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Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac

2012
978-3-8233-7668-2
Gunter Narr Verlag 
Bernd Kortländer
Hans Theo Siepe

Deutschland spielt im Werk und im Leben Balzacs eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nicht nur, dass Balzac Deutschland von verschiedenen Reisen her kannte, er schätzte deutsche Autoren wie Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, war mit Heinrich Heine persönlich befreundet und widmete ihm einen seiner Romane, kannte aber auch deutsche Musik und Malerei. So wurde Deutschland und Deutsches vielfach zum Thema in seinem Werk. Diesen Spuren im Werk wird in diesem Buch ebenso nachgegangen wie Fragen der Rezeption, Übersetzung und der Wirkung in Deutschland. Mit Beiträgen von T. Amos, S. Kammer, L. Kittenberger, B. Kortländer, T. Lörke, A. Oster, H.T. Siepe, F. Trabert, K. von Hagen, J.-H. Witthaus.

Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac TRANSFER Literatur - Übersetzung - Kultur 22 Herausgegeben von Monika Gomille, Bernd Kortländer, Hans T. Siepe Bernd Kortländer / Hans T. Siepe (Hrsg.) Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post, Düsseldorf. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0939-9941 ISBN 978-3-8233-6668-3 Balzacs Werke werden - sofern nicht anders angegeben - aus den folgenden Ausgaben mit den angeführten Siglen und unter Angabe der Bandzahl in römischer Ziffer zitiert: CH = La Comédie humaine. Hg. von Pierre-Georges Castex [u.a.]. 12 Bde. Paris 1976-1981. ŒC = Œuvres complètes. Hg. von Club des Honnêtes Hommes. 24 Bde. Paris 1968-1971. ŒD = Œuvres diverses. Hg. von Pierre-Georges Castex [u.a]. 2 Bde. Paris 1990-1996. Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 8 - Einerseits hat Balzac Erfahrungen mit deutscher Literatur, Musik, Wissenschaft und Philosophie gemacht: Es sind also Rezeptionserfahrungen, die zu einer bestimmten Sicht führen; andererseits sind Erfahrungen gemeint, die Balzac entweder in Frankreich mit Deutschen oder die er vor Ort in Deutschland selbst gemacht hat, also: Begegnungserfahrungen, die von einer Sicht bestimmt sind oder die eine Sicht bestimmen. 1.1 Begegnungen mit deutscher Kultur und Wissenschaft Balzac bewunderte die deutsche Romantik (E.T.A. Hoffmann, Jean Paul und Ludwig Tieck, den er 1843 sogar in Potsdam besuchte); er schätzte Goethe, den er zu den Romantikern zählt und dessen Figuren, insbesondere Faust und Werther, vielfach in seinem Werk erscheinen. So kann man auch annehmen, dass Goethes Briefwechsel mit Bettina Brentano ebenso wie Wilhelm Meisters Lehrjahre zu den Intertexten von Balzacs Modeste Mignon gehörten, wo Goethes Torquato Tasso als dessen Meisterwerk gerühmt wird. Es gibt viele weitere Namen aus der deutschen Literatur in Balzacs Werk; ihre Zahl wird aber noch übertroffen durch die deutscher Musiker. Balzac verbindet so - im Gefolge von Mme de Staël - die deutsche Kultur vor allem mit der Musik (von der er selbst nicht allzu viel versteht: „Partituren erschienen ihm wie das Zauberbuch eines Hexenmeisters und auch Orchester waren ihm mit ihrer Masse an Instrumenten höchst suspekt“ 3 ). So hatte er für seine Erzählung Gambara den deutschen, in Paris lebenden Musiker Georg Jakob Strunz konsultiert und hier sehr eindrucksvoll die damalige Debatte über den Unterschied zwischen deutscher Musik (Mozart, Beethoven, Meyerbeer) und italienischer Musik (Rossini) gespiegelt. Die einzige deutsche Hauptfigur, die er geschaffen hat, die zweite Hauptfigur im Cousin Pons, der Deutsche Wilhelm Schmucke, ist „natürlich“ - so ist man versucht zu sagen - Musiker. Selbstverständlich finden sich bei Balzac auch Spuren einer Kenntnis der deutschen Philosophie, die bei den französischen Meisterdenkern hoch im Kurs stand: Kant, Fichte und Schelling werden genannt. War das wohl eher bloßes name-dropping, so hat er sich intensiver mit den in Deutschland entwickelten Ansätzen einer „romantischen“ Wissenschaft befasst. Erwähnungen von deutschen Mystikern und Alchemisten wie Agrippa von Nettesheim, Paracelsus, Jakob Böhme oder Hans Joachim Becher weisen ebenso in diese Richtung wie Balzacs Beschäftigung mit den Theorien des Arztes Friedrich Anton Mesmer. Der „Mesmerismus“, die Annahme eines animalischen Magnetismus, eines „Fluidums“, auf das ein Heiler 3 Christoph Vratz: Die Partitur als Wortgefüge. Sprachliches Musizieren in literarischen Texten zwischen Romantik und Gegenwart. Würzburg 2002, S. 176. Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac. Ein Überblick als Einleitung 9 („Magnetiseur“) Einfluss nehmen konnte, war während der Restaurationszeit in der französischen Oberschicht sehr verbreitet. Balzac glaubte an die Existenz übernatürlicher, okkulter Kräfte, nahm selbst an entsprechenden Experimenten teil und verstand solche Erfahrungen als eine Bestätigung der Religion. Interessiert haben ihn auch Johann Caspar Lavaters Physiognomik, wonach Charaktere anhand der Gesichtszüge und Körperformen zu unterscheiden seien, ebenso wie Franz-Joseph Galls Untersuchungen zu einer Verbindung zwischen Mimik und Charaktereigenschaften sowie einem Zusammenhang von Schädelformen und Intelligenz. Der Menschenforscher Balzac fand hier ein interessantes Beschreibungsinstrumentarium für seine ‚Naturgeschichte der Gesellschaft’, als die er die Comédie humaine in der Vorrede von 1842 angekündigt hat. Erwähnt sei schließlich noch, dass er auch Alexander von Humboldt kannte und schätzte. 1.2 Konkrete Deutschland-Erfahrungen Im Winter 1833/ 34 war Balzac in die Schweiz gereist, um dort eine Frau zu treffen, die sein weiteres Leben maßgeblich bestimmen und die er schließlich, nach ihrer Verwitwung 1841, dann im März 1850 (kurz vor seinem Tod im August 1850) noch heiraten wird. Und mit ihr hängen all seine zwölf Deutschlandreisen zusammen, die also weniger auf einer Vorliebe für dieses Land und seine Bewohner beruhten als auf seiner Leidenschaft für eine Frau. 1832 war erstmals die polnische Gräfin Evelina Ha ska brieflich mit ihm in Kontakt getreten, und in den Briefen, die Balzac in der Folge an diese Frau richtete (eine mehrjährige umfangreiche Korrespondenz), ist nicht nur von „Allemagne“ im Allgemeinen oder auch Regionen wie „Preußen“, „Westfalen“ und „Württemberg“ die Rede, sondern von konkreten Lokalitäten, u.a. von Aachen / Baden-Baden / Bad Homburg / Berlin / Bingen / Bad Cannstadt / Bad Kreuznach / Dresden / Eisenach / Erfurt / Esslingen / Forbach / Frankfurt / Frankenthal / Freiburg im Breisgau / Görlitz / Hamburg / Hannover / Heidelberg / Karlsruhe / Koblenz / Köln / Leipzig / Magdeburg / Mainz / München / Offenbach / Potsdam / Reutlingen / Saarbrücken / Stuttgart / Weimar / Wiesbaden. Natürlich schreibt er auch vom Rhein, von der Saale, vom Neckar und von der Elbe ebenso wie vom Schwarzwald. Das heißt also: Was hier in seinen Briefen vermerkt ist, hat mit Erfahrungen „vor Ort“ zu tun (die natürlich auch stereotypengeleitet sein, aber doch andererseits konkrete Erfahrungen und Anschauungen bieten bzw. auf diesen beruhen können). Die erste Äußerung über Deutschland im Briefwechsel mit Mme Ha ska 1833 verweist auf seine schriftstellerischen Erfolge in Deutschland („mes succès en Allemagne“), um sie sogleich mit einem Liebeskompliment zu Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 10 verbinden: „Je voudrais que la terre entière pût parler de moi avec admiration pour, qu’en posant ma tête sur tes genoux, tu eusses le monde à toi“. 4 Die erste Reise führte ihn dann im Jahr 1835 u.a. nach München, das ihn wenig beeindruckt hat, auch in den kleinen und heute noch pittoresken Ort Weinheim im Rhein-Neckar-Kreis, wo er angeblich - zumindest sehen es die Lokalpatrioten so - seinen Roman Louis Lambert beendet haben soll. Erst 1843, acht Jahre später, kommt er dann wieder nach Deutschland; zuvor war er mit dem Schiff nach St. Petersburg gereist, wo er zwei Monate blieb und von wo aus er den Rückweg über Land machte. Vor Ort in Berlin (Oktober 1843) langweilt ihn alles (“Berlin est la ville de l’ennui“, heißt es hier), vor allem auch das Theater: Je vous écris ceci avant de me coucher. Il est neuf heures. Que faire à Berlin! Il y a, pour distraction, Médée, de l’antiquité, traduite en allemand et jouée littéralement. On a essayé hier à la cour de jouer aussi littéralement Un songe d’une nuit d’été de Shakespeare! Le Roi de Prusse protège les lettres … mortes. 5 Und hier besucht er dann auch den romantischen Dichter, der Shakespeare übersetzt hat - Ludwig Tieck: J’ai vu Tieck en famille, il a paru heureux de mon hommage, il avait une vieille comtesse, sa contemporaine, en lunettes, quasi octogénaire, une momie à gardevue vert qui m’a paru être une divinité domestique, je suis revenu, il est 6 heures ½ du soir, je n’ai rien mangé depuis ce matin. Berlin est la ville de l’ennui: j’y mourrais en une semaine. 6 Von Berlin aus reist er weiter nach Dresden (wo es ihm gefällt) und Leipzig, um weiter nach Frankfurt und Mainz zu gelangen: Je suis parti de Berlin avec l’ennui, […] et j’ai trouvé ici [à Dresde] la nostalgie. […] j’ai fait tout Dresde et c’est, je vous jure, une charmante ville, bien préférable, comme séjour, à Berlin. Elle tient de la capitale, de la ville suisse et de la ville allemande, les environs sont pittoresques, et tout y est charmant. J’ai conçu qu’on pût vivre à Dresde. 7 Dort schreibt er über seine Kunst-Begegnungen (Holbein) wie auch über die deutsche Eisenbahn, die so ganz auf den essenden und trinkenden Deutschen zugeschnitten ist: 4 Balzac: Lettres à Madame Hanska. Textes réunis, classés et annoté par Roger Pierrot (= LMH). 4 Bde. Paris 1967-1971, hier Bd. I, S. 76. 5 LMH I, S. 718. Später, in der Lettre sur Kiew (von der noch die Rede sein wird), wird Berlin noch ausführlicher als „capitale de l’ennui“ behandelt. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 721. Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac. Ein Überblick als Einleitung 11 Les chemins de fer allemands sont un prétexte pour boire et manger. On s’y arrête à tout moment, on descend, on mange, on boit et l’on y remonte, en sorte que la poste de France va aussi vite que ces rails-là. 8 Ähnlich wird er später (1848) noch einmal schreiben, Deutschland und Frankreich im Gegensatz sehen: Vous jugez quelle sottise seront les chemins de fer allemands? Dépenser des milliards pour obtenir une vitesse moindre de celle de nos malles, pour réaliser les diligences françaises. 9 Es ist nun nicht so, dass er Deutschland nur von kurzen Durchreisen kennt, denn 1845 verbringt er gleich mehrere Monate in Deutschland als Begleiter der Gräfin Ha ska, ihrer Tochter und deren Verlobten auf Reisen, die sich immer auch an Kurorten orientierten. Man trifft sich Ende April in Dresden, ist im Mai in Bad Homburg, dann in Bad Cannstadt, macht einen Ausflug nach Heidelberg, das Balzac beeindruckt. Im September ist er mit der Gräfin noch einmal für eine Woche in Baden-Baden. Auf allen Reisen mit Madame Ha ska hat Balzac keine Zeile geschrieben, und das obwohl zu Hause die Gläubiger Schlange standen und die Zeitungsherausgeber ihn wegen bereits ausgezahlter Honorare und nicht gelieferter Manuskripte verfolgten. Er genoss diese - nicht zuletzt wegen des Geldbeutels der vermögenden Gräfin - weitgehend sorgenfreien Auszeiten aus dem ungeheuren Stress seines Pariser Lebens. Es machte ihm auch nichts aus, dass Frau von Ha ska es zunehmend als eine Selbstverständlichkeit empfand, dass Balzac sich ihren Reisewünschen unterordnete. Als die Gräfin im Sommer 1846 nach Bad Kreuznach ging, folgte er gehorsam ihrem Ruf, obwohl er sie beschworen hatte, um Gotteswillen nicht in „dieses Loch“ zu reisen. 10 Und 1847 musste Balzac, der inzwischen die Fahrpläne zwischen Paris und Frankfurt auswendig kennt, zweimal die beschwerliche Reise antreten, um die Gräfin nach Paris zu begleiten und zurückzubringen. Im September jenes Jahres besuchte er zum ersten Mal das gräfliche Gut in der Ukraine, wohin Balzac im Herbst 1848 erneut reist; auf jeder Strecke legt er jeweils Halt in Deutschland ein. In Bezug auf die Reise 1847 gibt es von Balzac ein Dokument, das als Lettre sur Kiew 1927 in den Cahiers balzaciens erstmals veröffentlicht wurde und auf das wir noch zurückkommen. 11 Hier hält Balzac seine Reiseerfahrungen fest, die auch dadurch geprägt sind, dass er sich in Deutsch nicht verständigen kann: „[J]’entrais dans le désert que fait au voyageur 8 Ebd. 9 LMH II, S. 692. 10 Ebd. S. 274: „[…] ce trou de Creuznach, qui doit être une lanterne“. 11 Dieser Brief wurde im Oktober 1847 auf dem gräflichen Gut der Familie Ha ska in Wierzchownia (Ukraine) verfasst und ist gerichtet an den Direktor des Journal des Débats, Armand Bertin. Wiederaufnahme in ŒC XXIV, S. 543-578. Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 12 l’ignorance absolue des langues“. 12 Hier finden sich dann auch all jene Ansichten wie Vorurteile wieder, die sein Deutschlandbild prägen. Trotz der vielen Reisen hat die deutsche Lebensart den verwöhnten Pariser Dandy nicht beeindruckt, im Gegenteil ist er immer froh, wenn - wie in Bad Homburg - möglichst viel Französisches ihn umgibt. Dies hängt wesentlich auch damit zusammen, dass ihm die deutsche Sprache gänzlich verschlossen blieb. 13 Allenfalls machte er sich lustig über den deutschen Akzent bei der Aussprache des Französischen und entwickelte für seine Romane sogar ein eigenes System, um diesen Akzent auch im Schrifttext deutlich zu machen. Es gelingt Balzac selten, ein deutsches Wort fehlerfrei niederzuschreiben, und es gibt Fehler, die sich teilweise bis in den Drucktext gehalten haben, etwa wenn in L’Auberge Rouge der (französische) Plural „Rechnungs“ gebildet wird, im Erstdruck der Illusions perdues von „Reisibildern“ die Rede ist oder wenn der Flötist in Le Cousin Pons stets „Wilhem“ - „comme presque tous les Allemands“ (CH VII, 531) - und nicht „Wilhelm“ heißt. 1.3 Bricabracomanie - Balzac und die deutschen Antiquitätenläden Zu Balzacs Lieblingsbeschäftigungen auf seinen Reisen in Deutschland gehörte seit 1846 der Besuch bei Antiquitätenhändlern. Das hing zusammen mit dem Erwerb des Hauses in der rue Fortuné (heute: rue Balzac) in Paris im September 1846, das Balzac als eheliche Wohnung für die Gräfin Ha ska und sich vorgesehen hatte. Er versuchte in den Folgejahren, dieses Heim möglichst luxuriös auszustatten und war deshalb ständig auf der Suche nach Bildern, Möbeln, Kunstgegenständen und Trödel aller Art. Die Gräfin betrachtete dies einerseits mit Sorge, weil sie zu Recht neue finanzielle Desaster heraufziehen sah, und rief ihn brieflich immer wieder zur Ordnung. Andererseits hatte sie aber ihren Teil dazu beigetragen, indem sie mit ihrer Tochter selbst der „Bricabracomanie“ frönte. In Deutschland besuchte Balzac stets ortsansässige Antiquitätenhändler (Wolf in Dresden, Bleul in Frankfurt, vor allem Schwab in Mainz). Selbst bei kurzen Zwischenstopps wie auf der Rückreise aus der Ukraine im Februar 1848 schaute er bei Wolf in Dresden vorbei und entdeckte ein wunderschönes Schachspiel, das er aber nicht zu kaufen wagte aus Angst vor der Schelte der Gräfin. Und noch als er, endlich mit Madame Ha ska verheiratet, im Mai 1850 todkrank nach Paris zurückfuhr, besuchte er von Frankfurt aus den Mainzer Antiquitätenhändler Schwab und kaufte 12 Ebd., S. 550. 13 1846 hatte er behauptet, Deutschland auch ohne Sprachkenntnisse gut zu kennen (s.o.); 1847 fühlt er sich aufgrund fehlender Sprachkenntnisse in Deutschland wie in einer Wüste (s.u., Lettre sur Kiew). Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 14 Que l’éternelle prétention des Allemands est de ne jamais ressembler aux Français, qu’ils ragent toutes les fois qu’on leur parle de la France, que les Viennoises ont non pas la prétention, mais la certitude d’être plus comme il faut, plus élégantes, plus spirituelles que les parisiennes, et que d’ailleurs l’Allemagne est le pays le plus gueux, le plus dénué du monde. 16 An einer anderen Stelle der Korrespondenz kann man lesen: … qu’il y a 65 000 allemands dans le faubourg St Antoine et qui y vivent, faute de pouvoir vivre en Allemagne; qu’il n’y a pas une seule allemande venue à Paris depuis que Paris existe, pour y faire autre chose que vendre des petits balais, ou sa personne, ce qui se fait sans instruction. 17 Unter den bisher wenigen, kaum gründlichen (deutschen) Untersuchungen zum Deutschlandbild bei Balzac 18 gibt es einen Aufsatz des Romanisten Fritz Neubert aus dem Jahr 1950, der sich in einem Vortrag (u.a. in der Maison de France in Berlin) mit dem Thema „Balzac und Deutschland“ beschäftigt hat. 19 Hier zeigt sich Neubert gerade über diese beiden zuletzt zitierten Stellen von Balzac „verwundert und befremdet“, er kennzeichnet sie als „unfreundliche Ausfälle gegen alles Deutsche, Wien eingeschlossen“, und hält fest: So wie wir die Sätze lesen, bedeuten sie fast einen wilden Gefühlsausbruch, der gekränktes Nationalbewusstsein verrät und das vielleicht durch irgendwelche persönlichen Erlebnisse unbekannter Art ausgelöst wurde. […] Aus ihnen leuchtet letztlich das alte Rivalitätsbewußtsein hervor, das sich zu feindseliger Abwehr verdichtet, sobald auch nur irgendeine Überlegenheit von deutscher Seite irgendwie das Franzosentum berührt oder angreift. Denn anders kann man die heftigen Worte nicht begreifen. […] Das ist ein böser Schlußakkord seines Deutschlandbildes […] diese letzten Worte an Deutschlands Adresse enthalten einen bitteren Vorwurf. 20 Und dann versucht jener Neubert, der selbst ein gekränktes Nationalbewusstsein und Frankreich-Stereotypen äußert, Balzac zu retten, indem er schreibt: Aber der ganze Brief, nachts 2 Uhr geschrieben, trägt die Spuren einer besonders trübsinnigen Haltung, die eine schwere Magenstörung ausgelöst hat. Und so 16 Balzac: Correspondance. Textes réunis, classés et annotés par Roger Pierrot. 5 Bde. Paris 1960-1969, hier Bd. 5, S. 587. 17 Ebd. 18 Dazu gehört auch: Gärtner, Martine: Balzac et l’Allemagne. Paris 2000. Überhaupt scheint die Balzac-Forschung in Deutschland in den letzten Jahren/ Jahrzehnten etwas brachzuliegen. 19 Fritz Neubert: „Balzac und Deutschland“. In: Ders.: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, im besonderen zum Verhältnis Deutschland - Frankreich. Festgabe zum 2. Juli 1951, dem 65. Geburtstage des Verfassers. Berlin 1952, S. 115-146. 20 Ebd., S. 142. Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac. Ein Überblick als Einleitung 15 haben wir hier wieder einen Fall, der wesentlich mit durch eine vorübergehende Verstimmung bedingt zu sein scheint. 21 Den „offen herausgeschleuderten Äußerungen seines Missbehagens“ in der Korrespondenz 22 stellt Neubert dann doch gerne die „im ganzen freundlicheren Anspielungen der 30er Jahre [gegenüber], in denen Balzac deutsche Menschen, deutsches Wesen nur in Paris oder durch das Medium der Literatur erlebt hatte“. Und zum Schluss schwafelt er von der „verhaltenen Sehnsucht“ des Dichters und dem „Bekenntnis zu einem Deutschtum“. 23 Hier sieht man deutlich, wie das Frankreichbild Neuberts mit dem eigenen Deutschlandbild zusammenhängt. Im Monumentalwerk der Comédie Humaine lassen sich 42 anonyme und 64 namentlich benannte Deutsche finden; das mag zwar eine verschwindende Minderheit unter den ca. 3000 Figuren ausmachen, doch lässt sich schon an ihnen ein Bild rekonstruieren, das Balzac von den Deutschen hatte. 24 Hier begegnen wir auch deutscher Sprache an manchen Stellen in seinem Werk, vor allem in L’Auberge rouge (entstanden vor den Deutschlandreisen), wo Deutschland der Schauplatz ist, und im Cousin Pons, wo neben der im Titel benannten Hauptfigur der deutsche Musiker Wilhem Schmucke steht. 25 21 Ebd., S. 143. Neubert ist auch nicht ganz korrekt, wenn er hier eine „schwere Magenstörung“ anführt, denn im ersten Teil des Briefs hatte Balzac seiner Schwester von einer vorausgegangenen schweren Erkrankung berichtet und festgehalten: „[T]ous les symptomes de ma maladie de cœur sont disparus“ ebenso wie „Toutes mes douleurs d’estomac ont disparus depuis 2 mois“ (S. 585). An diesem Tag hatte er gewiss eine „crise“, weil er die ihm auferlegte „citron pur“ als „moyen curatif“ am Morgen nicht vertragen und sich am Mittag hingelegt hat (S. 588). Von einer „trübsinnigen Haltung“, die zu dem Urteil über Deutschland und die Deutschen geführt habe, trägt der Brief aber keine „Spuren“. 22 Ebd. 23 Ebd. S. 146. Ausgerechnet der Nazi-Romanist Neubert mit wundersamer Nachkriegskarriere, der zwar ohne Parteimitgliedschaft, aber doch als effektiver NS-Aktivist gewirkt hat und kompromisslos die deutschen Interessen gegen Frankreich verteidigte, referiert hier über deutsch-französische Beziehungen und Bilder im neu angebrochenen Zeitalter der Demokratie; ein Romanist, der „wenige Jahre zuvor ein Groß- Europa unter deutscher Führung verherrlichte, in dem das besiegte Frankreich zwar auch einen Platz einnehmen sollte, aber als ein Deutschland dienendes und von ihm lernendes Land“ (Frank-Rutger Hausmann: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“. 2. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Frankfurt 2008, S. 688). So bleibt ein besonders kritischer Umgang mit diesem Beitrag angesagt. 24 Vgl. die gründlichen Ausführungen zum Deutschlandbild bei Christiane Le Moigne: „L’Image de l’Allemagne et des Allemands dans la Comédie Humaine“. In: Travaux et Recherches 3 (1972). Hg. von Centre de Recherches Relations Internationales de l’Université de Metz, S. 102-137, hier S. 133-134 (zu den Zahlenangaben). 25 Vgl. zu diesen beiden Texten die Beiträge von Thomas Amos und Angela Oster in diesem Band. Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 16 Balzac hatte Mme de Staëls Buch De L’Allemagne gelesen, und es ein „livre tout viril“ genannt, 26 also ein unerschrockenes Buch: unerschrocken gegenüber französischen Befindlichkeiten, denen Deutschland in vielerlei Hinsicht als Beispiel vorgestellt wurde. So wird man auch sagen können, dass ein Trugbild von Deutschland bei Balzac erscheint, welches seine Ableitung im Wesentlichen von Mme de Staël bezieht: À première vue, cette image de l’Allemagne et des Allemands est littéralement conforme au ‚mirage‘ diffusé par De l’Allemagne, dont on pourrait mettre des passages entiers en parallèle avec la Comédie Humaine. 27 Balzac entfernt sich nur wenig von allgemeinen Anschauungsmustern seiner Zeit, von den Trugbildern gegenüber Deutschland seit jenem Deutschlandbuch der Mme de Staël. Vielfach häuft Balzac Klischee auf Klischee, wenn er von den Deutschen spricht, die oft unaussprechliche Namen haben wie Schmucke (die Franzosen sagen „Schmück“) oder Walhenfer (ein Nudelfabrikant aus Aachen und Mordopfer in L’Auberge rouge). Sie sprechen eine knarrende Sprache, haben blonde Haare und blaue Augen, trinken Bier und Wein in großen Mengen, haben deutlichen Appetit, rauchen Tabakspfeifen, haben Blumentöpfe vor dem Fenster und pflegen die Gräber ihrer Lieben wie ihr Gärtchen. Ihr Charakter ist naiv und sentimental, sie sind titelsüchtig und obrigkeitshörig, langsam, tiefsinnig und dem Okkulten zugewandt und können aus jeder noch so kleinen Frage ein großes Problem machen, das sie dann mit Foliobänden zustellen. In der Lettre sur Kiew findet sich eine Fülle solcher Anschauungsbilder, die als Heterostereotypen auch immer in einem Bezug zu Autostereotypen stehen, selbst wenn sie ironisch formuliert sind: „Le Français est un être si exclusif, car à quoi lui servirait son esprit, si ce n’est à devenir exclusif, à regarder tout ce qui n’est pas français comme barbare“. 28 Die Beschwerlichkeiten der Reise über Hamm nach Hannover geraten dann zu einer Typologie des deutschen Transportwesens. „L’Allemagne […] c’est le pays le plus tire-laine que je sache“, schreibt Balzac und meint damit nichts Räuberisches, sondern wohl die Langsamkeit: So wird der „eil-wagen“ („le positif de la poste“) als „voiture-écrevisse“ dargestellt und die „schnell-post“ („le comparatif de la poste“) als „voiture colimaçon“, während die „extrapost“ („le superlatif de la poste“) wegen der vielen Wechsel an den Stationen aber von der „schnell-post“ überholt wird. 29 Und so ist auch der Deutsche: Während ein Franzose sich über manche Schikane aufregen würde („Quelle révolution cette opération n’eût-elle pas excitée en France? Il y aurait eu 26 ŒC XVI, S. 483. 27 Le Moigne: L’Image de l’Allemagne, S. 132. 28 ŒC XXIV, S. 546. 29 Ebd., S. 552. Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac. Ein Überblick als Einleitung 17 certainement une émeute.“), stopfen die Deutschen ihre Pfeife und rauchen sie in aller Ruhe: „Ce flegme, l’Allemand le pousse jusqu’à la sublimité“. 30 Für solche Gelassenheit bzw. auch für ein solch phlegmatisches Verhalten liefert Balzac dann auch gleich eine Anekdote, die ihm erzählt wurde. Das flache Norddeutschland wird schließlich zum pars pro toto für die deutschen Landschaften: „[L]es chemins en Allemagne sont très plats, sans montées fréquentes comme en France“. 31 Punktuelle Begegnungen mit Langsamkeit, jener „lenteur dont sont doués les Allemands“ 32 , und Phlegmatismus werden für Balzac zu einem gesamtdeutschen Charakteristikum: Là est toute l’Allemagne; cette gamme de prix se retrouve chez les aubergistes, chez les fabricants: partout vous rencontrez le positif, le comparatif et le superlatif. Presque tous les Allemands se contentent du comparatif, de la schnell-post; ils semblent avoir plusieurs jours à eux dans la journée, ils ont l’air de pouvoir faire des emprunts sur l’éternité. Et les communistes français s’imaginent insurrectionner l’Allemagne, et des Allemands fort spirituels, pleins de patriotisme, m’ont dit: ‚Attendez, quand cet ours lèvera la patte, il ne s’arrêtera pas! Souvenez-vous de Luther! ’ On ne fumait pas du temps de Luther, et Luther offrait, d’ailleurs, une proie à l’Allemagne, dans les biens écclésiastiques à partager. 33 Wenn Balzac dann bei einer falschen Gepäckverteilung sich mit Stock und Stimme laut bemerkbar macht, sieht er die Deutschen ganz überrascht von diesem „tapage français“ und stellt am Ende seinen Erfolg fest: „cette victoire de l’impatience française sur le flegme allemand“. 34 Eine längere Passage von Balzacs Sicht auf Deutschland in diesem Reisebericht verdient nähere Betrachtung: Vous pouvez me demander compte maintenant de mon silence sur toutes les villes que j’ai traversées, sur les pays; mais c’est que c’est partout la même plaine, la même ville, la ville allemande plus ou moins ressemblante à Wiesbaden, plus ou moins petite ou grande. Du Rhin aux Carpathes, c’est une plaine plus souvent sablonneuse que fertile. Le paysage français se revoit à Cracovie. (…) Hanovre, Magdebourg, Breslau, sont des villes dans le genre de Francfort. Berlin, que j’avais déjà vue, est très inférieure comme ville à Nantes. Jamais, quoique feront les rois de Prusse, ils ne pourront rendre Berlin amusante. Cette ville a l’air d’un dictionnaire, et quels que soient ses progrès, car elle gagne des habitants et de l’importance à renverser Vienne avant peu, Vienne sera toujours amusante et Berlin ennuyeuse. C’est, je crois, un effet du protestantisme. Berlin est, sous le rapport ennuyeux, germaine de Genève. La nature a tout fait pour Genève, et l’homme a tout défait. Jugez de ce que serait Genève, perdue dans un désert de sable, et vous aurez une idée de Berlin. Ce sera peut-être un jour la capitale de l’Allemagne, mais ce sera toujours la capitale de l’ennui. C’est cet 30 Ebd., S. 553. 31 Ebd., S. 554. 32 Ebd., S. 557. 33 Ebd., S. 554. 34 Ebd., S. 556. Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 18 ennui profond qui porte les rois de Prusse à coiffer leurs soldats avec des chaudrons à pointes, à varier les boutons de l’uniforme; ils cherchent à se divertir, ils jouent au soldat. Le génie prussien, qui remuera l’Allemagne a pour excitant perpétuel cette envie de se désennuyer à laquelle un beau matin les Allemands ont dû ce simulacre de constitution et d’assemblée où toute la monarchie a joui d’un charmant spectacle. Les députés n’ont pas compris, surtout ceux du Rhin, que le Roi de Prusse voulait uniquement se distraire, et quoique l’ordre équestre criât que c’était pour rire, les députés rhénans persistaient à faire les choses sérieusement. Les grands journaux français, qui connaissent peu Berlin, ont failli envenimer l’affaire, à cause des invectives extrêmement drôles du roi de Prusse contre la France. Ils ne voyaient pas la nécessité de rire si fort. Quand on traverse l’Allemagne avec cette rapidité de pigeon, qu’on voit le même champ plat pendant douze heures de jour, tout homme d’esprit comprendra que personne n’ait jamais parlé de ces tristes pays. On découvre alors pourquoi l’Allemagne est si fière du Rhin et du Danube, des environs de Dresde et de Baden: c’est que dans cette vaste étendue, il n’y a pas autre chose. Encore les beautés de Baden sont-elles un dernier coin de la Suisse, de même que les jolis paysages de Wurtemberg, la Thuringe et Dresde, sont les derniers plis des Alpes. 35 Man sieht hier den generalisierenden, verallgemeinernden Blick, der versucht, alles auf einen Nenner zu bringen: „partout la même pleine, partout la même ville“, „le même champ plat“ ganz im Gegensatz zu Frankreich als „ondulée et accidentée“. Man ist in Deutschland in „tristes pays“, und die Ausnahme, auf welche die Deutschen stolz sind, sind dann die Rhein- und Donaugegenden, während Baden-Baden eher schweizerisch ist und ansonsten ein paar Alpenausläufer da sind. Berlin ist der Inbegriff der deutschen Langeweile auch als Folge des Protestantismus, kein Buch des blühenden Lebens, sondern ein langweiliges „dictionnaire“; sollte Berlin einmal die deutsche Hauptstadt sein, wäre es „la capitale de l’ennui“. Und auch die Politik ist allein von dem „ennui profond“ geprägt, den man sich vertreiben will, sei es mit der Variation von Uniformknöpfen, sei es zur Zerstreuung einmal mit einem „simulacre de constitution et d’assemblée“, kurz: Deutschland ist zum Lachen, „c’était pour rire“, und man darf es nicht so ernst nehmen, wenn der preußische König mal wieder seine Beleidigungen loslässt, „invectives extrêmement drôles du roi de Prusse contre la France“. Trotz aller - oft im schnellen Durchlauf erlebten - konkreten Deutschland-Erfahrungen war sich Balzac aber auch darüber im Klaren, dass seine Bilder und nationalen Anschauungsmuster mehr oder weniger nur Konstrukte und Stereotypen sind; dass er Deutschland durch die französische Brille sieht, wovon er gewissermaßen auch spricht. 36 35 Ebd., S. 566f. 36 „… de le [= le pays russe, H.T.S.] voir à travers des lunettes anglaises ou parisiennes“ (Ebd., S. 545). Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac. Ein Überblick als Einleitung 19 Und so ist in den Illusions perdues einmal zu lesen (als ein sich als spanischer Abbé ausgebender Vautrin den jungen Lucien de Rubempré am Selbstmord hindert und ihm eine glänzende Karriere verspricht): Il se paya d’abord d’une raison vulgaire: les Espagnols sont généreux! L’Espagnol est généreux, comme l’Italien est empoisonneur et jaloux, comme le Français est léger, comme l’Allemand est franc, comme le Juif est ignoble, comme l’Anglais est noble. Renversez ces propositions, vous arriverez au vrai. Les Juifs ont accaparé l’or, ils écrivent Robert le Diable, ils jouent Phèdre, ils chantent Guillaume Tell, ils commandent des tableaux, ils élèvent des palais, ils écrivent Reisebilder et d’admirables poésies, ils sont plus puissants que jamais, leur religion est acceptée, enfin ils font crédit au Pape. En Allemagne, pour les moindres choses, on demande à un étranger: Avez-vous un contrat? tant on y fait des chicanes. En France, on applaudit depuis cinquante ans à la scène des stupidités nationales, on continue à porter d’inexplicables chapeaux, et le gouvernement ne change qu’à condition d’être toujours le même! … L’Angleterre déploie à la face du monde des perfidies dont l’horreur ne peut se comparer qu’à son avidité. L’Espagnol, après avoir eu l’or des deux Indes, n’a plus rien. Il n’y a pas de pays au monde où il y ait moins d’empoisonnements qu’en Italie, et ou les mœurs soient plus faciles et plus courtoises. Les Espagnols ont beaucoup vécu sur la réputation des Maures. 37 Was Balzac hier festhält, hat mit den „images“ eines anderen Landes oder eines anderen Volkes zu tun, mit den Anschauungsmustern des Fremden, mit Stereotypen. Ausgehend in den ersten Sätzen von einer „raison vulgaire“, einer doxa, gibt Balzac zunächst eine Auflistung von allgemeinen Anschauungsmustern. Diese benennt er dann sogleich als Stereotypen, wenn er im Folgenden die Umkehrbarkeit solcher Aussagen festhält und den Wahrheitscharakter eher am Gegenteil dieser Stereotypen festmacht: „Renversez ces propositions, vous arriverez au vrai.“ Damit wird deutlich, dass Balzac sich bewusst ist, dass er mit Anschauungsmustern operiert, die Konstrukte sind und die eigentlich bei der Frage nach dem Wahrheitsgehalt (le vrai) übergangen werden müssten. Und wie hier das Antithetische betont wird - in späteren Jahren wird in Frankreich das Bild der „deux Allemagnes“ populär werden - gerät auch der gerade bei den Deutschen herausgestellte offene, freimütige Charakter zum Gegenbild der Beschränktheit, Kleinlichkeit und Schikane, die nun betont werden. Der französischen Leichtigkeit und Flexibilität (als Auto- Stereotyp) treten hier Beschränktheit, Stagnation und Traditionalismus gegenüber. Auffällig ist auch, wie oft Balzac Deutsches und Jüdisches zusammenrückt. Dies geschieht hier ebenfalls, denn der Komponist der Oper Robert le Diable Giacomo Meyerbeer (der als deutscher Komponist mit dem eigentlichem Namen Jakob Liebmann Beer zum Meister der französischen Grand opéra wurde) und auch Heinrich Heine (Reisebilder) erscheinen als kulturelle 37 ŒC VII, S. 694. Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 20 Träger. Die beiden größten Bankiers von Paris, die in Balzacs Werk erscheinen, Nucingen und Keller, sind beide Elsässer mit deutschen Wurzeln und Juden. Ebenso auch Fritz Brunner aus Frankfurt, Mitbesitzer einer Bank, dem Balzac in Le Cousin Pons „beaucoup de juiverie“ also „judenmäßige Gerissenheit“ zuschreibt und den er mit der Typisierungsformel „un de ces“ als einen typischen Deutschen, als „figure typique de l’Allemagne“ so vorstellt: Ce héros […] était un de ces Allemands dont la figure contient à la fois la raillerie sombre du Méphistophélès de Goethe et la bonhomie des romans d’Auguste Lafontaine […]; la ruse et la naïveté, l’âpreté des comptoirs et le laissez-aller raisonné d’un membre du Jockey-Club; mais surtout le dégoût que met le pistolet à la main de Werther, beaucoup plus ennuyé des princes allemands que de Charlotte. C’était véritablement une figure typique de l’Allemagne: beaucoup de juiverie et beaucoup de simplicité, de la bêtise et du courage, un savoir qui produit l’ennui, une expérience que le moindre enfantillage rend inutile, l’abus de la bière et du tabac; mais pour relever toutes ces antithèses, une étincelle diabolique dans de beaux yeux bleus fatigués. (CH VII, 532) Die antagonistischen oder antithetischen Merkmale lassen sich schnell zusammenbringen: raillerie sombre vs. bonhomie (düsterer Hohn, dunkler Spott vs. Bravheit, Gutmütigkeit, Biederkeit), ruse vs. naïveté (Gerissenheit, List vs. Biederkeit, Einfalt, Unkompliziertheit), âpreté des comptoirs vs. laissezaller raisonné d’un membre du Jockey-Club (Steifheit der Büros vs. Ungezwungenheit, überlegene Lässigkeit), juiverie vs. simplicité (jüdische Durchtriebenheit vs. Schlichtheit), bêtise vs. courage (Sturheit vs. Mut), savoir qui produit de l’ennui vs. expérience que le moindre enfantillage rend inutile (Wissen, das der Langeweile günstig ist vs. Erfahrung, die bei der geringsten Kinderei ihren Wert verliert). 2 Deutschland und Balzac Wie ist nun Deutschland mit Balzac umgegangen, wer hat ihn gelesen und zeitgenössisch über ihn geurteilt, auf wen hat er gewirkt, wie wurde er übersetzt und ediert, wie sieht in Deutschland die wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Werk aus - dies sind Fragen, die nicht nur im Horizont einer Wirkungsgeschichte eine Rolle spielen, sondern auch mit interkulturellen Wahrnehmungsbildern und -prozessen innerhalb historischer Wechselwirkungen zwischen Frankreich und Deutschland zu tun haben. 2.1 Früher deutscher Ruhm Am 12. Oktober 1833 meldet Balzac seiner Schwester Laure voller Stolz, dass er im Salon des Baron Gérard in Paris drei deutsche Familien getroffen Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac. Ein Überblick als Einleitung 21 habe, die ihm voraussagten, er werde in Deutschland bald zum Star der europäischen Literatur avancieren, vor Byron, Walter Scott, Hoffmann und Goethe. Das war nicht ganz falsch, denn in der Tat war Balzac in den 30er und 40er Jahren in Deutschland ein Bestsellerautor und Gegenstand häufiger öffentlicher Berichterstattung. Einer der ersten, der seine Stimme erhob, war der 82-jährige Goethe. Er hatte La Peau de Chagrin am 10. Oktober 1831 zu lesen begonnen 38 und dem Werk in seinem Tagebuch einen Tag später 39 seine Weihe erteilt: Es ist ein vortreffliches Werk neuster Art, welches sich jedoch dadurch auszeichnet, daß es sich zwischen dem Unmöglichen und Unerträglichen mit Energie und Geschmack hin und her bewegt und das Wunderbare als Mittel, die merkwürdigsten Gesinnungen und Vorkommenheiten sehr consequent zu brauchen weiß, worüber sich im Einzelnen viel Gutes würde sagen lassen. 40 Las Goethe den Text auf Französisch, so musste das große Publikum nicht sehr lange warten, bis es Balzac auf Deutsch erwerben konnte. 1835/ 36 erschienen bei Rieger in Stuttgart vier Bände Erzählende Schriften, u.a. mit Vater Goriot und dem Landarzt. Übersetzer war der liberale Journalist und Schriftsteller Friedrich Seybold, der mit dieser und anderen Übersetzungen französischer Gegenwartsliteratur zugleich politische Ziele verband. Die französischen Romantiker waren zur Zielscheibe wütender Polemiken von konservativer Seite geworden, wo Kritiker wie Wolfgang Menzel sie für alle ‚Verderbtheiten’ der Moderne verantwortlich machten. Das hinderte das Publikum nicht im Geringsten daran, diese Autoren zu lesen und die Verleger nicht, sie in großem Umfang übersetzen und drucken zu lassen. Von Balzac erschienen in den 1830er und 40er Jahren nicht nur zahlreiche Einzelausgaben, sondern zwischen 1841 und 46 Sämmtliche Werke in 82 Bändchen im Quedlinburger Basse-Verlag, einer der berüchtigten „Übersetzungsfabriken“ der Zeit. Unter den Übersetzern findet man bekannte Namen wie Ludwig von Alvensleben, Ignaz Franz Castelli, Fanny Tarnow und Karl Theodor Winkler. In der Kritik läuft das Pro und Contra nicht unbedingt stets entlang den politischen Nahtstellen, auch wenn die Zustimmung aus dem liberalen Lager selbstverständlich überwiegt. Der Jungdeutsche Karl Gutzkow sieht in Balzac einen revolutionären Autor: 38 Eintrag am 10. Oktober: „Einiges weggearbeitet. Um 11 Uhr zum Manöver hinausgefahren mit der Familie und Vogel. Mittags mit Dr. Eckermann. Nachher La Peau de Chagrin zu lesen angefangen. Abends Ottilie.“ 39 Eintrag am 11. Oktober: „Obige französische Lectüre fortgesetzt (…) Ich las La Peau de Chagrin weiter und beschäftigte mich damit die übrige Zeit, wie ich denn in der Nacht auch mit dem 2. Theil fertig wurde.“ 40 Alle Tagebucheinträge aus: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Hendrik Birus [u.a.]. 40 Bde. Frankfurt 1987-1999, Abt. 2, Bd. 11, S. 474-475. Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 22 „Balzac ist der Dichter des Geldes“, schreibt er 1839, „einer neuen Maschinerie, die ihre Wunder hat, so gut wie das alte Epos.“ 41 2.2 Die großen Übersetzungsprojekte Nach 1850 geht das Interesse an französischer Literatur insgesamt zurück in Deutschland. Erst im Zuge der Naturalismusdebatte erinnert man sich wieder an Balzac. Der Reclam-Verlag in Leipzig bringt im Rahmen seiner populären Reihe „Reclams Universal-Bibliothek“ zwischen 1881 und 1888 sechs Bändchen heraus, die vielfach nachgedruckt werden. Der Vater Goriot gehört ebenso dazu wie Die Frau von dreißig Jahren und Das Chagrinleder. Dieser letzte Text ist in einer Neuübersetzung von 1991 unter den vier Bänden, die in der Universal-Bibliothek auch heute noch greifbar sind. Vor allem Balzacs 100. Geburtstag im Jahr 1899 und die in seinem Gefolge erschienenen Gedenkartikel haben dann auch andere Verlage an das brachliegende Feld der Menschlichen Komödie erinnert. So brachte der Insel- Verlag zwischen 1908 und 1911 eine umfangreiche Auswahl in 16 Bänden auf den Markt, für die Hugo von Hofmannsthal ein immer noch lesenswertes Vorwort schrieb und an der eine Reihe damals bekannter Autoren als Übersetzer mitarbeitete, u.a. Felix Paul Greve, Ernst Hardt, Hedwig Lachmann, Rene Schickele und Johannes Schlaf. Der Insel-Verlag koppelte aus dieser Gesamtübersetzung eine Reihe von Einzelausgaben für seine verschiedenen Reihen aus, und die Texte erscheinen bis heute unverändert als Insel-Taschenbücher. Von 1923 bis 25 gab es eine Neuauflage der Insel-Ausgabe in 10 Bänden. Grund waren einerseits Balzacs 75. Todestag 1925, andererseits und hauptsächlich aber der Umstand, dass der Rowohlt-Verlag ebenfalls 1923 damit begann, eine noch umfangreichere Neuübersetzung in verschiedenen Aufmachungen auf den Markt zu bringen, als prachtvolle Ganzlederausgabe, aber auch als preiswerte Volksausgabe. Die Rowohlt-Ausgabe ist bis heute die wirkungsvollste deutsche Balzac-Übersetzung. Ihre 44 Oktavbändchen umfassten einen sehr großen Teil von Balzacs Gesamtwerk, deutlich mehr als die Insel-Ausgabe, und der Verlag bot viele renommierte Mitarbeiter auf. Unter den insgesamt 27 Übersetzerinnen und Übersetzern waren immerhin Walter Benjamin, Otto Flake, Franz Hessel, Walter Mehring, Friedrich Sieburg, Paul Zech und Ernst Weiss. Nach dem 2. Weltkrieg erschien ein Reprint der Ausgabe (40 Bände zwischen 1952 und 1961). Später verkaufte Rowohlt die Rechte an den Schweizer Diogenes-Verlag, wo die Übersetzungen 1977 und 1998 jeweils in 40 Bändchen (plus ein Kommentarband) 41 Karl Gutzkow: Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur. 2 Bde. Stuttgart 1836, Bd 2, S. 37. Auch als Fasksimile-Druck nachlesbar in der Ausgabe des Frankfurter Athenäum-Verlags von 1973 oder unter http: / / books.google.de. Balzac und Deutschland - Deutschland und Balzac. Ein Überblick als Einleitung 23 erschienen, aufgemacht wie die Originalausgabe mit blauem Einband und rotem Rückenschild. Auch Diogenes brachte immer wieder Einzelbände und Zusammenstellungen heraus, zuletzt 2007 eine achtbändige Auswahlausgabe. So dominieren die alten Übersetzungen der Inselbzw. Rowohlt- Ausgabe aus den frühen 1920er Jahren bis heute den Markt, und eine Änderung scheint nicht in Sicht. Denn dem Vernehmen nach läuft das Buch- Geschäft mit Balzac schleppend. Neben solchen des Reclam-Verlages (in Stuttgart und Leipzig) gab es nach 1945 nur sehr vereinzelt Neuübersetzungen, etwa im Manesse-Verlag. Eine wirklich moderne Balzac- Übersetzung, die die Fortschritte der intensiven internationalen Balzac- Forschung der letzten Jahrzehnte berücksichtigt, lässt auf sich warten. 2.3 Die deutsche Kritik In der deutschen Kritik ragen einzelne Beiträge zu Balzac heraus, und es waren wie in Frankreich (Victor Hugo, Charles Baudelaire) oder England (Oscar Wilde) zunächst vor allem die Dichter, die den Autor am besten verstanden. Besonders erwähnenswert ist das Engagement Hugo von Hofmannsthals. Seinen Einführungsessay zur Insel-Ausgabe von 1908 rühmte Ernst Robert Curtius als „das Schönste, das Umfassendste, das Tiefste […] was je über Balzac gesagt wurde“. 42 1913 widmete der frühverstorbene expressionistische Dichter Ernst Stadler dem Erzähler und Romancier einen Text, den er zugleich seiner Werk-Auswahl als Vorwort voranstellte. 43 Und schließlich hat Stefan Zweig sich auch mit dieser großen Figur der Weltliteratur beschäftigt und ihm ein einfühlsames Buch gewidmet, das 1946 von Richard Friedenthal aus dem Nachlass herausgegeben wurde. 44 Die deutsche Romanistik hat mit der 1923 zuerst erschienenen Studie von Ernst Robert Curtius einen wichtigen frühen Beitrag zur Balzac-Forschung geliefert und den Autor und sein Werk bis heute mit unterschiedlicher Intensität begleitet. Gegenwärtig liegt Balzac nicht unbedingt im Forschungstrend. Auf zwei Punkte ist im Blick auf die Wirkung von Balzac in Deutschland noch hinzuweisen: Einerseits auf die große Fülle an illustrierten Ausgaben, die sein Werk insbesondere zwischen 1900 und 1930 evoziert hat, darunter solche von Künstlern wie Marcus Behmer, Lovis Corinth, Alfred Kubin und Hans Meid. Andererseits auf die vielen Verfilmungen, die es auch in Deutschland zu Stoffen von Balzac gegeben hat, und zwar von der Stumm- 42 Ernst Robert Curtius: Balzac. Bonn 1923, S. 411. 43 Das Balzac-Buch. Erzählungen und Novellen aus dem Französischen des Honoré de Balzac. Übers. und eingel. von Ernst Stadler. Leipzig 1913. 44 Stefan Zweig: Balzac. Frankfurt 1946. Bernd Kortländer / Hans T. Siepe 24 filmzeit bis heute. Gerade dieser Sprung in das moderne Medium zeigt, dass Balzac immer noch sein deutsches Publikum erreicht und die Fragen, die seine Bücher stellen, noch nicht beantwortet sind. Jan-Henrik Witthaus Elixiere der Ironie. Don Juan als emblematische Gestalt der Moderne in Honoré de Balzacs L’Élixir de longue vie 1 Hoffmann versus Balzac In einigen Zeilen patriotischer Literaturkritik des vorletzten Jahrhunderts findet sich eine stolze, nicht ganz unparteiische Gegenüberstellung der Autoren Honoré de Balzac und E.T.A. Hoffmann, die als Ausgangspunkt für die in der Folge behandelten Fragen geeignet ist. Balzac will in jeder Beziehung der französische Hoffmann seyn. Er ist unerschöpflich in Erfindungen, die auch er die Nachtseite des Lebens nennt. Er hat einen Bund mit dem Satan geschlossen, dessen Früchte seine Phantasiestücke, seine braunen Erzählungen, seine Elendsstelle sind. Aber was fehlt ihnen? Der Witz, der einem Hoffmann die Natur gab, die heitere, ironische Laune, die einen Janin so liebenswürdig macht, die Wahrheit des Lebens und der Natur, die man selbst in den grausamen Erzählungen eines Eugène Sue nicht vermissen wird. 1 Leider gehe Balzac, dem ‚Möchtegern-Hoffmann’ Frankreichs jeglicher Witz ab, aber auch die Ironie seines Zeitgenossen Jules Janin - ein Romancier und Literaturkritiker nebenbeigesagt, der heutzutage verglichen mit dem Verfasser der Comédie humaine sanft in der Gruft des Vergessens schlummert - erreiche er nimmer. 2 Weniger interessiert hier die Ungerechtigkeit des Urteils als die Attribute, die man Balzac abstreitet und die Hoffmann zugesprochen werden: Witz und Ironie. Wenn auch die Ironie hier primär Janin zugeteilt wird, so drängt sich doch ebenso Hoffmann als schriftstellerischer Kandidat auf, dem man seinerzeit in literarischen Dingen eine 1 Literaturblatt [redigiert von Wolfang Menzel], Nr. 19 [18.02.1933], S. 76 (= Beilage des Morgenblatt für gebildete Leser 27 (1933)). Rezensiert wird hier La Peau de chagrin. Diese Zeilen stammen mit Sicherheit von Karl Ferdinand Gutzkow, der sie in seinen Beiträgen zur Geschichte der Neuesten Literatur. 2 Bde. Stuttgart 1839, hier Bd. 2, S. 33f. wiederholt. Der Vergleich zwischen der phantastischen Literatur Hoffmanns und La Peau de chagrin ist jedoch durch die französische Literaturkritik weitgehend vorbereitet, vgl. hierzu Elizabeth Teichmann: La Fortune d’Hoffmann en France. Genf, Paris 1961, S. 75-77. 2 Jules Janin spielt in der französischen Rezeptionsgeschichte Hoffmanns selbst eine Rolle, vgl. hierzu Teichmann: La Fortune d’Hoffmann, S. 10, 69. Jan-Henrik Witthaus 26 ironische Gangart durchaus nachsagt. Kritisch gewandt liest man eine solche Einschätzung in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik. Hier bekleidet Hoffmann allerdings eine ziemlich unrühmliche Rolle: Vorzüglich jedoch ist in neuester Zeit die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten Dissonanzen durchgeht, Mode geworden und hat einen Humor der Abscheulichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie zuwege gebracht, in der sich [Ernst] Theodor [Amadeus] Hoffmann z.B. wohlgefiel. 3 Balzac hingegen wird noch heutzutage eher selten mit Ironie in Verbindung gebracht, dies lässt sich behaupten, selbst wenn man vorerst eine notwendige Bestimmung dieses Begriffs außen vor lässt. Zu sehr scheint seine Rezeptionsgeschichte vom eigenen Anspruch vorgeprägt zu sein, den Roman als seriöses Instrument wissenschaftlich-philosophischen Interesses zu etablieren, zu sehr in der deutschen Kritik Auerbachs Wendung von der „ernsten Darstellung des Alltäglichen“ nachzuwirken. 4 Gerade das, was Hegel an Anwürfen gegen die Vertreter der Ironie vorbringt, wäre mit Balzacs literarischem Selbstverständnis und der sich hieran anschließenden Rezeptionsgeschichte kaum zu vereinbaren: Darin liegt denn, daß es nicht nur nicht ernst sei mit dem Rechten, Sittlichen, Wahrhaften, sondern daß an dem Hohen und Besten nichts ist, indem es sich in seiner Erscheinung in Individuen, Charakteren, Handlungen selbst widerlegt und vernichtet und so die Ironie über sich selbst ist. 5 Gerade der philosophische Anspruch des Romans, den Balzac erfüllen möchte, würde demnach durch einen Mangel an Ernsthaftigkeit und moralischer Unzurechnungsfähigkeit unterwandert. Es überrascht daher kaum, 3 G.W.F. Hegel: „Vorlesungen über die Ästhetik I“. In: Ders.: Werke in 20 Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt/ Main 19786, hier Bd. 13, S. 289. 4 Vgl. Christèle Couleau-Maixent: Balzac. Le roman de l‘autorité. Un discours auctorial entre sérieux et ironie. Paris 2007, S. 782. Erich Auerbachs Aufsatz „Über die ernste Nachahmung des Alltäglichen“. Neu abgedruckt in: Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Hg. von Martin Treme, Karlheinz Barck. Berlin 2007, S. 439-465 bezieht sich zwar hauptsächlich auf Flaubert, dennoch sind die Ausführungen des Balzac-Kapitels in Mimesis unter der allgemeinen These von der Unterlaufung der überkommenen Stiltrennung verrechenbar. Vgl. zur Kontingenzbewältigung Rainer Warning: „Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comédie humaine“. In: Honoré de Balzac. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1980, S. 9-55. 5 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 97. In der Terminologie der Wertphilosophie, die bei Simmel zu einer Geldphilosophie wird, ist der legitime Nachfolger des Ironikers daher der Zyniker, für den alles einen Preis hat, der nur hochgenug sein muss: „Der Begriff des Marktpreises für Werte, die ihrem Wesen nach jede Schätzung außer der an ihren eigenen Kategorien und Idealen ablehnen, ist die vollendete Objektivierung dessen, was der Zynismus in subjektivem Reflex darstellt.“ (Georg Simmel: Philosophie des Geldes, S. 479). Elixiere der Ironie. Don Juan als emblematische Gestalt der Moderne 27 dass die Gefahr, welche die Ironie für den auktorialen Diskurs der Comédie humaine darstellt, schon in ihrem vielzitierten Paratext - dem Avant-propos - geradezu beschworen wird: Aussi, quand on voudra m’opposer à moi-même, se trouvera-t-il qu’on aura mal interprété quelque ironie, ou bien l’on rétorquera mal à propos contre moi le discours d’un de mes personnages, manœuvre particulière aux calomniateurs. (CH I, 12) 6 Ein leichtes, humorvolles, gar groteskes Abkommen von der direkten Straße der auktorialen Sinnübertragung scheint dem kommunikativen Impetus der Comédie humaine auf den ersten Blick wenig zuträglich und würde ebenso dem Anliegen moderner Kontingenzbewältigung zuwider handeln. 7 Nun ist neuerlich - dem skizzierten Balzac-Image zum Trotz - der in seinen Romanen unbestritten nachweisbaren Ironie in einer Studie Christèle Couleau-Maixent eine größere Aufmerksamkeit zuteil geworden. 8 Von ‚romantischer Ironie’ wird man hierbei allerdings nur mit Einschränkung sprechen können, denn jene Variante Friedrich Schlegels, welche die Hervorbringung des Kunstwerks in die Darstellung selbst mit eingehen lässt und dieses gleichsam in der Schwebe zwischen „Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ belässt, 9 steht bei Balzac zumindest nicht im Vordergrund. 10 Dennoch hat Couleau-Maixent - eine regelrechte Kennerin der Comédie humaine - plausibilisieren können, dass bisweilen sowohl in der Rede der Figuren als auch im auktorial Gesagten eine Ironie zu verzeichnen ist, die bewirkt, dass der Leser nicht einfach nur in der Belehrung überrannt, sondern in eine indirekte Kommunikation verwickelt wird, die seine Mitarbeit erfordert. Damit wird sie jedoch diskriminierend in dem Sinne, dass sie den verständigen Leser vom Ignoranten bzw. vom Kritikaster („calomniateurs“, s.o.) separiert. Dergestalt befindet sich Balzacs Ironie auf halbem Wege zu den elitären ‚Ironiegemeinschaften’, die - wie Rainer Warning gezeigt hat - Flaubert anstrebt. 11 6 Dagegen Hegel: „Deshalb denn auch von Seiten der Ironie die steten Klagen über Mangel an tiefem Sinn, Kunstansicht und Genie im Publikum, das diese Höhe der Ironie nicht verstehe; d.h. dem Publikum gefalle diese Gemeinheit und das zum Teil Läppische, zum Teil Charakterlose nicht.“ (Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 98). 7 Vgl. Rainer Warning: Chaos und Kosmos, S. 9-55. 8 Vgl. Couleau-Maixent: Balzac. Le roman de l‘autorité, S. 780-795. 9 Friedrich Schlegel: „Athenäums-Fragmente“ [51]. In: Ders.: Kritische Schriften und Fragmente [1798-1801]. Studienausgabe. Hg. von Ernst Behler, Hans Eichner. 6 Bde. Paderborn 1988, hier Bd. 2, S. 109. Vgl. Ernst Behler: Ironie und literarische Moderne. Paderborn 1997, S. 92-114. 10 Vgl. unten, Anm. 44. 11 Rainer Warning: „Der ironische Schein - Flaubert und die Ordnung der Diskurse“. In: Erzählforschung. Hg. von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1982, S. 290-318. Jan-Henrik Witthaus 28 Der so geebnete Weg wird auch in der Folge eingeschlagen, obschon in einer Detailbetrachtung, die sich auf Balzacs Don-Juan-Erzählung L’Élixir de longue vie zu beschränken hat. Dieser Text gehört zu den früheren Narrationen - er erscheint 1830 in der Revue de Paris, und erst 1846 wird er in den 15. Band der Comédie humaine integriert. Unter literaturhistorischen Gesichtspunkten mag daher ein ordnungsliebender Bibliothekar geneigt sein, ihn unter den ‚romantischen Frühwerken’ zu archivieren, wobei indes schon Ernst-Robert Curtius darauf hingewiesen hat, dass Balzac und die Romantik nur problematisch übereinkommen. 12 Auch hat man in L’Élixir de longue vie eine Vorstudie zu La Peau de chagrin gesehen 13 - ein Befund, der in eine solche Periodisierung immerhin passen könnte. Gleichwohl gelingt der Nachweis ‚romantischer Ironie’ im Fall der bewussten Erzählung nur punktuell. Eher schon mag man Charakteristika erkennen, die Hegel in seiner oben zitierten Kommentierung der ‚romantischen Ironie’ unbehaglich waren, diesem nämlich erscheint die ‚romantische Ironie’ gefährlich und in letzter Konsequenz ‚diabolisch’. Der Werdegang der Don-Juan-Figur inszeniert solcherart die Geburt eines Ironikers, personifiziert also die Form jener Ironie, welche laut Hegel „die Eitelkeit alles Sachlichen, Sittlichen und in sich Gehaltvollen, die Nichtigkeit alles Objektiven und an und für sich Geltenden“ vorstellt. 14 Der gestrenge Kunstkritiker Hegel bewegt sich weniger auf der Ebene des theoretischen Entwurfes Friedrich Schlegels, wie Ernst Behler gezeigt hat, sondern assoziiert mit der Negativität der „Selbstvernichtung“ auch den Freischein für die Unterwanderung des „in sich Gehaltvollen“ wie umgekehrt für die Darstellung des Nichtigen, Bösen und Hässlichen, an der sich Balzac freilich reichhaltig beteiligt hat. 15 Für Hegel stellt sich das Problem, dass der ironische Dichter potenziell amoralisch ist, und damit verfehlt der Philosoph womöglich die Originalität der „Transzendentalpoesie“, die zwar ihre Genealogie von der Philosophie herschreibt, jedoch zunächst einmal die Dichtung selbst betrifft. 16 Zugleich wird dabei 12 Vgl. Ernst Robert Curtius: Balzac. Frankfurt/ Main 1985, S. 304: „Die Romantik ist in Balzac, aber Balzac ist nicht in der Romantik.“ 13 Vgl. René Guise: „Balzac, Lecteur des ‹Élixirs du diable›“. In: L’Année balzacienne (1973), S. 57-67, hier S. 65. 14 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 96. Vgl. die Einschätzung Behlers. 15 Vgl. Behler: Ironie und literarische Moderne, S. 129: „Wollte man Hegels Kunstgeschmack auf der Grundlage seiner Vorlesungen über Ästhetik bestimmen, käme man zur Beobachtung einer ziemlich engstirnigen Vorliebe für das Traditionelle, Familiäre, das sich mit einer anklagenden Zensurierung alles Avant-Gardistischen, Neuen oder Nicht-Eingesessenen verbindet. Seine Ansichten über Tieck, Hofmann, Kleist, die Lucinde oder die romantische Ironie beweisen das zur genüge.“ 16 Schlegel: Athenäums-Fragmente [238], S. 127. Vgl. Behler: Ironie und literarische Moderne, S. 101, 126. Elixiere der Ironie. Don Juan als emblematische Gestalt der Moderne 29 Hegels Verdacht offenbar, dass der Dichter von der ironischen Verfasstheit seines Machwerks infiziert wird: Wer auf solchem Standpunkte göttlicher Genialität steht, blickt dann vornehm auf alle Menschen nieder, die für beschränkt und platt erklärt sind, insofern ihnen Recht, Sittlichkeit usf. noch als fest, verpflichtend und wesentlich gelten. 17 Hegels Argumentation mündet allzu häufig in Argumente ad personam ein. In diesem Mangel an Differenzierung erscheint jedoch eine Beschreibung der Ironie, die - wie sich zeigen soll - für die Erzählung L’Élixir de longue vie brauchbar ist. Denn wenn nun Balzacs Einordnung der Narration in das Korpus der Comédie humaine paratextuell alles bewerkstelligt, um den seriösen Gehalt der Erzählung zu bewahrheiten, so lässt sich der Verdacht nicht hinreichend entkräften, dass wenn nicht unbedingt der Autor selbst, wie Hegel argwöhnte, so doch immerhin der fortlaufende Erzähldiskurs von der ironischen Haltung seines Protagonisten - und das ist das Interessante - infiziert wird. Was also in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit erregt, ist die gleichzeitige Thematisierung und Anwendung von Ironie im Zusammenhang mit der expliziten Erwähnung eines von Hegel verachteten Vorbildes: E.T.A. Hoffmann. So heißt es im Vorwort Au lecteur mit Blick auf die nachfolgende Erzählung: „[…] c’est une fantaisie due à Hoffmann de Berlin, publiée dans quelque almanach d’Allemagne, et oubliée dans ses œuvres par les éditeurs.“ (CH XI, 473) Der besondere Reiz, mit der also die Frage nach Balzacs Ironie ausgestattet wird, besteht in der Wahl eines Textes, der vorgeblich einer intertextuellen Verflechtung mit Vorlagen E.T.A. Hoffmanns geschuldet ist, dem deutschen Gewährsmann für „Witz“ (Morgenblatt) oder „Fratzenhaftigkeit der Ironie“ (Hegel). Die inhaltlichen Referenztexte dieser Erzählung haben bereits eine weitgehende Klärung erfahren. Schon Curtius behandelt die Erzählung als Hoffmann-Imitation, die er mit einem unvorteilhaften Qualitätsurteil verbindet: „Unmittelbar nachgeahmt hat [Balzac Hoffmann, J.-H. W.] nur einmal - in L‘Elixir de longue vie, einem seiner schwächsten Werke“. 18 Die unvollständige Kürze der Einlassung scheint vorauszusetzen, dass das Vorbild die Elixiere des Teufels (1815) sind, die tatsächlich zunächst keinen Eingang in die französische Werkausgabe finden, wie dies ja mit Balzacs Hinweis aus der ‚Ansprache an den Leser’ übereinstimmt. Dennoch hat man als tatsächliche Quelle eine Erzählung aus Addisons/ Steeles Spectator ausfindig machen können, 19 so dass von ‚Nachahmung’ tatsächlich nur im 17 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, S. 95. 18 Curtius: Balzac, S. 302. 19 Vgl. Elizabeth Teichmann: „Une Source inconnue de L’Élixir de longue vie de Balzac“. In: Revue de littérature comparée 29 (1955), S. 536-538. Jan-Henrik Witthaus 30 Hinblick auf diese Vorlage zu sprechen ist. Darüber hinaus sind jedoch verschiedene Motive nachzuweisen, die sich mit Hoffmanns Elixieren des Teufels vergleichen lassen. 20 Die Präsenz von Hoffmann in Balzacs Erzählprosa ist bereits vielfach kommentiert worden, zumeist unter inhaltlichen Aspekten. 21 Jenseits dieser Fragen, bleiben insbesondere die Thematisierung und Umsetzung von Ironie zu behandeln, wobei sich herausstellen soll, dass neben den erwähnten Formen der Ironie, die Couleau-Maixent kommentiert, ein Ironietypus auftaucht den man diabolisch nennen könnte und der histoire wie discours der Erzählung prägt. Einerseits handelt sich um jene „Fratzenhaftigkeit der Ironie“, die Hegel geißelt und die im Schlussteil der Erzählung aufs Anschaulichste demonstriert wird. Aber dabei dreht es sich nicht allein um die Darstellung unappetitlicher Details. Vielmehr erweist sich andererseits die ‚diabolische Ironie’ als das Ergebnis einer Perspektivverschiebung, als ein Blick von einem „Standpunkte“ herab, wie Hegel sagte, und dieser wird anschaulich in Hoffmanns Elixieren des Teufels vorgeführt und erklärt. Zunächst jedoch scheint ein Blick auf die Erzählung selbst und auf Balzacs Adaption und exemplarischen Nutzbarmachung der Don-Juan-Thematik angezeigt. 2 Don Juan oder die Liebe zur Reflexion Seit einer famosen Kommentierung des Don Giovanni durch Sören Kierkegaard, entspricht es einer gängigen Auffassung der Stoffforschung, dass die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts den Typus des reflektierten Don Juan hervorbringt. 22 Die im Nachhinein beigebrachte Leitdifferenz hebt den modernen Verführer von seinen Vorgängern des Ancien Régime ab. Diese werden vorangetrieben durch die Leidenschaften und Affekte, jener ist geprägt durch eine vom sexuellen Begehren abstrahierende Reflexion. Es sei dahingestellt, ob diese Unterscheidung letztlich auch jene weitere Unterscheidung im Schlepptau zieht, die in Foucaults Geschichte der Sexualität Don 20 Vgl. Guise: Balzac, Lecteur des ‹Élixirs du diable›. 21 Dabei spart Balzac nicht mit Abgrenzungsgesten. Vgl. Lucie Wanuffel: „Présence d’Hoffmann dans les Œuvres de Balzac (1829-1835)“. In: L’Année Balzacienne (1970), S. 45-56; Teichmann: La Fortune d’Hoffmann, S. 75. Eine Filiation zwischen beiden Autoren wird insbesondere über das Thema des Künstlers und der Kunst hergestellt, vgl. Kurt Wais: „Autour du conflit de l’art et de la vie. Résonance hoffmanesque dans l’œuvre de Balzac“. In: Hommage au Doyen Etienne Gros. Hg. von Faculté des Lettres et Sciences Humaines d’Aix-en-Provence. Aix-en-Provence 1959, S. 219-234; Andrea Hübener: Kreisler in Frankreich. E.T.A. Hoffmann und die französischen Romantiker. Heidelberg 2004, S. 180-192. 22 Sören Kierkegaards findet die Inspiration für seine Deutung bei Mozarts, vgl. Hiltrud Gnüg: Don Juan. Ein Mythos der Neuzeit. Bielefeld 1993, S. 65-85. Jan-Henrik Witthaus 32 Hofe Ferraras, sie spielt im 16. Jahrhundert. Der bereits auf das Erbe spekulierende Sohn Don Juan Belvidéro wird von seinem Vater Bartholoméo ersucht, nach seinem nahenden Ableben seinen Leichnam mit einem magischen Elixier einzureiben, der ihm die Wiederauferstehung verspricht. Ungläubig träufelt Don Juan die Flüssigkeit auf das Auge des toten Vaters, das sich augenblicklich öffnet. Überrascht von der Wirkung beansprucht er nunmehr das Elixier für sich selbst und drückt seinem Erzeuger das Auge ein. Dem Parizid lässt Don Juan Belvidéro ein Leben der Ausschweifung folgen, das jedoch in der Ruhelosigkeit und Unterbietung großer Erwartung bittere Erkenntnis bereithält. Der grenzenlose Reichtum, der gesellschaftliche Einfluss, die maßlose Hingabe an die Sinnesfreuden und ein zweites Leben in der Reserve, welches das Elixier verspricht, führen nicht zur Erfüllung und Einlösung allen Strebens. Der moderne Don Juan lässt sich ins Faustische konvertieren. Entgegen anderer Versionen des Mythos, in denen der Verführer durch die Statue des Komtors zur Strecke gebracht wird, endet L’Élixir de longue vie damit, dass sich Belvidéro in Spanien niederlässt und dort eine fromme Andalusierin ehelicht. Seinen ebenso frommen Sohn Philippe gewinnt er für das entsprechende Vorhaben, seinem Leichnam die magische Flüssigkeit aufzutragen. Der folgsame Sprössling kommt diesem Anliegen nach, wird jedoch in der Durchführung aufgehalten, so sehr lässt er sich von dem wiedererwachenden Körper des Vaters erschrecken. Der gesalbte Kopf wird zum Leben erweckt und der bereits eingeriebene Arm langt gierig nach dem Elixier, das jedoch zu Boden fällt und unwiederbringlich verschüttet wird. Den ortsansässigen Spaniern will der halb reanimierte Körper des Toten als Wunder erscheinen. Daher werden binnen kürzester Zeit alle notwendigen Vorkehrungen getroffen, um im Kloster San Lucar die Heiligsprechung Belvidéros zu vollziehen. Die Zeremonie gerät zur vollendeten Farce. Der unbotmäßige Schädel Don Juans begleitet die Gebete der Geistlichen mit unflätigen Flüchen und Spottreden. Schließlich trennt sich der Kopf ab, fällt auf das Haupt des danieder knieenden Abtes und verbeißt sich in diesem. Mit dem Tod des Abtes findet nunmehr die Zeremonie der Apotheose wie die gesamte Erzählung ein äußerst groteskes Ende. 3 Figuration der Geschichte Anreize, Don Juans Lebensweg als Fabel zu lesen, erhält der Leser vor allem in dem Paratext, welcher der Erzählung vorangestellt ist. Die nachfolgende Narration, so heißt es dort, gehe nicht nur auf E.T.A. Hoffmann zurück. 25 25 In der ersten Version befindet sich der Großteil des Wortlautes im Zentrum der Erzählung. Mit seiner Einordnung in das Korpus der Comédie humaine befördert Balzac Elixiere der Ironie. Don Juan als emblematische Gestalt der Moderne 33 Verwiesen wird auch auf La Fontaine, der ja auch schon vorhandene Motive und Konfigurationen aufgriff, um ihnen durch seine dichterische Gestaltung neuen philosophischen Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig distanziert sich das Ich des Paratextes von der um 1830 grassierenden Mode, junge Mädchen mit Schauergeschichten zu erschrecken, was letztlich wiederum indirekt auf E.T.A. Hoffmann zurückverweist und die eigene Erzählung vom vermeintlichen Vorbild abheben soll. Die selbst gewählte Gattungsbezeichnung Étude, philosophische Studie also, verleiht dem Text direkt zu Beginn einen Verweisungscharakter, der vom bloßen Syntagma einer Narration mit Spannungsbogen und Unterhaltungszwecken absieht. Mit der erzählten Karriere eines gottlosen Schürzenjägers verbindet sich also die Intention, mehr zu sagen, als gesagt wird. Was jedoch mehr gesagt sein soll, das erschließt sich auf Grundlage einer Reihe von Hinweisen. So bezieht sich der sozialkritische Seitenblick auf Balzac zeitgenössische Verhältnisse, die unaufhaltsame Ökonomisierung der gesellschaftlichen Sphäre, die auch in anderen Texten der Comédie humaine mit äußerster Skepsis betrachtet wird. Im Zentrum stehen die Interessenslagen und Strategien, die das Mysterium des Todes im Kontext des ökonomischen Kalküls vollends profanisieren: Leibesrenten, Nutzbrauchverträge, Allianzen mit altersschwachen Goldeseln etc. Der nachrevolutionären Gesellschaft mangelt es an Pietät, und in dieser grassierenden wirtschaftlichen Versachlichung der sozialen Beziehungen stehen diese selbst auf dem Spiel, weil sich im Tod des Nächsten der Profit eingenistet hat: Je désirais que des peseurs-jurés de conscience examinassent quel degré de similitude il peut exister entre don Juan et les pères qui marient leurs enfants à cause des espérances? La société humaine, qui marche, à entendre quelques philosophes, dans une voie de progrès, considère-t-elle comme un pas vers le bien, l’art d’attendre les trépas? (CH XI, 473) Man ist versucht, jene ‚Kunst, auf den Tod zu warten’, als eine Art Todes- Politik zu bezeichnen, die sich als Auswuchs der biopolitischen Dispositive des Versicherungswesens und einsetzender Sozialsysteme, die Francois Ewald beschrieben hat, 26 herauspräparieren lässt. Der Ökonomisierung des Todes hat Balzac in anderen Erzählungen beredten Ausdruck verliehen, so in Ferragus, in dem gegen Ende der Friedhof Père-Lachaise und seine Organisation als kafkaeskes, bürokratisches Monstrum beschrieben werden. Bekannter noch dürfte der Tod des Père Goriot sein, der vollends im Zeichen der mangelnden finanziellen Mittel steht, die dem verlassenen Vater ein würdevolles Begräbnis ermöglicht hätten. Stehen in diesen Beispielen ihn in den einleitenden Paratext. Vgl. Guise: Balzac, Lecteur des ‹Élixirs du diable›, S. 59f. 26 Vgl. François Ewald: L‘Etat Providence. Paris 1986. Jan-Henrik Witthaus 34 Dignität und Pietät auf dem Spiel, so scheint die Don-Juan-Geschichte von der Integration des Todes in eine individuelle Interessens- und Finanzpolitik zu handeln. Der allgemeine Fortschritt, der unverkennbar mit den philosophes der Aufklärung assoziiert wird, erhält eine gegenphilosophische Studie, in der der Vatermörder Don Juan und die Eltern, die ihre Töchter mit alternden, todgeweihten Geldgebern verheiraten, in unmittelbare Nachbarschaft geraten. Damit wird jedoch das eigentlich sexuelle Begehren in weiteren Begehrensstrukturen aufgehoben, die als ökonomische gekennzeichnet sind. Zwischen Don Juan und die Frauen rückt das Geld. 27 Aber nicht nur das Geld, sondern mit ihm sämtliche Strategien, den Tod im Leben zu bearbeiten. Denn gerade das Elixier wie in seiner Kehrseite das Chagrin- Leder bezeichnen ja die Tendenz einer Zeit, das Leben unter Maßgabe von Energiehaushalten zu konzeptualisieren, deren exzessive Verausgabungen zum Lebensende bzw. zum Tod führen. Das Lebenselixier erfüllt einerseits die Wunschvorstellung einer Epoche, welche andererseits in ihrem Exponenten Balzac die Grenzen des Lebens bildhaft im Chagrin-Leder zum Ausdruck bringt. 28 Donjuaneske Zustände beschreiben also die Gegenwart. Dennoch ist die Geschichte Don Juans der Vorzeit angehörig. Der Auftakt, der sich dem Paratext anschließt, spart nicht mit Zeichensetzung, die den Ablauf der Handlung in einer Epoche situiert, die nur noch im Status des Vergangenen erfahrbar wird. Eine orgiastische Festivität wird abgehalten. Belvidéro, gibt ein Mahl zu Ehren des Fürsten d’Este und hat zudem sieben Kurtisanen hinzugeladen. Derlei Veranstaltungen vollzogen sich dazumal in heute unvorstellbar prunkvollem Interieur wie Luxus: „A cette époque, une fête était un merveilleux spectacle que de royales richesses ou la puissance d’un seigneur pouvaient seules ordonner.“ (CH XI, 475) Das Repräsentationsverlangen des Adels ermögliche einen gegenwärtig kaum zu realisierenden Schauplatz des lasterhaften Geschehens, der zum Lustgewinn nicht unerheblich beiträgt. Er markiert das Damals des Heute. Aber Luxus und Luxuria werden nicht bedenkenlos investiert. Die diabolische Verschwendung und die sexuelle Überschreitung erfolgen im Bewusstsein der Sündhaftigkeit, sie stehen im Zeichen des Gewissens. Entsprechend lässt die dritte der anonym aufgezählten Kurtisanen verlauten, sie gebe sich dem 27 Dass auch das Geld schon in der Herkunft der Stoffgeschichte nachweisbar ist, lesen wir bei Hans-Hagen Hildebrandt: „Don Juan - Das Geld und die Macht. El Burlador de Sevilla y Convidado de piedra“. In: Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit. Hg. von Roland Galle, Rudolf Behrens. Heidelberg 2000, S. 289-306. 28 Vgl. Thomas Stöber: Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus-Naturalismus. Tübingen 2006, S. 51-90. Stöber unterscheidet zwischen ‚romantischer’ und ‚vitalistischer’ Energetik, wobei die Metaphorik des Chagrin- Leders dem romantischen Modell zuzuordnen sei. Elixiere der Ironie. Don Juan als emblematische Gestalt der Moderne 35 Liebhaber nur um den Preis innerer Folter und Ängste hin: „Je suis catholique, et j’ai peur de l’enfer. Mais je vous aime tant, oh! Tant et tant, que je puis vous sacrifier l’éternité.“ (CH XI, 475) Die ganze Würde der Opfer des Libertinage, die aus freien Stücken ihr Seelenheil der Verwirklichung ihres Liebesaffekts opfern, versammelt sich in diesem Satz. An Madame de Tourvel aus den Liaisons dangereuses mag man sich erinnert fühlen. Aber die Artifitialität und Klischeehaftigkeit des Ausspruchs bei Balzac gibt deutlich zu erkennen, dass die Mentalität, für die er steht, nicht mehr existiert. Die orgiastische Szene des Eingangs und ihr evoziertes historisches Dekor eines rinascimentalen Italiens erhält die Patina des christlichen Vorbehalts, dem Don Juan weit voraus ist. Denn auf die Frage der siebten Kurtisane, wann denn wohl der Vater Belvidéros das Zeitliche segnen werde, antwortet dieser, es gebe wohl einen einzigen unsterblichen Vater auf der ganzen Welt und er habe das Unglück, dessen Sohn zu sein. Die Abendgesellschaft ist schockiert: „Les sept courtisanes de Ferrare, les amis de don Juan et le prince lui-même jetèrent un cri d’horreur. Deux cents ans après et sous Louis XV, les gens de bon goût eussent ri de cette saillie.“(CH XI, 476) Der Eingang vermittelt die Perspektivität historischen Bewusstseins in den Strategien, Zustände zu beschreiben, die unwiederbringlich verloren sind. Enfant terrible ist Don Juan, der jener Epoche erwächst, ihr jedoch voraus ist in der Pietätlosigkeit, die in der Moderne strukturell verankert sein wird. Nun verhält es sich jedoch so, dass die in der Don-Juan- Geschichte angelegte familiäre Konfiguration zum Ausgangspunkt der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse gerät. Der Weg des diesseitigen Genusses und seiner Wiederauflage im zweiten Leben führt über die Leiche des Vaters. Ein dem dramatischen Stoff beigeordnetes Thema erhält also nunmehr den leitenden Stellenwert. Die notorische Vielweiberei indes wird zum bloßen Nebeneffekt eines Charakters, der in seiner Vorgeschichte eine fundamentalere Analyse erfährt. Die Schlüsselszene einer solchen Anamnese erhält der Leser von L’Élixir de longue vie im Parrizid, in dem Belvidéro das reanimierte Auge des Vaters blendet. Der Vatermord erweist sich im Arrangement des phantastischen Sujets als metonymische Engführung über die Ausschaltung einer Beobachtungsinstanz, von welcher sich der Sohn befreit. Toutes les passions humaines s’y agitaient. C’était les supplications les plus tendres: une colère de roi, puis l’amour d’une jeune fille demandant grâce à ses bourreaux; enfin le regard profond que jette un homme sur les hommes en gravissant la dernière marche de l’échafaud. […] La chambre était parsemée de pointes pleines de feu, de vie, d’intelligence. Partout brillaient des yeux qui aboyaient après lui! (CH XI, 484) Im reanimierten Auge des Vaters versammelt sich die Instanz des Gewissens, der Text verschweigt dies kaum, in ihm verkörpert sich der Zorn Jan-Henrik Witthaus 36 des Königs („une colère de roi“), die Liebe eines Mädchens, das die Gnade ihrer Henker erbittet („demandant grâce à ses bourreaux“), der tiefe Blick, den ein Verurteilter beim Gang zum Schafott den Menschen zuwirft („le regard profond que jette un homme sur les hommes en gravissant la dernière marche de l’échafaud.“). 29 Die Figur Don Juans wird umcodiert. Der Wortlaut verwebt die sexuelle Verführung und die geschichtliche Umwälzung, die Revolution und die Hinrichtung der Väter, die hier mehr als deutlich über das konnotative Feld - König, Henker, Schafott - aufgerufen werden. 30 Entsprechend findet Belvidéro zur donjuanesken Existenzform erst in dem Moment, als er seinen Vater beigesetzt hat. Seine rückhaltlose Analyse, sein Blick, der die Welt seziert und die Menschen und ihre Affekte auseinandersetzt, erhält die Bedingung seiner Möglichkeit erst in der Beseitigung des Blickes, der ihn selbst situiert hatte. Gibt es diesen nicht länger, so ist Don Juan die Bühne bereitet: Son regard profondément scrutateur pénétra dans le principe de la vie sociale, et embrassa d’autant mieux le monde qu’il le voyait à travers un tombeau. Il analysa les hommes et les choses pour en finir d’une seul fois avec le Passé, représenté par l’Histoire; avec le Présent, configuré par la Loi; avec l’Avenir, dévoilé par les Religions. Il prit l’âme et la matière, les jeta dans un creuset, n’y trouva rien, et dès lors il devint DON JUAN! (CH XI, 485) Der Blick auf die Welt führt durch das Grab des Vaters oder über seine Leiche hinweg. Sein Tod ermöglicht ein schonungsloses Wissen, das die Auflösung aller gängigen Gewissheiten betreibt, welche durch Tradition, Gesetz und Religion bereitgestellt waren. 31 Seele und Materie werden in den ‚Schmelztiegel’ („creuset“) geworfen. Die Existenzform Don Juans geht daraus hervor. 29 Umgedeutet in eine Semiotik des Zwinkerns wird das Auge des Vaters mit der Figur des alten Bonapartisten Nortier de Villefort in Alexandre Dumas’ Le Comte de Monte- Cristo (1844-46). 30 Vgl. zu dieser Thematik ausführlich: René-Alexandre Courteix: Balzac et la Révolution française. Paris 1997. 31 Der Platz des Vaters und der Parrizid wären also hier im weitesten Sinne zu beschreiben mit Pierre Legendre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Lektionen VIII. Freiburg/ Breisgau 1998, S. 27-37; Ders.: Sur la question dogmatique en Occident. Aspects théoriques. Paris 1999, S. 28-33. In diesem Sinne ist zu überlegen, ob Balzacs Erzählung den biopolitischen Tendenzen seiner Zeit, die sich im Elixier metonymisch verdichten, nicht das alte Prinzip der genealogischen Ordnung, das sich mit Legendre im Vater verkörpert, entgegenhält. Zu den konzeptuellen Differenzen zwischen Legendre und Foucault vgl. Legendre: Sur la question dogmatique, S. 179ff., Manfred Schneider: „Forum internum - Forum externum. Institutionstheorien des Geständnisses.“ In: Sozialgeschichte des Geständnisses. Zum Wandel der Geständniskultur. Hg. von Jo Reichertz, Manfred Schneider. Wiesbaden 2007, S. 23-41, hier S. 33-41. Jan-Henrik Witthaus 38 lässigende Vorlage für eine solchergestalt ‚diabolische Ironie’ dar. 33 Eine Frage des Standpunktes ist es hier, die zur Ironie verhilft. Sich und die anderen von oben herab zu betrachten, ermuntert zu Hochmut und Spott. In Hoffmans Elixieren plant die libertine Euphemie - ihrerseits eine unverkennbare Wiedergängerin der Merteuil aus den Liaisons dangereuses - zusammen mit Medardus, den sie für den Grafen Viktorin hält - der wiederum an den Vicomte de Valmont erinnert -, den Untergang ihres Stiefsohnes Hermogen und dann ihres Gemahls. Der Weltgeistliche Reinhold beschreibt sie mit folgenden Worten: „Nächstdem schwebte oft um ihren sonst weich geformten Mund eine gehässige Ironie, die mich, da es oft der grellste Ausdruck des hämischen Hohns war, im Innersten erbeben machte.“ 34 Sie selbst fasst ihren Lebensentwurf wie folgt zusammen: Du, Viktorin, gehörtest von jeher zu den wenigen, die mich ganz verstanden, auch du hattest dir den Standpunkt über dein Selbst gestellt, und ich verschmähte es daher nicht, dich wie den königlichen Gemahl auf meinen Thron im höheren Reiche zu erheben. Das Geheimnis erhöhte den Reiz dieses Bundes, und unsere scheinbare Trennung diente nur dazu, unserer phantastischen Laune Raum zu geben, die wie zu unserer Ergötzlichkeit mit den untergeordneten Verhältnissen des gemeinen Alltagslebens spielte. 35 Das eigene Selbst von den sozialen Bezügen zu entheben und die Umwelt nur als Instrumentarium jenes Lustgewinns wahrzunehmen, der in der Überheblichkeit liegt, steht im Gravitationszentrum eines so verfassten Universums. Erinnern wir uns en passant, dass Hegel dem ironischen Dichter ein Gleiches vorwarf. Und wie schon auf eindrückliche Weise Laclos‘ Liaisons dangereuses lehren, ist in diesem Gravitationszentrum nur Platz für Alleinherrscher. Dies geht aus Viktorins alias Medardus‘ inneren Gegenrede hervor: Es war etwas Übermenschliches in mein Wesen getreten, das mich plötzlich auf einen Standpunkt erhob, von dem mir alles in anderm Verhältnis, in anderer Farbe als sonst erschien. Die Geistesstärke, die Macht über das Leben, womit Euphemie prahlte, war mir des bittersten Hohns würdig. In dem Augenblick, daß die Elende ihr loses, unbedachtes Spiel mit den gefährlichsten Verknüpfungen 33 Einen weiteren möglichen Referenztext bildet die zweite Erzählung von Hoffmanns Nachtstücken, „Ignaz Denner“, in der das Thema des Lebenselixiers auf grausame Weise behandelt wird, handelt es sich doch um das Blut von neun Wochen oder neun Monate alten Kindern, welches das Leben des Doktor Trabacchio und seines Sohnes verlängern soll. Allein der Begriff der Ironie taucht in dieser Erzählung, die sicherlich zu den dunkelsten Narrationen Hoffmanns gehört, nicht auf. 34 E.T.A. Hoffmann: „Die Elixiere des Teufels“. In: Sämtliche Werke, Bd. 2/ 2, S. 67. 35 Ebd., S. 80. Elixiere der Ironie. Don Juan als emblematische Gestalt der Moderne 39 des Lebens zu treiben wähnte, war sie hingegeben dem Zufall oder dem bösen Verhängnis, das meine Hand leitete. 36 Medardus erhebt sich über den Standpunkt der Baronesse, die sich ihrerseits auf erhabener Höhe wähnte. Die Ironie ist eine Frage des Blickwinkels, der höhnischem Wissen von Nichtwissen gleichkommt. Der Mönch auf Abwegen separiert die Gespielin und ihren „Standpunkt“ vom eigenen „Standpunkt“. Dass diejenige, die sich außerordentlich wissend wähnt, eigentlich unwissend ist, erhöht dabei den Reiz. Arroganz, Wissen und Hohn verschmelzen zu ‚diabolischer Ironie’. 37 Diese gibt Medardus auch in einer entsprechenden Reaktion zu erkennen, als man ihm später ein Gemälde Aureliens zeigt, auf welche ja sein Begehren ausgerichtet ist: Man sprach viel von den Gemälden des fremden Malers und vorzüglich von dem seltnen Ausdruck, den er seinen Porträts zu geben wüßte; es war mir möglich, in dies Lob einzustimmen und mit einem besondern Glanz des Ausdrucks, der nur der Reflex der höhnenden Ironie war, die in meinem Innern wie verzehrendes Feuer brannte, die unnennbaren Reize, die über Aureliens frommes, engelschönes Gesicht verbreitet, zu schildern. 38 Die Engelsgleichheit des Modells war Medardus Anlass genug zur versuchten Verführung und Erniedrigung. In diesem Wissen wirkt sein Loblied lustfördernd in der Dynamik, die sich aus der Ignoranz des Publikums ergibt. Balzac gestaltet diese Vorgaben um, indem er den Vatermord zum Ausgangspunkt der ironischen Welthaltung stilisiert. Der Parrizid bezeichnet die entscheidende Peripetie, die der Daseinsform Don Juans den Stempel aufdrückt. Und keineswegs beschränkt sich das Anwendungsfeld entgrenzter Ironie auf den zwischengeschlechtlichen Interaktionsbereich. Deswegen erscheint eine solche nicht weniger ‚diabolisch’ als in den Elixieren des Teufels. Die ganze Welt der Gesellschaft und der Geschichte ersteht als Betrachtungsfeld, das aus der sozialen Analyse - und entsprechend von einem höheren „Standpunkt“ hinabblickend - die Ironie hervorgehen lässt. In der Interpretation der politischen Geschichte entwickelt der Text von Balzac eine fürchterliche Genealogie monumentalischer Historie, die dem Bereich des literarisch Imaginären - Dom Juan, Faust, Manfred - eine Serie historischer Personen an die Seite stellt: Mirabeau, Bonaparte, Richelieu und Rabelais. Diese merkwürdig anmutende Serie rechtfertigt sich in der 36 Ebd., S. 84. 37 Mir ist nicht bekannt, ob eine Begriffsprägung der ‚diabolischen Ironie’ bereits umfassend erfolgt ist. Blickt man allerdings auch auf die Figur des Mephistopheles in Goethes Faust, entsteht durchaus der Eindruck, dass eine breitere Untersuchung dieses Phänomens sicherlich lohnenswert wäre. 38 Hoffmann: Die Elixiere des Teufels, S. 115. Jan-Henrik Witthaus 40 Haltung zur Welt, die als ironische charakterisiert wird: „de presser l’univers dans une ironie, comme le divin Rabelais […].“(CH XI, 487) Ein solches Unterfangen, das gesamte Universum in der Ironie einzuklammern, nennt Ernst Behler eine „Ironie der Welt“. 39 Nach Balzac sind es derlei Ironiker, die den Gang der Dinge lenken, und so markieren in dieser eigentümlichen geschichts-philosophischen Sicht jene historischen Gestalten den Weg in die Moderne, so wird von Don Juan Belvidéro gesagt, er antizipiere sie in seiner Existenz: „Mais le génie profond de don Juan Belvidéro résuma, par avance, tous ces génies. Il se joua de tout. Sa vie était une moquerie qui embrassait hommes, choses, institutions, idées.“ 40 Das zeitliche Paradox der Formulierung bringt auf den Punkt, in welcher Weise Balzac Don Juan als historische Reflexionsfigur umformuliert. Dieser resümiert im Voraus die Varianten seiner Nachfolger. Gleichsam wird hierdurch sein quasi mythischer Stellenwert aufs Neue beschworen, denn neben Faust, Manfred und anderen bezeichnet er nur einen Typus, wenn man so will eine ideal-typische Vorstellung dessen, was sich dann historisch verkörpert. Dies hat allerdings zufolge, dass sich in der Erzählung, deren Protagonist Don Juan ist, die Ironie einschleicht, die anderweitig Bestandteil des donjuanesken Charakters ist. Dies mag überraschen, zumal die durch den Paratext beigebrachte Intention keinerlei Scherze verdient: Beklagt wird nichts weniger als die Pietätlosigkeit der Moderne, die Instrumentalisierung des Todes und des Erbens. Die Behandlung eines solchen Themas verdient keinerlei moquerie. Dennoch lässt sich beobachten, dass Don Juans Ironie infektiös ist und auf den Text zurückwirkt, der seine Geschichte ist. Dieser Aspekt verdient abschließend eine Betrachtung. 5 Die Einnistung ‚fratzenhaft-diabolischer Ironie’ im kulturell Anderen Der Erzähler von L’Élixir de longue vie kann über Don Juan nur in der Form eine Rede anstimmen, in der klar wird, dass sie nicht unvorbelastet ist. Mit anderen Worten: Der Erzähler muss zu erkennen geben, dass es sich um einen schon breit bearbeiteten Mythos handelt, und hierin liegt das punktuelle Aufscheinen der im engeren Sinne ‚romantischen Ironie’, eben weil die Literaturgeschichte, der die Erzählung aufruht, als Transzendentalie mit thematisiert wird. 41 Namhafte Literaten haben sich bereits an dieser Figur versucht: Molière, Mozart, Goethe, Byron. Don Juan ist eine Erfindung 39 Behler: Ironie und literarische Moderne, S. 232-242. 40 Ebd. 41 Vgl. Behler: Ironie und literarische Moderne, S. 110. Elixiere der Ironie. Don Juan als emblematische Gestalt der Moderne 41 der Literatur. 42 Indem der hohe Bekanntheitsgrad des Stoffes vorausgesetzt wird, kann mit der Kohärenz einer Handlung, die sich im europäischen Geschichten-Haushalt als nachgerade mythische bewährt hat, nur mit Augenzwinkern gebrochen werden. So rechnet Balzac mit dem Wissen seiner Leser. Zunächst wird bedeutet: Don Juan sei kein Spanier, sondern italienischer Herkunft. Dies ist nun noch nicht besonders kühn, war doch der Don-Juan-Stoff nicht nur durch die Commedia dell’arte modifiziert worden, deren Adaptionen Molière geläufig waren. Zudem hatten Mozart/ Da Ponte der Figur eine italienische Stimme verliehen, die für ihre Rezeption im 19. Jahrhundert maßgeblich sein wird. Bemerkenswert ist also weniger der Umstand, dass Don Juan in Wahrheit Italiener sei, sondern eher schon die Entwicklung, dass er ein zugezogener Wahlspanier wird und sich in dieser Eigenschaft aus der vorherrschenden Perspektive der Erzählung heraus als archetypischer Anti-Spanier entfaltet. Im Milieu wahrer Frömmigkeit und Religiosität erlangt sein Spott die entscheidende Durchschlagskraft und Reichweite. Zentraler dürfte jedoch ein weiterer Aspekt sein: Der alternde Don Juan hat in der traditionellen Stoffgeschichte die Qualität eines Oxymorons. Der Frauenheld muss jung zugrunde gehen, damit die Ordnung in ihrer Transzendenz wiederhergestellt werden kann. Aus der Eile seiner Umtriebigkeit ergibt sich die postwendende Strafe, die ihm in der Urform des Burlador de Sevilla y convidado de piedra noch nicht einmal die finale Gelegenheit zur Beichte einräumt, 43 wie umgekehrt in der Jugend des Helden sich das Bewusstsein äußert, zum Bereuen noch viel Zeit zu haben („Qué largo me lo fiáis“). 44 Ein betagter Spötter der weiblichen Ehre bezeichnet die säkularisierte Variante seiner eigenen Hölle auf Erden, die eben darin besteht, seinem eigenen Ideal und Mythos nicht mehr zu entsprechen. Eine Abänderung dieses konstitutiven Bestandteils der Handlung kann nur in der Nachträglichkeit einer langen Stoffgeschichte erfolgen und ist noch im Gestus, der ihr seine transzendente Auflösung abschneidet, ironisch. 42 Dies mag man behaupten, auch wenn es für die ‚Urfassung’ im Burlador de Sevilla gesellschaftliche Vorbilder gegeben hat. 43 Vgl. V. 2957f.: „D ON J UAN . Deja que llame/ quien me confiese y absuelva./ D ON G ONZALO . No hay lugar, ya acuerdas tarde“. In: Atribuida a Tirso de Molina, El burlador de Sevilla. Hg. von Alfredo Rodríguez López Vázquez. 18. Auflage. Madrid 2010, S. 255. Vgl. zur neu entbrannten Diskussion um die Autorenschaft des Stückes Manfred Tietz: „Tirso de Molina oder Andrés de Claramonte: Zur Debatte um den Schöpfer des Don Juan-Mythos und den wahren Autor des Burlador de Sevilla.“ In: Gewalt im Drama und auf der Bühne. Festschrift für Günter Ahrends zum 60. Geburtstag. Hg. von Hans-Jürgen Diller, Uwe-Karsten Ketelsen, Hans-Ulrich Seener. Tübingen 1998, S. 189-206. 44 Vgl. z.B. V. 995, El Burlador de Sevilla, ebd., S. 177. Jan-Henrik Witthaus 42 Toutefois cette légende n’est pas entreprise pour fournir des matériaux à ceux qui voudront écrire des mémoires sur la vie de don Juan, elle est destinée à prouver aux honnêtes gens que Belvidéro n’est pas mort dans son duel avec une pierre, comme veulent le faire croire quelques lithographes. (CH XI, 488) Dieser Passus spottet der Stoffgeschichte, der er aufliegt. Natürlich geht es nicht darum, irgendwelchen Biographen Material zu liefern, geschweige den Beweis anzutreten, dass der Held nicht im Duell mit einer steinernen Statue umgekommen sei. Ein solches Vorhaben dementiert geradezu den hehren Anspruch des Vorwortes. Zudem ist die Annahme, dass lediglich ‚einige Lithographen’ die Legende vom steinernen Gast in die Welt gesetzt hätten, offensichtlich untertrieben. Schon die Schlusswendung der Erzählung kündigt an, dass der philosophischen Studie ein Ende beschert sein wird, das im Zeichen der Ironie steht. Don Juans Finale in Spanien erinnert an die Eingangsnovelle von Giovanni Boccaccios Decamerone, die mit der Kanonisierung des Erzschurken Ciapelletto endet. Wie schon angedeutet, schlägt in L’Élixir de longue vie der Versuch der vollständigen Wiederherstellung des Protagonisten fehl. Allein der Kopf erhält die Ölung, die ihn wiederbelebt. Der ansässige Klerus des andalusischen Ortes San Lucar, in dem Belvidéro seinen Lebensabend zubrachte, zeigt sich geneigt, die Teilerweckung als Wunder anzuerkennen und den Libertin heilig zu sprechen. Nun gehört nicht allzu große Sensibilität dazu, Balzacs ironische Distanz zu dem in Spanien besonders ausgeprägten Heiligenkult mit zu rezipieren: „Le goût des Espagnols pour ces sortes de solennités est si connu […].“(CH XI, 492) Im Modus der Alteritätsbetrachtung lässt die Darstellung der Ironie die Zügel schießen. Sie ist eben, wie Hegel und Hoffmann lehren, eine Frage des ‚Standpunktes’, und die Perspektive, die nunmehr eingenommen wird, erfolgt über die Pyrenäen hinweg, die schon über das ganze 18. Jahrhundert die kulturelle Wetterscheide zwischen beiden Nationen markierten. Das Wunder der defizitären Auferstehung, die schon für sich genommen kurios genug anmutet, spricht sich schnell von Dorf zu Dorf rum. Heerscharen strömen herbei, um an der Apotheose teilzunehmen: „[…] ce fut déjà une comédie que de voir les curieux par les chemins; ils vinrent de tous côtés, affriandés par un Te Deum chanté aux flambeaux.“ (CH XI, 492) Das Schauspiel leichtgläubiger Einheimischer wird in der Folge näher beschrieben: „Pressés comme des fourmis, des hidalgos en manteaux de velours, et armés de leurs bonnes épées, se tenaient debout autour des piliers, sans trouver de place pour plier leurs genoux qui ne se pliaient que là.“ (CH XI, 493) Dieser Satz wie auch die folgenden evoziert die sich versammelnde Gesellschaft mit allen Registern der gängigen internationalen Gemeinplätze. Der in Samt gehüllte Hidalgo, mit dem Degen an der Seite und stets bereit das Knie zu beugen, eröffnet die Reihe. Bäuerinnen, feurige Thomas Amos „Une histoire allemande qui nous fasse bien peur“. Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge Obwohl Balzac die Niederschrift voll Elan angeht - „Je suis en ce moment à cheval sur un crime, et je mange, je me couche dans L’Auberge rouge […]“, 1 - erweist sich, um in seinem Bild zu bleiben, der Hippogryph diesmal als wenig verlässlich. Den insgesamt keineswegs einfachen Entstehungsprozess, 2 der Anfang Mai 1831 begonnenen, am 10. und 27. August gleichen Jahres von der Revue de Paris abgedruckten und später in den 18. Band der Études philosophiques aufgenommenen Erzählung kommentiert Balzac in einem Brief vom 18. August: „J´ai en ce moment un malheureux article intitulé L’Auberge rouge et je suis depuis trois mois accroupi devant ce sujetlà.“ 3 Man geht recht, in der spasmodischen, für den Autor so atypischen Schreibhaltung und der Distanzierung vom Thema ein produktionsästhetisches Indiz zu erkennen, das sich seinerseits in den Stilprinzipien Heterogenität und Betonung der Form niederschlägt. Der Text selbst bestätigt diese Annahme bereits in seiner verschachtelt angelegten Makrostruktur, hinter der sich ein sorgsam kalkuliertes Kompositionsschema verbirgt. Die intermittente Rahmenerzählung 4 besteht aus folgenden Segmenten: einem handlungslosen Anfangsrahmen (vgl. CH XI, 89-92), der Binnenerzählung mit dem Titel „L’Idée et le Fait“ (vgl. ebd., 92-112) mit sechs Zwischenrahmungen unterschiedlicher Länge und dem Endrahmen mit Handlung, „Les Deux Justices“ (vgl. ebd., 112-122) überschrieben. Diese segmentierte Struktur erstreckt sich auch auf den Inhalt. L’Auberge rouge ist insofern eine (Rahmen-)Erzählung besonderer Art, als Anfangs- und Endrahmen mit der Binnenerzählung derart miteinander verschränkt sind, dass erstens die erzählten Begebenheiten Reaktionen auf der Ebene des Rahmens hervorrufen und zweitens die Folgen der erzählten Handlung im Endrahmen ihren Niederschlag finden und dort den Nukleus einer weiteren 1 Brief an Charles-Henri-Félix Rabou vom 18. Mai 1831. In: Honoré de Balzac: Correspondance. Hg. von Roger Pierrot. 5 Bde. Paris 1960-1969, hier Bd. 1, S. 530. 2 Vgl. den Kommentar in CH XI, S. 1241-1244. 3 Brief an den Journalisten und Samuel Henry Berthoud vom 18. August 1831. In: Balzac: Correspondance, Bd. 5, S. 814. 4 Zur (innerhalb der Narratologie uneinheitlich verwendeten) Terminologie der Rahmenerzählung vgl. Andreas Jäggi: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage. Bern 1994, S. 54ff. Thomas Amos 46 (Fragment bleibenden) Erzählung gerieren. Die üblicherweise für die Rahmenerzählung geltenden, strikt separierten Bereiche von Zuhören und Erzählen, Betrachten/ Kommentieren und Agieren sind mithin aufgehoben, d.h. die der Rahmenerzählung per se eigene metafiktionale Neigung ist hier besonders stark ausgeprägt. Nicht weniger mysteriös bietet sich die histoire-Ebene mit dem Verbrechen dar. Worum geht es genau? Nach einem Abendessen in Paris erzählt der deutsche Kaufmann Herrmann von einem merkwürdigen Mordfall, der sich 1799, etwa dreißig Jahre zuvor, in Deutschland, in Andernach am Rhein zutrug. Dort findet man in der Roten Herberge einen reichen Manufakturbesitzer aus Aachen namens Walhenfer eines Morgens mit abgetrenntem Kopf auf; die von ihm mitgeführte große Summe Goldes und Diamanten ist verschwunden. Für die Tat verurteilt und dann hingerichtet wird Prosper Magnan, einer von zwei ebenfalls einquartierten französischen Militärchirurgen, obwohl er bis zuletzt leugnet, Walhenfer ermordet zu haben. Er könne sich allenfalls vorstellen, in einem somnambulen Anfall den Mann umgebracht zu haben, so Magnan gegenüber seinem Mithäftling Hermann, der wegen anti-französischer Umtriebe inhaftiert ist; doch damit findet Magnan vor den Richtern kein Gehör. Von seinem Kameraden namens Frédéric Taillefer fehlt jede Spur. Während Herrmanns Erzählung entnimmt der Ich-Erzähler der Reaktion eines der Anwesenden, dass er jener Taillefer sein muss, der mit dem gestohlenen Geld in Paris zu beträchtlichem Wohlstand gelangte; allerdings leidet er, wie man erfährt, an einer geheimnisvollen Nervenkrankheit, der er bald darauf erliegt. Als sich der Erzähler einige Zeit später in die mit reicher Mitgift ausgestattete Tochter Taillefers verliebt, fragt er sich, ob er jetzt, nachdem er die Herkunft des Vermögens kennt, diese Verbindung eingehen kann. Die Mehrheit seiner Freunde rät zur Heirat mit dem zynischen Hinweis, dass man nach der Herkunft eines Vermögens nicht fragen solle. Balzac bezieht in L’Auberge rouge konträre Genres, nämlich Kriminalgeschichte, philosophische Erzählung, Gesellschaftsstudie, romantische Schauergeschichte, mehr oder minder explizit ein. Dieses kombinatorische Verfahren ist zwar grundsätzlich typisch für die französische Romantik, anders aber als bei Aloysius Bertrand, der mit Gaspard de la nuit (1842) die hybride Gattung des Prosagedichtes begründet, setzt Balzac den Amalgamierungsprozess nicht konsequent um. Die inhaltlichen Elemente und Versatzstücke des jeweiligen Genres bleiben unverbunden und weiterhin deutlich erkennbar. Literarhistorisch gesehen, behandelt und verhandelt Balzac die beiden großen Strömungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - den sich nach der Bataille d’Hernani vom Februar 1830 geräuschvoll etablierenden Romantisme und den Realismus, den im gleichen Jahr die Spiegel-Metapher in Stendhals Le Rouge et le Noir bündig veranschaulicht. 5 5 Vgl. Stendhal: Le Rouge et le Noir. Paris 1964, S. 98. Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge 47 Romantik und Realismus bilden, auf die Rahmenteile und die Binnenerzählung verteilt, in selbstreferentieller Hinsicht die wichtigsten der zahlreichen, den Text durchziehenden Oppositionen. Da seit den 1828 in Frankreich erschienenen Erzählungen E.T.A. Hoffmann als zentraler deutscher Referenzautor für den Romantisme dient und beinahe als Synonym für die deutsche romantische Literatur gilt, tritt zur literarischen Opposition Romantik/ Realismus die nationale oder nationalliterarische Komplementäropposition Deutschland/ Frankreich hinzu, die sich jeweils in Schauplatz, Figuren und Thematik auffächert. Als La Peau de chagrin am 6. August 1831 herauskommt, unmittelbar gefolgt von L’Auberge rouge, ist die Hoffmann- Begeisterung, ja Hoffmann-Mode in Frankreich auf ihrem Höhepunkt angelangt. 6 Die im Roman deutliche, nach einer Synthese strebende, doch schließlich ambivalent bleibende Haltung des Autors zu Realismus und Phantastik entgeht den zeitgenössischen Rezensenten nicht. So heißt es im Figaro: „[…] ce n’est rien moins que se constituer le Voltaire et le Hoffmann de la littérature“, 7 und die Gazette littéraire schreibt: „Il y aurait à faire, à propos de ce livre, tout un traité du fantastique, depuis le fantastique satirique et philosophique de Rabelais, jusqu’au fantastique vide, creux, maladif et quelquefois sublime de Hoffman (sic).“ 8 Der Begriff des Phantastischen ist, möglicherweise mit Absicht, undefiniert und weit gefasst, was die Erwähnung der zusammen mit Hoffmann erwähnten Autoren, Voltaire und Rabelais, zeigt. Eine Provinzzeitung, die Gazette de Franche-Comté, benennt hingegen klar die von Hoffmann übernommene Verbindung von Realität und Phantastischem in Balzacs Roman: „Comme dans Hoffmann, une trame surnaturelle et fantastique s’y déroule au milieu des événements de la vie positive.“ 9 Ausgehend von der Feststellung, dass Frankreich und Deutschland bzw. weiter ausdifferenziert, die französische und die deutsche Literatur die beiden fundamentalen Balzacs Text durchziehenden Oppositionen darstellen, 10 spüren die folgenden Ausführungen dem metafiktionalen Diskurs nach, der bezeichnenderweise in einem scheinbar marginalen Teil des Textes, an seinem Rand, d.h. im Anfangsrahmen, am nachhaltigsten geführt wird, bevor er in der Binnenerzählung zur praktischen Umsetzung gelangt. Sam Weber hat in seiner dekonstruktivistischen Lektüre von La 6 Diese Phase dauert von Juli 1830 bis Dezember 1833, vgl. Elizabeth Teichmann: La Fortune d´Hoffmann en France. Genf, Paris 1961, S. 54-132. 7 Le Figaro vom 8. August 1831, zit. n. Teichmann: La Fortune d‘Hoffmann, S. 75. 8 Gazette littéraire vom 11. August 1831, zit. n. ebd., S. 76. 9 Gazette de Franche-Comté vom 13. August 1831, zit. n. Teichmann: La Fortune d‘Hoffmann, S. 77. 10 Weitere, dieser Grundkonstellation untergeordnete Oppositionen kommen hinzu, das sind beispielsweise: Vergangenheit/ Gegenwart, Krieg/ Frieden, Großstadt/ Kleinstadt, Stadt/ Natur, Verbrechen/ Sühne, Jugend/ Alter, so dass man zu Recht von einer kontrastiven Grundstruktur sprechen könnte. Thomas Amos 48 Peau de chagrin, Unwrapping Balzac. A reading of „La Peau de Chagrin“ (1979), das Auspacken, Auswickeln, Entblättern des Textes zur selbstreferentiellen Titel-Metapher seiner Abhandlung gemacht. Gleiches soll hier, wenn auch in bescheidenerem Umfang mit einer sicherlich weniger gewichtigen Erzählung Balzacs versucht werden, deren experimentellerem, ludischerem Charakter indes Gerechtigkeit wiederfährt. Bereits der Anfangsrahmen integriert sämtliche Strukturmerkmale der Rahmenerzählung in den metafiktionalen Diskurs, das sind: der (extradiegetisch-homodiegetische 11 ) Erzähler des Rahmens, der (intradiegetischhomodiegetische) Binnenerzähler, die Zuhörer der Binnenerzählung, die Zuhörerfigur, die den Impuls zur Binnenerzählung gibt sowie die Charakterisierung der Binnenerzählung. Die für L’Auberge rouge auf inhaltlicher und formaler Ebene bezeichnende Tendenz zur komplexen Struktur bzw. zur Enigmatisierung manifestiert sich bereits in der inkohärenten Präsentation und der scheinbar beliebigen Anordnung dieser metafiktionalen Parameter: Der Rahmentext an sich erprobt mithin ein wesentliches Charakteristikum der Romantik, zumal der französischen, nämlich die Neigung zu Deformation und Disproportionierung, zum Fragment. Unmittelbar nach dem Eröffnungssatz mit seiner basalen Skizzierung der zeitlichen, räumlichen und sozialen Koordinaten - ein Pariser Bankier veranstaltet ein Abendessen zu Ehren seines deutschen Geschäftspartners - widmet sich der Erzähler sogleich dem aus Nürnberg stammenden Gast, dem späteren Erzähler der Binnenerzählung: „Cet ami […] était un bon gros Allemand, homme de goût et d’érudition, homme de pipe surtout, ayant une belle, une large figure nurembergeoise, au front carré, bien découvert et décoré de quelques cheveux blonds assez rares.“ (CH XI, 89) Das freundlichwohlwollend gezeichnete Bild dieses reichen, etwas behäbigen deutschen Kaufmanns, das nichtsdestotrotz einige Leerstellen aufweist, ergänzt sich um sein Verhalten bei Tisch („L’étranger riait avec simplesse, écoutait attentivement […]“, ebd.), wobei zusätzlich der „tudesque appétit“ (ebd.) Erwähnung findet. Geschildert wird also ein deutscher Bonhomme, der - nicht zuletzt da er der gleichen sozialen Schicht, dem Großbürgertum, entstammt - von den Franzosen akzeptiert ist. Ausdrücklich gezeigt wird hier der „bon allemand“, wie der Erzähler ihn an dieser Stelle zum ersten Mal nennt - und dabei den „mauvais allemand“ oder „méchant allemand“ impliziert. Nach dieser lediglich gewisse vorgebliche oder tatsächliche physiognomische Kennzeichen und Gewohnheiten aufführenden Kurzdeskription erklärt der Erzähler, dass man hier den Deutschen schlechthin (und weniger eine individuell ausgestaltete Figur) vor sich habe, eben „le type des enfants de cette pure et noble Germanie, si fertile en caractères 11 Verwiesen sei komplettierend auf die weitgehend etablierten Termini von Gérard Genette (vgl. Ders.: Nouveau discours du récit. Paris 1983, S. 77-89). Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge 49 honorables, et dont les paisibles mœurs ne se sont jamais démenties, mêmes après sept invasions.“ (ebd.) 12 Die scheinbar beiläufig eingeschobene Eloge aus französischer Sicht auf „Germanien“ überrascht durch die dem Land insgesamt zugeschriebene Friedfertigkeit, denn selbst wenn man berücksichtigt, dass das Königreich Bayern, woher der Nürnberger stammt, dem pro-napoleonisch eingestellten Rheinbund angehörte, geht dieses Urteil mit historischen Fakten recht frei um. Tatsächlich bestand noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit zwischen Frankreich und dem ominösen „Germanien“ ein höchst angespanntes Verhältnis, das im Krieg Frankreichs gegen Preußen (1806) und den Befreiungskriegen europaweite Umbrüche, u.a. den Sturz Napoleons zeitigte. Die Frage, welchen Zweck diese wahlweise als ahistorisch oder unbedarft aufzufassende Wahrnehmung verfolgt, beantwortet der umgehend fortgesetzte, sehr elegant mit der Figur des deutschen Kaufmanns verbundene historische Diskurs. Auf eine weitgehende, nunmehr literarische Typisierung deutet nämlich, so der Erzähler, zudem bereits der Name des Gastes hin, der die erste Metalepse 13 des Rahmens erlaubt: „Il se nommait Hermann, comme presque tous les Allemands mis en scène par les auteurs.“ (CH XI, 89) Nach dem Usus der Romantik erfüllt die Metalepse eine stark illusionsdurchbrechende, den fiktiven, auch artifiziellen Charakter der Figur betonende Funktion. Darüber hinaus scheint mit der Wendung „mis en scène“ ein dramatisches Moment bzw. Element innerhalb des mit der Erwähnung des Namens ebenfalls einsetzenden metafiktionalen Diskurses auf, sei es als ebenfalls zeittypische Hybridisierung von Drama und narrativem Text mit dem Ziel des Gesamtkunstwerks, sei es mit der Intention, die grundsätzliche Nähe von Novelle und Drama bedeuten zu wollen. 14 Und schließlich fällt der Metalepse hier eine weitere Aufgabe zu, nämlich im Kontext des Satzes dessen Aussage hervorzuheben - und dadurch leitet der narrative Trick, ganz nach seiner Art, den Wechsel 12 Ein aufschlussreicher intertextueller Bezug bzw. eine beinahe wörtliche Übernahme der Nationalcharakteristik findet sich in der „Préface“ von Mme de Staëls für das Deutschlandbild der Franzosen so folgenreichen Schrift De l´Allemagne (1813): „[…] cependant il se sera peut-être doux à cette pauvre et noble Allemagne de se rappeler ses richesses intellectuelles au milieu des ravages de la guerre. [Hervorhebung T.A.]“, Madame de Staël: De l’Allemagne. Chronolgie et introduction par Simone Balayé. Paris 1967, S. 4. 13 Genette bezeichnet als Metalepse den Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen (vgl.: Ders.: Figures III. Paris 1972, S. 243-251 u. ders.: Métalepse: de la figure à la fiction. Paris 2004). 14 Zu dieser oft bemerkten Nähe vgl. neuerdings Wolfgang Rath: Die Novelle. Konzept und Geschichte. 2. Aufl. Göttingen 2008, S. 15-23, der statt des Nachweises der Dramentektonik in der Novelle, wie ihn die ältere Novellenforschung am bekannten fünfteiligen Modell von Gustav Freytag zu erbringen bestrebt war, den „Einsatz dramatischer Aspekte zur Komposition einer kürzeren Prosa, die eine Handlung reflektiert darbietet“ (S. 15) hervorhebt. Daraus resultiere die nahe Verwandtschaft zwischen Drama und Novelle, die eine „Ersatzfunktion“ (S. 21) übernimmt. Thomas Amos 50 der Ebenen ein, von der Fiktion zur (historischen) Realität, denn dem damals angeblich bei (deutschen oder französischen? ) Autoren für Figuren deutscher Herkunft so beliebten (Vor- oder Nach-)Namen wohnt ein konkreter Zeitbezug inne. Anlässlich der sich in den Freiheitskriegen konstituierenden nationalen Identität Deutschlands erfährt der legendäre Cheruskerfürst Arminius eine quasi-mythische Erhöhung zum pseudohistorischen „Volksheiland Hermann“, 15 der, modellhafter Heros mit gewaltiger Strahlkraft, in der Varusschlacht (9 n. Chr.) die Römer besiegte, wobei von deutscher Seite zwischen 1813 und 1815 die Analogie zwischen Römern und den französischen Besatzern unentwegt propagandistisch herausgestellt wird. Die Etymologie des Namens Hermann, der aus dem Althochdeutschen stammt und „Krieger, Kämpfer“ meint, scheint eine camouflierte Allegorie des zeitgenössischen Deutschen signalisieren zu wollen, jedoch entpuppt sich (der ohnehin so positiv geschilderte) Hermann im Folgenden keineswegs als ein chauvinistischer Franzosenfresser; vielmehr wird er sich später in der Rolle des Erzählers zu einer Richterinstanz verwandeln. Für den zeitgenössischen deutschen Leser, der die „Franzosenzeit“ sehr wohl erinnert, ist „Hermann“ ein sprechender Name; dem französischen Leser wie der Pariser Abendgesellschaft sind die impliziten (zeit-)historischen Dimensionen bzw. das zum Klischee geronnene Bild des aggressiven Deutschen ohne Zweifel ebenfalls bekannt, ungleich wichtiger aber: Sie interessieren nicht. Das protokapitalistische Bürgertum der Juli- Monarchie zieht es längst vor, mit den Ländern jenseits des Rheins Handel zu treiben, und diesen Deutschen, mehr Geschäftspartner denn Freund oder Feind, vertritt exemplarisch Hermann. Gleicherweise kurz umreißt der homodiegetische Erzähler das gesellige Beisammensein, seit Boccaccio der traditionelle Ausgangspunkt novellistischen Erzählens und hier bestehend aus einer verhältnismäßig kleinen, noch um die Tafel versammelten Abendgesellschaft. 16 Während Hoffmann die unerlässlichen, Zuhörer wie Leser einstimmenden Bedingungen für die ideale Rezeption aufführt - „[…] es ist nun einmal ausgemacht, daß Herbst, 15 Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum. Nachdruck der Ausgabe von 1813. Hildesheim/ New York 1980, S. 389. 16 Die Abendgesellschaft als Zuhörerschaft ist in der deutschsprachigen Literatur für Rahmenerzählungen eher untypisch. A. Jäggis Textkorpus, das 109 Rahmenerzählungen zwischen 1778 und 1900 abdeckt, stellt einen bescheidenen Anteil von rund zehn Prozent fest, der auch im Realismus keinen Zuwachs verzeichnet (vgl. Jäggi: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert, S. 262-267). E.T.A. Hoffmanns Zyklus Die Serapionsbrüder (1819-21), die wichtigste Referenzsammlung der deutschen Romantik, bildet mit fünf Figuren einen recht intimen Kreis. - Das mondäne Leben kennt Balzac zur Genüge; während der Niederschrift von L´Auberge rouge besucht er u.a. den Salon von Charles Nodier (vgl. Roger Pierrot: Honoré de Balzac. Paris 1994, S. 187f.), der mit einem Artikel „Du Fantastique en littérature“ in der Revue de Paris vom 28. November 1830 vehement für Hoffmann Partei ergreift. Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge 51 Sturmwind, Kaminfeuer und Punsch ganz eigentlich zusammengehören, um die heimlichsten Schauer in unserem Innern aufzuregen.“ 17 -, wählt Balzac eine nüchterne Umgebung. Das Speisezimmer bildet mit grauen, mit Veduten der Schweiz geschmückten Wänden (vgl. CH XI, 90) einen durch seine Ausstattung allenfalls minimal gestimmten Raum, 18 gewissermaßen eine neutrale, denkbar zurückhaltend ausgestattete Bühne, die den denkbar unauffälligen und realistischen, in der Realität verankerten Schauplatz für die Binnenerzählung, das erzählte Drama abgibt. Zu einem gewissen Grad atmosphärisch aufgeladen wird der Raum durch die Gäste und ihre Stimmung; dabei genügen die Erwähnung ihres sozialen Status sowie zwei nichtssagende Adjektive („quelques amis intimes, capitalistes ou commerçants, plusieurs femmes aimables, jolies“, CH XI, 89). Wenn der Erzähler nun mit erneuter Metalepse, diesmal in Form einer dreimaligen Leseranrede, die Anwesenden indirekt charakterisiert, offenbaren diese Nebenfiguren aus der Hochfinanz eine tiefere, beunruhigende Dimension: „Vraiment, si vous aviez pu voir, comme j’en eus le plaisir, cette joyeuse réunion de gens qui avaient rentré leurs griffes commerciales pour spéculer sur les plaisirs de la vie, il vous eût été difficile de haïr les escomptes usuraires ou de maudire les faillites.“ (CH XI, 89f.) Die Metapher „griffes commerciales“ verweist auf eine weiterhin latent präsente dualistische, von der Romantik präferierte Figurenkonzeption, die allem Anschein nach ad libitum den Wechsel zwischen bürgerlicher und komplementärer tierischer Identität erlaubt. Offeriert beispielsweise E.T.A. Hoffmanns Phantastik zu wiederholten Malen die numinose Identität seiner Figuren als Möglichkeit - Lindhorst ist im Goldnen Topf (1814) zugleich bürgerlicher Archivarius und Geisterfürst, der sich in einen (solaren) Adler zu verwandeln vermag -, hat die dezente Tier-Metaphorik bei Balzac jedes verunsichernde Moment verloren und ist zur durchsichtigen, latent gesellschaftskritisch intendierten Allegorie nicht des Philisters, sondern des Kapitalisten geworden bzw., aus romantischer Perspektive, herabgekommen. Beträchtlich mehr Nachdruck verwendet der Erzähler darauf, die physische und psychische Verfassung der Gäste wiederzugeben. Nach dem Dessert, „à ce moment de déclin“ (CH XI, 90), sieht er die idealen Voraussetzungen für eine Geschichte gegeben: „Nous aimons alors à rester dans je ne sais quel calme, espèce de juste milieu entre la rêverie du penseur et la satisfaction des animaux ruminants, qu’il faudrait appeler la mélancolie matérielle de la gastronomie.“ (ebd., 90f.) Und weiter: „Pendant cette benoîte pause, la voix d’un conteur semble toujours délicieuse à nos sens engourdis, 17 E.T.A. Hoffmann: „Der unheimliche Gast“. In: Ders.: Die Serapionsbrüder. Hg. von Wulf Segeberg unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. Frankfurt/ Main 2001, S. 722-769, hier S. 723. 18 Zum gestimmten Raum vgl. ausführlich Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum. 2. Aufl. Frankfurt/ Main 1977, S. 22-54. Thomas Amos 52 elle en favorise le bonheur négatif.“ (ebd., 91) Betont wird hier zweierlei: die Bedeutung der Stimme des Erzählers, die, sensuell und suggestiv, letztlich das Primat der mündlichen vor der schriftlichen Narration bedingt sowie die Haltung des Rezipienten, der sich in einem höchst günstigen Zustand zwischen Entspannung und Schlaf befindet. Erneut stört freilich ein Detail, tut sich eine Diskrepanz zwischen Schein und Sein auf: Während am Ende anderer Diners die präzis beobachteten Übergangshandlungen der Gäste im Herumspielen mit Essensresten bestanden, 19 hantiert man hier mit dem Messer („[…] chaque convive jouait indolemment avec la lame dorée de son couteau“ (CH XI, 90). Von einer Nebenfigur, Fanny, der Tochter des Gastgebers, geht der Stimulus zum Erzählen aus. Ihrem Aussehen nach die romantische femme fragile schlechthin („une jeune personne pâle et blonde“, ebd.) und dabei positiv besetzt („ravissante créature“, ebd.), wird sie ansonsten ausschließlich als Leserin der „contes d’Hoffmann“ (ebd.) und der Romane von Walter Scotts (ebd.) 20 sowie als begeisterte Liebhaberin der volkstümlichen Boulevardstücke des Pariser Théâtre du Gymnase charakterisiert (ebd.). Diese beiden Vorlieben fungieren als mise en abyme der literarischen Strömungen in Frankreich zu Anfang der 1830er Jahre, Romantisme und aufkommender Realismus, 21 und stehen auch für den gleichsam dialektischen Dualismus von Kunst und Leben, woraus Hoffmanns Erzählungen ihr Spannungsverhältnis beziehen. Die junge Frau ist eine schwärmerische, fast karikierte romantische Existenz, die selbst unentwegt die Grenze zwischen Realität und Literatur passiert. Wenn sie reichlich unvermittelt „monsieur Hermann“ (ebd.) um eine Geschichte bittet - „une histoire allemande qui nous fasse bien peur“ (ebd.) -, erscheint „allemande“ gleichsam als eine formal und inhaltlich auf irgendeine Weise landesspezifische Geschichte von nachdrücklicher Wirkungsintensität. Das Adjektiv „allemand“ dient als ein den übrigen Gästen wohlbekanntes Qualitätssiegel. Jene dem Anschein nach so unfranzösische Art von Literatur soll hier das Gruseln lehren, die seit Mme de Staëls De l’Allemagne als Spezifikum der Deutschen gilt - die Schauerromantik oder Schwarze Romantik mit ihrem namentlich erwähnten 19 „[…] certaines gens tourmentent le pépin d’une poire; d’autres roulent une mie de pain entre le pouce et l’index; les amoureux tracent des lettres informes avec les débris des fruits; les avares comptent leurs noyaux et les rangent sur leur assiette comme un dramaturge dispose ses comparses au fond d’un théâtre.“ (CH XI, S. 90) 20 Von Walter Scott stammt eine Notiz („Sur Hoffmann et les compositions fantastiques“) zu Beginn der zwölfbändigen, von Loève-Veimars übersetzten Ausgabe Contes fantastiques (Paris 1830). 21 Realismus bzw. mimetische Literatur an sich erscheint als Schule des Lebens: „[…] ravissante créature dont l’éducation s’achevait au [Théâtre du] Gymnase“ (CH XI, S. 90). Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge 53 zentralen Autor, der, von seinen Landsleuten als „Gespenster-Hoffmann“ 22 abgetan, in Frankreich seit 1828 durch die Übersetzung von Loève-Veimars enthusiastisch Aufnahme findet. 23 Seine französische Verehrerin, die Bankierstochter, liefert ein treffliches Beispiel dafür, wie Hoffmanns Erzählungen von der Nachtseite der menschlichen Natur und ebenso seine Ironie und Spottlust den nach der Grande Révolution dezidiert irrationalen und ludischen Zeitgeschmack treffen. 24 Nachverfolgen lässt sich die Semantik der Formel „histoire allemande“ bis zu Madame de Staëls Deutschland- Buch, das E.T.A. Hoffmann und sein Werk übrigens nicht erwähnt. Bei dem Versuch einen Nationalcharakter der Deutschen bzw. eine daraus hervorgehende Nationalliteratur bestimmen zu wollen, konstatiert Madame de Staël: Il nous reste à parler de la source inépuisable des effets poétiques en Allemagne, la terreur: les revenants et les sorciers plaisent au peuple comme aux hommes éclairés: c’est un reste de la mythologie du Nord; c’est une disposition qu’inspirent assez naturellement les longues nuits des climats septentriaux […]. 25 Anlässlich der eingehenden Würdigung von Goethes Faust stellt sie den Zusammenhang zwischen Literatur und der „nordischen Natur“ her: „La croyance aux mauvais esprits se retrouve dans un grand nombre de poésies allemandes; la nature du Nord s’accorde bien avec cette terreur […].“ 26 Die Zuhörer erwarten übrigens eine „ballade […] fût-elle même sans intérêt“ (CH XI, 91), d.h. eine in der französischen Literatur kaum je recht heimisch gewordene, Merkmale von Lyrik und narrativen Texten kombinierende Hybridform; zudem spielt der Erzähler nicht ohne Hintersinn mit der Mehrfachbedeutung von „intérêt“, das im Bankwesen „Zins“ bedeutet. Als Ballade annonciert und eng mit dem deutschen Erzähler bzw. der deutschen Literatur überhaupt verbunden, stellt die (in ungebundener Rede gehaltene) Binnenerzählung die Frage nach Sinn und Funktion von Literatur zur Diskussion, hier pointiert an der Opposition von Schauerliteratur und didaktischer Literatur. 22 Noch in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1938) findet sich dieser Spottname für Hoffmann, dessen Werke eine verbotene Lektüre bilden (In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Tillmann Rexroth. Frankfurt/ Main 1980, hier Bd. IV 1, S. 284. 23 Vgl. Teichmann: La Fortune d’Hoffman. 24 Edgar Allan Poe, der mit seinen seit 1848 erscheinenden, von Baudelaire übersetzten Geschichten Hoffmann als Referenzautor des Phantastischen in Frankreich ablöst, vollzieht im Vorwort zu den Tales of the Grotesque and Arabesque (1840) die Hinwendung zu einer anderen Art von angstmachender Literatur, dafür steht sein berühmtes Diktum: „[…] I maintain that terror is not of Germany, but of the soul […]“ (Edgar Allan Poe: Poetry and Tales. New York 1984, S. 129). 25 De Staël: De l’Allemagne, S. 237. 26 Ebd., S. 366. Thomas Amos 54 Unter den Zuschauern fällt dem Erzähler ein Gast besonders auf, da dessen Aussehen und Verhalten in starkem Kontrast zu den übrigen Anwesenden steht: […] sa figure, sans doute assombrie par un faux jour, me parut avoir changé de caractère; elle était devenue terreuse; des teintes violâtres la sillonnaient. Vous eussiez dit de la tête cadavérique d’un agonisant. Immobile comme les personnages peints dans un Diorama, ses yeux hébétés restaient fixés sur les étincelantes facettes d’un bouchon de cristal. […] [il] semblait abîmé dans quelque contemplation fantastique de l’avenir ou du passé. (CH XI, 91) Innerhalb der bürgerlichen Abendgesellschaft wirkt die expressivunheimliche und deswegen so ausführlich geschilderte Figur als Fremder und Außenseiter von einiger Faszinationskraft. Der Vergleich mit den eindimensionalen Figuren des Dioramas, eines damals beliebten optischen Illusionsapparates, spielt auf den künstlichen Menschen, den Automatenmenschen an, 27 den Hoffmann in Der Sandmann (1817) mit der Gestalt der Olimpia in die Literatur einführt und in Die Automate (1814) noch eingehender behandelte. Indes handelt es sich (und damit wird der unheimliche Eindruck des sonderbaren Gastes nicht aufrechterhalten, sondern konkret begründet und damit zunichte gemacht), 28 wie der Erzähler von seiner Tischnachbarin erfährt (vgl. CH XI, 91f.), um einen reichen Pariser Geschäftsmann („un bon homme assez original“, ebd.), der um seinen Sohn trauert. Im Erzählprozess wird Frédéric Taillefer wichtigster Zuhörer, ja der Adressat im eigentlichen Sinne und der Angeklagte zugleich sein; er erscheint, eine Art Widergänger, sowohl in der Binnenals auch in der Rahmenerzählung, und an seiner Reaktion - er schenkt sich mehrfach Wasser nach und bricht unverkennbar in Schweiß aus - zeigt sich exemplarisch, was Erzählen bzw. im weiteren Sinne Literatur zu bewirken vermag. Nachdem er mittelbar durch die Beschreibung der Ausgangssituation im Speisezimmer seine Fähigkeit als präziser und mit Gespür für sublime Zwischentöne begabter Beobachter unter Beweis gestellt hat, bezeichnet sich der homodiegetische Erzähler des Anfangsrahmens selbst doppelsinnig als „Bilderforscher“ bzw. „Bildersucher“, der mit dem größten Interesse die Physiognomien der übrigen Gäste liest, um Rückschlüsse auf ihren Charakter zu erhalten: Chercheur de tableaux, j’admirais ces visages égayés par un sourire, éclairés par les bougies, et que la bonne chère avait empourprés; leurs expressions diverses produisaient de piquants effets à travers les candelabres, les corbeilles en porcelaine, les fruits et les cristaux. (CH XI, 91) 27 Vgl. Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors, Frankfurt/ Main 1994, S. 269-314 und Rudolf Drux: Die lebendige Puppe. Erzählungen aus der Zeit der Romantik. Frankfurt/ Main 1986, S. 245-271. 28 Es vollzieht sich ein Wandel von der offenen zur geschlossenen Figurenkonzeption, vgl. Manfred Pfister: Das Drama. 11. Auflage. München 2001, S. 246f. Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge 55 Diese „observations phrénologiques“ (ebd., 92), wie er seine Studien mit dem Hinweis auf die damals weit verbreitete Phrenologie nennt, suchen zum einen rare, pittoreske Wirkungen („piquants effets“, ebd. 91), und daran zeigt sich die Orientierung an der Bildenden Kunst, insbesondere an der Malerei; zum anderen will der Erzähler mit gleichsam naturwissenschaftlicher Gründlichkeit den Menschen ergründen. Seine Unruhe angesichts der schwer deutbaren „face équivoque“ (ebd.) rührt daher, dass, anders als Hermann, der geheimnisvoll oder jedenfalls von den übrigen abstechende Gast sich einer klassifizierenden Einordnung entzieht. Insgesamt verhält sich der Erzähler wie ein quasi-realistischer Autor, der sich freilich zuzeiten amimetische Eskapaden gestattet, und damit getreulich Balzacs eigenes dichterisches Selbstverständnis bei der Niederschrift von L’Auberge rouge spiegelt. Derart vorbereitet und eingeleitet könnte im Grunde die Binnenerzählung einsetzen, gingen ihr nicht noch drei massive Relativierungen ihrer Glaubwürdigkeit voraus. Die erste Relativierung geschieht durch das von E.T.A. Hoffmann übernommene und dort mit dem Erzählvorgang selbst eng verknüpfte, ja ihn bedingende Intoxikationsmotiv: Bevor Hermann seine „histoire“ beginnt, nimmt er Schnupftabak, ein bürgerlich-gesetztes Stimulans („le bon allemand s’était lesté le nez d’une prise de tabac“, CH XI, 92); bereits eingangs erwähnte der Erzähler, dass der Deutsche während des Essens reichlich dem Champagner zuspricht (vgl. ebd., 89). Fraglich ist demnach, ob diese beiden Textsignale, unter Umständen gemeinsam mit der zeitlichen Distanz zum erzählten Geschehen, genügen, um die Integrität Hermanns anzuzweifeln. 29 Außerdem erzählt Herrmann gewissermaßen aus zweiter Hand, gibt er doch nicht Selbsterlebtes wieder, sondern hört den Kriminalfall in der Version von Prosper Magnan. Gewichtiger jedoch der Hinweis des Erzählers der Rahmenerzählung, er habe die Binnenerzählung umgeschrieben, bearbeitet und überarbeitet und sei dabei vor allem auf Stringenz bedacht gewesen: Il me serait assez difficile de la […] reproduire dans les mêmes termes, avec ses interruptions fréquentes et ses digressions verbeuses. Aussi l’ai-je écrite à ma guise, laissant les fautes au Nurembergeois, et m’emparant de ce qu’elle peut avoir de poétique et d’intéressant, avec la candeur des écrivains qui oublient de mettre au titre de leurs livres: traduit de l’allemand.“ (CH XI, 92) 29 Die von Ansgar Nünning aufgestellten, auf einen unzuverlässigen Erzähler verweisenden Textsignale führen die Verwendung von Alkohol wie auch von Drogen vor oder während des Erzählens nicht auf (Ansgar Nünning: „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hg. von Ansgar Nünning. Trier 1998, S. 3-40, hier S. 27f.). Thomas Amos 56 Auch wenn er bescheiden von „reproduire“ spricht, tritt er hier nicht als Nach-Erzähler, sondern als eigentlicher Autor mit gestaltendem Anspruch und zugleich ausdrücklich als französischer Autor auf, der anders als der Deutsche Hermann, weniger zur Abschweifung neigt; dies entspricht gewissen stereotypischen Vorstellungen, nach denen französische Literatur und französischer Stil grundsätzlich konziser und klarer seien. Das romantische Spiel um die Autorschaft verdeckt die eigentliche metafiktionale Aussage. Balzac, ein französischer Autor, ist es, der in französischer Sprache einen Text schreibt, um die deutsche Literatur teils nachzubilden, teils um eine Synthese von deutscher und französischer Literatur, d.h. von Romantik und Realismus zu versuchen und diese deutsch-französische „histoire“ dann als eigenes Werk ausgibt. Um die Umsetzung dieser metafiktionalen Intention an der Probe aufs Exempel, der Binnenerzählung, zu untersuchen, werden im nächsten Schritt drei zentrale Kategorien des Erzähltextes zur Prüfung herangezogen: die räumliche (und, damit verbunden, die zeitliche) Situierung, also die zwei wesentlichen Schauplätze (die Rheinlandschaft von Straßburg bis Bonn, die Rote Herberge in Andernach), die Figuren Prosper Magnan und Frédéric Taillefer sowie die erst geplante, dann doch nicht ausgeführte Ermordung des Kaufmanns durch Prosper Magnan und seine Konfrontation mit der Leiche. Wenn der Erzähler der Binnenerzählung, Hermann, seine „Ballade“ zeitlich und räumlich fixiert, geschieht dies unter Einbeziehung des konkreten historischen Hintergrunds. Neben dem genauen Datum, an dem die beiden Militärchirurgen in Andernach eintreffen, dem 20. Oktober 1799 (nach dem republikanischen Kalender „la fin de vendimaire, an VII“, CH XI, 92), erwähnt er die genaue Position der österreichischen und der unter dem General Augereau stehenden französischen Truppen (vgl. ebd.). Die beiden auf dem „théâtre de la guerre“ (ebd., 93) zur ihrer Demi-Brigade strebenden Militärchirurgen beschreibt er gleich darauf detailliert, was ihre Uniformen, die Herkunft aus dem mittleren Bürgertum im pikardischen Beauvais und ihre finanziellen Mittel anbelangt (vgl. ebd.). Für die beiden Figuren gilt bereits bei ihrer Einführung, was Erich Auerbach an Stendhals Protagonisten Julien Sorel als Novum und originäres Charakteristikum des Realismus feststellte, das ist, dass „man die tragisch gefaßte Existenz eines Menschen niederen sozialen Ranges […] so konsequent und grundsätzlich in die konkreteste Zeitgeschichte einbaut und aus derselben entwickelt“. 30 Indes vollzieht sich mit den beiden jungen Franzosen in Deutschland rasch eine Verwandlung zu begeisterten Bildungsreisenden, die sich staunend durch die reiche Kulturlandschaft bewegen: 30 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1946, S. 403. Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge 57 Les deux sous-aides, âgés de vingt ans au plus, obéirent à la poésie de leur situation avec tout l’enthousiasme de la jeunesse. De Strasbourg à Bonn, ils avaient visités l’Électorat et les rives du Rhin en artistes, en philosophes, en observateurs. Quand nous avons une destinée scientifique, nous sommes à cet âge des êtres véritablement multiples. Même en faisant l’amour, ou en voyageant, un sous-aide doit thésauriser les rudiments de sa fortune ou de sa gloire à venir. Les deux jeunes gens s’étaient donc abandonnés à cette admiration profonde dont sont saisis les hommes instruits à l’aspect de la Souabe, entre Mayence et Cologne […]. (CH XI, 93) Der Lapsus - die Verwechslung vom Rheinland, Inbegriff des romantischen Deutschlands, mit Schwaben - ist bezeichnend. Balzac, der Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereist hatte, schildert, das zeigt sich hieran, ein hauptsächlich aus Lektüreerlebnissen und populären Allgemeinplätzen zusammengefügtes Deutschland. Stets schieben sich Ereignisse der deutschfranzösischen Geschichte dazwischen, etwa bei der „nature forte, riche, puissamment accidentée, pleine de souvenirs féodaux, verdoyante, mais qui garde en tous lieux les empreintes du fer et du feu. Louis XIV et Turenne ont cautérisé cette ravissante contrée.“ (ebd., 93f.) Insbesondere dem Sonnenkönig, dessen Truppen die Pfalz verwüsteten, sei es zu verdanken, dass die überall aufragenden Ruinen nun einen solch malerischen, eben romantischen Effekt bieten: „En voyant cette terre merveilleuse, couverte de forêts, et où le pittoresque du Moyen Âge abonde, mais en ruines, vous concevez le génie allemand, ses rêveries et son mysticisme.“ (ebd., 94) Unter Einbeziehung der von der deutschen wie französischen Romantik favorisierten historischen Epoche, des - gotischen - Mittelalters erscheint die beschriebene deutsche Landschaft zur idealtypischen, vor allem suggestiven Landschaft der Romantik erhoben und zugleich als Spiegelbild der deutschen Seele, die eine tiefe Affinität für das Irrationale aufweist. Lyrisch verdichtet sind die Aus-Blicke auf den Rhein samt dem von der Natur selbst dazu gelieferten Bilder-Rahmen; evoziert ist eine Herbstlandschaft mit dem Grundton von Schwermut und nahendem Niedergang. Là, par une découpure de la forêt, par une anfractuosité des rochers, ils apercevaient quelque vue du Rhin encadrée dans le grès ou festonné par de vigoureuses végétations. Les vallées, les sentiers, les arbres exhalaient cette senteur automnale qui porte à la rêverie; les cimes des bois commençaient à se dorer, à prendre des tons chauds et bruns, signes de vieillesse; les feuilles tombaient, mais le ciel était encore d’un bel azur, et les chemins, secs, se dessinaient comme des lignes jaunes dans le paysage, alors éclairé par les obliques rayons du soleil couchant. (CH XI, 94) Andernach hingegen, „la petite ville, assise avec coquetterie au bord du fleuve, où elle offre un joli port aux mariniers“ (ebd., 95), erfährt eine weniger intensive, kaum individualisierte Ausgestaltung: Prosper Magnan blickt von einem Hügel scheinbar auf eine Miniaturstadt herab (vgl. ebd.). Thomas Amos 58 Wie banal letztlich die Evokation der deutschen Kleinstadt durch Balzac geschieht (vgl. ebd.), ermisst sich bei einem Blick auf Victor Hugo, dem in der Andernach gewidmeten Lettre XIII von Le Rhin (1842/ 45) eine eindrückliche Mischung von subjektivem Empfinden und Informationsvergabe nach Art eines Reiseführers gelingt. 31 Einzig die Herberge sticht durch ihre Farbe von den „maisons peintes d’Andernach, pressées comme des œufs dans un panier“ (ebd.) heraus. Ohne Zweifel handelt es sich um einen außergewöhnlichen, gewissermaßen zeichenhaften Ort: Entièrement peinte en rouge, cette auberge produisait un piquant effet dans le paysage, soit en se détachant sur la masse générale de la ville, soit en opposant son large rideau de pourpre à la verdure des différents feuillages, et sa teinte vive aux tons grisâtres de l’eau. (CH XI, 95f.) Das Innere des Gebäudes wird noch ausführlicher wiedergegeben, wobei unterschieden wird zwischen den zwar lapidar aufgeführten, doch für das Verbrechen und seine Rekonstruktion relevanten räumlichen Verhältnissen (vgl. ebd., 99) und der gut besuchten, malerisch verräucherten Wirtsstube (vgl. ebd., 96f.) mit den „accessoires obligés d’une auberge allemande“ (ebd., 96), worunter Ofen, Wanduhr, Tische, Bierkrüge und die Pfeifen der Gäste zu verstehen sind. Dabei handelt es sich um die einzige deskriptive Passage der Binnenerzählung, die, durchaus anschaulich, realistischem Erzählen genügt und in der Malerei einem Genrestück entspräche. Indes bringt Balzac auch hier zum größten Teil Versatzstücke zum Einsatz, wie Théophile Gautiers kurze Erzählung Deux acteurs pour un rôle (1841) belegt, darin der Wiener Gasthof L’Aigle à deux têtes nahezu identisch erscheint. 32 Da er nicht auf eigenes Erleben, eigene Anschauung zurückgreifen kann, schildert Balzac ein aus zeitgenössischen Vorstellungen und Klischees patchwork-artig zusammengestelltes Bild von Deutschland, das er zudem einer gewissen Stilisierung unterzieht. Realitätsgetreue Ausschnitte des Nachbarlandes entstehen nicht; Balzac verharrt in nicht nur geographischer Distanz. Für die Beschreibung der deutschen Landschaft, die der atmosphärischen Einstimmung dienen soll, orientiert er sich an der Romantik, wohingegen der kontrastiv angelegte Innenraum, der Schauplatz des Verbrechens, 31 Vgl. Victor Hugo: Le Rhin. Préface de Michel le Bris. Strasbourg 1980, S. 135-139. Ein Beispiel: Durch Zufall stößt Hugo auf das Grabmal des französischen Generals Hoche: „Je suis resté longtemps, l’œil et l’esprit vainement plongés dans ce double mystère de la mort et de la nuit: une sorte d’haleine glacée sortait du trou du caveau comme d’une bouche ouverte.“ (ebd., S. 138) Zu Andernach bemerkt er: „On va où est la cohue, à Coblentz, à Bade, à Mannheim; on ne vient pas où est la nature, où est la poésie, à Andernach.“ (ebd., S. 139) 32 Vgl. Théophile Gautier: Récits fantastiques. Paris 1981, S. 201f. ; Gautier bezieht sich auf Hoffmann: „L´Aigle à deux têtes était une de ces bienheureuses caves célébrées par Hoffmann […]“ (ebd.). Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge 59 zum Realismus tendiert. In beiden Fällen bleiben die präsentierten Räume auf eigentümliche Weise kulissenhaft - und Deutschland ein fremdes Land. Blutleer wirken zunächst auch die beiden als „hommes de science, pacifiques et serviables“ (CH XI, 93) charakterisierten Militärchirurgen; Frédéric Taillefer hält sich ohnehin bis zu seinem jähen Verschwinden weitgehend im Hintergrund. Prosper Magnan dagegen schilderte Hermann ausführlich (und diese Passage bildet das Kernstück der Binnenerzählung), wie er erst die mit dem geraubten Geld verbundenen Möglichkeiten bis in Einzelheiten imaginiert (vgl. ebd., 101f.), dann aber, von der Ausführung durch eine jähe Erkenntnis oder Quasi-Vision („[…] il entendit en lui comme une voix, et crut apercevoir une lumière“, ebd., 103) abgebracht, das Messer zu Boden wirft; ob es sich wirklich um ein übernatürliches Ereignis, die Intervention einer numinosen Kraft, handelt, steht durch die vorsichtige, relativierende Formulierung absichtlich dahin. Ein Gang am nächtlichen Rhein beruhigt Prosper Magnan endgültig - und bietet ihm Gelegenheit zur Reflexion: „[…] il tomba dans une rêverie qui le ramena par degrés à des saines idées de morale. La raison finit par dissiper complètement sa frénésie momentanée.“ (ebd.) Erziehung, religiöse Unterweisung und Herkunft bewirken schließlich die rational begründete Abkehr vom Verbrechen (vgl. ebd.), 33 und diese Wandlung gipfelt in einem spontanen Dankesgebet. Hermann (bzw. der französische Erzähler der Binnenerzählung bzw. Balzac) schildert es in reichlich pathetischem Ton: […] il se mit à genoux dans un sentiment d’extase et de bonheur, remercia Dieu, se trouva heureux, léger, content, comme au jour de sa première communion, où il s’était cru digne des anges, parce qu‘il avait passé la journée sans pécher ni en paroles, ni en actions, ni en pensée. (CH XI, 104) Die Figur des Prosper Magnan, des Protagonisten der Binnenerzählung, soll von der Konzeption her dynamisch und mehrdimensional, 34 also lebendig, überzeugend und für den Rezipienten positiv besetzt, d.h. vorbildhaft sein. Die psychologische Ausdifferenzierung, die Hermann (bzw. der Autor Balzac) beabsichtigt, entgleitet allerdings und nimmt gerade in ihrer Überzeichnung unglaubwürdige Züge an. Gezeigt wird keine reale, sondern eine ideale Figur. Dazu gehört auch, dass Hermann im Franzosen Magnan paradoxerweise eine Personifikation Deutschlands (oder vielmehr des deutschen Soldaten, des deutschen Helden) zu erkennen meint: Quoiqu’il fût pâle, défait, taché de sang, sa physionomie avait un caractère de candeur et d’innocence qui me frappa vivement. Pour moi, l’Allemagne respirait 33 Die naturalistische Trias „race, milieu, moment“ ist hier grosso modo vorweggenommen. 34 Zur Figurenkonzeption vgl. das von Pfister für Dramenfiguren entwickelte, jedoch nahezu komplett auf narrative Texte übertragbare Modell (vgl. Pfister: Das Drama, S. 240-244). Thomas Amos 60 dans ses longs cheveux blonds, dans ses yeux bleus. Véritable image de mon pays défaillant, il m’apparut comme une victime et non comme un meurtrier. (CH XI, 107) Diese Apotheose des unschuldig zum Tode Verurteilten kündigt die Helden der (Trivial-)Romantik bei Alexandre Dumas, Eugène Sue und auch Victor Hugo an. Die Präsentation der Leiche wird recht wirkungsvoll inszeniert. Angekündigt wird sie noch in der Nacht durch ein seltsames, zunächst unerklärliches Geräusch - Blut tropft aus der klaffenden Halswunde -, das Prosper in einer „somnolence première et fantastique“ (ebd., 104) hört, ohne freilich darauf zu reagieren: „Mais il entendit bientôt un bruit périodique assez semblable à celui que font les gouttes d’eau d’une fontaine en tombant du robinet.“ (ebd.) Vom rhythmischen Schlagen der Uhr hypnotisiert, schläft er ein. Nach einer solchen spannungssteigernden Vorbereitung und weiteren retardierenden Bemerkung Hermanns zum Schlaf als der zweiten Natur des Menschen folgt die Beschreibung der Leiche nach Art der Schauerromantik. […] Le lendemain matin, dit-il [Hermann], Prosper Magnan fut réveillé par un grand bruit. Il lui semblait avoir entendu des cris perçants, et il ressentait ce violent tressaillement de nerfs que nous subissons lorsque nous achevons, au réveil, une sensation pénible commencée pendant notre sommeil. Il s’accomplit en nous un fait physiologique, un sursaut, pour me servir de l’expression vulgaire, qui n’a pas encore été suffisamment observé, quoiqu’il contienne des phénomènes curieux pour la science. Cette terrible angoisse, produite peut-être par une réunion trop subite de nos deux natures, presque toujours séparées pendant le sommeil, est ordinairement rapide; mais elle persista chez le pauvre sous-aide, s’accrut même tout à coup, et lui causa la plus affreuse horripilation, quand il aperçut une mare de sang entre son matelas et le lit de Walhenfer. La tête du pauvre Allemand gisait à terre, le corps était resté dans le lit. Tout le sang avait jailli par le cou. En voyant les yeux encore ouverts et fixes, en voyant le sang qui avait taché ses draps et même ses mains, en reconnaissant son instrument de chirurgie sur le lit, Prosper Magnan s’évanouit, et tomba dans le sang de Walhenfer […] (CH XI, 104f.) Die Beschreibung der Tat erschöpft sich im grellen, grausigen Effekt. Balzac verzichtet darauf, den Somnambulismus, eines der eindrücklichsten damals diskutierten psychischen Grenzphänomene, das Prosper selbst gedankenvoll als „Erklärung“ in Betracht zieht (vgl. ebd., 110f.), zu diskutieren. Eine stärkere Ablehnung der „dunklen“ Seiten der menschlichen Psyche, die durch Gotthilf Heinrich Schuberts Abhandlung Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) Lieblingsgegenstand der Salons der Romantiker wurden, lässt sich kaum vorstellen. L’Auberge rouge beinhaltet, wie gezeigt wurde, eine starke metafiktionale Grundtendenz und thematisiert nicht nur unentwegt auf theoretische Weise das Erzählen und das Potential von erzählter Literatur, sondern vollzieht, sinnigerweise mit der „L’Idée et le Fait“ genannten Binnenerzählung, die Metafiktionalität in Balzacs L’Auberge rouge 61 Transposition in die Praxis. Hier unternimmt Balzac den Versuch, in der Nachfolge E.T.A. Hoffmanns eine „histoire allemande“ oder das, was er dafür hält, zu schreiben, gelangt jedoch über den Einsatz von Topoi bzw. intertextuellen Elementen nicht hinaus. Dieses vorgebliche Modell einer romantischen Erzählung erweist sich als unzulänglich ausgeführt, als gescheitertes Experiment und teils disharmonische Fingerübung. Allein die Degradierung der lange zurückliegenden Ereignisse in Deutschland zu einer lediglich erzählten Geschichte, einer Geschichte zweiten Grades im doppelten Wortsinne, ist bezeichnend dafür, wie halbherzig der Autor vorgeht. Vor die Wahl gestellt zwischen deutscher Romantik und französischem Realismus, zwischen Nachahmung und originärem Schaffen, entscheidet sich Balzac eindeutig für den Realismus. Dass E.T.A. Hoffmann in Des Vetters Eckfenster (1822), seiner letzten vollendeten Erzählung, ebenfalls einen programmatischen Blick auf die Wirklichkeit getan hat, erscheint als schöner Zusammenhang der Dinge. Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 65 diesem, als der Kunstsammler das Opfer seiner boshaften Verwandten und gieriger Spekulanten wird. Der Pons betreuende Arzt, die Concierge Cibot, die skrupellosen Antiquare Rémonencq und Magus, der Advokat Fraisier: Sie alle wittern im erkrankten Pons einen zahlungskräftigen Patienten und Kunden und haben es auf die Erbschaft seiner Kunstsammlung abgesehen. Der Deutsche Schmucke wird manipuliert, damit er Kernstücke der Sammlung verpfändet, um die Rechnungen des schwerkranken Pons begleichen zu können. Die ursprüngliche Drahtzieherin der perfiden Geschäfte, die Concierge Cibot, wird ihrerseits in der Folge der Ereignisse von den Komplizen bei den Transaktionen betrogen. Im Verlauf der üblen Machenschaften entdecken davor aber erst noch die Verwandten des Musikers ihr Herz für den vormals lästigen ‚Mitesser’ und Cousin Pons. orgiastische Indizien interpretierbar. Die Chiffrierung des Liebesaktes als paradiesische „choses divines“, in Verbindung mit der Evokation des tirilierenden und in der Folge von den lärmbelästigten Nachbarn zum Schweigen gebrachten Vögelchens, wäre so gedeutet ein pikanter Subtext der entsprechenden Passage. Auch die dort enthaltene Isotopie phallischer ‚Höhenkonnotate‘ („hauteur“) würde die genannte Auslegung zusätzlich unterstreichen. Die Töne, die zum Himmel steigen, die gereckte Kehle des Vögelchens, die vertikalen Katapultierungen und „exekutierenden“ Dynamiken werden im Text einerseits als „sublim“ gezeichnet, andererseits deutlich als außerhalb der Norm situierte „caprices“ ausgewiesen. Auch, dass die Wahrnehmung der Geschehnisse durch die Nachbarn als diabolisch konnotierter (Hexen)Sabbat kolportiert wird, indiziert eine tendenzielle Skandalisierung, welche Schmucke am nächsten Morgen mit einer auffällig forcierten „Unschuld“ zu entkräften sucht. Dass aber letztlich nicht zwischen Kunst- und sexueller Ekstase unterschieden werden kann, dürfte die eigentliche Pointe der folgenden, in Ausschnitten zitierten ‚musikalischen Liebesnacht‘ sein: „Schmucke se mit au piano. Sur ce terrain, et au bout de quelques instants, l‘inspiration musicale, excitée par le tremblement de la douleur et l‘irritation qu‘elle lui causait, emporta le bon Allemand, selon son habitude, au delà des mondes. […]. L‘exécution, arrivée à ce degré de perfection, met en apparence l‘exécutant à la hauteur du poète, il est au compositeur ce que l‘acteur est à l‘auteur, un divin traducteur de choses divines. Mais, dans cette nuit où Schmucke fit entendre par avance à Pons les concerts du Paradis, cette délicieuse musique qui fait tomber des mains de sainte Cécile ses instruments, il fut à la fois Beethoven et Paganini, le créateur et l’interprète! Intarissable comme le rossignol, sublime comme le ciel sous lequel il chante, varié, feuillu comme la forêt qu‘il emplit de ses roulades, il se surpassa, et plongea le vieux musicien qui l‘écoutait dans l‘extase que Raphaël a peinte, et qu’on va voir à Bologne. Cette poésie fut interrompue par une affreuse sonnerie. La bonne des locataires du premier étage vint prier Schmucke, de la part de ses maîtres, de finir ce sabbat. […] L‘innocence de Schmucke était une croyance si forte […].“ Zitiert wird hier und im Folgenden nach der Ausgabe: Honoré de Balzac: Le Cousin Pons. Paris 1973 (die Ausgabe verzichtet auf den Untertitel „ou les deux musiciens“). Im Folgenden wird für den Text die Sigle „LCP“ in Klammern, mit anschließender Nennung der Seitenzahl verwendet; in diesem Fall: LCP, S. 292f. - Auf eine Erörterung der paratextuellen Elemente des Romans (neben Titel und Untertitel würde dies vor allem die journalistischen Vorabdrucke, die Bebilderungen des Textes und die je nach Ausgabe variierenden Kapitelüberschriften betreffen) muss im vorliegenden Kontext verzichtet werden. Angela Oster 66 Der Gesundheitszustand Pons’ verschlechtert sich durch die Fülle der Aufregungen, und nach seinem Tod wird der Miterbe Schmucke das Ziel der Manipulationsversuche der habgierigen Erbschleicher. Er fällt auf ihre Machenschaften herein und erleidet wenig später einen Herzanfall. Seite an Seite des geliebten Freundes Pons findet Schmucke auf dem Friedhof seine letzte Ruhe. 2 Bricabracomanie und Gourmandise Der Roman Le Cousin Pons nimmt auf eine ganze Reihe von anderen Texten Bezug. Allerdings wäre es im vorliegenden Kontext ein vergebliches Unterfangen, dieses Panorama der Intertextualität auch nur annähernd aufarbeiten zu wollen. Genannt seien aber zumindest Richard Wagners 1841 in Paris erschienene Musikernovelle Das Ende zu Paris, Montaignes Freundschaftsessay und dessen Realbezug zu Montaignes Freund La Boétie oder Diderots Le Neveu de Rameau. Auch Jean Pauls Titan scheint für den Cousin Pons eine nicht unwichtige Rolle zu spielen. Balzac hat aus diesem Text das Motiv der (zumindest auf den ersten Blick) reinen, unschuldigen Liebe exportiert, der idealen Seelenliebe, wie sie unter anderem bei den beiden Musikerfreunden Pons und Schmucke vorzufinden ist. 4 Wenn daneben auch in anderen Texten Balzacs von ‚faire l’amour allemand’ die Rede ist, dann indiziert dies (ähnlich wie in Texten Baudelaires oder Stendhals) eine Form der fast überirdischen Liebe. 5 Dass diese Form der Liebe von Balzac als ‚deutsch’ klassifiziert wird, muss im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes besonders interessieren. 6 Auf diesen Aspekt wird im Verlauf der Ausführungen zurückzukommen sein. Die für den Cousin Pons ganz grundlegende Imagologie des Deutschen ist allerdings auf eine signifikante Weise mit weiteren Diskursfeldern vernetzt, die deshalb vorab erörtert werden sollen. Gemeint sind die Bricabracomanie und die Gourmandise. 4 Vgl. zur Komplexität der Beziehung von Pons und Schmucke die vorangegangene Anm. 3. 5 Vgl. dazu Claude Pichois: „Baudelaire in Deutschland, Deutschland bei Baudelaire. Zwei kleinere Beiträge“. In: Baudelaire und Deutschland. Deutschland und Baudelaire. Hg. von Bernd Kortländer, Hans T. Siepe. Tübingen 2005, S. 9-14, hier S. 13. 6 Vgl. allgemein zu den Deutschland-Bezügen Balzacs die weitgehend thematisch orientierte Monographie von Martine Gärtner: Balzac et l’Allemagne. Paris 1999. Siehe außerdem Lucie Wanuffel: „La Vision balzacienne de l’Allemagne (1829-1835)“. In: L’Année balzacienne 1970, S. 21-32. Speziell den Übersetzungen Balzacs ins Deutsche widmet sich der Beitrag von Heinz-Peter Endress: „Die ersten Übersetzungen Balzacscher Texte ins Deutsche. Eine ‚Relecture’ nach 65 Jahren“. In: Mainzer Komparatistische Hefte 1 (1978), S. 39-53. Zur Balzac-Rezeption in Deutschland informiert außerdem Wolfgang Eitel: Balzac in Deutschland. Untersuchungen zur Rezeption des französischen Romans in Deutschland 1830-1930. Frankfurt/ Main [u.a.] 1979. Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 67 Diese beiden Hauptcharakteristika des Protagonisten sind im Roman besonders prägnant ausgefaltet. Pons wird im Text zum einen als passionierter Sammler und zum anderen als leidenschaftlicher Gourmand geschildert. In beiden ‚passions’ übernehmen, wie gleich zu zeigen sein wird, deutsche Varianten Schlüsselfunktionen. In der Forschung wird Pons’ Leidenschaft für das Sammeln und für das Essen gerne als eine Art Ersatzbefriedigung interpretiert, mit der sich Pons für mangelnde emotionale oder auch sexuelle Zuwendungen gütlich halte. Doch auch wenn der Text für diese Interpre-tation ganz explizite Anschlussmöglichkeiten bietet, greift eine allein psychosoziologische Auslegung des Phänomens zu kurz. 7 Festzuhalten ist zunächst, dass die ‚Bricabracomanie’ des Sammlers Pons im Roman nicht lediglich eine skurrile, positivistische Sammelwut vorstellt. Es geht bei der ‚passion pour le Bric-à-Brac’ auch nicht einfach nur um die Restitution einer im 19. Jahrhundert obsolet werdenden Metaphysik der Kunst. Zwar versteht man unter dem Kollektionismus des Bric-à-Brac bekanntlich die Ansammlung kleiner Kunst-, Zier- und sonstiger Sammelgegenstände. 8 Doch die Kunst, die Pons sammelt - und dies ist ein wichtiger Punkt - entstammt vor allem dem Barock und dem Rokoko und damit Kunstrichtungen, die sich eine zutiefst artifizielle Ästhetik auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die Künste des Rokoko und des Barocks sind raffiniert, sie sind exquisit und richten sich - vor allem im Rokoko, das wesentliche Kernstücke der Sammlung Pons’ bereitstellt - auf die scheinbaren Kleinigkeiten und auf das Ornamentale in der Kunst. 9 Pons private Kunstkammer bordet vor Kostbarkeiten geradezu über: Er besitzt unter anderem (fiktive) Bilder von Dürer, Sebastiano del Piombo oder Fra Bartolommeo (dem berühmten Porträtisten Savonarolas). Bereits im 19. Jahrhundert selbst, und erst recht im 21. Jahrhundert, würde eine reale ‚Sammlung Pons‘ einen nahezu unschätzbaren Wert aufweisen. Darauf soll hier allerdings nicht weiter eingegangen, sondern zum besonderen Stellenwert der deutschen Kunst übergegangen werden, die der Kunstkenner Pons präferiert. So konzentriert er sich als collectionneur von Kleinkunst auf Porzellan, und hier wiederum auf das deutsche Frankenthal, dem er den Vorzug vor der renommierten französischen Manufaktur von Sèvres gibt. Die 7 So der methodische Ansatz bei Jutta Klose: Tafelfreud und Liebesleid in der Bourgeoisie. ‚Essen und trinken’ bei Balzac, Flaubert und Zola. Frankfurt/ Main 1987. 8 Der Figur Pons speziell als „collectionneur“ widmet sich der Aufsatz von Pierre-Marc de Biasi: „La Collection Pons comme figure du problematique“. In: Balzac et Les Parents Pauvres. Le Cousin Pons, la Cousine Bette. Hg. von Françoise van Rossum-Guyon, Michiel van Brederode, Paris 1981, S. 61-73. Speziell auf die Gemälde der Sammlung Pons’ konzentriert sich Eric Bordas: „Le Rôle de la peinture dans Le Cousin Pons“. In: Australian Journal of French Studies 32 (1995), S. 19-37. 9 Vgl. zu einer genaueren Konturierung einer Ästhetik des Rokoko, vor allem im literarischen Bereich, den Band: Das ‚andere‘ 18. Jahrhundert. Komparatistische Blicke auf das Rokoko der Romania. Hg. von Angela Oster. Heidelberg 2010. Angela Oster 68 entsprechende Textstelle kulminiert in der markanten Aussage Pons’: „Les Allemands, il faut leur rendre cette justice, ont fait, avant nous, d’admirables choses“ und sei im Folgenden aufgrund ihrer deutsch-französischen Exzeptionalität als integraler Passus zitiert: -[…] On commence à reconnaître à Paris que les fameux marqueteurs allemands et français des seizième, dix-septième et dix-huitième siècles ont composé de véritables tableaux en bois. Le mérite du collectionneur est de devancer la mode. Tenez! d’ici à cinq ans, on payera à Paris les porcelaines de Frankenthal, que je collectionne depuis vingt ans, deux fois plus cher que la pâte tendre de Sèvres. - Qu’est-ce que le Frankenthal? dit Cécile. - C’est le nom de la fabrique de porcelaines de l’Électeur Palatin; elle est plus ancienne que notre manufacture de Sèvres, comme les fameux jardins de Heidelberg, ruinés par Turenne, ont eu le malheur d’exister avant ceux de Versailles. Sèvres a beaucoup copié Frankenthal. Les Allemands, il faut leur rendre cette justice, ont fait, avant nous, d’admirables choses en Saxe et dans le Palatinat. (LCP, 55f.) Diese Textpassage stellt insofern eine exponierte Stelle des Romans vor, als sie in die zentrale Episode des Fächers integriert ist. Die Kunstkennerschaft Pons’, die im Verlauf des Romans die Ursache seines Verhängnisses begründet, wird im Zeichen des Fächers nahezu wortwörtlich ‚entfaltet’. Und im Zeichen des Fächers wird deutlich, wie die ehemals wertgeschätzte Fähigkeit der Leidenschaftlichkeit, die in den höfischen Kontexten des 17. und 18. Jahrhunderts noch Konjunktur hatte, im 19. Jahrhundert buchstäblich an Kredit verloren hat. Der Hintergrund der Episode ist folgender: Der sich bei seiner weitläufigen Verwandtschaft zunehmend als ungebetener Gast fühlende Pons beschließt, seine präferierte Abendtafel, den Haushalt der Familie Camusot, mit Hilfe eines Präsentes langfristig ihm gegenüber zu Dank zu verpflichten. Er schenkt der Dame des Hauses deshalb einen Fächer. Dabei handelt es sich allerdings nicht um irgendeinen Fächer, sondern um den „éventail de madame de Pompadour“, einen Fächer aus dem 18. Jahrhundert von Watteau, den der berühmte Maler des Rokoko für die Geliebte des Königs, für Madame de Pompadour, höchstpersönlich angefertigt hatte. 10 Als Unikat ist der Fächer eigentlich unerschwinglich. Dies ist vor allem deshalb hervorzuheben, weil Pons im Roman zwar als leidenschaftlicher Sammler von Kunstobjekten dargestellt wird, der aber zu keinem Zeitpunkt seiner Sammlerlaufbahn bereit ist, mehr als fünfzig Francs für ein Kunstobjekt zu zahlen. Fünfzig Francs, das heißt vor allem: 10 Eine interessante, gender-orientierte Deutung des Fächers findet sich in dem Aufsatz von Susan Hiner: „Fan Fashion in Balzac’s Le Cousin Pons“. In: Romance Studies 25 (2007), S. 175-187. Der Aufsatz erörtert außerdem die Bedeutung des Fächers „as social marker and cultural capital, but also as economic asset and narrative currency“ (S. 183f.). Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 69 Pons setzt, entgegen dem Mainstream seiner Zeit, nicht auf den reißerisch propagierten Geldwert des Kunstwerks, sondern vertraut auf seine Kennerschaft und sein Verhandlungsgeschick, die es ihm immer wieder ermöglichen, Kunstwerke preisgünstig zu erstehen, welche die Konkurrenz als solche gar nicht erst erkannt hat. So auch im Falle des einzigartigen Fächers, 11 den Pons bei einem unbedarften Antiquar zu einem Spottpreis erstanden hat. Der Fächer ruhte in einem schönen Kästchen, das seinerseits wiederum in einem alten Schreibtisch verschlossen war, welches der grobschlächtige Antiquar aufgebrochen hatte. Augenscheinlich liegt hier eine mise en abyme vor, in der sich die einzelnen kunsthandwerklichen Objekte - Fächer, Schatulle, Schreibtisch - ineinander schachteln. Pons richtet nun die Aufmerksamkeit des Antiquars auf den zwar ansehnlichen, aber keinesfalls exzeptionellen Schreibtisch und gibt vor, dass er selbst sich nur für die Fächerschatulle, aber nicht für deren Inhalt interessiere. Mit diesem Schachzug gelingt es Pons, Fächer und Schatulle zu einem Schleuderpreis bei dem Antiquar zu erstehen. Pons erzählt nun dieses kaufmännisch-ästhetische Husarenstück ausgerechnet der in Kunstdingen gänzlich ignoranten Madame Camusot, die Pons’ leidenschaftlichen Kunstenthusiasmus unbeteiligt an sich abprallen lässt. Der Fächer ist in der Schilderung Balzacs nun nicht einfach nur ein beliebiges Motiv. Der Fächer ist im Rahmen der Faktur des Textes selbst vor allem ein Indiz für die Kunstfertigkeit und die rhetorisch-semiotische Codierung verschiedener Diskursfelder. So steht der Fächer für den intriganten Standesdünkel des Bürgertums ein, denn die triviale Madame Camusot beabsichtigt, in die Fußstapfen der illustren Madame de Pompadour zu treten, indem sie sich deren Statussymbol zu eigen macht. ‚Schein‘ und ‚Sein‘ gehen also in diesem Fall eine groteske, weil von vornherein als Anmaßung des Standesdünkels gekennzeichnete Allianz ein. Außerdem ist der Fächer ein blatt(! )förmiger, flacher Gegenstand, der dem Papier des Schriftstellers nahesteht und damit eine metapoetologische Konnotation aufweist: Watteau! ma cousine, un des plus grands peintres français du dix-huitième siècle! Tenez, ne voyez-vous pas la signature? dit-il en montrant une des bergeries qui représentait une ronde dansée par de fausses paysannes et par des bergers grands seigneurs. C’est d'un entrain! Quelle verve! quel coloris! Et c’est fait! tout d‘un trait! comme un paraphe de maître d’écriture; on ne sent plus le travail! Et de l’autre côté, tenez! un bal dans un salon! c’est l’hiver et l’été! Quels ornements! et comme c’est conservé! Vous voyez, la virole est en or, et elle est terminée de chaque côté par un tout petit rubis que j’ai décrassé! (LCP, 59) 11 Es handelt sich um ein Unikat: „on faisait tout unique pour madame de Pompadour“ (LCP, S. 58). Angela Oster 70 In der soeben zitierten Eloge des Watteau-Fächers ist kaum zufälligerweise von der Signatur und der Écriture die Rede. Der Fächer der Pompadour ist sowohl ein Gebrauchsgegenstand als auch ein rhetorisches Zeichen, welches durch die Evidenz der Signatur einen Zugewinn an Ausdruckskraft evozieren oder als Mittel der Dissimulatio, der Verbergung, funktionalisiert werden kann. Und genau um diesen Aspekt geht es im Cousin Pons nicht zuletzt, denn die Kunstkammer des Protagonisten löst eine ganze Palette von Praktiken der Lüge und Verstellung aus. Der Fächer ist ein gesellschaftliches Objekt, der semiotische und damit sekundär aufgeladene Bedeutungsfelder übertragen bekommt, die nicht frei von Ironie oder gar Zynismus operieren. Denn der Fächer Watteaus im Roman stellt als Motiv süffisanterweise eine arkadische Hirtenidylle vor, die in den intriganten Händen der Camusot aber zum genauen Gegenteil dieser vermeintlichen Natürlichkeit mutiert. Der vorgeblich ein kreatürliches Idyll repräsentierende Fächer wird zum Symbol der Künstlichkeit und Unaufrichtigkeit, das als solches allerdings lediglich auf der Ebene der nonverbalen Kommunikation dechiffriert werden kann. Die Begehrlichkeiten der einzelnen Figuren verstecken sich gleichsam zunächst in den Falten des Fächers, bis sie sich in einer aufrollenden Wellenbewegung sukzessive offenbaren. Doch eben diese subtile Sprache des Fächers beherrscht der bedauernswerte Pons nicht, sodass der Fächer - ähnlich wie in der Tradition des Theaters (beispielsweise in Goldonis Il ventaglio) - zum dramenauslösenden Moment wird, von dem aus sich das Schicksal des Protagonisten unaufhaltsam ‚entfaltet’. Die Camusot nimmt nun in der Folge der Handlung den Fächer als Geschenk an, aber gleichzeitig komplementiert sie den brüskierten Pons unter fadenscheinigen Vorwänden und zum Gespött der Dienstboten hinaus. Dieser Affront trifft Pons an einem besonders empfindlichen Punkt seiner Person, nämlich seinem begehrlichen Magen. Der Name ‚Pons’ konnotiert nicht zufälligerweise den Pansen, (frz. ‚panse’), was zur zweiten Leidenschaft von Pons führt, seiner Gourmandise. Wie bereits erwähnt, liebt Pons anspruchsvolle Mahlzeiten, was ihn zu einem, wie es im Text wiederholt heißt, „pique-assiette“ macht, zu einem unliebsamen Schmarotzer. 12 Sparsamer Junggeselle, der Pons ist, sind die weitläufigen Verwandten seine einzige Bürgschaft, um seinen verwöhnten Gaumen befriedigen zu können. Dabei erweist sich Pons als besonderer Liebhaber des ‚plat couvert’, des unangekündigten und erlesenen Extragerichtes, an dessen Überraschung Pons sich regelmäßig erlabt. Aus der Perspektive des auktorialen Erzählers ist es eben dieses Laster der passiven gula, das Pons letztlich zum konsumierenden ‚gourmand‘, aber nicht zum erlesenen 12 Vgl. exemplarisch LCP, S. 50: „Madeleine s’écriait très-bien: ‘- Ah! voilà le piqueassiette! ’ en entendant le bonhomme dans l’escalier et en tâchant d’être entendue par lui.“ Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 71 ‚gourmet‘ prädestiniert. Gleichwohl verhält es sich bei den Mahlzeiten ähnlich wie bei Pons’ Kunstsammlung: Pons kann - wenn auch nur maßlos - allein Nahrung von exquisiter Qualität genießen. Dass er ihre Herstellung, anders als die von ihm geschätzten Kunstgegenstände, nicht auf einer intelligiblen Ebene reflektieren kann, ändert an seiner Präferenz nichts. Ein lediglich frugales Mahl hingegen katapultiert Pons in die Depression, wie auch sein deutscher Freund Schmucke erfahren muss, der seinen geliebten Pons gerne rund um die Uhr, also auch beim häuslichen Essen, um sich hätte. Die schlichten Diners mit Schmucke lösen allerdings bei Pons zwar nicht einen Liebes-, aber dafür einen eklatanten Speisekummer aus. Das Essen Schmuckes, so merkt der Erzähler an, sei weitgehend germanischspartanisch, 13 was Pons dazu führt, emphatisch und voller Sehnsucht den Namen „Sophie! “ auszurufen. Damit ist keinesfalls eine ehemalige Geliebte gemeint, sondern die Köchin der Familie Popinot, die Meisterin in der Zubereitung eines Rheinkarpfens in einer exzellenten Sauce war, dessen Erinnerung allein Pons die lukullisch motivierten Tränen in die Augen treibt. Seine ‚langue’, seine Zunge, rekonstruiert in der Rückschau die erlebten Gastmahle: Mais l’estomac! ... Rien ne peut être comparé à ses souffrances; car, avant tout, la vie! Pons regrettait certaines crèmes, de vrais poèmes! certaines sauces blanches, des chefs-d’œuvre! certaines volailles truffées, des amours! et par-dessus tout les fameuses carpes du Rhin qui ne se trouvent qu’à Paris et avec quels condiments! Par certains jours Pons s’écriait: - „O Sophie! “ en pensant à la cuisinière du comte Popinot. Un passant, en entendant ce soupir, aurait cru que le bonhomme pensait à une maîtresse, et il s’agissait de quelque chose de plus rare, d’une carpe grasse! accompagnée d’une sauce, claire dans la saucière, épaisse sur la langue, une sauce à mériter le prix Montyon! Le souvenir de ces dîners mangés fit donc considérablement maigrir le chef d’orchestre attaqué d’une nostalgie gastrique. (LCP, 80) Es ist nun nicht nur die ‚langue’ Pons’, seine Feinschmecker-Zunge, die hier agiert, sondern nicht zuletzt die Sprache, die ‚langue’ des Erzählers, die sich parallel zum Erzählinhalt in der Faktur des Textes poetisch exponiert, und zwar mit Reimen („poèmes“ und „crèmes“) sowie einem parallelen Arrangement des Trios von Satzgegenständen, deren anaphorische Anfangswörter („certaines“) in einer Klimax des Entzückens kulminieren: von „poèmes“ über die Auszeichnung als „chefs d’œuvre“ bis hin zu den ekstatischen „amours“. Der poetische Rausch der Sprache korrespondiert damit auf der discours-Ebene dem, was auf der Ebene der histoire als inneres Fest des Magens gefeiert wird, das den höchsten Liebesgenüssen gleichkomme. Pons empfindet bei den Tafelfreuden und ihrer Verdauung eine 13 Eine Schilderung des alltäglichen Mahles von Schmucke, welches ihm die Concierge Cibot gegen ein bescheidenes Entgelt zubereitet, findet sich in LCP, S. 72f. Angela Oster 72 derartige Entfaltung der Vitalität, dass sich das Gehirn - so der Erzähler - zugunsten dieses Rauschzustandes temporär nahezu gänzlich ausschalte. 14 3 Heroisierende Fiktionsmuster des Deutschen Das bislang Erörterte sei nunmehr in einem ersten Resümee zusammengefasst. Was Balzac mit der Gourmandise und der Bricabracomanie Pons’ auf den Punkt bringt, ist die ambivalente Scharnierstelle der Leidenschaft als Grundelement der systemischen Ökonomie der Gesellschaft, das sowohl aufbauend als auch zerstörend wirken kann. Dies war zwar bekanntlich bereits ein Thema in den großen Romanen des 18. Jahrhunderts, aber bei Balzac wird die Konstellation in dem vergleichsweise neuartigen Kontext des aufkommenden europäischen Kapitalismus beleuchtet. 15 Das Bürgertum, so führt Balzac in Le Cousin Pons vor Augen, missachtet den gesellschaftlichen Auftrag, der ihm nach der Revolution übertragen worden war: Nämlich nicht nur die Rechte der Aristokratie zu übernehmen, sondern auch deren Pflichten. Im Bereich der Ästhetik entspräche dem die Verpflichtung zur Förderung und Bewahrung der Kunst, welche sich im 19. Jahrhundert von der Beherbergung in weitgehend privaten Kunstkabinetten hin zu 14 Die hier verfolgte Interpretation des Essens ist damit gegenläufig zu: Klose: Tafelfreud und Liebesleid in der Bourgeoisie, S. 40: „Weder Speise noch Mahlzeiten-Situationen werden von einem Hintersinn aufgeladen. Sie weisen nicht über sich selbst hinaus.“ Ebenfalls zu divergenten Thesen gelangt der Beitrag von Arnold Rothe: „Zu Tisch bei Balzac“. In: Ruperto Carola. Forschungsmagazin der Universität Heidelberg (1998), H. 2, S. 16-22, hier S. 17: „Wie Balzac uns weiter zeigt, hat eine Mahlzeit, vor allem zu mehreren eingenommen, stets auch Funktionen, die über die bloße Nahrungsaufnahme hinausweisen. Eine Mahlzeit dient auch dem leiblichen Genuß, dem ästhetischen Wohlgefallen, der Kommunikation und, in höheren Kreisen, der Repräsentation.“ Auf den kenntnisreichen Beitrag von Rothe beziehen sich vereinzelte der soeben genannten rhetorischen Beobachtungen. 15 Die mindestens ambivalente Stellung Balzacs zum Bürgertum hat Ulrich Schulz- Buschhaus in den Grundzügen prägnant vor Augen gestellt, in: „Die Normalität des Berufsbürgers und das heroisch-komische Register im realistischen Roman. Zu Balzacs ‚César Birotteau’“. In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hg. von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1982, S. 457-469, dort S. 465: „Dabei bezeichne ich das bürgerliche Leben nicht ohne Absicht als Thema. Es ist für den Erzähler Balzac ein Thema insofern, als er sich ihm trotz oder wegen des Willens zur Illustrierung fern und auf Distanz hält. Solche Distanz, die ihn von vielen späteren Romanciers trennt, betrifft nicht den bürgerlichen Primat der Ökonomie, den er sich angeeignet und zur Perspektive gemacht hat wie kaum ein anderer Erzähler des 19. Jahrhunderts. Sie bezieht sich vielmehr auf die Bourgeoisie als kulturelle Formation, auf ihre Umgangsformen, Redeweisen und ästhetischen Vorstellungen. In ihnen ist er bemüht, das Bürgertum nicht nur zum Thema, sondern nachgerade zum Exotikum zu machen, dessen Normen noch nichts Selbstverständliches haben, sondern einem offenbar aristokratischen oder wenigstens großbürgerlich aristokratisierenden Publikum wie Kuriositäten mitgeteilt werden müssen.“ Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 73 öffentlich betriebenen Sammlungen entwickelt hatte. So will Pons, der zu Lebzeiten zwar ein hortender Privatier der Kunst war, auf dem Totenbett schließlich doch die Gemeinnützigkeit der Kunst unterstützen, indem er seine Sammlung zum überwiegenden Teil dem Staat übereignen möchte. 16 Die anderen Figuren des Romans, mit der Ausnahme des uneigennützigen Schmucke, bleiben hingegen weitgehend auf die Befriedigung ihrer privaten Leidenschaften fixiert und unterlaufen den letzten Willen Pons’ in Hinblick auf die geplante Gemeinnützigkeit seiner Kunstsammlung. Diese Sabotage wertet der Text als Beispiel für den unschätzbaren Verlust einer möglichen, aber letztlich eben nicht realisierten Reästhetisierung der Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn Pons sammelte Kunstwerke der Vergangenheit, welche die Gegenwart seiner Zeit weitgehend aus dem Blick verloren hat, weil das Authentische jenseits seines materiellen Geldwertes durch ihr Raster der Aufmerksamkeit fällt. Pons dagegen begeistert sich für die Originalität und Einzigartigkeit der gesammelten Werke, was ihn - um das bekannte Diktum Nietzsches anzuführen - zu einem ‚unzeitgemäßen’ Mitbürger macht. Das Kennerauge Pons’ vermag noch diejenigen Unterscheidungen zu treffen, zu denen der kapitalistische Kunstmarkt nicht mehr fähig ist. Balzac hat damit, ohne die in Deutschland Fuß fassende Theorie von Marx zu kennen, bereits das bourgeoise Konkurrenzdenken, welches das Schöne zum Objekt des Kommerzes degradiert, einprägsam ins Wort gesetzt. 17 Des Weiteren hat Balzac musterhaft aufgezeigt, wie die „Kapitalisierung des Geistes“, so eine 16 Vgl. zur Bedeutung der Museumskultur im Verbund mit privaten Kunstkammern: Krzystof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988 sowie Sammler, Bibliophile, Exzentriker. Hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Tübingen 1998. 17 Trotz aller offensichtlichen Parallelen zur Lehre Marx’ ist einer allzu kurzschlüssigen Parallelisierung gegenüber Vorsicht geboten. Auch wenn Marx‘ und Engels’ „German Ideology“ und die Technik der „daguerreotype“ sicherlich interessante Anschlusspunkte für eine Deutung des Cousin Pons bieten, decken sie doch kaum das ästhetische Zentrum des Romans hinlänglich ab, so wie es Lynn R. Wilkinson postuliert, in: „Le Cousin Pons and the Invention of Ideology“. In: PMLA 107 (1992), S. 274-289, vgl. S. 287: „I have attempted to situate the emergence of one sense of the word ideology in the context of the early reception of photography and related techniques of mechanical reproduction. The juxtaposition of The German Ideology and Le cousin Pons indicates the transformations in everyday life that underlie both Marx’s usage of the word ideology and Balzac’s parallel discussions of representation in his late fiction. It also enriches our understanding of the connotations of ideology, suggesting that the word is not put to its best use when it designates the misguidedness of others’ perspectives or political beliefs or refers to a textual apparatus that is supposed to produce scientific truth.“ Vgl. hingegen zu einer umsichtigen Kontextualisierung der Schreibweisen Balzacs in Bezug auf Marx: Ulrich Schulz-Buschhaus: „Balzacs ‘Traktat vom eleganten Leben’. Zur Rezeption aristokratischer Normen in der bürgerlichen Gesellschaft“. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 29 (1979), S. 443-456, dort S. 453f. Angela Oster 74 Wendung von Georg Lukács in seinem Beitrag „Balzac und der französische Realismus“, einhergeht mit der Kapitalisierung der menschlichen Beziehungen. 18 Das Spannende ist nun, dass Balzac sich in einer Umbruchsituation befindet, in der zumindest noch ansatzweise eine Kompensation des Verlustes der Authentizität von Kunst erprobt wird. Dies kann auch deshalb noch funktionieren, weil das axiologische Wissen um die verabschiedeten Wertesysteme in dem von Balzac geschilderten Milieu noch virulent ist. Der Erzähler selbst befindet sich allerdings bereits zwischen beiden Welten, sodass seine Solidarität mit dem Protagonisten Pons nur eine partielle sein kann und in ihrer vollen Tragkraft auf eine weitere fiktionale Figur, eben den Deutschen Schmucke, übertragen werden muss. Dieser narratologische Kunstgriff führt in das Zentrum der Deutschland-Rezeption im Cousin Pons. Schmucke, ein Pianist, und wie es im Text heißt „comme tous les pianistes, était un Allemand“ (LCP, 38), ist zunächst, so könnte man denken, Balzacs Karikatur des Deutschen. Schmucke kann nämlich zuallererst kein anständiges Französisch: „Paris n’est bas pon bir les Allemands, on se mogue t’eux” (LCP, 355f.), lautet einer der Sätze Schmuckes, mit denen der Erzähler eine kuriose Überkreuzung von kritischer Fremdaussage und komischer Selbstporträtierung des deutschen Musikers präsentiert. 19 Die Unfähigkeit, sich des Französischen angemessen zu bedienen, ist nicht der Ausweis eines Bildungsnotstandes, sondern Ausdruck einer gewissen Schwerfälligkeit, einer mangelnden Wendigkeit des Geistes, die ‚typisch deutsch’ sei. Der Deutsche ‚an sich’ wird im Cousin Pons als gutmütiger, naiver Zeitgenosse, mit einem Hang zu seelischer und romantischer Tiefe vorgestellt. Gleichzeitig eignet dem ‚typischen Deutschen’ ein Hang zum Gerissenen und Diabolischen: Une figure typique de l’Allemagne: beaucoup de juiverie et beaucoup de simplicité, de la bêtise et du courage, un savoir qui produit l’ennui, une expérience que le moindre enfantillage rend inutile, l’abus de la bière et du tabac; mais, pour relever toutes ces antithèses, une étincelle diabolique dans de beaux yeux bleus fatigués. (LCP, 82) Beschrieben wird im voranstehenden Zitat Fritz Brunner (zu dem später noch Genaueres anzumerken sein wird), den Schmucke und Pons über ihren Musikerkollegen Wilhe[l]m 20 Schwab kennenlernen. Auch was die Rolle Deutschlands im Diskursfeld des Kulinarischen angeht, ist diese im Roman 18 Georg Lukács: „Balzac und der französische Realismus“. In: Ders.: Probleme des Realismus III (= Werke Bd. 6). Neuwied, Berlin 1965, S. 474. 19 Einen kursorischen Überblick über die Regelmäßigkeiten der Lautverformungen im Roman gibt René Daudon: „L’Accent allemand dans Balzac“. In: Modern Language Notes 50 (1935), S. 382-384. 20 Der Roman hält konsequent an einer (französisierenden) Verballhornung der Rechtschreibung des Namens fest: aus „Wilhelm“ wird im Text „Wilhem“. Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 75 ambivalent besetzt. 21 Der herzensgute Schmucke kann weder die Museumskultur noch das Feinschmeckertum seines französischen Freundes nachvollziehen. Und so werden auch die deutschen Essgewohnheiten im Roman zunächst mit den üblichen mediterranen Stereotypen belegt. Deutsche sind kulinarische Kulturbanausen; die Zusammenstellung ihrer Gerichte stellt ein schauriges Sammelsurium dar; und sie trinken Weinsorten, die an Essig erinnern, oder sie konsumieren gar - was fast noch schlimmer ist - Unmengen an Bier. In den Augen der Franzosen ist dies das völlig falsche Getränk, an dem die Deutschen ihre trinkfesten Kräfte erproben. Dieses Klischee wird allerdings im Verlauf des Romans insofern als Vorurteil entlarvt, als das einzige menschenfreundliche Gastmahl nicht unter Franzosen, sondern in einem deutschstämmigen Kontext stattfindet, nämlich bei dem Verlobungsessen des Flötisten Schwab. Pons und ein Notar sind auf dem Fest die einzigen Franzosen. Bei eben diesem Bankett erweisen sich die Deutschen als außerordentlich trinkfest im oben skizzierten Sinne. Der Franzose staunt ob der Unmengen an Alkoholika, welche die deutschen Gäste vertragen, ohne die Contenance zu verlieren. Anders als bei den feindseligen Essen seiner Landesgenossen, erlebt Pons allerdings im Umkreis der deutschen Gastgeber eine harmonische Stimmung, bei der sich die Geladenen mit äußerstem Respekt und Sympathie begegnen. Die Rhetorik des Vergleichs, der sich Balzac nun bei der Behandlung des Deutschen bevorzugt bedient, ist ein Element einer betont auktorialen und insbesondere humoristischen Erzählweise, was bereits Preisendanz in seinem grundlegenden Aufsatz zur Karnevalisierung des Cousin Pons hervorgehoben hat. 22 Anders als die Metapher bietet der Vergleich die Möglichkeit, auf Polaritäten aufmerksam zu machen, eine doppelte Ebene von Sinnbezügen herzustellen oder ein Spannungsverhältnis zwischen realen und artistischen Feldern zu inaugurieren. Im Vergleich verdichtet sich gleichsam das Moment der Brechung, der Spiegelung und der Doppelbödigkeit, welches die Gesellschaft im Bürgerkaiserreich Frankreichs im Cousin Pons insgesamt prägt. Im vergleichenden Modus des Germanischen weicht Balzac nun bezeichnenderweise, und dies ist ein wichtiger Punkt, von dem ab, was ansonsten weitgehend die Comédie humaine als Verfahren prägt, nämlich der Erzeugung einer Atmosphäre soziologischer Zusammen- 21 Mit der Deutung der deutschnationalen Versatzstücke als ambivalent in Szene gesetzte Kunstgriffe, hebt sich die vorliegende Deutung von derjenigen Ruth Floracks ab, in: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotypen in der Literatur. Tübingen 2007, vgl. exemplarisch S. 177: „Deutsche Nationaltopoi dienen in Balzacs Roman ‚Le Cousin Pons’ einer einsinnigen Charakterzeichnung.“ 22 Die einschlägigen Ausführungen von Preisendanz sind auch für den vorliegenden Aufsatz grundlegend: Wolfgang Preisendanz: „Karnevalisierung der Erzählfunktion in Balzacs Les Parents pauvres“. In: Honoré de Balzac. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1989, S. 391-410. Angela Oster 76 hänge im Verbund mit der Evokation konkreter Gegenständlichkeit. Genau dies indizieren die deutschen Vergleiche im Cousin Pons nicht. Im Gegenteil, sie sind derartig absonderlich und überzogen, dass ihr karnevaleskes Moment deutlich hervorgetrieben wird. Dies zeigt sich besonders eindringlich in der Sentenz über die Deutschen, der auch der Haupttitel des vorliegenden Aufsatzes entlehnt ist - „Allemand comme“: Ce pianiste, comme tous les pianistes, était un Allemand, Allemand comme le grand Listz et le grand Mendelssohn, Allemand comme Steibelt, Allemand comme Mozart et Dusseck, Allemand comme Meyer, Allemand comme Doelher, Allemand comme Thalberg, comme Dreschok, comme Hiller, comme Léopold Mayer, comme Crammer, comme Zimmerman et Kalkbrenner, comme Herz, Woëtz, Karr, Wolff, Pixis, Clara Wieck, et particulièrement tous les Allemands. (LCP, 38) Die Verallgemeinerungen in der Vielzahl der Einzelvergleiche sind derart hypertroph und exorbitant, dass sie von einem Realvergleich paradoxal in eine komische Zersetzung des Informationsgehalts umschlagen und damit eine vergnügliche vis comica des Erzählers in die Wege leiten. Die Realität der Erbschleicher im Cousin Pons ist dermaßen abstoßend, dass der Erzähler zu glauben scheint, ihr nurmehr mit Fiktionsmustern des Komödiantischen beikommen zu können, welche mit der realistischen Repräsentationsfunktion der Sprache spielen und sie in eine Ambiguität der Kommunikation übersetzen. Diese funktionale Fiktionalisierung, so die hier vertretene These, kulminiert in der Darstellung Deutschlands im Text. Denn was dort als typisch deutsch, als vorgeblich real-deutsch vorgestellt wird, ist von Anfang an tatsächlich eine großartig angelegte Fiktion. Dies beginnt schon bei dem Namen „Schmucke“ des deutschen Protagonisten. Der Name „Schmucke“ - der zwischen ‚Schmuck‘ und ‚Mücke‘ oszilliert - existierte nämlich ebenso wenig zu Zeiten Balzacs wie bis auf den heutigen Tag, was der bloße Abgleich mit bundesdeutschen Telefonbüchern erweist. „Schmucke“ - dies ist vielmehr bei aller ‚Menschlichkeit‘, die sie auszeichnet, eine Kunstfigur, ebenso wie ‚das Deutsche’ ein Kunstdiskurs im Cousin Pons ist. 23 Die Semantik des Deutschen zieht sich dabei wie ein roter Faden durch den Text, was sich zum einen in der Masse an Wendungen wie „pauvre Allemand“, „le bon Allemand“ und ähnlichen Versatzstücken dokumentiert. Vor allem aber fungiert der karikierte Akzent Schmuckes als Mittel einer kritischen Imagologie. Schmucke ist, so lassen es die phonetischen Besonderheiten seiner Aussprache vermuten, ein Sachse oder ein Hesse (seine genaue Herkunft wird an keiner Stelle des Romans explizit geklärt). Die Schmucke-Ansprachen gehören zum Vergnüglichsten, was im 23 Nicht nur in diesem Punkt wäre der vermeintliche ‚Realismus’ Balzacs im Zeichen einer „Phantasie der Realisten“ neu zu überdenken, wie es bereits Rainer Warning angeregt hat, in: Die Phantasie der Realisten. München 1999. Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 77 Roman zur Sprache kommt, weshalb im Folgenden zumindest einige Kostproben angeführt seien: - Montame Zipod, ce pon Bons aime les ponnes chosses, hâlez au Gatran Pleu, temandez ein bedid tinner vin: tes angeois, di magaroni! Anvin ein rebas de Liquillis! - Qu’est-ce que c’est? demanda madame Cibot. - Eh pien! reprit Schmucke, c’esde ti feau à la pourchoise, eine pon boisson, ein poudeille te fin te Porteaux, dout ce qu’il y aura te meilleur en vriantise: gomme tes groguettes te risse ed ti lard vîmé! Bayez! ne tittes rien che fus rentrai tutte l’archand temain madin. (LCP, 73) Der komische Akzent Schmuckes fungiert im Roman als Ideolekt, der aber - auch wenn der Leser über seine Aussprache des Französischen vielleicht lächelt - keineswegs zu einer gänzlichen Ridikülisierung des Deutschen gerät. Im Gegenteil, das Deutsche wird zum wesentlichen Katalysator dessen, was hier die Heroisierung des Freundespaares Pons und Schmucke genannt werden soll. Wenn Balzac im Roman das Wort „héroïquement“ zur Kennzeichnung Schmuckes verwendet, dann weist dies auf eine tragischkomische Komponente des Romans im Zeichen des Deutschen hin, die für die Konzeption des Textes tragend ist: - Ui, répondit Schmucke héroïquement, il le vallait. Dais-doi! ... laisse-nus de saufer! ... Cesde tes bêdises que te d'ébuiser à drafailler quand du as ein drèssor... Rédablis-doi, nus fentons quelque pric-à-prac ed nus vinirons nos churs dranquillement dans ein goin, afec cede ponne montam Zibod ... (LCP, 255) Dass Schmucke und auch Pons am Ende scheiternde Helden sind, relativiert ihren Heroismus keineswegs. Ihr Scheitern erhebt sie vielmehr zu modernen Helden im Sinne Walter Benjamins, der in seinem Passagen-Werk das Transitorische und Vergängliche zum Gegenstand der Reflexion gemacht hat. 24 Der Sammler Pons und sein deutscher Gehilfe Schmucke, dies sind im 24 Das Heroische als Verfallsgeschichte dürfte eine genauere Charakterisierung des ‚karnevalesken’ Elements im Cousin Pons ermöglichen als das Monströs-Groteske, welches Amossy mit einer Überpointierung des kreatürlichen „bas matériel“ als Schlüsselkategorie des Romans ausmacht (vgl. Ruth Amossy: „L’Esthétique du grotesque dans Le Cousin Pons“. In: Balzac et Les Parents pauvres : Le Cousin Pons, la Cousine Bette. Hg. von Françoise van Rossum-Guyon, Michiel van Brederode. Paris 1981, S. 135-145; hier S. 137). Schulz-Buschhaus wiederum erkennt ein Heroisch- Komisches bei Balzac, das er gattungsspezifisch als konzeptuelle „Gefahr“ oder „Drohung“ klassifiziert, da es ein „obsoletes Genre“ indiziere (vgl. Schulz-Buschhaus: Die Normalität des Berufsbürgers, S. 463). Im vorliegenden Aufsatz werden die komisierenden Tendenzen im Cousin Pons hingegen als Verschaltung von heroischen und verfallsgeschichtlichen Tendenzen bzw. als historische, konzeptuelle Vexiergrößen im Sinne Benjamins aufgefasst: Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf von Tiedemann. 2 Bde. Frankfurt/ Main 1983. Benjamin greift in dem Fragment gebliebenem Werk u.a. die von ihm wiederholt behandelte Figur des Flaneurs auf, der Angela Oster 78 Sinne Benjamins Gegenpole zum Allegoriker, der seinerseits die Vereinigung des Zusammengehörenden längst aufgegeben hat. Pons und mit ihm Schmucke hingegen wollen, um es zugespitzt zu formulieren, von der modernen Allegorie nichts wissen. Anders als das kritisch perspektivierte, weil profit-gierige Bürgertum im Roman, avancieren Pons und Schmucke zu - wenn auch humoristisch betrachteten - Heroen einer vergangenen Welt, die den Kampf gegen die moderne Zerstreuung mit der Pflege der Kunstsammlung aufgenommen haben: Vielleicht läßt sich das verborgenste Motiv des Sammelnden so umschreiben: er nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf. Der große Sammler wird ganz ursprünglich von der Verworrenheit, von [dem Zustand] der Zerstreutheit angerührt, in dem die Dinge sich in der Welt vorfinden. […] Der Allegoriker bildet gleichsam zum Sammler den Gegenpol. 25 Pons’ und Schmuckes Scheitern im Zeichen des Verfalls, wie überhaupt ihre wiederholten, scheinbar lächerlichen Bloßstellungen, entziehen sich der eindeutigen Komik oder Groteske, weil die beiden Freunde den Gesetzmäßigkeiten der Ridikülität - nämlich der Fremdbestimmtheit, wie sie beispielsweise in den Komiktheorien von Rainer Warning oder Karlheinz Stierle auf den Punkt gebracht worden ist 26 - entgehen. Die beiden Figuren mögen zwar skurril sein, aber sie reizen nicht zum abwertenden Lachen. „Du ridicule au sublime il n’y a pas qu’un pas“, 27 so lautet das sprichwörtliche, napoleonisches Bonmot, welches auf den vorliegenden Fall gewendet impliziert: Pons und Schmucke bewegen sich stets auf des Messers Schneide zwischen dem Erhabenen und dem Ridikülen, verlieren die städtebauliche „Passage“ als Konsumtempel betritt, in dem auch die Kunst zur Ware wird. In allegorischen „Wunschbildern“ interferieren, so Benjamin, überkommene Tradition und modernes Pathos des Neuen. Die Denk- und Wunschbilder Benjamins operieren zwar auf den ersten Blick besehen weniger distinktiv als die Gattungszuweisungen, mit denen Schulz-Buschhaus (sehr überzeugend) argumentiert. Doch sie haben einen anders gelagerten Vorteil, nämlich neben den gattungsspezifischen Dominanzstrukturen auch widerständige Tendenzen oder Bruchstellen der Historiographie freizulegen. 25 Benjamin: Das Passagen-Werk, Bd. 1, S. 279. 26 Karlheinz Stierle: „Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie“. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning. München 1976 (= Poetik und Hermeneutik VII), S. 237-268 und Rainer Warning: „Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning. München 1976 (=Poetik und Hermeneutik VII), S. 279-333. Vgl. außerdem zum ‚comique qui ne fait pas rire’ speziell im Cousin Pons den Aufsatz von Helmut Pfeiffer: „Balzacs Parasiten. Grenzen der Repräsentation in den Parents Pauvres“. In: Konkurrierende Diskurse. Studien zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Zu Ehren von Winfried Engler. Hg. von Brunhilde Wehinger. Stuttgart 1997, S. 239-256, dort S. 242. 27 Dominique de Pradt: Histoire de l'ambassade dans le Grand Duché de Varsovie en 1812. Paris 1815, S. 215. Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 79 dabei aber nie das Gleichgewicht. Denn ihre im Roman wiederholt als typisch ‚deutsch’ ausgewiesene Lebensfremdheit und ihr Anachronismus mögen zwar auf einem marginalisierten Wissen über die Kunst beruhen, dem zwischenzeitlich die soziale Reputation entzogen worden ist. Doch Pons ist in den Gemengelagen der Habgier der Einzige, der zum interesselosen Wohlgefallen und zur selbstvergessenen Hingabe der Kunst fähig ist. Der Einzige, der ihm hierin ähnelt, ist der Deutsche Schmucke. Ja mehr noch, das Deutsche, die „idée allemande“ (LCP, 106), avanciert in Le Cousin Pons zum Sinnbild einer zwar hoffnungslos altmodischen und dem Verfall anheim gegebenen, aber in ihrer Authentizität dennoch unberührbaren - weil zeitenthobenen - und in diesem Sinne heroischen Kunst. 28 Deutschland wird zum Emblem einer überkommenen Naivität (das Wort ist im Roman ebenfalls rekurrent) und zwar im geradezu schillerschen Sinne des Wortes. 29 Schiller unterscheidet bekanntlich zwischen kindischer und kindlicher Naivität. Im letzteren Sinne werden Pons und Schmucke im Roman vom Erzähler immer wieder als Naive im deutschen Geiste nobilitiert, was unabdingbare Voraussetzung für jede authentische Kunst sei. Diese steht in Balzacs Spätphase der Menschlichen Komödie im permanenten Kampf mit der Welt des Profits, in der Kunst nur mehr als Substitut ihres Geldwertes und der kommerziellen Spekulation eine Rolle spielt. Doch auch an diesem Punkt entzieht sich Balzac der eindeutigen Parteinahme. Denn der Kapitalismus stellt wiederum die Bedingung dar, unter deren unerbittlicher Gewissheit die Möglichkeit der Freundschaft (zu) allererst ihre besondere emotionale Intensität erfährt. Im Zeichen der deutschen Treue wird damit die Einbahnstraße des Kapitalismus von Balzac subtil unterlaufen, indem der dialektische Zusammenhang zwischen Kunst und Marktwert durch das Leitmotiv des ‚Allemand comme’ konterkariert wird. Es ist damit ausgerechnet das überkommene Feindbild der Franzosen, Deutschland, welches im Cousin Pons zwar sicherlich nicht zur Gänze außer Kraft gesetzt wird. Aber, und das ist das Entscheidende: Die traditionelle, scheinbar 28 Dass das Deutsche generell mit Formen des Heroismus im Roman identifiziert wird, erweisen weitere Textstellen. So wird nicht nur wiederholt Schmucke, sondern beispielsweise auch der Deutsche Brunner ausdrücklich als „héros“ (LCP, S. 82) apostrophiert. 29 Eine andere, aber den hier verfolgten Analyseschwerpunkten nicht widersprechende These verfolgt Karlheinz Stierle: „Naivität ist bei Balzac eine Kategorie des Vergangenen. Wie die sublime Naivität des Colonel erratisch aus dem Empire in eine neue Epoche hineinragt und so zum auslösenden Moment des drame wird, so steht in Balzacs spätem Roman Le Cousin Pons die Naivität des Musikers und leidenschaftlichen Kunstsammlers Pons im Horizont der Vergangenheit des Empire und ragt fremd hinein in die Gegenwart Balzacs, das Paris der vierziger Jahre.“ (Karlheinz Stierle: „Epische Naivität und bürgerliche Welt. Zur narrativen Struktur im Erzählwerk Balzacs“. In: Honoré de Balzac. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1989, S. 175-217, hier S. 200). Angela Oster 80 alternativlose Opposition von Deutschland und Frankreich wird dekonstruiert. Der Preis für den als deutsch apostrophierten Widerstand gegen den Kapitalismus ist allerdings, dass Schmucke und Pons in der Welt der Moderne nicht angekommen sind, geschweige denn in dieser nachhaltig Fuß fassen können. Ihnen, und damit in den Augen Balzacs auch Deutschland, ist (noch) nicht bewusst geworden, dass - epistemologisch gesprochen - die universalistischen Prämissen einer klassischen Repräsentation in der Mitte 19. Jahrhunderts endgültig gebrochen sind. Auch der bewährte Forschergeist der deutschen Kultur und Wissenschaft, sein Sinn für das Akribische und Tiefsinnige, werden bereits zu Beginn des Romans ironisch zur Disposition gestellt: Pons et Schmucke avaient en abondance, l’un comme l’autre, dans le cœur et dans le caractère, ces enfantillages de sentimentalité qui distinguent les Allemands: comme la passion des fleurs, comme l’adoration des effets naturels, qui les porte à planter de grosses bouteilles dans leurs jardins pour voir en petit le paysage qu’ils ont en grand sous les yeux; comme cette prédisposition aux recherches qui fait faire à un savant germanique cent lieues dans ses guêtres pour trouver une vérité qui le regarde en riant, assise à la marge du puits sous le jasmin de la cour; comme enfin ce besoin de prêter une signifiance psychique aux riens de la création, qui produit les œuvres inexplicables de Jean-Paul Richter, les griseries imprimées d’Hoffmann et les garde-fous in-folio que l’Allemagne met autour des questions les plus simples, creusées en manière d’abîmes, au fond desquels il ne se trouve qu’un Allemand. (LCP, 38f.) Ob diese Einschätzung korrekt oder unzutreffend ist, soll an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Es sollte in den vorangegangenen Zeilen vielmehr versucht werden zu zeigen, wie die Kultur Deutschlands im Cousin Pons am Horizont als Fluchtpunkt einer imaginären Kunstwelt aufscheint, deren Ambivalenz Balzac sehr wohl bewusst ist. Ihr Gegenpol, und hier agiert Balzac dezidiert in der Tradition Goethes, ist jene obskure Seite, die im Roman ebenfalls zur Sprache kommt. Sie verdichtet sich in der Figur des Fritz Brunner, der eigentlich mit der Tochter der Camusot verheiratet werden soll. Brunner wurde im Vorangegangenen bereits als Freund des Musikers mit dem besonders deutschen Namen Wilhelm Schwab erwähnt und tritt im Roman als glorifizierter „Werther“, als „Allemand francisé“ (LCP, 108) in Erscheinung. Tatsächlich sieht der Erzähler in Brunner jedoch vor allem einen gerissenen „Méphistophélès de Goethe“ (LPC, 82), der im Verlauf der Werbung um Cécile Camusot zwar einen scharfsinnigen Blick für die materiellen Vorteile einer etwaigen Hochzeit beweist, vor allem aber noch viel glasklarer die wenig erstrebenswerte Realität vorauszusehen vermag, die ihn an der Seite der verwöhnten Tochter der Camusot erwarten würde. Eben dieser ‚Realismus’ Fritz Brunners ist das Resultat nicht eines nüchternen, sondern vielmehr „bizzarre[n]“, „extraordin[ä]re[n]“ (LCP, 83) Lebens, das gerade auf der Basis seiner Schicksalsschläge vom Erzähler zur Heroische Verfallsgeschichten im Musiker- und Antiquarsmilieu 81 poetischen „Ode“ (LPC, 86) stilisiert wird. Goethes Frankfurt am Main, dem der Bankiersfilius Brunner entstammt, scheint damit am Horizont des balzacschen Horizontes als vager Fluchtpunkt einer wenn nicht imaginären, so doch zumindest vergangenen deutschen Welt auf, in der das Kaufmännische und das Künstlerische noch in einer friedfertigen Koexistenz florierten. Jenseits der bloßen Nationalstereotypen des Deutschen, welche den Cousin Pons kontinuierlich infiltrieren, ist es diese imaginäre Matrix der Harmonie von Kunst und Kommerz, die gerade aufgrund ihrer plakativen Paradigmatik eine moralische Kritik installiert, welcher der Erzähler wiederum stellenweise eine romantische oder märchenhaft anmutende Poesie abzugewinnen vermag. Die Enklaven des Poetischen entfalten sich im Verlauf des Romans jedoch nur phasenweise und fallen letztlich den balzacschen Spektakeln des kapitalistischen Konkurrenzkampfes zum Opfer. Analytisch hinterfragt wird diese Entwicklung vom Erzähler kaum. Allenfalls werden ihre moralischen Valeurs lakonisch pointiert, so besonders prägnant am Schluss des Romans: „Cette fin, digne de ce scélérat, prouve en faveur de la Providence que les peintres de moeurs sont accusés d’oublier, peut-être à cause des dénoûments de drames qui en abusent.“ (LCP, 367) Auf dieser Folie ist es schließlich der goethesche Brunner, welcher der naiven Romantik im Roman eine klare Absage erteilt, indem er eine Hochzeit mit der Tochter der Camusots verweigert. 30 Dies erweist sich im Verlauf der Erzählstrategie des Romans als Auslöser für den Untergang einer unwiderruflich der Vergangenheit angehörenden Welt, für welche der scheiternde „parent pauvre“ und gleichwohl heroisch nobilitierte Vetter Pons gemeinsam mit seinem Freund Schmucke - jenseits der perfiden Exklusionsrituale der zeitgenössischen französischen Gesellschaft Balzacs - im Horizont Deutschlands steht. Dass die Verabschiedung einer kunstzentrierten Gesellschaftstheorie wiederum ihrerseits nicht von Dauer war, ist bekannt. Der Dekadentismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts greift das Erbe Pons’ wieder auf. Es profitiert von den phantasmagorischen Widerspruchsformeln der mythischen Verfallsgeschichten, wofür der museale Elfenbeinturm von Des Esseintes in Huysmans’ À Rebours nur ein singuläres, wenn auch das vielleicht berühmteste Beispiel darstellt. 30 Damit steht die vorliegende Deutung konträr zu den Ausführungen von Philippe Mustiere und Patrick Nee in „De l’artiste et du pouvoir. L’Allemagne comme horizon mythique du romantisme dans Le Cousin Pons“. In: Balzac et Les Parents pauvres : Le Cousin Pons, la Cousine Bette. Hg. von Françoise van Rossum-Guyon, Michiel van Brederode. Paris 1981, S. 47-59. Zwar wird Deutschland im Cousin Pons sicherlich auch - aber eben nicht nur - als „terre de romantisme“ (ebd., S. 47) gezeichnet. Doch Deutschland ist nicht einfach nur „le modèle de ce […] romantisme balzacien“ (ebd., S. 48), sondern vielmehr der Filter eines kunsthistorischen Heroismus, der im Horizont der „mythischen“ (ebd., S. 59) Zeitenthobenheit agiert. Stephan Kammer „Ce collatéral […] de Lavater“ - zur Genealogie von Balzacs physiognomischem Erzählen 1 Importe: Physiognomik in Frankreich (1780-1810) Während gut anderthalb Jahrhunderten verheißt das mit der Bezeichnung ‚Physiognomik’ verbundene Projekt dem modernen anthropologischen Wissen einen Zugriff vom ‚Äußeren’ des Menschen auf dessen ‚Inneres’, wobei die genauere Bestimmung des Ausgangs- und Zielpunkts der dazu in Anschlag gebrachten Verfahren im Einzelnen ebenso verhandelbar bleibt wie diese selbst. Das Unternehmen, dessen neuzeitliche Karriere mit Johann Caspar Lavaters Programmschrift „Von der Physiognomik“ (1772) und den vier opulent ausgestatteten Foliobänden der Physiognomischen Fragmente (1775-78) beginnt, erweckt schnell beträchtliche Aufmerksamkeit; 1 von Anfang an sind die Fundamente seines Anspruchs dabei ebenso umstritten wie die Konkreta ihrer Umsetzbarkeit und deren potentielle Konsequenzen - das werden sie auch bleiben. Allein deshalb schon fällt es schwer, dem im 1 Im Folgenden werden Lavaters Schriften zur Physiognomik unter folgenden Siglen und mit Angabe von Band- (römisch) und Seitenzahlen (arabisch) direkt im Text zitiert: Ph = Johann Caspar Lavater: „Von der Physiognomik“ (Leipzig 1772). In: Ders.: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. 4 Bde., hier Bd. 4: Werke 1771-1773. Hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler. Zürich 2009, S. 515-597. PhF = Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. 4 Bde. Leipzig, Winterthur 1775-1778. EPh = Johann Caspar Lavater: Essai sur la physiognomonie, destiné à faire connoître l’homme & à le faire aimer. 4 Bde. La Haye 1781-1803. Ph-M = Johann Caspar Lavater: L’Art de connaitre les hommes par la physionomie. Nouvelle édition, corrigée et disposée dans un ordre plus méthodique, précédée d’une notice historique sur l’auteur; augmentée d’une exposition des recherches ou des opinions de La Chambre, de Porta, de Camper, de Gall, sur la physionomie; d’une Histoire anatomique et physiologique de la face avec des figures coloriées; et d’un très-grand nombre d’articles nouveaux sur les caractères des passions, des tempéramens et des maladies: par M. Moreau (de la Sarthe), docteur en médecine. Prospectus u. 10 Bde. Paris 1806-1809. Weitere verwendete Siglen: FA = Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel [u.a.]. 40 Bde. Frankfurt/ Main 1985-1999. Zur Genealogie von Balzacs physiognomischem Erzählen 85 Die in Frankreich zu konstatierende Aufnahme des modernen physiognomischem Projekts, die eben auch eine Erweiterung und Umarbeitung mit sich bringt, ist deshalb für dessen wissensgeschichtliche Konturen von grundlegender Bedeutung - und sie steht auf einer ganz besonderen Materialbasis. Gleich zwei französische Gesamtausgaben von Lavaters Monumentalwerk erscheinen in den knapp 30 Jahren zwischen 1781 und 1809. Zunächst die in Den Haag publizierte vierbändige Ausgabe des Essai sur la physiognomonie, destiné à faire connoître l’homme & à le faire aimer (1781- 1803): Sie erhebt schon mit ihrem Titel den Anspruch einer ‚autorisierten’ französischen Übertragung von Lavaters Fragmenten; unterstrichen wird dies durch die Widmungsschreiben, die Lavater selbst den drei noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Bänden voranstellt. 4 Man darf von dieser französischen Ausgabe allerdings der exakten Titelkorrespondenz zum Trotz keine werk- oder auch nur textgetreue Übersetzung im strengen Sinn erwarten - so beschließt beispielsweise den ersten Band Lavaters Reaktion auf Lichtenbergs 1778 publizierte Physiognomik-Kritik, die in der deutschen Ausgabe den vierten Band eröffnet hat. Umstellungen und Erweiterungen sind, wie die „préface du traducteur“ annonciert, Programm: [L]a Traduction Françoise […] n’est point faite d’après l’Edition Allemande, mais sur un Manuscrit où l’Auteur a refondu plusieurs morceaux du Texte, arrangé les matières dans un nouvel ordre & ajouté de nouveaux jugemens. (EPh I, x) Aus diesem Grund sei die Ausgabe auch jenen von Nutzen, die mit den Fragmenten bereits vertraut seien. Johann Heinrich Merck zeichnet in einem Brief an Friedrich Nicolai allerdings ein weniger schmeichelhaftes Bild der Übersetzung: „Ich kan kein Einziges französisches Wort im wahren Zusammenhange finden.“ 5 Wäre mithin die Textgeschichte dieser Übersetzung im Einzelnen zu prüfen, so zeigt doch gerade diese philologisch problematische Bestandsaufnahme ein für Lavaters Publikationspolitik charakteristisches Profil. Fritz Gutbrodt zufolge gehört die „ständige Kommentierung seiner Arbeit und der Arbeit anderer“, und damit eben auch die permanente rekursive Erweiterung des Post- und Druckverkehrs unter Lavaters Namen, grundlegend zu seiner „Praxis einer fast schon 4 Der dritte Band der Ausgabe erscheint 1786, der vierte erst 1803. Wie das Vorwort zum vierten Band vermerkt, habe einem zeitnäheren Erscheinen die französische Revolution Abbruch getan: Dass sie als „catastrophe […] peu favorable“ bezeichnet wird, die für „la dispersion du plus grand nombre des souscripteurs“ (EPh IV, v) verantwortlich zu machen sei, ließe wohl, selbst wenn es sich dabei nur um ein gleichsam topisches Argument handeln sollte, Aufschlüsse auf den hauptsächlichen Adressatenkreis des (kostspieligen) Subskriptionsunternehmens zu. 5 An Friedrich Nicolai (10. April 1782). In: Johann Heinrich Merck: Briefwechsel. Hg. von Ulrike Leuschner in Verbindung mit Julia Bohnengel, Yvonne Hoffmann und Amélie Krebs. 5 Bde. Göttingen 2007, hier Bd. 3, S. 49. Stephan Kammer 86 obsessiven interaktiven Kommunikation“. 6 Für die Proliferation per Rekurrenz sind in diesem Fall neben Lavater selbst, so viel scheint unumstritten, 7 Marie Elisabeth de La Fite und Heinrich Renfner verantwortlich, die, zusammen genommen, einen ziemlich bunten Strauß von deutschsprachiger Literatur ins Französische gebracht haben. De La Fite hat neben Wielands Geschichte des Fräuleins von Sternheim und Balthasar Münters Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen und Königlich Dänischen Geheimen Cabinetsministers Johann Friederich Struensee auch eine dreibändige Ausgabe der Vie et lettres von Christian Fürchtegott Gellert übertragen; 8 Renfner, von 1771 bis 1791 als preußischer Gesandter in den Haag tätig und schließlich zum wirklichen königlichen Geschäftsträger an der Gesandtschaft aufgestiegen, hat Johann George Sulzers Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa […] gethanen Reise und Rückreise sowie Friedrich Nicolais 6 Fritz Gutbrodt: „Physiognomik, Predigt, Okkultismus. Lavater und die Medien der Kommunikation im 18. Jahrhundert“. In: Im Lichte Lavaters. Lektüren zum 200. Todestag. Hg. von Ulrich Stadler, Karl Pestalozzi. Zürich 2003, S. 117-140, hier S. 127f. 7 Als dritter Name - da wird es hinsichtlich des Vornamens, ja sogar des Geschlechts unübersichtlicher - ist Caillard anzutreffen: Nicht ganz eindeutig hält die Biographie universelle classique unter dem Lemma ‚Caillard, Ant[oine]-Bernard’ fest: „Un autre écrivain de ce nom a été l’un des traducteurs des Essais sur la physiognomonie par J.-G. Lavater“ (Biographie universelle classique, ou dictionnaire historique portatif, par une société de gens de lettres. 4 Bde. Paris 1829, hier Bd. 1, S. 426). Ulrike Leuschner nennt im Kommentar des zitierten Briefes von Merck an Nicolai als dritte Übersetzerin und ohne weitere Hinweise eine „Mademoiselle Caillard“ (Merck: Briefwechsel, Bd. 3, S. 51). 8 Die bibliographischen Angaben bei Johann Georg Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. 15 Bde. Leipzig 1802-1816, Bd. 3, S. 377f. Eine kurze biographische Notiz zu ihr (sowie zur Lavater-Übersetzung) findet man in der „Vorrede zur vierten Auflage“ von Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker. 3 Bde. Berlin, Stettin 1799, Bd. 1, S. ix-x: „Diese gelehrte Frau ist in Adelungs Gelehrtenlexikon und in Schlichtegroll’s Nekrolog nicht angeführt. Sie war eine gebohrne Boué aus Hamburg, und Gattinn des Hrn Johann de la Fite, welcher im J. 1781 als Kapellan des Statthalters und Prediger der Wallonischen Kirche im Haag starb. Sie führte im J. 1780 in Gesellschaft des Hrn. Geheimenlegationsraths Renfner die mit sehr großen Schwierigkeiten verknüpfte Übersetzung des Ersten Theils von Lavaters großer Physiognomik, sehr glücklich aus. Da Madame de la Fite aber nach dem Tode ihres Mannes den Ruf als Vorleserinn der Königinn von England erhielt (in welchem Amte sie im J. 1795 zu London starb), so übersetzte Hr Renfner den zweyten und dritten Band allein, welche auch gedruckt wurden. Den vierten Band hat er auch halb übersetzt; aber schon seit dem J. 1790 hat Hr Lavater aus unbekannten Ursachen die Herausgabe dieser Übersetzung ganz abgebrochen, und hat nicht bewogen werden können, den Abdruck des mit so vieler Mühe und Kosten angefangenen Werks in französischer Sprache beendigen zu lassen.“ Man wird nicht fehlgehen, wenn man in dieser Anmerkung eine Fortsetzung zu Nicolais Rezension der ersten drei Bände sehen wird; vgl.: Anhang zu dem drey und funfzigsten bis sechs und achtzigsten Bande der allgemeinen deutschen Bibliothek. Berlin, Stettin 1791, 4. Abt., S. 2364-2367. Zur Genealogie von Balzacs physiognomischem Erzählen 87 Versuch über die Beschuldigungen welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, und über dessen Geheimniß übersetzt. 9 Innerhalb von nur vier Jahren, zwischen 1806 und 1809, erscheint kurz nach dem Abschluss der ersten Übersetzung die zweite französische Gesamtausgabe: L’Art de connaitre les hommes par la physionomie, par Gaspard Lavater. Wiederum gibt bereits der Titel, genau genommen diesmal der wahrlich barocke Untertitel, einigen Aufschluss über die Konturen des Unternehmens: Angekündigt wird eine […] nouvelle édition, corrigée et disposée dans un ordre plus méthodique, précédée d’une notice historique sur l’auteur; augmentée d’une exposition des recherches ou des opinions de La Chambre, de Porta, de Camper, de Gall, sur la physionomie; d’une Histoire anatomique et physiologique de la face avec des figures coloriées; et d’un très-grand nombre d’articles nouveaux sur les caractères des passions, des tempéramens et des maladies. Als Herausgeber verantwortlich zeichnet Jacques-Louis Moreau de la Sarthe, Arzt und Bibliothekar an der nachrevolutionären Faculté de Médecine. 10 Ihm geht es weniger darum, der Leserschaft mit der Physiognomik „un objet de méditation“ (EPh I, v) zu verschaffen, wie es Lavaters Vorwort zur französischen Erstübersetzung propagiert hat. Moreau arrangiert um, ergänzt und stiftet Ordnung in den Fragmenten, die sowohl in der Originalausgabe als auch in der Haager Edition geradezu programmatisch zerstreut und kontingent daherkämen („dispersés et placés au hasard“, Ph-M Prospectus, 5). Vor allem aber geht es ihm darum, das Projekt der Physiognomik dort zu komplettieren, wo mangelnde Interessen des Zürcher Pfarrers zu blinden Flecken geführt haben, und zugleich dort zu berichtigen, wo mangelnde Kompetenzen Fehler und Fehleinschätzungen nach sich ziehen: Moreau erinnert daran, dass Lavater weder Physiologe noch Arzt, ja noch nicht einmal Naturforscher gewesen sei („il n’était ni physiologiste, ni médecin, ni même naturaliste“, ebd.). Insbesondere die Naturgeschichte sowie den Rapport zwischen Physiologie und bildender Kunst macht Moreau als Lücken der Fragmente aus. Abhilfe schafft er, indem er die inzwischen angefallenen und diversifizierten physiognomischen Abhandlungen eines Camper, Blumenbach oder Gall in seine Ausgabe integriert und das Territorium dieses Diskurses selbst in Bereiche expandieren lässt, denen Lavaters Charakterentzifferung zumindest skeptisch entgegengetreten ist 9 Vgl. den Eintrag in Johann Christoph Adelung, Heinrich Wilhelm Rotermund: Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexicon. 7 Bde. Leipzig, Delmenhorst, Bremen 1784-1897, hier Bd. 6, S. 1801f. 10 Vgl. zu Moreau den Artikel der Biographie universelle, ancienne et moderne. 85 Bde. Paris 1811-1865, hier Bd. 74, S. 364f. Stephan Kammer 88 (und vice versa): in denjenigen flüchtiger Gefühlsausdrücke und Leidenschaften etwa oder in denen der Mimik. 11 Wollte man die Unterschiede der beiden französischen Ausgaben zuspitzen, wäre somit hauptsächlich der konzeptuellen Differenz zwischen den beiden Unternehmen Rechnung zu tragen: De la Fite und Renfner übersetzen ein Werk - wenn auch eines, dessen Status schon im ‚Original’ von Grund auf prekär und inhomogen ist und dessen textuelle Ordnung im Einzelnen deswegen (auch) in der Übersetzung veränderlich bleibt. Moreau dagegen versucht ein Archiv des physiognomischen Diskurses zu erstellen; er versammelt und kommentiert das darin Sagbare und gibt ihm eine neue Struktur. Wenn es dabei zum erstaunlichen Befund kommen kann, dass Lichtenbergs Physiognomik-Kritik ohne Umstände Teil dieser Ausgabe werden kann, dann muss man das, strukturell besehen, eben diesem Konzept zuschlagen. 12 Das von Moreau bereitgestellte Archiv wird die Ausgangbasis für Balzacs Partizipation am Physiognomik-Import bilden; 13 es prägt den Zuschnitt dieser Partizipation, die so selbst voll und ganz den Einschlag des ‚Kollateralen’ zeigt. 14 11 Gerade am Ausschluss dieser arbeitet sich das Projekt von Lavaters Physiognomik ab: Die ‚festen’, keiner willkürlichen Manipulation unterworfenen Teile des menschlichen Äußeren sind ihr Bezugspunkt, der die flüchtig-variablen ‚pathognomischen’ Zeichen ebenso wie die Kalkül und kulturtechnischer Manipulation unterworfene eloquentia corporis wegzufiltern erlauben soll, vgl. PhF IV, 39 („Pathognomik hat mit der Verstellungskunst zu kämpfen; nicht so die Physiognomik.“) und PhF II, 55-63 („Ueber Verstellung, Falschheit und Aufrichtigkeit“); in den französischen Ausgaben: EPh I, 26 und II, 9-17 („De la dissimulation, de la fausseté et de la candeur“); Ph-M I, 126 und V, 278-289 (allerdings unter der epistemologisch komplett umgestellten Kapitelüberschrift „Des caricatures, et des physionomies altérées et dégradées“). 12 Vgl. Hans-Georg von Arburg: Konsensus im Dissensus? Der Physiognomikstreit zwischen Lavater und Lichtenberg im Lichte der französischen Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts. Bern 2000 (= Akademievorträge Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Heft 2). - Von Arburgs Feststellung, diese Integration werde durch einen „wissenschaftsgeschichtliche[n] Paradigmenwechsel“ hin zu einer “physiologischen Grundsatzwissenschaft“ der Anthropologie möglich (S. 14), trifft sicherlich zu, erklärt aber nicht die weiterreichende konzeptuelle Umstellung, die in Moreaus Textarrangement zu beobachten ist. 13 In einem Brief an seine Schwester meldet Balzac am 20. August 1822 den Kauf eines „superbe Lavater“, der gerade beim Buchbinder liege. Dabei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die 1820 erschienene zweite Auflage von Moreaus Ausgabe. So Fernand Baldensperger: „Les théories de Lavater dans la littérature française“. In: Études d´histoire littérarie. Paris 1910, S. 51-91, hier S. 71. 14 Diese Rezeptionsbesonderheit ist, soweit ich sehe, in der ja durchaus reichhaltigen Forschung zu Balzac und Lavater, resp. Balzac und der Physiognomik nirgends einlässlich verfolgt worden - selbst dort nicht, wo die entsprechende Ausgabe identifiziert wird; jüngst z.B. bei Alain Montandon: „Balzac et Lavater“. In: Revue de littérature comparée 4 (2000), S. 471-491. Zur Genealogie von Balzacs physiognomischem Erzählen 89 2 Goethes Kassiber Für die Behauptung, dass Moreaus Archiv der Physiognomik der literarischen Darstellung Anschlüsse erlaubt, die Lavaters Fragmente so nicht ermöglicht oder provoziert haben, lässt sich ein gewichtiges Indiz ex negativo anführen, das sich aber auf ein systematisches Argument stützen kann. Trotz der überaus öffentlichkeitswirksamen Debatte über die Fragmente nämlich, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in Gang ist, findet man in der deutschsprachigen ebenso wie in der französischen Literatur der Zeit kaum Spuren einer physiognomisch informierten Beschreibungskunst oder von Darstellungsstrategien, die eine solche etwa in die Dienste der literarischen Figurenzeichnung oder -motivierung zu nehmen verstünde. 15 Dies erstaunt - mit einem ersten Blick auf den kulturellen Entstehungskontext der neuzeitlichen Physiognomik - umso mehr, als bereits der sicherlich prominenteste der zeitweiligen Mitarbeiter an Lavaters Unternehmen eine Expansion der Physiognomik vorgeschlagen hat. Diese scheint in ihren Zielrichtungen durchaus mit den Absichten vergleichbar, die Moreau ein Vierteljahrhundert später artikuliert. Wie Moreau hat sich Goethe insbesondere für die Angelegenheiten der „bildenden Kunst“ und der „Historien und Portraitmahler“ von der Physiognomik einiges versprochen. 16 Wie Moreau stellt Goethe in seiner Physiognomik-Kritik ex post aber auch den radikalen, ja programmatischen Individualismus von Lavaters Unterfangen zur Debatte - und zwar, indem er ihn in seinen Voraussetzungen und Konsequenzen als durchaus zweischneidiges Unterfangen beschreibt. Als eindeutig problematisch sogar hält Goethe daran die mangelnde Methode fest, die er auf den Physiognomik-Begründer selbst zurückführt: „[D]a er aber nicht geschaffen war, irgendeine Abstraktion methodisch zu suchen, so hielt er sich am einzelnen Falle und also am Individuum.“ 17 Wie Moreau schließlich skizziert Goethe seinen eigenen Erweiterungsvorschlag als 15 Insbesondere für die französische Literatur zeigt das die Untersuchung von Régine Borderie: Balzac, peintre de corps. La Comédie humaine ou le sens des détails. Paris 2002, insb. S. 9-15 und S. 215-220. Die verdienstvolle Abhandlung leidet indes ebenfalls darunter, dass ihr Lavaters Physiognomik als historisch undifferenzierte, gleichsam verabsolutierte Bezugsgröße für Balzacs Beschreibungskunst dient - und ihr so die gerade in der französischen Rezeption der Fragmente zu konstatierenden Differenzen und damit Balzacs literarischer Beitrag zur ‚Modernisierung’ auch des physiognomisch-anthropologischen Wissens entgehen. 16 Brief von Johann Wolfgang Goethe an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn (1. Juni bis 4. Juli 1774). In: Goethes Werke. 4 Abt. 133 Bde. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Böhlau, Weimar 1887-1919, hier Abt. 4 Bd. 2, S. 176. 17 Johann Wolfgang Goethe: „Campagne in Frankreich 1792“, FA XVI, 529. - Vgl. Ph-M I, 5: „Lavater, trop occupé de ses observations, et naturellement disposé à l’enthousiasme, avait dû négliger cette méthode, cette liaison, sans lesquelles ses recherches ne peuvent former un ensemble, ni faire accorder à leur auteur toute la gloire qu’il a méritée.“ Stephan Kammer 90 Kassiber unter der Buchadresse der Physiognomischen Fragmente - und das an einer denkbar prominenten Stelle: als „Zugabe“ nämlich zum zweiten Fragment „Von der Physiognomik“, in dem Lavater die konzeptuellen Konturen seines Unternehmens vorgestellt hat: Man wird sich öfters nicht enthalten können, die Worte Physiognomie, Physiognomik in einem ganz weiten Sinne zu brauchen. Diese Wissenschaft schließt vom Aeußern aufs Innere. Aber was ist das Aeußere des Menschen? Warlich nicht seine nackte Gestalt, unbedachte Geberden, die seine innern Kräfte und deren Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit, Besitzthümer, Kleider, alles modificirt, alles verhüllt ihn. Durch alle diese Hüllen bis auf sein Innerstes zu dringen, selbst in diesen fremden Bestimmungen feste Punkte zu finden, von denen sich auf sein Wesen sicher schließen lässt, scheint äußerst schwer, ja unmöglich zu seyn. Nur getrost! Was den Menschen umgiebt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modificiren lässt, modificirt er wieder rings um sich her. So lassen Kleider und Hausrath eines Mannes sicher auf dessen Character schließen. Die Natur bildet den Menschen, er bildet sich um, und diese Umbildung ist doch wieder natürlich; er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzäunt, ummauert sich eine kleine drein, und staffirt sie aus nach seinem Bilde. Stand und Umstände mögen immer das was den Menschen umgeben muß, bestimmen, aber die Art, womit er sich bestimmen läßt, ist höchst bedeutend. Er kann sich gleichgültig einrichten wie andere seines gleichen, weil es sich nun einmal so schickt; diese Gleichgültigkeit kann bis zur Nachläßigkeit gehen. Ebenso kann man Pünktlichkeit und Eifer darinnen bemerken, auch ob er vorgreift, und sich der nächsten Stufe über ihm gleichzustellen sucht, oder ob er, welches freylich höchst selten ist, eine Stufe zurück zu weichen scheint. Ich hoffe, es wird niemand seyn, der mir verdenken wird, daß ich das Gebiet des Physiognomisten also erweitere. Theils geht ihn jedes Verhältniß des Menschen an, theils ist auch sein Unternehmen so schwer, daß man ihm nicht verargen muß, wenn er alles ergreift, was ihn schneller und leichter zu seinem großen Zwecke führen kann. (PhF I, 15) 18 Dieser Erweiterungsvorschlag hätte mit der Verschiebung vom Individualwissen gleichsam zu einer Kulturpoetik und -semiotik gewiss den epistemologischen Kern von Lavaters Unternehmen gesprengt. 19 Indes: Eine solche, zugleich aus Not geborene und selbstbewusst expansive Rekonfiguration der Physiognomik bleibt sowohl innerhalb von Lavaters Projekt singulär als auch in dessen literarischer Proliferation ohne Konsequenzen. Denn bekanntlich versucht zum einen der Zürcher Pfarrer, um die Physiognomik als Form des Wissens vom Individuellen auf einen sicheren 18 Zu Goethe als Verfasser dieser Stelle vgl. Eduard von der Hellen: Goethes Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten. Frankfurt/ Main 1888, S. 34-39. 19 Grundlegend zu dieser Goetheschen Strategie vgl. Gerhard Neumann: „Naturwissenschaft und Geschichte als Literatur. Zu Goethes kulturpoetischem Projekt“. In: Modern Language Notes 114 (1999), S. 471-502. Zur Genealogie von Balzacs physiognomischem Erzählen 91 Grund zu stellen, noch die ‚nackte’ Gestalt der Körperoberfläche bzw. des Gesichts als prekäre Hülle und Schauplatz der Verstellung auszuräumen. 20 Die Silhouette - in ihr versammeln sich ein Medium der Selbstaufzeichnung und ein Reflex auf die Gründungslegende der Porträtkunst 21 - soll deshalb dem Blick des Physiognomikers eine von allen Spielformen willkürlicher Beeinflussung und kultureller Prägung bereinigte Grundlage bieten. „Das Schattenbild“, so Lavater, „ist das schwächste, das leereste, aber zugleich […] das wahreste und getreueste Bild, das man von einem Menschen geben kann“ (PhF II, 90). Es dient deshalb zum Prüfstein, der das charakterbezogene Sein des Individuums von dem „äussere[n] Umstände[n]“ geschuldeten Schein trennt (ebd., 91). Damit ist die Perspektive des Physiognomikers im Kontrast zu Goethes Kassiber nicht lediglich eingeschränkt, sondern genau umgekehrt: Sämtliche Interferenzen mit dem ‚Äußeren’ werden gekappt. Wenn es in den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhundert in der deutschsprachigen Literatur zum anderen eine Form des ‚physiognomischen Erzählens’ gibt, dann ist sie in der physiognomikkritischen Satire zu lokalisieren und trägt lustvoll den Effekten genau dieser perspektivischen Inversion Rechnung. Von Lichtenbergs nachgelassenem „Fragment von Schwänzen“ 22 bis zu Musäus’ Physiognomischen Reisen 23 oder Pezzls Ulrich von Unkenbach 24 dient das Differenzpotential zwischen der medialen Reduktion der Silhouette und der narrativen Expansion von Figurenhandlungen zugleich als strategische Matrix, die den Kurzschluss des physiognomischen Urteils als kategorialen bloßzustellen vermag, und als Anlass für die Ausstellung des deskriptiven Überschwangs, mit dem Lavaters Fragmente auf das Schwarz-auf-Weiß des Schattenrisses reagieren. Die Satiren zeigen, „was passieren kann, wenn die stillgestellte Zeit des physiognomischen Augenblicks […] in Geschichte(n) überführt wird“. 25 Gerade diejenige Bezugsgröße, die seit Blanckenburgs Versuch über den 20 Dazu Ursula Geitner: „Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters“. In: Geschichten der Physiognomik. Text - Bild - Wissen. Hg. von Rüdiger Campe, Manfred Schneider. Freiburg/ Breisgau 1996, S. 357-385. 21 Vgl. Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens. München 1999, S. 151-165. 22 Georg Christoph Lichtenberg: „Fragment von Schwänzen. Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten“. In: Ders.: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. 4 Bde. München 1967-1992, hier Bd. 3., S. 533-538. - Zu Lichtenbergs und den im Folgenden genannten Physiognomik-Satiren vgl. Christoph Siegrist: „Satirische Physiognomiekritik bei Musäus, Pezzl und Klinger“. In: Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag. Hg. von Ulrich Stadler, Wolfram Groddeck. Berlin, New York 1994, S. 95-112. 23 Johann Karl August Musäus: Physiognomische Reisen. Voran ein physiognomisch Tagebuch. Heftweis’ herausgegeben. 4 Hefte. Altenburg 1788. 24 Johann Pezzl: Ulrich von Unkenbach und seine Steckenpferde. 2 Bde. Wien 1800-1802, hier Bd. 1, S. 247-361. 25 Geitner: Klartext, S. 380. Stephan Kammer 92 Roman für das Erzählen und mit Lessings Laokoon für die sprachliche Darstellung überhaupt verbindlich und schlechthin unhintergehbar geworden ist, steht damit in einem epistemologischen Konflikt mit den Absichten der Physiognomik: die Handlung. „Der Physiognomist urtheilt“ - so versucht der Protagonist von Musäus’ Reisen seine „physiognomische Reputation“ angesichts einer ganzen Reihe von (Ent-)Täuschungen zu retten - „nicht blos aus einer, nicht einmal aus mehrern Handlungen; er beobachtet die Anlagen, den Charakter, die Grundkräfte, die Hauptstärke, denen sehr oft einzelne Zufälligkeiten durchaus zu widersprechen scheinen.“ 26 Zu einer physiognomischen Erzählstrategie kann Goethes Erweiterungsvorschlag überdies wohl nicht zuletzt deshalb nichts beitragen, weil die in ihm aufgezeigten Wechselbeziehungen zwischen Innerem und Äußerem des Menschen schlicht und ergreifend gar nicht als Teil des physiognomischen Diskurses wahrzunehmen wären. Selbstverständlich spielt die narrative Figuration einer wechselseitigen Prägung von Individuum und Umwelt, Charakter und Umgebung, wie sie die „Zugabe“ postuliert, gerade in Goethes eigenen Romanen durchaus eine Rolle. „[I]ndem das Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt“, kommentiert der Erzähler die vestimentäre Neuausstattung Ottiliens in den Wahlverwandtschaften (FA VIII, 313) - einem Text, der den poetologischen Kalkül „wechselseitige[r] Bezugnahme“ ohnehin in allen nur erdenklichen Facetten zur Darstellung bringt. 27 An die Sammlung des Oheims in der zweiten Fassung von Wilhelm Meisters Wanderjahren (1829) wäre außerdem zu denken, in der die Hinterlassenschaften „bedeutender Männer“ durch „Reliquien“ - Gegenstände ihres Gebrauchs, ja auch nur Objekte ihrer Berührung - und Porträts vertreten sind. 28 Und in den ausführlichen „Gesichtsbeschreibungen“ von Goethes Autobiographie dienen selbst explizite physiognomische Inzitamente nur dazu, „die Frage nach dem Wesen der Person […] in die Frage nach der Beziehung zwischen Betrachter und Betrachtetem“ umzumünzen. 29 Als extensiver und expliziter Bestandteil einer Physiognomik also bleibt Goethes Vorschlag, auch wenn 26 Musäus: Physiognomische Reisen, S. 143 und 135 (das Zitat in der Parenthese). 27 Waltraud Wiethölter: „Von der Anstalt des Wissens und der Liebe zum eigenen Rock. Goethes Wahlverwandtschaften, enzyklopädisch“. In: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes Wahlverwandtschaften. Hg. von Gabriele Brandstetter. Freiburg/ Breisgau 2003, S. 65-89, hier S. 87. 28 Vgl. FA X, 340f. - Ich habe die ‚physiognomische’ Logik dieser Erzählpassage an anderer Stelle - und bezogen auf eine ‚Physiognomik der Handschrift’ - näher ausgeführt: Stephan Kammer: „Reflexionen der Hand. Zur Poetologie der Differenz von Schreiben und Schrift“. In: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Hg. von Davide Giuriato, Stephan Kammer. Basel, Frankfurt/ Main 2006, S. 131-161. 29 Peter von Matt: … fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. München 1983, S. 81. Zur Genealogie von Balzacs physiognomischem Erzählen 93 die ihm zugrunde liegende Matrix des Wechselverhältnisses von Individuum und Umwelt in den Romanen allenthalben narrativ implementiert werden wird, jener Kassiber, den er seit seiner Veröffentlichung in den Fragmenten gewesen ist. 3 Vom Individuum zum Typus (und zurück): Balzacs physiognomisches Erzählen In Moreaus Edition wird Goethes Kassiber Teil der methodenbezogenen Einleitung („Introduction et considérations générales“, Ph-M I, 49-293) und erhält die Überschrift „De l’universalité de la Physiognomonie“ (ebd., 127f.). Konvergiert dieser Titel schon erkennbar mit Goethes Anmerkungen, so tritt einige Jahrzehnte später ein eigenständiges, wenn auch heterogenes literarisches Genre zu deren Umsetzung an - allerdings segelt diese gelegentlich auch als ‚literarische Mode’ bezeichnete Expansion des physiognomischen Blicks aufs Soziale, auf die Vergesellschaftung von Handlungen, Existenzen, Orten und Dingen unter einer anderen terminologischen Flagge: derjenigen der physiologie. 30 Vor allem in den Jahren zwischen 1840 und 1842 erscheinen geradezu gehäuft Physiologien - etwa des Blaustrumpfs und des Bonbons, des Gassenhauers und der alten Jungfer, des Studenten und der Pariser Theaterfoyers, des Wucherers und der Kirchenmäuse - nichts an der kulturellen Topographie der ‚Hauptstadt des 19. Jahrhunderts’ wäre zu unbedeutend oder zu belanglos, um zum Objekt einer solcherart ‚physiologischen’ Darstellung zu werden. „Aus der Vielzahl der einzelnen Bilder der Stadt läßt sich so etwas wie eine Systematik der Lesbarkeit der Stadt gewinnen“, so hat Karlheinz Stierle die Programmatik dieser Unternehmungen resümiert. 31 An dieser wilden Enyzklopädie partizipiert nun bekanntlich auch Honoré de Balzac von Anbeginn - und wäre nicht sein Projekt einer Comédie humaine als Unternehmen zu bezeichnen, diese wilde Enyzklopädie in eine Form und einen Darstellungsmodus zu bringen, die das scheinbar Willkürliche ihrer Zugriffe in eine stringenter geregelte Topik der Szenen und Akteure übersetzte und dafür zu einem spezifisch physiognomischen Erzählen ganz im Sinn der skizzierten Expansion der Physiognomik fände? „Das Neue der Balzacschen Sehweise“ - so wäre Stierles grundlegende und maßgebliche Einsicht philologisch zu 30 Vgl. zum Überblick: Hans-Rüdiger van Biesbrock: Die literarische Mode der Physiologien in Frankreich (1840-1842). Frankfurt/ Main, Bern, Las Vegas 1978; dort S. 79-83 eine Bibliographie von 119 Titeln, aus der die im Folgenden genannten Topoi des Sozialen entnommen sind. 31 Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München 1995, S. 227-288, Zitat S. 237. Stephan Kammer 94 supplementieren - ist es, dass er Goethes Kassiber in Moreaus epistemologischer Institutionalisierung dazu nutzt, die Lavatersche Physiognomik aus ihrem typologischen gesellschaftlichen Nirgendwo [zu] befrei[en] und den Blick des Physiognomikers zum Blick eines Beobachters [zu] mach[en], der die sozialen Zeichen im Brennpunkt der gesellschaftlichen Welt und ihrer Jetzt-Zeit, das heißt der großen Stadt zu entziffern versteht. 32 Doch diese narrative Innovation steht historisch zugleich an einer Bruchstelle des anthropologischen Wissens, für die exemplarisch der Imperativ des belgischen Sozialstatistikers und Astronomen Adolphe Quetelet stehen kann: Um das Wissen vom Menschen in seiner Regelmäßigkeit zu erfassen, „on doit […] étudier les masses, afin d’éliminer des observations tout ce qui n’est que fortuit ou individuel.“ 33 Das bedeutet nichts anderes als die - zumindest vorübergehend - komplette Verabschiedung jener individualitätsbezogenen, gar individualitätsgenerierenden Anthropologie, die am Ausgangspunkt von Lavaters physiognomischem Projekt steht. Denn die Lektürekunst der Physiognomik ist ja dezidiert als Systematisierung eines Individualwissens konzipiert worden; sie soll die feinen Nuancen, die Kontingenzen, die Unverwechselbarkeiten des Individuellen festhalten, festschreiben und steuerbar machen, die der unhintergehbare Individualitätsbefehl der (sowohl aufklärerischen als theologischen) Anthropologie Lavaters den Ansprüchen des gesellschaftlichen Menschenverkehrs zum Problem stellt. Das anthropologische Wissen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts dagegen beginnt nach individualitätsübergreifenden Ordnungsmustern zu fragen: nach dem Typ, der Abstammung, der Klasse. Nicht mehr die Opazität des Individuums, die durch Physiognomik und Selbstbeobachtung transparent gemacht zu werden verspricht, gilt als widerständiger Faszinationsanlass des anthropologischen Blicks, sondern die Unüberschaubarkeit sozialer Räume, Dynamiken und Verhältnisse. Deren Organisationsformen: Die Gesetze der physique sociale müssen dem bunten, der Beobachtung kaum einen fixen Bezugspunkt bietenden Gewimmel des ‚Lebens’ abgetrotzt werden. 34 Wenn Balzacs Schwester Laure Surville den Habitus der Balzacschen Erzähler auf deren Verfasser überträgt und über dessen physiognomische Streifzüge berichtet, dann trägt ihre gewiss stilisierte Bündelung diesem Bruch in den Dispositiven des anthropologischen Wissens - man könnte ihn 32 Stierle: Der Mythos von Paris, S. 357. 33 Adolphe Quetelet: Sur l’homme et le développement de ses facultés, ou Essai de physique sociale. 2 Bde. Paris 1835, hier Bd. 1, S. 13. 34 Vgl. zu dieser „grundlegende[n] epistemologische[n] Verschiebung“ (S. 177) François Ewald: Der Vorsorgestaat. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Hermann Kocyba. Frankfurt/ Main 1993, S. 174-206: „Nur wenn man die Individuen in großen Zahlen erfaßt, kann man den Anspruch erheben, sie wirklich zu kennen“ (S. 178). Zur Genealogie von Balzacs physiognomischem Erzählen 95 durchaus als Modernisierungsphänomen bezeichnen - in wünschenswerter Deutlichkeit Rechnung: Guidé par le génie de l’observation, il hantait vallées et hauteurs sociales, étudiait comme Lavater, sur tous les visages, les stigmates qu’y impriment les passions ou les vices, collectionnait ses types dans le grand bazar humain comme l’antiquaire choisit ses curiosités, évoquait ces types aux places où ils lui étaient utiles, les posait au premier ou au second plan, selon leur valeur, leur distribuait la lumière et l’ombre avec la magie du grand artiste qui connaît la puissance des contrastes, imprimait enfin à chacune de ses créations, des noms, des traits, des idées, un langage, un caractère qui leur sont propres et qui leur donnent une telle individualité, que, dans cette foule immense, pas un ne se confond avec un autre. 35 Den Modernisierungsgewinn allerdings bilanziert dieser Bericht gerade nicht, da er die programmatischen und epistemischen Differenzen gleichsam hinter der physiognomischen Analogie versteckt - „comme Lavater“. Diese Gründungslegende hat sich weitgehend durchgesetzt, und die Forschung hat es nicht versäumt, der übrigens auch von Balzac selbst beflissen gelegten Fährte entsprechend nachzugehen, ja sie in geradezu paradoxem Ausmaß zu überhöhen. So behauptet Hans Ludwig Scheel, dass Lavaters „Name über hundertmal allein in der Comédie Humaine genannt wird“ 36 - Kazuo Kirius Vocabulaire de Balzac präsentiert indes dafür gerade einmal knappe zwanzig Nennungen. 37 Doch darf dabei eben nicht übersehen werden, dass Balzacs Einsätze der Physiognomik an der genannten, grundlegenden Verschiebung im Vergleich zu Lavaters Interessen zumindest teilhaben - die zitierte Passage der schwesterlichen Biographie lässt da, der Analogie zum Trotz, bei näherem Hinsehen keinen Zweifel. Wenn Laure Surville von den Höhen und Tiefen der Gesellschaft berichtet, deren Exploration Balzacs physiognomisches Interesse antreibt, wenn sie die Stigmata der Leidenschaften und Laster erwähnt, die sich in den beobachteten Gesichtern eingezeichnet haben, dann ist die Differenz solcher physiognomischer Erkundung im Vergleich zu Lavaters eigenen Unternehmungen bereits deutlich markiert. Balzacs Erzähler treiben eine vergesellschaftete Physiognomik, eine Physiognomik, die auf Typenbildung und Sortierung auf dem „grand bazar humain“ aus ist. Unverwechselbare Individualität ist deshalb bei Balzac, und in genauer Umkehrung zu den Lavater motivierenden Absichten, allenfalls das Ziel, sicherlich nicht der Anfangs- und Ausgangspunkt physiognomischer Arbeit. 35 Laure Surville: Balzac. Sa vie et ses œuvres d’après sa correspondance. Paris 1858, S. 180f. 36 Hans Ludwig Scheel: „Balzac als Physiognomiker“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 113 (1962), S. 227-244, hier S. 232. 37 Vgl. Kazuo Kiriu in Zusammenarbeit mit Nicole Mozet: Vocabulaire de Balzac. Indexband 53 zur Comédie humaine: „Justin - lendemain“, S. 280, <http: / / v1paris.fr/ commun/ v2asp/ musees/ balzac/ kiriu/ concordance/ htm> (zuletzt eingesehen: 29. Juni 2011). Stephan Kammer 96 Als Kronzeugen und frühen Protagonisten dieses Modernisierungsschubs in physiognomicis darf man Balzac mit Fug und Recht nennen. Alain Montandon hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Originalität von Balzacs physiognomischen Beschreibungen sich keineswegs nur auf die genaue und ausführliche Beschreibung beschränke; vielmehr: „L’originalité de Balzac […] est de voir en toute manifestation extérieure des signes de l’intérieur et de faire de la personne individualisée un représentant d’un type social ou d’une catégorie d’homme. [Hervorhebung S.K.]“ 38 Diese Beobachtung wäre dahingehend zu präzisieren, dass zwischen den beiden Bezugsmodellen individuierter Figuren und sozialen Typen weder ein Ableitungs-, noch ein hierarchisches Verhältnis gesetzt wird, sondern dass Balzac beide gleichzeitig, in einem Zug des physiognomischen Erzählens verfertigt. Es gibt durchaus Indizien dafür, dass Balzac selbst diese Perspektivenverschiebung wahrgenommen hat. So hält zum Beispiel das Prolegomenon des Traité de la vie élégante (1830) diese epistemologische Verschiebung fest: „La civilisation a échelonné les hommes sur trois grandes lignes“, behauptet dessen erster Satz und führt damit ein klassifikatorisches Raster ein; der Text fährt fort: „Or, les trois classes d’êtres créés par les mœurs modernes sont: L’homme qui travaille, L’homme qui pense, L’homme qui ne fait rien.“ Dem wiederum entsprechen die drei Lebensformen der „vie occupée“, der „vie d’artiste“ und der „vie élégante“ (CH XII, 211f.). Das ist Ironie, gewiss, ebenso wie das folgende Zitat aus der Théorie de la démarche (1832/ 33, postum 1855) - und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, erkennt man auch darin mühelos die Paradigmen des neuen anthropologischen Wissens: Hélas! une foule d’hommes, tous distingués par l’ampleur de la boîte cervicale et par la lourdeur, par les circonvolutions de leur cervelle; des mécaniciens, des géomètres enfin ont déduit des milliers de théorèmes, de propositions, de lemmes, de corollaires sur le mouvement appliqué aux choses, ont révélé les lois du mouvement céleste, ont saisi les marées dans tous leurs caprices et les ont enchaînées dans quelques formules d’une incontestable sécurité marine; mais personne, ni physiologiste, ni médecin sans malades, ni savant désœuvré, ni fou de Bicêtre, ni statisticien fatigué de compter ses grains de blé, ni quoi que ce soit d’humain, n’a voulu penser aux lois du mouvement appliqué à l’homme! … (CH XII, 260f.) In einem anonym publizierten Artikel für die Zeitschrift La Mode wird das Spannungsverhältnis beider anthropologischer Bezugsmodelle nicht nur explizit artikuliert, sondern auch sogleich eine vor allem an die sprachlichliterarische Darstellung des über den Menschen Wissbaren gebundene Konsequenz gezogen. Der Essay mit dem Titel „Le Bois de Boulogne et le Luxemburg“ beginnt mit dem Befund, dass mittlerweile die Darstellungen sozialer Kollektive mit einer Gewissheit und einem Genauigkeitsanspruch 38 Montandon: Balzac et Lavater, S. 490. Zur Genealogie von Balzacs physiognomischem Erzählen 97 aufträten wie diejenigen von Individuen: „Il y a des gens qui font à tous propos le portrait de la jeunesse française, et qui peignent une génération entière avec autant d’assurance et de précision que s’il s’agissait d’un seul homme.“ Daraus resultiere nun eine Vielzahl widersprüchlicher Diagnosen, die mit gleichem Recht als valable Beschreibungen dieses Typus der ‚jeunesse française’ gelten wollten. So sei die französische Jugend, je nach Verfasser des entsprechenden Typenporträts, bald würdevoll, bald leichtsinnig, bald fleißig, bald faul: „les définitions les plus bizarres et les plus contradictoires“ resultierten mithin aus diesem Zugriff. Der epistemischrhetorischen Fassung von sozialen Kollektiven als Kollektivsubjekten, wie sie aus dem Anspruch des neuen anthropologischen Wissens erwächst, setzt der kleine Artikel, ohne allerdings daraus ein systematisches Argument zu gewinnen, eine komplementär-gegenläufige Strategie entgegen - die Entzifferung sozialer Herkünfte, hier adressiert an die Topographie der Stadt, an den Individuen selbst. Auftritt zu diesem Zweck jener Physiognomiker, der meinem Aufsatz seinen Titel verliehen hat und der gewissermaßen seinerseits als präfigurierende Personifikation des Balzacschen Erzählers dienen kann: „Il y avait naguère un homme qui prétendait reconnaître, à l’expression de la figure, de quel quartier venaient les passants qu’il rencontrait.“ Dieses Vermögen mache ihn, so der Artikel, zu einem „collatéral du docteur Gall et de Lavater“, zu einem „Seitenverwandten“ also, der keine direkte Genealogie für sich in Anspruch nehmen kann, aber - womöglich gerade deshalb - zum genannten analytischen Komplementärprogramm in der Lage ist: „[S]i l’observateur vit encore, il doit quelque peu sourire en lisant les auteurs qui prétendent représenter dans une seule et unique définition les variétés infinies que son œuil exercé savait découvrir dans la même ville“. 39 Ein zweiter, damit verbundener Unterschied zu Lavaters Projekt wird deutlich: Die Szenerie des physiognomischen Urteilens und vor allem der Einübung dieser Praxis ist bei Lavater eine einsame: Damit er von einer „confuse[n] empyrische[n] Physiognomik“ wegzukommen und den Irritationen eines ‚wilden Physiognomierens’ in Gesellschaft zu entkommen vermag, ist dem Physiognomiker zunächst konzentrierte Isolation vonnöten: „Ich gehe in die Einsamkeit“, heißt es in der Abhandlung „Von der Physiognomik“ (1772) - in diese Einsamkeit begleiten den methodischen Physiognomiker in spe “ein Medaillen- oder Bildsäulenwerk von Antiken; die Cartons eines Raphaels, die Apostel eines Vandyks“; zur Übung erstellt er eine Reihe von bekannten „Charaktere[n] […], die sich, zufolge der Geschichte, oder aus ihren Thaten und Schriften zu schließen, einander 39 ŒD II, S. 768-772 (Zitate S. 768 und 769f.). - Die Autorschaftszuschreibung scheint für diesen Artikel indes nicht zweifelsfrei möglich zu sein; vgl. den Kommentar ebd., S. 1570f. Stephan Kammer 98 ähnlich sind“ (Ph 582f.) Dieses diagnostisch-didaktische Tableau dient der Vorbereitung einer Erkenntniskompetenz, die erst nach reichlicher Übung im Wahrnehmen, Beschreiben und Zeichnen für die Konfrontation mit dem undokumentierten Einzelfall gerüstet ist. Ganz anders Balzacs physiognomische Moderne: Ihr Schauplatz ist nie die einsame Gelehrtenstube und deren apparative Ausstattung, sondern die bevölkerte Straße, der Salon oder eben der von der Schwester berufene „grand bazar humain“. Dort begegnet man im Übrigen keineswegs ausschließlich menschlichen Akteuren, sondern ebenso - und in erneuter Zuspitzung der Goetheschen Erweiterung der Physiognomik - signifikanten Gegenständen, Accessoires, Verhaltensweisen und Szenerien. Auch sie bedürfen ihrer jeweiligen Physiognomik, so gut wie die Typen und Gruppen, in die sich die Menschenmenge ausfällen lässt: Das übernehmen die erwähnten physiologies, in denen „Ansätze einer an Lavater orientierten“, dieses Orientierungsmodell aber vom individualistischen Kopf auf die sozialen Füße, Schuhe und Böden stellenden „Zeichentheorie der Stadt“ entwickelt werden. 40 Ein solcher Blick muss sich gar nicht erst von der Bindung an Individualcharaktere befreien, denn er gelangt wegen des Überangebots an Information nicht zu einer Fixierung solcher Charaktere, ohne deren soziale Modellierungen zugleich in den Fokus zu nehmen. Die frei schwebende Aufmerksamkeit physiognomischer Wahrnehmung wird deshalb gedoppelt von Verfahren der Musterkennung und Typenbildung. Im Großunternehmen der Comédie humaine tragen Balzacs Erzähler dieser doppelten Aufgabe Rechnung: Immer wieder supplementieren sie eine Akribie der Beschreibung - für die Balzac ja mit Recht in Anspruch genommen wird - mit beiläufigen und weniger beiläufigen Kommentaren, ja Leseanweisungen für die Schauplätze der Beobachtung. In jeder Hinsicht exemplarisch dafür darf die Eingangspassage des Père Goriot (1835) gelten, in der beinahe zugleich mit den Konturen des Romans die Physiognomie der Pension Vauquer gezeichnet wird. Mit ersterem beginnt der Text: „Sera-t-elle comprise au-delà de Paris? “, fragt der Erzähler mit Blick auf die angekündigte Geschichte, und fährt fort: [L]e doute est permis. Les particularités de cette scène pleine d’observations et de couleurs locales ne peuvent être appréciées qu’entre les buttes de Montmartre et les hauteurs de Montrouge, dans cette illustre vallée de plâtras incessamment près de tomber et de ruisseaux noirs de boue; vallée remplie de souffrances réelles, de joies souvent fausses, et si terriblement agitée qu’il faut je ne sais quoi d’exorbitant pour y produire une sensation de quelque durée. (CH III, 49f.) Noch gesteigert wird der Geltungsanspruch solcher erzählerischer Souveränität durch die darauf folgende Leserapostrophe, die den narrativen Pakt der Romanillusion aufkünden will: „Ah! sachez-le: ce drame n’est ni une fiction, ni un roman. All is true, il est si véritable, que chacun peut en 40 Stierle: Der Mythos von Paris, S. 349. Stephan Kammer 100 Somit hat - dies wäre als Bilanz dieser kultur- und wissensgeschichtlichen, schließlich literarischen Appropriation festzuhalten - gerade die von der französischen Aufnahme beförderte Umadressierung des Lavaterschen Voraussetzungsgefüges Balzacs physiognomischem Erzählen erst seine Konturen verliehen. Es gibt zudem der um 1830 noch latente Konflikt zweier anthropologischer Wissensdispositive diesen Konturen das dezidierte Profil eines selbst musterbildenden Erzählverfahrens. Die komplexe Beziehungsgeschichte findet damit aber noch längst nicht zu ihrem Ende. Spätestens wenn ein knappes Jahrhundert später und anlässlich eines neuen Konflikts solcher Dispositive Balzacs Erzählen selbst zum Teil eines historischen Archivs geworden ist - spätestens mit Walter Benjamins großem Projekt einer historischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts also wird diese Beziehungsgeschichte wiederholt und umgeschrieben werden. Und wie Lavater in der narrativen Integration der Physiognomik bei Balzac zur bloßen Chiffre geworden ist, so wird auch Balzac, gerade ob des widerstandslosen Gelingens dieser Integration, in Benjamins Projekt zur Anekdote werden. In einem Brief an Theodor W. Adorno vom 23. Februar 1939 verhandelt Benjamin die Problematik des ‚Typus’, jener anthropologischen Bezugsfigur also, deren Widerständigkeit Balzacs physiognomisches Erzählen abgetrotzt ist: „Dabei“, schreibt Benjamin, „hebt sich mir Balzac sozusagen weg. Er ist hier nur von anekdotischer Wichtigkeit, indem er weder die komische noch die grauenvolle Seite des Typus zur Geltung bringt.“ 41 41 In: Theodor W. Adorno, Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940. Hg. von Henri Lonitz. Frankfurt/ Main 1994, S. 402-407, hier S. 404. Kirsten von Hagen Transgression und Transformation. E.T.A. Hoffmann, Balzac und die Oper als Schauraum E.T.A. Hoffmanns Erzählung Don Juan - Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen leitete nicht nur eine neue Etappe in der Don-Juan-Rezeption ein, sie ist auch ein Meisterstück literarischer Verwandlungen und Transformationen. Mehrfach gerahmt, eröffnet sie ein Vexierspiel um den Erzähler und seine Begegnung mit Donna Anna in der Fremdenloge. Gleichzeitig markiert die Erzählung einen Wendepunkt in der Don-Juan-Gestaltung: Der Verführer avanciert zum Idealsucher. 1 Neben dieser Erzählung gibt es weitere Texte E.T.A. Hoffmanns wie Ritter Gluck, Die Fermate und Rat Krespel, die als musikalisch zu bezeichnen sind und von der Vorliebe des Komponisten für die Musik zeugen. 2 Balzac nun hat sich nicht nur ebenfalls zu einer neuen Fassung des Don-Juan- Mythos von Hoffmann anregen lassen, er hat auch einige musikalische Novellen verfasst, Novellen, in denen der Gestus der Musik zentral ist oder aber, wie in E.T.A. Hoffmanns Don-Juan-Erzählung eine Begegnung in der Oper im Zentrum steht: Sarrasine, Gambara und Massimilia Doni wurden von Pierre Brunel erstmals in einer Edition zusammengefasst. In seinem Vorwort bezeichnet er sie als von E.T.A. Hoffmann inspirierte Texte, ja, er spricht gar von Balzac als französischem Hoffmann: „Il y a eu chez Balzac le désir d’être un Hoffmann français, et c’est un autre lien, capital, entre les trois textes qui sont présentés dans ce volume.“ 3 In meinem Beitrag möchte ich nicht den Einfluss E.T.A. Hoffmanns im Sinne einer quellenorientierten Lektüre nachweisen, sondern das Augenmerk vor allem auf die Transformationen legen. Ausgehend von Sarrasine wird gezeigt, wie diese Novelle im Kontext von Hoffmanns Don-Juan-Erzählung neu gelesen werden kann, wie sie Hoffmanns Transformationen und Transgressionen in der Opernloge weiterdenkt. 1 Vgl. Hiltrud Gnüg: Don Juan - Eine Einführung. München, Zürich 1989, S. 71-76. 2 Vgl. E.T.A. Hoffmann’s Musical Writings: Kreisleriana, The Poet and the Composer, Music Criticism. Hg. von David Charlton. Cambridge 1989. 3 Pierre Brunel: „Trois nouvelles musicales de Balzac, ou Hoffmann à la française“. In: Honoré de Balzac: Sarrasine, Gambara, Massimilla Doni. Hg. von Pierre Brunel. Paris 1995, S. 7-32, hier S. 18. Kirsten von Hagen 102 Ist der Text sowohl von Roland Barthes (S/ Z, 1970) als auch von Michel Serres (L'Hermaphrodite: Sarrasine sculpteur, 1987) zur Veranschaulichung unterschiedlicher theoretischer Perspektiven gewählt worden, so soll hier die Novelle im Kontext der musikalischen Erzählungen E.T.A. Hoffmanns einer anderen Lektüre unterzogen werden, um deutlich zu machen, wie sich in diesem Text Balzac und Hoffmann begegnen, wie die Oper als Schauraum des Begehrens jeweils andere Transgressionen und Transformationen nach sich zieht. Als strukturierendes Medium der (Re-)Präsentation und Inszenierung von Wahrnehmung und Wirklichkeit kommt den Szenen in der Oper häufig eine zentrale Valenz zu. Insbesondere die Szenen in der Loge mit ihrem Verhältnis zwischen Bühnen- und Zuschauerraum avancieren am Ende des 19. Jahrhunderts als Schauplatz einer mise en scène der Interferenz von Wahrnehmung, Bewusstsein und Imagination zum Medium der mise-enabyme des literarischen Textes. 4 Eine Denkfigur, die sich zur Untersuchung der Opernszenen in anderen Medien anbietet, ist die Ergon-Parergon- Differenz Derridas. Die Opernszenen mit ihren vielfachen Rahmungen fungieren demnach als Parergon im Derridaschen Sinne, d.h. als scheinbares ‚Beiwerk’, Accessoire, Rahmen oder Rahmung, die jedoch für das ‚Hauptwerk’ gerade konstitutiv ist, als Ort, an dem die Grenzen zwischen Innen und Außen, Haupt- und Nebenhandlung, Realität und Fiktion ver-wischen. Derrida führt aus, wie schwierig es ist, das Parergon zu definieren und zu lokalisieren : „[N]i œuvre (ergon), ni dedans ni dehors, ni dessus ni dessous, il déconcerte toute opposition mais ne reste pas indéterminé et donne lieu à l’œuvre.“ 5 Dies lässt sich nun in besonderer Weise auf literarisierte Opernszenen übertragen. Findet doch hier zum einen eine Opernszene in einem bestimmten Rahmen statt, zum anderen erscheint die Opernszene gerahmt von dem Text, auf den sie selbst wiederum zurückwirkt. Derart markieren diese Opernszenen den Ort, wo das Kunstwerk in besonderer Weise auf sich selbst Bezug nimmt. 1 E.T.A. Hoffmann und Frankreich Unbestritten ist die große Wirkung, die Hoffmanns phantastische Erzählungen in Frankreich hatten. Vielfach ist der Einfluss Hoffmanns auf die französische Romantik untersucht worden. Kaum fokussiert dagegen bis heute ist, wie die Erzählungen Hoffmanns als Inspirationsquelle für Balzacs 4 Da die Logen, wie auszuführen sein wird, häufig gerahmt erscheinen, kommt ihnen dabei nicht von ungefähr die Valenz von Fensterszenen zu. Zum Verhältnis von Fenster und Moderne vgl. Judith Holstein: Fenster-Blicke: Zur Poetik eines Parergons. Tübingen 2004, S. 1f. 5 Jacques Derrida: La Vérité en peinture. Paris 1978, S. 14. Kirsten von Hagen 104 Ritter Gluck (Gluck, souvenirs de 1809), Der Artushof (La Cour d’Artus), ein Fragment der Abenteuer der Sylvesternacht (Aventures de la nuit de la Saint-Sylvestre) und Don Juan (Don Juan). Der Übersetzer der Revue de Paris, Adolphe-François Loève-Veimars begann im selben Jahr eine Übersetzung der Phantastischen Erzählungen (Contes fantastiques), während Théodore Toussenel eine Ausgabe der Œuvres complètes vorbereitete. 11 In Frankreich erschien erstmalig 1829 eine Übersetzung der Hoffmannschen Phantasie- und Nachtstücke durch Loève-Veimars bei Renduel. Dass Loève-Veimars das bizarre, phantastische Element betont, wird bereits im Titel der Übersetzung Les Contes fantastiques deutlich. Der musikalische Gesichtspunkt, der in den Phantasiebeziehungsweise Nachtstücken anklingt, wird ausge-klammert, das phantastische Moment dagegen betont, ist es doch in dem deutschen Nomen „Phantasie“ weniger enthalten, als in dem französischen Adjektiv „fantastique“. Der Verleger, Renduel, bittet Walter Scott das Vorwort für die französische Sammelausgabe schreiben, in welchem dieser die Wahl der Titel-Übertragung rechtfertigt, indem er erklärt, dass sich E.T.A. Hoffmanns Literatur vorwiegend durch das Phantastische auszeichne. 12 Andrea Hübener zufolge entspricht die Wahl des Titels der Art und Weise, wie E.T.A. Hoffmann und seine Literatur in Frankreich wahrgenommen werden. 13 Es lässt sich also resümieren, dass man sich bereits im Augenblick der Übersetzung beim Transfer vornehmlich auf das Phantastische, Bizarre konzentrierte, in der Überzeugung, dies übe eine besondere Faszination auf das frankophone Publikum aus. Balzac nun setzt einen deutlich anderen Schwerpunkt, wie die Lektüre von Sarrasine deutlich macht. Hier steht zwar auch ein Geheimnis im Mittelpunkt, dieses bleibt jedoch nicht wie bei Hoffmann in seiner Rätselhaftigkeit bestehen, sondern wird intradiegetisch zum Narrationsanlass genommen und am Ende gelöst. 2 Verwandlungen in der Opernloge: E.T.A. Hoffmanns Don Juan E.T.A. Hoffmanns Erzählung Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen eröffnet medias in res mit einem akustischen Signal: „Ein durchdringendes Läuten, der gellende Ruf: Das Theater fängt an! “ 14 Das Musikalische spielt bereits im ersten Absatz eine 11 Vgl. dazu die tabellarische Übersicht aller Übersetzungen E.T.A. Hoffmanns in Frankreich bei Elizabeth Teichmann: La Fortune d’Hoffmann en France. Genf 1961, S. 237-257. 12 Vgl. Andrea Hübener: Kreisler in Frankreich: E.T.A. Hoffmann und die französischen Romantiker. Heidelberg 2004, S. 79. 13 Vgl. ebd., S. 77. 14 E.T.A. Hoffmann: „Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Hartmut E.T.A. Hoffmann, Balzac und die Oper als Schauraum 105 zentrale Rolle, denn der Ruf, der hier den Schläfer aus seinem sanften Schlaf weckt, mündet gleich in eine musikalische Betrachtung: „Bässe brummen durcheinander - ein Paukenschlag - Trompetenstöße - ein klares A, von der Hoboe ausgehalten - Violinen stimmen ein“. 15 Zentral ist darüber hinaus, dass von Anfang an das unheimliche Moment betont wird: Der Erzähler, aus dessen personaler Perspektive der Leser das Geschehen wahrnimmt, ist zunächst desorientiert, weiß nicht, wie sich das Theater in das Zimmer des Hotels fügt, in dem er abgestiegen ist und versucht, diesen Umstand zunächst mit dem „allezeit geschäftigen Satan“ 16 zu erklären, dann mit einem Rauschzustand. Dieser Zwischenraum zwischen Wachen und Träumen, Nüchternheit und Rausch ist es, der die gesamte Erzählung bestimmen wird. Der Kellner, den der Erzähler mittels einer Klingel herbeiruft, versichert ihm zwar zunächst, dass alles ganz einfach zu erklären sei, da das Hotel unmittelbar mit dem Theater verbunden sei und er durch Tapetentür und Korridor direkt Zugang zur Fremdenloge habe, doch die Unsicherheit bleibt und wird auch später wieder aufgegriffen. Zunächst schließt nun mit seinem Besuch in der Fremdenloge an, was man gemeinhin von Opernbesuchen erwartet: eine klassische Zuhörersituation. Der Ich- Erzähler befindet sich in der Loge und folgt Mozarts Meisterwerk Don Giovanni. Der Beginn ist der Betrachtung des Bühnengeschehens und der Musik gewidmet, vor allem der Donna Anna, die in ihrem durchdringenden Blick, ihrem nächtlichen Gewand, ihrer aufgelösten Frisur und nicht zuletzt ihrer Stimme die Aufmerksamkeit des reisenden Enthusiasten auf sich zieht. 17 Indem der Enthusiast sich in die poetische Welt auf der Bühne versenkt, beginnen die Grenzen zwischen Realität und Phantastischen langsam zu verschwimmen. Schon der Kommentar des Bühnengeschehens macht deutlich, dass er nicht mehr klar zwischen den Figuren und ihren Darstellern zu unterscheiden vermag. 18 Plötzlich meint er, neben sich in der Loge jemanden zu bemerken, der seine gesteigerte Aufmerksamkeit zu stören scheint. Bereits in dieser Reflexion ist ein das Bühnengeschehen transgredierendes Moment zu beobachten, der Erzähler scheint eins zu werden mit der Musik, die er nicht mehr nur distanziert beobachtet: „Ich war so glücklich, mich allein in der Loge zu befinden, um ganz ungestört das so vollkommen dargestellte Meisterwerk mit allen Empfindungsfasern, wie mit Polypenarmen, zu umklammern und in mein Selbst hineinzu- Steinecke, Wulf Segebrecht. 6 Bde. Frankfurt/ Main 1985-2004, Bd 2.1., S. 83-97, hier S. 83. 15 Hoffmann: Don Juan, S. 83. 16 Ebd. 17 Vgl. ebd., S. 84. 18 Vgl. Alexander Klüglich: „Aufstieg zu vollendetem Künstlertum: Ein Beitrag zur Kunstauffassung in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Don Juan“. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 8 (2000), S. 13-26, hier S. 17. Kirsten von Hagen 106 ziehen! “ 19 Er befindet sich in einem Zustand der Exaltation, einem Rauschzustand, ausgelöst durch die Musik. Erst als der Vorhang gefallen ist, widmet er dem Logennachbarn mehr Aufmerksamkeit, der er nun die Identität einer Frau zuschreibt: „Schon glaubte ich dicht hinter mir einen zarten, warmen Hauch gefühlt, das Knistern eines seidenen Gewandes gehört zu haben: das ließ mich wohl die Gegenwart eines Frauenzimmers ahnen“. 20 Doch wie groß ist erst seine Überraschung, als er feststellt, dass es sich bei der Frau um Donna Anna, die Heldin der Oper handelt, die, noch im Bühnengewand, zu ihm tritt. Die Begegnung erinnert an eine Geistererscheinung. So ist der Erzähler zunächst angesichts ihres durchdringenden Blicks nicht in der Lage zu sprechen und später konversieren sie ganz natürlich in Italienisch miteinander. Die Stimme der Sängerin und die italienische Sprache nähern sich dabei dem Gestus der Musik an und werden auf einer allegorischen Ebene dem Deutschen als Sprache gegenübergestellt, 21 wie hier insgesamt eine ganze Reihe von romantisch geprägten Oppositionen wie Natur und Kultur, Gefühl und Verstand aufgerufen werden. Der Erzähler selbst weist auf das Geheimnisvolle dieser Szenerie hin, die er mit dem „Übersinnlichen“, einer „Art Somnambulismus“ zu erklären sucht, 22 insbesondere die Tatsache, dass Donna Anna gleichzeitig auf der Bühne und in seiner Loge ist. Beide erscheinen als Seelenverwandte, denen „das wunderbare, romantische Reich aufgegangen, wo die himmlischen Zauber der Töne wohnen“. 23 Zugleich, und dies ist in Bezug auf Balzacs Sarrasine besonders interessant, geht es auch um den Wahnsinn der Liebe. So formuliert Donna Anna: „Ging nicht der zauberische Wahnsinn ewig sehnender Liebe in der Rolle der *** in deiner neuesten Oper aus deinem Inneren hervor? “ 24 Auch hier sind die erotischen Implikationen - wenngleich sie nicht wie bei Balzac im Zentrum stehen - nicht zu übersehen. Im Vordergrund steht jedoch ein Einklang der Seelen. So fährt sie fort: „Ich habe dich verstanden: dein Gemüt hat sich im Gesange mir aufgeschlossen! - Ja, (hier nannte sie meinen Vornamen) ich habe dich gesungen, so wie deine Melodien ich sind.“ 25 Erneut ist es ein akustisches Signal, das die übernatürlich wirkende Szene, die unerwartete Intimität in der Fremdenloge, ebenso plötzlich wieder beendet. Die Theaterglocke ertönt und mit dem Hinweis, dass nun 19 Hoffmann: Don Juan, S. 86. 20 Ebd., S. 87. 21 Vgl. David E. Wellery: „E.T.A. Hoffmann and Romantic Hermeneutics: An Interpretation of Hoffmann’s ‚Don Juan’”. In: Studies in Romanticism 19 (1980: Winter), H. 4, S. 455-473, hier S. 462. 22 Hoffmann: Don Juan, S. 88. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 88f. 25 Ebd., S. 89. E.T.A. Hoffmann, Balzac und die Oper als Schauraum 107 ihre „fürchterlichsten Momente“ 26 folgen, verlässt die Theaterfigur den Erzähler. Der Erzähler verfolgt nun wiederum allein den Fortgang der Oper - doch intensiver als im ersten Teil, erscheint doch nun alles durch den Besuch Donna Annas nochmals gesteigert - und erotisch aufgeladen, so dass die Distanz zwischen Bühnenhandlung und Zuschauerraum weiter zu schwinden scheint: In Donna Anna’s Szene fühlte ich mich von einem sanften, warmen Hauch, der über mich hinwegglitt, in trunkener Wollust erbeben; unwillkürlich schlossen sich meine Augen und ein glühender Kuß schien auf meinen Lippen zu brennen: aber der Kuß war ein, wie von ewig dürstender Sehnsucht lang ausgehaltener Ton. 27 Die Szene, die erneut die Grenze zwischen Leben und Traum transgrediert, erinnert nicht von ungefähr zugleich an einen Musenanruf. Die Bühnenhandlung, die im Mittelpunkt der beiden folgenden Abschnitte steht, ist ebenfalls von einer Transgression gekennzeichnet: Erfolgt doch nun die Begegnung Don Juans mit dem „Steinernen Gast“. Unter der Einwirkung des Endes von Don Juan wirkt auch Donna Anna nunmehr ganz verändert: „[E]ine Totenblässe überzog ihr Gesicht, das Auge war erloschen, die Stimme zitternd und ungleich.“ 28 Diese Impression des Zuschauenden ist zugleich als Vorankündigung ihres dann tatsächlich stattfindenden Todes zu werten, der gemeinsam mit ihrem Besuch in der Fremdenloge das Rätselhafte des Textes markiert. Das Rätsel ist also auch hier eng verknüpft mit dem Körper der Sängerin. An die erneute Beschreibung des Bühnengeschehens schließt ein Dialog an, der an der Table d’Hôte zwischen einigen Opernhabitués stattfindet und auf einer ganz anderen Ebene das musikalische Geschehen zusammenfasst und diskutiert: „Don Ottavio hatte sehr gefallen. Donna Anna war einem zu leidenschaftlich gewesen.“ 29 Als der Erzähler nach diesem Abschluss des Opernabends, ein Gespräch, das er als „Gewäsch“ abtut, wieder sein Zimmer betritt, kommt ihm dieses eng und schwül vor. Um Mitternacht vermeint er die Stimme des Freundes, Theodor, zu vernehmen, der zugleich der Adressat seines Berichtes ist und er betritt erneut die Fremdenloge. Alles weist bereits auf das kommende unheimliche Geschehen voraus: Der bestellte Punsch deutet auf den bei Hoffmann so typischen Rauschzustand hin, das verödete Haus 30 erscheint „magisch beleuchtet“, die Theaterarchitektur springt „in wunderlichen Reflexen fremd und feenhaft“ hervor. 31 26 Ebd. 27 Ebd., S. 89. 28 Ebd., S. 90. 29 Ebd. 30 Man fühlt sich hier erinnert an eine andere Hoffmann-Erzählung, Das öde Haus, in der ja ähnliche rätselhafte und unerklärliche Vorgänge im Zentrum stehen. 31 Hoffmann: Don Juan, S. 91. Kirsten von Hagen 108 Es ist dieses Dekor, dass in ihm die Überlegung aufkommen lässt, wie es sei, wenn nun wiederum Donna Anna erscheine „geängstigt von gräßlichen Larven“. 32 Erneut ist es ein akustisches Signal, das für eine Transgression und Transformation sorgt: Sein Ruf verhallt, weckt jedoch die „Geister der Instrumente im Orchester“. 33 Vor dem Hintergrund dieser eigentümlich aufgeladenen romantisch konnotierten Stimmung erfolgt die Analyse des Don Juan als Idealsucher, jene Deutung, die für kommende Don-Juan- Adaptationen richtungsweisend werden sollte. Interessanter für diesen Kontext ist, dass der Erzähler seinem Doppelgänger Don Juan Donna Anna entgegenstellt. Wieso formuliert er, „wenn Donna Anna vom Himmel dazu bestimmt gewesen wäre, den Juan in der Liebe [...] die ihm inwohnende göttliche Natur erkennen zu lassen, und ihn der Verzweiflung seines nichtigen Strebens zu entreißen? “ 34 Don Juan hat den Wahnsinn der Liebe in ihr entzündet, weshalb ihr der Erzähler auch den Tod voraussagt. Hat der Ich-Erzähler all diese Überlegungen gleichsam auf einer inneren Bühne interagieren lassen, so markiert der Schlag zwei Uhr erneut den Übergang und er bittet das ferne Geisterreich, apostrophiert als „Dschinnistan voller Herrlichkeit“ 35 ihn eintreten zu lassen - gerufen von der Stimme Donna Annas. An diese Reflexion schließt ein Gespräch am nächsten Mittag an der Table d’Hôte an, das als Nachtrag gestaltet ist: Das Gespräch dreht sich erneut um die Oper, insbesondere seine weibliche Protagonistin Donna Anna, die wie besessen gewesen sei und die, so antwortet ein „Kluger Mann“ auf die Frage des Erzählers, „heute Morgens Punkt zwei Uhr gestorben sei“. 36 In Hoffmanns Erzählung geht es mithin um mehrere Transgressionen und Transformationen, unerklärliche, rätselhafte Zustände und Geheimnisse. Der Leser ist angeregt, selbst eine Erklärung zu finden und wird doch dabei nie an ein Ende gelangen, da die Rätselhaftigkei in der bewussten Komplexität und Mehrdeutigkeit der Erzählung angelegt ist. Beobachtbar ist ein Transfer der Ebenen, der das scheinbar Feststehende in einen Schwebezustand überführt. Es gehöre zur Strategie der Erzählung, so Uwe Japp, dass das Rätsel (zu Teilen) beharre. 37 32 Ebd. 33 Ebd., S. 91. 34 Ebd., S. 95. 35 Ebd., S. 96. 36 Ebd., S. 97. 37 Vgl. Uwe Japp: „Rat Krespel: Rätsel der Kunst“. In: E.T.A. Hoffmann: Romane und Erzählungen. Hg. von Günter Sasse. Stuttgart 2004, S. 157-167, hier S. 158. E.T.A. Hoffmann, Balzac und die Oper als Schauraum 109 3 Vom Kunstwerk zum Textkörper: Transformationen in Balzacs Sarrasine Auch in Balzacs Sarrasine steht ein Rätsel im Mittelpunkt, aber anders als bei Hoffmann ist der Erzähler selbst im Besitz des „Schlüssels“. Er nimmt das Rätsel um die Identität des unheimlichen Alten und des Reichtums der Familie Lanty zum Narrationsanlass, um, so könnte man formulieren, bei seiner Zuhörerin, der schönen Mme de Rochefide einen möglichst großen Effekt zu erzielen, um sie zu verführen. 38 Doch beginnen wir am Anfang. Auch Balzac eröffnet mit einer Rahmung: Ist es im Fall Hoffmanns das Hotelzimmer, in dem plötzlich das Theatersignal ertönt, so dass eine Transgression von Hotel und Theater eingeleitet wird, so ist es hier eine Reflexion, die der Erzähler buchstäblich in einer Rahmung vornimmt. Er sitzt am Fenster, befindet sich somit in einer Schwellensituation und setzt durch diese spezifische Blickanordnung das Außen zum Innen in Beziehung. Nähert sich das Außen in seiner Beschreibung eher dem malerischen Gestus an, einem Tableau, das beschrieben wird, so ist dem Innen stärker ein theatralisches Moment inhärent. Dem „danse des morts“ der nächtlichen Szenerie im Garten mit seinen halb von Schnee bedeckten Bäumen wird der „danse des vivants“ im prächtig erleuchteten Salon der Familie Lanty gegenübergestellt, wo sich die schönsten und reichsten Frauen von Paris mit ihren Bewunderern treffen. Der Fensterblick nimmt bereits die Position des einsam in seiner Loge dem Bühnengeschehen folgenden Opernhabitués vorweg, mit dem Unterschied, dass hier die Perspektive des distanzierten Betrachters überwiegt. Gleich zu Beginn werden mit dem Reichtum der Familie Lanty, das im ersten, vom Erzähler belauschten Dialog im Zentrum steht und das des unheimlichen Alten zwei Rätsel benannt. Zunächst wird also hier, wie bei E.T.A. Hoffmann eine phantastische Atmosphäre kreiert: Der Alte wird mit anderen übernatürlichen Wesen verglichen, die teilweise auch in Erzählungen der deutschen Romantiker und insbesondere E.T.A Hoffmanns figurieren: „Sans être précisément un vampire, une goule, un homme artificiel, une espèce de Faust ou de Robin des bois, il participait, au dire des gens amis du fantastique, de toutes ces natures anthropomorphes.“ 39 Auch von Magnetismus ist die Rede, was als erneuter Hinweis auf E.T.A. Hoffmann gelesen werden kann. 40 Doch die Geschichten, die über diese unheimliche Gestalt im Umlauf sind, werden vom Ich-Erzähler zugleich wieder entmystifiziert und rational erklärt, indem er sie als Angewohnheit einiger Deutscher ausgibt, die Spott 38 Als sie ihn während seiner Erzählung unterbricht, um in nach der Identität des unheimlichen Alten zu fragen, reagiert er ungehalten „comme un auteur auquel on fait manquer l’effet d’un coup de théâtre.“ (Balzac: Sarrasine, S. 61). 39 Ebd., S. 40. 40 Vgl. ebd., S. 41. Kirsten von Hagen 110 und üble Nachrede der Pariser für die Realität halten: Diese Bemerkung nun ist höchst interessant, erläutert sie doch bereits das Verfahren Balzacs, der in seiner Novelle stets Spannung erzeugt, indem er das Phantastische aufruft es zugleich jedoch wieder auf ein realistisches Erklärungsmodell zurückführt. So steht am Ende dieser Überlegungen der desillusionierende Satz: „L’étranger était simplement un vieillard.“ 41 Trotz dieser recht frühen Erklärung, ist die gesamte Binnenerzählung der Aufklärung des Rätsels um die Identität der unheimlichen Erscheinung gewidmet. Bereits innerhalb der ersten Rahmung sind zahlreiche weitere Verweise auf das Theater im Allgemeinen und die Oper im Besonderen konstitutiv, die dann die Binnenerzählung beherrschen. So erinnern auch die beiden Opernstücke, die Kavatine aus Rossinis Oper Tancredi und das Abschieds- Quintett aus Mozarts Così fan tutte, die Mariannina intoniert, an E.T.A. Hoffmann. Im Text selbst ist nur von der Kavatine von Tancredi die Rede („la cavatine du Tancredi de Rossini) und von dem „Addio, addio“. Brunel sieht in der ersten Anmerkung einen Verweis auf die berühmte Reisarie Tancredis „Di tanti palpiti“ und hinter der zweiten vermutet er das Abschieds-Quintett aus Mozarts Così fan tutte. 42 Dieser Spur möchte ich folgen. Die Tatsache, dass Mariannina hier zwischen einer Männer- und einer Frauenrolle wechselt, lässt sich zugleich als erneuter Hinweis auf die Androgynität lesen, die auf mehren Ebenen des Textes eine zentrale Rolle spielt. Zugleich ist es aber auch ein verdeckter Hinweis auf E.T.A. Hoffmanns Don-Juan-Erzählung. Denn das Abschieds-Quintett aus Così fan tutte KV 588 (1789/ 90) „Di scriver mi ogni giorno“ bringt ebenso wie die Donna- Anna-Arie und die Leporello-Szene aus Mozarts Oper Don Giovanni, zwei andere F-Dur-Stücke, die Vorstellung einer Situation am Rande einer existentiellen Entscheidung zum Ausdruck. 43 Auch hier ist es ein Blickszenario wie in der Oper, mit dem Unterschied, dass sich die Aufmerksamkeit nun auf den Zuschauerraum richtet, vor allem den unheimlichen Alten, der sich neben die Begleiterin des Erzählers setzt und derart von der Sängerin selbst ablenkt. 44 Das Betrachten des Gemäldes in dem kleinen halbrunden Kabinett, in das die Marquise den Ich-Erzähler führt, nachdem sie in 41 Ebd., S. 40. 42 Vgl. Brunel: Trois nouvelles musicales de Balzac, S. 9. 43 Vgl. „F-Dur in Mozarts Opern“. In: <http: / / www.uni-koblenz.de/ ~instmusik/ forschung-mozart.php> (zuletzt abgerufen am 23.02.2011). 44 Bei E.T.A. Hoffmann dagegen wechselt die Aufmerksamkeit zwischen Zuschauerraum, genauer Fremdenloge, und Bühnengeschehen. In den meisten Texten Balzacs dagegen gilt, wie Pierre Michot geschrieben hat, die Aufmerksamkeit vor allem dem Zuschauerraum (Vgl. Pierre Michot: „Le Spectacle est dans la salle. Balzac et l’opéra“. In: Littérature et opéra. Hg. von Philippe Berthier, Kurt Ringger. Grenoble 1987, S. 45- 54). Dies macht auch die Sonderstellung deutlich, die die drei musikalischen Novellen im Kontext des Balzacschen Œuvres einnehmen. E.T.A. Hoffmann, Balzac und die Oper als Schauraum 111 einem Akt der Transgression den unheimlichen Alten berührt hat, erinnert ebenfalls in seiner Abgeschlossenheit an die Intimität einer Opernloge. Auch hier wird in besonderer Weise die Schaulust angesprochen, wenn nämlich die beiden sich in das Gemälde vertiefen, das seinerseits auch auf der inhaltlichen Ebene vorausschauenden Charakter hat. Bezeichnenderweise wird hier die rätselhafte Struktur erneut aufgerufen, wenn dem Gemälde selbst etwas Übernatürliches zugeschrieben wird: Ah! Le beau tableau! Ajouta-t-elle en se levant, et allant se mettre en face d’une toile magnifiquement encadrée. Nous restâmes pendant un moment dans la contemplation de cette merveille qui semblait due à quelque pinceau surnaturel. 45 Auf dem Gemälde ist eine Darstellung von Adonis auf der Löwenhaut zu sehen, was als weiterer Hinweis auf die Androgynität des unheimlichen Alten zu deuten ist. 46 Zumal die Betrachtung eingebettet ist in einen Dialog und somit auf einer Metaebene das Gemälde auch in dieser Richtung von der jungen Frau kommentiert wird: „’Il est trop beau pour un homme’, ajouta-t-elle après un examen pareil à celui qu’elle aurait fait d’une rivale.“ 47 Auch das Gemälde wird mit einem Rätsel versehen, das bezeichnenderweise auf die Frage zielt, wer als Modell für das Adonis-Gemälde figuriert. Der Erzähler macht in einer desillusionierenden Geste darauf aufmerksam, dass es nicht nach der Natur gemalt sei, sondern nach einer Statue, der Statue der Zambinella, angefertigt von Sarrasine, wie der Leser aber erst in der Binnenerzählung erfahren wird. Diese besondere Struktur der Novelle, die das Phantastische als Modell einerseits aufruft, andererseits aber beständig unterläuft, hat Barthes mit der musikalischen Struktur des Textes in Verbindung gebracht. Barthes spricht davon, dass Balzac sich in der gesamten Struktur seiner Novelle der musikalischen Partitur angenähert habe. Die rätselhafte Struktur des Textes, der ein Rätsel aufbaue und dann löse, ähnele einer Fuge. Dabei spiele die Arabeske ebenfalls eine besondere Rolle - die Arabeske, die auch als Formprinzip für die Romantik im Allgemeinen und auch für E.T.A. Hoffmann zentral war: 48 45 Balzac: Sarrasine, S. 49. 46 Vgl. Roland Barthes: S/ Z. Paris 1976, S. 76f. 47 Balzac: Sarrasine, S. 49. 48 Eine exakte Begriffsbestimmung erweist sich als äußerst schwierig. Hoffmann selbst hat wiederholt im Kontext seiner musiktheoretischen Reflexionen auf die zentrale Bedeutung der Arabeske in der Musik hingewiesen. In jüngerer Zeit hat man wiederholt versucht, auch in Hoffmanns eigenem Schreiben arabeske Formen auszumachen. Von Graevenitz versteht unter Arabeske ein neues Textmodell, das durch eine Verdopplung der Lesbarkeit gekennzeichnet ist und ein entsprechendes Lektüremodell voraussetzt (Vgl. Gerhart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Stuttgart 1994, S. 18-24). Dem entsprechen, so Detlef Kremer, die arabesken Erzählstrukturen im Werk Hoffmanns, etwa in Lebensansichten des Katers Murr oder auch in Kreisleriana (Vgl. Kirsten von Hagen 112 Ce qui chante, ce qui file, se meut, par accidents, arabesques et retards dirigés, le long d’un devenir intelligible [...], c’est la suite des énigmes, leur dévoilement suspendu, leur résolution retardée: le développement d’une énigme est bien celui d’une fugue. 49 Auch auf der bildlichen Ebene erinnert Balzac schon früh im Text an die Hoffmannsche Form der Arabeske als sich der unheimliche Alte der jungen schönen Begleiterin des Erzählers annähert. Die beiden bilden zusammen ein phantastisches Hybridwesen, das selbst wiederum an eine Skulptur gemahnt und von einem halb alten, halb jungen Körper gebildet wird: „[...] ah! c’était bien la mort et la vie, ma pensée, une arabesque imaginaire, une chimère hideuse à moitié, divinement femelle par le corsage.“ 50 In der Annäherung der beiden gegensätzlichen Figuren, die die Dichotomien vom Anfang fortsetzen, deutet sich bereits jene Transgressionsbewegung an, wie sie in der Binnenerzählung für das Begehren Sarrasines konstitutiv ist. Diese Opernszene im engeren Sinne markiert zugleich das Kernstück dieser Novelle. Der Bildhauer Sarrasine wird während eines Opernbesuchs im Théâtre d’Argentina affiziert von der Musik Niccolò Jommellis und den italienischen Stimmen, die ihn in einen Zustand der Extase versetzen und seinen gesamten Körper einer Metamorphose unterziehen: Les langou-reuses originalités de ces voix italiennes habilement mariées le plongèrent dans une ravissante extase. Il resta muet, immobile [...]. Son âme passa dans ses oreilles et dans ses yeux. Il crut écouter par chacun de ses pores. 51 Anders als zu Beginn, wo vor allem sein Hörsinn angesprochen wird, ist in der Wahrnehmung der Prima Donna zunächst der Sehsinn zentral. Sie nähert sich unter seinem Blick einem antiken Kunstwerk an, wird selbst zum Meisterwerk: „C’était plus qu’une femme, c’était un chef-d’œuvre.“ 52 Die Oper ermöglicht somit eine erneute Transformation der Frau in ein Kunstwerk, der später die Modellierung der Sängerin in Stein im Atelier des Künstlers folgen wird. Bereits bei der ersten Aufführung wird der Bildhauer von dem infernalischen Wunsch angetrieben, sie zu besitzen. Die Distanz zwischen Bühnen- und Zuschauerraum scheint wie bei Hoffmann zu schwinden, doch das Begehren wird hier nicht sublimiert, es ist vor allem körperlicher Natur. Kein Einklang der Seelen, sondern diabolische Inbesitznahme. 53 Nach der Detlef Kremer: E.T.A. Hoffmann: Leben, Werk, Wirkung. Berlin 2009, S. 482 und Bettina Schäfer: Ohne Anfang - ohne Ende: Arabeske Darstellungsformen in E.T.A. Hoffmanns Roman Lebensansichten des Katers Murr. Bielefeld 2001). Japp sieht auch in Rat Krespel die Annäherung an die Form der Arabeske (Vgl. Japp: Rat Krespel, S. 165). 49 Barthes: S/ Z, S. 36. 50 Balzac: Sarrasine, S. 48. 51 Ebd., S. 57. 52 Ebd., S. 58. 53 Vgl. ebd., S. 59. E.T.A. Hoffmann, Balzac und die Oper als Schauraum 113 Aufführung verlässt er in einem Wahn- und Rauschzustand, wie er auch für die Künstlerfiguren E.T.A. Hoffmanns kennzeichnend ist, die Oper und schafft sich seine Zambinella, sein Kunstwerk aus der Erinnerung. Die Sängerin wird unter seinem Blick und mit seinen Künstlerhänden gleichsam als Umkehrung des Pygmalion-Mythos in tote Materie verwandelt. Es ist dieser Wahn, der bezeichnenderweise in der Oper seinen Anfang nimmt und seine Fortsetzung findet, der dafür sorgt, dass er nicht sieht, was alle sehen und wissen: dass Zambinella nicht Kunstwerk, nicht die Perfektion aller Frauen ist, sondern ein Kastrat. Dass er dies nicht erkennen kann und will, führt zur Katastrophe: Sans cesse je penserai à cette femme imaginaire en voyant une femme réelle. [...] J’aurai toujours dans le souvenir une harpie céleste qui viendra enfoncer ses griffes dans tous mes sentiments d’homme, et qui signera toutes les autres femmes d’un cachet d’imperfection! 54 Gleichsam stellvertretend zerstört er die eigene Statue, bevor er selbst von den Gehilfen des Kardinals getötet wird. In beiden Texten wird das Verhältnis Kunst/ Leben reflektiert: Bei Hoffmann ist der reisende Enthusiast zugleich ein Dichter, der seinem Freund Theodor das Betrachten der Oper als unmittelbar persönliches Erlebnis mitteilt. Erst im Verlauf der Erzählung werde, so Alexander Klüglich, der Enthusiast vom Schauenden zum Gestaltenden. 55 So bringt er im zweiten Teil der Erzählung sein Schreibwerkzeug mit in die Loge. Doch erst durch die Distanz - in Kreisleriana spricht Hoffmann von Phlegma - ist es dem Künstler möglich, das Erlebte künstlerisch zu fassen. Jeder Exzess, der nicht durch Phlegma oder Distanz ins richtige Maß gesetzt wird, ist dagegen zum Scheitern verurteilt. Damit lässt sich auch der tragische Tod Donna Annas erklären, die ihrer Rolle zu ähnlich wurde, sich mit dem Gesungenen vollständig identifizierte. Die Distanzlosigkeit verbindet sich ebenfalls mit der Musik des Enthusiasten, wie in dem bereits zitierten Satz „Ja [...] ich habe dich gesungen, so wie deine Melodien ich sind“ zum Ausdruck kommt. 56 Der Erzähler dagegen ist am Ende fähig zur reflektierenden Erfassung und geordneten Formulierung des Gesehen. Er ist nunmehr in der Lage, sein Ich, d.h. seinen Geist, „von dem innern Reich der Töne“ zu trennen. 57 Sarrasine dagegen ist Skulpteur, der schon seit frühester Kindheit danach trachtet, den Kern der Dinge offenzulegen, als er mit dem Messer an der Schulbank schnitzte. 58 Roland Barthes definiert die Arbeit des Bildhauers folgendermaßen: „La sculpture est réputée lutter avec la matière, non avec la 54 Ebd., S. 76. 55 Vgl. Klüglich: Aufstieg zu vollendetem Künstlertum, S. 14. 56 Hoffmann: Don Juan, S. 89. 57 Klüglich: Aufstieg zu vollendetem Künstlertum, S. 27-29. 58 Vgl. Balzac: Sarrasine, S. 54. Kirsten von Hagen 114 représentation, comme le fait la peinture; elle est un art démiurgique, art d’extraire, non de couvrir, art de la main qui saisit.“ 59 Auch Sarrasine wird durch die Opernaufführung zum schauenden Enthusiasten, der hernach wie im Rausch angeregt vom Körper der Sängerin ihr perfektes Ebenbild modelliert. Wie so häufig in den Texten von Hoffmann ist im Zusammenhang mit Kunst von Rausch und Wahnsinn die Rede. Pygmalion gleich vermag auch Sarrasine nicht mehr zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden. Er sieht in der Sängerin die künstlerisch perfekte Umsetzung des Modells der schönen Frau, weshalb all ihre Erklärungshinweise zunächst von ihm nicht gehört oder umkodiert werden. Die gesamte Opernaufführung steht im Zeichen von Rausch und Exzess, wie auch die Aufführung der imaginären Oper in Gambara. Im Rausch erschafft Sarrasine nicht nur das perfekte Kunstwerk, die Statue nach dem Modell der Zambinella, er zerstört es auch wieder. Die Statue überlebt nur transformiert in Marmor und in der Kunst anderer. So lässt der Kardinal Cicognara sie wieder zusammensetzen und in Marmor erneut ausführen. Die Statue stehe im „musée Albani“, wo die Familie Lanty sie 1791 gesehen hat. Auf Wunsch der Familie Lanty fertigt dann der Maler Joseph-Marie Vien seinen Adonis an, den der Erzähler und seine Begleiterin im Kabinett der Familie betrachten. 60 Der intradiegetische Erzähler dagegen verkörpert einen anderen Künstlertypus. Er schafft sein Kunstwerk nicht im Zustand zwischen „passion“ und „désir“, sondern wählt seine Worte sehr sorgfältig aus und formt die geheimnisvollen Geschehnisse zu einer Geschichte um Kunst und Leidenschaft um; sein Liebesbegehren, dessen Erfüllung die Erzählung in Aussicht stellt, wird freilich ebenso wenig gestillt, wie das erotische Begehren des Erzählers bei E.T.A. Hoffmann. Steht im Zentrum der Binnenerzählung die bildende Kunst, genauer die Skulptur, dann das Gemälde, mithin eine räumliche Darstellung, so wird diese nun transformiert in eine Kunst der Zeit, in Narration. 61 Diese Umformung ist nicht nur zentral für die Erzählung in der Erzählung, sie verweist gleichsam auch als mise en abyme über sich selbst hinaus auf die Form der Novelle. Die Rätsel, die hier zur Arabeske als Gestaltprinzip gehören, werden anders als bei E.T.A. Hoffmann nach und nach aufgelöst und vom Leser, der wie in zahlreichen Texten Hoffmanns zum Detektiv avanciert, gelöst. Balzac bedient sich des Hoffmannschen 59 Barthes: S/ Z, S. 105. 60 Ottmar Ette hat darauf hingewiesen, dass die Abfolge der drei Kunstwerke die beiden Diegesen der Novelle, Rahmen- und Binnenzählung, das Jahr 1758 in Rom und das Jahr 1830 in Paris verbindet und das Kunstwerk der Novelle erst möglich macht. (Vgl. Ottmar Ette: „Macht und Ohnmacht der Lektüre: Bild-Text-Relationen in Balzacs Novelle Sarrasine“. In: Macht, Text, Geschichte: Lektüren am Rande der Akademie. Hg. von Markus Heilmann, Thomas Wägenbaur. Würzburg 1997, S. 36-47, hier S. 36). 61 Vgl. ebd., S. 41. E.T.A. Hoffmann, Balzac und die Oper als Schauraum 115 Modells - aber nur, um es in eine eigene Form des „fantastique à la française“, wie Pierre Brunel es nennt, zu überführen. 62 Interessant sind in diesem Kontext die Überlegungen zur ‚Phantastik’ von Tzvetan Todorov. Trotz aller Kritik, die an seiner Definition in neuerer Zeit geübt wurde, ist sein Begriff von ‚Phantastik’ trotz aller Rigidität immer noch einer der meist zitierten. 63 Laut Todorov währt das Phantastische „nur so lange wie die Unschlüssigkeit: die gemeinsame Unschlüssigkeit des Lesers und der handelnden Personen“, ob die dargestellten Ereignisse der natürlichen oder der unnatürlichen Welt zuzuordnen sind. 64 Das Phantastische ist laut Todorov an der Schwelle zwischen dem „unvermischt Unheimlichen“ und dem „unvermischt Wunderbaren“ angesiedelt. 65 Lassen sich für die seltsamen Phänomene eine natürliche Erklärung anführen, ist das Werk dem Genre des Unheimlichen zuzurechnen; sind sie dagegen nur erklärbar, wenn Held und Leser, neue und bislang nicht bekannte Gesetze akzeptieren, gehört das Werk zum Bereich des Wunderbaren. Der Idealtyp des Phantastischen ist nach Todorov dagegen nur dann gegeben, wenn die Ungewissheit bis zum Ende der Geschichte anhält, wenn der Leser auch nach Beendigung der Lektüre nicht weiß, wie das Gelesene einzuordnen ist. Diese Grenzform oder Schwellensituation spiegelt die Eröffnung des Balzac-Textes: Der Erzähler sitzt in der Fensternische und kann sowohl das Draußen als auch das Drinnen erfassen. Die Schwellensituation vom Anfang bestimmt auch den Umgang mit dem Unheimlichen, Rätselhaften, dessen Erklärung möglichst lange hinausgezögert wird sowie die Unsicherheit Sarrasines, wie er den Körper der schönen Sängerin zu lesen hat. Derart reflektiert der Text gleich zu Beginn seine eigene Struktur und Erzählstrategie sowie seinen Umgang mit dem Phantastischen à la Hoffmann. So enthält die erste Veröffentlichung des Textes von 1830 ein Epigraph, das in der späteren Edition weggelassen wurde, das aber für die hier im Zentrum stehende Frage der Beziehung zwischen den beiden Texten von zentralem 62 Brunel: La Tentation hoffmannesque chez Balzac, S. 318. 63 Vgl. Sanna Pohlmann: Phantastik und Phantastisches in der Literatur: Zu Phantastischen Kinderromanen von Astrid Lindgren. Wettenberg 2004, S. 20. 64 Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. Frankfurt/ Main 1992, S. 40. 65 Ebd., S. 33. Gerade diese Grenzform ist häufig kritisiert worden. So moniert Brittnacher, das Phantastische scheine sich eher zwischen zwei Gattungen anzusiedeln, als dass es als eine Gattung begriffen werden könne (Vgl. Hans-Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/ Main 1994, S. 16). Auch Dagmar Grenz hebt in ihrer Kritik auf die Fragwürdigkeit der Definition des Phantastischen als Grenzwert ab (Vgl. Dagmar Grenz: „Die phantastische Erzählung in der Kinder- und Jugendliteratur. Überlegungen zur Bestimmung und den historischen Anfängen eines Genres“. In: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur 3 (1986), S. 33-50, hier S. 39). Kirsten von Hagen 116 Interesse ist: „Croyez-vous que l’Allemagne ait seule le privilège d’être absurde et fantastique? “ 66 Denn während die Unsicherheit des Lesers bei Hoffmann über die Lektüre hinaus andauert, wird das Rätsel in Balzacs Erzählung Sarrasine gelöst: Der schöne Körper der Kunst wird dekodiert, entpuppt sich als der eines Kastraten. Die Transgression indes wird intradiegetisch geahndet, die Erzählung, die die Lösung der Identität möglichst lange hinauszögert, wird nicht mit der Erfüllung des Liebeswunsches belohnt. Denn die leidenschaftliche Handlung der erzählten Geschichte wirkt ebenfalls transgredierend, sie übertritt den ihr gesetzten Rahmen und versetzt die Zuhörerin des Ich- Erzählers in Angst und Schrecken: „‚Ah! ’ s’écria-t-elle en se levant et se promenant à grands pas dans la chambre. Elle vint me regarder, et me dit d’une voix altérée: ‚Vous m’avez dégoutée de la vie et des passions pour longtemps.’“ 67 Die schöne Marquise will der Welt der Unsicherheit, des Begehrens und der Lust, entsagen: „Demain je me ferais dévote si je ne savais pouvoir rester comme un roc inaccessible au milieu des orages de la vie. Si l’avenir du chrétien est encore une illusion, au moins elle ne se détruit qu’après la mort.“ 68 66 Vgl. Brunel: Préface, S. 19. 67 Balzac: Sarrasine, S. 77. 68 Ebd. Bernd Kortländer Balzac und Heine - Heine und Balzac 1 Heine kam am 19. Mai 1831 nach Paris. Balzac stand damals unmittelbar vor dem endgültigen Durchbruch mit dem Roman La Peau de chagrin, der am 1. August erschien und ihn in die erste Reihe der französischen Schriftsteller aufrücken ließ. Heine gehörte in Deutschland bereits zu den literarischen Berühmtheiten, auch in Frankreich wurde seine Ankunft schon in öffentlichen Blättern angekündigt: „Le célèbre auteur allemand Heine vient d’arriver à Paris. On assure que le but de son voyage est d’étudier l’histoire de la dernière révolution“, meldeten gleich fünf Pariser Zeitungen am 21. und 22. Mai 1831. 1 Es dauerte nicht lange, bis Heine sich in den Kreisen der Pariser Intellektuellen einen Namen gemacht hatte. Vor allem zwei Zeitschriftenherausgeber waren es, die den Deutschen für ihre Projekte einspannen und dadurch ganz zwangsläufig mit der Crème der französischen Autorenschaft bekannt machen wollten. François Buloz, der Herausgeber der damals gerade (1829) gegründeten Revue des deux Mondes, brachte bereits im Jahrgang 1832 Auszüge aus den Reisebildern Heines. 2 Am 15. Februar war im selben Jahrgang eine Erzählung von Balzac, „Le Message“ (CH II, 395-407) eschienen, wie überhaupt von Hugo und Saint-Beuve bis Dumas viele der damals noch jungen Romantiker an diesem Jahrgang mitgearbeitet hatten und auch später zu den regelmäßigen Beiträgern zählten. Die Revue des deux Mondes hielt Heine bis zum Schluss die Treue und brachte immer wieder Übersetzungen, u.a. 1848 in zwei Folgen die Lyrikübertragungen durch Gérard de Nerval, aber auch kritische Würdigungen seines Werks. 3 Balzac geriet schon 1836 in einen Rechtsstreit mit Buloz und stellte seine Mitarbeit an dessen Projekten ein. Neben Buloz und der Revue des deux Mondes waren es Victor Bohain und seine 1833 ins Leben gerufene und schon ein Jahr später wieder eingestellte 1 Vgl. Hans Hörling: Die französische Heine-Kritik. 3 Bde. Stuttgart, Weimar 1996-2002, hier Bd. 1, S. 50f. 2 Bd. 6, 15. Juni, S. 605-634/ 1. September, S. 592-622/ 15. Dezember, S. 703-733. Der Übersetzer François-Adolphe Loève-Veimars stellt der Übersetzung eine kurze Einführung voran. 3 Vgl. die vielen Belege im Register bei Hörling: Die französische Heine-Kritik. Bernd Kortländer 118 Zeitschrift L’Europe littéraire, durch die Heine in den Pariser Literaturbetrieb eingeführt wurde. Der erste Artikel seiner Serie „État actuel de la littérature en Allemagne. L’Allemagne depuis Madame de Staël“ eröffnete am 1. März 1833 die erste Nummer des neuen Blattes. Balzac war ebenfalls eifriger Mitarbeiter der neuen Zeitschrift und publizierte hier im September 1833 den Anfang des Romans Eugénie Grandet. Damals haben die beiden sich kennengelernt, 4 vielleicht auf jenem rauschenden Fest, das Bohain zur Gründung der Zeitschrift gab und das Heine in den „Geständnissen“ so beschreibt, dass man fast an eine Verbindung mit der Beschreibung der orgiastischen Gründungsfeier einer Zeitschrift in La Peau de chagrin denken könnte. 5 Philibert Audebrand, ein Zeitgenosse, schildert diese Feste und bemerkt: „Celui des tous qui admirait le plus l’Allemand était H. de Balzac, toujours en extase devant les curiosités de la vie sociale.“ 6 Heine bekam also einen sehr exklusiven Zugang zur französischen Szene eröffnet, und Balzac hat ihn von Anfang an auf seinem Weg begleitet. Blaze de Bury erinnert sich, dass er mit Balzac und Heine in den frühen 1830er Jahren in den Salons und Opernhäusern unterwegs war. 7 Gerade unter den Salon-Damen haben die beiden auch mehrere gemeinsame Bekannte, insbesondere die von beiden verehrten Betty Rothschild und Cristina Belgiojoso. Balzac erwähnt Heine erstmals in einem Artikel vom 24. Februar 1836 in der Chronique de Paris. In der Zwischenzeit hatte der Bundestag am 10. Dezember 1835 das Verbot gegen das ‚Junge Deutschland’ ausgesprochen. Balzac notiert: „Il ne serait pas extraordinaire de penser que le décret fulminé par la Diète contre la ‚Jeune Allemagne’, Heine et consorts, fût regardé par l’Autriche comme une victoire contre la Prusse“. 8 Das folgende Jahr 1837 nimmt einen besonderen Platz in der Beziehung der beiden Dichter ein: Balzac verfasst im Frühjahr einen Text, in dem er Züge eines Heine-Porträts realisiert. Ich komme im zweiten Teil meines Vortrages noch genauer auf diesen Text zu sprechen. Später erwähnt er zweimal Begegnungen mit Heine in den Briefen an Frau Hanska. So heißt es am 19. Juli: „Hier je parlais à Heine de faire du théâtre, et il me disait: Prenez-y garde, celui qui s’est habitué à Brest ne peut s’accoutumer à Toulon, restez 4 Das Verhältnis Heine-Balzac ist bislang kaum einmal untersucht worden; hilfreich sind allenfalls Friedrich Hirth: Heinrich Heine und seine französischen Freunde. Mainz 1949, S. 63-70 und zuletzt die Hinweise bei Ralph Häfner: Die Weisheit des Silen. Heinrich Heine und die Kritik des Lebens. Berlin, New York 2006. 5 Vgl. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr (= DHA). 16 Bde. Hamburg 1973-1997, hier Bd. 15, S. 27f. 6 Philibert Audebrand: Petits mémoires du XIXeme siècle. Paris 1892, S. 14. 7 Vgl. Henri Blaze de Bury: Alexandre Dumas. Sa vie, son temps, son œuvre. Paris 1885, S. 100f. 8 ŒC XXIII, S. 311: La France et l’étranger. Balzac und Heine - Heine und Balzac 119 dans votre bagne.” 9 Am 20. Dezember berichtet er von einem Besuch Heines in seiner Wohnung. 10 1839 beobachtet Heines Freund Heinrich Laube Heine und Balzac: Ich sah ihn [Balzac, B.K.] erstaunt an, hörte ihm erstaunt zu, wie er im bequemsten Geschwätz mit Heine tändelte, dieser unerschöpfliche Beobachter der Menschen, welcher so unerbittlich alle Hüllen wegzieht vom Menschenschimmer, welcher so unermesslich viel zu schreiben versteht und immer mit überlegenem Geiste schreibt … 11 Die privilegierte Stellung der Freundschaft mit Heine wird auch aus einer nicht datierten Bemerkung Balzacs deutlich, die die Brüder Goncourt in ihrem Tagebuch überliefert haben: „L’autre jour, Heine, le fameux Heine, le puissant Heine, le grand Heine est venu. Il a voulu monter sans se faire annoncer. Moi, vous savez, je ne suis pas au premier venu. Mais quand j’ai su que c’était lui, toute ma journée, il l’a eu …“ 12 Das Jahr 1840 ist für Balzac durch den Skandal um sein Theaterstück Vautrin gekennzeichnet, das wegen Majestätsbeleidigung nach der Premiere verboten wurde. Heine besuchte die Uraufführung am 14. März und kommentierte den Eklat in einem Brief an George Sand drei Tage später, trotz seines negativen Urteils über das Stück, mit großer Sympathie für Balzac: „C’est une mauvaise pièce mais c’est toujours l’œuvre d’un esprit distingué, d’un artiste créateur. J’ai lu les feuilletons et j’en suis indigné. On dirait des Eunuques qui bafouent un homme parce qu’il a fait un enfant bossu.“ 13 Am 30. April 1840 kommt Heine in einem seiner Artikel für die Augsburger Allgemeine Zeitung auf Balzac zu sprechen. Es geht um einen speziellen Typus von Frau, dessen Beschreibung durch Balzac Heine bewunderte. Die Weiber, von welchen hier die Rede, sind nicht böse oder falsch, sie sind sogar gewöhnlich von außerordentlicher Herzensgüte, sie sind nicht so betrüglich und so habsüchtig wie man glaubt, sie sind mitunter vielmehr die treuherzigsten und großmüthigsten Creaturen; alle ihre unreinen Handlungen entstehen durch das 9 Honoré de Balzac: Lettres à Madame Hanska. Hg. von Roger Pierrot. 2 Bde. Paris 1967, hier Bd. 1, S. 520. - Im selben Brief heißt es später: „Hier, après Heine sur le boulevard, j’ai rencontré Rostschild, c’est-à-dire tout l’esprit et tout l’argent des Juifs.“ (Ebd., S. 521) 10 Ebd., S. 564. 11 Heinrich Laube: Erinnerungen 1810-1840. Wien 1875 (= Gesammelte Schriften Bd. 1), S. 403. 12 Jules et Edmond Goncourt: Journal. Mémoires de la vie littéraire. Hg. von Robert Ricatte. 4 Bde. Paris 1956, hier Bd. 2, S. 221. 13 An George Sand (17. März 1840). In: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris (= HSA). 27 Bde. Berlin, Paris 1970ff., hier Bd. 21, S. 354. Bernd Kortländer 120 momentane Bedürfniß, die Noth und die Eitelkeit; sie sind überhaupt nicht schlechter als andere Töchter Evas, die von Kindheit auf durch Wohlhabenheit und überwachende Sippschaft oder durch die Gunst des Schicksals vor dem Fallen und dem noch tiefer Fallen geschützt werden. - Das Charakteristische bey ihnen ist eine gewisse Zerstörungssucht, von welcher sie besessen sind, … Diese Zerstörungssucht ist tief verwebt mit einer Sucht, einer Wuth, einem Wahnsinn nach Genuß, dem augenblicklichsten Genuß, der keinen Tag Frist gestattet, an keinen Morgen denkt, und aller Bedenklichkeiten überhaupt spottet. … Nach Shakspeare, der uns in der Cleopatra, die ich einst eine reine entretenue genannt habe, ein tiefsinniges Beyspiel solcher Frauengestalten aufgezeichnet hat, ist gewiß unser Freund Honoré de Balzac derjenige, der sie mit der größten Treue geschildert. Er beschreibt sie, wie ein Naturforscher irgend eine Thierart oder ein Pathologe eine Krankheit beschreibt, ohne moralisirenden Zweck, ohne Vorliebe noch Abscheu. Es ist ihm gewiß nie eingefallen, solche Phänomena zu verschönern oder gar zu rehabilitiren, was die Kunst eben so sehr verböte als die Sittlichkeit. 14 Heines Lektüre nimmt in gewisser Weise jene Kennzeichnung einer Schreibweise vorweg, die Balzac dann erst im „Avant Propos“ zur Comédie humaine von 1842 öffentlich macht (CH I, 7-20). Dort entwickelt er sein Vorgehen beim Verfassen der Sittengeschichte der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bekanntlich aus der Parallele zur Naturgeschichte und deren Beschreibungsmuster der Spezies. Die „Espèces Sociales“ lassen sich mit ähnlichen Mitteln darstellen wie die „Espèces Zoologiques“. 15 Dass dabei die schlechten Seiten der verschiedenen Exemplare nicht verschwiegen werden können, versteht sich und rechtfertigt, wie Balzac ausdrücklich betont, keinesfalls den Vorwurf des Immoralismus. Woher Heine seine Kenntnisse bezogen hat, ob aus dem Lektüreeindruck oder aus persönlichen Gesprächen mit dem Autor, ist nicht klar. Zeitgenossen wie Alfred Meissner berichten von langen Unterhaltungen auf Spaziergängen, die Heine und Balzac in den Tuilerien unternommen hätten. 16 Heine kommt später im Übrigen noch mehrfach auf diese Art der Frauenporträts bei Balzac zu sprechen. 1853 heißt es in den „Geständnissen“: Die Weiber, wie alle passive Naturen, können selten erfinden, wissen jedoch das Vorgefundene dergestalt zu entstellen, daß sie uns dadurch noch weit sicherer schaden, als durch entschiedene Lügen. Ich glaube wahrhaftig, mein Freund Balzac hatte Recht, als er mir einst in einem sehr seufzenden Tone sagte: la femme est un être dangereux. 17 Schließlich hat er für die französische Fassung der „Götter im Exil“ („Dieux en exil“), die - ebenfalls 1853 - in der Revue des deux Mondes erschien und sich von der deutschen in vielen Punkten unterscheidet, den Gedanken noch 14 DHA 13/ 1, S. 39f. 15 Ebd., S. 8. 16 Alfred Meissner: Schattentanz. 2 Bde. Zürich 1881, hier Bd. 2, S. 256. 17 DHA 15, S. 18f. Balzac und Heine - Heine und Balzac 121 einmal aufgegriffen, wenn er über die Venus aus der Tannhäusersage spricht: … c'est une courtisane céleste et parfumée d'ambroisie, c'est une divinité aux camélias, et pour ainsi dire une déesse entretenue. Si je fouille dans mes souvenirs, je dois l'avoir rencontrée un jour en passant par la place Bréda, qu'elle traversait d'un pas délicieusement leste; elle portait une petite capote grise d'une simplicité raffinée, et elle était enveloppée du menton jusqu'aux talons dans un magnifique châle des Indes, dont la pointe frisait le pavé. «Donnez-moi la définition de cette femme, dis-je à M. de Balzac, qui m'accompagnait. - C'est une femme entretenue, répondit le romancier. - Moi j'étais plutôt d'avis que c'était une duchesse.» D'après les renseignements d'un commun ami qui arriva, nous reconnûmes que nous avions raison tous les deux. 18 Im Juni 1840 sehen wir Heine bei der Lektüre von Une femme de trente ans, ohne dass er allerdings einen Kommentar dazu abgegeben hätte. 19 Schließlich erscheint am 25. August in der von Balzac ganz allein geschriebenen Revue Parisienne der Text „Les Fantaisies de Claudine“, aus dem dann später „Un Prince de la Bohème“ wird. Sowohl die Frühfassung wie dann auch der spätere Text tragen eine Heine-Spur. Balzac zitiert seinen Freund: „Cet amour, selon une superbe expression de Heine, est peut-être la ‚maladie secrète du cœur’, une combinaison du sentiment de l’infini qui est en nous et du beau idéal qui se révèle sous une forme visible.” (CH VII, 818) Das Zitat ist so im Werk Heines nicht nachzuweisen. Es könnte ebenfalls auf ein Gespräch zurück gehen, oder aber Balzac hat den Schluss des Reisebilds „Ideen. Das Buch Legrand“ im Sinn gehabt und aus dem Kopf zitiert. Dort heißt es in der französischen Fassung: Nous masquons notre misère, et tandis que nous expirons d'une blessure à la poitrine, nous nous plaignons d'un mal de dents. Madame, vous avez certainement un remède pour le mal de dents? Moi, j'avais un mal de dents dans le cœur. 20 Verschiedentlich lädt Heine in den Jahren zwischen 1840 und 1847 Balzac zum Essen ein, meist zu Anfang des Jahres. Auch 1843 geht es wieder um eine Einladung zu der auch George Sand kommen soll, die jedoch absagt, weil sie als großer Star der Pariser Szene die neugierigen Blicke der Fremden fürchtet. Sie möchte lieber mit Heine und seiner Frau allein essen und schreibt: „Si le bon gros ami Balzac peut être alors de la partie, ce sera un dîner encore plus agréable pour nous tous.” 21 1846 gewährt eine solche Einladung einen interessanten Einblick in den gemeinsamen Freundeskreis der beiden. Heine schreibt an Balzac: 18 DHA 9, S. 240. 19 Vgl. Fritz Mende: Heine-Chronik. 2. Aufl. Stuttgart [u.a.] 1981, S. 181. 20 DHA 6, S. 346. 21 Brief vom 9. Januar 1843, HSA 26, S. 58. Bernd Kortländer 122 Je vous prie de diner chez moi mercredi prochain (4 mars) à 6 heures. Vous trouverez les amis: Royer, Gozlan, les Escudièr, Gautier. Celui-ci qui prétend savoir votre addresse s'est chargé de vous faire remettre ces lignes; rassurezmoi sur leur sort par un petit mot. Bien des choses de la part de mon épouse et d'autres jolies femmes que vous verrez mercredi. 22 Von den genannten Autoren gehörte Alphonse Royer zu den Urfreunden der beiden, war er doch Redakteur der bereits erwähntem L’Europe littéraire gewesen, wo beide sich kennenlernten. Théophile Gautier war ebenfalls mit beiden eng befreundet. Gozlan machte sich später durch den Band Balzac chez lui von 1862 als intimer Freund Balzacs bekannt. Und die Brüder Léon und Marie Escudier waren die Herausgeber der Zeitschrift La France musicale. Beide hatten darüber hinaus eine große Zahl gemeinsamer Bekannter unter den Pariser Intellektuellen und Künstlern, so etwa Berlioz, Chopin, Liszt, Meyerbeer und Rossini, um nur die Musiker zu nennen. Es gab selbstverständlich auch Figuren der Szene, mit denen die beiden unterschiedlich verbunden waren. So erwähnt Heine im zitierten Brief an Balzac nicht, dass auch Jules Janin an dem Essen teilnehmen wird, den Balzac nicht sonderlich mochte. Im Frühjahr 1847 organisierte der Schriftsteller Alexandre Weill ein Frühstück, an dem neben Balzac und Heine Eugène Sue teilnahm. Balzac und Sue waren nicht nur Konkurrenten auf dem Buchmarkt, sondern vor allem politisch sehr verschiedener Ansicht. Weill hat das Gespräch detailliert protokolliert, wobei allerdings hinsichtlich der monarchistischen und elitären Thesen, die Weill Balzac in den Mund legt, Zweifel an der Authentizität angebracht sind. 23 Auch hinsichtlich ihrer Arbeit wird die Beziehung in den frühen 1840er Jahren besonders intensiv. Im Juli 1842 schickt Balzac Heine den neu erschienenen „Avant-Propos“ zur Comédie humaine mit einer handschriftlichen Widmung. 24 Vielleicht auch, weil Heine einige der dort zusammengefassten Thesen schon 1840 ins Publikum gebracht hatte (s.o.). 1843 entsteht der dritte Teil von Illusions perdues, in dem Heine zum ersten Mal in der Comédie humaine direkt auftaucht. Carlos Herreira, der Lucien de Rubempré gerade vor dem Selbstmord bewahrt hat, erläutert seinem angehenden Schützling, wie wenig nationale Vorurteile taugen. Dabei kommt er auch auf die Juden zu sprechen: Il se paya d’abord d’une raison vulgaire: les Espagnols sont généreux! L’Espagnol est généreux, comme l’Italien est empoisonneur et jaloux, comme le Français est léger, comme l’Allemand est franc, comme le Juif est ignoble, comme l’Anglais est noble. Renversez ces propositions? vous arriverez au vrai. Les juifs ont accaparé l’or, ils écrivent ‚Robert le Diable’, ils jouent ‚Phèdre’, ils chantent ‚Guillaume 22 Brief vom 27. Februar 1846, HSA 22, S. 207. 23 Vgl. Alexandre Weill: Souvenirs intimes de Henri Heine. Paris 1883, S. 119-131. 24 Die Widmung lautet: „à Heine, de la part de l'auteur de Bc“; Original im Heinrich- Heine-Institut, Düsseldorf. Balzac und Heine - Heine und Balzac 123 Tell’, ils commandent des tableaux, ils élèvent des palais, ils écrivent ‚Reisebilder’ et d’admirables poésies, ils sont plus puissants que jamais, leur religion est acceptée, enfin ils font crédit au Pape! (CH V, 705f.) Die Reisebilder - im Manuskript und auch noch im Erstdruck heißt es „Reisibilder“, Balzac war auch hier nicht in der Lage, ein deutsches Wort korrekt niederzuschreiben - die „Reisebilder“ also scheint Balzac besonders geschätzt zu haben, die Gedichte Heines kannte er mit Sicherheit nicht wirklich gut, weil 1843 noch kaum etwas ins Französische übersetzt vorlag. Aber Balzac bewegte sich mit dieser Einstufung ganz auf der Linie des französischen Heine-Bildes, das in Bezug auf den Dichter Heine einem Mythos folgte. 25 Im Übrigen ist auffällig, dass Balzac auch sonst Deutsches und Jüdisches häufig zusammenstellt, so etwa bei den Bankiers-Figuren der Comédie humaine wie de Nucingen, Keller, Becker, Gobenheim oder auch Friedrich Brunner aus Le Cousin Pons. 26 Es wäre sicher interessant, dieser Spur genauer nachzugehen. 1844 schließlich gipfelt Balzacs Freundschaft zu Heine in der Widmung der Erzählung „Un Prince de la Bohème“, die zuerst als Fülltext in der zweibändigen Ausgabe von Honorine bei de Potter erscheint, der im Oktober ausgeliefert wird. Der Autor wird selbstverständlich Heine vorweg um Erlaubnis gefragt haben. Die Widmung lautet: „Mon cher Heine, à vous cette étude, à vous qui représentez à Paris l’esprit et la poésie de l'Allemagne comme en Allemagne vous représentez la vive et spirituelle critique française, à vous qui savez mieux que personne ce qu’il peut y avoir ici de critique, de plaisanterie, d’amour et de vérité.“ (CH VII, 807) 27 Heine als Repräsentant von Geist und Poesie Deutschlands und zugleich des kritischen Denken Frankreichs: Das ist jene Doppelrolle, die alle französischen Beobachter ihm zuschreiben. Bei Balzac fällt diese Zuschreibung allerdings durchgängig positiv aus, nimmt man die letzten vier Eigenschaften noch hinzu: critique, plaisanterie, amour, vérité. Ist der Tenor der französischen Kritik sonst, der französische Einfluss stehe den herausragenden Qualitäten des deutschen Poeten eher im Wege - Sainte- Beuve schreibt geradezu: „M. Heine sera davantage encore à notre niveau de 25 Vgl. meinen Beitrag: „Verweigerte Annäherung. Zu Heines kultureller Übersetzungsarbeit“. In: Das Fremde im Eigensten. Hg. von Bernd Kortländer, Sikander Singh. Tübingen 2011 (= TRANSFER. Düsseldorfer Beiträge zur Literaturübersetzung 21). 26 Vgl. die Zusammenstellung bei Henri Kieffer: Balzac et l’Allemagne. Thèse du 3ième cycle. Diss. masch. Rennes o.J. 27 Später heißt es, etwas weniger enthusiastisch, in der „Lettre sur Kiew“, in der Balzac ausführlich seine Reise des Jahres 1847 schildert, über einen deutschen Mitreisenden: „Le docteur Roth est, comme tous les Allemands de la classe moyenne, un homme excessivement instruit, et à qui l’habitation de Paris a donné comme à Koreff, à Heine, au conseiller Kœlb, un peu de la vivacité française.“ (ŒC XXIV, S. 555) Bernd Kortländer 124 Français, quand il aura un peu moins d’esprit“ 28 -, so scheint Balzac diesen Vorbehalt nicht zu machen. Allerdings wäre die Gattung der Widmung hierfür auch kein geeigneter Ort. Heine ist der einzige Deutsche, dem Balzac eines seiner Werke widmet - sieht man von dem Österreicher Joseph von Hammer-Purgstall einmal ab, den Balzac 1835 in Wien kennengelernt hatte und sicher für einen Deutschen ansah - wie er ja auch alle Elsässer für Deutsche nahm. Hammer-Purgstall widmete er Le Cabinet des Antiques. Die Widmung an Heine erschien 1846 noch einmal im zwölften Band der Comédie humaine im Rahmen der Furne-Ausgabe. Im Herbst 1847 unternahm Balzac seine erste Reise auf das Gut der Gräfin Hanska. Damals entstand eine unvollendet gebliebene „Lettre sur Kiew“, in der Heine mehrfach genannt wird. Wieder, wie schon in Illusions perdues erscheint er als ein Repräsentant des westeuropäischen Judentums, das Balzac hier von den osteuropäischen Juden absetzt: Les juifs en Allemagne, en France, sont des gens comme vous et moi; leur religion, leurs mœurs sont tellement fondues dans le mouvement social auquel ils s’agrègent que tout ce qui fait le juif a disparu, sauf son habileté commerciale, son avidité; mais son avidité met des gants jaunes, son habileté se francise: il est poète comme Heine, musicien comme Mayerbeer et Halévy, collectionneur comme les Fould, généreux comme les Rotschild. 29 Ob der persönliche Kontakt zwischen den beiden nach Balzacs Rückkehr im Februar 1848 noch einmal auflebte, ist fraglich. Heine litt bereits schwer an seiner Krankheit, Balzac war ebenfalls gezeichnet und verließ Paris dann bereits wieder im September, um erst im Mai 1850 todkrank zurückzukehren. Seinen Tod am 18. August 1850 nimmt Heine aber sehr wohl zur Kenntnis und bemerkt in einem Brief vom 12. Oktober des Jahres an Heinrich Laube: „Meinen Freund Balzac habe ich verloren und beweint.“ 30 2 Im Frühjahr 1837 verfasste Balzac einen Text, in dem sich Züge zu einem Porträt seines Freundes Heinrich Heine wiederfinden lassen. 31 Es handelt 28 Charles-Augustin Sainte-Beuve: Rez. zu „De la France“. In: Le National (8. August 1833), S. 3f.; Hörling: Die französische Heine-Kritik, Bd. 1, S. 268. 29 ŒC XXIV, S. 560. 30 An Heinrich Laube (12. Oktober 1850), HSA 23, S. 56. 31 Diese These wurde zuerst von Bernard Guyon vertreten (La Pensée politique et sociale de Balzac. Paris 1947, S. 143, Anm. 2), allerdings ohne nähere Begründung. Fritz Neubert („Balzac und Deutschland“. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte. Berlin 1952, S. 115-146, hier S. 128) tritt Guyons Vermutung entgegen und schlägt den deutschen Arzt und Schriftsteller David Ferdinand Koreff als Modell für Tschoern vor. Allerdings ist sein einziges Argument Koreffs Freundschaft mit E.T.A. Hoffmann und die Bewunderung, die Tschoern für diesen Autor äußert. Das ist eine im Frankreich Balzac und Heine - Heine und Balzac 125 sich um ein fingiertes Gespräch unter sieben Personen, das 1837 im Rahmen der Études philosophiques unter dem Titel „Les Martyrs ignorés. Fragment du ‚Phédon d’aujourdhui’“ herauskam (vgl. CH XII, 719-751). Ich kann mich in diesem Zusammenhang nicht auf eine Diskussion dieses Textes als Ganzem einlassen, auf seine Verbindung zu Platons Phaidon etwa, oder auf den Inhalt. Es geht, soviel sei gesagt, um Natur und Wirkungen des Denkens, womit sich die Gesprächspartner, darunter vor allem Mediziner und Philosophen, anhand von Beispielen beschäftigen, aus denen sie dann moralische und metaphysische Lehren ableiten. Ich will mich ganz auf das kurze Porträt des deutschen Gesprächsteilnehmers konzentrieren: TSCHOËRN. Allemand. Caractère indéfinissable, tantôt vaporeux comme une ballade, tantôt positif comme Dupuytren, impitoyable pour Kant, flagellant M. Cousin par le knout d’une satire affilée. Plus spirituel que Voltaire et Beaumarchais réunis, et croyant aux apparitions; errant par les rues en inspiré, bête comme tout le monde à ses heures. Observant Grodninski avec surprise, un homme entre l’esprit supérieur et le génie, tenant de l’un et de l’autre. Poète, grand politique, et néanmoins plaidant pour les sottises humaines contenues dans le bocal étiqueté du mot liberté. Assez courageux pour dire que Faust est un raccroc. Jeune homme blond comme la blonde Allemagne, ayant des yeux qui brillent comme des étoiles. Très souvent amoureux. Crédule et ne croyant à rien par moment, selon les différents états du baromètre ou du thermomètre. Aimant beaucoup Physidor et Raphaël, inquiet de Phantasma qui reste au port d’armes de la critique, à la façon du dictionnaire de Bayle. Âge indécis, costume de journaliste. Petite voix flûtée. 32 Gehen wir den Text Schritt für Schritt durch: der 30er Jahre sehr erwartbare Eigenschaft, die keineswegs zu einer eindeutigen Identifizierung ausreicht. Auf weitere Einzelheiten der Charakterisierung Tschoerns geht Neuber nicht ein. 32 Ebd., S. 721. - Der gesamte Text ist noch nicht ins Deutsche übersetzt. Hier meine Übersetzung der Textstelle: „TSCHOERN. Deutscher. Charakter undefinierbar, mal nebelhaft wie eine Ballade, mal nüchtern wie Dupuytren, unerbittlich in Bezug auf Kant, strafte Herrn Cousin mit der Knute einer geschliffenen Satire. Geistreicher als Voltaire und Beaumarchais zusammen, glaubt aber an Erscheinungen; irrt durch die Straßen wie ein Erleuchteter, von Zeit zu Zeit dumm wie jedermann. Beobachtet Grodninski überrascht, ein Mann zwischen gehobenem Geist und Genie, das eine mit dem anderen verbindend. Dichter, eminent politischer Kopf, plädiert gleichwohl für die menschlichen Dummheiten, die sich in dem Glas mit der Aufschrift Freiheit befinden. Mutig genug um zu sagen, dass Faust ein Zufallserfolg ist. Junger Mann, blond wie das blonde Deutschland, mit Augen die funkeln wie Sterne. Sehr oft verliebt. Leichtgläubig und gelegentlich an nichts glaubend, je nach unterschiedlichem Stand des Barometers oder des Thermometers. Liebt besonders Physidor und Raphael, beunruhigt durch Phantasma, der die Waffen der Kritik im Anschlag hält, in der Art des Wörterbuchs von Bayle. Alter unbestimmt, Anzug eines Journalisten. Leise, flötende Stimme.“ Bernd Kortländer 126 1. Tschoërn heißt dieser Deutsche, im Manuskript stand zunächst „Chouerne“. Diese Namenswahl belegt einmal mehr Balzacs Vorstellung von den Eigenarten der deutschen Sprache, die er, wie viele Franzosen, durch die Knack- und Zischlaute geprägt sieht. Wir erinnern uns an Wilhelm Schmucke, aber auch an den Baron Wallenrod-Tustall-Bartenstild aus Frankfurt am Main und sehen in der Ferne den Baron Thunder-tentronckh seligen Angedenkens. Der Vokal des Namens könnte auf einen berühmten deutschen Emigranten in Paris verweisen, Ludwig Börne, der im Februar 1837 gestorben war, allerdings zu Balzac keine Verbindungen unterhielt. 2. Caractère indéfinissable, tantôt vaporeux comme une ballade, tantôt positif comme Dupuytren. Das ist genau jenes Bild von Heine, das damals in der französischen Presse kursierte. Heine galt als Autor, der nicht zu fassen war, der oszillierte zwischen den Polen: deutscher Dichter und französischer kritischer Geist. Er galt als als zutiefst romantischer Deutscher und zugleich als der französischste von allen deutschen Schriftstellern. Kein anderer Autor, so Théophile Gautier, verbände in vergleichbarer Weise „poésie et esprit; deux choses qui se détruisent ordinairement“. 33 Balzac nennt Heine in der Widmung von „Un Prince de la Bohème“ ebenfalls die Verkörperung der Verbindung von deutscher Poesie und französischem kritischem Denken. Die Verknüpfung mit einer spezifisch deutschen Poesie wird durch den Hinweis auf die Ballade noch verstärkt, verbanden sich Balladen für Balzac doch häufig mit dem Deutschen. So heißt es etwa in La Peau de chagrin: „C'était amoureux et vague comme une ballade allemande“ (CH X, 149), oder: „le monde nocturne et fantastique des ballades allemandes“ (ebd., 249), und schließlich wird eine Dame geschildert, die ihrem Liebhaber „un tas de ballades allemandes“ zumutet, „toutes drogues qui me sont défendue par le médecin.“ (ebd., S. 167) Den Gegenpol des nüchternen, kritischen Franzosen verkörpert hier ein berühmter französischer Arzt, der legendäre Guillaume Dupuytren (1777-1835), dem Balzac bereits in seiner Erzählung „La Messe de l’athée“ von 1836 ein Denkmal gesetzt hatte (vgl. CH III, 385-401). Das nebelhaft-fantastische und das klare, rationale Denken stehen sich als typische Merkmale des Deutschen und des Französischen gegenüber. Solchen Gegensätzen, die zum Standardrepertoir der vor allem durch Madame de Staël popularisierten Nationalstereotypen der Deutschen gehörten, werden wir im Text noch häufig begegnen. 3. Impitoyable pour Kant, flagellant M. Cousin par le knout d’une satire affilée. Die Erwähnung der Satire gegen Cousin ist ein starkes Argument, um das Tschoërn-Porträt Heine zuzuordnen. Der erste Teil („unerbittlich in Bezug 33 In seiner Besprechung der Tableaux de voyages in La Presse 152 (30. November 1837), S. 2-3 (Hörling: Die französische Heine-Kritik, Bd. 2, S. 201-207) heißt es dazu weiter: „Chez Henri Heine l’esprit ne nuit pas à la poésie; il naît de la poésie même; l’humour n’éteint pas le lyrisme.“ Balzac und Heine - Heine und Balzac 127 auf Kant“) ist allerdings mehrdeutig. Ist er im Sinne einer unerbittlichen Abneigung gegen Kant gemeint, so wäre es ein Zug, der nicht zu Heine passt. Andererseits könnte sich diese Stelle aber auch auf die dann angesprochene Satire auf Victor Cousin beziehen. Heine hatte 1835 einen bitterbösen Text gegen Cousin entworfen, der in Frankreich als der beste Kenner der deutschen Philosophie galt und u.a. auch auf diesem Ticket Karriere bis zum Pair de France machte. Der Text wurde lediglich in französischer Sprache im Anhangsteil von De l’Allemagne unter den sogenannten „Citations“ veröffentlicht, mit denen Heine seine Ausführungen für das französische Publikum illustrierte. In dieser Satire ist u.a. die Rede von der Legende, derzufolge Cousin, als er kurzzeitig in Deutschland inhaftiert war, im Gefängnis Kants Kritik der reinen Vernunft sorgfältig studiert haben soll. Heine bemerkt dazu: Daß aber Herr Cousin dort, in seinen Mußestunden, Kants Kritik der reinen Vernunft studirt habe, ist, aus drey Gründen, zu bezweifeln. Erstens: dieses Buch ist auf Deutsch geschrieben. Zweitens: man muß Deutsch verstehen, um dieses Buch lesen zu können. Und drittens: Herr Cousin versteht kein Deutsch. 34 Diese Feststellung könnte Balzac ihm als „Unerbittlichkeit“ ausgelegt haben. Als Beispiel für die in der Tat „geschliffene Satire“ Heines auf Cousin will ich noch einen kleinen Abschnitt zitieren (auf Deutsch, weil Heine seine Texte nie direkt in Französisch schrieb): Er [Cousin, B.K.] ist ungerecht gegen sich selber, er verläumdet sich selber, indem er uns einreden möchte, er habe aus der Philosophie der Herren Schelling und Hegel allerley entlehnt. Gegen diese Selbstanschuldigung muß ich Herren Cousin in Schutz nehmen. Auf Wort und Gewissen! dieser ehrliche Mann hat aus der Philosophie der Herren Schelling und Hegel nicht das Mindeste gestohlen, […] Aber von solchen fälschlichen Selbstanklagen giebt es viele Beyspiele in der Psychologie. Ich kannte einen Mann, der von sich selber aussagte: er habe an der Tafel des Königs silberne Löffel gestohlen; und doch wußten wir alle, daß der arme Teufel nicht hoffähig war, und sich dieses Löffeldiebstahls anklagte, um uns glauben zu machen, er sey im Schlosse zu Gaste gewesen. Nein, Herr Cousin hat in der deutschen Philosophie immer das sechste Geboth befolgt; hier hat er auch nicht eine einzige Idee, auch nicht ein Zuckerlöffelchen von Idee eingesteckt. 35 Ich denke, der Ausdruck „geschliffene Satire“ trifft auf diese Darstellung zu. Heines Polemik, mit der er u.a. angetreten war, um den Cousin- und de Staël-Adepten die Meinungsführerschaft in Sachen Deutschland streitig zu machen, kam ihn im Übrigen teuer zu stehen. Die Anhänger Cousins waren zahlreich, sie sahen mit dem Meister ihre Deutungshoheit für alles Deutsche durch Heine bedroht und gingen diesen entsprechend hart und erfolgreich an. Er hat sich von diesen Angriffen, in denen er als für die 34 DHA 8/ 1, S. 247. 35 Ebd., S. 248. Bernd Kortländer 128 ernsten Fragen der Wissenschaft und der Philosophie unqualifizierter Poet dargestellt wurde, nie mehr ganz erholt, auf jeden Fall wurde seine so hoffnungsfroh begonnene französische Karriere davon jäh gestoppt: Nach 1835/ 36 bekam Heine am französischen Buchmarkt kein Bein mehr an die Erde. 36 4. Plus spirituel que Voltaire et Beaumarchais réunis. Das ist noch ein starkes Argument für die Nähe von Tschoërn zu Heine. Genau diese Namen hatte Xavier Marmier 1835 in einer Besprechung in der Monde dramatique mit Heine in Verbindung gebracht, als er ihn aufforderte, sich wieder verstärkt um die blonde Dame deutsche Poesie zu kümmern, statt sich den „sarcasmes voltairiens, ou d’une de vos saillies à la Beaumarchais“ zu überlassen. 37 Voltaire taucht ständig auf im Zusammenhang französischer Heine-Kritiken, manchmal auch in dem Sinne, dass die Verfasser den Unterschied zwischen den beiden herauszustellen suchen. Den Hinweis auf Beaumarchais gibt es aber nur in dieser Marmier-Kritik - und eben hier bei Balzac. 5. Croyant aux apparitions ; errant par les rues en inspiré, bête comme tout le monde à ses heures. Zunächst ist hier wieder die Figur des Oxymerons zu bemerken, des extrem Gegensätzlichen, das in der Figur Tschoërn vereint ist - ein Merkmal, das alle zeitgenössischen Heine-Darstellungen verbindet. Heine war dem Übersinnlichen gegenüber sicher nicht so aufgeschlossen wie Balzac, galt aber seit De l’Allemagne und dem Erfolg des Balletts Giselle, dessen Plot Gautier auf der Basis von Heines Schilderung der Wilis, der wiedergängerischen, tanzwütigen jungen Frauen, geschrieben hatte, als Experte auf diesem Gebiet. Das an Nerval gemahnende Umherirren in den Straßen ist von Heine nicht überliefert. Allerdings präsentiert er sich gern als Flaneur auf den Boulevards, der die Schaufenster ablief und abends in der Passage de Panorama den Damen nachstieg. 6. Un homme entre l’esprit supérieur et le génie, tenant de l’un et de l’autre. Diese Einschätzung ist durchaus schmeichelhaft und kann Balzacs Meinung von Heine zutreffend wiedergeben. 7. Poète. Als solcher wurde Heine in Frankreich gefeiert, obwohl seine Lyrik bis 1848 weithin unübersetzt blieb und damit unbekannt war. 8. Grand politique, et néanmoins plaidant pour les sottises humaines contenues dans le bocal étiqueté du mot liberté. Das übermäßige und störende Politisieren wird Heine in den französischen Kritiken gerade von De la France, später dann auch von Germania. Conte d’hiver stets vorgeworfen. Dass er, bei aller Einsicht in die menschlichen Unzulänglichkeiten, sich für die Grundrechte 36 Vgl. den entsprechenden Abschnitt in Jan Christoph Hauschild, Michael Werner: ‚Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst’. Heinrich Heine. Eine Biographie. Köln 1997, S. 273-299. 37 Zitiert nach Hörling: Die französische Heine-Kritik, Bd. 2, S. 85. Balzac und Heine - Heine und Balzac 129 engagierte, nimmt Balzac, der politisch sehr viel konservativere Ansichten vertrat, mit einer gewissen Resignation zur Kenntnis. 9. Assez courageux pour dire que Faust est un raccroc. Tschoërn sagt später im Text über Mephisto: „Ce personnage […] a été grandi, élargi par les idées que chacun avait sur le diable.“ Andererseits gesteht er aber auch ein, dass nur bei Genies solche Zufallserfolge möglich sind: „Après tout, ce bonheur n’arrive jamais à des hommes ordinaires! “ (CH XII, 730) Bei Heine findet sich keine Kritik des Faust, die in diese Richtung ginge. Immerhin hat er aber seit den 1820er Jahren die Idee zu einem eigenen, das Volksbuch wieder stärker berücksichtigenden Faust verfolgt, die er dann 1850 in seinem Ballett Doktor Faust auch umgesetzt hat, wo statt des Mephistopheles eine Mephistophela auftritt. 10. Jeune homme blond comme la blonde Allemagne, ayant des yeux qui brillent comme des étoiles. Das blonde Deutschland ist nicht nur bei Balzac ein häufig auftauchendes Klischee. So heißt es, um nur eins von vielen möglichen Beispielen zu nennen, über Ursel Mirouët: „cette fille de la blonde Allemagne et de l'artiste français“ (CH III, 814). Der Heine der 1830er Jahre wird von seinen Zeitgenossen als blond und blauäugig beschrieben. 38 11. Très souvent amoureux. Gerade in den 1830er Jahren wurde Heine in Paris von vielen Liebesabenteuern umgetrieben, von denen er 1835 schließlich sogar durch eine Reise ans Mittelmeer Abstand zu gewinnen suchte. Insbesondere die Mésalliance mit seiner späteren Frau Mathilde, die ihm viele seiner Freunde auszureden suchten, von der er sich aber nicht zu lösen vermochte, belastete ihn lange schwer. 12. Crédule et ne croyant à rien par moment, selon les différents états du baromètre ou du thermomètre. Wieder stoßen wir auf die Figur des Oxymerons, des extremen Gegensatzes, diesmal in Bezug auf den Glauben. Heines Ansichten hinsichtlich des Glaubens sind in der Tat je nach Perspektive sehr unterschiedlich. 13. Âge indécis, costume de journaliste. Petite voix flûtée. Der Anzug und die Stimme können auf Heine zutreffen. Das unbestimmte Alter der geschilderten Figur ist insofern charakteristisch, als Balzac die Teilnehmer des Gesprächs - es sind insgesamt sieben namentlich genannte Figuren - alle nach Vorbildern modellierte, wie er es ja häufig auch in den Romanen tat, aber selbstverständlich keine eins-zu-eins Porträts lieferte. Manche Züge wurden hinzu erfunden, manches ist auch der Abstimmung auf die anderen Charaktere geschuldet. So heißt es etwa über die Figur Raphaël, er sympathisiere „avec le doux, l’aimable, le spirituel Tschoërn“ (CH XII, 721), während dieser sich wiederum vor dem Arzt mit dem Namen Phantasma fürchtet, von dem Mathematiker 38 Vgl. Christian Liedtke: Heinrich Heine im Porträt. Wie die Künstler seiner Zeit ihn sahen. Hamburg 2006. Bernd Kortländer 130 Grodninski überrascht ist und Physidor und Raphaël mag. Da hinter Raphaël die Umrisse Balzacs zu erkennen sind, ließe sich die besondere Freundschaft zwischen diesem und Tschoërn als ein direkter Hinweis auf die Freundschaft zwischen Balzac und Heine deuten. Auch der Zeitpunkt des Gesprächs ist bewusst vor die Julirevolution und in die Endphase der Restauration gelegt, und stellt insofern kein Gegenargument gegen die Heine-These dar, obwohl Heine 1827 noch nicht in Paris war. 3 Balzac und Heine - Heine und Balzac: Meine Bestandsaufnahme konnte zunächst nicht mehr sein als eine Spurensuche, deren Ertrag aber durchaus ins Gewicht fällt und zu weiteren Untersuchungen einlädt. Trotz aller augenfälligen Unterschiede und auch wenn beide nur einen Bruchteil der Werke des anderen wirklich zur Kenntnis nahmen, haben sie sich doch sowohl in menschlicher wie in literarischer Hinsicht geschätzt und in hohem Maße respektiert. Florian Trabert „Eine besondere Liebe“. Balzac und die deutsche Musik 1 ‚Beethovens Geist aus Hoffmanns Händen’ „Balzac hegte eine besondere Liebe zu den Deutschen, zu Jean Paul, zu Beethoven; sie wurde ihm von Richard Wagner entgolten und von Schönberg.“ 1 Mit diesem Satz aus seinem Essay „Balzac-Lektüre“ umreißt Adorno das Thema dieses Sammelbandes: das wechselseitige Verhältnis zwischen Balzac und Deutschland, Deutschland und Balzac. Dass Adorno mit Beet-hoven, Wagner und Schönberg 2 gleich drei Komponisten nennt, ist sicherlich auch dem praktischen und philosophischen Interesse geschuldet, das der Verfasser der Philosophie der neuen Musik dieser Kunst entgegenbrachte. Die Hervorhebung von Balzacs Liebe zu Beethovens Musik verweist aber auf einen Punkt, dem die folgenden Ausführungen gelten werden: dass in Balzac der erste französische Schriftsteller von Rang zu sehen ist, in dessen Werk die Auseinandersetzung mit der deutschen Musik deutliche Spuren hinterlassen hat, wie dies vor allem die Erzählung Gambara und der Roman Le Cousin Pons belegen. In Madame de Staëls eine Generation zuvor erschienenem Werk De l’Allemagne, noch von Heine bezeichnet als „die einzige umfassende Kunde, welche die Franzosen über das geistige Leben Deutschlands erhalten haben“, 3 ist viel von deutscher Literatur, Philosophie und Theologie die Rede, nicht aber von der deutschen Musik - obwohl Madame de Staëls zweite Deutschlandreise auch durch das Wien Haydns, Mozarts und 1 Theodor W. Adorno: „Balzac-Lektüre“. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. 20 Bde. Frankfurt/ Main 1970-1986, Bd. 11, S. 139-157, hier S. 142. 2 Wagners Balzac-Lektüren sind durch mehrere Tagebucheinträge seiner zweiten Frau Cosima belegt (vgl. Cosima Wagner: Die Tagebücher. Hg. und komm. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. 2 Bde. München, Zürich 1976-1977, Bd. II, S. 1299). Schönberg interessierte sich vor allem für die esoterischen Werke Balzacs; insbesondere dessen Roman Séraphita hat Spuren in der Konzeption von Schönbergs unvollendet gebliebenem Oratorium Die Jakobsleiter hinterlassen (vgl. hierzu auch vom Verfasser: „‚Der Auserwählte’. Zur Genese eines zentralen Begriffs der ästhetischen Theologie Arnold Schönbergs“. In: Walter Benjamin und das Wiener Judentum zwischen 1900 und 1938. Hg. von Sascha Kirchner [u.a.]. Würzburg 2009, S. 69-89, hier S. 79f.) 3 Heinrich Heine: Die romantische Schule. Hg. von Helga Weidmann. Stuttgart 2002, S. 9. Florian Trabert 132 Beethovens geführt hatte. In Balzacs Werk zeichnet sich hingegen eine Idee ab, die sich als ‚Mythos der deutschen Musik’ bezeichnen ließe und die in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von großer Wirkmächtigkeit war: die Vorstellung, dass in der Musik - und zwar insbesondere in der Instrumentalmusik - die ‚deutscheste’ aller Künste zu sehen ist. 4 Neben dieser zeitlichen Priorität ist Balzacs Auseinandersetzung mit der deutschen Musik aber auch von besonderem Interesse, weil sie noch nicht im Zeichen Richard Wagners steht, der ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Einfluss auf die herausragenden Vertreter der französischen Literatur ausüben sollte: auf Baudelaire, Mallarmé und Proust. Die Frage, unter welchen Zeichen, oder um es musikalisch zu formulieren ‚Vorzeichen’, Balzacs Auseinandersetzung mit der deutschen Musik stand, ist mit dem eingangs zitierten Satz Adornos schon zur Hälfte beantwortet. Beethoven war der erste deutsche Komponist, der intensiv in Frankreich rezipiert wurde - einem Land, dessen musikalische Kultur bekanntlich von der italienischen Oper geprägt war. Ganz leicht lassen sich die Grenzen zwischen den nationalen Musikstilen freilich nicht immer ziehen: Während sich die Opern Haydns und Mozarts aufgrund ihrer zumeist italienischen Libretti der italienischen Oper zurechnen lassen, 5 war der bedeutendste Vertreter der sich um 1830 etablierenden französischen Grand Opéra Giacomo Meyerbeer, bekanntlich ein Berliner Jude. Eine geradezu ikonographische Darstellung der französischen Beethoven-Verehrung findet sich in Joseph Daniel Danhausers 1840 entstandenem Gemälde Liszt am Flügel, das seine quasi-religiöse Aura nicht allein der priesterlichen Haltung des Klaviervirtuosen verdankt, sondern auch dem andachtsvoll auf die monumentale Beethoven-Büste gerichteten Blick der Zuhörer. Auch wenn zu diesen Alexandre Dumas der Ältere, George Sand, die Gräfin Marie d‘Agoult, Hector Berlioz, Niccolò Paganini und Giacomo Rossini zu zählen sind, nicht aber Balzac, können wir uns den Verfasser der Comédie humaine im Geiste wohl hinzudenken. 4 Vgl. zur Entstehung und Entwicklung dieses Mythos ausführlicher vom Verfasser: „Kein Lied an die Freude“. Die Neue Musik des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur von Thomas Manns Doktor Faustus bis zur Gegenwart. Würzburg 2011, S. 45-56. 5 Vgl. Jean Pierre Barricelli: „Balzac and Beethoven. The growth of a concept“. In: Modern Language Quaterly 25 (1964), S. 412-424, hier S. 413. Balzac und die deutsche Musik 133 Abb. 1: Joseph Daniel Danhauser: „Liszt am Flügel“ (1840) Balzacs Freundschaft mit Liszt ist es zu verdanken, dass der Autor einige der Klaviersonaten Beethovens wie etwa die Les Adieux-Sonate und die von Liszt selbst erstellten Klaviertranskriptionen der Symphonien kannte. 6 Gleichfalls eine wichtige Vermittlerrolle spielte die 1828 durch François Habeneck begründete Konzertreihe „Concerts du Conservatoire“, deren Programme zu zwei Dritteln von den Symphonien Beethovens beansprucht wurden und zu deren Abonnenten neben Balzac auch Victor Hugo, Alfred de Vigny und Eugène Delacroix zählten. 7 In den durch Liszt und Habeneck vermittelten Konzerterlebnissen ist die Quelle von Balzacs Beethoven- Begeisterung zu sehen, die sich auch in seiner Korrespondenz niederschlägt; in einem Brief an Madame Hanska vom 27. März 1836 spricht Balzac von „le sentiment que fait éprouver un beau passage de Beethoven, en vous 6 Vgl. Barricelli: Balzac and Beethoven, S. 414. 7 Vgl. Christian Berger: „‚La Poétique de la musique instrumentale’. Deutsche Musikanschauung im Frankreich der 1830er Jahre“. In: Deutsche Musik im Wegekreuz zwischen Polen und Frankreich. Zum Problem musikalischer Wechselbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Christoph-Hellmut Mahling, Kristina Pfarr. Tutzing 1996, S. 26-34, hier S. 26f. Florian Trabert 134 représentant, dans son expression la plus pure, tout un sentiment, toute une nature“. 8 Um die Voraussetzungen von Balzacs Auseinandersetzung mit der deutschen Musik vollständig zu klären, sei es jedoch erlaubt, den Wortlaut des zu Beginn referierten Adorno-Zitats durch Ersetzung eines Namens abzuändern: ‚Balzac hegte eine besondere Liebe zu den Deutschen, zu E.T.A. Hoffmann, zu Beethoven’. Zeitgleich zur Verbreitung der Werke Beethovens setzte in Frankreich um 1830 eine intensive Hoffmann-Rezeption ein, deren kaum zu überschätzende Dimensionen Hoffmanns Kollegen Ludwig Tieck in seiner Märchen-Novelle Das alte Buch oder die Reise in’s Blaue zu dem neidvollen Kommentar veranlassten: „So hat der gewiß nicht vollendete Hofmann [sic] bei den Franzosen eine neue Literatur erregt.“ 9 Gemeint ist mit dieser „neue[n] Literatur“ vor allem die phantastische Literatur, der Balzac mit einigen Texten seines Frühwerks verpflichtet war, wie die 1830 publizierte Erzählung Les Deux Rêves mit ihrem Hoffmannesken Untertitel „conte fantastique“ belegt. 10 Auch das Motto der Erstveröffentlichung von Sarrasine in der Revue de Paris macht den deutschen Autoren das Monopol über die phantastische Literatur streitig: „Croyez-vous que l’Allemagne ait seule le privilège d’être absurde et fantastique? “ (CH VI, 1544) Gleichwohl hat die französische Hoffmann-Rezeption um 1830 noch eine zweite Dimension: Durch den Verfasser der Kreisleriana findet die romantische Musikästhetik deutscher Prägung Eingang in die französische Literatur, wie dies vor allem bei Balzac deutlich wird. Tatsächlich sind die französische Beethoven- und Hoffmann-Rezeption nicht nur zeitgleich, sondern auch gleichgerichtet ablaufende Prozesse: In ihnen manifestiert sich am deutlichsten die französische Auseinandersetzung mit der deutschen Romantik. Präzise lässt sich dabei der Ort benennen, an dem diese beiden Rezeptionsstränge nicht nur parallel verlaufen, sondern aufs engste verwoben sind: die Balzac als Teil der Kreisleriana mit Sicherheit bekannte Beethoven-Rezension Hoffmanns. In dieser erklärt Hoffmann die Instrumen- 8 In: Lettres à Madame Hanska. Hg. von Roger Pierrot. 4 Bde. Paris 1967-1971, Bd. I, S. 402- 410, hier S. 403. 9 Ludwig Tieck: „Das alte Buch oder die Reise in’s Blaue“. In: Ders.: Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Manfred Frank [u.a.]. Frankfurt/ Main 1986-1995, Bd. 11, S. 733-854, hier S. 819. 10 Vgl. Pierre Brunel: „La Tentation hoffmannesque chez Balzac“. In: E.T.A. Hoffmann et la musique. Hg. von Alain Montandon. Bern [u.a.] 1987, S. 315-324, hier S. 315. In diesem Zusammenhang weist Detlef Kremer darauf hin, dass „Hugos für die französische Romantik programmatische Forderung des Zweiklangs von Erhabenem und Grotesken […] für die Literatur der deutschen Romantik schon von Anfang an konstitutiv [ist].“ (Detlef Kremer: Romantik. 2. überarb. und akt. Auflage. Stuttgart, Weimar 2003, S. 100). Florian Trabert 136 Gambara nicht in der Lage, seine genialen Eingebungen zu einem Kunstwerk zu formen; in Balzacs Werk ist der Protagonist der Erzählung Le Chefd’œuvre inconnu, der Maler mit dem kaum zufällig germanisch klingenden Namen Frenhofer, eine weitere Ausprägung dieses problematischen Künstlertyps. 15 Nachdem Gambara dem italienischen Grafen seine Oper Mahomet am Klavier vorgeführt hat, zieht der Erzähler das ernüchternde Fazit: „Les étranges discordances qui hurlaient sous ses doigts avaient évidemment résonné dans son oreille comme de célestes harmonies.“ (CH X, 494) In dem Umstand, dass Gambara die Kluft zwischen Innen- und Außenwelt nur durch den Konsum von Alkohol - in Form teurer italienischer Weine - zu überbrücken vermag, ist gleichermaßen eine Anspielung auf viele Figuren Hoffmanns und die Person des Autors selbst zu sehen. Der in Frankreich vor allem durch die Revue de Paris verbreitete „mythe d‘un Hoffmann buveur“ 16 sollte seine populärste Gestaltung erst nach Balzacs Tod in Jacques Offenbachs Oper Les Contes d’Hoffmann finden, an deren Beginn Personifikationen alkoholischer Getränke in Erscheinung treten; aber bereits Heine spielte auf diesen Aspekt von Hoffmanns Biographie mit maliziöser Ironie an, wenn er in Die romantische Schule eine begeisterte Hoffmann-Leserin zur „Branntewein-Trinkerin“ werden lässt. 17 Bei der Schilderung von Gambaras fiktiver Komposition, der Oper Mahomet, war Balzac freilich mit dem Problem konfrontiert, dass er über keine hinreichenden musiktheoretischen Kenntnisse verfügte. In bester dilettantischer Manier machte Balzac keinen Hehl daraus, dass er dem Genuss von Musik einen weitaus höheren Stellenwert als dem Wissen über Musik einräumte. An Maurice Schlesinger, für dessen Revue et gazette musicale Balzac Gambara in Aussicht gestellt hatte, schrieb der Autor: Pour mon compte, j’ai toujours été violemment tenté de donner un coup de pied dans le gras des jambes du connaisseur qui, me voyant pâmé de bonheur en buvant à longs traits un air chargé de mélodie, me dit: c’est en fa majeur! 18 Ganz ohne Musiktheorie lässt sich eine Musikerzählung allerdings nicht ohne weiteres schreiben. Tatsächlich verdankt Balzac die musiktheoretischen Partien von Gambara zu weiten Teilen dem deutschen jene Kraft in Bewegung setzt.“ (E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Hg. von Wulf Segebrecht. Frankfurt/ Main 2001, S. 68). 15 Vgl. hierzu auch Andrea Hübener: Kreisler in Frankreich. E.T.A. Hoffmann und die französischen Romantiker (Gautier, Nerval, Balzac, Delacroix, Berlioz). Heidelberg 2004, S. 181-184. Hübener verweist auf Hoffmanns Erzählung Der Artushof als Modell für Le Chef-d’œuvre inconnu. 16 Brunel: La Tentation hoffmannesque chez Balzac, S. 316. 17 Vgl. Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 100. 18 In: Correspondance. Hg. von Roger Pierrot. 5 Bde. Paris 1960-1969, Bd. III, S. 291-296, hier S. 296. Balzac und die deutsche Musik 137 Komponisten und Kapellmeister Jacques Strunz, dem Widmungsträger von Balzacs anderer musikalischer Erzählung Massimilla Doni. 19 Auch wenn diese Zusammenarbeit Balzac vermutlich in dem Glauben an die besondere Affinität der Deutschen zur Musik bestärkt hat, sollte die Bedeutung dieser coopération franco-allemande jedoch nicht überbewertet werden. Immer dann, wenn es in der Erzählung in musikästhetischer Hinsicht wirklich interessant wird, ist vor allem eine Quelle ausschlaggebend: E.T.A. Hoffmann. Wenn Balzac ausgerechnet einen tauben Dirigenten zu seinem Sprachrohr macht und ihn das „thème en sol naturel, répété en mi par les cors“ (CH X, 473) aus Beethovens Fünfter Symphonie loben lässt, spielt er damit nicht nur auf das Schicksal des Bonner Komponisten an, sondern paraphrasiert zugleich eine Passage aus Hoffmanns Beethoven-Rezension. Die Unstimmigkeiten in den Tonartenbezeichnungen sind dabei auf einen Fehler zurückzuführen, der dem französischen Hoffmann-Übersetzer Loève-Veimars unterlaufen ist. 20 Und dass Gambara den Namen „Sébastien Bach“ (CH X, 475) überhaupt nur im Munde führt, ist gleichfalls auf die Vermittlung Hoffmanns zurückzuführen, der dem Thomaskantor in den Kreisleriana noch vor der 1829 durch Mendelssohn-Bartholdy initiierten Bach-Renaissance ein Denkmal gesetzt hatte. 21 Im Frankreich der 1830er Jahre war Bachs Ruhm noch vollkommen esoterisch, und vermutlich haben weder Balzac noch seine französischen Leser Kompositionen Bachs gekannt. Vor allem aber, wenn Gambara der Musik aufgrund ihres amimetischen und deshalb metaphysischen Charakters in der Hierarchie der Künste die höchste Stellung zuweist, lässt Balzac ihn einen zentralen Gedanken der romantischen Musikästhetik deutscher Prägung formulieren: „Vous ne voyez que ce que la peinture vous montre, vous n’entendez que ce que le poète vous dit, la musique va bien au-delà: ne forme-t-elle pas votre pensée, ne réveille-t-elle pas les souvenirs engourdis? “ (CH X, 479) Ein französischer Autor lässt italienische Figuren Lobeshymnen auf die deutsche Musik singen - so ließe sich die in Gambara formulierte Musikästhetik nach dem gegenwärtigen Stand dieser Ausführungen auf den Punkt bringen. Ganz so ist es dann freilich doch nicht, denn tatsächlich steht die Debatte um den Vorrang der deutschen oder der italienischen Musik im Zentrum der Erzählung, wobei letztere zur Zeit Balzacs vor allem durch 19 Vgl. Anton Würz: „Art. Strunz“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. von Friedrich Blume. 17 Bde. Kassel [u.a.] 1951-1986, Bd. 12, Sp. 1627-1628. In der zweiten Auflage dieses Nachschlagewerks findet sich kein Eintrag zu Strunz mehr. 20 Vgl. Anthony R. Pugh: „Balzac’s Beethoven. A note on Gambara.“ In: Romance Notes 8 (1966), S. 43-46, hier S. 44. 21 Vgl. insbesondere das erste, „Johannes Kreisler’s, des Kapellmeisters Leiden“ überschriebene Stück der Kreisleriana (Hoffmann: Fantasiestücke in Callot’s Manier, S. 34-41). Florian Trabert 138 Rossini repräsentiert wurde. Diese querelle war im Frankreich der 1830er Jahre angesichts des Vordringens der deutschen Musik in die von der italienischen Oper geprägten Musikkultur des Landes von großer Aktualität; dies sollte aber nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass es sich hierbei letztlich um die Fortsetzung einer Debatte handelt, die Rousseau und Rameau bereits Mitte des 18. Jahrhunderts um das Primat der Melodie und der Harmonie geführt hatten. 22 Nicht ganz zu Unrecht bewunderten Balzac und seine Zeitgenossen an den italienischen Opern vor allem die Melodik, an der deutschen Instrumentalmusik hingegen die Harmonik. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass Balzac das Ideal in einer Synthese von italienischer Melodie und deutscher Harmonie sah. „Vive la musique allemande! ... quand elle sait chanter“ (CH X, 475) lässt er seinen italienischen Grafen programmatisch ausrufen. Wie Hoffmann sah Balzac diese Synthese vor allem in Mozarts Oper Don Giovanni verwirklicht, die Gambara als „la seule œuvre musicale où l’harmonie et la mélodie soient en proportions exactes“ (CH X, 503) rühmt. In der Forschung umstritten ist hingegen die Frage, ob Balzac auch in Meyerbeers Oper Robert le diable, der eine längere Passage der Erzählung gewidmet ist, eine Umsetzung dieses Ideals sah. Tatsächlich lässt sich Gambara nur im trunkenen Zustand zu Lobeshymnen auf Meyerbeers Oper hinreißen, im nüchternen Zustand zieht er hingegen das ernüchternde Fazit: „[S]i l’opéra plaît tant, c’est que la musique est de tout le monde, aussi doit-elle être populaire.“ (CH X, 513) Aber ist es überhaupt legitim, die Erzählung als Musikkritik zu lesen? Vermutlich schon, und vielleicht ist in diesem Punkt sogar der nachhaltigste Einfluss Hoffmanns auf Balzac zu sehen. In der deutschsprachigen Literatur war Hoffmann der erste, der die von Friedrich Schlegel in seinem berühmten 116. Athenäums-Fragment erhobene Forderung „Genialität und Kritik […] bald [zu] mischen, bald [zu] verschmelzen“ 23 im musikalischen Bereich in die Tat umsetzte. Vor allem mit einigen Stücken aus den Kreisleriana verfasste Hoffmann Texte im Grenzbereich zwischen Musikkritik und Literatur. Indem Balzac in Gambara Kunst und Kritik im Sinne der ‚Universalpoesie’ verschmilzt, tritt er auch in gattungstypologischer Hinsicht das Erbe der deutschen Romantik an. 22 Vgl. Jean Starobinski: Die Zauberinnen. Macht und Verführung in der Oper. Übers. aus dem Französischen von Horst Günther. München 2007, S. 280. 23 Friedrich Schlegel: „Athenäums-Fragmente“ [116]. In: Ders.: Kritische und theoretische Schriften. Hg. von Andreas Huyssen. Stuttgart 1978, S. 90. Balzac und die deutsche Musik 139 3 „Le bon Allemand“: Le Cousin Pons Mit seinem zehn Jahre später erschienen Roman Le Cousin Pons knüpft Balzac an die musikästhetischen Debatten aus Gambara an, verschmilzt diese aber mit einem für den Autor typischen Plot. Vorrangig dreht sich die Romanhandlung - wie so oft bei Balzac, man denke etwa an Eugénie Grandet - um eine Erbschaft: um die in ihrem materiellen Wert von den Romanfiguren zunächst völlig unterschätzte Kunstsammlung der Titelfigur. In keinem Roman Balzacs treten zudem so viele Figuren deutscher Herkunft auf. Diese vermitteln dem Leser Vorstellungen über den deutschen Nationalcharakter, die oft kaum weniger stereotyp sind als die Namen der beiden Nebenfiguren Wilhelm Schwab und Fritz Brunner. Nicht immer sind diese Klischees so eindeutig der Figurenperspektive geschuldet wie im Falle der reichlich unbedarften Cécile Camusot de Marville, die in ihrem potentiellen Verlobten Fritz Brunner gleich einen jungen Werther zu sehen meint (vgl. CH VII, 553), worauf sich dieser aber so gar nicht wie Goethes Dilettant verhält und dem verwöhnten französischen Fräulein die kalte Schulter zeigt. Bisweilen gehen die Stereotypen allerdings auch auf das Konto des Erzählers und damit letztlich auf das Konto des Autors: So ist Rémonencq nicht einfach nur verschlagen, sondern ‚der verschlagene Auvergnate’, und Elie Magus - auch eine antijudaische Komponente gehört leider zur Figurenkonzeption des Romans - nicht einfach nur habgierig, sondern ‚der habgierige Jude’. Zu den vom Roman verbreiteten Deutschland-Stereotypen zählen insbesondere die Ausführungen des Erzählers zum Okkultismus (vgl. CH VII, 586) und zur Trinkfestigkeit der Deutschen (vgl. CH VII, 547f.). Letztere attestierte den Deutschen bereits zweieinhalb Jahrhunderte zuvor Montaigne in seinem Essai „De l’yvrongnerie“, 24 wobei Balzac aber ein weiteres Mal das Modell Hoffmanns vorgeschwebt haben dürfte; in diesem Sinn spricht der Erzähler auch von den „griseries imprimées d’Hoffmann“ (CH VII, 497). Im Zentrum des vom Roman entworfenen Deutschlandbildes steht jedoch einmal mehr die Affinität der Deutschen zur Musik. Bereits der Untertitel des Romans, „Les deux musiciens“, lässt keinen Zweifel daran, dass wir uns auch mit diesem Roman - folgt man der Typologie der Pariser Gesellschaft, die Balzac am Beginn von La Fille aux yeux d’or in Analogie zu Dantes Inferno erstellt hat - im vierten Kreis der Pariser Hölle befinden, die Balzac den Künstlern vorbehalten hat (vgl. CH V, 1049). 24 In diesem Essay schreibt Montaigne: „Les Allemans boivent quasi esgalement de tout vin avec plaisir: Leur fin c’est l’avaller, plus que gouster. Ils en ont bien meilleur marché. Leur volupté est bien plus plantureuse et plus en main.“ (Michel de Montaigne: „De l’yvrongnerie“. In: Ders.: Les Essais. Hg. von Jean Balsamo, Michel Magnien, Catharine Magnien-Simonin. Paris 2007, S. 358-367, hier S. 362) Florian Trabert 140 „Les deux musiciens“, das sind neben der Titelfigur der eng mit dieser befreundete deutsche Komponist Schmucke, der im Roman mit der Beharrlichkeit eines Homerischen epitheton ornans als „le bon Allemand“ apostrophiert wird. In diesem ‚guten Deutschen’ ist sicherlich der deutlichste Ausdruck von Balzacs Deutschfreundlichkeit zu sehen, wie bereits Adorno hervorgehoben hat: An seiner Beschreibung des Musikers Schmucke läßt sich denn auch entnehmen, worauf seine Germanophilie ging. Sie ist desselben Wesens wie die Wirkung der deutschen Romantik in Frankreich, vom Freischütz und von Schumann bis zum Antirationalismus des zwanzigsten Jahrhunderts. 25 Gleichwohl ermöglicht der direkte Vergleich zwischen Schmucke und Gambara noch eine Differenzierung von Adornos Ausführungen: Gambara ist exzentrisch-genial, Schmucke hingegen naiv-genial und somit weitaus weniger ‚hoffmannesk’ als sein Vorgänger. Im Vergleich zu Gambara ist die gesamte Erzähllogik von Le Cousin Pons weitaus realistischer, da der Roman nicht mehr auf der Konfrontation zweier unterschiedlicher Wahrnehmungswelten basiert. Dass Schmucke die Auflösung der Kunstsammlung seines Freundes nicht verhindern kann, ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Komposition einer Oper seine gesamte Aufmerksamkeit absorbierte; der naive Deutsche durchschaut schlicht die Tricks der verschiedenen Pariser Gesellschaftsschichten nicht. Der Vergleich mit Gambara zeigt weiterhin, dass die italienische Musik in Le Cousin Pons keine Rolle mehr spielt. Das Ideal einer Synthese von Melodie und Harmonie wird nun durch die Zusammenarbeit zwischen dem Franzosen Pons und dem Deutschen Schmucke realisiert. So berichtet der Erzähler von den frühen Erfolgen des Komponisten-Duos: „L’association de Schmucke et de Pons produisit un résultat merveilleux. Schmucke, très fort comme tous les Allemands sur l’harmonie, soigna l’instrumentation dans les partitions dont le chant fut fait par Pons.“ (CH VII, 501) Trotz dieses schönen Bildes einer coopération franco-allemande, das bereits einige Züge von Romain Rollands Romanzyklus Jean-Christophe vorwegnimmt, lässt sich hinterfragen, ob diese gemeinsamen Produktionen von Pons und Schmucke für die Pariser Opéra comique wirklich die Ankündigung des Erzählers rechtfertigen, dass es sich bei Schmucke um einen „grand compositeur“ (CH VII, 497) handelt. Tatsächlich scheint sich Schmucke diesen Titel erst durch die Improvisation zu verdienen, die er seinem sterbenden Freund Pons am Klavier vorspielt und die somit ein ‚chefd’œuvre inconnu’ bleibt. Die lange Beschreibung dieser Improvisation verdient es trotz der mit einigem Pathos angewandten rhetorischen Strategie 25 Adorno: Balzac-Lektüre, S. 143. Balzac und die deutsche Musik 141 des name-dropping nahezu vollständig zitiert zu werden, da hier viele der bereits analysierten Stränge zusammenlaufen: Schmucke se mit au piano. Sur ce terrain, et au bout de quelques instants, l’inspiration musicale, excitée par le tremblement de la douleur et l’irritation qu’elle lui causait, emporta le bon Allemand, selon son habitude, au delà des mondes. Il trouva des thèmes sublimes sur lesquels il broda des caprices exécutés tantôt avec la douleur et la perfection raphaëlesque de Chopin, tantôt avec la fougue et le grandiose dantesque de Liszt, les deux organisations musicales qui se rapprochent le plus de celle de Paganini. […] [D]ans cette nuit où Schmucke fit entendre par avance à Pons les concerts du Paradis, cette délicieuse musique qui fait tomber des mains de Sainte Cécile ses instruments, il fut à la fois Beethoven et Paganini, le créateur et l’interprète! (CH VII, 705) Raffael, Dante, Beethoven: Allein die bedeutendsten Vertreter der Künste erscheinen dem Erzähler ausreichend, um die Improvisation Schmuckes zu würdigen. Gleichzeitig wird der Musik, ganz im Sinne der romantischen Musikästhetik deutscher Prägung, eine geradezu metaphysische Qualität zugesprochen: Sie führt den Komponisten „au delà des mondes“ und gibt dem sterbenden Pons einen Vorgeschmack auf die himmlische Sphärenmusik. Über den toposhaften Bezug auf Raffaels Darstellung der heiligen Cäcilia hinaus wird an dieser Stelle zugleich die Grundfigur des Beethoven- Mythos sichtbar: dass der leidende Mensch sein Schicksal durch die Kunst zu überwinden vermag. 26 Auch wenn Balzac dieser Grundfigur eine eher resignative als trotzige Note verleiht, ist es doch der Schmerz über den nahen Tod des Freundes, der ihm seine Inspiration eingibt. Indem diese Stelle den metaphysischen Charakter der Musik akzentuiert, wird sie auch bedeutsam im Hinblick auf die Haupthandlung um Pons’ Kunstsammlung, an deren Aneignung die verschiedenen Gesellschaftsschichten mit vereinten Kräften arbeiten. Anders als die wertvollen Gemälde, Statuen und sonstigen Kunstgegenstände der Sammlung handelt es sich bei Schmuckes Improvisation um ein immaterielles Kunstwerk, das sich somit auch einer unmittelbaren ökonomischen Verwertbarkeit entzieht. Allerdings gilt auch im Falle Schmuckes die berühmte Sentenz Napoleons: „Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas.“ 27 Lächerlich wird Schmucke nicht nur durch das deutsch-französische Kauderwelsch, das ihm Balzac in den Mund legt; die Kehrseite der weltabgewandten Genialität Schmuckes ist vor allem in seiner Naivität zu sehen. Der vielleicht 26 Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: „‚So pocht das Schicksal an die Pforte’. Der ‚Mythos Beethoven’ und die Kompositionen der Imagination.“ In: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Bd. 6: Das 19. Jahrhundert. Hg. von Betsy van Schlun, Michael Neumann. Darmstadt 2008, S. 35-57, hier S. 36. 27 Dominique de Pradt: Histoire de l'ambassade dans le Grand Duché de Varsovie en 1812. Paris 1815, S. 215. Florian Trabert 142 interessanteste Erzählerkommentar zur deutschen Musik geht in dieser Hinsicht noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er einen Zusammenhang zwischen der Musikaffinität der Deutschen und den politischen Zuständen auf der anderen Seite des Rheins herstellt: „Les Allemands, s’ils ne savent pas jouer des grands instruments de la Liberté, savent jouer naturellement de tous les instruments de musique.“ (CH VII, 502) Nur ein Jahr nach Erscheinen von Le Cousin Pons sollte der historische Verlauf mit dem Scheitern der 1848er Revolution Balzacs Diagnose, dass die Deutschen nicht auf den ‚Instrumenten der Freiheit’ zu spielen vermögen, durchaus bestätigen. 4 „Welsche[r] Tand“ Interessanter scheint aber die Parallele zu einem genau hundert Jahre nach Le Cousin Pons erschienenen Roman zu sein: zu Thomas Manns 1947 im amerikanischen Exil publizierten Roman Doktor Faustus. Dessen Protagonist, der „deutsche[ ] Tonsetzer[ ] Adrian Leverkühn“, komponiert zwar tiefgründige Oratorien und Kantaten, nimmt die historischen Prozesse seiner Zeit - den Imperialismus der Wilhelminischen Ära, den Ersten Weltkrieg und das Aufziehen des Faschismus - nur am Rande wahr. In seinem Essay „Deutschland und die Deutschen“, der unmittelbar in den Kontext des Romans gehört, beruft sich Mann bezeichnenderweise auf die soeben zitierte Stelle aus Le Cousin Pons. Die Ursache der deutschen Katastrophe meint Mann genau in dem Charakterzug zu erblicken, der Balzac offenkundig an den Deutschen faszinierte, nämlich „in der Musikalität der deutschen Seele, dem, was man ihre Innerlichkeit nennt, das heißt: dem Auseinanderfallen des spekulativen und des gesellschaftlich-politischen Elements menschlicher Energie und der völligen Prävalenz des ersten vor dem zweiten“. 28 Davon, dass eine „solche Musikalität der Seele“, wie Thomas Mann fortfährt, „in der politischen, der Sphäre des menschlichen Zusammenlebens“ 29 teuer bezahlt werden muss, ist bei Balzac noch nicht die Rede. Der kindlichen Naivität Schmuckes fehlt die dämonische Dimension, die Thomas Mann seiner Musikerfigur verlieh. Das von Mann unter Berufung auf Balzac analysierte fatale Verhältnis der ‚musikalischen Deutschen’ zur Politik artikulierte sich jedoch nicht nur in ihrer antipolitischen Gesinnung, sondern zugleich in der nationalistischen Aufladung des Mythos der deutschen Musik. Von dieser Entwicklung, die sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog, konnte 28 Thomas Mann: „Deutschland und die Deutschen“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt/ Main 1960, Bd. XI, S. 1126-1148, hier S. 1132. 29 Ebd. Balzac und die deutsche Musik 143 Balzac noch nichts ahnen. Eine wichtige Rolle spielte dabei jedoch ein Komponist, der sich in der Saison 1841/ 42 - nur gut zwei Jahre bevor die Handlung von Le Cousin Pons einsetzt - in Paris aufhielt und dabei von Giacomo Meyerbeer protegiert wurde: Richard Wagner. Dass Balzac „[s]eine besondere Liebe zu den Deutschen“ von Richard Wagner entgolten wurde, wie Adorno in dem eingangs zitierten Satz schreibt, ist durch zahlreiche Tagebucheinträge Cosima Wagners belegt; zumindest in musikalischer Hinsicht erscheint es jedoch erforderlich, das Adorno-Zitat ein weiteres Mal abzuwandeln: Balzacs „besondere Liebe zu den Deutschen“ wurde ihm von Richard Wagner ‚schlecht entgolten’. Seine kritische Distanz zum französischen Musikbetrieb artikulierte Wagner bereits in einer Reihe von autobiographisch gefärbten Erzähltexten, die der Komponist während seines ersten Pariser Aufenthaltes Anfang der 1840er Jahre verfasste und die er unter dem Titel „Ein deutscher Musiker in Paris“ vereinte. In ihrer Mischung aus novellistischen und essayistischen Elementen sowie der Gestaltung der Hauptfigur als halb dilettantischen, halb genialischen „Enthusiast[en]“, 30 den vor allem seine quasi-religiöse Beethoven-Begeisterung zum Komponisten werden lässt, erinnern diese Texte überdeutlich an das Modell Hoffmanns. Insbesondere die Erzählung „Ein Ende in Paris“ weist dabei zugleich auf den nur wenig später entstandenen Roman Balzacs voraus. In dieser schildert Wagner das tragische Ende des Protagonisten, der als „einfache deutsche Seele, voll irdischer Anmut, aber überirdischem Enthusiasmus“ 31 im „Sumpf und Morast“ 32 des kommerzialisierten Pariser Musikbetriebs unter die Räder kommt und schließlich verarmt und verbittert stirbt. Vom Ideal einer „schöne[n] Vereinigung“ 33 deutscher und französischer Musik träumt der Protagonist nur in einer früheren Lebensphase, die noch nicht von den „abschreckenden Eindrücken vom Pariser Wesen“ 34 getrübt ist, wie der fiktive Herausgeber bemerkt. Dem in Le Cousin Pons entworfenen Ideal einer Zusammenarbeit zwischen dem französischen Komponisten Pons und dem deutschen 30 Richard Wagner: „Ein Ende in Paris“. In: Ders.: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt/ Main 1983, Bd. 5, S. 112- 137, hier S. 119. Der ‚reisende Enthusiast’ ist eine in vielen Erzählungen Hoffmanns vorkommende Figur, die unter anderem auch in der musikalischen Erzählung Don Juan (vgl. Hoffmann: Fantasiestücke in Callot’s Manier, S. 83-97) als Protagonist in Erscheinung tritt. 31 Richard Wagner: „Eine Pilgerfahrt zu Beethoven“. In: Dichtungen und Schriften, Bd. 5, S. 86-112, hier S. 100. 32 Wagner: Ein Ende in Paris, S. 128. 33 Richard Wagner: „Über deutsches Musikwesen“. In: Dichtungen und Schriften, Bd. 5, S. 151-171, hier S. 171. 34 Ebd., S. 152. Florian Trabert 144 Komponisten Schmucke erteilt Wagner in seinen späteren Werken schließlich eine endgültige Absage: am plakativsten in seiner Oper Die Meistersinger von Nürnberg, an deren Schluss er Hans Sachs vor „welschen Dunst mit welschem Tand“ 35 warnen lässt, am schärfsten in seiner Beethoven-Schrift von 1870. Das Erscheinungsjahr der letztgenannten ist gleich doppelt bedeutsam: als hundertster Geburtstag „unseres großen Beethoven“, 36 wie Wagner schreibt, und als Jahr des preußisch-deutschen Siegs über Frankreich. Am Ende seiner Schrift vermeint Wagner in der französischen Beethoven-Rezeption um 1830 das ‚Vorspiel’ zum Sieg von 1870 zu erkennen: Dort, wohin jetzt unsere Waffen dringen, an dem Ursitze der ‚frechen Mode’ hatte sein Genius schon die edelste Eroberung begonnen; was dort unsere Denker, unsere Dichter, nur mühsam übertragen, unklar, wie mit unverständlichen Lauten berührten, das hatte die Beethovensche Symphonie schon im tiefsten Inneren erregt: die neue Religion, die welterlösende Verkündigung der erhabendsten Unschuld war dort schon verstanden, wie bei uns. So feiern wir denn den großen Bahnbrecher in der Wildnis des entarteten Paradieses! Aber feiern wir ihn würdig, denn dem Weltbeglücker gehört der Rang noch vor dem Welteroberer! [Hervorhebung F.T.] 37 Es ist dies, mit einem Wort, die fatale Rede vom ‚deutschen Wesen, an dem die Welt genesen’ soll. Aber der für diese ‚Genesung’ notwendige Sieg lässt sich dann doch besser mit Kanonen erringen als mit Symphonien, und die Utopie einer deutschen ‚Weltbeglückung’ schlug im 20. Jahrhundert in die Katastrophe einer deutschen ‚Welteroberung’ um. Das Bild des guten und naiven Deutschen, das Balzac mit Schmucke gezeichnet hatte, gehörte damit der Vergangenheit an. 35 Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“. In: Dichtungen und Schriften, Bd. 4, S. 107-212, hier S. 212. 36 Richard Wagner: „Beethoven“. In: Dichtungen und Schriften, Bd. 9, S. 38-109, hier S. 38. 37 Ebd., S. 109. Tim Lörke Literatur für Weltleute. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac- Rezeption 1 Die Bedeutung Balzacs für Hugo von Hofmannsthal ist immens. Nicht allein, dass Hofmannsthal zeitlebens ein begeisterter und intensiver Leser Balzacs war, er griff auch in Krisensituationen stets auf Balzac zurück, den er gewissermaßen als ein Heilmittel seiner Schwierigkeiten empfand. Umso verwunderlicher ist es, dass in den Bibliographien zu Hofmannsthals Werk so gut wie keine Untersuchungen seiner Balzac-Rezeption verzeichnet sind. In den biographischen Darstellungen wird Balzac natürlich erwähnt, aber zumeist nur in den Aufzählungen dessen, was Hofmannsthal gelesen hat. Die Einflussforschung hat um Balzac im Falle Hofmannsthals einen Bogen gemacht. 1 Und noch die große Studie Christoph Königs, die einerseits den Philologen Hofmannsthal und anderseits Hofmannsthals Austausch mit anderen Philologen porträtiert, erwähnt Balzac nur am Rande. 2 Die einzige Ausnahme bildet Gert Mattenklotts Aufsatz „Hofmannsthals Lektüre französischer Realisten“, der neben Balzac auch Stendhal und Flaubert als einflussreiche Vorbilder Hofmannsthals hervorhebt und daraus Schlüsse zieht, die auf Hofmannsthals Schreiben ein neues Licht werfen. Freilich beschränkt sich Mattenklott auf Hofmannsthals Dialog Über Charaktere im Roman und im Drama von 1902; den 1908 erschienen Essay Balzac bezieht er kaum in seine Überlegungen ein. Mattenklott fragt nach der Bedeutung dreier Romanciers für einen Autor, „der selbst als Romancier gescheitert ist“, und entkräftet sogleich jede Vermutung, Hofmannsthal könne durch die realistische Poetik „beeindruckt“ gewesen sein. 3 Vielmehr interessiere Balzac Hofmannsthal als „Künstlertypus“, der als Gescheiterter 1 Als Beispiel mag dienen: Claude David: „Hofmannsthal als Leser des französischen Schrifttums“. In: Hofmannsthal-Forschungen 9 (1987), S. 9-18. 2 Vgl. Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. 2. Aufl. Göttingen 2006. 3 Gert Mattenklott: „Hofmannsthals Lektüre französischer Realisten: Stendhal, Balzac, Flaubert“. In: Hofmannsthal-Blätter 34 (1986), S. 58-73, hier S. 59. Tim Lörke 146 in der dramatischen Gattung auf anderem Feld produktiv wird. 4 Denn daran zeigt sich Hofmannsthal besonders interessiert, als er 1902 in seinem fiktiven Dialog zwischen Balzac und Hammer-Purgstall den Dichter der Comédie humaine seine Ablehnung des Theaters vorbringen lässt. 5 Mattenklott zeigt, wie Hofmannsthal seinen Balzac als Narziss zeichnet, der allein aus sich schafft und nur dies in der Welt zu erkennen weiß, was er als Dichter in sein Werk und damit in die Welt hineingelegt hat: Hofmannsthal führt einen Dichter vor, der anders als der historische Balzac eher „der Jugendstilkunst des Fin de siécle zugehört“. 6 Daraus entwickelt Hofmannsthal, wie Mattenklott hervorhebt, eine „gattungspoetische Spekulation“, die allein dem Roman die Möglichkeit zuschreibt, das Gesamt des Lebens in seiner Fülle an Lebensschicksalen künstlerisch darzustellen und zu bewältigen. 7 Mit Blick auf den sechs Jahre später entstandenen Essay Balzac schließt Mattenklott seine Überlegungen zu Hofmannsthals Balzac- Lektüre; dort werde Balzac als Vollender der Romantik gefeiert, der das Absolute „in der unendlichen Relativität seiner sozialen Spiegelungen“ zum Vorschein bringe. 8 Somit bietet Mattenklott eine erste Annäherung an Hofmannsthals Balzac-Bild, doch prüft er nicht die poetischen Konsequenzen, die Hofmannsthal daraus zog. In welcher Weise Balzac ein tatsächlich befolgtes Vorbild für Hofmannsthal werden konnte, bleibt in Mattenklotts Überlegungen ausgespart. Im Folgenden wird zunächst kurz Balzacs Bedeutung für Hofmannsthal skizziert, ehe die Thesen des Dialogs wie des Essays vorgestellt werden. Sodann wird an Der Rosenkavalier und Der Schwierige gezeigt, wie sehr Hofmannsthal sich auf Balzac eingelassen hat, um ein eigenes Werk zu verfassen - oder besser: wie sehr sich Hofmannsthal auf sein Balzac-Bild eingelassen hat, denn ob Hofmannsthals Balzac einer kritischen romanistischen Prüfung standzuhalten vermag, muss hier nicht verhandelt werden. 2 Zwischen 1896 und 1898 leistet Hofmannsthal widerwillig seinen Militärdienst. Die Umstände in seinen Garnisonen in Galizien nahe der russischen Grenze bringen ihn an den Rand der Verzweiflung. Die Landschaft findet er 4 Vgl. ebd., S. 64. 5 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: „Über Charaktere im Roman und im Drama. Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall in einem Döblinger Garten im Jahre 1842“. In: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/ Main 1979, Bd. 7, S. 481-494. 6 Mattenklott: Hofmannsthals Lektüre französischer Realisten, S. 65, 67. 7 Ebd., S. 66. 8 Ebd., S. 69. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 147 öde, die Menschen hässlich, den Dienst empfindet er als Zumutung. Inmitten dieser Widrigkeiten sucht er Entlastung und Zuflucht in der Lektüre; Balzac gehört für Hofmannsthal unbedingt dazu, wenn er sich aus der Wirrnis der äußeren Welt stiehlt. 9 Auch später, wenn Hofmannsthal in Zeiten größter Arbeitsanspannung und Bedrängnis so gut wie nichts lesen kann, liest er doch Balzac, wie er etwa am 9. Januar 1910 an Harry Graf Kessler schreibt. 10 Fortan gehört Balzac zu Hofmannsthals Leitsternen. Zwar verfasst er eine Habilitationsschrift unter dem Titel Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo, 11 doch stellt er Balzac weit über Hugo. In diesem Sinne schreibt er am 24. Januar 1910 an Ottonie Gräfin Degenfeld: Ich möchte […] daß Sie Balzac kennen lernen, einen Autor dem ich nächst Shakespeare und Goethe unendlich viel verdanke. Ihn kennt man durchaus nicht wenn man fünf seiner Bücher, sondern erst wenn man ihrer dreißig kennt. Wer aber so weit kommt, der wird ihn wohl auch immer wieder lesen. 12 Hofmannsthals Briefe an Ottonie Gräfin Degenfeld kreisen um seine Lieblingsbücher und diejenigen Autoren, deren Bedeutung er für seine Person wie sein eigenes Werk besonders betont. Mit seinen Lektüreempfehlungen gewährt Hofmannsthal gleichsam intime Einblicke in den eigenen Seelenhaushalt. Hierin nimmt Balzac eine eminent große Rolle ein, wie auch die Zusammenstellung mit Shakespeare und Goethe belegt. Bedenkt man zudem, unter welchen Umständen sich Hofmannsthal intensiv mit Balzac beschäftigt hat, ist der Aussagewert des Briefes noch höher einzuschätzen. Denn 1910 hat Hofmannsthal seine große Schreibkrise, die um die Jahrhundertwende einsetzte, längst überwunden, sofern man bei seiner heiklen Produktionsweise überhaupt von überwundenen Krisen sprechen kann. Hervorgetreten ist der junge Hofmannsthal mit einer Reihe von Gedichten 9 Vgl. dazu Werner Volke: Hugo von Hofmannsthal. 18. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 54. 10 In Hugo von Hofmannsthal/ Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898-1929. Hg. von Hilde Burger. Frankfurt/ Main 1968, S. 271. Freilich versagt mitunter auch diese entspannende Lektüre; so schreibt Hofmannsthal am 21. April 1910 an Kessler, er sei „kaum im Stande, irgend ein Buch zu lesen, nicht einmal Balzac“ (ebd., S. 289). 11 Hugo von Hofmannsthal: „Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo“. In: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 8, S. 247-320. Christoph König stellt heraus, dass Hofmannsthal in der Habilitationsschrift vor allem seine eigene Poetik in der Auseinandersetzung mit Hugo reflektiert; König: Hofmannsthal, S. 55-68. Die Habilitationsschrift lässt sich also mit den Balzac-Texten insofern vergleichen, als auch dort Hofmannsthal nach einem eigenen Weg sucht, indem er ein Dichtervorbild sich gewissermaßen anverwandelt. 12 Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit Ottonie Gräfin Degenfeld und Julie Freifrau von Wendelstadt. Hg. von Marie Therese Miller-Degenfeld. 2. Aufl. Frankfurt/ Main 1986, S. 21. Tim Lörke 148 und vor allem Dramen, die auf je eigene Weise nach dem schwierigen Verhältnis von Kunst und Leben fragen. Hofmannsthals rasch eingesetztes Ungenügen an den eigenen Texten rührt daher, dass seine Helden an ihrer Lebensschwäche stets zugrunde gehen. Sie scheitern daran, Kunst und Leben zu vereinen, und sie scheitern vor allem daran, menschliche Bindungen einzugehen, die den Künstlerseelen das Leben überhaupt erst ermöglichen. So ist Hofmannsthals Frühwerk stete Kritik am ästhetischen Menschen, wie die klassischen Studien Richard Alewyns und Hinrich Seebas hervorgehoben haben. 13 Um 1900 herum sucht Hofmannsthal nach einer Möglichkeit, Kunst und Leben zu vermitteln, um feinfühlig-nervöse Existenzen mit der sozialen Welt zu versöhnen. Bei dieser Suche besinnt er sich auf Balzac, in dessen Nachfolge er die Möglichkeit erkennt, einen steril gewordenen Ästhetizismus zu überwinden. Sowohl der Dialog als auch der Essay lassen erkennen, dass Hofmannsthal, wenn er über Balzac schreibt, sich vor allem an eine eigene, neue Poetik herantastet. Dabei bewahrt sich Hofmannsthal zwar das für ihn Charakteristische, das sich in seinen ästhetizistischen Anfängen herausgebildet hat, doch zeigt ihm sein Balzac den Weg aus den Aporien des Frühwerks. Darum erscheint Balzac hier keineswegs als abgelehnte und gefürchtete Konkurrenz, sondern als ein bewundertes Vorbild. Folgt man Harold Blooms psychoanalytisch grundierter Ansicht, jeder starke, also originelle und innovative Schriftsteller müsse gegen seine Vorbilder anschreiben, sich also von seiner Einflussangst freischreiben, 14 muss man im Falle Hofmannsthals geradezu von einer Einflusslust sprechen, die sich Balzac zum Liebesobjekt wählt: Hofmannsthal setzt sich eben nicht gegen, sondern mit Balzac zu einem neuen Schreiben durch. Hofmannsthals Traditionsverbundenheit erschöpft sich nicht in einer bloßen Wiederholung des schon einmal Gewesenen, sie integriert vielmehr die mustergültigen Leistungen der Vorbilder als etwas Gültiges in die Moderne, indem sie den gewandelten Zeitläuften angepasst und somit produktiv gemacht werden für eine Literatur auf der Höhe der Zeit. Mit diesem Traditionsverständnis steht Hofmannsthal im Einklang mit einem anderen poeta doctus der Moderne, T.S. Eliot. Eliot weist den unbedingten Originalitäts- und Innovationsanspruch zurück und erkennt gerade in den „most individual parts“ im Werk eines Autors die höchst 13 Richard Alewyns hellsichtige Aufsätze liegen gesammelt vor: Richard Alewyn: Über Hugo von Hofmannsthal. 4. Aufl. Göttingen 1967; Hinrich C. Seeba: Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in Hofmannsthals Der Tor und der Tod. Bad Homburg [u.a.] 1970. 14 Vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Literature. 2. Aufl. New York, Oxford 1997. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 149 lebendige und energische Unsterblichkeit der Vorbilder. 15 Für Eliot fördert die historische Sensibilität, die der Traditionsverbundenheit innewohnt, das Wissen, dass nicht allein die Vergangenheit vergangen ist, sondern schon auch die Gegenwart, woraus sich paradoxerweise eine gegenwärtige Gleichzeitigkeit ergibt, die alle Werke der Literatur miteinander verknüpft. Daraus folgert Eliot einen Austausch, der sich in zwei Richtungen bewegt: „the past should be altered by the present as much as the present is directed by the past“. 16 Auf der Ebene der Stoffwahl folgt Hofmannsthal in diesem Sinne etwa Caldéron, Molière oder Ottway, deren Sujets er adaptiert; auf der Ebene der Poetik jedoch rückt Balzac in die formstiftende Leitrolle. Die von Eliot beschriebene Austauschbewegung lässt sich in Hofmannsthals Texten über Balzac nachvollziehen: Einerseits schreibt er Balzac seine eigenen Probleme ein, die um gesteigerte Individualität und Narzissmus kreisen, um andererseits von Balzac die Mittel zu übernehmen, den schöpferischen Narziss mit der Welt zu versöhnen und gesellschaftlich zu vermitteln. Hofmannsthals Balzac scheint teilweise ein Dichter der Jahrhundertwende zu sein, der die ästhetizistischen Überzeugungen der Wiener Moderne teilt; zugleich aber erscheint er als Schriftsteller, dessen Werk gerade frei ist von aller Anhänglichkeit an die Décadence der Jahrhundertwende. So stellt denn auch Mattenklott fest, dass Balzac Hofmannsthal die Verbindung „der psychologische[n] Methode mit einer Philosophie des Lebens [bietet], für welche die Wahrheit mit der Feinmechanik psychischer Vorgänge nicht identisch ist“. 17 3 In dem Dialog-Essay Über Charaktere im Roman und im Drama stellt Hofmannsthal Balzac als narzisstischen Dichter dar, der durchaus verwandte Züge mit den Helden seiner frühen lyrischen Dramen teilt. „Es kann keiner aus seiner Welt heraus“, sagt Balzac hier, um zu dekretieren: „Es gibt keine Erlebnisse, als die Erlebnisse des eigenen Wesens“. 18 Damit erklärt der fiktive Balzac sein Scheitern als Dramatiker: „Ich wollte etwas finden, was ich nicht in mir trug. Ich wollte eine Unehrlichkeit begehen“. 19 Hier setzt bereits Hofmannsthals Selbstreflexion ein. Als er 1902 an seinem Dialog arbeitet, empfindet er sich gewissermaßen ebenfalls als 15 T.S. Eliot: „Tradition and the Individual Talent“. In: Ders.: The Waste Land. Authorative Text, Contexts, Criticism. Hg. von Michael North. New York, London 2001, S. 114-119, hier S. 114. 16 Ebd., S. 115. 17 Mattenklott: Hofmannsthals Lektüre französischer Realisten, S. 63. 18 Hofmannsthal: Über Charaktere im Roman und im Drama, S. 486. 19 Ebd., S. 484. Tim Lörke 150 Gescheiterter: Die lyrische Produktion ist nahezu zum Stillstand gekommen, 20 die lyrischen Dramen haben die Ausweglosigkeit des Ästhetizismus vor Augen geführt. So greift Hofmannsthal auf einen bewunderten Dichter zurück, der ebenfalls ein Scheitern zu verarbeiten hatte, 21 um die eigene Krise zu deuten. Er legt Balzac eine individualistische Poetik in den Mund, die gelingendes Schreiben einzig von der Entsprechung von persönlichem Temperament und literarischer Form abhängig macht. Wählt sich nach dieser Deutung ein Dichter eine Gattung, die nicht in einem Korrespondenzverhältnis zu seiner eigenen Persönlichkeit und seinem besonderen Talent steht, kann das Werk nur misslingen. 22 Darin liegt für Hofmannsthal zugleich ein besonderer Trost, der über die Erfahrung des Scheiterns hinweghilft. Schließlich erkennt nur der wahrhaft begabte und große Dichter, dass er die falsche Form gewählt hat. Die Spiegelung in seinem Vorbild Balzac dient Hofmannsthal dazu, sein eigenes Talent zu reflektieren, um so zu klären, ob nicht sein bisheriges Werk das Resultat eines Missverständnisses ist, dass also die Lyrik wie das Drama möglicherweise gerade nicht seine eigenen Domänen seien. Mehr noch: Da Hofmannsthal weiß, dass Balzac ein höchst erfolgreicher Schriftsteller trotz seines Scheiterns als Dramatiker war, wird Balzac auch zum Vorbild, eine Krise zu meistern und ein eigenes Werk vorzulegen. Entsprechend versucht der Dialog, Balzacs Weg vom Drama zum Roman nachzuvollziehen, um so einen Weg für Hofmannsthal zu eröffnen. Nicht allein sein Temperament verunmöglicht Balzac eine Laufbahn als Theaterschriftsteller, es ist auch die Besonderheit der Komposition eines Theaterstücks, die Balzac ablehnt. Denn Balzac glaubt nicht, „daß es Charaktere gibt“. 23 Hammer-Purgstalls überraschten Einwurf, er habe doch selber „sechs- oder siebenhundert Menschen geschaffen“, kontert Balzac, dass Menschen nicht in einem Drama leben könnten. 24 Er unterscheidet scharf zwischen Charakteren, die im Drama vorkommen, und Menschen, die einen Roman bevölkern können. Charaktere sind für Balzac einzig Funktionen der dramatischen Komposition und damit nur eine „Verengerung“, die dem wirklichen Menschen die „Breite“ nehme: Doch gerade auf die Breite der menschlichen Schicksale komme es ihm an! 25 Balzacs Schreiben zielt auf die Darstellung der Totalität menschlicher 20 Der erste Band der Gesammelten Werke in zehn Einzelbänden verzeichnet 140 Gedichte bis 1899, danach nur noch acht. 21 Vgl. Mattenklott: Hofmannsthals Lektüre französischer Realisten, S. 64: „Der Dialog von 1902 zwischen Hammer-Purgstall und Balzac ist auf 1842 datiert. Balzac war in diesem Jahr als Dramatiker bereits gescheitert.“ 22 Vgl. Hofmannsthal: Über Charaktere im Roman und im Drama, S. 484: „Eine Kunstform gebrauchen, und ihr gerecht werden: welch ein Abgrund liegt dazwischen! “ 23 Ebd., S. 485. 24 Ebd. 25 Ebd. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 151 Handlungen und Konstellationen, während das Drama nur an der kontrapunktischen Fügung interessiert sei, die zur Katastrophe im „symphonische[n] Aufbau“ führt. 26 Es ist die regelhafte, starre Form des Dramas, der sich Balzac hier verweigert und der er die ungebundene Form des Romans entgegenhält, die den Menschen als Ganzes zu zeigen vermag. Dabei zeigt sich Balzac allerdings nicht interessiert an tatsächlichen Schicksalen, die er dann in einen Roman überführen könnte; dieser gewissermaßen dokumentarische Zugang bildet für ihn nicht die Grundlage der Literatur. Es sind vielmehr diejenigen Schicksale, die sich die produktive Phantasie des Dichters ausdenkt, die im Mittelpunkt des Romans stehen. Auch die Menschen, die Balzac in seinen Romanen beschreibt, erfüllen somit in gewisser Weise eine Funktion; doch anders als im Drama, in dem sie eine Notwendigkeit der Form darstellen, dienen sie im Roman dazu, die Einbildungskraft des Dichters zu verkörpern. Der Balzac, den Hofmannsthal zeichnet, bietet keineswegs eine wirklichkeitsgetreue, detailgenaue Darstellung der menschlichen Verhältnisse und gesellschaftlichen Verwicklungen, wie man sie mit dem Realismus in Verbindung bringt. Im Gegenteil: Balzac plädiert hier für eine wirklichkeitsreine Literatur, für die Idee einer Dichtung, die allein aus dem künstlerischen „Delirium“ eine eigene, nur in der Literatur zu findende Welt schafft. Hofmannsthal deutet Balzac in seinem Dialog als einen ästhetizistischen Dichter, der dem L’art pour l’art-Prinzip verpflichtet ist. Der Narzissmus bildet die Basis, auf der sich die Phantasie als Erlebnis der eigenen Persönlichkeit entfaltet, um so dichterisch produktiv gemacht werden zu können. Darin aber ähnelt der fiktive Balzac den frühen Figuren Hofmannsthals, die einzig ihren Genuss und ihre prononciert ästhetische Weltanschauung leben. Will Hofmannsthal jedoch mit Balzac nach einer Möglichkeit suchen, einen unproduktiv und ausgeschriebenen Ästhetizismus zu überwinden, muss er Balzacs Narzissmus, den er als Eigenes in Balzac gelegt hat, aus seiner Verbindung mit der ästhetizistischen Weltanschauung der lyrischen Dramen lösen. In Über Charaktere im Roman und im Drama gelingt das Hofmannsthal zum Teil. Er legt seinem fiktiven Balzac des Jahres 1842 eine düstere Prophezeiung in den Mund, die sich auf Hofmannsthals eigene Generation bezieht. Nachdem Balzac ein Bild vom Dichter entworfen hat, der von der Welt abgewandt eine äußerliche vita contemplativa führt, die freilich innerlich aufgepeitscht wird von der Leidenschaft des Schaffens, kommt er zu dem Schluss, dass ein Dichter „ringsum in der ganzen Welt nur die Gegenbilder der Zustände wahrzunehmen imstande ist, die er unter den Qualen und Entzückungen des Arbeitens durchzumachen gewohnt ist“. 27 In der 26 Ebd. 27 Ebd., S. 488. Tim Lörke 152 Darstellung der so gesehenen Welt erweist er sich als so geschickt, dass auch das lesende Publikum mit der Zeit die Lebens- und Empfindungsweise des Dichters als nachahmenswert wahrnimmt und für sich als regulativen Daseinsmodus bestimmt: Um 1890 werden die geistigen Erkrankungen der Dichter, ihre übermäßig gesteigerte Empfindsamkeit, die namenlose Bangigkeit ihrer herabgestimmten Stunden, ihre Disposition, der symbolischen Gewalt auch unscheinbarer Dinge zu unterliegen, ihre Unfähigkeit, sich mit dem existierenden Worte beim Ausdruck ihrer Gefühle zu begnügen, das alles wird eine allgemeine Krankheit unter den jungen Männern und Frauen der oberen Stände sein. Denn der Künstler gleicht jenem Midas, unter dessen Händen alles zu Gold wurde. 28 Kataloghaft benennt Hofmannsthal die verschiedenen Züge der Dekadenzdichtung, um ihre verheerende Wirkung vorzuführen. Doch genau darin liegt für Hofmannsthal die vorläufige Lösung seines eigenen Problems. Die Protagonisten seiner lyrischen Dramen wollten künstlerisch leben bei Missachtung der Welt, so dass sie dem Leben abhandenkamen. Dies wird im Gespräch als eine bloß rezipierende Haltung dekuvriert, die künstlerisch folgenlos bleibt. Der fiktive Balzac spricht dem Dichter jedoch das Recht zu, weltvergessen nur aus dem eigenen Ich zu schreiben, ohne auf die Ansprüche der Gesellschaft zu achten. Abgelehnt wird die Haltung des L’art pour l’art einzig beim Publikum; für den Dichter ist diese Haltung geradezu die Bedingung des künstlerischen Schaffens. Die „jungen Männer und Frauen“, die sich ästhetizistisch in Kunstwelten einrichten, werden abgeurteilt, weil sie kein Werk vorlegen. Das Werk jedoch rechtfertigt den Künstler, der allein aus seinem Ich schafft, ohne Einflüsse der äußeren Welt zuzulassen. Durch seine Anverwandlung an das Vorbild Balzac gelingt es Hofmannsthal, sich selbst wieder souverän als Künstler wahrzunehmen. Seine Selbstzweifel überwindet er, indem er auch Balzac als einen Gescheiterten vorführt, der aber gerade aus seinem Scheitern einen poetischen Erfolg zu machen weiß. Zudem kann Hofmannsthal mit seinem Balzac die eigene ästhetizistische Haltung und symbolistische Schreibweise rechtfertigen, wenn sie zu dichterischer Produktion führen. Die Aporie des Frühwerks, wie Kunst und Leben zu versöhnen seien, belastet nur noch diejenigen, die zwar künstlerisch empfinden, aber keineswegs künstlerisch schaffen. Denn die dem Ästhetizismus voranliegende erhöhte Impressionabilität wird im Gespräch zwischen Hammer-Purgstall und Balzac als wichtige dichterische Qualität gekennzeichnet, aus der sich eine künstlerische Leistung für die Gesellschaft ergibt: Der symbolistische Blick des Dichters, der Alltagserscheinungen und zunächst unauffällige menschliche Beziehungen mit besonderer Bedeutung aufzuladen und 28 Ebd. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 153 darzustellen weiß, macht die Kunst zum Ort der Erkenntnis und der Sinnstiftung. Doch damit gelangt Hofmannsthal noch nicht völlig zur Lösung seines Problems. Harry Graf Kessler weist Hofmannsthal in einem Brief vom 5. Februar 1903 nach der Lektüre des Gesprächs darauf hin, „daß Sie sich selber täuschen“. 29 Für Kessler ist Balzac „typisch Komödien Dichter“, weil er stets die Beziehungen zwischen Menschen in den Mittelpunkt stellt; menschliche Beziehungen jedoch wirken „auf die Lachmuskeln“. 30 Darum kann Kessler Hofmannsthals Ablehnung des Dramas nicht folgen, zumal er in Hofmannsthal vor allem einen dramatischen Schriftsteller sieht. Aber einen, der vor allem dem Tragischen zugewandt ist: der Darstellung des Inneren. Kessler setzt Balzac und Hofmannsthal in Opposition zueinander, er löst die Anverwandlung, die Hofmannsthal unternommen hat, wieder auf. Kessler verkennt dabei den konsolatorischen wie selbstreflexiven Charakter des fiktiven Gesprächs. Für Kessler ist Balzac vor allem ein genauer Chronist menschlicher Beziehungen vor dem Hintergrund der Gesellschaft: „Seine Welt gleicht einem riesigen Maschinenraum, in dem immer eine Kurbel die andere treibt, in dem jede Kurbel nur als Triebkraft andrer Kurbeln, andrer Räder Wert und Bedeutung hat.“ 31 Überhaupt stehe für die Franzosen der Mensch einzig als funktionierender Teil der Gesellschaft im Mittelpunkt, während „wir Germanen gerade umgekehrt [sehen]. Im Mittelpunkt steht immer das Individuum. Die Beziehung ist sekundär.“ 32 In Kesslers Ausführungen schwingt eine nationalpsychologische Auffassung von dichterischem Talent mit, die der deutschsprachigen Literatur nachgerade das Gesellschaftliche als Thema verbieten will. Vor allem jedoch verfehlt er den eigentlichen Punkt von Hofmannsthals Überlegungen. Denn letztlich geht es Hofmannsthal im Dialog nicht um eine genaue Analyse französischer Literatur, noch ist er an einer Deutung von Balzacs Menschendarstellung interessiert. Hofmannsthal entwickelt in dem Gespräch vielmehr eine Dichtertypologie; nicht der Inhalt eines Kunstwerks wird verhandelt, sondern es wird eine typologische Spekulation vorgelegt, wie ein Dichter beschaffen sein müsse. Und doch trifft Kessler einen für Hofmannsthal heiklen Punkt. Am 20. Januar 1908 schreibt er an Kessler: „Vielleicht daß man sich doch zu etwas wie einen dramatischen Balzac emporschwindeln könnte! “ 33 Wenn Kessler Hofmannsthal daran zu erinnern sucht, ein tragischer Dichter müsse sich auf das Innere seiner Figuren konzentrieren, muss Hofmannsthal das als eine Festlegung auf die Art seiner früheren Dramen verstehen, die ja nur 29 Hofmannsthal/ Kessler: Briefwechsel 1898-1929, S. 41. 30 Ebd., S. 41f. 31 Ebd., S. 42. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 167. Tim Lörke 154 das Innere der Protagonisten offenlegten und so die Gesellschaft verfehlten. Wenn Hofmannsthal sich jetzt zu einem „dramatischen Balzac“ bilden möchte, will er von der bloßen Innerlichkeit weg zu den menschlichen Beziehungen. Dass er dies im Drama versuchen will, zeigt, dass Hofmannsthal mittlerweile die Selbstzweifel überwunden hat, die ihn fürchten ließen, als Dramatiker die seinem Talent gemäße Gattung zu verfehlen. Balzac wird nicht zum Vorbild gewählt, wenn es um literarische Gattungen geht; Hofmannsthal zielt gerade nicht darauf ab, in Romanen seinem Vorbild nachzueifern. Der 1907 begonnene und Fragment gebliebene Andreas-Roman beweist dies auf seine Weise. Hofmannsthal sucht sich ein Vorbild, dem er nicht blind nacheifern muss, sondern das er in seine eigene Poetik integrieren kann. Er will nicht schreiben wie Balzac, er will gewissermaßen schreiben mit Balzac. Wenn er Balzac zu einem in sich gekehrten Dichter macht, der allein aus der Phantasie, aber nicht aus der Erfahrung schreibt, formt er sich Balzac nach seinem eigenen Bild. Aber er übernimmt von Balzac die Themen, um seine dramatischen Konflikte zu entwickeln; er übersteigt den Narzissmus seines Frühwerks, indem er den Narziss mit der Welt verwickeln will. Er macht sich einen narzisstischen Balzac zurecht, um sich selbst den Weg zu einer welthaltigen Dichtung zu ermöglichen. Entsprechend teilt er Kessler mit, dass er „jetzt endlich, Mitte der Dreißig, doch Möglichkeiten [ahnt], das dramatisch zu fassen, was mich an der Welt vor allem als die ‚Mächte des Daseins‘ ergreift“. 34 Nachdem Hofmannsthal sein eigenes, eben dramatisches Talent akzeptiert hat, rückt er fortan die Interaktion von Individuen vor sozialer Kulisse in den Mittelpunkt seines Schreibens; dies aber immer noch mit dem Blick des Symbolisten. In seinem 1908 erschienenen Essay Balzac versucht Hofmannsthal, eine entsprechende Poetik zu entwerfen. 4 Der Essay setzt ein mit einer Beschreibung der Balzac-Leserschaft, die Hofmannsthal unter soziologischen Gesichtspunkten mustert. Er findet alle Altersstufen unter den Lesern Balzacs, wie er auch nahezu alle sozialen Schichten findet: „vom Advokatenschreiber oder Kaufmannslehrling bis hinauf zum großen Herrn“. 35 Es sind die Menschen der modernen Großstadt, denn Balzac ist die „selbstverständlichste Lektüre für Weltleute“: „Männer aller Stände, Politiker, Soldaten, Geschäftsreisende, vornehme und einfache Frauen, Geistliche“. 36 Diese Menschen leben in tausenderlei Ver- 34 Ebd. 35 Hugo von Hofmannsthal: „Balzac“. In: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 8, S. 382-397, hier S. 382. 36 Ebd. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 155 wicklungen und Abhängigkeiten und finden sich allesamt in Balzacs Werk wieder: So hat etwa „der Mensch des Erwerbs (und wer hat nicht zu erwerben oder zu erhalten oder zu entbehren? ) seine ganze Welt da: alles in allem“. 37 Es sind Leser, die „nicht aus Bildungsbedürfnis, sondern zur Belustigung ihrer Einbildungskraft lesen“. 38 Damit ist ein wichtiges Kriterium benannt, das für Hofmannsthal aus Balzac „die größte, substantiellste schöpferische Phantasie“ seit Shakespeare macht: 39 Balzac erfindet keine Welt, sondern findet die Welt, indem er menschenmögliche Erfahrungen und Empfindungen imaginiert und vorführt. Die Totalität der fiktiven Welt spiegelt sich in der Totalität der realen Leserschaft. Balzacs Figuren sind wie seine Leserinnen und Leser in die Maschinerie der modernen Gesellschaft eingespannt, sie sind determiniert von dem, was Hofmannsthal in seinem Essay die äußere Wahrheit oder die Wirklichkeit nennt. Aus diesem Grund wird die Balzac- Lektüre zur idealen Begleitung des tatsächlichen Lebens. So greift der Bankier abends zu seinem Balzac, weil dieser ihm „übergangslos nach seinen Sitzungen und Konferenzen“ zuträglich ist, wie die Dame der feinen Gesellschaft, die in der Lektüre die Exaltationen des Gesellschaftlichen zu beruhigen vermag. 40 Sie suchen einen besonderen Trost bei Balzac, der darin liegt, dass Balzac die äußere Wirklichkeit mit einer durch die scheinbar realistische Schreibweise bewirkten erhöhten Wahrheit konfrontiert. Solche Leser finden sich in Balzac wieder, sie erkennen sich selbst und nutzen die Lektüre zur Reflexion der eigenen Lage, und Balzac bietet ihnen Trost bei der Durcharbeitung ihres Lebens. Insofern ist es eben nicht Bildung, die sie bei ihm finden; Bildung assoziiert Hofmannsthal hier mit dem traditionellen deutschen Bildungsbegriff, der auf Innerlichkeit zielt und auf die Formung der eigenen Persönlichkeit, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegengesetzt ist. 41 Als Beispiel für eine solche Literatur nennt er Goethe, den nur zu lesen weiß, wer gerade die gesellschaftlichen Ansprüche von sich weisen kann, wer in der Lage ist, seine tatsächlichen Lebensumstände in der Lektüre zu vergessen. Goethe wird von Hofmannsthal in diesem Essay zum Antipoden Balzacs, weil er nicht unmittelbar zugänglich ist und darum nur zum Eingeweihten spricht. 42 Diejenigen Leser jedoch, die ihre Gebundenheit an die Gesellschaft in der 37 Ebd., S. 389. 38 Ebd., S. 382. 39 Ebd. 40 Vgl. ebd., S. 383. 41 Vgl. zum deutschen Bildungsbegriff Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/ Main 1996; sowie Reinhart Koselleck: „Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung“. In: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Hg. von Reinhart Koselleck [u.a.]. Frankfurt/ Main. 2006, S. 105-154. 42 Hofmannsthal: Balzac, S. 384f. Tim Lörke 156 Lektüre nicht abstreifen können, bleiben auf Balzac verwiesen, der ihre Bedürfnisse befriedigt. Allerdings weist Hofmannsthal einen simpel verstandenen Realismus zurück, da Balzacs Werk eben keine schlichte Mimesis der Welt bietet. Im Gegenteil erwächst die Totalität der Beschreibung aus der Totalität der dichterischen Einbildungskraft Balzacs. Denn seine Leser benötigen nicht allein eigene Lebenserfahrung, um Balzac mit Gewinn zu lesen, sie brauchen zudem eine starke eigene Phantasie. Balzacs Leser findet zwar „seine eigene innere und äußere Welt“, und er wird konfrontiert mit seinen eigenen Emotionen und der Darstellung der „Mächte, die ihn bestimmen, und der Hemmungen, unter denen er erlahmt“. Aber all dies wird von Balzac von „innen heraus durchleuchtet“. 43 Hofmannsthals Strategie, für sich selbst eine Möglichkeit zu eröffnen, die eigene Schreibweise mit einer nach Welthaltigkeit verlangenden Leserschaft zu versöhnen, wird an diesem Punkt deutlich. Er formt sich Balzac als einen realistischen Symbolisten, dem gelingt, wonach die Romantiker suchten. Balzacs Romane sind das Ergebnis einer „Halluzination“, 44 die der äußeren Wirklichkeit eine tiefere innere Wahrheit gegenüberstellt. Denn Wahrheit spricht Hofmannsthal vor allem Balzacs Werk zu. Allein aus Balzacs Romanen lasse sich ein Lexikon schreiben, das die ganze Welt beinhaltet. 45 Bei Balzac finden sich „wahrhafte Wahrheiten“, die den Leser „mit einer sanften, strahlenden Kraft im Innern“ verändern. 46 War es Hofmannsthals Problem bis dahin, gewissermaßen nur innere Wahrheiten darstellen zu können, ohne die äußere Wirklichkeit einzubeziehen, so dass seine Protagonisten an der Unmöglichkeit eines gelingenden Weltbezugs zugrunde gingen, gelingt ihm in seiner Balzac-Betrachtung die Vermittlung des Gegensatzes von Wirklichkeit und Wahrheit. Die äußeren Mechanismen der Gesellschaft werden dargestellt, aber sie werden zugleich mit einer Bedeutung aufgeladen, die die Wirklichkeit übersteigt. Es ist erst die dichterische Wahrheit, die den Leser die Wirklichkeit begreifen lässt. Hofmannsthal bedient sich dabei weiterhin des ästhetizistischen Vokabulars, wenn er von der Halluzination spricht und von einer tieferen Wahrheit, von der er nur raunend zu sprechen vermag. Schon im Dialog hatte Hofmannsthal Balzac das Wort vom Delirium in den Mund gelegt, um die künstlerische Produktion zu verdeutlichen. Wie im Fieber, erweist sich das dichterische Talent in einem besonderen Sehen, das in die Tiefe schaut und sich von Äußerlichkeiten nicht blenden lässt. Der dichterische Blick führt nach Hofmannsthal zu der „wundervollen Durchdringung dessen, was die Wirklichkeit des Lebens ist, der vraie vérité, bis herab zu den 43 Ebd., S. 386. 44 Ebd., S. 387. 45 Vgl. ebd., S. 388. 46 Ebd., S. 389. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 157 trivialsten Miseren des Lebens, mit Geist“. 47 In Balzacs Romanen erkennt Hofmannsthal den Mythos des modernen Lebens; durch die „unendlichen Relativitäten“ menschlicher Abhängigkeiten „bricht ein Absolutes“. 48 Solche Literatur bietet die Möglichkeit, das Leben der äußeren Wirklichkeit mit sinnstiftender Metaphysik aufzuladen. Balzac vollzieht nach Hofmannsthal die „ungeheuerste Synthese“: „Hier begegnet sich wirklich Novalis der Magier mit den titanischen Anfängen eines wahren Naturalismus“. 49 Hofmannsthal entwickelt am Beispiel Balzacs das Idealbild einer Literatur, die realistische Wirklichkeit und romantisch-symbolistische Wahrheit nicht gegeneinander ausspielt, sondern ineinander greifen lässt. Er will auf eine Literatur hinaus, die den Menschen in der Gesellschaft darstellt und seine Abhängigkeit von sozialen Mechanismen vorführt, die aber zugleich noch das traurigste und gesellschaftlich deklassierteste Leben mit Bedeutung auflädt, die über die äußere Wirklichkeit der sozialen Mechanismen hinausgeht. Mit dem Balzac-Essay gelangt Hofmannsthal zum Abschluss seiner Suche. Die intensive Auseinandersetzung mit Balzac führt ihn zu einem neuen Selbstverständnis. Die Aufgabe des Dichters wird als eine gesellschaftliche aufgefasst, indem der Dichter Leben und Gesellschaft so zu deuten hat, dass ein bedürftiges Publikum sich in der Lektüre wiederfindet und versteht. Damit kann Hofmannsthal aber sein Eigenes bewahren und trotzdem Literatur für Weltleute schreiben. Denn erst der symbolistische Blick, der allein dem Dichter eignet, erklärt dem Leser die Welt. Hofmannsthals Balzac-Essay bietet somit nicht nur ein Dichterporträt, sondern auch eine neue Poetik des Sehens, die die Darstellung von Beziehungen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten metaphysisch auflädt. In einem späten Notizenkonvolut autobiographischen Charakters resümiert Hofmannsthal gewissermaßen diese Entwicklung. Dort stellt er mit Blick auf das eigene Werk fest: „Das erreichte Soziale: die Komödien.“ 50 Einerseits hebt er hervor, wie stark sich in seinem Schaffen der Blick auf menschliche Beziehungen gerichtet hat; anderseits betont er, damit eine welthaltige Dichtung erreicht zu haben. Die im Balzac-Essay beschworene Metaphysik des Absoluten kehrt in den Komödien als Metaphysik der Liebe und als Mysterium der Ehe wieder. Die Ehe wird hier zum höchsten Inbegriff des Sozialen: als Verbindung zweier Individuen, die ihre eigene Wahrheit hat. Dabei müssen die zu schließenden Ehen sich gegen das Soziale durchsetzen und behaupten, wie Der Schwierige zeigt. Oder aber sie werden sogar unterstützt durch das Soziale, wie es in Der Rosenkavalier geschieht. In beiden 47 Ebd., S. 395. 48 Ebd., S. 394. 49 Ebd., S. 395. 50 Hugo von Hofmannsthal: „Ad me ipsum“. In: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 10, S. 597-627, hier S. 611. Tim Lörke 158 Texten jedoch werden gesellschaftliche Missverhältnisse durch gelingende Liebesverhältnisse als Idealbild sozialer Bindung überwunden. 51 5 Dieser These widerspricht auf den ersten Blick die Ehe, die uns zu Beginn des Rosenkavaliers vorgeführt wird: Die Feldmarschallin liegt mit ihrem jungen Liebhaber im Bett, ihr Ehemann ist verreist. Zwei verschiedene Konzepte von Ehe werden im Libretto vorgeführt und gegeneinander ausgespielt: Die arrangierte, lieblose Ehe muss sich am Schluss der echten, liebevollen Ehe geschlagen geben. 52 Die arrangierte Ehe ist das Ergebnis sozialer Mechanismen, während die echte Ehe aus einer Entscheidung zweier Individuen folgt, die sich über die sozialen Mechanismen erheben können. Allerdings bedarf die echte Ehe der Unterstützung durch eine von Hofmannsthal aus den gesellschaftlichen Umständen entwickelte Tugend: der Sozialität. 53 Die arrangierte Ehe begegnet im Stück zwei Mal. Da ist zunächst die Feldmarschallin, die als junges Mädchen dem Feldmarschall zur Ehe gegeben wurde. Offensichtlich ist dieses Arrangement nicht so günstig aufgegangen; diese Ehe basiert nicht auf gegenseitiger Liebe, sondern auf gut zueinanderpassenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Hier inszeniert Hofmannsthal einen sozialen Mechanismus, der in der geplanten zweiten arrangierten Ehe wieder greifen soll. Der zu Reichtum und niederem Adelstitel gekommene Bürger Faninal will seine Tochter Sophie dem Baron Ochs auf Lerchenau zur Ehe geben. Für ihn ist damit weiteres soziales Prestige verbunden, für den Baron die willkommene Verbesserung seiner finanziellen Verhältnisse. 54 Das Objekt dieser Eheschließung, Sophie, würde 51 Thomas Wirtz hat in einem Aufsatz, der allerdings den Rosenkavalier ausspart, Hofmannsthals Arbeit am Begriff der Ehe als eine variierende Entwicklung beschrieben, die das klassische Problem der Komödie, wie Ehe und Eros miteinander zu vermitteln sind, wiederholt und typologisch löst. Die von Hofmannsthal eingeführte metaphysische Dimension wird dabei aber nur marginal berührt. - Thomas Wirtz: „Abenteuer Ehe. Anmerkungen zu einem Dualismus in Hofmannsthals späten Komödien“. In: Colloquia Germanica 31 (1998), S. 155-172. 52 Einen ersten Überblick bietet Ilija Dürhammer: „‚Aber der Richtige, wenn’s einen gibt’. Ehe und Treue bei Strauss und Hofmannsthal“. In: Richard Strauss - Hugo von Hofmannsthal. Frauenbilder. Hg. von Ilija Dürhammer, Pia Janke. Wien 2001, S. 231-243. 53 Darauf weist besonders hin Hans-Albrecht Koch: Hugo von Hofmannsthal. München 2004, S. 54-57, hier S. 108. 54 Die Demaskierung der sozialen Praxis gipfelt im Lob des Barons, das die vom Bürger Faninal erworbene Etikette bündig zusammenfasst: „Brav, Faninal, Er weiß was sich gehört./ Serviert einen alten Tokaier zu einem jungen Mädel“; Hugo von Hofmannsthal: „Der Rosenkavalier. Komödie für Musik“. In: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 5, S. 9-104, hier S. 53. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 159 zwar noch weiter in der sozialen Hierarchie steigen, hätte aber ansonsten wenig Gewinn aus dieser Konstellation; hier wäre ein Leben wie das der Feldmarschallin vorgezeichnet. Das Ehearrangement zur Verbesserung der Finanzen sowie des gesellschaftlichen Ranges wird dargestellt als gängige soziale Praxis, als ein „am Schnürl“ ablaufender Mechanismus, 55 dem sich die beteiligten Personen zu unterwerfen haben. Doch wird diese äußere Wirklichkeit konfrontiert mit einer inneren Wahrheit, die sich der Wirklichkeit überlegen zeigt. Als Folge einer Intrige lernen sich der junge Liebhaber der Feldmarschallin, Octavian, und Sophie kennen und lieben. Sie erkennen einander als liebendes Paar, das die echte Ehe miteinander eingehen will, weil sie sich dafür entscheiden. Die Hochzeit, die am Schluss verkündet wird, ist eben nicht das Ergebnis eines Arrangements. Günstig ist freilich, dass für Sophie mit dieser Ehe derselbe gesellschaftliche Aufstieg ermöglicht wird, und auch ihr Vater wird mit dem adeligen Bräutigam leben können. Doch hätte die freiheitliche Entscheidung der beiden Liebenden wenig Erfolg gehabt, die sozialen Mechanismen zu überlisten, hätten sie nicht die Unterstützung der Feldmarschallin erfahren. In dieser Figur kommen zwei Tugenden zusammen, die Hofmannsthal als innere Wahrheiten der Wirklichkeit einziehen will: die echte, da nicht egoistische Liebe sowie die Pflicht, im Dienste der Gemeinschaft zu handeln. Wenn der Mensch in einer Gesellschaft leben muss, muss er so handeln, dass Gemeinschaft möglich ist. Die Suche nach dem Sozialen aus Hofmannsthals Frühwerk erfüllt sich hier in einer wahren Liebe, die den Geliebten um seiner selbst willen liebt: „Hab mirs gelobt, ihn lieb zu haben in der richtigen Weis,/ daß ich selbst seine Lieb zu einer andern/ noch liebhab…“ 56 Damit begründet die Feldmarschallin ihren Verzicht auf Octavian und ihre Unterstützung seiner Heirat. Im Schlussduett ist es dann Sophie vorbehalten, ihre Heirat als Traum, der „nicht wirklich sein“ kann, zu feiern. 57 Die sozialen Mechanismen werden überwunden, aber es erscheint als ein nicht wirkliches Geschehen, sondern - in den Worten des Balzac-Essays - als Einbruch des Absoluten, als Manifestation einer tieferen Wahrheit inmitten einer sozial fest geregelten Welt. Doch indem sich diese tiefere Wahrheit zeigt, wird den geltenden Beziehungsmechanismen ein Spiegel vorgehalten, der eine soziale Praxis schärfer sehen lässt, um zu zeigen, wie weit sich diese Praxis von einer tatsächlich Gemeinschaftsbildung entfernt hat. Das Absolute zeigt sich im echten Gefühl, frei von sozialer Vorteilsnahme, und ist somit wahr: Es verweist nur auf sich selbst und hebt das innere Erlebnis zweier Individuen 55 Ebd., S. 55. 56 Ebd., S. 101. 57 Ebd., S. 103. Tim Lörke 160 damit über das Soziale. Doch zugleich betont Hofmannsthal die Abhängigkeit der Individuen von der Gemeinschaft: Ohne die Selbstüberwindung der Feldmarschallin könnte die Intrige nicht gelingen. 58 6 Vom Einbruch des Absoluten in eine fest geregelte Welt handelt auch Hofmannsthals Komödie Der Schwierige. Im Mittelpunkt steht Hans Karl Graf Bühl, der seit einigen Wochen aus dem Krieg zurück ist. Dort hat er ein Trauma erlitten, als er für ein paar Sekunden verschüttet war. 59 Er steht nicht eigentlich zögernd im Leben, wie seine Schwester oder seine ehemalige Geliebte vermuten: Hans Karl lehnt vielmehr das hohl gewordene Leben der Wiener Adelsgesellschaft ab, das sich in Kasinobesuchen, Teegesellschaften und belanglosen Konversationen erschöpft. Der Schwierige ist ein Konversations- und Salonstück, das Konversationen und Salons verabscheut. Die äußere Wirklichkeit der sozialen Mechanismen besteht hier im dargestellten Gesellschaftsleben. Ähnlich wie im Rosenkavalier führt Hofmannsthal auch im Schwierigen vor, wie sinnentleert die sozialen Mechanismen sind, wenn sie nicht länger der inneren Wahrheit der in ihnen befangenen Menschen entsprechen und so Gemeinschaft verunmöglichen. Die Teegesellschaften verdeutlichen das auf dreierlei Weise: Unter starren, genau eingeübten Konventionen laufen (1) Gespräche ab, in denen alle angesprochenen Ideen, Haltungen oder Gefühle durch Leerstellen ersetzt sind, weil sie eben nur noch konventionell sind, also nichts weiter bedeuten als die Ausübung einer sozialen Praxis. Die Konversationen sind erschöpfte Rituale. Dabei steht die im unendlichen Geplauder befangene Gesellschaft (2) nicht mehr im Einklang mit der Realität: Der Weltkrieg hat zum Untergang der Monarchie geführt. 60 Hier konversiert 58 Johannes Krogoll hat darum den Rosenkavalier als eine wehmütige Utopie vor dem Hintergrund der Krisen um 1910 ausgemacht: Hofmannsthal habe den gelingenden sozialen Umgang der Feldmarschallin mit ihrem dann ehemaligen Geliebten als Gegenbild „einer auf innere und äußere Destruktion krisenhaft zusteuernden Epoche“ gezeichnet; Johannes Krogoll: „Tu felix austria nube. Ehe als soziale Utopie: vom Rosenkavalier zu Arabella“. In: Zagreber Germanistische Beiträge Beiheft 1 (1993), S. 65-82, hier S. 73. 59 Vgl. Inka Mülder-Bachs Aufsatz, in dem sie das im Stück verhandelte Sprachproblem, die Missverständnisse und Fehlleistungen mit der Verschüttung begründet; Inka Mülder-Bach: „Herrenlose Häuser. Das Trauma der Verschüttung und die Passage der Sprache in Hofmannsthals Komödie ‚Der Schwierige’“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 9 (2001), S. 137-161. 60 Zum zeitgenössischen Hintergrund vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: „Abschied von Habsburg“. In: Literatur der Weimarer Republik 1918-1933. Hg. von Bernhard Weyergraf. München 1995, S. 483-548. Schmidt-Dengler verweist ausdrücklich auf den Schwierigen, der gerade in diesem „zeitgeschichtlichen Kontext“ gelesen werden muss. (S. 492) Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 161 eine Schicht, die keine innere Wahrheit mehr besitzt, weil sie an einer äußeren Wirklichkeit verzweifelt festhält, die nicht mehr gegeben ist. Daraus entstehen die vielfach angesprochenen Missverständnisse: aus der fehlenden Übereinstimmung von Wahrheit und Wirklichkeit. Und (3) fehlt darum all diesen Konversationen der bittere Ernst der Wahrheit, weil denen, die plaudern, der Blick auf das von Hofmannsthal beschworene Absolute fehlt. Hans Karl dagegen hat in den wenigen Momenten des Verschüttetseins aber gerade das Absolute erlebt. Der Schwierige ist eine Komödie, weil es eine gute Lösung gibt, zumindest für den Schwierigen selbst. Helene Altenwyl, ebenfalls von Adel, ist in ihn verliebt; Hans Karl auch in sie, obwohl er sich gegen diese Erkenntnis zu sträuben scheint. In einem Gespräch der beiden miteinander, das den Rahmen der Konversation weit übersteigt, erkennen sie ihre gemeinsame Ablehnung der hohlen Plauderei. Dies deutet sich bereits im I. Akt an, als Hans Karl gegenüber seinem Neffen betont, er habe Helenes „Konversation so gern“. 61 Dass es sich hier um einen anderen Begriff von Konversation handeln muss, wird schnell deutlich, zumal auch Helene kategorische feststellt: „Wir haben alle Ursache, wir jüngeren Menschen, wenn uns vor etwas auf der Welt grausen muß, so davor: daß es etwas gibt wie Konversation: Worte, die alles Wirkliche verflachen und im Geschwätz beruhigen.“ 62 Im Gegensatz zu den leeren Formeln der Wörter wissen sich beide einig darin, dass es einzig auf das „Letzte, Unaussprechliche ankommt“. 63 Helene und Hans Karl erweisen sich als zusammengehörig, weil sie einander verstehen jenseits der Worte. Dabei zeigt sich vor allem Helene als souveräne Person, die gesellschaftliche Konventionen zu verletzen bereit ist, wenn sie Hans Karl nachlaufen will - und sie gewissermaßen in III, 8 um seine Hand anhält! 64 In ihrem intensiven Gespräch teilen Helene und Hans Karl die inneren Erlebnisse. Die intersubjektive Kommunikation ist bei den beiden erleichtert durch das gegebene Vorverständnis. Was sie einander zu sagen haben, muss auf sie beschränkt bleiben, weil es sich anderen nicht vermitteln lässt. Das, was die Gesprächssituation bedeutungsvoll macht, ist das Absolute, das Hofmannsthal im Balzac-Essay als notwendig für die Wahrheit eines literarischen Texts kennzeichnete. In Hans Karls Fall ereignet sich die Erkenntnis, Helene zu lieben, im Moment seines Verschüttetseins: „Das war 61 Hugo von Hofmannsthal: „Der Schwierige. Lustspiel in drei Akten“. In: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 4, S. 331-438, hier S. 370. 62 Ebd., S. 376. 63 Ebd., S. 403. 64 Die besondere Bedeutung Helenes als starke Frauenfigur zeigt Alexandra Tischel: „Schwierige Liebschaften. Zu Hugo von Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige“. In: Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Hg. von Andreas Kraß, Alexandra Tischel. Berlin 2002, S. 193-209. Hugo von Hofmannsthals produktive Balzac-Rezeption 163 seine Überzeugung, dass das Leben einen Sinn haben müsse über die sozialen Verhältnisse hinaus. Mit Balzac aber lernt er, die sozialen Verhältnisse in sein Werk einzubeziehen und sich der Gesellschaft zu öffnen. Bestimmend bleibt dabei weiterhin die Betonung des Selbst: Erkenntnis wird nur möglich durch die Konzentration auf das eigene Ich. Hofmannsthals Balzac bietet dafür die Lizenz, indem er feststellt, dass ein Dichter nur aus sich selber schaffen könne - damit aber eine wichtige Funktion für die Gesellschaft erfüllt. Die Geringachtung der Forschung, was Hofmannsthals Balzac-Rezeption angeht, verfehlt einen zentralen Aspekt in Hofmannsthals Werk, der dichterische Selbstreflexion ebenso umfasst wie die Formulierung einer neuen Poetik. Zugleich scheint aus Hofmannsthals Balzac-Lektüren ein anderes Licht auf Balzac selbst zu fallen. So pointierte E. R. Curtius: „Es bedurfte eines Dichters, um Balzacs Dichtertum in seiner ganzen Intensität zu zeigen. Dieser Dichter ist Hugo von Hofmannsthal.“ 68 68 E. R. Curtius: Balzac. Bonn 1923, S. 516. Lieselotte Kittenberger Walter Benjamins Balzac-Übersetzung Es war keine Wahlverwandtschaft, die Benjamin am großen Balzac-Projekt des Rowohlt-Verlags sich beteiligen ließ. Anders als Baudelaire und Proust, die im Übersetzer den Theoretiker herausforderten und jahrzehntelang in Bann hielten, blieb Balzac von marginaler Bedeutung für Benjamins Arbeit am Mythos der Moderne. Zwar zeugen weit verstreute Lektürespuren, Zitatschnipsel, Reflexionssplitter, eingebettet in Briefe, Aufsätze, Materialsammlungen von einer beharrlichen Frequentation der Comédie humaine seit den frühen Jahren der Zuwendung Benjamins zur französischen Literatur 1 bis hin zur Konzeption einer an Pariser Gedächtnisräumen abgelesenen materialen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Aber die theoretisch-kritische Auseinandersetzung mit Balzac kam über Ansätze nicht hinaus. Es kann also nicht verwundern, dass Balzac in der Benjamin-Forschung keine Rolle spielt - zumal die wissenschaftliche Debatte sich auf geschichtsphilosophische und sprachtheoretische Aspekte des Benjaminschen Denkens konzentriert und seine literarische Praxis, das eigenständige Schreiben ebenso wie das Übersetzen, marginalisiert. 2 Eckhardt Köhn, der unter gattungs- und motivgeschichtlicher Perspektive Benjamins kleine Prosa untersucht hat, spricht 1989 von einem „Effekt der Einschüchterung“, 3 wodurch die philosophisch versierten Interpretationen Adornos und Blochs kraft ihrer Autorität den bescheideneren, philologischen Zugang zum Werk Benjamins lange verhindert haben. Den Topos der Bescheidenheit bemühen gleichermaßen die Übersetzungskritiker, egal ob sie Benjamins Baudelaire-, Proust- oder Balzac-Übertragung zum Gegenstand nehmen. Was Balzac betrifft, hat Barbara Kleiner 1994 den Versuch unternommen, in der spezifischen Textgestalt der Übersetzung einer „Haltung“ nachzuspüren die, sprachphilosophisch begründet, „über [Benjamins, L.K.] Denken hinaus bis in seine 1 1914 wird Balzac erstmals erwähnt: Walter Benjamin an Herbert Blumenthal (15. April 1914). In: Ders.: Gesammelte Briefe. Hg. von Christoph Gödde, Henri Lonitz. (= GB) 6 Bde. Frankfurt/ Main 1995-2000. Bd. I, S. 221-228, hier S. 226. 2 Symptomatisch ist das Benjamin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Hg. von Burkhardt Lindner. Stuttgart, Weimar 2006, wo dem „literarischen und autobiographischen Schreiben“ (ebd. S. 585) ein Teil des letzten Kapitels reserviert ist und die Übersetzungen nicht berücksichtigt werden. 3 Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin 1989, S. 95. Lieselotte Kittenberger 166 beiläufigste Praxis hinein wirksam ist“. 4 Unter dem Vorzeichen der Übereinstimmung stellt sie eine Tendenz zu „wörtlicher“ Übersetzung auf der Ebene der syntagmatischen Anordnung fest - die gegenläufigen Bewegungen bleiben allerdings unberücksichtigt. Kritischer steht es um die These von Benjamins Unverständnis gegenüber den Balzacschen Sozialcharakteren, wie es in einer Verinnerlichung der Figurendarstellung im Übersetzungstext sich niederschlage. Hier stützt sich die Argumentation auf Textbeispiele, die gar nicht aus Benjamins Werkstatt stammen, so dass die Beweisführung nicht standhält. Es bleibt zu klären, welches Balzac-Bild Benjamins Übersetzungsarbeit vorausgeht und inwiefern die Merkmale der Übersetzung diesem geschuldet sind. Zu Lebzeiten war es Benjamin nicht gelungen, ein „festes Akkreditiv als Übersetzer […], wie es etwa Stefan Zweig hat“, 5 zu erwerben. Hervorgetreten war er im Dezember 1923 mit einer Auswahl von Baudelaires Tableaux parisiens. 6 Es war ein eher enttäuschendes Debüt; zwei wohlwollende Rezensionen ließen jahrelang auf sich warten, 7 während Stefan Zweig, der sich zwei Jahrzehnte zuvor selbst als Baudelaire-Übersetzer versucht hatte, 8 im Juni 1924 eine vernichtende Kritik auf der ersten Seite der Frankfurter Zeitung platzierte. 1925 unternahm Benjamin einen neuen Versuch, sich im Übersetzungsgeschäft zu profilieren, indem er mit dem Verlag Die Schmiede einen Vertrag über Prousts Sodome et Gomorrhe abschloss. 9 Im Jahr davor nahm ihn die Arbeit an seiner Habilitationsschrift über das barocke Trauerspiel voll in Anspruch. Das Angebot, an der Übersetzung von Balzacs Comédie humaine mitzuarbeiten, das Benjamin wahrscheinlich dem eben erst geknüpften Kontakt zu Franz Hessel verdankte, kam zu diesem Zeitpunkt ungelegen. Aufgrund der Terminierung für August 1924 10 kollidierte der Auftrag so unglücklich mit der absorbierenden 4 Barbara Kleiner: „Missverstandene Tugend - verworfene Leidenschaft. Benjamins Übersetzung von Balzacs Ursule Mirouët“. In: Namen, Texte, Stimmen. Walter Benjamins Sprachphilosophie. Hg. von Thomas Regehly. Stuttgart 1993, S. 91-107. 5 Brief an Gerhard Scholem (21. Juli 1925), GB III, S. 59-69, hier S. 62. 6 Charles Baudelaire: Tableaux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers. Übers. von Walter Benjamin. Heidelberg 1923. 7 Paul Wertheimer empfahl am 14. Dezember 1924 in der Wiener Neuen freien Presse Benjamins Übertragung als gleichermaßen vollendet wie diejenige Stefan Georges. Um die Jahreswende 1926/ 27 dankte Benjamin in einem Brief aus Moskau Marcel Brion für die wohlwollende Besprechung seiner Übersetzung im Dezember-Heft der Cahiers du Sud (vgl. GB III, S. 225-226, hier S. 225). 8 Vgl. Stefan Zweig: Gedichte in Vers und Prosa. Leipzig 1902. 9 Vgl. den Brief an Ernst Schoen (05. Dezember 1919), GB II, S. 61-64, hier S. 62. Zur Geschichte der Proust-Übersetzung siehe Barbara Kleiner: Sprache und Entfremdung. Die Proust-Übersetzungen Walter Benjamins innerhalb seiner Sprach- und Übersetzungstheorie. Bonn 1980, S. 111-113; Nathalie Mälzer: „Proust oder ähnlich“. ProustÜbersetzen in Deutschland. Eine Studie. Berlin 1996, S. 58-67. 10 Vgl. den Brief an Richard Weissbach (25. Juli 1924), GB II, S. 476-477, hier S. 476. Walter Benjamins Balzac-Übersetzung 167 Arbeit am Trauerspielbuch, dass Benjamin, der sich nach Capri zurückgezogen hatte, die übernommene Verpflichtung nicht einhalten zu können glaubte, 11 bald über die „arge Fron“ 12 klagte und schließlich den zweiten Teil des Romans weitergab und die Übersetzung nur durchsah. 13 Im Konflikt zwischen Habilitationsprojekt und Übersetzungsauftrag gab die geringe Honorierung der Brotarbeit den Ausschlag - Benjamin sprach rückblickend von „Schandengeld“, das „nicht die Arbeitszeit wert war“ 14 . In jenen Jahren, als Benjamin erstmals mit Schriftstellerei für seinen Lebensunterhalt aufkommen musste, waren ihm derlei ökonomische Erwägungen nicht fremd. 1925 nahm er für lohnende Bezahlung die schwierige Übersetzung der als „unbeträchtlich“ 15 eingeschätzten Anabase von Saint-John Perse in Angriff. Das günstige Verhältnis von Arbeitseinsatz und Verdienst ließ ihn kritische Einwände hintanstellen. Im Falle Prousts wog das Interesse an einer intensiven Auseinandersetzung mit dessen vernunftkritischem Erinnerungsbegriff und metaphorischer Schreibweise die „keineswegs gute“, aber doch „erträgliche“ Bezahlung auf, 16 bis Monate später die Schwierigkeit der Aufgabe voll zutage trat und eine Begrenzung des Aufwands in Relation zur Entlohnung notwendig machte. 17 Für die nachfolgenden Übersetzungsprojekte, die auf Publikationen in Zeitschriften oder Anthologien beschränkt blieben, hielten sich die „äußeren Vorteile“ 18 in Grenzen, bis sie 1933 ganz wegbrachen und Benjamin alle Übersetzungsarbeit einstellte. Für die Zeit ab 1924 scheint Benjamins Übersetzertätigkeit maßgeblich ökonomisch motiviert zu sein. Die Verzahnung mit literarischen Interessen gelang in unterschiedlichem Maße, am innigsten bei Proust, aber auch da zu Lasten des eigenen Werks. Insofern stellt die im Zusammenhang mit der Balzac-Übertragung zu beobachtende Interessenkollision keinen Sonderfall dar, wohl aber die Heftigkeit der Reaktion im Abbruch der begonnenen Arbeit und der Beschäftigung eines Ghostwriters. Der extreme Behelf legt nahe, dass Benjamin die Übersetzung nicht nur aus finanzieller, sondern auch aus sprachlicher Sicht wenig gewinnbringend erschienen sein mag. Immerhin hatte er sich 1921 in der Vorrede zu den Tableaux parisiens gegen 11 Vgl. den Brief an Gottfried Salomon-Delatour (10. Juni. 1924), GB II, S. 459-463, hier S. 462. 12 An Gersholm Scholem (16. September 1924), GB II, S. 480-490, hier S. 484. 13 Vgl. den Brief an Gersholm Scholem (21. Juli 1925), GB III, S. 62f. 14 Ebd. - Kleiner führt Benjamins Unwillen teils auf die schlechte Bezahlung zurück, teils auf eine vermeintliche Notwendigkeit, sich irgendwie bei Rowohlt einzuführen (Kleiner: Missverstandene Tugend, S. 93-96). 15 An Gersholm Scholem (20.-25. Mai 1925), GB III, S. 36-44, hier S. 38. 16 An Gersholm Scholem (21. Juli 1925), GB III, S. 62. 17 Vgl. den Brief an Gersholm Scholem (14. Januar 1926), GB III, S. 108-114, hier S. 111. 18 An Gersholm Scholem (18. September 1926), GB III, S. 194-202, hier S. 195. Lieselotte Kittenberger 168 eine Schreibweise gewandt, deren Übergewicht an Sinn formvolle Übersetzung vereitle. 19 Wollte man aus der wegwerfenden Geste des Übersetzungstheoretikers, mit der er vorwiegend der Mitteilungsfunktion verpflichtete Texte abtut, auf deren Geringschätzung durch den Literaturkritiker schließen, man unterläge einem Irrtum, wie das Beispiel Leopardis beweist. 20 Dessen Pensieri seien „von überragendem Interesse“, urteilt Benjamin 1928, während seine Anerkennung der Übersetzerleistung sich auf die Feststellung beschränkt, es handle sich um eine „ausgeglichene, unproblematische Arbeit“, der allerdings kein höherer Rang als der bereits vorliegenden Übersetzung zukomme. 21 Die geringere oder größere Treue in Wortwahl, Satzbau und Sprachstil bleibt unberücksichtigt. An den Poesiebegriff der Romantik anknüpfend verweigert sich Benjamin, wie schon 1921, einer herkömmlichen, „toten Theorie der Übersetzung“, die „Form und Sinn des Originals möglichst genau übermitteln“ will, während das „Fortleben“ eines Werks in seiner Übersetzung notwendigerweise „Wandlung und Erneuerung des Lebendigen“ 22 mit sich bringe. Für die Übersetzung der Tableaux parisiens zum Beispiel bedeutet dies die Akzentuierung der Modernität Baudelaires durch den Duktus hermetischen Sprechens in der Nachfolge Mallarmés. Bekanntlich geht es Benjamin nicht um Abbildung, sondern um „Anbildung“ der ursprünglichen „Art des Meinens“ mit den Mitteln der eigenen Sprache. 23 Doch diese Forderung von 1921 schränkt Benjamin 1928 auf jene Werke ein, „an denen die Übersetzung als Wagnis, als gefährliches Kunststück sich darstellt“ 24 wie etwa an Prousts À la recherche du temps perdu. Ohne „Wagnis“ im Formalen scheint für den Übersetzer, 1928 wie 1921, nichts zu gewinnen. Der Zusammenhang von unproblematisch herzustellender Funktionsäquivalenz und dafür zu erwartendem geringem Renommee mag den Entschluss des in Zeitnot geratenen Übersetzers Benjamin befördert haben, sich im zweiten Teil von Ursule Mirouët fremder Hilfe zu bedienen. Rückschlüsse auf eine abschätzige Beurteilung Balzacs lässt es nicht zu. 19 Vgl. Walter Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1921). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. (= GS) 6 Bde., Frankfurt/ Main 1972-1999, Bd. IV.1, S. 9-21, hier S. 20. In diesem Punkt folge ich Barbara Kleiner. 20 Zu revidieren ist Kleiners Urteil (Kleiner: Missverstandene Tugend, S. 96), Benjamin gehe mit dem gängigen Urteil konform, Balzac sei oberflächlich, kolportagehaft und überhaupt literarisch schlechter Geschmack. 21 Walter Benjamin: „Ein grundsätzlicher Briefwechsel über die Kritik übersetzter Werke“(1928), GS III, S. 119-122, hier S. 121f. 22 GS IV, S. 12f. 23 Ebd., S. 18. 24 GS III, S. 122. Walter Benjamins Balzac-Übersetzung 169 Das Verhältnis zu Balzac ist gleichwohl von Distanz geprägt. Schon unter den frühesten Textfragmenten Benjamins findet sich ein undatierter Abgrenzungsversuch, 25 im Gestus den metaphysischen Fragestellungen verwandt, die in den Jahren 1916/ 17 das Gespräch zwischen Benjamin und Gershom Scholem beherrschten und sich in programmatischen Schriften über die Sprache des Menschen und eine zu entwerfende Theorie der Erfahrung niederschlugen. 26 Damals wie später im Übersetzeraufsatz ging Benjamin von der These aus, die Würde der Sprache liege im unmittelbaren Ausdruck eines Unbedingten, nicht in der Vermittlung von Inhalten. 27 Sprache so verstanden, als Medium, nicht Instrument des Ausdrucks, zeigt sich laut Benjamin 1916 am reinsten im paradiesischen Akt der Namengebung - als Übersetzung der stummen Sprache der Dinge in die Lautsprache des Menschen. Was sich im Namen in aller Unmittelbarkeit mitteilt, sei das „geistige Wesen“ der Dinge und zugleich der sie benennenden Menschen. 28 In dieser ursprünglichen Einheit erscheint die Cartesianische Differenz von Geist und Materie aufgehoben, es gibt eine Erkenntnis der Dinge, wie sie von sich aus sind, bevor der Mensch als Subjekt der Dingwelt gegenübertritt. Im Balzac-Fragment erscheint anstelle der Metapher paradiesischer Unmittelbarkeit die der geometrischen Problemlösung im Gegensatz zur analytischen: [D]er französische Geist [verfährt] in metaphysischen Fragen gleichsam nach Art einer analytischen Geometrie […], d.h. er kennt eine Sphäre der prinzipiellen Lösbarkeit der Dinge aus einer Methode - welche die individuelle (gleichsam anschauliche) Tiefe der einzelnen Gegebenheiten nicht anvisagiert, sondern sie auf einem methodischen Wege, auf dem ihre Lösbarkeit schon feststeht, löst. 29 Wie der Name das „geistige Wesen“ der Dinge unmittelbar offenbart, so zeigt die synthetische Geometrie die „individuelle (gleichsam anschauliche) Tiefe der einzelnen Gegebenheiten“. Algebraische Formelsprache hingegen abstrahiert vom konkreten Fall und verweist mittels Variablen auf Serien vergleichbarer Erscheinungen. Die expressive Funktion der Sprache tritt hinter die referentielle zurück und unterwirft sich dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Benjamins Metapher der analytischen Geometrie liest sich als Übersetzung der Balzacschen Phantasie von der systematischen Darstellung der Gesellschaft seiner Epoche nach Sozialcharakteren, wie er sie in seinem berühmten Vorwort zur Comédie humaine von 1842 entwirft. 25 Vgl. Walter Benjamin: „Balzac“ (ca. 1916-1917), GS II.2, S. 602. 26 Vgl. Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ (1916), GS II.1, S. 140-157; Vgl. Walter Benjamin: „Über das Programm der kommenden Philosophie“ (1917), GS II.1, S. 157-171. 27 Vgl. auch Benjamins Absage an Martin Buber im Juli 1916, GB I, S. 325-328. 28 Vgl. GS II.1. 29 GS II.2, S. 602. Lieselotte Kittenberger 170 In einem ersten Schritt will Balzac in Analogie zu Buffons zoologischer Differenzierung nach Gattungen menschliche Verhaltensweisen inventarisieren, beschreiben, kategorisieren „en composant des types par la réunion des traits de plusieurs caractères homogènes“ (CH I, 11). Im Licht der Sprachkonzeption Benjamins spielt es keine Rolle, dass der Romancier Balzac letztlich keinem wissenschaftlichen Diskursmodell folgt, sondern herkommend von den Tableaux de Paris eines Mercier Alltagserfahrung verdichtet und sie in einen dynamischen Zusammenhang integriert. 30 In beiden Fällen verdeckt der methodische Zugriff auf die Fülle der Erscheinungen die Anschauung der einzelnen Gegebenheit. Im Balzac-Fragment geht Benjamin so weit, dieses abstrahierende Verfahren sprachlicher Darstellung und Erkenntnis ganz der französischen Denk- und Erzähltradition zuzuschreiben; im Sprachaufsatz scheint es weniger nationaltypisch als philosophiegeschichtlich relevant: Im Bild des Sündenfalls wird die Wende zur neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie kritisiert, die auch im Mittelpunkt des Aufsatzes über Kants Erfahrungsbegriff 31 steht. Die Erkenntnis von Gut und Böse korrumpiert laut Benjamin die in der Namensprache sich ausdrückende paradiesische Einheit. Im Urteil beginnt das Wort „etwas mit[zu]teilen (außer sich selbst)“, Sprache wird zum Mittel einer Erkenntnis „von außen“ und damit zum bloßen Zeichen. 32 Wenn der Name die unmittelbare Erkenntnis der konkreten Dinge in ihrem geistigen Wesen zum Ausdruck bringt, so liegt im Urteil der Ursprung der Abstraktion. Die damit eingeleitete Entwicklung führt in letzter Konsequenz zur Verflachung des Erfahrungsbegriffs im Dienst einer „einseitig mathematisch-mechanisch orientierten“ 33 Erkenntnis. So bedarf laut Benjamin die Kantische Philosophie, die zwar ermöglicht, Erkenntnis auf der Grundlage von Erfahrung zu denken, einer Korrektur, die „nur durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache […] gewonnen werden“ 34 kann. Kant habe „[ü]ber dem Bewußtsein daß die philosophische Erkenntnis eine absolut gewisse und apriorische sei, über dem Bewußtsein dieser der Mathematik ebenbürtigen Seiten der Philosophie“ die Tatsache aus den Augen verloren, dass „alle philosophische Erkenntnis ihren einzigen Ausdruck in der Sprache und nicht in Formeln und Zahlen“ habe. 35 „Ein in der Reflexion auf das sprachliche Wesen der Erkenntnis gewonnener Begriff von ihr [würde] 30 Zur „verdeckten“ Tradition des Tableau de Paris siehe Karlheinz Stierle: „Epische Naivität und bürgerliche Welt. Zur narrativen Struktur im Erzählwerk Balzacs“. In: Honoré de Balzac. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1980, S. 175-217. 31 Vgl. GS II.1: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. 32 GS II.1, S. 153. 33 GS II.1, S. 168. 34 Ebd. 35 Ebd. Walter Benjamins Balzac-Übersetzung 171 einen korrespondierenden Erfahrungsbegriff schaffen“, der auch die Gebiete der Religion und Tradition einschließen würde. 36 Den Gegensatz zwischen Kants Vorstellung von Erfahrung, die dieser mit seinem Zeitalter teilte, und der von Benjamin geforderten Begründung eines erweiterten Erfahrungsbegriffs markiert eine den ganzen Aufsatz durchziehende Metaphorik der Tiefe, wobei die für die Aufklärung und die Neuzeit bezeichnende Erfahrung oder Anschauung von der Welt als eine der flachsten gilt. An dieser Metaphorik partizipiert auch das Balzac- Fragment. Balzacs Universalität als Produkt einer methodisch-analytischen Vorgehensweise erscheint, gemessen an „gleichsam geometrischen“ Verfahren der individuellen Anschauung, als „Nicht-Tiefe“. 37 Dass diese eine bestimmte Form der Erfahrung meint und nicht als Oberflächlichkeit der Erkenntnis missverstanden werden dürfe, hat Benjamin an dieser Stelle unterstrichen, aber nicht weiter ausgeführt. Mathematisch ist die Aufgabe gelöst, egal ob auf synthetischem oder analytischem Wege. „Eine geometrische Aufgabe kann zu ihrer geometrischen Lösung Genie, zu ihrer analytischen nur Methode erfordern, gelöst ist sie gleichwohl in beiden Fällen.“ 38 Es ist also davon auszugehen, dass Balzacs Vorhaben, hinter den Erscheinungen seines Zeitalters nach der Antriebskraft der bürgerlichen Gesellschaft zu forschen, Benjamins Anerkennung gefunden hat. Der Kritik verfällt die zur Lösung des Problems gewählte Methode: Balzacs zeichenhafte Sprachverwendung im Dienst paradigmatischer Realitätsdarstellung, die der ästhetischen Erfahrung kaum Raum lässt. Für die Konstruktion eines Balzac-Bilds ex negativo gewinnt in diesem Zusammenhang die jüdische Tradition in Benjamins Denken an Bedeutung. Wie Gershom Scholem rückblickend auf die frühen Jahre ihrer Freundschaft berichtet, hat Benjamin auch seinem philosophischen Lehrer Heinrich Rickert mangelnde Tiefe vorgeworfen, ohne damit den Scharfsinn des Philosophen in Frage stellen zu wollen. Was er vermisste, war lebendig tradierte Lehre, wie Scholems Talmudlehrer Isaak Bleichrode sie vermittelte. 39 Es geht um nichts anderes als die erzählende, gleichnishafte Form jüdischer Lehre, Haggada, deren Unterscheidung von der rabbinischen Gesetzesauslegung, Halacha, Benjamin spätestens 1919 kennen gelernt haben muss, als Scholem den Essay Halacha und Aggada von Bialik 40 übersetzte. Die Bedeutung dieser Unterscheidung für Benjamins Werk zeigt sich in den dreißiger Jahren, als Benjamin auf diese Begrifflichkeit zurückgreift, um sich einem „Kreuzweg 36 Ebd. 37 GS II.2, S. 602. 38 Ebd. 39 Vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt/ Main 1975, S. 24. 40 Chaim Nachman Bialik: „Halacha und Aggada“. In: Der Jude 4 (1919-1920), H. 1/ 2, S. 61-77. Lieselotte Kittenberger 172 der Wege [seines] Denkens“ anzunähern. 41 Den Anstoß zur Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition lieferte zu diesem Zeitpunkt Kafka, 42 dessen erzählerischen Verfahren Benjamin haggadische Struktur zuschrieb, insofern seine Dichtungen, in Form von Gleichnissen konzipiert, den Gestus der Erläuterung zitieren. 43 In einem wesentlichen Punkt unterscheiden sie sich aber von haggadischen Erzählungen: Nirgends sprechen sie das Gesetz aus; in Kafkas Welt herrscht Vergessenheit. 44 Aus diesem Grund lassen sich seine Gleichnisse auch nicht einfach entfalten, „so dass ihre Bedeutung auf der flachen Hand“ läge. 45 Wenn Kafka die Erfahrung des Traditionsverlusts mit vielen Zeitgenossen teilt, so zeichnet er sich nach Benjamin doch darin aus, dass er die Wahrheit preisgibt, „um an der Tradierbarkeit, an dem hagadischen Element festzuhalten.“ 46 Bezeichnenderweise nehmen unter Kafkas Figuren die Studenten, die ihre Tage oder vielmehr Nächte über den Büchern zubringen, eine Ausnahmestellung ein. Ihre Aufgabe umreißt Benjamin mit Worten, die bereits das Denkbild vom Engel der Geschichte durchscheinen lassen: „Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht. Und das Studium ein Ritt, der dagegen angeht“. 47 Was das Studium unter Bedingungen der Moderne zutage fördert, sind Zerfallsprodukte der Wahrheit - seine Kraft entfaltet es im Eingedenken. Im Zusammenhang seiner Proust-Lektüre hat Benjamin das Eingedenken als unwillkürliches beschrieben, das sich der Verfügung durch Vernunft und Wille entzieht und an den unwiederbringlichen Augenblick gebunden ist, in dem das Bild eines Vergangenen im Jetzt seiner Erkennbarkeit aufblitzt. 48 Anders als Wissenschaft, die Fakten aus objektiver Distanz ‚feststellt‘, kann Eingedenken, dessen Bezug auf Vergangenheit ein durch die Gegenwart vermittelter ist, das ‚Festgestellte‘ modifizieren, 49 in Benjamins theologischer 41 An Gershom Scholem (15. September 1934), GB IV, S. 496-498, hier S. 497. Zum theologischen Motiv der Haggada bei Benjamin siehe Andreas Pangritz: „Theologie.“ In: Benjamins Begriffe. Hg. von Michael Opitz, Erdmut Wizisla. 2 Bde. Frankfurt/ Main 2000, Bd. 2, S. 774-825, darin das Kafka-Kapitel S. 785-793. Zur Entwicklung des Motivkomplexes in den Texten zu Kafka siehe Sigrid Weigel: „Zu Franz Kafka“. In: Lindner: Benjamin-Handbuch, S. 543-557. 42 Vgl. Benjamin: „Bau der chinesischen Mauer“ (1931), GS II.2, S. 676-683; Walter Benjamin: „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestags“ (1934), GS II.2, S. 409-438. 43 Vgl. GS II.2, S. 420. 44 Vgl. den Tagebucheintrag vom 6. Juni 1931, GS II.3, S. 1204. Siehe auch GS II.2, S. 679 und GS II.2, S. 420. 45 Ebd. 46 An Gershom Scholem (12. Juni 1938), GB VI, S. 105-115, hier S. 113. 47 GS II.2, S. 436. Vgl. Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“ (1940), GS I.2, S. 691-704, hier S. 698. 48 Vgl. Walter Benjamin: „Zum Bilde Prousts“(1929), GS II.1, S. 310-324, hier S. 311. 49 Zur Unabgeschlossenheit des Vergangenen aus theologischer Sicht siehe Benjamins „Aufzeichnungen und Materialien“ zum Passagen-Werk, GS V.1, S. 589, N 8,1. Walter Benjamins Balzac-Übersetzung 173 Terminologie: erlösen. Diese Kraft wird der Aktualisierung eines Vergessenen zugesprochen, selbst wenn wie bei Kafkas Studenten der Schlüssel zum Verständnis der Lehre verloren gegangen ist. 50 Die Bedeutung der Theologie des Eingedenkens im Horizont materialistischer Geschichtsbetrachtung zu klären, war Benjamins Absicht im Passagen-Projekt - wobei Balzac sich ihm „weghob“. Im Dialog über die entstehende Passagen-Arbeit hatte Adorno Balzac in einem Atemzug mit Daumier, Poe und Baudelaire genannt und als Garant für die „Entzifferung“ der anonymen Masse ins Zentrum einer Theorie des kapitalistischen Zeitalters gerückt. 51 Benjamin winkte entschieden ab und erklärte apodiktisch, Balzac sei für seinen Ansatz von bloß „anekdotischer Wichtigkeit“, er hebe sich ihm „sozusagen“ weg, wo Benjamin „im ursprünglichsten Sinn“ des Passagenprojekts über Adornos Anregungen hinausgehe. 52 In den Entwürfen zum Passagen-Werk von 1935 und 1939 wird Balzac als erster Zeuge der modernen Warenästhetik zitiert, in dessen Blick die Dinge transparent werden auf das zerstörerische Potential des Fortschritts. Hat Balzac als erster von den „Ruinen der Bourgeoisie“ gesprochen, so hat er laut Benjamin doch nicht „den Blick auf sie freigegeben“, sondern gewissermaßen im Traum der kommenden Epoche aufgehoben. 53 Seine Zugehörigkeit zur Generation von 1830 erlaubte ihm noch trotz aller Hellsicht gegenüber den Entwicklungen des kapitalistischen Bürgertums eine das menschliche Zusammenleben regulierende Ordnung vorauszusetzen und selbst angesichts der Opfer des gesellschaftlichen Fortschritts an das „Versprechen der Gerechtigkeit des Ganzen“ zu glauben, wie auch Adorno in seinem Balzac-Essay formuliert und darin „die pubertäre Lust, Balzac zu lesen,“ begründet. 54 Adorno vermeidet dabei, die versöhnliche Wirkung der Comédie humaine auf die rückwärtsgewandten Strategien des Moralisten Balzac zurückzuführen, der nicht nur im Vorwort von 1842 Katholizismus 50 Zum Studium als „messianischer Kategorie“ Kafkas siehe GS II.2, S. 434-437; Brief an Gershom Scholem (11. August 1934), GB IV, S. 478-480, hier S. 479. 51 An Walter Benjamin (1. Februar 1939). In: Theodor W. Adorno, Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940. Hg. von Henri Lonitz. Frankfurt/ Main 1994 (= Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel. Hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Bd. 1), S. 392- 396. 52 An Theodor W. Adorno (23. Februar 1939). In: Ebd., S. 402-407, hier S. 404. Siehe auch: An Theodor W. Adorno (23. Februar 1939), GS VI, S. 224-230, hier S. 226. Zur Auseinandersetzung zwischen Benjamin und Adorno siehe Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bildung. München, Wien 1986, S. 217-246; Klaus Garber: Rezeption und Rettung: Drei Studien zu Walter Benjamin. Tübingen 1987, S. 3f. 53 Walter Benjamin: „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhuderts“ (1935), GS V.1, S. 59. 54 Siehe Theodor W. Adorno: „Balzac-Lektüre“ (1961). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann [u.a.]. 20 Bde. Frankfurt/ Main 1970-1986, Bd. 11, S. 139-157, hier S. 154. Lieselotte Kittenberger 174 und Monarchie als Garanten der althergebrachten Ordnung beschwört (vgl. CH I, 11f.). Balzac brauche als Regulativ der gesellschaftlichen Dynamik weder den Staat, auf den Hegel in der Rechtsphilosophie setzt, noch die Soziologie eines Comte, denn „in ihm [tritt] das Kunstwerk selber als jene Instanz auf […], welche mit weiter Gebärde die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft umfängt.“ Für Adorno zählt weniger der vorkapitalistische Blick des Romantikers, „der als Opfer der liberalen Gesellschaft sehnsüchtig zurückschaut und dennoch an ihren Prämien partizipieren möchte“, als die „realistische Formgesinnung“ des Erzählers, der sich hinreißen lässt vom chaotischen Schauspiel der gesellschaftlichen Triebkräfte, deren „katastrophische Prätuberanzen“ ihm unter der Hand zur Aureole geraten. 55 Während Adorno den Akzent auf die Modernität der Gesellschaftsbeobachtung Balzacs setzt, schreitet Benjamin weiter zur Kritik jener traumhaft verklärten Perspektive, die es nicht erlaubt, die Dinge unversöhnt in ihrer Entstellung zu erfassen. Seine Kritik entzündet sich an der tragisch ernsten Gestaltung, die Aufstieg und Niedergang der kleinen Leute bei Balzac erfahren, durch die zwar eine neue Erfahrungswelt geadelt, zugleich aber einem vormodernen Schicksalsglauben Vorschub geleistet wird. Daumiers Karikaturen hingegen zielen in der Übertreibung physiognomischer Details auf Typisches der Bürgerklasse, machen laut Benjamin deren „Gemeinheit und Mediokrität“ kenntlich, sind aber vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie „eine komische Angelegenheit“ sind. 56 Wie Cervantes das Rittertum der Lächerlichkeit preisgibt, so gilt Daumiers Gelächter der „windigen égalité“ der Bourgeoisie, die er „als geschichtlichen Schein dingfest macht“. Balzac ist für Benjamins Ansatz von bloß „anekdotischer Wichtigkeit, indem er weder die komische noch die grauenvolle Seite des Typus zur Geltung bringt.“ Erst bei Kafka sieht Benjamin beide Aspekte verwirklicht. Erst hier hätten sich die Balzacschen Typen im Schein der Gleichheit etabliert, träten sie als Kollektivwesen auf, als „die Gehilfen“, „die Beamten“ usw., weitgehend ihrer Individualität und Menschlichkeit beraubt, während K. als der einzige Mensch in all seiner Durchschnittlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben ist. Richtete sich Benjamins frühe Balzac-Kritik gegen die rationalistische Sprachauffassung des Realismus und die methodische Verdichtung von Alltagserfahrung im Typus, so überbietet seine Kafka-Rezeption der dreißiger Jahre die Ausbildung des Sozialtypus bei Balzac und stellt in komischer Brechung den bürgerlichen Helden zur Disposition. Benjamins Zustimmung findet Balzac in dem Maße, wie die Textur der Comédie humaine als „Traumbild“ der eigenen Epoche brüchig wird. Während Balzac noch vermeint, die gesellschaftliche Realität beschreibend 55 Adorno: Balzac-Lektüre, S. 145f. 56 GS VI, S. 227. Walter Benjamins Balzac-Übersetzung 175 erfassen zu können, verrät die forcierte Präzision, die er der Schilderung jener Fülle sozialer Erscheinungsformen angedeihen lässt, bereits ein Ringen um eine sich entziehende Welt. Adorno, der in dieser Frage Benjamins Standpunkt teilt, warnt, die von Balzac anvisierte „Suggestion des Konkreten“ sei „so überwertig, dass man ihr nicht arglos nachgeben“ dürfe. Sie sei, „worauf ihr Eifer verweist: Beschwörung“. 57 Konkretion dient hier als Substitut realer Erfahrung, die im industriellen Zeitalter zunehmend schwindet. Die Rekonstruktion der fremdgewordenen Welt aus bloßen Vermutungen bedarf denn auch „der permanenten Versicherung, so sei es und nicht anders.“ 58 Balzacs Erklärungsfuror, der jedes Einzelphänomen als Gesetzmäßigkeit rechtfertigt und für die Verknüpfung jedes Handlungselements eine plausible Theorie bereithält, bewirkt im Gegenteil, dass die zugrundegelegte Ordnung der Dinge dem Verdacht der Arbitrarität anheimfällt. 59 Benjamin zählt zu den Kennern Balzacs, die an dieser Ambivalenz der Enthymeme ihr Vergnügen haben. Während Brod den Vorwurf der „erlogenen Exaktheit“ gegen den Chronisten der Frühmoderne erhebt, antwortet Benjamin mit dem Bild der „durchsichtigen Rodomontaden […], die von Balzacs Werk und seiner Größe gar nicht zu trennen sind.“ 60 Der grandiose Gestus, der den Schein der Präzision erzeugt und zugleich als bloßen Schein entlarvt, mag der Benjaminschen Vorstellung von Tradierbarkeit ohne Wahrheit am nächsten gekommen sein. Das Lob der Balzacschen Rodomontaden weist Benjamin als aufmerksamen und - bei aller poetologischen Distanz - als bewundernden Leser dieses Giganten der Frühmoderne aus. Einem sensiblen Umgang mit dem Balzacschen Text wirkt allerdings die Eile entgegen, mit der sich Benjamin des Übersetzungsauftrags entledigt. Tatsächlich bietet sich dem kritischen Blick eine unausgeglichene Arbeit, bei der Holprigkeiten und elegante Lösungen einander abwechseln. Barbara Kleiner rechtfertigt diesen Befund mangelnder Sorgfalt als Antwort auf die vielfach kolportierten Nachlässigkeiten des Balzacschen Stils. Angesichts der „Redundanz und stilistischen Laxheit seines Sprachgebrauchs“, die als Beleg für die Dominanz des inhaltlich-semantischen Aspekts zitiert werden, sei es „für die Übersetzung gleichgültig, wie sie ihre Worte setzt“, es bleibe die Frage nach dem Was, nach den „richtigen Worten“. 61 Das Ziel der nachfolgenden Übersetzungs- 57 Adorno: Balzac-Lektüre, S. 147. 58 Ebd. 59 Vgl. Genettes Frage der Gewichtung von discours und récit bei Balzac. Die stilbildende Rekurrenz der Balzacschen Verweise auf ein Allgemeines diene der Beschwichtigung permanent aufkeimender Ungewissheit, sei Reparatur eines nur scheinbar lückenlosen Erzählzusammenhangs. Gérard Genette: „Vraisemblance et motivation“. In: Ders.: Figures II. Paris 1969, S. 78-86. 60 GB VI, S. 109. 61 Kleiner: Missverstandene Tugend, S. 100. Lieselotte Kittenberger 176 analyse ist ein anderes. Es geht um die Beschreibung stilistischnarratologisch relevanter Veränderungen an der sprachlichen Oberfläche, aus denen sich Charakteristika eines Übersetzerprofils erschließen. Was Benjamin an unzähligen Stellen an sprachlichem Geschick zum plastischen und bildhaften Ausdruck unter Beweis stellt, geht in der Auseinandersetzung mit Balzacs Metaphorik gerade an exponierten Stellen allzu oft verloren. Das erweist sich am Romanbeginn von Ursule Mirouët (vgl. CH III, 769). Das Erste, was der Fremde, aus der Großstadt Paris kommend, von Nemours zu Gesicht bekommt, sind die Ufer des Loing-Kanals, deren Anblick die doppelte Assoziation von der schützenden Funktion alter Befestigungsanlagen und der ästhetischen eines Naturidylls weckt. In der Vorstellung des urbanen Betrachters entsteht das romantische Gegenbild zur modernen Großstadt. Was in diesem ersten Satz atmosphärische Andeutung bleibt, wird in der nachfolgenden Passage durch die Evokation des ursprünglichen Charmes von Nemours und der Beschreibung eines strahlend reinen Himmels, weidender Kühe, schattenspendender Bäume am Wasserlauf im Detail konkretisiert. Es sind Motive, die Jahrzehnte später noch Alfred Sisley am Loing gemalt hat, wie Balzac von den Landschaften der alten Holländer (Potter, Hobbema) inspiriert. Die Schwierigkeit für den Übersetzer ergibt sich aber weniger aus den kulturellen Konnotationen, als aus der metaphorischen Verwendung von „remparts“, zumal in der Verbindung mit dem assonierenden Attribut „champêtre“. Benjamins Entscheidungen lassen sich aus formalen Rücksichten in diesem Zusammenhang erklären. Insgesamt wirkt seine Einführung in die Szenerie nüchterner als im Vorbild: „Wenn man von Paris her nach Nemours hereinkommt, passiert man den Kanal des Loing. Seine Abhänge, eine Art ländlicher Rasenwälle, geben für die Bürger der niedlichen kleinen Stadt pittoreske Promenaden ab.“ (CH III, 769) Auffällig ist die rhythmische Zäsur, die durch die parataktische Umwandlung des Relativsatzes entsteht und die erste Aussage des Romans eher einer Wegbeschreibung zuordnen lässt als einer Erzählung. Dann fehlt die zweigliedrige Objektstruktur („de champêtres remparts et de pittoresques promenades“), durch deren Auflösung sich die Aussage auf die ästhetische Funktion der Uferwege reduziert. Die Veränderung erscheint nur dann motiviert, wenn dem Erhalt oder der Kompensation von Alliteration und Assonanz Priorität eingeräumt wird. So erklärt sich auch die Bevorzugung der Fremdwörter „pittoreske Promenaden“ und schon davor das „Passieren“ des Kanals. Die Assonanz in „champêtres remparts“ findet eine Entsprechung in „ländliche Wälle“, mit einer Vorwegnahme in „Abhänge“. Die formale Äquivalenz wird allerdings mit einer Unschärfe des referentiellen Bezugs erkauft. „Abhänge des Kanals“, nur im Sinne eines genitivus obiectivus als „Abhänge zum Kanal hin“ einleuchtend, kollidiert mit „eine Art ländlicher Rasenwälle“, was bei aller semantischen Vagheit nicht Absenkung, sondern Anhöhe meint. Der Walter Benjamins Balzac-Übersetzung 177 Vergleich, in sich unstimmig, zerstört zugleich den metaphorischen Aspekt des Ausgangstextes, wo es um die Funktion der baumbestandenen Ufer als schützendes Bollwerk geht. Das Romantische und Pittoreske des ersten Blicks auf den Schauplatz der Romanhandlung ist in der Übersetzung getilgt, der Zauber des Provinzidylls gebrochen, noch bevor der erste Bürger auftritt. Ähnliches widerfährt den positiven Helden Balzacs, denen bisweilen in Benjamins Übersetzung die Gloriole verloren geht. Ursule Mirouët, die unschuldigste aller Balzacschen Frauenfiguren, wächst in der Provinz unter der Obhut vier edler Greise auf, die gegenüber der kleinstädtischen Bourgeoisie „eine geschlossene Gesellschaft“ bilden. Dieser exklusive Umgang wird noch einmal aus der Perspektive der alten Herren beschworen und in seiner Besonderheit durch eine Metapher hervorgehoben: „une société compacte, exclusive, et qui fut pour chacun d’eux comme une fraternité d’arrière-saison, inespérée, et dont les douceurs n’en furent pas mieux savourées.“ (CH III, 798) Benjamin konstruiert seine Übersetzung ausgehend vom unkonventionellsten Element der Analogie: „[E]in jeder von ihnen genoß etwas wie die Nachblüte einer Kameraderie, deren Duft darum nur tiefer verspürt wurde.“ 62 In ihrer floralen Überformung gerät die Beschreibung der Befindlichkeiten zu einer Bouvards und Pécuchets würdigen Stilblüte. Interessant ist in dem Zusammenhang auch Benjamins Option für „Kameraderie“, denn der Begriff bezeichnet gerade nicht ein inniges Verhältnis, sondern eher gekünstelte, zur Schau gestellte Kameradschaft und gibt somit den elitären Kreis erst recht der Lächerlichkeit preis. Von einer Geistes-bruderschaft ist bei Benjamin keine Rede mehr; aus dem nachfolgenden Satz streicht er denn auch die „erwählten Geister“, reduziert und banalisiert die Aussage zur Metapher einer „geistigen Familie“. Zweierlei wird in den beiden Passagen deutlich: Trotz aller Dominanz des Inhaltlich-Semantischen bei Balzac entzündet sich Benjamins Übersetzungsarbeit an formalen Auffälligkeiten. Was in den ausgewählten Beispielen folgt, ist die Destruktion der Rückzugsorte des romantischen Ideals, die Balzac noch gegen den Ansturm der bürgerlichen Moderne verteidigt. Es stellt sich die Frage, wie es dann wohl um die Wiedergabe der Balzacschen Präzisionsbemühungen steht, die Betonung der Gesetzmäßigkeit, die Konkretion jedes beschriebenen Details einer sich entziehenden Welt. Ganz oft tritt der Balzacsche Erzähler aus der Schilderung eines Einzelphänomens heraus und appelliert, ins Präsens wechselnd, an eine allgemeine Erfahrung, wie z.B. die mütterlichen Gefühle gegenüber kleinen Kindern: „L’heureux vieillard […] baisa souvent ces petits pieds nus dont les doigts, couverts d’une pellicule sous laquelle le sang se voit, ressemblent à 62 Balzac/ Benjamin: Ursula Mirouet, S. 50. Lieselotte Kittenberger 178 des boutons de rose.“ (CH III, 814) Benjamin hält historisierend die anrührende Szene auf Distanz: „[D]er beseligte Alte [...] küßte die nackten Füßchen; ihre Zehen glichen Rosenknospen; sie hatten eine feine Haut, unter der das Blut hindurchschimmerte.“ 63 Der Stakkato-Rhythmus der parataktischen Auflösung von Balzacs Satzperiode verhindert hier den Wechsel in die allgemeine Aussage, die nur mittels Relativsatz als nähere Bestimmung eines deiktisch vergegenwärtigten Gegenstands möglich ist. Benjamin vermeidet in der Übersetzung nicht systematisch das generische Präsens, aber er verwendet weitere Strategien der Distanzierung. Während Balzac gerne die Erzählsituation als aktuelles Gespräch mit dem impliziten Leser inszeniert, wo nicht nur das angeblich geteilte Weltwissen vergegenwärtigt wird, sondern auf seiner Grundlage Hypothesen gewagt und zur größeren Authentizität dem Leser untergeschoben werden, blendet Benjamin regelmäßig das personale Subjekt aus. Das Porträt Minorets leitet Balzac wie folgt ein: „En vous souvenant des figures de Barbé-Marbois, de Boissy-d’Anglas, de Morellet, d’Helvétius, de Frédéric le Grand, vous aurez aussitôt une image exacte de la tête du docteur Minoret“ (CH III, 805). Benjamins Erzähler bleibt vorsichtig distanziert: „Wer die Gesichter von Barbé-Marbois, Boissy-d'Anglas, Morellet, Helvétius, Friedrich dem Großen sich zurückruft, wird unmittelbar eine genaue Vorstellung von dem Kopfe des Doktor Minoret haben“. 64 Die Aussage bleibt allgemeine Information, verzichtet auf den Appell zur Aktivierung einer fragwürdigen gemeinsamen Wissensbasis. Unsicherheit schleicht sich bei Benjamin auch andernorts ein, sie untergräbt die Autorität des Subjekts, indem der personale Bezug zu den Dingen gelockert wird. Exemplarisch steht für diese Entwicklung der Titel für den von Benjamin übersetzten ersten Teil des Romans. Balzac kündigt mit „Les Héritiers alarmés“ die Geschichte einer Personengruppe an. Benjamins Übersetzung ergibt sich aus zwei Verschiebungen. Er wandelt die attributive Zuschreibung, etwa: „Die besorgten Erben“, in eine prädikative: „Die Sorge, die Angst der Erben“, um schließlich den personalen Bezug zu eliminieren. Die Erwartung des Lesers wird nicht mehr auf die von Angst getriebenen Erben, sondern auf die treibende Kraft gelenkt: „Die Angst um die Erbschaft“. 63 Balzac/ Benjamin: Ursula Mirouet, S. 73f. 64 Ebd., S. 60. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG AUGUST 2011 JETZT BESTELLEN! Bernd Kortländer / Sikander Singh (Hg.) „Das Fremde im Eigensten“ Die Funktion von Übersetzungen im Prozess der deutschen Nationenbildung Transfer 21 2011, 207 Seiten €[D] 49,00/ SFr 65,50 ISBN 978-3-8233-6634-8 Die nationale Identität Deutschlands ist im 18. und 19. Jahrhundert zunächst über die Kultur und Sprache bestimmt worden. Erst spät entwickelte sich die Idee einer staatlichen Einheit, parallel mit dem Verfall der feudalen Strukturen und dem Aufstieg des Bürgertums, zu einer politischen Vorstellung und Forderung. Und erst in den Jahren zwischen der Französischen Revolution und dem Wiener Kongress erhielt das Konzept der Nation in Deutschland seine moderne Bedeutung. Die Übersetzung spielt in diesem Prozess eine besondere Rolle. Die Beiträge des Bandes untersuchen die Frage, inwiefern philosophische, ästhetische und politische Vorstellungen aus anderen europäischen Literaturen die Ausbildung einer nationalen Eigenart sowie eines nationalen Bewusstseins in Deutschland im 19. Jahrhundert beeinflusst oder bestimmt haben.