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Grammatikalisierung im Deutschen

2011
978-3-8233-7666-8
Gunter Narr Verlag 
Renata Szczepaniak

Die Grammatik des Deutschen verändert sich ständig. Grammatische Strukturen kommen und gehen. Im Fall des (jüngeren) Perfekts kann man gut beobachten, wie es seit mittelhochdeutscher Zeit das (ältere) Präteritum mehr und mehr überlagert und verdrängt (vgl. heute: danke, ich habe schon gegessen, aber nicht *danke, ich aß schon). Dieses Studienbuch führt zum Einen in die aktuelle Grammatikalisierungsforschung und ihre Theorien ein. Zum Anderen hat es die Entstehung und weitere Entwicklung der wichtigsten grammatischen Kategorien des Deutschen zum Gegenstand, z.B. den Negationswandel, die Herausbildung des Artikels und die Entwicklung neuer Hilfsverben wie haben, werden und bekommen. Auch die Entstehung neuer Konjunktionen wie dass, weil, obwohl und Präpositionen wie neben, mithilfe, im Vorfeld wird auf verständliche Weise dargestellt. An solchen und anderen Beispielen werden verschiedene Aspekte und Modelle der Grammatikalisierung diskutiert wie z.B. die kognitiven Grundlagen des Bedeutungswandels oder das Phänomen der Reanalyse. Dieses Buch richtet sich an Studierende wie Lehrende der germanistischen Linguistik und bietet Einblicke in aktuelle Forschungsgebiete der historischen Sprachwissenschaft. --------------------------

Renata Szczepaniak Grammatikalisierung im Deutschen Eine Einführung 2. Auflage Renata Szczepaniak Grammatikalisierung im Deutschen Eine Einführung 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Prof. Dr. Renata Szczepaniak lehrt Linguistik des Deutschen mit dem Schwerpunkt Historische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2011 1. Auflage 2009 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Gulde, Tübingen Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-6666-9 Vorwort zur 2. Auflage Vorwort zur 1. Auflage Zu meiner Freude wurde das Buch so gut aufgenommen, dass nun die 2. Auflage erscheinen kann. Dabei habe ich die Möglichkeit ergriffen, das Buch um ein Kapitel zur Grammatikalisierung des -Progressivs zu erweitern. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen sowie den Studierenden der Universität Hamburg für produktive Diskussionen und hoffe, dass das Interesse an der Grammatikalisierung und an der historischen Linguistik weiterhin fortbesteht. Hamburg, im September 2011 Renata Szczepaniak Dieser Band ist eine Einführung in die Grammatikalisierung und damit in einen zentralen Bereich der Linguistik. Als Einstieg in diesen kaum mehr zu überschauenden Themenkomplex werden zunächst, in Teil I, einige aktuelle Forschungsergebnisse präsentiert, die den allgemeinen Verlauf der Grammatikalisierung und die Gründe für den Aufbau neuer grammatischer Strukturen beleuchten. Wie Grammatikalisierung im Einzelnen vor sich geht, wird in Teil II an konkreten Fällen aus der deutschen Sprachgeschichte gezeigt, die sich nach und nach zu zentralen Bestandteilen unserer heutigen Grammatik entwickelt haben. Dazu gehören u.a. der Definitartikel, das -Perfekt und die unterordnende Konjunktion . Neben Grammatikalisierungen, die heute schon weitgehend abgeschlossen sind, behandelt das Buch auch solche in , so etwa die rezente Entwicklung der sog. rheinischen Verlaufsform ( ) und das Rezipientenpassiv ( ). Diese Einführung soll dem seit langem bestehenden Bedarf nach einer komprimierten Darstellung der wichtigsten Grammatikalisierungen im Deutschen nachkommen. Dabei zwingt der Einführungscharakter zur Vereinfachung vieler Sachverhalte und Forschungsergebnisse. Überdies werden hier viele Grammatikalisierungen, die bisher nicht oder kaum erforscht waren und daher erst erarbeitet werden mussten, erstmals präsentiert. Dazu gehört u.a. die Entwicklung des Indefinitartikels, teilweise auch des Definitartikels und des Negationswortes . Dafür waren u.a. aufwändige Korpusanalysen erforderlich. Die Lektüre erfordert von den Leserinnen und Lesern die Kenntnis grundlegender linguistischer Begriffe. Speziellere Fachtermini werden bei ihrer ersten Erwähnung im Text erklärt und durch Fettschrift hervorgehoben. Auf diese Stellen verweist das Glossar am Buchende. Diese Einführung basiert auf der Vorlesung "Grammatikalisierung im Deutschen", die ich im Sommersemester 2007 an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz abgehalten habe. Die heutige Gestalt nahm sie aber erst dank der vielen fruchtbaren Hinweise von Damaris Nübling an, die mich während der Arbeit an diesem Buch unermüdlich und voller Begeisterung unterstützt hat. An dieser Stelle möchte ich ihr dafür meinen Dank aussprechen. Julia Bertram danke ich für die Korrekturlektüre und Jürgen Freudl sowie Susanne Fischer vom Gunter Narr Verlag für die freundliche Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Mainz, im Juli 2009 Renata Szczepaniak Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung: Grammem, Grammatik und Grammatikalisierung ............... 1.1 Grammem und Lexem ....................................................................................... 1 1.2 Grammatik, Lexik und Pragmatik.................................................................... 3 1.3 Grammatikalisierung ......................................................................................... 5 Teil I Konzepte der Grammatikalisierung 2 Wege ins Zentrum der Sprache ....................................................................... 11 2.1 Vom lexikalischen zum grammatischen Zeichen........................................... 11 2.2 Verlauf der Grammatikalisierung .................................................................... 15 2.3 Grammatikalisierungsparameter...................................................................... 19 2.4 Das Prinzip der Unidirektionalität ................................................................... 24 2.5 Degrammatikalisierung vs. Lexikalisierung ................................................... 25 3 Grammatikalisierung als Lösung kommunikativer Probleme ................. 29 3.1 Metonymie und Metapher als kommunikative Strategien ........................... 30 3.2 Reanalyse und Analogie als Mechanismen der Grammatikalisierung ....... 35 3.3 Grammatikalisierungspfade.............................................................................. 38 Teil II Die wichtigsten Grammatikalisierungsprozesse im Deutschen 4 Negationswandel ............................................................................................... 43 4.1 Der Jespersen-Zyklus ......................................................................................... 43 4.2 Grammatikalisierung von nicht als Negationsträger ..................................... 45 4.2.1 Vom freien Wort wiht 'Ding' zum negationsverstärkenden Funktionswort 'überhaupt nicht(s)'.................................................................................... 45 4.2.2 Vom emphatischen zum unmarkierten Negationsmarker ........................... 48 4.3 Die Entstehung nominaler Negationswörter - Grammatikalisierung oder Degrammatikalisierung? .......................................................................... 49 5 Grammatikalisierungen im nominalen Bereich .......................................... 55 5.1 Die Entstehung der Pluralmarker im Deutschen ........................................... 55 5.1.1 Reanalyse: Die Entstehung des Pluralmarkers -er.......................................... 56 5.1.2 Degrammatikalisierung oder Exaptation? ...................................................... 58 5.1.3 Fügungsenge ....................................................................................................... 60 5.1.4 Die Entwicklung der schwachen Maskulina - ein Fall von Degrammatikalisierung ........................................................................................................... 62 1 5.2 Die Entstehung des Definitartikels.................................................................. 63 5.2.1 Definitheit im Althochdeutschen..................................................................... 64 5.2.2 Der Definitheitszyklus ...................................................................................... 69 5.2.3 Von der pragmatischen zur semantischen Definitheit ................................. 71 5.2.4 Vom Demonstrativ zum Definitartikel im Deutschen.................................. 73 5.3 Die Entstehung des Indefinitartikels............................................................... 78 5.3.1 Ein viel begangener Grammatikalisierungspfad: Vom Zahlwort 'eins' zum Indefinitartikel........................................................................................... 79 5.3.2 Die Entwicklung im Deutschen ....................................................................... 81 5.4 Vom Artikel zum Flexiv - eine Grammatikalisierungsbaustelle ................ 85 5.4.1 Vom freien zum gebundenen Morphem - Zunahme an Fügungsenge ..... 86 5.4.2 Der weite Weg des Definitartikels von der Klise zur Flexion........................ 87 5.5 Die Entstehung neuer Präpositionen .............................................................. 93 5.5.1 Grammatikalisierungsgrade von Präpositionen ........................................... 93 5.5.2 Die Grammatikalisierung von wegen, im Vorfeld und im Laufe .................... 97 5.6 Die Fixierung der Nominalphrase...................................................................104 6 Grammatikalisierungen im verbalen Bereich .............................................111 6.1 Die Entstehung der schwachen Verbflexion ..................................................111 6.1.1 Vom Inhaltswort tun zum Suffix -te ................................................................112 6.1.2 Die Entwicklung des Dentalsuffixes in anderen germanischen Sprachen: Englisch und Luxemburgisch ..........................................................................116 6.2 Wandel im Bereich der Personalpronomina ..................................................118 6.2.1 Subjektspronomina als obligatorische Verbbegleiter....................................118 6.2.2 Die Entstehung neuer Verbendungen.............................................................122 6.2.3 Exkurs: Die Entstehung einer neuen Kategorie 'Respekt' ............................124 6.3 Die Entstehung der Perfektkonstruktion........................................................129 6.3.1 Die Auxiliarisierung von haben ........................................................................131 6.3.2 Die Expansion der haben-Konstruktion und ihr funktionaler Wandel von Aspekt zu Tempus .....................................................................................134 6.3.3 Die Umschichtung des Tempussystems: Präteritumschwund und Perfekterneuerung .............................................................................................136 6.4 Die Polygrammatikalisierung von werden......................................................139 6.4.1 Die Kopula werden als Sprungbrett für weitere Grammatikalisierungen ..140 6.4.2 Das werden-Passiv ..............................................................................................141 6.4.3 Das werden-Futur................................................................................................143 6.4.4 Der würde-Konjunktiv .......................................................................................150 6.5 Die Entstehung des Rezipientenpassivs .........................................................152 6.6 Die Herausbildung des am-Progressivs ..........................................................158 6.6.1 Die Progressivität als neue Aspektkategorie im Deutschen ........................158 6.6.2 Von der lokativen zur progressiven Konstruktion .......................................160 6.6.3 Der Grammatikalisierungsgrad der progressiven Konstruktionen............162 6.6.4 Der Absentiv.......................................................................................................164 6.7 Die Entwicklung der Modalverben .................................................................165 6.7.1 Der untypische Kontext ....................................................................................168 6.7.2 Der kritische Kontext.........................................................................................169 6.7.3 Der isolierende Kontext ....................................................................................170 7 Grammatikalisierungen satzübergreifend...................................................171 7.1 Die Entstehung von Subjunktionen.................................................................171 7.1.1 Die Entstehung der Subjunktion dass..............................................................173 7.1.2 Die Entstehung der kausalen Subjunktion weil .............................................175 7.2 Die Fixierung der Wortstellung .......................................................................178 7.2.1 Die Fixierung der Wortstellung im Hauptsatz ..............................................180 7.2.2 Die Fixierung der Wortstellung im Nebensatz ..............................................183 7.3 Die Entstehung von Diskursmarkern .............................................................185 7.3.1 Diskursmarker und Grammatikalisierung.....................................................187 7.3.2 Von der Subjunktion weil zum Diskursmarker weil ......................................187 8 Sachverzeichnis.................................................................................................193 9 Abkürzungsverzeichnis...................................................................................197 10 Literatur ..............................................................................................................199 1 Einleitung: Grammem, Grammatik und Grammatikalisierung 1) Julia hat ein Fahrrad. 2) Julia hat heute gut geschlafen. Es ist offensichtlich, dass die Verbform hat in den beiden Sätzen nicht dieselbe Bedeutung hat. Nur in Satz 1) kann hat durch besitzt ersetzt werden, ohne dass sich dadurch die Aussage des Satzes ändert. Die Verbform hat in Satz 2) ist hingegen nicht durch ein anderes Verb ersetzbar: Als unverzichtbarer Baustein "hilft" hat, eine grammatische Form von schlafen, und zwar die Vergangenheitsform hat geschlafen, zu bilden. Es ist ein Hilfsverb. Mit der Verbform hat 'besitzt' in Satz 1) verbindet es heute nur noch die Aussprache bzw. die Schreibung. Diese Gemeinsamkeit zeigt noch, dass das Hilfsverb haben aus dem Besitzverb haben hervorgegangen ist. Diese Entwicklung ist ein Fall von Grammatikalisierung. In der Grammatikalisierung wird die Grammatik durch neue Grammeme (grammatische Morpheme) wie das Hilfsverb haben in hat geschlafen angereichert. Das vorliegende Buch wird viele solche Prozesse aufzeigen, u.a. die Entstehung des bestimmten und unbestimmten Artikels (das/ ein Buch) oder auch der Präteritalendung -te (machte), an der nicht zu erkennen ist, dass ihre Quelle das Verb tun ist. Doch zunächst sollen die drei Begriffe Grammem, Grammatik und Grammatikalisierung eingeführt werden. 1.1 Grammem und Lexem Die menschliche Sprache ist ein besonders komplexes, aber auch ein besonders effektives Instrument der Informationsvermittlung. Sie stellt uns zum einen Inhaltswörter wie Fuchs, Gartenbank, jung, sitzen zur Verfügung, d.h. Sprachzeichen, mit denen wir Dinge, ihre räumliche Positionierung, ihre Eigenschaften sowie auch Vorgänge oder Handlungen, also all das, was wir aus der uns umgebenden Welt kennen, bezeichnen (denotieren) können. Sie haben eine konkrete Bedeutung. Inhaltswörter, die sich nicht weiter gliedern (segmentieren) lassen, bestehen aus einem lexikalischen Morphem oder Lexem, z.B. Fuchs. Das Wort Gartenbank enthält hingegen zwei Lexeme Garten und Bank. Zum anderen aber enthält die Sprache auch Funktionswörter, mit denen Inhaltswörter zu sinnvollen Äußerungen verbunden werden: 3) Auf der Gartenbank hat ein junger Fuchs gesessen. Die durch Fettdruck hervorgehobenen Funktionswörter (auch Endungen) stellen Bezüge zwischen den Inhaltswörtern her. Erst durch sie wird die Aussage deutlich. In Satz 3) signalisiert die Adjektivendung -er in jung-er, dass sich das Adjek- Einleitung: Grammem, Grammatik und Grammatikalisierung 2 tiv jung auf das maskuline Substantiv Fuchs bezieht (junger Fuchs) und nicht etwa auf die Gartenbank. Das Adjektiv junger stimmt im Kasus, Numerus und Genus mit dem Substantiv Fuchs überein. Zusätzlich stellen Funktionswörter einen Bezug zur aktuellen Sprechsituation her. Der unbestimmte Artikel ein und der bestimmte Artikel der nehmen Bezug auf das Wissen der Gesprächsteilnehmer: Sie signalisieren, dass der Fuchs dem Hörer nicht bekannt ist, dafür aber die Gartenbank. Die Tempusform des Verbs sitzen, die aus dem Hilfsverb haben und dem Partizip gesessen besteht, informiert darüber, dass das beschriebene Ereignis nicht zum Sprechzeitpunkt stattfindet, sondern in der Vergangenheit liegt. Die Funktionswörter haben also eine relationale Funktion. Diese können sie dank ihrer abstrakten Bedeutung ausüben. Die kleinste Einheit, die eine solche Funktion bzw. Bedeutung hat, z.B. die Präteritalendung -te in mach-te, bezeichnet man als grammatisches Morphem oder Grammem. Die Form eines grammatischen Morphems kann variieren: Neben gebundenen grammatischen Morphemen, die an ein anderes Morphem angehängt werden, gibt es auch selbstständige (freie) Funktionswörter wie auf oder auch haben, das mit dem Partizip eine Tempusform bildet wie in hat gesessen. Abb. 1: Einteilung der Morpheme nach ihrer Bedeutung bzw. Funktion Wie unentbehrlich und "praktisch" Funktionswörter sind, zeigt sehr eindrucksvoll J ONATHAN S WIFT in seinem satirischen Werk Gullivers Reisen. In dem imaginären Reiseort Lagado erfährt Gulliver von einem absurden Projekt zur Abschaffung und Ersetzung aller Wörter durch Gegenstände, die jeder, der ein Gespräch plant, mit sich herumtragen muss. Gulliver berichtet: "Ich habe oft Gelehrte gesehen, die wie die Trödler fast unter der Last ihrer Säcke zusammenbrachen. Treffen sie sich auf der Straße, dann legen sie ihre Bündel ab, öffnen die Säcke und unterhalten sich oft fast eine Stunde lang. Dann packen sie alles wieder ein, helfen sich gegenseitig ihre Säcke aufladen und verabschieden sich." (S WIFT 2006: 283) Während sich Lexeme (Inhaltswörter) durch Gegenstände meist problemlos ersetzen lassen, muss man im Projekt von Lagado auf grammatische Informationen, z.B. Tempus, für die (abstrakte) Funktionswörter wie haben benötigt werden, verzichten oder sie auf umständliche Weise mit Inhaltswörtern ausdrücken. Dies ist zwar nicht unmöglich, doch enthalten alle natürlichen Sprachen neben Lexik (Wortschatz) auch Grammatik. Diese ist für eine effiziente sprachliche Kommunikation unverzichtbar (L ÜDTKE 1988, 2 2005). Morpheme Lexeme (Inhaltswörter) z.B. Fuchs, sitzen, jung denotative Funktion Grammeme (Funktionswörter) z.B. -er, der, ein, haben, auf relationale Funktion Grammatik, Lexik und Pragmatik 3 1.2 Grammatik, Lexik und Pragmatik Um effizient zu kommunizieren, muss der Sprecher stets den Hörer im Blick behalten und Vermutungen darüber anstellen, wie der Hörer seine Äußerung interpretieren wird. Da man ja richtig verstanden werden möchte, nutzt man immer die Erfahrung aus früheren Gesprächen (Diskursen), in denen eine Information erfolgreich vermittelt wurde. Dies gilt nicht nur für die Wahl der Lexeme, sondern auch für die Grammatik. Doch während Lexeme bewusst auswählt werden, verläuft die Anwendung des grammatischen Wissens unterschwellig (L ÜDTKE 1988, 2 2005). Der Sprecher überlegt nicht, aus welchen Lauten das Wort Gartenbank besteht (phonologisches Wissen), dass es ein feminines, aus zwei Substantiven zusammengesetztes Wort ist (morphologisches Wissen) oder dass es nach dem Adjektiv stehen muss (syntaktisches Wissen). All das macht man automatisch. Das Wissen darüber ist vorgefertigt in der Grammatik gespeichert. Die Grammatik enthält also ein konventionalisiertes, formalisiertes Wissen darüber, wie erfolgreiche Äußerungen strukturiert werden müssen. Es existieren verschiedene Ansichten, was genau zur Grammatik gehört. Im Folgenden wird ein traditioneller Grammatikbegriff eingeführt, auf weitere Grammatikbegriffe kommen wir später zu sprechen (s. H OPPER 1991, T RAUGOTT 2003, A UER / G ÜNTHNER 2005). Zur Grammatik gehören in jedem Fall drei Subsysteme: die Phonologie, die Morphologie und die Syntax. Diese Bereiche sind nicht strikt voneinander getrennt, sondern sie interagieren miteinander. Ein Beispiel für die Interaktion zwischen der Morphologie und der Syntax bietet das Perfekt hat gelacht. Das Perfekt bildet, wie das Präteritum lach-te, eine Vergangenheitsform von lachen. Da es aber aus mehreren Wörtern besteht, unterliegt es zugleich auch den Satzbauregeln (d.h. der Syntax): Das Hilfsverb haben (ein freies grammatisches Morphem) muss an derselben Stelle im Satz stehen wie jedes andere flektierte Verb: Warum lacht sie? vs. Warum hat sie gelacht? Vom Partizip wird es durch andere Satzeinheiten getrennt (Sie hat gestern gelacht). Das Perfekt gehört somit zum Übergangsbereich zwischen Morphologie und Syntax. Dieser Zwischenbereich wird als Morphosyntax bezeichnet. Mit der Morphologie und der Syntax interagiert auch die Phonologie. Im Deutschen korreliert bspw. die Verteilung (Distribution) der Phoneme mit dem morphologischen Aufbau eines Wortes. So kann ein gebundenes Grammem nur einen Schwa-Laut [ ] oder ein sog. vokalisiertes r [ ] enthalten, z.B. schön[ ], schön[ ]s und schön[ ] (schöne, schönes, schöner). Je nach Satztyp verändert sich die Satzmelodie (die Intonation). Sie hilft uns, einen Fragesatz Warum hat sie gelacht? von einem Aussagesatz Sie hat gelacht zu unterscheiden. Das grammatische Wissen, das wir automatisch, ohne dass wir es reflektieren, anwenden, bildet den Kern der Sprache, der relativ klein, aber straff organisiert ist und sich nur langsam verändert, während die Lexik relativ schnell auf Veränderungen der Lebensumstände reagiert. Das viel umfangreichere lexikalische System ist offen, d.h. es wird ständig um neue Wörter erweitert, wenn neue Dinge in der Welt bezeichnet werden müssen (Hörbuch, iPhone, googeln). Lexeme können auch in Vergessenheit geraten und aussterben, u.a. wenn sich eine neue Be- Einleitung: Grammem, Grammatik und Grammatikalisierung 4 zeichnung durchsetzt. So kennen wir das frühere Wort korunga nicht mehr, dafür die Versuchung. Die große Beweglichkeit der Lexik liegt also daran, dass sie sehr stark von der sich ständig wandelnden außersprachlichen Wirklichkeit wie Kultur, Gesellschaftsstruktur, Technik usw. abhängig ist. Noch dichter an der Wirklichkeit ist die Pragmatik, d.h. das Wissen über die Strategien und Prinzipien des Handelns mit Sprache (M EIBAUER 1999). Je nachdem, welche Wirkung wir erzielen möchten, ob wir z.B. höflich oder unhöflich sein wollen, verwenden wir eine höfliche Frage Würden Sie mir bitte meinen Mantel reichen? oder eine dezidierte Aufforderung Geben Sie mir meinen Mantel! Das grammatische und lexikalische Wissen setzen wir je nach Gesprächsziel unterschiedlich ein. Es macht einen Unterschied, ob wir im Konjunktiv oder im Imperativ sprechen und ob wir das Lexem reichen oder geben verwenden. Da die drei Bereiche der Sprache (Grammatik, Lexik und Pragmatik) unterschiedlich stark von der außersprachlichen Wirklichkeit betroffen sind, ähneln sie den Schichten einer Zwiebel. Die Pragmatik bildet die äußerste Schicht, doch auch die lexikalische Schicht wird von den äußeren Umständen beeinflusst. Die Grammatik hingegen stellt den Kern der "Sprachzwiebel" dar, das Zentrum der Sprache. Das sprachliche "Zwiebelmodell" basiert auf D EBUS ( 2 1980: 188) (s. auch N ÜBLING et al. 3 2010). Streng genommen beschäftigt sich dieses Buch nicht mit dem Wandel des gesamten grammatischen Kerns, sondern mit Veränderungen, Umschichtungen und Anreicherungen des morphologischen und morphosyntaktischen Teils, wobei sich daran auch lautliche Prozesse anschließen: In der späteren Phase der Grammatikalisierung kommt es zum Verlust an phonologischer Substanz. So wird bspw. der unbestimmte Artikel ein heute häufig zu 'n reduziert, z.B. Hast du 'n Stift dabei? Grammatik: P: Phonologie M: Morphologie S: Syntax Abb. 2: Das "Zwiebelmodell" der Sprachschichten Grammatikalisierung 5 1.3 Grammatikalisierung In der Geschichte des Deutschen sind an vielen Stellen des grammatischen Systems Veränderungen eingetreten. So kannte das Deutsche vor tausend Jahren weder den unbestimmten noch den bestimmten Artikel, ebenso wenig existierte das Perfekt. Den Sprechern standen aber andere, darunter auch grammatische Mittel zur Verfügung, um dieselbe Information zu übermitteln. Gleichzeitig verfügte das damalige System über grammatische Formen, die nicht zu unserer heutigen Grammatik gehören. Sie werden in diesem Buch an den entsprechenden Stellen erwähnt. Den Prozess der Entstehung und Weiterentwicklung grammatischer Morpheme bis hin zu ihrem Untergang bezeichnet man als Grammatikalisierung (s. u.a. L EHMANN 1995a [1982]: 11, D IEWALD 1997: 5f., 2000, H EINE 2003a: 578, H OPPER / T RAUGOTT 2 2006: 1). Die Grammatikalisierung sorgt dafür, dass sich die Grammatik verändert. Diese ist kein starres, unveränderliches Regelwerk, sondern ein dynamisches Gebilde. H OPPER (1987, 1991) spricht deswegen von "emergent grammar", also von einer permanent entstehenden Grammatik. Sein dynamisches Grammatikmodell hebt die unaufhörliche Veränderlichkeit der grammatischen Strukturen hervor. Neue grammatische Ausdrücke speisen sich aus der Lexik, wenn Sprecher mit Hilfe von Lexemen, die konkrete Inhalte transportieren, grammatische, also abstrakte Inhalte zum Ausdruck bringen. Auf diese Weise wird die Grammatikalisierung initiiert. Dies wird im Folgenden am Beispiel von bekommen skizziert. Das Vollverb bekommen beschreibt eine konkrete Handlung, in der eine Person (Julia) von einer anderen etwas empfängt: 4) Julia bekommt von Hans ein Buch. Wenn Julia das Buch bekommt, verändert sich ihre (Besitz-)Situation. In einem zusätzlichen Partizip, z.B. geschenkt oder ausgeliehen, kann die Handlung von Hans, von der Julia betroffen ist, näher bestimmt werden: 5) Julia bekommt von Hans ein Buch geschenkt/ ausgeliehen. Das Verb bekommen kann jedoch auch "innovativ" zum Ausdruck eines abstrakten Inhalts verwendet werden: 6) Das Auto bekommt einen neuen Motor eingebaut. Satz 6) beschreibt die Situation, dass ein neuer Motor in ein Auto eingebaut wird. Das Verb bekommen kann in diesem Satz nicht seine volle Semantik entfalten. Es drückt aus, dass der Zustand des Autos durch das Einbauen des neuen Motors verändert wird. Da ein Auto ein Gegenstand ist, entfällt die semantische Komponente des Empfangens (vgl. Satz 4). Der pragmatische Vorteil eines so konstruierten Satzes ist, dass der Sprecher die Aufmerksamkeit des Hörers auf das von der Handlung betroffene Auto lenken kann. Mit dieser innovativen Verwendung beginnt die Grammatikalisierung von bekommen. Schon in Satz 6) nimmt das semantisch reduzierte bekommen eine grammatische Funktion ein: In Verbindung mit dem Partizip eingebaut dient es zur Beschreibung des Geschehens aus der Einleitung: Grammem, Grammatik und Grammatikalisierung 6 Perspektive des Betroffenen, weswegen man solche Konstruktionen als Rezipientenpassiv (auch bekommen-Passiv) bezeichnet. Diese grammatische Funktion wird mit zunehmender Grammatikalisierung gefestigt, während der ursprüngliche, konkrete Inhalt abgebaut wird. Auf diese Weise "wandert" ein Sprachzeichen ins grammatische Zentrum der Sprache. Einigen grammatischen Zeichen kann man ihre Herkunft noch ansehen. So ist das Hilfsverb haben in sie hat geschlafen mit dem lexikalischen Ursprung haben 'besitzen' bis heute homonym geblieben, d.h. sie unterscheiden sich weder in Schreibung noch in Lautung: 7) Homonymie zwischen dem Vollverb haben 'besitzen' und dem Perfekthilfsverb haben Lexem haben: Sie hat einen Hund. Grammem haben: Sie hat heute gut geschlafen. Als Grammatikalisierung bezeichnet man auch einen Prozess, in dem ein grammatisches Zeichen eine noch grammatischere Funktion entwickelt (von weniger zu mehr grammatisch) (L EHMANN 1995a [1982]: 11). Auch solche Beispiele bietet die deutsche Sprachgeschichte. So hat sich der bestimmte Artikel (Definitartikel) der, die, das aus dem weniger grammatischen Demonstrativ (dér, díe, dás) entwickelt. Das Demonstrativ ist ein relationales Zeichen. Es ist ein deiktisches Element, d.h. es verweist auf einen Gegenstand, der sich in der Sichtweite des Hörers (also in der unmittelbaren Äußerungssituation) befindet: Auf dér Gartenbank saß gestern ein junger Fuchs. Während Substantive wie Gartenbank oder Fuchs nur in Bezug auf eine bestimmte Gruppe von Gegenständen verwendet werden können, sind die Verweismöglichkeiten des Demonstrativs fast unbegrenzt, da in seiner Bedeutung keine Eigenschaften der Referenten spezifiziert werden. díe kann auf eine Gartenbank, eine Liege, eine Hängematte usw. verweisen. Der daraus entwickelte Definitartikel ist noch grammatischer, da er eine abstraktere Relation ausdrückt. Er signalisiert dem Hörer, dass ihm der Gegenstand bekannt ist, unabhängig davon, ob der Hörer ihn gerade sehen kann, z.B. (abends im Restaurant): Auf der Gartenbank (=Auf unserer Gartenbank) hat heute ein junger Fuchs gesessen. Das Demonstrativ und der Definitartikel weisen unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade auf: 8) Grammatikalisierungsgrad der relationalen Zeichen Demonstrativ (betont) > Definitartikel (unbetont) auf dér (Gartenbank, Liege ...) auf der Gartenbank (weniger grammatikalisiert) (stärker grammatikalisiert) Der Begriff der Grammatikalisierung wird in Teil I dieses Buches weiter präzisiert. Zunächst beschäftigt sich Kap. 2 eingehend mit dem graduellen Übergang vom Lexem zum Grammem. Kap. 3 geht auf die Frage ein, warum Grammatikalisierung überhaupt stattfindet, also warum sich die Grammatik wandelt. In Teil II des Buches wenden wir uns den wichtigsten Grammatikalisierungen in der Geschichte des Deutschen zu. Die meisten Grammatikalisierungen fanden bereits in früheren Sprachentwicklungsphasen (Sprachperioden) des Deutschen Grammatikalisierung 7 statt. Dies zeigt Tab. 1, die einige Beispiele für Grammatikalisierungen in verschiedenen Sprachperioden liefert (zur Periodisierung des Deutschen s. R OELCKE 1998). Eine der ältesten Grammatikalisierungen ist die Entwicklung der Präteritalendung -te (lach-te), die schon im Germanischen, einer Vorstufe des Deutschen, beginnt. Eine der jüngsten ist die bereits angesprochene Entwicklung von bekommen zum Passivhilfsverb, die im Neuhochdeutschen stattfindet (das sog. Rezipientenpassiv). Tab. 1: Beispiele für Grammatikalisierungen in verschiedenen Sprachperioden Sprachperiode Zeitraum Grammatikalisierungen Germanisch 1. Jt.v.Chr. - ca. 500 n.Chr. Beginn der Grammatikalisierung der Präteritalendung -te, z.B. in lach-te (Kap. 6.1) Althochdeutsch 500/ 750 - 1050 Grammatikalisierung des Definitartikels der, die, das ( Kap. 5.2 und 5.4) Mittelhochdeutsch 1050 - 1350 Grammatikalisierung des Indefinitartikels ein, eine (Kap. 5.3) Frühneuhochdeutsch 1350 - 1650 Grammatikalisierung von werden als Futurhilfsverb wie in Ich werde heute nicht arbeiten (Kap. 6.4) Neuhochdeutsch seit 1650 Grammatikalisierung des Rezipientenpassivs wie in Das Auto bekommt einen neuen Motor eingebaut (Kap. 6.5) Teil II dieses Buches beginnt mit der Entwicklung des Negationswortes nicht (Kap. 4). Kap. 5 behandelt Grammatikalisierungen im nominalen Bereich. Es umfasst die Entwicklung der heutigen Pluralendungen (Kap. 5.1), des bestimmten und des unbestimmten Artikels (Kap. 5.2-5.4), der Präpositionen wie im Vorfeld oder im Laufe (Kap. 5.5) und die strukturelle Verfestigung der Nominalgruppe (Kap. 5.6). Anschließend werden in Kap. 6 zentrale Entwicklungen im verbalen Bereich behandelt. Dies sind die Herausbildung der Präteritalendung -te wie in mach-te (Kap. 6.1), die Obligatorisierung der Subjektspronomina in Wir gehen ins Kino, nicht *gehen ins Kino (Kap. 6.2), die Entstehung des Perfekts wie in Sie hat gut geschlafen (Kap. 6.3), die Polygrammatikalisierung von werden, u.a. als Futurmarker wie in Sie wird heute nicht arbeiten (Kap. 6.4), die Entwicklung des Rezipientenpassivs wie in Das Auto bekommt einen neuen Motor eingebaut (Kap. 6.5) und die Grammatikalisierung von Modalverben wie in Sie muss es doch gewusst haben (Kap. 6.7). In Kap. 7 werden satzübergreifende Grammatikalisierungen verfolgt: die Entwicklung von Subjunktionen am Beispiel von weil (Kap. 7.1), die Fixierung der Wortstellung in Haupt- und Nebensätzen (Kap. 7.2) und die Grammatikalisierung von weil zum Diskursmarker (Kap. 7.3). Teil II muss nicht in der Reihenfolge gelesen werden, in der die Kapitel angeordnet sind. Man kann mit einem beliebigen Kapitel beginnen, da jedes von ihnen einen Grammatikalisierungsfall verfolgt und dabei ausgewählte Aspekte der Grammatikalisierung beleuchtet. Sollten bei der Lektüre unbekannte Fachbegriffe auftauchen, können im Sachverzeichnis die Verweise auf die Stelle im Buch nachgeschlagen werden, an der der Begriff erklärt (fett gedruckte Seitenzahlen) oder nur verwendet wird. Teil I Konzepte der Grammatikalisierung 2 Wege ins Zentrum der Sprache Was passiert mit einem lexikalischen Zeichen, wenn es sich zu einem grammatischen wandelt? Wie verläuft die Grammatikalisierung? Welche Folgen hat dies für die Grammatik? Diese Fragen stehen im Zentrum dieses Kapitels. 2.1 Vom lexikalischen zum grammatischen Zeichen Alle sprachlichen Zeichen, ob lexikalisch oder grammatisch, sind bilateral ( DE S AUSSURE 2 1967). Abb. 3 zeigt, dass sie zum einen eine materielle Ausdrucksseite (A) haben. Dies ist die Form des Zeichens, die lautlich als [tu: n] oder graphisch als <tun> realisiert werden kann. Zum anderen besitzen sie eine Inhaltsseite (I), die die Funktion/ die Bedeutung enthält. Sie wird in einfache Anführungszeichen gesetzt, z.B. tun 'tun', -te 'Präteritum'. Abb. 3: Form und Funktion des Sprachzeichens In Abb. 3 sieht man den formalen und funktionalen Unterschied zwischen dem Vollverb tun, das generell eine Handlung bezeichnet, und der Präteritalendung -te (mach-te, lach-te usw.). Diese Beispiele sind nicht zufällig gewählt, denn sie stellen den Anfang und das Ende eines möglichen Grammatikalisierungsszenarios dar, das sich vermutlich im Germanischen (einer Vorstufe des Deutschen) abgespielt und zur Entwicklung der heutigen Präteritalendung -te geführt hat (s. Kap. 6.1). Bei der Grammatikalisierung verändern sich allmählich beide Seiten des Zeichens, wobei sich zunächst die Funktion (von denotativ zu relational) und erst danach die Form wandelt (form follows function). Für diese Veränderungen sind vier Mechanismen verantwortlich, die allerdings nicht nur auf Grammatikalisierungsprozesse beschränkt sind (H EINE 2003a): 1) die Desemantisierung (semantische Ausbleichung, "semantic bleaching") - Verlust der ursprünglichen, konkreten Bedeutung, A I [tu: n] 'tun' [t ] in mach-te 'Präteritum' lexikalisches Zeichen grammatisches Zeichen Wege ins Zentrum der Sprache 12 2) die Extension (oder Kontextgeneralisierung) - Verwendung des Zeichens in neuen Kontexten, 3) die Dekategorialisierung - Verlust der morphosyntaktischen Eigenschaften des Ursprungswortes, was bis zum Verlust der syntaktischen Selbstständigkeit (zur Entwicklung einer gebundenen Form) führen kann, sowie 4) die Erosion - Verlust phonetischer Substanz. Diese Entwicklungen finden nicht gleichzeitig statt, sondern in unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Phasen der Grammatikalisierung. Die ersten zwei Mechanismen beziehen sich auf die Funktion des Sprachzeichens. Die Desemantisierung ist ein langer Prozess, der damit beginnt, dass ein Sprachzeichen in einem Kontext, also in Verbindung mit anderen Sprachzeichen, neben seiner konkreten Bedeutung A auch eine reduzierte Bedeutung B zulässt. Im Falle der Grammatikalisierung 'tun' > -te (wie in fühl-te) hatte (sie) tat in der initialen Phase die Bedeutung A, die sich aus 'handeln' + 'in der Vergangenheit' zusammensetzte. In Verbindung mit einer weiteren unflektierten (infiniten) Verbform ließ tat neben der Bedeutung A eine reduzierte Bedeutung B 'in der Vergangenheit' zu. Diese "reichte" in sie tat kochen "aus". Kontexte, in denen die neue Bedeutung B hervorgerufen wird, nennt H EINE (2002) Brückenkontexte (bridging contexts). Der zweite Mechanismus, die Extension auf neue Kontexte, betrifft den pragmatischen Aspekt der Sprache: Mit unseren Äußerungen verfolgen wir als Sprecher immer ein bestimmtes Ziel, z.B. über vergangene Ereignisse zu berichten. Da die Form tat den Sprechern schon in der neuen abstrakten Bedeutung bekannt war, verwendeten sie sie mit immer mehr Verben, darunter auch solchen für Gefühlszustände wie fühlen, lieben oder hassen. Weil diese Verben keine Handlung beschreiben, war mit diesen nur die abstrakte Bedeutung B 'in der Vergangenheit' kompatibel. Solche Kontexte, in denen die Bedeutung A ('handeln in der Vergangenheit') keinen Sinn mehr ergibt, bezeichnet H EINE (2002) als Wendekontexte (switch contexts). Auf diese Weise kann sich die neue Bedeutung B durchsetzen und gebräuchlich werden (d.h. sie wird konventionalisiert): Abb. 4: Von der konkreten Bedeutung A zur grammatischen Bedeutung B tat tat + infinite Verbform tat + infinite Verbform A A / B B 'handeln' 'handeln' ---------- 'in Vergangenheit' 'in Vergangenheit' 'in Vergangenheit' 'in Vergangenheit' Brückenkontext Wendekontext Im Anschluss an diese funktionalen Entwicklungen findet die Dekategorialisierung und die Erosion statt. Sie betreffen die Zeichenform. Die Dekategorialisierung ist ein komplexes Phänomen, in dem die morphosyntaktischen Eigenschaften des Ursprungswortes aufgegeben werden. Schon die Tatsache, dass die Bedeutung B nur durch bestimmte Verbformen (in unserem Beispiel Präteritalformen von tun) transportiert wird, trägt zur Dekategorialisierung bei. In der neuen Bedeutung kann das Verb nicht im Passiv oder im Präsens stehen, also entsprechend flektiert werden. Dies alles führt dazu, dass es allmählich den Status eines selbstständigen Wortes verliert und zum gebundenen Morphem wird. Die heuti- Vom lexikalischen zum grammatischen Zeichen 13 ge Präteritalendung -te ist das Produkt einer Verschmelzung. Durch die anschließende Erosion, eine Art Abschleifung der phonetischen Substanz, nahm das gebundene Morphem die heutige Form an (für eine detaillierte Rekonstruktion dieser Grammatikalisierung s. Kap. 6.1). Die einfache Formel A > A/ B > B liegt zwar jeder Grammatikalisierung zugrunde (H EINE 2003a), doch geschieht dabei viel mehr als eine Desemantisierung (semantische Ausbleichung), denn das Zeichen nimmt eine neue, grammatische Funktion an. Es wird in das grammatische System integriert. Nicht jeder Verlust an semantischem Inhalt führt automatisch zur Entstehung eines grammatischen Zeichens. Von zentraler Bedeutung ist nämlich, welche Information das Zeichen transportiert. Die Verbform tat (und auch die anderen Präteritalformen von tun) konnte sich deswegen erfolgreich auf immer neue Kontexte ausbreiten, weil die temporale Information für Verben, die immer Handlungen, Vorgänge oder Zustände beschreiben, wichtig (relevant) ist. Sowohl der Sprecher als auch der Hörer sind an einer zeitlichen Präzisierung interessiert. Gleichzeitig war die Information allgemeingültig (generell) genug und dadurch auf alle Verben beziehbar. Im Gegensatz dazu wäre eine spezielle Information, z.B. über die Geschwindigkeit, nur auf eine kleine Gruppe von Verben anwendbar, vgl. schnell/ langsam gehen, schnell/ langsam sprechen, schnell/ langsam schreiben, aber nicht *schnell/ langsam schlafen, *schnell/ langsam lachen (B YBEE 1985: Kap. 2). Nur Konzepte, die einerseits relevant und andererseits allgemeingültig sind, eignen sich als grammatische Kategorien, d.h. obligatorische Informationen, die an allen Mitgliedern einer bestimmten Wortart ausgedrückt werden. Temporalität ist ein solches Konzept, weswegen viele Sprachen der Welt, u.a. das Deutsche, Tempus als Verbalkategorie ausgebildet haben; wir sind als Sprecher verpflichtet, eine bestimmte grammatische Form des Verbs zu wählen, um das Geschehen zeitlich zu lokalisieren: sie lacht (Gegenwart) vs. sie lach-te (Vergangenheit) (N ÜBLING 2002). Die Nicht- Beachtung der Tempuskategorie führt zu ungrammatischen Äußerungen: *sie lachherzlich. Grammatische Kategorien, z.B. Tempus, gliedern sich in ganz allgemeine, doch relevante Unterscheidungen (Oppositionen), z.B. zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So konnte die reduzierte Bedeutung B in der beschriebenen Entwicklung ('tun' > -te) als Vergangenheitsausdruck in die Kategorie Tempus integriert werden. Die grammatischen Kategorien werden typischerweise durch Flexive, d.h. gebundene grammatische Morpheme ausgedrückt, vgl. lach-te. Dass eine Korrelation zwischen dem Grad der Desemantisierung und der Tendenz zur Verschmelzung und der formalen Reduktion besteht, zeigt die kontrastive Studie von B YBEE (1985), in der 50 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte, räumlich und genetisch entfernte Sprachen der Welt untersucht wurden. Es stellte sich nicht nur heraus, dass die uns aus dem Deutschen bekannten grammatischen Informationen wie Tempus sehr weit verbreitet sind. Vielmehr sind es immer dieselben Informationen, die in vielen Sprachen unabhängig voneinander einen flexivischen Ausdruck haben. Einige davon wie Tempus oder Modus sind typische Verbalkategorien. Andere wie Numerus oder Kasus sind Nominalkategorien, die als Substantivendungen auftreten, z.B. die Tisch-e, des Tisch-es. Generell tendieren grammatische Wege ins Zentrum der Sprache 14 Informationen zur gebundenen Form, weswegen freie grammatische Morpheme mit zunehmender Grammatikalisierung zu Flexionsendungen reduziert werden. Im Gegensatz dazu kommen die lexikalischen, konkreten Konzepte (Katze, Garten oder schön) meist in Form von freien Morphemen vor (s. dazu Kap. 2.5). Die Grammatikalisierung als Herausbildung eines grammatischen Morphems bedeutet den Übergang in ein streng organisiertes (oft geschlossenes) System, s. Abb. 5. Das lexikalische Ursprungswort gehört dagegen zu einem großen, offenen System (Lexik), dessen Mitglieder je nach Konzept in lockere und offene Wortfelder gruppiert sind. So besteht das Wortfeld kochen aus mehreren Mitgliedern, die die genaue Art und Weise des Kochens bezeichnen: kochen, braten, dünsten, anbraten, blanchieren, flambieren usw. Es kann leicht um neue Mitglieder erweitert werden, wenn neue Zubereitungsmethoden entwickelt oder aus anderen Kochkulturen übernommen werden. Dies hat jedoch kaum Konsequenzen für das Wortfeld und seine Mitglieder. Das Lexem kochen gehört seinerseits auch zu anderen Wortfeldern, z.B. zu berufliche Tätigkeit mit nähen, verkaufen, lehren, singen, schauspielen usw. als Mitgliedern. Grammatische Zeichen sind dagegen in kleinen Gruppen organisiert. Sie bilden feste Paradigmen, die sich aus wenigen, distinkten Unterkategorien zusammensetzen. So umfasst die grammatische Kategorie Tempus, die auf dem Konzept der Temporalität basiert, drei Unterkategorien, die sich jeweils auf die Vergangenheit (Präteritum und Perfekt), die Gegenwart (Präsens) und die Zukunft (Futur) beziehen. Sie sind für jeweils eine Funktion bestimmt und typischerweise nicht austauschbar. So kann hat in hat geschlafen nicht durch ist ersetzt werden. Die gesamte Form hat geschlafen kann wiederum nicht gegen die Präsensform schläft eingetauscht werden, ohne dass sich die Bedeutung des Satzes ändert. Auch für das Futur steht eine Form zur Verfügung, werden + Infinitiv (Ich werde morgen nicht arbeiten). Dies ist jedoch eine relativ "junge" Form, die sich noch nicht voll etabliert hat, denn über ein zukünftiges Geschehen können wir heute immer noch im Präsens sprechen und dabei mit Hilfe von Zeitadverbien wie morgen den Zeitpunkt präzisieren: Ich arbeite morgen nicht. Die Entstehung des werden-Futurs (im Frühneuhochdeutschen) hat jedoch bereits zur Umstrukturierung der Tempuskategorie beigetragen, in der bis dato nur die Opposition zwischen Präsens und Präteritum/ Perfekt bestand (zur Entstehung des werden-Futurs s. Kap. 6.4.3). Heute umfasst die grammatische Kategorie Tempus neben -te zwei freie grammatische Morpheme haben und sein, mit denen Vergangenheitsformen gebildet werden, und werden zur Bildung der Futurformen. Die grammatische Information 'Präsens' hat keinen eigenen materiellen Ausdruck: du lach-Ø-st vs. du lach-te-st. In Opposition zum -te im Präteritum steht im Präsens das sog. Nullmorphem, gekennzeichnet mit Ø (zum Nullmorphem s. B YBEE 1994). Verlauf der Grammatikalisierung 15 Abb. 5: Grammatikalisierung als Übergang in ein geschlossenes System Bildet sich - wie im Fall des werden-Futurs - eine neue grammatische Funktion (hier: eine temporale Unterkategorie 'Futur'), spricht man mit L EHMANN (1995a [1982]) von Innovation. Wird eine bereits bestehende grammatische Kategorie formal erneuert, spricht man von Renovation. Die Entwicklung der Präteritalendung -te ist eine Renovation, die allerdings noch nicht abgeschlossen ist, denn das "alte" Ausdrucksverfahren, in dem der Stamm durch Vokalwechsel modifiziert wird wie in schlagen - schlug (sog. Ablaut), besteht, wenngleich als Auslaufmodell, nach wie vor (s. dazu Kap. 6.1). Alte Formen können entweder durch neue ersetzt (Renovation) oder angereichert bzw. erweitert werden. Das Negationswort nicht ist das Produkt einer solchen Anreicherung (engl. reinforcement), nämlich der alten Negationspartikel ni. nicht hat sich aus der ahd. Phrase ni (eo) wiht 'nicht (irgend-)ein Ding' entwickelt (s. Kap. 4). 2.2 Verlauf der Grammatikalisierung Die Grammatikalisierung ist ein komplexer Prozess. Nach dem Modell von L EH- MANN (1995a [1982]) (basierend auf G IVÓN 1979) lässt sie sich in verschiedene Phasen untergliedern, in denen das Sprachzeichen allmählich unselbstständig und schließlich in die Grammatik eingegliedert wird. Am Ende dieses Prozesses steht eine konventionalisierte sprachliche Strategie, die zum Ausdruck eines bestimmten abstrakten Konzepts (z.B. 'Präteritum') mit einem bestimmten Grammem (z.B. -te) dient. Dieser Art der regelgebundenen Verwendung der Sprachzeichen steht der pragmatische Gebrauch gegenüber, bei dem der Sprachbenutzer je nach seinem aktuellen Kommunikationsbedürfnis (d.h. je nach pragmatischem Zweck) ein Lexem auswählt und es im Gespräch (Diskurs) mit anderen Lexemen kombiniert. Die Entwicklung zum Grammem verläuft entlang der Grammatikalisierungsskala, die in Abb. 6 dargestellt ist. Mit jeder Phase, die das Zeichen absolviert, dringt Lexik Wortfeld kochen braten dünsten blanchieren flambieren ... Wortfeld berufliche Tätigkeit kochen nähen verkaufen ... Grammatik Grammatische Kategorie: Tempus Grammatische Kategorie: Numerus 'Präsens' (Gegenwart) -Ø 'Präteritum/ Perfekt' (Vergangenheit) -te, haben, sein 'Futur' (Zukunft) werden (seit Frnhd.) Grammatische Kategorie: Person Wege ins Zentrum der Sprache 16 es tiefer in die Grammatik ein und wird unselbstständiger. Dabei ändert sich seine Funktion und seine Form: Abb. 6: Die Grammatikalisierungsskala (nach L EHMANN 1995a [1982]: 13) Ebene Diskurs >>> Syntax >>> Morphologie >>> Morphonologie Phasen Phase I Phase II Phase III Phase IV Syntaktisierung Morphologisierung Demorphemisierung Schwund Ausdruck isolierend > analytisch > agglutinierend > flektierend > Null Inhalt lexikalisch > grammatisch Diskurs > Syntax Vor der Grammatikalisierung gilt eine relativ freie Anordnung von Lexemen im Diskurs. Die Stellung der Wörter hängt nur vom Mitteilungsinteresse des Sprechers ab, d.h. von pragmatischen Faktoren. In 9) strukturiert Fritz seine Äußerung so, dass er zuerst Bezug auf den Anna bekannten Garten nimmt, um dann auf die unbekannte Katze hinzuweisen. Damit berücksichtigt Fritz den (von ihm angenommenen) Wissensstand seiner Gesprächspartnerin. Er schließt an eine "alte/ bekannte" Information (in unserem Garten) eine "neue" Information an (sitzt eine Katze). Anna wiederum stellt die Katze durch Erstnennung in den Fokus ihrer Äußerung, um Fritz dann mitzuteilen, dass sie sie schon gesehen hat. 9) Fritz: Schau, in unserem Garten sitzt eine Katze. Anna: Diese Katze habe ich schon gesehen. Die Stellung von Katze in diesem Diskurs ist von der Informationsstruktur abhängig. Die Wortstellung im heutigen Deutsch ist jedoch nicht ganz frei (d.h. nicht pragmatisch gesteuert). So weisen beide Sätze in 9) dieselbe Verbstellung auf, und zwar Verb-Zweit-Stellung (V2). Diese ist typisch für Aussagesätze, während in Frage- und v.a. Aufforderungssätzen das Verb an erster Stelle (V1) steht: Sitzt die Katze immer noch in unserem Garten? und Komm her, Kätzchen! Über die Verbstellung kann der heutige Sprecher nicht frei entscheiden. Ihm stehen drei Möglichkeiten zur Verfügung: die Verb-Erst-, Verb-Zweit- und Verb-Letzt- Stellung (VL). Die VL-Stellung kommt v.a. in Nebensätzen vor: Ich weiß, dass die Katze in unserem Garten sitzt. Die Position des Verbs ist syntaktisch vorgegeben. Die Syntaktisierung, d.h. die Festigung der Position eines Zeichens im Satz, stellt die erste Phase der Grammatikalisierung dar. Die hier nur angerissene Fixierung der Verbstellung im Deutschen wird ausführlich in Kap. 7.2 besprochen. Syntax > Morphologie In der zweiten Phase, der sog. Morphologisierung, geht ein syntaktisch fixiertes Wort in ein gebundenes Morphem über. In einem lang andauernden Prozess der Verschmelzung entwickelt sich ein Teil einer Periphrase (einer grammatischen Umschreibung) zum Flexiv, d.h. zum gebundenen, grammatischen Morphem. So hat sich die Präteritalform von 'tun', die im Germanischen immer nachgestellt wurde, etwa *salben tat, zum Dentalsuffix -te (lach-te) entwickelt. Verlauf der Grammatikalisierung 17 Doch führt nicht jede beliebige Verschmelzung automatisch zur Entwicklung von grammatischen Morphemen. So können häufig verwendete Phrasen univerbiert werden. Als Univerbierung bezeichnet man das Zusammenwachsen von mehrgliedrigen syntaktischen Konstruktionen zu einem Wort. Auf diese Weise entstanden komplexe Verben wie schlussfolgern, handhaben, teilnehmen oder bausparen. In vielen Fällen wie in Schlange stehen, Rad fahren lässt die Getrenntschreibung den phrasalen Ursprung noch erkennen, z.B. in der Schlange stehen, mit dem (Fahr-)Rad fahren. Mit der Univerbierung verliert das Nomen die Schlange, das (Fahr-)Rad die Fähigkeit zu flektieren, daher nicht *das Rad fahren (s. G ALLMANN 1999). Im Zuge der Univerbierung können komplexe Wörter letztendlich zu einfachen Lexemen verschmelzen, z.B. ahd. hiu tagu, wörtl. 'an diesem Tag' > mhd. hiute > nhd. heute. Durch die Auflösung existierender Morphem- (und hier zugleich Wort-) Grenzen wird die Entstehung eines neuen (unteilbaren) Lexems (die sog. Lexikalisierung) beendet (s. Kap. 2.5). Flexive entstehen dagegen aus Wörtern, die bereits eine grammatische Bedeutung entwickelt haben, im Prozess der Klitisierung. Die Klitisierung bildet die erste Subphase der Morphologisierung und die Klitika die Zwischenstufe zwischen einem freien Grammem und einem Flexiv. Im heutigen Deutsch zeigt das Verhalten des Definitartikels, v.a. von dem, was Klitika sind. Als Produkte von Verschmelzungen sind sie unselbstständige, gebundene Wörter, z.B. mit dem Fahrrad > [m m] Fahrrad. Im fortgeschrittenen Klisestadium wie bei im kann die Verschmelzung nicht mehr ohne Bedeutungsunterschied rückgängig gemacht werden: im Auto in dem Auto. Die freie Form (sog. Vollform) dem in in dem signalisiert einen Verweis, z.B. auf den folgenden Relativsatz: In dem Auto, in dem sie gesessen hat, lagen viele Ordner (zur Präposition-Artikel-Klise s. Kap. 5.4). Klitika können sich zu Affixen weiterentwickeln. Affixe sind gebundene grammatische Morpheme, die sich mit allen Mitgliedern einer Wortart obligatorisch verbinden, um immer dieselbe grammatische Information zu transportieren. Diese Stufe hat der Definitartikel im Deutschen bis heute nicht erreicht, sonst müssten sich alle Artikel mit allen Präpositionen obligatorisch verbinden. Erst dann würden deutsche Präpositionen flektieren (N ÜBLING 1998). Was die formale Entwicklung des Definitartikels betrifft, so befindet er sich heute auf der Klitisierungsstufe. Wichtig ist, dass die Morphologisierung mit der Entwicklung der grammatischen Funktion, z.B. einer Tempusinformation, beginnt. Die Verschmelzung ist ein rein formaler Folgeprozess, der aus der generellen Tendenz resultiert, relevante Informationen auch formal zu verbinden, d.h. zu fusionieren (B YBEE 1985: Kap. 2, 2000). Dabei tendieren neu entstandene grammatische Morpheme mit der Zeit dazu, mit den Mitgliedern einer Wortart, auf die sie sich beziehen, zu fusionieren, so dass sie mit dem Lexem eine Wortform bilden. Auf diese Weise entstehen Verbendungen wie das Dentalsuffix -te, das den zeitlichen Rahmen des im Verb ausgedrückten Geschehens (oder Zustands) präzisiert, z.B. in lach-te. Durch die Fusion entstehen zunächst sog. agglutinierende Affixe, die einen geringeren Fusionsgrad aufweisen, da sie sich an den Rand ihrer Basis heften ("ankleben"). So fügt sich das Dentalsuffix an den Verbstamm (seine Flexionsba- Wege ins Zentrum der Sprache 18 sis); daran heftet sich die Personalendung, z.B. -st in leb-te-st. Bei solchen agglutinierenden Suffixen wird meist ein 1: 1-Verhältnis zwischen Form und Funktion gewahrt: So markiert die Form -te eindeutig die Information 'Präteritum'. Morphologie > Morphonologie Mit zunehmender Fusionierung gehen agglutinierende Affixe in Flexive über. Die dritte Phase der Grammatikalisierung, die sog. Demorphemisierung, beginnt damit, dass das Affix mit dem Stamm phonologisch interagiert. So hat der alhochdeutsche Umlaut dazu geführt, dass die ursprünglich agglutinierende Pluralendung -i wie in *gast-i 'Gäste' mit dem Stamm fusionierte, indem sie die Umlautung des Stammvokals bewirkte: ahd. gest-i 'Gäste'. Dadurch wird der Plural heute an zwei Stellen am Wort ausgedrückt, und zwar durch die Stammmodulation und durch die Suffigierung, z.B. Gast - Gäst-e (zur Entwicklung der Pluralmarker s. Kap. 5.1). Das ursprüngliche 1: 1-Verhältnis zwischen Form und Funktion (*gast-i) ist durch den Umlaut und die fortschreitende Fusionierung zerstört worden: agglutinierend > flektierend *gast - gast-i > ahd. gast - gest-i > mhd. gast - gest-e > nhd. Gast - Gäst-e Bei anderen Substantiven hat eine weitere formale Reduktion, und zwar der Schwund des auslautenden Vokals, dazu geführt, dass die Pluralinformation nur noch durch das Umlauten des Stammvokals realisiert wird, z.B. Apfel [a] - Äpfel [ ]. Hier beschränkt sich die Markierung des Plurals auf das Hinzufügen eines phonologischen Merkmals, nämlich Palatalität: [ ] in Äpfel 'Plural' hat im Gegensatz zu [a] in Apfel 'Singular' das zusätzliche Merkmal [+palatal]. Ein Pluralmorphem lässt sich hier nicht mehr segmentieren. Die allein auftretende Stammmodulation stellt damit den höchsten Fusionsgrad dar. agglutinierend > flektierend *apful - apful-i > ahd. apful - epfil-i > mhd. apfel - epfel-e > nhd. Apfel - Äpfel Morphonologie > Schwund In der letzten Phase der Grammatikalisierung kommt es zum kompletten Schwund von Flexiven. Lautliche Veränderungen führten bspw. dazu, dass die Pluralendung -e nach zweisilbigen Substantivstämmen geschwunden ist: mhd. engel 'Singular' - engele 'Plural' > nhd. Engel - Engel. Die Unterkategorie Plural ist aber nicht abgebaut worden. Vielmehr enthält Engel einen Nullplural Engel-Ø, der eine von insgesamt neun Pluralvarianten (sog. Allomorphen) ist. Allomorphie verstößt immer gegen das 1: 1-Verhältnis zwischen Funktion und Form, da einer Funktion (hier Plural) mehrere Formen entsprechen: Grammatikalisierungsparameter 19 Abb. 7: Die Pluralallomorphie im Deutschen Der komplette Schwund einer grammatischen Kategorie setzt also den Abbau aller Allomorphe voraus. Im Deutschen ist u.a. der Instrumental als Kasus verschwunden. Zur Bezeichnung des Mittels, mit dem eine Handlung ausgeführt wird, dient heute v.a. die Präposition mit, z.B. Sie schneidet das Brot mit dem Messer. 2.3 Grammatikalisierungsparameter Mit zunehmender Grammatikalisierung verliert ein Zeichen seine Autonomie: Ein freies Lexem, dessen Position im Diskurs ausschließlich pragmatisch gesteuert ist, d.h. von kommunikativen Interessen des Sprechers abhängt, wird zum obligatorischen, gebundenen Grammem. Nach L EHMANN (1995a [1982]: Kap. 4) verhält sich der Autonomiegrad eines Zeichens umgekehrt proportional zu seinem Grammatikalisierungsgrad. Um diesen zu messen, sollen nach L EHMANN drei Dimensionen der Autonomie unterschieden werden: 1) Gewicht: Ein autonomes Zeichen hat ein semantisches und formales Gewicht. Es ist ein selbstständiges, häufig mehrsilbiges Wort mit einer konkreten Bedeutung, z.B. Vollverben wie kochen oder springen oder Substantive wie Gurke oder Gabel. Das semantische und formale Gewicht macht diese Wörter von anderen ihrer Wortart gut unterscheidbar und garantiert eine ausreichende Prominenz (Auffälligkeit) im Text. Mit zunehmender Grammatikalisierung wird das Zeichengewicht reduziert. Grammatische Zeichen (z.B. die Endung -te) sind kürzer und haben einen minimalen Bedeutungsgehalt ('Präteritum'). 2) Kohäsion: Die Autonomie eines Zeichens nimmt ab, je enger seine Relation zu anderen Zeichen wird, d.h. je höher sein Grad an semantischer und formaler Kohäsion wird. So ist das Verb haben durch die funktionale Entwicklung zum Perfekthilfsverb zum Bestandteil einer kleinen, geschlossenen Gruppe von Tempushilfsverben (neben sein, werden) geworden. Diese Verben dienen als Tempusmarker, d.h. sie sind semantisch eng zusammengehörig. Dadurch hat sich die semantische Kohäsion vom Hilfsverb haben im Vergleich zum Vollverb haben deutlich erhöht: Das Vollverb haben 'besitzen' gehört zu mehreren, nur locker zusammengefügten Wortfeldern, z.B. haben, besitzen, verfügen usw. Je enger zwei Wörter miteinander verbunden werden, d.h. miteinander verschmelzen (z.B. mit dem Auto > [m m] Auto), umso höher wird der formale Kohäsionsgrad. 3) Variabilität: Ein autonomes Zeichen ist sehr variabel. Es ist frei wählbar und kann durch andere Zeichen mit ähnlicher Semantik ersetzt werden. So kann man 1 Funktion (hier: 'Plural') Form 1 UL + -e (Gast - Gäste) Form 2 UL (Apfel - Äpfel) Form 3 Ø (Engel - Engel) Form 4 usw. Wege ins Zentrum der Sprache 20 sich je nach kommunikativer Absicht (hier Wahl der Stilebene) für das Vollverb erhalten, entgegennehmen oder bekommen entscheiden, z.B. Sie hat den Preis erhalten/ entgegengenommen/ bekommen. Mit zunehmender Grammatikalisierung wird die Wahl eines Zeichens eingeschränkt, das Zeichen wird obligatorisiert. Dies zeigt sich bei der Entwicklung des Rezipientenpassivs, bei dem die Verwendung von erhalten blockiert ist, vgl. Sie bekommt die Zähne gezogen, nicht *Sie erhält die Zähne gezogen. Formale Variabilität wird durch die Einschränkung der Stellungsfreiheit reduziert, weswegen grammatische Zeichen eine feste Position haben. So steht bspw. der Definitartikel immer am Anfang der Nominalphrase, z.B. der schöne Hund, nicht *schöne Hund der. Im Laufe der Grammatikalisierung erfährt ein Zeichen: 1) eine Reduktion des Gewichts, 2) eine Zunahme an Kohäsion und 3) eine Reduktion seiner Variabilität. Diese noch sehr abstrakte Bemessungsgrundlage konkretisiert L EHMANN , indem er sie auf zwei Dimensionen der Zeichenverwendung bezieht: a) paradigmatisch: Das Zeichen wird aus einer Gruppe von Zeichen gewählt (selegiert), und b) syntagmatisch: Das Zeichen wird mit anderen kombiniert. Dies wird in Abb. 8 illustriert: Aus der Gruppe von Zeichen, die auf der paradigmatischen Achse angeordnet sind, v.a. weil sie zur selben Wortart gehören, kann ein bestimmtes Zeichen ausgewählt werden, z.B. wir aus der Gruppe der Pronomina, kochen aus der Verbgruppe usw. Die ausgewählten Zeichen werden auf der syntagmatischen Achse miteinander kombiniert, z.B. wir kochen eine Paella. Auf beiden Ebenen kann die Verwendung eines Zeichens blockiert werden: auf der paradigmatischen Achse gehört das Zeichen Kuchen nicht zur Verbgruppe; auf der syntagmatischen Achse lässt sich wiederum die Verbform essen (1./ 3. Pl.) nicht mit dem 3.Sg.-Pronomen er kombinieren. Abb. 8: Paradigmatische und syntagmatische Dimension der Zeichenverwendung Aus der Kombination der drei Autonomieaspekte mit den paradigmatischen und syntagmatischen Zeichenbeziehungen ergeben sich nach L EHMANN (1995a paradigmatische Achse (Selektion) syntagmatische Achse (Kombination) kochen essen isst isst wir sie sie er eine die kein einen Paella Suppe Eis Kuchen *Kuchen er *essen *eine Grammatikalisierungsparameter 21 [1982]: 123) sechs systematische Grammatikalisierungsparameter, die im Folgenden besprochen werden: Tab. 2: Die Grammatikalisierungsparameter nach L EHMANN (1995a [1982]) paradigmatisch syntagmatisch Gewicht (Abnahme) Integrität (1a) struktureller Skopus (1b) Kohäsion (Zunahme) Paradigmatizität (2a) Fügungsenge (2b) Variabilität (Abnahme) Wählbarkeit (3a) Stellungsfreiheit (3b) 1) Paradigmatisches Gewicht (Integrität; 1a) und syntagmatisches Gewicht (struktureller Skopus; 1b) Das paradigmatische Gewicht eines Zeichens bestimmt seine semantische und formale Integrität. Ein autonomes Zeichen, z.B. ein Vollverb wie kochen oder essen, weist eine hohe Integrität auf. Durch die sog. Erosion, die sowohl aus Desemantisierung als auch aus phonologischer Abnutzung besteht, wird der Integritätsgrad nach und nach geringer. Im Laufe der Grammatikalisierung zum Dentalsuffix -te verlor bspw. das germanische Vollverb 'tun' sowohl seine ursprüngliche Bedeutung als auch einen Großteil der phonologischen Substanz. Das syntagmatische Gewicht oder der strukturelle Skopus wird daran gemessen, wie groß die Konstruktion ist, die durch das Zeichen mitgeformt wird. Ein großes syntagmatisches Gewicht (d.h. einen großen Skopus) haben Vollverben, weil die Konstruktion, die sie formen, der gesamte Satz ist: Der Satz Sie hat einen Kater besteht aus dem Vollverb haben und seinen obligatorischen Ergänzungen: dem Subjekt (sie) und dem direkten Objekt einen Kater. Das Vollverb haben bestimmt also den Umfang des Satzes. Nimmt der strukturelle Skopus ab, spricht man von Kondensierung. Schon Hilfsverben wie haben formen kleinere Konstruktionen, z.B. Perfekt, das lediglich aus haben und einem Partizip besteht, z.B. hat gesehen in Sie hat einen Kater gesehen, während sie und einen Kater Ergänzungen des Vollverbs sehen sind. Die Präteritalendung -te ist schließlich nur noch an der Bildung einer Wortform beteiligt, z.B. lach-te in Sie lachte herzlich. 2) Paradigmatische Kohäsion (Paradigmatizität; 2a) und syntagmatische Kohäsion (Fügungsenge; 2b) Die paradigmatische Kohäsion (Paradigmatizität) bezieht sich auf den Grad der semantischen und formalen Integration eines Paradigmas. Ein Paradigma besteht aus allen Flexionsformen eines Wortes, z.B. lache, lachst, lacht, lachte, gelacht etc. oder Witz, Witzes, Witze, Witzen. Dabei lassen sich auch Teilparadigmen unterscheiden, z.B. das verbale Tempusparadigma, das alle Tempusformen eines Verbs umfasst: Präsens-, Vergangenheits- und Futurformen. Hohe Kohäsion enthält ein Paradigma mit wenigen, klar abgegrenzten Unterkategorien, die formal und semantisch homogen sind. Semantische Homogenität besteht dann, wenn alle Unterkategorien eine gemeinsame semantische Basis haben, z.B. den Zeitbezug. Mit Wege ins Zentrum der Sprache 22 der Paradigmatisierung, d.h. der Eingliederung in ein solches geschlossenes Paradigma (z.B. Tempus), erreicht ein Zeichen eine starke paradigmatische Kohäsion (z.B. das Perfekthilfsverb haben, das vergangenes Geschehen markiert). Die formale Homogenität ist umso höher, je ähnlicher sich die Ausdrücke sind. haben, sein und werden bilden eine homogene Gruppe von Tempushilfsverben. Die Präteritalendung -te und der Ablaut haben eine abweichende Form. Die syntagmatische Kohäsion (oder Fügungsenge) betrifft den Verschmelzungsgrad (Fusionsgrad) des Zeichens. Wie in Kap. 2.2 gezeigt wurde, verlieren grammatische Zeichen nach und nach ihre syntaktische Unabhängigkeit, indem sie klitisieren (z.B. mit dem > [m m]) und anschließend zu Flexionsendungen werden. Dieser Prozess wird als morphologische Koaleszenz bezeichnet. 3) Paradigmatische Variabilität (Wählbarkeit; 3a) und syntagmatische Variabilität (Stellungsfreiheit; 3b) Die paradigmatische Variabilität betrifft die freie Wählbarkeit eines Zeichens. Während Vollverben wie bekommen, entgegennehmen oder empfangen je nach Mitteilungsinteresse frei gewählt werden, sind in grammatischen Konstruktionen, z.B. im Rezipientenpassiv, nur bestimmte Hilfsverben einsetzbar, z.B. Ich bekomme/ kriege/ *empfange die Haare geschnitten. Bei der Grammatikalisierung verringert sich zum einen die sog. transparadigmatische Variabilität, wenn der Ausdruck einer bestimmten Kategorie, z.B. der Definitheit am Substantiv, obligatorisch wird. So müssen die heutigen Sprecher mit Hilfe des Definitartikels signalisieren, dass es sich um einen dem Hörer bekannten Referenten handelt, z.B. Sie ist in der Küche, nicht *Sie ist in Küche. Ebenso muss der Indefinitartikel verwendet werden, wenn die Rede von unbekannten Referenten ist, z.B. Auf dem Balkon sitzt eine Katze, nicht *Auf dem Balkon sitzt Katze. Wenn es möglich ist, zwischen einzelnen Kategorien innerhalb eines Paradigmas frei zu wählen, spricht man von der sog. interparadigmatischen Variabilität, die bei zunehmender Grammatikalisierung abgebaut wird. Dieser Parameter zeigt, dass die Grammatikalisierung von werden als Futurhilfsverb nicht abgeschlossen ist, weil man immer noch zwischen Präsens und Futur wählen kann: Ich gehe morgen ins Kino vs. Ich werde morgen ins Kino gehen (s. M ORTELMANS 2004 a, b und Kap. 6.4.3). Die syntagmatische Variabilität (Stellungsfreiheit) ist am höchsten, wenn ein Zeichen frei umstellbar ist. Die Festlegung auf eine bestimmte Position erfolgt schon in einer frühen Phase der Grammatikalisierung (s. Kap. 2.2). Tab. 3 liefert einen Überblick über die verschiedenen Erscheinungsformen der Grammatikalisierung. Grammatikalisierungsparameter 23 Tab. 3: Erscheinungsformen der Grammatikalisierung (L EHMANN 1995b: 1255) Grammatikalisierungsgrad Parameter niedrig Grammatikalisierungsvorgang hoch Integrität lexikalische Bedeutung; langes (oft mehrsilbiges) Wort Erosion grammatische Funktion; reduzierte (oft einsilbige oder unsilbische) Form struktureller Skopus Zeichen bezieht sich auf ein Syntagma beliebiger Komplexität Kondensierung Zeichen bezieht sich auf den Stamm Paradigmatizität Zeichen gehört zu losem Wortfeld Paradigmatisierung Zeichen gehört zu hochintegriertem, straff organisiertem Paradigma Fügungsenge Zeichen ist formal unabhängig Koaleszenz Zeichen ist formal abhängig, z.B. Affix, oder nur ein phonologisches Merkmal Wählbarkeit Zeichen ist nach kommunikativen Absichten frei wählbar Obligatorisierung Wahl des Zeichens ist beschränkt bzw. obligatorisch Stellungsfreiheit Zeichen ist frei umstellbar Fixierung Zeichen besetzt feste Position Die Grammatikalisierung besteht aus den in Tab. 3 aufgelisteten Teilprozessen. Wichtig ist dabei, dass nicht alle von ihnen stattfinden müssen (s. u.a. T RAUGOTT 2005). Die semantische Erosion (Ausbleichung), die Fixierung und die Paradigmatisierung gehören dabei zu den zentralen Prozessen. Die Koaleszenz ist ein formaler Prozess, der nicht immer stattfindet. Viele Einheiten können auf der Stufe der freien Grammeme verharren (z.B. der Definitartikel der oder das Hilfsverb haben). Freie Grammeme formen mit anderen Zeichen grammatische Konstruktionen. Grammatische Konstruktionen sind solche Konstruktionen, in denen ein frei stehendes Zeichen, z.B. ein Hilfsverb, eine grammatische Funktion ausübt. In Sie hat heute gut geschlafen bildet die Verbform hat mit dem Partizip geschlafen eine Vergangenheitsform von schlafen. Fehlt ein Teil der Konstruktion (z.B. das Partizip), wird es unmöglich, die Bedeutung von hat zu beschreiben: *Sie hat heute gut (? ). Dies zeigt, dass die Bedeutung der gesamten Konstruktion nicht aus der Bedeutung ihrer Glieder summiert werden kann, denn die Bedeutung von hat lässt sich nicht isolieren. Die Gesamtbedeutung von grammatischen Konstruktionen lässt sich daher nicht aus der Bedeutung der Einzelglieder ableiten; sie ist nicht-kompositionell (s. u.a. T RAUGOTT 2003, D IEWALD 2008, T ROUSDALE 2008, B ERGS / D IEWALD 2008). Wege ins Zentrum der Sprache 24 Grammatische Kategorien sind typischerweise obligatorisch. Dies gilt jedoch eher für Flexionsendungen. Unter den grammatischen Konstruktionen gibt es dagegen auch einige, die das Kriterium der Obligatorizität nicht erfüllen, z.B. das werden-Futur (B YBEE 2003). Die Kondensierung vollzieht sich zwar bei der Entwicklung von nominalen und verbalen Kategorien wie Definitheit oder Tempus. Doch weisen viele Grammatikalisierungen, u.a. von Subjunktionen wie dass oder weil, eine umgekehrte Tendenz zur Skopuserweiterung auf (s. Kap. 7). Die hier besprochenen Grammatikalisierungsparameter bilden nichtsdestotrotz eine wertvolle und systematische Analysegrundlage, auf die im Folgenden oft Bezug genommen wird. Sie bieten jedoch kein Instrumentarium, um der Frage nachzugehen, wie und warum sich eine grammatische Funktion überhaupt entwickelt. Diese Frage behandelt Kap. 3. 2.4 Das Prinzip der Unidirektionalität Die Grammatikalisierungsskala in Abb. 6 enthält die übliche Entwicklungsrichtung eines Sprachzeichens: vom lexikalischen hin zum grammatischen. Während so gerichtete Prozesse häufig ablaufen, sind Entwicklungen vom rechten zum linken Ende der Grammatikalisierungsskala empirisch nicht bestätigt. Dies ist auch verständlich, denn die Grammatikalisierung führt zum irreversiblen (nicht umkehrbaren) Verlust semantischer Komponenten und phonetischer Substanz (L EHMANN 2004). Einmal abgebaute Bedeutung kann nicht wiederaufgebaut werden: So kann das Futurhilfsverb werden nicht seine ursprüngliche Vollsemantik 'wenden, drehen' zurückerlangen. Genausowenig kann das Dentalsuffix -te sich wieder stufenweise zu seiner Ursprungsform zurückentwickeln. Diese lässt sich auch nur unter Bezug auf sprachhistorisches Wissen rekonstruieren. H ASPELMATH (1999) erklärt die Irreversibilität solcher Prozesse mit der Maxime der Extravaganz. Diese gehört zu den von K ELLER ( 2 1994) ausgearbeiteten Handlungsmaximen, d.h. zu den Grundsätzen sprachlichen Handelns. In Anlehnung an K ELLER formuliert H ASPELMATH folgende Handlungsmaximen: 1) Hypermaxime: Rede so, dass du sozial erfolgreich bist. 2) Maxime der Klarheit: Rede so, dass man dich versteht. 3) Maxime der Ökonomie: Rede so, dass es dich keine unnötige Anstrengung kostet. 4) Maxime der Konformität: Rede so wie die anderen. 5) Maxime der Extravaganz: Rede so, dass du beachtet wirst. Nach K ELLER ( 2 1994) ist Sprache ein Phänomen der dritten Art, das weder auf Naturgesetzen basiert (wie Naturphänomene) noch das Ergebnis menschlichen Planens ist (wie Artefakte). Sprache ist ein nicht intendiertes Ergebnis menschlicher Handlungen - ein Wirkungseffekt der sog. unsichtbaren Hand. Sie ist mit einem Trampelpfad zu vergleichen, der nur ein Nebeneffekt von Handlungen ist, denen andere Intentionen zugrunde liegen (z.B. Zeit und Energie sparen, schnell von A nach B kommen). Degrammatikalisierung vs. Lexikalisierung 25 Die Maxime der Extravaganz betrifft eine solche primäre Intention, denn jeder von uns möchte beachtet werden. Um die Aufmerksamkeit des Gegenübers auf die eigene Äußerung zu lenken, wählt der Sprecher, so H ASPELMATH , einen neuen, innovativen (extravaganten oder übertriebenen) Ausdruck für eine normale, häufig vorkommende Information, z.B. die Verneinung (sog. Negation). So können wir, um jemandem deutlich zu machen, dass wir nichts verstehen, sagen: Ich verstehe kein Wort oder Ich verstehe Bahnhof anstelle von Ich verstehe nichts. Erfüllt diese Innovation ihren sozialen Zweck, wird sie von anderen Sprechern kopiert und breitet sich aus. Genau das passierte mit dem ahd. Ausdruck: ni (eo) wiht 'nicht (irgend-) ein Ding', der zum Negationswort nicht wurde (s. Kap. 4). Die Ausbreitung einer Innovation in der Sprachgemeinschaft bewirkt ihre allmähliche Inflation: Der Ausdruck wird immer üblicher, so dass er dann eher deswegen benutzt wird, weil es viele andere auch tun (also nach der Maxime der Konformität). Allmählich wird es zur Routine, für eine bestimmte Information (z.B. Negation) diesen einen Ausdruck zu verwenden. Dies wiederum steigert seine Prädiktabilität, d.h. die Vorhersagbarkeit seiner Bedeutung. Dabei kann der Ausdruck immer undeutlicher ausgesprochen werden - man weiß ja, dass er kommt. Schließlich kommt es zu Verschleifungen und Verschmelzungen mit den Nachbarwörtern und zu weiterem formalem Abbau. Die fortschreitende Routinisierung und Automatisierung des Ausdrucks führt letzten Endes dazu, dass er sich zu einer Form entwickelt, nach der automatisch gegriffen wird, wenn diese gewöhnliche, häufige Information mitgeteilt werden soll. Es entspricht einer generellen Tendenz aller Lebewesen, häufig auszuführende Aufgaben zu automatisieren (s. H AIMAN 1994). So werden auch Fingerbewegungen beim Tippen oder Klavierspielen soweit automatisiert, dass man sich während ihrer Ausführung keine Gedanken über den Bewegungsablauf macht (s. B YBEE 2003). Der automatisierte Ausdruck folgt den Maximen der Klarheit und der Konformität, da er eine einfache, sofort verständliche und ökonomische Strategie darstellt. Die Entwicklung der Sprachzeichen ist damit irreversibel und unidirektional, d.h. sie geht nur in eine Richtung: von der Lexik in die Grammatik (s. Abb. 5, S. 15). Dies wird manchmal mit einer Einbahnstraße verglichen (N ORDE 2002: 45). Der umgekehrte Weg, auf dem ein Zeichen degrammatikalisiert, d.h. von einem grammatischeren zu einem weniger grammatischen wird, wird nur selten beschritten. Diesem Phänomen sowie der Unterscheidung zwischen Degrammatikalisierung und Lexikalisierung ist das folgende Kap. 2.5 gewidmet. 2.5 Degrammatikalisierung vs. Lexikalisierung Das Prinzip der Unidirektionalität lässt eigentlich keine Degrammatikalisierung zu. Tatsächlich gibt es keinen Prozess, in dem ein Zeichen seine gesamte oder einen Teil seiner Grammatikalisierung rückgängig macht (N ORDE 2001: 236, H EINE 2003b: 165f.). Der Grammatikalisierungsprozess ist irreversibel (s. Kap. 2.4). Dennoch wird das Prinzip der Unidirektionalität manchmal angezweifelt, da Entwicklungen in die entgegengesetzte Richtung möglich und belegt sind. Darunter Wege ins Zentrum der Sprache 26 werden viele, oft sehr unterschiedliche Prozesse subsumiert, die zum Teil nichts mit (De-)Grammatikalisierung zu tun haben (H EINE 2003b). Relevant sind nur Fälle von tatsächlicher Aufwertung (upgrading) eines grammatischen Zeichens (s. N ORDE 1998, 2002). Die bekannteste Aufwertung ist die Entwicklung des Genitiv-s im Englischen (ähnlich auch im Schwedischen) von einer Kasusendung am Substantiv zu einem phrasenfinalen Klitikon (N ORDE 2006): Ursprünglich verfügte das Englische über eine Genitivendung -s, die sich ähnlich wie im heutigen Deutsch auf ein Substantiv bezog, z.B. -s in (des) Königs. Doch dann - umgekehrt als in der Grammatikalisierung - verselbstständigte sich das Genitiv-s allmählich. Es wandelte sich von einem Affix zum Klitikon, das sich auf ganze Syntagmen bezieht. In [the guy that I mentioned to you]'s adress hat 's Bezug auf the guy that I mentioned to you 'der Kerl, von dem ich dir erzählt habe'. Der strukturelle Skopus des heutigen klitischen 's ist viel größer als derjenige der ursprünglichen Genitivendung. Auch die Fügungsenge wurde dabei stark reduziert, so dass sich das klitische 's heute nicht zwingend an ein Substantiv heftet, sondern an jedes beliebige Element, das am Ende der Phrase steht, z.B. you in the guy that I mentioned to you's adress. Solche umgekehrten Prozesse finden jedoch nur sporadisch statt und verlaufen nicht nach einem festen, generalisierbaren Muster, das mit der Grammatikalisierungsskala vergleichbar wäre (H OPPER / T RAUGOTT 2 2003: 138, H ASPELMATH 2004). Manche Degrammatikalisierungen führen auch vom Flexionszum Derivationssuffix (s. N ORDE 2002). Dies ist jedoch nach L EHMANN (2004) keine wirkliche Umkehrung der Grammatikalisierungsrichtung, da eine Entwicklung vom Derivationszum Flexionssuffix untypisch ist und kaum vorkommt. Typischerweise verläuft die Grammatikalisierung von der Syntax über die Klise in die Flexion. Derivationsaffixe wie -lich in freund-lich oder abin abmachen sind gebundene lexikalische Morpheme, die zwar entkonkretisiert sind, aber nicht zur Bildung grammatischer Wortformen (Flexion), sondern zur Bildung neuer Wörter (Wortbildung) dienen. Sie sind im Gegensatz zu Flexionsaffixen nicht obligatorisch und haben keine konstante, dabei oft eine ziemlich konkrete Bedeutung: So bedeutet -lich in freundlich etwa so viel wie 'für X (=einen Freund) charakteristisch' und in grünlich 'leicht X (=grün)' (genauer zum Unterschied zwischen Flexion und Derivation s. D RESSLER 1989, B OOIJ 2000, H ASPELMATH 2002). Die Derivation ist neben der Komposition, in der zwei freie Lexeme kombiniert werden (Wunder + Tüte > Wundertüte), das wichtigste Wortbildungsverfahren des Deutschen. Dabei entstehen Derivationsaffixe aus Kompositionsgliedern, die eine Entkonkretisierung erfahren. So geht das Derivationssuffix -lich in menschlich, freundlich oder grünlich auf das ahd. Wort l h 'Körper' zurück, das in vielen Komposita als Zweitglied verwendet wurde (H ENZEN 3 1965: 202ff., zur Entstehung von Derivationsaffixen s. N ÜBLING et al. 3 2010: Kap. 3.2). Die Entwicklung der Derivations- und Flexionsaffixe verläuft zum Teil sehr ähnlich: Den Ausgangspunkt bildet in beiden Fällen ein selbstständiges Wort, das der semantischen Ausbleichung, dem Verlust syntaktischer Freiheit und der Reduktion lautlicher Substanz unterliegt. Diese Parallelen sind für manche der Anlass dafür, auch die Entwicklung von Derivationssuffixen als Grammatikalisie- Degrammatikalisierung vs. Lexikalisierung 27 rung anzusehen (s. M UNSKE 2002). Der Unterschied liegt aber darin, dass sich Derivationssuffixe aus Kompositionsgliedern entwickeln, d.h. in solchen Kontexten, in denen das Ursprungslexem mit einem anderen zu einem komplexen Wort verbunden wird. Die Entwicklung von der Komposition zur Derivation stellt auch eine Art Einbahnstraße dar. Flexionsaffixe hingegen haben ihren Ursprung in einem selbstständigen Wort, das Teil eines Syntagmas ist. Der Weg geht hier von der Syntax in die Flexion. Da Derivationsaffixe lexikalische Morpheme sind, wird ihre Entstehung häufig als Lexikalisierung bezeichnet (L EHMANN 1989). Abb. 9: Entstehung von Derivations- und Flexionsaffixen Ein Argument dafür, dass es sich hier um zwei recht unterschiedliche Prozesse handelt, liefert die Tatsache, dass sich Derivationsaffixe sehr selten zu Flexiven wandeln. In der Geschichte des Deutschen wurde diese relativ undurchlässige Grenze, die in Abb. 9 durch die gepunktete Linie symbolisiert wird, einmal überschritten: Aus Derivationsaffixen entwickelten sich Pluralendungen (s. Kap. 5.1). Als Gegenbeispiele für die postulierte Unidirektionalität werden in der Literatur (u.a. R AMAT 1992, 2001, C AMPBELL 2001) Lexikalisierungen genannt, d.h. Prozesse, in denen neue Lexeme enstehen. Die Anreicherungen der Lexik können auf unterschiedlichen Wegen erfolgen (H IMMELMANN 2004): 1) Idiomatisierung und Univerbierung: Die Kombination aus mehreren Wörtern ist idiomatisiert worden, wenn sich ihre Gesamtbedeutung nicht aus der Bedeutung der einzelnen Wörter ableiten lässt, z.B. kalter Kaffee 'kalt' + 'Kaffee', Junggeselle 'jung' + 'Geselle'. Durch die Idiomatisierung rücken zwei Lexeme semantisch näher zusammen. Ihre Struktur kann mit der Zeit opak (undurchsichtig) werden, z.B. ahd. weralt 'Menschenalter' (aus wer 'Mensch' + alt 'Alter') > Welt 'Lebensraum des Menschen'. In der Univerbierung wachsen mehrgliedrige syntaktische Konstruktionen zu einem Wort zusammen: So sind die Bestandteile der ahd. Phrase hiu tagu 'an diesem Tag' zum Lexem heute verschmolzen. 2) Fossilisierung: Verliert ein einstiges Derivationsaffix seine Produktivität, d.h. die Fähigkeit, neue Wörter zu bilden, wird es in den vorhandenen Wortbildungen als fester Bestandteil des Wortes uminterpretiert. Solche fossilierten Reste enthalten Substantive auf -t wie Fahrt (von fahren), Macht oder Ankunft. Ursprünglich war -t ein Wortbildungssuffix, das zur Bildung von Vorgangsbezeichnungen diente (H ENZEN 3 1965: 183f.). Heute werden Vorgangsbezeichnungen durch die ung-Suffigierung (befragen: Die Befragung dauerte zwei Stunden) oder durch die Substantivierung von Infinitiven ausgedrückt (Das Befragen übernimmst du). Auf ähnliche Weise wurde die Partizipialendung -d in während (von währen 'andauern') als fester Wortteil uminterpretiert. In Fällen wie während folgte die Grammatikalisierung der Lexikalisierung: Partizip während 'andauernd' > Lexikalisierung > Grammatikalisierung von während: 1) zur Präposition wie in Das Programm wurde noch während der Tagung geändert und 2) zur Temporalsubjunktion -te 'Prät.' l h 'Körper' als Zweitglied -lich : freundlich 'für x charakteristisch' grünlich 'leicht x getönt' Flexionsaffixe < Syntax Komposita > Derivationsaffixe tun Vollverb Wege ins Zentrum der Sprache 28 wie in Während ich den Brief las, klingelte das Telefon (zur Entwicklung von Präpositionen und Subjunktionen s. Kap. 5.5 und Kap. 7.1). 3) Entwicklung von Derivationsaffixen: Auch dieser Prozess wird häufig als Lexikalisierung bezeichnet. Nach H IMMELMANN (2004) ist die Entwicklung von Derivationsaffixen jedoch weder als Lexikalisierung noch als Grammatikalisierung zu bezeichnen: In der Lexikalisierung entstehen neue selbstständige Wörter, während Derivationsaffixe unselbstständige Einheiten sind. In der Grammatikalisierung bilden sich wiederum grammatische Elemente heraus, während Derivationsaffixe lexikalische Bedeutung haben und der Wortbildung dienen. Daher soll die Entwicklung von Derivationssuffixen als ein separates Phänomen betrachtet werden. 4) Übertragung von grammatischen Morphemen zu flektierbaren Wörtern, z.B. Sie hat es ohne Wenn und Aber gemacht (Substantivierung von Subjunktionen) oder Wir können uns duzen (Verbalisierung von Subjektspronomina). Solche Umwandlungen sind abrupte Prozesse und bilden damit keine Grammatikalisierungsumkehr. Diese müsste graduell verlaufen (N ORDE 2002). Kontroversen gibt es in der Literatur v.a. über die Substantivierung von Derivationsaffixen, z.B. -ismus > Ismus oder zig (< zwan-zig, vier-zig) in Ich habe es dir zig mal gesagt (s. u.a. R AMAT 1992, C AMPBELL 2001, L EHMANN 2004). Doch bildet auch dieser (abrupte) Lexikalisierungsvorgang keine Umkehrung der Grammatikalisierung, nur weil ein gebundenes Lexem frei verwendet wird. Die Prozesse unter 1) und 2) sind typische Lexikalisierungen, in denen selbstständige Lexeme entstehen. Sie verlaufen nicht in eine der Grammatikalisierung entgegengesetzte Richtung. Sie sind vielmehr nicht-direktional, da sich eine Kombination von mehreren Wörtern, unabhängig von ihrer formalen Verdichtung (Syntagma, Komposition, Derivation) zum einfachen Lexem wandeln kann, das als Ganzes (holistisch) verarbeitet wird (L EHMANN 2002). Aus diesem Grund ist die Lexikalisierung vielmehr ein Prozess, der quer zur Grammatikalisierungsskala verläuft (H IMMELMANN 2004). Dies zeigt die Zusammenfassung in Abb. 10. Abb. 10: Lexikalisierung vs. Grammatikalisierung Grammatikalisierung syntaktische Kombination freies grammatisches Morphem Flexionsaffix Entstehung von Derivationsaffixen Derivationsaffix freies Lexem als Kompositionsglied Lexikalisierung Lexikalisierung Lexikalisierung Lexikalisierung Lexikalisierung heute (< ahd. hiu tagu 'an diesem Tag') ohne Wenn und Aber, duzen während (< Partizip von währen 'andauern') Fahrt (< ahd. far 'fahr' + -t 'Vorgang') Welt (< ahd. weralt = wer 'Mensch' + alt 'Alter') 3 Grammatikalisierung als Lösung kommunikativer Probleme Die Grammatikalisierung setzt im Diskurs, d.h. auf der Ebene der Sprachhandlung ein. Das übergeordnete Ziel von Sprachhandlungen ist die erfolgreiche Kommunikation (Informationsübermittlung). Dabei gestaltet der Sprecher die Äußerung so, dass sie der Hörer richtig (d.h. wie vom Sprecher beabsichtigt) versteht. Den kommunikativen Erfolg sichern zum größten Teil routinisierte, idiomatisierte und grammatikalisierte Ausdrücke, deren Bedeutung verlässlich ist, da sie in vielen früheren Kommunikationsakten ausgehandelt wurde. Verlässlich sind in diesem Sinne sowohl Lexeme als auch feste Redewendungen wie kalter Kaffee, starkes Stück oder gründer Daumen und natürlich auch grammatische Morpheme. Für manche abstrakten Konzepte hat die Grammatik jedoch keinen konventionalisierten Ausdruck parat. Solche "Lücken" füllen Sprecher, indem sie Lexeme, die für konkrete Inhalte (Konzepte) stehen, auf kreative Weise für abstrakte Inhalte verwenden, also "zweckentfremden" (H EINE et al. 1991: 29). Das bringt langfristig die Grammatikalisierung ins Rollen. Ein Beispiel für eine solche kreative Lösung ist die Entwicklung der sog. rheinischen Verlaufsform in der Umgangssprache wie in Ich war grad' am Lesen, als sie plötzlich auftauchte. Für das abstrakte Konzept 'Verlauf eines Verbalgeschehens' bietet die Grammatik des Standarddeutschen keine grammatische Form an, während z.B. im Englischen die progressive Konstruktion wie in she was reading, driving a car stark grammatikalisiert (obligatorisch und sehr frequent, d.h. häufig verwendet) ist. Die Ausgangsstruktur für die rheinische Verlaufsform war am + Substantiv + Verb ( VAN P OTTELBERGE 2004, 2005). Diese am-Phrase lokalisierte ursprünglich einen Vorgang, der sich entlang eines längeren Gegenstands ereignet, z.B. am Fluss spazieren, oder eine Positionierung an einem längeren Gegenstand, z.B. am Tisch sitzen. Da die Präposition an nicht nur die räumliche (am Tisch, am Fluss), sondern auch die zeitliche Ausdehnung (am Tag, am Nachmittag, am Abend) bezeichnete, konnte sie mit einem substantivierten Infinitiv kombiniert werden, mit dem ein Vorgang beschrieben wird, z.B. das Lesen, das Graben eines Brunnens 'der Vorgang des Lesens, des Grabens eines Brunnens'. Mit am konnte betont werden, dass der Vorgang (des Lesens oder Grabens) länger andauert und in seinem zeitlichen Ablauf betrachet wird. Auf diese Weise entstand eine neue Konstruktion am + substantivierter Infinitiv + sein, mit der sich die Sprecher auf eine gerade verlaufende Tätigkeit beziehen können, z.B. sie ist am Lesen 'sie liest gerade' (s. Kap. 6.6). Einen ähnlichen Ursprung hat auch die Verlaufsform im Niederländischen aan het + substantivierter Infinitiv + zijn, z.B. ndl. zij is aan het lezen vgl. dt. (umgangssprachlich) sie ist am Lesen (B OOIJ 2008, F LECKEN 2011). Im Deutschen befindet sich die Verlaufsform erst am Anfang ihrer Grammatikalisierung, weil das Element nach am sich doch noch meist wie ein Substantiv verhält, z.B. Ich war Grammatikalisierung als Lösung kommunikativer Probleme 30 am Kofferpacken. Jedoch darf die Folge am + substantivierter Infinitiv nicht mehr unterbrochen werden, daher nicht *Sie war am sorgfältigen Kofferpacken. Es kommt aber schon vor, dass Koffer als Objekt des Verbs packen verwendet wird: Ich war meine Koffer (sorgfältig) am Packen (B HATT / S CHMIDT 1993). Hier verhält sich am Packen wie eine Verbform, die mit sein eine progressive Konstruktion (Verlaufsform) bildet, vgl. engl. I was packing my suitcase. Expressive, neue Ausdrücke werden jedoch auch dann verwendet, wenn dem Sprecher bereits ein grammatisches Mittel zur Verfügung steht. Auf diese Weise kommen zu den alten Formen neue hinzu - die grammatische Kategorie wird formal erneuert. Dieses "finding new ways to say old things" (H OPPER / T RAUGOTT 2 2006: 73) dient ebenfalls der Lösung kommunikativer Probleme: Die Sprecher erhöhen zum einen die Informativität oder die Explizitheit. So ist unter Anwendung eines Messers deutlicher als mit einem Messer. Zum anderen vermitteln die Sprecher mit dem expressiven Ausdruck ihre subjektive Einstellung. Dies erklärt u.a., warum immer neue Präpositionen entstehen. Eine neue Temporalpräposition am Rande (der Konferenz) transportiert im Vergleich zur älteren Präposition während (der Konferenz) zusätzlich die Information, dass das parallel stattfindende Ereignis (die Konferenz) von untergeordneter Wichtigkeit war: Am Rande der Konferenz fand eine Party statt, auf der alles entschieden wurde (M EIBAUER 1995). Auf diese Weise wird Spannung erzeugt, denn diese Aussage macht deutlich, dass die Dinge nicht so gelaufen sind, wie man es erwarten würde. Dies wiederum erweckt das Interesse des Zuhörers. Die ältere Präposition während kann dies nicht leisten: Während der Konferenz fand eine Party statt, auf der alles entschieden wurde (zu diesem Aspekt in der Entwicklung von Präpositionen s. Kap. 5.5.2.2). Grammatikalisierung ist nichts anderes als das Resultat kommunikativer Problemlösungen, die ungewöhnlich und praktisch zugleich sind. Unsere Fähigkeit und Neigung dazu, Dinge auf eine originelle Weise darzustellen, führt dazu, dass konkrete Konzepte für abstrakte verwendet werden. Die Basis dafür bilden die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse (Kognition), d.h. die Art, wie wir die uns umgebende Welt kategorisieren. H EINE et al. (1991: 31) sprechen von der universellen Kreativität, aus der sich die konzeptuellen Muster speisen. So wird z.B. der Raum als menschlicher Körper konzeptualisiert (wie in am Fuß des Berges) oder die Zeit als Raum (wie bei der Entwicklung der rheinischen Verlaufsform, z.B. Sie ist am Lesen). Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit Metonymie und Metapher, den beiden kognitiven Lösungsstrategien. 3.1 Metonymie und Metapher als kommunikative Strategien Die Begriffe Metonymie und Metapher, die auch in der Grammatikalisierungsforschung verwendet werden, beziehen sich nicht auf rhetorische Figuren, sondern auf kognitive Prozesse der Konzeptersetzung oder -übertragung. So verstanden stellen sie Strategien zur Lösung kommunikativer Probleme und gleichzeitig den Antrieb für Grammatikalisierungen dar. Die Metonymie greift in einer frühen Metonymie und Metapher als kommunikative Strategien 31 Grammatikalisierungsphase, weswegen sie zuerst betrachtet wird. Die Metapher baut auf den Ergebnissen der Metonymie auf (H OPPER / T RAUGOTT 2 2006: 92f.). Um den Begriff der konzeptuellen Metonymie zu verstehen, betrachten wir zunächst die Metonymie als Redefigur. Diese besteht darin, dass ein Ausdruck durch einen anderen ersetzt wird, wobei zwischen beiden eine sachliche oder reale Beziehung besteht. Eine Metonymie liegt im folgenden Satz vor: Hast du Susan Sonntag gelesen? Hier "steht" Susan Sonntag für die Werke dieser Schriftstellerin. Da sie ihre Autorin ist, steht sie in einer sachlichen Beziehung zu ihnen (als Verfasserin). Als eine solche Verfasserin "berührt" sie das Werk. Genau auf einer solchen "Berührungs"-Relation (der sog. Kontiguität) basiert die konzeptuelle Metonymie. Sie stellt einen kognitiven Prozess dar, in dem zwei aneinander angrenzende Konzepte verknüpft werden. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Konjunktion und erklärt, deren Funktion darin liegt, zwei syntaktische Einheiten (sog. Konjunkte) miteinander zu verbinden, z.B. du und ich, Mama und Papa oder auch: 10) Sie ging in die Bibliothek und gab das Buch zurück. Die Konjunktion und in Satz 10) transportiert aber noch zwei weitere Informationen: 1) 'Die Handlungen werden nacheinander ausgeführt' und 2) 'Sie ging in die Bibliothek mit dem Ziel, dort das Buch zurückzugeben. Das Buch wurde also in der Bibliothek zurückgegeben'. Diese Informationsanreicherung unter 1) und 2) ist kognitiv bedingt, d.h. durch die Art, wie wir die uns umgebende Welt wahrnehmen und kategorisieren. So projizieren wir auf die Reihenfolge, in der Informationen präsentiert werden, eine zeitliche Abfolge: Zunächst geht sie in die Bibliothek, dann gibt sie das Buch zurück. Die zeitliche Abfolge interpretieren wir wiederum als nicht zufällig. Vielmehr vermuten wir, dass der erste Vorgang zu dem zweiten führt: Sie ging in die Bibliothek, um das Buch zurückzugeben. Das Konzept der R EIHENFOLGE ist in unserer Weltwahrnehmung mit dem Konzept der ZEITLICHEN A BFOLGE verbunden: Bücher, die aufeinander liegen, wurden nacheinander auf den Stapel gelegt. An das Konzept der ZEITLICHEN A B- FOLGE grenzt wiederum u.a. die F INALITÄT an. Die Finalität bezieht sich darauf, dass eine Tätigkeit durchgeführt wird, um ein Ziel zu erreichen: Man macht sich zuerst auf den Weg in die Bibliothek, um dann das Buch zurückzugeben. Eine frühere Handlung ermöglicht also eine spätere Handlung. Die Informationen unter 1) und 2), die auf die Konjunktion und in Satz 10) projiziert werden, sind mit der Grundbedeutung der Konjunktion und miteinander metonymisch verbunden. Da sie aneinander angrenzen, stehen sie in syntagmatischer Beziehung zueinander: R EIHENFOLGE > ZEITLICHE A BFOLGE > F INALITÄT Solche Wahrnehmungsmuster nutzen Sprecher bei der Sprachproduktion. Sie "präparieren" ihre Äußerung so, dass Hörer, die sich derselben Muster bedienen, diese richtig interpretieren. Man rechnet als Sprecher damit, dass der Hörer eben- Grammatikalisierung als Lösung kommunikativer Probleme 32 falls die Reihenfolge zeitlich und die Zeitabfolge final interpretiert. Eine nicht intendierte zusätzliche Information kann der Sprecher durch explizite Verneinung "streichen": Sie ging in die Bibliothek und gab das Buch ab. Doch das geschah in umgekehrter Reihenfolge. Der Informationsgehalt der Äußerung in 10) geht durch die Anreicherungen unter 1) und 2) (zeitliche Abfolge und Finalität) deutlich über die Semantik, d.h. die wörtliche, kontextunabhängige Bedeutung der einzelnen Wörter hinaus. Im Falle der Konjunktion und beschränkt sich die grammatische Bedeutung (bzw. Funktion) auf die Konjunktivität: und verknüpft, d.h. signalisiert einen Zusammenhang zwischen zwei Konjunkten: Mama und Papa oder Anna liebt Peter und Hans liebt Eva usw. und sagt, dass beide Konjunkte, z.B. Mama und Papa, existieren (M EIBAUER 1999: 33ff.). Die zusätzlichen Informationen, die zeitliche Abfolge und die Finalität, sind Schlussfolgerungen des Hörers. Man bezeichnet sie nach G RICE (1989) als konversationelle Implikaturen. Sie werden aus dem Kontext erschlossen, etwa so, wie oben beschrieben. Sie sind - im Gegensatz zur wörtlichen Bedeutung - jederzeit streichbar. Die konversationellen Implikaturen resultieren nach G RICE daraus, dass wir uns in der Kommunikation grundsätzlich kooperativ verhalten, d.h. in einer aktuellen Kommunikationssituation adäquat reagieren. Erfolgreiche Kommunikation setzt Kooperation voraus, sie beruht also auf dem Kooperationsprinzip: 11) Kooperationsprinzip (vereinfacht nach G RICE 1989: 26) Mach deinen Gesprächsbeitrag genauso, wie es der Zweck oder die Richtung des Gesprächs erfordert. In einem adäquaten kooperativen Gesprächsbeitrag werden nach G RICE vier Konversationsmaximen (Grundsätze), d.h. Regeln des normalen (Sprach-)Verhaltens befolgt: 1) Maximen der Quantität: Mach deinen Beitrag so informativ wie für die aktuelle Konversation nötig, aber nicht informativer als verlangt. 2) Maximen der Qualität: Sage nichts, was du für falsch hältst oder wofür du keine Beweise hast. 3) Maxime der Relevanz: Sei relevant. 4) Maximen der Modalität: Vermeide uneindeutige Ausdrucksweisen und Doppeldeutigkeiten. Sei kurz und verwende die richtige Reihenfolge. Der Verstoß gegen eine der Konversationsmaximen löst eine konversationelle Implikatur (Zusatzinformationen) aus. Im bereits besprochenen Satz 10) (Sie ging in die Bibliothek und gab das Buch zurück) resultiert eine konversationelle Implikatur daraus, dass der Satz gegen die Maxime der Quantität verstößt. In diesem Satz werden zwei Vorgänge sie ging in die Bibliothek und sie gab das Buch zurück miteinander verknüpft, ohne dass klar und eindeutig signalisiert wird, in welchem Zusammenhang sie zueinander stehen. Der Hörer, der von der Maxime der Quantität ausgeht, setzt voraus, dass der Sprecher nicht zwei beliebige, unzusammenhängende Vorgänge nacheinander beschreibt. Ein solcher Satz wäre wenig informativ. Aus der Textstruktur schlussfolgert (implikatiert) der Hörer eine zeitliche Abfolge zweier zweckgebundener Handlungen. Konversationelle Implikaturen Metonymie und Metapher als kommunikative Strategien 33 basieren auf der Annahme, dass sich der Sprecher nach den Regeln der Kommunikation verhält und nicht etwa unzusammenhängende Informationen liefert. In Beispiel 10) dient die Konjunktion und als Projektionsfläche für die konversationellen Implikaturen, da sie lediglich die Verknüpfung signalisiert, also wenig informativ ist. Diese im Schlussfolgerungsprozess hinzugewonnenen Zusatzinformationen bilden einen pragmatischen Überbau, d.h. sie tragen zur pragmatischen Stärkung (pragmatic strengthening) der Konjunktion bei (T RAUGOTT / K ÖNIG 1991). Die auf der konzeptuellen Metonymie basierende Implikatur kann, wenn sie häufig auftritt, konventionalisiert, d.h. zum Bestandteil der Wortsemantik werden. Das Sprachzeichen wird dadurch mehrdeutig und kann schließlich die "alte" Bedeutung ganz aufgeben. Diesem Phänomen begegnen wir u.a. in Kap. 7.1, das den semantischen Wandel von temporalen zu kausalen (begründenden) Subjunktionen anhand von weil zeigt. Im Mittelhochdeutschen war weil eine temporale Subjunktion, die im Frühneuhochdeutschen pragmatisch um die kausale Interpretation angereichert wurde, ähnlich wie heute nachdem in Nachdem wir den ganzen Tag im Regen gelaufen sind, bin ich krank geworden. Zwar leitet nachdem einen temporalen Nebensatz ein, doch schlussfolgern wir, dass der darin beschriebene Vorgang der Grund für die Erkrankung (im Hauptsatz) ist. Bei der Subjunktion weil ist die Implikatur in die wörtliche Bedeutung eingegangen, während die ursprünglich temporale Semantik nach und nach abgebaut wurde. Erst wenn metonymische Prozesse zu einer neuen Lesart geführt haben, kommt die kategorielle Metapher zum Einsatz. Sie ist der zweite kognitive Prozess innerhalb der Grammatikalisierung. In der Rhetorik bezeichnet Metapher eine auf Ähnlichkeit basierende Übertragung eines Ausdrucks in einen neuen Bereich, z.B. (Tisch-)Bein. Das Wort Bein gehört primär zum Bereich der menschlichen Anatomie und bezeichnet dort eine Extremität, auf die sich der menschliche Körper stützt. Aus dem sog. Spenderbereich der menschlichen Anatomie wird das Wort aufgrund der Ähnlichkeit in Form (länglich, senkrecht gerichtet) und Funktion (Stütze) in den sog. Empfängerbereich der Tischteile übertragen. Das Wort Bein steht hier für einen stützenden, länglichen Tischteil. Die Leistung der Metapher in der Grammatikalisierung besteht genau darin, einen konkreteren Ausdruck aufgrund eines Ähnlichkeitsverhältnisses ersatzweise für ein abstrakteres Konzept zu verwenden. Metaphern liefern also konkrete, leicht verarbeitbare Bilder und erleichtern auf diese Weise die Bezeichnung und das Verständnis abstrakter Sachverhalte (H EINE et al. 1991: 45ff.). So wird mit der Präposition mit in 12) ein prototypisches Instrument bezeichnet, mit dem etwas ausgeführt wird. In 13) dient die menschliche Hand als ein Instrument. 12) Sie öffnete die Tür mit einem Dietrich. 13) Sie öffnete die Tür mit der Hand. 14) Sie öffnete die Tür mit Gewalt. In 14) wird hingegen ein abstrakterer, kognitiv komplexerer Inhalt 'unter Anwendung von'/ 'auf eine bestimmte Art und Weise' mittels derselben Zeichenform mit abgebildet. Die abstraktere Bedeutung ergibt sich daraus, dass in der syntaktischen Konstruktion mit + Substantiv anstelle eines prototypischen kon- Grammatikalisierung als Lösung kommunikativer Probleme 34 kreten Instruments ein abstraktes Substantiv eingesetzt wird. Dies ist möglich, weil alle drei Wörter, Dietrich, Hand und Gewalt, auf der morphosyntaktischen Ebene ähnlich sind. Alle drei stehen als Substantive in paradigmatischer Relation zueinander. Diese Ähnlichkeit ermöglicht es, ein weit vom prototypischen Instrument entferntes Konzept Gewalt in die Substantivposition einzusetzen. Die Metapher besteht also in der Ersetzung prototypischer durch weniger prototypische Konzepte (B YBEE 2003). Abb. 11: Metapher als Zeichensubstitution auf der paradigmatischen Achse Wie in unserem Beispiel sind Spenderbereiche der kategoriellen Metaphern (Dietrich als Instrument) generell konkreter als die Empfängerbereiche (Gewalt). Auf diese Weise führt die Metapher zur Ausweitung (Extension) eines Ausdrucks wie mit auf immer abstraktere Kontexte. Abb. 11 zeigt, dass die graduelle Ausdehnung der Präposition mit in Kontexten beginnt, in denen es sich tatsächlich um die Verwendung eines Instruments handelt. Sie schreitet fort zu Kontexten, in denen das Instrument zugleich Teil des menschlichen Körpers ist. Anschließend wird mit mit solchen Substantiven kombiniert, die nur die Intensität bezeichnen, mit der ein (nicht genanntes) Instrument eingesetzt wird. Die Entkonkretisierung und Grammatikalisierung der Präposition mit ist also kontextabhängig. H EINE et al. (1991) stellen in ihrer Grammatikalisierungsstudie, die hauptsächlich auf afrikanischen, also nicht-indoeuropäischen Sprachen basiert, fest, dass als metaphorische Spenderbereiche sprachunabhängig immer die kognitiven Grundkategorien dienen (darunter Mensch, Objekt, Raum, Zeit, s. Abb. 12). Diese Grundkategorien bestimmen unsere Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse. So teilen wir die Welt in belebte (Menschen) und unbelebte Dinge (Gegenstände). Bei der Beschreibung von unbelebten Objekten bedienen wir uns häufig der Menschenmetapher. Ein Verb wie gehen, das eine menschliche Bewegung bezeichnet, wird in Die Uhr geht nicht auf das Funktionieren einer Uhr bezogen. Die Richtung der metaphorischen Verwendung von gehen ist P ERSON > O BJEKT . Die Kategorie O BJEKT dient wiederum als Spenderbereich für Aktivitäten. Die Metapher O BJEKT > A KTIVITÄT kann in der Entwicklung der rheinischen Verlaufsform beobachtet werden. In Sie sitzt am Tisch verbindet sich die Präposition- Artikel-Form am mit der Objektbezeichnung Tisch. In der Verlaufsform wie Sie ist am Lesen bezeichnet das Substantiv eine Aktivität. Die A KTIVITÄT bildet den Spenderbereich für räumliche Relationen. In Auf dem Platz steht ein Denkmal wird das Verb stehen (Aktivität i.w.S.) dazu verwendet, räumliche Relationen zwischen dem Platz und dem Denkmal zu definieren (A K- TIVITÄT > R AUM ). Die Raummetapher wird ihrerseits verwendet, um Zeitrelationen zu beschreiben, z.B. vor dem Schrank vs. vor Mitternacht (R AUM > Z EIT ). Die kategorielle Metapher führt immer zur Entwicklung einer abstrakteren Bedeutung, wobei sich die Spenderbereiche im Grad der Konkretheit unterschei- Gewalt. (Intensitätsgrad der Tätigkeitsausführung) der Hand. (Teil des menschlichen Körpers) dem Dietrich. (prototypisches Instrument) Sie öffnete die Tür mit X Kontexterweiterung Reanalyse und Analogie als Mechanismen der Grammatikalisierung 35 den und so eine Skala (oder Kette) von der konkretesten (P ERSON ) zur abstraktesten Kategorie (Q UALITÄT ) bilden. Entlang dieser Skala weiten sich Sprachzeichen auf immer abstraktere Kontexte aus: Abb. 12: Skalare Anordnung der metaphorischen Spenderbereiche Die abstrakteste Kategorie ist die Q UALITÄT , die in der Verbindung zwischen der Präposition mit mit abstrakten Begriffen wie Gewalt entsteht (mit dem Dietrich > mit Gewalt). An diesem Beispiel erkennt man die Metapher O BJEKT > Q UALITÄT . Dies zeigt, dass die metaphorische Ausdehnung nicht zwingend zwei auf der Skala benachbarte Konzepte betreffen muss; sie verläuft aber immer von links (konkret) nach rechts (abstrakt). In die Grammatikalisierung sind also zwei kognitive Prozesse involviert, wobei die Metonymie auf der syntagmatischen Ebene, also zwischen angrenzenden Konzepten operiert. Die Metapher führt hingegen zur Ersetzung von Zeichen, die in paradigmatischer Relation zueinander stehen. Das nächste Kapitel behandelt die sprachlichen Mechanismen, die auf diesen kognitiven Prozessen basieren. 3.2 Reanalyse und Analogie als Mechanismen der Grammatikalisierung Die Metonymie und die Metapher werden durch die Reanalyse und die Analogie sprachlich umgesetzt. Letztere werden deswegen als Mechanismen der Grammatikalisierung bezeichnet (H OPPER / T RAUGOTT 2 2006: Kap. 3). Die Reanalyse resultiert aus der Metonymie, während die Analogie auf der Metapher beruht. Die Reanalyse ist nichts anderes als eine semantische und strukturelle Uminterpretation, die durch eine ambige (zweideutige) Äußerung ausgelöst wird. Wie wir schon festgestellt haben, konstruieren Sprecher manchmal extravagante, auffällige Äußerungen, um einen Sachverhalt aus einer neuen Perspektive zu präsentieren oder um ein abstraktes Konzept anschaulich zu vermitteln. Durch den Verstoß gegen die Konversationsmaximen wird der Hörer zu einer adäquateren Interpretation, d.h. zur konversationellen Implikatur "eingeladen" (zur sog. invited inference s. G EIS / Z WICKY 1971, T RAUGOTT / D ASHER 2002, T RAUGOTT 2004b). Stehen wir an der Käsetheke und warten, bis der Verkäufer für uns den Emmentaler in Scheiben geschnitten hat, löst der Satz 15) eine konversationelle Implikatur unter 2) aus, da die wörtliche Bedeutung unter 1) inadäquat ist. 15) Ich bekomme den Käse geschnitten. 1) Gesagt: 'Jemand gibt mir geschnittenen Käse/ Ich bekomme den Käse in geschnittenem Zustand' 2) Gemeint: +> 'Jemand schneidet den Käse für mich/ Der Käse wird für mich geschnitten.' P ERSON > O BJEKT > A KTIVITÄT > R AUM > Z EIT > Q UALITÄT konkret abstrakt Grammatikalisierung als Lösung kommunikativer Probleme 36 Die konversationelle Implikatur (bezeichnet durch +>) ist nicht nur eine Schlussfolgerung (Inferenz) des Hörers, sondern sie wird vom Sprecher intendiert/ gemeint (deswegen die Bezeichnung invited inference). Das Verb bekommen wird auf diese Weise pragmatisch gestärkt. Der Sprecher meint, dass der Verkäufer für ihn den Käse schneidet. Diesen geschnittenen Käse wird der Sprecher vom Verkäufer bekommen. Beide Vorgänge, das Schneiden und das Bekommen, grenzen aneinander, d.h. sie sind metonymisch verbunden (s. Kap. 6.5). Diese Uminterpretation zieht eine strukturelle Reanalyse nach sich. Vor der Uminterpretation bedeutet der Satz soviel wie 'Ich bekomme den Käse in geschnittenem Zustand'. Das Partizip geschnitten wird adjektivisch verwendet und bezieht sich auf den Käse, der das Akkusativobjekt (direktes Objekt) des Vollverbs bekommen ist. Der uminterpretierte Satz bekommt eine passivische Lesart: 'Der Käse wird für mich geschnitten', d.h. das semantisch reduzierte Hilfsverb bekommen dient dazu, eine Passivform von schneiden (hier das Hauptverb) zu bilden. Der Handlungsschwerpunkt wird auf das Partizip geschnitten verlagert, das dadurch zum Prädikatsteil wird. Der Satz enthält dadurch ein komplexes Prädikat: finites Hilfsverb + infiniter Prädikatsteil (Partizip des Vollverbs) (geschnitten bekommen). Käse wird als direktes Objekt zum Vollverb schneiden reinterpretiert. Abb. 13: Die Reanalyse am Beispiel des Rezipientenpassivs Die Reanalyse führt zur Veränderung der Konstituentenstruktur: In Lesart 1) bildet das Objekt Käse eine Verbalphrase mit bekommen (Ich bekomme den Käse), während das Partizip zur Nominalphrase gehört: den Käse geschnitten (= den geschnittenen Käse). Durch die Reanalyse ändert sich die hierarchische Struktur: Das Verb bekommen wird vom unabhängigen Vollverb zu einem grammatischen Bestandteil einer Passivkonstruktion (ich bekomme etwas geschnitten, vorgesungen usw.). Das Verb bekommen verliert dabei seine kategoriellen Verbeigenschaften, weil es kein Objekt mehr regiert. Käse ist in der Lesart 2) Objekt von schneiden. In dieser Lesart erhöht sich die Zusammengehörigkeit zwischen bekommen und geschnitten, so dass sie eine grammatische (Passiv-)Konstruktion bilden. Interessanterweise bleibt die Satzoberfläche vor und nach der Reanalyse unverändert, d.h. die Reanalyse ist ein verdeckter, unsichtbarer Prozess. Die Reanalyse bildet nach H OPPER / T RAUGOTT ( 2 2006) den wichtigsten Mechanismus der Grammatikalisierung: Sie kurbelt die Grammatikalisierung durch Regelveränderung an. Doch bleibt die Grammatikalisierung zunächst "unsicht- Lesart 1) 'Ich bekomme den Käse in geschnittenem Zustand' Ich bekomme den Käse geschnitten. [Subjekt] [Vollverb] [direktes Objekt] [adjektivisches Partizip] Lesart 2) 'Der Käse wird für mich geschnitten' Ich bekomme den Käse geschnitten. [Subjekt] [Hilfsverb] [direktes Objekt] [infiniter Prädikatsteil] Reanalyse und Analogie als Mechanismen der Grammatikalisierung 37 bar". Erst die Analogie, der zweite Mechanismus der Grammatikalisierung, liefert Evidenz für den Regelwandel. Die Analogie basiert auf der kategoriellen Metapher und führt zur Ausweitung der neuen Regel auf neue Kontexte. Sie ist ein sichtbarer Prozess: Die aus der Reanalyse gewonnene Struktur wird durch die ungewöhnliche Besetzung der einzelnen Positionen sichtbar. So wird die Passivlesart erst dann offensichlich, wenn abstrakte Objekte oder unbelebte Subjekte eingesetzt werden. Die Regel zur Bildung von Rezipientenpassivsätzen mit bekommen + Partizip des Vollverbs wird im Zuge der analogischen Ausbreitung allmählich generalisiert: 16) Sie bekommt den Käse geschnitten. [Subjekt] [Hilfsverb] [Objekt] [infiniter Prädikatsteil] Sie bekommt das Lied vorgesungen. (abstraktes Objekt) Das Haus bekommt die Wände gestrichen. (unbelebtes Subjekt) Die Analogie führt zur Verselbstständigung der neuen Funktion und damit zur Grammatikalisierung des Hilfsverbs bekommen. So ist bekommen in Sie bekommt ein Lied vorgesungen eindeutig ein Hilfsverb, weil der Satz nur die Passivlesart hat: 'Für sie wird ein Lied gesungen', nicht *'Sie bekommt ein gesungenes Lied'. Wir fassen zusammen: Die Grammatikalisierung basiert auf zwei kognitiven Prozessen, der Metonymie und der Metapher, die sich jeweils in zwei verschiedenen sprachlichen Mechanismen niederschlagen. Vor der Grammatikalisierung wird das Zeichen in seiner lexikalischen Bedeutung verwendet (Stufe I in Abb. 14). Die Metonymie führt zur Informationsanreicherung und bildet so die Grundlage für die semantische und strukturelle Reanalyse. In einem bestimmten Kontext wird ein Sprachzeichen in einer (neuen) grammatischen Funktion verwendet (Stufe II). Die neue Struktur breitet sich dann unter Einwirkung der kategoriellen Metapher analogisch aus (Stufe III) (s. H OPPER / T RAUGOTT 2 2006). Abb. 14: Stufen der Grammatikalisierung syntagmatische Achse paradigmatische Achse Stufe I Sie bekommt den Käse geschnitten. [Subjekt] [Vollverb] [Objekt] [adj. Partizip] Metonymie/ Reanalyse Stufe II Sie bekommt den Käse geschnitten [Subjekt] [Passiv- [Objekt] [infinites Prädikatsteil hilfsverb] Vollverb] Metapher/ Analogie Stufe III Sie bekommt ein Lied vorgesungen. [abstraktes Objekt] Das Haus bekommt die Wände gestrichen. [unbelebtes Subjekt] Grammatikalisierung als Lösung kommunikativer Probleme 38 3.3 Grammatikalisierungspfade Kontrastive Untersuchungen haben ergeben, dass die grammatischen Kategorien in vielen Sprachen ähnliche lexikalische Quellen haben. So hat sich der Definitartikel (der, die, das) nicht nur im Deutschen oder Englischen, sondern auch in den romanischen Sprachen aus dem Demonstrativum entwickelt (vgl. lat. illum/ illam 'diese(r)' > Definitartikel le/ la im Französischen oder el/ la im Spanischen; s. auch F AINGOLD 1993, 1995). Auch andere, nicht-indoeuropäische Sprachen bestätigen diesen Grammatikalisierungspfad (L EHMANN 1995a: 55). Das wiederholte Auftreten ähnlicher Pfade erklären H EINE et al. (1991) mit der kognitiven Grundlage der Grammatikalisierung (s. aber D ETGES 2004): Zum Ausdruck eines neuen, abstrakten Konzepts werden nicht beliebige konkrete Lexeme verwendet, sondern nur solche, die mit den abstrakten Inhalten konzeptuell verbunden sind. Dies führt dazu, dass viele Sprachen gleiche Grammatikalisierungspfade (auch: -kanäle) aufweisen und dass einzelne grammatische Kategorien eine begrenzte Anzahl von lexikalischen Quellen haben. So entwickeln sich die Definitartikel meist aus Demonstrativa, Possessiva oder Personalpronomina (H IMMELMANN 1997). Abb. 15: Grammatikalisierungspfade zum Definitartikel Die am häufigsten begangenen Grammatikalisierungspfade präsentiert das World Lexicon of Grammaticalization (H EINE / K UTEVA 2002). Dort kann man bspw. nachlesen, dass sich Futurgrammeme meist aus unspezifischen Bewegungsverben wie kommen, gehen (vgl. engl. I'm going to visit her) oder aus Modalverben (vgl. engl. It will be raining) entwickeln. Aus dieser Perspektive erweist sich der diachrone Weg des deutschen werden-Futurs als ein ungewöhnlicher Grammatikalisierungspfad. Er ist im World Lexicon of Grammaticalization nicht aufgeführt (s. Kap. 6.4). Die Spenderlexeme haben meist eine unspezifische Bedeutung. So bezeichnen Verben wie kommen oder gehen, aus denen sich häufig Futurperiphrasen speisen, ganz allgemein die Bewegung in Raum und Zeit. Dabei wird das Ziel von gehen oder kommen in der Zukunft erreicht (vgl. Ich gehe spielen, lesen, einkaufen). Da diese Verben anders als hüpfen oder schleichen ganz generell die Fortbewegung bezeichnen, lässt sich ihre Semantik auf die zeitliche Dimension (den Verweis auf das in der Zukunft liegende Ziel) reduzieren, weswegen sie in vielen Sprachen als Grammatikalisierungsquellen für das Futurgrammem dienen (B YBEE / P AGLIUCA 1987, H EINE et al. 1991). Verben, die eine sehr spezifische Art der Bewegung bezeichnen, z.B. hüpfen oder schleichen, eignen sich nicht als Spenderlexeme. Die unspezifische Bedeutung der Spenderlexeme ist auch dafür verantwortlich, dass sich aus ihnen verschiedene Grammeme entwickeln können. Im Deutschen gehen neben dem Definitartikel auch das Relativpronomen (das Haus, in Demonstrativ (dieser) Possessiv (sein) Personalpronomen (es) Definitartikel Grammatikalisierungspfade 39 dem du wohnst) und die Subjunktion dass auf das Demonstrativ zurück (s. Kap. 7.1). Die umgangssprachlich verwendeten Personalpronomina die, der, das entwickelten sich auch aus dem Demonstrativ, z.B. Die (=sie) hat's doch gewusst. Abb. 16: Demonstrativ als Grammatikalisierungsquelle Wenn ein Spenderlexem an mehreren Grammatikalisierungen beteiligt ist, spricht man von Polygrammatikalisierung. In der Geschichte des Deutschen stand das Verb werden am Anfang mehrerer Grammatikalisierungen. Es entwickelte sich u.a. zum Passivhilfsverb (Das Auto wird repariert), zum Futurhilfsverb (Du wirst sehen) und zum Konjunktivhilfsverb (Ich würde gerne vorbeikommen). In Kap. 6.4 wird diese Polygrammatikalisierung behandelt. Definitartikel (der, die, das) Relativpronomen (der, die, das) Subjunktion (dass) Personalpronomen (der, die, das) Demonstrativ Teil II Die wichtigsten Grammatikalisierungsprozesse im Deutschen 4 Negationswandel Nicht nur das Deutsche, sondern alle Sprachen der Welt kennen die Möglichkeit, den Satzinhalt (die sog. Proposition) zu negieren, also zu verneinen. Wir können mit einem Satz wie Ich habe den Film nicht gesehen auf eine Frage Hast du den Film gesehen? reagieren oder einer Annahme (Präsupposition), die nicht zutrifft, widersprechen: z.B. Das ist diese Schauspielerin. Du weißt schon, sie hat die Hauptrolle im ersten Teil der Trilogie von Kie lowski gespielt. Die Antwort darauf wäre Keine Ahnung, ich habe den Film nicht gesehen. Die (Satz-)Negation ist eine universale Kategorie, d.h. sie kommt in allen Sprachen vor, doch die Form, die Anzahl und die Position der Negationswörter variieren einzelsprachlich, da diese in Grammatikalisierungen immer wieder erneuert werden (D AHL 1979, 1993). In der überlieferten Sprachgeschichte des Deutschen lässt sich die Entstehung neuer Negationsausdrücke sehr gut dokumentieren. Bei dieser Renovation (Erneuerung) veränderte sich nicht nur die Position und die Form der negierenden Wörter, sondern es vergrößerte sich auch ihre Anzahl. Während das Althochdeutsche nur einen Negator ni kannte, verfügt das Neuhochdeutsche neben einem neuen verbalen Negator nicht wie in Sie schläft nicht (s. Kap. 4.1 und 4.2) auch über nominale Negationswörter, darunter niemand und nichts wie in Sie hat nichts gesagt (s. Kap. 4.3). 4.1 Der Jespersen-Zyklus Betrachten wir zuerst die Verbalnegation. Die heutige Partikel nicht (ich habe nicht gelacht, ich lache nicht usw.) hat die althochdeutsche Negationskennzeichnung ni vollständig abgelöst: 17) ahd. si ni mohta inberan sin (O I, 8, 3) nhd. 'sie konnte ihn nicht entbehren' Damit hat die Negation im Deutschen einen vollständigen Zyklus der formalen Erneuerung durchlaufen, den man als Jespersen-Zyklus bezeichnet (J ESPERSEN 1917). Die ursprüngliche Negationskennzeichnung wurde (funktional wie formal) abgeschwächt und letztendlich durch ein neues, selbstständiges Negationswort (NegWort in Abb. 17) ersetzt: Negationswandel 44 Abb. 17: Der Jespersen-Zyklus - Erneuerung der Negationskennzeichnung Im Deutschen markieren die Phasen des Jespersen-Zyklus die einzelnen Sprachstufen: Im Althochdeutschen trat die präverbale Partikel ni in negierten Sätzen obligatorisch auf und war (meist) das einzige negierende Element des Satzes (Genaueres s. Kap. 4.2). Sie wurde reduziert (zu ne) und verschmolz dabei zunehmend mit dem folgenden finiten Verb. So schreibt Notker (10./ 11. Jh.) ne und das folgende Verb sehr häufig in einem Wort, z.B. nefindest 'du findest nicht'. Gleichzeitig entwickelte sich ein neuer Negationsausdruck ahd. ni(o)wiht (> mhd. niht) aus der Univerbierung von ni (eo) wiht 'nicht (irgend-)ein Ding', der ursprünglich zur Verstärkung ('überhaupt nicht') eingesetzt wurde (vgl. heute auch nicht im Geringsten/ nicht ein bisschen/ nicht die Bohne s.u.). Während die präfinite (d.h. vor dem finiten Verb stehende) Partikel ni bereits bei Notker (10./ 11. Jh.; Spätahd.) eine weitere Schwächungsstufe (ne) erreicht hatte, gewann ni(wi)ht an Frequenz. Im Mittelhochdeutschen wurde niht zum obligatorischen Bestandteil des Negationsausdrucks, hier noch in Kombination mit dem unbetonten (klitischen) präverbalen Negationswort, dessen Form je nach Kontext stark variierte (en-, -ne, -n). Im Frühneuhochdeutschen wurde en-/ -ne/ -n nurmehr fakultativ eingesetzt, um an der Schwelle zum Neuhochdeutschen (16./ 17. Jh.) ganz zu verschwinden. Das postverbale nicht wurde dadurch endgültig zum alleinigen Negationsmarker. 18) Phasen des Jespersen-Zyklus: Phase I ni + finites Verb Ahd. Phase II ni/ ne + finites Verb + (ni(o)wiht) Ahd. Phase III en/ ne + finites Verb + niht Mhd. Phase IV (en/ ne) + finites Verb + nicht Frnhd. Phase V finites Verb + nicht Nhd. Zu Beginn dieses Zyklus, im Althochdeutschen, bestand ein sog. mononegatives System, in dem die aus dem Germanischen ererbte Negationspartikel ni allein den Satz negierte wie in ni scribu ih 'ich schreibe nicht' (Genaueres dazu s. Kap. 4.2 und 4.3). Durch die Obligatorisierung eines emphatischen Negationswortes etablierte sich im Mittelhochdeutschen die Mehrfachnegation (Polynegation) wie in mhd. ich ensage iu niht 'ich sage euch nicht', die zum (Früh-)Neuhochdeutschen freies NegWort klitisches NegWort Klitisierung/ Schwächung Entstehung eines neuen freien NegWortes ahd. ni (eo) wiht 'nicht (irgend-)ein Ding' > ni(o)wiht > mhd. niht Kombination: klitisches + freies NegWort Schwund des klitisierten NegWortes ahd. nii mhd. ne ... nihti spätahd. ni/ nei frnhd. (ne) ... nichti nhd. nichti Grammatikalisierung von als Negationsträger 45 hin erneut durch die Einfachnegation wie in Ich schreibe nicht abgelöst wurde (zum Jespersen-Zyklus und den Negationsformen s. Z EIJLSTRA 2002). Ein vergleichbarer Zyklus ist in vielen Sprachen belegt (L ENZ 1996), u.a. im Französischen ne > ne pas > (ne) ... pas (s. E CKARDT 2003, zum Englischen s. J ESPER- SEN 1917, zum Niederländischen s. Z EIJLSTRA 2002). 4.2 Grammatikalisierung von nicht als Negationsträger Das Aufgehen der lexikalischen Einheit ahd. wiht (ursprünglich 'Ding, Sache', später 'etwas') 1 im negierenden Funktionswort (nhd. nicht) ist ein interessanter Grammatikalisierungsfall, bei dem der frühen Phase der Expressivität die spätere Phase der Routinisierung folgte (D ETGES / W ALTEREIT 2002). Zunächst wurde das freie Lexem ahd. wiht 'Ding, Sache' bzw. eine negierende Phrase, die dieses Lexem enthielt, zu einem emphatischen (markierten) Negationsmarker funktionalisiert (s. Kap. 4.2.1). Im zweiten Schritt wurde die Emphase abgebaut, so dass ein neuer, unmarkierter Negationsmarker entstand (s. Kap. 4.2.2). 4.2.1 Vom freien Wort wiht 'Ding' zum negationsverstärkenden Funktionswort 'überhaupt nicht(s)' Zunächst wurde das ahd. Wort wiht 'Sache, Ding' bekräftigend verwendet. Wie im folgenden Satz konnte wiht dank seiner relativ unspezifischen Bedeutung für viele Objekte stellvertretend stehen, wodurch die Negation allumfassend wirkte. Satz 19) stammt aus dem Kontext, dass Jesus seine Jünger schickt, um den Menschen zu helfen. Dabei verlangt er von ihnen, dass sie darauf achten, kein einziges Ding mitzunehmen: 19) gibot thaz sie firnamin, ouh wiht mit in ni namin (O III, 14, 89) 'er verlangte, dass sie es vernähmen und nicht ein Ding mit sich nähmen' Sechil noh thia malaha folgt in Zeile 91, 'weder ein Säckel noch eine Tasche' dürfen die Jünger mitnehmen. Mit ahd. wiht wurden also expressive Äußerungen gebildet. Dabei war seine Verwendung auf nicht-affirmative (z.B. Fragen, Vergleiche, Konditional- und andere Nebensätze), meist negative Kontexte (negierte Sätze) eingeschränkt (B RAUNE / R EIFFENSTEIN 15 2004: 253f.). Im Gegensatz zu affirmativen (positiven) Kontexten beschreiben die nicht-affirmativen keine Tatsachen, sondern drücken lediglich, häufig mit Unterstützung des Konjunktivs, einen potenziellen Sachverhalt aus wie in Satz 20) oder negieren den Sachverhalt sogar wie in dem schon besprochenen Satz 19). Wörter, die auf solche Kontexte beschränkt sind, bezeichnet man als negativ-polare Elemente (engl. negative polarity items; s. R OBERTS 2007: 72ff., J ÄGER 2007, B REITBARTH 2009). 1 Seltener, meist in Verbindung mit pejorativen Adjektiven, referiert ahd. wiht auch auf Menschen: ubil-, b siwiht 'Bösewicht, schlechter Mensch'. Negationswandel 46 20) Ódouh thurfi thénken, thaz mégi er wiht giwírken in themo fínstarnisse (O III, 20, 19) 'Oder auch dürfe [einer] daran denken, dass er überhaupt (irgend-)etwas in der Finsternis tun könne' Die Negation ist häufig eine Reaktion auf eine nicht zutreffende Annahme oder gar einen Vorwurf. Daher ist es verständlich, dass sie häufig auf sehr expressive Weise ausgedrückt wird. Dabei entwickeln die Sprecher bestimmte rhetorische Routinen. So wurde auch ahd. wiht zum Bestandteil solcher "vorgefertigten" (idiomatischen) Wendungen, die der Negation Nachdruck verleihen. Routinen sind problemlösende Verfahren, da sie den Kodierungs- und Dekodierungsaufwand minimieren (H OPPER / T RAUGOTT 3 2006: 71-74, D ETGES / W ALTEREIT 2002). In Satz 19) wird die Emphase dadurch erzeugt, dass negiert wird, dass ein (nicht näher identifizierbares) Ding mitgenommen werden darf. Gemeint ist aber 'überhaupt nichts' wie auch in Sie hat nicht ein (oder) kein Wort gesagt = 'Sie hat nicht einmal ein Wort/ überhaupt nichts gesagt'. Ein Wort ist die kleinste Einheit einer Äußerung, die ja normalerweise aus mehreren Wörtern besteht. Die Verneinung der kleinsten Einheit Sie hat kein Wort gesagt wirkt daher emphatischer als Sie hat nichts gesagt. Ähnlich funktioniert die Emphase auch, wenn gesagt wird, dass jemand nicht ein Ding, einen unspezifischen Vertreter der Gruppe vieler unterschiedlicher Dinge, mitnehmen darf. Das Gesagte (ahd. wiht 'Ding, etwas') und das Gemeinte ('überhaupt nichts') stehen in metonymischer Relation zueinander (ähnlich einer Teil-Ganzes-Relation). Jemand, der nicht einmal ein Ding mit sich nimmt, nimmt überhaupt nichts mit sich. Das Gemeinte erschließt die Hörerin durch eine konversationelle Implikatur: Gesagt: 'Nimm nicht ein Ding mit Dir.' Gemeint: +> 'Nimm überhaupt nichts mit Dir.' (konversationell implikatiert) Diese konversationelle Implikatur führte zur Desemantisierung und zur Reanalyse des negationsverstärkenden wiht als Marker einer emphatischen Negation (überhaupt nichts). Diese Routinisierung ist dafür verantwortlich, dass sich im Althochdeutschen kaum Belege finden, in denen wiht mit Attributen kombiniert wird (d.h. wiht wird graduell dekategorialisiert). Dabei wurde der Übergang in die neue funktionale Domäne der emphatischen Negation, durch die der eigentliche Negator unterstützt wurde, erst durch die konversationelle Implikatur möglich (s. D ETGES / W ALTEREIT 2002: 181). Tab. 4: Reanalyse von ahd. wiht als emphatischem Negator Verstärkung der Negation (durch das Negieren des unspezifischen Vertreters einer Gruppe) ahd. wiht mit in ni namin ein (unspezifisches) Ding mit sich nicht nähmen 'dass sie mit sich nicht ein (unspezifisches) Ding nähmen' Emphatische Negation 'überhaupt etwas' überhaupt etwas mit sich nicht nähmen 'dass sie überhaupt nichts mit sich nähmen' Im 9. Jh. steht wiht bei Otfrid entweder allein oder in Verbindung mit dem Adverb io 'je' (iowiht), in der Tatianübersetzung dagegen sehr häufig mit der vorangehenden Negationspartikel ni (s. Satz 21)). Otfrid verwendet in Sätzen mit wiht Grammatikalisierung von als Negationsträger 47 relativ konsequent die Einfachnegation, während in der ebenfalls aus dem 9. Jh. stammenden Tatianübersetzung die Mehrfachnegation (ni niowiht) generell überwiegt (J ÄGER 2005: 245, D ONHAUSER 1998). Dabei ist die ursprüngliche negationsverstärkende Phrase ni io wiht 'nicht irgendein Ding' durch phonologische Prozesse (Elision ni io wiht > niowiht) zusammengewachsen (univerbiert), was auch graphisch durch Zusammenschreibung wiedergegeben wird. Durch die Univerbierung entstand eine neue Lexikoneinheit niouuiht. Sie bildete die formale Grundlage für das spätere Negationswort nicht: 21) niouuiht ni nemet ír in uuege (T 44, 3) 'nehmt überhaupt nichts mit auf den Weg' Erst nach der Reanalyse als emphatisches Negationswort expandiert wiht (bei Otfrid) bzw. niowiht (im Tatian) auf Äußerungen mit Verben, die keine Konkreta als Objekt haben. Da (nio)wiht immer noch eine Objektposition besetzte, hatte es die Bedeutung des Indefinitums 'nichts', das emphatisch verwendet wurde ('gar/ überhaupt nichts') wie in Satz 22). 22) ne frewit wiht hiar unser muat so thin ablazi duat (O III, 1, 30) 'gar nichts erfreut unser Gemüt so, wie dies dein Straferlass tut' 23) want er wíht zin ni spráh (O I, 4, 80) 'weil er zu ihnen nichts (kein Wort) sprach' 24) Ther heilant ni antuurtita niouuiht (T 198, 4) 'Der Heiland antwortete gar nicht(s)' In 23) ist wiht nur noch ein Pseudo-Objekt, da es keinen Gegenstand (kein 'Ding') mehr bezeichnet. In ambigen Kontexten wie in 24) konnte niowiht entweder als Pseudo-Objekt ('gar nichts') oder als bloße Emphase ('gar nicht') interpretiert werden. So konnte wiht im nächsten Schritt in Verbindung mit intransitiven, d.h. genuin objektlosen Verben wie helfan 'helfen' in 25) oder reflexiv gebrauchten Verben wie forhtan 'sich fürchten' in 26) auftreten, also expandieren. Diese Verbindungen waren im 9. Jh. noch selten und sind nur bei Otfrid zu finden. 25) Ni mag thar mánahoubit helfan héreren wiht (O V, 19, 47) 'Da kann der Leibeigene dem Herrn nicht (im Geringsten) helfen' 26) wiht ni fórahtet ir iu (O III, 8, 29) 'fürchtet Euch nicht (im Geringsten)' Für die emphatische Negation verwendet Otfrid nicht nur wiht, das wie franz. rien (< lat. rem, Akk.Sg. von res 'Sache, Ding') der Gruppe der sog. Generalisierer angehört, da es nur ganz allgemeine Eigenschaften bezeichnet. Sehr häufig wird auch drof ('Tropfen') zur Emphase eingesetzt: 27) Drof ni zuívolot ir thés (O III, 23, 37) 'zweifelt daran nicht im Geringsten' Negationswandel 48 28) ih ni térru thir drof (O I, 4, 27) 'ich schade dir nicht im Geringsten' drof vertritt den zweiten Spenderbereich für Negationswörter: Das sind die sog. Minimierer, also Wörter für winzige Gegenstände (im Franz. pas von 'Schritt' als kleinster Fortbewegungseinheit; s. E CKARDT 2003). Im Mittelhochdeutschen wurden noch andere Wendungen zur Verstärkung der Negation verwendet, darunter niht ein blat, niht ein strô, niht ein bast, niht ein hâr, niht eine bône (L ENZ 1996). Im Deutschen hat sich jedoch nur der Generalisierer niowiht weiter zum Negationsmarker entwickelt, während nicht die Bohne nach wie vor als Negationsverstärker verwendet wird. 4.2.2 Vom emphatischen zum unmarkierten Negationsmarker In größerem Umfang finden sich Belege für nieht (< niowiht) erst bei Notker (10./ 11. Jh.), während es bei Williram (2. Hälfte des 11. Jhs.) schon in fast allen negierten Sätzen vorkommt. Eine Ausnahme bildet bei Williram u.a. noch das Modalverb mögen, das häufig nur mit proklitischem nenegiert wird, z.B. minen eigenen wingarton nemoht ih behuotan 'meinen eigenen Weingarten konnte ich nicht bewachen' (W 12,2) (B EHAGHEL 1924: 70f.). Der Frequenzanstieg von ni(e)ht ist darauf zurückzuführen, dass das ursprünglich emphatische Negationswort (noch bei Notker, s. 29) seine pragmatische Kraft allmählich verlor (d.h. routinisiert wurde) und bei Williram für die unmarkierte Negation genutzt wurde. 29) ne-leitest du unsich nieht in chorunga (N Ps. 25 77, 11) 'führe uns nicht (Emph.) in Versuchung' Der Wandel ist auf die inflationäre Verwendung des emphatischen Negationselements wie noch in 29) zurückzuführen, d.h. auf die Wirkung der unsichtbaren Hand (s. Kap. 2.4, vgl. K ELLER 1982, 2 1994). So wurde nieht von den Sprechern zuerst dann verwendet, wenn durch Emphase unerwünschte Situationen negiert wurden oder eine Enttäuschung ausgedrückt wurde. Dann versuchten die Sprecher mit Hilfe des emphatischen nieht die Relevanz des eigenen Redebeitrags zu erhöhen. Doch die "falsche" oder "übertriebene" Verwendung führte mit der Zeit zur Abnutzung des Ausdrucks, so dass nieht schließlich als gewöhnliche, unmarkierte Negationskennzeichnung reanalysiert wurde. Dieses Entwicklungsstadium führte dazu, dass die Negation nicht mehr durch die präfinite Negationspartikel allein ausgedrückt wurde. Vielmehr zeichnet sich die Übergangszeit zum Mittelhochdeutschen hin durch eine neue, diskontinuierliche (oder klammernde/ rahmende) Form der Negation aus: ne-/ en- ... ni(e)ht. 30) nu enloufet ez die lenge niht (G 275) 'Nun geht es auf die Dauer nicht' Mit der Umfunktionalisierung des postverbalen ni(e)ht zum Negationsmarker verlor aber das proklitische en-/ neseine negierende Kraft (ansonsten würden sich beide Negationswörter aufheben wie im Neuhochdeutschen Ich habe nie nichts gekauft = Ich habe immer etwas gekauft). Stattdessen begann das proklitische en-/ ne- Die Entstehung nominaler Negationswörter 49 als negativ-polares Element lediglich einen nicht-affirmativen Kontext zu markieren: Ohne ni(e)ht steht en-/ neim Mittelhochdeutschen noch v.a. in Sätzen mit Modalverben, in Nebensätzen, die als Komplemente von Verben des Bedenkens, Zweifelns usw. fungieren, z.B. des inwere negein zwivel, he ne gewonne die hulde (Ro 3278-9) 'Es gäbe keinen Zweifel daran, dass er die Gnade (nicht) erwirken könne' (B EHAGHEL 1924: 70ff.). In solchen Sätzen erkennt man, dass mhd. ne seine negierende Kraft verloren hat. Dieses Phänomen bezeichnet man als die sog. expletive, d.h. ergänzende Negation, die auch bei nhd. nicht zu beobachten ist, z.B. Überleg Dir, ob Du nicht doch noch kommen könntest (mehr s. B REITBARTH 2009). In negierten Sätzen wie in 30) kündigte das mhd. ne bzw. en hingegen nur das eigentliche Negationswort an, das die Negation zum Ausdruck brachte und gleichzeitig die Negationsklammer schloss (vgl. franz. ne ... pas). Seit dem Mittelhochdeutschen wurde das proklitische en/ ne immer häufiger unterdrückt, so dass niht allein den Satz negierte (s. J ÄGER 2008: 117f.). P ENSEL (1981) zeigt, dass der Übergang von der komplexen (ne ... niht) zur einfachen Negation (nicht) im Oberdeutschen und Ostmitteldeutschen bereits um 1500 fast abgeschlossen war, während zur selben Zeit en im Westmitteldeutschen und v.a. im Niederdeutschen noch gut belegt ist. Um 1700 wurden die Unterschiede im hochdeutschen Sprachgebiet ausgeglichen, die einfache Negation ist seitdem auch im Westmitteldeutschen vorherrschend. Nach A DMONI (1990: 187) sind komplex negierte Sätze in Texten des 17. Jhs. nur noch in ca. 1,8% der Fälle zu finden. Allerdings befinden sie sich dort, "wo am ehesten der Einfluß der gesprochenen Sprache anzunehmen ist". Im 18. Jh. wurde der heutige Zustand erreicht: Seitdem wird der Satz wieder durch nur ein Wort negiert, womit formal ein voller Jespersen-Zyklus durchlaufen ist (von ahd. ni > nhd. nicht). Anders als bspw. im Englischen (z.B. don't) klitisiert nhd. nicht nie mit dem Verb. Dies zeigt, dass im Englischen bereits ein neuer Jespersen-Zyklus begonnen hat (zu einer tiefenstrukturellen Analyse s. A BRAHAM 1999, Z EIJLSTRA 2004, J ÄGER 2005, 2008). 4.3 Die Entstehung nominaler Negationswörter - Grammatikalisierung oder Degrammatikalisierung? Neben dem verbalen Negator nicht entstanden im Deutschen nominale Negationswörter, die im Standarddeutschen die Verwendung von nicht blockieren (Ich habe nichts gesagt, nicht *Ich habe nicht nichts gesagt). Die Bezeichnung nominal bezieht sich darauf, dass diese Negatoren anstelle eines Substantivs (niemand, nichts), eines Adverbs (nie, niemals, nirgends) oder eines Artikels (kein) stehen: 31) Nominale Negationswörter Ich sehe niemand(en). Ich sehe nichts. Sie hat nie angerufen. Sie hat niemals Zeit. Es ist nirgends zu finden. Ich habe kein Fahrrad. Negationswandel 50 Des Weiteren verfügt das Deutsche auch über negierende Konjunktionen wie in Ich werde heute weder schwimmen noch Tennis spielen. Im Standarddeutschen würde ein zusätzliches nicht die Negation in diesen Sätzen aufheben (anders in vielen Dialekten, z.B. bair. Neamd is ned kema 'Niemand ist gekommen'). Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass alle Wörter in 31) dieselbe Funktion wie nicht haben, also selbstständige Negatoren sind. Ihre Entwicklung begann im Althochdeutschen. Zum obligatorischen, präfiniten ni treten schon in althochdeutschen Texten fakultativ mit ni negierte Indefinita (sog. n- Indefinita) hinzu (Genaueres s. D ONHAUSER 1998): 32) nioman (< ni io man) nioman ni forduomta thih? (T 120, 6) 'Dich hat niemand verurteilt? ' 33) nio (< ni io) in guates nio ni wangta (O II, 10, 6) 'ihnen fehlte es nie am Besitz' 34) niowiht (<ni io wiht) inti sie ni quedent imo niowiht (T 104, 7) 'und sie sagen ihm nichts' Die Form des nominalen Negators nichts resultiert aus univerbiertem niowiht plus dem Genitiv des neutralen Pronomens ahd. iz (Gen. es). Im Althochdeutschen waren solche Genitivobjekte in negierten Sätzen keine Seltenheit (D AL 3 1966: 16f.): 35) er wíht es thoh ni wésta (O II, 8, 39) 'er wusste doch nichts' 36) Ih ni háben (...) wiht gómmannes sár (O II, 14, 49) 'Ich habe aber gar keinen Ehemann' Wurde wie in den Beispielen 32)-34) die Form des Indefinitums an den negierten Kontext angepasst, entstand eine doppelte Kennzeichnung der Satznegation: ni + n-Indefinitum, z.B. ni + nioman in Satz 32). Dies bezeichnet man als die sog. Negationskongruenz. Während in der Isidorübersetzung (um 800) und auch noch bei Otfrid (9. Jh.) die Tendenz zur Negationskongruenz schwach ausgeprägt war, war sie in der Tatianübersetzung (9. Jh.) und bei Notker (10./ 11. Jh.) schon systematisch vorhanden (s. J ÄGER 2005: 245). Im Mittelhochdeutschen traten die n-Indefinita häufig mit dem negierenden Proklitikon en auf (s. Satz 37)), doch seltener mit zusätzlichem niht (vgl. Satz 38)). 37) dô enwas aber niemen (Er 3077) 'da war aber niemand' 38) daz nieman von dem liste niht bezzers enwiste (G 3477-8) 'dass niemand diese Fertigkeit besser beherrschte' (Übersetzung K ROHN 9 2001) In Hartmanns Erec kommt niemen 'niemand' 30 Mal in Verbindung mit dem klitischen en vor, das sich meist an das Verb sein oder an ein Modalverb heftet, und 38 Die Entstehung nominaler Negationswörter 51 Mal ohne einen weiteren Negator, aber kein einziges Mal mit dem Negationswort niht. Entscheidend für die Entwicklung der nominalen Negationswörter war also einerseits der völlige Schwund des negierenden Proklitikons en-. Schon im Althochdeutschen finden sich die ersten Belege einer einfachen nominalen Negation (D ONHAUSER 1996). Andererseits wurde die Mehrfachnegation mit dem neuen Negator nicht wie in Satz 38) im Zuge der Normierung unterdrückt. So schreibt G OTTSCHED im Jahre 1748 auf S. 500: Die verdoppelte Verneinung [...] muß itzo in der guten Schreibart ganz abgeschaffet werden [...]. Allein heute zu Tage spricht nur noch der Pöbel so. Artige Leute vermeiden es, und zierliche Scribenten noch mehr [...] Ein gelehrter Gönner [...] meynet, weil das Deutsche in diesem Stücke mit dem Griechischen eine Ähnlichkeit hätte, so sollte man die Verdoppelung nicht abschaffen. Ich würde es auch gewiß nicht thun, wenn es nicht schon von selbst abgekommen wäre. Im Jahre 1782 notiert A DELUNG : "Im Hochdeutschen ist diese Verdoppelung der Verneinung fehlerhaft" (S. 467). Diese Spannung zwischen der sprechsprachlichen Doppelnegation und der Einfachnegation, die sich von der Schriftsprache ausgehend durchsetzt, spiegeln die frnhd. Hexenverhörprotokolle wider (M ACHA et al. 2005). Hier wird die Doppelnegation v.a. in der Aussagewiedergabe verwendet, z.B. Sie haben sich niergents nit aufgehalten (Hexenverhörprotokoll Reichenberg 1653). Trotz der für diese Textsorten charakteristischen Nähe zur Volkssprache überwiegt aber auch hier schon die Einfachnegation (s. auch H AGENTHURN 2005). Dank dieser Entwicklung verfügt das Standarddeutsche nicht über einen, sondern über mehrere selbstständige Negationsträger. Es entstand ein ganzes Wortfeld von Negationsausdrücken unterschiedlicher Wortartzugehörigkeit (negierende Pronomina wie niemand, Negationsartikel kein und Konjunktionen wie weder ... noch; D ONHAUSER 1996). Dabei ist das negative Bedeutungselement in unterschiedliche Lexeme integriert worden: So umfasst die Bedeutung von niemand im Gegensatz zu jemand zusätzlich die negierende Komponente. Nach D ONHAUSER (1996) kann die Entwicklung der nominalen Negatoren wie niemand als Lexikalisierung bezeichnet werden: In diesem und anderen Fällen entsteht das neue Negationswort durch Univerbierung einer Phrase, die aus dem früheren Negator ni und einem Indefinitum besteht (wie ahd. ni io man > nioman > nhd. niemand, dagegen ahd. io man > nhd. jemand). Auf diese Weise entstehen Lexikoneinheiten, in denen die Bedeutung der früheren Phrasenbestandteile vereint/ miteinander kombiniert ist. Sie werden als Ganzes verarbeitet. Zu fragen ist jedoch, ob es sich hier gleichzeitig um eine Degrammatikalisierung handelt. Nach L EHMANN (2002, 2004) ist die Lexikalisierung keine Umkehrung der Grammatikalisierung. Vielmehr geht er davon aus, dass die Lexikalisierung im Sinne der Entwicklung neuer Lexikoneinheiten aus erstarrten Wortverbindungen der Grammatikalisierung vorausgehen kann (s. Kap. 2.5). Mit der Aufgabe der inneren Struktur einer früheren Phrase entstehen unanalysierbare Sprachzeichen wie ahd. ni io wiht > niowiht > spätahd. nieht, die in einem weiteren Schritt grammatikalisiert werden können. Genau diese Entwicklung fand im Negationswandel 52 Deutschen statt. Das ahd. n-Indefinitum niowiht 'nichts', Produkt der Lexikalisierung, wurde anschließend zum puren Satznegator, der nur die Komponente 'negativ' enthält, grammatikalisiert: Sie ist nicht zu Hause = Es ist nicht wahr, dass sie zu Hause ist. Die Bedeutung der übrigen nominalen Negatoren ist hingegen zusammengesetzt, z.B. niemand aus 'negativ' + 'jemand'. Wie nicht fungieren aber auch sie im heutigen Standarddeutsch als selbstständige Satznegatoren: Sie hat niemand(en) gesehen = Es ist nicht wahr, dass sie jemand(en) gesehen hat. (Ähnliches gilt auch für den Negationsartikel kein, z.B. Ich habe kein Auto = Es ist nicht wahr, dass ich ein Auto habe; s.u.) Somit hat sich im Deutschen v.a. der Typ des Negationsausdrucks gewandelt. Das Althochdeutsche negierte mit Hilfe des grammatischen ni. Im Gegensatz dazu verfügt das Neuhochdeutsche über einen grammatischen (verbalen) Satznegator nicht und eine Reihe von semantisch komplexeren Satznegatoren (niemand, nie, niemals, kein usw.). Folglich kann die Entwicklung der letzteren als Lexikalisierung, nicht aber als Degrammatikalisierung bezeichnet werden: Der ursprüngliche Negator ni wurde nicht degrammatikalisiert, stattdessen verschmolz er mit einem anderen Wort (u.a. ioman 'jemand') zu einer neuen negierenden Einheit wie niemand. Der Negationsartikel kein weicht formal von den übrigen nominalen Negatoren ab. Er entwickelte sich nicht aus einer negierten Phrase, sondern aus dem ahd. Indefinitum dehein, das zunächst nur in positiver Bedeutung 'irgendein' verwendet wurde, aber nur in nicht-affirmativen Kontexten, u.a. Konditionalsätzen (s. dazu auch S. 45 in Kap. 4.2.1; J ÄGER 2008: 190ff., B EHAGHEL 1913, 1918). 39) Ob unsih avur ladot heim/ man armer thehein (...) so suillit uns thaz muat sar (O III, 3, 25-26) 'Wenn uns aber irgendein armer Mensch zu sich nach Hause einlädt, so schwillt uns sogleich das Gemüt (so sträubt sich alles in uns dagegen)' Die Funktion von dehein im Althochdeutschen ist vergleichbar mit engl. any, das ebenfalls in nicht-affirmativen, darunter negativen Kontexten vorkommt: If you have any questions, please do not hesitate to ask me (Konditionalsatz), Do you have any questions? (Fragesatz) oder I don't have any questions (Negationssatz) (R OBERTS 2007: 73). Im Mittelhochdeutschen nahm zunächst die Verwendung von dehein in negativen Kontexten wie in 40) deutlich zu (F OBBE 2004, J ÄGER 2008): 40) ezn gereit nie mit schilte dehein rîter als volkommen (Iw 1458-59) 'Niemals ritt irgendein so volkommener Ritter mit seinem Schild daher' Noch in mhd. Zeit (12./ 13. Jh.) wurde dehein in bestimmten Sätzen (v.a. ohne weitere Negatoren) als selbstständiger Negator reinterpretiert: 41) man sol deheiniu wâfen tragen in den sal (NL 1745,2) 'man soll/ darf keine Waffen in den Saal tragen' Dem funktionalen Wandel vom positiven Indefinitum 'irgendein' zum selbstständigen Negationswort 'kein', der erst im Frühhochdeutschen mit dem vollständigen Schwund der positiven Bedeutung abgeschlossen war, folgten schon im Mittelhochdeutschen formale Veränderungen: deh.ein (mit ursprünglicher Die Entstehung nominaler Negationswörter 53 Silbengrenze vor e) > de.hein (Verschiebung der Silbengrenze) > dhein (e-Apokope) > dchein > kein (Assimilation des Artikulationsortes d > k). Bis ins 16. Jh. findet sich kein überdurchschnittlich häufig in Verbindung mit anderen Negatoren wie nicht, nie usw. (D ONHAUSER 1996), z.B. das ich (...) nye kein falsche gedancken gehabt habe (Luther, Sendbr. v. Dolm. 640). Diese Negationsart ist in heutigen Dialekten noch lebendig (z.B. bair. Mia hod neamad koa stikl broud ned gschengt, s. W EIß 1998: 186, D ONHAUSER 1996, P ENKA / S TECHOW 2001). Die Flexion dieses neuen Negationsartikels ist wie bei allen anderen morphologisch gesteuert - im Singular analog zum Indefinitartikel (keine/ eine gute Freundin), im Plural zum Definitartikel (keine/ die guten Freundinnen; zur Struktur der Nominalphrase s. Kap. 5.6). 5 Grammatikalisierungen im nominalen Bereich In diesem Kapitel werden Grammatikalisierungen dargestellt, die zur Entwicklung bzw. zur Erneuerung nominaler Kategorien wie Plural oder Definitheit geführt haben. Kap. 5.1 beschreibt die Entwicklung der heutigen Pluralendungen bei Substantiven. Dies ist ein Fall von Renovation der bereits existierenden Pluralkategorie. In Kap. 5.2-5.4 wird die Entstehung des Definit- und Indefinitartikels verfolgt. Diese Grammatikalisierungen führen zum Aufkommen einer neuen grammatischen Kategorie, der Definitheit. Kap. 5.5 beschäftigt sich mit der Grammatikalisierung von Präpositionen, deren Funktion darin besteht, räumliche, zeitliche und weitere Relationen zwischen nominalen Ausdrücken zu bezeichnen, z.B. Sie schneidet das Brot mit dem Messer. Im letzten Kapitel (5.6) wird die Fixierung der Nominalgruppe besprochen. Dabei handelt es sich um eine Syntaktisierung, d.h. eine Festigung der syntaktischen Position von einzelnen Elementen der Nominalgruppe. So wird bei Adjektiven die Stellung vor dem Substantiv obligatorisiert, z.B. die leckere Suppe, nicht *die Suppe leckere. 5.1 Die Entstehung der Pluralmarker im Deutschen Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Substantive einen Plural bilden, z.B. Feld - Feld-er, Kugel - Kugel-n, Tag - Tag-e. Das Deutsche verfügt heute über insgesamt neun verschiedene Pluralmarker. Man bezeichnet sie als Pluralallomorphe, weil es verschiedene Formen für ein und dieselbe Funktion, und zwar die Pluralisierung, sind: 42) Pluralallomorphe im Deutschen -er Feld - Feld-er - er Buch - Büch-er -e Tag - Tag-e - e Gast - Gäst-e -en Frau - Frau-en -n Kugel - Kugel-n - Ø Apfel - Äpfel-Ø -Ø Kuchen - Kuchen-Ø -s Kino - Kino-s Der Plural wird sehr unterschiedlich markiert: 1) durch das Hinzufügen eines Suffixes, z.B. -er wie in Feld-er (sog. additive Pluralbildung), 2) durch die Kombination des Suffixes mit der Stammumlautung, z.B. -er wie in Buch - Büch-er (die additiv-modulatorische Bildung), 3) nur durch die Stammumlautung, z.B. Apfel - Äpfel (das modulatorische Verfahren) oder 4) es gibt keine materielle Pluralmar- Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 56 kierung (sog. Nullausdruck, formal gekennzeichnet durch Ø), z.B. Kuchen (Sg.) - Kuchen-Ø (Pl.). In diesem Kapitel wird am Beispiel des er-Suffixes (Feld - Feld-er) gezeigt, wie die Pluralendungen entstanden sind. Die zentrale Frage ist, ob es sich dabei um eine Grammatikalisierung handelt (Kap. 5.1.1-5.1.2). Darüber hinaus werden die Grammatikalisierungsgrade der einzelnen Pluralallomorphe bestimmt. Auch soll die Rolle des Umlauts besprochen werden (Kap. 5.1.3). In Kap. 5.1.4 wird die Spezialisierung der schwachen Maskulinflexion auf belebte Substantive wie Löwe oder Präsident als Fall von Degrammatikalisierung analysiert. Schwache Maskulina haben keine eindeutigen Pluralformen, da sie in allen Flexionsformen außer im Nominativ Singular das (e)n-Suffix enthalten, z.B. der Löwe, des Löwe-n, dem Löwe-n usw. oder der Präsident, des Präsident-en usw. 5.1.1 Reanalyse: Die Entstehung des Pluralmarkers -er Pluralmarker können sich aus lexikalischen Wörtern entwickeln, z.B. solchen mit kollektiver Bedeutung. Dies zeigt sich im Chinesischen, wo das Wort men 'Klasse' als Pluralmarker u.a. bei Personalpronomina verwendet wird, vgl. w 'ich' - w men 'wir'. L EHMANN (1995a [1982]) führt auch Zahlwörter und Quantifikatoren (z.B. alle) als Spenderbereiche für Pluralmarker auf. Das Deutsche hat stattdessen eine Art Recycling von bereits bestehendem, funktionslos gewordenem Material, sog. junk ('Abfall'), betrieben (L ASS 1990). Dieses Phänomen kann man mit der Volksetymologie vergleichen. Dabei wird unverständlichen (meist entlehnten) Wörtern sekundär ein Sinn gegeben, z.B. wurde das aus einer indianischen Sprache entlehnte Wort hamáka für ein hängendes Schlafnetz in Hängematte umgewandelt. Im Fall der Pluralendungen nahm ein undurchsichtig (opak) gewordener Teil des Substantivs erneut eine grammatische Funktion ein. Die entscheidende Phase dieser Entwicklung spielte sich im Althochdeutschen ab. In dieser Zeit enthielten die Substantive in einigen Flexionsformen einen solchen funktionslosen Wortteil zwischen der Wurzel und der Flexionsendung. So bestand ahd. lembiro, die Gen.Pl.-Form von lamb 'Lamm', aus drei Teilen: Im Germanischen, der Vorstufe des Deutschen, trat dieses mittlere Element in allen Flexionsformen eines Substantivs (im Singular und im Plural) auf (s. S CHWEIKLE 5 2002, S ONDEREGGER 3 2003). Seine Funktion bestand darin, zusammen mit der Wurzel einen Flexionsstamm zu bilden, an den die Flexionsendungen angehängt wurden; daher die Bezeichnung stammbildendes Suffix. Doch bereits im Germanischen sind die Flexionsendungen geschwächt worden, manchmal erfasste der phonologische Abbau sogar auch das stammbildende Suffix. Auf diese Weise blieb es im frühen Althochdeutschen in allen Pluralforahd. LEMB — IR — O Wurzel Flexionsendung lexikalische Bedeutung funktionsloser Wortteil grammatische Information (Genus, Kasus und Numerus) Die Entstehung der Pluralmarker im Deutschen 57 men erhalten, doch im Singular nur im Genitiv und Dativ (s. Tab. 5, Spalte Frühahd.). Im Nominativ und Akkusativ Singular war schon alles bis auf den Stamm lamb abgebaut. Auch im Plural sind die Formen zum Teil zusammengefallen. So enthielten die Nominativ- und Akkusativ-Formen nur den Stamm und das einstige stammbildende Suffix -ir (lemb-ir), während im Genitiv und Dativ diesem noch eine Flexionsendung folgte (lemb-ir-o). Tab. 5: Das Flexionsparadigma von ahd. lamb 'Lamm' Frühahd. Spätahd. Sg. Nom. lamb lamb Gen. => lemb-ir-es lamb-es Dat. => lemb-ir-e lamb-e Akk. lamb lamb Pl. Nom. lemb-ir lemb-ir Gen. lemb-ir-o lemb-ir-o Dat. lemb-ir-um lemb-ir-um Akk. lemb-ir lemb-ir Noch im Althochdeutschen wurde -ir im Singular vollständig beseitigt (s. Tab. 5, Spalte Spätahd.; die betroffenen Formen sind grau hinterlegt). Doch dieser Wandel war nicht phonologisch bedingt. Vielmehr wirkten hier andere Flexionsklassen, die im Singular schon eine zweigliedrige Struktur (Stamm + Flexionsendung) hatten, als Analogievorlage, z.B. tag-es '(des) Tages' oder auch gast-es '(des) Gastes' (s. Tab. 6). Nach diesem analogischen Prozess (bezeichnet durch =>) wurde nicht nur -ir, sondern auch der Umlaut des Stammvokals (u.a. a > e) auf die Pluralformen beschränkt, ähnlich wie in gast - gesti 'Gast - Gäste'. Tab. 6: Analogische Prozesse zwischen den althochdeutschen Flexionsklassen I II IIIa > IIIb ahd. tag 'Tag' ahd. gast 'Gast' frühahd. lamb spätahd. lamb Sg. N. tag gast lamb lamb G. tag-es gast-es => lemb-ir-es lamb-es D. tag-e gast-e => lemb-ir-e lamb-e A. tag gast lamb lamb Pl. N. tag-a gest-i lemb-ir lemb-ir G. tag-o gest-i-o lemb-ir-o lemb-ir-o D. tag-um gest-i-m lemb-ir-um lemb-ir-um A. tag-a gest-i lemb-ir lemb-ir Das Suffix -ir blieb also im gesamten Plural von lamb erhalten (s. Tab. 6, Spalte IIIb) und wurde infolgedessen als Pluralmarker uminterpretiert (reanalysiert). Dadurch veränderte sich die Struktur des Substantivs: Das der Wurzel lembdirekt folgende Element -ir übernahm die Markierung der Pluralfunktion, während die Endung -o als reiner Kasusmarker reinterpretiert wurde. Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 58 Abb. 18: Die Reanalyse der Nominalstruktur im Althochdeutschen Nach der Reanalyse ist der neue Pluralmarker produktiv geworden, d.h. er ist auf weitere Substantive, z.B. solche ohne Pluralmarkierung, übertragen worden. Dies kann man schon im Althochdeutschen beobachten, wo das Suffix -ir zunächst nur in einer sehr kleinen Gruppe von ca. 10 Neutra auftrat, die in erster Linie Kleintiere bezeichneten, darunter lamb, rind, kalb, huon 'Huhn', ei, farh 'Ferkel', aber auch blat 'Blatt' oder loub 'Laub' (H ENZEN 3 1965, P OITOU 2004, W EGENER 2005). Dieser sog. Hühnerhofklasse schlossen sich schon im Althochdeutschen neue Mitglieder an, die bis dato keine Pluralendung hatten (darunter feld, korn - also Wörter aus dem landwirtschaftlichen Bereich). Diese analogische Ausbreitung von -ir, die in Abb. 19 dargestellt ist, machte die Reanalyse von -ir zum Pluralmarker sichtbar: Abb. 19: Die analogische Ausbreitung des Pluralmarkers -ir im Althochdeutschen Singular Plural ahd. lamb 'Lamm' - lemb-ir 'Lämmer' ahd. feld 'Feld' - feld-Ø feld-ir 'Felder' Im Mittelhochdeutschen nahmen auch Maskulina die er-Pluralendung an, u.a. geist (Geist - Geister), man (Mann - Männer), got (Gott - Götter), walt (Wald - Wälder). Im Frühneuhochdeutschen (14./ 15. Jh.) wurden schon ca. 72 einsilbige Neutra oder Maskulina mit -er pluralisiert. Später traten der Flexionsklasse noch einige mehrsilbige Fremdwörter wie Regiment - Regimenter, Hospital - Hospitäler bei. Doch dann erlosch die Produktivität dieses Suffixes. Heute ist -er zwar nicht mehr produktiv, doch es wird bei ca. 100 Substantiven, die zum Kernwortschatz gehören, verwendet (Männer, Wälder, Felder usw.). 5.1.2 Degrammatikalisierung oder Exaptation? Jetzt bleibt noch die Frage zu klären, ob diese Entwicklung eine Grammatikalisierung ist. Wir haben festgestellt, dass die Pluralendung -er ein Reanalyseprodukt war (s. Abb. 18). Den Ausgangspunkt der Entwicklung bildete hier also nicht ein lexikalisches Morphem (ein freies Wort), sondern ein im Althochdeutschen funktionsloses, gebundenes Element -ir. Interessanterweise war dieses selbst ein Grammatikalisierungsprodukt: Ahd. -ir ging auf ein einstiges Wortbildungssuffix ahd. lemb - ir - o '(der) Lämmer (Gen.Pl.)' Wurzel junk Flexionsendung (Numerus, Kasus) lemb - ir - o Wurzel Flexionsendung Numerus Flexionsendung Kasus Reanalyse Die Entstehung der Pluralmarker im Deutschen 59 (im Indoeuropäischen) zurück, das seinen semantischen Gehalt verloren und die abstraktere (grammatische) Funktion der Stammbildung und der Flexionsklassenmarkierung angenommen hatte, d.h. es markierte das Nomen als zugehörig zu einer bestimmten Flexionsklasse (N ÜBLING 2008). Damit war es also deutlich desemantisiert worden. Ein Hinweis darauf, dass dieses Element früher (im Indoeuropäischen) tatsächlich eine lexikalische Bedeutung hatte, ist die Tatsache, dass die Hühnerhofklasse noch im Althochdeutschen hauptsächlich Bezeichnungen für Kleintiere umfasste. Im Althochdeutschen trat das stammbildende Suffix in die letzte Phase der Grammatikalisierung, indem es in einigen Flexionsformen schon völlig geschwunden war (s. Tab. 5, S. 57). Genau in diesem letzten Grammatikalisierungsstadium, in dem die abstrakte Funktion abgebaut wurde und die Form kurz vor dem Schwund stand, übernahm -ir erneut eine grammatische Funktion. Einen solchen Prozess bezeichnet man als Degrammatikalisierung (s. Kap. 2.5; N ORDE 2002). Nachdem sich die sprachliche Einheit zunächst die "schiefe Ebene" oder den "glitschigen Abhang" (engl. slippery slope, s. H OPPER / T RAUGOTT 1993: 6, D IEWALD 1997) der Grammatikalisierung hinunter bewegt hatte (Wortbildung > Stammbildungssuffix > funktionsloser Ballast > Schwund, s. Abb. 20), schlug sie - entgegen dem Prinzip der Unidirektionalität - wieder den Weg nach oben ein, indem sie zum Pluralmarker aufgewertet wurde: Abb. 20: Die Degrammatikalisierung von -ir Diesen Prozess interpretiert W EGENER (2005) als einen Fall von Exaptation. Der Begriff Exaptation stammt aus der Evolutionsbiologie, wo er für Phänomene wie die Entwicklung der Flugfähigkeit der Vögel steht (L ASS 1990, S IMON 2010). Die Federn dienten ursprünglich nur der Wärmeregulierung. Später wurden sie zum Gleiten in der Luft und schließlich auch zum Fliegen benutzt, wobei die Flugfunktion völlig neu war und mit der ursprünglichen der Wärmeregulierung nichts zu tun hatte. In der Linguistik besteht Exaptation in der Wiedernutzbarmachung (Refunktionalisierung) von lautlichem Material, das (meist) keine klar erkennbare grammatische Funktion mehr hat (s. auch V INCENT 1995, G IACAMOLE R AMAT 1998, N ARROG 2007). Solches funktionsloses Material kann nach L ASS (1990: 81): stammbildendes Suffix (Flexionsklassen- marker) funktionsloses Material (teilweiser Schwund) Pluralmarker (Flexion) Wortbildungssuffix (Derivation) Indoeuropäisch Germanisch Althochdeutsch Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 60 1) vollständig abgebaut werden, 2) in diesem Stadium verharren und als funktionslose Masse überdauern oder 3) eine neuartige Funktion übernehmen. Die dritte Möglichkeit wird als sprachliche Exaptation bezeichnet. Wie bei der biologischen Exaptation stellen die Neuartigkeit der Funktion und ihre Nicht- Ableitbarkeit von der ursprünglichen Bedeutung zwei zentrale Definitionskriterien dar (s. aber T RAUGOTT 2004a). Ist die Entwicklung der Pluralendung -er eine Exaptation? Betrachtet man den Ausgangspunkt, so trifft auf jeden Fall zu, dass sich das Pluralsuffix -er aus funktionslos gewordenem Material entwickelte: Die einstigen stammbildenden Suffixe waren im Althochdeutschen nicht mehr in allen Flexionsformen vorhanden, d.h. ihre Funktion war nicht mehr klar erkennbar. Gegen die Interpretation als Exaptation spricht jedoch die Tatsache, dass -ir keine neuartige Funktion übernahm, denn die grammatische Kategorie Plural existierte schon im Germanischen. Im Althochdeutschen wurde also nur das funktionslose ir-Suffix als eine neue Form für eine alte Funktion bereitgestellt, während sich bei einer Exaptation eine bis dato nicht vorhandene Funktion entwickelt (S IMON 2010). Nach der Aufwertung von -ir zum Pluralmarker folgte (vom Althochbis zum Frühneuhochdeutschen) eine Phase der Produktivität und der Extension auf weitere Substantive, wie dies in der normalen Grammatikalisierung zu beobachten ist (W EGENER 2005). Heute ist die Produktivität jedoch erloschen, so dass gelernt werden muss, dass bestimmte Wörter wie Mann, Wald, Kraut, Blatt oder Lamm den er-Plural bilden. Da es sich meist um häufig verwendete (frequente) Wörter handelt, fällt das nicht schwer (W ERNER 1987a,b). Während die meisten Neutra und Maskulina den Plural (regelmäßig) mit -e bilden, z.B. das Meer - die Meer-e, der Tisch - die Tisch-e, entwickelt das unproduktive Suffix -er schon die ersten Züge einer unregelmäßigen (irregulären) Pluralbildung: Seine grammatische Funktion kann es nur in Verbindung mit wenigen Lexemen entfalten. Damit ist sein Grammatikalisierungsgrad höher als der von produktiven Pluralsuffixen. Doch vor dem völligen Schwund bleibt -er gerade deswegen bewahrt, weil es in hochfrequenten Substantiven konserviert ist. 5.1.3 Fügungsenge Wird der Plural mit dem Suffix -er gebildet, so erfolgt auch obligatorisch die Umlautung des Stammvokals, z.B. Wald - Wälder, Kraut - Kräuter, Buch - Bücher. Der Umlaut beteiligt sich also am Pluralausdruck und erhöht dabei den Verschmelzungsgrad zwischen dem Stamm (Wald) und dem Flexiv - er. Nur bei einem nichtumlautfähigen Vokal (wie i oder e) bleibt die Stammmodulation aus, z.B. Kind - Kinder, Feld - Felder. Hier erfolgt die Pluralbildung ausschließlich additiv: Kind+er. Dies zeigt schon, dass der Grad an Fügungsenge (Verschmelzungsgrad) bei den Pluralallomorphen stark variiert (s. Abb. 21). Er reicht von rein additiven (agglutinierenden) Allomorphen (Kind+er, Tisch+e) bis zum Nullausdruck, der u.a. aus dem vollständigen Abbau der e-Endung resultiert (mhd. die engel+e > die engel > nhd. die Engel): Die Entstehung der Pluralmarker im Deutschen 61 Abb. 21: Pluralmarker im Deutschen und ihr Grad an Fügungsenge Der Fusionsgrad ist bei rein additiven Pluralsuffixen am geringsten, da sie, obwohl gebunden, eine Segmentierung erlauben, z.B. Frau+en, Dame+n, Tisch+e usw. Weiter grammatikalisiert sind additiv-modulatorische Pluralmarker wie in Lämmer und Gäste. Diese entwickelten sich aus additiven, i-haltigen Flexiven, die im Althochdeutschen den Stammumlaut bewirkten: vorahd. *lamb+ir > lemb+ir, vorahd. *gast+i > gest+i. Der umgelautete Vokal, der in seinem Vorkommen auf den Plural beschränkt war (s. Tab. 6, S. 57), beteiligte sich schon im Althochdeutschen an der Aufgabe, Plural zu markieren (R ONNEBERGER -S IBOLD 1990). Er wurde anschließend als Teil des Numerusausdrucks reanalysiert (ahd. gast - gesti > mhd. gast - geste > nhd. Gast - Gäste). Jedoch nur in Verbindung mit der er- Endung ist der Umlaut obligatorisch, d.h. er tritt bei jedem umlautfähigen Stammvokal auf. Eine Stammmodulation ist bei dem e-Suffix nicht zwingend, z.B. Gast - Gäste, aber Tag - Tage. Heute werden ca. 50% aller e-Plurale (v.a. Maskulina) mit Umlaut kombiniert (N EEF 1998, 2000a,b). Dies bedeutet, dass der Verschmelzungsgrad beim -e-Suffix je nach Wort variieren kann: Die Pluralinformation kann wie in Tag-e nur an den Stamm angehängt werden. Die Fügungsenge erhöht sich in Fällen wie Gäste, wo die Pluralinformation im Stamm selbst mitbezeichnet wird, d.h. mit diesem verschmolzen ist. Der reine Umlautplural (Apfel/ Äpfel) weist eine noch höhere Fügungsenge auf, da die Pluralinformation komplett mit dem Stamm verschmolzen (nicht segmentierbar) ist. Diese Pluralmarkierung entwickelte sich seit dem 12. Jh. aus dem additiv-modulatorischen - e-Flexiv wie in Gast - Gäste. Verantwortlich dafür war die immer stärkere Tendenz zur Apokope, d.h. zur Tilgung des auslautenden Vokals. Nach zweisilbigen Stämmen ist die e-Endung regelmäßig geschwunden, z.B. mhd. epfele > epfel 'Äpfel': Abb. 22: Die Entwicklung des reinen Umlautplurals in Apfel - Äpfel Singular Plural ahd. apful - epfil+i mhd. apfel - epfel+e > epfel nhd. Apfel [a] - Äpfel+Ø [ ] Die Pluralinformation hat damit die maximale Fügungsenge erreicht, die beim materiellen Ausdruck grammatischer Informationen möglich ist. Nur im Umlaut, additiver Ausdruck modulatorischer Ausdruck -en (Frau-en) -n (Dame-n) -e (Tisch-e) -er (Kind-er) -s (Kino-s) - e ( G ä ste) - er ( L ä mmer) - Ø (Ä pfel ) additiv-modulatorischer Ausdruck wachsender Grad an Fügungsenge - Ø ( Engel ) Nullausdruck Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 62 d.h. in der Vokalqualität (nicht-palatal vs. palatal) unterscheidet sich die Singularvon der Pluralform: Abb. 23: Die Vokalqualität als alleiniger Ausdruck morphologischer Information Singular Plural nicht-palataler Vokal palataler Vokal Beispiele: [a] Apfel [ ] Äpfel [o: ] Boden [ : ] Böden [a: ] Wagen [ : ] Wägen (neben Wagen) Der reine Umlautplural wurde im Frühneuhochdeutschen verstärkt bei (v.a. maskulinen) Substantiven ohne Pluralkennzeichnung eingesetzt, z.B. mhd. der boden - die boden > nhd. Boden - Böden. Derzeitige Schwankungsfälle wie die Wagen/ Wägen, die Lager/ Läger zeigen, dass er auch heute noch (leicht) produktiv ist. Den höchsten Grammatikalisierungsgrad zeigt der Nullplural, der meist aus dem vollständigen Abbau des umlautlosen e-Plurals nach zweisilbigen Stämmen resultierte, z.B. mhd. die engel+e > die engel 'die Engel'. Alternativ konnte sich der Nullplural auch dann entwickeln, wenn die Flexionsendung mit dem Stamm verschmolz. Das geschah v.a. dann, wenn schwache Maskulina in die starke Flexion, d.h. mit (e)s-Genitiv, übergingen, s. Abb. 24. So veränderte sich die Flexion vom schwachen Substantiv mhd. der kuoche, des kuochen: Zuerst trat im Gen.Sg. die starke s-Endung hinzu (frnhd. der kuche, des kuchens). Danach wurde die oblique Form Kuchen auch in den Nominativ Singular überführt. Auf diese Weise ist die ehemalige n-Endung zu einem Teil des Stammes geworden. Abb. 24: Entstehung des Nullplurals beim Übergang von der schwachen in die starke Maskulinflexion Mhd. Frnhd. Nhd. Sg. der kuoche der kuche der Kuchen des kuoche-n des kuche-ns des Kuchen-s dem kuoche-n dem kuche-n dem Kuchen den kuoche-n den kuche-n den Kuchen Pl. die kuoche-n die kuche-n die Kuchen 5.1.4 Die Entwicklung der schwachen Maskulina - ein Fall von Degrammatikalisierung Schwache Maskulina wie der Bote (des Boten, dem Boten usw.) bilden die einzige Flexionsklasse, in der das stammbildende Suffix nicht zum Pluralmarker reanalysiert wurde. Stattdessen haben sie bis heute die n-haltige Endung in allen Kasus außer dem Nominativ Singular bewahrt. Anders als z.B. bei Feminina (Nase - Nase-n) kommt die n-Endung im Singular und Plural vor. Sie fehlt nur in der Grundform der Bote: Die Entstehung des Definitartikels 63 Abb. 25: Das Flexionsparadigma von Nase (Femininum) und Bote (schwaches Maskulinum) Sg. die Nase der Bote der Nase des Bote-n der Nase dem Bote-n die Nase den Bote-n Pl. die Nase-n die Bote-n Im Mittelhochdeutschen war die schwache Flexion nicht auf Maskulina beschränkt. Bei Feminina wurde die n-haltige Endung jedoch aus dem Singular beseitigt (frnhd. der Nasen (Gen./ Dat. Sg.) > der Nase). Die alte Dativendung ist in festen Ausdrücken wie auf Erden konserviert worden. Heute tragen 97% aller Feminina das (e)n-Pluralsuffix, z.B. Frau-en, Dame-n, Kugel-n (P AVLOV 1995). Das maskuline Flexionsparadigma veränderte sich hingegen nicht. Stattdessen kam es zu einer semantischen Spezialisierung dieser Flexionsklasse, so dass sie heute fast nur noch belebte Substantive enthält (Mensch, Kunde, Pole, Falke usw.; s. K ÖPCKE 1995). Seit dem Frühneuhochdeutschen wandern unbelebte schwache Substantive (u.a. kuoche 'Kuchen', boge 'Bogen', brunne 'Brunnen', tropfe 'Tropfen, garte 'Garten') aus dieser Klasse aus und treten meist den starken Maskulina bei. In vielen Fällen wird der Umlaut sekundär zur Pluralmarkierung eingesetzt, z.B. Garten - Gärten, aber Kuchen - Kuchen, derzeit schwankend Bogen - Bogen/ Bögen. Diese allmähliche Spezialisierung der schwachen Flexion auf belebte Substantive führte auch zur Ausgrenzung der Abstrakta, von denen heute die meisten stark flektieren (der Schaden, der Husten) (K ÖPCKE 2000). Die Flexionsklasse der schwachen Maskulina wird durch diese Spezialisierung auf belebte Konzepte semantisch remotiviert. Statt einer Desemantisierung erfährt die e-Endung wie in Bot-e eine semantische Aufwertung zum (produktiven) Belebtheitszeichen, das auch viele entlehnte Substantive wie Kurde, Matrose usw. übernehmen. Dies berechtigt dazu, diese Entwicklung als einen weiteren Fall von Degrammatikalisierung zu betrachten. 5.2 Die Entstehung des Definitartikels Dieses und das folgende Kapitel beschäftigen sich mit der Entstehung des Definit- und des Indefinitartikels im Deutschen. Somit verfolgen sie die Herausbildung der Definitheit als einer neuen Nominalkategorie, d.h. einer obligatorischen grammatischen Information am Nomen. Die Definitheit war zur ahd. Zeit noch nicht existent. Am ahd. Substantiv wurden nur drei grammatische Informationen mehr oder weniger eindeutig ausgedrückt. Heute sind es mit der Definitheit vier: Numerus: Singular und Plural: tag 'Tag' - taga 'Tage', Kasus: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ und (der im Abbau begriffene) Instrumental, z.B. gast (Nom./ Akk.Sg.), gastes (Gen.Sg.), gaste (Dat.Sg.), gestiu (Inst.Sg.), und Genus: Femininum, Maskulinum und Neutrum. Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 64 Die Information über das Genus (heute am Artikel, z.B. der, die, das, ablesbar) war in ahd. Simplizia, d.h. in nicht zusammengesetzten oder abgeleiteten Wörtern nur indirekt erschließbar: Die Substantive wurden (ähnlich wie im Neuhochdeutschen) je nach Genus unterschiedlich flektiert, z.B. kam die Gen.Sg.-Endung -es nicht bei Feminina vor. Eine entsprechende Information +/ - definit war noch nicht grammatikalisiert. Der Definitartikel hat sich erst während des Althochdeutschen aus dem Demonstrativ ahd. dher 'dieser' entwickelt. Im Isidor, einem frühahd. Text, wurde jedes Substantiv je nach Kontext entweder definit oder auch indefinit interpretiert, z.B. sunu 'Sohn' als 'der Sohn' oder 'ein Sohn' (O UBOUZAR 1997b): 43) dhazs fater endi sunu endi heilac gheist got sii (I 4, 1) 'dass der Vater und der Sohn und der heilige Geist Gott sind' 44) sunu uuirdit uns chigheban (I 5, 1) 'ein Sohn wird uns gegeben' Die Opposition zwischen definiten und indefiniten Ausdrücken ist jedoch grundlegend und universal (H IMMELMANN 2001: 831). Sie entstammt den kommunikativen Bedürfnissen. Durch eine als definit markierte Phrase kann die Sprecherin der Hörerin signalisieren, dass ihr der Referent (hier der Sohn) bekannt ist. Die Hörerin kennt ihn, kann ihn also identifizieren (C HRISTOPHERSEN 1939: 28). Ohne eine entsprechende Markierung der Definitheit wie in 43), muss die Information über den Bekanntheitsgrad aus dem Kontext erschlossen werden. Im angeführten ahd. Satz in 43) hat sunu die definite Lesart, da es auf Jesus, den Sohn Gottes, referiert. Verwendet die Sprecherin wiederum eine als indefinit markierte Phrase (im Neuhochdeutschen ein Sohn), so spezifiziert sie lediglich, um welchen Typ von Referenten es sich handelt. In 44) muss die indefinite Lesart von sunu aus dem Kontext erschlossen werden. Der (in-)definite Artikel ist nur eine Möglichkeit von vielen, +/ - Definitheit zu markieren. Nach K RÁMSKÝ (1972) reichen diese Mittel von a) syntaktisch unabhängigen Wörtern (wie die, der, das und eine, ein im Neuhochdeutschen) über b) die gebundene Formen des Definit- oder Indefinitartikels (wie im Schwedischen språk-et 'die Sprache', im Neuhochdeutschen im/ am/ zum Fenster, s. dazu Kap. 5.4) bis zu c) einem indirekten, syntaktischen Ausdruck, s. dazu Kap. 5.2.1. 5.2.1 Definitheit im Althochdeutschen Das Althochdeutsche gehörte - zumindest in seiner frühen Phase - zu den artikellosen Sprachen der Gruppe c). Diese Sprachen (heute u.a. die meisten Slavinen oder auch das Finnische) kennen mehrere indirekte, syntaktische Methoden des (In-)Definitheitsausdrucks, derer sich auch das Althochdeutsche bediente. Die wichtigsten syntaktischen Mittel des Althochdeutschen werden im Folgenden besprochen: Die Entstehung des Definitartikels 65 1) Die Wortstellung und die Thema-Rhema-Struktur (Thema/ definit vs. Rhema / indefinit ) Im Althochdeutschen stand die Wortstellung ähnlich wie in anderen artikellosen Sprachen im Dienste der Informationsstruktur, d.h. sie war relativ frei (s. R AMAT 1981, H INTERHÖLZL et al. 2005; s. auch Kap. 7.2.1). Eine solche freie, pragmatisch gesteuerte Wortstellung findet sich bspw. in vielen modernen (u.a. slavischen) Sprachen. Hier signalisiert die Position des Subjekts (S) in Relation zum Verb (V) den definiten (SV-Folge) bzw. indefiniten (VS-Folge) Charakter des Referenten. Diese Regularität basiert auf der Thema-Rhema-Struktur der Äußerung. Im Thema (Anfang des Satzes) stehen bekannte, alte, vorerwähnte Informationen. Die SV-Folge markiert dadurch das Subjektsnomen als definit (etwa Die Frau kam rein). Durch Nachstellung (VS-Folge) rückt das Subjekt ins Rhema (Ende des Satzes), wo neue, noch nicht erwähnte Informationen erwartet werden. Dadurch wird die indefinite Interpretation erreicht (etwa Es kam eine Frau rein) (H AUEN- SCHILD 1993). Auch das Althochdeutsche nutzte die Thema-Rhema-Struktur für solche Zwecke. Zumindest mittelbar zeigt sich das bei der Entwicklung des Definitartikels, der nach L EISS (2000) anfänglich nur im Thema erscheint und somit die bereits bekannte Information als solche grammatisch markiert wie thaz skef in 45). Im Rhema bleibt der Artikel anfänglich aus wie skef in 46). Sprachen, die den Definitartikel im Thema einsetzen, um die Definitheit zu verdeutlichen, bezeichnet L EISS als hyperdeterminierend. 45) im Thema: thaz skef in mittemo seuue uuas giuuorphozit mit dhen undon (T 81, 1) 'Das Boot wurde mitten auf der See von den Wellen hin- und hergeworfen' 46) im Rhema: Inti sar gibot her thie iungiron stigan in skef (T 80, 7) 'Und darauf forderte er die Jünger auf, ins Boot zu steigen' Parallel zur Entwicklung des Definitartikels findet ein allmählicher Abbau der freien (pragmatischen) Wortstellung statt (s. Kap. 7.2). 2) Der verbale Aspekt (perfektiv/ definit vs. imperfektiv/ indefinit) Auch der Verbalaspekt wurde im Althochdeutschen verwendet, um definite von indefiniten Äußerungen zu unterscheiden. Im Allgemeinen wird durch den imperfektiven Aspekt der im Verb beschriebene Vorgang hinsichtlich seines zeitlichen Verlaufs nicht näher spezifiziert (etwa Sie hat ein Buch gelesen, als die Nachricht kam). Somit hat das Imperfekt in Aspektsprachen wie dem Polnischen einen ähnlichen Effekt wie der nhd. indefinite Artikel, der lediglich den Typ des Referenten benennt (ein Buch). Welches Buch genau gelesen wurde, ist nicht wichtig. In den Vordergrund rückt hier der reine Vorgang (L EISS 1994, 2000). Beide grammatischen Kategorien - der imperfektive Aspekt oder der indefinite Artikel - dienen demselben kommunikativen Zweck: Sie interpretieren die Situation als eine indefinite, ohne scharfe Grenzen, wohingegen der perfektive Aspekt densel- Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 66 ben Vorgang zeitlich strukturiert, meist durch die Markierung der Endphase. Die Äußerung bekommt die definite Lesart - im Deutschen mit Hilfe des Definitartikels, etwa Sie hat die Blumen gegossen und ging dann in die Stadt. Hier wird der Referent (die Blumen) klar konturiert, die Situation erhält einen definiten Charakter (genaueres zum verbalen und nominalen Aspekt s. R IJKHOFF 1991). Das ahd. Aspektsystem, das auf der Opposition zwischen nichtpräfigierten (imperfektiven) und gi-präfigierten (perfektiven) Verbformen basierte, befand sich bereits in dieser Sprachperiode in Auflösung (E ROMS 1997). So bildete noch der Isidor-Übersetzer (um 800) vom imperfektiven Verb skepfen 'schöpfen, gestalten' ein gi-präfigiertes, perfektives chiscouf 'erschuf', s. 47). Das gi-Präfix verlor jedoch im Laufe des Althochdeutschen an Produktivität, so dass im ähnlichen Satz bei Notker (10./ 11. Jh.) ein unpräfigiertes scuof zu finden ist, s. 48). 47) endi got chiscuof mannan (I 3, 4) 'und Gott erschuf den Menschen' 48) er scuof tie mennisken in erdo sternen in himele (N Bo 3, 135, 3) 'er erschuf die Menschen auf Erden (und) Sterne im Himmel' Wie die Beispiele 47) und 48) zeigen, führte die abnehmende Produktivität des perfektiven gi-Präfixes dazu, dass auch unpräfigierte Verben immer häufiger die perfektive Lesart bekamen. Dadurch konnte die Verbform nicht mehr signalisieren, ob das Objekt definit oder indefinit verwendet wird. Bei Notker übernahm diese Funktion bereits der bestimmte Artikel (tie mennisken 'die Menschen') (s. L EISS 1991, 1994, 2000, A BRAHAM 1997 und P HILIPPI 1997). Das gi-Präfix verlor seine Aspektfunktion. Einige frühere Verbpaare drifteten semantisch auseinander, wobei gi-präfigierte Verben manchmal lexikalisiert wurden, z.B. nhd. denken - gedenken 'an jemanden ehrend erinnern', stehen - gestehen 'zugeben'. In Partizipien hingegen wurde das perfektive gi-Präfix zum festen Bestandteil der Perfektperiphrase grammatikalisiert wie in ich habe gesprochen (s. dazu Kap. 6.3). 3) Der Objektkasus (Akkusativ/ definit vs. Genitiv/ indefinit) Ein weiteres Mittel zum Ausdruck der (In-)Definitheit, das auch im Althochdeutschen Anwendung fand, ist aus den slavischen Sprachen wie Polnisch oder Russisch sowie aus dem Finischen bekannt: Das Althochdeutsche nutzte die Kasusopposition Genitiv vs. Akkusativ bei perfektiven Verben so, dass direkte Satzobjekte im Akkusativ die definite Lesart hervorriefen. Stand das direkte Objekt wiederum im Genitiv, wurde es indefinit interpretiert (L EISS 1991, A BRAHAM 1997). Im folgenden Beispielsatz 49) hat das Verb bekennen zuerst ein Direktobjekt im Akkusativ thie mih bigihit 'der mich (Def.) bekennt'. Der Kasus weist darauf hin, dass es sich um eine bestimmte, identifizierbare Person handelt (hier: Jesus). Dem folgt im Hauptsatz ein Genitivobjekt desselben Verbs thes ih bigihu 'den bekenne ich'. Durch die Genitivform wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht um eine bestimmte Person handelt, sondern um jede(n) unbekannte(n) Vertreter(in) der Gruppe von Menschen, die sich zu Jesus bekennen. Die Entstehung des Definitartikels 67 49) Allero giuuelih thie mih (Akk./ +Def.) bigihit fora mannun, thes (Gen./ -Def.) bigihu ih fora minemo fater thie in himile ist inti fora sinen engilun (T 44, 21) 'Wer mich bekennt vor den Menschen, den will auch ich bekennen vor meinem himmlischen Vater' (Mt 10,32) Der perfektive Verbalaspekt und der Kasus (Akkusativ oder Genitiv) signalisierten in Kombination entweder den definiten oder indefiniten Charakter des Objektreferenten. In vielen Fällen zeigte sogar erst die Kasuswahl den Aspekt eines Verbs (D ONHAUSER 1990). In 50) erzeugt der Genitiv die imperfektive (zeitlich nicht strukturierte) Lesart des Verbs beit n 'warten'. In 51) ist das Warten durch das Akkusativobjekt als abgeschlossen dargestellt. Über das Erscheinen von Zacharias, auf den gewartet wurde, wird im Folgesatz berichtet (Her uzgangenti ... 'Er kam [aus dem Tempel]'). 50) imperfektive Lesart (Genitivobjekt) beitota gotes riches (T 212, 2) 'er wartete (lange) auf das Reich Gottes' 51) perfektive Lesart (Akkusativobjekt) inti uuas thaz folc beitonti Zachariam (T 2, 10) 'und das Volk erwartete Zacharias' Nach dem vollständigen Abbau des alten Aspektsystems übernahm die Genitiv/ Akkusativ-Opposition beim Objekt die Funktion der syntaktischen Definitheitsmarkierung (neben dem Definitartikel). So kam es zu einer wahren "Genitivexplosion", die den Verlust des Verbalaspekts kompensierte: Der Genitiv als Objektkasus markierte im Mittelhochdeutschen die Imperfektivität (A BRAHAM 1997: 57). Im Frühneuhochdeutschen jedoch wurde der Genitiv als Objektkasus bis auf einige (lexikalisierte) Reste abgebaut, heute noch resthaft in sich einer Sache annehmen (Gen.) 'für etwas eintreten' vs. etwas annehmen 'etwas entgegennehmen'. Während der Definitartikel im Spätalthochdeutschen etabliert war und in Akkusativobjekten erschien, stärkte der allmähliche Abbau des Genitivs als Objektkasus v.a. die Funktion des Indefinitartikels (A BRAHAM 1997). 4) Die Position des Genitivattributs (pränominal/ definit vs. postnominal/ indefinit) Im Althochdeutschen wurde der attributive Genitiv sehr häufig verwendet. Die Bezeichnung Genitivattribut bzw. attributiver Genitiv bezieht sich auf die Satzfunktion der Substantive im Genitiv. Wie attributive Adjektive präzisieren sie das Basissubstantiv (z.B. Hilfe) durch Beifügung einer Eigenschaft, z.B. nhd. die Hilfe eines Arztes (Genitivattribut) oder ärztliche Hilfe (attributives Adjektiv). Heute stehen die Genitivattribute meist nach dem Basissubstantiv, d.h. postnominal. Eine Ausnahme bildet die pränominale Stellung der Eigennamen. Wie in Annas Bewerbung gehen diese dem Basissubstantiv voraus (mehr zur Struktur der Nominalphrasen s. Kap. 5.6). Im Althochdeutschen hingegen konnte das Genitivattribut entweder vor oder nach dem Basissubstantiv stehen. Die Stellung war v.a. in der früheren Phase des Althochdeutschen von der Funktion des Genitivs abhängig (O UBOUZAR 1997a): Hatte der Genitiv eine determinierende Funktion, so Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 68 stand er in pränominaler Position. Dabei präzisierte er das Basissubstantiv, das den begrifflichen Kern der Phrase bildete, indem er seinen Referenzbereich einschränkte und abgrenzte, z.B. chuningo hrucca, 'der Rücken des Königs'. Links vom Basissubstantiv standen sog. partitive Genitive. Anders als bei (rechtsstehenden) nichtpartitiven Genitiven bildeten sie den begrifflichen Kern der Phrase, während das Basissubstantiv lediglich die Menge, z.B. ahd. sibun iaro (Gen.Pl.; I 5, 7) 'sieben Jahre' (vgl. nhd. acht/ viele unserer Mitarbeiter) oder das Maß, z.B. kelih caltes uuazares (T 44, 27) 'ein Glas kalten Wassers' (vgl. nhd. ein Glas kalten Wassers) angab. Da eine Mengen- oder Maßangabe wie sieben oder ein Glas nicht wesentlich den Referenzbereich einschränkt, hatten Phrasen mit partitivem Genitiv eine indefinite Lesart, vgl. nhd. ich trinke morgens immer ein Glas kalte Milch/ zwei Gläser Orangensaft/ viel Tee. Die definite Lesart ergab sich bei den nichtpartitiven, pränominalen Genitiven hingegen nicht automatisch. Erst das Weltwissen ermöglichte sie: In Fällen wie himilo richi 'das Reich des Himmels', gotes sunu 'der Sohn Gottes' oder Dauides burg 'Davids Stadt' war für die Identifizierung des Referenten die Kenntnis der religiösen Vorstellungen ausschlaggebend. In anderen Fällen war der Äußerungs- oder Textkontext dafür entscheidend, ob Phrasen wie chuningo hrucca indefinit (als der Rücken eines Königs, ein königlicher Rücken) oder definit (als der Rücken des Königs) interpretiert wurden. Der sich im Althochdeutschen herausbildende Definitartikel trug zur Disambiguierung solcher Phrasen bei. Bereits im Isidor (um 800) konnten nichtpartitive Genitivattribute nachgestellt werden. Um sie von partitiven/ nichtdefiniten Formen abzugrenzen und die definite Lesart hervorzuheben, wurden sie mit dem (noch) Demonstrativ dher versehen. Definite Phrasen enthielten also entweder ein vorangestelltes Genitivattribut ohne dher ahd. in liudeo (Gen.Pl.) zeihne oder ein nachgestelltes Genitivattribut mit dher, ahd. in zeihne dhero liudeo 'zum Zeichen der Völker' (O UBOUZAR 1992). Die ursprüngliche Korrelation zwischen der Funktion und der Position des Genitivattributs wurde also allmählich aufgeweicht, so dass Notker (10./ 11. Jh.) jedes Genitivattribut (außer Eigennamen) mit definiter Lesart unabhängig von der Position mit dem Definitartikel der versehen hat. Doch bis dahin führte ein langer Weg vom Demonstrativ dher 'dieser' zum Definitartikel, der in Kap. 5.2.3 ausführlich besprochen wird. 5) Die Adjektivflexion (schwache Flexion/ definit vs. starke Flexion/ indefinit) Auch das attributiv verwendete Adjektiv konnte bereits im Germanischen zur Unterscheidung zwischen definiten und indefiniten Referenten beitragen. Schwach deklinierte Adjektive, die bis heute in allen Kasus außer Nom.(/ Akk.) Sg. auf n auslauten (der gute, des guten, dem guten, den guten usw.), hatten im Germanischen eine individualisierende (definite) Funktion (B RAUNMÜLLER 2008). Sie waren nur locker mit dem Substantiv verbunden, meist als nachgestellte Appositionen, etwa Katharina, die große. Ähnliche Strukturen finden sich noch u.a. in Königsnamen wie Katharina die Große, Karl der Kahle (H EINRICHS 1954, R AMAT 1981, H AUDRY 2000). Starke Adjektivflexion wie guot( r) (vgl. nhd. ein guter Die Entstehung des Definitartikels 69 Mensch) wurde nur bei indefiniten Referenten verwendet (vgl. die kurze und lange Adjektivflexion im Kroatischen wie in nov šešir 'ein neuer Hut' vs. novi šešir 'der neue Hut'). Die definite Referenz wurde noch im Althochdeutschen durch die schwache Adjektivflexion markiert, später im Verbund mit dem neu entstandenen Definitartikel, z.B. der iungero (schwach) sun 'der jüngere Sohn' (N Ps. 52 184, 10). Daraus resultierte eine semantisch gesteuerte Relation zwischen dem Definitartikel und dem (definiten) schwach flektierten Adjektiv, die erst im Frühneuhochdeutschen aufgegeben wurde (s. D EMSKE 2001). Auch andere Determinierer wie die Possessiva, die ebenfalls die definite Lesart hervorrufen, verbanden sich zunächst mit dem schwachen Adjektiv, z.B. min liobo sun (T 14, 5), heute aber mit dem starken Adjektiv mein lieber Sohn. Der Wandel von der semantisch zur morphologisch gesteuerten Relation zwischen dem Determinierer und dem Adjektiv, die u.a. die Genusmarkierung sichert, entstammt der Tendenz zur Fixierung der Nominalphrase (s. Kap. 5.6). 6) Die Determinierer (Possessiva, Demonstrativa usw.) Last but not least - im Althochdeutschen diente auch eine Reihe von Determinierern dazu, die definite von der indefiniten Referenz abzugrenzen. So tragen auch Possessivpronomina (meine Hand, dein Stift) wesentlich zur Identifikation eines Referenten bei, während Indefinita wie manche, viele oder wenige die indefinite Lesart unterstützen. Einer der Determinierer, das Demonstrativ dieser, leistet auf der pragmatischen Ebene eine eindeutige Identifikationshilfe. Er verweist auf den sich in der Äußerungssituation befindlichen Referenten, z.B. Gib mir bitte diesen Hammer! Im Althochdeutschen nahm die Frequenz des Demonstrativs ther 'dieser' (mit späteren Varianten dher und der) allmählich zu, auch auf Kosten der Possessiva, deren Häufigkeit stark zurückging (O UBOUZAR 1997b: 164). So wurden bspw. Possessiva bei Körperteilen schon bei Otfrid durch das artikelähnliche ther ersetzt: thiu ougun 'die Augen' (im Tatian) - siniu ougun 'seine Augen' (bei Otfrid), z.B. thiu ougun sie imo buntun (O IV, 19, 73) 'sie banden ihm die Augen zu'. Hier wird ther nicht mehr demonstrativ verwendet, etwa 'diese Augen'. Vielmehr zeigt es, dass es sich um identifizierbare Augen (die Augen einer bestimmten, in dieser Szene gequälten Person) handelt. In Kap. 5.2.2-5.2.4 wird die Grammatikalisierung vom Demonstrativ zum Definitartikel beschrieben. 5.2.2 Der Definitheitszyklus Was bereits mehrmals angeklungen ist, soll im nächsten Kapitel (5.2.3) genauer besprochen werden: Im zunächst artikellosen Althochdeutschen - mit einer Fülle von syntaktischen Strategien zur Abgrenzung definiter von indefiniten Referenten - entwickelte sich aus dem deiktischen (verweisenden) Element, dem distalen, d.h. auf Ferneres verweisenden Demonstrativ ther 'dieser', ein Definitartikel. Wir haben es hier mit der sog. sekundären Grammatikalisierung zu tun: Am Anfang der Grammatikalisierung stand nicht ein lexikalisches Wort, sondern eine grammatische Form - das deiktische Element ther. Es handelt sich also um den Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 70 Wandel von einer weniger grammatischen zu einer grammatischeren Einheit - dem Definitartikel (G IVÓN 1991, T RAUGOTT 2004a). Zudem wurde die Form des Demonstrativs bereits im Althochdeutschen erneuert: Das Demonstrativ ther verschmolz allmählich mit der deiktischen Partikel ahd. s (< germ. *sa/ si), wobei die interne Flexion zunächst beibehalten wurde, wie in desse mancunnes minna (Musp 103) 'die Liebe zum Menschengeschlecht' (des (Gen.) + indekl. se). Später setzte sich die Endflexion des neuen Demonstrativs durch: des r, desses, desemu usw. (B RAUNE / R EIFFENSTEIN 15 2004: 249f., W ILLMANS 2 1930: 584f., W ERNER 1984: 210). Während sich dieser zum neuen proximalen, auf Näheres verweisenden Demonstrativ entwickelte (jenes ist in der Standardsprache sein distales Pendant), vollzogen westmitteldeutsche Dialekte und die ihnen nahe Umgangssprache eine formale Stärkung des Demonstrativs dér. Hierbei handelt es sich um betontes dér, das in dieser Form bis ins Neuhochdeutsche eine demonstrative Funktion beibehalten hat wie in Mit dér Einstellung kannst du dich hier nicht beliebt machen! (s. Kap. 5.2.3). Diese Form wird in den Dialekten mit einem lokaldeiktischen Element gestärkt, z.B. im Kölschen zu dä he: und dä do: (H IMMELMANN 1997: 53f.). Demonstrativa - die anders als Definitartikel in allen Sprachen vorkommen - tendieren offensichtlich zu einer eindeutigen Form (H IMMELMANN 1997: 1). Analog zum Negationszyklus (Kap. 4.1) kann man hier von einem Definitheitszyklus sprechen: Unterliegt ein Demonstrativ dem funktionalen Wandel zum Definitartikel (ahd. ther 'Dem.' > 'Def.'), so entwickelt sich eine neue Form des Demonstrativs (ahd. des r > nhd. dieser), die wiederum den potenziellen Ausgangspunkt für einen zweiten Zyklus darstellt (G REENBERG 1978, VAN G ELDEREN 2007). Demonstrativa bilden die häufigste Quelle für Definitartikel (H IMMELMANN 2001). Auch im Deutschen ist der Definitartikel über diesen Grammatikalisierungspfad entstanden (L EHMANN 1995a [1982], H IMMELMANN 1997): Abb. 26: Der Grammatikalisierungspfad Demonstrativ > Definitartikel Abb. 26 zeigt, dass sich der demonstrative Determinierer über eine Schwächungsstufe zum Definitartikel entwickelt. Dieser Teil des Grammatikalisierungspfades wird in Kap. 5.2.3 detailliert besprochen. Dem definiten Artikel folgt die Stufe des affigierten Artikels, wie er in skandinavischen Sprachen, bspw. im Schwedischen, realisiert wird: bok 'Buch' - bok-en 'das Buch'. Auch im Deutschen sind gebundene, klitische Artikelformen vorhanden, z.B. im/ am/ zum Fenster. Manche dieser Präposition-Artikel-Verschmelzungen (in dem > im) sind heute obligatorisch. Die Vollform wie in dem Fenster ruft die demonstrative Lesart hervor. Andere sind wiederum fakultativ und werden nicht verschriftet, z.B. wird <mit dem> in der gesprochenen Sprache meist zu [m m] Fahrrad zusammengezogen (klitisiert). Sekundäre, mehrsilbige Präpositionen erlauben dagegen keine Verschmelzungen: gesprochen- und schriftsprachlich gegenüber dem Theater. Der Verschmelzungsgrad zwischen Präposition und Artidemonstrativer Determinierer schwacher demonstrativer definiter Determinierer definiter Artikel affigierter Artikel nominaler Marker Die Entstehung des Definitartikels 71 kel variiert sehr stark. Während also das Schwedische über einen affigierten Artikel verfügt, befindet sich das Deutsche in einer "Grammatikalisierungsbaustelle". Dieses Thema behandelt Kap. 5.4. Dort wird u.a. erörtert, inwieweit sich in dieser Stufe auch ein semantischer Wandel (Abbau von Definitheit) abzeichnet. Die Endstation dieses Grammatikalisierungspfades ist ein gebundenes Morphem, das lediglich das Nomen als solches markiert bzw. als Nominalisator dient, also zur Ableitung von Nomen aus anderen Wortarten, z.B. laufen das Laufen. Wurde schon am Demonstrativ das Genus unterschieden, so kann es im letzten Stadium zum Genusmarker werden (G REENBERG 1978, E ROMS 1989b). 5.2.3 Von der pragmatischen zur semantischen Definitheit Während der Grammatikalisierung zum Definitartikel wird eine zentrale, pragmatische Fähigkeit des ursprünglichen Demonstrativs abgebaut: Um auf etwas eindeutig zu referieren, "braucht" das Demonstrativ noch den situativen Kontext, z.B. eine auf dem Hof spazierende Katze. Erst der Verweis auf ein unmittelbares außersprachliches Objekt macht es definit, z.B. Diese Katze gehört unserer Nachbarin. Diese pragmatische Definitheit baut auf folgenden (v.a. den beiden ersten) Bedeutungskomponenten des Demonstrativs (H IMMELMANN 1997: 25f.) auf: 1) der demonstrativen Komponente (Definitheit und Zeigegeste): das Demonstrativum verweist auf ein identifizierbares Objekt in der unmittelbaren Äußerungssituation und leistet so eine eindeutige Referenz, 2) der deiktischen Komponente (Distanz, Sichtbarkeit): Meist geben Demonstrativa Auskunft über die Entfernung und die Sichtbarkeit des Referenten, auf den sie verweisen: dieser weist auf einen nahen, sichtbaren Gegenstand, während jener auf entferntere Referenten Bezug nimmt: dieses vs. jenes Buch, und 3) der kategorialen Komponente (Determinierer oder Nominalphrase), die besagt, dass Demonstrativa auch attributiv (adnominal) verwendet werden. Dabei determinieren sie das Nomen, z.B. dieses Buch. Als Demonstrativpronomen bilden sie selbst eine Nominalphrase, z.B. Hast du schon díeses gelesen? Aufgrund seiner Semantik kann ein Demonstrativ nur in sog. pragmatischen Kontexten erfolgreich gebraucht werden. Als eine sprachliche Zeigegeste ist es immer situationsabhängig. Dadurch kann es nur auf einen Referenten, ein außersprachliches Objekt, verweisen, wenn dieser unmittelbar vorhanden ist, z.B. Reichst du mir bitte diesen Hammer? Wäre kein Hammer in der Nähe, würde der Referenzversuch scheitern. In der Grammatikalisierung zum Definitartikel verliert das Demonstrativ wichtige Bedeutungsbestandteile. Diese sind in Abb. 27 durch Fettdruck hervorgehoben: Abb. 27: Die semantische Ausbleichung vom Demonstrativ zum Definitartikel Demonstrativ Definitartikel Definitheit + Zeigegeste Definitheit Distanz + Sichtbarkeit Determinierer > Determinierer Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 72 Im Vergleich zum Demonstrativ ist die semantische Leistung des Definitartikels stark reduziert und viel abstrakter. Er determiniert den Referenten völlig unabhängig von der jeweiligen Situation als bekannt und dadurch identifizierbar, d.h. definit. Mit dem Definitartikel kann die Sprecherin signalisieren, dass es sich um etwas handelt, das die Hörerin bereits kennt, z.B. Ich habe heute das Auto gekauft. Das Auto muss nicht zwingend zur unmittelbaren Äußerungssituation gehören, d.h. sowohl die Zeigegeste (Teil der demonstrativen Komponente) als auch die deiktische Einschätzung der Entfernung des Referenten von den kommunizierenden Personen sind im Zuge der Grammatikalisierung abgebaut worden. Bei der Entwicklung des Definitartikels kommt es also zur Ausweitung auf sog. semantische (situationsunabhängige) Gebrauchskontexte. Dabei wird die pragmatische Leistung des Demonstrativs stufenweise reduziert. Zunächst wird es nur pragmatisch gebraucht, wie in 1) bis 3). 1) Nur im sog. situativen Gebrauch verweist das vollwertige Demonstrativ direkt auf ein außersprachliches Objekt. Der Verweis geht vom Sprecher aus, der als deiktisches Zentrum klar erkennbar ist: Diese Katze gehört unserer Nachbarin. Das Demonstrativ führt so einen Referenten in den Diskurs ein. 2) Die erste Schwächung der demonstrativen und der deiktischen Komponente vollzieht sich im sog. anaphorischen Gebrauch. Das anaphorische Demonstrativ verweist innerhalb eines Textes auf einen vorerwähnten Referenten: Auf dem Hof spazierte gestern eine Katze. Mit dieser Katze haben deine Kinder gespielt. Mit Hilfe der textuellen Deixis wird ein vorerwähnter Referent aktiviert. 3) Ist im anaphorischen Gebrauch noch ein vorerwähnter Referent ermittelbar, ist er im sog. anamnestischen Gebrauchskontext dem Sprecher und Hörer nur aus einem früheren Gespräch bekannt: Haben sie sich vorige Woche über eine faszinierende Hauptstadt der präinkaischen Kultur im nördlichen Peru unterhalten und sich vorgenommen, Weiteres über sie zu erfahren, so kann im aktuellen Gespräch eine Frage gestellt werden: Hast du was Neues über diese Stadt erfahren? Eine dritte Person, die am früheren Gespräch nicht teilgenommen hat, kann den Verweis weder durch den Bezug auf die Äußerungssituation noch auf den Vortext entschlüsseln. Der Referent gehört zum geteilten Wissen der "eingeweihten" Gesprächspartner. Nur sie können sich daran erinnern (vgl. griech. anámn sis 'Erinnerung') und den Referenten reaktivieren. Anamnestisch kann nur ein Demonstrativ gebraucht werden, das die ursprüngliche Situationsgebundenheit weitgehend abgelegt und sich dadurch stark verselbstständigt hat. Je mehr die Bekanntheit des Referenten vorausgesetzt werden darf, desto unwichtiger ist die Rolle der Äußerungssituation. Dies ermöglicht den Übergang vom anamnestischen Demonstrativum zum Definitartikel, der in semantischen Kontexten gebraucht werden kann: 4) Im sog. abstrakt-situativen Gebrauch (des Definitartikels) gehört der Referent zum Wissen von vielen oder sogar allen Menschen. In der Äußerung Ich habe kein Brot gekauft. Die Bäckerei war schon zu signalisiert der Definitartikel, dass es sich um eine bestimmte Bäckerei handelt. Sie ist der Sprecherin und der Hörerin bekannt, denn dort kaufen sie gewöhnlich ein. Es kann sogar die einzige Die Entstehung des Definitartikels 73 Bäckerei im Ort sein. Damit hat sie für die Bewohner den Status eines Unikums, sie ist allen im Ort bekannt. Der Bekanntheitsradius vergrößert sich sogar noch bei Unika wie die Sonne oder der Mond. 5) Letztendlich kann der Definitarikel auch assoziativ-anaphorisch gebraucht werden. Basierend auf dem Weltwissen können Referenten als bekannt/ identifizierbar vorausgesetzt werden, wenn sie in einem Assoziationsverhältnis zu einem anderen, zuvor erwähnten Referenten stehen wie in Vor dem Haus stand ein Fahrrad. Der Lenker war verdreht. Dazu muss man nur wissen, dass jedes Fahrrad im Normalfall einen Lenker hat. Im nächsten Kapitel wird gezeigt, dass sich die Grammatikalisierung des Demonstrativs zum Definitartikel auch im Deutschen in der Überwindung der kontextuellen Beschränkungen manifestiert, wodurch das aufkommende (emergierende) Grammem nicht nur die pragmatische, sondern allmählich auch die semantische Definitheit markieren kann (s. Tab. 7). Tab. 7: Die Extension von pragmatischen auf semantische Kontexte bei der Entwicklung vom Demonstrativ zum Definitartikel (nach H IMMELMANN 1997) Gebrauch Funktion Demonstrativ Definitartikel situativ einführend + + anaphorisch + + pragmatische Definitheit anamnestisch aktivierend + + abstrakt-situativ + semantische Definitheit assoziativ-anaphorisch als definit markierend + 5.2.4 Vom Demonstrativ zum Definitartikel im Deutschen Der funktionale Wandel vom Demonstrativ zum Definitartikel vollzog sich in der anfänglich artikellosen althochdeutschen Sprachperiode (s. Kap. 5.2.1). Die folgenden Grammatikalisierungsschritte sind festzustellen: 1) Schwächung der pragmatischen Definitheit (Isidor, 8./ 9. Jh.) Im Isidor, dem ältesten größeren Schriftdenkmal (entstanden um 800) wird dher (plus weitere Flexionsformen) meist demonstrativ verwendet. Die schwächere, anaphorische Variante kommt nur bei kommunikativ besonders wichtigen Referenten vor (O UBOUZAR 1992). Auf diese Weise lenkt das Demonstrativ die Auf- Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 74 merksamkeit des Lesers auf die zentralen Gestalten des Textes, z.B. auf den Propheten (dher forasago 'dieser Prophet'). Ein ähnlich verwendetes, expressives Demonstrativ dient dem Isidor- Übersetzer dazu, in einer Beschreibung bestimmte Nominalphrasen mit definiter Lesart in den Vordergrund zu rücken. Im folgenden Beispielsatz 52) wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die verborgenen Schätze gelenkt (E PSTEIN 1993, 1994). Andere, ebenfalls definite Phrasen wie die eherne Pforte und die eisernen Riegel bleiben im Hintergrund. 52) erino portun ih firchnussu, iisnine grindila firbrihhu endi dhiu chiborgonon hort ih dhir ghibu, endi ih uuillu, dhazs dhu firstandes heilac chiruni (I 3, 2) '(die) eherne(n) Pforte zerstöre ich, (die) eiserne(n) Riegel durchbreche ich, und di(es)e verborgenen Schätze gebe ich dir, und ich will, dass du (das/ ein) heilige(s) Geheimnis verstehst' In einigen wenigen Fällen verwendet der Isidor-Übersetzer das Demonstrativ bei Personen, die im Vortext nicht erwähnt wurden, z.B. dhiu magad 'diese Frau' (O U- BOUZAR 1992). Hier nutzt er das Vorwissen der "eingeweihten" christlichen Leserschaft und signalisiert mit dhiu, dass es sich hier nicht um eine beliebige Frau handelt. In dhiu magad christan gabar in fleische (I 1, 8) 'diese Frau, die Christus gebar' referiert er auf die heilige Maria. Dies ist ein Fall von anamnestischer Verwendung, die im Allgemeinen als Sprungbrett für die Entwicklung des Definitartikels dient. 2) Von der pragmatischen zur semantischen Definitheit (Tatian, Otfrid; 9. Jh.) Ca. 100 Jahre später machte der Tatian-Übersetzer schon regelmäßig Gebrauch vom anaphorischen Demonstrativ, so dass ein bereits eingeführter Referent (z.B. ein Feigenbaum) im weiteren Text meist mit ther wiederaufgenommen wird. Zu beachten ist, dass die graphische Form des Demonstrativs <ther> im Tatian und bei Otfrid von der in der Isidor-Übersetzung (dort <dher>) abweicht: 53) Inti gisah einan figboum […]. Inti mitthiu sie tho in morgan fuorun, gisahun then figboum thurran uuesan [...] (T 121, 1-2) 'Und er sah einen Feigenbaum (...). Und während sie da am Morgen gingen, sahen sie diesen Feigenbaum, der trocken war' Hinzu kommen im Tatian zwei wichtige Neuerungen (O UBOUZAR 1992): Zum einen werden hier identifizierbare Personen bzw. Personengruppen regelmäßig mit dher determiniert: ther cuning 'der König', ther heilant 'der Heiland', thie jungiron 'die Jünger', thie scribara 'die Schreiber', thie Pharisei 'die Pharisäer'. Da alle menschlichen Referenten gleichermaßen mit ther determiniert wurden, kann man davon ausgehen, dass ther die expressive Kraft verloren hat und seine Verwendung in Bezug auf menschliche Individuen generalisiert wurde - damit war der Weg für die grammatische Funktion von ther als Definitartikel geebnet: Sowohl die deiktische als auch die demonstrative Komponente war in dieser Verwendung schon abgebaut; in ther cuning markiert ther nur, dass das Appellativ (Gattungsbezeichnung) cuning auf einen bestimmten, identifizierbaren König Bezug nimmt. Die Entstehung des Definitartikels 75 Noch nicht vollständig generalisiert war im Tatian die Verwendung von ther in Bezug auf Tiere, Pflanzen und unbelebte Gegenstände. In diesem ahd. Text aus dem frühen 9. Jh. wird die definite Lesart bei Wörtern wie scaf 'Schaf' und stein 'Stein' nicht zwingend durch ther markiert: 54) inti scaf folgent imo, uuanta siu uuizzun sina stemna (T 133, 7) 'und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen' 55) tho namun sie steina thaz sie vvurphin in inan (T 131, 26) 'so nahmen sie die Steine, die sie auf sie warfen' Zum anderen tritt ther im Tatian zum ersten Mal und noch sehr unregelmäßig mit generisch gebrauchten Substantiven auf, d.h. solchen, die sich nicht auf spezifische Referenten, sondern auf eine Gattung beziehen. Vermutlich dient ther hier als expressives Mittel zur Hervorhebung bestimmter Diskurseinheiten: 56) generische Lesart mit ther (noch selten) nio mag ther man iouuiht intphahen, noba imo iz gigeban uuerde fon himile (T 21, 5) 'Der Mensch kann nichts empfangen/ erreichen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben wird' 57) generische Lesart ohne ther (überwiegend) Sambaztag thuruh man gitan ist, nalles man thuruh then sambaztag (T 68, 5) 'Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen und nicht der Mensch um des Sabbat willen' Diese sich im Tatian abzeichnenden Entwicklungen setzten sich bei Otfrid (sp. 9. Jh.) und Notker (10./ 11. Jh.) fort. Zunächst zu Otfrid: Dieser verwendete ther schon sehr regelmäßig bei Pflanzen, Tieren und Gegenständen. Zusätzlich gebrauchte Otfrid ther sporadisch auch schon bei Unika wie thiu sunna 'die Sonne', ther mano 'der Mond', thiu/ thaz worolt 'die Welt'. In Otfrids Werk, der Evangelienharmonie, überwiegen aber noch deutlich die undeterminierten Unika. Dies zeigen die Ergebnisse einer korpuslinguistischen Analyse der Evangelienharmonie, die das folgende quantitative Ungleichgewicht zwischen determinierten und undeterminierten Unika sunna 'Sonne', mano 'Mond', himil 'Himmel' und worolt 'Welt' aufdeckt: Tab. 8: Die Häufigkeit von ther vor Unika in der Evangelienharmonie Unikum undeterminiert determiniert mit ther sunna 'Sonne' 13 5 mano 'Mond' 3 1 himil 'Himmel' 49 6 worolt 'Welt' 118 33 Die untersuchten Unika hat Otfrid meist ohne Determinierer ther verwendet, z.B. sunna irbalg sih thrato (O IV, 33, 1) 'Die Sonne erzürnte sich sehr'. Dies lässt vermuten, dass ther in Verbindung mit Unika bei Otfrid noch eine diskurspragmatische Funktion hatte und dazu diente, das determinierte Unikum in den Vordergrund zu rücken und die Aufmerksamkeit des Lesers darauf zu lenken. Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 76 Mit der allmählichen Ausweitung von ther auf Unika begann eine neue Phase in der Desemantisierung des Demonstrativs, die erst bei Notker abgeschlossen ist: Bis dahin wurde ther (schon als Definitartikel) verwendet, um einen Referenten, auf den mit einem Appellativ Bezug genommen wird, als identifizierbar zu präsentieren. ther bezog sich auf ein bestimmtes, identifizierbares Individuum, z.B. einen König, und grenzte diesen von anderen (auch unbekannten) Königen ab. Ein individualisierendes Element ist jedoch bei Unika wie Sonne oder Mond überflüssig, denn sie kommen per definitionem nur ein Mal vor. In Verbindung mit Unika hat sich ther zum formalen Marker der Definitheit entwickelt: Es liefert keine neue Information, sondern markiert bloß den Ausdruck als definit. Heute werden v.a. in Süddeutschland auch Eigennamen mit dem Definitartikel versehen, z.B. (am Telefon) Ja, hallo, hier ist der Peter. Ähnlich wie Unika referieren Eigennamen auf einzelne Individuen und sind somit inhärent definit. Da der Definitartikel hier keine zusätzliche Information liefert - der Eigenname Peter garantiert bereits die eindeutige Referenz und Identifizierbarkeit -, bezeichnet man ihn als sog. expletiven Artikel (s. L ONGOBARDI 1994, gegen die Annahme des expletiven Artikels bei Eigennamen s. K ARNOWSKI / P AFEL 2005). 3) Etablierung des Definitartikels In Notkers Boethius erscheint der Definitartikel regelmäßig bei Personenbezeichnungen, Tieren und Gegenständen. Zusätzlich gebraucht ihn Notker auch in Verbindung mit Abstrakta, d.h. Bezeichnungen für sinnlich nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmbare Entitäten wie Eigenschaften oder Vorgänge, etwa Glaube, Freude, Wahrheit, Freiheit, Glück usw. (O UBOUZAR 1992). Aus phonologischen Gründen variiert die graphische Form des Definitartikels bei Notker zwischen <ter> und <der> (zu Notkers Anlautgesetz s. B RAUNE / R EIFFENSTEIN 15 2004: 105). 58) nebesturzet niomer mit luginen dia uuarheit (N Bo I, 24, 28) 'verdeckt die Wahrheit niemals mit Lügen' Damit begann bei Notker eine weitere Expansionsphase des Definitartikels, der zuvor nur (sichtbare, anfassbare) Konkreta begleitet hat. Abstrakta, die im Normalfall nicht zählbar und daher auch nicht pluralisierbar sind, wurden mit Hilfe von ter als abgrenzbare Konzepte dargestellt. Bis heute ist die Verwendung des Definitartikels bei Abstrakta nicht obligatorisch, so dass sich durch die Setzung oder Nicht-Setzung des Artikels bestimmte Bedeutungsnuancen ergeben, z.B. Das Glück (das Zusammenspiel günstiger Umstände) hat sie nie verlassen, aber ich kann vor Glück (Gefühl, Zustand des Glücklichseins) nicht sprechen. Der Definitartikel fehlte bei Notker noch sehr häufig in Präpositionalgruppen. Die Setzung des Definitartikels war in dieser Zeit noch von der syntaktischen Funktion der Präpositionalphrase abhängig. Der Definitartikel wurde meist nicht gesetzt, wenn die Präpositionalphrase adverbial verwendet wurde, d.h. eine räumliche, zeitliche oder kausale Relation bezeichnete (O UBOUZAR 1992): - Ortsangabe: in himile 'im Himmel' (du wohnst im Himmel, s. N Ps. 122 488, 7), - Grund (kausal): fone uuinde 'vom Wind', - Zeitangabe: in lenzen 'im Frühling' usw. Die Entstehung des Definitartikels 77 Adverbiale Präpositionalphrasen gehören zu den nicht-referenziellen Ausdrücken. So bezieht sich im Frühling in Die Hochzeit fand im Frühling statt nicht auf einen Referenten, sondern dient lediglich dazu, einen anderen Referenten (die Hochzeit) zeitlich zu lokalisieren. Mit der bei Notker initialisierten Ausweitung auf solche nicht-referenziellen Ausdrücke absolvierte der Definitartikel, der bis dato immer den Bezug zu einem bestimmten Referenten herstellte, eine weitere Desemantisierungsstufe. Seitdem ist er auch nicht-referenziell verwendbar. Der nicht-referenzielle Definitartikel setzte sich bei Notker auch vor generisch gebrauchten Substantiven durch (eine Entwicklung, die bereits im Tatian initialisiert wurde, s.o.), z.B. ter mennisco ist keskaffen ad imaginem (...) dei (N Bo I, 29, 2) 'der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen'. In diesem Satz bezieht sich ter mennisco auf keinen spezifischen, sondern jeden beliebigen Menschen. Bezog sich jedoch das Nomen innerhalb einer Präpositionalphrase auf einen identifizierbaren, im Vordergrund stehenden Referenten (z.B. eine bestimmte Stadt, in der man sich befindet), so setzte schon Notker den Definitartikel ein, z.B. uuanda ih unreht kesah (...) in dero burg (N Ps. 54 187,28) 'weil/ nachdem ich das Unrecht in der Stadt gesehen habe'. Diese diskurspragmatisch gesteuerte Verwendung des Definitartikels in Präpositionalphrasen ist noch im Mittelhochdeutschen erhalten geblieben: Im 12. Jh. verwendete Dietmar von Aist in seinem Gedicht (MF 37,4) eine artikellose Präpositionalphrase wie über heide, weil diese Hintergrundinformationen liefert. Der Artikel kommt hingegen in der Äußerung der trauernden Frau zum Einsatz, die das sorgenfreie Leben des Falken beschreibt. Hier steht der Wald, in dem der Falke so frei leben kann, im Vordergrund. Dies wird mit dem Definitartikel signalisiert: in dem walde. Ez stuont ein vrouwe alleine und warte über heide unde warte ir liebes, sô gesách si valken vliegen. <sô wol dir, valke, daz du bist! du vliugest, swar dir liep ist, du erkíuses dir in dem walde einen bóum, der dir gevalle. alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selbe einen man, den erwélten mîniu ougen. daz nîdent schœne vrouwen (…) Diese expressive Funktion des Definitartikels wurde auf dem Wege ins Neuhochdeutsche allmählich abgebaut. Seine Verwendung ist in Präpositionalphrasen generalisiert worden. Einige lexikalisierte Phrasen wie zu Ende, zu Hause, nach Hause konservieren noch den früheren, artikellosen Gebrauch. Wir fassen zusammen: Bereits im Althochdeutschen ist die Grammatikalisierung des Definitartikels größtenteils vollzogen worden. Einige Desemantisierungsprozesse sind bereits in dieser Sprachperiode weitestgehend abgeschlossen: Hintergrundinformation expressive Verwendung des Definitartikels. Diese Situation wird so in den Vordergrund gerückt. Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 78 So wurde ther vor belebten, später unbelebten und zuletzt abstrakten Begriffen in der Funktion des Definitartikels generalisiert. Darüber hinaus weitete sich ther auf Unika aus, wodurch es die Funktion des bloßen Definitheitsmarkers entwickelte. Heute kann er auch mit Eigennamen kombiniert werden. Neben diesem referenziell gebrauchten Definitartikel begann schon im Althochdeutschen die Entwicklung des nicht-referenziellen Definitartikels, der bei Notker in generischen Ausdrücken und (noch unregelmäßig) in nicht-referenziellen Präpositionalphrasen auftrat. Diese Verwendung wurde erst im Laufe des Mittel- und Frühneuhochdeutschen generalisiert. Abb. 28 fasst die funktionale Entwicklung vom Demonstrativ zum Definitartikel zusammen; der anschließende formale Wandel wird in Kap. 5.4 behandelt. Abb. 28: Der funktionale Wandel vom Demonstrativ zum Definitartikel im Althochdeutschen 5.3 Die Entstehung des Indefinitartikels Noch im Althochdeutschen setzte eine weitere Grammatikalisierung ein, die zur Herausbildung des Indefinitartikels ein/ eine führte. Innerhalb der funktionalen Domäne der Definitheit entstand dadurch eine grammatische Opposition zwischen dem Definitartikel, der einen Referenten als bekannt und identifizierbar markiert (das Buch, s. Kap. 5.2), und dem Indefinitartikel. Dieser signalisiert dem Hörer, dass es sich um einen neuen, ihm unbekannten Referenten handelt (ein Buch) (s. A BBOTT 2004). Aus diesem Grund wird der Indefinitartikel zur Einführung eines neuen Referenten verwendet: Ich war gestern in einer Ausstellung. Da eine bestimmte Ausstellung gemeint ist, handelt es sich um den sog. referenziellen Gebrauch des Indefinitartikels. Zur Wiederaufnahme des Referenten dient der Definitartikel: Die Ausstellung würde dir auch gefallen/ In der Ausstellung habe ich Anna getroffen. Der Indefinitartikel kann im Deutschen auch in generischen Kontexten erscheinen, z.B. Möchtest du heute ein Museum oder eine Ausstellung besuchen? Die Sprecherin hat kein konkretes Museum, keine konkrete Ausstellung im Sinn. D EMONSTRATIV D EFINITARTIKEL anaphorisches Demonstrativ anamnestisches Demonstrativ individualisierender Definitartikel: ahd. ther cuning expletiver Definitartikel (bloßer Definitheitsmarker) in Verbindung mit Unika, z.B. thiu sunna (heute z.T. auch mit Eigennamen) nicht-referenzieller Definitartikel (in generischen Ausdrücken, z.B. ther mennisco ist keskaffen ad imaginem (...) dei 'der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen' und adverbialen Präpositionalphrasen) Expansion von ther auf neue Substantivgruppen: belebt > unbelebt > abstrakt Die Entstehung des Indefinitartikels 79 Vielmehr bezeichnet sie damit eine Klasse von ähnlichen Objekten oder einen Objekttyp. Hier spricht man vom nicht-referenziellen Indefinitartikel. Abb. 29: Grammatische Opposition: definit vs. indefinit 5.3.1 Ein viel begangener Grammatikalisierungspfad: Vom Zahlwort 'eins' zum Indefinitartikel Wie man an der heutigen Form des deutschen Indefinitartikels noch relativ gut erkennen kann, stand das Zahlwort 'eins' am Anfang seiner Entwicklung. Den Grammatikalisierungspfad vom Zahlwort 'eins' zum Indefinitartikel teilt das Deutsche mit anderen germanischen Sprachen (vgl. auch ndl. een boek/ een huis, schwed. en bok/ ett hus, engl. a book/ a house 'ein Buch/ ein Haus'). Bis auf das Isländische, das bis heute keinen Indefinitartikel herausgebildet hat, zeichnet sich der germanische Sprachzweig durch eine gut entwickelte, wenn auch typologisch seltene morphologische Opposition zwischen dem Definit- und Indefinitartikel aus. Die einzelnen germanischen Sprachen unterscheiden sich aber darin, wie weit der formale Wandel fortgeschritten ist: Im Englischen setzte sich der Indefinitartikel formal bereits deutlich von seiner Quelle ab: one book - a book. Doch auch im gesprochenen Deutsch zeichnet sich eine Formerosion ab. So wird der Indefinitartikel häufig klitisiert: auf 'ne Tasse Kaffee, auf'n Gläschen Wein, mit'nem guten Freund (nach Präpositionen), ich hab 'ne Wohnung (nach finitem Verb) usw. Dabei beobachtet V OGEL (2006) eine Tendenz zur silbischen Form des klitischen Indefinitartikels. In Beispielen wie Ich hab' da 'nen kleines Problem statt Ich hab' da 'n kleines Problem wird das nichtsilbische 'n zum silbischen 'nen, wodurch es sich an andere Klitika formal angleicht. Dies könnte langfristig dazu führen, dass das gesamte Paradigma homogener wird: Tab. 9: Formale Homogenisierung im Paradigma des klitischen Indefinitartikels in der gesprochenen Sprache Genus Kasus feminin maskulin neutral Nom. 'ne 'n (gesprochenspr. > 'nen) 'n (gesprochenspr. > 'nen) Gen. 'ner 'nes 'nes Dat. 'ner 'nem 'nem Akk. 'ne 'nen 'n (gesprochenspr. > 'nen) Die funktionale Domäne der Definitheit der Definitartikel Marker für identifizierbare, bekannte Referenten Ich habe heute das Auto gekauft. der Indefinitartikel Marker für spezifische, nichtbekannte Referenten Ich habe heute ein Auto gekauft. oder für Klassen von ähnlichen Objekten/ Objekttypen Ich will ein Auto kaufen. Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 80 Doch zurück zum funktionalen Wandel: Typologisch gesehen ist der Grammatikalisierungspfad vom Zahlwort 'ein' > Indefinitartikel der gewöhnliche Weg (vgl. u.a. die Entwicklung eines Indefinitartikels in den romanischen, ansatzweise auch in den slavischen Sprachen, s. G IVÓN 1981, L EHMANN 1995a [1982], W EISS 2004, H IMMELMANN 2001). Im Zuge der Grammatikalisierung tritt die für das Zahlwort zentrale semantische Komponente der Einzahl in den Hintergrund (Mir reicht wirklich éin Koffer) und wird schließlich ganz abgebaut. Währenddessen verlagert sich der Schwerpunkt auf die (abstraktere) Zugehörigkeit zu einer Klasse von Objekten, etwa Ich habe mir einen Koffer gekauft (spezifisch), Ein Koffer ist besser als ein Rucksack (generisch). Abb. 30: Der Grammatikalisierungspfad: Zahlwort 'eins' > Indefinitartikel 1) Am Ausgangspunkt der Grammatikalisierung steht ein (betontes) Zahlwort 'eins', mit dem die genaue Anzahl von Referenten bezeichnet wird, etwa Auf dem Tisch liegt éine Blume! Wo ist die andere? oder Dieses Zimmer hat éin, zwei, drei Fenster usw. In dieser Verwendung setzt die Zahl ein(e) voraus (präsupponiert), dass der Referent (die Blume, das Fenster) tatsächlich existiert. 2) Der semantische Wandel beginnt mit der Verlagerung des Schwerpunktes von der Angabe der exakten Anzahl (éine Blume) zum Herausgreifen eines Elements, eines Vertreters aus einer (zunächst definiten) Gruppe gleicher/ ähnlicher Elemente: Im Hof unterhielten sich einige Frauen. Eine von ihnen/ Eine Frau fragte mich ... In dieser singulativen Konstruktion ein(e) X von hat das Zahlwort eine individualisierende Funktion. Diese Verwendung spielt die entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Indefinitums 'irgendeine, eine gewisse' wie in Eine Frau fragte nach dir oder Da hat eine nach dir gefragt (R ISSANEN 1997, W EISS 2004): Je indefiniter die Menge (hier die Gesamtheit aller Frauen), umso vager präsentiert sich ihre Vertreterin. Das Indefinitum wie in eine Frau 'irgendeine Frau' drückt zwar immer noch die Einzahl aus (da genau eine Frau gefragt hat), in den Vordergrund rückt aber die individualisierende, hervorhebende Bedeutungskomponente, da mit dem Indefinitum genau ein Vertreter einer Gruppe bezeichnet wird. eine wird dabei meist pragmatisch angereichert, d.h. in Sätzen wie Da hat eine Frau nach dir gefragt kann die entsprechende Einstellung des Sprechers zum Gesagten ausgedrückt werden. So kann der Sprecher mit eine dem Hörer signalisieren, dass es sich um ein ganz besonderes Individuum handelt. 3) In einem weiteren Schritt wird die Funktion von ein darauf beschränkt, die Unbestimmtheit des Referenten zu markieren. Ein erreicht hier den Status des Indefinitartikels. Dieser signalisiert, dass die Rede von etwas ist, was der Hörer nicht identifizieren kann: Ich werde heute Abend eine Freundin besuchen. Der Hörer erfährt aus diesem Satz, dass der Sprecher heute einer Freundin einen Besuch abstatten wird. In dieser Verwendung spricht man vom spezifischen Indefinitarti- Zahlwort 'eins' Indefinitum spezifischer Indefinitartikel generischer, prädikativer und nicht-spezifischer Indefinitartikel 'genau ein Objekt' 'zugehörig zur Klasse von Objekten' (referenzieller Gebrauch) (nicht-referenzieller Gebrauch) Die Entstehung des Indefinitartikels 81 kel: Er verweist auf einen spezifischen, doch unbekannten Referenten, während alle anderen Vertreter der Gruppe (andere Freunde) aus der Betrachtung ausgeschlossen sind. 4) In der letzten Phase weitet sich der Indefinitartikel auf Kontexte aus, in denen lediglich der Typ/ die Zugehörigkeit zu einer Klasse von ähnlichen Elementen beschrieben wird. Die Aussage betrifft in solchen Fällen gleichermaßen jeden beliebigen Vertreter dieser Klasse. Genau dies trifft auf generische Kontexte zu: Eine Schildkröte kann über hundert Jahre alt werden oder In einen Koffer passt mehr rein als in einen Rucksack. Neben diesem sog. generischen Indefinitartikel entwickelt sich in dieser späteren Grammatikalisierungsphase auch der prädikative Indefinitartikel wie in Sie ist eine gute Lehrerin. Der prädikative Indefinitartikel umfasst die inhaltlichen Merkmale, die eine gute Lehrerin ausmachen. Im Anschluss an den generischen und prädikativen entsteht auch der nicht-spezifische Indefinitartikel: Ich suche einen Stift. Hast du vielleicht einen? Im Gegensatz zum sog. spezifischen Artikel (wie in Ich suche einen Stift. Der lag eben noch auf dem Tisch) ist beim nicht-spezifischen kein konkreter Referent gegeben. Die Nominalphrase ein Stift bezieht sich auf jedes beliebige Objekt einer Klasse. Allen drei Verwendungen des Indefinitartikels, d.h. der generischen, der prädikativen und der nicht-spezifischen, ist gemeinsam, dass sie sich auf keinen konkreten Referenten beziehen: Sie werden nicht-referenziell gebraucht. 5.3.2 Die Entwicklung im Deutschen Der Indefinitartikel ein hat sich im Deutschen etwas später als sein definites Gegenstück der herausgebildet. Im Folgenden werden einzelne Entwicklungsphasen des Indefinitartikels dargestellt. Diese verteilen sich auf die alt- und mittelhochdeutsche Zeit. 1. Phase: Zahlwort (Isidor, Ende 8. Jh.) Bis ins 8. Jh. wurde ein nur als Zahlwort verwendet. So benutzte der Isidor- Übersetzer ein meist, um das Zahlwort unus aus der lateinischen Vorlage wiederzugeben (O UBOUZAR 1997, 2000): 59) Huuer uuas mezssendi in einemu hantgriffa uuazssar? (...) Huuer uuac dhrim fingrum allan aerdhuuasun? (I 4, 9) 'Wer hat das Wasser mit éiner Hand gemessen? Wer hat die ganze Erde mit drei Fingern gewogen? ' Die schwach flektierte Kardinalzahl ahd. eino hob noch deutlicher die Einmaligkeit hervor: ih bin eino got 'ich bin der einzige Gott', da die schwache Flexion seit dem Germanischen eine individualisierende Funktion hatte (B RAUNMÜLLER 2008). Da ein in dieser Zeit nur in der Funktion eines Zahlwortes auftrat, stehen indefinite Referenten in der Isidor-Übersetzung ohne ein, z.B. chindh uuirdit uns chiboran 'ein Kind wird uns geboren' (I 5, 1). Auch im Tatian (fr. 9. Jh.) gibt es noch keine Hinweise auf eine grammatische Funktion von ein. Als eindeutiges Zahlwort wird es zur Wiedergabe von lat. unus verwendet. In manchen Fällen dient ein jedoch eher der Individualisierung durch Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 82 Singularisierung, d.h. durch Aussonderung eines Objektes aus einer Menge ähnlicher Objekte. In Satz 60) ist von einem Schriftgelehrten die Rede. Hier ist der konkrete Bezug zur definiten Menge (der Schriftgelehrten) immer noch gegeben: 60) Gieng tho zuo ein buochari inti quad imo (…) (T 51, 1) 'Da kam ein Schriftgelehrter/ einer der Schriftgelehrten zu ihm und sagte ihm' Ähnlich wählt sich auch Zachäus, ein Mann von kleinem Wuchs, einen Maulbeerbaum, von dem aus er Jesus sehen kann (O UBOUZAR 2000): 61) Inti her (...) arsteig in einan murboum, thaz her inan gisahi (T 114, 1) 'und er stieg auf einen Maulbeerbaum, damit er ihn (Jesus) sehen könne' Das singularisierende ein (= ein Exemplar von X) dient der Einführung eines neuen Referenten in den Diskurs. Fehlt der Bezug zur definiten Menge wie noch in einer der Bäume, einer der Schriftgelehrten, steht im Tatian im Normalfall eine undeterminierte Nominalphrase, z.B. ir findet kind mit tuochom bivuntanaz (T 6, 2) 'ihr findet ein Kind, das in Windeln gewickelt ist'. Im Tatian finden sich aber schon vereinzelt Stellen, wo ein neuer Referent wie bspw. der Centurio (Hauptmann) mit ein eingeführt und im weiteren Text mit ther wiederaufgenommen wird (s. auch Beispiel 53) auf S. 74): 62) Mit thiu her tho ingieng in Capharnaum, gieng zi imo ein centenari, bat inan (...) Tho antlinginti ther centenari (...) Tho quad ther heilant themo centenare (T 47, 1-8) 'Während er in Capharnaum eintraf, ging zu ihm ein Hauptmann/ Centurio und bat ihn (...) Darauf antwortete dieser Centurio (...) Darauf sagte der Heiland zu diesem Centurio (...)' In diesem Beispiel wird das singularisierende ein am Anfang einer Diskurseinheit verwendet. Diese Diskursfunktion diente möglicherweise als Brücke für die weitere funktionale Entwicklung von ein zum Indefinitum. Im Tatian tritt in dieser Funktion noch (fast) ausschließlich ahd. sum 'ein gewisser, irgendein' auf (für lat. quidam). sum determiniert solche Nominalphrasen, die saliente, zentrale Diskursreferenten bezeichnen, d.h. es bezieht sich auf erstmals eingeführte Personen (seltener unbelebte Objekte), von denen im weiteren Text noch die Rede sein wird. Die Wiederaufnahme erfolgt durch ther: 63) Sum tuomo uuas in sumero burgi (...) Uuas thar ouh sum uuitua in thero burgi (T 122, 1) 'Es war ein (bestimmter, gewisser) Richter in einer (bestimmten, gewissen) Stadt (...) Da war auch eine (bestimmte, gewisse) Witwe in dieser Stadt' 2. Phase: Indefinitum (Tatian fr. 9. Jh./ Otfrid, sp. 9. Jh.) Wo bei Tatian noch relativ regelmäßig sum verwendet wird, setzt Otfrid meist schon ein als Indefinitum ein: 64) In dagon eines kuninges, joh harto firdanes, was ein ewarto (O I, 4, 1-2) 'In den Zeiten eines (gewissen) Königs, der ganz von Gott verlassen war, lebte ein (gewisser) Priester' Die Entstehung des Indefinitartikels 83 Hier wird, ähnlich wie am Anfang von Erzählungen oder Märchen (Es war einmal eine Königin), mit ein ein neuer, besonderer Referent eingeführt, indem man zunächst über seine Existenz berichtet. Mit ein wird der außergewöhnliche Charakter des eingeführten Referenten unterstrichen. Er wird als etwas Besonderes dargestellt, worüber man noch mehr hören wird. Dieses pragmatische Ziel, beim Leser Spannung zu erzeugen, verfolgt Otfrid z.B. im folgenden Beispiel: 65) Fuar er thuruh Samariam, zi einera burg er thar tho quam (...) Tho gisaz er muader (...) bi einemo brunnen (...) (O II, 14, 5-8) 'Er reiste durch Samarien und kam dort zu einer Stadt (...). Entkräftet setzte er sich dort an einen Brunnen' Sowohl die Stadt als auch der Brunnen, die dem Leser noch unbekannt sind, werden mit ein eingeführt, um so ihre besondere Rolle für die weitere Erzählung zu betonen. ein signalisiert, dass es sich um einen besonderen Brunnen handelt. Und tatsächlich spielt dieser Brunnen eine zentrale Rolle in der Erzählung, denn dort begegnet Jesus einer Frau und offenbart ihr, dass er der Messias sei. 3. Phase: Spezifischer Indefinitartikel (Otfrid, sp. 9. Jh.) Bisher zeigte ein eine klare Entwicklungslinie: Das ursprüngliche Zahlwort ein wurde schon bei Otfrid in der neuen Funktion verwendet, einzelne Exemplare aus einer Menge auszusondern oder den besonderen Wert, den Ausnahmecharakter eines Exemplars zu unterstreichen. Die Betonung der Außergewöhnlichkeit des Referenten, ein pragmatischer Mehrwert, half dem Schreiber, die Relevanz des eigenen Beitrags zu erhöhen. Das funktionierte aber nur, solange es nicht überstrapaziert wurde. Wie wir schon bei der Entwicklung des Negationsmarkers nicht beobachtet haben, führt die häufige Verwendung von solchen Relevanzsignalen zum Verlust der Expressivität und zur Routinisierung. So wurde auch ein als ein gewöhnlicher Marker von neuen, spezifischen, jedoch unbekannten Referenten generalisiert. Die Phase des sog. spezifischen Indefinitartikels begann bei Otfrid (O UBOUZAR 2000). Im Althochdeutschen wurden mit ein nicht nur spezifische Einzelreferenten eingeführt, was sich aus der Semantik von ein als Kardinalzahl ableiten lässt. Bei Otfrid finden sich auch einige Belege, in denen ein im Plural steht. Hier hat es eine spezifizierende Funktion. In 66) dient es zur Abgrenzung einer Gruppe von Büchern von allen anderen Büchern, die eine bestimmte Information nicht enthalten (D ONHAUSER 1995): 66) Las ih iu in alawar in einen buachon (...), sie in sibbu joh in ahtu sin Alexandres slahtu (O I, 1, 87) 'Ich las einst wirklich in gewissen Büchern (...), dass sie nach Blut und nach Wert vom Stamm Alexanders sind' Die Pluralformen nahmen im Mittelhochdeutschen noch deutlich zu, z.B. zeinen pfingesten (Iw 33) 'an Pfingsten', fanden langfristig allerdings keinen Eingang in das standardsprachliche Artikelsystem. Die Verwendung von pluralischem ein ist jedoch in Dialekten erhalten geblieben, z.B. niederbair. da Hund hod a Flöh 'der Hund hat Flöhe' (E ROMS , 1989 a,b, G LASER 1996). Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 84 Die Verwendung von ein im Plural zeigt, dass bereits im Althochdeutschen die quantifizierende Funktion im Abbau begriffen war. ein diente im Singular und im Plural der Spezifizierung von Einzelreferenten bzw. Referentenmengen. Dies erklärt auch, warum der Indefinitartikel bei Otfrid auch vor nicht-zählbaren (Massen-)Nomina steht, z.B. woraht er tho ein horo in war mit sineru speichelu sar (O III, 20, 23) 'und fertigte er fürwahr mit seinem Speichel einen Kot/ Schmutz'. Im Tatian steht in der Beschreibung derselben Situation noch ein undeterminiertes Nomen: teta leimon fon speihhaltrun (T 132, 4) '(er) machte einen Kot aus dem Speichel'. Ähnlich verwenden wir den Indefinitartikel heute in Sätzen wie: Ich wollte ihr damit (eine) Freude machen vs. (nicht spezifiziert) Das wird ihm lange (*eine) Freude bereiten. 4. Phase: Generischer Indefinitartikel (Notker 10./ 11. Jh.) Spätestens bei Notker (10./ 11. Jh.) war der spezifische Indefinitartikel vollständig ausgebildet; Notker versah jede Nominalgruppe mit ein, wenn diese eine neue Größe einführte (O UBOUZAR 2000). Notker gebrauchte als erster den Indefinitartikel auch in generischen Kontexten, in denen kein konkreter Referent gemeint war. Dieser Artikel kommt bei Notker u.a. in Vergleichen vor, wo er sich auf einen bestimmten Typ von Entitäten bezieht. In 67) wird das Gefühl der Geborgenheit und Ruhe beschrieben, das mit der Sicherheit, die jede beliebige Festung gewährleistet, vergleichbar ist: 67) samo-so in einero uesti (N Bo II, 76, 5) 'wie in einer Festung' Insgesamt war der Gebrauch des generischen Indefinitartikels bei Notker noch sehr eingeschränkt. O UBOUZAR (2000) beobachtet, dass er noch häufig fehlt, z.B. chanst tu mir danne gesagen, uuaz mennisko s ? (N Bo I, 38, 19-20) 'kannst du mir sagen, was ein Mensch ist? '. Nur der Definitartikel ist hier möglich: ter mennisco ist keskaffen ad imaginem (...) dei (N Bo I, 29, 1-2) 'der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen'. Erst im Mittelhochdeutschen findet man den Indefinitartikel in generischen Kontexten, z.B. 68) Sag mir, in weler benenten wise kumet ein mensch z siner selikeit? (Seuse VI, 73- 75; 13./ 14. Jh.) 'Sag mir, wie nennt man die Weise, auf die ein Mensch seine Seligkeit erreicht? 5. Phase: Prädikativer Indefinitartikel (Mittelhochdeutsch) Die Entwicklung des prädikativen Indefinitartikels begann im späten Althochdeutschen. Typisch für Notker ist der Gebrauch des Indefinitartikels in erklärenden Sätzen. Mit Hilfe von ein verleiht er seinen Belehrungen besonderen Nachdruck, d.h. die Verwendung des prädikativen ein ist pragmatisch gesteuert: 69) Echinus ist ein suoze fisg luzzeler (N Bo III, 141, 17) 'Echinus ist ein netter kleiner Fisch' Bis ins Mittelhochdeutsche hinein wurde der prädikative Indefinitartikel noch sehr unsystematisch verwendet, da pragmatisch gesteuert (P AUL et al. 23 1989: 387). Vom Artikel zum Flexiv - eine Grammatikalisierungsbaustelle 85 So kommen im Nibelungenlied (12. Jh.) viele artikellose Prädikatsnomina, z.B. Dancwart der was marschalc (NL 11,1) 'Dancwart war Pferdeknecht'. Prädikatives ein bewirkt eine spürbare Emphase. So lehnt Hagen das Angebot von Kriemhild, seine Waffen in sein Quartier zu tragen, mit folgenden Worten ab: 70) Jane ger ich niht der êren, fürsten wine milt, daz ir zen herbergen trüeget mînen schilt und ander mîn gew fen. ir sît ein künegîn. daz enlêrte mich mîn vater niht: ich wil selbe kamer re sîn (NL 1746) 'Dass ihr, die großzügige Gemahlin des Königs, meinen Schild und meine anderen Waffen in mein Quartier brächtet, solch eine Ehre verlange ich nicht. Ihr seid doch eine Königin. Ein solches Verhalten hat mich mein Vater nicht gelehrt. Nein, ich will mein eigener Kämmerer sein.' (Übersetzung B RACKERT 26 2000) Mit ein verweist Hagen auf seine eigene Einstellung zum Gesagten. In diesem Fall geht es um seine volle Überzeugung, dass Kriemhilds Angebot nicht ihrer sozialen Stellung entspricht. Dies wird in der neuhochdeutschen Übersetzung durch die Modalpartikel doch ausgedrückt: ir sît ein künegîn 'Ihr seid doch eine Königin'. Bis heute ist die Grammatikalisierung des prädikativen Indefinitartikels nicht abgeschlossen, da der expressive Charakter von ein noch nicht vollständig abgebaut ist. So ist der Indefinitartikel bis heute blockiert, wenn das Substantiv ohne Attribut auftritt, z.B. Sie ist Lehrerin (vgl. aber engl. She is a teacher). Mit Sie ist eine Lehrerin! wird wie im Mittelhochdeutschen die subjektive Einstellung (z.B. Bewunderung) zum Ausdruck gebracht, wobei sich hier Nord-Süd-Unterschiede auftun: Im süddeutschen Standard wird ein mittlerweile auch schon ohne Emphase verwendet. Dies zeigt, dass der prädikative Indefinitartikel hier weiter grammatikalisiert ist als im Norden, wo er nur bei weiterer Modifizierung des Prädikatsnomens regelmäßig eingesetzt wird, z.B. norddt. Sie ist eine gute Lehrerin. Die Entwicklung des Indefinitartikels begann zwar schon im Althochdeutschen. Die entscheidende Grammatikalisierungsphase, in der sich der nichtreferenzielle Gebrauch entwickelte, spielte sich jedoch erst im Mittelhochdeutschen ab, d.h. mit deutlicher Verzögerung zum Definitartikel, der schon im Althochdeutschen weitestgehend grammatikalisiert war. Bis heute ist die prädikative Funktion des Indefinitartikels noch nicht vollständig ausgebildet. 5.4 Vom Artikel zum Flexiv - eine Grammatikalisierungsbaustelle Das Grammatikalisierungsmodell von G IVÓN (1979) und L EHMANN (1995a [1982]) berücksichtigt den Vorgang, in dem ein bereits grammatisches, aber noch freies Morphem im Laufe der Zeit seine syntaktische und phonologische Eigenständigkeit einbüßt und zu einem gebundenen (Flexions-)Morphem wird. Mit der zunehmenden Bindungsfestigkeit steigt der Grammatikalisierungsgrad eines Zeichens, da dieses dadurch formal unselbstständiger wird und letztendlich mit einem anderen Zeichen zu einem Wort verschmilzt. Diese Entwicklung erhöht Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 86 die sog. Fügungsenge (in Tab. 10 grau hinterlegt) zwischen zwei Zeichen, d.h. sie betrifft die syntagmatische Dimension des Kohäsionsparameters nach L EHMANN . Tab. 10: Die Grammatikalisierungsparameter nach L EHMANN (1995a [1982]: 123) paradigmatisch syntagmatisch Gewicht (Abnahme) Integrität struktureller Skopus Kohäsion (Zunahme) Paradigmatizität Fügungsenge Variabilität (Abnahme) Wählbarkeit Stellungsfreiheit In diesem Kapitel wollen wir uns der Frage zuwenden, inwieweit dieses Grammatikalisierungskriterium beim deutschen Artikel erfüllt ist. Die Analyse wird sich auf den Definitartikel konzentrieren, der zwar immer noch frei stehen kann, z.B. Die meist befahrene Straße führt nach Mainz. In Kombination mit einigen Präpositionen treten bestimmte Artikelformen jedoch nur in gebundener Form auf wie in zum Mond. Freie Formen ergeben ungrammatische Sätze: Sie fliegt zum (*zu dem) Mond oder Sie macht eine Ausbildung zur (*zu der) Mikrotechnologin. 5.4.1 Vom freien zum gebundenen Morphem - Zunahme an Fügungsenge Die Zunahme an Fügungsenge beginnt mit der Klitisierung. Dabei heftet sich das schwächer betonte grammatische Morphem, z.B. du, an ein anderes Wort, z.B. kannst, wie in kannst du > kannste. In diesem Fall liegt eine Enklise vor, weil das Klitikon -te dem betonten Wort kannst folgt (ähnlich mit dem > mim). Lehnt sich das Morphem an ein nachfolgendes stärker betontes Wort, spricht man von Proklise, z.B. es gibt > 's gibt, das Fenster > 's Fenster. In der Klise wird die Grenze zwischen beiden Wörtern aufgelöst, z.B. s=gibt ('=' markiert die Nahtstelle zwischen dem Klitikon 's und der Basis gibt). Meist verliert das klitische Element nicht nur den Akzent, sondern auch einen Teil seiner phonologischen Substanz wie in kannst du > kannste. Die Klitisierung ist zunächst auf schnelles Sprechen beschränkt (sog. Allegroverschmelzungen), von wo aus sich die klitischen Formen auf den sorgfältig artikulierten Lentostil ausbreiten, wobei sie anfänglich noch mit Vollformen austauschbar sind (die sog. einfache Klise), vgl. auf'm = auf dem. Der Grad der Fügungsenge zwischen dem Klitikon und dem Basiswort erhöht sich, wenn die Klise auch im Lentostil unauflösbar wird (zur, zum, im), und das unabhängig davon, ob man mit einer Freundin (nähesprachlicher Text) oder mit der Kanzlerin (Distanzsprache) spricht (K OCH / O ESTERREICHER 1985). Ist diese sog. spezielle Klise zunächst auf bestimmte Basiswörter beschränkt, kann eine weitere Ausdehnung und Generalisierung des Klitikons zu seiner Obligatorisierung führen, so dass es schließlich zur Flexionsendung wird. Vom Artikel zum Flexiv - eine Grammatikalisierungsbaustelle 87 Es ist zu eher erwarten, dass sich der Definitartikel zu einer Substantivendung entwickelt, da er grammatische Informationen kodiert, die sich auf das Substantiv beziehen und seine Semantik modifizieren (B YBEE 1985): Der Definitartikel wie das in das Auto signalisiert, dass nicht ein beliebiges, sondern ein bestimmtes, identifizierbares Auto gemeint ist wie in Das Auto steht schon vor der Tür. Tatsächlich hat sich der ursprünglich freie Definitartikel u.a. in den skandinavischen Sprachen zur Substantivendung entwickelt, z.B. schwed. bilen 'das Auto'. In bilen wird die Definitheit im Suffix -en ausgedrückt. Nicht nur die Fügungsenge, sondern auch der funktionale Status des schwedischen Definitheitsmarkers zeugt von der weit fortgeschrittenen Grammatikalisierung: In Nominalphrasen mit Adjektiv muss die Definitheit schon durch ein zusätzliches Element den markiert werden: (ohne Adjektiv) bilen 'das Auto' vs. (mit Adjektiv) den gamla bilen 'das alte Auto'. Wir fassen zusammen: Die Zunahme der syntagmatischen Kohäsion verläuft über drei Stufen, in denen die Bindungsfestigkeit und damit der Grammatikalisierungsgrad stetig wächst, s. Abb. 31. Abb. 31: Allmähliche Zunahme an Fügungsenge 5.4.2 Der weite Weg des Definitartikels von der Klise zur Flexion Der deutsche Definitartikel hat sich nicht zu einer Substantivendung entwickelt. Dies liegt u.a. daran, dass er seit dem Althochdeutschen selten in direkter Nachbarschaft zum Substantiv stand. Wie heute traten auch schon im Althochdeutschen Adjektive zwischen den Definitartikel und das Substantiv, vgl. das alte Auto. So blieb die Proklise des (femininen) Definitartikels an das folgende Substantiv ein sporadisches Phänomen, z.B. ahd. theuangelion 'das Evangelium' oder mhd. derda 'die Erde', dougen 'die Augen'. Vereinzelte Proklisefälle im Frühneuhochdeutschen wie in dlinden, in dstatt erwähnt M OSER (1988: 213). Während die aufkeimende Tendenz zur Proklise Definitartikel=Substantiv in der Entwicklung der deutschen Standardsprache blockiert wurde, hat sich im Schweizerdeutschen ein klitischer Definitartikel herausgebildet. Dieser assimiliert sogar mit dem Anlaut des Substantivs, z.B. pFrou < *dFrou 'die Frau' (s. N ÜBLING 1992: 201f.). einfache Klise (Allegroform) spezielle Klise (Allegro-/ Lentoform) Affix wachsende Bindungsfestigkeit/ steigender Grammatikalisierungsgrad Klitikon ist auch im Lentostil obligatorisch, die Vollform (wenn vorhanden) ergibt eine andere Interpretation Klitikon und Vollform sind austauschbar. Sie transportieren dieselbe Bedeutung die gebundene Form ist generalisiert Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 88 5.4.2.1 Die Entwicklung des enklitischen Definitartikels Die zweite schon im Althochdeutschen existierende Option ist die Verschmelzung des Definitartikels mit der vorangehenden Präposition, z.B. ahd. zi themo > zemo 'zu dem'. Dabei klitisiert der Artikel nicht mit einem Substantiv, sondern mit einer Präposition, mit der er ebenfalls in einer grammatischen Relation steht. Diese Relation basiert darauf, dass die Präposition den Kasus regiert, der im darauf folgenden Definitartikel ausgedrückt wird, z.B. ahd. zi (verlangt Dativ) themo (drückt Dativ aus). Bis heute enthält der Definitartikel neben der Definitheit, die im Anlaut dmarkiert wird, Informationen zum Kasus, Numerus und Genus: d-er, d-ie, d-as, d-em, d-es usw. Kaum war also das Demonstrativ zum Definitartikel grammatikalisiert, traten schon erste formale Abnutzungen auf: In Kap. 5.2.3 haben wir eine artikelähnliche Verwendung von ther in der Tatian-Übersetzung identifiziert (generelle Verwendung v.a. bei Personen), und bereits in diesem Text kommen die ersten Verschmelzungen vor (zemo neben zi themo). Im Althochdeutschen blieb die Enklise jedoch (aus phonologischen Gründen) auf die Präposition zi beschränkt, mit der sowohl Singularals auch Pluralformen des Definitartikels klitisierten. Belege dafür finden sich bei Otfrid: (Singular) zi themo > zemo 'zu dem', zi theru > zeru 'zu der', zi thes > zes 'zu des (Gen.Sg.)', (Plural) zi then > zen 'zu den (D.Pl.)' (N ÜBLING 1992, 2005b, S ZCZEPANIAK 2007). Im Mittelhochdeutschen kam es zu einer wahren Explosion der enklitischen Artikelformen. Klitische Artikel erscheinen in den mittelhochdeutschen Texten nicht nur in Verbindung mit der Präposition zu, sondern auch mit in, ûf, ûz, an, vor, bî, von, umbe, über, hinter, durch usw., und das sowohl im Singular als auch im Plural: inme sturm (Dat.Sg.), ûfen acker (Akk.Sg.Mask.), ûfz ors 'aufs Pferd' (Akk.Sg.Neutr.), ûzen ougen (Dat.Pl.). Im mittelhochdeutschen Artikelparadigma befinden sich dadurch neben mehreren vollen auch klitische Artikelformen. In Tab. 11 sind die Zellen des Paradigmas grau hinterlegt, die klitische Formen zulassen: Weit fortgeschritten ist die Tendenz zur Klitisierung im Dativ/ Akkusativ Singular (Mask. und Neutr.) und im Dativ Plural. Auch der (mask./ neutr.) Genitivartikel verbindet sich mit der Präposition, z.B. mhd. zu des > zes. Der Femininartikel verharrt hingegen in dem bereits im Althochdeutschen erreichten Stadium und klitisiert nur im Dativ, z.B. mhd. zu der > zer. Die Form zur bildet auch in der heutigen Standardsprache eine Ausnahme; es ist die einzige klitische Verbindung zwischen einer Präposition und dem Femininartikel. Tab. 11: Klitische Artikelformen im Mittelhochdeutschen Numerus Kasus Femininum Maskulinum Neutrum Gen. zu des > zes Dat. nur zer (< zu der) vor deme > vorem/ vorme >vorm Singular Akk. ûf den > ûfen ûf daz > ûfez > ûfz Plural Dat. ûz den > ûzen Anhand der Primärquellen lässt sich die folgende formale Entwicklung rekonstruieren: Die Vollformen des Definitartikels verloren zunächst den Dentalanlaut, Vom Artikel zum Flexiv - eine Grammatikalisierungsbaustelle 89 z.B. ûf den > ûfen. Die zweisilbigen Artikelformen wurden anschließend auf eine Silbe reduziert, z.B. vor deme > vorem bzw. vorme. In einem weiteren Schritt fiel der noch vorhandene unbetonte Vokal durch Apokope weg, vorme > vorm (N ÜBLING 1992). Noch im Frühneuhochdeutschen waren die Verschmelzungen sehr frequent. Allerdings kristallisiert sich in dieser Periode eine klare Präferenz zur Verschmelzung von dem und den heraus. Vereinzelt stößt man auf die-Enklise, z.B. fürd augen, underd erde (M OSER 1988). Hätte sich die mittelhochdeutsche Tendenz fortgesetzt, müssten wir einen weiteren Zuwachs an klitischen Verbindungen erwarten. Stattdessen wurde der Pool an möglichen Klitika vom Mittelzum Frühneuhochdeutschen immer geringer; v.a. klitische Genitiv-, Akk.Neutr.-, Dat.Pl.-Formen wurden immer seltener, wobei die Anzahl der klitischen Formen je nach Sprachlandschaft unterschiedlich war: In Luthers Schriften (Ostmitteldeutsch) tritt die Enklise in einem sehr begrenzten Umfang auf. Sie beschränkt sich auf Präpositionen mit auslautendem Vokal oder Nasal, z.B. zu oder in, so dass die klitischen Formen eine sehr kleine Gruppe bilden, die u.a. am, im und zum (allesamt Dat.Sg.Mask./ Neutr.-Formen) umfasst. Viel produktiver war die Klise hingegen im Oberdeutschen, möglicherweise dem Zentrum des Verschmelzungsgebiets. Diese Tendenz ist im Schweizerdeutschen konsequent ausgebaut worden, wodurch die Bindungsfestigkeit bis zur letzten (Flexions-)Stufe angestiegen ist: Geht dem Artikel eine Präposition (z.B. us 'aus' oder i 'in') voran, so verbindet er sich mit ihr zu einer festen, untrennbaren Einheit, z.B. usem 'aus dem', ir 'in der' (N ÜBLING 1992: 211). 5.4.2.2 zum, [m m], gegenüber dem - Vorsicht, Grammatikalisierungsbaustelle! Die deutsche Standardsprache ist weit von dem im Schweizerdeutschen herrschenden Zustand entfernt, da nur acht Präposition-Artikel-Verbindungen (am, zum, im, vom, beim, zur, ins und ans) den Status der speziellen, nicht auflösbaren Klise erreicht haben (N ÜBLING 1992, 1998, 2005b). Fünf davon, am, zum, im, vom und beim, enthalten die Dat.Sg.Mask./ Neutr.-Form =m. Nur zwei Präpositionen (in und an) sind unauflösbar mit das verschmolzen, woraus sich der gebundene Artikel =s ergibt. Hier ist der Verschmelzungsgrad geringer, da die Form der Präposition unverändert bleibt. Im Gegensatz zu =m tangiert =s nicht die Präposition wie in a=m < a(n de)m, sondern heftet sich agglutinierend an sie, z.B. an das > an=s. zur ist die einzige Form, die einen gebundenen Femininartikel =r enthält. Sie gehört der ältesten (althochdeutschen) Verschmelzungsschicht an. Diese klitischen Artikelformen, die gerade um den im Anlaut stehenden Definitheitsmarker dreduziert sind, können nicht mehr gegen die Vollform ausgetauscht werden. Daraus ergäben sich entweder ungrammatische Äußerungen (Vom/ *von dem Rauchen kriegt er Kopfschmerzen) oder eine andere Lesart: Der verschmolzene Artikel (z.B. =r) löst eine nicht-spezifische Interpretation aus. So ist =r in Sie geht noch zur Schule generisch verwendet, d.h. es ist keine bestimmte Schule gemeint. In Sie geht zur Ausstellung (= Sie geht zu einer Ausstellung) geht es nicht um eine spezifische Ausstellung. In diesem Satz kommt es zur Überschneidung mit dem Indefinitartikel (s. dazu Kap. 5.3). Der gebundene Artikel kann aber auch Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 90 auf spezifische, identifizierbare Referenten Bezug nehmen, jedoch nur dann, wenn diese echte oder situative Unika sind: Sie fährt zum Mond (echtes Unikum) oder Sie geht zum Fenster (im Raum ist nur ein einziges Fenster). Wenn man sich auf ein ausgewähltes, spezifisches Fenster bezieht, um es von allen anderen im Raum abzugrenzen, ist der unverschmolzene Definitartikel nötig Sie geht zu dem Fenster mit dem Rheinblick. Auch in anaphorischer bzw. kataphorischer Funktion kann nur der volle Artikel auftreten: In Mainz wurde ein neues Kino eröffnet. In das Kino will ich morgen hin (anaphorisch) oder Ich arbeite in dem Büro, das früher Anna gehörte (kataphorisch). Der gebundene Artikel zeigt also Züge einer weiteren Desemantisierung, da er auch eine generische oder eine nicht-spezifische Interpretation bewirkt. Hier ist die semantische Komponente der Definitheit komplett abgebaut (s. Kap. 5.2.3). Tab. 12: Semantische Funktion und die Form des Definitartikels Vollform des Definitartikels dem, das, der usw. gebundene (klitische) Form des (Definit-)Artikels =m, =s,=r Bezug auf spezifische, bekannte Referenten echte oder situative Unika generische oder nicht-spezifische Lesart (funktionale Überschneidung mit dem Indefinitartikel) Sie geht zu dem Fenster mit dem Rheinblick. Sie fährt zum Mond. Sie geht zum Fenster. Sie geht zur Schule. Sie geht zur (zu einer) Austellung. Neben den acht Fällen der speziellen Klise pflegt das Deutsche ein breites Spektrum an sog. einfachen klitischen (allesamt Singular-) Artikelformen von dem, das und den, d.h. =m, =s und =n. So zeigt sich die Dativ-Form =m allgemein als sehr verschmelzungfreudig (auf=m, vor=m). Auch das lehnt sich häufig an Präpositionen (um=s, über=s, hinter=s). Etwas seltener klitisiert der Singular-Artikel den (vor=n Kopf, über=n Teich, hinter=n Tisch). Der Plural-Artikel den, weitere Plural- und auch feminine Formen sind völlig verschmelzungsresistent. In Abb. 32 sind die Artikelformen nach ihrem Grad der Verschmelzungsfreudigkeit geordnet. Diese Abbildung zeigt also, dass die Bindungsfestigkeit, die mit dem Grammatikalisierungsgrad korreliert, bei den Artikelformen dem, das und den am höchsten ist. Abb. 32: Der Definitartikel zwischen Verschmelzungsfreudigkeit und -resistenz (N ÜBLING 2005b: 117) Während spezielle Klitika nur dann zugelassen sind, wenn die Präposition einsilbig ist und auf Vokal oder Nasal auslautet, also stark sonor ist, gibt es bei einfachen Klitika keine solchen Beschränkungen: Sie sind auch mit Präpositionen wie dem [Dat.Sg.Mask./ Neutr.] den [Dat.Pl.] der [Dat.Sg.F.] die [Akk.Sg.F.] die [Akk. Pl.] verschmelzungsresistent verschmelzungsfreudig den [Akk.Sg.Mask.] das [Akk.Sg.Neutr.] Vom Artikel zum Flexiv - eine Grammatikalisierungsbaustelle 91 auf (auf=s Fahrrad) oder mit (mi=m Fahrrad) möglich. Zweisilbige Präpositionen lassen die Klise schon etwas seltener zu. So ist über dem häufiger als über=m Berg, neben das als neben=s Rad, oder unter den als unter=n Tisch (N ÜBLING 2005b: 118). Komplexe, sog. sekundäre Präpositionen (gegenüber, wegen, dank) leisten viel größeren Widerstand. Hier sind Klitika kaum oder gar nicht akzeptabel, z.B. ? gegenüber'm Haus, *dank'm Kollegen. Generell lässt sich sagen, dass die älteren, kurzen, stark desemantisierten und zugleich frequentesten Präpositionen (an, in, zu usw.) viel leichter mit dem Artikel verschmelzen als die jüngeren, längeren und semantisch spezifischeren (gegenüber, dank usw.). Da Definitartikel im Deutschen nur mit Präpositionen klitisieren, beinflusst der Grammatikalisierungsgrad der jeweiligen Präposition die Gesamtentwicklung vom freien zum gebundenen Artikel (zur Grammatikalisierung von Präpositionen s. Kap. 5.5). Obwohl die ersten Präposition-Artikel-Klisen schon im Althochdeutschen auftraten, ist die Entwicklung eines gebundenen Definitartikels bis heute nicht abgeschlossen. Eine jahrhundertealte "Baustelle" wird nicht fertig gestellt (N ÜBLING 2005b). Den heutigen Zustand zeigt Abb. 33: Abb. 33: Eine alte Grammatikalisierungsbaustelle: Präposition/ Artikel-Ver schmel zungen im Standarddeutschen (vereinfacht nach N ÜBLING 1992: 189) Manche Abschnitte der Baustelle sind bereits fertig gestellt - das sind die acht speziellen Klisen (am, vom usw.), in denen v.a. der Artikel dem in gebundener Form =m auftritt; in zwei Fällen kommt das agglutinierende =s vor. In anderen Abschnitten wird noch gearbeitet: Hier sind die klitischen Artikel, v.a. =m und =s, aber auch =n noch mit ihren Vollformen ohne Weiteres austauschbar. Daraus ergibt sich, dass - gemessen an der Fügungsenge - der Artikel dem am stärksten grammatikalisiert ist, gefolgt von das und den 'Akk.Sg.Mask.'. Manche Baustellenabschnitte wurden kaum angerührt: Dies sind die Allegroverschmelzungen wie in'er Nacht, auf'er Kirmes. In einigen Abschnitten ist die Arbeit unterbrochen worden. Dies betrifft u.a. den die-Artikel, der im Frühhochdeutschen teilweise schon keine bzw. Allegroverschmelzung einfache Klise spezielle Klise in'e, auf'e für'n, nach'm, auf'n, auf'm ins, ans in'er auf'er in'n vors, vorm, übers, überm, fürs, ums, aufs... im, am, zum, vom, beim und zur (DIE) DEN DER DAS DEM ('e) =n =m 'er 'n (Dat.Pl.) =s =m =m steigender Grammatikalisierungsgrad Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 92 klitisiert wurde, z.B. fürd ougen. Die Artikelform die ist am wenigsten grammatikalisiert. Dass die und der so gut wie gar keine Verschmelzungen eingehen, hat möglicherweise phonologische Gründe: Beide Artikelformen lauten vokalisch aus: [di: ]/ [de / d ]. Im Zuge der Verschmelzung, in der sie den konsonantischen Anlaut verlieren, werden sie auf einen unbetonten Vokal reduziert, der apokopegefährdet ist: in'e [ n ], in'er [ n ]. Nach dem Prinzip der Unidirektionalität müsste der heutige Grammatikalisierungsstand des Definitartikels höher sein als bspw. im Mittelhochdeutschen. Die in diesem Kapitel skizzierte Entwicklung vom freien zum gebundenen Definitartikel zeigt aber, dass der synchrone Grammatikalisierungszustand (mag er auch Abstufungen aufweisen) nicht mit dem in früheren Sprachstufen erreichten Entwicklungsstand gleichgestellt werden darf. So waren einige Artikelformen im Mittelhochdeutschen, darunter die den-Form, viel verschmelzungsfreudiger als heute. Vermutlich waren unter ihnen auch viele einfache (noch auflösbare) Klisen, die nie zu festen, untrennbaren Verbindungen geworden sind. So kommt die frühere Pluralklise wie in mhd. ûzen 'aus den (Dat.Pl.)' heute nicht mehr vor. Die mittelhochdeutschen Schriften zeugen auch von einer regen Verschmelzung des Singular-Artikels den, darunter ûfen 'auf den (Akk.Sg.Mask.)', heute erreicht den höchstens die Stufe der einfachen Klise (für=n, durch=n) oder er verschmilzt nur im Allegrostil (in'n). Die einzelnen Artikelformen sind heute unterschiedlich weit vom Flexivstatus entfernt. Diesem kommen die speziellen Klitika =m und =s am nächsten. Um als Flexiv zu gelten, müssten sie noch die uneingeschränkte Produktivität erlangen, sich mit allen (zumindest primären) Präpositionen zu verbinden: beim, am, im, vom, zum, x-m ..., ins, ans, x-s ..., genauso wie das Dativsuffix -n an alle substantivischen Pluralformen angehängt werden kann: Tische-n, Bücher-n, Computer-n, X-n ... Erst wenn alle Artikelformen gebundene Formen hätten, wäre ein definites Flexionsparadigma vollständig aufgebaut. Während das Standarddeutsche in einer Grammatikalisierungsbaustelle steckt, haben sich manche Dialekte bereits weiterentwickelt (N ÜBLING 1992, 1998). Im Ruhrdeutschen verbinden sich sämliche (Kern-)Präpositionen mit sämtlichen definiten und sogar indefiniten Artikelformen, z.B. auffe 'auf der/ die' (die Dativ/ Akkusativ-Opposition ist bis auf den Definitartikel im Neutrum aufgehoben), aufne 'auf einer/ eine', innen 'im/ in den (Akk. Sg./ Dat.Pl.)/ in die (Akk.Pl.)', aber int 'ins' (s. N ÜBLING 1992: 41). Das Ruhrdeutsche, in dem die obliquen Artikelformen nur gebunden vorkommen, hat die Endstation Flexion erreicht. Auch im Schweizerdeutschen verbinden sich sich mehr Formen des definiten und indefiniten Artikels mit mehr Präpositionen, z.B. (definit) bi=m 'beim', i=m 'im', uf=em 'auf dem', i=r 'in der', i=de 'in den (Dat.Pl.)' vs. (indefinit) bi=me 'bei einem', i=me 'in einem', i=re 'in einer', i= Ø 'Dat.Pl.' (N ÜBLING 1992: 243). Die Entstehung neuer Präpositionen 93 5.5 Die Entstehung neuer Präpositionen Im vorhergehenden Kapitel wurde gezeigt, dass im Standarddeutschen nur eine kleine Gruppe von Präpositionen als Verschmelzungsbasis für den Definitartikel dient, z.B. an in am Fenster. Am weitesten fortgeschritten ist die Klise mit den Präpositionen in, an, von, zu und bei. In diesem Kapitel werden zunächst einzelne Kriterien besprochen, anhand derer sich der Grammatikalisierungsgrad von Präpositionen bestimmen lässt (Kap. 5.5.1). Dabei wird deutlich, dass die verschmelzungsfreudigen Präpositionen zugleich auch die am weitesten grammatikalisierten sind. Die Bereitschaft zur Klise wird mit sinkendem Grammatikalisierungsgrad geringer. Weniger grammatikalisierte Präpositionen wie wegen, während oder gegenüber gehen keine bzw. nur Allegroverschmelzungen ein, z.B. wegen der > [ve: .n ] . Am wenigsten grammatikalisiert sind solche Ausdrücke wie an Stelle/ anstelle, in Bezug auf, im Vorfeld (der Feierlichkeiten), südlich (der Alpen) oder im Laufe (der Jahre). Hier ist die Klise ausgeschlossen. In Kap. 5.5.2 wird die Grammatikalisierung von wegen und der deutlich jüngeren Präpositionen im Laufe und im Vorfeld geschildert. 5.5.1 Grammatikalisierungsgrade von Präpositionen Wenn die Rede von Präpositionen ist, so sind damit solche Wörter oder Wortgruppen gemeint, die syntaktisch immer nur Teil eines Satzglieds sind, z.B. des Objekts (Sie wartet auf die Fähre) oder des Adverbials (Sie wartet auf dem Bahnhof). Mit einem Nomen bzw. Pronomen, dessen Kasus sie regieren, bilden Präpositionen die sog. Präpositionalphrase: mit (verlangt Dativ) dem Brief, für (verlangt Akkusativ) ihn. Präpositionen sind relationale (grammatische) Zeichen, da sie ein räumliches (in der Schule), zeitliches (seit der Neueröffnung), kausales (wegen des/ dem schlechten Wetter(s)), konzessives (trotz des Regens), finales (zur Erholung) oder modales (aus Baumwolle, ohne Bedenken) Verhältnis zwischen Personen, Sachen oder Sachverhalten bezeichnen. Die Präpositionen sind unflektiert. Die Entwicklung neuer Präpositionen beschränkt sich trotz der traditionell angenommenen Geschlossenheit dieser Wortklasse keinesfalls auf singuläre Erscheinungen. Ganz im Gegenteil - im Deutschen können viele solche Grammatikalisierungen beobachtet werden (D I M EOLA 2001). Dabei entwickeln sich die Präpositionen aus relationalen Inhaltswörtern wie links oder Vorfeld in adverbialer Position. So drückt ein Adverb links oder eine Präpositionalgruppe im Vorfeld die räumliche Relation zu einer weiteren Nominalphrase aus: 71) Das Haus steht links des Rheins. Das Haus steht im Vorfeld des Flughafens. Das relationale Inhaltswort bzw. die Wortgruppe wie im Vorfeld wird als komplexe Präposition reanalysiert und kann sich anschließend auf weitere Kontexte ausbreiten, z.B. im Vorfeld der Konferenz/ des Gesprächs 'vor der Konferenz/ dem Gespräch', wobei sich die Art der bezeichneten Relation metonymisch wandelt: Im Falle von im Vorfeld wird die Vorstellung von einem Vorraum, der in die eigentli- Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 94 chen Räume führt, zeitlich uminterpretiert. Diese konzeptionelle Metonymie basiert auf der alltäglichen Erfahrung, dass man den Vorraum zuerst betritt. Solche sog. sekundären Präpositionen wie im Vorfeld drücken am Anfang ihrer Entwicklung eine sehr spezielle Relation aus. Durch weitere Desemantisierung können sie sich allmählich dem Prototyp der deutschen Präposition annähern, den sog. primären Präpositionen, v.a. an, auf, aus, bei, durch, für, gegen, in, nach, neben, ohne, über, um, von, vor, zu (L INDQVIST 1994). Die Bedeutung der primären Präpositionen ist vielfältiger. Während sich im Vorfeld nur auf zeitliche Relationen bezieht, kann die primäre Präposition vor sowohl räumliche (vor dem Haus) als auch zeitliche (vor Mitternacht) und nicht zuletzt auch modale Bedeutung haben (vor Angst, vor Hunger). Primäre Präpositionen werden sogar bedeutungsleer verwendet, wenn sie wie vor von einem Verb (sich vor etwas schützen) oder einem Substantiv (Angst vor etwas) gefordert sind. Die primären Präpositionen bilden als geschlossene Klasse den Kernbestand dieser Wortart und haben den höchsten Grammatikalisierungsgrad. Dieser lässt sich anhand folgender Eigenschaften ermitteln (L INDQVIST 1994): 1) Dativbzw. Akkusativrektion: Eine prototypische Präposition wie in regiert im Deutschen den Dativ und/ oder den Akkusativ: Sie ist in der Stadt oder Sie geht in die Stadt. Dies gilt für 22 deutsche Präpositionen, die zugleich auch zu den häufigsten gehören (D UDEN -G RAMMATIK 7 2005: 216). In der gesprochenen Sprache werden folgende zehn Präpositionen am häufigsten gebraucht (R UOFF 1990, N ÜBLING 1992): Tab. 13: Die Rektion der am häufigsten gebrauchten Präpositionen (N ÜBLING 1992: 161, basierend auf R UOFF 1981: 511) Frequenz Präposition Dativ Akkusativ 1. (28%) in + + 2. (10,4%) mit + - 3. (10,3%) von + - 4. (8,8%) an + + 5. (8%) auf + + 6. (7,8%) zu + - 7. (5,5%) bei + - 8. (4,5%) nach + - 9. (2,8%) um - + 10. (2,7%) für - + Jüngere, meist komplexe Präpositionen regieren hingegen meist den Genitiv, z.B. anstelle des Bewerbungsbriefs, im Vorfeld der Feierlichkeiten. Mit zunehmender Grammatikalisierung verschiebt sich die Rektion von Genitiv auf (meist) Dativ, z.B. wegen des schlechten Wetters > wegen dem schlechten Wetter, während des Sturms > während dem Sturm. Den geringsten Grammatikalisierungsgrad weisen Ausdrücke wie in Bezug auf oder in Abhängigkeit von auf, da die Rektion via primäre Präposition, z.B. auf oder von, abgewickelt wird. Abb. 34 zeigt, wie sich die Rektion bei zunehmender Grammatikalisierung wandelt: Die Entstehung neuer Präpositionen 95 Abb. 34: Die Rektion und der Grammatikalisierungsgrad von Präpositionen 2) Pränominale Stellung: Die meisten Präpositionen im Deutschen stehen pränominal, d.h. vor der regierten Nominalphrase, z.B. im vergangenen Jahr, mit der besten Freundin, von der besten Seite usw. Einen geringeren Präpositionalisierungsgrad weisen hingegen postponierte, d.h. nachgestellte Präpositionen (sog. Postpositionen) auf, z.B. der Mutter zuliebe, mir/ dir zuwider. Eine Stellungsvariation wie bei entlang: den Fluss entlang oder entlang dem Fluss zeugt von einer fortschreitenden Grammatikalisierung. Aus komplexen Präpositionalphrasen können sich auch Zirkumpositionen entwickeln, d.h. solche, die das nominale Element umrahmen. Durch die Univerbierung und den anschließenden Stellungswandel nähern sie sich allmählich dem Prototyp der Präposition an: 72) Der Wandel von einer Zirkumposition zur Präposition Zirkumposition: gegen + dem Schloss + über Postposition: > (univerbiert) dem Schloss gegenüber Präposition: > (heute auch schon vorangestellt) gegenüber dem Schloss 3) Ausdruckskürze: Die frequentensten Präpositionen sind einsilbig und enthalten zwei (in, an, zu) bis höchstens drei Phoneme (mit, nach, von). Bis auf mit, auf und nach lauten sie sehr sonor, d.h. auf einen Vokal oder einen Nasal, aus. Auch die komplexeren Präpositionen tendieren mit der Zeit zur Reduktion der lautlichen Substanz. So wird das zweisilbige wegen beim schnellen Sprechtempo auf eine Silbe gekürzt: (zweisilbig) [ve: .g n] > (e-Synkope) [ve: .gn] > (Assimilation n > ) [ve: .g ] > (einsilbig) [ve(: ) ]. Die durch Univerbierung von Präpositionalphrasen entstandenen Präpositionen (an Statt > anstatt) werden ebenfalls gekürzt, z.B. anstatt > statt (seit dem 17. Jh.). In manchen Fällen wird im Zuge der Univerbierung z.B. der Artikel aufgegeben, z.B. mit der Hilfe > mit Hilfe (seit dem 17. Jh. belegt) (L EHMANN / S TOLZ 1992). 4) Syntaktische Vielwertigkeit: Charakteristisch für die Kernpräpositionen ist die Fähigkeit, Präpositionalobjekte einzuleiten, z.B. er denkt an sie, er wartet auf sie (vgl. er erwartet sie). In solcher Funktion ist ihre Bedeutung neutralisiert. Heute tritt auch wegen zunehmend als (noch fakultativer) Präpositionalobjekteinleiter auf: Er schämt sich (wegen) seiner Herkunft. Auch die Fähigkeit zur Bildung von Pronominaladverbien (darauf, davon usw., aber nicht *dawährend, *daseit) weist auf einen hohen Grammatikalisierungsgrad hin: Die Tasse steht auf dem Tisch/ darauf (stärker grammatikalisiert) vs. Sie ist seit gestern in Ligurien/ *Sie ist daseit in Ligurien (weniger grammatikalisiert). Die Koaleszenz mit den Pronominalformen da(r), hier und wo(r) (daran, woran, hieran usw.) ist - wie die Tendenz zur Verschmelzung mit den Artikelformen (Kap. 5.4) - ein Zei- Rektion via primäre Präposition Genitiv Genitiv/ Dativ/ Akkusativ-Variation Akkusativ/ Dativ in Bezug auf in Abhängigkeit von anstatt entlang, während, wegen auf, bei, zu zunehmender Grammatikalisierungsgrad Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 96 chen fortschreitender Grammatikalisierung einer Präposition. Darüber hinaus sind nur prototypische Präpositionen wie auf oder von an der Entstehung neuer beteiligt, z.B. in Bezug auf, in Abhängigkeit von. 5) Semantische Vielwertigkeit: Mit der Übernahme neuer syntaktischer Funktionen schreitet die Desemantisierung einer Präposition voran. Nur prototypische Präpositionen können bedeutungsleer auftreten. Sie werden von bestimmten Verben gefordert, sind in diesen Verbindungen nicht austauschbar und dienen lediglich der Kasusrektion: sie wartet auf/ *an/ *um + Akk., sie denkt an/ *um/ *in + Akk. L EHMANN / S TOLZ (1992) nennen sie grammatische Präpositionen, da sie grammatischen Regeln unterliegen: So können bestimmte Konstruktionen wie die Agensphrase in Passivsätzen nur durch von eingeleitet werden (Er wird von ihr geführt), in Infinitivsätzen ist wiederum zu nicht austauschbar (... , um zu/ *nach/ *an schreiben). Grammatische Präpositionen bilden die Vorstufe von Kasussuffixen: In Possessivkonstruktionen wird das Genitiv-s heute oft durch die von-Phrase ersetzt, z.B. Annas Auto > das Auto von Anna. Die Desemantisierung erfolgt durch sukzessive Bedeutungserweiterung bzw. -verschiebung, weswegen die Kernpräpositionen häufig polysem sind. So kann in lokal (in der Stadt), temporal (in diesem Sommer), modal (in Blau) und neutral (er hat sich in sie verliebt) verwendet werden. Stark grammatikalisierte (primäre) Präpositionen können sich dadurch mit einer großen Vielzahl von Substantiven verbinden, während semantisch spezifische, junge (sekundäre) Präpositionen in ihrer Verwendung vielfach eingeschränkt sind. So verbindet sich im Laufe, das nur temporal verwendet werden kann, v.a. mit Zeitangaben (im Laufe der Jahre) oder Nomina, die Geschehnisse mit durativer Zeitstruktur bezeichnen (im Laufe des Leichtathletikmeetings vs. *im Laufe des Sprungs). 6) Abbau der Segmentierbarkeit: Eine prototypische Präposition wie in oder auf ist nicht weiter segmentierbar. Die jüngeren, komplexen Präpositionen wie im Laufe oder in Bezug auf erben von ihren Ursprungsphrasen eine innere Struktur. Im Zuge der Präpositionalisierung wird diese Struktur als Einheit reinterpretiert (univerbiert), weswegen sie u.a. nicht mehr erweiterbar wird, z.B. im Laufe (des Gesprächs), aber nicht *im langsamen/ schnellen/ weiteren/ bisherigen Laufe (des Gesprächs). Im Gegensatz dazu kann eine gewöhnliche Präpositionalphrase wie im Verlauf frei mit Adjektiven angereichert werden, z.B. im weiteren/ bisherigen Verlauf des Gesprächs. Im weiteren Verlauf der Univerbierung werden interne Grenzen geschwächt, z.B. an Stelle > anstelle, anschließend können auch Teile der ursprünglichen Fügung ganz aufgegeben werden, z.B. von wegen > wegen (s. Kap. 5.5.2.1). 7) Kleinschreibung: Mit dem erhöhten Präpositionalisierungsgrad steigt die Tendenz zur Klein- und Zusammenschreibung: an Statt > anstatt > statt, an Hand > anhand, mit Hilfe > mithilfe. Die Schreibung spiegelt somit meist die zunehmende Univerbierung wider. Junge komplexe Präpositionen werden in der Schrift im Normalfall nicht von den transparenten syntaktischen Ausgangsstrukturen unterschieden, z.B. im Laufe. Die Entstehung neuer Präpositionen 97 In Abb. 35 wird der Grammatikalisierungsgrad einiger ausgewählter Präpositionen bestimmt. U.a. aufgrund divergierender Entstehungspfade sind einzelne Kriterien nicht immer in gleichem Maße erfüllt. So regiert die pränominale Präposition anstatt noch den Genitiv, während prä- und postnominal auftretendes entlang schon zwischen Akkusativ-, Dativ- und Genitivrektion variiert. Abb. 35: Der Grammatikalisierungsgrad im Kern und in der Peripherie der deutschen Präpositionen (nach L INDQVIST 1994) Kriterien Rektion Genitiv Genitiv/ Dativ/ Akkusativ Dativ/ Akkusativ Stellung zirkum-/ postponiert präponiert Länge lang kurz syntaktische Funktionen sehr eingeschränkt vielfältig semantische Funktionen sehr spezifisch polysem/ bedeutungsleer innere Struktur strukturell ambig innere Struktur keine Segmentierbarkeit Orthographie groß- und getrenntgeschrieben klein- und zusammengeschrieben Es besteht keine Notwendigkeit, dass jede Präposition die Grammatikalisierung bis zum Ende durchläuft. Sie kann entweder lange auf einer Stufe verweilen oder auch in einem bestimmten Zwischenstadium außer Gebrauch geraten wie die heute ungebräuchlichen Präpositionen behufs/ zum Behufe 'zum Zweck, zu', ob 'wegen', wider 'gegen' oder sonder 'ohne'. 5.5.2 Die Grammatikalisierung von wegen, im Vorfeld und im Laufe Neue Präpositionen können sich aus mehreren Spenderbereichen entwickeln: aus Adverbien (links > links des Rheins), Adjektiven (nahe dem Ufer) und Partizipien (während der Ferien, entsprechend unseren Anforderungen), Substantiven (kraft des Amtes) oder Präposition-Substantiv-Verbindungen (im Laufe des Gesprächs). Im Folgenden werden ausgewählte Entwicklungen von Präposition-Substantiv- Verbindungen vorgestellt: Kap. 5.5.2.1 schildert die Grammatikalisierung von wegen, während in Kap. 5.5.2.2 zwei aktuelle Grammatikalisierungsfälle im Vorfeld und im Laufe beschrieben werden. Letztere entwickeln sich aus der Struktur Präposition + Substantiv (+ Präposition), die heute ein produktives Muster für neue Präpositionen darstellt. Dabei wird die Präposition in als einleitender Bestandteil bevorzugt, vgl. im Vorfeld, im Laufe, im Hinblick auf, in Bezug auf, im Gegensatz zu usw. (L EHMANN / S TOLZ 1992, B ENE Š 1974). Dieses Muster hat sich auf Kosten in, an,zu, von, bei… mit, nach, auf neben, über, gegen ... wegen, während im Laufe anstatt in Bezug auf steigender Grammatikalisierungsgrad entlang aufgrund im Auto/ Büro freie Fügungen Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 98 eines früher produktiven -s-Musters (wie noch in angesichts, mangels, mittels usw.) durchgesetzt. Auch die Produktivität des im 18./ 19. Jh. produktiven -lich-Musters ist gesunken (heute noch u.a. in einschließlich, bezüglich, abzüglich, hinsichtlich). 5.5.2.1 Von wegen wegen Die Präposition wegen ist heute relativ stark grammatikalisiert (s. Abb. 35). Dazu, dass sie heute schon ganz dicht an der Gruppe der primären Präpositionen ist, trugen sowohl semantische als auch formale Prozesse bei (s. dazu v.a. L INDQVIST 1994). Betrachten wir zuerst die funktionale Entwicklung: Die Präposition hat sich aus der mhd. Präpositionalphrase von X (Gen.) wegen, mit der Dat.Pl.-Form von wec 'Weg, Ort, Seite', unter dem Einfluss des Niederdeutschen entwickelt. Sie trat seit dem 13. Jh. in der spezifischen Bedeutung 'von jemandes Seiten' auf und bezeichnete die Abstammung einer Person. In 73) werden Personen, die von derselben Mutter stammen, als Brüder bezeichnet: 73) gebruder von der muter wegen 'Brüder mütterlicherseits' (Makrelius, Pommern 1,65; 17. Jh.; diese und folgende Angaben nach DWB) In dieser Verwendung besteht die Konstruktion von X wegen aus der Präposition von und einer von ihr regierten Nominalphrase der muter wegen, die das Nomen wegen und ein vorangestelltes Genitivattribut der muter umfasst (B RAUNMÜLLER 1982: 205): 74) Die syntaktische Struktur der Ausgangskonstruktion von X wegen [Präp [Gen N] NP ] pp [von PRÄP [der muter GEN wegen N ] NP ] PP 'von der Seite der Mutter' Anschließend weitete sich die Konstruktion auf Kontexte aus, in denen das Nomen im Genitiv eine Besitzquelle bezeichnete. In 75) beschreibt von X wegen, aus welcher Quelle das Erbe stammt, das den Betroffenen zugute kommt: 75) um alsolich erbe, als uns annevallen solde von unser muter wegen (Hess. Urkundenbuch 1, 593, 3 1299) 'um all das Erbe, das uns von der Seite unserer Mutter zukommen sollte' Im nächsten Schritt wird die Konstruktion von X wegen in Bezug auf die Quellen einer Mitteilung, im Sinne von 'von X stammend' verwendet: 76) (die boten) dem marggraffen von seinen (ihres herren) wegen vil dinst und danck sagten (Decamerone 104 Keller) 77) do ward bischoff Walther von Augspurg erstochen ... von grauf Eberhartz von Werdenberg wegen und seiner helfer (Städtechr. 4, 22, 7 Augsburg 1369) In den obigen Beispielen zeichnet sich die Desemantisierung des Nomens wegen deutlich ab. In 76) kann man die Konstruktion von X wegen als 'von X stammend' paraphrasieren. Der semantische Schwerpunkt verlagert sich auf das Nomen im Genitiv, während die Bedeutung von wegen verblasst ist. Daher ist die Frage Von wessen/ welcher Seite sagten sie Dank? nicht mehr adäquat. Vielmehr muss gefragt werden: Von wem stammt die Danksagung? Während in 76) die Danksagung vom Herrn der Boten (im Genitiv) direkt stammt, veranlasst in 77) Graf Eberhart (im Die Entstehung neuer Präpositionen 99 Genitiv) wahrscheinlich nur, den Bischof Walther von Augsburg zu erstechen. Die Konstruktion von X wegen bezieht sich auf Graf Eberhart als den für die Erstechung Verantwortlichen. Die Ausweitung der Konstruktion auf Kontexte, in denen der Ausgangspunkt der Mitteilung oder der Veranlasser genannt wird, führte zur strukturellen Reanalyse: Das frühere Nomen wegen wurde zum Bestandteil der Zirkumposition rekategorisiert, die die Relation zwischen dem Sachverhalt in der Verbalphrase und dem Genitivnomen X ausdrückt 'von X stammend/ veranlasst'. Das Nomen im Genitiv ist in der reanalysierten Konstruktion kein Genitivattribut mehr, sondern ein Genitivobjekt: 78) Die strukturelle Reanalyse in von X wegen (nach B RAUNMÜLLER 1982: 205) von: [Präp [Gen N] NP ] pp 'von des X Seiten' zu: [Präp [Gen] NP Post] PP 'von X stammend' 'von X veranlasst' Die im Genitivobjekt bezeichnete, zunächst direktive Quelle wurde anschließend zur legitimierenden Instanz, in deren Namen oder mit deren Vollmacht man handelt, was zur weiteren Desemantisierung von wegen führte. Dies zeigt das folgende Beispiel, in dem sich die Konstruktion von X wegen auf die Person des Bischofs bezieht, in dessen Namen die Bürger aus der Stadt geleitet werden: 79) wir ... t n kunt ... da wir die burgere ... geleiten alle von unsers herren des bischoves wege unde von unseren wegen u der stat von Stra burg an dem vorbenemmeten tage unde wider in ir stat (Urkundenbuch d. St. Straszburg 1, 367, 2; 1262) So handelte man auch kraft des Amtes (noch in des Amtes wegen), wenn man dazu wie in 80) befähigt oder wie in 81) gezwungen ist: 80) nahmen von wegen der obrigkeit den wirth ... in gefängliche hafft (Simpl. schriften 3, 389, 19) 81) Ich pin von adels wegen phlichtig zu rathen dir (Guid.Col., Troja, (6), 121) Von dieser Verwendung leitet sich die Bedeutung 'mit Rücksicht auf' ab, die bis heute auftritt, z.B. Er wollte sich seiner Eltern wegen kirchlich trauen lassen (L IND - QVIST 1994: 200). Im nächsten Schritt nahm die Präposition (von) wegen kausale Bedeutung an, vgl. nhd. Wegen dir habe ich mich verspätet. Diese Bedeutung, d.h. der blanke Verweis auf einen Grund, tauchte im 14./ 15. Jh. auf und setzte sich im Laufe des 17. Jhs. durch. Die kausale Lesart resultiert aus der metonymischen Bedeutungsverschiebung: Zunächst bezeichnete von X wegen 'von X veranlasst' oder 'im Namen/ mit Rücksicht auf X geschehen'. Da die Veranlassung als der Grund dafür angesehen werden kann, warum etwas geschehen ist, konnte sich neben der ursprünglichen eine kausale Interpretation entwickeln. Ihre Verselbstständigung wird dann sichtbar, wenn das Nomen im Genitiv keine veranlassende Person mehr bezeichnet, sondern z.B. ein Naturphänomen: Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 100 82) gesche e , da kene der vorgenanten stete von brandes wegin, oder von anderme ungevelle, des vorgeschriebenen geldes neit ingebe (Waldeck. Urkundenbuch 135) Mit fortschreitender Desemantisierung von wegen und zunehmender Grammatikalisierung der gesamten Konstruktion von X wegen machten sich seit dem 15. Jh. auch formale Entwicklungen bemerkbar. Zum einen wurde das Genitivobjekt immer häufiger nachgestellt: 83) von wegen syner koniglichen durchluchtikeit (Urkundenbuch d. st. Arnstadt 249; 1432) Die Nachstellung des Substantivs und der Wandel von einer Zirkumzu einer komplexen Präposition resultieren aus zunehmender Univerbierungstendenz: 84) Der Wandel der Zirkumposition von X wegen zur komplexen Präposition von wegen X (nach B RAUNMÜLLER 1982: 205) von: von X wegen [Präp [Gen] NP Post] PP (Zirkumposition) zu: von wegen X [Präp [Gen] NP ] PP (komplexe Präposition) Während die Form von wegen X zunehmend außer Gebrauch geriet, entwickelte sich zur selben Zeit die Postposition X wegen. Sie entstand aus der Zirkumposition von ... wegen durch Auslassung der einleitenden Primärpräposition von: 85) Der Wandel von der Zirkumposition von X wegen zur Postposition X wegen von: von X wegen [Präp [Gen] NP Post] PP (Zirkumposition) zu: X wegen [[Gen] NP Post] PP (Postposition) Das folgende Beispiel enthält die Postposition (X) wegen: 86) derhalben sol des geldes wegn kein kriegsmann sein gewehr anlegn ( R ingwald, Die lauter Warheit 18; 16. Jh.) Schließlich beobachten Jacob und Wilhelm G RIMM für das 19. Jh.: "da (von) wegen mehr und mehr in die allgemeine sprache eingeht und die nachstellung des subst. das gewöhnliche wird, gerät es unter den einflusz der alten präpositionen und wird deshalb vielfach mit dem dativ verbunden. in den hochd. mundarten ist das wol ganz allgemein [...], aber auch in der umgangssprache ist es herrschend und zeigt sich deshalb gelegentlich bei den besten schriftstellern, wenn sie weniger durch die grammatische regel eingeengt werden (z. b. in briefen). man vermeidet den gen. namentlich, wenn schon ein gen. vorausgeht (wegen Ludwigs todes), wenn der gen. sich vom nom. grammatisch nicht unterscheidet (wegen geschäfte), und auch sonst bei einem einzeln stehenden subst. (wegen mangels)" (DWB 13, 1300-01) Durch diese allmähliche Übernahme der Dativrektion rückt wegen ein weiteres Stück die Grammatikalisierungsskala entlang. Der Dativ wird heute v.a. dann gewählt, wenn keine eindeutige Genitivinterpretation mehr möglich ist (wegen Geschäfte > wegen Geschäften). Unterstützend wirkt sich dabei der Kasussynkretismus im Bereich der Feminina wie in der Sache (Gen./ D.) aus, der sowohl eine Genitivals auch eine Dativinterpretation ermöglicht, vgl. wegen der Sache. Interessanterweise tritt sogar eine eindeutige Genitivrektion zugunsten einer nichteindeutigen Dativrektion zurück, und zwar dann, wenn der Genitiv nur am Sub- Die Entstehung neuer Präpositionen 101 stantiv markiert ist: wegen Todesfalls > wegen Todesfall. Das Dativ regierende wegen muss vorangestellt werden wie in wegen Geschäften, wegen dem Wetter. Die Nachstellung ist bei uneindeutiger Rektion sogar schon blockiert: *Geschäfte wegen (L INDQVIST 1994). Die Struktur [Präp [Gen] NP ] PP setzt sich also zunehmend durch. Neben von X wegen drückte auch von X halben (aus ahd. halba 'Seite') im Mittelhochdeutschen dieselbe Bedeutung ('von der Seite von X') aus. Beide Konstruktionen machten dann eine ähnliche funktionale Entwicklung durch, wobei die Postposition halber (der Ordnung halber 'wegen der Ordnung') und ihre Variante halben an Frequenz verlor. Die konkurrierende wegen-Präposition setzte sich langfristig durch. 5.5.2.2 Noch im Vorfeld oder schon im Laufe der Grammatikalisierung? Die Entwicklung temporaler Präpositionen Mit Hilfe der Präpositionalitätskriterien, die in Kap. 5.5.1 besprochen wurden, können Ausdrücke wie im Laufe, im Vorfeld oder mit Rücksicht auf als Präpositionen identifiziert werden. Sie sind jedoch in vielerlei Hinsicht anders als die Kernpräpositionen. Sie regieren den Genitiv und sind komplexer Natur. Der Funktion nach sind sie jedoch den Präpositionen zuzurechnen, weswegen sie durch primäre Präpositionen ersetzt (substituiert) oder mit ihnen koordiniert werden können. Folgende Ausführungen und Beispiele basieren auf M EIBAUER (1995): 87) Substitution: Mit Rücksicht auf die Kinder/ wegen der Kinder ist er zu Hause geblieben. 88) Koordination: vor und im Laufe der Konferenz; im Vorfeld und nach der Konferenz Die nominalen Bestandteile der Präpositionen konservieren nicht selten alte Flexionsformen wie das Dativ-e: im Laufe ('während') der Konferenz vs. Er musste plötzlich im Lauf anhalten. Im Gegensatz zu freien Fügungen wie im Lauf oder im Zug sind die nominalen Bestandteile der Präpositionen nicht durch ein Adjektiv modifizierbar *im schnellen Zuge der Verhandlungen. Manche der nominalen Bestandteile der komplexen Präpositionen kommen im freien Gebrauch nicht mehr vor (in Anbetracht, *der Anbetracht). Lexikalisierte Phrasen verhalten sich formal ähnlich, z.B. gut bei Leibe sein oder zu Fuß gehen; der Unterschied zwischen den lexikalisierten Phrasen und den komplexen Präpositionen liegt v.a. darin, dass nur die letzteren eine neue, relationale Funktion entwickeln und ein nominales Komplement annehmen: im Laufe (temp. Präp.) der Konferenz (Kompl.). Im Folgenden wird die Entwicklung neuer temporaler Präpositionen betrachtet, die dem Ausdruck der Vorzeitigkeit (im Vorfeld 'vor'), der Gleichzeitigkeit (im Laufe, am Rande 'während') und der Nachzeitigkeit (im Gefolge 'nach') dienen. In der Entwicklung dieser Präpositionen spielt die konzeptionelle Metapher RAUM > ZEIT eine wichtige Rolle: Ihre nominalen Bestandteile gehen in den meisten Fällen auf räumliche Begriffe Vorfeld, Rand und Gefolge 'im Raum sich hinter j-m befindliche Menschengruppe' zurück. In 89) wird die ursprüngliche räumliche Lesart der Ausdrücke illustriert. Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 102 89) räumlich: Am Rande des Beckens fand eine Party statt. 'neben dem Becken', *'während des Beckens' Im Vorfeld der Stadt entstehen neue Siedlungen. 'vor/ außerhalb der Stadt' Im Gefolge befanden sich viele tapfere Ritter 'dahinter folgten viele tapfere Ritter' Die temporale Lesart der jungen Präpositionen zeigen die Beispiele in 90): 90) zeitlich: Am Rande der Konferenz fand eine Party statt. 'während der Konferenz', *'neben der Konferenz' Im Vorfeld der Konferenz wurden Sanktionen angekündigt. 'vor der Konferenz', *'außerhalb des Konferenzraumes' Im Gefolge der Konferenz gab es Auseinandersetzungen. 'nach der Konferenz' Die Präposition für die Gleichzeitigkeit im Laufe enthält ein Nomen, das eine schnelle Bewegung im Raum bezeichnet (der Lauf). Metaphorisch wird es zur Bezeichnung der zeitlichen Sukzession verwendet. Das befähigt die Präposition im Laufe, sich auf längere Zeitabschnitte (im Laufe des Tages, der Jahre) oder auf länger andauernde Ereignisse (im Laufe der Konferenz, des Gesprächs) zu beziehen. Wir betrachten den semantischen Wandel zunächst am Beispiel von am Rande. Die metaphorische Verwendung in am Rande der Konferenz 'während der Konferenz' in 90) ist möglich, weil sich das Nomen Konferenz entweder auf das Ereignis oder auf die Lokalität, in der die Konferenz abgehalten wird, beziehen kann. Die Grundlage für diese Metonymie bildet unsere Vorstellung davon, dass Aktivitäten immer irgendwo stattfinden. Da das Wort Konferenz also sowohl eine lokale als auch eine temporale Lesart haben kann, entsteht eine semantische Ambiguität von am Rande: 91) Am Rande der Konferenz fand eine Party statt. 1) lokal: 'Neben dem Konferenzraum fand eine Party statt' 2) temporal: 'Während des Ereignisses fand eine Party statt' Wenn der Satz geäußert wird, steht es dem Hörer prinzipiell offen, die Phrase am Rande lokal zu verstehen (unter 1). Wenn er jedoch weiß, dass dies nicht der Wahrheit entspricht, weil die Party in einem anderen Gebäude stattgefunden hat, muss er die Lesart 2) konversationell ableiten. +> 'Da benachbarte Dinge zeitgleich existieren, muss der Sprecher gemeint haben, dass eine Party zeitgleich mit der Konferenz stattgefunden hat.' Doch warum verwendet der Sprecher nicht einfach die eindeutige und auch kürzere Präposition während? Der Grund dafür liegt darin, dass die Präposition am Rande es dem Sprecher ermöglicht, nicht nur die Gleichzeitigkeit zu bezeichnen, sondern zugleich auch seine subjektive Einstellung zum Gesagten zu vermitteln. Der Ausdruck am Rande ist viel expressiver als während. Die Expressivität ergibt sich daraus, dass das Wort Rand die Außenregion, nicht die zentrale Region eines Objekts bezeichnet. So sind auch Ereignisse, die am Rande anderer Ereignisse Die Entstehung neuer Präpositionen 103 stattfinden, von untergeordneter Wichtigkeit. Auf diese Weise löst die Verwendung von am Rande eine weitere konversationelle Implikatur aus: 92) untergeordnete Wichtigkeit (konversationelle Implikatur): +> 'Am Rande der Konferenz fand eine Party statt (auf der alles entschieden wurde).' Nur mit Hilfe von am Rande kann der Sprecher eine Spannung aufbauen und auf die Ungewöhnlichkeit der von ihm beschriebenen Situation hinweisen: Alle wichtigen Entscheidungen sind anders als erwartet nicht in der Sitzung, sondern auf der Party gefallen. Die expressive Präposition am Rande macht es also möglich, die eigene Mitteilung als besonders relevant hervorzuheben. Wie die komplexe Präposition am Rande lösen auch im Vorfeld und im Gefolge konversationelle Implikaturen der zeitlichen Lesart aus, s. 91). Auch sie enthalten im Gegensatz zu den primären Präpositionen vor und nach expressive Zusatzkomponenten: im Vorfeld signalisiert nicht nur den zeitlichen Abstand zum bezeichneten Ereignis, sondern zusätzlich auch, dass beide Ereignisse miteinander in Verbindung stehen (Genaueres s. M EIBAUER 1995): 93) Im Vorfeld der Konferenz kam es zu Auseinandersetzungen. Bei im Gefolge wird das Denotat des Komplements (im Gefolge der Konferenz) sogar als Ursache für die folgenden Auseinandersetzungen verstanden: Im Gefolge der Konferenz kam es zu Auseinandersetzungen. Die jungen temporalen Präpositionen im Vorfeld, am Rande und im Gefolge bieten semantisch und pragmatisch mehr als ihre stark grammatikalisierten Pendants 'vor', 'während' und 'nach'. Sie sind dadurch semantisch nicht so stark in das Paradigma der Präpositionen integriert, stattdessen bilden sie ein peripheres semantisches Feld. Dieses Feld wird semantisch und pragmatisch dadurch zusammengehalten, dass alle Präpositionen sich auf die Zeitrelation beziehen und ähnliche konversationelle Implikaturen auslösen. Formal schweißt sie ihre Struktur zusammen: im Vorfeld, am Rande, im Gefolge, im Laufe usw. bestehen aus einem Präposition-Artikel-Klitikon und einem nominalen Bestandteil. Zusätzlich liefert die Entwicklung der neuen temporalen Präpositionen eine Antwort auf die Frage, warum sich die zu jedem Zeitpunkt doch perfekt funktionierende Grammatik einer Sprache überhaupt wandelt, warum Grammatikalisierung in Bewegung gesetzt wird. So besitzt das Deutsche eine gut ausgebaute Reihe von primären Präpositionen, die die unterschiedlichen (temporalen) Relationen auf perfekte Weise ausdrücken können: vor, während oder nach der Konferenz. Doch im Zuge der Grammatikalisierung haben sie den pragmatischen, expressiven Überbau verloren. Die sekundären Präpositionen sind zwar semantisch sehr eingeschränkt, lösen aber zusätzlich bestimmte Implikaturen aus. Mit Hilfe der neuen Präpositionen kann der Sprecher mehr mitteilen als nur die temporale Relation, z.B. die untergeordnete Wichtigkeit. Dies ermöglicht dem Sprecher, auf die eigene Einstellung hinzuweisen und so Spannung zu erzeugen, z.B. Am Rande der Konferenz (+> untergeordnete Wichtigkeit) fand eine Party statt. Stell dir vor, dort wurde alles entschieden. Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 104 5.6 Die Fixierung der Nominalphrase Bisher haben wir uns bei der Betrachtung der Grammatikalisierung vorwiegend auf die Entwicklung einzelner grammatischer Elemente wie Definit-, Indefinitartikel oder Präposition beschränkt. In diesem Kapitel wird genauer auf die Rolle des syntaktischen Kontextes in der Grammatikalisierung eingegangen. So entwickelte sich weder das Demonstrativ dieser (ahd. ther) noch das Zahlwort ein isoliert zu einer grammatischen Kategorie. Vielmehr war ihre Entwicklung zum Definit- und Indefinitartikel nur in Verbindung mit einem Substantiv (Nomen), d.h. in adnominaler Position möglich: ther 'dieser' + Nomen > der (Definitartikel) + Nomen, ein 'Zahlwort' + Nomen > ein (Indefinitartikel) + Nomen. In anderen syntaktischen Positionen wurde das Demonstrativ ther nicht zum Artikel funktionalisiert, sondern: 1) zur Konjunktion dass (Ich weiß, dass sie heute kommt; s. Kap. 7.1), 2) zum Relativpronomen (Die Frau, die dort steht, kann uns helfen) oder 3) zum Personalpronomen (umgangssprachlich Die hat es doch gewusst). Daraus folgt, dass die Grammatikalisierung Demonstrativ > Definitartikel nur in der Konstruktion Demonstrativ + Nomen, d.h. in der Nominalphrase, erfolgreich stattfinden konnte (H IMMELMANN 1997). Dies gilt auch für den Indefinitartikel ein. Im Zuge der Entwicklung wandelte sich daher nicht nur die Funktion des Demonstrativs ther oder des Zahlwortes ein, sondern auch die Struktur der Nominalphrase: Im Althochdeutschen wurde der Definitartikel, im Mittelhochdeutschen der Indefinitartikel zum obligatorischen Bestandteil der definiten bzw. indefiniten Nominalphrase. Da eigentlich die ganze Phrase die Grammatikalisierungsdomäne darstellt, muss man von einer Grammatikalisierung der gesamten Konstruktion sprechen (s. auch T RAUGOTT 2003, 2008, B ERGS / D IEWALD 2008). Die konstruktionelle Grammatikalisierung manifestiert sich in der zunehmenden Frequenz und Obligatorisierung von determinierten Nominalphrasen, d.h. solchen mit Determinierer (z.B. ahd. ther 'dieser'). Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung bildet ein relativ locker gefügtes Syntagma, das neben dem Substantiv auch andere Elemente enthalten konnte, aber nicht musste. So konnte im frühen Althochdeutschen das Nomen blank auftreten, z.B. sunu '(der/ ein) Sohn'. Im Laufe des Althochdeutschen nahm die Frequenz des adnominalen Demonstrativs ther jedoch stetig zu: In der Isidor-Übersetzung (8. Jh.) tritt es in 45% aller determinierten Phrasen auf (z.B. dher forasago 'der/ dieser Prophet'), bei Notker (11. Jh.) schon in 55% (O UBOUZAR 1997b: 163). Dabei expandierte die ther-Phrase allmählich auf neue (semantische und syntaktische) Kontexte (H IMMELMANN 2004): Die Kap. 5.2.3-5.2.4 beschreiben den Übergang von den pragmatisch definiten Kontexten, die für ein Demonstrativ typisch sind, in die semantisch definiten Kontexte, in denen ther in der grammatischeren Funktion des Definitartikels auftritt. Die syntaktische Ausweitung der ther-Phrase zeigt sich wiederum darin, dass sie sich zuerst in der Subjekt- und Objektposition und erst später in adverbialen Präpositionalphrasen durchsetzte, Die Fixierung der Nominalphrase 105 daher bei Notker (10./ 11.Jh.) noch in himile, nah t de, heute im Himmel, nach dem Tod. Noch im Mittelhochdeutschen traten artikellose Präpositionalphrasen (neben solchen mit dem Definitartikel) auf, z.B. mhd. über lant, zu helle (neben zur hellen 'zur Hölle'), ûf erden. Die Artikellosigkeit ist in festen Wendungen bis heute konserviert worden, z.B. auf Erden, zu Ende, nach Hause usw. Nicht nur die Frequenz des Demonstrativs ther, sondern auch anderer Determinierer wie der Possessiva (mein, dein usw.) ist im Laufe des Althochdeutschen gestiegen, wodurch eine nur aus einem Nomen bestehende Nominalphrase wie sunu 'Sohn' zunehmend marginalisiert wurde: Während bei Isidor nur die Hälfte aller Nominalphrasen einen Determinierer enthält, sind es bei Notker schon 70% (O UBOUZAR 1997b: 163). Possessiva und andere Determinierer hatten im Althochdeutschen noch keine feste Position. Anders als heute konnten sie nicht nur vor (min liobo sun 'mein lieber Sohn' T 14, 5), sondern auch nach dem Substantiv stehen wie in liub kind min (O I, 9, 16) (s. S CHRODT 2004: 30). Diese Reihenfolge ist in festen Wendungen wie Vater unser oder in Königsnamen wie Karl der Große konserviert worden. Die heute übliche pränominale Position aller Determinierer (unser Kind, dieses Kind usw.) setzte sich im Althochdeutschen allmählich durch, und zwar unter dem Einfluss der sich grammatikalisierenden Konstruktion Definitartikel + Nomen (H IMMELMANN 1997: 134). Auf diese Weise entwickelte sich eine feste Wortfolge innerhalb der determinierten Nominalphrasen: Determinierer + Nomen. Schon im Althochdeutschen setzten weitere Festigungsprozesse innerhalb der Nominalphrase ein. Diese betreffen zum einen die Position anderer Phrasenglieder (z.B. der attributiven Adjektive) und zum anderen die morphosyntaktische Bindung innerhalb der Nominalphrase. 1) Die Position der attributiven Adjektive und ihre Flexionsfähigkeit Im Althochdeutschen traten Adjektive zunächst sowohl präals auch postnominal auf (S CHRODT 2004): 94) pränominal: ther guoto willo 'der gute Wille' (O IV, 37, 30) 95) postnominal: in einemo felde sconemo 'in einem schönen Feld' (N MC I, 39, 8) Schon im Laufe dieser Sprachperiode wurde die Nachstellung wie in 95) zunehmend marginalisiert. Interessanterweise trugen gerade die pränominalen Adjektive dazu bei, dass der Definitartikel schon in der frühesten Phase seiner Entwicklung nicht in direkter Nachbarschaft zu seinem Bezugsnomen stand, sondern von diesem syntaktisch entfernt war, z.B. ther guoto willo 'der gute Wille'. Mit der Festigung der pränominalen Adjektivstellung entwickelte sich die grammatische Konstruktion Definitartikel + Nomen zu einer Nominalklammer, d.h. zu einer Rahmenstruktur wie in das [große, alte, vor kurzem renovierte] Haus. Auch der später entstandene Indefinitartikel formt mit dem Nomen eine Nominalklammer, z.B. ein [großes, altes, vor kurzem renoviertes] Haus. Die attributiven Adjektive werden auf diese Weise von zwei eng zusammengehörigen Elementen, dem phraseninitialen Artikel und dem phrasenfinalen Nomen, eingeklammert (s. R ONNEBER- GER -S IBOLD 1991, 1994, 1997). Dieselbe Position der Adjektive setzte sich in allen Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 106 Nominalphrasen durch, also auch solchen mit Possessiva oder Demonstrativa oder auch ohne Determinierer, z.B. mein großes, altes, vor kurzem renoviertes Haus; dieses große, alte Haus; großes Haus. Seit dem Frühneuhochdeutschen stehen auch Erweiterungen zu attributiven Adjektiven bzw. Partizipien (z.B. stehend) regelmäßig in der Klammer, z.B. der (im Garten meiner Nachbarin) stehende Baum (L ÖT- SCHER 1990, S CHNEIDER -M IZONY 2000). Auf diese Weise wurde die syntaktische Position der Elemente in der Nominalphrase zunehmend gefestigt. Die innere Strukturiertheit der Nominalphrase wurde zusätzlich erhöht, indem langfristig nur pränominale Adjektive flexionsfähig blieben, vgl. heute (pränominal, flektiert) der an Witz und an Vermögen reiche Seneca vs. (postnominal, unflektiert) Seneca, reich an Witz und an Vermögen. Schon im Mittelhochdeutschen waren nachgestellte Attribute meist unflektiert wie in der winter kalt 'der kalte Winter' (Wa 114,30), seltener flektiert wie in der knappe guoter 'der gute Knabe' (Pz 138,7; s. P AUL et al. 23 1989: 357). Seit dem Frühneuhochdeutschen beschränkt sich die adjektivische Flexion nur noch auf die pränominale Position, z.B. der reiche Mann, des reichen Mannes, die reichen Männer usw. (E BERT et al. 1993: 200). Nur in dieser Position kongruieren Adjektive mit dem Nomen in Kasus, Numerus und Genus mit dem Substantiv und Artikel, wodurch die gesamte Nominalphrase als syntaktische Einheit hervorgehoben wird. 2) Der Stellungswandel des Genitivattributs (präzu postnominal) Elemente, die nicht mit dem Nomen kongruierten, z.B. Genitivattribute (der Preis des Hauses), erfuhren in der Geschichte des Deutschen einen systematischen Stellungswandel: So konnten Genitivattribute vom Althochdeutschen (s. dazu die Diskussion in Kap. 5.2.1) bis zum frühen Frühneuhochdeutschen (bis ca. 1500) sowohl präals auch postnominal auftreten (D EMSKE 2001): 96) Pränominales Genitivattribut (aus D EMSKE 2001: 215) des hertzogen von Burgundien diener der sachen vrteiler 97) Postnominales Genitivattribut (aus D EMSKE 2001: 216) zuo der porten des tempels zehilff der künigin Im 16./ 17. Jh. wurden Genitivattribute sukzessive aus der pränominalen Position ausgeschlossen. Dies vollzog sich entlang der Belebtheitsskala: Im 16. Jh. wurden unbelebte Genitivattribute (heute der Preis des Hauses) schon überwiegend (zu etwa 90%) nachgestellt (D EMSKE 2001). Im 17. Jh. wurden auch belebte Nomina im Genitiv immer häufiger postnominal realisiert (heute das Bellen der Hunde). Die Voranstellung bleibt heute den Eigennamen vorbehalten, z.B. Ninas Geburtstag (der sog. Genitivus possessivus). Allerdings können diese auch nachgestellt werden, dann aber muss vor dem Basisnomen (Geburtstag) der Definitartikel stehen: der Geburtstag von Nina. Die Nachstellung ist auch die einzige Option bei attribuierten Eigennamen: der Geburtstag der lieben Nina, nicht *der lieben Ninas Geburtstag. Die Fixierung der Nominalphrase 107 3) Attributive und prädikative Adjektive Auch die Unterbindung der Flexion bei prädikativen Adjektiven und Partizipien führte zur strukturellen Hervorhebung der Nominalphrase und zu ihrer Abgrenzung von der Verbalphrase, z.B. das neue Fahrrad (attributiv) vs. das Fahrrad ist neu (prädikativ). Im Althochdeutschen waren flektierte Prädikatsadjektive noch die Regel: 98) nu wird thu stummer sar 'so sei stumm' (wörtlich "so werde du stummer"; O I, 4, 66) 99) after thrin tagun fundun inan in themo temple sizzantan untar mitten then lerarin (T 12, 4) 'nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel mitten unter den Gelehrten sitzend (wörtlich: "sitzenden", Akk.Sg.)' Die Flexion des prädikativen Adjektivs wurde schon im Mittelhochdeutschen seltener und ist im Verlauf des 16. Jhs. endgültig aufgegeben worden (E BERT et al. 1993: 202, F LEISCHER 2007). Auf diese Weise entwickelte sich die heutige Differenzierung zwischen flektierten attributiven (der schöne Abend) und unflektierten prädikativen Adjektiven (der Abend ist schön). Das Adjektiv flektiert heute nur noch innerhalb der Nominalphrase. 4) Die innerphrasale Adjektivflexion Schließlich wurde die Struktur der Nominalphrase durch die Entwicklung der sog. kooperativen Flexion gefestigt (R ONNEBERGER -S IBOLD 1991, 1994, 1997). Die kooperative Flexion kommt dadurch zustande, dass die einzelnen Elemente der Nominalphrase keine eindeutige Information zu Kasus, Numerus und Genus liefern. So ist die Artikelform der mehrdeutig (ambig). In der schöne Kater transportiert der die Information 'Nom.Sg.Mask.', in der schönen Katzen hingegen 'Gen.Pl.'. Wie Abb. 36 zeigt, sind bei der insgesamt vier Bedeutungen möglich. Abb. 36: Die kooperative Flexion im Neuhochdeutschen am Beispiel von der Erst in Verbindung mit dem folgenden Adjektiv wird in der schöne (Kater) klar, dass es sich bei der um die Nom.Sg.Mask.-Form handelt. Dabei ist aber auch schöne keine eindeutige Adjektivform, da sie auch feminin (die schöne Katze) oder pluralisch interpretiert werden kann (schöne Katzen). In vielen Fällen wie bei der schönen (Gen./ Dat.Sg.Fem. oder Gen.Pl.) wird für die eindeutige grammatische der 'N.Sg.M.' 'Gen.Sg.F.' 'Dat.Sg.F.' 'G.Pl.' schöne schönen Kater Katze Katzen Grammatikalisierungen im nominalen Bereich 108 Information sogar die Substantivform benötigt. Erst in Kooperation ergeben die Endungen in d-er schön-en Katz-en die grammatische Information 'Gen.Pl.'. Dieses Flexionsverhalten erhöht die morphosyntaktische Bindung, d.h. die Fügungsenge zwischen den Gliedern der Nominalphrase. So bleibt bspw. der Definitartikel der zwar syntaktisch selbstständig, morphosyntaktisch, d.h. hinsichtlich des Kasus-, Genus- und Numerusausdrucks, steht der hingegen in einer wechselseitigen Abhängigkeit von der Form des Adjektivs und des Nomens. Zur Entwicklung der kooperativen Flexion haben zum großen Teil phonologische Prozesse beigetragen: So fielen im Zuge der mhd. Nebensilbenabschwächung die althochdeutschen Artikelformen ther 'Nom.Sg.Mask.', thera 'Gen.Sg. Fem.', theru 'Dat.Sg.Fem.' und thero 'Gen.Pl.' zu der zusammen. Diese Reduktionen haben sich auch auf die Flexionsformen der Adjektive und Substantive ausgewirkt, z.B. den Abbau des Dativ-e wie in mhd. in dem walde > nhd. in dem Wald. Einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der kooperativen Flexion lieferte der morphosyntaktische Wandel im Bereich der Adjektivflexion. Diese war im Althochdeutschen semantisch gesteuert (D EMSKE 2001): Die sog. schwache Adjektivflexion, die ursprünglich (im Germanischen) sogar allein die Definitheit markierte (s. Kap. 5.2.1), trat im Althochdeutschen nur in definiten Nominalphrasen auf, s. Tab. 14. Daher standen schwache Adjektivformen im Althochdeutschen nach dem bestimmten Artikel, dem Demonstrativ und dem Possessiv. Schwache Adjektivformen erkennt man im Althochdeutschen daran, dass sie fast nur auf -n, im Nom.Sg. auf -o (Mask.) oder -a (Fem./ Neutr.) und im Akk.Sg.Neutr. auf -a auslauten (s. S ONDEREGGER 2 2003). Starke Adjektivendungen kookkurrierten im Althochdeutschen mit den indefiniten Determinierern wie Indefinita ('irgendwelch-'), Interrogativa ('welch-') und später auch mit dem Indefinitartikel. Tab. 14: Die semantisch gesteuerte Adjektivflexion im Althochdeutschen (nach D EMSKE 2001: 82) Determinierer Adjektivflexion Beispiel Demonstrativ thesemo armen wibe (O III, 17, 64) 'diesem armen Weib' Possessiv min liobo sun (T 14, 5) 'mein lieber Sohn' definite Determinierer Definitartikel (ab Spätahd.) schwach (def.) demo unrehten uuege (N Ps. 35 115, 20) 'dem bösen Weg' Indefinitum (irgendein, manch usw.) sum arm betalari (T 107, 1) 'ein (gewisser) armer Bettler' Interrogativum uuelih ander mennisco (N Ps. 88 331, 27) 'welch anderer Mensch' kein Artikelwort fon guotemo werke (T 134, 7) 'um des guten Werks willen' blint r oder blint mann 'blinder Mann' indefinite Determinierer Indefinitartikel (ab Spätahd.) stark (indef.) ein armaz w b (O II, 14, 84) 'ein armes Weib' mit einemo rotemo tuoche (N MC I, 56, 15) 'mit einem roten Tuch' Diese semantisch gesteuerte Relation zwischen der Flexion des Adjektivs und des Determinierers ist aufgrund der bereits erwähnten Nebensilbenabschwächung im Die Fixierung der Nominalphrase 109 Mittelhochdeutschen ins Wanken geraten. Nachdem die unbetonten Vokale zu Schwa geworden waren, sind viele Adjektivendungen zusammengefallen, z.B. 100) Plural Maskulinum Plural Femininum ahd. guote tag 'gute Tage' vs. guoto muoter 'gute Mütter' mhd. guote tage vs. guote muoter Dies führte dazu, dass im Frühneuhochdeutschen zwischenzeitlich nach allen Determinierern beide Flexionsformen der Adjektive gleichermaßen möglich waren, bis sich im 16./ 17. Jh. die morphologisch gesteuerte Adjektivflexion herausbildete (s. Tab. 15). Hierbei reagiert das Adjektiv darauf, ob der Determinierer grammatische Informationen zu Kasus, Genus und Numerus transportiert: Die starke Adjektivflexion folgt der schwachen Determiniererform, z.B. ein (schwach) altes (stark) Tuch. Schwache Adjektivendungen treten seit dem Frühneuhochdeutschen nur nach starken Determiniererformen auf, daher dem (stark) roten (schwach) Tuch und einem (stark) roten (schwach) Tuch (< ahd. (beide stark) einemo rotemo tuoche). Das letzte Beispiel ahd. einemo rotemo tuoche > nhd. einem roten Tuch macht deutlich, dass sich hierdurch die morphosyntaktischen Abhängigkeiten innerhalb der Nominalphrase verstärkt haben: Die eindeutigere (starke) Adjektivform rotemo wurde durch die ambige Form roten ersetzt. Die Form roten steht im Gen.Sg.Neutr. (des roten Kleids) oder Akk.Sg.Mask. (den roten Anzug). Tab. 15: Die neuhochdeutsche Adjektivflexion (nach D EMSKE 2001: 82) Determinierer Adjektivflexion Beispiele Definitartikel Demonstrativpronomina (dieser, jener, solcher) Indefinitpronomina (jeder, mancher) Interrogativpronomen welcher schwach der alte Hund, die alten Hunde des alten Hundes dem alten Hund usw. kein Artikelwort stark alter Freund, alter Freunde altes Pferd, altem Pferd Indefinitartikel ein Negationsartikel kein Possessiv mein, dein … gemischt ein altes Haus (stark) einem alten Haus (schwach) Insgesamt besteht die strukturelle Entwicklung der Nominalphrase vom Altzum Neuhochdeutschen in ihrer syntaktischen Fixierung, dadurch dass die einzelnen Glieder (Determinierer, Adjektive, Substantive) eine feste Position zugewiesen bekamen, sowie in der Zunahme an morphosyntaktischer Fügungsenge (S ZCZE- PANIAK i.Dr.). Die hier besprochenen (morpho-)syntaktischen Prozesse haben dazu geführt, dass die Nominalphrase einen hohen Grad an interner Strukturiertheit, d.h. einen höheren Grammatikalisierungsgrad erreicht hat. Abb. 37: Die interne Struktur der neuhochdeutschen Nominalphrase der schöne, getigerte Kater der Nachbarin auf dem Hof Determinierer (darunter Artikel) flektierte Attribute Nomen unflektierte Attribute kooperative Flexion 6 Grammatikalisierungen im verbalen Bereich Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Grammatikalisierungen, die zur Entwicklung neuer grammatischer Informationen am Verb oder zur formalen Erneuerung bereits bestehender verbaler Informationen geführt haben. In Kap. 6.1 wird die Entwicklung des Dentalsuffixes -te wie in lach-te geschildert. Die Präteritalendung der schwachen Verben begann sich bereits im Germanischen herauszubilden, weswegen sie nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen germanischen Sprachen vorkommt, vgl. engl. I open - I open-ed, schwed. jag öppnar - jag öppna-de 'ich öffne/ öffnete'. Kap. 6.2 beschreibt die Renovation der Person und Numeruskategorie durch die Obligatorisierung der Subjektspronomina. Heute wird die Information zu Numerus und Person zum Teil nur mit Hilfe der Subjektspronomina ausgedrückt, vgl. wir/ sie kommen. Der Entwicklung des haben-Perfekts wie in sie hat geschlafen ist Kap. 6.3 gewidmet. In Kap. 6.4 wird die Polygrammatikalisierung des Verbs werden beschrieben, die u.a. die Entwicklung der bis dahin nicht existierenden Futurkategorie (sie wird nicht kommen) umfasst. Zwei weitere Innovationen, die Herausbildung des sog. Rezipientenpassivs (sie bekommt vorgesungen) und des am-Progresivs (ich bin am schreiben) werden in Kap. 6.5 und Kap. 6.6 vorgestellt. Schließlich schildert Kap. 6.7 die Grammatikalisierung von Modalverben, die heute neben der objektiven Modalität wie in sie muss gehen 'sie ist gezwungen zu gehen' auch die subjektive Modalität ausdrücken können, z.B. sie muss sich geirrt haben 'ich nehme sicher an, dass sie sich geirrt hat'. Die subjektiven Modalverben üben eine ähnliche Funktion aus wie der Konjunktiv, da sie die subjektive Stellungnahme des Sprechers (z.B. sein Überzeugt-Sein) zum bezeichneten Sachverhalt (sie hat sich geirrt) ausdrücken. Mit den subjektiven Modalverben entwickelt sich also eine neue Moduskategorie. 6.1 Die Entstehung der schwachen Verbflexion Im Deutschen dient das sog. Dentalsuffix -te der regelmäßigen (schwachen) Präteritumbildung, z.B. ich suche (Präsens) - ich suchte (Präteritum), du baust - du bautest oder sie lehrt - sie lehrte. Heute flektieren die meisten Verben (das sind mehr als 4 000) schwach, darunter auch die entlehnten, z.B. sie cancelte/ sie brillierte. Dabei heftet sich das Suffix -te an den Verbalstamm such-. Dem Dentalsuffix folgt die Person/ Numerus-Endung: such-te-st - eine sehr einfache Formbildung. Diesem additiven Verfahren steht das modulatorische der starken Verben gegenüber. Hier wird der Verbalstamm verändert, meist durch Vokalwechsel (sog. Ablaut), um die Information 'Vergangenheit' auszudrücken: ich fliege (Präsens) - ich flog (Präteritum). Der Ablaut ist das ältere der zwei Flexionsverfahren, seine Anfänge liegen im Indoeuropäischen (zur Funktionalisierung des Ablauts im Ahd. s. u.a. S ONDEREGGER 1979, M AILHAMMER 2007). Im Folgenden konzentrieren Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 112 wir uns auf die Entwicklung des Dentalsuffixes, die erst im Germanischen, einer gemeinsamen Vorstufe der heutigen germanischen Sprachen, begonnen und sich größtenteils in dieser Sprachperiode abgespielt hat. Dies erklärt, warum alle germanischen Sprachen das Dentalsuffix kennen oder kannten (s. Kap. 6.1.2). Im Althochdeutschen war die schwache Präteritumbildung bereits etabliert, z.B. suoh-t-a 'suchte', mach -t- s(t) 'machtest' oder fr g -t-um '(wir) fragten'. Die Vergangenheitsformen schwacher Verben enthielten den Flexionsstamm, meist mit einem sog. Themavokal wie -in mach -t-a (von mach n 'machen'), das Dentalsuffix -t und die Person/ Numerus-Endung -a, -ost, -um usw. (s. Tab. 17, S. 116). Zu Beginn der deutschen Sprachgeschichte bekommen wir also mit dem gebundenen Grammem -t einen sehr fortgeschrittenen Grammatikalisierungsstand zu greifen. Präteritalendungen gibt es schon in den ältesten Runeninschriften, die zu den ersten Sprachzeugnissen aus der gemeinsamen germanischen Vorstufe gehören. Die Runen wurden von den Germanen ungefähr seit der Zeitenwende zu meist kultischen Zwecken in festes Material wie Stein oder Metall eingeritzt (s. D ÜWEL 3 2001). Eine Präteritalform tawiðo 'machte' ist u.a. in der Inschrift auf dem Goldhorn von Gallehus (um 400 n.Chr.) überliefert (S TREITBERG 1943 [1896]). In Fällen wie diesem, wo die Entwicklung nicht anhand der Analyse von existierenden Schriftzeugnissen nachgezeichnet werden kann, kommt der Grammatikalisierungsforschung eine ganz besondere Rolle zu: Sie stellt ein systematisches Wissen über die Entstehung der Grammatik in Form von Verlaufsmodellen, Grammatikalisierungspfaden und Entwicklungsprinzipien bereit. Diese theoretischen Erkenntnisse können zur Rekonstruktion einer Grammatikalisierung eingesetzt werden. Unter Bezug auf das von H EINE (2003a) entwickelte Grammatikalisierungsmodell, das vier Mechanismen - die Desemantisierung, die Extension, die Dekategorialisierung und die Erosion - umfasst, wird in Kap. 6.1.1 die Entwicklung des Dentalsuffixes rekonstruiert. Diese war, wie bereits gesagt, im Althochdeutschen weitgehend abgeschlossen. Hier war das Dentalsuffix auch schon gut in das grammatische System integriert: In seinem zweistufigen Tempussystem (Präsens/ Präteritum) stellte das Dentalsuffix neben dem Ablaut ein weiteres Mittel zum Präteritumausdruck dar, z.B. ahd. mach -t-a 'machte' (schwach/ Dentalsuffix) vs. fuor 'fuhr' (stark/ Ablaut). Da das Tempus am Verb spezifiziert werden musste, war das Dentalsuffix schon obligatorisch und sehr produktiv - es verband sich schon im Althochdeutschen mit den meisten Verben. Nur noch etwa 350 Verben lauteten im Althochdeutschen ab (A UGST 1975). 6.1.1 Vom Inhaltswort tun zum Suffix -te Das Dentalsuffix -te stammt höchstwahrscheinlich vom germanischen Vollverb *d n 'tun', das auf die indoeuropäische Wurzel *d h - 'setzen' zurückgeht. Für die Plausibilität dieser Annahme führt die (indo-)germanistische Forschung eine Reihe von Argumenten an: Die Rückführung des Dentalsuffixes auf das Verb 'tun' wird durch morphologische und phonologische Rekonstruktionen unterstützt (T OPS 1974, B AMMESBERGER 1986, K LUGE / S EEBOLD 24 2002, H ILL 2004, K I- PARSKY 2009). Die Entstehung der schwachen Verbflexion 113 Das Verb tun ist generell ein sehr geeigneter Kandidat für Grammatikalisierungen. Es bezeichnet ein Basiskonzept, eine unspezifische Tätigkeit. Solche elementaren Wörter dienen aufgrund ihrer allgemeinen Bedeutung häufig als Grammatikalisierungsspender (H EINE et al. 1991). Mit anderen Worten: Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein so allgemeines Verb wie tun und eben nicht ein spezifisches wie malen, stricken oder kochen grammatikalisiert wird. tun konnte also im Germanischen als Spender für das Dentalsuffix dienen. In der Germania bildet tun den Ausgangspunkt für viele verschiedene Grammatikalisierungen: Im Englischen entwickelte es sich zu einer (sehr seltenen) Art von Hilfsverb, das in negierten, in elliptischen und in Fragesätzen eingesetzt wird. Hier übernimmt es die Flexion: He doesn't/ didn't sleep well, Did/ Does he sleep well? , He didn't sleep but she did (C ULICOVER 2008). Auch im gesprochenen Deutsch gibt es tun-Periphrasen. In präsentischen Sätzen folgt das flektierte tun einem topikalisierten, satzinitialen Vollverb: Schreiben tue ich nicht gerne. Bei normaler Satzgliedfolge wird mit dem Hilfsverb tun wiederum eine analytische Präsensform gebildet: Sie tut viel schreiben. Diese tun-Periphrasen sind viel jünger als das Dentalsuffix, sie entstanden erst im Laufe der deutschen Sprachgeschichte: Das analytische Präsens ist seit dem Mittelhochdeutschen bezeugt (W EISS 1956). Die ersten Belege für das Topikalisierungsmuster stammen aus dem 18. Jh. (F ISCHER 2000). Beide Bildungen gehören zu einem viel umfangreicheren Netz von tun- Konstruktionen, die schon im 16./ 17. Jh. negativ konnotiert waren und nicht in die Grammatik der Standardsprache aufgenommen wurden (L ANGER 2000). In Dialekten sind tun-Periphrasen in verschiedenen Funktionen weit verbreitet: Im Alemannischen wurde tun zum Konjunktivhilfsverb funktionalisiert (alem. i däät lääse 'ich würde lesen', wörtl. "ich täte lesen"), im Niederdeutschen u.a. zum Nebensatzmarker (ndt. En Kind, wat quarken deit, will Hölp hebben 'Ein nörgelndes Kind möchte Hilfe bekommen'). Im Walserdeutschen von Gressoney (einem alemannischen Dialekt) verdrängt ein analytisches tun-Präsens die synthetischen Formen, z.B. ix tuen laxxe 'ich lache', wörtl. "ich tue lachen" (x entspricht ch in machen). Schließlich gibt es in ostmittel- und niederdeutschen Dialekten eine präteritale tun-Umschreibung, z.B. in der Kärche warre alles gerammelte voll, awer senge tat kee Luder 'Die Kirche war gerammelt voll, trotzdem sang niemand' (Thüringisch; aus F ISCHER 2000: 141). Belege für das präteritale tun-Hilfsverb gibt es seit dem 17. Jh. Hier kann derselbe Grammatikalisierungspfad wie bei der Entwicklung des Dentalsuffixes angenommen werden. Im Germanischen wurde 'tun' bei schwachen Verben eingesetzt. Diese Verben hatten eine komplexe Struktur und konnten ihre Vergangenheitsformen nicht wie starke Verben mit dem Ablaut bilden: Der Vokalwechsel war auf einsilbige Verbstämme beschränkt (vgl. ahd. sing-an 'singen'/ ih sing-u 'ich singe' - ih sang 'ich sang' - wir sung-un 'wir sangen'). Die schwachen Verben enthielten komplexe, zwei- oder mehrsilbige Flexionsstämme, weil sie von Adjektiven, Substantiven oder anderen Verben mit einem Wortbildungsaffix abgeleitet wurden. Schwache Verben hatten u.a. eine kausative Bedeutung, d.h. sie bezeichneten den Vorgang des Verursachens. Zu dieser Gruppe zählt das germanische Verb *wak-ja-n 'wecken', das aus der adjektivischen Basis *wak(a)- 'wach', dem (kausativen) ja-Suffix Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 114 und der n-Infinitivendung besteht. Verben wie dieses bezeichnen den Vorgang, durch den ein im Adjektiv ausgedrückter Zustand (wach) herbeigeführt wird: wecken 'wach machen', vgl. nhd. glatt - glätten 'glatt machen' oder tot - töten (S ON- DEREGGER 1979: 91, S CHWERDT 2008). Da den Sprechern des Germanischen keine Vergangenheitsform für die schwachen Verben zur Verfügung stand, lösten sie dieses "kommunikative Problem" durch eine Umschreibung, etwa ich tat jemand wecken, ich tat salben oder ich tat etwas zählen. In der germanischen Wortstellung folgte die flektierte Präteritumform von 'tun' dem unflektierten schwachen Vollverb, ähnlich wie heute im Nebensatz. Die Umschreibung hatte also in etwa die folgende Struktur: Abb. 38: Die Umschreibung mit dem Verb 'tun' unflektierte Form des Hauptverbs Vergangenheitsform von tun (ich) wecken tat 'ich tat wecken' 1) Desemantisierung Da wir häufig von etwas, was schon geschehen ist, berichten, muss die Umschreibung sehr frequent gewesen sein. Dies förderte die Desemantisierung von 'tun'. Traten die Präteritumformen von 'tun' neben einem infiniten (schwachen) Verb auf, wurden sie zunehmend auf die Bedeutung 'Vergangenheit' reduziert. Das unspezifische Verb tun, das anfangs eher notdürftig zur Umschreibung der Vergangenheit benutzt wurde, wurde als Hilfsverb reanalysiert: Abb. 39: Die Reanalyse des germanischen Verbs 'tun' zum Hilfsverb Hauptverb Vergangenheitsform des von unspezifischen Verbs tun wecken tat 'ich tat wecken' zu Hauptverb Hilfsverb wecken tat 'ich weckte' 2) Extension (Kontexterweiterung) Das desemantisierte Hilfsverb konnte sich anschließend auch mit Verben verbinden, die keine Tätigkeit im strengen Sinne bezeichneten, z.B. Gefühlsverben, Verben des Denkens oder Sagens (fühlen, lieben, hassen, denken, meinen, sagen, behaupten usw.). Solche Kontexterweiterungen, d.h. analogische Ausbreitungen auf immer neue Verbgruppen, trugen massiv dazu bei, dass die neue, grammatische Funktion als Tempushilfsverb immer gebräuchlicher wurde und sich letztendlich durchsetzte. Auf diese Weise spaltete sich das Hilfsverb tun vom Vollverb 'tun' ab, das sich - außerhalb der Tempuskonstruktion - in vielen germanischen Sprachen, darunter im Deutschen, bis heute erhalten hat, vgl. Was muss ich tun, um dich zu überzeugen? Die Entstehung der schwachen Verbflexion 115 Abb. 40: Die Kontexterweiterung (analogische Ausbreitung) Hauptverb Hilfsverb wecken tat fühlen, lieben, hassen ... denken, meinen ... sagen, behaupten ... 'ich weckte, fühlte, meinte, sagte ...' 3) Dekategorialisierung Mit der Übernahme der Hilfsverbfunktion verlor das Verb tun einige morphosyntaktische Eigenschaften, die ein Vollverb auszeichnen. Damit begann die Dekategorialisierung. Als Vollverb forderte tun Ergänzungen, indem es Leerstellen im Satz eröffnete, die durch ein Subjekt, ein Objekt und andere Satzglieder besetzt werden mussten, z.B. Ich (Subjekt) tue dir (indirektes Objekt) einen Gefallen (direktes Objekt). Diese Aufgabe übernahm in der Hilfsverbkonstruktion das infinite Vollverb wie wecken oder fühlen. Das Hilfsverb tun erledigte nur noch eine grammatische Aufgabe, Präteritumformen des Vollverbs zu bilden. Zur Dekategorialisierung und Abspaltung vom Vollverb 'tun' trug weiterhin auch die Tatsache bei, dass das Forminventar des Hilfsverbs auf Präterita wie tat, taten usw. beschränkt war, während das Vollverb 'tun' in allen Tempusformen erscheinen konnte. 4) Erosion Nach dem Abbau der morphosyntaktischen Eigenschaften verloren die Formen des Hilfsverbs tun den Wortakzent und lehnten sich immer stärker an das vorangehende Vollverb an. Die Verschmelzung begann schon im Germanischen und führte dazu, dass die syntaktisch selbstständigen Formen wie tat, taten usw. zu Klitika wurden. Dieser Zustand ist teilweise im Gotischen, einer ausgestorbenen, ostgermanischen Altsprache aus dem 4.-6.Jh. n.Chr., festgehalten worden (B RAU- NE / E BBINGHAUS 17 1966: 108ff.). Tab. 16 enthält das Präteritumparadigma von got. salbôn 'salben', das aus syntaktisch unselbstständigen Morphemen besteht. Tab. 16: Die schwachen Präteritumformen von salbôn 'salben' im Gotischen Singular Plural 1. Person salbô-da salbô-dêdum 2. Person salbô-dês salbô-dêdu þ 3. Person salbô-da salbô-dêdun Im Singular sind die Endungen bereits einsilbig: -da, -dês, -da. Im Plural ähneln sie hingegen noch deutlich den Präteritalformen des germanischen Vollverbs 'tun', z.B. got. -dêdun '3.Pl.Prät.' vs. germ. *d dunt 'taten' (H ILL 2004). Die gotischen Präteritalendungen bewahrten die reduplizierte Form, die im Paradigma des germanischen Verbs 'tun' vorkam. Die Reduplikation, d.h. Verdopplung der ersten Stammsilbe, diente im Germanischen wie der Ablaut zur Bildung von Vergangenheitsformen, z.B. germ. *d n 'tun', *d dunt 'taten'. Interessanterweise ist das Vollverb 'tun' im Gotischen nicht belegt. Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 116 Im Althochdeutschen, das viel später als das Gotische (erst ab dem 8. Jh.) überliefert ist, war die Entwicklung weiter fortgeschritten. Das gesamte Paradigma bestand schon aus t-haltigen Flexiven, s. Tab. 17. Ihre formale Ähnlichkeit mit den Präteritalformen des im Althochdeutschen fortbestehenden Vollverbs tuon 'tun' lässt sich noch teilweise erkennen. Die Form der Endungen ist tatsächlich auf die Vergangenheitsformen des Verbs 'tun' zurückführbar (s. H ILL 2004, für eine andere Erklärung s. B EGEMANN 1873). Tab. 17: Das Präteritum der schwachen Verben im Althochdeutschen Singular Präteritum Plural Präteritum 1. Person salb -t-a teta salb -t-um t tum 2. Person salb -t- s(t) t ti salb -t-ut t tut 3. Person salb -t-a teta salb -t-un t tun ahd. salb n 'salben' ahd. tuon 'tun' ahd. salb n 'salben' ahd. tuon 'tun' Die Erosion der Präteritalendungen setzte sich im Mittelhochdeutschen fort, wo die unbetonten Vollvokale zu Schwa abgeschwächt wurden, z.B. ahd. salb ta > mhd. salbete; ahd. salb tun > mhd. salbeten. Anschließend wurde der Mittelvokal e vor dem Dentalsuffix abgebaut, z.B. mhd. salbete > nhd. salbte. Die Tilgung ist jedoch bis heute nach einem auf Dental (t, d) auslautenden Stamm blockiert: mhd./ nhd. rett-ete. Hier verhindert der Mittelvokal eine weitere Erosion, d.h. eine Verschmelzung des Suffixes mit dem Stamm. Das Allomorph -ete sichert in Verben wie retten, wetten, baden oder reden die Segmentierbarkeit, z.B. red-ete. 6.1.2 Die Entwicklung des Dentalsuffixes in anderen germanischen Sprachen: Englisch und Luxemburgisch Da sich die Grammatikalisierung des Dentalsuffixes größtenteils schon im Germanischen abgespielt hat, dient dieses nicht nur im Deutschen, sondern auch in seinen Schwestersprachen wie Englisch oder Schwedisch als Tempusmarker, z.B. engl. I open - I open-ed, schwed. jag öppnar - jag öppna-de 'ich öffne/ öffnete'. Dabei zeigt das deutsche Dentalsuffix bis heute einen relativ geringen Erosionsgrad. Es schließt sich agglutinierend an den Verbstamm an: ich fühl-te, ich öffn-ete. Anders sieht es im Englischen aus, wo eine phonologische Interaktion an der morphologischen Grenze zwischen Stamm und Suffix zugelassen ist. Hier entwickelte sich neben der regulären stimmhaften Form [d] (worked 'arbeitete') auch eine stimmlose Alloform [t] (feel 'fühlen' - felt - felt). Mit Stämmen wie cut oder put, die auf t auslauten, verschmolz das Dentalsuffix sogar vollständig. Aus diesem Grund sind alle Tempusformen dieser Verben homonym: cut (Präs.) - cut (Prät.) - cut (Perf.) oder put - put - put. Somit hat das Dentalsuffix im Englischen in bestimmten Kontexten bereits die letzte Grammatikalisierungsphase erreicht. Da sein vollständiger Abbau im Englischen nur nach bestimmten Verbstämmen eingetreten ist, besteht die grammatische Kategorie (Simple Past) nach wie vor. Die Entstehung der schwachen Verbflexion 117 Mit dem (fast) vollständigen Abbau des Präteritums als Verbalkategorie (sog. Präteritumschwund) erreichte die Grammatikalisierung des Dentalsuffixes im Luxemburgischen (ähnlich auch in oberdeutschen Dialekten) ihr absolutes Ende. Das heutige Luxemburgisch kennt keine schwachen Präterita mehr; bis heute bewahrte es nur noch eine Handvoll starker Verben mit einem einheitlichen ou- Ablautvokal, darunter koum 'kam', stoung 'stand' (W ERNER 1990, N OWAK 2010). Für den Schwund der schwachen Präterita können u.a. phonologische Entwicklungen verantwortlich gemacht werden: Die e-Apokope, die sich seit dem 13. Jh. vom Oberdeutschen in Richtung Norden ausgebreitet hat, bewirkte, dass schwache Präterita wie lachte > lacht_ mit dem Präsens (lacht) zusammenfielen (R EIS 1894, L INDGREN 1953). Beschleunigt wurde der Präteritumschwund durch eine Reorganisation im Bereich der Vergangenheitstempora, die als Perfekterneuerung bezeichnet wird: Wie D ENTLER (1997, 1998) für das Deutsche gezeigt hat, entwickelte sich das (zunächst aspektuelle) Perfekt allmählich zu einer neuen Vergangenheitsform (s. Kap. 6.3). So ließen sich die durch die Apokope gefährdeten Präteritalformen ohne Bedeutungsunterschied durch das Perfekt ersetzen, z.B. lacht(e) durch hat gelacht. Abb. 41 fasst den rekonstruierten Verlauf der Grammatikalisierung im Germanischen mit den einzelsprachlich divergierenden Erosionsphasen zusammen: Abb. 41: Vier Phasen in der Entwicklung des Dentalsuffixes Umschreibung (Periphrase) zum Ausdruck der Vergangenheit bei schwachen Verben (ich) wecken tat 'ich tat etwas, und zwar wecken' Phase I: Desemantisierung (ich) wecken tat 'ich weckte' (tat ist ein Hilfsverb) Phase II: Kontexterweiterung (Extension) (ich) fühlen/ denken tat Phase III: Dekategorialisierung (Gotisch) salbô-dêdum Phase IV: Erosion Deutsch (Vokalreduktion) ahd. salb -tum > mhd. salbeten > (f)nhd. salbten (keine Verschmelzung mit dem Stamm, vgl. rettete) Englisch (Verschmelzung mit dem Stamm) regelmäßig [d] - work-ed Alloform [t] - feel - felt Nullsuffix nach Dental - cut - cut Luxemburgisch und Oberdeutsch Präteritumschwund G E R M A N I S C H (1000 v.Chr. - 300 n.Chr.) Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 118 6.2 Wandel im Bereich der Personalpronomina Im vorigen Kapitel haben wir die Entwicklung eines Tempusmarkers (des Dentalsuffixes -te) verfolgt. Jetzt konzentrieren wir uns auf zwei weitere Verbalkategorien, Person und Numerus. Sie werden im heutigen Deutsch direkt am Verb in einer nicht segmentierbaren Endung, dem sog. Portmanteaumorphem, ausgedrückt, z.B. Die Kinder spiel-en (3.Pl.) gerne Fangen. Doch ist die Endung -en heute ambig: Sie steht sowohl in der 1. Person Plural als auch in der 3. Person Plural, z.B. wir/ sie spielen. Schon im Althochdeutschen machte sich eine Tendenz zur formalen Erneuerung beider Kategorien bemerkbar (Renovation). Im ersten Schritt wurde das Subjektspronomen obligatorisch (s. dazu Kap. 6.2.1). Diesen Entwicklungsstand repräsentiert das Standarddeutsche, da die (teils uneindeutigen) Verbformen durch Subjektspronomina eingeleitet werden müssen: wir (oder sie) koch-en gerne, nicht *koch-en gerne. Wie Subjektspronomina anschließend zu neuen Verbendungen werden können, zeigt Kap. 6.2.2 am Beispiel deutscher Dialekte. Interessanterweise bildeten die Personalpronomina im Deutschen den Ausgangspunkt für eine andere Grammatikalisierung, aus der die neue Kategorie 'Respekt' hervorgegangen ist (Innovation). Mit Hilfe des Höflichkeitspronomens Sie bilden wir heute höfliche, distanzierte Anreden wie in Rauchen Sie? Im Umgang mit Freunden und Verwandten wählen wir hingegen die informelle Variante wie in Rauchst du? (dazu s. Kap. 6.2.3). 6.2.1 Subjektspronomina als obligatorische Verbbegleiter Subjektspronomina sind im Deutschen obligatorisch, z.B. Wann kommst du? und nicht *Wann kommst? In sog. Pro-Drop-Sprachen wie dem Spanischen kann die flektierte Verbform hingegen allein auftreten, z.B. Quando vienes? Hier wird die Person/ Numerus-Information nur am Verb ausgedrückt. Im Deutschen ist das Subjektspronomen heute nicht nur obligatorisch, sondern bei uneindeutigen Verbflexiven wie -en (wir/ sie kochen gern) sogar unentbehrlich. Nur dank dem Pronomen wird klar, wer gerne kocht. Bei sie/ ihr koch-t gerne werden sowohl Person als auch Numerus durch das Subjektspronomen disambiguiert. Das Subjektspronomen ist hier zum zentralen Marker für beide grammatischen Kategorien aufgestiegen, also noch stärker grammatikalisiert. Nur noch im Imperativ fehlt das Subjektspronomen: Koch bitte endlich was! Dieses tritt aber unter Emphase auf: Koch du doch selber was! Abb. 42 fasst die verschiedenen Grammatikalisierungsgrade des Subjektspronomens im Neuhochdeutschen zusammen: Wandel im Bereich der Personalpronomina 119 Abb. 42: Die Grammatikalisierungsgrade des Subjektspronomens als Person/ Numerus-Marker im Neuhochdeutschen Die Grammatikalisierung des Subjektspronomens begann schon im Althochdeutschen, das man aus diesem Grund nur noch eingeschränkt als eine Pro-Drop- Sprache bezeichnen kann. Zwar war die Verwendung des Subjekspronomens noch fakultativ, seine zunehmende Obligatorisierung lässt sich jedoch schon in den frühesten autochthonen (nicht aus dem Lateinischen übersetzten) Texten feststellen, so dass spätestens seit Notker (10./ 11. Jh.) uneingeleitete Verbformen, d.h. solche ohne Subjektspronomen, kaum noch vorkommen (E GGENBERGER 1961, R ABANUS 2008: 37ff.). Im Mittelhochdeutschen gehörten subjektlose Sätze schon zu den Ausnahmen (S ONDEREGGER 1979: 267). Die Obligatorisierung des Subjektspronomens war v.a. durch folgende Faktoren gesteuert: 1) Die Satzstruktur: Im Althochdeutschen war die Tendenz, ein Subjektspronomen zu setzen, im Nebensatz stärker als im Hauptsatz. Bereits im Isidor (um 800) erscheint das Subjektspronomen meist direkt nach der Subjunktion, d.h. am Anfang des Mittelfeldes, z.B. dhazs [sii dhrii goda] siin (I 4, 11) 'dass sie drei Götter sind'. Damit tritt es meist nicht direkt neben dem Verb auf, das schon im Isidor tendenziell spät, nicht selten (wie in obigem Beispiel) am absoluten Ende des Nebensatzes steht. Die zunehmende Obligatorisierung des Subjektspronomens steht also in Verbindung mit der Tendenz zur Verbspätstellung und damit zur Klammerbildung, die sich erst im Mittel-/ Frühneuhochdeutschen vollständig durchgesetzt hat (s. Kap. 7.2). Im Isidor fehlt das Subjektspronomen im Nebensatz nur noch bei 9% der flektierten Verbformen, während sich durch Subjektspronomen eingeleitete und uneingeleitete Verben im Hauptsatz noch die Waage halten. Doch schon bei Otfrid (spätes 9. Jh.) steigt die Frequenz der Subjektspronomina im Hauptsatz so stark, dass uneingeleitete Verbformen schon selten sind. Nur noch in ca. 15% aller Hauptsätze fehlt hier das Subjektspronomen (E GGEN- BERGER 1961: 165f.). 2) Die Person: In der 1. und 2. Person (Singular und Plural) zeigt sich schon im Isidor (um 800) eine starke Tendenz zur Setzung des Pronomens, das in der 3. Person noch meist fehlt. Möglicherweise ist bei der 1. und 2. Person, die sich auf die unmittelbaren Gesprächsteilnehmer beziehen, die - zunächst emphatische - Pronomensetzung generalisiert worden, während das Pronomen in der 3. Person koch! du koch-st wir koch-en sie koch-en er koch-t ihr koch-t steigender Grammatikalisierungsgrad kein Subjektspronomen (nur unter Emphase: Koch du doch selber was! ) obligatorisches Subjektspronomen (+ eindeutiges Verbflexiv) Subjektspronomen als alleiniger Person-Marker (da uneindeutiges Verbflexiv) Subjektspronomen als alleiniger Person/ Numerus-Marker (da uneindeutiges Verbflexiv) Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 120 meist noch zur Betonung benutzt wurde. Erst bei Otfrid (spätes 9. Jh.) gewann es die Oberhand. Im 9. Jh. kam das Neutrum iz 'es' sogar bei unpersönlichen Verben vor, vgl. nhd. es regnet, es schneit. Dieses sog. expletive es dient als rein formales Mittel zur Besetzung der Subjektposition. Für dieses es lässt sich kein Referent ausfindig machen, während man sich unter es in Es tanzt noch eine Person vorstellen kann. Die expletive Verwendung von es spricht für eine fortgeschrittene Grammatikalisierung des Subjektspronomens, das die Verben unabhängig von ihrer Semantik einleitet, d.h. zu einem obligatorischen Bestandteil der Verbalflexion wurde. Bei Notker lässt sich hauptsächlich in Nebensätzen ein weiterer Typus des expletiven iz 'es' beobachten: daz iz philologia uuas 'dass es die Philologie war' (N MC I, 33, 18). Dieses iz verweist nicht auf einen Referenten, sondern dient lediglich als syntaktischer Platzhalter. Erst im Mittelhochdeutschen kam auch ein Hauptsatz eröffnendes (expletives) ez haufiger vor, z.B. ez wuohs in Búrgónden ein vil édel magedîn 'es wuchs ein edles Mädchen im Land der Burgunden' (NL 2,1) (D AL 3 1966: 77, B ETTEN 1987: 124). 3) Die Wortstellung: Nach einem vorangestellten Verb setzte sich das Pronomen viel später durch als in der normalen Wortstellung. Hier ist es schon im Isidor meist zu finden: ir sendit siin uuort 'er sendet sein Wort aus' (I 4, 4), während die Inversion, d.h. Umkehrung der Wortstellung, die Auslassung des Pronomens bewirkt: so chisendit uuard chiuuisso zi dheodum 'so wurde [er] zu den Menschen gesandt' (I 3, 9). 4) Die Textpragmatik: In einer Erzählsequenz konnte im Althochdeutschen durch die Auslassung des Pronomens signalisiert werden, dass der Referent unverändert bleibt (s. S ONDEREGGER 1979: 267): 101) Abur gieng her tho umbi thia sextun inti umbi thia niuntun zit inti teta sama. Umbi thia einliftun zit uzgieng inti fant andre stantente inti quad in (T 109, 1) 'Er ging wieder um sechs und um neun Uhr und tat Ähnliches. Um elf Uhr ging [er] hinaus und fand andere stehend und sagte ihnen' Textpragmatisch bedingte Subjektsauslassungen wurden noch in der mittelhochdeutschen Dichtung angewandt, sogar - wie in Beispiel 102) - bei Subjektswechsel (P AUL et al. 24 1998: 366f.): 102) dar vuorte sî in bî der hant, und sâzen zuo ein ander (Iw 6492-3) 'dorthin führte sie ihn an der Hand, und [sie] setzten sich zueinander' Im Neuhochdeutschen ist dieses Phänomen nur noch resthaft erhalten geblieben und gilt nur noch satzintern. Hier wird in nebengeordneten Sätzen beim gleichen Subjekt das Pronomen nicht wiederholt: Er ging um elf Uhr hinaus und fand andere vor der Tür stehen. 5) Der Modus: Zwar tauchte das Subjektspronomen im Alt- und Mittelhochdeutschen gelegentlich auch im Imperativ auf, doch hat es sich in dieser Position (in Wandel im Bereich der Personalpronomina 121 der 2. Person) bis heute nicht etabliert: Koch bitte eine Suppe! Es kann aber zur Emphase benutzt werden: Koch du doch! Im Adhortativ, mit dem die Aufforderung in der 1. Person Plural zur gemeinsamen Handlung ausgedrückt wird, ist es hingegen regelhaft vorhanden: Gehen wir! oder Hoffen wir es! Da die Verbendungen im Zuge der Nebensilbenabschwächung bereits im Mittelhochdeutschen die Fähigkeit eingebüßt haben, Person und Numerus eindeutig anzuzeigen (s. Tab. 18), stieg die Bedeutung der Subjektspronomina. Sie sind heute nicht mehr wie im Althochdeutschen bloß ein zusätzliches Mittel zum Ausdruck beider Kategorien, sondern dienen an manchen Stellen des Paradigmas (3.Sg./ 2.Pl. und 1./ 3.Pl.) als Hauptausdruck. Nur das uneindeutige sie-Pronomen wird durch die Verbform disambiguiert: sie (3.Sg./ Pl.) kocht/ kochen. Dies war für die Entwicklung der Höflichkeitspronomina von Bedeutung, s. Kap. 6.2.3. Tab. 18: Flexionsendungen im Alt-, Mittel- und Neuhochdeutschen Althochdeutsch Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch Sg. 1. (ih) trinku ich trinke ich trink(e) 2. (thu) trinkis du trinkest du trinkst 3. (er/ siu/ iz) trinkit er/ sie/ ez trinket er/ sie/ es trinkt Pl. 1. (wir) trinkam s/ trink m wir trinken wir trinken 2. (ir) trinket ir trinket ihr trinkt 3. (sie/ sio/ siu) trinkant sie trinken sie trinken Während das Deutsche ein kombinatorisches Verfahren aus dem obligatorischen Subjektspronomen und der Verbendung entwickelt hat, hat das Englische beide Kategorien, Numerus und Person, aus der eigentlichen Verbform auf das Subjektspronomen ausgelagert und dieses somit noch weiter grammatikalisiert: Nach dem (fast) vollständigen Abbau der Verbendungen ist das Subjektspronomen zum alleinigen (analytischen) Person/ Numerus-Marker geworden: I live, you live, we live, they live. Einzige Ausnahme ist die 3. Sg.: she live-s. Einen ähnlichen Weg hat das Schwedische beschritten, nur mit dem Unterschied, dass es im Präsens eine einheitliche Flexionsendung (z.B. -ar in der 1. Klasse der schwachen Verben) entwickelt hat: Tab. 19: Verbflexion im Schwedischen (Präsens der 1. schwachen Verbklasse) Infinitiv Präsens Subjektspronomen Verbform Bedeutung arbet-a Sg. 1. jag 'ich arbeite' 'arbeiten' 2. du 'du arbeitest' 3. han/ hon 'er/ sie arbeitet' Pl. 1. vi arbet-ar 'wir arbeiten' 2. ni 'ihr arbeitet' 3. de 'sie arbeiten' Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 122 6.2.2 Die Entstehung neuer Verbendungen Die Subjektspronomina im Standarddeutschen haben ihren Status als freie Wörter bis heute beibehalten, auch wenn sie im Zuge ihrer Grammatikalisierung in das verbale Flexionsparadigma eingegliedert wurden. Die vollständige Flexion ist sie koch-t, nicht *koch-t. Die Verbendungen verloren dagegen zunehmend ihre Funktion als Person/ Numerus-Marker. Darüber hinaus kennt das Deutsche (und seine Dialekte) durchaus Fälle von Anreicherung der Verbflexive, und zwar durch die Verschmelzung mit den Subjektspronomina. Die erste Stufe davon ist die Enklise wie in weißt du > weißte, meinst du > meinste (F RITZ 2007). Auf diese Weise wurde schon im Althochdeutschen die 2.Sg.-Endung -s wie in gibis 'gibst' durch die Klitisierung des nachgestellten Subjektspronomens thu/ du 'du' allmählich zu -st wie in gibist 'gibst' gestärkt. Die ursprüngliche Form tritt noch in den ältesten Texten wie in 103) auf. 103) dhu faris 'du fährst/ begibst dich' (I 9, 2) Ein emphatisch verwendetes Pronomen erscheint im Fränkischen Taufgelöbnis (fr. 9. Jh.) in den Fragesätzen: 104) Gilaubist in got fater almaht gan? 'glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater' (Fränk. Taufgel. 4) Im Tatian (ebenfalls fr. 9. Jh.) kann das klitische Pronomen noch betont werden wie in 105), doch überwiegen schon hier und bei Otfrid (sp. 9. Jh.) die unbetonten Klitika, s. 106). 105) [...] ni arheuistú thih unzan himil 'Du bist erhoben bis an den Himmel' (T 65, 4) 106) thia síhistu alla tháre 'diese [die Blumen] siehst du dort alle' (O V, 23, 276) Im nächsten Schritt verlor das klitische Pronomen an Substanz: doufis-tu > doufis-t 'du taufst'. Interessanterweise konnte Otfrid in einem Satz verschiedene Klisegrade kombinieren: 107) ziu féristu inti dóufist 'warum ziehst du [umher] und taufst' (O I, 27, 45) Nachdem der klitische Rest -t des du-Pronomens als Teil der Flexionsendung reanalysiert worden war (doufis-t > doufi-st), wurde das volle Pronomen du erneut verwendet: Vereinzelte Fälle finden sich schon im Tatian wie in 108). Schon Notker (10./ 11. Jh.) setzte das freie Pronomen du sehr regelmäßig zu der angereicherten Verbendung -st hinzu: 108) Tatian (sporadisch): thu gisihist 'du siehst' (T 14, 7) 109) Notker (sehr häufig): du sihest 'du siehst' Abb. 43 veranschaulicht noch einmal, wie die 2.Sg.-Endung durch die Zunahme an Fügungsenge zwischen der Verbform und dem nachgestellten Personalpronomen angereichert wurde. Mit '=' wird die Klitisierungsphase angezeigt. Wandel im Bereich der Personalpronomina 123 Abb. 43: Die Anreicherung der 2.Sg.-Endung im Althochdeutschen Verb-Pronomen-Verschmelzungen sind auch in heutigen oberdeutschen Dialekten und in der Umgangssprache sehr präsent, z.B. haben wir > hamer (A LTMANN 1984, W ERNER 1988). Die Enklise umfasst dabei häufig nicht nur das Subjekts-, sondern auch die Objektspronomina, z.B. bald ha=mer=s 'bald haben wir es'. In manchen Dialekten entstehen agglutinierende Ketten, z.B. ha=mer=s=ere 'haben wir es ihr' (Ostfränkisch). Die zusätzliche Verwendung von freien Subjektspronomina wie in mir homer (im Ostfränkischen) zeigt, dass die klitischen Endungen erstarrt und zu neuen Verbendungen geworden sind. Die neue Form des freien Pronomens (mir) resultiert wiederum selbst aus der Enklise: haben wir > ham wir > ham=mir. Die enklitische mir-Form hat sich als neue Form des Subjektspronomens verselbstständigt, z.B. bair. mir homer. Das Walserdeutsche, eine alemannische Dialektinsel in Norditalien, erneuerte auf diese Weise das komplette Flexionsparadigma (Z ÜRRER 1997). Tab. 20 illustriert diese Entwicklung am Beispiel des Verbs tue 'tun'. Das nachgestellte Subjektspronomen klitisierte an die ursprünglichen Verbformen (zweite Spalte in Tab. 20). Die enklitischen Pronomina (dritte Spalte) wurden dann zu Verbendungen reanalysiert (vierte Spalte). Die neuen Verbendungen drücken nicht nur Person und Numerus aus, sondern unterscheiden zwischen drei Genera: e e r tuet-er (3.Sg.Mask.), dschi tuet-dsch (3.Sg.Fem.), äs tuet-s (3.Sg.Neutr.). Diese Opposition wird jedoch zugunsten des Neutrums nivelliert: e e r/ dschi/ äs tuet-s (3.Sg.), was auf weitere Grammatikalisierung hinweist. Die bereits im Althochdeutschen angereicherte 2.Sg. blieb unverändert: du tuescht 'du tust'. Tab. 20: Erneuerung der Verbendungen im Walserdeutschen Ursprüngliche Verbformen Enklise Reanalyse (neue Verbendungen) Sg. 1. ich tuen tuen=i ich tuen-i 2. du tuescht tuescht=Ø du tuescht-Ø 3. Mask. Fem. Neutr. e e r dschi tuet äs tuet=er tuet=dsch tuet=s e e r tuet-er dschi tuet-dsch tuet-s äs tuet-s Pl. 1. wir tien tie=ber wir tie-ber 2. i e r tiet tied=er i e r tied-er 3. dschi tien tien=dsch dschi tien-dsch Dank der Erneuerung wurden im Walserdeutschen Synkretismen (uneindeutige Formen) beseitigt: So stand die alte Verbform tien für 1. und 3.Pl. (s. zweite Spalte in Tab. 20), heute existieren eindeutige Formen tieber (1.Pl.) und tiendsch (3.Pl.). die ursprüngliche Endung in der 2.Sg. ahd. -s emphatische Verwendung des Subjektspronomens (u.a. in Fragesätzen) Klitisierung (allmählicher Substanzverlust) Reanalyse als Teil der Verbendung (neue Endung -st) giloubis 'du glaubst' giloubis th giloubis=t giloubis=t giloubist th > > > > Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 124 6.2.3 Exkurs: Die Entstehung einer neuen Kategorie 'Respekt' In diesem Kapitel betrachten wir eine Grammatikalisierung, die bei Personalpronomina angesetzt und zur Herausbildung eines Höflichkeitssystems geführt hat. Diese Darstellung basiert auf S IMON (2003a). Im heutigen Deutsch werden zwei Höflichkeitsgrade der Anredepronomina, d.h. der Pronomina der 2. Person, unterschieden: Unserem Gesprächspartner (dem sog. Adressaten) begegnen wir je nach Bekanntschaftsgrad, Altersunterschied oder Sozialstatus entweder mit einem normalen Pronomen der 2. Person (du/ dir/ dich/ dein oder ihr/ euch/ euer) oder mit dem Höflichkeitspronomen Sie/ Ihnen/ Ihr: Hast du/ habt ihr heute schon gegessen? vs. Haben Sie heute schon gegessen? Das normale du und das höfliche Sie repräsentieren verschiedene Werte, die hier nach S IMON (2003a,b) als [-honorativ] du und [+honorativ] Sie bezeichnet werden sollen. Gemeinsam bilden sie die Höflichkeitskategorie 'Respekt'. Durch die Übernahme des Merkmals [+honorativ] spaltete sich das höfliche Sie vom Personalpronomen sie (3.Pl.) ab, mit dem auf Dritte referiert wird. Dabei verschob sich sein grammatischer Bezug von der 3. auf die 2. Person. Zusätzlich verlor Sie die Funktion, Mehrzahl zu markieren: Die Numerusopposition wurde neutralisiert, so dass sich Sie sowohl auf eine einzelne Person als auch auf eine Personengruppe beziehen kann: Sind Sie Frau Grünlich? vs. Sind Sie Herr und Frau Grünlich? Die Höflichkeitsopposition besteht nur in der 2. Person: Tab. 21: Die Höflichkeitsopposition in der 2. Person Gesprächsteilnehmer Person Respekt Singular Plural Sprecher(in) 1. ich wir [-honorativ] du ihr Adressat(in) 2. [+honorativ] Sie Unbeteiligte(r) 3. er/ sie/ es sie Pronomina der 1. Person, die auf den Sprechenden selbst verweisen, bleiben unverändert. Wir verwenden sie gleichermaßen in höflichen und familiären Diskursen. In Bezug auf Personen, die an dem Diskurs nicht beteiligt sind (3. Person), ergeben sich hingegen mehrere Möglichkeiten: So wirken die Pronomina der, die, das unhöflich, ja sogar despektierlich: Mit dem will ich nichts zu tun haben. Auf der sicheren Seite sind wir, wenn wir auf anwesende Dritte mit die (junge) Dame und der (junge) Herr verweisen, z.B. Die (junge) Dame war vor mir. Die Wahl der höflichen Form die (junge) Dame ist jedoch nicht zwingend, d.h. nicht grammatikalisiert. Der heutige Zustand zeigt, dass das Deutsche im Gegensatz zum Englischen (mit dem neutralen you) den Höflichkeitsgrad der direkten Anrede grammatikalisiert hat. Mit anderen Worten: Die Grammatik zwingt uns, unsere Einstellung dem Gesprächspartner gegenüber zu präzisieren. Die Entscheidung hängt von vielen sozio-kulturellen Variablen ab. In unserer Gesellschaft diktieren v.a. der soziale Status (im Gespräch mit der Lehrerin), das Alter (im Gespräch mit einer älteren Person) und der Bekanntschaftsgrad (im Gespräch mit unbekannten Per- Wandel im Bereich der Personalpronomina 125 sonen) die Wahl des distanzierten Sie-Pronomens (B ESCH 2 2003), wobei dieses nur ein (und zwar ein grammatisches) Höflichkeitsmittel ist. Da wir uns selbst wünschen, in jeder Situation entsprechend angesprochen/ behandelt zu werden, befriedigen wir mit solchen Höflichkeitsmitteln auch die Bedürfnisse der Anderen. Diese Bedürfnisse subsumieren B ROWN / L EWINSON (1987) unter dem engl. Begriff face 'Gesicht', das das soziale Miteinander regelt. Nach diesem Konzept hat jeder Mensch ein positives und ein negatives Gesicht (positive face, negative face). Diese Unterscheidung hat nichts mit positiven und negativen Charakterzügen zu tun, sondern vielmehr damit, dass uns bestimmte Dinge angenehm sind, andere nicht. So wollen wir einerseits, dass man uns signalisiert, dass wir gemocht werden, dass wir dazugehören, dass wir immer in Kontakt bleiben. Anders: wir möchten das positive Gesicht nicht verlieren. Diese Erwartungen werden durch die sog. positiven Höflichkeitsstrategien befriedigt. Dazu gehören u.a. 1) Ausdrücke wie Liebling, mein Freund oder meine Liebe. Dies sind Zeichen der Akzeptanz oder der Zugehörigkeit zur selben sozialen Gruppe, 2) Metaphern der Macht und der Überlegenheit wie in (Eure) Majestät/ Exzellenz/ Gnaden/ Durchlaucht (vgl. mhd. durchliuhtec 'hell strahlend'), die das hohe Ansehen betonen, oder 3) das Versprechen eines baldigen Wiedersehens, das im Deutschen und vielen anderen Sprachen zum Abschiedsgruß lexikalisiert wurde: Auf Wiedersehen! , engl. see you! , schwed. vi ses 'wir sehen uns'. Andererseits möchten wir zu nichts gezwungen, in unserer Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt werden. Und so hilft uns die Höflichkeit, das sog. negative Gesicht des Anderen zu wahren, indem wir 1) indirekte Sprechakte wie Hier zieht's statt einer direkten Aufforderung Schließen Sie das Fenster! verwenden, 2) uns entschuldigen Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber wo ist ... oder 3) mit unpersönlichen Sätzen die direkte Anrede vermeiden: Der Betrag soll bis zum kommenden Montag überwiesen werden. Die Suche nach wirksamen Höflichkeitsstrategien gab den Antrieb für die Grammatikalisierung der Höflichkeitspronomina im Deutschen. Ähnliche Entwicklungen von Personalzu Höflichkeitspronomina fanden in vielen Sprachen statt: Im Russischen entwickelte sich das 2.Pl.-Pronomen vy ( ), im Italienischen das 3.Sg.Fem.-Pronomen Lei zum Höflichkeitspronomen. Auch in der Geschichte des Deutschen wurden sowohl das Pronomen ihr als auch die Pronomina er und sie (3.Sg.) zum Respektmarker funktionalisiert. Das heutige Höflichkeitspronomen Sie stellt - nach ihr und er/ sie - die bereits dritte Erneuerungsstufe dar. Während du nach wie vor für die normale Anrede verwendet wird, wurde der Höflichkeitsausdruck in einem Zick-Zack-Kurs durch das Pronominalparadigma verändert (S IMON 2003: 128ff.). Abb. 44: Der Wanderpfad der Höflichkeitsanrede durch das Pronominalparadigma des Deutschen (vereinfacht nach S IMON 2003a: 129) er/ sie (aus 3.Ps.Sg.) Sie (aus 3.Ps.Pl.) du (aus 2.Ps.Sg.) Ihr (aus 2.Ps.Pl.) Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 126 Der in Abb. 44 gezeichnete Wanderpfad ergab sich daraus, dass die Sprecher ständig nach neuen, wirksameren positiven und negativen Höflichkeitsstrategien strebten. Mit jedem Schritt auf diesem Wanderpfad wurde ein neuer Ausdruck kreiert, wenn der bis dahin verwendete seine Effektivität eingebüßt hat. Die Reihenfolge, in der die Pronomina in das Höflichkeitssystem einbezogen wurden, ist nicht zufällig. Sie zeigt vielmehr, dass die Pronomina verwendet wurden, um den Ausdruck der Wertschätzung sukzessive zu steigern und die Distanz zum Angesprochenen zu erhöhen. Im Folgenden wird die Entwicklung des deutschen Höflichkeitssystems skizziert, das durch Einbezug weiterer Personalpronomina immer feiner wurde. Auf diese Weise lagerten sich immer komplexere diachrone Höflichkeitsschichten übereinander, bis sich letztendlich die heutige Binarität zwischen dem normalen du [-honorativ] und dem höflichen Sie [+honorativ] durchgesetzt hat. 1) Eingliedriges System im Germanischen (du) Das Germanische besaß wahrscheinlich ein eingliedriges Anredesystem, ohne eine pronominale Respektausdifferenzierung. Dieser frühe Entwicklungsstand zeigt sich im althochdeutschen Hildebrandslied, dessen früheste Fassung aus dem 8. Jh. stammt. Hier sprechen sich die Helden - der alte Hadubrant und der junge Hildebrand - ungeachtet des Altersunterschieds mit du an. 2) Zweigliedriges System im Alt- und Mittelhochdeutschen (du - ihr) Noch im Althochdeutschen begann die Entwicklung des zweigliedrigen Systems mit einem nähesprachlichen thu/ du und einem distanzsprachlichen ir 'ihr'. Die ersten Belege für ein höfliches ir treten im späten 9. Jh. auf. Zum einen verwendet es Otfrid in der Widmung an den Konstanzer Erzbischof Salomo, die der Evangelienharmonie beigefügt ist. 110) In hímilriches scóne so wérde iz iu zi lóne mit géltes ginúhti, thaz ír mir datut zúhti (O, Ad Salomonem 21-22) 'In der Herrlichkeit des Himmelreichs soll euch das als Lohn im Überfluss zuteil werden, weil ihr mir Unterricht erteilt habt' Zum anderen wird auch in den auf althochdeutsch verfassten Glossen der Pariser Gespräche (9./ 10. Jh.) geihrzt, und das entgegen dem Duzen in der lateinischen Vorlage: 111) ahd. Guane cumet gar, brothro? - lat. Id est unde venis, frater? 'Woher kommt ihr, Bruder? ' 'Woher kommst (du), Bruder? ' In dieser Phase war das Ihrzen noch eine pragmatische Strategie - und so war es noch im Mittelhochdeutschen (zum möglichen Einfluss des Lateinischen s. S IMON 2003a: 103-105). Otfrid richtet sich in seiner Anrede in 110) an die hochangesehene und mächtige Person des Erzbischofs Salomo. Mit der Wahl der Pluralform befriedigt er zum einen das positive Gesicht des Angesprochenen. Er benutzt die Pluralform und lässt so die Metaphern "Vielzahl ist Größe" und "Größe ist Wichtigkeit und Macht" wirken. Zum anderen, und das ist wahrscheinlich das Entscheidende für die Durchsetzung dieser Strategie, lässt er den Adressaten in einer Personengruppe untertauchen, um ihn möglichst indirekt zu behandeln. Mit die- Wandel im Bereich der Personalpronomina 127 ser negativen Höflichkeitsstrategie tritt man auch einem Unbekannten (in den Pariser Gesprächen) nicht zu nahe, dessen positives Gesicht außerdem mit der Bruder-Anrede befriedigt wird, s. 111). Dieses Handeln löst eine konversationelle Implikatur aus, da die Maxime der Qualität ("Sage nichts, was falsch sein könnte") verletzt wird, indem man dem Adressaten durch die Pluralverwendung imaginäre Begleitung zur Seite stellt, etwa so: Gesagt: Woher kommt ihr, Bruder? Gemeint: +> 'Ich will dir mit meiner Direktheit nicht zu nahe treten, deswegen inszeniere ich eine Begleitung.' Die Höflichkeitsopposition zwischen du und ihr herrschte im Mittelhochdeutschen vor und überdauerte weit bis ins Frühneuhochdeutsche. Anders als im Neuhochdeutschen war dieses Phänomen im Mittelhochdeutschen noch durch und durch pragmatisch gesteuert. So konnte sich jeder Sprecher gewissermaßen selbst entscheiden, ob er du oder ihr verwenden wollte, und auch frei dazwischen wechseln; ähnlich wie wir heute frei sind, die Konjunktivform zu benutzen oder nicht (Könnten/ Können Sie bitte das Fenster schließen). Dies bedeutet, dass das Höflichkeitspronomen noch nicht grammatikalisiert (routinisiert) war, sondern stattdessen ein pragmatisches Höflichkeitsmittel darstellte, nach dem man greifen konnte, aber nicht musste. Man konnte also je nach Situation das positive und negative Gesicht des Gegenübers mehr oder weniger befriedigen (s. S IMON 2003a: 99f.): In der 10. Aventiure des Nibelungenlieds (Handschrift C) wechselt Gunther in seinem Gespräch mit Siegfried vom höfischen ir zum vertraulichen du erst, als er über seine körperliche Misshandlung berichtet. Heute hingegen wirken wir automatisch unhöflich, wenn wir trotz des Altersunterschieds oder in einer offiziellen Situation (z.B. im Gespräch mit einer Ärztin) das du benutzen, nur weil wir von unserem Leiden berichten. Außerdem ist der Übergang vom höflichen Sie zum vertraulichen du heute einmalig und verbindlich; wir können nicht frei hin und her wechseln. 3) Dreigliedriges System des 17. Jhs. (du - ihr - er/ sie) Das (zunächst) höfische ir breitete sich im Laufe des 16. Jhs. aus, so dass es auch in niedrigeren sozialen Schichten Verwendung fand. Gewissermaßen als Reaktion auf diese Inflation (auf den Verlust der Exklusivität) entwickelte sich im 17. Jh. eine neue Schicht von Höflichkeitspronomina. Dies sind die 3.Sg.-Pronomina sie und er. Diese wurden zunächst anaphorisch verwendet, da sie auf eine nominale Anrede wie gnädiges Fräulein im nächsten Beispiel verwiesen: 112) Wan es mein gnädiges Fräulein im bästen vermärken wollte, so könt' ich Ihm noch wohl den wahren sün gnugsam eröfnen (Philip von Zesen 1645, zitiert nach S I- MON 2003a: 110) Da eine mehrmalige Wiederholung nominaler Anreden wie meine Frau, mein Fräulein oder mein Herr sehr umständlich gewesen wäre, benutzte man einen pronominalen Verweis. Um die Distanz zur Angesprochenen zu erhöhen, gingen die (früh-)neuhochdeutschen Sprecher eine Stufe weiter und verwendeten dafür nicht ir, sondern das 3.Sg.-Pronomen sie/ ihr oder er/ ihm. Wie beim Ihrzen wurde Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 128 auch hier eine konversationelle Implikatur ausgelöst, die das negative Gesicht schützte, da Distanz zum Angesprochenen ausgebaut wurde. Im Laufe der Zeit verselbstständigte sich das Pronomen. Dies erkennt man daran, dass es gerade bei Fräulein nicht mehr auf das grammatische Genus (es, ihm), sondern auf das natürliche Geschlecht reagierte: zuerst das Fräulein, es, später das Fräulein, sie. Im weiteren Schritt wurde das Pronomen ganz ohne Antezedens, also ohne den nominalen Ausdruck wie das Fräulein verwendet, d.h. sie (und genauso er) hat sich völlig als Anredepronomen verselbstständigt. 4) Fünfgliedriges System des 18. Jhs. (du - ihr - sie/ er - Sie - dieselben) Das System der Höflichkeitspronomina wurde im 18. Jh. noch weiter ausgebaut. Zum bereits existierenden dreigliedrigen System kam das pluralische Sie hinzu. Dieses geht auf eine neue Strategie zum Schutz des negativen Gesichts zurück, denn durch die Wahl des Plurals konnte die Indirektheit noch einmal gesteigert werden: Sie sind der erste Gast oder Sind Sie alleine da? Bei der Entwicklung vom Plural-sie zum Höflichkeitspronomen handelt es sich um eine Seltenheit; in den meisten Sprachen wird entweder geihrzt (z.B. im Russischen oder Französischen) oder geerzt (z.B. im Italienischen). Der Übergang in die 3.Pl. wurde dadurch begünstigt, dass die zu dieser Zeit massenhaft verwendeten Anrede-Abstrakta wie (Eure) Majestät/ Gnade(n)/ Ehre(n) Feminina waren und mit dem 3.Sg.-Pronomen sie wiederaufgenommen wurden: 113) Ihre Majestät [...] Hat sie der kurtzen nacht genossen? (Andreas Gryphius ca. 1650, Drama, zitiert nach S IMON 2003a: 112) Die Homonymie zwischen dem Pronomen der 3.Sg. (sie) und der 3.Pl. (sie) ebnete den Weg in den Plural. Das entscheidende Moment aber war die zunehmende grammatische Unsicherheit der (früh-)neuhochdeutschen Sprecher, die die Feminina betraf: In dieser Zeit schwankten viele Feminina zwischen einem n-losen und einem n-haltigen Singular, z.B. die Ehre/ die Ehren (Sg.). Dieser morphologische Wandel machte es unmöglich, zu erkennen, ob es sich bei Eure Ehren um Singular oder Plural handelte. Hier konnte man also, ohne ungrammatisch zu wirken, die Metapher der Macht ("Vielzahl ist Größe" und "Größe ist Macht") wirken und den Angesprochenen gleichzeitig in die imaginäre Menge eintauchen lassen. Mit dem pluralischen Pronomen der 3. Person Sie/ Ihnen hat das Deutsche das Maximum an Distanz erreicht. Dies ist auch der letzte Schritt auf dem zickzackförmigen Wanderpfad quer durch das Pronominalparadigma (s. Abb. 44). Das derzeitige System wurde noch um das überhöfliche Identitätspronomen dieselben erweitert, das jedoch nur anaphorisch und wohl nur im Schriftverkehr verwendet wurde, d.h. es hat sich nicht verselbstständigt (S IMON 2003a: 119). Nach G OTTSCHED (1762: 280), einem der bedeutendsten Grammatikographen des 18. Jhs., galten zu seiner Zeit folgende Höflichkeitsstufen: 114) natürlich Ich bitte dich althöflich Ich bitte euch mittelhöflich Ich bitte ihn/ sie neuhöflich Ich bitte Sie überhöflich Ich bitte dieselben Die Entstehung der Perfektkonstruktion 129 Nach der Herausbildung des Höflichkeitspronomens Sie aus der 3.Pl. wurde das Erzen (mit er oder sie) in der Standardsprache stark abgewertet (zu den möglichen Gründen s. S IMON 2003a: 120-124). Dies führte letztendlich dazu, dass es in der Höflichkeitsskala hinter das althöfliche ihr zurückfiel. 5) Die moderne Dichotomie du - Sie Die Abwertung von er/ sie kündigte den späteren Zusammenfall des hochdifferenzierten Höflichkeitssystems des 18. Jhs. zu einem zweigliedrigen an. Heute verwenden wir in der Standardsprache eine du-Sie-Dichotomie. Doch das System wandelte sich nicht nur quantitativ. Durch die zunehmende Routinisierung verloren die Anredepronomina ihren pragmatischen Charakter. Sie wurden obligatorisiert und in ein (sehr kleines) Höflichkeitsparadigma integriert (s. Tab. 21 auf S. 124). Der Frühphase der Pragmatisierung der Pronomina (im Alt- und Mittelhochdeutschen) folgte im (Früh-)Neuhochdeutschen ihre Grammatikalisierung. Abb. 45 fasst die besprochene Schichtung der Höflichkeitssysteme in der Geschichte des Deutschen zusammen. Abb. 45: Die Schichtung der Höflichkeitssysteme in der Diachronie des Deutschen Zeit/ Epoche Schicht normal höflich/ distanziert Gegenwart sechste Schicht du Sie fr. 19. Jh. fünfte Schicht du sie/ er ihr Sie (dieselben) 18. Jh. vierte Schicht du ihr sie/ er Sie (dieselben) Neuhochdeutsch 17. Jh. dritte Schicht du ihr sie/ er Frühneuhochdeutsch Mittelhochdeutsch Althochdeutsch zweite Schicht du ir Frühalthochdeutsch (bis 10. Jh.) Germanisch erste Schicht du (nicht ausdifferenziert) 6.3 Die Entstehung der Perfektkonstruktion In diesem Kapitel kehren wir zum Vergangenheitstempus zurück, da sein Ausdruck mehrmals erneuert wurde: Zuerst lagerte sich das Dentalsuffix -te (lachen - lach-te), dessen Entwicklung in Kap. 6.1 rekonstruiert wurde, als neuer Tempusausdruck über den schon aus dem Indoeuropäischen ererbten Ablaut (schlagen - schlug). Die nächste Ausdrucksschicht entstand während der deutschen Sprachgeschichte: Es ist das analytische Perfekt mit den Hilfsverben (sog. Auxiliaren) haben wie in hat gelacht/ gesungen und sein wie in ist zurückgekehrt/ gekommen. Die Herausbildung dieser Tempusform wird uns in diesem Kapitel beschäftigen, Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 130 wobei der Schwerpunkt auf dem Hilfsverb haben liegt; die Perfektbildung mit haben stellt nach D UDEN -G RAMMATIK ( 7 2005: 470-473) den Normalfall dar. Bezeichnenderweise wurden die älteren Ausdrucksverfahren nach der Herausbildung des Perfekts nicht aufgegeben. Stattdessen verwenden wir heute drei Verfahren unterschiedlichen Alters: 1) den Ablaut: Der letzte Meteorit schlug in Sibirien ein, 2) das Dentalsuffix: Sie lachte und 3) das Perfekt: Ich habe schon gegessen. Nach H OPPER (1991) gehört es zu den Prinzipien der Grammatikalisierung, dass sich die kontinuierlich entstehenden Ausdrucksschichten innerhalb einer funktionalen Domäne (hier des Vergangenheitstempus) nicht verdrängen, sondern miteinander koexistieren (sog. layering 'Schichtung'). Wir können uns die Formen des Vergangenheitstempus im Deutschen wie mehrere übereinanderliegende Sedimentschichten vorstellen: Abb. 46: Die Tempusausdrucksschichten im Deutschen Am Beispiel der Perfektentwicklung werden im Folgenden die Prinzipien der Grammatikalisierung von H OPPER (1991) erklärt. Diese sind: 1) die bereits erwähnte Schichtung (layering) ' von neuen Ausdrucksverfahren: Ablaut (schlug), Dentalsuffix (lachte) und Perfekt (hat gegessen/ gelacht), 2) die Divergenz, die unabhängige Fortentwicklung des Spenderlexems, z.B. des Vollverbs haben 'besitzen', und des von ihm abgespaltenen Hilfsverbs haben, 3) die Spezialisierung, also die Durchsetzung eines Auxiliars (hier haben) gegenüber weiteren Konkurrenten, die sich aus anderen Lexemen ähnlich funktional entwickelt haben. Im Althochdeutschen war neben hab n auch eigan 'besitzen' von der Auxiliarisierung betroffen. Später ist eigan sowohl als Vollals auch als Hilfsverb ausgestorben, 4) die Persistenz, die sich in vielerlei Beschränkungen bei der Verwendung der neu grammatikalisierten Einheit äußert. Die Beschränkungen signalisieren, dass die Abspaltung vom Spenderlexem noch nicht abgeschlossen ist. So werden "frisch" grammatikalisierte Wörter u.a. nicht mit dem Ursprungslexem kombiniert: ich habe gehabt kam bis ins 15. Jh. sehr selten vor, und 5) die Dekategorialisierung eines Verbs oder eines Nomens, das mit zunehmender Grammatikalisierung seine morphosyntaktischen Eigenschaften verliert. Im Zuge der Auxiliarisierung büßte das Verb haben die Möglicheit ein, Komälteste Schicht (Ablaut): sie sang mittlere Schicht (Dentalsuffix): sie lachte äußere Schicht (Perfektperiphrase): sie hat gelacht Die Entstehung der Perfektkonstruktion 131 plemente zu verlangen: ich habe ein Haus (direktes Objekt) vs. ich habe gelacht (kein direktes Objekt). Diese Prinzipien sind nicht als chronologische Stadien der Grammatikalisierung zu verstehen, sondern als Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung einer grammatischen Funktion. 6.3.1 Die Auxiliarisierung von haben Der Begriff Hilfsverb (oder Auxiliar) wurde bereits eingeführt (s. Kap. 1 und 2.3). Eine solche Funktion übt heute haben in hat gelacht aus (s. H EINE 1993a). hat gelacht ist eine grammatische Form des Verbs lachen, ebenso wie lachte oder lachst. Das finite Verb hat (+ das Zirkumfix ge...t) liefert ähnlich wie die Verbendung -te grammatische Informationen und spezifiziert auf diese Weise, dass die Tätigkeit des Lachens in der Vergangenheit liegt. Obwohl wir es also mit zwei syntaktischen Wörtern zu tun haben (hat + gelacht), handelt es sich hierbei um eine Verbform, und zwar um eine Vergangenheitsform. Einerseits braucht das Verb lachen das Hilfsverb haben, um diese Form zu bilden. Andererseits kann das Hilfsverb haben nur in dieser Konstruktion, d.h. in Verbindung mit dem Partizip Perfekt (gelacht) die grammatische Bedeutung entfalten: ich habe gelacht (R ONNEBERGER - S IBOLD 1991). In Isolation ist das nicht möglich: ich habe (? ? ? ). (Hier wird statt der grammatischen Bedeutung eher die lexikalische Bedeutung 'besitzen' evoziert.) Die Bedeutung der gesamten Perfektkonstruktion ist nicht-kompositionell, d.h. hier liegt keine einfache Addition von zwei Bedeutungen vor, denn, wie eben gesagt, eine Bedeutung 'Perf.' lässt sich für das Auxiliar haben in Isolation nicht bestimmen. Die Nicht-Kompositionalität ist typisch für die sog. grammatischen Konstruktionen wie hat gelacht, ist gesprungen oder auch wird springen. Die Auxiliarisierung von haben und damit auch die Entwicklung des Perfekts begann im Althochdeutschen. Die Grundlage dafür bildete die Konstruktion mit dem Besitzverb hab n, einem (Besitz-)Objekt und einem attributiven Partizip, s. 115). Da das Althochdeutsche innerhalb der Nominalgruppe eine freie Wortstellung zuließ (s. Kap. 5.6), konnte das attributive Partizip dem Objekt nachgestellt werden oder sogar in Distanzstellung auftreten wie giflanzotan und phigboum in 115). Dieses aus dem Tatian stammende Beispiel gehört zu den ältesten (und wohl bekanntesten) Belegen für diese Fügung: 115) phígboum habeta sum giflanzotan, in sinemo uuingarten (T 102, 2) wörtlich: 'Feigenbaum hatte (jemand) als gepflanzten in seinem Weingarten' sinngemäß: 'jemand besaß einen Feigenbaum, der in seinem Weingarten gepflanzt war' In diesem Satz bezieht sich das flektierte passivische Partizip giflanzotan auf das direkte Besitzobjekt phigboum. In seiner attributiven Funktion kongruiert das Partizip mit dem direkten Objekt in Kasus, Numerus und Genus: phigboum (Akk.Sg.Mask.) giflanzotan (Akk.Sg.Mask.) '(einen) gepflanzten Baum'. Satz 115) beschreibt also eine Besitzsituation mit dem Verb hab n 'besitzen'. Das Partizip giflanzotan bezeichnet den Zustand des Feigenbaums, der durch die frühere Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 132 Handlung des Pflanzens herbeigeführt wurde (G RØNVIK 1986). Ob der Baum vom Besitzer selbst gepflanzt wurde, geht aus dem Satz nicht hervor. Die Möglichkeit, dass der Sprecher das aber gemeint hat, besteht für den Hörer trotzdem, zumal es nicht unwahrscheinlich ist, dass der Besitzende den Zustand des besessenen Objekts selbst herbeigeführt hat. Wenn der Hörer annimmt, dass der Sprecher etwas Zusätzliches gemeint haben könnte, dann handelt es sich um eine pragmatische Anreicherung, d.h. um eine konversationelle Implikatur: Gesagt: 'Er hatte einen Feigenbaum, der in seinem Weingarten gepflanzt war.' Gemeint: +> 'Er hatte den Feigenbaum selbst gepflanzt.' Dass die konversationelle Implikatur nicht notwendig ist, zeigt das Beispiel in 115) ganz gut: Dieser Satz steht am Anfang des neutestamentarischen Gleichnisses vom Feigenbaum (Lukas 13,6), in dem man anschließend erfährt, dass der Besitzer den genannten und andere Bäume nicht selbst gepflanzt hat. Er hatte einen Gärtner. Eine zu Beginn des Gleichnisses implikatierte Gleichstellung Besitzer=Pflanzender muss nach dieser Information gestrichen werden. Wird die Implikatur vom Sprecher nicht ausdrücklich rückgängig gemacht, steht der Gleichstellung nichts im Wege: Das besitzende Subjekt wird in der Vorstellung des Hörers zum Verursacher des Zustands, in dem sich das von ihm besessene Objekt befindet. Diesen Fall illustriert das folgende Beispiel: 116) uuanda er mundum habet (...) irl set (N Ps. 97 359, 37) 'weil er die Welt (lat. mundus) als erlöste/ erlöst hat' Satz 116) beschreibt eine zum Sprechzeitpunkt vorliegende Situation, in der das Subjekt (Jesus) die Welt als erlöste besitzt. Hier greift die konversationelle Implikatur: +> 'Die Welt wurde vom Subjekt (Jesus) erlöst'. Das Subjekt kann eindeutig mit dem Verursacher des aktuellen Weltzustands gleichgestellt werden. Da das Subjekt für die frühere Tätigkeit (die Welterlösung) verantwortlich gemacht wird, entsteht eine neue Beziehung zwischen den Satzelementen (s. Abb. 47). Ohne Implikatur bezieht sich das Partizip auf das Objekt; es sagt etwas über den Zustand des Objekts zum Sprechzeitpunkt aus (linker Abschnitt in Abb. 47). Durch die konversationelle Implikatur entsteht ein Bezug zwischen dem Partizip und dem Subjekt, das den Handelnden bezeichnet (T EUBER 2005: 79). Dank der Implikatur rückt die in der Vergangenheit liegende Handlung des Erlösens ins Betrachtungsfeld. Dies zeigt der rechte Abschnitt in Abb. 47. Abb. 47: Beziehungen zwischen den Satzelementen vor und nach der konversationellen Implikatur er habet mundum erl set 'er besitzt die Welt als erlöste' er habet mundum erl set 'er hat die Welt erlöst' zum Sprechzeitpunkt (s) besitzt er die Welt als bereits erlöste s zum Sprechzeitpunkt (s) besitzt er die Welt als erlöste s vor dem Sprechzeitpunkt (s) hat er die Welt erlöst Die Entstehung der Perfektkonstruktion 133 Ein und derselbe Satz 116) konnte also auf zweifache Weise verstanden werden: 1) 'Er besitzt die Welt als erlöste' oder 2) 'Zuvor hat Jesus die Welt erlöst. Daraus resultiert der aktuelle Zustand'. Mit der zweiten Interpretationsmöglichkeit, die auf einer konversationellen Implikatur basiert, entstand eine instabile hab n-Konstruktion, in der das direkte Objekt sowohl das Besitzobjekt als auch das Objekt der früheren Handlung war (T EUBER 2005). Instabil war auch die Lesart des Partizips (wie erlôset in Beispiel 116), da dieses entweder in Bezug auf den Zustand des Objekts passivisch verstanden werden oder in Bezug auf die frühere Handlung eine aktivische Lesart bekommen konnte. Das Subjekt war sowohl der Possessor der erlösten Welt als auch der Agens von erlösen. Bei der Verschiebung (oder besser Ausweitung) des Betrachtungsfeldes, wie im rechten Abschnitt in Abb. 47 gezeigt, spielte sicherlich die Tatsache eine wichtige Rolle, dass ein belebtes Subjekt normalerweise ein Agens ist, von dem eine Handlung ausgeht, und nicht nur ein passiver Possessor. Diese Regularität trug dazu bei, dass die Konstruktion zunehmend aktivisch verstanden und verwendet wurde. In Sätzen mit aktivischer Lesart, wo das Subjekt der Handelnde ist, konnte das Verb hab n seine volle Bedeutung nicht mehr entfalten und verlor die Fähigkeit, das direkte Objekt an sich zu binden. Dieses wurde zum Komplement des Verbs im Partizip: Abb. 48: Die strukturelle Reanalyse der haben-Konstruktion In der aktivischen Konstruktion liegt der lexikalische Schwerpunkt auf dem Partizip, das die eigentliche verbale Handlung bezeichnete, vgl. nhd. Er hat die Welt erlöst. Das nicht mehr attributiv verwendete Partizip trat seitdem immer häufiger unflektiert auf wie in Beispiel 116). In 115) ist das Partizip hingegen noch flektiert. Die Auxiliarisierung des Verbs hab n war also an die aktivische Verwendung der zunächst instabilen hab n-Konstruktion gebunden. Mit der Expansion auf neue Kontexte, die in Kap. 6.3.2 beschrieben wird, konnte sich die neue, grammatische Funktion von hab n verselbstständigen. Diese bestand darin, eine resultative Verbalkonstruktion zu bilden (O UBOUZAR 1974). Dies bedeutet, dass die hab n- Konstruktion im Althochdeutschen präsentischen Zeitbezug hatte. Sie drückte aus, dass das agentive Subjekt in der Vergangenheit eine Handlung abgeschlossen und so den im Auge des Betrachters stehenden präsentischen Zustand herbeigeführt hat. Da dabei die Abgeschlossenheit der Handlung fokussiert war, handelte es sich um eine perfektive Aspektform. Die temporale Funktion, in der wir das Hilfsverb haben heute verwenden, übernahm die Konstruktion erst im Laufe des Mittelhochdeutschen (s. Kap. 6.3.2). Mit der althochdeutschen hab n-Konstruktion wurde das zum Sprechzeitpunkt vorliegende Resultat (einer früheren Handlung) fokussiert. Diese resultative Bedeutung ist zwar in eine temporale übergegangen, lässt sich aber in bestimmten Kontexten noch heute beobachten: In Äußerungen wie Du hast ihn er habet mundum erl set 'er besitzt die Welt als erlöste' > er habet mundum erl set 'er hat die Welt erlöst' direktes Objekt direktes Objekt ursprüngliche Besitzkonstruktion (neue) aktivische Konstruktion Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 134 gerettet, dafür ist er dir dankbar oder Du hast gesündigt, deswegen musst du Buße tun enthalten die Nebensätze Reaktionen auf das vorliegende Resultat einer früheren Handlung, die im haben-Perfekt ausgedrückt ist (s. S LOBIN 1994). 6.3.2 Die Expansion der haben-Konstruktion und ihr funktionaler Wandel von Aspekt zu Tempus Durch die in Kap. 6.3.1 beschriebene semantische und strukturelle Reanalyse spaltete sich das resultative Hilfsverb haben von seinem lexikalischen Ursprung haben 'besitzen' ab. Diese divergente Entwicklung beider Verben wurde v.a. durch die Expansion des Hilfsverbs vorangetrieben; das Vollverb haben hat seine Bedeutung 'besitzen' bis heute bewahrt. Abb. 49: Die Divergenz von lexikalischem und grammatischem haben Bereits bei Otfrid (sp. 9. Jh.) weitete sich die Perfektkonstruktion metaphorisch auf Verben mit abstrakten Objekten aus wie etwas (z.B. eine Nachricht oder eine Botschaft) hören. Dabei war in Bezug auf abstrakte Objekte nur noch die resultative Lesart sinnvoll. So kann der Satz in 117) keine Besitzrelation mehr zwischen dem Subjekt und dem direkten Objekt beschreiben. Dies zeigt, dass die resultative Bedeutung konventionalisiert wurde (C AREY 1994). 117) waz er selbo hiar nu quit, thaz eigut ir gih rit (O IV, 19, 67) 'was er selbst jetzt hier sagt, das habt ihr gehört' Beispiel 117) enthält das mit hab n konkurrierende Hilfsverb eigan (von ahd. eigan 'besitzen'). Die Phase der Alloauxiliare eigan und hab n wurde durch die Spezialisierung von hab n beendet. eigan ist auch als Vollverb ausgestorben (vgl. aber das Adjektiv eigen, davon abgeleitet enteignen, Eigentum). Bei Otfrid sind in Verbindung mit eigan/ hab n nicht nur abstrakte Objekte zu finden. Darüber hinaus bestand zu diesem Zeitpunkt schon die Möglichkeit, die Objektposition nicht durch ein Substantiv, sondern durch einen dass-Satz zu besetzen (s. 118). Schließlich konnte das Objekt sogar ganz fehlen, wenn transitive Verben wie ahd. sprehhan 'sagen' absolut gebraucht wurden (s. 119). Mit der Auslassung des direkten Objektes wurde ein wichtiges Persistenzmerkmal von eigan/ hab n abgebaut, das diese Hilfsverben zunächst von ihren lexikalischen Quellen ererbt haben, denn die Besitzverben verlangen immer ein direktes Objekt (ich habe etwas Akk. ): 118) haben ih gimeinit [...] thaz ih einluzzo mina worolt nuzzo (O I, 5, 39) 'ich habe beschlossen, dass ich meine Lebenszeit allein verbringe' ahd. hab n 'besitzen' nhd. haben 'besitzen' funktionale Abspaltung und unabhängige Weiterentwicklung des Hilfsverbs haben nhd. haben 'Perf.' Die Entstehung der Perfektkonstruktion 135 119) so wir eigun nu gisprochan (O I, 25, 11) 'wie wir jetzt gesagt haben' Bei Notker (10./ 11. Jh.) traten wichtige Neuerungen hinzu, die für den weiteren funktionalen Wandel der resultativen Perfektkonstruktion zur heutigen Tempusform relevant sind. 1) Nachdem schon bei Otfrid das direkte Objekt fakultativ wurde, kombinierte Notker (10./ 11. Jh.) zum ersten Mal auch intransitive (also genuin objektlose) Verben wie ahd. sund n 'sündigen' mit hab n bzw. eigan (D AL 3 1966: 122): 120) Vuir eîgen gesundot (N Ps. 105 395, 24) 'wir haben gesündigt' Partizipien von intransitiven Verben wie gesündigt oder gedankt kommen außerhalb der Perfektkonstruktion nicht vor: *ein geweinter/ gesündigter/ gedankter Junge. Dies zeigt, dass das Partizip in diesen Sätzen nicht selbstständig, sondern ein Teil der analytischen Verbform hat gesündigt ist. 2) Bei Notker begann die Expansion der Perfektkonstruktion auf imperfektive Verben, d.h. Verben, die eine Handlung in ihrem Verlauf bezeichnen, ohne ihren Abschluss zu fokussieren (s. Kap. 5.2.1). Als Einfallstor dienten Verben wie hören oder sehen, die ihre perfektive Lesart nur in Verbindung mit einem direkten Objekt entfalten konnten, vgl. eine Geschichte/ eine Nachricht hören (perf.). Eine Nachricht kann man bis zum Ende hören, einen Film zu Ende sehen. Ohne direktes Objekt hatten solche Verben hingegen die imperfektive Lesart, etwa 'zuhören' oder 'betrachten'. Nach ihrem Vorbild konnten auch typisch imperfektive Verben wie wein n 'weinen' in der hab n-Konstruktion verwendet werden. Bei Notker gibt es Sätze wie habe ih keuuêinot sô filo 'ich habe so viel geweint' (N Ps. 6 20, 13) noch sehr selten. Nur 4,9% aller Perfektkonstruktionen enthalten ein imperfektives Verb. Nach D ENTLER (1997: 168) stieg ihr prozentualer Anteil an im Mittelhochdeutschen deutlich an, so dass sie in den Texten des 16. Jhs. (u.a. bei Luther) schon 33,7% ausmachen. Die Expansion auf imperfektive Verben trug wesentlich zum funktionalen Wandel der Perfektkonstruktion als Tempusausdruck bei. Ursprünglich beschränkte sich die Konstruktion auf Partizipien perfektiver Verben wie gepflanzt oder erlöst, die sich sich auf den Zustand eines Objektes bezogen, der durch eine zuvor abgeschlossene Handlung herbeigeführt worden war. Die aspektuelle (resultative) Komponente wurde durch die Kombination mit imperfektiven Verben geschwächt, da ihre Partizipien, z.B. geweint, keinen Übergang in einen neuen Zustand beschreiben können (L EISS 1992: 272). In Verbindung mit solchen Partizipien wie geweint konnte sich die Konstruktion nur noch auf die vergangene Handlung beziehen. Sie bekam eine präteritale Färbung. 3) Seit Notker verlagerte sich dadurch der zeitliche Bezug der Perfektkonstruktion allmählich von der Gegenwart auf die Vergangenheit. Dieser Wandel spiegelt sich in der Verwendung von Zeitadverbien wider: Während ursprünglich nur die aktuelle Zeitangabe n 'jetzt, nun' eingesetzt werden konnte (s. Beispiel 119), verwendete Notker auch indefinite Zeitangaben wie früher, die sich offen- Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 136 sichtlich nicht auf die Gegenwart, sondern auf die zuvor durchgeführte Handlung bezogen. Entscheidend geschwächt wurde der Gegenwartsbezug im Mittelhochdeutschen, als definite Zeitangaben wie gestern hinzukamen. Sie signalisieren, dass sich die haben-Konstruktion auf die Vergangenheit bezieht. Die Verwendung solcher Zeitadverbien ist im englischen Present Perfect bis heute ausgeschlossen: *I have seen her yesterday. Für einen eindeutigen präteritalen Zeitbezug kann im Englischen nur das Simple Past benutzt werden: I saw her yesterday. Im Deutschen hingegen drang das Perfekt immer mehr in den Funktionsbereich des Präteritums ein (sog. Perfekterneuerung). Schon im 15. Jh. verzeichnet D ENTLER (1997, 1998) einen rapiden Anstieg von Perfektkonstruktionen wie Ich habe sie gestern getroffen. Der Blick des Betrachters wird hier wie im Präteritum (Gestern traf ich sie beim Arzt) auf die Vergangenheit gelenkt. Abb. 50 fasst den funktionalen Wandel des deutschen Perfekts von einer resultativen (Aspekt-)Form zum Vergangenheitstempus zusammen. Hierbei handelt es sich um einen häufig begangenen Grammatikalisierungspfad (L EISS 1992). Abb. 50: Entwicklung des Perfekts vom Resultativ zum Tempus 6.3.3 Die Umschichtung des Tempussystems: Präteritumschwund und Perfekterneuerung Die Entwicklung des Perfekts zur Vergangenheitsform trug zur Umschichtung des deutschen Tempussystems bei. Dieses bestand im Althochdeutschen aus Präsens und Präteritum. In beiden Tempora bildeten die Verben aspektuelle Verbpaare (E ROMS 1997). Zum einen finden sich im Althochdeutschen Verbpaare aus zwei inhärent aspekthaltigen Verben wie suchen (imperfektiv) und finden (perfektiv). Zum anderen konnten imperfektive Verben wie h ren 'hören' oder neman 'nehmen' mit Hilfe des damals produktiven gi-Präfixes perfektiviert werden: Tab. 22: Aspektpaare im Althochdeutschen imperfektives Verb perfektives Verb Aspektausdruck suochen 'suchen' findan 'finden' inhärent g n 'gehen' queman 'kommen' inhärent h ren 'hören' gih ren 'vernehmen' gi-Präfigierung neman 'nehmen' gineman 'wegnehmen' gi-Präfigierung s s s s s Zeitadverb: jetzt Zeitadverb: früher Zeitadverb: gestern Resultativum (Aspekt) >>>> Vergangenheit (Tempus) Althochdeutsch > Mittelhochdeutsch > Frühneuhochdeutsch Die Entstehung der Perfektkonstruktion 137 Dank dieser aspektuellen Paarigkeit im Präteritum, die wir noch gut aus dem Hildebrandslied (8. Jh.) kennen, konnte unterschieden werden, ob jemand h rta 'zuhörte' (imperf.) oder gih rta 'durch Hören vernahm/ erfuhr' (perf.). Das Hildebrandslied (8. Jh.) beginnt mit ih gih rta dhat seggen 'ich vernahm (nicht *'ich hörte') die Erzählung'. Die Produktivität des perfektivierenden gi-Präfixes ging aber allmählich zurück. Im 15. Jh. wurden präteritale ge-Formen schon fast vollständig durch das auf definite Vergangenheitskontexte expandierende Perfekt (mit Zeitadverbien wie im Jahre 1250, gestern oder damals) verdrängt (O UBOUZAR 1974). Das ge-Präfix wurde stattdessen zum festen Bestandteil der Perfektform grammatikalisiert, z.B. sie hat gelacht/ gegessen. Bis ins 16. Jh. hinein fehlte das ge- Präfix noch bei inhärent perfektiven Verben wie finden, bringen oder kommen. So schreibt Luther noch hat funden, hat bracht oder ist kommen. Doch dann wurde geals fester Bestandteil der neuen Tempusform generalisiert: sie hat gestern gelacht, gebracht, gefunden. Heute ist die Verwendung von geblockiert, wenn ein anderes unbetontes (meist perfektivierendes) Präfix vorliegt, z.B. ich habe etwas bekritzelt, verschmutzt, zerrissen, und bei Verben auf -ieren, z.B. ich habe studiert, diskutiert, buchstabiert. Mit der Perfektexpansion hängt auch der sog. Präteritumschwund zusammen (s. Kap. 6.1.2 und 6.3.3): Während das Perfekt als neue Tempusform immer mehr in die Domäne des Präteritums eindrang (Perfekterneuerung), wurden Präteritalformen wie traf oder lachte immer seltener verwendet (Präteritumschwund). Heute bilden nach S IEBERG (1984) 25 hochfrequente Verben, darunter sein, kommen, haben und sagen, 90% aller Präteritalformen (war, kam, hatte, sagte). Die meisten Verben werden nur im Perfekt verwendet. Interessanterweise erscheinen auch Modalverben, die bis zum Frühnheuhochdeutschen keine Perfektform bilden konnten, heute überwiegend im Präteritum (zu 90% in S IEBERG s Korpus), z.B. sie musste abreisen, selten sie hat abreisen müssen (s. Kap. 6.7). In Kap. 6.1.2 wurden bereits Gründe für den Präteritumschwund genannt. Hier soll noch ein pragmatischer Aspekt hinzugefügt werden, der zur Verdrängung des alten Präteritums durch das neue Perfekt beigetragen hat. Der Vorteil des Perfekts lag in seinem Gegenwartsbezug: Die Sprecher konnten mit Hilfe des Perfekts die Relevanz des eigenen Redebeitrags erhöhen, da sie nicht nur die Vergangenheit beschrieben, sondern zusätzlich auch eine Erklärung für den Jetzt- Zustand lieferten. So antworten wir noch heute auf die Frage Hast du Hunger? im Perfekt (Danke, ich habe schon gegessen) und nicht im Präteritum (*Danke, ich aß schon). Während das Präteritum nur die vergangene Handlung in ihrem Verlauf darstellt (vgl. Ich aß drei Stunden lang), stellt das Perfekt eine frühere Handlung als für den aktuellen Zustand verantwortlich dar, etwa Danke, ich habe keinen Hunger, weil ich schon gegessen habe. Ähnlich verwenden wir das Perfekt, um auf das Resultat einer früheren Handlung hinzuweisen, um so die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu begründen, z.B. Ich habe etwas getan und möchte dafür belohnt werden oder Er hat etwas getan und muss dafür bestraft werden. Diese diskurspragmatische Funktion des Perfekts, mit dem die Relevanz des Redebeitrags erhöht wird, ist heute nur noch selten greifbar. Durch die inflationäre Verwendung an Stellen, wo das Präteritum angebracht gewesen wäre, ging der pragmatische Ef- Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 138 fekt verloren (D ETGES 2004). Dadurch wurde das Perfekt allmählich als neue Tempusform routinisiert. Heute kann es sogar statt des Präteritums in Erzählungen benutzt werden: Sie ist gekommen, hat sich hingesetzt und einen Kaffee bestellt. Während das Tempussystem allmählich umgeschichtet und erneuert wurde, ging das Aspektsystem des Alt- und Mittelhochdeutschen in die Brüche. Im Standarddeutschen gibt es keine grammatische Form mehr, die Perfektivität ausdrücken würde (wie früher das gi-Präfix und das Perfekt). Allerdings entwickelte sich v.a. im Westmitteldeutschen eine imperfektive Verlaufsform: ich bin am Essen (s. Kap. 3 und Kap. 6.6). Perfektivität kann in der gesprochenen Sprache auch durch das doppelte Perfekt ausgedrückt werden, z.B. ich habe es doch gesagt gehabt oder (weniger gebräuchlich) er ist schon angekommen gewesen. Hier schließt sich an die Perfektform ein zusätzliches Partizip des Hilfsverbs an. Auf diese Weise wird die Abgeschlossenheit einer in der Vergangenheit liegenden Handlung betont (R ÖDEL 2007): 121) Im Mai hat er zu uns gesagt gehabt, er bekommt die Gelder nicht, weil sein Sohn halt nicht mehr bei ihm wohnt, einen Monat später wurde uns gesagt, sie ist in anderen Umständen (R ÖDEL 2007: 131) Das doppelte Perfekt eignet sich auch als Ersatzform für das Plusquamperfekt: Nachdem er den Film gesehen hatte/ gesehen gehabt hat, ging er schlafen (s. D UDEN - G RAMMATIK 7 2005: 520f.). Interessanterweise wird Perfektivität bei einigen Verben durch die Wahl des Hilfsverbs sein anstatt von haben evoziert: 122) perfektiv (mit dem Hilfsverb sein) Sie ist [über den Fluss] geschwommen. Wir sind [um den Baum] getanzt. Sie ist gekniet. 123) imperfektiv (mit dem Hilfsverb haben) Ich habe (bin) oft in diesem See geschwommen. Wir haben [in einem richtigen Rittersaal] getanzt. Sie hat gekniet. Auf einen ähnlichen Perfektivitätseffekt geht die Tatsache zurück, dass imperfektive Verben der Ruhe wie sitzen, stehen, liegen ihr Perfekt in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz nicht mit haben, sondern mit sein bilden: sie hat gesessen (norddt.) vs. sie ist gesessen (süddt.). Dies resultiert daraus, dass alle drei Verben im Mittelhochdeutschen eine imperfektive (mit Hilfsverb haben) und eine perfektive Lesart (mit Hilfsverb sein) hatten, vgl. (imperf.) mhd. ich hân vür wâr hie gesezzen manec jâr 'ich habe hier wahrlich viele Jahre gesessen' (Pz 563,20) vs. (perf.) und als er was gesezzen 'als er sich gesetzt hatte' (Er 6359). An die perfektive Lesart erinnern noch adjektivische Partizipien wie eingesessen (zu veraltet ein(ge)sitzen) oder gelegen. Im Norden geriet das perfektive Verb (im Mittelhochdeutschen gesitzen, geligen, gestân) früh außer Gebrauch, so dass die haben-Verbindung generalisiert wurde. Im Süden blieb die Opposition (imperfektiv vs. perfektiv) länger erhalten. Dort wurde später die perfektive Variante mit sein verallgemeinert. Die Polygrammatikalisierung von 139 Der Perfektivitätseffekt des Hilfsverbs sein geht auf die ursprüngliche Verteilung der Hilfsverben zurück. So wurde haben mit allen transitiven und intransitiven imperfektiven Verben kombiniert, während intransitive, perfektive Verben wie kommen das Hilfsverb sein verlangten. Die klare Distribution der Hilfsverben geriet ins Schwanken, als viele perfektive Verben imperfektiv und transitive intransitiv wurden (D AL 3 1966: 123). Heute wird bei intransitiven Perfekta, die eine allmähliche Wandlung bezeichnen, das haben-Hilfsverb verwendet: Er hat zugenommen/ abgenommen, doch auch punktuelle Intransitiva wie beginnen, anfangen, aufhören bilden ihr Perfekt mit haben. Bei imperfektiven Bewegungsverben wie laufen wird hingegen sein verwendet: Sie ist zwei Stunden lang gelaufen. Auch das ausgeprägt imperfektive Verb sein wird mit sein kombiniert: ich bin gewesen. Die teilweise Überlappung der Zuständigkeitsbereiche beider Hilfsverben trug dazu bei, dass das sein-Perfekt heute nicht mehr, wie von L EISS (1992) angenommen, ein reines Resultativhilfsverb ist. Diese Funktion übt sein in Kombination mit perfektiven Verben aus, weil es das Resultat einer Handlung hervorhebt: So bezeichnet sie ist gekommen einen Zustand, der sich aus der früheren Handlung ergeben hat. In Verbindung mit imperfektiven Bewegungsverben wie laufen hat sein nur noch die Funktion eines Tempusmarkers, z.B. Sie ist sehr schnell gelaufen. Im Deutschen ist also das Hilfsverb sein in den Tempusausdruck eingebunden worden, während im englischen Present Perfect have generalisiert wurde (I have been, I have gone usw.). 6.4 Die Polygrammatikalisierung von werden Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Verb werden, das in der Geschichte des Deutschen in mehreren Grammatikalisierungsprozessen eine erstaunliche Funktionsvielfalt entwickelt hat, die vom wenig grammatikalisierten Kopulaverb zum stark grammatikalisierten Passiv-, Futur- und Konjunktivauxiliar reicht (D IE- WALD / H ABERMANN 2005, N ÜBLING 2006). Heute ist es ein echtes, "chamäleonartiges Auxiliar" (L EISS 1992: 254), das in verschiedenen grammatischen Konstruktionen unterschiedliche Bedeutungen annimmt: 1) Kopula (seit dem Althochdeutschen; Eintritt eines neuen Zustands): Sie wird krank, Er wurde plötzlich rot, 2) Passivauxiliar (seit dem Althochdeutschen; s. u.a. E ROMS 1990, 1992): Du wirst gefragt/ ermutigt/ gelobt, 3) Futurauxiliar (seit dem 13. Jh.; s. u.a. W ESTVIK 2000): Wir werden schweigen, 4) Konjunktivauxiliar (seit dem 14. Jh.; s. S MIRNOVA 2006): Ich würde kommen, 5) Epistemisches Modalverb (Sprechervermutung; s. F RITZ 1997): Sie wird es ihm (wohl) gesagt haben (s. dazu Kap. 6.7). Der lexikalische Spender für diese Polygrammatikalisierung, also die Entwicklung mehrerer grammatischer Funktionen, war das althochdeutsche Vollverb werdan, das heute nur noch in lexikalisierten Wendungen wie Es werde ('entstehe') Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 140 Licht oder Das wird schon 'Das ändert sich schon zum Guten' konserviert ist. Einen Beleg für dieses intransitive Verb, das in der Bedeutung 'entstehen', 'geschehen' gebraucht wurde, findet man im St. Galler Vaterunser (2. Hälfte 8. Jh.): 124) uuerde uuillo diin so in himile sosa in erdu (St. Galler Vaterunser) 'Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden' Das Verb werdan hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen semantischen Wandel vom indoeuropäischen transitiv-intransitiven Verb *u ert- 'wenden, drehen' hinter sich (vgl. lat. vertere): Die konkrete Bedeutung 'wenden, drehen' ging im Germanischen in eine abstrakte, 'entstehen, geschehen', über, die einen Wendepunkt auf der Zeitachse bezeichnete. Bis ins Althochdeutsche hinein bewahrte das Verb diese Bedeutung, weswegen es einen sofortigen, abrupten Übergang in eine neue Situation bezeichnete. Diese Bedeutung ist resthaft in der Wendung Es werde Licht erhalten, die den abrupten Übergang von der Dunkelheit in die Helligkeit beschreibt. Die Grammatikalisierung von werdan begann mit der Entwicklung zur Kopula (Kap. 6.4.1). Anschließend entwickelte sich diese zum Passiv- (Kap. 6.4.2), zum Futur- (Kap. 6.4.3) und zum Konjunktivauxiliar (Kap. 6.4.4) weiter (N ÜBLING 2006): Abb. 51: Die Polygrammatikalisierung von werden (N ÜBLING 2006: 185) 6.4.1 Die Kopula werden als Sprungbrett für weitere Grammatikalisierungen Die Kopula wie in Sie wird krank oder Sie wird Pilotin war das erste Glied in der Grammatikalisierungskette von werden. Generell sind Kopulaverben stark desemantisiert. Ihre Funktion besteht darin, die Beziehung zwischen Subjekt (sie) und Prädikativ (krank oder Pilotin) herzustellen. Die werden-Kopula entstand im Althochdeutschen direkt aus dem intransitiven Verb 'entstehen, geschehen'. Die ursprüngliche Bedeutung ist, wie bereits erwähnt, in Es werde Licht 'Es entstehe Licht' noch zu greifen. Die Entwicklung der Kopula basierte auf der metonymischen Relation zwischen dem im Vollverb beschriebenen Eintritt eines Phänomens, z.B. des Lichtes, und der damit verbundenen Zustandsänderung: Durch das Entstehen des Lichts wird es hell. Die Bedeutung der Konstruktion X wird Y wandelte sich dadurch von X entsteht/ geschieht zu X verändert sich/ nimmt eine neue Qualität an. Nach diesem semantischen Wandel konnte die Konstruktion auch mit prädikativen Adjektiven verwendet werden, z.B. Er wird rot. V OLLVERB 'wenden, drehen' ie. *u ert- (lat. vertere) V OLLVERB 'entstehen, geschehen' Es werde ('entstehe') Licht ahd. Uuerde uuillo diin 'Dein Wille geschehe' K OPULA Sie wird krank P ASSIVAUXILIAR Sie wird gefragt F UTURAUXILIAR Ich werde schweigen K ONJUNKTIVAUXILIAR Ich würde kommen Die Polygrammatikalisierung von 141 Die Beispiele 125) und 126) enthalten die althochdeutsche werdan-Kopula. Sie drückt aus, dass das Subjekt in den Zustand übergeht bzw. übergehen wird, der im prädikativen Adjektiv (schwanger) oder Substantiv (Jünger) beschrieben ist. Auf diesen Zustandswechsel hat das Subjekt meist keinen Einfluss, es ist ihm vielmehr ausgesetzt (vgl. Sie wurde rot/ krank). Die ingressive, d.h. den plötzlichen Umschlag des Zustands hervorhebende Bedeutung ist vom Vollverb ererbt: 125) Wio meg iz io werdan war, thaz ih werde suangar? (O I, 5, 37) 'Wie kann es je wahr werden, dass ich schwanger werde? ' 126) Ir wollet [...] werdan jungoron sin [...]? (O III, 20, 127) 'Wollt ihr seine Jünger werden? ' Mit der Entwicklung der Kopula ist das Sprungbrett für weitere Grammatikalisierungen geschaffen worden. 6.4.2 Das werden-Passiv Die Grammatikalisierung der Kopula werdan zum Passivauxiliar war im Althochdeutschen bereits weit fortgeschritten. Schon seit dem Germanischen entwickelte sich neben dem bereits bestehenden wesan/ s n-Passiv die passivische werdan-Konstruktion (E ROMS 1992, vgl. aber V ALENTIN 1999). Das Deutsche bewahrte bis heute beide Passivformen, auch wenn sich ihre Funktion diametral gewandelt hat: Mit sein wird das Zustandspassiv gebildet (Das Auto ist gewaschen), wobei hier das Endergebnis des Waschens im Vordergrund steht (für eine detaillierte Interpretation s. M AIENBORN 2007). Das werden-Passiv dient heute als das unmarkierte Vorgangspassiv, mit dem ein Geschehen, also eine Einwirkung auf das Subjekt (Auto), in seinem Verlauf beschrieben wird (Das Auto wird gewaschen). Wie Beispiel 127) zeigt, hatte die althochdeutsche Konstruktion wesan/ s n + Partizip die Funktion des Vorgangspassivs. Sie wurde im 17. Jh. durch werden + Partizip ersetzt und in die Zustandspassiv-Nische verdrängt, während z.B. im Englischen das weordhan-Passiv im 15. Jh. ausgestorben ist (E ROMS 1992, K OTIN 1997). 127) min tohter ubilo fon themo tiuuale giuueigit ist (T 85, 2) 'meine Tochter wird schrecklich vom Teufel gequält' Die Entwicklung des werdan-Passivs aus der Kopula entspricht einem häufig begangenen Grammatikalisierungspfad (H ASPELMATH 1990). Sie wird im Folgenden beschrieben (E ROMS 1978, F RITZ 1997). Nach K URODA (1997) bezeichnete die Konstruktion werdan + Partizip im Althochdeutschen noch hauptsächlich das Eintreten eines passivischen Zustands. In dieser Funktion stand werdan der ingressiven Kopula noch sehr nahe. Doch die Verbindung mit Partizipien machte neben der Kopula-Lesart auch die passivische Lesart möglich. Diesen Grammatikalisierungsstand illustriert das folgende Beispiel: 128) Iz wirdit thoh irfullit, so got gisazta thia zit (O I, 4, 69) 'Es wird doch erfüllt, so wie Gott den Zeitpunkt festgelegt hat' Der Satz ist ambig. Zum einen bedeutet iz wirdit irfullit soviel wie 'es wird wahr'. Bei dieser Interpretation funktioniert werdan als Kopula, die den qualitativen Um- Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 142 schlag beschreibt: Der Zustand des Nicht-Erfüllt-Seins wird zu einem von Gott festgelegten Zeitpunkt in den Zustand des Erfüllt-Seins übergehen. werdan hebt hier den Moment des Eintretens in den neuen Zustand hervor. Die futurische Zeitreferenz des Satzes ergibt sich erst aus dem Kontext: Im vorliegenden Beispiel signalisiert die Partikel thoh 'doch', dass der Sprecher von der Richtigkeit seiner Vorhersage überzeugt ist, daher der Bezug auf Zukünftiges. Zum anderen lässt Satz 128) dank des Partizips irfullit 'erfüllt' die passivische Lesart zu: 'Es wird (von jemandem) erfüllt'. Diese Lesart basiert auf der konversationellen Implikatur, dass der Zustand des Subjekts auf eine Handlung eines Dritten zurückgeht. Die Passivierung geht mit der Veränderung der Perspektive einher: In den werdan-Kopulasätzen unterliegt das inaktive Subjekt einer Zustandsveränderung, ohne dass es einen Einfluss darauf hätte, vgl. Sie wird krank. Der neue Zustand überkommt das Subjekt, obwohl die Veränderung von ihm selbst ausgeht. In der passivischen Lesart wird das inaktive Subjekt der Kopulasätze als passivisches Subjekt uminterpretiert, das einer Handlung ausgesetzt ist. Sein Zustandswechsel wird als von jemandem verursacht angesehen. Die zweite, passivische Lesart existierte zunächst als konversationelle Implikatur. Sie verfestigte sich allmählich, als die werdan-Konstruktion auch mit solchen Partizipien verwendet wurde, die sich nicht bzw. nicht primär auf den qualitativen Zustand des Subjekts bezogen, u.a. fundan 'gefunden'. Beispiel 129) zeigt, dass solche Partizipien die passivische Lesart förderten: 129) Ther duah ther wirdit funtan zisamane biwuntan (O V, 6, 61) 'Das Tuch, das wird zusammengebunden gefunden' Man stelle sich die folgende Situation vor: Die Apostel betreten das leere Grab Christi. In diesem Moment wird von ihnen das zusammengebundene Leichentuch gefunden. In diesem Beispiel tritt werdan in einer ingressiven, passivischen Bedeutung auf. Die Verselbstständigung der passivischen Lesart zeigen darüber hinaus auch Sätze an, in denen der Verursacher zusätzlich in einer von-Phrase genannt wird, z.B. Das Tuch ist von ihnen gefunden worden oder Die Aufgabe wird von ihm erfüllt. Mit der Entwicklung von werdan zum ingressiven Passiv-Auxiliar riss die semantische Verbindung zwischen dem ursprünglich prädikativen Partizip und dem Subjekt ab. Daraufhin wurde auch die Kongruenz, d.h. die morphosyntaktische Verbindung zwischen den beiden Elementen aufgegeben. Während die Partizipien irfullit in 128) und funtan in 129) schon unflektiert sind, weist die Kongruenz zwischen dem Subjekt (daga) und dem prädikativen Partizip (arfullide) in einem älteren Beispiel aus dem Isidor (um 800) noch auf eine semantische Verbindung zwischen beiden Elementen hin: 130) Huuanda so dhine daga arfullide uuerdhant (I 9, 3) 'wenn deine Tage erfüllt werden' Im Mittelhochdeutschen verlor das werden-Hilfsverb zunehmend seine ingressive Bedeutung (F RITZ 1997). Diese Entwicklung stand im Einklang mit der allgemeinen Tendenz des Mittelhochdeutschen zum Abbau bzw. zur Temporalisierung der Aspektkonstruktionen. So entwickelte sich auch das Perfekt von einer As- Die Polygrammatikalisierung von 143 pektzu einer Tempusform (Kap. 6.3.3). Mit dem allmählichen Abbau der ingressiven Semantik fand die temporale Umdeutung der werden-Passivformen statt. Auf diese Entwicklung ist die Tatsache zurückzuführen, dass die werden-Passiva heute eine Zukunftsimplikation enthalten, vgl. Der Brief wird (heute noch) verschickt; Dein Wunsch wird (morgen) erfüllt. Durch den Abbau der ingressiven Bedeutungskomponente weitete sich das werden-Passiv schon im Mittelhochdeutschen auf allgemeingültige Aussagen wie in 131) aus und eroberte zunehmend die frühere funktionale Domäne des sein- Passivs (E ROMS 1992: 237). 131) Dâ heime in mîn selbes hûs, dâ wirt gefreut vil selten mûs (Pz 185,1) 'Daheim in meinem Haus, da wird sehr selten gefeiert/ da haben die Mäuse nicht viel zu feiern' Mit der Expansion der werden-Passivkonstruktion begann die Umstrukturierung des Passivsystems, die sich in der Häufigkeit beider Konstruktionen widerspiegelt (F RITZ 1994). Tab. 23 zeigt, dass sich die Frequenzverhältnisse vom Altzum Neuhochdeutschen umkehrten: Tab. 23: Die Häufigkeit des sein- und werden-Passivs in der Geschichte des Deutschen (F RITZ 1994, N ÜBLING 2006: 185) Sprachperiode sein-Passiv werden-Passiv Althochdeutsch (Otfrid) 67,4% 32,6% Mittelhochdeutsch (Wolfram von Eschenbach, u.a. Parzival) 54,8% 45,2% Neuhochdeutsch 26,1% 73,9% Während im Althochdeutschen das sein-Passiv noch eindeutig überwog, hielten sich beide Passivformen im Mittelhochdeutschen schon die Waage. Zum Neuhochdeutschen hin verlor das sein-Passiv an Frequenz, so dass seine heutige Gebrauchshäufigkeit mit der des werden-Passivs im Althochdeutschen vergleichbar ist. Der Frequenzanstieg des werden-Passivs vom Mittelzum Neuhochdeutschen korreliert mit seiner funktionalen Entwicklung: Im 16. Jh. war der Wandel des werden-Passivs zum Vorgangspassiv abgeschlossen. Im 17. Jh. wurde das sein- Passiv endgültig in die Zustandspassivdomäne verdrängt. Die Umschichtung des Passivsystems war vollendet (E ROMS 1992). 6.4.3 Das werden-Futur Nicht nur das Passivsystem, auch das Tempussystem des Deutschen war von der Polygrammatikalisierung von werden betroffen. Bei der Entwicklung des werden- Futurs (Ich werde morgen nicht arbeiten) handelt es sich jedoch um einen eher seltenen Grammatikalisierungspfad. Das Deutsche ist (neben dem Luxemburgischen) die einzige germanische Sprache, die diesen Weg eingeschlagen hat. Die meisten germanischen Sprachen haben die universal gut belegten Grammatikalisierungspfade begangen (B YBEE / P AGLIUCA 1987). Als Spender dienten entweder Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 144 1) die Modalverben sollen und wollen (z.B. engl. will/ shall, schwed. skola, jidd. veln, ndl. zullen, afrikaans sal) oder 2) die Bewegungsverben gehen, kommen (z.B. engl. be going to, schwed. komma (att)). 6.4.3.1 Der Siegeszug der werden + Infinitiv-Konstruktion Auch im Deutschen zeichnete sich zunächst ein eher gewöhnlicher Entstehungsweg des Futurauxiliars aus Modalverben ab. So wurden bereits im Althochdeutschen skulan (nhd. 'sollen, müssen'), seltener wellen (nhd. 'wollen') oder mugan (nhd. 'können') + Infinitiv zum Futurausdruck herangezogen (S CAFFIDI -A BBATE 1981). Am häufigsten wurde aber das Präsens verwendet, vgl. nhd. Morgen gehe ich nicht arbeiten. Hier wird der Zeitbezug durch das Adverb morgen präzisiert. Modalverben sagen in erster Linie aus, ob das Subjekt eine Handlung ausführen soll, muss, will oder auch kann (s. zu Modalverben Kap. 6.7). Damit präzisieren sie das Verhältnis des Subjekts zur Handlung im Infinitiv: Ich soll/ kann/ muss arbeiten. Vom jeweiligen Modalverb ist es abhängig, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass die Handlung in der Zukunft tatsächlich ausgeführt wird, vgl. Sie soll arbeiten vs. Sie kann arbeiten. Wenn jemand sagt Ich soll arbeiten, dann gehen wir davon aus, dass diese Person vorhat, diese Verpflichtung tatsächlich zu erfüllen, und dass sie sie erfüllen wird. Auf derartige Schlussfolgerungen (konversationelle Implikaturen) sind die mittelhochdeutschen Futurperiphrasen zurückzuführen, die mit suln 'sollen' gebildet wurden. Etwas seltener wurden zum Futurausdruck auch wellen, müezen und mugen herangezogen (P AUL et al. 23 1989, S CHMID 2000). Die zahlreichen suln-Konstruktionen wurden jedoch nicht rein futurisch gebraucht. Sie enthielten immer auch eine modal-intentionale Komponente (D IEWALD / H ABERMANN 2005: 234), z.B.: 132) swaz der küneginne liebes geschiht, des sol ich ir wol gunnen (NL 1204,2) 1) 'was auch immer der Königin Schönes geschieht, ich bin verpflichtet, ihr es zu gönnen' 2) '(...), ich habe vor, es ihr zu gönnen' Die intentionale Lesart 2) baut auf der modalen in 1) auf: +> 'Ich soll nicht nur, ich habe es auch vor'. Sie bildet im Allgemeinen die entscheidende Zwischenstufe bei der Entwicklung einer reinen Futurform (B YBEE et al. 1991). Doch im Deutschen hat kein Modalverb die letzte Stufe in der Entwicklung vom Modalverb > Intention > Futur erreicht. Diese Grammatikalisierungen wurden abgebrochen, denn das Verb werden erwies sich als besserer Kandidat für das Futurauxiliar. Warum? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir kurz ins Althochdeutsche zurückblicken. In dieser Sprachperiode diente werdan schon als Kopula- und auch als Passivauxiliar (s. Kap. 6.4.2). Darüber hinaus bildete das Verb werdan mit dem Partizip Präsens eine weitere ingressive Konstruktion, die im heutigen Deutsch nicht mehr bekannt ist. Sie verschwand im Frühneuhochdeutschen (S ALTVEIT 1962). Hier ein Beispiel aus dem althochdeutschen Tatian: 133) inti nu uuirdist thu suigenti (T 2, 9) 'und nun wirst du schweigend' Die Polygrammatikalisierung von 145 In Satz 133) wird ein abrupter Eintritt in den neuen Zustand des Schweigens beschrieben, der bis in die Zukunft andauert. Die ingressive Komponente liefert das kopulaähnliche werdan, während das Partizip Präsens suigenti 'schweigend' das Andauern des neuen Zustands betont (vgl. nhd. er wird wütend). Da sich der abrupte Eintritt zum Sprechzeitpunkt ereignet, bezeichnet das Partizip Präsens suigenti eine zukünftige Handlung (S ALTVEIT 1962: 174, E ROMS 1997: 19). Die althochdeutsche Konstruktion werdan + Partizip Präsens hatte dadurch eine ingressivfuturische Bedeutung. In Verbindung mit wesan/ s n 'sein' bildete das Partizip Präsens wiederum eine Verlaufsform, z.B. druhtines gheist ist sprehhendi dhurah mih (I 3, 7) 'der Geist des Herrn ist sprechend/ spricht durch mich'. Diese ist mit dem englischen Present Continuous vergleichbar, z.B. He is speaking to me. Die Konstruktion werden + Partizip Präsens war zwar im Mittelhochdeutschen noch lebendig, ihre Bedeutung hatte sich aber gewandelt, weil die ingressive Bedeutungskomponente von werden verblasste. Dank dieser Bedeutungskomponente konnte mit dem Verb werden zuvor der abrupte Charakter des Übergangs in einen neuen Zustand betont werden. Durch die Neutralisierung der ingressiven Semantik hat sich werden zu einem inchoativen, sog. "langsamen" werden entwickelt (F RITZ 1997). Inchoative Verben beschreiben zwar den Eintritt in einen neuen Zustand, doch die Dauer der Übergangsphase kann weit ausgedehnt sein, vgl. verwelken oder erblühen. Da das inchoative werden einen länger andauernden Vorgang bezeichnen konnte, veränderte sich die Funktion des Partizip Präsens, das in der ingressiv-futurischen Konstruktion eine länger andauernde Handlung bezeichnete: sie wird schweigende/ sprechende/ sehende. Abb. 52 zeigt, dass die Aufgaben in der Konstruktion mit dem "langsamen" werden anders verteilt waren. Der zweite Teil der Konstruktion konnte auf die Aufgabe reduziert werden, die Handlung als solche zu bezeichnen. Auffälligerweise kamen zu dieser Zeit, in der sich dieser semantische Wandel vollzog, die ersten werden-Konstruktionen mit Infinitiv auf (M ORTELMANS 2004b). Die Konstruktion werden + Partizip Präsens ist im frühen Neuhochdeutschen endgültig verloren gegangen. Abb. 52: Semantischer Wandel von ingressivem zu inchoativem werden im Mittelhochdeutschen (M ORTELMANS 2004b: 38) ingressives ("schnelles") werden > inchoatives ("langsames") werden [_]+[_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _] [_ _ _ _ _ _]+[________________] sie wird lachende/ singende sie wird lachen/ singen Neben dem hier beschriebenen Erklärungsansatz für das Aufkommen des einfachen Infinitivs mit werden existieren auch andere Hypothesen (für eine kommentierte Zusammenstellung s. W ESTVIK 2000, H ARM 2001, D IEWALD / H ABERMANN 2005). Hier soll nur eine weitere, die sog. Analogiethese, kurz vorgestellt werden. Sie geht davon aus, dass werden + Infinitiv analog zu den anderen bereits im Althochdeutschen verwendeten Infinitivkonstruktionen entstanden ist. Hier hätten v.a. Konstruktionen mit beginnan und gistantan (+ Infinitiv), die ähnlich wie werdan eine ingressive Semantik hatten, Modell gestanden (Beispiele aus D IE- WALD / H ABERMANN 2005): Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 146 134) Sô man dáz pegínnet óugen (N Bo II, 86, 11) 'Wenn man das zu sehen beginnt' 135) her fragen gistuont (Hl 8) 'er begann zu fragen' Gemäß der Analogiethese schloss sich werden in Verbindung mit Infinitiv der semantisch und formal homogenen Gruppe der Ingressivkonstruktionen an. Gegen diese These spricht jedoch, dass sich die werden-Konstruktion als Futurausdruck und nicht etwa als eine Aspektform durchgesetzt hat. Vermutlich ist die Grammatikalisierung von werden zum Futurmarker durch seine Subjektivierung eingeleitet worden. Als Subjektivierung bezeichnet T RAU- GOTT (1995: 31) den Prozess, in dem die Bedeutung eines Sprachzeichens verändert wird, weil es zum Ausdruck der subjektiven Einstellung des Sprechers zur Proposition (d.h. zum Satzinhalt) verwendet wird. Dies passiert, wenn der Sprecher nicht die Fakten beschreibt, sondern seinen Glauben oder seine Überzeugungen darüber, wie sich eine Situation darstellt, zum Ausdruck bringen möchte. Die Subjektivierung tritt ein, wenn der Sprecher aufgrund seiner Vermutung oder seiner Überzeugung davon ausgeht, dass eine Situation eintreten wird; sie basiert auf alltäglichen Annahmen. So werden Vorbereitungen für eine Aktion normalerweise als Anzeichen für eine in der Zukunft liegende (Folge-)Handlung interpretiert. Wenn jemand den Mantel anzieht, nehmen wir an, dass diese Person vorhat zu gehen. Daher kann auch die Frage Wohin gehst du? gestellt werden, auch obwohl die Person objektiv gesehen noch nicht weggeht. Ähnlich diente werden vor der Subjektivierung zur Beschreibung eines objektiv vorliegenden allmählichen Übergangs in eine neue (in der Zukunft liegende) Situation, vgl. nhd. Die Blumen werden allmählich welk 'Die Blumen gehen in den Zustand des Verwelktseins über'. Die Subjektivierung von werden basierte auf bestimmten Annahmen. Mit dem subjektiv verwendeten werden konnte man zum Ausdruck bringen, dass man aufgrund bestimmter Anzeichen annimmt, dass sich etwas verändern wird. Auf diese Weise wurden mit werden + Infinitiv subjektive Vorhersagen über Zukünftiges gemacht, vgl. Du wirst dich verbrennen, wenn du weiterhin so unvorsichtig bist. Interessanterweise ist das futurische werden im Frühneuhochdeutschen hauptsächlich in Prophezeiungen, Weissagungen oder anderen Ankündigungen des Autors belegt (S MIRNOVA 2006). In solchen Kontexten präsentiert eine Person das eigene Wissen oder den Glauben hinsichtlich der Zukunft (s. auch H EINE 1995): 136) Drey Maenner haben den Abraham die Freuden—volle Zeitung gebracht/ daß er werde einen Sohn bekommen / den Jsaac [...] (DGSC, 26; aus S MIRNOVA 2006: 261) Die frohe Botschaft in 136) wird mit werden + Infinitiv formuliert: Du wirst einen Sohn bekommen. Mit Hilfe von werden bringt der Sprecher zum Ausdruck, wie sehr er von seiner Vorhersage überzeugt ist. Auf diese Weise signalisiert er mit werden, dass er sich seiner Festlegung auf einen bestimmten Ablauf des zukünftigen Geschehens bewusst ist. Den Verweis auf sich selbst kann er in Du bekommst einen Sohn nicht vermitteln, auch wenn sich ein solcher Satz ebenfalls auf die Zukunft bezieht. Dies zeigt, dass werden pragmatisch gestärkt, d.h. subjektivierend ver- Die Polygrammatikalisierung von 147 wendet wird. Es verknüpft den Satzinhalt mit der persönlichen Einstellung des Sprechers. In Kap. 6.4.3.2 wird gezeigt, dass nhd. werden immer noch diese pragmatische Funktion hat. Damit ist seine Grammatikalisierung zum reinen Futurmarker noch nicht abgeschlossen. Ähnlich wie werden entwickelte sich das Bewegungsverb to go im Englischen zur Futurperiphrase be going to: Anfänglich wurde be going als Verlaufsform von to go für eine objektive Beschreibung verwendet, z.B. She is going to visit him 'Sie geht ihn besuchen'. Die subjektive, intentionale Komponente ist heute noch in Verbindung mit belebten Subjekten vorhanden: She is going to visit him 'Sie hat vor/ sie wird ihn besuchen'. Doch die Ausweitung der Konstruktion auf unbelebte Subjekte wie in An earthquake is going to destroy that town 'Ein Erdbeben wird diese Stadt zerstören' zeigt, dass die futurische Bedeutung von be going to bereits konventionalisiert ist (T RAUGOTT 1995, H OPPER / T RAUGOTT 2 2006: 88ff.). Die ältesten Belege für die Konstruktion werden + Infinitiv mit Zukunftsbezug stammen aus oberdeutschen Texten des 13. Jhs. (S CHMID 2000). Dort stehen sie in Konkurrenz zu futurisch gebrauchten Modalverben (v.a. sollen). Abb. 53 zeigt, dass die zukunftsbezogenen Aussagen im 14. Jh. noch selten mit werden + Infinitiv formuliert wurden (B OGNER 1989, 2 1996). Ein deutlicher Frequenzanstieg der werden-Periphrasen ist aber in der 2. Hälfte des 15. Jhs. zu verzeichnen, wo sie bereits 40% aller futurisch gebrauchten Konstruktionen ausmachen. Im 16./ 17. Jh. sind die Modalverben aus der Domäne der Futurbeschreibung schon fast vollständig verdrängt worden, wobei die Verbreitung von werden von Osten (Obersächsisch) nach Westen (Thüringisch, Bairisch) verlief (B OGNER 2 1996: 104). Interessanterweise ist im 17. Jh. die Konstruktion werden + Partizip Präsens (sie wird schweigende) abgebaut worden. Abb. 53: Der Frequenzanstieg von werden + Infinitiv als Futurform (B OGNER 2 1996: 99) 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1651-1700 1551-1600 1451-1500 1350-1400 Im Neuhochdeutschen hat sich werden + Infinitiv endgültig gegenüber den Modalverb-Konstruktionen durchgesetzt. Dieser Prozess wurde durch mehrere Faktoren begünstigt (D IEWALD / H ABERMANN 2005): 1) Der lexikalische Gehalt des Spenderverbs ('entstehen') bildete eine gute Grundlage für die Entwicklung der futurischen Bedeutung. Modalverb + Infinitiv Modalverb + Infinitiv Modalverb + Infinitiv Modalverb + Infinitiv werden + Infinitiv werden + Infinitiv werden + Infinitiv werden + Infinitiv Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 148 2) Das Verb werden konnte schon vor der Grammatikalisierung gleichermaßen mit belebten und unbelebten Subjekten kombiniert werden, während Modalverben zunächst aufgrund ihrer Semantik auf belebte Subjekte beschränkt waren: Julia will gehen. Im Frühneuhochdeutschen wurden sporadisch unbelebte Subjekte zugelassen, vgl. Herr, es will Abend werden (Luther), doch die Desemantisierung brach ab. 3) Mit werden wurden schon im Althochdeutschen viele grammatische Konstruktionen gebildet (Kopula-, Passiv-, Ingressivkonstruktion). Seine hohe konstruktionelle Variabilität förderte die Einbindung in die Futurperiphrase. 4) Die Ablösung des Präsenspartizips durch den Infinitiv könnte durch bedeutungsähnliche (ingressive) Infinitivkonstruktionen mit beginnan und gistantan beeinflusst worden sein. 5) Die generelle Tendenz zum Abbau aspektueller Oppositionen und zu ihrer Temporalisierung im Mittelhochdeutschen unterstützte die Entwicklung eines futurischen werden. 6.4.3.2 Die Subjektivierung in der Grammatikalisierung Die Periphrase werden + Infinitiv hat zwar die Grammatikalisierung von Modalverben zu Futurauxiliaren blockiert, doch hat sie sich bis heute nicht als obligatorische Futurkennzeichnung behaupten können. Auch heute noch wird hauptsächlich das Präsens für zukunftsbezogene Aussagen verwendet, z.B. Ich gehe morgen ins Kino. In geschriebenen Texten ist das werden-Futur neben dem Futur II (Vielleicht wird sie ihn bis dahin gefragt haben) die am seltensten verwendete Tempusform des Deutschen. Dies zeigt M ORTELMANS (2004b), basierend auf der D UDEN - G RAMMATIK ( 6 1998: 145): Tab. 24: Die Frequenz der Tempusformen im Deutschen (M ORTELMANS 2004b: 35) Tempus Präsens Präteritum Perfekt Plusquamperfekt Futur I (werden-Futur) Futur II (werden + Inf. Perf.) Frequenz 52% 38% 5,5% 3,2% 1,5% 0,3% M ORTELMANS (2004a,b) untersucht die Gründe für die geringe Verwendung des werden-Futurs, indem sie deutsch-englische und englisch-deutsche Übersetzungen vergleicht. Sie stellt fest, dass das englische will-Futur nicht immer mit dem werden-Futur wiedergegeben wird. Dies liegt in erster Linie daran, dass das (stärker grammatikalisierte) will-Futur eine viel breitere Anwendung hat. Es wird u.a. auch in Wettervorhersagen verwendet (engl. It will stay dry, The temperature will reach 64° F), wo das Deutsche das Präsens einsetzt (dt. Es bleibt trocken, Die Temperatur erreicht/ Die Höchsttemperatur liegt bei 18° C). Doch nicht nur in solchen speziellen Kontexten, sondern auch in unmarkierten Fällen bevorzugt das Deutsche die Präsensform, die mit dem will-Futur ins Englische übersetzt wird (M ORTEL- MANS 2004a: 198f.): 137) Deutsch: Fährst du mit mir fort, im Frühling? Englisch (Übersetzung): Will you go away with me in the spring? Die Polygrammatikalisierung von 149 Während das englische will-Futur in futurischen Kontexten nahezu obligatorisch ist, kann man auf das werden-Futur im Deutschen verzichten und stattdessen das Präsens (das sog. praesens pro futuro) wählen. Der "Störfaktor" beim deutschen werden ist seine starke Sprecherbezogenheit. Benutzen wir werden, so signalisieren wir eine bestimmte Einstellung zu unserer Prognose, z.B. Ich werde mit dir fortfahren. Dies ist das Resultat der Subjektivierung von werden, die in Kap. 6.4.3.1 beschrieben ist. T RAUGOTT (1995) verwendet den Begriff der Subjektivierung, wenn ein Sprachzeichen zum Ausdruck von Annahmen benutzt wird. Im Zuge der Grammatikalisierung verselbstständigt sich nach T RAUGOTT diese Bedeutung, die durch die subjektive Verwendung entstanden ist (z.B. der Zukunftsbezug). Da das deutsche werden immer noch eine subjektive Komponente enthält, ist seine Grammatikalisierung noch nicht beendet. Um den Grammatikalisierungsstand von werden genauer zu bestimmen, wendet M ORTELMANS (2004a) ein anderes, zweistufiges Subjektivierungsmodell von L ANGACKER (1991, 1999) an. Nach diesem Modell besteht die Grammatikalisierung darin, dass ein zunächst objektiv verwendetes Zeichen vollständig subjektiviert wird. Eine maximal objektive Verwendung ist dann gegeben, wenn ein Sprecher eine Situation beschreibt, d.h. wenn er als Betrachter außerhalb der sprachlichen Bühne (Skopus) steht (s. A in Abb. 54). Durch die Projektion der eigenen (subjektiven) Vorstellungen auf ein Sprachzeichen bringt sich der Sprecher selbst auf die sprachliche Bühne, macht sich in der Äußerung explizit "sichtbar" (s. B in Abb. 54). Seine Meinung oder persönliche Betroffenheit fließt in den Skopus (Bezugsumfang) der Äußerung ein. Diese Subjektivierungsstufe hat werden erreicht: In dem kurzen Dialog in 138) verwendet A werden, um auf die eigene Unzufriedenheit hinzuweisen und zu drohen. B setzt in der Reaktion darauf auch werden ein, um die eigene Empörung auszudrücken und A zu verbieten, dem Therapeuten überhaupt etwas zu erzählen. 138) A: Ich werde es deinem Therapeuten erzählen. B: Du wirst meinem Therapeuten überhaupt nichts erzählen. Das englische will passierte hingegen die zweite Stufe der Subjektivierung (s. C in Abb. 54). Deswegen dient es heute dazu, subjektive Aussagen über die Zukunft zu bilden, aber ohne den expliziten Verweis auf den Sprecher, z.B. She will come at 8 o'clock 'Sie kommt um 8 Uhr', It will stay dry 'Es bleibt trocken'. Solche Sätze, darunter Wetterberichte, transportieren keinen Hinweis auf die persönliche Überzeugung des Sprechers. Dass man dies als zweite, fortgeschrittene Subjektivierungsstufe bezeichnet, wird damit begründet, dass die will-Konstruktion die Sicht des Sprechers impliziert. Mit der will-Konstruktion vermittelt der Sprecher nämlich spekulative, zukunftsbezogene Inhalte. Deswegen wird diese Subjektivierungsstufe auch als Implizitierung bezeichnet. Dabei hat der Sprecher keine Wahl, d.h. er muss, wenn er über die Zukunft sprechen möchte, diese Konstruktion wählen. Da das englische will die zweite Stufe der Subjektivierung (der sog. Implizitierung) erreicht hat, wird es auch in Wettervorhersagen, z.B. It will stay dry 'Es bleibt trocken', oder in generischen Aussagen (Water will boil at 100°C - dt. Wasser kocht bei 100 °C) verwendet. Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 150 Abb. 54: Die Subjektivierungsstufen von dt. werden und engl. will 6.4.4 Der würde-Konjunktiv Noch während des Frühneuhochdeutschen entwickelte sich werden zum Konjunktivauxiliar wie in Sie würde mich anrufen. In (aus linguistischer Perspektive) relativ kurzer Zeit behauptete sich der neue analytische Konjunktiv (ich würde singen) gegenüber den alten synthetischen Formen, die im Frühneuhochdeutschen nur noch bei den starken Verben eindeutig waren (ich sänge). Bei den zahlreicheren schwachen Verben fiel der synthetische Konjunktiv mit dem Präteritum formal zusammen wie liebte in Wenn er mich liebte, wäre er jetzt hier. Die schwachen Verben bilden heute fast ausschließlich den analytischen Konjunktiv: Wenn er mich lieben würde, wäre er jetzt hier. Die folgende Darstellung basiert auf S MIRNOVA (2006), die gezeigt hat, dass sich der neue Konjunktivausdruck zunächst in den irrealen Konditionalnebensätzen etablierte. Diese Sätze drücken eine nicht erfüllte Bedingung aus, die die im Hauptsatz beschriebene Situation unmöglich macht: Wenn er mich lieben würde, wäre er jetzt hier. Da die Bedingung nicht erfüllt ist (er liebt mich nicht), tritt die im Hauptsatz enthaltene Konsequenz nicht ein (er ist nicht hier). Diese Bedingung- Folge-Relation bildete nach S MIRNOVA die Grundlage für die Entwicklung des würde-Konjunktivs. Formal leitet sich der Konjunktiv vom Präteritum der uns aus Kap. 6.4.3.1 schon bekannten Verbindung (ingressives) werden + Partizip Präsens ab, die im Alt- und Mittelhochdeutschen den plötzlichen Eintritt eines neuen (länger anhaltenden) Zustands in der Vergangenheit bezeichnete: 139) Thô sliumo uuard thar mit themo engile menigi himilisches heres got lobontiu inti quedentiu: tiurida si in then hohistôm gote (T 6, 3, aus S MIRNOVA 2006: 246) 'Es erschien auf einmal dort bei dem Engel eine Menge des Himmlischen Heeres, die Gott lobte und rief: Ehre sei Gott im Himmel' Sprecher = Betrachter Skopus beschriebene Situation [....] [__] wird kochen Sprecher ist sichtbar in der Äußerung Skopus beschriebene Situation [....] [__] wird kochen Sprecher macht die Vorhersage Skopus beschriebene Situation [....] [__] will boil A: Objektive Situationsbeschreibung B: Erste Subjektivierungsstufe: Sprecherbezogene Zukunftsaussage (Drohung, Verbot, Glaube, Überzeugung usw.) dt. Ich werde es ihm erzählen. Du wirst dich verbrennen. C: Zweite Subjektivierungsstufe: Zukunftsbezogene Aussage (der Sprecher bleibt im Hintergrund) engl. Water will boil at 100° C. dt. Wasser kocht (*wird kochen) bei 100° C. Die Polygrammatikalisierung von 151 Diese Periphrase wurde im Althochdeutschen noch vereinzelt, im Mittel- und Frühneuhochdeutschen aber zunehmend verwendet, um die Reaktion auf ein früheres Ereignis zu beschreiben (S MIRNOVA 2006: 242-259): 140) vnd darnach ward sy haim hin faren (Kurzmann 14. Jh.; aus S MIRNOVA 2006: 248) 'und danach trat sie die Heimfahrt an' Durch die häufige Verwendung in solchen Kontexten wurde diese (temporale danach- oder kausale daraufhin-) Folgerelation als semantischer Bestandteil der Konstruktion ward/ wurde + Partizip Präsens, später + Infinitiv reanalysiert und konventionalisiert. Dies diente als Sprungbrett für die Entwicklung des analytischen Konjunktivs, denn auch die Konditionalsätze haben, wie wir oben festgestellt haben, eine ähnliche Grundstruktur: Wenn du das Buch aufmachst, wirst du dich wundern. Der konditionale Nebensatz beschreibt eine Bedingung (wenn du das Buch aufmachst), der Hauptsatz enthält die Folge (wirst du dich wundern). Im Frühneuhochdeutschen wurde die Folge entweder temporal oder auch schon kausal interpretiert, wie im folgenden Beispiel: 141) Denn wenn solch stück der Königin Auskompt zu den weiberen hin, So werden sie verachten gar All ir menner gantz offenbar. (Voith 14./ 15. Jh.; aus S MIRNOVA 2006: 301) In irrealen Konditionalsätzen wie in 142) wurde die irreale Bedingung im Konjunktiv Präteritum formuliert (waere). Da sich die Konstruktion werden + Infinitiv auf die Bezeichnung einer Folgerelation spezialisiert hatte, wurde sie zum Ausdruck der irrealen Folge im Konjunktiv Präteritum verwendet (wuerde fragen). Natürlich ist in solchen Sätzen die ursprüngliche ingressive Lesart vollkommen hinter die Folgerelation-Lesart zurückgetreten und verblasst: 142) Wenn ich eine Jungfer waere / so wuerde ich fragen (aus S MIRNOVA 2006: 307) Die Konditionalkonstruktionen gaben dann den Anstoß zur Entwicklung und Verbreitung des analytischen Konjunktivs. Dieser expandierte anschließend auf andere typisch konjunktivische Nebensätze, darunter Konzessivsätze, die eine nicht hinreichende Bedingung beinhalten: Auch wenn er für mich kochen würde, würde ich ihn nicht heiraten. In solchen Sätzen ist der Gebrauch des analytischen Konjunktivs heute beinahe obligatorisch; der analytische Konjunktiv ist zumindest viel häufiger als der synthetische. Aus der für die Bedingung-Folge-Relation im Frühneuhochdeutschen konventionalisierten wird/ wurde + Infinitiv-Verbindung zweigte sich neben dem analytischen Konjunktiv noch eine zweite Funktion von würde + Infinitiv ab, die sog. evidenzielle Lesart (ausführlich in S MIRNOVA 2006, 2008): Dabei weist die würde- Konstruktion darauf hin, dass der Sprecher aus einer (dem Hörer nicht immer bekannten) Gegebenheit eine Schlussfolgerung ableitet: Ich wusste, dass sie lügen würde. Hier basiert die Meinung des Sprechers (sie lügt) auf seinen eigenen Überzeugungen. Für den Sprecher ist es evident, dass das Subjekt lügt. Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 152 Die in diesem Kapitel beschriebene Polygrammatikalisierung von werden stellt ein sehr komplexes Phänomen dar, in dem sich immer wieder neue, grammatischere Periphrasen (Passiv, Futur und Konjunktiv) aus der weniger grammatischen Kopula abgezweigt haben (s. Abb. 51 auf S. 140). Die Kopula, die sich im Althochdeutschen mit Adjektiven, Substantiven, Präsens- und Perfektpartizipien verbinden konnte, bildete den Anfang verschiedener Grammatikalisierungspfade. 6.5 Die Entstehung des Rezipientenpassivs In diesem Kapitel bekommen die Leser die Entwicklung des sog. Rezipientenpassivs vorgestellt. Dabei geht es um eine relativ junge Grammatikalisierung: Die Auxiliarisierung der Verben bekommen und kriegen ist erst seit dem 16./ 17. Jh. belegt (E ROMS 1978, G LASER 2005). Mit diesen beiden Verben bekommen und kriegen bilden wir, v.a. in gesprochener Sprache, eine zum werden-Passiv alternative Konstruktion, das sog. Rezipientenpassiv, z.B. Er bekommt/ kriegt das Fahrrad repariert (Rezipientenpassiv) vs. Das Fahrrad wird repariert (Vorgangspassiv). Grundsätzlich stehen beide Passivformen in Opposition zum Aktiv, das eine Handlung beschreibt, die durch das Subjekt ausgeführt wird (Ich repariere meinem Freund das Fahrrad). In dieser Struktur ist das Subjekt das Agens der Handlung. Die Handlung geht von ihm aus (A SKEDAL 1984, 2005): Abb. 55: Die Akkusativ- und die Dativkonversion 1. Aktivsatz: Syntaktische Subjekt finites Verb Dativobjekt A KKUSATIVOBJEKT Funktion Ich repariere (meinem Freund) DAS F AHRRAD . Agens Handlung Rezipient Patiens Semantische Rolle 2. Vorgangspassiv (Akkusativkonversion): S UBJEKT finites Verb Präpositionalobjekt Partizip D AS F AHRRAD wird (von mir) repariert. Patiens Geschehen (Agens) Geschehen 3. Rezipientenpassiv (Dativkonversion): Subjekt finites Verb Akkusativobjekt Präpositionalobjekt Partizip Mein Freund bekommt/ kriegt das Fahrrad (von mir) repariert. Rezipient Geschehen Patiens (Agens) Geschehen Je nachdem, welche der beiden Passivformen (Nr. 2 bzw. Nr. 3) wir benutzen, beleuchten wir das Geschehen aus einer anderen Perspektive. In beiden Fällen bezeichnet das Subjekt ein Nicht-Agens, auf das der Vorgang gerichtet ist. Das werden-Vorgangspassiv (Nr. 2) beschreibt, was mit dem Subjekt (= Objekt des Aktivsatzes) geschieht: Das Fahrrad wird (von mir) repariert. Da das Akkusativobjekt des Aktivsatzes zum Subjekt des Passivsatzes umgewandelt wird, spricht man von der sog. Akkusativkonversion. Im Rezipientenpassiv (Nr. 3) steht der Empfänger einer Handlung in der Subjektposition: Mein Freund bekommt das Fahrrad (von mir) repariert (die sog. Dativkonversion, daher auch die Bezeichnung Dativpassiv). Die Entstehung des Rezipientenpassivs 153 Folgende Punkte sprechen dafür, dass die Konstruktion bekommen/ kriegen + Partizip Perfekt eine Passivform ist (R EIS 1976): 1) Im Partizip Perfekt kann nur ein "passivfähiges" Verb wie reparieren stehen, d.h. ein solches, das auch im Vorgangspassiv möglich ist (Es wird repariert - Ich bekomme/ kriege es repariert). 2) Das eigentliche Agens tritt - wie dies bei Passiven der Normalfall ist - in einer fakultativen von-Phrase auf (Ich bekomme das Fahrrad von ihm repariert). 3) Die Konstruktion kann mit Hilfe des werden-Passivs paraphrasiert werden: Sie kriegt das Fahrrad repariert oder Das Fahrrad wird für sie repariert. Beide Passivformen, die sich zueinander komplementär verhalten, haben eine dynamische Lesart. Sie unterscheiden sich darin, welchen der passiven Partizipanten sie im Subjekt herausstellen. Darüber hinaus können zu beiden Passivformen entsprechende Zustandsformen gebildet werden: zum einen das sein- Passiv (Akkusativkonversion) wie in Das Fahrrad ist repariert, zum anderen die Konstruktion aus haben + Partizip Perfekt (Dativkonversion) wie in Das Fahrrad hat vorne einen Korb aufgesetzt (D UDEN -G RAMMATIK 7 2005: 557). Beide Zustandsformen sind meist nur im Kontext als solche zu interpretieren. Die haben + Partizip Perfekt-Konstruktion hat eine passivische Lesart v.a. dann, wenn klar ist, dass das (unbelebte) Subjekt (das Fahrrad im Beispiel oben) die Handlung nicht selbst ausführen konnte, vgl. Mein Freund hat den Korb aufgesetzt (Perfekt-Lesart). Obwohl die zustandspassivische Lesart erst unter Zugriff auf die Pragmatik (also im Kontext) entsteht und somit zur Peripherie des Passivsystems gehört, ist auffällig, dass alle vier Passivbzw. passivähnlichen Konstruktionen die gleiche Struktur haben: Hilfsverb + Partizip Perfekt. Diese strukturelle Ähnlichkeit verzahnt das System und fördert damit weitere Grammatikalisierungen. Sie dient sogar als Attraktor für weitere passivähnliche Formen, z.B. mit gehören. Diese Konstruktion hat neben der passivischen noch eine modale Bedeutung, z.B. Das Haus gehört renoviert 'Das Haus muss renoviert werden' (S ZATMÁRI 2002). Es ist anzunehmen, dass diese strukturelle Attraktion auch bei der Entwicklung des Rezipientenpassivs eine Rolle gespielt hat und weiterhin spielt. In Bezug auf das Rezipientenpassiv erleben wir im heutigen Deutsch eine Grammatikalisierung in statu nascendi. Dies erkennt man schon daran, dass viele Sätze mit bekommen + Partizip Perfekt noch doppeldeutig sind: 143) Ich bekomme den Kaffee geröstet. 1) 'Ich bekomme den Kaffee in geröstetem Zustand' 2) 'Der Kaffee wird für mich geröstet' Im Folgenden werden wir uns zunächst mit der Frage beschäftigen, was die Entstehung der rezipientenpassivischen Lesart begünstigt hat. Die drei Vollverben, die in die Grammatikalisierung des Rezipientenpassivs involviert sind, bekommen, kriegen und (ansatzweise) auch erhalten, sind im heutigen Deutsch synonym und bezeichnen den Besitzwechsel: Sie bekommt/ kriegt/ erhält einen PC. Sie unterscheiden sich nur stilistisch: erhalten ist stilistisch höherstehend und wird in gehobenen Texten verwendet. kriegen ist dagegen umgangssprachlich und wird z.B. in vertrauten Gesprächen verwendet, während bekommen stilistisch neutral ist. Alle drei Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 154 sind intransitive, inagentive Besitzwechselverben, deren Subjekt ein (passiver) Rezipient ist. Dadurch ist die Handlungsrichtung in Aktivsätzen mit diesen Verben markiert: Die Handlung geht nicht vom Subjekt aus, sondern läuft auf das Subjekt zu: Abb. 56: Die Handlungsrichtung in Sätzen mit bekommen, kriegen und erhalten Subjekt finites Verb Präpositionalobjekt Akkusativobjekt Sie bekommt von ihm ein Fahrrad. Rezipient Geschehen Agens Patiens Die Besitzwechselverben können drei Argumente an sich binden: 1) den Rezipienten (Subjekt), 2) das Agens (Dativobjekt) und 3) das Patiens (Akkusativobjekt): 144) Sie bekommt von ihr einen Kaffee/ ein Klavier. (Besitzwechsel) In 144) wird eine Situation beschrieben, in der dem Subjekt ein Kaffee gereicht bzw. ein Klavier geschenkt wird. Der Besitzwechsel kann im Partizip explizit bezeichnet werden: 145) Sie bekommt von ihr einen Kaffee gereicht. (Besitzwechsel) Sie bekommt von ihr ein Klavier geschenkt. (Besitzwechsel) Auch andere adverbiale Spezifizierungen sind möglich: 146) Sie bekommt von ihr ein Klavier leihweise. (Besitzwechsel) Mit gereicht, geschenkt oder leihweise wird der Transfer spezifiziert. Dies tangiert in keiner Weise die Bedeutung von bekommen, das immer noch den Besitzwechsel bezeichnet. Das zentrale In-Besitz-Nehmen des Rezipienten und das Schenken, Leihen oder Überreichen seitens des Agens in der von-Präpositionalphrase sind zwei Seiten ein und derselben Situation. Auf diese Weise enthalten Beschreibungen in 145) zwei Prädikationen: 1) die erste im finiten Verb sie bekommt X (das sog. primäre Prädikat) und 2) die zweite im Partizip geschenkt (das sog. sekundäre Prädikat). Das sekundäre Prädikat (auch Koprädikativ genannt) präzisiert das primäre, vgl. Sie bekommt den Kaffee gereicht (= Sie bekommt den Kaffee vom Kellner). Als sekundäre Prädikate können sowohl Adjektive als auch Partizipien dienen. Unser Weltwissen veranlasst uns dazu, den Bezug zwischen ihnen und einem anderen Satzelement festzustellen: In 147) bezieht sich das Koprädikativ auf das Subjekt (Sie war verärgert und verließ in diesem Zustand den Raum), in 148) und 149) auf das Objekt (Sie trinkt/ bekommt den Kaffee, der Kaffee ist heiß). 147) Sie verließ den Raum verärgert. 148) Sie trinkt den Kaffee heiß/ kalt/ zu süß. 149) Sie bekommt den Kaffee heiß/ kalt/ zu süß. Die Sätze 147)-149) haben somit folgende Prädikatsstruktur (H ACKMACK 2001): Die Entstehung des Rezipientenpassivs 155 Abb. 57: Das primäre und das sekundäre Prädikat Subjekt ---primäres Prädikat ------- Sie bekommt/ trinkt den Kaffee heiß/ kalt/ zu süß -----sekundäres Prädikat----- (Der Kaffee ist heiß/ kalt/ zu süß). Das Sprungbrett für die Entwicklung der rezipientenpassivischen Lesart waren Sätze, in denen das sekundäre Prädikativ ein Partizip wie geröstet war (R EIS 1985): 150) Sie bekommt den Kaffee geröstet. Mit dem Satz in 150) kann heute der Besitzwechsel beschrieben werden. In diesem Fall muss das Rösten zuvor stattgefunden haben, damit der Kaffee im gerösteten Zustand übergeben werden kann. Und genau das ist der Clou: Der Kaffee muss zuerst geröstet werden, bevor man ihn in diesem Zustand bekommt. Die beiden Konzepte, das Rösten und der Besitzwechsel, berühren sich. Sie stehen in einer metonymischen Beziehung zueinander, etwa 'X rösten' (zuerst) > 'X geröstet bekommen' (danach). Dies löst eine konversationelle Implikatur aus, so dass ein solcher Satz eine zweite (streichbare) Lesart bekommt: 1) 'Ich bekomme den Kaffee im gerösteten Zustand.' 2) +> 'Der Kaffee wird für mich geröstet. Ich bekomme ihn gleich.' Man kann sich viele Situationen vorstellen, in denen Lesart 2) konversationell implikatiert wird. Wichtig ist, dass die erste Handlung noch nicht beendet ist. Dann kann der Sprecher den Hörer zu dieser Implikatur "einladen", indem er einen Satz "zu früh" äußert (sog. invited inference, s. T RAUGOTT / D ASHER 2002, T RAUGOTT 2004b). So bekommt man beim Metzger die Wurst geschnitten, beim Bäcker das Brot eingepackt. Die Beteiligung einer dritten Person (des Agens von geschnitten, eingepackt), die nicht genannt werden muss, ist ein wichtiger semantischer Bestandteil des Rezipientenpassivs. Wenn diese nicht erfüllt ist, kann eine andere Bedeutung zum Einsatz kommen, z.B. Ich krieg' das Brot (schon) geschnitten = Ich kriege es schon hin/ Ich schaffe es schon, das Brot zu schneiden. Hier ist das Subjekt agentiv; es bemüht sich darum, dass das Brot geschnitten auf den Tisch kommt. Diese agentivkausative Bedeutung ist aus dem (ursprünglich) agentiven kriegen/ bekommen hervorgegangen, heute noch in hinkriegen/ hinbekommen enthalten (s. L ANDSBERGEN 2006). Es ist anzunehmen, dass diese Periphrase die Grammatikalisierung der Passivverben kriegen und bekommen gefördert hat, denn gerade diese zwei sind, wie wir gleich sehen werden, am weitesten grammatikalisiert. erhalten ist auf der Strecke geblieben. Hier gibt es auch kein *hinerhalten o. Ä. (*Ich erhalte es hin, das Brot zu schneiden). Die rezipientenpassivische Lesart wie in 2) von Ich bekomme den Kaffee geröstet (s.o.) konnte sich nur dann entwickeln, wenn das Verb im Partizip (geröstet) ditransitiv verwendet werden konnte, also drei Argumente an sich band: Sie (Agens) röstet den Kaffee (Patiens) für mich (Rezipient). rösten musste sich so verhalten wie "richtige" dreistellige Verben, etwa schenken oder reichen. Auf diese Weise konnten die Argumente von bekommen (Ich bekomme den Kaffee von dir) und Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 156 von dem Verb im Partizip (Du röstest mir den Kaffee) miteinander zu Ich bekomme den Kaffee von dir geröstet verzahnt werden: Abb. 58: Die Verzahnung der Argumente in der Rezipientenpassivlesart Ich (Rezipient) (Agens) Du bekomme röstest den Kaffee (Patiens) (Rezipient) mir von dir (Agens) (Patiens) den Kaffee Die rezipientenpassivische Lesart 2) verändert die Beziehungen zwischen den Satzelementen (s. Kap. 3.2). Wie Abb. 59 zeigt, regiert das Verb bekommen nach der Reanalyse kein direktes Objekt mehr, weil den Kaffee als direktes Objekt des Verbs im Partizip reanalysiert wird (den Kaffee rösten). Das koprädikative Partizip geröstet in [Ich bekomme den Kaffee][geröstet] wird zum infiniten Prädikatsteil von Ich bekomme geröstet uminterpretiert. Mit dem Verlust des Objekts verhält sich bekommen nicht mehr wie ein Vollverb; es ist teilweise dekategorialisiert. Als Passivauxiliar drückt es nur aus, dass das Subjekt der Rezipient einer Handlung ist. Die Handlung selbst wird im Partizip ausgedrückt (H EINE 1993b). Abb. 59: Die strukturelle Reanalyse (vom Besitzwechsel zum Rezipientenpassiv) Ausgangsstruktur (Lesart 1): Subjekt finites (Voll-)Verb Direktobjekt Koprädikativ Ich [bekomme den Kaffee] geröstet. Reanalysierte Struktur (Lesart 2): Subjekt finites (Hilfs-)Verb Direktobjekt Infinites Prädikatsteil Ich bekomme [den Kaffee geröstet.] Bei dieser Reanalyse bestehen viele Parallelen zur Entwicklung des Perfekts, die in Kap. 6.3 beschrieben ist. Ein Unterschied liegt darin, dass das Subjekt nicht zum Agens der Handlung reanalysiert wird. "Erleichternd" kommt bei der Reanalyse zum Rezipientenpassiv hinzu, dass das prädikative Partizip seit dem Mittelhochdeutschen nicht mehr flektiert wird. Die passivische Lesart kann aber nur dann entstehen, wenn das Partizip nicht, wie für Adjektive typisch, gesteigert (Ich bekomme den Kaffee gerösteter als du) bzw. mit unpräfigiert ist (Ich bekomme den Kaffee ungeröstet) oder wenn es nicht in Verbindung mit einem adjektivtypischen Zusatz wie zu oder genug auftritt (Ich bekomme den Kaffee genug geröstet). In solchen Fällen ist nur die prädikative Lesart 1) möglich (R EIS 1985). Die Konventionalisierung der neuen rezipientenpassivischen Lesart befindet sich schon im Vollzug: Im Laufe des 20. Jhs. weiteten sich bekommen und kriegen als Rezipientenpassivauxiliare analogisch auf neue Kontexte aus (L EIRBUKT 1997). Das Verb erhalten hält hingegen der semantischen Ausbleichung bis heute stand. Auch hinsichtlich der analogischen Ausweitung von bekommen und kriegen gibt es viele Parallelen zur Perfektentwicklung (A BRAHAM 1985, T EUBER 2005): Zunächst konnten nur konkrete Objekte die Patiensrolle annehmen, z.B. Ich bekomme den Kaffee geröstet, die Wohnung gestrichen usw. Analogisch dazu traten später auch abstrakte Objekte auf: Ich bekomme ein Lied vorgesungen, Ich bekomme etwas gesagt. Die Entstehung des Rezipientenpassivs 157 Durch diese Extension wurde die Rolle des Subjekts vom Benefaktiv (dem eine Tätigkeit zugute kommt) zum Adressaten einer (weniger konkreten) Handlung reduziert. 1) Benefaktiv (konkrete Objekte) Ich bekomme die Wohnung gestrichen. 2) Adressat (abstrakte Objekte) Ich bekomme ein Lied vorgesungen. Heute hat sich die Konstruktion sogar auf privative Verben, die den Verlust eines Objekts bezeichnen, ausgeweitet: Ich bekomme die Zähne gezogen/ das Fahrrad geklaut. Das Subjekt ist zwar immer noch passiv in das Geschehen verwickelt, doch diesmal kommt ihm nichts zugute. Hier hat es die semantische Rolle des Malefaktivs angenommen. 3) Malefaktiv (privative Verben mit einem direkten Objekt) Ich bekomme die Zähne gezogen. An dieser Veränderung erkennt man, dass sich die rezipientenpassivische Lesart verselbstständigt hat, da sie hier die einzig mögliche ist. Würde man das Partizip prädikativ interpretieren, würde der Satz bedeuten: 'Ich bekomme gezogene Zähne'. Dies ist eine ganz andere Situation als in Ich bekomme die Zähne gezogen. Für die weitere Extension der Rezipientenpassivkonstruktion sind Sätze, in denen das Objekt an der Oberfläche fehlt, verantwortlich: Ich bekomme (ein Buch) vorgelesen. Auf diese Weise ist ein weiterer, bis heute noch nicht ganz vollzogener Schritt eingeleitet worden: Manche Sprecher akzeptieren oder verwenden das Rezipientenpassiv schon mit intransitiven Dativ-Verben Ich bekomme geholfen, wir bekamen applaudiert, er kriegt von der Tante gedroht oder Sie bekam von einem Krankenpfleger assistiert. Andere schätzen solche Sätze noch als ungrammatisch ein. Interessanter- (und logischer-)weise finden sich in solchen Beispielen nicht beliebige Dativ-Verben, sondern solche mit Zuwendungssemantik, d.h. die Handlung ist auf das Subjekt des Rezipientenpassivs gerichtet, z.B. helfen, assistieren, drohen (T EUBER 2005). Viel langsamer verläuft die Extension auf unbelebte, wenngleich konkrete Subjekte, etwa das Auto bekommt den Motor repariert, das Haus kriegt die Fassade neu gestrichen. Solche Sätze waren vor 20 Jahren noch inakzeptabel (s. R EIS 1976). Heute ist dieses Persistenzmerkmal von bekommen und kriegen schon geschwächt, was von fortschreitender Grammatikalisierung zeugt (A SKEDAL 2005). Gänzlich blockiert sind bis heute abstrakte Subjekte, etwa * Die Kälte bekommt das Kind ausgesetzt (von Das Kind wurde der Kälte ausgesetzt) (W EGENER 1985b). Dies wäre ein weiteres Glied in der Kette der kategoriellen Metapher: BELEBT > UNBELEBT > ABS- TRAKT (H EINE et al. 1991). Dass wir es hier noch nicht mit einer abgeschlossenen Grammatikalisierung zu tun haben, erkennt man an vielen anderen Persistenzerscheinungen. So haftet am Rezipientenpassiv immer noch eine "Rezipientenorientiertheit" (W EGENER 1985a). Das Rezipientenpassiv basiert auf der Annahme, dass die Handlung den Rezipienten "erreicht". Sonst wird der Satz 151) als ungrammatisch empfunden: Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 158 151) *Ich habe ein Fahrrad repariert gekriegt, aber ich habe es nicht bekommen. Eine solche Einschränkung der Grammatizität besteht nicht für das werden-Passiv: Das Fahrrad wurde für mich repariert, aber ich habe es nicht bekommen. In einem Sprachproduktionsexperiment konnte L ENZ (2008) zeigen, dass eine andere Persistenzerscheinung in der gesprochenen Sprache bereits aufgeweicht wurde. Probanden aus dem Westmitteldeutschen, das als Wiege des Rezipientenpassivs gelten kann (G LASER 2005), bilden schon ein Rezipientenpassiv mit geben, das die semantische Konverse von bekommen ist: 152) Er hat etwas gegeben bekommen. Doch es existieren noch viele Verwendungsbeschränkungen, die zeigen, dass hier eine interessante Grammatikalisierung im Vollzug vorliegt, die es in Zukunft weiter zu beobachten gilt und die in manchen Dialekten schon weiter entwickelt ist als im Standard. Mit Blick auf das dem Westmitteldeutschen nahestehende Luxemburgische zeigt sich, dass sich das luxemburgische Hilfsverb kréien viel leichter als im Deutschen mit unbelebten Subjekten verbindet, z.B. Eisen Auto kritt haut nach e neie Motor agebaut 'Unser Auto kriegt heute noch einen neuen Motor eingebaut'. 6.6 Die Herausbildung des am-Progressivs 6.6.1 Die Progressivität als neue Aspektkategorie im Deutschen Mit den Konstruktionen am X-en (Arbeiten, Essen…) sein, aber auch beim X-en (Arbeiten, Essen…) sein, im X-en (Steigen) sein sowie dabei sein, zu x-en kann im Deutschen eine Handlung im Verlauf dargestellt werden. Sie werden daher Verlaufsformen genannt, s. 153). Ihre Funktion ist mit dem engl. progressive (continuous form) wie in She is/ was working vergleichbar (K RAUSE 1997, VAN P OTTELBERGE 2007). Die Konstruktion am x-en sein ist auch als "rheinische Verlaufsform" bekannt. 153) Verlaufsformen im Deutschen Sie ist am Essen/ Kochen/ Überlegen. (die sog. "rheinische Verlaufsform") Sie ist beim Arbeiten. Die Preise sind im Steigen. Sie ist dabei, einen Brief zu schreiben. Wie die Bezeichnung "rheinische Verlaufsform" noch zu erkennen gibt, handelt es sich hierbei um ursprünglich dialektale Ausdrucksformen. Dabei ist die am-Form, die nach VAN P OTTELBERGE (2004: 241ff.) unabhängig voneinander im rheinwestfälischen Raum und in der Schweiz entstanden ist, heute auch überregional akzeptiert und sogar in der Schriftsprache belegt (K LOSA 1999, VAN P OTTELBERGE 2004: 184f.). In der IDS-Grammatik von Z IFONUN et al. (1997: 1877f.) wird der am- Progressiv zum ersten Mal als grammatische Kategorie des heutigen Deutsch besprochen. Er wird als fester Bestandteil der Sprachnorm angesehen, der auch im fremdsprachlichen Unterricht berücksichtigt werden sollte (T HIEL 2008). Die Herausbildung des -Progressivs 159 Mit den noch relativ jungen Verlaufsformen baut das Deutsche erneut die Aspektkategorie auf, nachdem es durch den Abbau des perfektiven gi-Präfixes (Kap. 6.3.3) und die Temporalisierung des haben-Perfekts (Kap. 6.3.2) die aspektuellen Ausdrucksmöglichkeiten zunächst eingebüßt hat. Damit gingen grammatische Mittel verloren, die es dem Sprecher ermöglichen, eine Verbalhandlung zu perspektivieren. Grundsätzlich kann die Handlung entweder aus der Außen- oder Innenperspektive dargestellt werden (L EISS 1992). Betrachtet der Sprecher eine Handlung aus der Außenperspektive, so hat er das gesamte Geschehen mit seinen Grenzen im Blick und sieht es als abgeschlossen an. Zum Ausdruck der Außenperspektive dient die perfektive Aspektform des Verbs, wie sie aus den slavischen Sprachen bekannt ist (s. 2) in Kap. 5.2.1). Wenn eine Sprache nicht über grammatische Aspektmittel verfügt, kann die Außenperspektive auch lexikalisch hergestellt werden, z.B. mit fertig in Ich habe das Buch fertig gelesen. Interessanterweise hat sich der Definitartikel zum nominalen Ausdruck der Abgeschlossenheit im Deutschen entwickelt (L EISS 1994). Nimmt der Sprecher die Innenperspektive ein, konzentriert er sich auf die Verbalhandlung selbst und blendet die Grenzen des Geschehens aus, vgl. Ich habe ein Buch gelesen. Die neuen Konstruktionen, allen voran am x-en sein, ermöglichen die Betrachtung einer Verbalhandlung aus der Innenperspektive, z.B. Ich bin/ war am Lesen. Ihre Leistung ist also generell dem imperfektiven Aspekt zuzuordnen. Wie Abb. 60 zeigt, heben diese Konstruktionen besonders hervor, dass die imperfektive Handlung des Lesens zum Sprechzeitpunkt (S) wie in Sie ist gerade am Lesen bzw. zu einem anderen betrachteten Zeitpunkt (BZ) (wie in Sie war am Lesen, als der Kunde hereinkam) verläuft. Damit gehören sie der Subkategorie des imperfektiven Aspekts, dem sog. Progressiv, an (s. C OMRIE 3 1981, K RAUSE 1997, 1998, 2002, VAN P OTTELBERGE 2004, 2007). Abb. 60: Der progressive Aspekt Der Progressiv ist im Deutschen nicht voll grammatikalisiert. Dies betrifft zum einen seine Ausdrucksform, die - anders als bspw. im Englischen - variabel ist: Im Deutschen stehen mehrere Konstruktionen mit unterschiedlichem Grammatikalisierungsgrad zur Verfügung, wobei am x-en sein (das sog. am-Progressiv) am weitesten grammatikalisiert ist (dazu mehr in Kap. 6.6.3). Zum anderen ist die Verlaufsform im Deutschen, anders als im Englischen, nicht obligatorisch. So kann der Sprecher frei zwischen Präsens und am-Progressiv wählen: Sie ist im Moment/ gerade am Lesen oder Sie liest im Moment/ gerade. Im Englischen ist es hingegen nicht möglich simple present statt present continuous zu verwenden: At the der Kunde kommt herein (BZ) gerade (S) am Lesen sein (Handlung im Verlauf) l e s e n Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 160 moment, she is reading the newspaper, nicht *At the moment, she reads the newspaper. Beide Verbformen schließen sich gegenseitig aus, d.h. sie stehen in funktionaler Opposition zueinander: simple present (nicht-progressiv) vs. present continuous (progressiv). Das deutsche Präsens ist hingegen bezüglich der Progressivität unterspezifiziert [+/ progressiv] und kann beide funktionalen Bereiche abdecken (C OMRIE 3 1981, VAN P OTTELBERGE 2007). Beide Sprachen unterscheiden sich also bezüglich des Lehmannschen Parameters der Wählbarkeit (s. Kap. 2.3): Mit der fakultativen Progressivform ist im Deutschen innerhalb der Aspektkategorie eine höhere interparadigmatische Variabilität gegeben. 6.6.2 Von der lokativen zur progressiven Konstruktion Progressive Konstruktionen entwickeln sich meistens aus lokativen Ausdrücken, die Menschen oder Gegenstände im Raum positionieren (C OMRIE 3 1981, B YBEE et al. 1994). So werden häufig syntaktische Konstruktionen mit den Positionsverben (liegen, sitzen und stehen), die die räumliche Position eines belebten Subjekts definieren, zu Progressivformen grammatikalisiert. Dieser Grammatikalisierungspfad ist in den germanischen Sprachen gut belegt: In skandinavischen Sprachen schreitet die Grammatikalisierung der sog. pseudokoordinativen Konstruktionen (sitzen/ liegen/ stehen + und + Verb) wie in schwed. han sitter och läser 'er ist am Lesen' (wörtl. "er sitzt und liest") zum Progressiv voran (G LÜCK 2001, VAN P OTTELBERGE 2007). Im Niederländischen bringen alle drei Verben, liggen, staan und zitten (ferner auch hangen 'hängen' und lopen 'laufen') in Verbindung mit dem te-Infinitiv die Progressivität zum Ausdruck, z.B. Ik sta te wachten 'Ich warte/ bin am Warten', Ik zit te lesen 'Ich lese/ bin am Lesen' (E BERT 1996). Dabei löst sich v.a. zitten von seiner lexikalischen Bedeutung ab, so dass die eigentliche Position des Subjekts irrelevant wird, z.B. Ik zit te denken 'Ich denke gerade' (L EMMENS 2002). Die deutschen Progressivkonstruktionen sind auf Strukturen, die das Existenzverb sein und eine lokalisierende Präpositionalphrase (am/ beim/ im + Substantiv) enthalten, zurückzuführen. Diese Spenderstruktur ist auch in anderen westgermanischen Sprachen zu beobachten, darunter im Niederländischen (aan het + Infinitiv + zijn), im Niederdeutschen, im Afrikaans und im Westfriesischen (A N- DERSSON 1989, E BERT 1989, V AN P OTTELBERGE 2004: 2, F LECKEN 2011). Auch für den englischen Progressiv wird angenommen, dass er sich aus einer lokativen Fügung (etwa He is on hunting) entwickelt hat (N EHLS 1974: 166ff., R EIMANN 1997: 35ff.). Diese Ausgangsstruktur liegt darüber hinaus den Progressivformen in anderen, auch nicht-indoeuropäischen Sprachen zugrunde (s. auch C OMRIE 3 1981: 99, H EI- NE / K UTEVA 2002: 202). Die ursprüngliche konkrete Bedeutung ist bei der beim-Konstruktion noch erkennbar. So ist der Satz Sie ist beim Skatspielen ambig und auch als Antwort auf die Frage Wo ist Anna? akzeptabel (E BERT 1996, K RAUSE 1997, 2002: 44ff.). In diesem Falle wird mit Skatspielen nicht die Aktivität, sondern der Ort, an dem diese Aktivität typischerweise ausgeführt wird, gemeint. Für das am-Progressiv ist die lokative Lesart hingegen ausgeschlossen. Sie ist am Skatspielen kann sich nur auf eine zum Sprechzeitpunkt ablaufende Tätigkeit beziehen. Die Herausbildung des -Progressivs 161 Da sich in den früheren Sprachstufen keine Belege für die lokative Lesart von am x-en sein (ebensowenig für das ndl. aan het-Progressiv) finden lassen, hält V AN P OTTELBERGE (2004, 2005) den Grammatikalisierungspfad vom am-Lokativ zum am-Progressiv für ausgeschlossen. Vielmehr geht VAN P OTTELBERGE davon aus, dass die Konstruktion am x-en sein von Anfang an nur die progressive Lesart hatte. So lässt der älteste Beleg aus dem 16. Jh. nur die aspektuelle Interpretation zu: 154) Fand wir king Philips, der am herausreiten was. (Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494-1541, zitiert nach VAN P OTTELBERGE 2004: 233) Interessanterweise enthält der Satz in 154) das sog. Inzidenzschema, in dem ein Ereignis (das Finden des Königs) in ein anderes, sich im Verlauf befindliches Ereignis des Herausreitens hineinbricht (P OLLAK 1960: 129). Die punktuelle Verbalhandlung des Findens spielt sich vor dem Hintergrund des Herausreitens ab. Die Präposition an konnte sich schon seit dem Althochdeutschen mit dem substantivierten Infinitiv verbinden (s. VAN P OTTELBERGE 2004: 235): 155) Althochdeutsch: Tíu án demo tûonne âne nôt sínt (N Bo 1, 331,21-24) 'Diejenigen [Sachen], die während des Vollziehens ohne Notwendigkeit sind.' (Übersetzung VAN P OTTELBERGE 2004: 235) 156) Mittehocheutsch: Und am scheiden sagt er zu sym volck (…). (PL2, Seite 443, Zeile 2-3) 157) Frühneuhochdeutsch: Am hineinreitten stuos mich ain fieber terzana an (Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494-1541, zitiert nach R ÖDEL 2004a: 141) In diesen Beispielen üben die am-Phrasen die Funktion eines Zeitadverbials aus, das im Neuhochdeutschen mit der Präposition während wiedergegeben werden kann, etwa Während des Abschiednehmens sagte er zu seinem Volk. Dabei ist in 156) deutlich zu sehen, dass mit am scheiden 'während des Abschiednehmens' der Hintergrund konstruiert wird, vor dem die punktuelle Handlung der Mittelung (sagt er) stattfindet. Im heutigen Deutsch kann die beim-Phrase in dieser Funktion verwendet werden, z.B. Beim Hinausgehen stieß sie mit einer Kundin zusammen. Wie A NDERSSON (1989) in seiner kontrastiven Studie zu den Progressivkonstruktionen im Ruhrdeutschen und Niederdeutschen zeigt, beschränkt sich die Funktion von schwach grammatikalisierten (stark semantisch und syntaktisch restringierte) Progressivformen darauf, eine aktuelle Handlung als Hintergrund für ein neues, zentrales Ereignis zu markieren. Ähnlich wie ein Zeitadverbial charakterisiert sie also den Umstand des zentralen Geschehens genauer. Somit kann angenommen werden, dass die Präposition an, die neben der räumlichen (wie in am Fluss, am Tisch, an der Wand) auch die zeitliche Ausdehnung bezeichnete (vgl. am Tag, am Abend), spätestens seit dem Mittelhochdeutschen mit substantivierten Infinitiven mit klitischem Artikel (am Scheiden) kombiniert werden konnte, um den Verlaufscharakter einer Handlung zu betonen. Möglicherweise ging die am + Infinitvphrase erst danach die Verbindung mit dem Verb sein ein, um im temporalen Nebensatz das hintergründige Ereignis darzustellen. Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 162 6.6.3 Der Grammatikalisierungsgrad der progressiven Konstruktionen Die deutschen Progressivkonstruktionen können strukturell in zwei Gruppen unterteilt werden: Drei von ihnen sind der Makrokonstruktion sein + Präposition- Artikel-Klise (am/ beim/ im) + (substantivierter) Infinitiv zuzuordnen. Eine etwas andere Struktur hat die Fügung dabei sein, zu x-en, da sie syntaktisch komplex ist. Die lexikalische Information wird im untergeordeten Infinitvsatz ausgedrückt (Sie ist dabei, einen Brief zu schreiben), wodurch diese gesamte Struktur eine geringere Fügungsenge aufweist. Sie wird aus der folgenden Betrachtung ausgeschlossen. Die drei konkurrierenden Konstruktionen am/ beim und im x-en sein sind trotz ähnlicher Struktur unterschiedlich stark grammatikalisiert. Hinzu kommt noch, dass ihr Grammatikalisierungsgrad in den Ursprungsgebieten höher ist als in der überregionalen Umgangs- und v.a. in der Schriftsprache. In der Forschungsliteratur herrscht keine Einigkeit darüber, in welchem Grammatikalisierungsstadium sich die Progressivformen in den überregionalen Varietäten des Deutschen befinden (vgl. u.a. K RAUSE 1997 und B AUDOT 2005). Dies mag zum einen daran liegen, dass sich die Untersuchungen auf unterschiedlich zusammengesetzte (gesprochen- und geschriebensprachliche, nah- und distanzsprachliche) Korpora stützen, in denen der Einfluss einer Regionalsprache nicht eindeutig zu bestimmen ist. Zum anderen ist natürlich auch die fortschreitende Grammatikalisierung dafür verantwortlich, dass sich v.a. im Internet immer wieder neue Belege für die Kontexterweiterung finden lassen. Wie in Kap. 6.6.2 angesprochen, haben die Progressivkonstruktionen zum unterschiedlichen Grad ihre ursprüngliche Bedeutung eingebüßt. Die lokative Lesart ist beim am-Progressiv ausgeschlossen und auch historisch nicht belegt. Die beim-Konstruktion lässt beide Lesarten zu. So kann Sie ist beim Skatspielen sowohl lokativ 'Sie ist an dem Ort, wo man typischerweise Skat spielt' als auch progressiv 'Sie spielt gerade Skat' interpretiert werden. Bei der im- Form ist die progressive Lesart meist sogar ausgeschlossen, vgl. Sie ist im Essen ( Sie isst gerade). Die am-Periphrase hat ebenfalls die meisten semantischen Kontexte erobert, weist also den höchsten Grad an Expansion auf. Dies führt A NDERSSON (1989: 97) auf die Bedeutung der Präposition an zurück. In ihrer konkreten (räumlichen) Bedeutung dient sie dazu, ein Objekt zum angrenzenden Raum so zu positionieren, dass es diesen kaum oder leicht berührt. Die Raumkonturen bleiben unscharf (vgl. Abb. 60 zur Bedeutung der Verlaufsform). Die Präposition in positioniert hingegen das Objekt innerhalb des Raumes, wodurch seine Grenzen im Blickfeld liegen. Die metaphorische Ausweitung von an auf Aktivitäten ermöglicht daher, die nicht scharf konturierte Verbalhandlung an einer Stelle zu "berühren". Mit in rückt hingegen die Verbalhandlung als Ganzes stärker in den Blick. bei betont im Gegensatz zu an die Präsenz und das Beschäftigt-Sein. In der Funktion, die Progressivität auszudrücken, verbanden sich alle drei Konstruktionen ursprünglich nur mit den sog. additiven (atelischen) Verben. Diese denotieren solche Verbgeschehen, die sich in viele gleiche Phasen einteilen lassen, z.B. arbeiten, lesen, essen, schreiben (L EISS 1992: 49f.). Auf diese Weise kann ein beliebiger Ausschnitt aus dem fortlaufenden Verbgeschehen mit der progres- Die Herausbildung des -Progressivs 163 siven Konstruktion fokussiert werden: Sie ist am Tanzen/ Arbeiten/ Schreiben. Wie K RAUSE (1997, 2002) bemerkt, konnte anfänglich nur eine Gruppe dieser Verben im Progressiv verwendet werden. Dies sind die sog. activity-Verben, die eine physische (kochen, arbeiten, schreiben) oder auch mentale Aktivität (überlegen) denotieren (zur semantischen Verbklassifikation s. V ENDLER 1967). Diese Verben sind auch heute noch sowohl im am- und auch im beim-Progressiv am häufigsten (R EI- MANN 1997, K RAUSE 2002). Für den am-Progressiv lässt sich sogar schon eine Tendenz zur Kleinschreibung des Infinitivs feststellen, was dafür spricht, dass die Sprachbenutzer die Folge am + Infinitiv als eine (progressive) Verbform betrachten, z.B. Sie ist am werkeln, am suchen usw. (R ÖDEL 2004b). Beide Progressivformen verbinden sich heute auch mit den sog. nonadditiven (telischen) Verben. Diese denotieren eine Zustandsveränderung, z.B. einschlafen oder ertrinken. Das Verbgeschehen lässt sich hier nicht in gleiche Phasen einteilen, da gerade der Phasenwechsel im Vordergrund steht. So beschreibt einschlafen den puntuellen und einmaligen Übergang von der Phase des Wachseins in die des Schlafens. Diese Verben waren daher zunächst mit den Progressivformen, die den Verlauf einer Handlung als Folge von gleichen Phasen darstellten, nicht kompatibel. Erst nach der Konventionalisierung der progressiven Lesart ist die Ausweitung auf diese Kontexte möglich geworden. Mit dem Progressiv kann der Sprecher die Übergangsphase der non-additiven Verben "dehnen", z.B. Sie war am Einschlafen, als das Telefon klingelte. Im Korpus von K RAU- SE (2002) sind non-additive Verben noch deutlich seltener belegt als additive. Die quantitativen Verhältnisse spiegeln somit den graduellen Verlauf der Grammatikalisierung der am- und der beim-Form wider. Die Ergebnisse dieser Korpusuntersuchung zeigen auch, dass die im-Konstruktion sehr schwach grammatikalisiert ist. Meist tritt sie als idiomatisierte Wendung im Kommen sein auf (K RAUSE 2002: 184f.). Darüber hinaus verbindet sie sich fast ausschließlich mit Verben, die Zustandsänderung von unbelebten Subjekten beschreiben, häufig in Kombination mit begriffen wie in Die Preise waren im Sinken (begriffen) (K RAUSE 2002: 215f.). Die statischen Verben (states), die zweite Untergruppe der additiven Verben, gehen im Deutschen selten die Verbindung mit den Progressivformen ein. Dieses Verhalten, das auch in Sprachen mit einem voll ausgebildeten Progressiv zu beobachten ist, lässt sich auf ihre Semantik zurückführen: Diese Verben denotieren keine Handlungen, Vorgänge oder Geschehnisse, sondern Zustände, z.B. sitzen, schlafen, denken oder lieben. Im Englischen lassen sich zwar Formen wie he is sitting, standing, lying, sleeping regelmäßig bilden. Andere Verben, darunter to love, sind ausgeschlossen. Die kreative (emphatische) Verwendung ist jedoch aus der McDonald's Werbung bekannt: Die Progressivform I'm loving it hebt den glücklichen Zustand des Subjekts im Moment des Genusses hervor. Im Deutschen geht nur der am-Progressiv die Verbindung mit statischen Verben ein, z.B. Sie ist am Schlafen/ Frieren/ Hoffen (K RAUSE 2002: 2007). Schließlich verliert der Infinitv im am-Progressiv zunehmend seinen ursprünglich nominalen Charakter (R ÖDEL 2003, 2004b). Zum einen sind attribuierte Formen wie etwa in Er ist am lauten Singen nicht mehr akzeptabel. Die Folge am + Infinitiv kann also nicht mehr unterbrochen werden. Sie hat damit einen höheren Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 164 Verschmelzungsgrad erreicht als die beim-Phrase, in der die Attribuierung nicht ganz ausgeschlossen ist, z.B. Sie ist beim lauten Singen (R ÖDEL 2004a: 146). Zum anderen verändert sich im am-Progressiv die syntaktische Position des direkten Objekts (wie Koffer, Kaffee oder Brötchen), das ursprünglich als Kompositionserstglied in den substantivierten Infinitiv inkorporiert war, z.B. Sie ist am Kofferpacken/ am Kaffeekochen/ am Brötchenessen. Heute können direkte Objekte aus dem Infinitiv ausgeklammert werden, z.B. Sie ist Koffer am Packen, Brötchen am Essen. Mit diesem Schritt übernimmt der Infinitiv als lexikalischer Teil des am- Progressivs endgültig die Aufgabe, die Leerstellen im Satz zu eröffnen. Gleichzeitig wird die Dekategorialisierung des Verbs sein, das bis dahin die Verwendung der direkten Objekte blockiert hat, entschieden vorangetrieben. In der Standardsprache sind solche Sätze noch stark markiert, im rheinischen Ursprüngsgebiet hingegen sehr frequent (B RONS -A LBERT 1984, B HATT / S CHMIDT 1993, R ÖDEL 2004a). Im Ruhrdeutschen hat sich das verbale Verhalten des Infinitivs vollständig durchgesetzt (A NDERSSON 1989). Mit dem jeweiligen Grammatikalisierungsgrad der drei betrachteten Progressivkonstruktionen korreliert auch ihre Gebrauchsfrequenz in den von K RAUSE (2002: 88) untersuchten Korpora, wo der am-Progressiv fast dreifach so häufig belegt ist wie die beim- und im-Konstruktionen zusammen. 6.6.4 Der Absentiv Interessanterweise verfügt das Deutsche über eine weitere Konstruktion, die sich aus dem Verb sein und dem Infinitiv zusammensetzt, z.B. Sie ist schwimmen oder Sie ist was essen. Sie liefert jedoch eine andere Information als der am-Progressiv, was in folgenden Beispielen aus K RAUSE (2002: 26) deutlich wird: 158) Herr Breuer, als ich bei Ihnen anrief, sagte mir Ihre Frau, Sie wären Tennisspielen. (Auszug aus einem Interview, 96-Regionalliga-Kurier, Stadion-Programm von Hannover 96, 09.11.97: 20; zitiert nach K RAUSE 2002: 26) 159) - Andrea - Sie is was essen (Arzthelferinnen über ihre Kollegin; Hörbeleg von K RAUSE 2002: 26) In beiden Fällen können die Hörer nicht sicher davon ausgehen, dass das Satzsubjekt (Herr Breuer bzw. Andrea) die im Infinitiv ausgedrückte Handlung zum Sprechzeitpunkt ausführt. Es kann durchaus sein, dass Herr Breuer in diesem Moment noch nicht in der Tennishalle angekommen oder auch bereits schon auf dem Weg nach Hause ist. Die Konstruktion x-en sein drückt in erster Linie aus, dass das Satzsubjekt abwesend ist, weil es mit dem Ziel, Tennis zu spielen bzw. etwas zu essen, sich an einen Ort begeben hat, wo man die im Infinitiv ausgedrückte Tätigkeit normalerweise ausführen kann. Es handelt sich um eine absentive Konstruktion, die nicht nur im Deutschen, sondern in vielen anderen Sprachen in Europa existiert (V OGEL 2007). Interessanterweise verhalten sich der Absentiv, und der am-Progressiv komplementär, da sie entweder über Abwesenheit (Absentiv) oder Anwesenheit (am-Progressiv) des Satzsubjekts informieren. Somit kann nach W ÖLLSTEIN (2006) davon ausgegangen werden, dass sich im Deutschen Die Entwicklung der Modalverben 165 innerhalb der funktionalen Domäne der Progressivität eine Opposition zwischen Absentiv (x-en sein) und Adsentiv (am x-en sein) herausbildet. 160) Die funktionale Domäne der Progressivität im Deutschen Sie ist am schwimmen. (Adsentiv) Sie ist Ø schwimmen. (Absentiv) 6.7 Die Entwicklung der Modalverben Das Deutsche verfügt heute über eine kleine Gruppe von Modalverben. Ihren Kern bilden sollen, wollen, müssen, dürfen, mögen und können. Die besondere Leistung dieser Verben liegt darin, dass sie uns, den Sprechern, ermöglichen, unsere Wissensbestände, unser Wertesystem, unseren Willen u.Ä. in die Äußerung einzubeziehen. Dabei kann sich die modalisierte Äußerung entweder auf objektiv existierende Umstände beziehen (die sog. objektive Modalität) oder unsere subjektive Einschätzung der Situation zum Ausdruck bringen (die sog. epistemische Modalität). Im Folgenden werden die beiden Modalitätstypen kurz besprochen. Anschließend wird gezeigt, wie sich epistemische Modalverben aus den objektiven herausgrammatikalisiert haben. Die folgende Darstellung basiert auf D IE- WALD (1993, 1999, 2002). 1) Die objektive Modalität Stellen wir uns die folgende Situation vor: Auf dem Sofa sitzt ein unzufriedener Junge. Er hat kurz zuvor das Gespräch zwischen seinen Eltern gehört, die entschieden haben: 161) Er muss den Abwasch machen. (faktisch, objektiv) Irgendetwas hat zu der Entscheidung geführt, dass der Junge den Abwasch macht. Möglicherweise trifft diese unangenehme Aufgabe abwechselnd alle Familienmitglieder oder es wird jede Woche ausgelost, wer dran ist. Auf jeden Fall gibt es einen Umstand (die sog. modale Quelle), der das Subjekt (hier: den Jungen) dazu verpflichtet, den Abwasch zu machen. Der Satz beschreibt nicht die Tätigkeit des Abwaschens selbst. Diese entspricht (noch? ) nicht den Fakten. Sie ist nicht-faktisch und muss auch nicht - wenn sich der Junge weigert - Wirklichkeit werden. Faktisch ist aber die Feststellung des Zwangs mithilfe von müssen, also die Existenz einer zwingenden modalen Quelle. Die einzelnen Modalverben bezeichnen unterschiedliche Umstände. So lässt der Satz Er darf den Abwasch machen auf eine ganz andere modale Quelle schließen. Hier weist der Sprecher auf bestimmte Umstände hin, die es erlauben, dass der Junge den Abwasch macht (Genaueres zur modalen Quelle s. D IEWALD 1999). Die Modalverben beschreiben also generell die Umstände, die auf das Subjekt des Satzes in Bezug auf eine bestimmte Handlung (hier: abwaschen) einwirken. Sie sind Bestandteil der Proposition (des Satzinhalts), d.h. sie beschreiben die uns vorliegende Situation. Dies ist die (diachron) erste, lexikalische Funktion der Modalverben, die seit dem Althochdeutschen zu beobachten ist (D IEWALD 1999). Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 166 Dabei wurde die Gruppe der lexikalischen Modalverben von drei im Althochdeutschen (skulan 'sollen', wellen 'wollen' und mugan 'können') auf sechs im Neuhochdeutschen erweitert (können, dürfen, müssen, sollen, wollen, mögen). Sie verhalten sich formal sehr ähnlich: Sie verlangen einen Infinitiv ohne zu und sind in der 3.Sg. Präsens endungslos, z.B. Sie muss kommen. Heute entwickelt auch das Verb nicht brauchen eine solche modale Funktion. Dabei konkurriert es mit nicht müssen: Du brauchst es nicht tun/ Du musst es nicht tun. Nicht brauchen verhält sich auch syntaktisch und morphologisch zum Teil bereits wie ein Modalverb. Es kann, wenn auch nur fakultativ, ohne zu gebraucht werden: Du brauchst es nicht (zu) tun. In der gesprochenen Sprache tritt neben der regelmäßigen Form sie braucht endungsloses sie brauch' auf (analog zu anderen Modalverben, z.B. sie soll, sie muss) (A SKEDAL 1998). 2) Die epistemische Modalität Im Mittelhochdeutschen setzte die Entwicklung einer zweiten, epistemischen Funktion ein. Mit Hilfe der epistemischen Modalverben können wir heute zum Ausdruck bringen, ob wir den dargestellten Sachverhalt als eher faktisch oder nicht-faktisch einschätzen: Bestimmte Geräusche, die uns aus der Küche erreichen, können wir darauf beziehen, dass jemand den Abwasch macht. Da es sich nicht um eine unmittelbar zugängliche Situation handelt, sondern vielmehr um eine Schlussfolgerung, wäre eine faktische Beschreibung Er macht den Abwasch unangebracht. Da wir uns aber ziemlich sicher sind, benutzen wir das Modalverb müssen: 162) Er muss den Abwasch machen. (epistemisch, subjektiv) müssen beschreibt hier nicht die Umstände, in denen sich das Subjekt befindet, sondern bringt zum Ausdruck, dass der Sprecher aufgrund der Indizien schließt, dass das Subjekt jetzt beim Abwaschen ist. Das Modalverb gehört nicht zum Satzinhalt (zur Proposition), sondern modifiziert die gesamte Aussage: 'Ich nehme an, dass er den Abwasch macht'. Der Geltungsbereich (Skopus) des epistemischen Modalverbs ist die gesamte Proposition dass er den Abwasch macht. Das Modalverb gehört nicht wie bei der objektiven Modalität der lexikalischen Ebene des Satzes an, sondern einer höheren, pragmatischen Ebene. Hier verweist es auf den Sprecher selbst, der so seine subjektive Einschätzung der Situation ausdrückt. Abb. 61: Die objektive und die epistemische Modalität objektive Modalität epistemische Modalität (lexikalisches Modalverb) (epistemisches Modalverb) Er muss den Abwasch machen. Er muss den Abwasch machen. Pragmatische Ebene: Ich schätze es als sehr sicher ein, Lexikalische Ebene: Er ist gezwungen, den Abwasch zu machen. dass er den Abwasch macht. Die Funktion der epistemischen Modalverben ist mit der des Konjunktivs II zu vergleichen, so dass sie nach D IEWALD (1993) als Bestandteil des Modussystems aufzufassen sind. Daher werden sie Modalverben im engeren Sinne genannt. Ihre Eingliederung in das Modussystem hat sich erst im frühen Neuhochdeutschen Die Entwicklung der Modalverben 167 vollzogen (17.-19. Jh.). So signalisieren wir mit dem Konjunktiv II heute, dass die beschriebene Situation nicht-faktisch ist. Wir haben dabei eine nicht-erfüllte Bedingung im Blick, die in einem Konditionalsatz ausgedrückt werden kann: 163) Er würde den Abwasch machen (wenn man ihn darum bäte.) Ein epistemisches Modalverb markiert hingegen einen ungewissen Faktizitätsgrad, der erst verifiziert werden muss: 164) Den Geräuschen nach muss er wohl den Abwasch machen, schau doch mal nach. Generell stehen der Konjunktiv II und die epistemischen Modalverben in Opposition zum unmarkierten Indikativ, der die faktische Stufe markiert: Er macht den Abwasch. Tab. 25: Das deutsche Modussystem und der Faktizitätsgrad unmarkiert markiert Faktizität [+faktisch] [+/ -faktisch] [-faktisch] Modus Indikativ epistemisch gebrauchte Modalverben Konjunktiv II Er macht den Abwasch. Er muss/ dürfte jetzt wohl den Abwasch machen. Er würde den Abwasch machen (wenn man ihn darum bäte.) Solche nur gedachten Inhalte, "bloße Gedankenbilder" des Sprechers wie in Er muss wohl am Abwaschen sein, wurden im Althochdeutschen noch im Konjunktiv I ausgedrückt (D IEWALD 1993, V ALENTIN 1997). Dieser Modus befindet sich heute in der Endphase der Grammatikalisierung. Seine heutige Funktion des Quotativs (d.h. der Kennzeichnung der indirekten Rede) übt er eindeutig v.a. in der 3.Sg. aus: Sie teilte uns mit, sie gehe nächstes Jahr ins Ausland. In den meisten Zellen des Person-/ Numerusparadigmas ist der Konjunktiv I schon formal mit dem Indikativ Präsens zusammengefallen. Dies gilt u.a. für die 3.Pl.-Form sie gehen, vgl. Sie sagte, sie gehen nächstes Jahr ins Ausland. Interessanterweise erfüllen epistemisches sollen und wollen ebenfalls quotative Funktionen und konkurrieren damit mit dem Konjunktiv I, z.B. Sie will/ soll zu diesem Zeitpunkt noch im Büro gewesen sein 'Sie sagt, sie sei zu diesem Zeitpunkt noch im Büro gewesen'. Im Gegensatz zum Konjunktiv I geben sollen und wollen nicht nur fremde Rede wieder, sondern transportieren zusätzlich die subjektive Einschätzung des Sprechers, der nicht ganz sicher ist, ob die Behauptung stimmt. Sie sind also noch nicht so weit grammatikalisiert wie der Konjunktiv I. Im Folgenden wenden wir uns der Grammatikalisierung von Modalverben, d.h. der Entwicklung ihrer epistemischen, im engeren Sinne modalen Lesart zu. Dabei wird zwischen drei Kontexttypen unterschieden, entlang derer sich die Grammatikalisierung fortbewegt (D IEWALD 2002): 1) Vor dem Beginn der Grammatikalisierung existiert nur die lexikalische Bedeutung eines Wortes (z.B. eines objektiv verwendeten Modalverbs). In sog. untypischen Kontexten kann eine konversationelle Implikatur ausgelöst werden, wodurch neben der ursprünglichen Lesart eine neue (implikatierte) entsteht. Die Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 168 untypischen Kontexte favorisieren die neue, epistemische Lesart nicht. Wichtig ist jedoch, dass diese Interpretationsmöglichkeit den Sprachbenutzern bekannt ist. 2) Diese bereits bekannte, implikatierte Lesart wird in den kritischen Kontexten favorisiert, da die ursprüngliche für eher unwahrscheinlich oder unpassend gehalten wird. So wird das Modalverb in Sie soll gut kochen eher epistemisch interpretiert, wodurch die Äußerung als Bezug des Sprechers auf die Meinung eines Dritten verstanden wird, etwa 'Man sagt, sie kocht gut'. Die objektive Lesart des Modalverbs soll ist eher unpassend. Die Äußerung würde in diesem Fall bedeuten: 'Sie ist verpflichtet, gut zu kochen'. Die kritischen Kontexte setzen die Grammatikalisierung in Gang, die durch unabhängige Entwicklungen in anderen Bereichen des grammatischen Systems unterstützt wird. 3) Die Verselbstständigung der neuen grammatischen Bedeutung, die früher in Form einer konversationellen Implikatur aufgetreten ist, und ihre Abspaltung von der ursprünglichen, lexikalischen Bedeutung wird mit der Entwicklung sog. isolierender Kontexte vollzogen, in denen nur die neue (grammatische) Bedeutung möglich ist, während die alte (lexikalische) ausgeschlossen ist, z.B. Sie kann es nicht gewesen sein 'Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie es gewesen ist'. Anhand dieses Grammatikalisierungsmodells wird im Folgenden die Herausbildung der epistemischen Modalverben geschildert. Die Darstellung beruht auf D IEWALD (2002). 6.7.1 Der untypische Kontext Die Grammatikalisierung von Modalverben begann im Mittelhochdeutschen. In dieser Zeit entfaltete das Modalverb mugen 'können' in Verbindung mit einem generischen (unspezifischen) Subjekt man, das auf jede beliebige Person verweisen konnte, drei Lesarten. In der hier ausgewählten Szene aus der 32. Aventiure des Nibelungenlieds wird Herr Blödel, dem die Hand der Witwe Nudungs versprochen wurde, vom tapferen Dankwart erschlagen. Dies kommentiert Dankwart wie folgt: 165) Man mac si morgen mehelen einem andern man. (NL 1928,1) 1) 'Jemand ist fähig, sie [Nudungs Witwe] morgen mit einem anderen Mann zu vermählen' 2) 'Es ist möglich, dass sie jemand morgen mit einem anderen Mann vermählt' 3) +>'Vielleicht vermählt sie jemand morgen mit einem anderen Mann' Die erste Lesart beruht auf der lexikalischen Verwendung des Modalverbs mugen, das auf die günstigen Umstände hinweist, in denen sich das Subjekt befindet. Dieses ist fähig, die Frau mit einem anderen Mann zu vermählen. Da das Modalverb im Kontext eines generischen Subjekts verwendet wird, ergibt sich die zweite Lesart. Hier beschreibt das Modalverb die generelle Möglichkeit, dass jemand die Vermählung veranlasst (Man kann sie morgen vermählen). In der ersten Lesart hat mugen einen engen Skopus (Geltungsbereich), da es nur über das Subjekt und Die Entwicklung der Modalverben 169 seine Situation prädiziert. In der zweiten Lesart liegt hingegen ein weiterer Skopus vor, da das Modalverb die günstigen Umstände dafür beschreibt, dass "jemand sie mit einem anderen Mann vermählt". Darauf basiert die dritte, epistemische Lesart: Der Hörer kann davon ausgehen, dass ihm der Sprecher nicht nur sagen will, dass etwas sein kann. Er schließt aus dem Gesagten, dass dies vielleicht eintritt, misst also dem Geschehen einen bestimmten Faktizitätsgrad zu: +> 'Es ist vielleicht so, dass jemand sie morgen mit einem anderen Mann vermählt'. Das Gedachte (die konversationelle Implikatur) tritt als eine mögliche (epistemische) Interpretation zu den beiden lexikalischen Lesarten hinzu. 6.7.2 Der kritische Kontext Diese neue, epistemische Interpretation wurde bereits im Mittelhochdeutschen in einem kritischen Kontext favorisiert. Dabei handelt es sich um Sätze, in denen die Modalverben in einer zweideutigen Form auftraten. So konnte kunde entweder als Präteritum Indikativ (nhd. konnte) oder als Konjunktiv Präteritum (nhd. könnte) interpretiert werden. Diese Ambiguität ergab sich daraus, dass die Modalverben im Konjunktiv noch nicht umgelautet waren. Heute haben die meisten von ihnen einen Umlaut: könnte, müsste, möchte, dürfte, nur sollte und wollte bleiben bis heute unumgelautet. Dank dem Umlaut kann heute der Konjunktiv könnte vom Präteritum konnte unterschieden werden. Im Mittelhochdeutschen ergaben die umlautlosen, zweideutigen Formen der Modalverben in Verbindung mit einem direkten Objekt + Partizip Perfekt + haben/ hân/ sîn zwei Interpretationen. Das folgende Zitat stammt aus Parzival. Im 8. Buch wird die Begegnung zwischen Gawan und der wunderschönen Antikonie beschrieben. Hier äußert sich der Erzähler wehmütig über den Tod des Dichters Heinrich von Veldeke, denn: 166) der kunde se baz gelobet hân (P 8,404,30). Dieser Satz hat zwei lexikalische Lesarten, die aber beide unpassend sind: 1) mit modalem kunde (Konjunktiv Präteritum) - nhd. könnte 'In dem Moment wäre er (der Dichter) fähig, sie (Antikonie) besser in der Vergangenheit gelobt zu haben' Die modale Interpretation von kunde als Beschreibung günstiger, aber irrealer Umstände ergibt eine merkwürdige Lesart: Der Erzähler stellt fest, ein anderer Dichter könnte zum Zeitpunkt dieser Äußerung der richtige sein, der Antikonie in der Vergangenheit besser gelobt hat. Da die aktuelle Verfassung eines Menschen wenig mit dem zu tun hat, was er in der Vergangenheit getan hat oder tun konnte, ist es sinnvoller, davon auszugehen, dass der Sprecher sich darüber Gedanken macht, dass der andere Dichter Antikonie vermutlich besser gelobt hat: +> 'Er kann/ könnte sie besser gelobt haben' = 'Vermutlich hat er sie besser gelobt' Dies ist eine epistemische Lesart, da das Modalverb die subjektive Einschätzung des Sprechers bezüglich der Proposition dass er sie besser gelobt hat liefert. Die zweite lexikalische Lesart beruht auf der Interpretation von kunde als Präteritum Indikativ: Grammatikalisierungen im verbalen Bereich 170 2) mit temporalem kunde (Präteritum Indikativ) - nhd. konnte 'In der Vergangenheit konnte er (der Dichter) sie (Antikonie) besser gelobt haben' Die temporale Lesart von kunde ergibt eine wenig informative Äußerung: Der Dichter war in der Lage, jemanden besser gelobt zu haben. In der beschriebenen Parzival-Szene ist eine solche Lesart nicht zufriedenstellend. Auch hier drängt sich die konversationelle Implikatur als die passendere Lesart auf: Wenn jemand etwas schaffen konnte, dann hat er es vermutlich gemacht. +> 'Da er imstande war, sie besser zu loben, hat er es vermutlich getan' Interessanterweise liefert sowohl das temporale als auch das modale kunde dieselbe epistemische Lesart, die außerdem auch passender ist als die ursprüngliche lexikalische Lesart. In beiden Fällen ist es sinnvoll davon auszugehen, dass der Erzähler mit kunde seine eigene Vermutung zum Ausdruck brachte. 6.7.3 Der isolierende Kontext Die Verselbstständigung der epistemischen Lesart wurde durch die fortschreitende Grammatikalisierung des Perfekts zur neuen Tempusform gefördert. Während der Herausbildung und Verfestigung der epistemischen Lesart im Mittelhochdeutschen konnten Modalverben noch keine Perfektformen bilden. Das Präteritum war die einzige Vergangenheitsform der Modalverben (s. Kap. 6.3.3). Als sich das stark grammatikalisierte Perfekt im Frühneuhochdeutschen auf Modalverben ausweitete, war die Konstruktion Modalverb (mit Dentalsuffix) + Partizip Perfekt + haben bereits stark mit der epistemischen Lesart assoziiert, vgl. nhd. sie müsste gekocht haben. So expandierte das Perfekt nur auf lexikalisch gebrauchte Modalverben, daher heute sie hat kochen müssen 'sie war gezwungen zu kochen'. Die Form hat x-en müssen entwickelte sich zum isolierenden Kontext, in dem nur die lexikalische Modalität zulässig ist. Gleichzeitig hat sich die Konstruktion Modalverb + Partizip Perfekt + haben auf die epistemische Lesart spezialisiert, z.B. Sie muss gekocht haben 'Sie hat ganz sicher gekocht'. Das epistemische Modalverb erscheint heute typischerweise im Indikativ Präsens, seltener (wie noch im kritischen Kontext) im Konjunktiv: Sie müsste gekocht haben. Mit der Entwicklung dieser isolierenden Kontexte ist die Grammatikalisierung der epistemischen Modalverben abgeschlossen, da sich eine Form isolieren lässt, die nur die neue, grammatische Funktion erfüllt, z.B. Sie muss gekocht haben 'Ich bin sicher, sie hat gekocht'. 7 Grammatikalisierungen satzübergreifend In diesem Kapitel werden solche Grammatikalisierungen dargestellt, die sich auf größere, aus mehreren Wörtern bestehende Einheiten beziehen wie den Satz und den Diskurs. In den bisherigen Kapiteln wurden hingegen Entwicklungen von verbalen bzw. nominalen Kategorien wie Tempus oder Definitheit besprochen. Sie enthalten grammatische Informationen, die sich auf einzelne Wörter beziehen. Wenn bspw. ein Vollverb nach und nach zum Flexiv wird, verringert sich sein struktureller Skopus, da ein Flexiv, z.B. -te, zur Bildung von Wortformen, z.B. mach-te, dient (s. Kap. 2.3). Gegen diesen Grammatikalisierungsparameter verstößt die Entwicklung von Subjunktionen - das sind unterordnende Konjunktionen wie weil und dass - und Diskursmarkern (weil - man kann es ja wissenschaftlich untersuchen). Kap. 7.1 und 7.3 zeigen, wie durch Skopuserweiterung grammatische Formen entstehen, die an der Bildung von komplexen Sätzen oder an der Diskursorganisation (z.B. als Redefortsetzungssignal) beteiligt sind. Im Deutschen entwickelte sich ein weiteres Mittel zur Organisation komplexer Sätze: die Satzklammer (auch Satzrahmen). Kap. 7.2 zeigt die sog. Syntaktisierung, bei der die Position des finiten Verbs im Verhältnis zu anderen Satzelementen fixiert wurde. Heute ist die Verb-Letzt-Stellung für den Nebensatz charakteristisch; sie signalisiert seine syntaktische Abhängigkeit. Gemeinsam mit einer Subjunktion, u.a. dass, bildet das finite Verb in Letztstellung eine Nebensatzklammer: Ich weiß, [dass sie heute nicht ins Büro kommt]. 7.1 Die Entstehung von Subjunktionen Betrachten wir zunächst die folgenden Sätze: 167) Sie hat nicht gewusst, dass das Buch ausgeliehen ist. 168) Ich habe schon gegessen, weil ich einen Riesenhunger hatte. 169) Komm bitte etwas näher, damit ich dich besser sehen kann. 170) Ich gehe heute arbeiten, obwohl ich eigentlich krank bin. Die Beispielsätze in 167)-170) enthalten die Subjunktionen dass, weil, damit und obwohl, die alle einen Nebensatz einleiten. Die Subjunktionen signalisieren, dass der durch sie eingeleitete Satz vom Hauptsatz abhängig ist. Im Deutschen wird die syntaktische Abhängigkeit zusätzlich durch die Letztstellung des finiten Verbs markiert: dass das Buch ausgeliehen ist (s. Kap. 7.2). Die Subjunktionen weil, damit und obwohl drücken jeweils eine ganz spezifische semantische Relation des Nebensatzes zum Hauptsatz aus: weil bezeichnet die kausale, d.h. begründende Relation. damit leitet den finalen Nebensatz ein, in dem der Zweck einer Handlung genannt wird. obwohl signalisiert wiederum die konzessive Relation, d.h. die Existenz eines unwirksamen Gegengrunds. Im Gegensatz dazu ist die Subjunk- Grammatikalisierungen satzübergreifend 172 tion dass semantisch leer, sie gehört zu den sog. neutralen Subjunktionen, die auf eine rein formale Weise die Unterordnung eines Satzes markieren (D UDEN - G RAMMATIK 7 2005: Kap. 4.2). Der semantische Gehalt der Subjunktionen korreliert mit dem Abhängigkeitsgrad des Nebensatzes. So markiert dass in 167) einen Objektsatz, d.h. einen Satz, der dem Hauptsatz als Objekt untergeordnet ist. Er ließe sich bspw. durch das Pronomen es ersetzen: Sie hat es nicht gewusst. Das Verhältnis, in dem sich der Objektsatz zum Hauptsatz befindet, bezeichnet man als Subordination (Unterordnung). Den hohen syntaktischen Integrationsgrad des Objektsatzes erkennen wir daran, dass der Hauptsatz ohne ihn unvollständig wäre: *Sie hat nicht gewusst. Im Gegensatz dazu sind die Adverbialnebensätze in 168)-170) nur locker in das gesamte Satzgefüge integriert. Dies erkennen wir daran, dass die Hauptsätze an sich vollständige Sätze sind: Ich habe schon gegessen, Komm bitte etwas näher, Ich gehe heute arbeiten. Erst die Subjunktionen signalisieren durch die Spezifizierung der semantischen Relation, dass der folgende Satz nicht unabhängig ist. So leitet weil einen begründenden Satz ein (weil ich einen Riesenhunger hatte), der sich auf die Information im Hauptsatz (Ich habe schon gegessen) bezieht. Diesen im Vergleich zur Subordination geringeren Grad der syntaktischen Abhängigkeit bezeichnet man als Hypotaxe. Adverbialnebensätze sind in der Regel nicht in den Hauptsatz eingebettet, d.h. sie sind nicht ein Satzglied des Hauptsatzes. Sie kommen jedoch nicht frei vor: *Damit ich dich besser sehen kann. Ihre Bindung an die benachbarte Satzeinheit wird u.a. durch die Subjunktion markiert. Zwei unabhängige Satzeinheiten, die nur pragmatisch verbunden sind, stehen zueinander im Verhältnis der Parataxe, z.B. 171) Satz 1 Das Buch ist ausgeliehen. Satz 2 Ich weiß es. 172) Satz 1 Ich habe schon gegessen. Satz 2 Ich hatte einen Riesenhunger. Satz 1 und Satz 2 in 171) und in 172) sind syntaktisch völlig unabhängig. Werden diese zwei freien Sätze nacheinander produziert, entstehen pragmatische Verbindungen: 'Ich weiß das, was im ersten Satz genannt wurde' oder 'Der zweite Satz enthält den Grund, weshalb ich schon gegessen habe'. Zwei Satzeinheiten können also unterschiedliche Bindungsgrade aufweisen, die sich daran messen lassen, ob 1) eine syntaktische Abhängigkeit wie bei den Adverbialsätzen und 2) eine syntaktische Unterordnung wie bei den Objektsätzen feststellbar ist (s. u.a. L EHMANN 1988, 1995c, H OPPER / T RAUGOTT 2 2006). Abb. 62: Syntaktische Bindungsgrade (nach H OPPER / T RAUGOTT 2 2006: 178) Im Folgenden werden wir am Beispiel von dass und weil untersuchen, wie die Grammatikalisierung der Subjunktionen zur Erhöhung des Bindungsgrades zwischen zwei Satzeinheiten beiträgt. Parameter: Parataxe Hypotaxe Subordination syntaktische Abhängigkeit - + + syntaktische Unterordnung - - + unabhängige abhängiger untergeordneter Sätze Nebensatz Nebensatz wachsender Bindungsgrad Die Entstehung von Subjunktionen 173 7.1.1 Die Entstehung der Subjunktion dass Überraschenderweise ist die Subjunktion dass, ähnlich wie der Definitartikel, aus dem Demonstrativ entstanden (s. Kap. 5.2). Der Unterschied ist nur, dass in die Entwicklung der Subjunktion nur die Neutrumform des Demonstrativs involviert war. Die folgende Darstellung basiert auf E RBEN (1978: 26f.), D AL ( 3 1966: 191ff.) und B ETTEN (1987: 84) (zum alternativen Entstehungsszenario s. A XEL 2009). Zu Beginn der althochdeutschen Überlieferung ist die Wirkung dieser Grammatikalisierung schon spürbar. Verschiedene Grammatikalisierungsgrade von thaz können noch bei Otfrid (sp. 9. Jh.) beobachtet werden. Seine in Versen verfasste Evangelienharmonie liefert Evidenz dafür, dass sich die Subjunktion dass aus einem Demonstrativ entwickelt hat, das ursprünglich als Satzobjekt verwendet wurde. Das oft zitierte Beispiel stammt aus dem zweiten Buch der Evangelienharmonie: 173) joh gizálta in sar tház, thiu sálida untar ín was (O II, 2, 8) 'und [er] sagte ihnen sofort das, das Heil war unter ihnen' Diese Struktur ist bei Otfrid nur noch selten zu finden (B ETTEN 1987: 84). Sie lässt erkennen, dass die Ausgangsstruktur aus zwei unabhängigen Sätzen bestand, etwa Das Heil ist unter uns. Das erzählte er uns. Je nach Position der Sätze konnte sich das Demonstrativ thaz anaphorisch (rückverweisend) bzw. kataphorisch (vorausverweisend) auf die andere Satzeinheit beziehen. Generell erhöhen solche textuellen Verweise die Textkohärenz: Sie dienen als "Wegweiser" für die Textinterpretation, vgl. dafür in Sie wollten gewinnen. Sie haben auch alles dafür gegeben. Das Beispiel in 173) zeigt, dass die Fixierung der Reihenfolge den ersten Schritt auf dem Weg von der Parataxe zur Hypotaxe bildete. Das Demonstrativ verwies dabei auf den ihm direkt folgenden Satz: Er erzählte uns das: Das Glück war unter uns. Nach H ARRIS / C AMPBELL (1995: 287) besteht die Struktur in 173) bereits aus einem Hauptsatz (mit thaz) und einem abhängigen, uneingeleiteten Nebensatz. Dies ist jedoch schwer zu beurteilen, da beide Sätze vollständig sind und unabhängig voneinander vorkommen könnten. Die Verb-Letzt-Stellung wie im zweiten Satz ist im Althochdeutschen noch kein zuverlässiges Signal für Nebensätze. Auch in Hauptsätzen kann das Verb an letzter Stelle stehen (s. Kap. 7.2). Interessanterweise enthält der erste Satz ein Verb des Sagens: gizalta '(er) erzählte, sagte'. Der zweite Satz gibt den Inhalt des Gesagten wieder. H OPPER / T RAUGOTT ( 2 2006: 190ff.), die die Entwicklung der that-Sätze im Englischen rekonstruiert haben, weisen auf eine Struktur hin, die als Zwischenstufe bei der Entwicklung der Subjunktion gedient hat. Ähnlich wie im Altenglischen finden sich auch im Althochdeutschen Belege, in denen thaz zwei Mal vorkommt, wodurch die syntaktische Abhängigkeit zwischen den beiden Sätzen erhöht wird. Dabei wird das meist am Hauptsatzende stehende thaz im Nebensatz wiederholt, d.h. kopiert: Grammatikalisierungen satzübergreifend 174 174) wanta er ni hórta man thaz, thaz io fon mágadgiburti man giboran wurti (O I, 17, 16-17) 'denn nie zuvor hörte man (das), dass je durch jungfräuliche Geburt ein Mensch geboren wurde' Das zweite, vermutlich unbetonte thaz bezeichnen H OPPER / T RAUGOTT als resümierendes thaz (resumptive that). Es nimmt resümierend das thaz im Hauptsatz auf, das auf die vernommene Nachricht hinweist, und leitet so den Nebensatz ein, in dem die Nachricht wiedergegeben wird (s. B ETTEN 1987: 84). Ähnliche resümierende Strukturen gibt es auch heute noch in Sätzen mit anderen Funktionen. So dient dann als Korrelat zu wenn in Konditionalsätzen, z.B. Wenn sie krank ist, dann bleibt sie zu Hause (s. K ÖNIG / VAN DER A UWERA 1988). Resümierende Strukturen in Objektsätzen sind auch im heutigen Deutsch anzutreffen, z.B. Das glaube ich wohl, dass du dies gern möchtest (H ARRIS / C AMPBELL 1995: 287, B ETTEN 1987: 84). In der Evangelienharmonie gibt es viele davon: 175) Er tháhta odowila tház, thaz er ther dúriwart wás (O II, 4, 7) 'er dachte vielleicht (das), dass er der Pförtner war' 176) Thaz wízin these líuti, thaz er ist héil gebenti (O I, 10, 21) 'Das wissen diese Leute, dass er Heil spendet' In Otfrids Werk finden sich aber bereits viele Beispiele, in denen thaz nur einmal, und zwar am Anfang des Folgeverses erscheint. Dabei liefert die Metrik einen Hinweis darauf, dass thaz Bestandteil des Nebensatzes ist: 177) wánt er deta mári, thaz druhtin quéman wari (O II, 3, 36) 'denn er tat kund, dass der Herr gekommen sei' In diesem Beispiel dient thaz eindeutig als Subjunktion, mit der der untergeordnete Objektsatz eingeleitet wird. Zusätzlich steht das finite Verb im Nebensatz im Konjunktiv (wari Konj.Prät. von wesan 'sein'), der im Althochdeutschen als Einbettungszeichen fungiert (S CHRODT 2004: 182f.). Bei der Entwicklung der Subjunktion verschob sich nicht einfach nur die Satzgrenze von Ich weiß das: Sie kommt zu Ich weiß, dass sie kommt. Vielmehr hat die Entwicklung der Subjunktion zur Erhöhung der syntaktischen Integration zweier ursprünglich unabhängiger Sätze geführt. Dabei wurde der zweite Satz als Objektsatz auf die Ebene des Satzgliedes heruntergestuft (s. L EHMANN 1995c). Die Abfolge von zwei unabhängigen Sätzen wurde auf eine Struktur reduziert, in der ein Satz Teil der Verbalphrase (VP) des anderen Satzes ist: Ich [weiß es/ dass sie kommt] VP . Nach R OBERTS / R OUSSOU (2003: 116ff.) führt die Grammatikalisierung immer zu einer solchen oder einer ähnlichen strukturellen Reduktion. Die Entstehung von Subjunktionen 175 Im Althochdeutschen breitete sich die Subjunktion thaz aus den Objektsätzen auf Subjektsätze, aber auch auf kausale, finale und konsekutive Adverbialsätze aus (M ÜLLER / F RINGS 1959). Die Verwendung von thaz als kausale Subjunktion, deren heutiges Äquivalent die Subjunktion weil ist, entwickelte sich aus der Verwendung in Sätzen mit Verben der Gemütsbewegung, z.B. ahd. freuen 'freuen', oder Verben des Dankens, Lobens oder Klagens. So ist das, worüber wir uns freuen, der Grund dafür, weshalb wir uns freuen. Das folgende Beispiel zeigt, wie die kausale Bedeutungsnuance entstanden ist: 178) (...) freuuen uuir unsih an dinero hêilhafti, daz du unsih mit dînemo tôde gehêiltost (N Ps. 19 60, 18-19) 'wir freuen uns über (sind dankbar/ rühmen dich für) deine Hilfe, dass du uns mit deinem Tod erlöst hast' Die Subjunktion ahd. thaz/ daz, mhd. daz war also eher unspezifisch. Sie leitete Nebensätze ein, die in verschiedenen semantischen Relationen zum Hauptsatz standen. Dies änderte sich jedoch mit der Entstehung spezifischer Subjunktionen, die sich auf eine bestimmte semantische Relation beschränkten. So ist heute die finale Subjunktion damit bereits viel üblicher als dass, vgl. Sie hilft ihr, damit/ dass sie wieder auf die Beine kommt (D UDEN -G RAMMATIK 7 2005: 639). In Konsekutivsätzen, die die Folge der Hauptsatzhandlung bezeichnet, konkurriert dass, das meist in Verbindung mit der Gradpartikel so auftritt, mit der komplexen Subjunktion sodass/ so dass, z.B. Sie war so müde, dass sie sofort einschlief/ Sie war müde, sodass/ so dass sie sofort einschlief. Im nächsten Kapitel wird beschrieben, wie weil die Subjunktion dass aus dem Kausalsatzbereich verdrängte. Insgesamt bilden die heutigen hochspezialisierten Subjunktionen ein gut ausdifferenziertes Paradigma, in dem semantische Relationen wie Kausalität, Konzessivität oder Finalität formal deutlich realisiert werden (s. D UDEN -G RAMMATIK 7 2005: 632-640). 7.1.2 Die Entstehung der kausalen Subjunktion weil Die Grammatikalisierung der kausalen (begründenden) Subjunktion weil beginnt im Mittelhochdeutschen. In dieser Zeit wurden verschiedene Phrasen mit dem Substantiv wîle 'Zeit, Weile' als adverbiale (Zeit-)Bestimmungen verwendet, v.a. die wîle, alle wîle, al die wîle 'während/ in dieser Zeit'. Wie bei anderen Zeitangaben auch stand das Substantiv im Akkusativ, vgl. nhd. jeden Morgen (s. P AUL et al. 23 1989: 338): 179) Die wîle sult ir gân in iuwer herberge (NL 1450, 3-4) 'In dieser Zeit sollt ihr in eure Herberge gehen' 180) ich h re alle morgen weinen unde klagen [...] daz Etzelen wîp (NL 1730, 2-3) 'Ich höre die Gemahlin Etzels jeden Morgen weinen und klagen' Da sich das Wort wîle auf eine nicht spezifizierte Zeitspanne bezieht, wird diese im umliegenden Text präzisiert. In 179) verwendet König Gunther die wîle nach seinem Versprechen, dass er Etzels Boten in einer Woche eine Antwort geben werde: Grammatikalisierungen satzübergreifend 176 181) Dô sprach der kunec Gunther: "vber diese siben naht sô kunde ich iu diu m re, wes ich mich hân bedâht mit den mînen friunden. die wîle [...]" (NL 1450, 1-3) 'Da sagte König Gunther: "Heute in einer Woche sage ich Euch, was ich mir mit meinen Vertrauten überlegt habe. Während dieser Zeit/ währenddessen [...]"' Die Präzisierung der Zeitspanne erfolgte im Mittelhochdeutschen auch in abhängigen Sätzen, die anfänglich allein durch Subjunktionen daz oder auch und(e) eingeleitet wurden (P AUL et al. 23 1989: 415): 182) daz ich den hort iht zeige die wîle daz si leben (NL 2368,3) 'dass ich den Hort nicht zeige, solange sie leben' 183) daz ich iu st te triuwe leiste âne riuwe al die wîle unde ich lebe (Er 4554-6) 'dass ich euch beständig und ohne Reue treu bin, solange ich lebe' Die Subjunktionen daz und und(e) waren semantisch unspezifisch. Sie konnten verschiedene Adverbialsätze einleiten. Hier kam der Adverbialphrase (AP) (al) die wîle eine besondere Rolle zu: Sie spezifizierte die semantische Relation der Nebensätze (S). Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits univerbiert, d.h. sie hatte eine feste Struktur, die nicht durch Adjektive, etwa *al die lange/ kurze Weile, unterbrochen werden konnte. Beide Aspekte haben die Reinterpretation von (al) die wîle als satzeinleitende Einheit gefördert. Aus einer Folge Adverbialphrase + (unspezifische) Primärsubjunktion (PrS), z.B. al die wîle [daz S] entwickelte sich eine komplexe Sekundärsubjunktion (SeS) [al die wîle daz] SeS , die unterschiedliche Varianten hatte (vgl. L EHMANN 2002): 184) Die Entwicklung der komplexen Subjunktion al die wîle daz/ unde(e) [al die wîle] AP [[daz] PrS S] > [[al die wîle daz] SeS S] [al die wîle] AP [und(e)] PrS S] > [[al die wîle und(e)] SeS S] Schon im Mittelhochdeutschen wurde die Primärsubjunktion daz bzw. unde zunehmend weggelassen (s. Beispiel 185)), wodurch sich die sekundäre Subjunktion allmählich zu einer primären, wenn auch immer noch komplexen entwickelte. Dieser Prozess endet erst im Frühneuhochdeutschen (s.u.). 185) al de wile Rother den kuninc bat, Asprian der riese trat in de erden biz an daz bein (Ro 941-3) 'während der ganzen Zeit, als Rother den König bat, stampfte der Riese Asprian bis über den Knöchel in den Erdboden' (Übersetzung von S TEIN 2000) Gleichzeitig erfuhr die komplexe Subjunktion je nach Kontext unterschiedliche Arten sog. pragmatischer Stärkungen. In 183) verspricht Erec, während seines ganzen Lebens, d.h. bis zu seinem Lebensende, treu zu bleiben. Hier wird das Ende der Zeitspanne besonders betont. Für diese Zeitrelation steht im Neuhochdeutschen die Subjunktion solange. Dieselbe Implikatur enthält auch der Satz in 182), während in 185) die gesamte Zeitspanne im Blick bleibt. Diese Funktion erfüllt heute während. Die Entstehung von Subjunktionen 177 Die endgültige Form der komplexen Subjunktion kristallisierte sich erst im Frühneuhochdeutschen heraus. Noch im 15. Jh. wurden komplexe Sekundärpräpositionen wie all die weil und 'während' verwendet (s. 186)). Letztendlich entwickelte sich hieraus unser heutiges weil. 186) Da nam der g t gesell den polster [...] vnd legt in auf ainen tisch gegen m r vber also daz in vnder mein augen was all die weil vnd w r assen (Helene Kottanerin "Denkwürdigkeiten", Wien 1445-1452, Zeile 12-15, zitiert aus Bonner Frühneuhochdeutschkorpus) Im Frühneuhochdeutschen entwickelte weil weitere kontextabhängige, also pragmatisch beeinflusste (induzierte) Bedeutungsnuancen, darunter auch 'seit' (dazu s. A RNDT 1959). weil drückte damit ganz unterschiedliche Zeitrelationen aus, für die heute eigene temporale Subjunktionen wie seit, während oder solange zur Verfügung stehen. Temporale Relationen können jedoch in vielen Kontexten sehr leicht als Grund-Folge, d.h. als kausale Relation uminterpretiert werden, z.B. Nachdem die Lehrerin den Raum verlassen hatte, schrien die Kinder. Wir vermuten, dass die Kinder nur deswegen schrien, weil die Lehrerin den Raum verlassen hat. Diese Kausalität ist aber nicht in der Semantik der Subjunktion enthalten, sondern stellt eine konversationelle Implikatur dar (s. Kap. 3.1). Ähnliche Implikaturen führten im Frühneuhochdeutschen zur pragmatischen Anreicherung der Subjunktion weil: 187) Aber sie wolt in nit ein lassen die weil der ritter bei ir was (Hans Neidhart "Eunuchus des Terenz", Ulm 1486, S. 19, Zeile 10-11, zitiert aus Bonner Frühneuhochdeutschkorpus) 'Aber sie wollte ihn nicht hineinlassen, während der Ritter bei ihr war' Zwischen dem 15. und 17. Jh. wurde die Subjunktion weil also nicht nur temporal ('als', 'solange', 'nachdem', 'während'), sondern auch kausal ('weil') und sogar adversativ ('während/ wohingegen') verwendet. Hier werden nur einige Beispiele geliefert (s. A RNDT 1959, W EGENER 2000): 188) Temporale, kausale und adversative Lesarten von weil im Frühneuhochdeutschen (15.-17. Jh.) 1)'als': In der Zeit, dieweil die Polen vor Braunschweig lagen (A RNDT 1959: 398) 2)'nachdem'/ 'weil': weil der meister die werkstatt verliesz, arbeitete der gesell lässiger (DWB Bd. 28, Sp. 770) 3)'während' (temporal)/ 'weil': Die Litten ruckten gleichwol nach Smolensco/ weil das aber wol besetzt was/ khunt sy nichts schaff (Sigmund Herberstein "Moscouia", Wien 1557, Blatt 3, Zeile 18-19 zitiert aus Bonner Frühneuhochdeutschkorpus) 4)'während' (adversativ): Weil nämlich die Alten beides zugleich konnten, so bleiben die Neuern noch bei der Sprache ihrer Vorgänger (G OTTSCHED , aus W EGENER 2000: 76) Während die adversative Lesart von weil uns heute fremd ist, hat sich die kausale Interpretation verselbstständigt, d.h. sie wurde konventionalisiert. In dieser Funktion verdrängte weil im 15. Jh. vollständig die im Alt- und Mittelhochdeut- Grammatikalisierungen satzübergreifend 178 schen noch sehr produktive Subjunktion ahd. wanda, mhd. wande/ wanne/ wan. Ihr gegenüber hatte weil einen syntaktischen Vorteil (A RNDT 1959: 392, W EGENER 2000: 77), weil es eine eindeutig subordinierende Funktion hatte. Dagegen konnte wande/ wan auch begründende Hauptsätze einleiten wie Wan h te her Kâîn baz ûf daz ende gesehen, sô h te er sînen bruoder niht ermordet 'Denn hätte Herr Kain das Ende besser hervorgesehen, hätte er seinen Bruder nicht ermordet' (Berthold von Regensburg I, 8, 25, zitiert nach E ROMS 1980: 103). Der erste Teil dieses irrealen Konditionalsatzes, eingeleitet durch wan 'wenn', benennt einen nicht erfüllten Grund. Die Verdrängung des alten wande durch weil bildet nach E ROMS (1980) nur einen Teil des viel komplexeren Übergangs vom mittelzum neuhochdeutschen System der begründenden Sub- und Konjunktionen. Dabei setzte sich weil allmählich auch gegen zwei weitere Kausalkonjunktionen durch, da und denn, die zunächst auch an der Verdrängung von wande beteiligt waren (s. R OEMHELD 1911, A RNDT 1960, W EGENER 2000). Als Reaktion darauf spezialisiert sich da zunehmend auf Nebensätze, die vor dem Hauptsatz platziert sind und einen bereits bekannten Grund beschreiben, z.B. Da du nicht gekommen bist, dachte ich, du wärest vielleicht krank. Den Siegeszug im kausalen Bereich, so E ROMS , "bezahlte" die Subjunktion weil jedoch mit dem Verlust der temporalen Bedeutung, denn schon sehr früh wird sie in temporalen Sätzen durch eine zusätzliche temporale Bestimmung vereindeutigt, z.B. also lange die wile ich lebe 'solange ich lebe'. Ausgehend von der hochspezialisierten Subjunktion weil startet seit jüngster Zeit eine andere Grammatikalisierung, und zwar zu einem sog. Diskursmarker. Diskursmarker dienen der Organisation von Diskursen, indem sie u.a. als Fortsetzungssignal dienen. Dieses Thema wird in Kap. 7.3 behandelt. 7.2 Die Fixierung der Wortstellung Auf der Ebene des Satzes vollzogen sich im Deutschen Grammatikalisierungsprozesse, die zur Entwicklung fester Satzformen beigetragen haben. Diese Formen basieren in erster Linie auf der Verbstellung (A LTMANN 1993), die seit dem Althochdeutschen immer stärkeren Beschränkungen unterworfen wurde (L ENERZ 1995, H ÄRD 2 2003). Im heutigen Deutsch sind nur noch drei Verbstellungstypen und damit drei formale Satztypen möglich: 1) Verb-Zweit-Satz: Sie isst eine leckere Suppe. 2) Verb-Erst-Satz: Koch endlich die Suppe! oder Kochst du heute noch etwas? 3) Verb-Letzt-Satz: Sie weiß, dass Peter eine Suppe kocht oder Dass ich nicht lache! Dabei korrespondieren diese drei formalen Satztypen mit unterschiedlichen Funktionen (den sog. Satzmodi). Diese bestehen in Aussage-, Frage-, Aufforderungs-, Ausrufe- und Wunschsätzen. So steht das Verb in Aussagesätzen, die - vereinfacht gesagt - die Wirklichkeit beschreiben, meist an zweiter Stelle. Alle übrigen Satzmodi basieren darauf, dass die Proposition (der Satzinhalt) und die Wirklichkeit nicht miteinander korrespondieren. So bringen Aufforderungssätze, Die Fixierung der Wortstellung 179 die normalerweise Verb-Erst-Stellung aufweisen, den Wunsch des Sprechers zum Ausdruck, dass etwas der Fall sein möge: Koch endlich die Suppe! Ähnliches gilt auch für Fragesätze wie Kochst du noch etwas? und Wunschsätze Hättest du bloß die Suppe gekocht. Nur in den sog. w-Fragesätzen (Was kochst du heute? ) wird am Satzanfang das Element exponiert, auf das sich die Frage bezieht, daher die Verb- Zweit-Stellung. Die Verb-Letzt-Stellung ist für Hauptsätze zwar nicht unmöglich, aber zumindest stark markiert. Sie kommt in Ausrufesätzen vor (Dass ich nicht lache! ). Die Verb-Letzt-Stellung ist hingegen eine typische Nebensatzstellung. Sie ist meist an das Auftreten von Subjunktionen gebunden, z.B. Sie weiß, dass Peter eine Suppe kocht (vgl. aber zu-Sätze wie Sie hat ihn gebeten, die Blumen zu gießen). A SKEDAL (1996) beobachtet, dass die Verbstellung mit der pragmatischen Funktion des Satzes korrespondieren kann. Die Erstbzw. Zweit-Stellung des Verbs kommt hauptsächlich in Hauptsätzen vor, die für eine bestimmte Sprachhandlung verwendet werden, d.h. eine illokutive Funktion haben. Stellen wir eine Frage, verlangen wir etwas oder beschreiben wir einen Sachverhalt, verwenden wir Verb-Erst- und Verb-Zweit-Sätze. Die Nebensätze ordnen sich der illokutiven Kraft des Hauptsatzes unter, d.h. sie sind nicht nur syntaktisch, sondern auch pragmatisch unselbstständig. So kann ein und derselbe Nebensatz Teil eines Aussage-, Aufforderungs- oder Fragesatzes sein: 189) Sie hat gewusst, dass er das Buch schon gelesen hat. 190) Sag ihm, dass er das Buch schon gelesen hat! 191) Stimmt es wirklich, dass er das Buch schon gelesen hat? Im Neuhochdeutschen sind also bestimmte Satzformen für bestimmte Funktionen vorgesehen. Je nachdem, was wir ausdrücken wollen, müssen wir uns für eine bestimmte Struktur entscheiden. Somit ist die jeweilige Satzstruktur die Ausdrucksform einer grammatischen Kategorie: Dabei opponieren einerseits der Haupt- (mit illokutiver Funktion) mit dem Nebensatz (illokutiv unselbstständig) und andererseits - im Hauptsatzbereich - verschiedene Satzmodi (Aussage-, Frage-, Aufforderungs- oder Ausrufesatz). In diesem Kapitel werden wir uns mit der Syntaktisierung der Verbposition und der Herausbildung dieser syntaktischen Kategorien beschäftigen. Da dem Verb heute eine feste Position zukommt, werden auch den restlichen Satzelementen syntaktische Beschränkungen auferlegt. Dem trägt das Modell der topologischen Felder Rechnung (s. u.a. H ÖHLE 1986, W ÖLLSTEIN 2010). Dieses Modell zeigt, dass sich die Wortstellungsmöglicheiten der einzelnen Satzelemente an der Position des finiten Verbs orientieren. Dabei kann im Hauptsatz höchstens ein Satzglied, z.B. das Subjekt (sie oder meine Freundin aus Berlin) vor dem finiten Verb (im sog. Vorfeld) stehen. Enthält der Satz einen Verbalkomplex, so bilden seine Bestandteile eine syntaktische Klammer, z.B. aus dem Hilfsverb haben (linke Klammer; LK) + dem Partizip gegessen (rechte Klammer; RK). Die Hauptsatzklammer umrahmt alle anderen Satzelemente (heute eine leckere Suppe), die das sog. Mittelfeld bilden (daher auch die Bezeichnung Satzrahmen). Die Position hinter der rechten Klammer bezeichnet man als Nachfeld. Dieses ist im Neuhochdeutschen meist unbesetzt. Grammatikalisierungen satzübergreifend 180 192) Hauptsatzklammer: Sie hat [LK] heute eine leckere Suppe gegessen [RK] Die folgenden komplexen Prädikate bilden eine Hauptsatzklammer (W EINRICH 1986): 1) Hilfsbzw. Modalverb + infiniter Prädikatsteil, z.B. Sie hat gegessen, Sie muss essen (die sog. Grammatikalklammer), 2) finites Verb + trennbare Verbpartikel, z.B. Sie lacht ihn an (die sog. Lexikalklammer) oder 3) Kopulaverb + Prädikatsnomen, z.B. sie wird in Zukunft Pilotin, sie wird krank (die sog. Kopulaklammer). Die Nebensatzklammer wird durch eine Subjunktion eröffnet und mit dem Verbalkomplex geschlossen: 193) Nebensatzklammer: Sie weiß, dass [LK] er eine leckere Suppe gegessen hat [RK] Durch die Satzklammer sind die Wortstellungsmöglichkeiten aller Satzelemente deutlich eingeschränkt. 7.2.1 Die Fixierung der Wortstellung im Hauptsatz Im Vergleich zum Neuhochdeutschen war die Stellung des Verbs und anderer Satzelemente im Althochdeutschen freier und zu einem großen Teil pragmatisch gesteuert: Je nach ihrer kommunikativen Absicht konnten die althochdeutschen Sprecher das Verb an verschiedenen Stellen im Satz positionieren. In einer Studie zur althochdeutschen Tatianübersetzung (fr. 9. Jh.) zeigen H INTERHÖLZL et al. (2005), dass die Verbstellung noch sehr variabel war und von diskurspragmatischen Faktoren abhing, d.h. von der Stellung des Satzes im Diskurs. Wir werden im Folgenden zwei Arten der pragmatisch bedingten Verb-Erst-Stellung betrachten. Das Verb stand im Althochdeutschen an erster Stelle, wenn ein neuer Referent eingeführt wurde. Generell gehen in Sätzen bekannte Informationen (z.B. bereits im Gespräch erwähnte) neuen Informationen voraus (s. u.a. P RIMUS 1993, H ET- LAND / M OLNÁR 2001). Das folgende Beispiel wurde schon in Kap. 2.2 (S. 16) genannt. In seiner Äußerung nennt Fritz zunächst den Anna bekannten Garten, erst dann die unbekannte Katze. Die Reihenfolge, in der die beiden Referenten eingeführt wurden, ist also von der Informationsstruktur abhängig (alt/ erwähnt vor neu/ unerwähnt). 194) Fritz: In unserem Garten sitzt eine Katze. Anna: Diese Katze habe ich schon gesehen. Genau dieser diskurspragmatische Faktor war im Althochdeutschen für die Verb- Erst-Stellung verantwortlich. Hiermit wurde ein neuer Diskursreferent eingeführt: 195) Uuas thar ouh sum uuitua in thero burgi (T 122, 2) 'Es war dort eine Witwe in dieser Stadt' Die Fixierung der Wortstellung 181 Wie die Übersetzung zeigt, ist die Verb-Erst-Stellung heute nicht mehr möglich. Damit das Verb an zweiter Position steht, wird das Vorfeld mit einem sog. expletiven es besetzt, dem kein Referent in der außersprachlichen Wirklichkeit entspricht. Seine Funktion ist rein syntaktisch, daher auch seine Bezeichnung als Platzhalter-es (D UDEN -G RAMMATIK 7 2005: 893; zur Geschichte des expletiven es s. L ENERZ 1985). Einen zweiten interessanten Fall bilden Sätze, in denen ein (überraschender oder plötzlicher) Situationswechsel hervorgehoben wird. Sie stehen häufig am Anfang eines neuen Textabschnitts: 196) Furstuont siu thó in ira lihhamen thaz siu heil uuas fon theru suhti (T 60, 4) 'Da merkte sie an ihrem Körper, dass sie von der Krankheit geheilt wurde' 197) Uuarb tho ther centenari in sin hús (T 47, 9) 'Da ging der Zenturio in sein Haus zurück' Diese Satzstruktur ist bereits im Mittelhochdeutschen sehr selten, tritt dann aber gegen Ende des 15. Jhs. wieder auf, v.a. bei Verben des Sagens (sog. Verba dicendi) (M AURER 1926). Im Neuhochdeutschen ist sie auf spezifische Textsorten, z.B. den Beginn von Witzen beschränkt, z.B. Fragt eine Ameise einen Elefanten ... Doch auch im Althochdeutschen sind bestimmte Strukturen schon fest, darunter Verb-Zweit-Ergänzungsfragesätze, z.B. ahd. Uuanan uueiz ih thaz (T 2, 8) 'Woher weiß ich das? '. Hier steht an erster Stelle keine bekannte Größe, sondern ein Fokuselement. H INTERHÖLZL et al. (2005: 176) beobachten, dass die schon im Althochdeutschen sichtbare Tendenz zur Verb-Zweit-Stellung in Aussagesätzen durch die Tendenz zur Voranstellung der fokussierten Elemente gefördert wurde (s. auch R AMERS 2005). Die Obligatorisierung der Verb-Zweit-Stellung in Aussagesätzen ist schon bei Notker (10./ 11. Jh.) sehr weit fortgeschritten. So sind bei ihm nicht nur die Verb- Erst-Sätze, sondern auch die in älteren althochdeutschen Werken belegte Verb- Letztbzw. Spät-Stellung deutlich zurückgegangen. Diese ist noch im Isidor und bei Otfrid zu sehen, obwohl sie bei Otfrid meist reimbedingt vorkommt (A DMONI 1990: 71, L ENERZ 1984: 129): 198) inu so auh chiuuiso dhar quhad got (I 4, 4) (Verb-Spät-Stellung) 'Denn Gott sprach da wahrlich auch dies' 199) fona hreue aer lucifere ih dhih chibar (I 5, 3) (Verb-Letzt-Stellung) 'Aus dem Innern schuf ich dich vor Luzifer' 200) druhtin Krist sar zi imo sprah (O II, 7, 35) (Verb-Letzt-Stellung) 'Der Herr Christus sprach alsbald zu ihm' Im Mittelhochdeutschen ist die Verb-Zweit-Position in Aussagesätzen (und Ergänzungsfragesätzen) schon regelhaft (A DMONI 1990: 127, E BERT 1978: 38), auch wenn die Verb-Spät-Stellung noch in der mittelhochdeutschen Dichtung fortlebt. Bei Bertold von Regensburg (13. Jh.) ist sie entweder metrisch bedingt oder sie dient als ein besonderes Merkmal des direkten Dichterkommentars (L ÜHR 2005). Bei Entscheidungsfragesätzen überwiegt schon im Althochdeutschen die Verb- Grammatikalisierungen satzübergreifend 182 Erst-Stellung (S CHRODT 2004: 200). Damit kann die linke Satzklammerposition in den Hauptsätzen bereits im Mittelhochdeutschen als gefestigt gelten. Die Fixierung der rechten Satzklammer verlief etwas langsamer. Die Stellung der Satzglieder hinter einem infiniten Element des Verbalkomplexes ist bis Ende der althochdeutschen Zeit noch häufig belegt. So werden bei Notker schwere, d.h. umfangreiche Satzelemente wie Präpositionalphrasen meist noch ausgeklammert, d.h. sie stehen hinter dem infiniten Prädikatsteil (B ORTER 1982, S CHRODT 2004: 217): 201) Dû habest mih kenómen uzer mînero muoter uuombo (N Ps. 137 512, 3) 'Du hast mich aus dem Schoß meiner Mutter geholt' Die Ausklammerung nahm im Mittel- und im Frühneuhochdeutschen weiter ab. In dieser Zeit verfestigten sich neben dem Perfekt weitere grammatische Konstruktionen, darunter das werden-Passiv und das werden-Futur. Die zunehmende Obligatorisierung des Satzrahmens trug zur Konservierung des analytischen Charakters der "jungen" Verbformen bei, auf die sich wiederum der Satzrahmen stützte. Erst im Übergang vom Frühzum Neuhochdeutschen setzte sich die Hauptsatzklammer durch. Dies zeigt S CHILDT (1976), der eine Korpusuntersuchung für zwei Zeiträume durchgeführt hat: 1) 1470 bis 1530 und 2) 1670 bis 1730. Seine Studie zeigt, dass sich vom Frühzum Neuhochdeutschen der prozentuale Anteil der voll ausgebildeten Satzklammer (wie in 202)) deutlich erhöht (s. Tab. 26). Dagegen reduziert sich der Anteil an Sätzen, die keinen Satzrahmen bilden, wo also alle Elemente hinter dem infiniten Prädikatsteil stehen, von 10% auf 1%, s. 204). Finiter und infiniter Prädikatsteil stehen hier in Kontaktstellung. Wenn einzelne Satzelemente ausgeklammert werden, spricht S CHILDT von einer partiell ausgebildeten Klammer, s. 203) (S CHILDT 1976: 246). 202) er wart sere gutlich von den frauwen und jungffrauwen angesehen (voll ausgebildeter Satzrahmen) 'Von den adligen Frauen und Mädchen wurde er sehr freundlich angesehen' 203) er kunt im nit helfen bis an den morgen (partiell ausgebildeter Satzrahmen) 'er konnte ihm bis zum Morgen nicht helfen' 204) er wart erkant an synen grossen deten (kein Satzrahmen) 'An seinen großen Taten wurde er erkannt' Tab. 26: Die Obligatorisierung der Hauptsatzklammer im (Früh-)Neuhochdeutschen (S CHILDT 1976: 271) Zeitraum voll ausgebildeter Satzrahmen partiell ausgebildeter Satzrahmen kein Satzrahmen 1470-1530 68,1% 22,4% 9,4% 1670-1730 81,4% 17,9% 0,8% Die zunehmende Einklammerung führt zum Ausbau des Mittelfeldes, das in den von S CHILD (1976: 276) untersuchten Zeiträumen immer umfangreicher wird. Zum Neuhochdeutschen hin wächst die Anzahl der Sätze mit 3 bis 5 Gliedern im Mittelfeld. Dies bedeutet, dass die Distanz zwischen den Prädikatsteilen erhöht wird: Die Fixierung der Wortstellung 183 Tab. 27: Kontinuierliche Erhöhung des Mittelfeldumfangs (S CHILD 1976: 276) Zeitraum 1 Glied 2 Glieder 3 Glieder 4 Glieder 5 Glieder 1470-1530 40,3% 40,9% 14,9% 3,9% 0,3% 1670-1730 22,7% 44,1% 26,8% 5,8% 0,7% Nach T HURMAIR (1991) liegt die Komplexität des Mittelfeldes (innerhalb der Haupt- und Nebensatzklammer) im heutigen Deutsch im Durchschnitt zwischen 1,8 Wörtern in der Kopulaklammer und 3,9 in der Modalklammer. Die Ausklammerungsrate liegt im Untersuchungsmaterial von T HURMAIR (1991: 192) bei 6%, d.h. noch niedriger als in dem von S CHILD (1976) untersuchten Korpus aus dem 17./ 18. Jh. (s.o. Tab. 26). Dank der festen Hauptsatzklammer wird die Information, die im Satz enthalten ist, sehr kompakt präsentiert. Doch durch die positionelle Fixierung können die Prädikatsglieder nicht frei an der Formung der Informationsstruktur teilnehmen (E ROMS 1999). Die Stellungsvarianten sind weitgehend grammatikalisiert, da sie an einzelne Satzmodi (wie Aussage- oder Fragesatz) gebunden, d.h. in den Ausdruck syntaktischer Kategorien integriert sind. 7.2.2 Die Fixierung der Wortstellung im Nebensatz Die neuhochdeutsche Nebensatzklammer wird durch eine Subjunktion eröffnet und durch das Prädikat geschlossen, z.B. Ich weiß, dass [LK] er einen Hund hat [RK]. Die Reihenfolge der Prädikatsteile in der rechten Klammer ist bei zweigliedrigen Prädikaten fest: Das finite Verb steht am absoluten Ende des Satzes, z.B. Der Radfahrer erzählte, dass [LK] er von einem Hund gebissen wurde [RK]. Bei drei- und viergliedrigen Verbalgruppen hängt die Reihenfolge v.a. von der Form des infiniten Prädikatsteils ab. Zur Nachstellung tendiert das finite Verb, wenn es mit einem Partizip kombiniert wird, z.B. (dreigliedrig) Der Radfahrer behauptete, dass [LK] ihn der Hund in die Hose gebissen haben soll [RK] oder (viergliedrig) Der Hundebesitzer räumte ein, dass [LK] der Radfahrer gebissen worden sein mag [RK], jedoch nicht von seinem Hund. Das finite Verb wird der Prädikatsgruppe vorangestellt, wenn diese nur Infinitive, darunter Modalverben, enthält, z.B. Er erzählte, dass [LK] er hat fliehen müssen [RK] (H ÄRD 1981: 17). Die Voranstellung des finiten Verbs ist heute die einzig mögliche Abweichung von der Nachstellung. In allen Fällen herrscht zwischen den Prädikatsgliedern Kontaktstellung, wodurch alle übrigen Satzelemente im Mittelfeld eingeklammert sind. Im Althochdeutschen war die Nebensatzklammer nur eine unter mehreren Strukturoptionen, wobei das finite Verb "um mindestens eine Stelle weiter gegen Ende des Satzes als im Hauptsatz" stand (E BERT 1978: 38). Im Tatian (fr. 9. Jh.) standen (in Relativsätzen) v.a. schwere (umfangreiche) Objekte postfinit, d.h. hinter dem finiten Verb (D ITTMER 1991). Doch schon hier traten finite und infinite Prädikatsteile immer in Kontaktstellung auf. Hinsichtlich ihrer Reihenfolge ist keine eindeutige Tendenz feststellbar. In Bezug auf eingeleitete Nebensätze beobachtet D ITTMER (1991: 188), dass "die Kontaktstellung 'Subjunktion-Finitfeld' Grammatikalisierungen satzübergreifend 184 unbeliebt" war. Nur in 8% aller untersuchten Subjunktionalsätze war das Präfinitfeld unbesetzt, was u.a. daran lag, dass das Subjektpronomen im Nebensatz mit viel größerer Regelhaftigkeit als im Hauptsatz gesetzt wurde (S ONDEREGGER 1979: 268) (zur Obligatorisierung der Subjektspronomina s. Kap. 6.2). Im ausgehenden Althochdeutschen überwog die absolute Letztstellung des Verbalkomplexes. In Notkers Psalter bilden bereits 74% der Nebensätze eine vollständige Klammer (B ORTER 1982: 131). Ähnliches stellt B OLLI (1975) für Notkers Boethius-Übersetzung fest. Insgesamt setzte sich die Nebensatzklammer viel früher als die Hauptsatzklammer durch. Die Nebensatzklammer entwickelte sich zeitlich parallel zur Nominalklammer: (Definit-)Artikel + Substantiv (s. Kap. 5.6; H ÄRD 2 2003). Einen vergleichbar hohen Anteil an vollständigen Klammerstrukturen, der für den Nebensatz schon bei Notker erreicht ist, weisen Hauptsätze erst an der Schwelle zum Frühneuhochdeutschen auf (s.o. Tab. 26, S. 182). Während sich die nebensatzfinale Position des Prädikats relativ früh verfestigte, blieb die Reihenfolge der Prädikatsteile bis ins Frühneuhochdeutsche hinein variabel. Die allmähliche Durchsetzung der Letztstellung des Finitums dokumentiert die Studie von H ÄRD (1981), die den Zeitraum vom 15. bis ins 20. Jh. hinein umfasst. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums (15.-16. Jh.) kann das finite Verb voran-, zwischen- oder nachgestellt sein (H ÄRD 1981: 45). Dabei ist die Voranstellung am häufigsten, während die Zwischenstellung, die im 15. Jh. noch häufiger als die Nachstellung ist, allmählich verdrängt wird. Sie verschwindet völlig im 18. Jh. 205) Voranstellung: das ich nicht [bin verunreiniget worden] 206) Zwischenstellung: Die doch vnschüldig (...) [erkennet weren worden] 207) Nachstellung: vnd darnach kümerlich wider [erbawet worden sind] Die Nachstellung des finiten Verbs setzte sich unterschiedlich schnell durch, und zwar abhängig vom Komplexitätsgrad des Prädikats und von der Form der infiniten Prädikatsteile. So stand das finite Verb bei zweigliedrigen Prädikaten (dass sie gekommen ist) bereits um 1500 meist am absoluten Satzende, wobei die Nachstellung bei Verbalformen mit Partizip II wie dem Perfekt häufiger war als bspw. bei dem werden-Futur, das einen Infinitiv des Vollverbs enthält (H ÄRD 1981: 58). Bei dreigliedrigen Prädikaten, die ein Partizip II enthalten, nahm die Nachstellung im 17. Jh. auf Kosten der Voranstellung stark zu (T AKADA 1994). Dabei förderte die Intensivierung der schriftlichen Kommunikation seit der Erfindung des Buchdrucks die Durchsetzung der Nebensatzklammer. Für das 17. Jh. lässt sich sogar "ein Zusammenhang zwischen Bevorzugung des Rahmenbaus und akademischer Bildung bzw. amtlicher Schreibroutine nachweisen" ( VON P OLENZ 1991: 200f., zur Vorreiterrolle der Kanzleisprache im 15. und 16. Jh. s. E BERT 1986). Die Nachstellung setzte sich in der ersten Hälfte des 19. Jhs. allmählich durch. Nach H ÄRD (1981: 116ff.) erreichte sie zu dieser Zeit einen Anteil von 66% bis 89%, während sich die Voranstellung zurückzog. Sie ist heute kaum akzeptabel, vgl. ? Er spricht ständig von einem Hund, der ihn im Sommer beim Fahrradfahren soll gebissen haben. Heute steht das finite Verb auch am Ende von viergliedrigen Prädikaten, wenn diese Partizipien enthalten, z.B. dass er gebissen worden sein soll. Die Entstehung von Diskursmarkern 185 Auch die Struktur des zweibzw. dreiteiligen infiniten Felds ist zunehmend gefestigt worden, so dass sie heute mit der Vollverbform beginnt (gebissen). Auf diese folgen systematisch weitere Prädikatselemente in der Reihenfolge, in der eine immer komplexere Verbform gebildet wird: Abb. 63: Die Reihenfolge innerhalb mehrgliedriger Prädikate dass sie gebissen [V 4 ] worden [V 3 ] sein [V 2 ] soll [V 1 ] 1) dass sie gebissen [V 4 ] wird/ wurde [V 3 ] (Passiv/ Präteritum Passiv) 2) dass sie gebissen [V 4 ] worden [V 3 ] ist [V 2 ] (Perfekt Passiv) 3) dass sie gebissen [V 4 ] worden [V 3 ] sein [V 2 ] soll [V 1 ] (Modalverb + Perfekt Passiv) Das finite Verb geht bis heute nur solchen dreibzw. mehrgliedrigen Prädikaten meist voran, die im infiniten Prädikatsfeld ein Modalverb, ein Wahrnehmungsverb sehen, hören, spüren und fühlen oder das Verb lassen enthalten, z.B. dass er hat fliehen müssen, dass er ihn hat fliehen sehen oder dass er ihn hat weglaufen lassen (s. H ÄRD 1981: 159ff.). Die Nachstellung ist auch hier möglich, doch ihre Akzeptanz ist je nach Art des Verbalkomplexes unterschiedlich. Die Fixierung der Wortstellung im Nebensatz ist also bis heute nicht abgeschlossen. Mit der Herausbildung der Nebensatzklammer entstand eine formale Ausdrucksmöglichkeit von syntaktischer Abhängigkeit sowie von pragmatischer/ illokutiver Unselbstständigkeit. Dadurch wird markiert, dass der Satz zu einem komplexen Syntagma gehört. Der komplexe Satz stellt zugleich den strukturellen Skopus der den Nebensatz einleitenden Subjunktion, z.B. weil, dar, die die linke Nebensatzklammer besetzt. Im folgenden Kapitel werden wir uns mit der Entstehung des Diskursmarkers weil aus der Subjunktion weil beschäftigen. 7.3 Die Entstehung von Diskursmarkern 208) ne das stimmt so sicher nicht. also weil - man kann es ja wissenschaftlich untersuchen. (aus G ÜNTHNER 1993: 37) Seit einigen Jahrzehnten breitet sich in der gesprochenen Sprache eine neue Verwendung von weil aus, wie sie Beispiel 208) illustriert (G ÜNTHNER 2003). Das erste auffällige Merkmal dieser Verwendung ist die Kombination mit der Verb-Zweit- Stellung: weil man kann ... Darüber hinaus fehlt gewissermaßer der Hauptsatz, von dem der weil-Satz syntaktisch abhängt. Mit dem Querstrich wird angezeigt, dass weil vom Folgesyntagma prosodisch durch eine Pause abgehoben ist. Letztendlich ist es auch problematisch zu behaupten, dass weil eine kausale Relation zwischen dem ersten und dem zweiten Satz zum Ausdruck bringt: *Es stimmt nicht, weil man das wissenschaftlich untersuchen kann. Vielmehr haben wir es hier mit einem stark desemantisierten weil zu tun, mit dem der Sprecher signalisiert, dass er mit seiner Redesequenz noch nicht fertig ist. weil wird also zu diskurspragmatischen Zwecken verwendet, und zwar als sprecherseitiges Fortsetzungssignal. Solche Grammatikalisierungen satzübergreifend 186 diskursbezogenen Wörter bezeichnet man als Diskursmarker. Sie kommen ausschließlich in gesprochener Sprache vor. Subjunktionen wie z.B. weil stellen eine häufige Quelle für Diskursmarker dar. Mit dem Wandel Subjunktion weil > Diskursmarker weil werden wir uns im Folgenden näher beschäftigen. Darüber hinaus können auch hochfrequente Phrasen mit Verben des Sagens oder Denkens zu Diskursmarkern werden, z.B. ich meine oder ich sag mal so. Sie werden bei zunehmender Gebrauchshäufigkeit formal abgenutzt: ich meine > ich mein oder ich=sach=ma(so) (zu weiteren Diskursmarkerquellen s. A UER / G ÜNTHNER 2005). Der folgende Ausschnitt aus einem Radio- Phone-In-Programm (Ratgeber Lebensfragen) enthält den Diskursmarker ich mein. Hier berichtet die Anruferin (A) dem Psychologen (P) über ihren Zwang zum täglichen Wäschewaschen. In der Transkription bezeichnet (.) eine sehr kurze Pause (unter 0.3 Sek.), (-) eine Pause unter 0,5 Sek. und = den direkten, schnellen Anschluss zwischen zwei Äußerungen. Sich überlappende Gesprächsteile werden in eckige Klammern gesetzt. Mit wird die Zeile markiert, in der sich das untersuchte Wort/ die Wortgruppe befindet: 209) Diskursabschnitt "Sucht - Abstinent" (A UER / G ÜNTHNER 2005: 343) 05 P: und eh die frAge die ich natürlich habe ist 06 wenn SIE: (0.5) darauf verZICHten würden; 07 also wenn sie (.) abstinEnt wären; = 08 A: = [ja: - . hh] 09 P: [und mal Eine] woche lang NICHT waschen [würden.] 10 A: [ha: : : : ] 11 P: ja. (.) 12 eh was was was wÄr da; 13 A: oh gAr nix. 14 wär gAr nix; 15 woll mer sAgn ich mein es giich mein ich bin- 16 .hhh ich bin ja praktisch schon (.) ne Ältere dame wolln mer sagen- 17 siemundsECHzich; 18 und ich bin aus diesem grund auch ZWEI tage in der woche berUfstätig 19 damit ich en bisschen außer HAUS bIn? 20 P: [ja schö: n; ] 21 A: [und dann br]auch ich NICHT waschen; In Zeile 15 verwendet die Anruferin ich mein als Diskursmarker. Dies erkennt man u.a. daran, dass eine Ergänzung dieser Phrase durch einen dass-Satz o.Ä. fehlt. Der Folgesatz Ich bin ja praktisch eine ältere Dame ist keine Ergänzung zu ich mein. Vielmehr dient ich mein als Signal für die Präzisierung der vorausgehenden Äußerung wär gAr nix (Zeilen 13-14). ich mein und weil haben erkennbar unterschiedliche Diskursfunktionen: Ersteres dient der Präzisierung der vorausgehenden Äußerung; letzteres signalisiert, dass die Äußerung fortgesetzt wird. Die Entstehung von Diskursmarkern 187 7.3.1 Diskursmarker und Grammatikalisierung Es stellt sich die Frage, inwieweit die Entwicklung von Diskursmarkern wie weil oder ich mein als Grammatikalisierung bezeichnet werden darf. Wir haben es hier nicht mit der Herausbildung einer morphologischen Kategorie wie Tempus oder Definitheit zu tun. Trotzdem handelt es sich nach T RAUGOTT (1997: 5) auch hier um eine Grammatikalisierung: Die Sprachzeichen nehmen eine grammatische Funktion in dem Sinne an, dass sie zur Strukturierung der verbalen Kommunikation eingesetzt werden. Dabei verdeutlichen sie die Relationen zwischen zwei abhängigen Diskursteilen. Sie zeigen an, dass ein Diskursteil die Fortsetzung (weil) oder Präzisierung (ich mein) des vorangehenden Diskursteils bildet. Nach T RAUGOTT umfasst die Grammatik nicht nur Phonologie, Morphologie und Syntax, sondern auch diskurspragmatische Mittel wie Diskursmarker, denn deren Funktion ist ebenfalls konventionalisiert: Wir wissen, welche Diskursmarker wann eingesetzt werden (können). Sie tragen ebenso wie Verbendungen oder Hilfsverben zur Effizienz der sprachlichen Kommunikation bei. Bei der Entwicklung von Diskursmarkern haben wir es jedoch nicht mit einer Morphologisierung, sondern mit der Pragmatikalisierung zu tun (A UER / G ÜNTHNER 2005: 352): Da die Semantik ihrer Quellen fast vollkommen ausbleicht, entfalten Diskursmarker ihre Funktion erst im Gesprächskontext, also auf der pragmatischen Ebene. Daher werden sie als sog. "pragmagrams" bezeichnet. 7.3.2 Von der Subjunktion weil zum Diskursmarker weil Bei der Grammatikalisierung zum Diskursmarker, die in jüngster Zeit zu beobachten ist, verliert die Subjunktion weil nach und nach ihre semantischen und formalen Eigenschaften (G ÜNTHNER 1993, 2003). So sorgt ein bestimmtes syntaktisches und semantisches Verhalten von weil schon seit einiger Zeit für Aufsehen. Dies ist sein Auftreten in Verb-Zweit-Sätzen (W EGENER 1993, 1999): 210) Es hat gehagelt, weil mein Auto hat Dellen. (aus W EGENER 1993: 296) weil eröffnet hier nicht, wie von einer Subjunktion erwartbar, eine Nebensatzklammer, sondern es verhält sich eher wie eine Konjunktion. Da die Nebensatzklammer als Merkmal syntaktischer Abhängigkeit nicht realisiert wird, ähnelt der weil-Satz formal mehr einem Hauptsatz. Doch auch semantisch verhält sich weil in 210) ungewöhnlich, denn es zeigt keinen Grund an. Die Dellen im Auto (weil- Satz) sind nicht der Grund für den Hagel (erster Satz). Vielmehr liefert der weil- Satz die Grundlage, auf die der Sprecher seine Annahme stützt: Die Dellen im Auto verleiten den Sprecher zu der Vermutung, dass es gehagelt hat. Mit dem weil-Satz rechtfertigt der Sprecher die Äußerung des ersten Satzes. weil wird hier epistemisch verwendet, d.h. es signalisiert, dass es sich um eine Einschätzung des Sprechers handelt, der aus den Gegebenheiten (Dellen im Auto) eine Konklusion zieht (Es hat gehagelt) (s. auch K ELLER 1993). Die weil-Sätze mit Verb-Letzt-Stellung stehen hingegen in einer kausalen Relation zum Hauptsatz, von dem sie auch syntaktisch abhängig sind. Sie benennen den Grund für den Sachverhalt, der im Hauptsatz enthalten ist: Grammatikalisierungen satzübergreifend 188 211) Das Auto hat Dellen, weil es gehagelt hat. Neben dem epistemischen weil existiert noch eine zweite Verwendungsvariante, die mit der Verb-Zweit-Stellung auftritt, s. das folgende gesprochensprachliche Beispiel aus G ÜNTHNER (2003: 382): 212) Anna: warum kauft ihr denn keine größeren Müslipäckchen. (-) weil (-) DIE reichen doch nirgends hin. Der weil-Satz liefert die kausale Erklärung für die vorausgehende Frage, etwa 'Ich frage, warum kauft ihr keine größeren Müslipäckchen, weil die reichen doch nirgends hin'. Im weil-Satz wird also der Grund für den früheren Sprechakt genannt. Man bezeichnet ihn als Sprechakt-Qualifikation (G ÜNTHNER 1993: 40f.). Die weil-Verb-Zweit-Sätze wie in 210) und 212) unterscheiden sich in Form und Funktion von den weil-Verb-Letzt-Sätzen wie in 211) (s. G ÜNTHER 2003: 392): 1) Die semantische Funktion der Verb-Zweit-Sätze kann man als Äußerungsbegründung bezeichnen, während die weil-Verb-Letzt-Sätze eine Sachverhaltsbegründung liefern (E ROMS 1980, S ELTING 1999). 2) Das gesprochensprachliche Beispiel 212) zeigt, dass die weil-Verb-Zweit-Sätze deutlich unabhängiger sind als der weil-Nebensatz in 211). Sie ähneln nicht nur hinsichtlich ihrer Wortstellung einem Hauptsatz, sondern bilden auch prosodisch unabhängige Einheiten. Sie werden durch Pausen von den benachbarten Sätzen getrennt. 3) Die Auflösung der syntaktischen Abhängigkeit bei den weil-Verb-Zweit- Sätzen ist Ausdruck für ihre illokutive Selbstständigkeit (s. Kap. 7.2). So steht der weil-Satz in 212) nicht im Skopus des ihm vorausgehenden Fragesatzes, sondern er hat eine eigene illokutionäre Kraft. Es ist ein Aussagesatz. 4) Die weil-Verb-Zweit-Sätze folgen immer dem Satz bzw. einer längeren Äußerung, die sie begründen. Im Gegensatz dazu können abhängige weil-Verb- Letzt-Sätze sowohl vor als auch nach dem Hauptsatz stehen. Die semantischen, syntaktischen, pragmatischen und prosodischen Eigenschaften der weil-Verb-Zweit-Sätze zeigen, dass es sich um relativ selbstständige Sätze handelt. weil hat hier zwar immer noch eine begründende Funktion, diese liegt jedoch auf einer anderen Ebene. Hier erklärt der Sprecher, warum er eine bestimmte Meinung vertritt oder warum er eine bestimmte Äußerung gemacht hat. In dieser Entwicklungsstufe ist weil nicht mehr Bestandteil eines komplexen Satzes. Sein Skopus ist deutlich erweitert: In 212) umfasst er zwei Äußerungen, die durch eine kurze Pause getrennt sind. Das epistemische und das Sprechakt qualifizierende weil bereiten den Weg für die Entwicklung zum Diskursmarker (G ÜNTHNER 2003). Auf den sich dabei vollziehenden Abbau der kausalen Semantik lassen die heutigen Diskursfunktionen von weil schließen (G OHL / G ÜNTHNER 1999). So wird weil zur Einleitung zusätzlicher Informationen verwendet, die erklärenden Charakter haben. Im folgenden Gesprächsabschnitt "Überholen" erzählt Anna, was sich vor ihrer Tür ereignet hat: Die Entstehung von Diskursmarkern 189 213) Diskursabschnitt "Überholen" (aus G OHL / G ÜNTHNER 1999: 43) 01 Anna: du aber manche leut die sin ja schon, 02 i k' (.) i tapp da neulich bei uns an and haustür na - 03 ge - 04 und grad vor mir, 05 (- -) 06 überhole sich zwei auto 07 =weil desch ja da zweispurig bei uns vor der tür - 08 und der oi, 09 der der HU : : pt wie verrückt gell, In Zeile 07 wird die Erzählung unterbrochen. Darauf folgt weil, das eine Hintergrundinformation einleitet, die für das Verständnis der gesamten Erzählung wichtig ist. Erst diese Hintergrundinformation erklärt, warum das Überholen von zwei Autos möglich ist. Die ursprüngliche, begründende Funktion von weil ist hier noch gut zu erkennen. Die zweite Diskursfunktion von weil ist die Einleitung eines thematischen Wechsels. Sie stellt eine höhere Desemantisierungsstufe dar. Das folgende Beispiel ist ein Ausschnitt aus einem Beratungsgespräch im Radio. Die Anruferin berichtet von dem schwierigen Verhältnis zu ihrer verstorbenen Mutter (Zeile 03) und dem sie belastenden Verhalten ihrer Tante (Zeile 06-07). In Zeile 09 führt die Anruferin einen neuen Aspekt ein, in dem sie ihr eigenes Verhalten und ihre eigene Einschätzung der Situation fokussiert. 214) Diskursabschnitt "Belastung" (aus G OHL / G ÜNTHNER 1999: 49) 01 Beraterin: und das nehmen sie sich jetzt im nachhinein übel 02 (0.5) 03 Anruferin: NEIN des nehm ich mir nicht übel. 04 (0.5) 05 Beraterin: na dann (.) wärs ja eigentlich möglich, 06 Anruferin: = NAJA aber nur i mein mich belastet des (halt) die frau mich jetzt damit. 07 (-) ha? 08 (0.5) 09 weil i mein ich hätte sicherlich manches anders gemacht, 10 (1.0) 11 aber (-) DA mußte ja wohl erst (-) meine mutter sterben - 12 um des zu =ü zu überlegen; 13 verstehn sie was ich mein. Hier ist die begündende Ursprungsbedeutung von weil wenn überhaupt, dann nur noch vage zu erkennen. Mit weil nimmt die Anruferin Bezug auf die bereits angesprochenen Aspekte des Problems und fügt noch einen weiteren Aspekt hinzu. Indem sie auf ihre eigene Situation hinweist, reformuliert und verdeutlicht sie das Problem. Dabei kombiniert sie weil mit dem Diskursmarker i mein. Die Funktion von weil als Fortsetzungssignal wie in Beispiel 208), das wir bereits zu Anfang dieses Kapitels besprochen haben, zeigt den höchsten Desemantisierungsgrad. Als Diskursmarker operiert weil hier auf einer noch abstrakteren Grammatikalisierungen satzübergreifend 190 Diskursebene, die nicht mit inhaltlichen Aspekten des Gesprächs zu tun hat, sondern nur mit der Organisation des Sprecherwechsels. Das folgende Beispiel "Prüfung" enthält auch das Fortsetzungs-weil: 215) Diskursabschnitt "Prüfung" (aus A UER / G ÜNTHNER 2005: 340) 01 Andi: ((...)) 02 bisher isch ja (.) des isch alles immer schön im sand verlaufen; = 03 =und den profs wars eigentlich im grund gnommen au scheißegal; 04 =weil phh (-) ja; 05 also (.) des geht denen halt au am arsch vorbei Der Grammatikalisierungsstatus von weil als Diskursmarker lässt sich mit Hilfe der Parameter von L EHMANN (1995a [1982]) (s. Kap. 2.3) nicht zufriedenstellend bestimmen (G ÜNTHNER / M UTZ 2004, A UER / G ÜNTHNER 2005). 1) Nur der Parameter des paradigmatischen Gewichts ist erfüllt, da ein deutlich höherer Desemantisierungsgrad zu erkennen ist. Es findet aber keine formale Erosion statt. 2) Auf die gegenläufige Entwicklung des strukturellen Skopus' wurde schon mehrmals hingewiesen. Der Skopus weitet sich vom Nebensatz (bei Subjunktionen) auf große Diskursabschnitte (bei Diskursmarkern) aus. 3) Der Paradigmatisierungsgrad des Diskursmarkers weil ist auf keinen Fall höher als der der Subjunktion weil. Die durch Diskursmarker gebildeten Paradigmen sind eher schwach organisiert, was sich schon aus ihrer vagen, kontextabhängigen (pragmatischen) Funktion ableitet. Im Vergleich dazu haben Subjunktionen eine klare Semantik, die sich gut bestimmbaren Kategorien wie Kausalität, Finalität usw. zuordnen lässt. 4) Der Diskursmarker weil unterliegt starken Stellungsbeschränkungen. Er steht immer zwischen den zwei Diskursteilen, deren Relation er präzisiert. Kausalsätze können hingegen sowohl vor als auch nach dem Hauptsatz stehen. 5) Im Gegensatz zur Subjunktion weil ist der Diskursmarker weil immer weglassbar. Er ist also nicht obligatorisch. Seine Entwicklung aus der Subjunktion geht mit abnehmender Obligatorik einher. 6) Die Fügungsenge nimmt im Gegensatz zu Subjunktionen ab, da der Diskursmarker deutlich unabhängiger vom Bezugssyntagma ist. Nach dem topologischen Modell befindet sich der Diskursmarker im Vor-Vorfeld des Satzes, wo er auch mit anderen Diskursmarkern, z.B. i mein in 214) (Zeile 09), kombiniert werden kann: Weil i mein [Vor-Vorfeld] ich [Vorfeld] hätte [LK] sicherlich manches anders [Mittelfeld] gemacht [RK]. Um die Diskursmarker, die ein gutes Beispiel für nicht obligatorische pragmagrams sind, als Teil der Grammatik aufzufassen, brauchen wir nach A U- ER / G ÜNTHNER (2005) einen neuen Grammatikbegriff, der sich einerseits nicht nur auf Morphologie, Phonologie und Syntax beschränkt, andererseits aber spezifisch genug ist, um auf seiner Grundlage eine Definition der Grammatikalisierung formulieren zu können. Nach A UER / G ÜNTHNER kann dies der weite Grammatikbegriff von T RAUGOTT (1997, 2003), der in Kap. 7.3.1 eingeführt wurde, nicht leis- Die Entstehung von Diskursmarkern 191 ten. Sie schlagen deswegen vor, grammatisch geformte Zeichen nach H ARTMANN (1959) als "offene Formen" zu bezeichnen. "Je mehr wir uns aus dem Feld der einfachen Wörter (die mehr oder weniger prototypisch auf Erfahrungen mit konkreten Dingen oder Sachverhalten bezogen sind) in das Feld der grammatischen Relationen begeben, umso mehr haben wir es mit "offenen Formen" zu tun, die erst in der Verwendung (im Kontext) mit Weltbezug gefüllt werden." (A UER / G ÜNTHNER 2005: 355) So sind Tempusendungen (-te) oder Hilfsverben (haben/ sein) ebenso wie Diskursmarker (weil) als "offene Formen" zu bezeichnen. Dank ihrer semantischen Leere lassen sie sich vielfältig einsetzen. Ihre (grammatische) Bedeutung entfalten sie immer erst im Kontext, d.h. in Verbindung mit anderen Zeichen, da sie ihre kontextunabhängige Semantik, wie sie für Lexeme (Autosemantika) typisch ist, im Zuge ihrer Grammatikalisierung abgelegt haben. So verweisen die Endung -te oder das Hilfsverb haben erst dann auf Vergangenes, wenn sie mit einem Verbstamm kombiniert werden, z.B. lach-te bzw. hat gelacht. Ohne den lexikalischen Kontext ist ihre Funktion nicht zu bestimmen (s. die Diskussion über grammatische Konstruktionen z.B. auf S. 23). Ebenso entfaltet der Diskursmarker erst im Kontext seine Funktion, Diskursteile in Relation zueinander zu setzen. Wichtig ist dabei, dass die Grammatikalisierung nicht zu Kontextgebundenheit führt. So ist die grammatische Bedeutung der Endung -te nicht von einem bestimmten Lexem abhängig. Vielmehr geht es gerade darum, dass grammatische Zeichen als "leere Formen" maximale Flexibilität erreichen. Die Grammatikalisierung besteht nach A UER / G ÜNTHNER (2005) nicht in einer Situationslösung, sondern in einer Situationsöffnung, d.h. in der Schaffung einer maximal flexiblen Kontextbindungsmöglichkeit eines Zeichens. 8 Sachverzeichnis —A— Ablaut 111 Absentiv 164 Abstraktum 76 additiv 111, 162 Adhortativ 121 Adressat 124 Adsentiv 164 affirmative Kontexte 45 Affix 17, 26 agglutinierend 17 Akkusativkonversion 152 Allgemeingültigkeit 13 Alloauxiliar (s. auch Auxiliar) 134 Allomorphie 18, 55 ambig 35 Analogie 37, 57, 145 Aspekt 65, 159 atelisch 162 Auxiliar 139, 156, s. Hilfsverb Auxiliarisierung 131, 152 —B— Brückenkontext 12 —D— Dativkonversion 152 Degrammatikalisierung 25, 51, 59, 62, 63 deiktisch 6 Dekategorialisierung 12, 115, 130 Demonstrativ 71 distales 69 proximales 70 Demorphemisierung 18 denotieren 1 Derivationsaffix 26 Desemantisierung 11, 114 Diskurs 3, 16 Diskursmarker 188 distal 69 Distribution 3 ditransitiv 155 Divergenz 130, 134 —E— Einbettung 174 Einfachnegation 45, 47 Emphase 46, 47 Enklise 86 Erosion 12, 21, 115, 117 evidenziell 151 Exaptation 59 expletiv 49, 76, 120, 183 Extension 12, 34, 114 —F— face 125 negative 125 positive 125 final 31, 173 Flexiv 13, 16, 17, 27, 60, 87, 116 frequent 29 Fügungsenge 21, 22, 60, 61, 86, 108, 122, 192 Funktionswort 1, s. Grammem Fusion, fusionieren 17 Fusionsgrad 17, 22, 61 —G— Gebrauchskontexte pragmatische 71 semantische 72 Generalisierer 47 generisch 75 Genitivattribut 67 Gewicht 19, 21 Grammatik 3, 5, 189, 192 Grammatikalisierung 5, 192 sekundäre 69 Grammatikalisierungsgrad 6 Grammatikalisierungspfad 38 Grammem 1, 2, 6, 15, 19, 23, 38 —H— Handlungsmaxime 24 Hilfsverb 1, 6, 23, 36, 113, 114, 129, 131, 181 homonym, Homonymie 6 Hypotaxe 174 —I— imperfektiv 65, 135, 136, 138, 139 Implikatur Sachverzeichnis 194 konversationelle 32, 46, 103, 127, 142, 155 inchoativ 145 infinit 12 Informationsstruktur 16, 65, 182 ingressiv 141 Inhaltswort 1, s. Lexem Innovation 15, 25, 118 Integrität 21 intransitiv 47, 135 Inversion 120 invited inference 35 irreversibel 24 —K— Kategorie, grammatische 13, 14, 15 kausal 33, 173 kausativ 113 Klise 87 einfache 86 spezielle 86 Klitikon (Pl. Klitika) 17 Klitisierung 17 Kognition 30 Kohäsion 19 paradigmatische 21 syntagmatische s. Fügungsenge Kondensierung 21 konsekutiv 177 Konstruktion, grammatische 23, 131, 139, 153 Kontext 12 isolierender 168, 170 kritischer 168, 169 untypischer 158, 168 Kontexterweiterung 114, 115 Kontiguität 31 Konventionalisierung 12, 33, 151, 156 Konversationsmaximen 32 Maxime der Relevanz 32 Maxime(n) der Modalität 32 Maxime(n) der Qualität 32, 127 Maxime(n) der Quantität 32 konzessiv 173 Kooperationsprinzip 32 kooperative Flexion 107 Kopula 139, 140 —L— Lexem 1, 6, 14 Lexikalisierung 17, 27, 51 —M— Mehrfachnegation 44, 47 Metapher 33 Metonymie 31 Minimierer 48 Modalität epistemische 165, 166, 167 objektive 165 modulatorisch 111 Mononegation (s. auch Einfachnegation) 44 Morphologisierung 16 —N— Negationskongruenz 50 negative polarity items 45 negativ-polare Elemente 45, s. negative polarity items negativ-polares Element 49 nicht-affirmative Kontexte 45 Nicht-Kompositionalität 131 n-Indefinita 50 Nominalkategorie 63 Nominalklammer 105 non-additiv 163 —O— opak 27 —P— Paradigma 21 paradigmatisch 20 Paradigmatizität 21 Parataxe 174 Perfekterneuerung 117, 136, 137 perfektiv 65, 136, 138, 139 Periphrase 16 Persistenz 130, 134, 157 Pluralallomorphe s. Allomorphie Polygrammatikalisierung 39, 139 Polynegation (s. auch Mehrfachnegation) 44 Portmanteaumorphem 118 Postposition 95 postverbal 44 präfinit 44 pragmatic strengthening 33 Pragmatik 4 Pragmatikalisierung 189 pragmatische Stärkung 33 Präposition 93 grammatische 96 Sachverzeichnis 195 primäre 94 sekundäre 94 Präsupposition 43 Präteritumschwund 117, 137 präverbal 44 Pro-Drop-Sprachen 118 produktiv 58 Produktivität 27 Progressiv(ität) 158 Proklise 86 Proposition 43, 166 —Q— Quelle, modale 165 Quotativ 167 —R— Reanalyse 35, 46, 58, 99, 114, 123, 133, 151, 156 Reduplikation 115 Relevanz 13 Renovation 15, 43, 118 resultativ 133 resümierend 176 Rezipientenpassiv 6, 36, 152 Routine 46 Routinisierung 48, 83, 127 Runen 112 —S— Satzmodus 180 Schichtung 130 Semantik 32 Simplex (Pl. Simplizia) 64 Skopus 21, 26, 173, 192 Spezialisierung 130, 134 Sprachzeichen 11 Stellungsfreiheit 21 Subjektivierung 146, 148 Subjunktion 173 Subordination 174 Suffix, stammbildendes 56 Synkretismus 123 syntagmatisch 20 Syntaktisierung 16, 173, 181 —T— telisch 163 topologische Felder 181 —U— Umschreibung s. Periphrase unidirektional 25 Unidirektionalität 59 Unikum 73, 75 Univerbierung 17, 27, 44, 47, 95, 178 unsichtbare Hand 24, 48 —V— Variabilität 19 interparadigmatische 22 transparadigmatische 22 Verlaufsform, rheinische 29 Volksetymologie 56 Vollverb 11 —W— Wählbarkeit 21 Wendekontext 12 Wortfeld 14 —Z— Zirkumposition 95 9 Abkürzungsverzeichnis * rekonstruierte oder ungrammatische Form . Silbengrenze = klitischer Anschluss +> konversationelle Implikatur < ... > Schreibung [ ... ] Lautung ' ... ' Bedeutung ahd. althochdeutsch Akk. Akkusativ alem. alemannisch AP Adverbialphrase bair. bairisch Dat. Dativ def. definit dem. demonstrativ engl. englisch Fem. Femininum fr. früh frnhd. frühneuhochdeutsch franz. französisch Gen. Genitiv germ. germanisch got. gotisch hd. hochdeutsch imperf. imperfektiv ie. indoeuropäisch Inst. Instrumental jidd. Jiddisch lat. lateinisch LK linke Satzklammer lux. luxemburgisch Mask. Maskulinum md. mitteldeutsch mhd. mittelhochdeutsch nd. niederdeutsch ndl. niederländisch ndt. niederdeutsch Neutr. Neutrum nhd. neuhochdeutsch Nom. Nominativ NP Nominalphrase obd. oberdeutsch omd. ostmitteldeutsch P. Person perf. perfektiv Perf. Perfekt Pl. Plural Post. Postposition PP Präpositionalphrase Präp. Präposition Präs. Präsens Prät. Präteritum PrS primäre Subjunktion RK rechte Satzklammer S Satz schwed. schwedisch Sg. Singular SeS sekundäre Subjunktion sp. spät UL Umlaut V1 Verb-Erst-Stellung V2 Verb-Zweit-Stellung VL Verb-Letzt-Stellung wmd. westmitteldeutsch 10 Literatur Primärliteratur: Er = Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. v. M. G. Scholz. Übers. v. S. Held. Frankfurt a.M. 2004. Fränk. 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So hat sich das Deutsche im Laufe seiner Geschichte von einer Silbenzu einer ausgeprägten Wortsprache entwickelt, was sich auf mehreren Ebenen (z.B. Phonologie, Orthographie, Morphologie) niederschlägt. In der Syntax wird auf das Klammerprinzip abgehoben. Diesem übergreifenden Prinzip und einigen weiteren Prinzipien gehen die Autorinnen anhand zahlreicher Beispiele nach und ermöglichen so ein tieferes Verständnis der deutschen Sprachgeschichte. „Insgesamt haben Damaris Nübling und ihre Mitarbeiterinnen mit dem vorliegenden Werk eine ebenso informative und anspruchsvolle wie originelle und zukunftsweisende Sicht der deutschen Sprachgeschichte vorgelegt.“ Torsten Leuschner in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 111810 Auslieferung Dezember 2010.indd 2 02.12.10 17: 28 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG FEBRUAR 2011 JETZT BESTELLEN! Björn Rothstein Wissenschaftliches Arbeiten für Linguisten narr studienbücher 2011, 218 Seiten €[D] 19,90/ SFr 30,50 ISBN 978-3-8233-6630-0 Wenn es um „linguistisches Arbeiten“ geht, bestehen bei den Studierenden oftmals große Unsicherheiten bezüglich Inhalt, Form und Methode. Dieses Studienbuch vermittelt Schritt für Schritt die notwendigen Arbeitstechniken, um erfolgreich sprachwissenschaftliche Studien durchführen, präsentieren und verschriftlichen zu können. Klassische Bereiche wie Themenfindung, Informationsbeschaffung, Besonderheiten wissenschaftlicher Textsorten und bibliographische Konventionen werden genauso thematisiert wie die Probleme, vor denen Studierende üblicherweise im Bereich der Linguistik stehen: Lektüre und Überprüfung von linguistischen Texten, Argumentationstechniken, Beweisführungen und die Datenerhebung, -verwaltung und -notation. Zahlreiche Schaubilder und Beispiele veranschaulichen den Text. Für die praktische Anwendbarkeit sorgen die am Ende jedes Kapitels angefügten Checklisten. 013411 Auslieferung Februar 2011.indd 2 10.02.11 12: 00