf die Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs datiert. Jules Bertaut macht in Le Boulevard (1924) die Besuchermassen der Weltausstellungen seit dem Second Empire für den Niedergang der Boulevards verantwortlich und verwendet in dem Zusammenhang die Ausdrücke „vulgarisation“ und „encanaillement“, ibid., 82, 84. 16 Begriffsgeschichtliche Untersuchungen zum Boulevard und z.B. zum mehrdeutigen Ausdruck des boulevardier mit seinem Bedeutungsspektrum von der Bezeichnung bürgerlicher Flaneure über den Boulevardjournalisten bis hin einer pejorativen Kennzeichnung einzelner Boulevard-Protagonisten sind Gegenstand des DFG-Projekts „Boulevard, Bohème und Jugendkultur“ (Leitung: Prof. Walburga Hülk-Althoff/ Prof. Georg Stanitzek). 17 Paul Belon/ George Price, op. cit., 246. 18 Substantiv zu „coudoyer qn“: mit jemandem auf Tuchfühlung sein, mit jemandem in Kontakt geraten. 19 Jean Lorrain: Mes Expositions Universelles (1889-1900), ed. Philippe Martin-Lau, Paris, Honoré Champion, 2002, 308. 20 Die Librettisten von Offenbachs Oper, Henri Meilhac und Ludovic Halévy, verfassen bereits 1863 eine Komödie mit dem Titel Le Brésilien, die den südamerikanischen Rastaquouère-Typus auf die Bühne bringt und damaligen Interpretationen zufolge zur Verbreitung des Ausdrucks geführt hat, cf. Charles-V. Aubrun, op. cit., 430sq. 21 Cf. Jean-Pierre Arthur Bernard: Les deux Paris. Les représentations de Paris dans la seconde moitié du XIX e siècle, Seyssel, Champ Vallon 2001, 238. 22 Sprich einen positiv konnotierten Kosmopolitismus, cf. Nicolas Di Méo, op. cit., 119. 23 „Paris n’est pas plus Paris“: Jean Lorrain, op. cit., 308. 24 Im Grand Larousse, Paris, 1971, 486 wird die Etymologie von boulevard aus dem Mittelniederländischen hergeleitet „(bolwerc, ouvrage [werc] de fortification fait de madriers“). Für die kulturelle Dimension und Begriffsgeschichte des Boulevards sind auch zeitgenössische Überlegungen aus der Jahrhundertmitte interessant, die sich über die Herkunft der Begriffs boulevard Gedanken machen. So fasst der Schriftsteller und Historiker Édouard Fournier den (zwar etymologisch unzutreffenden, aber auf einer metaphorischen Ebene interessanten) Gedanken, dass boulevard von bouleversement komme: „On a cherché longtemps et l’on cherche encore d’où peut venir ce mot boulevard. Je suis maintenant, quant à moi fixé sur son étymologie: il n’est qu’une variante du mot bouleversement.“ Édouard Fournier: Chroniques et légendes des rues de Paris, Paris, E. Dentu, 1864, 16. 25 Cf. Jean-Pierre Ricard: „Le Paris-Rasta et le Rejet du Cosmopolitisme“, in: Aude Déruelle/ José-Luis Diaz (eds.): La Vie parisienne. Actes du IIIe Congrès de la SERD, 2008: Online: http: / / etudes-romantiques.ish-lyon.cnrs.fr/ cariboost_files/ Ricard.pdf, 1. (09.10.2011). 26 Begriff von Jean-Pierre Ricard, entlehnt aus einem Artikel in Gil Blas von Bachaumont, op. cit., 2, Fußnote 9. Cf. auch M. Claire Bompaire-Evesque: „Paris, centre de la vie politique dans Le Roman de l’Énergie nationale de Maurice Barrès“, in: Cahiers de l’Association internationale des études françaises, 42, 1990, 63-75. Der kosmopolitische Boulevard 113 27 Cf. Philippe Hamon/ Alexandrine Viboud: „Cosmopolitisme“, in: op. cit., 181. 28 Gabriel Guillemot: Le Bohême. Physionomies Parisiennes, Paris, Le Chevalier, 1868, 15. 29 Paul Belon/ Georges Price, op. cit., 245. 30 Als Rastaquouères werden auch junge Männer und Frauen bezeichnet, denen die Heirat mit wohlhabenden PartnerInnen zu einem luxuriösen Leben verhilft. Cf. Philippe Hamon/ Alexandrine Viboud, op. cit., 181. Ein Beispiel für einen solchen Rastaquouère findet man sogar noch im Kapitel „Mon ami espagnol“ von Michel Georges- Michels Bohème-Roman Autres Montparnos: ein erfolgloser Künstlertyp, der eine amerikanische Multimilliardärin heiratet, Paris, Albin Michel, 1935, 103-110. 31 Jean-Pierre Ricard, op. cit., s.p. und Le rastaquouère dans la littérature française (1880- 1914): contribution à l’étude d’un stéréotype, Paris, [Diss. unpubl.], 2004. 32 „Ce terme [rastaquouère, Anm. N.P.] trouve sa place dans le contexte français de la critique virulente du cosmopolitisme, corrupteur de l’esprit national des premières décennies du XX e siècle“, ibid. 33 Cf. Diana Cooper-Richet/ Michel Pierssens: „Bohemia Latina“, in: Pascal Brissette/ Anthony Glinoer (eds.): Bohème sans frontière, op. cit., 279-294. 34 Cf. Elizabeth Wilson: Bohemians. The Glamorous Outcasts, London, Tauris, 2000, 163, 222. 35 Philippe Hamon/ Alexandrine Viboud, op. cit., 180. 36 Neologismus aus den beiden Ausdrücken Cosmopolitisme und Rastaquouérisme, Hector France in: Charles-V. Aubrun, op. cit., 438. Cf. Hector France: Dictionnaire de la langue verte. Archaïsmes, Néologismes, Locutions étrangères, Patois, Paris, Librairie du Progrès 1907, Wird als „Réunion de Rastas“ [Rasta = gängige Abkürzung für Rastaquouère, N.P.]“ übersetzt. Als Referenz für den Ausdruck dient ein undatiertes Zitat aus der Zeitschrift L’écho de Paris. 37 Den Boulevard ebenso wie die Bohème als Soziotopos zu begreifen, stellt eine der Ausgangssthesen des Forschungsprojekts „Boulevard, Bohème und Jugendkultur“ (Walburga Hülk-Althoff/ Georg Stanitzek) dar. Cf. zum Soziotopos ‚Bohème‘: Georg Stanitzek: „Die Bohème als Bildungsmilieu: Zur Struktur eines Soziotopos“, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 16,2 (2010), 404-418. 38 Charles-V. Aubrun, op. cit., 438. 39 Helmut Kreuzer: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart, Metzler 1968. 40 Gabriel Guillemot, op. cit., 9. 41 Paul Belon/ Georges Price, op. cit., 245. 42 Zur Internationalität der Bohème-Milieus: Helmut Kreuzer, op. cit., 175, 179, 209. 43 Gabriel Guillemot, op. cit., 38sqq. 44 Siegfried Kracauer: „Kurtisanen, Lebemänner, Journalisten“, in: Gerd Stein (ed.): Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., Fischer, 1982, 69. 45 Cf. vor allem Charles Rearick, op. cit. 46 Marc Zitzmann: „Boulevardisierte Pracht. Prousts Albtraum: die Champs-Elysées“, in: NZZ, 01.02.2006. URL: http: / / www.nzz.ch/ 2006/ 02/ 01/ fe/ articleD4W6W.html. (09.05.2011). 47 Ibid. 48 Victor Meusy/ Edmond Depas (eds.): Guide de l’étranger à Montmartre. Vorwort von Emile Goudeau, Paris, J. Strauss, 1900, 10. 49 Cf. ibid.: „De Paris à Montmartre. Comment on va vers la butte“, in: Victor Meusy/ Edmond Depas (eds.): Guide de l’étranger à Montmartre, Paris, J. Strauss, 111-114, 111. 50 Cf. Charles Rearick, op. cit., 80. Volker Roloff Le boulevard du crime und das Melodram im Wechsel der Medien Es geht um den Transformationsprozess, der, so der Leitgedanke, vom Boulevard zur Boulevardisierung führt, um die semantische und medienästhetische Ausweitung des Begriffs Boulevard bis hin zur Boulevardisierung der Öffentlichkeit. Wenn man, wie Walburga Hülk-Althoff und Gregor Schuhen, den Boulevard „als frühes mediales Dispositiv mit Massencharakter“ bezeichnet 1 , so scheint es wichtig und aufschlussreich, mit dem Pariser Boulevard du crime zu beginnen - und zwar mit der These, dass das Theater und die Theatralität des Boulevard du crime schon Anfang des 19. Jahrhunderts im Kern nahezu alle Elemente enthält, die dann später um 1900 und im Laufe des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff der Boulevardisierung verbunden werden, d.h. mit der Populär- und Konsumkultur, der Boulevardpresse und den Unterhaltungsmedien wie Film, Fernsehen und den digitalen Medien, die jeweils auf Emotion, Sensation und Schaulust angelegt sind. Auch die Bohème ist dabei schon mit im Spiel - obwohl Henri Murger in seinen Scènes de la bohème (1851) im Vorwort darauf verweist, dass seine Protagonisten, die Dichter, Musiker und Maler sich von den Bohémiens des Boulevard unterscheiden, jenen Bohémiens „dont les dramaturges du boulevard ont fait synonyme de filous et d’assassins“ 2 . Die Künstler der Scènes de la bohème seien, so Murger, nicht mit den Gauklern und Jahrmarktskünstlern des Boulevard vergleichbar, den Pantomimen, Seiltänzern, den „montreurs d’ours“ und „avalans de sabres“. 3 Aber gerade diese etwas forcierte Abgrenzung führt zurück zu den Ursprüngen des Boulevard du crime, der viel mehr darstellt als nur den Ort, an dem die großen Boulevardtheater nach der Französischen Revolution mit ihren mélodrames äußerst erfolgreich sind. Murger selbst hat mit der Theaterfassung seines Romans eine Variante des traditionellen Melodrams geschaffen. 4 Von Anfang an sind dabei drei Aspekte miteinander verbunden: Das Theater vor dem Theater, das Theater im Theater und das Theater nach dem Theater. Das Theater nach dem Theater bezeichnet die Weiterentwicklung der Ästhetik und Dramaturgie des Melodrams in verschiedenen Medien, z.B. im Roman, in der Oper und Operette bis hin zum Film, Fernsehen und der Presse des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Ich beginne mit dem Theater vor dem Theater, dem so genannten Boulevard du crime, dem Boulevard du Temple, der seit Ende des 18. Jahrhunderts zum Ort des populären Theaters wird. Dort entstehen besonders nach der Volker Roloff 116 Revolution private Theater, die nicht, wie z.B. die Comédie française, vom Staat subventioniert sind, z.B. das Théâtre de L‘Ambigu, das Théâtre de la Gaieté, das Théâtre des Funambules und viele andere. Der Boulevard du Temple beginnt im Marais-Viertel und führt Richtung Norden in die damals und heute noch eher ärmlichen Viertel von Paris, im Grenzbereich vom bürgerlichen Paris zu dem der kleinen Leute. 5 Als die Stadtmauern, die Bollwerke (boulevards) geschliffen werden, entsteht eine breite Promenade, eine fünfreihige Allee, die sich schon bald zum neuen Vergnügungs- und Unterhaltungszentrum von Paris entwickelt: mit vielen Cafés, Buden, Schaustellern, Seiltänzern, Pantomimen, Akrobaten, Feuerschluckern und Musikanten, Zirkusnummern mit Pferden, Bären, Affen; eine Art Jahrmarkt und Varieté, aber zu jeder Jahreszeit, fast rund um die Uhr, Tag und Nacht, jeweils mit den neuesten Attraktionen und Sensationen, z.B. dem Diorama, einer der Vorformen des Kinos. 6 Die Akteure waren oft Zigeuner, bohémiens. „Aus den Bretterbuden und Zelten, in denen Fässer die Bühne trugen, wurden mit der Zeit wahre Kunsttempel“ 7 - es entstehen sehr große Theater, die mit damals neuester Technik, verschwenderischen Kulissen, aufwendigen Kostümen und raffinierter Bühnentechnik ausgestattet wurden. 8 Gespielt wurden Melodramen in verschiedenen Varianten, auf die ich zurückkomme: immer Theaterstücke mit Musik (daher „mélo“), Balletteinlagen, Pantomimen und Chansons, die ganz offensichtlich Elemente der kleinen Schauspiele und Sensationsnummern auf dem Boulevard selbst aufnehmen und integrieren, also das Theater vor dem Theater mit einbeziehen. Der Boulevard du Temple wird, wie Heinrich Heine 1837 es nennt, zum „eigentlichen Volkstheater“. Er schafft eine Theaterbegeisterung, die alle sozialen Gruppen anzieht, insbesondere auch die Aristokratie, die Bourgeosie, die ganz Armen und nicht zuletzt die Dichter und Künstler, die intellektuelle Elite der Zeit, z.B. Hugo, Balzac, Stendhal, Nodier, Gautier, Georges Sand, Nerval, Dumas, E. Sue. Der Boulevard du crime ist ein Anziehungspunkt vor allem für die Romantiker, die gegen das klassische Theater sind. So entsteht ein Ort der égalité, der Gemeinschaft der Citoyens, in der Idealvorstellung der Französischen Revolution, die aber auch nach dem Sturz Napoleons in der Zeit der Restauration weiter existiert. Woher kommt die neue Theaterbegeisterung und weshalb wird der Boulevard du Temple Boulevard du crime genannt? Die Frage führt schon zum Theater im Theater. Das Boulevardtheater mit seinen mélodrames entspricht ganz offensichtlich einem Bedürfnis der Gesellschaft in der Zeit der Französischen Revolution. Charles Nodier formuliert dies in dem Vorwort seiner Ausgabe der Theaterstücke von Pixerécourt, dem erfolgreichsten Autor von Melodramen: „Sicher ist, dass unter den damaligen Umständen das Melodram eine Notwendigkeit war. Die ganze Bevölkerung hatte auf den Straßen und öffentlichen Plätzen das größte Drama ihrer Geschichte gespielt. Alle Welt war Akteur in diesem Le boulevard du crime und das Melodram im Wechsel der Medien 117 blutigen Spiel gewesen; alle Welt war Soldat gewesen, Revolutionär oder Geächteter. Für diese Zuschauer, die Pulver und Blut gespürt hatten, brauchte es Gefühlswallungen. […] Sie brauchten Verschwörungen, Kerker, Scheiterhaufen, Schlachtfelder, Pulver und Blut; das unverdiente Glück der Größe und des Ruhms, die heimtückischen Machenschaften der Verräter, die Opferbereitschaft der Guten.“ 9 Man musste, so Nodier, an die alte Weisheit erinnern, dass nämlich die Tugend niemals ohne Lohn und das Verbrechen nie ohne Strafe bleibt: „La vertu n’est jamais sans récompense, le crime n’est jamais sans châtiment“: Das Melodram war nichts Minderwertiges, es war „la moralité de la révolution“. 10 Auch die neuesten Analysen zum Melodram folgen diesem Grundgedanken Nodiers: das Melodram erscheint als Ausdruck der „moralité de la révolution“, als - wie Winfried Wehle es nennt - „kulturelles Massenphänomen“ und „soziopsychologisches Signal“, das dem „Bedürfnis nach starken Emotionen“ entspringt, das die großen Schauspiele der Revolution selbst ausgelöst haben. 11 Die Melodramen ersetzen die pathetischen und grausamen öffentlichen Schauspiele der Revolution, die schon bald aus der Mode waren. Alle zeitgenössischen Berichte, aber z.B. auch die Bilder von Honoré Daumier und Louis-Leopold Boilly, bestätigen die extreme emotionale Beteiligung der Zuschauer (vgl. Abb. 1 und 2). Abb. 1: Louis-Leopold Boilly, L’Effet du Mélodrame (1830) 12 Volker Roloff 118 Abb. 2: Honoré Daumier, Le cinquième acte dans ,La gaité‘ 13 Die Zuschauer erschaudern über das im Theater dargestellte Verbrechen, sie weinen über das Unglück der Unschuldigen und begrüßen die Bestrafung der Übeltäter mit Freudentränen. Wegen der Vorliebe für Theaterstücke, die die blutigsten Verbrechen zeigen, aber auch bestrafen, wird der Boulevard du Temple etwa ab 1800 Boulevard du crime genannt, in einer Mischung aus Sympathie und Ironie. „Das Theater auf dem Boulevard“, so kommentiert George Sand, „war in dieser vergifteten Zeit der einzige Ort in Frankreich, wo noch Gerechtigkeit herrscht“ 14 - aber auch der einzige Ort, wo mit dem Verbrechen geworben wird, z.B. mit spektakulären Plakaten wie „Hier wird getötet“, mit denen die Theater das Publikum anlocken. In jedem Fall gehören zum Melodram, wie angedeutet, das Spiel vor dem Theater und das Mitspielen der Zuschauer während der Theateraufführung - vor dem Theater in mehrfachem Sinne, sowohl in Bezug auf die historischen Voraussetzungen, die Erinnerung an die großen Schauspiele der Revolution, die Attraktionen und Sensationen des Jahrmarkts, der das Forum und die Vorspiele für die Melodramen des Theaters bietet. Hinzu kommt ein nicht ganz neues, aber neu gestaltetes theatrales Genre, die so genannte Parade, die an das mittelalterliche Genre des Cri anknüpft. 15 Es handelt sich um kostenlose Vorspiele direkt vor dem Boulevardtheater, die die Zuschauer vom Boulevard in die Theatersäle locken soll, um Reklameauffüh- Le boulevard du crime und das Melodram im Wechsel der Medien 119 rungen, meist kleine Pantomimen, aber auch schon kurze Auftritte der renommierten Schauspieler; kurze Vorspiele, die man mit modernen Formen des Trailer, der Vorschau für Filme oder Fernsehspiele vergleichen kann. Abb. 3: Louis Léopold Boilly, L’Entrée du théâtre 16 Das Bild von Boilly, L’entrée du théâtre (vgl. Abb. 3), zeigt eine solche Szene auf dem Balkon vor dem Theater, offensichtlich aus einem der erfolgreichsten Stücke von Pixerécourt, Le chien de Montargis, in dem der Hund zur Entlarvung des Bösewichts führt. 17 In dem Film von Marcel Carné, Les enfants du paradis (1943-1945), der den Boulevard du crime auf der Grundlage historischer Dokumente sehr genau rekonstruiert, hat die Parade - hier mit dem Auftritt des Pantomimen (gespielt von Jean-Louis Barrault, vgl. Abb. 4) - eine wichtige Funktion, als ein Element der Ästhetik des Melodrams, als ein Genre, das zwischen dem Theater auf der Straße und dem eigentlichen Spiel im Theater vermittelt. 18 Volker Roloff 120 Abb. 4: Jean-Louis Barrault als Pantomime 19 In einem Traité du Mélodrame aus dem Jahre 1817 wird die Rezeptur für ein erfolgreiches Melodram angegeben. Wichtig ist zunächst ein attraktiver Titel: „Il faut ensuite adapter à ce titre un sujet quelconque, soit historique, soit d’invention; puis on fera paraître pour principaux personnages un niais, un tyran, une femme innocente et persécutée, un chevalier et autant que faire se pourra. Quelque animal apprivoisé, soit un chien, chat, corbeau, pie ou cheval. On placera un ballet et un tableau général dans le premier acte; une prison, une romance et des chaînes dans le second; combats, chansons, incendie etc. dans le troisième. Le tyran sera tué à la fin de la pièce, la vertu triomphera, et le chevalier devra épouser la jeune innocente malheureuse etc.“ 20 Zur Inszenierung des Melodrams gehören, wie bereits erwähnt, Ballett, Chansons, Pantomimen; die Mitwirkung großer Orchester; ihre expressive oder deskriptive Musikbeteiligung dient der Steigerung der Emotionen, des Pathos und der dramatischen Spannung. So entsteht ein Theater-Ereignis, das nicht wirklich rekonstruierbar ist, da zwar viele literarische Texte der Melodramen überliefert sind, aber nur sehr selten die Musik und Choreographien. Das Melodram ist - mit dieser Mischung verschiedener Künste und Medien - ein hybrides Genre par excellence, und damit auch ein Volkstheater, das dem Emotionsbedürfnis und der Sensationslust der Zeitgenos- Le boulevard du crime und das Melodram im Wechsel der Medien 121 sen entspricht. Es gehört zum Prinzip der Hybridisierung, dass dabei viele ältere Theatergenres, von der antiken Komödie und Tragödie, den populären Genres des mittelalterlichen und barocken Theaters (von der Farce bis zur commedia dell’arte) und auch Molière aufgenommen und aktualisiert werden. Die Distanz zum normativen Modell des klassischen französischen Theaters findet sich auch in den elaborierten Formen des romantischen Melodrams, das - trotz der großen Nähe des Boulevard zum Melodram - z.B. bei Hugo, Vigny oder Musset komplexere Strukturen aufweist, u.a. durch differenziertere Charaktere und die Aufhebung der einfachen Opposition von „gut“ und „böse“. 21 Das Melodrama hat aber, so Harald Wentzlaff-Eggebert, „das romantische Theater nicht nur geprägt, es hat es auch überdauert“. 22 Es ist daher - als offene Form - theater- und gattungsgeschichtlich nicht eindeutig abgrenzbar, trotz der Einteilungsversuche von Jean-Marie Thomasseau, der die Periode des „mélodrame romantique“ von 1823-1848 datiert. 23 Das Melodram verändert sich im 19. Jahrhundert, durch eine ständige Erweiterung des Spektrums, die den Moden und der Schaulust des Boulevards folgt. Es entstehen mit dem sich verändernden Publikumsgeschmack neue spektakuläre Mischungen und Differenzierungen, wie z.B. das Vaudeville und die Boulevardkomödie, die u.a. bei Scribe, Feydeau oder Labiche, die frühen Melodramen oft schon parodieren; 24 und es entstehen besondere Spielformen und Varianten des „mélodrame policier“ (die Vorformen des modernen Krimi), das „mélodrame des mœurs“, die „féerie“, das „mélodrame d’aventures“ und die melodramatische Oper und deren Parodie, die seit Jacques Offenbach erfolgreiche Operette. 25 Alle Varianten sind aber vom traditionellen Melodram geprägt, insbesondere auch seit Beginn des 20. Jahrhunderts das neue Medium „Film“. Das Melodram wird, wie Pixerécourt selbst am Ende seiner Vorherrschaft auf der Bühne des Boulevard beklagt, schon seit etwa 1830 chaotischer, gewaltsamer, blutiger; 26 die bislang eher dezente Darstellung der Liebe und Leidenschaften wird immer öfter durch das Prinzip der „crime and sex“ abgelöst. Eine rein funktions-, sozial- und zeitgeschichtliche Interpretation des Melodrams, die für die Übergangszeit nach der Revolution zunächst plausibel erscheint, reicht daher nicht aus, um die zunehmende Wirkung und Wandlungsfähigkeit der Melodramatik bis ins 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart zu erfassen. Man kann in der Melodramatik den ursprünglichen Zusammenhang von Theatralität und Schaulust erkennen, die Freude des Publikums an Emotionen, die Bereitschaft zu Mitgefühl und Mitleid, aber auch zur Schadenfreude, verbunden mit einem zwiespältigen Interesse für Unglück und Katastrophen sowie für den outlaw, den Außenseiter, Abenteurer oder Gangster. Es ist kein Zufall, dass genau diese Merkmale für die Melodramatik im Theater, im Kino und Fernsehen, für die modernen Unterhaltungsmedien, insbesondere die Boulevardpresse zutreffen. Volker Roloff 122 Einer der wichtigsten Theoretiker, der die Melodramen des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung des amerikanischen Films vergleicht, B. Singer, spricht von einem Set grundlegender Faktoren, die das Genre „Melodram“ definieren und die in verschiedenen Kombinationen auftauchen können: „extreme moralische Polarisierung; heftiges Pathos; überreiztes Gefühl und gesteigerte Zustände emotionaler Not; nicht-klassische Erzähltechnik und Deus ex machina; Sensationalismus, also gewalttätige Action, Nervenkitzel, Spektakel.“ 27 Singer geht dabei nicht von psychoanalytisch definierbaren Konstanten aus (wie z.B. Voyeurismus oder Sadismus im Sinne Freuds, die dabei ohne Zweifel eine Rolle spielen) 28 , sondern betont die sich verändernden sozial- und medienkulturellen Kontexte, den Prozess der „Boulevardisierung“, insbesondere die Bedeutung der „Urbanisierung“, die durch die Großstadt und ihre Kommunikationsformen veränderte Lebenswelt und Wahrnehmung, den „urbanen Schock“, der nicht nur Theater und Film, sondern nach und nach alle Medien erfasst. 29 Ähnliche Ansätze finden sich bei Peter Brooks, der das Melodram als „wesentlichen Modus der modernen Imagination“ und als typisches Genre einer „postsakralen Gesellschaft“ definiert 30 sowie bei Hermann Kappelhoff, der das Melodramatische als „grundlegendes Dispositiv westlicher Populärkultur“ ansieht. 31 Vor allem das Kino habe, so Kappelhoff, „in seiner emotionalen Kraft“ die „grundlegende melodramatische Ausdrucksform des 20. Jahrhunderts hervorgebracht.“ 32 Damit bin ich schon bei dem Theater nach dem Theater, das ich hier nur in Stichpunkten behandeln kann. Das Melodram hat - als Produkt des Boulevard und der neuen bürgerlichen Gesellschaft - das Theater, das Theaterleben und die Theatralität des 19. Jahrhunderts nicht nur geprägt und überdauert, sondern auch, mit dem Wechsel der Medien, seine Wirkungsmöglichkeiten und Spielräume ständig erweitert und ausdifferenziert. Es erscheint z.B. in der Oper, der Operette und im Roman, insbesondere im Feuilletonroman, bei Balzac, Alexandre Dumas, Eugène Sue, Mérimée, auch bei Flaubert und Zola, wobei vor allem jene Romane von Interesse sind, die das Melodram thematisieren, zugleich aber auch kritisch reflektieren, wie z.B. in Madame Bovary mit der Oper Lucia di Lammermoor oder in Zolas Nana mit Offenbachs La belle Hélène. Der Medienwechsel (das Theater und die Oper im Roman) bietet die Möglichkeit der kritischen und ironischen Distanz, bildet aber auch den Angelpunkt für eine weiterreichende Analyse der Theatralität und Schaulust, der Emotionalität und Psychopathologie der Zeitgenossen. 33 So kann es nicht überraschen, dass besonders der Film von Anfang an die Melodramatik des 19. Jahrhunderts aufgreift und aktualisiert. Die Situation und Entwicklung des frühen Films ähneln in verblüffender Weise den Szenarien des Boulevard du crime, die das frühe Melodram geschaffen haben, mit der schon damals neusten Bühnentechnik zur Steigerung der Effekte. Le boulevard du crime und das Melodram im Wechsel der Medien 123 Die frühen Filme sind Ereignisse und Produkte des Boulevards, der Jahrmärkte, des Zirkus und der Music-Halls; die Anfänge des Films liegen, wie Joachim Paech gezeigt hat, „in der populären Kultur“. 34 Die ersten Filmvorführungen (und ihre Vorformen, z.B. der Laterna magica) sind Elemente der Variété- und Vaudeville-Programme, verbunden mit Zirkusnummern, Akrobatik oder Boxkämpfen. 35 Dem entsprechen auch die Inhalte und Genres des frühen Films - z.B. quasi-dokumentarische Kurzfilme, die vor allem die Schaulust befriedigen, mit militärischen Paraden, Auftritten der Prominenten, Sport-, Kriegs- und Katastrophenberichten. Gezeigt werden die Attraktionen und Sensationen der Zeit - aber schon bald finden sich direkte Übernahmen aus dem filmischen Repertoire der frühen Melodramen, des Vaudeville-Theaters und der Boulevard-Komödien. Neben den sentimentalen Liebesdramen und den „féeries“, den Märchen- und Zauberspielen (vgl. Méliès) sind auch die „drames policiers“ und Horrorgeschichten sehr beliebt. Auch in der Stummfilm-Zeit werden die musikalischen Elemente des Melodrams durch die Mitwirkung großer Orchester übernommen und verstärkt. Zur Melodramatik in den frühen Filmen und in der weiteren Filmgeschichte gibt es eine Reihe aufschlussreicher Studien, die hier zum Teil bereits angemerkt wurden, z.B. die Arbeiten von Singer, P. Brooks. Paech, Elsaesser, Kappelhoff, Seeßlen und der Sammelband von Cargnelli. 36 Überraschenderweise findet man aber nur wenige Analysen, die den Medienwechsel, die intermedialen Beziehungen und Differenzen zwischen den historischen Dramen des 19. Jahrhunderts und dem Film und Filmgenres des 20. Jahrhunderts genau untersuchen. Eine Ausnahme bildet hier Hermann Kappelhoff, der vor allem einen Aspekt hervorhebt, die „sentimentale Phantasie“, und von daher das historische Melodram und das Theater der Empfindsamkeit mit dem Kino vergleicht, dem „dunklen Raum des Kinos“ als „Dispositiv einer kulturellen Praxis, in der ‚neue‘ und ‚alte‘ Medientechnologien sich verbinden“, und als filmische „Metamorphosen empfindsamen Schauspiels“ durchschaubar werden. 37 Gute Beispiele für die Analyse des Medienwechsels und seiner Folgen bietet auch Franz-Josef Albersmeier, wobei aber die Beziehungen zwischen Theater und Film nur einen Teilbereich bilden und nur in einzelnen Fällen die Melodramatik betreffen. 38 Wenn man, wie hier angedeutet, den Boulevard du crime des frühen 19. Jahrhunderts als eine Grundlage für die Entwicklung des Theaters, des Films, des Fernsehens, der Boulevardpresse, des Radios (und vielleicht auch des Internets) ansieht, so ergeben sich methodische Fragen und Problemstellungen, die m.E. am ehesten durch intermediale Analysen lösbar sind. Es ist erstaunlich, wie wenig dieses wichtige Forschungsfeld bisher genutzt wurde. Ich möchte am Ende einen Film herausgreifen, in dem der Boulevard du crime nicht nur eine Rolle spielt, sondern zugleich auch strukturelle und ästhetische Differenzen zwischen Theater und Film, zwischen historischer Volker Roloff 124 und aktueller Melodramatik verdeutlicht: Marcel Carnés Les enfants du paradis, der noch in der Zeit der Occupation gedreht wurde und kurz danach (1945) uraufgeführt wurde. Man kann den Film mit Franz-Josef Albersmeier als Theaterfilm ansehen, der die „Medienkontamination“ in den Dienst einer „zeitgeschichtlichen Tarnung“ stellt; das Medium Theater erscheint hier als ein Medium der Verschlüsselung geheimer Botschaften, mit verdeckten Anspielungen auf das Vichy-Regime, die Occupation und Résistance, die nur das zeitgenössische Publikum durchschauen konnte: 39 „Das Theater ist nicht nur die wichtigste Inspirationsquelle für Les enfants du paradis, sondern zugleich auch deren zentrale Metapher: Auf der Bühne kollidieren Realität und Illusion und das gespielte Geschehen enthüllt eine verborgene zeitgeschichtliche Realität...“ 40 Auf der anderen Seite zeigt der Film ein möglichst genaues Bild des historischen Boulevard du crime, und er versucht gleichwohl, die Darstellung des Theaters mit filmischen Mitteln zu erweitern und aufzulösen - u.a. durch Schnitte, Spiegelungen, mises en abyme, Wechselspiele der Kamera, die zwischen dem Theater auf der Bühne, den emotionalen Reaktionen des Publikums im Theater und den Szenarien auf dem Boulevard selbst hin- und herspringt. So entsteht der Eindruck, als ob der Filmzuschauer im Theaterraum sitzt, als ob Bühnengeschehen und ‚reales‘ Rollenspiel, die Grenzen von theatraler Inszenierung und Lebenswelt aufgehoben sind. Die Figuren selbst erscheinen „als Repräsentanten theatralischer Attituden: der sentimentale Clown, der grobschlächtige Schmierenkomödiant, der tragische Held und - in der Gestalt des Lacenaire - der verhinderte Autor, der sein eigenes Leben wie ein Theaterstück inszeniert“. 41 In diesem Spiel zwischen Film, Theater und dem Geschehen auf dem Boulevard du crime geht es nicht nur, wie in vielen Theaterstücken, Filmen und Theaterfilmen, darum, das Spiel und die Intrigen vor und hinter den Kulissen aufzudecken, sondern vor allem darum, die prinzipielle Theatralität des Lebens, die Melodramatik der société du spectacle an einem ihrer Ursprungsorte, dem Boulevard, zu erfassen. So wird das historische Melodrama zu einem Modell der Autoreflexion des Mediums Film. Der Film von Marcel Carné (und dem Szenaristen Jacques Prévert) zeigt die verschiedenen Elemente der Melodramatik - Pathos, Emotionen, Verbrechen, Sensationen, den Wechsel von Glück und Unglück, Schaulust, Schadenfreude - um sie mit filmischen Mitteln zu reflektieren. 42 Der Medienwechsel führt auch hier, wie schon in einigen Theaterromanen des 19. Jahrhunderts, zu einer kritischen, ironischen Distanz, zu einer Relativierung der traditionellen schwarz/ weiß-Malerei des Melodrams, zur Desillusion, zu einer Verweigerung des Happy End. Le boulevard du crime und das Melodram im Wechsel der Medien 125 1 Cf. Walburga Hülk-Althoff/ Gregor Schuhen: „Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung“ in diesem Band. 2 Henri Murger: Scènes de la bohème, Paris, 1851. Préface. 3 Ibid. 4 Henri Murger/ Théodore Barrière: Vie de bohème. Uraufführung 1849, Théâtre des Variétés. 5 Cf. Thankmar von Münchhausen: „Boulevard du crime. Pariser Volkstheater anno dazumal“, in: FAZ, 20. November 1999, VI. 6 Cf. Hans Oechsner: „Die Straße des Verbrechens. Die Geburt des Boulevardtheaters in Frankreich“; Sendung Bayerischer Rundfunk, 12.März 1979. Zu den „optischen Sensationen“ cf. Harald Wentzlaff-Eggebert (ed.): R.-C. Guilbert de Pixerécourt, Le chien de Montargis. Der Hund von Montargis, Bamberg, 1994 (Bamberger Editionen vol. 9), 10,11. 7 Thankmar von Münchhausen, op. cit., VI. 8 Harald Wentzlaff-Eggebert, op. cit., 11sqq. 9 Charles Nodier: „Introduction“, in: Pixerécourt, Théâtre choisi, Genf, 1971, Slatkine (Reprint der Ausgabe von 1841-43), VII. 10 Ibid., VII, VIII. 11 Winfried Wehle: „Französisches Populärdrama zur Zeit des Empire und der Restauration“, in: Klaus Heitmann (ed.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, vol. 15, Europäische Romantik II, Wiesbaden, Athenaion, 153-169, 154, 155. 12 Aus: Wehle, op. cit., 164. 13 Ibid., 166. 14 Zitiert bei H. Oechsner, op. cit., 7. 15 Cf. Walburga Hülk-Althoff: „Les cris de la ville - zur Semantik und Medialität eines kulturgeschichtlichen Phänomens“ (zus. mit Franz-Josef Klein), in: RZLG, 35, H. 1/ 2, 2011, 113-134. 16 Aus: Münchhausen, op. cit. 17 Cf. Pixérécourt, Le chien de Montargis, op. cit. 18 Marcel Carné: Les enfants du paradis, Paris 1943-1945, Scénario Jacques Prévert (cf. L’Avant-scène du cinéma 72/ 73, 1967). 19 Aus: Carné, op. cit. 20 Jean-Marie Thomasseau: Le mélodrame, Paris, (Puf.) 1984, 19. 21 Cf. Wehle, op. cit., 167; sowie, am Beispiel von Hugo, Uta Felten: „Victor Hugo, Hernani (1839) und die Préface de Cromwell (1827)“, in: Friedrich Wolfzettel (ed.): 19. Jahrhundert. Drama und Novelle, Tübingen, 2001, 43-68. 22 H. Wentzlaff-Eggebert, op. cit., 9. 23 Thomasseau, op. cit., 51sqq. 24 Zum Vaudeville, das an ältere Traditionen anknüpft, cf. Lothar Matthes: Vaudeville. Untersuchungen zu Geschichte und literatursystematischem Ort einer Erfolgsgattung, Heidelberg, Carl Winter, 1983. 25 Cf. Thomasseau, op. cit., bes. 83sqq. 26 Ibid., 56. 27 Ben Singer: „Melodrama and Modernity. Early Sensational Cinema and its Contexts, New York, 2 2001.” Zitiert in Christian Cargnelli/ Michael Palm (eds.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film, Wien, 1994, 29. 28 Cf. Cargnelli/ Palm, op. cit., 15sqq. Volker Roloff 126 29 Ibid., 28sqq. 30 Ibid. 21, 22; sowie Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James. Melodrama and the Mode of Excess, New Haven, Yale Univ. Pr., 1976. 31 Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin, Vorwerk 8, 2004, 18. 32 Ibid., 17. 33 Cf. Vf.: „Theater und Roman. Anmerkungen zur Intermedialität in Romanen des 19. Jahrhunderts“, in: Wolfram Nitsch/ Bernhard Teuber (eds.): Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historische Perspektive, Tübingen, G. Narr, 2002, 307-315. 34 Joachim Paech: Literatur und Film, Stuttgart, Metzler, 1988, 1-24. 35 Ibid., 4, 5. 36 Cf. neben P. Brooks, Paech, Singer, Kappelhoff (op. cit.) Thomas Elsaesser: „Tales of Sound and Fury. Anmerkungen zum Familienmelodram”, in: Cargnelli/ Palm, op. cit., 93-130; Georg Seeßlen: Kino der Gefühle und Mythologie des Film-Melodrams, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1980. 37 Kappelhoff, op. cit., 21, 24. 38 Cf. Franz-Josef Albersmeier: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992; sowie: Theater, Film, Literatur in Spanien. Literaturgeschichte als integrierte Mediengeschichte, Berlin, Erich Schmidt, 2001. 39 Albersmeier 1992, op. cit., 231sqq. 40 Ibid., 228. 41 Günter Giesenfeld: „Kinder des Olymp“, in: Thomas Koebner (ed.): Filmklassiker. vol. I, Stuttgart, Reclam, 1995, 494-500, hier 499. 42 Dies gilt auch für weitere Filme, besonders in Frankreich, cf. Dazu Vf.: „Spielformen der Intermedialität am Beispiel französischer Theater/ Filme (Carné, Renoir, Ophüls)“, in: Beate Ochsner/ Charles Grivel (eds.): Intermediale. Kommunikative Konstellationen zwischen Medien, Tübingen, Stauffenburg, 2001, 199-218. Gregor Schuhen Vor dem Boulevard. Spektakularität und storytelling in der höfischen Kultur 1. La Cour, la ville et le boulevard Bereits vor dem massenmedial generierten Dispositiv des Boulevards, bereits vor Haussmanns revolutionierender Boulevardarchitektur gibt es eine gesellschaftliche Enklave, die, wie der Medienboulevard, auf Techniken des storytelling setzt, ja eine veritable Narrationsmaschinerie darstellt - oder mit Christian Salmon gesprochen: „une machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits“ 1 - und wie der urbane Boulevard angewiesen ist auf Visualität und die Produktion überbordender spectacular realities 2 , um diesen Begriff von Vanessa Schwartz ins Zentrum der Diskussion zu stellen. Mit der höfischen Kultur, so die Ausgangshypothese, ist einer der einflussreichsten Vorläufer boulevardesker Inszenierungs- und Organisationsformen benannt, ohne den der Versuch einer Genealogie vom Boulevard zur Boulevardisierung, der diesen Band titelgebend bestimmt, höchst unvollständig wäre. Die Präposition „vor“ im Titel meines Beitrags ist dabei sowohl temporal-historisch als auch lokal-städtebaulich zu verstehen. Historisch beziehe ich meine Überlegungen auf die buchstäblich klassischste aller höfischen Formationen, nämlich auf den Hof des Sonnenkönigs Louis XIV. Aus städtebaulicher Sicht liegt der Versailler Hof bekanntlich jenseits der Metropole Paris, die durch die Boulevards, jene bollwerkhaften Ringstraßen topographisch gerahmt ist - la Cour liegt demnach außerhalb von la Ville und damit vor den klassischen, prä-hausmannianischen Boulevards. 2. Höfische Medienkultur Der Hof von Versailles zur Zeit von Ludwig XIV. ist nicht nur ein Ort absolutistischer Machtkonzentration, Bühne der höfischen Gesellschaft und Repräsentationsfläche des Sonnenkönigs, sondern auch ein kompliziertes mediales Gefüge, das primär auf Visualität und Repräsentation ausgerichtet ist und das, so Peter Burke, „als ‚Kulisse‘ und ‚Botschaft‘ zugleich gesehen werden muß.“ 3 Zentrum und Zweck dieses medialen Dispositivs avant la lettre ist freilich die Inszenierung des Monarchen von Gottes Gnaden. Das Gregor Schuhen 128 wohlbekannte Symbol der beäugten, panoptischen Sonne dient dabei als Emblem dieser vormodernen spectacular reality. Ich möchte zunächst einige Beispiele in Erinnerung rufen, die den genuin medialen Charakter von La Cour hervorheben: Zu nennen wären die zahlreichen Gemälde im Inneren des Schlosses, allen voran diejenigen der Grande Galérie, auf denen die Heldentaten des Königs bildhaft und häufig in Form mythologischer Allegorien nacherzählt werden. Hier greifen storytelling und Spektakularität zum Zweck der royalistischen Apotheose ineinander. Die Bilder in sich sind bereits szenisch choreographiert und nebeneinander angeordnet ergeben sie die Narration der histoire du roi - „sans une bonne histoire, il n’y a ni pouvoir ni gloire“ 4 , wie Salmon weiß. Zu diesem Zweck wurden auch Reproduktionen solcher Bildserien in Form von Wandteppichen und Kupferstichen angefertigt, um die Geschichte des Königs nicht nur den happy few der höfischen Gesellschaft vor Augen zu führen, sondern auch der Öffentlichkeit jenseits der Versailler Mauern. Peter Burke schreibt dazu: „Man darf nicht vergessen, welche Bedeutung mechanisch reproduzierbaren Medien zukam. Reproduktionen verhalfen dem Bild des Königs zu noch größerer Verbreitung. Medaillen, die relativ teuer waren, wurden vielleicht in einigen hundert Exemplaren angefertigt. ‚Drucke‘ dagegen - Holzschnitte, Radierungen, Kupferstiche, Stahlstiche, […] - waren billig. Sie wurden zu Tausenden hergestellt und halfen so in hohem Maße, die Ansichten Ludwigs und Neuigkeiten über ihn zu verbreiten.“ 5 Weitaus aufwändiger in der Produktion ist eine Fülle von Reiterdenkmälern des Königs, die in den 1680er Jahren im Rahmen einer regelrechten „Statuenkampagne“ 6 in allen größeren französischen Städten zentral errichtet wurden, das größte freilich in Paris auf der Place des Victoires. Neben diesen primär zum Zwecke visueller Repräsentation eingesetzten Medien umfasst das mediale Dispositiv der höfischen Kultur zudem vormoderne manipulative Kommunikationsmedien, wie z.B. Presse, organisierten Klatsch und Gerüchtezirkulation. Periodika wie La Gazette oder der Mercure Galant, die jeweils mit Auflagen von immerhin rund 2000 Exemplaren in ganz Frankreich erschienen, berichteten ausschließlich über die Ruhmestaten des Monarchen, d.h. politische Erfolge, prunkvolle divertissements am Hofe und Rituale wie das königliche Handauflegen. In der späteren Regierungszeit, die bereits im Zeichen der Götterdämmerung stand, wurden Niederlagen schlicht ignoriert oder Nicht-Ereignisse ausführlich beschrieben. „Der Abbé Bignon (der offizielle Zensor und spätere Direktor aller französischen Akademien) formulierte es diplomatisch: ‚Veränderungen der politischen Situation können dazu führen, daß Nachrichten unterdrückt oder korrigiert werden müssen.‘“ 7 Spektakularität und storytelling in der höfischen Kultur 129 Diese Methode zielgerichteter, bisweilen propagandistischer Re-Narrativierung ist laut Salmon nicht selten fester Bestandteil öffentlichen Storytellings: „Des histoires séduisantes peuvent être tournées en mensonges ou en propagande. […] Une histoire qui procure une explication rassurante des événements peut aussi tromper en éliminant les contradictions et les complications.“ 8 Man muss jedoch deutlich darauf hinweisen, dass die Medien am Hofe noch nicht als Massenmedien zu verstehen sind; gleichwohl, soviel steht fest, bedienen sie sich bereits medialer Strategien, die im Zeitalter der Massenpresse, d.h. am Ende des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus, zur vollen Entfaltung kommen werden: Manipulation, Narration, Information, Distribution. Allerdings beschränkt sich der Empfangsbereich auf eine sehr viel kleinere Menge an Menschen, immerhin kam der Begriff der „Öffentlichkeit“ in dieser Zeit gerade erst auf, „von l’opinion du peuple ist erstmals 1715 die Rede, also im letzten Jahr der Regierungszeit.“ 9 Unbestritten aber ist, dass die Imageproduzenten Ludwigs XIV. […] einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung der öffentlichen Meinung in Frankreich [leisteten].“ 10 Eng damit verbunden ist der eher informelle Teil des höfischen Alltags, der sich vor allem des ältesten Mediums der Welt bedient, des Gerüchts bzw. des Klatschs, worauf noch ausführlicher eingegangen werden soll. Eine letzte Form medialer Inszenierung von gloire und pompe sind die bereits genannten divertissements am Hofe, jene opulenten Spektakel, in denen die Doppelbedeutung von Unterhaltung und Ablenkung untrennbar zum Tragen kommt. Ludwig ließ diese Events organisieren, um seine Höflinge einerseits durch Unterhaltung bei Laune zu halten und andererseits, um den Hofadel von seinem im eigentlichen Sinne entmachteten Status, d.h. von der Politik allgemein, abzulenken, um somit nicht zuletzt seiner ewigen Furcht vor eventuellen Aufständen mit einer aufwändig inszenierten Spektakelkultur entgegenzuwirken oder, wie es schon La Bruyère auf den Punkt bringt: „laisser le peuple s’endormir dans les fêtes, dans les spectacles.“ 11 Peter Burke schreibt dazu: „Die Feste mögen in ihrem Glanz, ihrer Prachtentfaltung und ihrem Reiz für Augen und Ohren dem modernen Fernsehen geähnelt haben, doch sie wurden für ein kleines Publikum am Hofe inszeniert.“ 12 Um das Adjektiv „klein“ etwas zu präzisieren: Am Hofe von Versailles war Platz für bis zu 20 000 Personen. Auch wenn der Spektakel-Experte Guy Debord bei seiner Abhandlung über La Société du Spectacle sicher nicht den Hof im Sinn hatte, sondern die kapitalistische, konsumversessene Spektakelkultur des 20. Jahrhunderts und damit auch den zeitgenössischen Medienboulevard, lassen sich einige seiner kritischen Ausführungen schon für die gleichermaßen spektakulär ausgerichtete Versailler Hofkultur geltend machen. So beschreibt Debord das Spektakel gleich zu Beginn seiner Thesensammlung als „objet de la seule contemplation“, als „monde de l’image autonomisé“ 13 . Debord teilt demnach zunächst mit Vanessa Gregor Schuhen 130 Schwartz‘ Konzept der „spectacular reality“ das Vorherrschen des visuellen Regimes und damit den oberflächlichen, konsumorientierten Charakter des Spektakels. In seiner sechsten These geht er noch einen Schritt weiter: „Il [i.e. Le spectacle] est le cœur de l’irréalisme de la société réelle. Sous toutes ses formes particulières, information ou propagande, publicité ou consommation directe de divertissements, le spectacle constitue le modèle présent de la vie socialement dominante. […] Le spectacle est aussi la présence permanente.“ 14 Das Spektakel wäre damit ein mediales Hybridformat, das konsequent die Kontamination von Information und Propaganda, Werbung und Unterhaltung, Konsum und Zerstreuung vollzieht. Diese knappe Skizze umschreibt nicht nur den medialen Nukleus moderner Spektakelkultur und die bereits dargestellte Struktur von Ludwigs höfischer société des plaisirs, sondern nimmt auch ganz konkret eine Kategorisierung des Medienboulevards vorweg, der mit denselben Strategien der Kontamination operiert. Einschränkend wäre freilich hinzuzufügen, dass für den Boulevard konstitutiv noch die Permeabilisierung von Öffentlichkeit und Privatheit hinzukommt, was man für den Hof so nicht veranschlagen kann, da Privatheit als soziale Kategorie im panoptischen Theater-Staat des Sonnenkönigs keine Rolle spielt: alles ist öffentlich. Als letzter Punkt ist zu nennen, dass die kollektiv-performativen Vergnügungen, zu denen die Höflinge wohlgemerkt verpflichtet waren, dazu dienten, Begehren und Begehrlichkeiten hervorzurufen und zirkulieren zu lassen. Doris Kolesch schreibt dazu: „In den […] Praktiken höfischer Feste […] zirkulieren Energien und Intensitäten, werden affektive Relationen des Begehrens hergestellt und ausgestellt, die dann wiederum als Stimmung, Hoffnung, Leidenschaft oder Sorge diskursiviert […] werden können. […] Für den König stellt die Inszenierung von Vergnügungen für seine […] Höflinge und die damit verbundene Generierung von Begehrensstrukturen die fundamentale Matrix dar, um die höfischen Menschen in Konkurrenz untereinander und in enger Abhängigkeit von ihm selbst zu halten.“ 15 Dass die Generierung von Begehren, die emotionale Affizierung des Publikums für den Erfolg des Boulevardformats von unverzichtbarer Wichtigkeit ist, erklärt sich von selbst - die medialen Kriegskünste, d.h. Manipulation und Suggestion, Unterhaltung und Vergnügen, Information und bewusste Des-Information, Narrativierung und Fiktionalisierung, sind jedoch - das beweisen die Ausführungen zur höfischen Medienkultur - älter als es gemeinhin den Anschein hat. 3. Der Hof als Bühne/ Die Bühne als Hof: Literatur im Theater- Staat Die Literatur zur Zeit des Regimes von Ludwig XIV. ist fest in die absolutistischen Strukturen der höfischen Gesellschaft eingebunden, ja man kann Spektakularität und storytelling in der höfischen Kultur 131 vielleicht sagen, dass nie zuvor und auch nie wieder danach die Literaturproduktion so tief im kulturpolitischen System einer Gesellschaft und Epoche verankert war wie zur Zeit der französischen Klassik. Man denke nur an die staatlichen Institutionen, allen voran die gerade erst gegründete Académie Française, welche die Literaturproduktion monopolistisch überwachte; man denke an die rigide Sprachpolitik, die massiv in das literarische Feld eingriff, an die zentralistische Zensur oder das königlich geförderte Mäzenatentum, um nur einige bekannte Punkte zu nennen. Bei der Literatur der französischen Klassik denkt man freilich zuallererst an das Theater, an die großen Namen wie Racine, Molière oder Corneille. Es gehört zu den Allgemeinplätzen der französischen Literaturgeschichtsschreibung, dass die französische Klassik die Blütezeit des Theaters war, da die herrschende Gattungshierarchie im Rekurs auf antike Regelpoetiken dem Drama die höchste Stellung beimaß. Insbesondere die Tragödien, deren Aufführungen einen festen Bestandteil innerhalb der höfischen divertissements bildeten, waren bekanntlich darauf angelegt, als Repräsentationsmedium das höfische Publikum zu unterhalten und gleichzeitig über die Gefahr überschäumender passions zu belehren - prodesse et delectare. Repräsentation meint hier aber auch den medialen Stellenwert der Kunstform Theater im Theater-Staat, d.h. eine mediale Mise-en-abyme höfischen Lebens mit dem Ziel, als „notwendiges Korrektiv der Wirklichkeit“ 16 im Zeichen der vraisemblance zu dienen. Dies konnte nicht zuletzt gewährleistet werden durch die programmatische Erweiterung der aristotelischen zwei Einheiten von Zeit und Handlung um die unité du lieu, wie es u.a. Chapelain und Boileau in ihren poetologischen Traktaten forderten. Durch die unité de lieu konnte sichergestellt werden, dass der Hof als einzig mögliches Setting den Repräsentationscharakter der Stücke um einiges anhob. Bei Racine sind die Schauplätze seiner Tragödien oft so genannte „anti-chambres“, d.h. Schwellenräume an der „Schnittstelle von Öffentlichkeit und Privatheit“ 17 , so z.B. in Bérénice und Phèdre. Diese hybriden Orte, möglicherweise eine höfische Vorform identitätsloser non-lieux 18 , sind bei Racine Sphären des Durchgangs, die es einerseits ermöglichen, die herrschende Ständeklausel plausibel zu umgehen und andererseits die Menschen in diesem höfischen backstage-Bereich in ihrem Kampf gegen die Dämonen ihrer Leidenschaften zu zeigen, ein Kampf, den in den offiziellen chambres du Roi zu präsentieren den Regeln der bienséance zuwiderlaufen würde. Auf diese Weise werden diese Orte aber auch unbestimmt, geradezu virtuell und damit trotz oder gerade aufgrund der Identitätslosigkeit zu Projektionsräumen des höfischen Publikums. Diese antichambres sind bei Racine aber auch diskursive Schnittstellen, an denen öffentliche und private Diskurspraxis sich kreuzen und die „mise en discours des passions“ so zum „erregende[n] Gesellschaftsspiel“ machen, „in das jedes Mitglied dieser Gesellschaft mit seinen Affekten verstrickt ist und das ständig auf die […] Grenzsituation hintreibt, in der sich Leidenschaft Gregor Schuhen 132 enthüllt. So birgt diese Diskurspraxis ein hohes Kommunikationsrisiko.“ 19 Um es auf einen Punkt herunter zu brechen: Diese Grenz-Orte sind Kulminationsorte höfischer Klatschkultur, veritable Gerüchte-Küchen und somit halböffentliche Brutstätten höfischen storytellings. Werfen wir, um das zu überprüfen, einen Blick auf das Setting und damit das kommunikativ-mediale Dispositiv von Racines Phèdre: Die komplette Handlung vollzieht sich in einer Vorhalle des Palastes von Trézène, einem Durchgangsraum von Personen, Diskursen, Begehren, Blicken. „Die einen [i.e. Phèdre und Aricie]“, so Karl August Ott, „sind an den Ort gefesselt, weil sie gefangen gehalten werden, und die anderen [i.e. Hippolyte] sind es in gleichem Maße, um ihre Gefangenen zu überwachen.“ 20 Die Figuren sind stets den Blicken der Anderen ausgesetzt oder stehen zumindest in Gefahr, beobachtet oder belauscht zu werden. Auch wenn der König zu Beginn des Dramas abwesend ist, bleibt sein panoptischer Blick doch omnipräsent und zwingt die Protagonisten zur Aufrechterhaltung der höfischen Fassade. Das ändert sich mit dem ersten Gerücht des Stückes, das den Heldentod des Königs verkündet. Von diesem Zeitpunkt an ist die höfische Vorhalle in Phèdre Regierungssitz der Klatschgöttin Fama, jener „gefiederten Bestie mit zahlreichen Augen, Zungen und Ohren.“ 21 Bei Ovid ist Famas Wohnort „ein Tag und Nacht offen stehender Palast ohne Türen, der durch einen regen Personenverkehr und einen ebenso regen Informationsaustausch bestimmt wird“ 22 - diese Beschreibung trifft nicht nur Racines dramaturgische Topographie, sondern liest sich gleichermaßen wie eine typische Beschreibung des modernen Boulevards. Aus kommunikationstheoretischer Sicht sind Gerüchte unbestätigte Informationen über ein Ereignis oder eine Person. Sie bedienen sich „seit alters her des Hörensagens, also mündlicher Kommunikation, als einer Form öffentlicher Kommunikation, ohne genaue Kenntnis der Quelle.“ 23 Gerüchte sind aber auch, um einen Ausdruck Brigitte Weingarts zu zitieren, „ansteckende Wörter“ 24 , virale Diskursfäden, die einen Organismus, in diesem Fall die öffentliche Meinung, schrittweise zu kontaminieren drohen. So auch in Phèdre: Panope, eine Dienerin Phèdres und damit Vertreterin des dritten Standes, enthüllt die „triste nouvelle“ 25 von Theseus Tod. Dadurch fühlt sich Phèdre, unterstützt von ihrer Dienerin Œnone, dazu ermuntert, ihrem Stiefsohn Hippolyte ihre heimliche Liebe zu offenbaren, der wiederum Aricie, Theseus verfeindeter Gefangener, seine Gefühle gesteht. Die ansteckende Rede ‚Le roi est mort‘ setzt somit einen Schub fataler aveux und weiterer folgenschwerer Gerüchte und Intrigen in Gange - vor allem Phädras infame Verleumdung, Hippolyte habe sie vergewaltigt - mit der durchaus ironischen Schlusspointe, dass am Ende des Stückes nahezu alle Protagonisten tot sind außer dem König. Wie immer bei Gerüchten lässt sich auch hier nicht der genaue Ursprung der fatalen Todesnachricht ermitteln - sehr wohl lässt sich aber immerhin feststellen, dass sie aus dem Volke stammt - jener Gruppe, die in den klassi- Spektakularität und storytelling in der höfischen Kultur 133 schen Tragödien als dramatis personae diskursiv-ästhetisch ausgeschlossen ist. Durch das Gerücht aber und dessen Übertragung durch Boten aus dem Volk erhält le peuple indirekten Einfluss auf das Geschehen, wie auch Albrecht Koschorke analog für das Barockdrama des 17. Jahrhunderts formuliert: „Die Figur, mittels derer das Volk in das nominelle Machtzentrum des Staates einzudringen und […] repräsentiert zu werden vermag, ist das Gerücht.“ 26 Diese Feststellung lässt sich, wie gesehen, für Phèdre einwandfrei nachweisen, aber auch in ähnlicher Weise für Bérénice. Dadurch freilich wird die Souveränität des Monarchen empfindlich geschwächt, die Gerüchte enthüllen somit ihren handlungstragenden, d.h. performativen Charakter. Bereits in den 1960er Jahren schreibt Roland Barthes über den Stil Racines: „Voici peut-être la clef de la tragédie raciniènne: parler c’est faire.“ 27 Dies gilt in besonderem Maße für den Charakter der Gerüchte, die allesamt Volkes Stimme repräsentieren - auch Phädras infame Insinuation wird ihr bezeichnenderweise von ihrer Dienerin ins Ohr geflüstert - damit wird der Konnex von Unmoral und Gerücht von der monarchischen Kaste in die Sphäre des Volkes abgeschoben, wie auch Racine in seiner Préface explizit hervorhebt: „Cette bassesse m’a paru plus convenable à une nourrice.“ 28 Auch wenn Racine mit dieser moralischen Verlautbarung das Gebot der Ständeklausel wahrt, entfaltet er doch unter der Hand dessen subversives Potenzial, indem er die Souveränität der absolutistischen Herrschaft durch Volkes Stimme erheblich in Gefahr bringt, vor allem auch durch die Abwesenheit Theseus während der ersten Hälfte des Stückes, in der sich gleichsam die Klatschgöttin Fama seines Throns bemächtigt; in ihr sieht Georg Stanitzek eine „frühe Allegorie der Autonomie der Kommunikation“ 29 , was für den gegebenen Kontext nur allzu plausibel erscheint: Die mediale Kommunikation auf der Basis von Gerüchten hat längst eine rasante Eigendynamik entwickelt. Nach der Rückkehr des Königs ist es bereits zu spät, die epidemische Gerüchtekette aufzuhalten, wie auch Jürgen Brokoff weiß: „Das Ohr des Machthabers ist auf das Gemisch der ihm zugetragenen Informationen, Nachrichten und Gerüchte angewiesen und vermag diese nicht zu unterscheiden.“ 30 Die Kontamination und damit Nicht-Unterscheidbarkeit von Nachricht und Gerücht, von gesicherter und informeller Information, letztlich auch von Geständniszwang und Verstellung, die auch heute noch das Dispositiv des Boulevards und dessen Attraktivität kennzeichnet, bestimmt bereits die medial-kommunikative Konfiguration des höfischen Lebens, wovon auch andere Texte Zeugnis ablegen, so z.B. La Princesse de Clèves, wo über Seiten hinweg Gerüchte-Zirkulationen, informelle höfische Diskurspraxis und deren Gefahren narrativiert werden. Aber auch die zirkulierenden Themen wie Ehebruch, Inzest, Eifersucht, Mord und Totschlag - und das wohlgemerkt in einem höfischen Kontext! - gehören bis heute zum unverzichtbaren Kapital des Boulevardsektors. Daher handelt es sich, wenn man das Gerücht mit Jean-Noël Kapferer als „ältestes Massenmedium der Welt“ 31 Gregor Schuhen 134 versteht, bei diesen klassischen Texten auch - wenn man so will - um eine frühe Form von Medien- und Kulturkritik, „um die Malaisen des sozialen Körpers [zu] veranschaulichen.“ 32 4. Epilog: Phädra auf dem Boulevard: Sarah Kanes Phaedra’s Love (1996) Zum Schluss möchte ich mithilfe eines Zeitsprungs von immerhin rund 320 Jahren auf eine postmoderne Variation des Phädra-Stoffes aus dem Jahr 1996 zu sprechen kommen, die zunächst in London, dann auf den Bühnen der Welt für einiges Aufsehen gesorgt hat. Es handelt sich um das Stück Phaedra’s Love der damals jungen britischen Autorin Sarah Kane, die sich 1999 im Alter von 28 Jahren das Leben nahm, nachdem sie insgesamt fünf Stücke geschrieben hatte. Phaedra’s Love ist das zweite und einzige, das sich einen wohlbekannten Stoff einverleibt. Interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem, dass Kane unter Beibehaltung der personalen Konfiguration und des höfischen Settings, den Stoff in eine anonyme Gegenwart transponiert und dadurch die Möglichkeit eröffnet, die bereits bei Racine latent angelegte Medien- und Kulturkritik zur vollen Entfaltung zu bringen. So haben wir eine marode, degenerierte Königsfamilie, in deren Zentrum der Kleinkrieg zwischen Phaidra, der vermeintlichen Witwe, und ihrem verzogenen Stiefsohn Hippolytos steht. Kane entschlackt das klassische Handlungsgerüst erheblich - ihre Version umfasst lediglich 40 gedruckte Seiten - und konzentriert sich auf die Hauptthemen Sexualität, Gewalt, emotionale Abhängigkeit und Sterilität - allesamt Facetten des titelgebenden Liebesthemas. Man könnte sagen, dass Kanes drastische Anverwandlung des antiken Stoffes die konsequente Reduktion der Fabel auf ihre Grundelemente darstellt. Auch wenn Racine meisterhaft die Regeln der bienséance einzuhalten verstand, ging es doch schon bei ihm letztlich um nichts anderes, nämlich um sex and crime. Kane nun entledigt sich dieses rhetorisch-moralischen Korsetts und lässt den Leidenschaften ihrer Protagonisten freien Lauf, was mit der expliziten Darstellung extremer Sex- und Gewaltszenen auf der Bühne einhergeht. Der Fokus liegt deutlich auf Hippolytos: Der verzogene Prinz will sein unversehrtes Selbst mit aller Macht bewahren. Gefühle, insbesondere Liebe, und Abhängigkeiten aller Art stellen eine unerträgliche Bedrohung für ihn dar. Sein unkontrollierbarer Sexualtrieb muss sich in Masturbation oder der Herabsetzung seiner Sexualpartner zu Objekten artikulieren. Phaidra, seine Stiefmutter, ist in ihren Sohn verliebt. Mit aller Macht gibt sie sich der Unmöglichkeit ihres Begehrens hin, will sich darin verlieren. Sie ist so Hippolytos Gegenpol im Wechselspiel zweier einander bedingender Impulse: Die völlige Unmöglichkeit, in einem dieser Gefühlszustände zu überleben, der totalen Selbstaufgabe oder dem totalen Selbster- Spektakularität und storytelling in der höfischen Kultur 135 halt, ist die Folie für die Entwicklung Phaidras. Von Hippolytos missbraucht, gipfelt ihre Selbstzerstörung im Selbstmord. Hippolytos, der öffentlich der Vergewaltigung seiner Mutter bezichtigt wird, lehnt es ab, sich zu verteidigen, und wird vom Mob zerfleischt. Emotional bleibt er intakt, wie sein sarkastischer Schlusssatz zeigt - trotz seines zerstückelten Körpers, der in Fragmenten um ihn liegt. Dieser Schlusssatz des abgestumpften Fernseh- und Boulevardjunkies lautet: „Hätte es doch nur mehr Momente wie diesen gegeben! “ 33 Es ist vor allem diese Schlussszene, die den Stoff endgültig dorthin bringt, wo er möglicherweise immer schon war: auf den Boulevard. Wir befinden uns auf der Straße vor einem Gerichtsgebäude. Vorm Eingang steht eine aufgewühlte Menge und wartet auf den prominenten Angeklagten - Szenen wie diese flottieren tagtäglich über sämtliche Bildschirme, Gerichtsreporter gehören seit jeher zum festen Inventar der Boulevardberichterstattung, Verfahren werden zu öffentlichen Spektakeln - ein Paradebeispiel für das Ineinandergreifen von Spektakularität und Storytelling. Kane überzeichnet diese Szene, die vielleicht nicht zufällig auch an das Ende von Büchners Dantons Tod erinnert. Als der Angeklagte, jener ehemals vom Boulevard gefeierte Prinz, die Bühne betritt, fordert der Mob seinen Tod und zerstückelt ihn schließlich - der Boulevard frisst seine eigenen Kinder könnte man sagen, ‚le boulevard mange ses enfants‘. In diesem Sinne liest sich dieses Ende als Parabel von der selbstreferentiellen Macht des Boulevards, man könnte auch erneut von Famas Autonomie sprechen, da sich das massenmediale System längst verselbständigt hat. So gesehen erscheint Hippolytos am Ende gleichsam als Märtyrergestalt, die von den chipsessenden Boulevardkonsumenten zerfleischt wird - im klassischen Drama übernahmen diese Aufgabe noch die Götter und deren Gehilfen - deutlicher kann man wohl Autonomie und Macht des Boulevards kaum in Szene setzen. 1 Christian Salmon: Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits, Paris, Ed. La Découverte, 2008. 2 Vanessa Schwartz: Spectacular realities. Early mass culture in Fin-de-Siecle Paris, Berkeley, Univ. of California Press, 2001. 3 Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin, Wagenbach, 2 2005, 9. 4 Salmon, op. cit., 9. 5 Burke, op. cit., 28. 6 Ibid., 118. 7 Zitiert nach ibid., 153. 8 Salmon, op. cit., 11. Gregor Schuhen 136 9 Burke, op. cit., 184. 10 Ibid. 11 Jean de La Bruyère: Les Caractères, Paris, Le Club français du livre, 1960, 239. 12 Burke, op. cit., 183. 13 Guy Debord: La Société du Spectacle, Paris, Ed. Gallimard, 3 1992, 15. 14 Ibid., 17. 15 Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Politik und Ästhetik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt/ New York, Campus, 2006, 66, 99. 16 Henning Krauß et al.: „Einführung“, in: H.K. et al.: Französische Literatur. 17. Jahrhundert. Theater, Tübingen, Stauffenburg, 2003, 1-34, 18. 17 Henning Krauß: „Jean Racine: Phèdre (1677)“, in: ibid., 245-176, 251. 18 Cf. dazu Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M., Fischer, 1994. 19 Wolfgang Matzat: „Affektrepräsentation im klassischen Diskurs: La Princesse de Clèves“, in: Fritz Nies/ Karlheinz Stierle (eds.): Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei, München, Fink, 1985, 231-266, 257. 20 Karl August Ott: „Über die Bedeutung des Ortes im Drama von Corneille und Racine“, in: GRM, 11, 1961, 341-265, 361. 21 Christian Schuldt: Klatsch! Vom Geschwätz im Dorf zum Gezwitscher im Netz, Frankfurt a.M., Insel, 2009, 10. 22 Jürgen Brokoff: „Fama: Gerücht und Form“, in: J.B. et al. (eds.): Die Kommunikation der Gerüchte, Göttingen, Wallstein, 2008, 17-23, 20. 23 Manfred Bruhn/ Werner Wunderlich: „Vorwort“, in: M.B./ W.W. (eds.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern, Haupt, 2004, 7-8, 7. 24 Cf. Brigitte Weingart: Ansteckende Wörter. Repräsentationen von AIDS, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2002. 25 Jean Racine: „Phèdre et Hippolyte“, in: J.R.: Œuvres complètes, vol. 1: Théâtre - Poésie, Georges Forestier (ed.), Paris, Ed. de La Pléiade, 1999, 821-876, 832. 26 Cf. Albrecht Koschorke: „Das Volk als Gerücht. Zur Labilität souveräner Herrschaft im Barockdrama“, in: Brokoff et al. (eds.): op. cit., 68-78, 75sqq. 27 Roland Barthes: Sur Racine, Paris, Seuil, 1976, 248. 28 Racine: op. cit., 817. 29 Georg Stanitzek: „Fama/ Musenkette. Zwei klassische Probleme der Literaturwissenschaft mit den Medien“, in: G.St./ Wilhelm Voßkamp (eds.): Schnittstelle. Medien und Kommunikation, Köln, DuMont, 2001, 135-150, 138. 30 Brokoff, op. cit., 21. 31 Cf. Jean-Noël Kapferer: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt, Leipzig, Kiepenheuer, 1996. 32 Brigitte Weingart: „Kommunikation, Kontamination und epidemische Ausbreitung“, in: Brokoff et al. (eds.): op. cit., 241-251, 242. 33 Sarah Kane: „Phaidras Liebe“, in: S.K.: Sämtliche Stücke, C. Brocher/ N. Tabert (eds.), Reinbek, Rowohlt, 7 2008, 77-116, 116. Georg Stanitzek Bohème - Boulevard - Stil: Kommentar zu einem flickr-Bild von Rainald Goetz Abb. 1: Holger Schulze (©): „Rainald Goetz, Klage feiert Abschied. Textaktion [21. Juni 2008, 23 Uhr] — Bild I“ Wie kann man gegenwärtig über die Bohème sprechen, und was ist ihr Stellenwert in der Gegenwart? Unlängst haben zum Beispiel Luc Boltanski und Ève Chiapello die Absorption der Achtundsechziger- und Nachachtundsechziger-Bohème in die zeitgenössische kapitalistische Kultur behauptet, und Bruno Latour hat sich ihnen angeschlossen. 1 In der deutschen Forschung bietet ein besonders sinnfälliges Beispiel für die Ausrufung eines Endes der Bohème der im Übrigen kunsthistorisch instruktive „Boheme“-Arti- Georg Stanitzek 138 kel, der im Jahr 2000 im Handwörterbuch Ästhetische Grundbegriffe erschienen ist. Wurden doch darin der Bohème ihre gegenwärtige Existenz und ihre Zukunft überhaupt abgestritten. 2 Das schloss an Thesen an wie die, dass traditionelle Bohème-Formationen inzwischen in eine Art Massenbohème aufgegangen seien, die sich im Zusammenhang der Jugend- und Pop-Kulturen seit den 1960er Jahren entwickelt habe. 3 Selten dürfte sich eine steile Gegenwartsdiagnose so postwendend erledigt haben. Wurde sie doch ganz rasch von der Ausrufung einer sogenannten ‚digitalen Bohème‘ gefolgt, die seither in den bundesrepublikanischen Feuilletons von sich reden macht. Die These, mit etwas gehe oder sei es zu Ende, ist allerdings im literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurs umso verführerischer, als dieser damit konventionell jener Abgeschlossenheit habhaft zu werden glaubt, die einem Gegenstand vorzüglich seine Erforschbarkeit sichert. Statt sich über die zitierte These vom Ende der Bohème zu mokieren, wäre daher vorzuschlagen, das Scheitern dieser These im Zusammenhang mit einem prinzipiellen Problem der Erkennbarkeit zu sehen. Dabei handelt es sich nicht nur um ein Problem aller Gegenwartsforschung, wie es Erwin Panofsky prägnant auf den Punkt gebracht hat: „Es gibt nichts, was weniger wirklich wäre als die Gegenwart.“ 4 Vielmehr scheint dieses Problem für die Bohème insonderheit gegeben. „Kapitalismus ermöglicht Boheme immer wieder da aufs Neue, wo er den Reichtum und die Armut, die er produziert, nicht auseinanderhalten kann“, hat es Diedrich Diederichsen formuliert 5 und damit den uneindeutigen, irrlichternden Charakter des Phänomens bezeichnet. Insofern sollte man auch umgekehrt vorsichtig sein und nicht etwa die vor einigen Jahren von der Zentralen Intelligenz-Agentur (ZIA) um Kathrin Passig und andere ins Leben gerufene „digitale Bohème“ 6 schlicht beim Wort und für bare Münze nehmen. Wenn man sie einfach als ein variierendes Segment des berlin-touristischen Zoos auffasste, verpasste man die mit dem Begriff vorgesehene Pointe. Denn immerhin würde man eine solche Bohème - eben als in starkem Sinn ‚digitale‘ - nicht mehr so umstandslos verorten können, wie es bis dato für Bohèmekulturen als städtische oder in der Folge auch stadtflüchtig-ländliche Versammlung von alternativen Lebenszusammenhängen typisch war. 7 Und wäre die digitale dann noch eine Bohème, entspräche sie noch ihrem Begriff, oder müsste man von einer Metapher sprechen? Dies muss dahingestellt bleiben, weder die Behauptung der Abgeschlossenheit einer ‚Epoche der Bohème‘ noch eine neue Definition stehen auf der Agenda. Zugrundezulegen ist weiterhin die Definition von Helmut Kreuzer, dessen 1968er Buch für die deutschsprachige Bohèmeforschung initial gewirkt hat: „Gegenbürgerliche Subkultur des künstlerisch-intellektuellen Lebens.“ 8 Es sollte sich verstehen, dass es sich dabei um eine Art Funktionsgleichung handelt; die einzusetzenden Größen wollen genau - und das heißt nicht zuletzt historisch spezifisch - bedacht sein. Eine gewisse Unsicherheit, Bohème - Boulevard - Stil 139 mit welchen Größen hier gegenwärtig zu rechnen ist, ist einfach anzuerkennen und mitzureflektieren. Zu überdenken wäre aber das Verhältnis der beiden Seiten, die Kreuzer nennt, wenn er die künstlerische oder intellektuelle Bohème einer Bürgerlichkeit entgegensetzt. Er vollzieht hiermit gewiss nach, was sich an Bohèmekulturen rekurrent beobachten lässt: ihre identitätsstiftende Abgrenzung von einer ‚bourgeoisen‘ oder ‚philiströsen‘ Kultur. 9 Das Verhältnis zwischen den opponierenden Relata bedürfte genauerer Reflexion - und zwar als Interaktionsverhältnis. Denn die Unterscheidung wird keineswegs naiv gesetzt und getroffen. Mögen solche naiven Motive auch in sie eingehen und unaufgebbar sein, so nimmt die Unterscheidung doch sehr rasch den Charakter einer ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ an, und zwar auf beiden Seiten. Man kennt das Spiel, wenn man in es eintritt, kennt auch seine historischen Varianten, insofern gibt es auf beiden Seiten reflexive, nämlich Erwartungserwartungen. Die Affronts der Bohème selber philiströs zu nennen, dürfte insofern zu kurz greifen, 10 denn ein solcher Zug gehört selbst zum genannten Spiel. Es handelt sich immer schon um einen Interaktionszusammenhang, und es gilt, seinen Charakter genauer zu bestimmen. Insbesondere die Kreuzers Studie dankbar folgende große Arbeit von Jerrold Seigel, Bohemian Paris, legt es methodisch nah, die oppositionell-abweichende Bohèmekultur in ihren Rückbezügen zur normativ-herrschenden Kultur differenziert zu erforschen. 11 Hierzu aus literaturwissenschaftlicher Perspektive beizutragen, könnte eine Engführung von Boulevard- und Bohèmeforschung geeignet sein. Im Ansatz findet sie sich als kritische Diagnose zur Pariser Bohème des 19. Jahrhunderts - „Aufkommen der Boulevardpresse“, „Assimilierung der Literaten an die Gesellschaft […] auf dem Boulevard“ - bereits bei Walter Benjamin. 12 Dies ist ein strukturelles Argument, dessen Bedeutung sich keineswegs auf die bei Benjamin gegebenen raumzeitlichen Koordinaten beschränkt, sondern seither - und bis in die Gegenwart - behauptet werden kann. Die genauere Beobachtung der Bohème auf und gegenüber dem Boulevard erscheint auch deshalb attraktiv, weil sie es erlaubt, einige heikle, nicht zuletzt methodische Probleme zu beantworten, wie sie für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete literaturwissenschaftliche Erforschung der Bohème gegeben sind. Um nur stichwortweise einige der in der Bohèmeforschung der letzten Jahrzehnte oft zu beobachtenden problematischen Züge zu nennen: Ausrichtung auf pittoreske, nicht selten heroisch eingefärbte Biographismen, ‚inhaltistische‘ Paraphrasen- und Anekdotenorientierung - oder, um es mit einem Wort zu sagen: Textferne. Zur Sache, zum ‚Text‘, einem kleinen Epitext. Um nämlich die Probe aufs Exempel zu machen, soll als Ausgangspunkt ein Bild dienen, das sich auf Flickr im Netz findet (Abb. 1: Holger Schulze: „Rainald Goetz, Klage feiert Abschied. Textaktion [21. Juni 2008, 23 Uhr] - Bild I“). Es ist ein Schnapp- Georg Stanitzek 140 schuss aus dem Sommer 2008, eine Party in Berlin am 21. Juni, ihre Eröffnung. Eine Szene ‚aus dem Leben der Bohème‘? Man sollte vorsichtig sein, lassen wir es offen. Ganz bestimmt handelt es sich um eine salopp wirkende, mit diesem Schnappschuss wohl unvorteilhaft ausgeleuchtete, aber doch zugleich um eine sorgfältig inszenierte Szene, eine Inszenierung à la bohème. Ort ist das Atelier einer Malerin, links sieht man Farbe und Pinsel, darüber einen Albert Oehlen-Katalog. Dies für die Veranstaltung einer Jugendkultur zu halten, wäre ein Missverständnis. Der auf dem von jungen Frauen umringten Tisch steht, ist ein Mann von fünfzig Jahren, ein Autor, der auf eine fünfundzwanzigjährige Erfolgskarriere zurückblicken kann, als Suhrkamp- Autor. Zelebriert wird hier ein bestimmter Moment in dieser Karriere. Im Sommer 2008 hat Rainald Goetz ein Experiment abgeschlossen, das darin bestanden hat, anderthalb Jahre zur Zeitschrift Vanity Fair einen kolumnenartigen Blog beizusteuern. Ein immerhin etwas ungewöhnlicher literarischer Publikationsort, ein People-Magazin, das man dem Boulevard zurechnen kann, wohl als dessen ‚gehobene‘ Variante. Die Arbeit am Blog ist eingestellt, die Party, zu der über den Blog eingeladen wurde, markiert dies als Abschlussparty. Gleich wird getanzt werden. Vorher aber steigt der Autor auf den Tisch, um einige rhapsodische Bemerkungen loszuwerden. Insofern gehört Text zu diesem Bild. Ihn zu zitieren ist einfacher, als man vermuten könnte. Denn in allen großen Feuilletons der Republik wird am übernächsten Tag darüber berichtet und aus diesem Text zitiert werden. Am besten, am raffiniertesten und schönsten in einem Zeitungsartikel von Detlef Kuhlbrodt. Kuhlbrodt nämlich hat die Goetz’sche Rede selbst gar nicht mitbekommen; er gibt den Text daher in indirekter Rede wieder: „Das Fest im Atelier der Künstlerin Anne Neukamp hatte begonnen, während das EM-Spiel zwischen Russland und den Niederlanden noch lief. So war die kurze Textaktion schon zu Ende, als ich das Atelier im vierten Stock eines Gebäudes in der Oranienstraße betrat.“ - „Alles war supervoll und schwül in dem Raum, so dass man gleich anfing zu schwitzen. Alles sei völlig chaotisch und großartig gewesen, berichtete C. Rainald Goetz hätte nach einleitenden Sätzen, in denen er das Internet gefeiert habe, Positionen klargemacht. Er hätte sich gegen Benjamin von Stuckrad-Barre, den ehemaligen taz-Autor und jetzigen BZ-Schreiber, gewandt, der neulich in Cicero über die taz hergezogen war und den Goetz früher sehr mochte.“ (Der hier verwendete Konjunktiv II gibt dem Bericht den touch einer gewissen Unwahrscheinlichkeit; ‚man möchte es kaum glauben…‘) - „Dann sei es um einen Satz von Frank Schirrmacher gegangen, in dem der Dichter all das versammelt gefunden hatte, wogegen sich sein ganzes Schreiben und Sein richte. Eine furchtbare Feistheit des Denkens.“ - „Die Musik war sehr schön und aus unterschiedlichen Zeiten. Die Stimmung war superangenehm. […] Wir tanzten zu David Bowies ‚Lets Dance‘“. 13 Zum raffiniert Reflektierten an Kuhlbrodts Beschreibung gehört, Bohème - Boulevard - Stil 141 dass sie sich schon von ihrer Form her als dem Ereignis dieser „Textaktion“ eigene Dimension herausstellt: dass sie sich selber darbietet als fürs Hörensagen bestimmt, als weiterzuerzählende Anekdote. In diesem Bericht funktioniert sie eben bereits ganz akut entsprechend, schon ist sie Moment der Partykonversation geworden. Was wird aber in dieser Form kommuniziert, was hat Goetz gesagt, welche „Positionen klargemacht“? Was die Aussage über den „ehemaligen taz- Autor und jetzigen BZ-Schreiber“ v. Stuckrad-Barre angeht, der hier ad personam bezogen auf eine seiner damals letzten Publikationen coram publico verurteilt wird, so wird sie in der Süddeutschen Zeitung wörtlich zitiert: Goetz „springt wieder vom Tisch, seufzt etwas verloren ‚jo‘, greift zu einer Ausgabe des Magazins Cicero, in der wohl ein Interview mit Benjamin von Stuckrad-Barre stehen muss, und als er wieder oben steht, sagt er: ‚Der alte Stuckrad-Barre hätte sich früher mit mir hier über dies Interview lustig gemacht.‘“ 14 Das Genre ist Absage, gegenüber einem Autor der jüngeren Generation, hier wird einem Freund die Freundschaft gekündigt, 15 das ist die Geste. Um sie besser zu verstehen, muss man aber eigentlich das Interview, das v. Stuckrad-Barre der Zeitschrift Cicero gegeben hat, schon kennen. ‚B.Z.- Schreiber‘ heißt ja Autor im Springerverlag, und das Interview ist eine Apologie dieses Verlags, unter anderem mit dem Argument: „Ich habe einige Jahre für die taz geschrieben und erleben dürfen, wie die in der Redaktion miteinander umgehen, wie selbstgewiss die denken und schreiben, wie schlecht sie Zeitung machen, sich dabei über den Boulevard erheben, das ist widerlicher als alles, was in Bild und Bunte steht.“ 16 In der ausführlichen Online-Version des Interviews geht er noch etwas weiter: „Ich profitiere gern davon, wie der Boulevard das macht: Übertreibung, Zuspitzung, Drastik. So arbeitet jedes Feuilleton, zumindest probieren sie es. Bei der B.Z. ist es einfach die unverheuchelte Variante.“ Dies als Antwort auf die Frage: „Kann man in einer Boulevard-Zeitung gut schreiben, als Dichter? “ 17 Hier liegt der unmittelbare Anlass für die Goetz’sche Einlassung im Party-Übergang vom Klage-Blog zum Klage-Buch. In diesem Buch, Klage, erfährt man mehr. Besonders v. Stuckrad-Barres Inszenierung seiner Kokainsuchtkrankheit - vor der Prominentenkamera von Herlinde Koelbl 18 - wird sarkastisch kommentiert und schließlich der Autor in seiner tristesse-royale-‚popliterarischen‘ Modebewusstheit etwas abfällig als „von seiner Weste selbst so überzeugte[r] Westenträger“ 19 bezeichnet. Nickeligkeiten, die den Kern der Sache vielleicht eher streifen, obwohl sie ihn durchaus auch betreffen. Von ferne erinnert man sich an eine Art boulevardkritisches Libretto v. Stuckrad-Barres in dessen Buch Blackbox, in dem Goetz als „Yellowpress-Submarine“-Fotograf figurierte: „Der Rainald! N komischer Typ, aber ich mag ihn, und er hats auch wirklich drauf, im richten Moment auf den Auslöser zu drücken, nämlich dauernd.“ 20 Aber Georg Stanitzek 142 dieser scherzhafte Ton ist weit entfernt von der Härte des in Klage Vorgetragenen, ganz zu schweigen von der zitierten öffentlichen Absage. Sehr wohl deutlich wird in Klage aber Goetz’ Haltung zum Boulevard selber, den er in der Springerpresse und insbesondere in BILD repräsentiert sieht. Wenn man von dem anderen hier einschlägigen Gegenwartsautor, Max Goldt, 21 absieht, findet man weit und breit kaum eine schärfere Ablehnung und Kritik. BILD, Kai Diekmann, Franz Josef Wagner, Mathias Döpfner, Friede Springer selbst sind in Klage schlicht Agenten des Bösen, des Gemeinen, mithin legitime Gegenstände der Schimpfe: „Pornographie von oben. […] Die Stinkenden, die Mächtigen, DIE KAPUTTEN.“ 22 Der in Kuhlbrodts Zitat erwähnte Frank Schirrmacher und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung oder der zeitweise Leiter des Spiegel-Kulturressorts Matthias Matussek werden als Komplementärerscheinungen zum verachteten Springer’schen Boulevard einrangiert. Zum Heiklen dieses ganzen Sprechakts - wenn man denn Goetz’ Beobachtungen und Argumente zu diesem einzigen zusammenfassen kann - gehört, dass der eigene Erstpublikationsort Vanity Fair in diesem Zusammenhang nicht diskutiert wird, vielmehr als kluge Wahl eines gewissermaßen extraterrestrischen Milieus erscheint, in dem sensible Intellektuelle um Ulf Poschardt Wert auf exquisite Texte und Einzelhefte legen. 23 Dies wirkt zunächst durchaus rätselhaft. Das aus Goetz’ Produktionen für Vanity Fair entstandene Buch Klage ist Teil einer Serie, von Goetz mit peritextuellem Reihentitel als „Buch 6“ gerechnet und getauft mit: „und müsste ich gehen in dunkler Schlucht“. Ein leicht zu erkennendes Bibelzitat, Psalm 23, „Der Herr ist mein Hirte“, ebenjenes Bibelwort, das US-Präsident Bush jr. als Motto über die auf 9/ 11 folgenden Jahre gestellt hatte. 24 Man geht nicht zu weit, wenn man ‚dunkle Schlucht‘ in Goetz’ Adaption nicht nur mit „Betrieb“ 25 , sondern einfach mit Boulevard übersetzt. Denn dieser steht - nach Punk und Rave - nunmehr im Focus der Goetz’schen Gegenwarts-„Grundlagenforschung“ 26 . Ihm konfrontiert er sich sowohl in Klage als auch im Folgeband von und müsste ich gehen in dunkler Schlucht: loslabern von 2009. Wieder und wieder begegnet er dem entsprechenden Personal, erforscht es in moralistischem Stil geradezu bis hinein in seine Körpersprache. Die Genannten kommen alle in Person vor; besonders zu erwähnen ist die ebenso komische wie aufschlussreiche Konfrontation mit Frank Schirrmacher auf einem Berliner FAZ-Empfang 2008 in loslabern. 27 Goetz sucht die Auseinandersetzung mit dem Boulevard. Und Auseinandersetzung ist nicht schlicht mit Ablehnung zu übersetzen. Einfach eingekapselt in eine verjährte Bildungssprache dagegen zu sein, ist keine diskutable Reaktion. 28 Daher wohl auch die Option für Vanity Fair. Es bedarf bis zu einem gewissen Grad durchaus einer Nähe, Affirmation, Vertrautheit, Erfahrung mit dem kritisierten Gegenstand, einer Erfahrung sowohl mit den zugehörigen Praktiken als auch, hiervon kaum zu trennen, mit den beteilig- Bohème - Boulevard - Stil 143 ten Personen. 29 Wer sich das nicht zumutet, hat leicht reden. Es ist vermutlich diese Hintergrundvoraussetzung, die v. Stuckrad-Barre für Goetz überhaupt zum Gegenstand von Interesse werden lässt. Denn wenn einer sich den Praktiken und Diskursen von populärem Journalismus, Boulevardfernsehen und Yellowpress ausgesetzt hat, so der Autor von Soloalbum sqq., dessen literarische Karriere sich geradezu als Gang durch die einschlägigen Medien und zugleich Auseinandersetzung mit ihnen beschreiben lässt. 30 Die laxe Komplettaffirmation der Boulevardmedien aber, die sich im inkriminierten Cicero-Interview findet, wirkt demgegenüber als Sündenfall. Für Goetz scheint hingegen zu gelten: der Gang durch die Schlucht ist ein schwerer, fast nicht zu schaffen - nur mit Glück und Gottvertrauen -, vom Scheitern bedroht, und das muss so sein. Die leichtfertige Rede v. Stuckrad- Barres streicht eine Differenz, auf der zu bestehen ist, und diese Streichung ist sein Scheitern. Es ist sträflich und es wird bestraft. Vor einem Publikum, über das in der Presse zu lesen war: „Die Zentrale Intelligenz Agentur ist fast in kompletter Mannschaftsstärke angetreten, und aus den versammelten Journalisten könnte man locker ein ausgewachsenes Feuilleton rekrutieren.“ 31 Die Bestrafung findet insofern vor der Produzentenöffentlichkeit statt. Allerdings ist das Problem damit nicht erledigt, es taucht ein Jahr später in loslabern neu auf, und wiederum in Person von v. Stuckrad-Barre, am Eingang zur genannten FAZ-Party: „[I]ch kam mit dem Rad und sah […] Dietl, Kroetz und Stuckrad-Barre, dahinter Vanity-Fair-People-Chefin Inga Grömminger, CRAZY, das gibt’s doch nicht“. 32 Diese Kombination der Figuren hätte etwas von einem Symptom, sollte sie nicht mit Bedacht so gestaltet sein. Und die Figur des v. Stuckrad-Barre erscheint nun - anstatt als ein für allemal Verurteilter - zweideutig. Einerseits heißt es: „Seit Stuckrad-Barre exklusiv bei Springer arbeitete, kaufte ich mir […] regelmäßig alle paar Tage die BZ, wenn ich dachte, irgendein Berliner Großereignis könnte den Berlin- Reporter Stuckrad-Barre zu einer Reportage veranlasst haben“ - „weil mein Interesse an Stuckrad-Barre größer war als mein Ekel vor Springer. Im Kern machte Benjamin von Stuckrad-Barre genau das, was ich auch immer hatte machen wollen, mitarbeiten bei der Presse, um dabei die Welt, wie sie wirklich war, zu erkunden“. Zu einem Porträt des Politikers Guido Westerwelle in der Welt am Sonntag will er Stuckrad-Barre geradezu gratulieren… 33 Das ist die eine Seite. Die andere ist die abschätzige Diagnose „Boulevarddreck“, 34 die angewiderte Beobachtung, wie der Springer-Vorstandsvorsitzende Döpfner seine Autoren Stuckrad-Barre und Poschardt wie untergebene Offiziere jovial-autoritär duzend vereinnahmt - Angehörige des verachtenswerten „System[s] Springer“. 35 Es ist diese Ambivalenz, die an v. Stuckrad-Barre weiter fasziniert. 36 These: Was hier am Autor v. Stuckrad-Barre versuchsweise verhandelt oder doch wenigstens bezeichnet wird, das sind Probleme des Schreibens Georg Stanitzek 144 auf dem und für den Boulevard, über den Boulevard, in Kontakt mit ihm. Literaturhistorisch handelt es sich bei dieser Figur des v. Stuckrad-Barre um nichts anderes als um eine typologische Wiederkehr des Helden Lucien de Rubempré aus Honoré de Balzacs Illusions perdues, neuer Herkules an der Weggabelung von guter Literatur und erfolgreichem Journalismus. Nicht zufällig ist dieser homo viator in bivio einer, dessen Abenteuer in Milieus der Bohème vorfallen. Die Pariser Begebnisse des Lucien de Rubempré spielen sich als Option zwischen zwei Freundeskreisen ab, die beide Bohème-Struktur aufweisen, obwohl nur der eine dieser Kreise, die verderbliche Journalisten-Clique, auch so genannt wird. Zunächst vertraut sich Lucien der „jungen Elite“ an, 37 einem stabilen Freundeskreis, der sich um Daniel d’Arthez gruppiert und in dem man sich ernsthaften Studien widmet, sich wechselseitig aufrichtig kritisiert. Die Beteiligten sind arm, ihre Gruppe ist so elitär wie sie sich einerseits selektiv verhält und andererseits treu: „Die Strenge, die sie übten, wenn sie einen neuen Bewohner in ihre Sphäre aufnahmen, war verständlich. Sie waren sich ihrer Größe und ihres Glücks zu sehr bewußt, um es durch neue, unbekannte Elemente zu gefährden.“ - „Dieser Bund der Gefühle und Interessen währte, frei von Erschütterungen und getrogenen Hoffnungen, zwanzig Jahre.“ 38 Die Beteiligten versuchen Lucien vor dem Journalismus als seinem Unglück zu bewahren, dies ist die andere Seite: „Zu wiederholten Malen sprach Lucien davon, sich auf die Zeitungen zu werfen, und stets sagten ihm seine Freunde: Hüten sie sich davor.“ - „Wer alles sagen kann, wird am Ende alles tun! “ 39 - „Der Journalismus ist die Hölle, ein Abgrund der Ungerechtigkeiten, der Lügen und des Verrats; nur wer wie Dante vom göttlichen Lorbeer Vergils beschützt ist, kann rein daraus hervorgehen.“ (‚In dunkler Schlucht…‘) Eben dies, ‚rein daraus hervorzugehen‘, ist der illusorische Vorsatz des Lucien, aus dessen Innenleben der Balzac’sche Erzähler berichtet: „Konnte er nicht mit Anstand tun, was die Journalisten ohne Gewissen und Würde taten? “ 40 Das ist sein Irrtum, er führt ihn auf die nur zu abschüssige Bahn, er wird abhängig, käuflich und so fort. Diese Bohème-und-Boulevard-Erzählung bietet offenbar ein erfolgreiches Modell. Das hat man Balzac zunächst überhaupt nicht gedankt, mochte er selbst sich von journalistischer „Seiltänzerei“ distanzieren und übrigens noch so sehr an seinen Texten feilen. 41 Ironischerweise hat vielmehr die Balzac-Rezeption die journalismuskritische Tendenz gegen ihn selbst gewendet, seinen Stil als zeitungsnah verurteilt. (Ein Rezeptionsschicksal, das er, objektiv ironisch, mit Heinrich Heine teilen musste, dem er die Erzählung Un Prince de la Bohème gewidmet hat.) Balzac hat mit seiner Darstellung ein stabiles Schema gestiftet, das literarisch seit dem 19. Jahrhundert erstaunlich kontinuierlich funktioniert, 42 auch über die nationalliterarischen Grenzen hinweg, nicht zuletzt aus deutscher Perspektive. In der Fackel vom 26. Juni 1909 wird Karl Kraus als Aufsatz unter dem Titel „Der Journalismus“ - und Bohème - Boulevard - Stil 145 unter dem Autornamen Balzac - nicht mehr und nicht weniger als eine ausführliche Collage jener Partien aus den Illusions perdues bringen, die Luciens Initiation in die Welt der Zeitung beschreiben, eine Welt der moralischen und damit in eins intellektuellen Korruption. 43 Und wenn dieser Text in der Fackel erscheint, so zugleich an jenem Ort, an dem auch Erich Mühsams Eloge auf die „Bohème“ gedruckt 44 und die ‚Königin der Bohème‘ Else Lasker-Schüler publiziert wird, bevor Kraus sich dann für seine Allein-Autorschaft entschied. Die Varianten und Stationen der Bohème-Boulevard- Konstellation sind bis in die Gegenwart zahlreich und verdienen Analyse. Hier soll nur eine Variante angeführt sein, in der Karl Kraus selbst eine Rolle spielt. Wieder handelt es sich um eine Situation in Berlin, wieder auf dem Boulevard und wieder im Milieu der auf dem Boulevard agierenden Bohème. 1928, zur Zeit der Entstehung der Dreigroschenoper, kommt es zu einer denkwürdigen Begegnung von Elias Canetti mit Bertolt Brecht, gegen dessen Person er sogleich eine von ihm selbst als ‚hochmoralisch‘ bezeichnete Ablehnung empfindet: „[I]ch kam mit hohen Tönen aus Wien, der Reinheit und Strenge von Karl Kraus verschrieben […] [I]ch sah Brecht kein einziges Mal, ohne meine Verachtung für Geld zu äußern. Ich mußte meine Fahne hochziehen und Farbe bekennen: man schrieb nicht für Zeitungen, man schrieb nicht für Geld, für jedes Wort, das man schrieb, stand man mit der ganzen Person ein. Das irritierte Brecht aus mehr als einem Grund: ich hatte nichts veröffentlicht, er hatte nie etwas von mir gehört, hinter meinen Worten steckte für ihn, der viel auf Realitäten gab, nichts. Da mir niemand etwas angeboten hatte, hatte ich nichts refüsiert. Keine Zeitung hatte mir vorgeschlagen, für sie zu schreiben, also hatte ich auch keiner widerstanden. ‚Ich schreibe nur für Geld‘, sagte er trocken und gehässig. ‚Ich habe ein Gedicht über Steyr-Autos geschrieben und dafür ein Steyr-Auto bekommen.‘“ 45 Das ist die Situation, wiederum das bekannte Schema. Das Faszinierende ist aber hier, dass es damit nicht sein Bewenden hat, dass vielmehr Canetti unmittelbar darauf eine irritierende Lektion zu lernen hat. Das Schema ist gar nicht schematisch anwendbar; seine Applikation muss immer neu ausgehandelt werden: „Aber meine Situation wurde noch komplizierter, als man nach dem Bisherigen denken könnte, denn der Mann, der mir Glaube und Gesinnung war, den ich unter allen Menschen auf der Welt am höchsten verehrte, ohne dessen Zorn und Eifer ich nicht hätte leben mögen, dem mich zu nähern ich nie gewagt hätte […] - Karl Kraus also war zu dieser Zeit in Berlin und war mit Brecht befreundet, den er häufig sah, und durch Brecht lernte ich ihn, einige Wochen vor der Premiere der ‚Dreigroschenoper‘ kennen.“ - Man trifft sich in einer Kneipe… - „Ich war erdrückt von der Vorstellung, am Tische eines Gottes zu sitzen.“ - „Ich erwartete Ungeheures von ihm, und es kamen Artigkeiten. Jeden am Tische behandelte er mit Zartgefühl, aber mit Liebe, als wäre es sein Sohn, behandelte er Brecht, das junge Genie - sein erwählter Sohn.“ - „Das Gespräch ging um die ‚Drei- Georg Stanitzek 146 groschenoper‘, die noch nicht so hieß, ihr Name wurde in diesem Kreis beraten.“ 46 In aller Kürze wäre zu interpretieren: Prostitution ist offenbar nicht einfach gleich Prostitution. Was in den Verhandlungen der Bohème über den Boulevard ausgetragen wird, sind Fragen des Kaufens und Verkaufens und Sich-Verkaufens, der Käuflichkeit und Verkäuflichkeit. Aber sie sind keineswegs schematisch entscheidbar, sondern immer erneut zu stellen und von Fall zu Fall zu entscheiden. Wenn man mir bis hierhin folgen will, also die These einer durchgängigen Struktur teilt, wäre zu fragen, welche Mittel wir haben, um diese Verhältnisse plausibel zu theoretisieren. Wie gesagt, dürfte ein Forschungsdesiderat darin liegen, die Opposition, die in Kreuzers Definition bemüht wird - Bohème versus Bürgerlichkeit oder versus kulturelle Norm -, als Interaktion zu begreifen. Hierzu hat Seigel 1986 mit seinem Buch Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, das übrigens erklärtermaßen Helmut Kreuzer viel verdankt, 47 einen hilfreichen Vorschlag gemacht. Nimmt man es genau, knüpft dieser Vorschlag seinerseits an eine Vorgabe wiederum Balzacs an, der in Un Prince de la Bohème die Bohème als „Mikrokosmos“ gefasst hat, 48 in dem Innovations- und Ausbildungsprozesse von großer sozioökonomischer Relevanz stattfinden. 49 Die Bohème wäre Seigel zufolge, der darin Balzac weiterzudenken versucht, nicht nur als antibürgerliche Inkubationsphase oder Passage von Karrieren zu verstehen, sondern insbesondere als eine Art Test-, als Härtetest-Raum zu begreifen. Experimentiert wird nicht zuletzt mit von Haus aus ‚bürgerlichen‘ Normen und Werten. Allerdings in einem Milieu und auf eine Weise, die es Bürgerlichen oder entsprechend ‚Normierten‘ weitgehend unmöglich macht, diese Normen und Werte als bürgerliche wiederzuerkennen. Um es am zuletzt angeführten Fall auszuführen: wenn man genau hinhört, was Canetti in seiner Auseinandersetzung mit dem scheinbar frivolen Bertolt Brecht hauptsächlich anführt - kraus-gestützt: ‚man schreibt nicht für Geld, für jedes Wort, das man schreibt, steht man mit der ganzen Person ein…‘ -, so erkennt man hier unschwer einen Grundtext des deutschen Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts wieder, nämlich Artur Schopenhauers Parerga und Paralipomena; genauer gesagt, die darin enthaltenen Paragraphen „Ueber Schriftstellerei und Stil“. Sie beginnen nämlich mit der normativ grundsätzlichen Unterscheidung von Schreiben für Geld versus Schreiben der Sache halber: „Zuvörderst giebt es zweierlei Schriftsteller: solche, die der Sache wegen, und solche, die des Schreibens wegen schreiben. Jene haben Gedanken gehabt, oder Erfahrungen gemacht, die ihnen mittheilenswerth scheinen; Diese brauchen Geld, und deshalb schreiben sie, für Geld.“ 50 Aus dieser Unterscheidung leiten sich alle weiteren Bestimmungen dessen ab, was guter Stil ist. Die Operation der Bohème scheint nun einer komplexen moralischen Ökonomie zu folgen, welche darauf ausgeht, diese Norm dort in Abschlag zu bringen, wo sie von Haus aus nicht hinge- Bohème - Boulevard - Stil 147 hört und wo es ganz unwahrscheinlich ist, dass sie sich bewähren und zu Resultaten führen könnte, innerhalb des neuen Dispositivs der Massenmedien nämlich. Das Bestehen des Autors auf dem Boulevard und in Konfrontation mit ihm ist eine Frage des Stils. Und diese ist - ganz so wie in den Illusions perdues - eine Frage der Moral. Hier ist das Canetti-Kraus’sche Wort ganz ernstzunehmen: ‚für jedes Wort, das man schreibt, steht man mit der ganzen Person ein.‘ Der moralische Code unterscheidet nach Achtung und Missachtung. Diese beziehen sich auf die ganze Person. 51 Die deshalb zur Verhandlung steht, in ihrem diskreten oder indiskreten Habitus - bis hin zur Frage der Exhibition von Kokainabhängigkeit oder Westen-Marotte. Ob und wie diese Frage in der digitalen Ära aktuell bleibt oder aktualisiert wird? 1 Luc Boltanski/ Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, transl. Michael Tillmann, Konstanz, UVK, 2003, 143sq.; Luc Boltanski: „Leben als Projekt. Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt“, transl. Robin Celikates, in: Polar 2, Frühjahr 2007, 7-13, 7; Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, transl. Heinz Jatho, Zürich/ Berlin, diaphanes, 2007, 19sq.; cf. Michael Rutschky: „Die Erfindung des Ich. Vermischte Nachrichten“, in: Merkur 65,9/ 10: Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind, September/ Oktober 2011, 959-969, 961. 2 Alexis Joachimides: Art. „Boheme“, in: Karlheinz Barck et al. (eds.): Ästhetische Grundbegriffe, vol. 1, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2000, 728-750, 729, 748sq. 3 Tobia Bezzola: „Massenboheme. Das Lächeln der Beatles und das Schweigen von Marcel Duchamp“, in: Kunstforum International, 134, 1996, 177-182. 4 Erwin Panofsky: „Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin [The History of Art as a Humanistic Discipline]“, in: E.P.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts), Köln, DuMont Schauberg, 1975, 7-35, 26. 5 Diedrich Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1999, 233. 6 Holm Friebe/ Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, München, Heyne, 2006; rückblickend: Holm Friebe: „Digitale Boheme revisited“, in: Literatur Konkret, 24.9.2010 (eingeheftet in: Konkret, 10/ 2010), 9-11. 7 Cf. Jerrold Seigel: „Putting Bohemia on the Map“, in: Pascal Brissette/ Anthony Glinoer (eds.): Bohème sans frontière, Rennes, Presses Universitaires de Rennes, 2010, 39-53. Zur Unmöglichkeit einer auf telefonische Interaktion restringierten Bohème cf.: Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht. Reisetagebuch 1947, transl. Heinrich Wallfisch, Reinbek b.H., Rowohlt Taschenbuch, 1988, 26. 8 Helmut Kreuzer: Art. „Boheme“, in: Klaus Weimar et al. (eds.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, vol. 1, Berlin/ New York, de Gruyter, 1997, 241-245, 241. 9 Cf. Remigius Bunia/ Till Dembeck/ Georg Stanitzek: „Elemente einer Literatur- und Kulturgeschichte des Philisters. Einleitung“, in: R.B./ T.D./ G.S. (eds.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur, Berlin, Akademie, 2011, 13-51, 37sqq. Georg Stanitzek 148 10 Cf. gegenüber der historischen Bohème etwa Christian Demand: Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte, 2. ed., Springe: zu Klampen! 2007, 100; Harun Farocki: „Im Kino“, in: Filmkritik, 25,8, August 1981, 385-386, 386. - Gegenüber der sogenannten digitalen Bohème: Werner Bartens: „Lass mal gut sein. Kathrin Passig und Sascha Lobo loben das Aufschieben“ [Rez.: Kathrin Passig/ Sascha Lobo: Dinge geregelt kriegen - ohne einen Funken Selbstdisziplin, Berlin, Rowohlt Berlin, 2008], in: Süddeutsche Zeitung, 28.10.2008, Nº 251, 16; Peter Richter: „Die Neophilister“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.12.2009, Nº 50, 31. 11 Jerrold Seigel: Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, 1830- 1930, New York, Penguin, 1987. 12 Walter Benjamin: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, in: W.B.: Gesammelte Schriften, ed. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser, vol. I,2, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1974, 509-690, 530sq. 13 Detlef Kuhlbrodt: „Die Stimmung war superangenehm. Rainald Goetz ‚klagt‘ nicht mehr“, in: die tageszeitung, 23.6.2008, Nº 8612 , 14. 14 Ijoma Mangold: „Ende aller Klagen. Rainald Goetz feiert den Abschluss seines ‚Vanity Fair‘-Blogs“, in: Süddeutsche Zeitung, 23.6.2008, Nº 144, 11. 15 Zur früheren Nähe und Zusammenarbeit der Autoren cf. Rainald Goetz: Dekonspiratione, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2000. 16 Hajo Schumacher: „Berlin ist Deutsches Theater. Ein Gespräch mit Benjamin von Stuckrad-Barre“, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, Juli 2008, 128-130, 130. 17 Http: / / www.cicero.de/ stuckrad-barre.php [22.4.2011]. 18 Herlinde Koelbl: Rausch und Ruhm - Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre (ARD 2003); cf. Rainald Goetz: Klage, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2008, 171-173, 181sq. 19 Goetz: Klage, op. cit., 419. 20 Benjamin v. Stuckrad-Barre: „speichern unter: krankenakte dankeanke“, in: B.v.S.-B.: Blackbox. Unerwarteter Systemfehler, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2000, 75-169, 118. 21 Max Goldt: „Die Verachtung“, in: M.G., Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens. Prosa und Szenen 2002-2004, Reinbek b.H., Rowohlt, 2005, 104-115, 112sq. 22 Goetz: Klage, op. cit., 67. 23 Goetz: Klage, op. cit., 394, 416sq. 24 „I also wanted the speech to convey my sense of moral outrage.“ - „I closed with Psalm 23: ‚Even though I walk through the valley of the shadow of death, I will fear no evil, for You are with me.‘“ (George W. Bush: Decision Points, New York, Crown, 2010, 137sq.) 25 Cord Riechelmann: „Irre und Lücken. [Ü]ber ‚Loslabern‘ von Rainald Goetz, in: Jungle World, 29.10.2009, Nº 44, 6-9, 6. 26 Eckhard Schumacher: „‚Jetzt, ja, noch mal. Jetzt.‘ Rainald Goetz’ Geschichte der Gegenwart“, in: E.S.: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2003, 111-154, Zitat: 13. 27 Rainald Goetz: loslabern. Bericht. Herbst 2008, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2009, 118sqq. 28 Goetz: loslabern, op. cit., 124sq. 29 Cf. zu Vanity Fair in dieser Hinsicht auch Goetz: loslabern, op. cit., 81. 30 Cf. Joachim Lottmann: „Mein Leben mit Stuckrad-Barre. Alle mal herhören. Letzte Durchsage: Joachim Lottmann erklärt die Popliteratur“, in: Jungle World, 16./ 23.7.2003, Nº 30/ 31, 25. Zu v. Stuckrad-Barres BILD-Boulevardanalysen cf. insbesondere Benjamin v. Stuckrad-Barre: „Truppenbetreuung“ und „Boulevardjournalismus“, in: B.v.S.- B.: Deutsches Theater, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2001, 32-37 und 122-127. 31 Mangold: „Ende aller Klagen“, l. c. Bohème - Boulevard - Stil 149 32 Goetz: loslabern, op. cit., 75. 33 Goetz: loslabern, op. cit., 86. Um dies nachzuvollziehen, bedarf es allerdings einer Portion Ironie, wie man sie eher in Lottmannals in Goetz-Lektüren zu investieren gewohnt ist; cf. Benjamin v. Stuckrad-Barre: „Guido Westerwelle im Bundestagswahlkampf“, in: B.v.S.-B.: Auch Deutsche unter den Opfern, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2010, 226-233. 34 Goetz: loslabern, op. cit., 170. 35 Goetz: loslabern, op. cit., 171. 36 Siehe im Unterschied dazu die vergleichsweise Entschiedenheit von Rembert Hüser: „Klavierbegleitung“, in: Carla A. Damiano/ Jörg Drews/ Doris Plöschberger (eds.): „Was das nun wieder soll? “ Von „Im Block“ bis „Letzte Grüße“; zu Werk und Leben Walter Kempowskis, Göttingen, Wallstein, 2005, 221-246. 37 Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen. Roman, transl. Udo Wolf, 2. ed., Berlin/ Weimar, Aufbau, 1983 (= Die menschliche Komödie. Szenen aus dem Provinzleben, vol. 9), 256. 38 Balzac: Verlorene Illusionen, op. cit., 258. 39 Balzac: Verlorene Illusionen, op. cit., 266. 40 Balzac: Verlorene Illusionen, op. cit., 267. 41 Ernst Robert Curtius: Balzac, Bonn, Friedrich Cohen, 1923, 369sq. sowie 429sqq. 42 Stefan Ripplinger: „Journalisten, nicht nur nach Balzac“ („Was kümmert mich der Dax“), in: Jungle World, 4.3.2010, Nº 9, 17, mit gewisser Skepsis gegenüber dem sozialhistorischen Gehalt: „die tugendhafte Bohème, die er rühmt, hat es wohl nie gegeben.“ - In dieser Hinsicht wäre mit Seigel die doppelte Topographie der Bohème zu bedenken: Sie hat eine empirische und eine imaginäre Adresse (Seigel: „Putting Bohemia on the Map“, op. cit., 39sq.). 43 Honoré de Balzac: „Der Journalismus“, in: Die Fackel, 11. Jahr, Nº 283/ 284, 26.6.1909, 1- 18. 44 Erich Mühsam: „Bohême“, in: Die Fackel, 8. Jahr, Nº 202, 30.4.1906, 4-10. 45 Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, 21. ed., Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 2000, 259. 46 Canetti: Die Fackel im Ohr, op. cit., 260. 47 Siehe den ausführlich würdigenden Hinweis bei Seigel: Bohemian Paris, op. cit., 401 auf Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart, Metzler, 2000. 48 Honoré de Balzac: „Ein Fürst der Bohème/ Un Prince de la Boheme“, in: H.d.B.: Die menschliche Komödie. Gesamtausgabe mit Anmerkungen und biographischen Notizen über die Romangestalten, ed. Ernst Sander: Szenen aus dem Pariser Leben, München, Goldmann, o.J., 27-64. 49 Cf. Georg Stanitzek: „Die Bohème als Bildungsmilieu: Zur Struktur eines Soziotopos“, in: Soziale Systeme 16,2 (2010), 404-418. 50 Arthur Schopenhauer: „Ueber Schriftstellerei und Stil“, in: A.S.: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, vol. 2, in: A.S.: Werke in fünf Bänden, ed. Ludger Lütkehaus, Zürich, Haffmans, 1991, vol. 5, 445-479, 445 (§ 272). 51 Niklas Luhmann: „Soziologie der Moral“, in: N.L.: Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2008, 56-162, 111sq. Christian von Tschilschke La philosophie dans le boulevard. Der französische Intellektuelle zwischen dem Boulevard als Medium und dem Medium als Boulevard 1. Das ambivalente Verhältnis des Intellektuellen zur Öffentlichkeit Die zentrale These des vorliegenden Beitrags verbirgt sich bereits in seinem Titel. Es ist die Behauptung, dass es einen engen, nicht nur kulturhistorischen, sondern auch essentiellen funktionalen Zusammenhang zwischen dem Boulevard als räumlich-medialem Dispositiv, der Boulevardisierung als Anpassung von Themen, Stoffen und Informationen an das Unterhaltungsbedürfnis eines Massenpublikums und dem Begriff des Intellektuellen gibt. Es deutet manches darauf hin, dass dieser Zusammenhang in keiner Kultur so stark ausgeprägt ist wie in der französischen und deswegen auch ganz entscheidend das landläufige Bild des Intellektuellen prägt, das in seinen maßgeblichen Zügen seit jeher mit der französischen Kultur identifiziert wird. 1 Erst die Nähe zum Boulevard, so kann man zuspitzen, verlieh dem französischen Intellektuellen jene schillernde Ambivalenz und Breitenwirksamkeit, die ihn zum Mythos, oder, in einer weniger verklärenden Sichtweise, zu einem Sozialtypus im Stil einer „Figur aus der Commedia dell’Arte“ 2 werden ließen, deren historische Realität von der Fülle der stereotypen Bilder und Vorstellungen überlagert wird, die über sie im Umlauf sind. Nun ist die Geschichte der Intellektuellen in Frankreich ein Thema, das an Umfang und Komplexität nichts zu wünschen übrig lässt. Einen ersten handfesten Eindruck davon vermitteln Michel Winocks immerhin 695 Seiten lange historische Überblicksdarstellung Le siècle des intellectuels aus dem Jahr 1997 sowie das von dem Intellektuellen-Experten Winock gemeinsam mit Jacques Julliard herausgegebene Dictionnaire des intellectuels français, dessen Erscheinen 1996 als Ereignis gefeiert wurde und das in der jetzt vorliegenden dritten Auflage ganze 1530 Seiten umfasst. 3 Gerade die Unerschöpflichkeit des Gegenstandes darf jedoch als Ermutigung aufgefasst werden, eine eher ungewohnte Perspektive einzunehmen, so wie sie die beiden ‚schräg‘ zueinander stehenden, nicht auf derselben logischen Anschauungsebene angesiedelten Begriffe ‚Boulevard‘ und ‚Boulevardisierung‘ eröffnen. ‚Boulevard‘ und ‚Boulevardisierung‘ bieten ein weites Spektrum metonymischer Christian von Tschilschke 152 und metaphorischer Bedeutungen, die geeignet sind, erhellende Schlaglichter auf den Mythos des französischen Intellektuellen und den Strukturwandel der intellektuellen Öffentlichkeit in Frankreich zu werfen. Darüber sollte jedoch nicht in Vergessenheit geraten, dass in der Figur des französischen Intellektuellen nur besonders prägnant zum Ausdruck kommt, was für das Verhältnis des Intellektuellen zur Wirklichkeit generell gilt. Spätestens seit der Dreyfus-Affäre, seit Émile Zola am 13. Januar 1898 sein Renommee als Schriftsteller in die Waagschale geworfen hatte, um in einem offenen Brief an den Präsidenten der dritten Republik, Félix Faure, die Revision der Verurteilung des jüdischen Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Landesverrats zu fordern, stützt sich die Definition des Intellektuellen nach Joseph Jurt auf zwei Komponenten: „‚Intellectuels‘ sind Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, die sich auf ihrem Gebiet eine spezifische Kompetenz erworben haben und die aufgrund dieser Autorität Stellung beziehen zu konkreten - oft aktuellen - Problemen der Gesamtgesellschaft auf der Basis bestimmter Werte.“ 4 Die Sphäre der Öffentlichkeit ist davon doppelt berührt: Sie ist der Adressat der Intervention des Intellektuellen und sie legitimiert diese zugleich. Um seinem Anliegen Gehör zu verschaffen, kommt der Intellektuelle nicht umhin, sich bis zu einem gewissen Grad auf die Spielregeln und Kommunikationsformen der Öffentlichkeit einzulassen. Wenn er die Bühne der Öffentlichkeit betritt, hat dies jedoch unweigerlich eine „Vermischung von Diskurs und Selbstdarstellung“ 5 zur Folge. Für den Intellektuellen ist damit eine Reihe von Risiken verbunden, die sein Anliegen unter Umständen verschwinden lassen und seine Kompetenz auf Dauer untergraben können. Diese Risiken reichen von der Entdifferenzierung und Trivialisierung der vermittelten Botschaft über die wilde, nicht mehr gänzlich kontrollierbare Semiose, die seine öffentliche Sichtbarkeit mit sich bringt, bis hin zur Vereinnahmung durch heteronome ökonomische und mediale Logiken. Dazu gehören etwa die Verlockung durch Stimulantien wie Prominenz, Beachtung und Aufmerksamkeit, die ihm bisweilen gar den Status einer ‚Celebrity‘ in Aussicht stellen. 6 Der zunehmende Einfluss der Bildmedien, insbesondere des Fernsehens mit seiner antiintellektuellen Grundtendenz hat diese immer schon bestehende Problematik nicht nur erheblich verschärft, sondern ihr auch eine neue Qualität verliehen. 7 Diese legt es nahe, von einer Zäsur in der Geschichte des Intellektuellen oder, soweit man unter Intellektuellen im Wesentlichen „Professionelle des geschriebenen Worts“ 8 versteht, gar vom Ende des Intellektuellen im herkömmlichen Sinn zu sprechen, an dessen Stelle nun der von den elektronischen Massenmedien hervorgebrachte ‚Medienintellektuelle‘ tritt. 9 Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass die Problematik des ambivalenten Verhältnisses des Intellektuellen zur Öffentlichkeit insbesondere in Frankreich, aber selbstverständlich auch darüber hinaus, historische La philosophie dans le boulevard 153 Formen angenommen hat, die sich mit Hilfe der Begriffe ‚Boulevard‘ und ‚Boulevardisierung‘ pointiert beschreiben lassen. Es erscheint sinnvoll, sich dabei exemplarisch auf zwei herausragende, jeweils als für ihre Zeit repräsentativ erachtete Inkarnationen des engagierten Intellektuellen zu beziehen, von denen jeder auf seine Weise die Philosophie auf den Boulevard getragen hat. Das ist zum einen, wie sollte es anders sein, Jean-Paul Sartre (1905-1980), die bis heute wohl bedeutendste intellektuelle Referenzfigur, der erste französische Star-Intellektuelle, der die fünfziger und sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts dominiert. Natürlich verkörpert Sartre, den man zugleich als Inbegriff eines ‚urbanen Philosophen‘‚ ja eines ‚Philosophen der Straße‘ bezeichnen kann, nur einen bestimmten historischen Typus des Intellektuellen, den ‚universalen‘ oder ‚totalen‘ Intellektuellen, als den er sich selbst definiert hat. 10 Doch ist es genau dieser Typus, der den Mythos des französischen Intellektuellen und damit des Intellektuellen im zwanzigsten Jahrhundert überhaupt begründete. 11 Allein deshalb kann Bernard-Henri Lévy auch seiner Sartre-Biographie, gleichsam in Reaktion auf Michael Winocks kurz zuvor erschienenes Werk Le siècle des intellectuels (1997), den emphatisch verkürzenden Titel Le siècle de Sartre (2000) geben. Damit ist bereits angedeutet, dass es in der Folge primär um den Wandel und das Fortleben dieses Mythos gehen wird - vor dem Hintergrund der aus historisch-soziologischer Perspektive bereits ausführlich rekonstruierten Transformation des intellektuellen Feldes in Frankreich. 12 Die zentrale Symbolfigur dieser Transformation und die zweite Intellektuellengestalt, die hier im Mittelpunkt stehen soll, ist dann auch niemand anderes als Bernard-Henri Lévy (geboren 1948), der bekanntlich die Abkürzung „BHL“ und ein zumeist weit offen stehendes weißes Hemd zu seinen Markenzeichen gemacht hat. 13 Lévy ist einer der reichsten Männer Frankreichs, Absolvent der École Normale Supérieure, Publizist, Romancier, Filmemacher, Mitbegründer der totalitarismuskritischen ‚Nouvelle Philosophie‘, Ko-Direktor des großen Verlagshauses Grasset und Teilbesitzer der 1973 von Sartre gegründeten Tageszeitung Libération. Er gilt als Prototyp des intellectuel médiatique und betrachtet sich, wie nicht zuletzt der identifikatorische Stil seiner Sartre-Biographie verrät, als den einzigen legitimen Erben des sartreschen Modells des ‚totalen‘ Intellektuellen, als den Sartre der von den neuen und neuesten Medien dominierten Gegenwartsgesellschaft. 14 Das US-amerikanische Monatsmagazin Vanity Fair sah sich dann auch veranlasst, seinen Lesern in einer zwölfseitigen Homestory über „BHL“ im Januar 2003 zu erklären: „we have no equivalent in the United States“. 15 Den deutschen Spiegel-Lesern wiederum wird Lévy im April 2010 in einem „Spiegel- Gespräch“ als „der bekannteste und wohl auch umstrittenste politische Intellektuelle in Frankreich“ 16 vorgestellt. Christian von Tschilschke 154 In einem ersten Schritt sollen die beiden Phänotypen Sartre und Lévy kurz skizziert werden. Dieser Teil folgt der weit verbreiteten, fast immer mit moralisierenden Konnotationen und einem kulturkritischen Unterton behafteten Krisenerzählung, die Sartre im Zeichen des Boulevards zu einer mythischen Figur stilisiert, Lévy dagegen als Symptom dafür interpretiert, wie sich der Intellektuelle im Zuge einer unaufhaltsamen Boulevardisierung der Öffentlichkeit selbst abschafft, indem er sich den heteronomen Produktionslogiken der Massenmedien unterwirft. In einem zweiten Schritt wird die Blickrichtung dann jedoch umgedreht. Fünf Argumente sollen verdeutlichen, dass gerade das Bild des französischen Intellektuellen seit jeher - natürlich in steter Abhängigkeit vom jeweiligen Entwicklungsstand der Medien - von einer Tendenz zur Boulevardisierung bestimmt ist und dass möglicherweise gerade darin der Grund für seine Mythifizierung liegt. 17 2. Gegenüberstellung zweier Phänotypen des französischen Intellektuellen 2.1 Bernard-Henri Lévy als ‚Medienintellektueller‘ Das vielleicht subtilste Porträt des zeitgenössischen ‚Medienintellektuellen‘, also jenes Intellektuellentyps, dem erst die audiovisuellen Massenmedien Autorität verleihen, findet sich in Milan Kunderas erstem direkt auf Französisch verfassten Roman La lenteur (1995). Im Zentrum von Kunderas fiktional eingekleideter Medienkritik steht das satirische Porträt des französischen Intellektuellen Jacques-Alain Berck, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit realen Vorbildern aufweist, unter denen Bernard-Henri Lévy nicht zuletzt wegen des doppelten Vornamens an erster Stelle gemeint zu sein scheint. Am Beispiel Bercks entwickelt Milan Kundera „das Psychogramm solcher bis in die Intimität fernsehöffentlicher Figuren“ 18 , die er „danseur“ 19 nennt. Der „Tänzer“ lässt keine Gelegenheit aus, um sich vor einem unsichtbaren Publikum in Szene zu setzen und an seiner eigenen Bedeutung zu berauschen. Eitel und effektsüchtig verführt er die Kamera und wird zugleich von ihr selbst verführt. Als öffentliche Figur brilliert er durch eine Technik, für die Kundera den Begriff „judo moral“ 20 erfindet. Es ist die unausgesprochen allem seinem Handeln zugrunde liegende Aufforderung, mit ihm in einen Wettkampf um die wirkungsvollste Pose einzutreten: „[Q]ui est capable de se montrer plus moral (plus courageux, plus honnête, plus sincère, plus disposé au sacrifice, plus véridique) que lui? “ 21 Wie diese Form der moralischen Erpressung funktioniert, zeigt eine Szene, in der Berck vor laufenden Kameras anbietet, zugunsten der hungernden Kinder in Somalia einen Monat lang auf sein Gehalt zu verzichten, womit er alle anderen Gesprächsteilnehmer dem Druck aussetzt, ihn entweder nachahmen zu müssen oder als herzlos dazustehen und vom Publikum ausgepfiffen zu werden. 22 La philosophie dans le boulevard 155 Kunderas Satire des Medienintellektuellen wirkt wie eine literarische Vorwegnahme von Pierre Bourdieus ein Jahr später erschienener Streitschrift Sur la télévision (1996). So kehrt etwa der von Kundera als „Tänzer“ porträtierte Typus bei Bourdieu in Gestalt der unter dem Zeitdruck der Einschaltquoten stehenden „fast-thinkers” 23 wieder. Ebenso wie Kundera beschäftigt sich auch Bourdieu eingehend mit dem Moralismus des Fernsehens, das den „philosophes de télévision“ 24 nur allzu bereitwillig eine Bühne für ihre „indignations pathétiques“ 25 biete. Anders als bei Kundera wird Bernard-Henri Lévy jedoch dieses Mal explizit beim Namen genannt: „Chacun a ses têtes de Turcs. J’y sacrifie parfois moi aussi: Bernard-Henri Lévy est devenu une sorte de symbole de l’écrivain-journaliste ou du philosophe-journaliste. Mais ce n’est pas digne d’un sociologue de parler de Bernard-Henri Lévy…“ 26 Dass sich Bourdieu zu einer Bemerkung dieser Art hinreißen lässt, unterstreicht indessen nur, dass auch seine Kritik mit ihrem moralisierenden Grundgestus und der Bereitschaft, ins Persönlich-Anekdotische zu fallen, ihrem Gegenstand stärker verhaftet ist, als sie sich einzugestehen vermag. Am Ende scheint die Beachtung, die einem ‚Medienintellektuellen‘ wie Bernard-Henri Lévy selbst von Kritikern und, wie im Fall Bourdieus, gleichsam gegen deren eigenen Willen entgegengebracht wird, nur umso nachdrücklicher die Wirksamkeit eines Marktes zu bestätigen, der eine Strategie privilegiert, „die primär auf die Gewinnung massenmedialer Aufmerksamkeit setzt“. 27 Inwiefern die Umsetzung einer solchen Strategie zur Entstehung des Eindrucks einer umfassenden Boulevardisierung der intellektuellen Öffentlichkeit beiträgt, lässt sich anhand des aktuellen medialen Erscheinungsbildes einer Celebrity wie Bernard-Henri Lévy exemplarisch studieren. Die entsprechenden Stichworte können Omnipräsenz, Substanzverlust, Philotainment und Klatschpresse lauten. Mediale Omnipräsenz: Lévy bedient mit häufig wechselnden Themen alle Foren der Öffentlichkeit und kommunziert dabei über Facebook, Blogs und Twitter genauso selbstverständlich wie über die ganze Bandbreite der herkömmlichen Printmedien, Fernseh- und Radiokanäle, seit Jahren auch verstärkt in anderen europäischen Ländern und in den USA. Standen beispielsweise im Jahr 2010 unter anderem die humanitären Solidaritätskampagnen für die von der Steinigung bedrohte Iranerin Sakineh Mohammadi- Ashtiani und den in der Schweiz unter Hausarrest stehenden Roman Polanski im Mittelpunkt, engagiert sich Lévy in der ersten Hälfte des Jahres 2011 massiv für die Protestbewegungen in Ägypten, Libyen und Syrien, mehrfach auch direkt vom Schauplatz des Geschehens aus, und äußert sich wiederholt und jeweils mit großer Resonanz zum öffentlichen Umgang mit den Vergewaltigungs-Vorwürfen gegen den französischen Politiker Dominique Strauss-Kahn, mit dem er befreundet ist. Außerdem stiftet er einen neuen Filmpreis, den „Prix Saint-Germain“ (April 2011) und stellt sein Vor- Christian von Tschilschke 156 wort zu einer Briefsammlung seines universitären Lehrers Louis Althusser vor (Mai 2011). 28 Die tagesaktuellen Stellungnahmen, Fotos und Videos mit den jüngsten Fernsehauftritten sind jeweils auf der von ihm autorisierten Homepage einzusehen. 29 Substanzverlust: Erkauft wird diese dauerhafte Medienpräsenz, über die wahrscheinlich kein Intellektueller je zuvor in dieser Weise verfügte, durch den Vorwurf mangelnder moralischer Integrität und intellektueller Substanz, der Lévys philosophisch-essayistisches Werk von Anfang an verlässlich begleitet. Das beste Beispiel dafür liefert ausgerechnet seine jüngste Veröffentlichung, De la guerre en Philosophie (2010), mit der er eigentlich seinen Ruf als ernstzunehmender Philosoph wiederherstellen wollte. 30 Zwei Tage bevor das Buch erschien, enthüllte das Magazin Le Nouvel Observateur, dass Lévy nichtsahnend aus einer Wissenschaftsparodie zitierte, Jean-Baptiste Botuls La vie sexuelle d’Emmanuel Kant, die in Wahrheit aus der Feder von Frédéric Pagès, einem Journalisten der Satirezeitung Le canard enchaîné stammte. 31 Auf diese Diskrepanz zwischen mangelnder intellektueller Substanz und öffentlicher Rolle verweist Bourdieu, wenn er, stellvertretend für viele Kritiker, Intellektuellen vom Typ Lévys vorwirft, keine ausreichende Leistung außerhalb der Medien erbracht zu haben, die ihre Präsenz in den Medien rechtfertigen würde: „Ce sont des Zola qui lanceraient des ‚J’accuse‘ sans avoir écrit L’Assommoir ou Germinal, ou des Sartre qui signeraient des pétitions ou mèneraient des manifestations sans avoir écrit L’Être et le Néant ou La Critique de la raison dialectique.“ 32 Philotainment: Bourdieus Kritik aus dem Jahr 1994, die sich an der traditionellen Definition des Intellektuellen orientiert - die er selbstverständlich auch für seine eigene Person in Anspruch nimmt -, hat nicht nur den Nachteil, dass sie die Konsekrationsmechanismen des zeitgenössischen Medienintellektuellen nur aus einer negativen Perspektive beschreiben kann, sie wurde auch längst von den betroffenen Celebrities selbst übernommen. Das zeigt etwa der im Jahr 2008 erschienene, von Januar bis Juli desselben Jahres geführte Briefwechsel zwischen Michel Houellebecq und Bernard-Henri Lévy, der bereits im Titel mit der Bezeichnung Ennemis publics für sich wirbt. 33 Houellebecq kommt gleich im ersten Brief zur Sache: „À nous deux, nous symbolisons parfaitement l’effroyable avachissement de la culture et de l’intelligence françaises, récemment pointé, avec sévérité mais justesse, par le magazine Time.“ 34 Man kann in der Bereitschaft, mit der Houellebecq die öffentliche Karikatur als Selbstbeschreibung übernimmt, Zynismus oder Koketterie sehen, man kann sie aber auch als ironischen Hinweis darauf verstehen, dass es in der Mediengesellschaft längst keine Außenposition mehr gibt, von der aus sich noch Kritik üben ließe, die nicht zugleich das Geschäft derjenigen betriebe, die sie kritisiert. 35 Indem das Buch so offensiv den Erwartungen des Publikums entgegenkommt, gibt es sich freimütig als ein typisches Marketingprodukt zu erkennen, bei dem es mindestens so sehr La philosophie dans le boulevard 157 auf die Berühmtheit der Autoren ankommt, wie auf das, was sie sagen. Von der Kritik wurde es daher auch als schlagendes Beispiel für die ‚Peopolisierung‘ des Literaturbetriebs und das von der Intellektuellenszene betriebene ‚Philotainment‘ gewertet. 36 Klatschpresse: Als entscheidender Faktor der Boulevardisierung kommt im Fall Bernard-Henri Lévys noch die Bereitschaft hinzu, mit der dieser bewusst und gezielt sein Privatleben den Klatsch- und Tratschseiten der Illustrierten und People-Magazine öffnet, von Elle, Paris Match und Vanity Fair über Purple und GQ bis hin zu Voici und Gala. Deren Interesse an „BHL“ wird ganz erheblich durch den Umstand beflügelt, dass Lévy seit 1993 in dritter Ehe mit der bekannten Schauspielerin und Sängerin Arielle Dombasle verheiratet ist. Schon die Bilder von der Hochzeitsfeier waren damals exklusiv an Paris Match verkauft worden. Und nachdem Lévy im Sommer 2010 mit der ‚steinreichen Brauerei-Erbin‘ und ‚Stil-Ikone‘ Daphne Guinness in New York gesehen wurde, schafften es Gerüchte über eine Trennung von Lévy und Dombasle immerhin bis in die Gesellschaftsspalten großer ausländischer Tageszeitungen. 37 Spätestens an diesem Punkt geraten Boulevard und Boudoir vollends zur Deckung. Als Teil eines täglichen Kampfs um mediale Aufmerksamkeit müssen öffentliche Selbstinszenierungen wie die Bernard-Henri Lévys als engagierter Intellektueller zwangsläufig zu postmodernen Zitaten, zu Sartre- oder - im Hinblick auf Lévys abenteuerliche Reisen in aktuelle Krisengebiete - Malraux-Simulakren geraten. A fortiori gilt deshalb auch für Bernard-Henri Lévy, was Marcel Gauchet, der zusammen mit Pierre Nora seit 1980 die Zeitschrift Le débat herausgibt, auf die Frage antwortete, ob man nicht Persönlichkeiten wie die in den Medien ebenfalls stark präsenten Philosophen Alain Badiou und Michel Onfray als Reinkarnationen des ‚prophetischen Intellektuellen‘ betrachten könne: „Ce ne sont même pas des survivances mais des customisations médiatiques d’un héritage historique. Je ne vois là que des recyclages d’un modèle mort à des fins de distraction.“ 38 Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass Bernard-Henri Lévy immer wieder als Kronzeuge für die Eigen- und Fremddiagnosen vom Niedergang der französischen Kultur dienen muss, die entgegen vieler Hoffnungen auch nach Nicolas Sarkozys Wahl zum Staatspräsidenten im Mai 2007 nicht abrissen - und welche die französische Kultur um einen neuen Mythos des Alltags, ‚le déclinisme‘, bereicherten. 39 Besonderen Eindruck hinterließ in dieser Hinsicht, wie der bereits zitierte Brief Michel Houellebecqs an Bernard-Henri Lévy aus Ennemis publics belegt, das US-amerikanische Magazin Time, das am 3. Dezember 2007 auf dem Titelblatt seiner europäischen Ausgabe „The Death Of French Culture“ verkündete. Welche Rolle dem Medienintellektuellen „BHL” in diesem Szenario zukam, hatte der angesehene britische Ideenhistoriker Perry Anderson wenige Jahre zuvor folgendermaßen ausgeführt: Christian von Tschilschke 158 „It would be difficult to imagine a more extraordinary reversal of national standards of taste and intelligence than the attention accorded [to] this crass booby in France’s public sphere, despite innumerable demonstrations of his inability to get a fact or an idea straight. Could such a grotesque flourish in any other major Western culture today? “ 40 Unabhängig davon, wie man sich zu dieser harschen Bewertung verhalten mag, stellt sich am Ende doch die Frage, ob nicht Klagen dieser Tonart im Grunde genommen gar nicht so weit entfernt sind von dem schadenfrohen Prominenten-Bashing, den kulturkritischen Kassandrarufen und dem maliziösen Spiel mit interkulturellen Stereotypen, die eigentlich das tägliche Brot der Boulevardmedien sind. 2.2 Jean-Paul Sartre als ‚Philosoph der Straße‘ Die Tatsache, dass sich Bernard-Henri Lévy - wenn auch unter Bedingungen einer durch die elektronischen und digitalen Massenmedien forcierten Boulevardisierung - in seinem intellektuellen Habitus unverkennbar mit Sartre identifiziert, lässt allerdings nur umso deutlicher den Umstand hervortreten, dass das Intellektuellenbild, das sich mit Jean-Paul Sartre als einem ‚Philosophen der Straße‘ verbindet, ganz wesentlich dem printmediengeprägten Dispositiv des Boulevards verhaftet ist. Die Ursprünge dieses Intellektuellenbildes führen zum anderen Ende des ‚Jahrhunderts der Intellektuellen‘, zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts zurück. Schließlich kann man mit gutem Grund behaupten, dass die Affäre Dreyfus, in deren Zusammenhang der Begriff des Intellektuellen zum ersten Mal auftaucht, auch den Zeitpunkt markiert, von dem an die Figur des Intellektuellen eine dauerhafte Allianz mit dem Boulevard als räumlich-medialem Dispositiv eingeht. Während Voltaire in der Affäre Calas (1763-1765) noch hauptsächlich im Medium des Briefs bei den Autoritäten des Ancien Régime intervenierte, verschafft sich Zola zwar auch mit einem Brief, aber einem offenen, in der Presse abgedruckten Gehör. Die umfassende Mobilisierung und Polarisierung der Pariser Öffentlichkeit, die sehr rasch auf Zolas Appell in der Tageszeitung L’aurore erfolgte, wäre ohne die Existenz einer vielfältigen und auflagenstarken Tagespresse und etlicher Zeitschriften, die in Universitäten, Salons, Cafés und Buchläden zirkulierten, nicht denkbar gewesen. Ihre massenhafte öffentliche Lektüre auf den Boulevards wurde schon bald als charakteristische Zeiterscheinung in Bild und Karikatur festgehalten. Zu erinnern ist hier etwa an François Vallotons bekannte Radierung „L’âge du papier“, die am 23. Januar 1898 das Titelblatt der Wochenzeitschrift Le cri de Paris zierte. 41 Der in Paris geborene und ebendort gestorbene Jean-Paul Sartre ist nun, trotz seiner vielfältigen globalen Reiseaktivitäten, sicherlich derjenige Intellektuelle, mit dessen Leben und Werk sich am intensivsten die Vorstellung La philosophie dans le boulevard 159 verbindet, einem bestimmten eng umgrenzten großstädtischen Bohème- Milieu verhaftet zu sein. Es ist im Wesentlichen das legendäre Dreieck zwischen dem Café de Flore, dem Café Les Deux Magots und der Brasserie Lipp, das vom Boulevard Saint-Germain durchschnitten wird und heute für jeden Paris-Touristen zu den Pflichtsehenswürdigkeiten gehört. Nichts dokumentiert Sartres antiakademische und antibürgerliche Einstellung, seine demonstrative Weltzugewandtheit besser als sein halböffentliches Leben zwischen Hotel, Café und Boulevard. Sartres Straßencafé ist der kulturspezifische urbane Gegenentwurf zu Heideggers Schwarzwaldhütte. Es bindet die Erscheinung und öffentliche Wirkung des Intellektuellen symbolisch an die Institution des städtischen Kaffeehauses als eine der Keimzellen der bürgerlich-demokratischen Öffentlichkeit in der Zeit der Frühaufklärung zurück. Bernard-Henri Lévy hat daher auch allen Grund, diesen Umstand in seiner Sartre-Biographie hervorzuheben: „Sartre est un philosophe urbain. C’est le philosophe, par excellence, du macadam et des bistrots. C’est un écrivain qui, au silence des bibliothèques, royaume de l’Autodidacte, a toujours préféré le bruit de fond du Flore, de la Coupole […]. Il n’a d’ailleurs jamais écrit une ligne - du moins le prétend-il - au contact de ce qu’il est convenu d’appeler la nature.“ 42 Auf Kosten der Natur dominieren Boulevard und Café: Die Straße ist der Raum der öffentlichen Intervention, des Protests und der Demonstration, der Ort, an dem sich der Philosoph gegebenenfalls mit den Massen der Arbeiter und Studenten vereint. Das Café dagegen ist der kaum weniger öffentliche Ort der literarischen Produktion, der Begegnung, der Diskussion und des geistigen Austauschs. Beide Räume sind eng miteinander verbunden durch Türen, Fenster, Spiegel, Vorhänge. Von einem Raum zum anderen ist es nur ein Schritt. Die öffentliche Sichtbarkeit des Philosophen, Schriftstellers und Intellektuellen Sartre hat im Laufe der Jahre zu einer umfassenden Ikonographie geführt, an deren Hervorbringung einige der berühmtesten Fotografen des zwanzigsten Jahrhunderts beteiligt waren, darunter Gisèle Freund, Brassaï, Robert Doisneau und Henri Cartier-Bresson. Jeder kennt die emblematischen Schwarzweiß-Bilder, die ihren Teil zur Mythologisierung Sartres beigetragen haben: Sartre, die Pfeife im Mund, zusammen mit dem Anthropologen Jean Pouillon 1946 auf dem Pont des Arts; Sartre am Schreibtisch in seiner Wohnung in der Rue Bonaparte Nr. 42, mit Blick auf die Terrasse von Les Deux Magots und die Place Saint-Germain-des-Prés; Sartre, schreibend vor dem Dôme 1965; Sartre im Anorak vor den Renault-Werken in Boulogne-Billancourt am 21. Oktober 1970 auf einem Benzinfass stehend, das Mikrofon in der Hand; Sartre, wie er am 26. Juni 1970 auf den großen Boulevards die verbotene maoistische Zeitung La cause du peuple verteilt; Sartre zusammen mit Simone de Beauvoir, 1969 und 1973, Zeitung lesend im Restaurant La Coupole usw. 43 Christian von Tschilschke 160 Bei allen diesen Bildern handelt es sich um bewusste, von Sartre kontrollierte Inszenierungen für den Fotografen. Exemplarisch zeigt sich daran auch, dass die Selbstdarstellung des Intellektuellen, sobald sie vom Diskursiven ins Bildmedium wechselt, nahezu unvermeidlich Klischees und Gemeinplätze produziert. Die fotografische Abbildung begünstigt die - in den zahlreichen Karikaturen, etwa der David Levines, 44 auf die Spitze getriebene - synekdochische Reduktion der körperlichen Erscheinung auf einige besonders markante Posen, Gesten und Merkmale, die zu abrufbaren Markenzeichen werden: die Pfeife, die Brille, der schielende Blick - gewissermaßen analog zu der Reduktion anspruchsvoller philosophischer Fragen auf Formeln und Slogans, die sich zusammen mit Sartres wachsendem öffentlichen Ruhm vollzieht. Doch belegen gerade die zahlreichen Fotografien, die von Sartre existieren, paradoxerweise nebenbei noch etwas anderes: die nach wie vor ungebrochene Vorherrschaft der Schrift-, Buch- und Zeitungskultur. Es passt in dieses Bild, dass es nur selten zu einer Zusammenarbeit Sartres mit dem Fernsehen kam. Allerdings waren die Gründe, die Sartre dazu bewogen, sich bis Dezember 1969 dem Bildschirm vollständig zu verweigern - mit Ausnahme einer Erklärung zur Ablehnung des Nobelpreises im Jahr 1964 - überwiegend politischer Natur. 45 Auch das im Jahr 1974 mit dem Sender Antenne 2 vereinbarte große Projekt über eine zehnteilige Serie von Sendungen zur Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts scheiterte. Sartre erklärte anschließend auf einer Pressekonferenz: „J’ai toujours été opposé à la télevision.“ 46 Dies war, so seine Biographin Annie Cohen-Solal, „le dernier des rendez-vous manqués entre Sartre et les médias audiovisuels d’État“. 47 Straße und Café prägen aber nicht nur, für alle sichtbar, das Leben Sartres, sie sind auch programmatische Motive in seinem philosophischen und literarischen Werk. Programmatisch sind sie in dem mehrfachen Sinn, dass Sartre, seinem phänomenologischen Ansatz getreu, philosophische Probleme aus der detailscharfen Analyse ihm gut vertrauter Alltagssituationen entwickelt, dass er diese Alltagssituationen bewusst in einem urbanen Milieu ansiedelt und dass diese städtischen Alltagssituationen - das gilt vor allem für seine literarischen Texte - weit mehr als bloß die Schauplätze des Geschehens sind. Vielmehr scheinen sie geradezu die Ermöglichungsbedingung für die sich in ihnen mitteilenden existentiellen Grunderfahrungen darzustellen. An Beispielen mangelt es nicht: In der Erzählung „Érostrate“ (1936) ist es die anonyme Menschenmenge auf dem Boulevard Edgar Quinet, auf die Paul Hilbert ein Attentat plant, um sich sein Übermenschentum zu beweisen. Im Roman La nausée (1938) streift der sich selbst fremd gewordene Antiheld Antoine Roquentin ruhelos durch die imaginäre, gleichwohl sehr konkret beschriebene Provinzstadt Bouville, zwischen Café Mably und Rue Tournebride. Im Roman Le sursis (1945) wird sich der Lehrer Mathieu nach einer Odyssee durch die Straßen von Paris auf dem Pont-Neuf seiner Freiheit bewusst. Aus Sartres philosophischer Hauptschrift L’être et le néant La philosophie dans le boulevard 161 (1943) kommen schließlich unter anderem jene berühmten Passagen in Erinnerung, in denen Sartre den Vorgang der phänomenologischen Reduktion am Betreten eines Cafés oder den für sein Denken zentralen Begriff der mauvaise fois ausführlich am Beispiel eines Kaffeehauskellners erläutert, der Kellner ist und zugleich Kellnersein spielt. 48 3. Der französische Intellektuelle als Produkt der Boulevardisierung Mit Jean-Paul Sartre und Bernard-Henri Lévy stehen sich demnach zwei als repräsentativ geltende Phänotypen des engagierten französischen Intellektuellen gegenüber, wobei Sartre für den Pol „Boulevard als Medium“ in Anspruch genommen und Lévy als Repräsentant des Pols „Medium als Boulevard“ beschrieben wurde. Diese Zuordnung entspricht im Großen und Ganzen der Periodisierung, die Régis Debray in seiner mediensoziologischen Strukturanalyse der französischen Intellektuellen vorgenommen hat. Debray unterscheidet nach ihrer soziokulturellen Leitfunktion zwischen „cycle universitaire (1880-1930)“, „cycle éditorial (1920-1960)“ und „cycle média (1968-? )“. Sartre gehört demnach primär dem vom Verlags- und Zeitschriftenwesen dominierten, Lévy dagegen dem von den audiovisuellen Medien, insbesondere dem Fernsehen, beherrschten Zyklus an. 49 Gleichzeitig hat sich bei dieser bewusst zugespitzten Gegenüberstellung aber auch schon angedeutet, dass das Erscheinungsbild des französischen Intellektuellen, sofern es in Sartre und Lévy tatsächlich zu einer typischen Ausprägung gelangt, seit jeher durch eine Tendenz zur Boulevardisierung, eine unübersehbare Attraktivität für die Populärkultur und ihre Medien gekennzeichnet ist, ja dass dieses Bild gewissermaßen von Anfang an auch als ein Produkt der Boulevardisierung betrachtet werden kann - deren Formen sich natürlich ihrerseits im Lauf der Zeit in Abhängigkeit von den medienkulturellen Rahmenbedingungen verändern. Fünf verschiedene Aspekte sollen im Folgenden zur Untermauerung dieser These ins Feld geführt werden. Am Anfang soll diesmal Sartre stehen, wobei Einiges von dem, was über ihn gesagt werden kann, nicht nur auf ihn oder den von ihm verkörperten Typus des Intellektuellen zutrifft. 3.1 Diskursinhärente Popularisierungsangebote In Bezug auf Jean-Paul Sartre stellt sich die Frage, ob die populistische Nähe zum Boulevard nicht schon in seiner Philosophie und in seinem Konzept des Intellektuellen selbst angelegt ist und durch entsprechende Gesten der Selbstdarstellung nur verstärkt wird. Sartres Philosophie der Existenz enthielt offensichtlich - vor allem auch in der von Sartre selbst propagierten Christian von Tschilschke 162 Darbietungsform als ‚Existentialismus‘ - ein für die Nachkriegssituation wie geschaffenes Wirkungspotential. Schließlich besaß sie nicht nur eine besondere Affinität zu Kunst und Leben, sondern erreichte auch eine breite Öffentlichkeit: Sie sprach viele Menschen an, die über keine philosophische Bildung verfügten, und ließ sich scheinbar umstandslos in einen bestimmten Lebensstil übersetzen. Das Ereignis, das Sartre im Alter von vierzig Jahren den Ruhm brachte, der ihn Zeit seines Lebens begleiten sollte und ihn über Nacht zur europäischen Kultfigur werden ließ, lässt sich genau datieren: Es ist der öffentliche Abendvortrag, den er unter dem Titel „L’existentialisme est un humanisme“ am 29. Oktober 1945 im Pariser Club Maintenant hielt. Mit Blick auf die sensationslüsterne Presseberichterstattung fragt Annie Cohen-Solal, ob es sich dabei nicht um ein „événement ‚médiatique‘ avant la lettre“ 50 handelte. Die ‚Massenhysterie‘, die Sartres Auftritt hervorrief, fand bald in Boris Vians „Jean-Sol Partre“-Parodie in L’écume des jours (1947) eine literarische Überhöhung ins Groteske. In der akademischen Welt führte dieses gewaltige Publikumsecho allerdings eher zu Aversionen gegen die ‚Oberflächlichkeit‘ und mondäne Euphorie des Existentialismus, vor der man dann zu Beginn der 1950er Jahre beispielsweise, wie etwa Pierre Bourdieu oder Michel Foucault, bei der ‚seriöseren‘ Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte eines Gaston Bachelard, Georges Canguilhem oder Alexandre Koyré Zuflucht suchte. 51 Dieselbe Zwiespältigkeit umgibt auch Sartres Konzept des totalen oder universellen Intellektuellen, der alles können, alles kennen und sich für alles zuständig fühlen musste. Trotz der Singularität, die man Sartres Fähigkeit, mit unveränderter Brillanz zwischen Philosophie, Literatur, Theater, Zeitungs- und Radiojournalismus zu wechseln, gerne zubilligt, offenbart sich in seinem Habitus doch auch eine durch das französische Bildungssystem vermittelte intellektuelle Selbstsicherheit, „une certitude de soi“, wie Bourdieu sagt, „confinant mainte fois à l’inconscience de l’ignorance triomphante“. 52 Schließlich gilt es sich zu verdeutlichen, wie sehr dieses Konzept einer spezifisch französischen, letztlich höfisch-aristokratisch geprägten Mentalität entspricht, die seit jeher Vorbehalte gegen Spezialistentum hegt, die in ihrer akademischen Ausbildung traditionell geistige Vielseitigkeit prämiert, die rhetorischer Brillanz einen überragenden Stellenwert einräumt und die den höchsten Ausdruck intellektueller Ansprüche in der Gestalt des schriftstellerisch tätigen Philosophen sieht. 53 3.2 Das Verhältnis der Intellektuellen zur Boulevardpresse Das Verhältnis zwischen den Intellektuellen und der Boulevardpresse gestaltet sich von beiden Seiten her ebenso überraschend eng wie erwartungsgemäß ambivalent. Symptomatisch für die Haltung vieler französischer La philosophie dans le boulevard 163 Intellektueller sind die Anekdoten, die der Sartre-Freund und Shoah-Regisseur Claude Lanzmann in seinen im Jahr 2009 erschienenen Lebenserinnerungen Le lièvre de Patagonie mitteilt. Lanzmann ist seit 1952, zum Teil unter Pseudonym, regelmäßiger Mitarbeiter der von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mitbegründeten, ursprünglich marxistisch orientierten Zeitschrift Les Temps Modernes. Gleichzeitig ist er jedoch für die mit einer Auflagenstärke von einer Million Exemplaren meist verkaufte Pariser Tageszeitung France-Soir, die Frauenzeitschrift Elle und später auch parallel als Rewriter, Kriminal- und Gesellschaftsreporter für das reine Boulevardblatt France Dimanche tätig. 54 Für Lanzmann stellt dieser Spagat zwischen intellektuell-kritischer Distanz zur kapitalistischen Massenkultur und lustvoller Teilhabe an dem selbstbezogenen Pariser Mikrokosmos der Eitelkeiten, des Klatsches und der persönlichen Intrigen nach eigenem Bekunden kein Problem dar - ebenso wenig offenbar wie für Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, die selbst zeitlebens großes Interesse für die faits divers an den Tag legen. 55 Sartres eigenes Verhältnis zur Boulevardpresse ist jedoch stärker strategisch ausgerichtet. In seiner dramaturgisch originellen Komödie Nekrassov, die am 8. Juni 1955 im Théâtre Antoine uraufgeführt wird, zieht Sartre die in seinen Augen antikommunistische Stimmungsmache der bürgerlichen Pariser Massenpresse ins Lächerliche. Die Handlung spielt unter anderem in der Redaktion des Soir à Paris, hinter dem unschwer der France-Soir zu erkennen ist. Sartre wählt dabei zum ersten Mal die populistische Form der Boulevard-Revue und denunziert auf diese Weise den Boulevard mit dessen eigenen Mitteln. 56 Prompt wird das Stück von den Pariser Boulevardzeitungen als gesellschaftliche Sensation angekündigt. In freudiger Erwartung des bevorstehenden Skandals deutet France-Soir bereits vor der Premiere an, dass ihr eigener Direktor Pierre Lazareff (1907-1972) eine der Hauptzielscheiben des im Stück ausgebreiteten Spottes sei. 57 In der Tat ist die Figur des Jules Palotin unverkennbar dem Vorbild Lazareffs nachempfunden. 58 Diese ideologische Frontstellung verhindert andererseits jedoch auch wieder nicht, dass Sartre in France-Soir zwischen dem 28. Juni und dem 15. Juli 1960 unter dem Titel „Ouragan sur le sucre: un grand reportage à Cuba de Jean- Paul Sartre sur Fidel Castro“ eine Serie von immerhin sechzehn überwiegend anekdotischen Artikeln über seinen Besuch bei Fidel Castro und das ‚neue Kuba‘ unterbringen kann. Am Ende muss offen bleiben, wer bei diesem grenzüberschreitenden Joint Venture zwischen dem Intellektuellen und dem Boulevard den größeren Gewinn verbuchen kann: Sartre, der den Boulevard in Kauf nimmt, um für den Kommunismus zu werben, oder Lazareff, der den Kommunismus in Kauf nimmt, um mit dem weltberühmten Intellektuellen Sartre für sein Blatt zu werben. 59 Christian von Tschilschke 164 3.3 Das Verhältnis der Boulevardpresse zu den Intellektuellen Dass sich die Boulevardpresse auch für Intellektuelle interessiert, ist selbstverständlich kein ausschließlich französisches Phänomen, aber doch eines, das allgemein als französische Eigenart angesehen wird. An der scheinheiligen Entrüstung des France-Soir über die ‚Affäre Nekrassov‘ zeigt sich bereits, dass das Intellektuellenmilieu ein dankbares Reservoir für Klatsch und Tratsch bietet. So gehören der Lebensstil der ‚Existentialisten‘ und allem voran das Privatleben Sartres und Simone de Beauvoirs über Jahre hinweg zu den Lieblingsthemen von Massenblättern wie Samedi-Soir, France-Soir und Paris-Match. Genüsslich präsentiert beispielsweise die Wochenzeitung Samedi-Soir ihren Lesern am 3. Mai 1947, mit einer entsprechenden Karte versehen, das neue Biotop der „troglodytes de Saint-Germain-des-Prés“. 60 Mit welcher Häme und morbiden Faszination man Sartre verfolgt, und zwar weit über die Boulevardpresse hinaus, wie hartnäckig man seinen Geliebten, Freunden, Nachbarn und selbst seiner Mutter nachstellt, kann man ausführlich in den Sartre-Biographien Annie Cohen-Solals und Bernard-Henri Lévys nachlesen. 61 Singulär, so Lévy, sei der Hass gewesen, den man Sartre entgegengebracht habe: „Et c’est une haine qui, surtout, s’exprime avec une violence à la fois scatologique et meurtrière, dont je ne suis pas sûr qu’il y ait tant d’autres examples.“ 62 Darüber ist jedoch nicht zu vergessen, dass sich Sartre und Beauvoir immer wieder auch als willige Zuträger des Boulevards erwiesen haben, wie etwa im Fall von Beauvoirs Sartre-Porträt „Jean-Paul Sartre, Strictly Personal“, das im Januar 1946 im US-amerikanischen Modemagazin Harper’s Bazar erschien, um die Aufmerksamkeit der US-Öffentlichkeit auf Sartres gerade beginnenden Amerikabesuch zu lenken. 63 Spätestens beim Thema „Sartre et les femmes“ 64 ist erneut der Punkt erreicht, an dem Boulevard und Boudoir endgültig miteinander verschmelzen. Dominiert wird dieses dankbar ausgebeutete Thema zweifellos von der ‚wilden Ehe‘ Sartres mit Simone de Beauvoir. Sie bildet die Grundlage für den nicht zuletzt auch für Intellektuelle so anziehenden „Mythos des ‚mächtigen Paares‘, das, ähnlich dem ‚Existentialismus‘, zu so etwas wie einem Markenzeichen geworden ist.“ 65 Mag es sich nun eher um Sex oder mehr um Crime handeln, letztlich sucht sich der Boulevard alle seine Gegenstände nach demselben Prinzip: Ob es die ‚offene Beziehung‘ von Sartre und Simone de Beauvoir ist, der Mord des marxistischen Philosophen Louis Althusser an seiner Ehefrau Hélène im November 1980 oder heutzutage das Beziehungsgeflecht Lévy, Bruni und Sarkozy, immer kann sich der Boulevard - denn das ist eines seiner Erfolgsrezepte - in dem bestätigt sehen, ‚was man schon immer zu wissen glaubte‘: dass es mit der Überwindung der bürgerlichen Ehe doch nicht so weit her ist, dass Marxismus am Ende wahnsinnig macht oder dass sich im sechsten Arrondissement von Paris Sex, Intelligenz und Politik immer schon ein frivoles Stelldichein gegeben haben. 66 La philosophie dans le boulevard 165 3.4 Die literarische Tradition der Schlüsselromane Die Boulevardpresse hat allerdings nicht das Monopol auf Kolportage. In Frankreich sind es die Intellektuellen selbst, die immer wieder mit skandalverdächtigen literarischen Erzählungen aus dem Pariser Intellektuellenmilieu einer weniger am Austausch von Argumenten als an intimen Enthüllungen interessierten Öffentlichkeit bereitwillig entgegenkommen. Boris Vians Existentialistenkarikatur in L’écume des jours (1947) und Sartres Journalistensatire in Nekrassov (1955) wurden bereits erwähnt. Bis in die unmittelbare Gegenwart erzielen autobiographische Schlüsselromane über die französische Intellektuellenszene vorhersehbare Bestsellererfolge und werden zum Teil mit den höchsten Literaturpreisen ausgezeichnet. Indem sie medienwirksam mit dem Versprechen auf Indiskretionen, Intrigen und erotische Offenbarungen über prominente Persönlichkeiten locken und dabei gleichzeitig mehr oder weniger selbstironisch auf konventionelle, leserfreundliche Erzählweisen zurückgreifen, bedienen sie im Grunde - zumindest in dieser Hinsicht - das gleiche Register wie der People-Journalismus. Auf Wiedererkennungseffekte aller Art spekulieren unter anderem schon Simone de Beauvoirs Romane L’invitée (1943) und Les mandarins de Paris (1954, Prix Goncourt), später dann Philippe Sollers Femmes (1983), Marguerite Duras’ L’amant (1984, Prix Goncourt), Alain Robbe-Grillets Le miroir qui revient (1984) und Julia Kristevas Les samouraïs (1990). 67 Unter den aktuellen Beispielen wäre Justine Lévys Roman Rien de grave (2004) zu nennen, in dem die Tochter Bernard-Henri Lévys kaum verhüllt über ihre von Carla Bruni - „elle est toute refaite, toute figée, c’est Terminator cette fille“ 68 - zerstörte Ehe mit dem Philosophen Raphaël Enthoven berichtet, und nicht zuletzt Michel Houellebecqs Roman La carte et le territoire (2010, Prix Goncourt), der seinen Erzähler die ‚Misere der Intellektuellen‘ ironisch folgendermaßen kommentieren lässt: „Frédéric Beigbeder était peu à peu devenu une sorte de Sartre des années 2010, ceci à la surprise générale et un peu à la sienne propre […].“ 69 3.5 L’effet Pivot: die TV-Präsenz der Intellektuellen Ein anderes, gleichwohl entscheidendes Spezifikum des französischen Kulturbetriebs ist die einzigartige Rolle der populären Literatur-Talkshows Apostrophes (1975-1990, 724 Sendungen) und Bouillon de culture (1991-2001, 407 Sendungen), die, moderiert von dem Kulturjournalisten Bernard Pivot, jeden Freitagabend auf Antenne 2 ausgestrahlt wurden und sich im Lauf der Zeit zu einer nationalen Institution entwickelten. Natürlich haben auch Printmedien wie die seit 1966 monatlich erscheinende populäre Literaturzeitschrift Le magazine littéraire mit ihren regelmäßig erscheinenden Dossiers Christian von Tschilschke 166 nicht unerheblich dazu beigetragen, die Präsenz und Prominenz bestimmter Intellektueller in der Öffentlichkeit zu steigern. Für das sentimentale Verhältnis, das die französische Gesellschaft zu ‚ihren‘ Intellektuellen entwickelte, hatten die Sendungen Pivots gleichwohl eine besondere Bedeutung. So erreichte beispielsweise Apostrophes zu Spitzenzeiten bis zu 12% der Zuschauer. 70 Sehr viele bekannte Intellektuelle waren dabei, manche mehrfach: Raymond Aron, Roland Barthes, Pierre Bourdieu, Fernand Braudel, Régis Debray, Alain Finkielkraut, Michel Foucault, Max Gallo, André Glucksmann, Michel Houellebecq, Julia Kristeva, Bernard-Henri Lévy, Claude Lévi-Strauss, Philippe Sollers usw. Andere waren geladen, kamen aber nicht, darunter Louis Althusser, Simone de Beauvoir und Gilles Deleuze. Zu Sartres Tod erschien eine Sonderausgabe. Die Emergenz des intellectuel médiatique hat mit der des „phénomène Sartre“ 71 zumindest soviel gemeinsam, dass sich ihre Geburtsstunde genau datieren lässt. Während Sartre am 29. Oktober 1945 durch seinen Vortrag im Pariser Club Maintenant zu öffentlichem Ruhm gelangte, wurde Bernard- Henri Lévy ein vergleichbarer, allgemein als Beginn von etwas Neuem wahrgenommener Erfolg durch seinen gemeinsamen Auftritt mit André Glucksmann in Pivots Apostrophes-Sendung vom 27. Mai 1977 zum Thema „Les Nouveaux Philosophes sont-ils de droite? “ zuteil. Wie es die Legende will, soll die Tochter Bernard Pivots am Tag danach den telegenen Auftritt des 29-jährigen Lévy mit den Worten „Hier soir, j’ai vu Rimbaud“ 72 kommentiert haben. Einige Jahre später wird Lévy seinen inzwischen zum Tagesgeschäft gewordenen Umgang mit den Medien als Teil einer Strategie des Gebens und Nehmens darstellen, von deren Effizienz und Kontrollierbarkeit er bis heute überzeugt zu sein scheint: „La télé est là. Je m’en sers. J’essaie qu’elle ne se serve pas trop de moi. Je trouverais aussi niais de la porter aux nues que de la traîner en enfer.“ 73 4. Fazit: Transkulturelle und kulturspezifische Tendenzen Mit der Konsekration des Intellektuellen durch das Fernsehen und dem Bekenntnis Bernard-Henri Lévys zu den neuen Medien gelangt der Parcours, der von der aktuellen Boulevardisierung zurück zum Boulevard und von diesem aus über eine Reihe von unterschiedlichen Boulevardisierungsfaktoren des intellektuellen Lebens bis in die Gegenwart führte, wieder an seinen Ausgangspunkt. Dabei ist sicher deutlich geworden, dass Intellektueller, Boulevard und Boulevardisierung keine illegitimen Begriffskopplungen sind, sondern dass es einen intrinsischen Zusammenhang zwischen ihnen gibt, der durch die Teilhabe des Intellektuellen an einer medial verfassten Öffentlichkeit vermittelt ist. La philosophie dans le boulevard 167 Welche konkreten Einsichten ergeben sich nun aus der Anwendung der Begriffe ‚Boulevard‘ und ‚Boulevardisierung‘ auf die Geschichte und das Erscheinungsbild des französischen Intellektuellen? Zum einen lässt sich mit Hilfe dieser beiden Begriffe und am Beispiel der prototypischen Figuren Jean-Paul Sartre und Bernard-Henri Lévy pointiert nachvollziehen, welche Auswirkungen der Wandel der ‚Mediosphäre‘, das heißt die Umstellung der Kommunikation von Buchdruck und Presse auf Fernsehen und Internet sowie ihre kulturellen Folgen auf die Rolle des ‚engagierten‘ Intellektuellen allgemein haben bzw. unter bestimmten Umständen, etwa denen der französischen Kultur, haben können. 74 Zum anderen lässt sich zeigen, dass es in Frankreich eine besondere kulturspezifische Affinität des Intellektuellen zum Boulevard gibt, in der sich wahrscheinlich Residuen einer älteren Repräsentationskultur ebenso niederschlagen wie Spuren einer fortwirkenden hochkulturellen Orientierung der populären Massenkultur. Es ist zu vermuten, dass der ‚französische Intellektuelle‘ überhaupt erst unter diesen Bedingungen zu einer mythischen Figur werden konnte. Bernard-Henri Lévy ist in seinem öffentlichen Erscheinungsbild sicher nicht zuletzt deswegen so umstritten, weil sich in ihm eine allgemeine, transkulturelle und eine kulturspezifische, französische Tendenz in besonders prägnanter Weise überschneiden. 1 Die „Philosophie auf dem Boulevard“ hat mit der „Philosophie im Boudoir“, auf die hier angespielt wird, zumindest soviel gemeinsam, dass sie das Resultat einer Grenzüberschreitung ist: Sie hält sich jeweils an Orten auf, wo sie ‚eigentlich‘ nicht hingehört. Gerade mit dem Stereotyp des französischen Intellektuellen verbindet sich jedoch immer schon die Vorstellung einer gewissen Libertinage, einer antibürgerlichen, tabukritischen Einstellung zu Sexualität und Erotik. Umgekehrt enthält auch de Sades pornographischer Roman La philosophie dans le boudoir (1795) bekanntlich im „Cinquième dialogue“ eine explizit politisch-revolutionäre Botschaft („Français, encore un effort si vous voulez être républicains“). Siehe dazu aus aktuellem Anlass Ina Hartwig: „Das Boudoir von New York. Zwischen Literatur und Wirklichkeit: Dominique Strauss- Kahn, als de Sade’sche Romanfigur betrachtet“, in: Süddeutsche Zeitung, 138, 17.6.2011, 13. 2 Diesen Vergleich wählt der Journalist Thierry Chervel: „Untote leben länger. Französische Intellektuelle schreiben Nachrufe auf sich selbst“, in: Süddeutsche Zeitung, 292, 19.12.2000, 15. Er bezieht sich dabei auf die Vorstellung vom Intellektuellen, die sich im Titel von Régis Debray: I.f. Suite et fin, Paris, Gallimard, 2000 in der Abkürzung „I.f.“ niederschlägt, die für „Intellectuel français“ steht. 3 Michel Winock: Le siècle des intellectuels, Paris, Editions du Seuil, 1997; nouvelle édition, Paris, Edition du Seuil, 2009; Jacques Julliard/ Michel Winock (eds.): Dictionnaire des intellectuels francais. Les personnes, les lieux, les moments, nouvelle édition, Paris, Éditions du Seuil, 2009. Siehe aus deutscher Perspektive Jürg Altwegg: Die Republik des Geistes. Frankreichs Intellektuelle zwischen Revolution und Reaktion, München/ Zürich, Piper, 1986; Christian von Tschilschke 168 Joseph Jurt: „Zur Geschichte der Intellektuellen in Frankreich“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 24, 2, 1999, 134-152 und Joseph Jurt: „Die Tradition des engagierten Intellektuellen in Frankreich. Von der Dreyfus-Affäre bis heute“, in: Wolfgang Eßbach (ed.): Welche Modernität? Intellektuellendiskurse zwischen Deutschland und Frankreich im Spannungsfeld nationaler und europäischer Identitätsbilder, Berlin, Berlin Verlag, 2000, 17-47 sowie komparatistisch Hans Manfred Bock: „Intellektuelle“, in: Robert Picht/ Vincent Hoffmann-Martinot/ René Lasserre/ Peter Theiner (eds.): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München/ Zürich, Piper, 1997, 72-78; Hans Manfred Bock: „Der Intellektuelle und der Mandarin? Zur Rolle des Intellektuellen in Frankreich und Deutschland“, in: Frankreich Jahrbuch 1998, Opladen, Leske + Budrich, 1998, 35-51 und Ulrike Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart, Klett- Cotta, 2000. 4 Jurt: „Zur Geschichte der Intellektuellen“, 136. 5 So Jürgen Habermas, allerdings allein in Bezug auf aktuelle Entwicklungen. Jürgen Habermas: „Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Die Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas“, in: Jürgen Habermas: Ach, Europa, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2008, 77-87, 83. 6 Georg Franck schlägt vor, unter ‚Celebrities‘ „diejenigen bekannten Gesichter zu fassen, die ein börsennotiertes Beachtungskapital ihr eigen nennen“. Georg Franck: „Celebrities: Elite der Mediengesellschaft? “, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 4, 65, 2011, 300-310, 306. Dieser Vorschlag setzt die Annahme voraus, dass Aufmerksamkeit heute, zumindest in der Medienöffentlichkeit, das Geld als Leitwährung abgelöst hat und die neuen Medien nach der Art von Börsen funktionieren, deren Handelskapital sich in Aufmerksamkeitswerten misst (cf. ibid.). 7 Die Selbstinszenierungslogik des Fernsehens charakterisiert Andreas Franzmann zum Beispiel folgendermaßen: „Talkshows, Kamingespräche, Quartette, Zweier-Streitgespräche sind darauf angelegt, zu einem feststehenden Sendetermin ein Profil zu bedienen und es zu perpetuieren. Sie verbrauchen Themen und Personen regelrecht, um ihre Sendeformate interessant zu halten. Dadurch verlieren die im Fernsehen gezeigten Diskussionen ihren authentischen, verbindlichen Charakter. Das Medium dient nicht mehr der Sache, die Sache dient dem Medium.“ Andreas Franzmann: Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in der Affäre Dreyfus, Frankfurt a.M., Humanities Online, 2004, 11. Es gibt kaum einen anderen Intellektuellen, der aus dieser Einsicht so radikale Konsequenzen gezogen hat wie Jacques Derrida. Einem Gespräch mit der Fernsehjournalistin Laure Adler am 23.4.1996 in der Reihe Cercle de Minuit auf France 2 stimmt Derrida, der Fotos von sich lange Zeit gar nicht zuließ, nur unter strengen Auflagen zu (URL: <http: / / www.ina.fr/ art-et-culture/ litterature/ video/ CPB96003302/ jacques-derrida.fr.html>). Bei den Dreharbeiten zu dem Filmporträt, das Kirby Dick und Amy Ziering Kofman von ihm anfertigen (Derrida, USA 2002), legt er besonderen Wert darauf, nur in einer bestimmten Weise, gebrochen durch Spiegel und Hindernisse, gefilmt zu werden (cf. Megan Cunningham: The Art of the Documentary. Ten Conversations with Leading Directors, Cinematographers, Editors, and Producers, Berkeley, New Riders, 2005, 155sq.). 8 Johannes Angermüller: „Intellektuelle“, in: Stefan Gosepath/ Wilfried Hinsch/ Beate Rössler (eds.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, vol. 1, Berlin, De Gruyter, 2008, 557-560, 557. 9 Johannes Angermüller zufolge, der sich der Begrifflichkeit der Feldsoziologie Bourdieus bedient, differenziert sich im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich das bis dahin zweipolige intellektuelle Feld „in drei relativ autonome Sub- La philosophie dans le boulevard 169 felder (Wissenschaft, Medien, Kunst)“ aus (Johannes Angermüller: Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld, Transcript, 2007, 67), „bevor sich ab Mitte der 70er Jahre Symptome einer Entdifferenzierung des intellektuellen Feldes manifestieren“ (ibid.). Von nun an „verläuft die antagonistische Grenze des intellektuellen Felds zwischen, auf der einen Seite, ‚Experten‘ und ‚Beratern‘ mit Zugang zu politischen Entscheidungsträgern sowie ‚Medienintellektuellen‘, die ohne eine spezifische akademische Kompetenz in den Diskurs eintreten und deren Legitimität einzig auf ihrer massenmedialen Präsenz beruht, und auf der anderen Seite akademischen Forschern, die sich ausschließlich an spezialisierte Fachöffentlichkeiten richten“ (ibid., 86). Vgl. zur Geschichte des ‚Medienintellektuellen‘ in Frankreich Hans Manfred Bock: „Von der Stellvertretung zur Selbstinszenierung. Medienintellektuelle in Frankreich“, in: Herbert Willems (ed.): Theatralisierung der Gesellschaft, vol. 2: Medientheatralität und Medientheatralisierung, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, 81-99. 10 Die Charakteristik als ‚Philosoph der Straße‘ (und des ‚Boulevard‘), auf die zurückzukommen sein wird, folgt Peter V. Brinkemper: „Dirty Jean-Paul Sartre. Die Philosophie der Straße und der antiurbane Terror“, in: Telepolis, 14.08.2005, s.p. URL: <http: / / www.heise.de/ tp/ druck/ mb/ artikel/ 20/ 20656/ 1.html> (10.06.2011). Brinkemper lässt sich seinerseits vom Sartre-Porträt Bernard-Henri Lévys anregen. Bernard-Henri Lévy: Le siècle de Sartre. Enquête philosophique, Paris, Éditions Grasset, 2000. Seine Auffassung vom Intellektuellen begründete Sartre in Plaidoyer pour les intellectuels, Paris, Gallimard, 1972. Die Selbstdefinitionen anderer französischer Intellektueller, etwa Michel Foucaults als ‚spezifischer‘, Pierre Bourdieus als ‚kollektiver‘ oder Pierre Noras als ‚demokratischer‘ Intellektueller, sollen hier nicht weiter verfolgt werden. 11 Cf. etwa den Eintrag von Joël Roman: „Sartre (Jean-Paul)“, in: Julliard/ Winock: Dictionnaire des intellectuels francais, 1252-1255, 1252: „Philosophe et écrivain, engagé dans tous les débats publics de son temps, nul n’incarne mieux que Jean-Paul Sartre la figure de l’intellectuel français.“ Pierre Bourdieu: Esquisse pour une auto-analyse, Paris, Édition Raisons d’Agir, 2004, 37 spricht ironisch von einer „contribution sans équivalent à la mythologie de l’intellectuel libre, qui lui vaut la reconnaissance éternelle de tous les intellectuels“. 12 Cf. etwa Angermüller: Nach dem Strukturalismus, 65-94. 13 In einer am 9. Oktober 2010 publizierten Umfrage der französischen Wochenzeitschrift Marianne schneidet Bernard-Henri Lévy (82% der Befragten kennen seinen Namen) vor Elisabeth Badinter (70%), Luc Ferry (69%), Jacques Attali (68%) und Régis Debray/ Jean d’Ormesson (64%) mit dem ersten Platz als der bei weitem bekannteste französische Intellektuelle ab. 14 Über biographische Details informieren Philippe Boggio: Bernard-Henri Lévy. Une vie, Paris, La Table Ronde, 2005 und das Munzinger-Archiv. Lévys Vermögen wird auf ca. 170 Millionen Euro geschätzt (Boggio: Bernard-Henri Lévy, 521). Siehe zur Sartre-Nachfolge ibid., 486. 15 Joan Juliet Buck: „France’s Prophet Provocateur“, in: Vanity Fair, January 2003, s.p. URL: <http: / / www.vanityfair.com/ politics/ features/ 2003/ 01/ levy200301> (10.06. 2011). Verständlich wird dieser Hinweis „[v]or dem Hintergrund einer traditionell geringen Überschneidung massenmedialer und akademischer Öffentlichkeiten“ (Angermüller: Nach dem Strukturalismus, 558) in den USA. 16 „Spiegel-Gespräch. ‚Ich führe Krieg‘. Der französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy über seine Flickwerkphilosophie, seine Rolle als Reizfigur der Linken und seine Angst vor einem faschistischen Islam“, in: Der Spiegel, 14, 2010, 126-129, 126. Christian von Tschilschke 170 17 In Bezug auf die (deutsche) Literatur der Gegenwart ist auf einen ähnlichen Zusammenhang verwiesen worden: „Die Aura intellektueller Unabhängigkeit resultiert partiell aus einer Funktionalisierung des Boulevards, ohne dabei jenen künstlerischen Eigensinn freizugeben, der sich als schriftstellerische Behauptung einer autonomen Position präsentiert, indem er die ‚ökonomische Ökonomie‘ des normalisierten und normalisierenden Massenmarkts auf den Kopf stellt.“ (Markus Joch/ York-Gothart Mix/ Norbert Christian Wolf: „Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Einleitung“, in: Markus Joch et al. (eds.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen, Niemeyer, 2009, 1-9, 6). 18 So der Literaturkritiker Hubert Winkels: Leselust und Bildermacht. Über Literatur, Fernsehen und Neue Medien, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1999, 111. 19 Milan Kundera: La lenteur. Roman, Paris, Éditions Gallimard, 1995, 25. 20 Ibid., 29. Im Original kursiv. 21 Ibid., 29sq. 22 Cf. Christian von Tschilschke: „Literarische Fernsehbeobachtung in Frankreich: Von Milan Kunderas La lenteur (1995) zu Jean-Philippe Toussaints La télévision (1997)“, in: Kathrin Ackermann/ Christopher F. Laferl (eds.): Transpositionen des Televisiven. Fernsehen in Literatur und Film, Bielefeld, Transcript, 2009, 31-60. 23 Pierre Bourdieu: Sur la télévision. Suivi de L’emprise du journalisme, Paris, Liber - Raisons d’agir, 1996, 30. 24 Ibid., 59. 25 Ibid. 26 Ibid., 62sq. Ganz ähnlich hatte bereits Jacques Derrida in einem Interview mit Le Nouvel Observateur vom 9. September 1983 auf die für ihn nicht nachvollziehbare Berühmtheit Sartres reagiert (cf. Peter Kampits: Jean-Paul Sartre, München, Verlag C.H. Beck, 2004, 155). Intellektuelle sind eben nicht nur Beobachter, sondern immer auch Teilnehmer des Feldes, über das sie sich äußern. 27 Angermüller: Nach dem Strukturalismus, 91 in Bezug auf die Nouveaux Philosophes. 28 Louis Althusser: Lettres à Hélène, Paris, Éditions Grasset, 2011. 29 URL: <www.bernard-henri-levy.com> (10.06.2011). 30 Bernard-Henri Lévy: De la guerre en Philosophie, Paris, Éditions Grasset, 2010. 31 Cf. Aude Lancelin: „BHL en flagrant délire: l’affaire Botul“, in: Le Nouvel Observateur, 8.2.2010. URL: <http: / / bibliobs.nouvelobs.com/ essais/ 20100208.BIB4886/ bhl-en-flagrant-delire-l-039-affaire-botul.html> (10.06.2011). 32 Pierre Bourdieu/ Hans Haacke: Libre-échange, Paris, Seuil, 1994, 58. Zitiert nach Jurt: „Zur Geschichte der Intellektuellen“, 147sq. 33 Michel Houellebecq/ Bernard-Henri Lévy: Ennemis publics, Paris, Flammarion/ Éditions Grasset & Fasquelle, 2008. 34 Ibid., 8. Das öffentliche Image Lévys fasst Houellebecq folgendermaßen zusammen: „Spécialiste des coups foireux et des pantalonnades médiatiques, vous déshonorez jusqu’aux chemises blanches que vous portez. Intime des puissants, baignant depuis l’enfance dans une richesse obscène, vous êtes emblématique de ce que certains magazines un peu bas de gamme comme Marianne continuent d’appeler la ‚gauche-caviar‘, et que les périodistes allemands nomment plus finement la Toskana-Fraktion. Philosophe sans pensée, mais non sans relations, vous êtes en outre l’auteur du film le plus ridicule de l’histoire du cinéma.“ (7) 35 Deshalb zeigt sich Houellebecq auch sehr beeindruckt von dem Satz, mit dem Nicolas Sarkozy angeblich dem Projekt Yasmina Rezas, ein Buch über ihn zu schreiben (Yas- La philosophie dans le boulevard 171 mina Reza: L’aube le soir la nuit, Paris, Flammarion, 2007), zugestimmt habe: „Même si vous me démolissez, vous me grandirez.“ (Ibid., 28) 36 Cf. Martina Meister: „Volksfeinde ist vielmehr ein Buch mit extrem hohem intellektuellen Unterhaltungswert, es ist die Erfindung des Philotainment, wenn man so will.“ (Martina Meister: „Ein schöner Fall von Philotainment. Die französischen Stars Bernard-Henri Lévy und Michel Houellebecq liefern sich ein unterhaltsames Brief-Match“, in: Die Zeit, 45, 29.10.2009, s.p. URL: <http: / / www.zeit.de/ 2009/ 45/ L-B-Houellebecq> [10.06.2011]). Eine andere erfolgreiche Form des Philotainments ist das seit Oktober 2008 auf Arte ausgestrahlte Fernsehmagazin Philosophie, das von dem jungen französischen Philosophen Raphaël Enthoven moderiert wird (dem Sohn von Bernard-Henri Lévys Freund Jean-Paul Enthoven, Ex-Mann von Lévys Tochter Justine und Vater eines Kindes mit Carla Bruni) - eine Art französischer Gegenentwurf zu der von Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski moderierten Kultur-Talkshow Das philosophische Quartett im ZDF. 37 Siehe z.B. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20, 23.05.2010, 48 und Süddeutsche Zeitung, 172, 29.07.2010, 8. Auch Enthüllungsbücher wie das der Journalisten Nicolas Beau/ Olivier Toscer: Une imposture française, Paris, Éditions des Arènes, 2006, die Licht in Lévys mediale, politische und ökonomische Beziehungen zu bringen beanspruchen, bedienen bereitwillig den Schlüsselloch-Voyeurismus der Leser, wenn sie mitteilen, dass die von Bernard-Henri Lévy getragenen Hemden von Charvet stammen und mehr als 350 Euro pro Stück kosten (18) oder dass die Höhe seiner Handy-Rechnung monatlich mehr als 2000 Euro beträgt (53). 38 Michel Gauchet: „Le Débat: contre l’esprit du temps“, propos recueillis par Élisabeth Lévy, in: Le point, 20.5.2010. URL: <http: / / www.lepoint.fr/ culture/ le-debat-contre-lesprit-du-temps-20-05-2010-1273721_3.php> (10.6.2011). 39 Cf. Aude Lancelin: „Le déclinisme“, in: Jérôme Garcin (ed.): Nouvelles mythologies, Paris, Éditions du Seuil, 2007, 97sq. Cf. zum Niedergang der Intellektuellenkultur außerdem Michael Mönninger: „Intellektuelle Wirtshausschlägerei. Erst demontieren die Franzosen den ‚Affekt-Philosophen‘ André Glucksmann, nun ist der ‚Salon-Intellektuelle’ Bernard-Henri Lévy an der Reihe“, in: Die Zeit, 52, 16.12.2004, 50; Jacques Bouveresse: „On en est là… Intellectuels médiatiques et penseurs de l’ombre“, in: Le monde diplomatique, 7969, 12.5.2006, 23, 29 sowie Johannes Willms: „Pariser Palaver“, in: Cicero, 7, 24.6.2010, 36-38 und Sascha Lehnartz: „Ärger um Sarkozix“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 29, 23.7.2010, 10-15. Siehe zur französischen Dauerdebatte um den Intellektuellen Dominique Lecourt: Les piètres penseurs, Paris, Flammarion, 1999 (die englischsprachige Ausgabe, New York/ London, 2000, trägt den sinnreichen Titel The Mediocracy); Pierre Nora: „Adieu aux intellectuels“, in: Le débat. 20 ans. Première partie, 110, mai-août 2000, 4-14; Esprit. Splendeurs et misères de la vie intellectuelle (I), 262, marsavril 2000; Esprit. Splendeurs et misères de la vie intellectuelle (II), 263, mai 2000 und Marcel Gauchet/ Pierre Nora (eds.): De quoi l’avenir intellectuel sera-t-il fait? Enquêtes 1980, 2010, Paris, Éditions Gallimard, 2010. 40 Perry Anderson: „Dégringolade“, in: London Review of Books, 26, 17, 2.9.2004, 3-9, 7. Siehe auch die Fortsetzung „Union Sucrée“, in: London Review of Books, 26, 18, 23.9.2004, 10-16. 41 Zur Rolle der Medien in der Affäre Dreyfus siehe unter anderem Pascal Ory/ Jean- François Sirinelli: Les intellectuels en France, de l’affaire Dreyfus à nos jours, Paris, Armand Colin, 1986, 29-32; Elke-Vera Kotowski/ Julius H. Schoeps (eds.): J’accuse…! …ich klage an! Zur Affäre Dreyfus. Eine Dokumentation, Begleitkatalog zur Wanderausstellung in Deutschland Mai bis November 2005, herausgegeben im Auftrag des Moses Mendelssohn Zentrum, s.l., Verlag für Berlin-Brandenburg, 2005, 91-134 und zur Affäre Christian von Tschilschke 172 Dreyfus als dem Gründungsmythos des modernen Intellektuellen Franzmann: Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. 42 Lévy: Le siècle de Sartre, 330. 43 Siehe die Bildbände Liliane Sendyk-Siegel: Sartre. Images d’une vie, commentaires de Simone de Beauvoir, Paris, Éditions Gallimard, 1978; Annie Cohen-Solal: Album Jean- Paul Sartre, Paris, Éditions Gallimard, 1991 und Jean-Luc Moreau/ Bruno Barbey: Le Paris de Jean-Paul Sartre et Simone de Beauvoir, Paris, Éditions du Chêne, 2001. 44 Siehe Cohen-Solal: Album, 233. 45 Cf. Agnès Chauveau: „Télévision (les intellectuels et la)“, in: Julliard/ Winock: Dictionnaire des intellectuels français, 1325-1333, 1329. 46 Annie Cohen-Solal: Sartre 1905-1980, Paris, Éditions Gallimard, 1985, 836. 47 Ibid., 835. Der Eintrag „Télévision“ in François Noudelmann/ Gilles Philippe (eds.): Dictionnaire Sartre, Paris, Éditions Champion, 2004, 483 enthält nur Verweise auf andere Einträge. Auch der Band Michael Lommel/ Volker Roloff (eds.): Sartre und die Medien, Bielefeld, Transcript Verlag, 2008 klammert den Aspekt ‚Sartre und das Fernsehen‘ aus. Siehe zur Rolle des Interviews in Sartres Verhältnis zur Öffentlichkeit Jean- Pierre Boulé: Sartre médiatique. La place de l’interview dans son œuvre, Paris, Librairie Minard, 1992. 48 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris, Librairie Gallimard, 1943, 44, 98-100. 49 Régis Debray: Le pouvoir intellectuel en France, Paris, Éditions Ramsay, 1979, 49-113. 50 Cohen-Solal: Sartre 1905-1980, 429. 51 Siehe das Zeugnis von Bourdieu: Esquisse, 21sq. 52 Ibid., 17. 53 Siehe zu dieser mentalitätsprägenden Tradition Priscilla Parkhurst Clark: Literary France. The Making of a Culture, Berkeley et al., University of California Press, 1987, speziell zu Sartre 165-191. 54 France-Soir nahm insofern eine Sonderstellung ein, als die Zeitung 1944 aus einem Résistance-Blatt hervorging und eine ganze Reihe namhafter Journalisten an sich binden konnte (unter anderem Joseph Kessel). Eine mit der deutschen Bild-Zeitung oder der englischen The Sun vergleichbare Sensationspresse konnte sich in Frankreich bekanntlich nie durchsetzen. 55 Siehe Claude Lanzmann: Le lièvre de Patagonie, Paris, Éditions Gallimard, 2009, 299, 348, 377, 389-393, 511-542. 56 Cf. Jacques Lecarme: „Notice“, in: Jean-Paul Sartre: Théâtre complet, ed. Michel Contat, Paris, Éditions Gallimard, 2005, 1469-1489, 1471: „Nekrassov combine les vertus de l’intelligence avec la redoutable efficacité du théâtre de Boulevard […].“ 57 Dies alles berichtet wenige Tage nach der Uraufführung Der Spiegel den deutschen Lesern. „Trauerspiel vor der Premiere“, in: Der Spiegel, 26, 22.6.1955, 34sq., 34. 58 Lazareff ist freilich Medienprofi genug, um sogleich den Aufmerksamkeitsnutzen von Sartres satirischem Angriff zu erkennen: „Pierre Lazareff, très lié à Simone Berriau, la directrice du théâtre Antoine, semble ne pas avoir été mécontent de cette contre-publicité tapageuse.“ (Lecarme: „Notice“, 1477) Ja, es ging sogar das Gerücht um, dass Lazareff selbst das Stück heimlich finanziert habe (cf. ibid., 1483). 59 Vor diesem Hintergrund erscheint Cohen-Solals Darstellung des Verhältnisses Sartre- Lazareff als eines symbolischen Zweikampfs nach dem Muster „L’intellectuel français numéro un et la tête de la nouvelle presse française“ (Cohen-Solal: Sartre 1905-1980, 599) als zu sehr auf einen dramatischen Gegensatz hin stilisiert. Für Cohen-Solal kündigt sich bereits im Jahr 1955 die ‚Kapitulation‘ des Intellektuellen vor den Medien an: La philosophie dans le boulevard 173 „Doit-on dater de 1955 les premiers symptômes de cette chute charismatique des intellectuels français, dont nous reparlerons au cours des années qui vont suivre? “ (Ibid., 599). 60 Cohen-Solal: Album, 106. 61 Cohen-Solal: Sartre 1905-1980, 443-456; Lévy: Le siècle de Sartre, 48-54. 62 Ibid., 49. 63 Cf. Cohen-Solal: Album, 120: „l’exploitation médiatique de Sartre doit beaucoup à Simone de Beauvoir“. 64 So der Titel des Gesprächs, das Sartre mit Catherine Chaîne führte, in: Le Nouvel Observateur, 638, 31.1.1977, 74-76, 79, 81-83; 639, 7.2.1977, 64-66, 68, 73-75, 81-82. 65 Monika Pelz: Simone de Beauvoir, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2007, 102. Kein Wunder, dass auch Bernard-Henri Lévys Biographie mit diesem Kapitel beginnt. Lévy: Le siècle de Sartre, 18-28. Cf. auch Walter van Rossum: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, 2001; Hannelore Schlaffer: Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar, München, Carl Hanser Verlag, 2011. 66 Siehe zu Althusser Lothar Baier: „Mörderphilosophie. Der Fall Althusser“, in: Lothar Baier: Französische Zustände. Berichte und Essays, Frankfurt a.M., Fischer Verlag, 1985, 218-229. 67 Einen Vergleich zwischen Les mandarins de Paris und Les samouraïs unter dem Gesichtspunkt des Schlüsselromans führt Josiane Leclerc Riboni durch: Des „Mandarins“ aux „Samouraïs“. La Fin d’un Mythe, New York et al., Peter Lang, 1997, 41-67. 68 Justine Lévy: Rien de grave, Paris, Stock, 2004, 45. 69 Michel Houellebecq: La carte et le territoire, Paris, Flammarion, 2010, 130. 70 Cf. Edouard Brasey: L’effet Pivot, Paris, Éditions Ramsay, 1987, darin vor allem das Kapitel „La conjuration des intellectuels“, 173-211. Brasey betont: „La télévison, et singulièrement Apostrophes, a profondément conditionné la prise de parole des intellectuels, et surtout le mode de circulation de leurs idées.“ (Ibid., 178) Siehe zur Rolle von Apostrophes innerhalb des kulturellen Feldes Gisèle Holtzer: La page et le petit écran: culture et télévision. Le cas d’Apostrophes, Bern et al., Peter Lang, 1996 sowie anekdotisch Bernard Pivot: Le métier de lire. Réponses à Pierre Nora, Paris, Éditions Gallimard, 1990. 71 Cohen-Solal: Sartre 1905-1980, 430. 72 Boggio: Bernard-Henri Lévy, 150. Cf. auch Brasey: L’effet Pivot, 202-206. 73 Bernard-Henri Lévy: Éloge des intellectuels, Paris, Éditions Grasset, 1987, 140. 74 Unter ‚médiasphère‘ versteht Régis Debray: Cours de médiologie générale, Paris, Éditions Gallimard, 1991, 229: „un milieu de transmission et de transport des messages et des hommes, avec les méthodes d’élaboration et de diffusion intellectuelles qui lui correspondent.“ Jörg Türschmann Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris Die Aufführung der Bühne Bruno Latours Veröffentlichungen sind aufgrund ihrer Vielzahl nahezu unüberschaubar geworden, seine Artikel in mehreren Sprachen erschienen, wiederholt in Sammelbänden oder Zeitschriften aufgenommen worden und sowohl in künstlerischen als auch wissenschaftlichen Publikationen zu finden. Sie sind anekdotisch, erklärend, historiografisch, systematisch, grundlegend und speziell. Einzelne Gedankengänge werden immer wieder aufgegriffen und neu exemplifiziert, umgekehrt einzelne Beispiele mehrfach als Erklärungen zitiert und zu Grundlagen seines Denkens erklärt. Latours Theorie ist unsichtbar, weil er ihre einzelnen Aspekte, Bausteine und Wendungen in der Auseinandersetzung mit scheinbar weit entfernten Bereichen kollektiven Handelns dargelegt hat. Die Stadt Paris ist ein solcher Anlass theoretischer Entfaltung und eine Bühne, die der Mittelpunkt der Aufführung ist, die Latour auf ihr inszeniert. Reiner Ruffing stellt seiner Übersicht über die Monografien ein Latour-Zitat voran: „Was zählt, ist die Frage, wie man Bühnen schafft, auf denen man unser Leben verändert.“ 1 Anhand von Paris führt Latour zusammen, was zwar in seinen anderen Schriften auch eine Rolle spielt, aber der Stadt als Aufführungsort nichts von ihrer Einzigartigkeit nimmt. Es handelt sich im folgenden Fall um eine Veröffentlichung in dreifacher Form: erstens als interaktive Website auf Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch, zweitens als Fotografie-Text-Band auf Französisch und drittens als pdf- Download einer reinen Textversion auf Englisch. 2 Paris: Ville Invisible verdichtet künstlerische und wissenschaftliche Kreation auf der Grundlage von Latours Besuchen städtischer Einrichtungen wie Wasserwerk und Straßenbauamt zu einem „livre improbable“ oder einer „sociological opera“, wie es in Plan 53 in der französischen bzw. englischen Version heißt, 3 muss aber als die Vielfalt der Zugänge interpretiert werden, die die Stadt ihrem Betrachter bietet. Wer diese Möglichkeiten als beliebig einstuft oder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen versucht, wird doch nur einer unter vielen Teilen von Aufführung und Bühne sein, die „Paris“ heißen. Das Abschreiten des Aufführungsorts ist die Aufführung des Orts, die Verkettung der Eindrücke die Inszenierung ihrer Ordnung. Jörg Türschmann 176 Schwarmintelligenz: Der Text und sein Autor Handelnde, ob nun menschlich oder nicht-menschlich, nennt Latour bekanntlich „Akteure“, ihre jeweilige Bühne „Netzwerk“ und die Aufführung „Theorie“: Akteur-Netzwerk-Theorie oder kurz ANT, wie die Ameise im Englischen, wie die Wimmelbücher für Kinder von Ali Mitgutsch. 4 Latour, der in Paris: Ville Invisible im Sinne Panofskys sowohl Wissenschaftsals auch Kunstwollen beweist, vernetzt bei verschiedenen Besuchen von Pariser Institutionen wie eine fleißige Ameise Beobachtungsdetails und schafft damit einige der Bühnen, „auf denen man unser Leben verändert“, 5 indem er sich schwarmartig vervielfältigt, was er in Plan 33 so beschreibt: „On m’offre des possibilités d’existences qui reposent dans des dispositifs épars, fourmillant à travers la ville.“ Ob sein Fleiß zu einer Schwarmintelligenz gehört, ist allerdings zweifelhaft, weil man herausgefunden hat, „dass Ameisen gar nicht soviel arbeiten, mithin gar nicht so emsig sind, wie gemeinhin vermutet“. 6 Latours persönliches Bemühen ist seiner Publikationstätigkeit nach zu urteilen zweifelsohne beeindruckend, doch ob seine menschlichen und nicht-menschlichen Mitspieler dasselbe Aktivitätspotenzial haben wie die zur Website, pdf-Datei und Fotoband geronnenen Wanderungen Latours, hängt vom Verständnis des Handlungsbegriffs ab: Der Mensch Latour ist sicherlich ein Akteur, aber Selbiges muss seiner Theorie nach auch für seine Publikation gelten, einer der nicht-menschlichen Akteure, auf deren Berücksichtigung Latour so großen Wert legt. Kritisch gesehen hieße dies jedoch, einem Fall von intentional fallacy zu unterliegen, würde Paris: Ville Invisible eine Handlungsmacht unterstellt, die sich mit den Absichten des Autors deckt und durch die das Werk so wie sein Autor agieren würde, weil es für dessen Absicht steht. Es hieße auf der anderen Seite, einen Kategorien-Fehler - „die Subjekt-Objekt- Logik der Sätze wird fälschlicherweise als Realität genommen“: 7 das Werk spräche gleich einem handelnden Subjekt zu seinem Publikum - zu vermeiden, wenn die Publikation als das Objekt aufgefasst würde, das das Autorsubjekt erzeugt hat und das an seiner Stelle seine Absichten vertritt. Mit Latour muss dagegen von einer bidirektionalen Transitivität ausgegangen werden, sodass Paris: Ville Invisible genauso handelt wie sein Autor, dass beide aufeinander einwirken, dass der Autor genauso das Produkt seines Textes ist wie umgekehrt. Die Pistole in der Hand eines Menschen ist eine Gelegenheit zur Tat, durch die die Waffe und ihr Träger ein Hybrid bilden, mithin die Pistole ein „Quasi-Objekt“ ist, 8 das von seiner Seite aus ein Handlungsangebot macht. Paris: Ville Invisible ist Zeugnis und Gegenwart von Autorwerdung und Textentstehung, ein Netzwerk, das „Paris“ heißt und in den Bewegungen durch die Stadt zum Ausdruck kommt. Mehr noch: Latours Stadtwanderungen, die Fotos von Emilie Hermant, die Begleitung durch die Fotografin und die Assistentin, die drei Formen der Ver- Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 177 öffentlichung, die Bibliotheken, Computer, Server, Buchhandlungen, die sie verbreiten, die Labore, Grafiken, Listen und Überwachungsbilder, die Spezialisten der städtischen und wissenschaftlichen Institutionen, die Métro, dieser Artikel hier und vieles mehr sind Paris. Es gibt aber eben etwas, das „Latour“ genannt wird und das alle diese Akteure miteinander verknüpft, den Schwarm sozusagen in Bewegung gesetzt hat. Dieses „Latour“, von dem im Folgenden in diesem Sinn die Rede sein soll, stützt sich auf die „Macht der Assoziation“: „Wenn ein Akteur einfach nur Macht hat, geschieht nichts und er/ sie ist machtlos; wenn andererseits ein Akteur Macht ausübt, führen andere die Handlungen aus. Es scheint, als sei Macht nicht etwas, das man besitzen kann - tatsächlich muss man sie eher als Konsequenz einer Handlung denn als deren Ursache betrachten.“ 9 Um Latour zu sein, muss in diesem Fall Paris erschaffen werden, und um dies tun zu können, muss in Latours Sinne der folgende Artikel als Mittler und Transformation assoziiert werden, damit Latours Handlungsmacht als Konsequenz dieser Assoziation erscheint. Denn nur in der permanenten Transformation können Netzwerke existieren, und Transformationen finden nur statt, wenn etwas oder jemand als Akteur in einem Testverfahren einen Unterschied macht und die Stellung der bisherigen Akteure in einem Netzwerk relativiert. Architektur I: Der Pont-Neuf „Les philosophes définissent volontiers le temps comme la ‚série des successions’ - et l’espace comme la ‚série des simultanéités’ -, c’est-à-dire des coexistences. Pendant longtemps, nous avons cru, en France à Paris, que la grande affaire était celle du temps [...]“, heißt es in Plan 52. Folgt man Latours Argumentation, ist Paris zum Abbild seiner eigenen Historisierung geworden. Wie bei den Organismen, bei denen sich die Zellen nach und nach austauschen, sodass nach längerer Zeit nichts mehr von früher da ist, gibt es den Pont-Neuf nur noch, weil seine Steine nach und nach ausgetauscht werden, weshalb - wie ergänzt werden kann - sein Name sehr treffend ist. Der Pont-Neuf sei eine Institution: Als Cristo die Brücke verpackte, meinte er, etwas Neuartiges zu tun. Jedoch sei laut Latour der Pont-Neuf immer verpackt gewesen. Ihn umgäben die Präfekturen, das Brückenbauamt, die Bauarbeiter und Gerüste, ohne die die Brücke nicht mehr existieren würde. Das Sprichwort „Se porter comme le Pont-Neuf“ bedeute laut Plan 52 einerseits, dem Tod entgegenzugehen. Der Verfall der Brücke, die Angriffe durch Luftverschmutzung und das Wasser der Seine, begründeten auf nachvollziehbare Weise diese Lesart des geflügelten Wortes. Seine zweite Lesart, die den ständigen Austausch berücksichtigt, verspreche die Entde- Jörg Türschmann 178 ckung des virtuellen Paris. Denn hinter den historischen Hausfassaden sind schon längst nicht mehr die Originalhäuser zu finden. Die Zeit der Revolutionen sei laut Latour vorüber. Das Voranschreiten in der Zeit durch die Vernichtung von Zuständen, zu denen die Umgestaltung durch Haussmann gerechnet werden müsse, sei abgelöst worden durch eine Entwicklung in die räumliche Breite, die aber durch die Faltung, die Miniaturisierung kein großes physisches Ausmaß besitze. Architektur II: Haussmann Latour vergleicht sein Vorgehen in Plan 15 mit Étienne-Jules Mareys „fotografischem Gewehr“, der „Chronophotographie“. Die Forscher könnten nur den toten Vogel untersuchen, die Naturbetrachter nur den ungeteilten Flug, die Chronophotographie bestehe dagegen in einer Überlagerung von Transformationen, der Transformationen von Referenzen. Es soll ein „Oligoptikon“ entstehen, wie es mehrfach an anderen Stellen heißt, Phasenbilder, die keine Einzelaufnahmen sind, weil sie einer Bewegung angehören. Die Assoziierung erzeugt Bewegung, sie ist Teil der Bewegung, sie ist aber nicht das Abbild der Bewegung und steht deshalb auch nicht zu ihr im Widerspruch. Im Plan 38 werden zwei Photographien einander gegenübergestellt. Sie zeigen die Île de la Cité vor dem Abriss der alten Häuser und anschließend die leere Fläche, auf der die Präfektur entsteht. Der Begleittext weist darauf hin, dass die Entscheidung zum Abriss keine Selbstverständlichkeit war. Viele Akteure hätten so assoziiert werden können, dass das Unternehmen nicht zustande gekommen wäre. Jetzt aber, wo die neue Bebauung eine vollendete Tatsache ist, führe Haussmanns Architektur die Menschen wie Marionetten an den Fäden. Diese steingewordene Interpretation der damals zukünftigen Pariser Stadtlandschaft verlange von den „Spürhunden“ der Soziologie, durch Wände zu gehen. Die Assoziationen zum früheren Zustand sind nicht durch Türen zugänglich. Sie entstehen durch die Zusammenschau von Photographien, Stadtplänen und Modellen. Die fotografisch konservierte Vergangenheit und die Modell gewordenen Projektionen der damaligen Zukunft fügen sich zu einem entfalteten Zeitenlauf am Ort der Publikation, der im heutigen Paris diese Überlagerungen in Form von undurchlässigen Mauern zeigt. Latour und wir sehen uns also vor vollendete Tatsachen gestellt, denn die Gebäude existieren und ihre Vollendung kann nur rückblickend als eine vieler Möglichkeiten nachvollzogen werden. Soweit Latours Ausführungen. Die Zeitgenossen der Haussmann’schen Baumaßnahmen hatten dagegen die Gelegenheit, Ergebnis und Projekt miteinander zu vergleichen, darunter Édouard Manet, der 1878 in seinem impressionistischen Gemälde Les paveurs Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 179 de la Rue Mosnier die Bauarbeiten als Potenzialität seines eigenen Malstils integrierte und ihnen die fertigen Gebäude in klarer Formgebung gegenüberstellte. Gérard Genette erklärt die Darstellung der Pflasterer so: „Tout cela est peint de manière apparemment rapide, au moins pour le groupe des paveurs, dont la facture à coups de brosse énergiques ou négligents contraste avec le soin apporté aux façades de rez-de-chaussée du côté droit. Ce contraste me semble, en somme, le motif essentiel du tableau, qui oppose à la rigueur des façades flambant neuves l’aimable désordre d’une chaussée en train de se faire, encore à l’état d’esquisse et comme in progress, version toute artisanale, voire nonchalante, presque campagnarde, des grands travaux haussmanniens.“ 10 Demnach weist Manet ganz traditionell die Dynamik den menschlichen Akteuren und die Stasis den Gebäuden zu. Die Regsamkeit und die Arbeiten haben für Genette einen ländlichen Charakter, die Häuser scheinen dagegen - so kann ergänzt werden - ihre Herkunft zu verbergen, weshalb ihre bildliche Darstellung viel präziser, schärfer, glatter, transparenter und detaillierter ist. Entscheidend ist, dass Manet beides in seinem Werk zusammenführt, die offene linke und die vollendete rechte Straßenseite, vor denen sich rechts schemenhaft bürgerlich gekleidete Personen abzeichnen, von deren Art einige die Gebäude bewohnen oder beziehen, wie Genette anhand von Lastkutschen vor der Häuserzeile vermutet, und die die Entstehung der Häuser vielleicht nicht reflektieren. Damit stünden sie in Kontrast zu den Arbeitern in der Straßenmitte. Latours Ansichten von Paris können hinsichtlich dieser Gleichzeitigkeit von Werden und Sein ähnlich interpretiert werden, nur dass Virtualität in Faktizität integriert ist, wie die Beispiele des Pont-Neuf und der Präfektur zeigen. Mit der Absage an die Faszination für fertige Oberflächen ohne Interesse an deren Fertigung distanzieren sich die Latourschen Bewegungen auch von exotistischen und voyeuristischen Erkundungen großbürgerlicher Konsumkultur oder populärer Provokationen. Die Diktatur des Boulevariats Latours Besuche von Laboren und Überwachungseinrichtungen gleichen auf den ersten Blick bekannten Formen der Paris-Erkundung. Der offensichtlich bekannteste Stadtgänger ist der vielzitierte Pariser Flaneur, der Benjaminsche Passagen- und Boulevard-Wandler im Haussmann’schen Paris. Er durchquert keineswegs orientierungslos die Stadt, lässt sich zwar von den Reizen des Augenblicks lenken, aber bringt mit seinem Schlendern das Unvereinbare zueinander. Seine Bewegungen sind abhängig von beiläufigen Attraktionen und scheinen einer spontanen Laune zu entspringen. Doch vom Flanieren stammt die Vorstellung der Metropole als einer Montage des Disparaten. Die Krise der einheitlichen und sinnstiftenden Deutung des Jörg Türschmann 180 Erlebten wird hier durch das Postulat einer höher gestellten Montage-Ästhetik bewältigt. Latours Einsicht in eine Teilsicht gleicht der augenblicklichen Versenkung in einen Reiz während der Passage, jedoch ist die kategoriale Ausrichtung auf Orte der Forschung und Beobachtung der Planhaftigkeit dieser Einrichtungen verpflichtet, während der Flaneur seinen Weg durch die Anlage der Straßen sucht, in diesem Sinn sicher auch einen Rahmen hat, ihn aber in seiner Wirkung auf sich selbst beschreibt, also eine Hermeneutik des Disparaten pflegt, die nichts mit Latours Beschreibung institutionalisierter Formen von Beobachtung der Stadt Paris zu tun hat. Eine weitere Art der Stadtbesichtigung, von der sich Latours Besuche unterscheiden, ist nicht intellektuell, wenn auch ebenso voyeuristisch. Die Kritik daran zielt auf Konsumsucht und Reizüberflutung: Die winzigen Spektakel, die entlang der Route warten, liefern die einfachen Wahrheiten medialer Inszenierungen, die sich auf die Anziehungskraft titelgebender Schlagworte verstehen. Diese Großstadtwanderer lassen sich von riesigen Lettern, beleuchteten Plakaten, pornografischen Aktbildern, kostbaren Warenauslagen, pompösen Fassaden und überdimensionalen Preisetiketten ansprechen. Sie gelten als die verführten Unschlüssigen, deren Planlosigkeit sie zu Opfern des günstigen Augenblicks werden lässt. Ihre Orientierung erfolgt nach einem einfachen Reiz-Schema, weil sie ausschließlich ihr momentanes Wohlbefinden durch Versprechen zu sichern versuchen, die nur durch neue Versprechen erfüllt werden und deren Aufgabe daher auch nicht die Befriedigung von Bedürfnissen ist. Solche Voyeure sind der Stadt wie einem Immersionsmedium ausgesetzt und so gesehen noch wirksameren Verführungen als die Fernsehzuschauer, deren „Unterdrückung“ der Fernsehkabarettist Urban Priol im Zweiten Deutschen Fernsehen am 21. Dezember 2010 in seiner Sendung Neues aus der Anstalt auf die „Diktatur des Boulevariats“ zurückgeführt hat. Das Boulevariat - schrille Persönlichkeiten und schamlose Provokateure - beanspruchen die Bühnen der Fernsehshows in einer Art, wie es früher schon auf der fête foraine mit der Ausstellung von Tieren, Behinderten und Kolonisierten geschah. Die Ärmsten der Armen weideten sich staunend an ihrer momentanen Überlegenheit, als sie die Wesen beklatschten, die sich Spott und Hohn des Straßenpublikums, aber auch der Neugier der Wissenschaftler aussetzen mussten. Abdellatif Kechiche zeigt in seinem Film Black Venus von 2010, wie eine Schwarzafrikanerin 1810 erst in London auf der Straße als „Hottentottenvenus“ vorgeführt wurde, bevor sie 1817 in der Pariser Académie Royale de Médecine als Präparat die Fachwelt faszinierte. Die sogenannten ‚bildungsfernen Schichten‘ bewältigen ihre kritische Situation durch den Konsum momentaner Attraktionen, wofür schon früher auf einer Bühne wie im Grand Guignol unvorstellbare Schauerlichkeiten gezeigt wurden. Die Wissenschaftler rechtfertigen die Attraktion des Außergewöhnlichen mit der Laborsituation und die Filmwelt der Stadt Paris im Januar 2011 die exzessive Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 181 Darstellung erniedrigender Auftritte in Black Venus mit der Verleihung des Prix Lumière an Yahima Torres als bester Nachwuchsdarstellerin einer französischen Produktion des Jahres 2010. Paris zeigt sich aber Latour weder wie Benjamins Flaneur noch wie dem sensationslüsternen Voyeur. Es geht nicht um Krisenbewältigung, sondern genau um das Gegenteil: Wie Latour in vielen seiner Schriften erklärt, gilt es, das Selbstverständliche in einen Krisenzustand zu versetzen, indem das netzwerkartige Funktionieren einer Vielzahl unbemerkter Akteure in der Beschreibung entfaltet wird. Die ersten Sätze der Online-Version von Paris: Ville Invisible auf dem Frontispiz lauten: „Paris se donne si facilement au regard des peintres et des touristes, on l’a si souvent photographiée, on a publié sur la Ville Lumière tellement de beaux livres, qu’on oublie les difficultés des milliers d’ingénieurs, de techniciens, de fonctionnaires, d’habitants et de commerçants, pour la rendre visible.“ Einem sozialen Schichtenmodell zufolge könnte behauptet werden, dass sich Paris: Ville Invisible also um den fleißigen Mittelstand bemüht, der mit seiner alltäglichen Arbeit die Stadt geschaffen hat und ihre Infrastruktur aufrecht erhält. Weder die großen Könige und Bauherren noch die reizgesteuerten Flaneure, Bohémiens und Touristen stehen Modell, sondern die menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, die den Reichweiten ihrer Netzwerke entsprechend tätig sind oder die, anders herum, die Möglichkeiten des Netzwerks von ihrer Warte aus verkörpern. Der Pont-Neuf ist eben ein Netzwerk und nicht wie in Leos Carax’ Film Les Amants du Pont-Neuf eine Baustelle für verliebte Clochards, die von dort aus sowohl in persönlicher Abgeschiedenheit als auch wie unerkannte Voyeure in aller Öffentlichkeit ein Feuerwerk bestaunen, um selbst wiederum für das Filmpublikum zu liebens- und bewunderungswürdigen Monstern zu werden. Der Rohrmolch Was ist aber anders, wenn Latour in Plan 34 von sich als „le moi baladeur, circulant, transversal, le moi chaînage et mouvement“ spricht? Folgt man dem Parcours, den die Online-Version von Paris: Ville Invisible vorschlägt, in der angegebenen Reihenfolge, bietet sich bereits zu Beginn ein guter Eindruck davon, wie die Stadt erkundet wird. Nach der Lektüre des bereits zitierten Kopftextes werden die Möglichkeiten einer Übersicht über Paris ausgelotet, dann begeben sich Latour und Hermant an ihren Arbeitsplatz: die Ecole des Mines. Das Ganze lässt sich in Worte fassen, ohne zwischen den Text- und Bildanteilen in jedem Fall unterscheiden zu müssen. Plan 1: Die Sicht vom Kaufhaus La Samaritaine ist auf einer dort befindlichen Panoramakarte strukturiert. Die Panoramakarte ist veraltet, sie muss erneuert werden. Jörg Türschmann 182 Plan 2: Ein Modell wird von Paris erstellt, um den Fluss der Autos zu beschreiben und ihn mit Ampeln zu regulieren, dazu die Fotografie eines älteren Herren, der Korrekturen am Plan vornimmt. Plan 3: Die Einteilung in die Quadranten eines Stadtplans, der einmal in der Aufsicht, einmal schräg von der Seite zu sehen ist. Es erscheinen verfremdete und verpixelte Ansichten von Eiffelturm, Arc de Triomphe und Place de la Bastille in der Art eines Computerspiels. Es handele sich um die Anfänge einer „zweiten Welt“, die wegen der Grobschlächtigkeit ihrer Avatare und der Nettikette keineswegs virtuell, sondern materiell wie in Rousseaus Urgemeinde sei. Plan 4: Man müsse Paris zu einem Diorama verkleinern wie dasjenige auf dem Dach der Samaritaine, um einen Überblick zu bekommen. Einen echten Überblick gebe es aber nicht mehr, man müsse in das „Plasma“ der Stadt eintauchen, und dies sei mit Hilfe von Fotografien möglich, die Lichtspuren im Dunkeln der Nacht gleichen, kein Modell, keine Kontemplation, sondern „Theorie“, im Sinn des Besuchs des Orakels. Es wird die Frage nach der Verbindung der Einzelaufnahmen gestellt, die durch keine Gesamtansicht der Gesellschaft verstellt werden soll. Plan 5: Die Raum- und Kursverwalterin der Ecole des Mines, an der Latour und Hermant arbeiten, bewältigt die Organisationsaufgaben mit Hilfe von Plänen, die auf Papier, im Computer und in Schubladen bereit liegen. Sie schaut nicht nach draußen und ist mit niemandem in Kontakt, sie beachtet nicht die Hausfassaden aus ihrem Fenster, und ihre Herrschaft erstreckt sich nicht auf die sichtbare unmittelbare Umgebung. Sie folgt nicht Platons Vorschlag, die Realität außerhalb der Höhle zur Kenntnis zu nehmen, sondern verharrt in ihrem dunklen Büro. Dennoch ist diese Strukturierung nicht unsichtbar, sie ist vielmehr als Bewegung eines Rohrmolchs präsent, in Form der Zeichen, die auf Zeichen verweisen - Pläne, Wegweiser, Anschläge - und der Menschen, die damit zu tun haben. Das Bild vom Rohrmolch verlangt eine Erklärung: Das französische Wort furet, dessen Übersetzung in der englischen Fassung ausgelassen ist, hat zwei grundlegende Bedeutungen: Erstens ist damit das Frettchen gemeint. Dieses Tier wird bei der Kaninchenjagd eingesetzt, weil es in der Lage ist, die Gänge eines Kaninchenbaus zu erkunden. Im Dunkeln findet es sich ohne Übersicht durch seinen Geruchssinn im Gangsystem zurecht, weshalb furet übertragen auch „Spürnase“ bedeutet. Zweitens hat der belebte Akteur, das Frettchen, als Verdinglichung seine Entsprechung im technischen Bereich, wenn mit furet ein Rohrmolch gemeint ist. Ein Rohrmolch ist ein patronenartiges Gebilde, das durch Rohrleitungen geschickt wird, um Aufschluss über deren Zustand zu geben. Das französische furet ist eine Metapher, das Kompositum „Rohrmolch“ benennt im Deutschen Belebtes und Unbelebtes. Sie stehen laut Plan 5 für die Bewegung durch ein Gangsystem, für eine Struktur aus Bewegungen: „Ni présence transparente, ni Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 183 action invisible et sournoise, sa structure glisse dans son étroit fourreau de traces.“ Industrielle Fertigungskontrolle: traçabilité In Plan 10 bringt ein Mitarbeiter des Straßenbauamts ein Straßennamensschild an. Dahinter sind Fotografien gelegt, die damit zu tun haben: Schilderlager der Stadt Paris, ein Werkzeugkasten, weitere Schilder, die noch nicht angebracht sind und deshalb wirkungslos sind. Zusammen mit der Mitarbeiterin im vorhergehenden Plan, die Stadtpläne liest, um den Standort von Schildern zu erkunden, handelt es sich um eine weitere Darstellung des „alignement“, bei dem Zeichenträger auf Zeichenträger treffen. Aber hier geht die Bewegung von ihrer Ausführung zu einer bloßen Möglichkeit über: „Ce n’est plus seulement la circulation des traces qui nous intéresse ici, mais, si l’on peut dire, les cintres successifs qui servent, de proche en proche, à maintenir ouvert le tunnel où les traces pourront ensuite passer.“ Mit dieser Potenzialität kommt Paris: Ville Invisible in Plan 19 an einen Punkt, an dem trotz aller Vorbehalte nicht ausgeschlossen wird, dass Zusammenhänge sichtbar werden: „Oui, on touche, on réfère, on voit, mais à condition de désigner du regard, du doigt, le cheminement d’une trace à l’autre à travers les abîmes successifs de la transformation. Si l’on a cette vertu, alors oui, on voit, on peut figurer le social, le monde qui nous entoure.“ Damit ist auch gemeint, dass eine soziale Wahrheit nicht fertig vorliegt und enthüllt werden kann, sondern dass sie aufgrund der verschiedenen Blickwinkel und der Transformationen, die der Weg der Perspektivenverknüpfung verlangt, hergestellt wird. Insofern ist der Vergleich mit der Produktionskontrolle in der industriellen Warenfertigung aufschlussreich, die Latour an derselben Stelle anführt: „L’industrie appelle ‚traçabilité‘ la capacité de suivre une pièce depuis sa conception jusqu’à sa vente. La procédure ‚qualité‘, maintenant répandue, justement pour effet d’augmenter cette traçabilité, en multipliant les inscriptions, étiquettes, descriptions diverses, bref ces fameux bordereaux que nous pistons comme un chien le ferait d’un lièvre.“ Wie es weiter in Plan 19 heißt, sind die Organisationen, die Paris „produzieren“ und die zuvor beschrieben werden - das Wasserwerk, die Verkehrsüberwachung, die Wetterbeobachtung, ein Labor für neurologische Experimente an Ratten, das Straßenbauamt - einfach nur „kompliziert“, aber nicht „komplex“. Denn an diesen Orten werden Zusammenhänge auf wenige Variablen beschränkt, so dass sich die Spurenlese ihrer Produkte in Formen von Listen, Tabellen und Graphen auf dem Computer auf der Basis von 0 und 1 bewerkstelligen lasse. Dagegen sei ein gewöhnliches Gespräch von Jörg Türschmann 184 der Sprache über die Gestik bis hin zur Umgebung „komplex“, welche alle weitere komplexe Zusammenhänge nach sich zögen. Auch der Verlauf eines Fußballspiels oder das Spiel eines Orchesters zeigten das Komplexe aus Ausführung und gleichzeitiger Kontrolle des Produkts. Beide, das Komplexe und das Komplizierte, bergen Möglichkeiten der traçabilité, keine sei der anderen vorzuziehen. Eine Wanderung entlang ihres Verlaufs ist bei beiden Fällen, im Sinn der produktiven Krise einer Beschreibung, als Entfaltung des Selbstverständlichen möglich. Spurenlese des Komplexen Latour stellt die grundlegende Frage, warum die Dinge in der Soziologie keine Rolle spielen, obwohl sie durch die Industrielle Revolution so zahlreich geworden sind. Die nicht-menschlichen Akteure sind in Paris: Ville Invisible überall präsent und stabilisieren das großstädtische Leben: Ampeln regeln den Verkehr, Zebrastreifen schützen Fußgänger, Anzeigetafeln beruhigen Autofahrer, die auf dem Périphérique im Stau stehen, indem sie die Dauer bis zur nächsten Ausfahrt anzeigen. Wer im Café de Flore einen Kaffee bestellt, wird mit Münzen bezahlen, Speisekarten lesen und Computer- Quittungen überprüfen. Er wird auf Stühlen sitzen, deren Rindslederbezüge alle paar Jahre erneuert werden müssen. Das Kaffeepulver besteht aus einer speziellen Mischung, die die Manager des Lokals anfordern. All das wird der Gast nicht in den Mittelpunkt stellen. Er wird feststellen, dass er in einem angenehmen Ort war und dass es ihm gut gefallen habe, dass dieses Café typisch pariserisch sei. Er hat sich einer Situation überlassen, er hat sich ihr hingegeben. Seine anfängliche Bereitschaft zu dieser Hingabe beruhte auf Erwartungen, die niemals bis ins Letzte zu Ende gedacht gewesen sein können. Er kann nicht die Stuhlbezüge, die Position der Tische und die Raumtemperatur berücksichtigen. Vielmehr hat er sich der Situation und die Situation sich überlassen, solange alles reibungslos verläuft, solange keine Krise entsteht, wie in Plan 35 erklärt wird. Der furet verbindet metaphorisch Kultur und Natur, er ist Sinnbild für die Bewegung durch das Netz all dieser Akteure, die in komplexen Zusammenhängen oft unbemerkt bleiben. Das Schnüffeln und Auflauern ist den Beobachteten oft suspekt. Im Café de Flore führt die Verfolgung eines jungen Paars zu einer indiskreten Annäherung, im Labor sind sich die Wissenschaftler nicht klar darüber, was die Beobachtung ihrer Arbeitsbedingungen abseits ihrer experimentellen Anordnungen ergeben soll. Das Komplexe kann hierbei als der interessantere Teil der Wanderungen gelten, insofern es die Versprachlichung alltäglicher Selbstverständlichkeiten und Zufälle verlangt. Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 185 Es entwickeln sich lange Ketten, deren Glieder mit Hilfe durchschnittlicher Beobachtungsgabe zueinander in Beziehung gesetzt werden können, ohne dass Konstruktion und Entdeckung voneinander unterscheidbar wären. Denn die komplexe Relationierung von Akteuren auf dem Weg der Beschreibung kann sich nicht auf eine erkennbare Tradition der Listen stützen, wie sie in wissenschaftlichen Zusammenhängen gang und gäbe sind. Doch selbst in der Wissenschaft zählen Alltäglichkeiten: „Simondon, Serres und Latour betrachten Wissen als etwas Materialistisches und Konkretes. Sie beobachten und beschreiben, wie es mittels kleinteiliger Arbeitsschritte und oft ganz basaler Techniken hergestellt, notiert, überschaubar und distribuiert wird.“ 11 Wissenschaft abstrahiert von komplexen Zusammenhängen, weshalb scheinbar eine künstliche Situation entsteht, die durch diese Abstraktion nicht zur Entdeckung von Wahrheiten, sondern zu Konstruktionen führt, deren Erfolg und Anerkennung durchaus von Bedingungen außerhalb des Labors abhängen. Die Konstruktion von Wissen, eines so genannten „faitiche“, entbehrt deswegen aber nicht dessen Stichhaltigkeit, wenn sie über die Laborbedingungen hinaus in einem grundlegenden dinglichen Rahmen Bestand hat. „Denn mit der Auflösung der Opposition von Natur und Kultur fällt auch der Unterschied zwischen dem von Menschen Hergestellten und dem von Natur Gegebenen. [...] Latour entwirft somit die Theorie eines performativen Realismus. Daraus gewinnt er einen neuen Begriff der Objektivität, den er im Satz: ‚Est réel ce qui résiste dans l’épreuve‘ pointiert formuliert hat. [...] Denn auch wenn die Dinge in der épreuve nicht vorgefunden, sondern produziert werden, hat die Produktion nur Erfolg, wenn den widerständigen Objekten Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet wird, um ihnen so als matters of concern gebührend Rechnung zu tragen. Ein Akteur ist, was in der épreuve einen Unterschied macht und so das Netzwerk verändert.“ 12 Spurenlese des Komplizierten Kompliziertes ist auf wenige Variablen beschränkt, und Texte gehören sicherlich dazu. Sie agieren selbst zwar in komplexen Netzwerken ohne vergleichbare Variablenreduktion, doch leisten sie eine Kondensierung, ohne die die Kolonialisierung der Welt nicht möglich gewesen wäre. Das „Drawing things together“ ist die Kraft von Karten und Reisebeschreibungen auf Papier, die Latour „unveränderlich mobile Elemente“ nennt, auf Englisch besser als „immutable mobiles“ bekannt. 13 Paris: Ville Invisible ist ein solches mobile immutabile, selbst wenn es innerhalb eines Netzwerks den Transformationen weiterer Vermittler unterliegt. Latours Stadtwanderungen durch Paris sind für die Leser durch die Publikation vorgegeben, doch als solche in Bewegung. In der textuellen Jörg Türschmann 186 Reduktion selbst finden sie keineswegs offen, planlos und veränderlich statt, denn selbst die Website lädt nur beschränkt zu Interaktivität ein: „Nicht nur der Lesende muss sich für eine Reihenfolge entscheiden (erst dieses Bild, dann diesen Text, dann dieses Bild, dann Umblättern etc.), sondern die Koexistenz selbst, die Gegenwart der Gleichzeitigkeit der Stadt, ruht auf Handlungsreihen, auf Operationsketten, deren Logik sogar außerordentlich strikt ist und sein muss, um zu funktionieren.“ 14 Doch inwieweit lassen sich diese kurzen Serien voraussetzen, indem sie für zielgerichtetes Handeln menschlicher und nicht-menschlicher Akteure stehen? Sind sie Vorgaben oder entspringen sie der Bewegung selbst? Ist es nicht absurd, danach zu fragen, weil sie nachträgliche Zuschreibungen sind? Oder handelt es sich in spätromantischer Manier um die „Geheimnisse von Paris“ des gleichnamigen, im Feuilleton serialisierten Romans, die Eugène Sue in der Zeit kurz vor Haussmanns Stadtplanung ansiedelte, indem er den Herzog von Gerolstein auf Wanderschaft durch die Stadt schickte? Immerhin hat Sue 1842/ 43 Paris mit einem Dschungel verglichen und ihm Garten und Gewächshaus als Sinnbilder idealer Gesellschaftsformen gegenübergestellt. In Plan 10 von Paris: Ville Invisible heißt es: „A écouter nos géomètres, la différence n’est pas si grande entre la jungle et le bitume, car on se perd dans les deux: dans la première par faute de repères; dans la deuxième par excès de signes […]“. Können also die Wanderungen durch Paris ein mobile immutabile erzeugen, das Prozesse als Ordnungen zwischen Chaos und Panorama gleich den sich kreuzenden Handlungssträngen eines Feuilletonromans in Stellung bringt? Paris: Ville Invisible ginge in diesem Fall ähnlich wie der Roman zu Werke, denn Bildband und Website folgen dem Prinzip der Mehrfachverwertung, so wie der anfängliche Zeitungsroman später in Heftchen, als Buchroman und illustrierter Buchroman wiederveröffentlicht wurde. Verlässt man die reine Welt des Kondensats in Form von Texten, Karten, Listen und Graphen, rückt die Beweglichkeit der unveränderlichen Elemente ins Blickfeld. Auch in diesem Fall braucht man sich nicht um komplexe Situationen in der Außenwelt zu kümmern. Im Plan 12, der nur aus Text besteht, ist das Verhältnis der Raumkoordinatorin der Ecole des Mines und des Pariser Raumplanungsamts zur Außenwelt dasselbe. Beide müssen nämlich mit mehreren komplizierten Listen und Etiketten arbeiten, deren Vernetzung die Grenze zwischen innen und außen nicht kennt. Der Service de la documentation foncière, 1856 von Haussmann gegründet, versucht bis heute vergeblich Paris zu kartographieren, weil er seine Arbeit auf die Unveränderlichkeit der mobilen Elemente beschränken möchte, jedoch die Veränderungen durch Straßenumbenennungen und durch zunächst kartographisch konzipierte Straßenverläufe kein Ende nehmen. Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 187 Das Oligoptikon Wer zuletzt von der mittlerweile geschlossenen Samaritaine einen Blick auf Paris werfen konnte, ließ seine Augen von der gekachelten Panoramakarte zur Stadt unter sich wandern und wieder zurück. Er stellte fest, dass die Karte mit der Stadtansicht nicht mehr übereinstimmte, weil frühere Gebäude fehlten und neue dazu gekommen waren. Diese Übereinstimmung lässt sich laut Latour nicht durch ein aktuelles Panorama erreichen. Ein aktuelles Panorama würde nur verdecken, dass es kein Panorama, sondern ein Diorama ist, das als Panorama funktioniert. Die Vorstellung, eine komplette Ansicht der Stadt, eine Synopsis herstellen zu können, verdeckt den Umstand, dass es sich um ein Oligoptikon handelt, um einen Blick unter vielen möglichen anderen, der sich zwar als Vollansicht ‚aufführt‘, 15 aber genauso wie alle anderen Nicht-Menschen ein Angebot an den Menschen darstellt, ein Netzwerk zu erzeugen. Die Allmacht, die vom scheinbaren Panorama ausgeht, ist das Gespür dafür, sich auf den Spuren in einem Netzwerk zu bewegen. Zur bereits erwähnten Macht der Assoziation schreibt Latour in Plan 53: „Il [le pouvoir] ne désigne plus les états de choses indiscutables, mais ce qui traverse Paris dans des convois de chambres fortes semblables à celles des transporteurs de fond.“ Es ist möglich, gleich dem Rohrmolch in einem Métro-Wagon geschützt, gerade nicht mit dem Blick nach draußen, Paris zu durchqueren. Die Spezialisten der Wasser- und Elektrizitätswerke, die Polizeiüberwachung des Verkehrsflusses, die Wettervorhersagen arbeiten nicht mit dem Blick aus dem Fenster auf die Stadt oder zum Himmel. Die Stadt bietet nur die Aussicht auf die Fassaden, die Latour zufolge zum Anschauen gemacht sind. Der Eiffelturm gestattet eine Ansicht, die vom Montmartre wieder eine andere ist. Kein Anblick ist total, er ist immer nur eine andere Perspektive, selbst wenn sie mit dem Anspruch verbunden ist, ganz Paris zu zeigen. Diese Totalität ist auch nur partiell, wie Latour erklärt, sie ist nicht mehr als eine mögliche Bewegung durch die Stadt. Touristen können, wie die Briten es erfunden und die Japaner perfektioniert haben, Paris überschauen, aber eben nur auf die partielle Weise ihrer Annäherung, denn sie verknüpfen die Stadt mit ihren Reiseführern und durchqueren in diesem Container die Stadt. Auch die Touristen schauen nicht nach draußen, blicken nicht von ihren Reiseführern auf und sehen anschließend die ‚Wirklichkeit‘, die ‚echte‘ Stadt Paris. Sie sehen auch keine verfälschte beschönigte Wirklichkeit, die Erfahrung der Touristen ist genauso berechtigt wie die des Stadtplaners, des Taxifahrers oder eines Kapitäns, der ein Bateau-Mouche die Seine entlang lenkt. Der Reiseführer, die Perspektive vom Standort des Touristen aus und die nicht-menschlichen Bewohner von Paris, wie Latour die Poller, Bordsteine, Verkehrsschilder, Plaketten, Straßen und Monumente nennt, bilden ein Netz, oder sind, anders herum, Akteure, denn der nächste Reiseführer Jörg Türschmann 188 wird die „Assoziation“ von Perspektive, Aufenthaltsort und nicht-menschlichen Akteuren in sich eingeschrieben haben, um erneut von einem Touristen am betreffenden Aufenthaltsort vernetzt zu werden. Die Stabilität der Situation besteht einzig und allein in der aktiven Assoziation der Akteure in einem Netzwerk, das sich selbst zum Akteur gerät. Es gibt demnach kein Innen und Außen, kein Oben und Unten, es gibt ausschließlich eine Bewegung durch Paris in diesem Wagon, für den der Tourist eine Fahrt lang eine Karte buchen kann. Das Soziale ist also „eine sehr eigentümliche Bewegung des Wiederversammelns und erneuten Assoziierens“. 16 In Anlehnung an die vorübergehende Verpflichtung zum Bezug einer Zeitung kann mit Latour in Plan 49 metaphorisch gewendet gesagt werden, dass wir alle ständig „Subskriptionen“ vornehmen. Wer in eine neue Stadt zieht, wird wissen, was das bedeutet: Es sind mit dem Stromversorger, dem Hausbesitzer, den Stadtwerken, der Fernsehgesellschaft, dem Sportverein, dem Konzerthaus, dem öffentlichen Nahverkehr, dem Arbeitgeber und vielen anderen mehr Verhältnisse einzugehen, die Latour als „Subskriptionen“ bezeichnet. Es handelt sich ganz im historischen Sinn der explodierenden Presselandschaft des 19. Jahrhunderts um ein „Abonnement“, wie er es auch nennt. Dabei wird die Vielfalt in den Zwang eingeschrieben: Für Latour ist der französische Ausdruck bouquet de chaînes ein Beispiel für den Umstand, dass sich ein Fernsehkunde mit einem Vertrag an einen Anbieter „kettet“ und zugleich eine den Blumen ähnlich anziehende Vielfalt angeboten bekommt. Latour nimmt hier die Position der Rezipienten ein, deren Wankelmütigkeit nichts mit fehlender Identität zu tun hat, sondern mit der Subskription einzelner Situationen, ihrer Regeln und der Angebote durch die nicht-menschlichen Akteure. Intellektuelle, Kunst und Wissenschaft In Anspielung auf die Intellektuellen, die Paris oder ‚die Gesellschaft‘ im Sinne eines Panoramas in den Blick nehmen wollen, die das Volk belehren wollen, die Enthüllungen versprechen, das Wahre hinter dem Falschen sehen wollen und damit vor die verblendete Masse treten, gleicht deren Kritik laut Latour einer effektvollen Unterhaltungskultur. Latour erwähnt in Plan 50 das Beispiel eines Plakats, das für einen Hollywood-Film wirbt, dessen Titel er nicht nennt, und auf dem zu lesen ist: „Tout le monde est suspect; tout le monde est à vendre; rien n’est vrai.“ Der Slogan bezeichnet zugleich die Kritik und deren Negation. Die Scheinheiligkeit hat mit der unmittelbaren Nähe verschiedener Perspektiven zu tun, die abonniert werden können. Denn die Kritik ist zum selben billigen Preis zu haben wie die Affirmation. Sie beruht auf der Beschwörung geheimnisvoller Mechanismen, die den Markt, das Firmament oder die Wasserversorgung scheinbar prägen. Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 189 Auf diese Weise können Netzwerke dahingehend diffamiert werden, dass hinter ihnen böse Kräfte walteten. Wer Latours Vermutung zustimmt und belegen will, findet viele Beispiele: Apokalyptische Visionen begründen etwa im Vorfeld des Mai 1968 den Beginn von Jean-Luc Godards Film Deux ou trois choses que je sais d’elle, wo die Region Paris im Off-Kommentar, begleitet von Ansichten des entstehenden Périphérique, zum Opfer einer zentralistischen Stadtplanung und Sinnbild der gemeinsamen Sache von Gaullismus und Großkapitalismus erklärt wird. Latour vergleicht in Plan 50 die rasche Verfügbarkeit von Verschwörungstheorien mit den riesigen Computern, die heute nach dem Moore’schen Gesetz zu kleinen erschwinglichen Rechnern zusammengeschrumpft sind und verschiedene holistische Erklärungsversuche direkt nebeneinander stellen, weil sie sie leicht zugänglich machen: „Le Walter Benjamin n’est fait plus que deux millimètres, on peut acheter un antivirus Guy Debord pour quatre fois rien, brancher un Roland Barthes d’une seule poussée sur la broche, installer un module d’auto-diagnostic Bourdieu d’un seul couper-coller - quant au Baudrillard, on le trouve en free share.“ Sie alle seien Beleg dafür, dass die einheitliche Sicht auf ein Ganzes nicht mehr möglich ist. Wenn aber die Zersplitterung der ‚Gesellschaft‘ sich auch in einer Stadt und ihrer Vielzahl von Teilbereichen zeige, so gebe es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Erstens kann einem Fatalismus gefrönt werden, der die Fragmentierung feiert und sich an der Unmöglichkeit holistischer Aussagen masochistisch ergötzt, oder aber das Große und Ganze wird weiterhin dahingehend gesucht, dass die vielen konkreten Akteure verfolgt werden, um aus den Teilansichten der Überwachungskameras, Stadtpläne, bildschirmgesteuerten Wasserleitungsanlagen und Straßennetzen vielleicht später einmal eine Gesamtansicht zu wagen, wie es in Plan 50 heißt: „Après avoir appris à cheminer le long de ces traces, à dimensionner les relations sans jamais passer par la Société [sic], après avoir compris comment se formatent les interprétations, on pourrait aller un peu plus loin et chercher à comprendre comment l’on peut permettre au lieu d’interdire, se permettre au lieu de rester interdit. Décidemment, il est temps de virtualiser Paris.“ Diese Virtualisierung besteht laut Plan 53 nicht in einer Digitalisierung und Entmaterialisierung, „mais au retour à l’incarnation, aux virtualités. Oui, le pouvoir est invisible, mais comme le virtuel, comme le plasma, comme les transformations continues du Pont-Neuf.“ Technik ist nicht bloß Ingenieurstechnik, sondern gleicht der Kunst. „Wer Griechisch und Lateinisch kann, wird wissen, das griechisch ‚techne‘, lateinisch ‚ars‘ und deutsch ‚Kunst‘ dasselbe bedeuten“, schreibt Walter Ch. Zimmerli in einer Abhandlung über die Beziehung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften und fordert, beide in einen Zusammenhang zu stel- Jörg Türschmann 190 len. 17 Doch was ist „dasselbe“? Sciences humaines und sciences exactes würde Latour vielleicht analog dazu ebenfalls für ununterscheidbar halten. Denn die Soziologie, die sich bekanntlich mit ihrer Stellung zwischen empirischer Recherche und hermeneutischer Intuition plagt, gibt es für ihn nur als eine Wissenschaft der Bewegung, der traçabilité. Dort wo sich Spuren spüren lassen, dort findet und erfindet der Soziologe Netzwerke mit dem Auftrag, möglichst viele Akteure zu assoziieren. Jedoch existiert die Gesellschaft als solche nicht, eine Struktur, die das Handeln dominiert, gibt es nicht. Der Wissenschaftler als Spürhund ist nichts anderes als der Künstler oder Apparatetechniker. Sie alle suchen nach Inskriptionen in Texten, Maschinen und Erfindungen. Und indem sie sie suchen, erfinden und gestalten sie sie. Diese Einschreibung macht Kreation und Deskription ununterscheidbar. Sie vollzieht ein Angebot nach und macht es zugleich. Vor diesem Hintergrund der Verschmelzung wissenschaftlicher Disziplinen, künstlerischen und analytischen Denkens erfindet Latour mit Hilfe der Fotografien von Hermant in seiner Beschreibungskunst Paris als eine Lichtgestalt, die aus der Linearität der historischen Zeitachse entlassen ist und in ihrer materiellen Erscheinung all ihre Möglichkeiten für die Zukunft birgt: „Paris scan, Paris can“ heißt der letzte Satz der englischen Fassung und erinnert vor seiner Zeit an Barack Obamas Wahlslogan. Die Parislese ist ein Angebot zur Entdeckung von Möglichkeiten. Laut Plan 51 gelte es, durch die Beschreibung dieser Potenzialität Paris aufzuheizen und aufzuhellen und nicht wie ein Tourist die Plaketten an den Pariser Fassaden zu studieren, die wie die Grabsteine des Friedhofs Père Lachaise auf die berühmten ‚Bewohner‘ hinweisen. Der iPod und Paris Eingangs wurde die Macht der Assoziation erwähnt, die selbstverständlich auch für die Beschäftigung mit Latours Texten gilt. Paris: Ville Invisible ist als mobile immutabile selbst Akteur in einem Netzwerk, das nichts anderes als die Assoziation des Komplexen anhand von Handlungsmöglichkeiten in alltäglichen Zusammenhängen ist. Paris: Ville Invisible überführt das Komplexe ins Komplizierte, indem in der Web-Oper die soziologischen Assoziationen digital gesammelt werden. Der Band vereint auf engem Raum die Möglichkeiten komplexer Assoziationen und findet auf diesem Weg „[u]n an et demi plus tard“, wie Plan 53 sagt, zum Status der Stadt als „ville Lumière [sic]“ zurück, der zunächst Sache der Maler und Dichter war: „Nous nous apercevons soudain que si nous avons parlé de Paris invisible, ce n’était pas au fond pour joindre la théorie du social à un parcours de photographies, mais pour restituer par un peu de beauté la splendeur que nous donne à profusion la Ville-Lumière. Paris peut.“ Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 191 Da Semiose unendlich ist, da aber zugleich die Assoziationen Latours Macht als Konsequenz des Handelns anderer und der Unterschied andere als Akteure rechtfertigen muss, ist das Potenzial des Latour’schen Paris nie ausgeschöpft, solange das Netzwerk Bestand hat: Dies scheint tatsächlich der Fall zu sein, etwa wenn auf Paris: Ville Invisible Bezug genommen wird, um das Software-Interface eines iPods zu beschreiben, das aus einer Maschine eine Prothese mache: „La description des ‚stratégies‘ propres à chaque lecteur MP3 fait appel à la dimension cognitive et intellectuelle de l’aventure que représente l’usage de la technologie, et intègre également l’expérience quotidienne des gestes et de l’habitus dans les mouvements du corps propre. La stratégie de l’iPod mise à jour révèle un changement de l’ordre de l’innovation: de la machine à la prothèse.“ 18 Die Beschreibung der mp3-Technik, genauer: des Hybrids aus Gerät und Nutzer, stützt sich auf den Netzwerk-Begriff Latours „qui donne à voir dans son livre non pas le Paris ville Lumière [sic] mais le Paris ville-réseau, le Paris ville-parcours de Signifiants [sic], tout ce qui permet à la ville de continuer à circuler, à fonctionner, à respirer, à vivre“. 19 Diese fast lebensphilosophisch-pathetische Bezugnahme auf Latours Netzwerk-Begriff im Sinne eines Abenteuers berücksichtigt nicht die Kreisbewegung, die Paris: Ville Invisible kennzeichnet. Denn regelrecht versöhnlich wirkt das Ende, weil doch noch nach einem Großen und Ganzen Ausschau gehalten wird. Die Lichtspuren, die in Plan 4 die Fotografien sind, scheinen sich letztlich unter einem pragmatischen Begriff des Schönen vereinen zu lassen. Latour war einundeinhalb Jahre kein Flaneur, sondern ein Spaziergänger: „Ausgangspunkt und Endpunkt sind immer gleich, so dass der Spaziergänger einen Rundgang umschreibt, eine gleichsam zentrifugale Erzählbewegung fort von der Ausgangsthematik wird durch ein erzählerisches Bestreben nach Rückkehr eben dorthin konterkariert. Scheinbar ziellos durchgeht er, ohne Gepäck, langsam Wege in der Natur oder in ländlichen Gebieten, bleibt aber immer in überschaubaren Bahnen, so dass er nicht zum Abenteurer wird, der sich auf der Suche nach Grenzerfahrung immer zu verirren droht.“ 20 Paris ist so gesehen kein Abenteuer, die Hybridität von Mensch-Nicht- Mensch-Konstellationen und die Assoziierung von Akteuren verläuft in geregelten Bahnen. Der Technikbezug geht bei aller Begeisterung für Innovation, Logistik und Maschine eben nicht aufs Ganze, aber er verzichtet paradoxerweise auch nicht ganz darauf, so dass Latours Suche nach einem Weg zwischen Fragment und Totale Vorstellungen aus der Lebensphilosophie nahekommt. Denkt man etwa an Georg Simmel, dann ist das Abenteuer die Verdichtung des Lebens im Augenblick als „Erlebnis“, ein „Drittes jenseits sowohl des bloßen abrupten Geschehnisses, dessen Sinn uns schlechthin außen bleibt, wie es von außen kam, als auch der einheitlichen Lebensreihe, in der jedes Glied das andere zu einem Gesamtsinne ergänzt.“ 21 Jörg Türschmann 192 Das Quasi-Objekt iPod, ein Nachfolger des Walkman, findet auf seinen Wanderungen im netzwerkartigen Selbstbezug zu sich selbst. Auch Paris: Ville Invisible genügt sich selbst und verrät in doppeltem Sinn mit seiner Komposition die Komplexität der Vernetzung. Mag sein, dass der Neologismus „faitiche“ ein zugkräftiger Köder ist, der die ritualisierte Kultpflege der ‚Primitiven‘ mit der Wissenskonstruktion der ‚Zivilisierten‘ unwiderleglich verschmilzt und damit die Begeisterung für technische Innovationen plausibel erscheinen lässt, so wie der iPod zweifelsfrei technische Leistung mit Fetisch-Charakter verbindet. Aber das Ergebnis stößt an seine Grenzen, mehr noch: Das Ergebnis ist eine Grenze. Wie auf dem iPod die Musik eines Orchesters konserviert ist, dessen Musiker schon längst nicht mehr während des Spielens das Resultat ihres Tuns in einer komplexen Vernetzung überprüfen, so kühlt auch Paris in Latours Web-Oper ab. Die Unmöglichkeit, Paris zu zitieren Das Werk stößt an seine Grenzen, denn die Inszenierung der Stadt findet durch die Vertextung zur Ruhe. Die sogenannte „sociological opera“ kommt nicht zufällig still und ohne Ton daher und gleicht bei ihrer Suche nach dunklen Innenräumen in Überwachungsstationen und U-Bahn-Wagons einer frommen Askese, die genauso gut durch dosierten Lärm mit Hilfe eines tragbaren Musikspeichers hätte bewerkstelligt werden können: „La culture du baladeur pousse à son terme ce souci de s’isoler dans la continuité d’une sonorité inlassable qui rend simultanément encore plus intolérable toute confrontation ultérieure au silence. [...] Si certains se réfugient dans le silence, d’autres lui préfèrent le bruit, ils y trouvent les mêmes ressources pour le rassemblement de soi, la protection contre un environnement perc u comme hostile ou étranger, la conjuration de l’angoisse, de la solitude. Le bruit autorise également une structuration identitaire.“ 22 „De l’Œuvre au texte“ hat Roland Barthes seinen berühmten Aufsatz überschrieben, wonach ein Werk im Fall des Buchs die phänomenologische Fülle seiner Erscheinung sei, während der Text das Werk auf einen „champ méthodologique“ reduziere. 23 „Die materielle Wirklichkeit eines Kommentars, der wiederum mehr oder weniger zum Text wird, stellt die nötige Vermittlung in dieser Umwandlung dar, welche letzten Endes gerne die bedingungslose Gestalt eines Spiels annähme. Denn sie strebt im Grunde eine vollständige Aussöhnung der Sprache [langage; die Übersetzer] mit sich selbst an sowie des Subjekts mit sich selbst, welches durch die sprachliche Veräußerung die Absolution erhielte, sich wieder mit seinem Begehren zu vereinen. [...] Diese Bewegung hat jedoch zum Ziel, die Wissenschaft im Körper ihres Gegenstandes aufgehen zu lassen, so daß im Idealfall jegliche Abweichung zwischen der Wissenschaft und der Literatur, der Analyse und dem Werk aufgehoben ist.“ 24 Der Boulevard der Ingenieure: Bruno Latours Web-Oper über Paris 193 Auch wenn in Paris: Ville Invisible Bilder mit Sprache kombiniert werden, so werden doch die Dynamik der Assoziationen und die Offenheit der beschriebenen Beobachtungssituationen eingegrenzt, so dass Latour die Fülle des Komplexen auf Sprachliches, den langage, reduziert. Die Stadt ist genau in der Weise, wie Latour sie versteht, nicht zitierbar. Deshalb ist sein Buch „unwahrscheinlich“. Das Netz-Werk ist zu einem Text im Netz geworden, der wiederum mit dem Netzwerk Paris assoziiert werden muss. Latour könnte nicht bestreiten, dass dies zwangsläufig zu einem unsichtbaren Paris gehört. 1 Reiner Ruffing: Bruno Latour, München, Fink, 2009. 2 Bruno Latour/ Emilie Hermant (Design: Susanna Shannon): Paris: Ville Invisible, Le Plessis-Robinson, Institut Synthélabo pour le progrès de la connaissance/ La Découverte, 1998; Online-Version (2004, Web-Design: Patricia Reed): http: / / www.bruno-latour.fr/ virtual/ index.html (7.2.11); pdf-Version (2006, transl. Liz Carey-Libbrecht): http: / / www.bruno-latour.fr/ virtual/ PARIS-INVISIBLE-GB.pdf (7.2.11). Cf. Patricia Reed: „Paris: Ville Invisible“, http: / / www.aestheticmanagement.com/ paris-invisiblecity/ (7.2.11): Die Online-Version wurde 2007 im Rahmen der Ausstellung „Air de Paris“ im Centre Pompidou gezeigt. 3 Es wird nach der Online-Version zitiert. Der französische Ausdruck „plan“ wird im Deutschen mit „Plan“ wiedergegeben, weil die englische Version mit „plan“, die italienische mit „tavola“ und die spanische mit „mapa“ den Charakter einer Übersicht hervorheben und nicht etwa im Sinn einer filmischen Einstellung oder eines Projekts bzw. Programms aus dem Französischen übersetzt worden sind. Die französische Fassung ist die erste, der Bildband auf Französisch ist vor der Online-Version in mehreren Sprachen entstanden. Der Bildband enthält wie die Online-Version eine immer kleinteiliger werdende Gliederung in „séquences“, „figures“ und „plans“, wobei die „séquences“ jeweils mit einem nicht als „figure“ bezeichneten Abschnitt beginnen und enden. „Figures“ und „plans“ sind durchgängig aufsteigend unabhängig der „séquences“ nummeriert. Die Zählung der „plans“ im Bildband stimmt nicht mit der in der Online- Version überein, so ist z.B. Plan 32 im Buch Plan 33 online. 4 Cf. Albert Kümmel-Schnur: „Arachnefäden. Navigation als Narration“, in: Jörg Döring/ Tristan Thielmann (eds.): Mediengeographie, Bielefeld, Transcript, 489-510, 504. 5 Latour, zitiert nach Ruffing, op. cit., 6. 6 Ruffing, op. cit., 20. 7 Op. cit., 13. 8 Cf. Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1987, 344sqq. 9 Bruno Latour: „Die Macht der Assoziation“, in: Andréa Belliger/ David J. Krieger (eds.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, Transcript, 2006, 195-212, 195, Hervorhebung im Original. Cf. Gregor Schwering: „Michel Foucault und das Netzwerk einer Mikrophysik der Macht - mit Seitenblicken auf die Medientheorie und Bruno Latours ‚Actor Network Theory‘“, in: Ingo Köster/ Kai Jörg Türschmann 194 Schubert (eds.): Medien in Raum und Zeit. Maßverhältnisse des Medialen, Bielefeld, Transcript, 2009, 223-238, 234sqq. 10 Gérard Genette: Figures V, Paris, Seuil, 2002, 230. 11 Michael Cuntz: „Mésalliances - Die Restitution a-moderner Relationen bei Gilbert Simondon, Michel Serres und Gabriel Tarde“, in: Rainer Zaiser (ed.): Literaturtheorie und sciences humaines. Frankreichs Beitrag zur Methodik der Literaturwissenschaft, Berlin, Frank & Timme, 2008, 87-106, 104. 12 Op. cit., 105, Hervorhebung im Original. 13 Bruno Latour: „Drawing things together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente“, in: Belliger/ Krieger (eds.), op. cit., 259-307. 14 Kümmel-Schnur, op. cit., 505, Hervorhebung im Original; für eine Beschreibung der optischen Möglichkeiten cf. http: / / www.leakystudio.com/ paris-ville-invisible-2/ (10.2.11); für Kritisches zur geringen Interaktivität und Fehlerhaftigkeit der Website cf. http: / / www.metafilter.com/ 77775/ Paris-Invisible-City (9.2.11). 15 Cf. Ruffing, op. cit., 92. 16 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur- Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2007, 19. 17 Walther Ch. Zimmerli: „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften? Noch einmal: Wozu Geisteswissenschaften? “, in: Schriften der Freien Akademie der Künste in Hamburg, 32, 1995, 74-95, 81. 18 Delphine Marc: L’Innovation de l’iPod. Approche sémiologique de l’interface matérielle et logicielle des lecteurs-enregistreurs MP3, Masterarbeit, Universität Limoges, Département Sciences du Langage, 2006, 6 (http: / / www.delphine-marc.com/ blog/ wp-content/ uploads/ 2009/ 10/ memoire-Master-pro-semio.pdf; 8.2.11). 19 Op. cit., 6, Endnote 2. 20 Claudia Taller: „Der Flaneur“, http: / / www.claudia-taller.at/ flaneur-literatur.shtml, 8.2.11. 21 Cf. Georg Simmel: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin, Wagenbach, 1998 [1923], 28sq. 22 David Le Breton: „Anthropologie du silence“, in: Théologiques, 7/ 2, 1999, 24 (http: / / 200.21.104.25/ territorialidades/ downloads/ ANTHROPOLOGIE%20DU%20SI LENCE.pdf; 8.2.11). 23 Roland Barthes: „De l’Œuvre au texte“, in: Le Bruissement de la langue, Paris, Seuil, 1984, 69-77. 24 Raymond Bellour: „Der unauffindbare Text“, in: Montage/ AV, 8/ 1, 1999, 8-17, 10. Theresa Vögle Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“: Émile Zolas La curée und die „chronique scandaleuse“ Die Haussmannisierung hat Paris in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts sein unverwechselbares Gesicht gegeben und die Stadt in eine moderne Metropole verwandelt. Die neu angelegten Prachtboulevards werden zum Signum des modernen Lebens, des Spektakulären und zur Durchgangsstation einer „diverse crowd“ 1 : „Das ,Großartige‘ entdeckt man meist von erhabenem Standpunkt, das ,Malerische‘, indem man dem Seine-Ufer nachgeht oder durch die Boulevards spaziert. So empfiehlt denn ein zur Weltausstellung von 1855 erschienener Reiseführer, man möge nachdem man von Notre-Dame oder vom Arc de Triomphe aus einen Überblick gewonnen habe, die Boulevards entlanggehen, sie böten ein immer wechselndes, farbiges, fröhliches und auf der Welt einzigartiges Schauspiel sämtlicher Aktivitäten […].“ 2 Die Boulevards beschreiben somit das Herz von Paris bzw. das Zentrum Frankreichs und avancieren zum multikulturellen Ort par excellence, zu einem „[…] ‚grand meeting-place for all peoples, nations and tongues‘.“ 3 Neben den neu angelegten Prachtstraßen waren es vor allem die fünf Weltausstellungen von 1855 bis 1900, die viele internationale Touristen in die Stadt lockten und durch Bauten wie dem Grand und Petit Palais sowie der Tour Eiffel die Aufmerksamkeit der ausländischen Presse auf sich zogen. So schreibt nicht zuletzt die bedeutende italienische, wöchentlich erscheinende illustrierte Kulturzeitschrift, L‘Illustrazione Italiana, über die Pariser Weltausstellungen, und bildet u.a. deren Errungenschaften und technische Innovationen, so u.a. den beleuchteten Eiffelturm, in der Ausgabe vom 7. Juli 1889 unter der Überschrift „L’Esposizione Universale di Parigi - L’Illuminazione della Torre Eiffel“ ab. 4 Im zweiten Roman seines Rougon-Macquart-Zyklus, La curée aus dem Jahr 1871, beschreibt Émile Zola einerseits die enormen Baumaßnahmen während der Amtszeit des Präfekten Georges-Eugène Haussmann, die Entstehung der Grands Boulevards und die Grundstücksspekulationen im Theresa Vögle 196 Zweiten Kaiserreich, die sich um die Geschichte des Parvenüs Aristide Saccard ranken. Zola zeichnet auf der anderen Seite ein Sittenbild der Gesellschaft des Second Empire. Im Mittelpunkt dieses Handlungsstrangs stehen die aus einem großbürgerlichen Haus stammende Renée Béraud Du Châtel und ihr Stiefsohn Maxime Saccard, ein Vertreter der jeunesse dorée. Der Roman erzählt vom Luxus und der Dekadenz der führenden Empiregesellschaft, die sich ihre Zeit mit Affären, Klatsch, Fahrten und Spaziergängen über die neuen Prachtboulevards sowie mit Abendgesellschaften vertreibt. Im Kontrast zu diesem Nouveau Paris mit den Grands Boulevards steht die Ile Saint-Louis mit Renées Elternhaus, die als „ville morte“ charakterisiert wird, für das alte Paris fernab der neuen Prachtstraßen. Der Kontrast zwischen ehrbarem Bürgertum und der neuen, lasterhaften Gesellschaft der Parvenüs verdeutlicht sich nicht zuletzt in dieser topographischen Trennung. 1852 trifft der Steuereinnehmer Aristide Rougon aus Plassans mit seiner Gattin Angèle Sicardot in Paris ein und ergreift sofort Besitz von der Stadt, wie ein Raubtier betrachtet er sie als seine Beute. 1853 wird er zum Straßenbauinspektor ernannt. Auf Empfehlung seines Bruders Eugène Rougon ändert er seinen Namen in Anlehnung an den Nachnamen seiner Frau in Saccard. Nach Angèles Tod wird er von seiner Schwester Sidonie mit Renée verkuppelt, die durch eine Vergewaltigung schwanger geworden ist, jedoch eine Mitgift von Immobilien im Wert von fünfhunderttausend Francs mit in die Ehe bringt. Renée, die kurze Zeit später ihr ungeborenes Kind verliert, stürzt sich in Vergnügungen und beginnt eine Affäre mit Maxime, dem schönen und dandyhaften Sohn Saccards, der sich mit dem Geld seines Vaters Dirnen beschafft und ein ausschweifendes Leben führt. Währenddessen denkt Saccard nur an die Vermehrung seines Vermögens: Sein Plan ist es, Häuser, die zur Enteignung bestimmt sind, billig zu kaufen und mittels einer Entschädigungssumme große Gewinne zu erzielen. Schließlich gelangt er in den Besitz von immer mehr Häusern. Sein Reichtum erscheint unerschöpflich, weshalb er zum Thema der Boulevardpresse wird: „Ce fleuve d’or, sans sources connues, qui paraissait sortir à flots pressés de son cabinet, étonnait les badauds, et fit de lui, à un moment, l’homme en vue auquel les journaux prêtaient tous les bons mots de la Bourse.“ 5 Saccards Beutezug ist erfolgreich und Paris hat sich zu einer Stadt des Lasters und der Sünde entwickelt: „Cependant la fortune des Saccard semblait à son apogée. […] Les appétits lâchés se contentaient enfin, dans l’impudence du triomphe, au bruit des quartiers écroulés et des fortunes bâties en six moins. La ville n’était plus qu’une grande débauche de millions et de femmes.“ 6 Auf den und um die neuen Boulevards entwickelt sich eine klatsch- und vergnügungssüchtige Konsumgesellschaft, die Zola zusammen mit dem Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 197 Schreibstil sowie den Themen der Boulevardblätter auf das Medium Literatur überträgt. Im Roman wird diese „spectacular reality“ u.a. durch Saccards Sohn Maxime verkörpert, der sämtliche Damen der Stadt samt ihren Wohnungen und intimen Details zu kennen scheint. Neben der Rezeption der faits divers führt dieser stets Fotografien von Renées Freundinnen sowie von Schauspielerinnen, Dirnen, Abgeordneten und Schriftstellern mit sich. Seiner Stiefmutter Renée und ihm bereitet es in ihrem ennui großes Vergnügen, dieses Fotoalbum, cette gazette scandaleuse, durchzublättern und sich vorzustellen, mit wem man gern eine Nacht verbringen würde. 7 Zudem kommt es zum Klatsch über die Gesichter der Damen, die man mit einer Lupe untersucht, um winzige Unregelmäßigkeiten, kleine Fältchen, Härchen, raue Haut usw. zu entdecken: „Cette gazette scandaleuse faisait la joie de Renée. À Longchamp, les jours de courses, lorsqu’elle passait dans sa calèche, elle écoutait avec âpreté, tout en gardant sa hauteur de femme du vrai monde, comment Blanche Muller trompait son attaché d’ambassade avec son coiffeur; ou comment le petit baron avait trouvé le comte en caleçon dans l’alcôve d’une célébrité maigre, rouge de cheveux, qu on nommait l’Écrevisse. Chaque jour apportait son cancan.“ 8 Bei dieser gazette scandaleuse scheint Zola auf die Klatschpresse als Massenmedium, das sich „[…] à tous les types de lecteurs, d auditeurs ou de spectateurs“ 9 richtet, zu rekurrieren. Hier wird vermutlich auf das Petit Journal, das 1863 von Moïse Millaud gegründete erste „journal à grand tirage“ 10 und auf die mit dieser einhergehenden „visual culture“ angespielt. Dass dieses sich an ein breites Massenpublikum richtet, machen folgende Charakteristika der Illustrierten deutlich: „[…] le bon marché (5 centimes au lieu de 15 centimes pour les journaux ordinaires), le format plus commode (43x30 cm), l’accessibilité (pas d’abonnements), le contenu (le fait divers, le feuilleton et la cronique quotidienne dominent), l’apolitisme œcuménique.“ 11 Alltägliche Begebenheiten und Ereignisse „de peu d’importance“ 12 , u.a. skandalöse Liebesgeschichten, vor allem aber Kriminalfälle, werden hier zu Klatschgeschichten, zum bebilderten Spektakulären, zu faits divers spectaculaires 13 , die Zola im Roman aufgreift und ironisiert. Hier sind es allerdings nicht die „einfachen“ Leute bzw. Arbeiter, wie z.B. in Zolas L’Assommoir 14 , sondern die Reichen, die, wie heute die Prominenten, im Fokus der Gesellschaftsnachrichten der Boulevardblätter stehen. Entscheidend ist die Immoralität der Geschichten, welche die Sensationslust der Leserschaft befriedigen soll. Thomas Cragin zu Folge ist es gerade die Rubrik der faits divers, die das Petit Journal so erfolgreich macht: „The key to the Petit Journal’s success, in fact, would be its emphasis on the faits divers. The paper’s lead stories typically focused on sensations […].“ 15 Theresa Vögle 198 Der angesprochene Klatsch steht im Kontext des Gerüchts, das laut Jean- Noël Kapferer „älteste Massenmedium der Welt“ 16 . Beide sind der informellen Kommunikation zuzuordnen und berichten Unbelegbares bzw. absichtlich Falsches. 17 Abb. 1: A. Paul Weber, Das Gerücht (1943/ 1953), A. Paul Weber Museum Ratzeburg Abb. 2: Spiegel-Titelseite vom 10.01.2011 Auf anschauliche Weise illustriert der Zeichner Andreas Paul Weber mit seiner Allegorie der üblen Nachrede (Abb. 1), der Übersetzung des abstrakten Begriffs in ein gegenständliches Bild, sowohl die schnelle Verbreitung von Gerüchten als auch deren Allgegenwärtigkeit in der modernen Gesellschaft. 18 Aus allen Wohnhäusern dringen die Neuigkeiten, welche die listige VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 199 Schlange mit ihren bebrillten Augen, ihren gespitzten Ohren, ihrem langen Riecher und ihrer Scharfzüngigkeit aufschnappt und weiterverbreitet. Doch ihre wachsamen Augen greifen nicht nur Gerüchte auf, sondern nehmen auch verzerrt wahr. In der modernen Großstadt und ihrer monotonen Architektur scheint es vor Gerüchten zu wimmeln, wie Weber verdeutlicht. Seine Allegorie ist im 21. Jahrhundert und dem Internetzeitalter von größerer Prägnanz als jemals zuvor, wie das Titelbild der Spiegel-Ausgabe vom 10. Januar 2011 illustriert (Abb. 2), auf das ich später noch einmal zurückkommen möchte. In Zolas La curée ist meiner Ansicht nach mehr von Klatschgeschichten, sog. „chroniques scandaleuses“, als von Gerüchten zu sprechen. „Cancan“ würde demnach ein negatives oder verleumderisches Geschwätz über eine bekannte beim Gespräch jedoch abwesende Person bezeichnen, so z.B. der cancan über oben benannte Damen. Eventuell könnte dieser Klatsch aus vorher kursierenden Gerüchten resultieren oder aber einzig der Phantasie des Klatschproduzenten, hier Maxime, entspringen. Ferner könnten sich um diesen Klatsch weitere Gerüchte spinnen. Klatsch erscheint mit Werner Wunderlich als „schwatzhafte Variante des Gerüchts“ und kommt vom mittelalterlichen Waschplatz, abgeleitet vom mittelhochdeutschen „klatz“, was soviel wie „Schmutzfleck“ bedeutet und eigentlich das Aufschlagen nasser Wäsche auf einen Stein meint. Das lautmalerische „Klatsch“ erinnere an den Schlag mit der Hand und stehe somit im Kontext mit der Klatsche, das auf das abfällige Reden über dritte Personen übertragen wird. 19 So wurde der Schmutz mit einem Waschbeutel unter Klatschen herausgeschlagen, weshalb dieses noch heute in erster Linie Frauen zugeschrieben wird. Im Unterschied zum Gerücht handelt es sich beim Klatsch um „personenbezogene Kommunikation“, d.h., er ist Schuldt zu Folge „auf eine bestimmte Gruppe bezogen und wird nur in einem begrenzten Kreis weitergegeben, wobei der Absender meist erkennbar ist.“ 20 Diese etymologische Bedeutung von Klatsch lässt sich anhand des siebten Bandes des Zola’schen Rougon-Macquart-Zyklus veranschaulichen: In L’Assommoir (dt. Der Totschläger) wird während man im Waschhaus Schmutz mit dem Wäschebleuel aus der Wäsche klopft parallel Klatsch verbreitet. So kommt es dort zu Beginn des Romans wegen einer Klatschgeschichte zu einer Schlägerei zwischen Gervaise und Virginie. Die laut Bergmann als solche bezeichnete Klatschtriade 21 setzt sich zusammen aus dem Klatschproduzenten (hier Virginie), der die Klatschgeschichte erzählt. Der Klatschrezipient (hier: Gervaise) hört sich die Geschichte an, während über das Klatschobjekt (Lantier) geklatscht wird, der Gervaise angeblich wegen Virginies Schwester Adèle verlassen hat. Zuvor hat Gervaise mit Frau Boche, der Concierge des Hauses, über Lantier und seine Unzuverlässigkeit geklatscht. Virginie berichtet Gervaise zudem vom Klatsch, den Lantier über Theresa Vögle 200 sie verbreitet habe, was letztlich zu einer Schlägerei zwischen den Frauen führt. In face-to-face-Gesprächen sind entsprechend drei Merkmale für das Klatschobjekt zu nennen: Abwesenheit, Bekanntheit, Privatheit. Dem Klatschproduzenten und dem Rezipienten ist der Beklatschte bekannt. Zur Zeit des Klatsches ist dieser abwesend, betritt er die Klatschsituation, verstummt der Klatsch. Im Klatsch wird privates Wissen weitergegeben, dieser zeichnet sich demnach durch Indiskretion aus. 22 Aus persönlichem Klatsch können sich jedoch auch Gerüchte entwickeln und umgekehrt. Ein Gerücht ist somit von allgemeinerem Interesse, kann keiner einzelnen Person, keiner eindeutigen Quelle zugeschrieben werden und zeichnet sich entsprechend durch Diffusität und eine kettenförmige Weitergabe aus. Der Urheber eines Gerüchts ist nicht oder nur sehr schwer auszumachen. Konstitutive Merkmale von Gerüchten sind demzufolge ihre Fragwürdigkeit und ihre schneeballartige Verbreitung innerhalb eines Sozialraums. 23 Das Ziel von Klatschgeschichten ist vorrangig Unterhaltung, die der luxussaturierten Protagonistin des Romans La curée gänzlich fehlt. Renée führt zwar ein mondänes Leben, aber langweilt sich. Ihr Lebensüberdruss zeigt sich in einer Blasiertheit, die sich in ihrer Launenhaftigkeit und Unpässlichkeit aufgrund von Überreizung manifestiert und das Dekadenzbewusstsein symbolisiert: „[…] j ai mes nerfs […] Je deviens vieille […] j’aurai trente ans bientôt. C’est terrible. Je ne prends de plaisir à rien…“ 24 Sie beklagt sich darüber bei Maxime, der darauf Folgendes entgegnet: „,Je te conseille de te plaindre‘, continua Maxime; ,tu dépenses plus de cent mille francs par an pour ta toilette, tu habites un hôtel splendide, tu as des chevaux superbes, tes caprices font loi, et les journaux parlent de chacune de tes robes nouvelles comme d’un événement de la dernière gravité; les femmes te jalousent, les hommes donneraient dix ans de leur vie pour te baiser le bout de doigts… Est-ce vrai? ‘“ 25 Thema bei den Soireen im Hause Saccard, in denen u.a. Politiker und Unternehmer anwesend sind, ist neben dem Tratsch über die Garderobe der anwesenden Damen, in erster Linie die Umgestaltung der Stadt, die als ein großer Erfolg betrachtet wird: „,Paris est devenu la capitale du monde.‘“ 26 Im Mittelpunkt dieser Abendgesellschaften steht jedoch immer Renée, die das neue, wohlhabende Paris symbolisiert. Wie eine Trophäe zeigt Saccard seine schöne Frau. Trotz späterer finanzieller Engpässe bleibt Renées Garderobe extravagant, andernfalls könnte ein Klatsch über die Vermögensverhältnisse der Saccards entstehen: „,Si, l’on ne vous voyait pas ces bijoux demain au bal du ministère, on ferait des cancans sur ma situation…‘“ 27 Was sie trägt, wird zum Gesprächsthema, sie ist die Trendsetterin der neuen Pariser Gesellschaft, so bringt sie u.a. antike Haartrachten sowie ein grünes Seidenkleid mit Hirschjagd-Attributen in Mode. In obigem Zitat verweist Zola ironisch auf die Funktion der Boulevardpresse, aus banalen Geschich- Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 201 ten ein sensationelles Ereignis, einen fait divers, zu machen. Dass sich Zola dabei auf authentisches Material stützte, betonte er stets. So schreibt er u.a. für die satirische Zeitung La cloche einen Artikel über die Marquise, aus dem er für den Ball des Ministeriums beispielsweise bezüglich Renées Garderobe schöpfte: „Le lendemain, au bal du ministère, la belle Mme Saccard fut merveilleuse. […] Et les intimes s’inclinaient […] rendant hommage à ces belles épaules, si connues du tout-Paris officiel, et qui étaient les fermes colonnes de l’empire.“ 28 Die sich auf den Boulevards ansiedelnden Verlagshäuser und Zeitungskioske und die darin verkauften Boulevardblätter bieten mit Schwartz „a printed digest of the flaneur’s roving eye“ 29 , das dort eine heterogene Masse wahrnimmt, bestehend sowohl aus Arbeitern als auch aus dem Bürgertum. Auch die inzestuöse Affäre Maximes mit seiner Stiefmutter nimmt im Séparée des Café Riche bei geöffneten Fenstern, und somit unter den Augen der Öffentlichkeit, ihren Ausgang, nachdem Renées Leidenschaft für ihren Stiefsohn im Saccard schen Treibhaus entfacht wurde. Auf den Boulevards wird das Alltägliche zum Sensationellen. Von den dort angesiedelten Cafés lässt sich die vorbeiziehende Menschenmasse beobachten. In den dort ausliegenden Zeitungen kann die „spectacular culture“ 30 rezipiert werden. Mit der topographischen erfolgt demnach die mediale Boulevardisierung: „The spectacular and sensational urban life promoted on the boulevards and in the mass press offered the means through which a new collectivity was constituted - one that was distinctly urban and quintessentially ,modern‘.“ 31 In der neuen Massenpresse erscheinen Paris, seine Vergnügungen und seinen neuen Kaufhäuser, die den Kapitalismus und die neue Konsumgesellschaft verkörpern, als Spektakel. So berichten die Massenblätter über das Leben auf und um die Grands Boulevards und werden zu Übermittlern der von Schwartz evozierten „boulevard culture“ 32 . Gleichermaßen entwickelt sich auf den Boulevards, dem neuen Zentrum der Presseorgane, ein neuer Lesehabitus, die mit Jules Barbey d’Aurevilly sog. „lecture debout“; so wird auch beim Flanieren auf den Boulevards Zeitung gelesen. 33 : „De la Restauration à l’Entre-deux-guerres, les Boulevards furent aussi le centre du monde des journaux. Les entreprises de presse s’étaient progressivement regroupées sur et autour de cet axe. Les cafés étaient les lieux de rencontre des journalistes qui y échangeaient les nouvelles. Les salles de rédaction attiraient politiciens, mondains, affairistes et solliciteurs de tout acabit. Les kiosques et les colporteurs retenaient les passants.“ 34 In Zolas La curée spielt das neue, moderne Paris bzw. das dieses reflektierende Dispositiv Boulevard eine entscheidende Rolle und wird zur Oberfläche sozialer Entgleisungen, Inszenierungen und Klatschgeschichten. In La curée ist sowohl die topographische Dimension der Boulevards von Bedeutung, so nehmen diese die Rolle von Flanier- und Vergnügungsmeilen ein Theresa Vögle 202 und es entwickelt sich eine Gesellschaft von Zuschauern, deren Repräsentant der Flaneur wird. Guy Debord zu Folge liegt der Grund des Spektakels darin, dass der moderne Mensch in erster Linie Zuschauer sei. 35 Auf der anderen Seite dominiert jedoch die mediale Boulevardisierung hinsichtlich einer sich entwickelnden Klatsch-Kultur: „Alors c’étaient de longues discussions sur les cheveux de L’Écrevisse, le double menton de Mme de Meinhold, les yeux de Mme de Lauwerens, la gorge de Blanche Muller, le nez de la marquise qui était un peu de travers, la bouche de la petite Sylvia, célèbre par ses lèvres fortes. Ils comparaient les femmes entre elles.“ 36 Einen gemeinsamen Ausdruck für die Modernisierung der europäischen Großstadt des 19. Jahrhunderts schlechthin finden die Impressionisten und der Schriftsteller Émile Zola zunächst in der neuen Eisenbzw. Stahlbauweise. Diese kommt nicht zuletzt in Hallen, Bahnhöfen und der Pont de l Europe, zum Ausdruck, bzw. in den neu angelegten Grands Boulevards und deren Beobachtung von einem erhöhten Beobachtungsposten, d.h., von Fenstern, und der wechselnden Beleuchtung bei Tag und Nacht, mit der sich die Impressionisten intensiv auseinandersetzen: „Es ist das neue Paris im Wechselspiel seiner täglichen und nächtlichen Beleuchtungen, die die Impressionisten im Augenblick einer ersten, erstaunten, hingerissenen Wahrnehmung festgehalten haben.“ 37 Mit Baudelaires Diktum von 1845, die Kunst solle das Neue feiern, richten die Impressionisten den Blick auf die modernen Stadtlandschaften, so nicht zuletzt Gustave Caillebotte mit seinen De Pont de l’Europe (1876) und Rue de Paris, temps de pluie (1877). Insbesondere Claude Monet malte Ansichten von Paris, die aus oberen Etagen und somit aus der Vogelperspektive heraus entstanden. Neben Pierre-Auguste Renoirs Grands Boulevards (1875) zeigt auch Camille Pissarro mit seiner Serie des Boulevard Montmartre (Abb. 5) aus dem Jahre 1897 das rege Treiben auf den Pariser Prachtstraßen und versuchte, die Bewegtheit auf der Leinwand in seinen Boulevard-Bildern aus einer erhöhten, übergeordneten Perspektive einzufangen: „,Ich habe mir im Grand Hôtel de Russie in der Rue Drouot ein geräumiges Zimmer genommen, von wo aus ich die Straßenflucht der Boulevards bis fast zur Porte Saint-Denis, in jedem Falle bis zum Boulevard Bonne-Nouvelle überschaue.‘“ 38 In erster Linie ist es jedoch Claude Monets Boulevard des Capucines (Abb. 6) von 1873, das die flüchtige Bewegung der flanierenden Passanten festhält und das Thema der foule hétérogène auf den durch Haussmann neu angelegten Prachtboulevards aufgreift. Auf seinem Bild wimmelt es von flanierenden Passanten und vorbeifahrenden Kutschen, die spachtelartig aufgetragenen Farben verschwimmen und deuten lediglich Konturen an. Sie vermitteln so den Eindruck einer unaufhaltsamen Bewegung des Menschenflusses, die sich auf den neuen Prachtstraßen von Paris abspielt, ohne dass der Betrachter einzelne Individuen erkennen könnte. Der Fokus liegt in Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 203 Monets Boulevard des Capucines eindeutig auf dem Schauspiel des Gewimmels, des Massenbetriebes auf dem Boulevard. Und zusätzlich sind gar Zuschauer auf einem Balkon zu sehen, die sich über die Brüstung lehnen, um voyeuristisch die vorbeiflanierende Masse, die durch verschwommene Konturen Bewegung vermittelt, und somit die „spectacular reality“ auf dem Boulevard beobachten zu können. Gleichzeitig sind sie jedoch ein Teil selbiger. Generell lässt sich sagen, dass sich Zola in den Romanen seines Rougon- Macquart-Zyklus intensiv mit der impressionistischen Malerei auseinandersetzt und diese in das Medium Literatur bzw. Sprache transformiert 39 : so nicht zuletzt in seinem Roman über die Markthallen Le ventre de Paris (1873) 40 , in seinem Werk über den scheiternden impressionistischen Maler Claude Lantier mit dem programmatischen Titel L Œuvre, in dem das die immensen und megalomanisch erscheinenden Warenhäusern huldigenden Au Bonheur des dames (1883) und in dem Boulevard-Roman La curée. Zola beschreibt den Impressionisten Monet als ein „[…] Temperament, ein Mann in der Masse der Eunuchen.“ 41 Gerade, so äußert sich Zola mit Bewunderung, die Ansichten der Städte und somit das moderne Leben, das sich auf den Grands Boulevards manifestiert, habe Monet, den er als Haupt der Impressionisten sieht, in sich aufgesogen. 42 Hierbei seien es insbesondere der Umgang mit dem Licht und die präzise Farbgebung, die sein Können ausmachten. Die Ästhetik des Impressionismus mache entsprechend aus, die Dinge so zu malen, wie man sie sehe. Dabei stehe nicht das Objekt selbst im Fokus des Interesses, sondern seine Erscheinung unter bestimmten Umständen. 43 Mit Caillebottes Un balcon, boulevard Haussmann (Abb. 3) und Pissarros Boulevard des Italiens (Abb. 4) greifen die Künstler das Fenster als Motiv auf, das uns als Bild „ouvre le champ d’un spectacle.“ 44 Zudem ist - so Spieker - der Beobachterstandpunkt am Fenster des ersten Stocks charakteristisch für die Photographie des 19. Jahrhunderts und somit für die Aufnahme von Stadtbildern. 45 Die Aufnahme dieses Blickwinkels des Fensters unterstreicht Zolas impressionistische Schreibweise. Hier werden flüchtige, kontingente Augenblicke im Medium Sprache eingefangen und das rege Treiben der foule auf den nächtlichen Boulevards, insbesondere dem Boulevard des Italiens, aus Sicht der Protagonistin durch den erhöhten Blick vom Café Riche aus widergespiegelt: „Et le défilé repassait sans fin, avec une régularité fatigante, monde étrangement mêlé et toujours le même, au milieu des couleurs vives, des trous de ténèbres, dans le tohu-bohu féerique de ces milles flammes dansantes, sortant comme un flot des boutiques, colorant les transparents des croisées et des kiosques, courant sur les façades en baguettes, en lettres, en dessins de feu, piquant l’ombre d’étoiles, filant sur la chaussée, continuellement.“ 46 Theresa Vögle 204 Abb. 3: Gustave Caillebotte, Un balcon, boulevard Haussmann (1880) Abb. 4: Camille Pissarro, Abb. 5: Camille Pissarro, Boulevard des Italiens (1897) Boulevard Montmartre la nuit (1898) Abb. 6: Claude Monet, Boulevard des Capucines (1873) Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 205 Anhand der Beschreibungen der nächtlichen Boulevards könnte Zola mit Stierle gar „als Vollender des Impressionismus“ 47 bezeichnet werden, was insbesondere im vierzehnten Band des Rougon-Macquart-Zyklus, L’Œuvre, verdeutlicht wird. Hier geht es um das Scheitern des impressionistischen Malers Claude Lantier, der wie ein Großteil der realen impressionistischen Maler seine Bilder nicht im Salon, sondern im Salon des Refusés ausstellen musste, weil er von der Jury nicht verstanden wurde. Zola sieht in seinem unverkennbar den Impressionisten gewidmeten L’Œuvre die moderne Großstadt mit den Augen des Malers und setzt diesem impressionistischen Blick mit seiner visuellen Schreibweise ein literarisches Denkmal, das sich durch seinen gesamten Rougon-Macquart-Zyklus zieht und seine Romane unverwechselbar erscheinen lässt. 48 Zola beschreibt sich selbst als „Übersetzer des Impressionismus“ 49 , was nicht zuletzt anhand der minutiösen Schilderung der changierenden Lichter und Reklamebanderolen der Boulevards bei Nacht verdeutlicht wird, auf denen Maxime und Renée ihrer Vergnügungssucht nachgehen. Sie lieben die strömenden Menschenmengen, die Läden und Firmenschilder, die buntbeklebten Litfaß-Säulen, kurzum: das mit der Haussmannisierung erwachte Pariser Straßenleben. Als Renée eines Nachts von einer Abendgesellschaft kommt, überredet sie Maxime, die Boulevards entlangzufahren, die ihr im diffusen Laternenlicht wie eine Plattform für Illusionen und Träume erscheinen: „Renée, la tête à la portière, resta silencieuse, regardant la foule, les cafés, les restaurants, dont la file interminable courant devant elle. Elle était devenue toute sérieuse, perdue au fond de ces vagues souhaits dont s’emplissent les rêveries de femmes. […] cet asphalte gris où lui semblait passer le galop des plaisirs et des amours faciles, réveillaient des désirs endormis, lui faisaient oublier ce bal idiot dont elle sortait […].“ 50 Im Théâtre-Italien sehen Maxime und Renée schließlich Phädra, das die Protagonistin an ihre eigene inzestuöse Beziehung erinnert und ihr Gewissensbisse verursacht. Doch als sie an die anderen Damen und ihre Affären und Skandale denkt, legt sie ihre Scham ab und passt sich der Mode der Zeit in einer über die allgemeine Moral erhabenen Gesellschaft an. Im Bois de Boulogne versammelt sich im Gegensatz zu den Boulevards, die eine foule hétérogène bevölkert, die führende Empire-Gesellschaft. Hier kursieren Gerüchte über die Reichen und Schönen, aus denen sich Klatschgeschichten entfalten, so heißt es in einem Gespräch zwischen Maxime und Renée bei der Fahrt über den Bois de Boulogne, die aufgrund der Ansammlung von Kutschen nur sehr langsam voran geht: „,Tiens‘, dit Maxime, ,Laure d’Aurigny, là-bas, dans ce coupé… Vois donc, Renée.‘ […] ,Je la croyais en fuite‘, dit-elle… ,Elle a changé la couleur de ses cheveux, n est-ce pas? ‘ ,Qui‘, reprit Maxime en riant, ,son nouvel amant déteste le rouge‘“. 51 Der Bois de Boulogne wird gleichermaßen zur gesellschaftlichen Bühne. Die Natur wird beschrieben als eine Stoffliche, Artifizielle, so dass dieser beim Theresa Vögle 206 Vorbeifahren wie eine „Theaterdekoration“, mit seinen „immenses tapis d’herbe“ 52 wie eine Verlängerung des Salons bzw. Boudoirs erscheint. So vermischen sich Privatsphäre und öffentliches Leben, Innenraum und Außenraum, mit Parkhurst Ferguson „le Bois de Boulogne devient un boudoir […].“ 53 Neben den neuen Boulevards als Orten des Lasters und der sozialen Fehltritte ist es insbesondere das Treibhaus, in dem in der tropischen, „dumpfen Hitze“ 54 und den „erregenden Düften“ („parfums troublants“) 55 die Affäre zwischen Renée und ihrem androgynen Stiefsohn, „à figure de fille“ 56 , ihren Höhepunkt erreicht. Auch die Opposition zwischen dem haussmannisierten Stadtgebiet (zu dem auch der Bois de Boulogne gehört) als normiertem Außenraum und dem Treibhaus als „anderem Raum“, wird in La curée sehr deutlich. Mit Foucault könnte man von einer Heterotopie sprechen mit der gleichermaßen eine „andere Zeit“ einhergeht: „Et ils étaient à mille lieues de Paris, en dehors de la vie facile du Bois et des salons officiels, dans le coin d une forêt de l’Inde.“ 57 Das Treibhaus spielt mit seiner Schwüle, der exotischen Pflanzenwelt und seiner räumlichen Abgeschlossenheit eine entscheidende Rolle zur Erfüllung der Leidenschaften und sexueller Phantasien. Eilert verdeutlicht den großen Einfluss Émile Zolas und seiner ausführlichen Treibhaus-Passagen in La curée auf Theodor Fontanes Ehebruchsroman L’Adultera von 1882, in welchem sich die Affäre Melanie von Straatens mit Ebenezer Rubehn im gigantischen Palmenhaus mit angrenzendem Treibhaus entfaltet. 58 Während - wie Eilert betont - bei den Brüdern Goncourt das Treibhaus-Motiv noch für den neureichen Großbürger steht, so dominiert die Bedeutung des Treibhauses (seit 1880 fester Motivbestand der europäischen Literatur des Fin de siècle 59 ) als Ort lasziver Erotik, wie es nicht zuletzt Zola zeigt. 60 Das überheizte Treibhaus fungiert mit seiner üppigen, fremdartigen Pflanzenwelt 61 auch als vitalistischer Ort von Träumereien und geradezu animalischer Begierden. Das Gewächshaus erscheint als Evasionsraum vor der dekadenten Pariser Gesellschaft, die sich im Palais und auf den Boulevards tummelt. Doch handelt es sich auch hier um ein paradis artificiel, um künstlerisch überformte Natur. Die feuchte Tropenhitze lässt schließlich die Sinne schwinden und die Frauen sich ihren Liebhabern hingeben. Die Üppigkeit der Pflanzenwelt korreliert hier mit Erotik und Fruchtbarkeit, die Liebenden werden in die „gewaltige Paarung der Natur hineingerissen“ 62 , in die „Dantische Hölle der Leidenschaft“ 63 . Der Saccard’sche Palais im Park Monceau erscheint somit als Paradies „du plaisir mondain“ 64 und als Ort der moralischen Depravation, insbesondere verkörpert durch das Treibhaus „als Schauplatz lasziver Liebesszenen“ 65 . Bei einem Maskenball im Palais Saccard präsentiert sich Renée gar fast nackt, als Tahiti-Insulanerin, im Aufzug einer schamlosen Dirne, wie sie später selbst beim Blick in den Spiegel feststellt. Renée ist somit die Repräsentantin und das Produkt des neuen Paris. Ihre Launen und ihr äußeres Erscheinungsbild Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 207 füllen die Tageszeitungen, wie auch heute Sensationsmeldungen über Prominente die Boulevardzeitschriften zieren. Ihre „caprices“ werden immer ausgefallener und passen umso mehr in die Sparte der faits divers, definiert als „nouvelles peu importantes d’un journal“ 66 : Renée möchte sich u.a. mit der Herzogin de Sternich auf Pistolen duellieren, die ihr angeblich absichtlich ein Glas Punsch über das Kleid gegossen habe. 67 Auch spricht in dieser auf den äußeren Schein erpichten Gesellschaft jeder von ihrem extravaganten Ankleidezimmer: „On disait ‚le cabinet de toilette de la belle Mme Saccard‘ comme on dit ‚la galerie des Glaces, à Versailles‘.“ 68 Hier findet sich eine Anspielung auf die moderne Eisen-Glas-Bauweise des Saccard’schen Palais, der sich am Parc Monceau in der Nähe des Boulevard Malesherbes befindet und der durch zahlreiche vergoldete Verzierungen den Reichtum indiziert, eine „réduction du nouveau Louvre“ 69 . Neben den großen Fassadenfenstern im Erdgeschoss sind auch im Inneren des Palais die Einrichtungsgegenstände durch Spiegel von allen Seiten aus sichtbar, so wie man es auch in den neuen, großen Kaufhäusern beobachten kann, die Zola im elften Roman des Rougon-Macquart-Zyklus, Au Bonheur des Dames, thematisiert. Und wie vor den Warenhäusern, so bleibt das Kleinbürgertum auch vor dem Saccard’schen Anwesen vor Bewunderung über die prachtvollen Einrichtungsgegenstände stehen, derer sie ansichtig werden „[…] au travers des glaces si larges et si claires qu elles semblaient, comme les glaces des grands magasins modernes.“ 70 Privates wird hier öffentlich 71 , der Palais reflektiert aufgrund der großen Fenster eine neue Kultur der Sichtbarkeit, der Oberfläche und des Warenfetischismus. Mit Guy Debord erscheint „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, […] als eine ungeheure Menge von Spektakeln.“ 72 Bezeichnend für die logique marchande des Romans ist, dass sich der neureiche Saccard, nachdem er seine Frau und Maxime in flagranti erwischt, mehr dafür interessiert, dass diese die Abtretungsurkunde für den Eigentumsanteil an ihren Grundstücken unterschrieben hat. Im Gegensatz zu ihrer antiken Vorgängerin Phädra gelingt es Renée nicht, die Schuld an der Affäre einzig ihrem Stiefsohn zu geben und so die Vater-Sohn-Beziehung zu spalten. Diese Bindung besteht fort und Renée muss erkennen, dass Saccard sie immer nur als Werkzeug betrachtet hat, seinen Reichtum zu mehren, und Maxime sie nie wirklich begehrt hat. Ihr Traum von einer tiefergehenden Beziehung zerplatzt endgültig, als auch ihre Kammerzofe nach acht Jahren abreist und Renée als Verlassene zurückbleibt. Doch die psychischen Zustände, wie Renées Gewissensbisse ob ihrer Affäre, spielen weniger eine Rolle als die Fixierung auf die Oberfläche einer Gesellschaft, die Renée letztendlich zerstört: „[…] rien ne la touchait, dans l ennui immense qui l’écrasait. Elle viellissait […] C’était la fin d une femme.“ 73 So erscheint auch die knappe, leidenschaftslose Beschreibung von Renées Tod wie eine bloße Zeitungsnotiz: „L’hiver suivant, lorsque Renée mourut d’une méningite aiguë, ce fut Theresa Vögle 208 son père qui paya ses dettes. La note de Worms se montait à deux cent cinquante-sept mille francs.“ 74 Charles Baudelaire zu Folge verkörpern das Ephemere, das Flüchtige und das Kontingente die Moderne, deren Synonym der urbane Raum wird. 75 Abschließend lässt sich sagen, dass Zola in La curée ebenso wie die Impressionisten das moderne Leben, das mit der Haussmannisierung seinen Ausgang nimmt, reflektiert, mit dem Unterschied jedoch, dass es ihm vor allem um die Boulevardisierung der Medien geht. Eine Verbindung zwischen den Impressionisten und Zolas Zeichnung des Second Empire lässt sich jedoch über die Betonung der bloßen Oberfläche herstellen, die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit indiziert. Die dargestellten Beziehungen bei Zola sind oberflächlicher Natur, ihnen fehlt die Tiefe, so wie es dem schnellen Pinselstrich und den nahezu abstrakten Werken der impressionnistes an Detailgenauigkeit („production hâtive“) 76 und aufgrund des Lichts zu unterschiedlichen Tageszeiten am Anspruch auf Dauer mangelt. Zola interessiert sich in erster Linie für die Impressionisten, weil sie ‚wissenschaftlich‘ malen 77 , die momentane Erscheinung der Dinge festhalten und so seinen Begriff von Schönheit und Kunst umsetzen. Ebenso filtert Zola die auf den Boulevards vorbeiflanierende flüchtige, kontingente Menge und zeichnet eine vergnügungssüchtige Gesellschaft, die im Massenkonsum bzw. -spektakel auf den dafür auf den Grands Boulevards eingerichteten Institutionen, den Warenhäusern, den Varietés, Cafés und Musikcafés, später auch den ersten Kinos, Befriedigung findet. Auch die moderne Art journalistischen Schreibens steht für Schnelligkeit und Spontaneität, von Zola beschrieben als „,steam-powered journalism, edited on the fly, written at full gallop at a café table.‘“ 78 Zola reflektiert kritisch das moderne Leben, den Boulevardjournalismus und ist doch selbst, wie kaum ein anderer Zeitgenosse, davon nicht zuletzt aus finanziellen Gründen abhängig. 79 So ist der Journalismus lange seine Haupteinnahmequelle, erst sein Werk L’Assommoir verschafft ihm 1877 den entscheidenden Durchbruch und somit auch finanzielle Unabhängigkeit. 80 Die neu angelegten Boulevards sind somit im ausgehenden 19. Jahrhundert für ihr voyeuristisches Massenpublikum zum Schauplatz par excellence für außergewöhnliche Begebenheiten, zu einem permanenten, bunten und lärmenden Vergnügen, zu pulsierenden Arterien geworden. Durch den Straßenverkauf von Zeitungen werden diese im 19. Jahrhundert zum Massenmedium, zu Gerüchteküchen. Klatschgeschichten verbreiten sich durch das neue Medium rasant, die Boulevardpresse ist als eine „Klatschfabrik“ zu betrachten, was vor allem anhand der breiten Rezeption der in den faits divers zu Sensationsgeschichten stilisierten Alltagsbegebenheiten beobachtet werden kann: „Ein Ort, an dem Gerüchte regelrecht massenhaft, also fabrikmäßig produziert werden, um danach von ‚rumor-mongers‘, Gerüchtehändlern, vertrieben zu werden, wird in England offenbar unter dem Eindruck der sich entwickelnden In- Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 209 dustrialisierung und der entstehenden Boulevardpresse folgerichtig ‚gossip factory‘ genannt.“ 81 Klatsch ist zeitlos, man denke an die griechische Klatschgöttin Pheme und die zänkische Frau des Sokrates, Xanthippe. Besonders in der heutigen Zeit, so Christian Schuldt, hat Klatsch Hochkultur. 82 Er widerspricht damit der im Jahr 1995 aufgestellten These Umberto Ecos vom Klatsch als einer „aussterbenden Kunst“, die dieser auf die fehlende Abwesenheit des Beklatschten im Medium Fernsehen zurückführt, wo man ständig über sich selbst klatscht 83 . Doch auch wenn aus kommunikationstheoretischer Sicht die klassische Klatschtriade 84 , bestehend aus Klatschproduzent, Klatschrezipient und dem abwesenden Klatschobjekt im Medienzeitalter ausgedient hat, erscheint dieser im 21. Jahrhundert aktueller denn je. Das Internet hat die Klatschkultur globalisiert, die auf den mittelalterlichen Waschplätzen einen ersten Kulminationspunkt fand. Die Verbreitungsgeschwindigkeit und Reichweite von Klatsch und Gerüchten hat sich durch die Medientechnologie intensiviert 85 . Webers Lithographie hat im 21. Jahrhundert somit an Prägnanz gewonnen, das Gerücht erscheint auf dem Spiegel-Titelblatt vom 10.01.2011 als ein Cybermonster (Abb. 2), das seine Augen überall zu haben scheint, die Massen in seinen Bann zieht und global vernetzt, jeden erspähen kann. Der Boulevard boomt und die Gerüchteküche brodelt im Internetzeitalter. Die Kommunikation hat sich im 21. Jahrhundert immer mehr von realen Klatschsituationen in virtuelle Klatsch-Räume verlagert. Wurde der Klatsch früher noch face-to-face auf dem Waschplatz, den Waschhäusern 86 , den Straßen und anschließend der Boulevardpresse verbreitet, wie am Beispiel von La curée veranschaulicht, so sind diese dem Reiz der virtuellen Kommunikation und virtuellen Online-Gerüchteküchen gewichen. Zola hat sich schon damals im Strudel der Moderne treiben lassen, den er in seinen Werken noch als Beobachter beschreibt, doch als Journalist wird er selbst ein Teil der Schnelllebigkeit der Massenpresse und der „spectacular reality“ der Boulevardmedien, die alle sozialen Schichten erreichen. Durch die Veröffentlichung seiner Werke in Zeitschriften kann er ein heterogenes Massenpublikum 87 erreichen, wie er es in Le Lecteur du P ETIT J OURNAL 88 beschreibt. Gleichzeitig kann er das spektakuläre Material der faits divers oder z.B. auch die neue Rubrik der „portrait-cartes“ 89 zur Unterhaltung und Zerstreuung des Massenpublikums für seine Tätigkeit als Schriftsteller fruchtbar machen und in seine fiktionalen Werke einspeisen, wie sich nicht zuletzt am Beispiel von La curée und den Protagonisten Vergnügen bereitenden Fotoalben (gazettes scandaleuses) zeigen lässt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Zola gleichermaßen ein Rezipient als auch ein Dienstleister der Boulevardpresse ist. Er erscheint als ein Exponent des modernen Lebens und verkörpert einen „Intellektuellen“, der verführbar und kritisch ist. Die Beobachtung seiner Zeit, ihrer événements und Entwicklungen und somit der wissenschaftliche Impetus seiner Werke Theresa Vögle 210 erscheinen die Erfolgsgaranten des „écrivain-journaliste“ Émile Zola und seiner präzisen Milieustudien, die sein Rougon-Macquart-Zyklus (1871-1893) eindrucksvoll vor Augen führt. 1 Vanessa Schwartz: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, Berkeley et al., 1999, 25. 2 Robert Kopp: „Paris - Hauptstadt der zivilisierten Welt? “ in: Museum Folkwang (ed.): Bilder einer Metropole. Die Impressionisten in Paris, Göttingen, Steidl, 2010, 35-68, 40. Cf. hierzu die gleichnamige Ausstellung „Bilder einer Metropole - Die Impressionisten in Paris“, 2.10. bis 30.1.2011 im Folkwang Museum, Essen. Cf. auch folgende Artikel zur Ausstellung, Gottfried Knapp: „Paris - Baustelle der Moderne“, in: Süddeutsche Zeitung, 231 (6. Oktober 2010), 12 sowie Tim Ackermann: „Die Schönheit der Gentrifizierung“, in: Die Welt, 30. September 2010, 23. 3 Schwartz: Spectacular Realities, 25. 4 Cf. zum Eiffelturm u.a. die Ausgabe vom 5. Mai 1889 (Nr. 18). Zur Illustration R. Griffi: „L Esposizione Universale di Parigi - L Illuminazione della Torre Eiffel“, in: L’Illustrazione Italiana, 27, 7. Juli 1889, 13. 5 Zola: La curée, 144sq. 6 Ibid., 162. 7 Cf. zum Medium der Fotografie, das etwa um 1880 einer breiten Masse zugänglich wurde, und zu den Visitenkartenporträts als Sammelobjekten Angelika Spieker: Der doppelte Blick. Photographie und Malerei in Emile Zolas Rougon-Macquart, Heidelberg, Winter, 2008, 15 sowie den Beitrag von Christina Natlacen im vorliegenden Band. 8 Zola: La curée, 152. 9 Christophe Charle: Le Siècle de la Presse (1830-1939), Paris, Seuil, 2004, 12. 10 Cf. auch Schwartz: Spectacular Realities, 26. 11 Ibid., 103. 12 Cf. Nouveau Larousse élémentaire, 1967: zitiert nach Marine M Sili: Le fait divers en République. Histoire sociale de 1870 à nos jours, Paris, CNRS Éditions, 2000, 46. 13 Auch Vanessa Schwartz verweist diesbezüglich auf die „sensationalized banality“ der faits divers, cf. Schwartz: Spectacular Realities, 40. 14 Auch im siebten Band des Zola’schen Rougon Macquart-Zyklus, L’Assommoir, wird das Interesse der Arbeiterklasse für die faits divers, insbesondere für die Mordfälle, thematisiert, die nicht zuletzt außergewöhnliche Verbrechen thematisieren. So liest Lantier vor: „Ein Sohn erschlug seinen Vater mit dem Spaten, um ihm dreißig Sous zu stehlen…“ Cf. dt. Ausgabe E. Zola: Der Totschläger, München, Winkler, 1975, 398. 15 Thomas Cragin: Murder in Parisian Streets. Manufacturing Crime and Justice in the Popular Press, 1830-1900, Lewisburg, 2006, 36. 16 Jean-Noël Kapferer: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt, transl. Ulrich Kunzmann, Leipzig, Gustav Kiepenheuer Verlag, 1996, 10. Im französischen Original: Rumeurs. Le plus vieux média du monde, Paris, Seuil, 1987. 17 Gerücht, von lateinisch rumor, bedeutet zuerst „Geschrei“, „Lärm“, „Geräusch“. Bereits Vergil beschwört in seiner Aeneis die Gerüchteköchin Pheme bzw. Fama, siehe Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 211 Vergil: Aeneis, 3. und 4. Buch, Stuttgart, Reclam, 2009, 87. Cf. zum Thema des Gerüchts bzw. der Gerüchteköchin Fama vor allem den Beitrag von Gregor Schuhen im vorliegenden Band. 18 Cf. hierzu auch Thomas S. Eberle: „Gerücht oder Faktizität? Zur kommunikativen Aushandlung von Geltungsansprüchen“, in: Manfred Bruhn/ Werner Wunderlich (eds.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern/ Stuttgart/ Wien, 2004, 85-113, 87. 19 Cf. Werner Wunderlich: „Gerücht - Figuren, Prozesse, Begriffe“, in: Manfred Bruhn/ W.W. (eds.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform, Bern/ Stuttgart/ Wien, 2004, 41-65, 57. 20 Cf. zur Etymologie von Klatsch und Gerücht, Christian Schuldt: Klatsch! Vom Geschwätz im Dorf zum Gezwitscher im Netz, Frankfurt a.M./ Leipzig, Insel, 2009, 44. 21 Cf. Jörg R. Bergmann: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion, Berlin/ New York, De Gruyter 1987, 61sqq. 22 Schuldt: Klatsch! Vom Geschwätz im Dorf zum Gezwitscher im Netz, 90sq. 23 Eberle: „Gerücht oder Faktizität? Zur kommunikativen Aushandlung von Geltungsansprüchen“, 93sq. 24 Zola: La curée, 25. 25 Loc. cit. 26 Zola: La curée, 48. 27 Ibid., 198. 28 Zola: La curée, 209. 29 Schwartz: Spectacular realities, 16. 30 Cf. Schwartz: Spectacular realities. 31 Schwartz: Spectacular realities, 16. 32 Ibid., 13. 33 Cf. Roger Bellet (ed.): Presse et Journalisme sous le Second Empire, Paris, 1967, 195. 34 Pierre Albert: „Journaux et journalistes“, in: Les Grands Boulevards. Un parcours d’innovation et de modernité, Paris, 2000, 201. 35 Cf. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg, 1978, 111. 36 Zola: La curée, 153. 37 Karl-Heinz Stierle: „Emile Zola und das Paris der Impressionisten“, in: Bilder einer Metropole, op. cit., 227-245, 227. Cf. hierzu die gleichnamige Ausstellung „Bilder einer Metropole - Die Impressionisten in Paris“, 2.10. bis 30.1.2011 im Folkwang Museum, Essen. 38 Monique Nonne: „Paris - Stadt der Maler“, in: Bilder einer Metropole, op. cit., 235-245, 240. 39 Cf. Stierle: „Emile Zola und das Paris der Impressionisten“, op. cit., 230. 40 Cf. auch Theresa Vögle: „Modernisierungsschübe und Persistenz bei Zola und Serao: Die longue durée unter der histoire de surface“, in: Marijana Ersti / Gregor Schuhen/ Tanja Schwan (eds.): Spektrum reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, Siegen, Universi, 2009, 453-478. 41 Emile Zola: Schriften zur Kunst. Die Salons von 1866-1896, transl. Uli Aumüller, Frankfurt a.M., Athenäum, 1988, 32. 42 Ibid., 106. 43 Cf. Spieker: Der doppelte Blick, 24. Theresa Vögle 212 44 Ilham ben Boumehdi: „A la fenêtre“, in: Les Grands Boulevards. Un parcours d’innovation et de modernité, 176. Cf. zu Boulevard-Photographien auch den Beitrag von Christina Natlacen im vorliegenden Band. 45 Cf. Spieker: Der doppelte Blick, 181. 46 Zola: La curée, 180sq. 47 Stierle: „Emile Zola und das Paris der Impressionisten“, op. cit., 233. 48 Cf. ibid., 232sq. 49 Spieker: Der doppelte Blick, 2. 50 Zola: La curée, 176. 51 Ibid., 18. 52 Ibid., 24. 53 Priscilla Parkhurst Ferguson: „Mobilité et modernité: le Paris de La Curée“, in: Les cahiers naturalistes, 67, 1993, 77. 54 Émile Zola: Die Beute, München, Winkler, 1974, 274. 55 Ibid., 203. In der franz. Originalausgabe Zola: La curée, 169. 56 Zola: La curée, 124. 57 Ibid., 225. 58 Vergleiche zum Treibhaus-Motiv in der europäischen Literatur Benita von Heynitz: Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening, Tübingen, 1994, 170sq. Siehe auch Heide Eilert: „Im Treibhaus. Motive der europäischen Décadence in Theodor Fontanes Roman L’Aldutera“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 22 (1978), 496-517, hier insbesondere 503sqq. Cf. Theodor Fontane: L’Adultera, Stuttgart, Reclam, 1983, 82sq. 59 Cf. hierzu ausführlich Eilert: „Im Treibhaus. Motive der europäischen Décadence in Theodor Fontanes Roman L’Adultera“, 507sqq. 60 Zola: La curée, 221: „Mais il était un lieu dont Maxime avait presque peur, et où Renée ne l’entraînait que les jours mauvais, les jours où elle avait besoin d’une ivresse plus âcre. Alors ils aimaient dans la serre. C’était là qu’ils goûtaient l’inceste.“ 61 Zola: Die Beute, 275. 62 Ibid., 278. 63 Ibid., 280. 64 Zola: La curée, 230. Cf. auch Eilert: „Im Treibhaus. Motive der europäischen Décadence in Theodor Fontanes Roman L’Aldutera“, 505. 65 Eilert: „Im Treibhaus. Motive der europäischen Décadence in Theodor Fontanes Roman L’Aldutera“, 505. 66 Definition „Fait divers“ nach dem Micro-Robert poche, ed. par Alain Rey, Paris, 1989, 522. 67 Cf. Zola: Die Beute, 312. 68 Zola: La curée, 214. 69 Ibid., 35. 70 Loc. cit. 71 Parkhurst Ferguson: „Mobilité et modernité: le Paris de La Curée“, 78. 72 Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, 6. 73 Zola: La curée, 342. 74 Ibid., 355. 75 Cf. Charles Baudelaire: „Le peintre de la vie moderne“, in: Œuvres complètes, ed. Claude Pichois, Paris, Gallimard, 1976, 683-724, 695. 76 Cf. Spieker: Der doppelte Blick, 38. Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und „spectacular reality“ 213 77 Cf. ibid., 26. 78 Schwartz: Spectacular Realities, 28. 79 Adeline Wrona (ed.): Zola journaliste. Articles et chroniques, Paris, Flammarion, 2011, 10sq. 80 Ibid., 16. 81 Wunderlich: „Klatsch“, op. cit., 62. 82 Christian Schuldt: Klatsch! Vom Geschwätz im Dorf zum Gezwitscher im Netz, 189sqq. 83 Umberto Eco: „Früher war der Klatsch eine ernste Sache, heute ist er eine aussterbende Kunst“, in: Sämtliche Glossen und Parodien, transl. aus dem Italienischen Burkhart Kroeber/ Günter Memmert, München/ Wien, Carl Hander Verlag, 2002, 567-570, 568. 84 Cf. hierzu auch Thomas S. Eberle: „Gerücht oder Faktizität? Zur kommunikativen Aushandlung von Geltungsansprüchen“, in: Medium Gerücht, op. cit., 89. Cf. auch Christian Schuldt, 67sq. 85 Cf. Wunderlich: „Klatsch“, 61. 86 Kapferer bezeichnet u.a. öffentliche Waschhäuser, Märkte, Frisiersalons, Korridore und Kantinen als Umschlagplätze des Gerüchts. Cf. Kapferer: Gerüchte, 73. 87 „une foule d’un million de têtes. […] une figure étrange, une créature faite de toutes les créatures, un géant colossal résumant un peuple entier.“, Wrona: Zola journaliste, 55sq. 88 Publiziert am 10. April 1865 in Le Petit Journal. 89 Eingeführt wurden die Visitenkartenporträts 1854 von André Adolphe-Eugène Disdéri. Spieker verweist in diesem Zusammenhang auf den Vertrieb von Prominentenporträts, die in großen Serien hergestellt und in Porträtateliers auf den großen Boulevards erworben werden konnten und sich zu beliebten Sammelobjekten entwickelten. Cf. Spieker: Der doppelte Blick, 14sq. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Felten, Uta, geb. 1967; Studium der Romanistik in Düsseldorf, Bordeaux, Sevilla und Siegen; seit 2005 Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Spanischer Surrealismus, Proust und die Medien, Modernes Kino der Romania; Gender- und Körperinszenierungen in der Romania. Monographien: Traum und Körper bei Federico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen, Stauffenburg, 1998; Figures du désir. Untersuchungen zur amourösen Rede im Film Eric Rohmers, München, Fink, 2004; Träumer und Nomaden. Eine Einführung in das moderne Kino in Frankreich und Italien, Tübingen, Stauffenburg, 2011; Sammelbände (Auswahl): Die Korrespondenz der Sinne im Werk von Marcel Proust, ed. zusammen mit V. Roloff, München, Fink, 2008; Escenas de transgressión. María de Zayas en su contexto literario-cultural, ed. zusammen mit I. Albers, Frankfurt a.M., Vervuert, 2009; Le dieu caché? Lectura christiana des italienischen und französischen Nachkriegskinos, ed. zusammen mit S. Leopold, Tübingen, Stauffenburg, 2010; Eric Rohmer. Zwischen Liebe und Lüge, München, edition text+kritik, 2010. Gropp, Rose-Maria ist Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie schreibt dort vor allem über Kunst und ist verantwortlich für das Ressort „Kunstmarkt“. Ihre Dissertation erschien 1988 im Beltz Verlag, Weinheim und Basel, unter dem Titel Lou Andreas-Salomé mit Sigmund Freud. Grenzgänge zwischen Literatur und Psychoanalyse, im Schirmer/ Mosel Verlag, München, 2007 ihr Buch Balthus in Paris. Die erste Ausstellung 1934. Sie hat einige Aufsätze veröffentlicht, zuletzt 2011 den Essay „Die Entstellung der Welt“ im Katalog zur Ausstellung „Neo Rauch“ im Museum Frieder Burda, Baden-Baden (Hatje Cantz Verlag, Ostfildern). Hamrick, L. Cassandra, Professorin für Französisch an der Saint Louis University (USA), interessiert sich für die Beziehung zwischen der Literatur und den Künsten in Frankreich während des 19. Jahrhunderts sowie für die Werke Baudelaires und Gautiers im Besonderen. Sie ist Autorin zahlreicher Essays und Artikel in diesem Bereich. Ihr Sammelband, Sculpture et poétique: Sculpture and Literature in France, 1789-1859 (Nineteenth-Century French Studies, vol. 35), unter Mitherausgeberschaft von Suzanne Nash, erschien 2006. Derzeit arbeitet sie an der kritischen Ausgabe zu Théophile Gautiers „Salons“ mit, die im Rahmen der Œuvres complètes des Autors bei Honoré Champion erscheint. Hülk, Walburga, Dr., Professorin für Romanische Literaturwissenschaft in Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley; 2008 Forschungspro- Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 216 fessur an der FMSH, Paris. Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit, Fragen der literarischen und medialen Anthropologie und der Medienästhetik; wissenschaftsgeschichtliche Themen im Kontext der Metaphoriken der „two cultures“; Publikationen u.a. zu Schrift-Spuren von Subjektivität im Mittelalter, zu „Sinnesgeschichten“ in der Literatur, zu Rousseau, Kleist, Flaubert, Proust; Leiterin des DFG-Forschungsprojekts „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“. Aktuelles DFG-Projekt (zus. mit Georg Stanitzek): „Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität. Kalifa, Dominique ist Professor an der Université Paris 1 Panthéon - Sorbonne, wo er die École doctorale d’histoire leitet. Seine Forschungen betreffen die Geschichte der Kriminalität, der Rechtsverstöße und der Massenkultur. Besonders hervorzuheben sind seine Publikationen L’Encre et le sang (Fayard 1995), Naissance de la police privée (Plon 2000), Crime et culture au XIX e siècle (Perrin 2005), Biribi. Les bagnes coloniaux de l’armée française (Perrin 2009). Er hat vor kurzem La Civilisation du Journal. Histoire culturelle et littéraire de la presse française au XIX e siècle (Nouveau Monde 2011) mitherausgegeben und eine Histoire des bas-fonds fertiggestellt, die bei Seuil erscheinen wird. Kersten, Catrin studierte Allgemeine Literaturwissenschaft, Romanistik und Kunstgeschichte an den Universitäten Bayreuth, Sevilla und Siegen. Promotion mit einer Arbeit über Freundschaft und Beratung. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität“ an der Universität Siegen. Natlacen, Christina, Studium der Kunstgeschichte in Wien, Lausanne und Graz, Promotion 2006; 2006-2008 Mitarbeiterin der Fotosammlung der Albertina, Wien und Visiting Fellow an der Fotosammlung des Rijksmuseum, Amsterdam; seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen im Fachbereich Medienwissenschaft; Lehrtätigkeit an den Universitäten Wien, Graz und Siegen; Publikationen zur Geschichte der Fotografie im Allgemeinen und zur wissenschaftlichen, künstlerischen und Amateurfotografie im Besonderen; kuratorische Ausstellungsprojekte. Ausgewählte Publikationen: Arnulf Rainer und die Fotografie. Inszenierte Gesichter, ausdrucksstarke Posen, Petersberg, 2010; Looking for New Ways within Scientific Visualization. A.-L. Donnadieu’s ‚La photographie des objets immergés‘, vol. 5 der Serie Rijksmuseum’s Studies in Photography, Amsterdam, 2009. Pöppel, Nicole, Studium der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften mit den Schwerpunkten Germanistik und Romanistik in Siegen und Tours; Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 217 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität“ an der Universität Siegen; Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Grenzgänger im Sensationsmilieu. Die Bohème und ihr Verhältnis zum Boulevard“. Roloff, Volker, Prof. i.R. für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, mit Schwerpunkten im Bereich der französischen und spanischen Literatur und der romanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Aktuelle Arbeitsbereiche: Intermedialität; europäische Avantgarden; Proust; französische Literatur-, Theater- und Filmgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Französische Theaterfilme zwischen Surrealismus und Existentialismus, (ed. mit M. Lommel/ N. Rißler-Pipka/ I. Maurer Queipo) Bielefeld, 2004; Proust und die Medien (ed. mit U. Felten), München, 2005; Alte Mythen - Neue Medien (ed. mit Y. Hoffmann/ W. Hülk), Heidelberg, 2006; Die Korrespondenz der Sinne, Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Proust (ed. mit U. Felten), München, 2008; Sartre und die Medien (ed. mit M. Lommel) Bielefeld, 2008; Surrealismus und Film (ed. mit M. Lommel/ I. Maurer Queipo), Bielefeld, 2008; Proust und Tausendundeine Nacht, Köln (Marcel Proust Gesellschaft), 2009; Alain Robbe-Grillet — Szenarien der Schaulust (ed. mit S. Winter/ Ch. von Tschilschke), Tübingen, 2011. Schuhen, Gregor, Dr. phil., Juniorprofessor für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Men’s Studies an der Universität Siegen. Vorher wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“ an der Universität Siegen, 2005 bis Okt. 2006 wiss. Mitarbeiter an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur vom 17. bis 20. Jh., Gender und Men’s Studies, Pop- und Jugendkultur, klassische Avantgarden, Intermedialität im aktuellen Film, Wissenschaftsgeschichte. Dissertation: Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Proust (Heidelberg, 2007). Seit Sept. 2011 Leiter der Forschungsstelle für Literatur & Men’s Studies (LIMES) an der Universität Siegen. Stanitzek, Georg, lehrt Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Medien- und Literaturtheorie an der Universität Siegen. Kürzlich erschienen: Essay - BRD (2011); zusammen mit Remigius Bunia/ Till Dembeck (eds.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur (2011). Tschilschke, Christian von, geb. 1966, Studium der Romanistik, Slavistik und Philosophie an den Universitäten Heidelberg und Lyon, 2006 Habilitation an der Universität Regensburg. Seit 2007 Professor für Romanische Lite- Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 218 raturwissenschaft/ Genderforschung an der Universität Siegen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: spanische Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts, französische und spanische Kultur der Gegenwart, spanischer Afrikadiskurs, Dokufiktion. Veröffentlichungen u.a.: Epen des Trivialen. N.V. Gogols „Die toten Seelen“ und G. Flauberts „Bouvard und Pécuchet“, Heidelberg, Winter, 1996; Roman und Film. Filmisches Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde, Tübingen, Narr, 2000; zus. mit Isabella von Treskow (eds.), 1968/ 2008. Revision einer kulturellen Formation, Tübingen, Narr, 2008; Identität der Aufklärung/ Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts, Madrid/ Frankfurt a.M., Vervuert, 2009; zus. mit Dagmar Schmelzer (eds.), Docuficción. Enlaces entre ficción y no-ficción en la cultura española actual, Madrid/ Frankfurt a.M., Vervuert, 2010; zus. mit Volker Roloff/ Scarlett Winter (eds.), Alain Robbe-Grillet - Szenarien der Schaulust, Tübingen, Stauffenburg, 2011. Türschmann, Jörg, Professor am Institut für Romanistik, Universität Wien. Publikationen zur spanischen und französischen Literatur, zu Geschichte und Theorie von Film- und Fernsehen, u.a.: Film - Musik - Filmbeschreibung, Münster, 1994. Als Herausgeber: Medienbilder, Hamburg, 2001 (mit A. Paatz); Eine Literatur für den Leser, Bonn, 2003; Miradas glocales. Cine español en el cambio de milenio, Frankfurt a.M., 2007 (mit B. Pohl); Das Ricœur-Experiment. Die Mimesis der Zeit in Literatur und Film, Tübingen, 2009 (mit W. Aichinger); Rive Gauche - Paris as a site of avant-garde and cultural exchange in the 1920s, Amsterdam/ New York, 2010 (mit C. Mettinger, M. Rubik); TV global. Fernsehformate im internationalen Vergleich, Bielefeld, 2011 (mit B. Wagner). Vögle, Theresa, M.A., 2002-2007 Studium der Literatur-, Kultur-, und Medienwissenschaften in Siegen und Genua, Oktober 2006 bis März 2009 Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“ an der Universität Siegen, seit April 2009 wissenschaftliche Hilfskraft bei Frau Prof. Dr. Walburga Hülk-Althoff, Abschluss des Promotionsverfahrens im Oktober 2011 mit einer Dissertation zum Thema „Mediale Inszenierungen des Mezzogiorno. Die Südfrage als Prüfstein der Einheit Italiens und der Idee Europas“. Vorträge bei internationalen Tagungen (u.a. Venedig, Graz, Innsbruck) und Publikationen zu Themen der italienischen und französischen Literatur- und Kulturwissenschaft (u.a. zu Zolas Rougon-Macquart-Zyklus, zur italienischen Migration im Kino, zu Konstruktionen des Mezzogiorno in Literatur und Film). Forschungsschwerpunkte: Italienische und französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (italienischer Verismus und Neorealismus), Mittelmeerstudien, Süditalien in den Medien. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BESTELLEN! Didier Alexandre / Wolfgang Asholt (éds.) France - Allemagne, regards et objets croisés La littérature allemande vue de France - La littérature française vue d’Allemagne edition lendemains, Band 24 2011, XVIII, 277 Seiten, €[D] 68,00/ SFr 91,00 ISBN 978-3-8233-6660-7 Un lieu commun de la critique littéraire oppose l’histoire littéraire de la France, perçue comme un continuum presque exempt de ruptures ou de temps faibles, et portée par des écoles ou des « pléiades » de créateurs, à d’autres littératures européennes, dominées par une figure majeure qui en produit la synthèse: c’est le cas, de manière tout à fait caractéristique, de Goethe pour l’Allemagne. « Nous n’avons pas (notre) Goethe », disent les Français, « mais voyez le bataillon serré de nos classiques ». Le colloque d’Osnabrück s’est proposé d’interroger la construction et la transmission de l’idée de littérature en France et en Allemagne, en prenant pour point de départ cette asymétrie. L’un des volets est consacré à l’image de Goethe en France, avec une attention particulière portée à la commémoration du centenaire en 1932. L’autre porte sur l’image de la littérature française du XIX e siècle par la critique allemande. Les influences directes entre poètes et essayistes (Benjamin et Adorno face à la littérature française) ayant fait l’objet de nombreuses études, on privilégie la critique des universitaires romanistes, y compris les comparatistes, tels que Curtius, Auerbach, Friedrich, et celle des grandes revues.