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Romanistik und Angewandte Linguistik

2011
978-3-8233-7669-9
Gunter Narr Verlag 
Wolfgang Dahmen
Günter Holtus
Johannes Kramer
Michael Metzeltin
Wolfgang Schweickard
Otto Winkelmann

Seit ihrer Entstehung in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Angewandte Linguistik neben der allgemeinen, der deskriptiven und der historischen Sprachwissenschaft längst zu einem vielschichtigen und ertragreichen Forschungszweig entwickelt. Auch in der Romanistik entstand im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Reihe von anwendungsorientierten Teildisziplinen, die die romanischen Sprachen unter praktischen Gesichtspunkten untersuchen. Die Beiträge zum XXIII. Romanistischen Kolloquium stellen ausgewählte Bereiche der Angewandten Linguistik aus romanistischer Sicht dar: Nach grundsätzlichen Überlegungen zu Aufgabenstellung und Zielsetzung der Angewandten Linguistik befasst sich der Band mit aktuellen Problemen der Werbekommunikation und der Wirtschaftslinguistik sowie mit Mehrsprachigkeitsdidaktik, Fehlerlinguistik und Internationalismenforschung. Neben der Rolle der Sprachbewusstheit und dem Stellenwert der Übersetzungswissenschaft werden auch die Themenbereiche Sprachpolitik, Sprachkontaktforschung, Lexikographie und die Rekonstruktion gesprochener Sprache behandelt.

Wolfgang Dahmen / Günter Holtus / Johannes Kramer / Michael Metzeltin / Wolfgang Schweickard / Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanistik und Angewandte Linguistik Romanistisches Kolloquium XXIII Romanistik und Angewandte Linguistik Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 526 Romanistik und Angewandte Linguistik Romanistisches Kolloquium XXIII Wolfgang Dahmen / Günter Holtus / Johannes Kramer / Michael Metzeltin / Wolfgang Schweickard / Otto Winkelmann (Hrsg.) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Laupp + Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6669-0 Inhalt Einleitung VII I. G EGENSTAND UND Z IELSETZUNG DER A NGE WANDTEN L INGUISTIK Claudia Polzin-Haumann, Die Relevanz der Romanistik: Überlegungen zu Gegenstandsbereich, Aufgaben und Zielen einer angewandten romanistischen Linguistik in der Wissensgesellschaft ........................... 3 Martin Stegu, Romanistik, Angewandte Linguistik und Sprachbewusstheit: Querverbindungen und Synergien ................................................ 21 Michael Schreiber, Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft - oder Die Übersetzungswissenschaft: Tochter, Schwester oder Cousine der Angewandten Linguistik? ................................................. 35 II. W ERBEKOMMUNIKATION , M ARKENNAMENKREATION UND W IRTSCHAFTSLINGUISTIK Julia Kuhn, Ethnisches Marketing und Überlegungen zur Repräsentation von Ethnien im französischen Werbediskurs. Eine kritische Diskursanalyse mit kontrastiven Ausblicken ................. 53 Annette Lühken, Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung ............................................................................................ 85 Antje Zilg, Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt .................... 103 Otto Winkelmann, Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 125 III. M EHRSPRACHIGKEITSDIDAKTIK , F EHLERLINGUISTIK UND I NTERNATIONALISMENFORSCHUNG Reiner Arntz, „Kontrastsprache“ Portugiesisch - Ein neuer Weg zum Portugiesischen auf der Grundlage des Spanischen .............................. 163 Holger Wochele, Sprachbewusstheit und Laienlinguistik: zur Fehlertoleranz im Französischen und Italienischen bei der Beurteilung durch muttersprachliche Laien ......................................................................... 183 Andre Klump, Zur Rolle der Romanistik für die heutige Internationalismenforschung ..................................................................................... 199 IV. S PRACHPOLITIK , S PRACHKONTAKTFORSCHUNG , L EXI - KO GRAPHIE UND DIE R EKONSTRUKTION GESPROCHENER S PRACHE Joachim Born, Angewandte Linguistik als Einmischung: Der Beitrag der Sprachwissenschaft zu einer demokratischen und effizienten Sprachpolitik ...................................................................................................... 211 Livia Gaudino Fallegger, Morbus anglicus? Divergenzen bei der Akzeptanz von Anglizismen in Frankreich und Italien .................................. 235 Christina Ossenkop, Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen: Printausgaben und elektronische Versionen im Vergleich 251 Konstanze Jungbluth, Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache: Familienbücher des 19. Jahrhunderts aus Pernambuco ....................... 279 ...... Einleitung Im Jahre 1964 wurde an der Universität Nancy die Association Internationale de Linguistique Appliquée (AILA) gegründet, die als Dachverband der Angewandten Linguistik mittlerweile nationale Fachverbände in über 40 Ländern umfasst. Als einer der ersten nationalen Fachverbände wurde 1968 die Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) gegründet. Schaut man die Programme der Fachtagungen dieser beiden Verbände durch, so stößt man immer wieder auf einzelne romanistische Beiträge. Insgesamt betrachtet hat die Romanistik jedoch im Bereich der Angewandten Linguistik gegenüber der Germanistik und der Anglistik einen deutlichen Nachholbedarf. Daher haben die Veranstalter des Romanistischen Kolloquiums beschlossen, dem Verhältnis von Romanistik und Angewandter Linguistik eine eigene Tagung zu widmen, die vom 31. Mai bis zum 2. Juni 2007 auf Schloss Rauischholzhausen, der Tagungsstätte der Justus- Liebig-Universität Gießen, stattfand. Im Rahmen dieses XXIII. Romanistischen Kolloquiums wurden elf Vorträge gehalten, deren schriftliche Fassungen in diesem Band veröffentlicht werden. Zur Abrundung der Thematik wurden drei weitere Beiträge aufgenommen. Der vorliegende Band stellt einige ausgewählte Facetten der Angewandten Linguistik aus romanistischer Sicht dar. Er beansprucht selbstverständlich keine Repräsentativität. Die ersten drei Beiträge sind fachübergreifender bzw. theoretischer Natur. Sie behandeln Gegenstandsbereich, Aufgabenstellungen und Zielsetzungen der Angewandten Linguistik sowie Definitions- und Abgrenzungsfragen von Teildisziplinen. Es folgen vier Beiträge zur Werbekommunikation, zur Markennamenkreation und zur Entwicklung der Wirtschaftslinguistik. Die Beiträge der dritten Sektion beschäftigen sich mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik, der Bewertung sprachlicher Fehler und der Internationalismenforschung. Die vierte Sektion enthält Beiträge zur Sprachpolitik, zur Akzeptanz von Anglizismen in Frankreich und Italien, zur französischen Lexikographie und zur Rekonstruktion gesprochener Sprache. In ihrem Beitrag „Die Relevanz der Romanistik: Überlegungen zu Gegenstandsbereich, Aufgaben und Zielen einer angewandten romanistischen Linguistik in der Wissensgesellschaft“ knüpft Claudia Polzin- Haumann an die seit der Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts angelaufene Diskussion um das Selbstverständnis der Romanistik und Einleitung VIII das Bild der Romanistik in der Öffentlichkeit an. Sie stellt die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Romanistik und ihrer Teilbereiche und erörtert, wie eine angewandte romanistische Linguistik aussehen könnte. Der Gegenstandsbereich der Angewandten Linguistik ist ausgesprochen breit und umfasst nach Claudia Polzin-Haumann „potentiell alle sprach- und kommunikationsbezogenen gesellschaftlichen Bereiche, in denen angewandt-linguistisches Wissen zur Lösung etwaiger Probleme herangezogen werden kann“. Im Einzelnen gehören hierzu: Spracherwerb und Sprachlehre, Medien, Sprachstörungen, Kontrastive Linguistik und Übersetzungswissenschaft, Sozio- und Psycholinguistik, öffentliche Kommunikation, Sprachbewusstsein, Sprachidentität, Sprachpolitik, Ökolinguistik und Sprachökologie. In Übereinstimmung mit einer in der germanistischen Linguistik verbreiteten Tendenz unterstreicht die Autorin, dass die Romanistik zu öffentlich thematisierten sprachlichen Fragen Stellung beziehen müsse. Ferner solle die Romanistik nicht nur gesellschaftsrelevantes Wissen, sondern auch berufsrelevantes Wissen vermitteln. Martin Stegu nimmt in seinem Beitrag zum Thema „Romanistik, Angewandte Linguistik und Sprachbewusstheit: Querverbindungen und Synergien“ zunächst eine Kurzdarstellung der Angewandten Linguistik und ihrer Gegenstandsbereiche vor; anschließend befasst er sich mit der Rolle, die das Konzept der Sprachbewusstheit in der Angewandten Linguistik spielt. Er plädiert für die Einheit der Angewandten Linguistik und spricht sich gegen eine Unterscheidung von allgemeiner, romanistischer, anglistischer usw. Angewandter Linguistik aus. Martin Stegu unterscheidet folgende Teilbereiche der Angewandten Linguistik: Automatische Übersetzung, Fremdsprachenunterricht, Erst- und Zweitsprachenerwerb, Behandlung von Kommunikationsproblemen. Darüber hinaus hebt er die Rolle der Theorie in der Angewandten Linguistik, die Unterscheidung von kritikorientierter und effizienzorientierter Richtung, das Verhältnis von Erst- und Zweitsprachenerwerb, die Verselbständigung von Teildisziplinen der Angewandten Linguistik und die Bedeutung der Sprachbewusstheit im Rahmen der Angewandten Linguistik hervor. Nachdem die Angewandte Linguistik zunächst in sehr enger Verbindung zum Fremdsprachenerwerb stand, haben sich in der Zwischenzeit immer mehr Disziplinen aus der Angewandten Linguistik ausgegliedert, wie z.B. die Übersetzungswissenschaft, die Interkulturelle Kommunikationsforschung oder die Fremdsprachendidaktik. Martin Stegu spricht sich gegen diesen Autonomisierungsprozess aus und meint, Angewandte Linguistik sei stets „Linguistik und noch etwas anderes“. Einleitung IX Die interdisziplinäre Arbeitsweise sei für die Angewandte Linguistik geradezu typisch. Seiner Meinung nach sind die Förderung und Verbesserung der Sprachbewusstheit wesentliche Bestandteile der Angewandten Linguistik. Michael Schreiber erörtert in seinem Beitrag „Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft - oder Die Übersetzungswissenschaft: Tochter, Schwester oder Cousine der Angewandten Linguistik? “ den Stellenwert der Übersetzungswissenschaft und ihr wissenschaftssystematisches Verhältnis zur Angewandten Linguistik. Er greift das Problem der Ausgliederung von Teildisziplinen der Angewandten Linguistik auf und illustriert dies am Verhältnis von Übersetzungswissenschaft und Angewandter Linguistik. Zum „harten Kern“ der Angewandten Linguistik gehören seiner Meinung nach die Sprachdidaktik und die Medienkommunikation. Hinzu kommen u.a. die Klinische Linguistik, die Forensische Linguistik sowie neuerdings die Erforschung von Sprache und Migration. Michael Schreiber ist davon überzeugt, dass die Verselbständigung der Translationswissenschaft aus methodologischen und institutionellen Gründen nicht mehr rückgängig gemacht werden könne. Er vertritt die Meinung, dass nur ein Teilgebiet der Übersetzungswissenschaft der Angewandten Linguistik untergeordnet werden könne, und zwar speziell die sprachenpaarbezogene Übersetzungswissenschaft, die sich mit sprachenpaarbedingten Übersetzungsproblemen beschäftigt. Die sprachenpaarbezogene Übersetzungswissenschaft profitiere zwar von der Kontrastiven Linguistik, unterscheide sich von dieser aber durch die Lösungsorientiertheit. Für Michael Schreiber stellt sich das Verhältnis von Angewandter Linguistik und Übersetzungswissenschaft als dasjenige zwischen älterer und jüngerer Schwester dar. In ihrem Beitrag zum Thema „Ethnisches Marketing und Überlegungen zur Repräsentation von Ethnien im französischen Werbediskurs. Eine kritische Diskursanalyse mit kontrastiven Ausblicken“ geht Julia Kuhn der Frage nach, welche Rolle Farbige in französischen Werbebotschaften spielen und wie ihre Identität konstruiert wird. Theoretischer Rahmen ihrer Darlegungen ist die kritische Diskursanalyse. Im ersten Teil ihrer Ausführungen werden die französischen Werbekampagnen für die Marken Savon Dirtoff und Chocolat Potin vor der Entstehung des ethnischen Marketings geschildert. Anschließend stellt die Autorin das Aufkommen des ethnischen Marketings als Reaktion auf die ethnische Durchmischung der Gesellschaft dar, schildert die Anfänge dieser Art von Marketing in den Vereinigten Staaten von Amerika und seine zögerliche Umsetzung in Frankreich. Im zweiten Teil ihres Beitrags Einleitung X zeigt Julia Kuhn einerseits am Beispiel von Banania, wie sich die visuelle und textuelle Präsentation des Produktes im Laufe der Zeit geändert haben und wie andererseits im Falle des Bonbons Tête Nègre sprachlich und visuell diskriminierende Werbung in Frankreich fortbesteht. Was die Strategien des ethnischen Marketings betrifft, so unterscheidet Julia Kuhn zwischen der Integrationsstrategie, dem micro marketing und der multikulturellen Strategie. In ihrem Beitrag mit dem Titel „Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung“ erklärt Annette Lühken, worin die Besonderheiten der französischen Internetwerbung bestehen und worin sich Internetwerbung von der Werbung mittels der klassischen Medien unterscheidet. Die drei Aufgaben der Werbesprachenforschung, nämlich die Interpretationskompetenz, die Hilfe zur Kommunikationsplanung und die Textoptimierung umfassen sowohl effizienzorientierte als auch kritikorientierte Aspekte und stellen ihrer Meinung nach ein Kerngebiet der Angewandten Linguistik dar. Internetwerbung unterscheidet sich von der traditionellen Werbung hauptsächlich durch das Vorhandensein interaktiver Elemente. Außerdem handelt es sich dabei um „Pull- Werbung“, d.h. der Interessent muss selbst aktiv werden, um an die Werbeinformation zu gelangen. Im praktischen Teil des Beitrags wird die Startseite des französischen Automobilherstellers Citroën analysiert. Als Ergebnis ihrer Untersuchung kommt die Autorin zu dem Schluss, dass der Internetauftritt der genannten Automobilfirma nicht zielgruppenspezifisch ist, sondern vielmehr der Erzeugung eines positiven Firmenimages dient. Annette Lühken betont, dass die Angewandte Linguistik Hilfestellungen bei der Gestaltung von Internetseiten geben kann. Bei der zielgruppengerechten Kundenansprache sei die Angewandte Linguistik aber auf die Unterstützung der Kulturwissenschaften angewiesen. Der Beitrag von Antje Zilg zum Thema „Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt“ geht von der Erkenntnis aus, dass ein Markenname einen kognitiven Anker darstellt, mit dem Werte assoziiert werden und der somit zu einem strategischen Erfolgsfaktor des Marketings geworden ist. Die linguistische Erforschung von Markennamen hat daher einen starken Praxisbezug. Der Beitrag gibt anhand ausgewählter Beispiele einen Überblick über graphische und lautliche Besonderheiten, produktive Wortbildungstypen, die semantische Struktur, die Verwendung fremdsprachiger Elemente und rhetorischer Mittel in italienischen Markennamen der Lebensmittelbranche. Antje Zilg kommt zu dem Ergebnis, dass viele Markennamen italienischer Lebensmittel sich durch eine ausgeprägte Religiosität und eine spürbare Einleitung XI Emotionalität auszeichnen. Neben den sprachlichen Aspekten spielen bei der Markennamenkreation auch wirtschaftliche und juristische Aspekte eine wichtige Rolle. Auf diese Weise wird jede Beschäftigung mit Markennamen interdisziplinär. Der Beitrag von Antje Zilg liefert eine Grundlage für die erfolgreiche Bildung neuer Markennamen und hat somit auch die praktische Verwertbarkeit linguistischer Forschung im Blick. Daneben erfüllt die linguistische Analyse von Markennamen aber auch eine Aufklärungsfunktion für den Konsumenten, indem sie „dem Verbraucher die Orientierung im Angebotsdschungel“ erleichtert. Otto Winkelmann zeigt in seinem Beitrag „Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik“, dass es viele Berührungspunkte zwischen der Linguistik und den Wirtschaftswissenschaften gibt. Er zeichnet den Weg der historischen Wirtschaftslinguistik nach, die nach dem Ersten Weltkrieg an einigen niederländischen, deutschen, österreichischen und schweizerischen Hochschulen entstanden ist. Nach einer Darstellung der beiden Hauptphasen der historischen Wirtschaftslinguistik, einer ersten, diachronisch-philologisch ausgerichteten Phase, und einer zweiten, synchronisch-funktional geprägten Phase, spricht er sich dafür aus, an die historische Wirtschaftslinguistik anzuknüpfen und diese mit aktuellen Fragestellungen zu verbinden. Er entwirft ein Forschungsprogramm für eine moderne Wirtschaftslinguistik, die auf einer soliden empirischen Grundlage beruht, interdisziplinär arbeitet und anwendungsorientiert, d.h. problemlösend, ausgerichtet ist. In einer derartig konzipierten Wirtschaftslinguistik beschreibt die Wirtschaftswissenschaft den Rahmen, innerhalb dessen sich wirtschaftliches Handeln vollzieht, während die Linguistik die sprachlichen Mittel erforscht, die zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele eingesetzt werden. Otto Winkelmann führt ausgewählte Problembereiche der Wirtschaftskommunikation auf und nennt zahlreiche Anwendungsfelder der Wirtschaftslinguistik im Bereich von Text- und Gesprächstypen der internen und externen Unternehmenskommunikation. Reiner Arntz stellt in seinem Beitrag „Kontrastsprache Portugiesisch - Ein neuer Weg zum Portugiesischen auf der Grundlage des Spanischen“ eine Neuerscheinung vor, in der es darum geht, Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen verwandten Sprachen für die Fremdsprachen- und die Übersetzungsdidaktik nutzbar zu machen. Mit dem von ihm vorgeschlagenen modular aufgebauten Modell sollen ausgehend von der Muttersprache der Lerner oder auf der Grundlage einer Fremdsprache, die die Lerner bereits gut beherrschen, in relativ kurzer Zeit angemessene Kenntnisse in einer weiteren Sprache erworben werden. Hauptziel dieses Ansatzes ist Einleitung XII die Vermittlung fachbezogener Lesekenntnisse. Im Rahmen von dreisemestrigen Kursen werden sog. „Kontrastsprachen“ angeboten. Im praktischen Teil des Beitrags werden die Module des Lehrbuches im Überblick vorgestellt. In allen Modulen wird ein kontrastiver Ansatz verfolgt, wobei der systematische Vergleich von portugiesischen und spanischen Sprachstrukturen eine entscheidende Rolle spielt. Reiner Arntz ist der Überzeugung, dass das methodische Wissen zum Spracherwerb, das die Studierenden sich beim Erlernen einer ersten oder zweiten Fremdsprache angeeignet haben, beim Erwerb weiterer Sprachen gezielt eingesetzt werden kann. Der Beitrag von Holger Wochele zum Thema „Sprachbewusstheit und Laienlinguistik: zur Fehlertoleranz im Französischen und Italienischen bei der Beurteilung durch muttersprachliche Laien“ ist dem Bereich der Fehlerlinguistik zuzuordnen. Der Autor berichtet über die Testphase eines Projektes der Wirtschaftsuniversität Wien, in der muttersprachlichen Sprechern, zehn Franzosen und drei Italienern, Texte zur sprachlichen Beurteilung vorgelegt wurden, die von nicht-muttersprachlichen Sprechern verfasst worden waren. In dieser Testphase sollte u.a. ermittelt werden, ob es zutrifft, dass Frankophone strenger urteilen als Italiener, da sie angeblich über ein stärkeres Sprachnormbewusstsein verfügen. Im definitorischen Teil des Beitrags wird das Konzept der Sprachbewusstheit im Bereich der Sprachdidaktik verankert. Sprachbewusstsein wird als „eine höhere, elaboriertere Form der Sprachbewusstheit“ verstanden. Im praktischen Teil des Beitrags berichtet Holger Wochele über die Testphase. Es waren 35 Einzelsätze zu beurteilen, wobei verschiedene Fehlertypen vorlagen, wie z.B. die Verwechslung von Adjektiv und Adverb, falsches Genus, fehlende Kongruenz, falsche Präpositionen, falsche Artikelformen, oder eine fehlerhafte Orthographie. Aus dem Test ergab sich eine abgestufte Rangfolge von die Verständlichkeit beeinträchtigenden Fehlern. Lexikalische Fehler erwiesen sich als am stärksten verständnishemmend, während z.B. Genus- und Orthographiefehler sich in dieser Hinsicht weit weniger stark auswirkten. Erstaunlicherweise erwiesen sich die zehn Franzosen als fehlertoleranter als die drei Italiener. In seinem Beitrag „Zur Rolle der Romanistik für die heutige Internationalismenforschung“ weist Andre Klump darauf hin, dass es sich in der Fremdsprachendidaktik anbietet, in der Anfangsphase des Erlernens einer neuen Fremdsprache auf die lexikalischen Gemeinsamkeiten der zu erlernenden Sprache und der Muttersprache hinzuweisen und somit Brücken zu bauen, die als Lernhilfen fungieren. Ziel der von germanistischer Seite angestoßenen Internationalismenforschung ist es, Einleitung XIII „den gemeinsamen Bestand an lexikalischen und morphologischen Zeichen europäischer Sprachen vor dem Hintergrund der internationalen Kommunikation zu untersuchen“. Für Andre Klump tangiert die Erforschung der Internationalismen auch die kontrastive Linguistik und die Übersetzungswissenschaft. Er fordert, dass auch die romanistische Linguistik sich an der Internationalismenforschung beteiligt und Untersuchungen hinsichtlich der Beschaffenheit, Frequenz und Verteilung von Internationalismen in den romanischen Sprachen anstellt. Als speziell romanistische Anwendungsbereiche sieht er die zwei- oder mehrsprachige Terminologiearbeit, die Fachlexikographie und die Fremdsprachendidaktik und hier speziell die Interkomprehensionsforschung an. In seinem Beitrag „Angewandte Linguistik als Einmischung: Der Beitrag der Sprachwissenschaft zu einer demokratischen und effizienten Sprachpolitik“ vertritt Joachim Born die Auffassung, dass Sprachwissenschaftler sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden und zu sprachrelevanten Themen und Problemen Stellung beziehen müssen. Ihr ureigenstes Feld, nämlich die Sprache im weitesten Sinne, dürfe nicht Juristen, Soziologen, Politikwissenschaftlern oder Literaten überlassen werden. Für Joachim Born ist Sprachpolitik ein Teilgebiet der Angewandten Linguistik, das sich u.a. mit sprachlicher Integration und Assimilation, Ausbau und Kodifizierung einer Standardvarietät, Regelung des sprachlichen Miteinanders in mehrsprachigen Staaten und Staatsverbänden und sprachlicher Repression ungeliebter Mehr- oder Minderheiten befasst. Er hebt einerseits die Verantwortung von Sprachwissenschaftlern gegenüber Angehörigen von Minderheitensprachen hervor, spricht sich andererseits aber dagegen aus, eine ethnolinguistische Diversität zu erzwingen, und er fordert Feldstudien, in denen in linguistischer Kleinarbeit genaue Daten über die Verbreitung und Verwendung von Minderheitensprachen erhoben werden, die anschließend als Grundlage nachvollziehbarer politischer Entscheidungen dienen können. Am Ende seines Beitrags veranschaulicht der Autor seine Vorstellungen an drei Beispielen, und zwar an dem Status des Valencianischen, der Offizialisierung des Guaraní im Mercosur und der Einführung des Spanischunterrichts in Thüringen, die eine öffentliche Stellungnahme bzw. ein Einschreiten von Linguisten notwendig machen. Livia Gaudino Fallegger verknüpft in ihrem Beitrag mit dem Titel „Morbus anglicus? Divergenzen bei der Akzeptanz von Anglizismen in Frankreich und Italien“ die Bereiche Sprachkontakt und Sprachpolitik. Die Autorin geht der Frage nach, warum die Akzeptanz von Anglizismen in Italien ungleich größer als in Frankreich ist. In einem historischen Einleitung XIV Rückblick zeigt sie, dass Art und Verlauf der sprachlichen Beeinflussung des Französischen und des Italienischen durch das Englische völlig unterschiedlich sind. Während das Französische seit dem Hochmittelalter in direktem gegenseitigem Kontakt zum Englischen steht, haben die meisten Anglizismen Italien auf indirektem Wege erreicht. Während in Frankreich eine staatliche Sprachpolitik und eine aktive Sprachpflege seit langem gegen unerwünschte Anglizismen kämpfen, gibt es in Italien keine stringente Sprachpolitik, und erst in jüngster Zeit hört man vereinzelte Stimmen, die die unkontrollierte Aufnahme englischen Wortgutes als „morbus anglicus“ geißeln. Livia Gaudino Fallegger kommt zu dem Schluss, dass das höhere Toleranzniveau bezüglich Entlehnungen aus dem Englischen, das in Italien im Vergleich zu Frankreich zu beobachten ist, sich in erster Linie durch sprachhistorisch geprägte Mentalitäten begründen lässt. Christina Ossenkop setzt sich in ihrem Beitrag „Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen: Printausgaben und elektronische Versionen im Vergleich“ mit der Lexikographie, einem traditionellen Gebiet der Angewandten Linguistik, auseinander. Im Mittelpunkt ihres Beitrages steht die Untersuchung der makro- und mikrostrukturellen Unterschiede zwischen fünf allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Französischen und des Gebrauchswerts dieser Werke für die Durchführung lexikologischer Untersuchungen. Dabei werden zunächst die Printausgaben einer genaueren Betrachtung unterzogen, bevor im Anschluss daran der Nutzungsmehrwert elektronischer Versionen überprüft wird. Die Untersuchung wird ergänzt durch die Ergebnisse einer kleinen Umfrage zum Wörterbuchgebrauch unter Studierenden des Faches Französisch an der Universität Gießen, aus der deutlich wird, dass die spezifischen Vorteile des elektronischen Mediums, die u.a. in der Möglichkeit komplexer Suchanfragen bestehen, von dieser Nutzergruppe kaum eingesetzt werden. Der Vorteil elektronischer Wörterbücher besteht für die befragten Studierenden im Wesentlichen im schnellen Nachschlagen von Orthographie und Wortbedeutung. Das Ziel des Beitrags von Konstanze Jungbluth zum Thema „Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache: Familienbücher des 19. Jahrhunderts aus Pernambuco“ besteht darin, aus schriftsprachlichen Daten des brasilianischen Portugiesisch Merkmalsausprägungen der gesprochenen Sprache zu rekonstruieren. Als Datengrundlage dienen ihr Familienbücher, die im 19. Jahrhundert in der Regel von brasilianischen Großgrundbesitzern verfasst wurden, die in der Kulturtechnik des Schreibens nicht besonders geübt waren. In den Texten dieser autores Einleitung XV semicultos finden sich naturgemäß Spuren der Mündlichkeit. Vier Familienbücher von pernambucanischen Autoren werden vorgestellt und hinsichtlich ihrer Besonderheiten in makro- und mikrostruktureller Hinsicht beschrieben. Konstanze Jungbluth geht besonders auf die lexikalische und morphosyntaktische Variation der ausgewählten Texte ein. Den Bezug zum Rahmenthema des Bandes stellt die Autorin durch den Hinweis her, dass die Angewandte Linguistik sinnvollerweise in eine kulturwissenschaftliche Perspektive eingebettet werden müsse. Unser besonderer Dank gilt Frau Dr. Antje Zilg (Gießen) für die gründliche Korrektur des Manuskripts und Frau Maike Homberger (Gießen) für die sorgfältige Herstellung der Druckvorlage. Die Herausgeber I. Gegenstand und Zielsetzung der Angewandten Linguistik Claudia Polzin-Haumann Die Relevanz der Romanistik: Überlegungen zu Gegenstandsbereich, Aufgaben und Zielen einer angewandten romanistischen Linguistik in der Wissensgesellschaft 1. Problemstellung und Zielsetzung Die Romanistik ist in der Diskussion, und das schon seit geraumer Zeit. Diskutiert wird auf verschiedenen Ebenen: zum einen innerhalb der Fachvertreter (vgl. z.B. die „Thesen zur aktuellen Verfassung des Fachs“ von Erfurt und Middell sowie die Stellungnahmen dazu in Grenzgänge 6/ 1996; die Beiträge „Zukunft der Romanistik - Romanistik der Zukunft“ in Grenzgänge 12/ 2005; einige Beiträge zum Romanistischen Kolloquium IX wie Gsell 1996; Kramer 1996b; außerdem die Überlegungen von Raible und Kramer in ZfSL 108/ 1998 und 109/ 1999 - wobei die jeweiligen Fachvertreter oft selbst wiederum unterschiedliche Fächer innerhalb der Romanistik und damit spezifische Auffassungen vertreten), zum anderen findet sich die Romanistik angesichts von Vergleichsstudien zur Qualität von Forschung und Lehre an Hochschulen wie etwa des Hochschulrankings des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE; vgl. http: / / www.che-ranking-de/ ) 1 in öffentlichen Diskussionen wieder, z.B. mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen (beispielsweise Studierende oder Studienanfänger), politischen Instanzen (z.B. Kultusministerien auf Bundes- oder Landesebene) oder ökonomischen Größen (wie etwa der abstrakten Größe ‘Arbeitsmarkt’). ‘Öffentliche Diskussion’ heißt dabei nicht unbedingt, dass die einzelnen Beteiligten direkt miteinander kommunizieren, doch bilden sie grundsätzlich die Bezugspunkte für Selbstreflexion, -kritik und -darstellung sowie (kommunikatives) Handeln 1 Das Centrum für Hochschulentwicklung untersucht alle Hochschulen, die ein bestimmtes Fach anbieten, anhand ausgewählter Kriterien. Im Fall der Romanistik waren dies für die Studiengänge mit den Abschlüssen Diplom, Magister und Bachelor die Faktoren Forschungsreputation, Promotionen je Professor, Betreuung und Studiensituation insgesamt, für die Lehramtsstudiengänge wurden Bibliotheksausstattung, Studienorganisation, Betreuung und Studiensituation insgesamt berücksichtigt. Claudia Polzin-Haumann 4 der einzelnen Akteure. Spätestens hier wird deutlich, dass sich mit der Frage nach der Relevanz der Romanistik je nach Perspektive und Adressatenkreis sehr unterschiedliche Positionen verbinden lassen, die verschiedenen Einzelfragen zuzuordnen sind. Im Folgenden seien exemplarisch zwei mögliche Fragenkomplexe herausgegriffen, bei denen je nach konkretem Sender und Rezipient die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen werden 2 : • Inwiefern ist die Romanistik in ihrem traditionellen Selbstverständnis heute noch als ganzes Fach relevant, angesichts gesellschaftlicher, wissenschafts- und bildungspolitischer, institutioneller, ökonomischer und weiterer Veränderungen, die in engen und komplexen Interdependenzbeziehungen stehen? • Welche Teilbereiche der Romanistik sind angesichts der oben angesprochenen Veränderungen möglicherweise besonders wichtig, welche müssten überdacht, ggf. umstrukturiert werden oder erscheinen gar gänzlich verzichtbar? Jeder deutschsprachige Romanist (Kramer 1996b) wird wahrscheinlich, in unterschiedlicher Form und Intensität, mit diesen Fragenkomplexen insbesondere im Kontext der Umstellung auf die neuen Studiengänge (oft auch unter dem Etikett ‘Bologna-Prozess’), in Kontakt gekommen sein und eigene Erfahrungen mit der Gewichtung der verschiedenen Aspekte haben. In den oben skizzierten Fragenkomplexen spielen jedenfalls Fragen der Anwendung eine wichtige Rolle, und genau an diesen Punkt möchte der vorliegende Beitrag anknüpfen. Wie ist das Verhältnis von Romanistik und Angewandter Linguistik, wie groß ist die Nähe/ die Distanz zwischen beiden? Im Folgenden sollen Überlegungen zu den Konturen einer angewandten romanistischen Linguistik formuliert werden, wobei es insbesondere darum geht, die genuin angewandte Orientierung einzelner Teilbereiche herauszuarbeiten. Hierzu werden zunächst wichtige Begriffe bestimmt. Über die zur Begriffsbestimmung herangezogenen wesentlichen Elemente (Wissenschaft und Gesellschaft) kommen wir dann zur Hauptfrage: Wie lassen sich Gegenstandsbereich, Aufgaben und 2 Komplexitätssteigernd wirkt sich hier überdies der Umstand aus, dass die betreffenden Kommunikationskonstellationen sich oft durch Mehrfachadressiertheit auszeichnen, d.h. eine bestimmte Maßnahme und ihre sprachliche Darstellung ist auf verschiedene Adressaten(gruppen) mit ihren je spezifischen Bedürfnissen ausgerichtet. Die Relevanz der Romanistik 5 Ziele einer sich als angewandt verstehenden Romanistik in der heutigen Gesellschaft, die vielfach auch als ‘Wissensgesellschaft’ tituliert wird (vgl. unten Kap. 2), beschreiben? Im Zuge der Überlegungen werden zentrale Aspekte der (im weiteren Sinne) innerromanistischen Debatten um Selbstverständnis, Umstrukturierungen etc. aufgegriffen. Einen Schwerpunkt der Ausführungen stellt die Lehrerausbildung dar. Zwar ist diese grundsätzlich nicht mehr überwiegendes Berufsziel romanistischer Ausbildung - wobei hier je nach Universität bzw. Bundesland enorme Unterschiede bestehen -, doch kann dies nicht bedeuten, dass man diesem Bereich keine Aufmerksamkeit mehr widmen sollte, im Gegenteil: Im Zeitalter des permanent wachsenden europäischen Binnenmarktes und der Globalisierung, angesichts von PISA, IGLU und weiteren internationalen Lernstandskontrollen 3 , in unserer zunehmend mehrsprachigen Gesellschaft, scheint es nötiger denn je, der Ausbildung von Fremdsprachenlehrern höchste Aufmerksamkeit zu widmen. 2. Begriffsbestimmungen „Angewandte Linguistik“, so heißt es allgemein bei Knapp (²2007: XX), „ist heute generell zu definieren als eine Disziplin, die sich mit der Beschreibung, Erklärung und Lösung von lebens- und gesellschaftspraktischen Problemen in den Bereichen von Sprache und Kommunikation befasst.“ Damit ist Angewandte Linguistik nicht, obwohl ein solches Verständnis nahe liegen könnte, als eine Art Gegenstück zur Theoretischen Linguistik zu begreifen, vielmehr ist es „eine Sprachwissenschaft, in der die Anwendungsperspektive der wissenschaftlichen Erkenntnis ebenso selbstverständlich und integral ist, wie die vielfältigen Formen der sprachlichen Praxis zum Objekt der Analyse gemacht werden können“ (Ehlich 1999: 35f.). Es scheint also gerade die Brückenstellung zwischen Theorie und Praxis zu sein, die den Charakter der Angewandten Linguistik ausmacht. Platen/ Vogel (2001: 69f.) weisen jedoch darauf hin, dass zum einen im Grunde fast alle ‘klassischen’ Bereiche der Linguistik in gesellschaftsbezogener Perspektive betrieben werden können und zum anderen Überschneidungen zu verschiedenen sog. Bindestrichlinguis- 3 PISA = Programme for International Student Assessment (wird alle drei Jahre durchgeführt); IGLU = Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (wird alle fünf Jahre durchgeführt). Daneben gibt es internationale Tests für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich (TIMSS, alle vier Jahre); vgl. Prisme (ed., 2007). Claudia Polzin-Haumann 6 tiken bestehen, wie etwa der Psycho-, Sozio- oder Kontaktlinguistik oder der Fachsprachenforschung. Angesichts dieser Unschärfen erscheint der Terminus Angewandte Linguistik eher als Hyperonym für eine in bestimmter Weise perspektivierte linguistische Forschung, die vor allem durch ihre Gesellschaftsbezogenheit und die dadurch bedingte Interdisziplinarität charakterisiert wird. Wesentlich für die Angewandte Linguistik ist insgesamt, dass sie „[...] ihre Forschungsperspektiven insbesondere von der Wirklichkeit sprachlicher Verwendung her [wählt]. Der Mensch als handelndes Subjekt und Sprachbenutzer steht dabei im Mittelpunkt“ (Platen/ Vogel 2001: 70). Wissenschaft und Gesellschaft sind hier also die beiden Schlüsselwörter. Eine kursorische Durchsicht der wichtigsten Sammelbände (u.a. Kühlwein/ Raasch 1980, Kühlwein/ Raasch 1989, Kühlwein/ Raasch 1990) offenbart die grundlegenden Forschungsfragen und -gegenstände der Angewandten Linguistik in Deutschland 4 : Die Diskussionen betreffen die Bereiche Sprachenlernen und -lehren (auch Norm/ Variation, Mehrsprachigkeit), Medien (zunächst Fragen der computergestützten Sprachdatenverarbeitung, später Fragen im Kontext der sog. Neuen Medien), Sprachstörungen sowie angrenzende Bereiche (u.a. Kontrastive Linguistik, Übersetzungswissenschaft, Sozio- und Psycholinguistik). Sicher kann über die Jahre nicht von einer völligen Deckungsgleichheit der Themen gesprochen werden (z.B. wird zu Beginn der 1990er Jahre verstärkt das kommunikative Handeln thematisiert), doch lässt sich eine deutliche thematische Konstanz erkennen, die sich bis in die neueste Auflage von Knapp (²2007) weiterverfolgen lässt, wo freilich die einzelnen Bereiche in einer bis dato nicht gegebenen Ausführlichkeit abgehandelt und um wichtige aktuelle Themenfelder erweitert werden (z.B. „Öffentlich kommunizieren“, ²2007: 229-275). Wenn oben die Gesellschaft als zentraler Bezugspunkt der Angewandten Linguistik festgehalten wurde, so bleibt kurz darauf einzugehen, was diese Gesellschaft heute ausmacht. Ein Terminus, der rekurrent zu ihrer Charakterisierung herangezogen wird, ist der der Wissensgesellschaft 5 . Hiermit wird Wissen als gesellschaftliche Schlüsselressource 4 Platen/ Vogel (2001: 69) weisen auf wissenschaftspolitische Spezifika und ländergebundene Unterschiede hin. In Deutschland markiert sicher die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) im Jahre 1968 einen wichtigen Schritt; für weitere Ausführungen zur institutionellen und programmatischen Entwicklung der Disziplin vgl. Platen/ Vogel (2001: 71-73). 5 Im Unterschied zu den Termini der Industriegesellschaft oder der Informationsgesellschaft, anhand derer andere Aspekte in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Relevanz der Romanistik 7 definiert; Fragen der Distribution von Wissen (z.B. durch Digitalisierung), Zugang zu und Teilhabe am Wissen, Umgang mit Nichtwissen stehen im Zentrum dieses Gesellschaftsbegriffs (http: / / www.wissensgesellschaft. org/ ). Auch ohne weiter auf wissenschafts- und bildungspolitische Aspekte dieses Gesellschaftsbegriffs einzugehen, dürfte deutlich geworden sein, welch zentrale Rolle hier sprachliche Aspekte spielen, zumal in unseren in mehrfacher Hinsicht mehrsprachigen Gesellschaften: Wissen wird sprachlich formuliert und vermittelt. 3. Angewandte romanistische Linguistik: Gegenstandsbereich, Aufgaben, Ziele 3.1 Wissenschaft und Gesellschaft Aus den obigen Begriffsbestimmungen ergibt sich der Gegenstandsbereich einer angewandten romanistischen Linguistik. Er umfasst potentiell alle sprach- und kommunikationsbezogenen gesellschaftlichen Bereiche, in denen angewandt-linguistisches Wissen zur Beschreibung von (vor allem aktuellen) Zusammenhängen und zur Lösung etwaiger Probleme herangezogen werden kann. Im Folgenden werden stichpunktartig die wichtigsten Bereiche aufgezählt - viele werden in den im vorliegenden Band versammelten Beiträgen ausführlich behandelt. • Spracherwerb und Sprachlehre: Spiegelt sich die sprachlich-gesellschaftliche Realität der entsprechenden (Fremd)Sprache angemessen in der Sprachlehre (z.B. Varietäten, Konzepte von Frankophonie und Hispanophonie)? ; • Öffentliche Kommunikation auf verschiedenen Ebenen (z.B. Fachsprachen, Werbesprache, politische Sprache); • Mit Sprache(n) verbundene Repräsentationen, Sprachbewusstsein, Sprachidentität, Sprachpolitik (wobei besonders hier die Verbundenheit der verschiedenen Aspekte zu unterstreichen ist; ökolinguistische Perspektive des Erhalts der Vielfalt der Sprachen). Generell sollte im Sinne des oben unterstrichenen Gesellschaftsbezugs gelten, dass eine angewandte romanistische Linguistik eine Linguistik ist, die sich einmischt (vgl. den Beitrag von Joachim Born in diesem Band). Wie kürzlich gezeigt wurde (Osthus/ Polzin-Haumann 2006), ist ein solches Einmischen bislang eher nicht der Fall; vielmehr offenbaren sich Claudia Polzin-Haumann 8 in der öffentlichen Auseinandersetzung zu metasprachlichen Fragen, etwa in der Bewertung von Sprachwandel und Entlehnungen, wesentliche Unterschiede zwischen sog. Laienlinguisten (Sprachschützern und Sprachliebhabern) auf der einen und Sprachwissenschaftlern auf der anderen Seite. Beide Seiten verfolgen unterschiedliche Ziele; ihr Verhältnis ist teils durch Unverständnis für die jeweils andere Partei, teils durch offene Ablehnung geprägt (Osthus/ Polzin-Haumann 2006: 110- 112). Eine derartige Aufteilung der Aktionsgebiete 6 - ‘nüchterne’ Wissenschaft hier, Aufgreifen gesellschaftlich relevanter Themen dort - ist aus angewandt-linguistischer Sicht nicht nachvollziehbar. Die (romanistische) Linguistik sollte dies zum Anlass nehmen, über ihre gesellschaftliche Außenwirkung nachzudenken und sich - ohne historisch entwickelte, fachkonstituierende Positionen aufzugeben - gemäß der von Ortner/ Sitta (2003: 8) formulierten „Bringschuld der Wissenschaft gegenüber der Öffentlichkeit“ engagierter in die Gesellschaft bewegende Fragen einbringen. In der germanistischen Linguistik ist eine solche Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Relevanz der Disziplin deutlicher erkennbar (z.B. Linke/ Ortner/ Portmann-Tselikas 2003; Becker-Mrotzek/ Doppler 1999; Ehlich 2001), auch wenn Niederhauser (1999: 38) bemängelt: „Die Sprachwissenschaft deckt […] sprachbezogene Themen in der Öffentlichkeit nicht ab.“ Natürlich könnte man nun einwenden, dass die Romanistik eher mit anderen Fremdsprachenphilologien zu vergleichen sei als mit der Germanistik. Sicher bestehen zwischen beiden elementare Unterschiede - trotzdem: wenn die Romanistik in ihrer linguistischen Teilausbildung berufs- und damit gesellschaftsrelevantes Wissen vermitteln möchte, bedeutet dies, die Dimension der öffentlichen Thematisierung von sprachlichen Fragen in ihren Themenkatalog zu integrieren. Das Stichwort ‘gesellschaftliche Relevanz’ betrifft auch die Frage nach den Berufsperspektiven für Romanisten, die in den fachinternen Diskussionen kontrovers debattiert wird. In ihrer These 6 sprechen Erfurt/ Middell (1996: 11) diesen Aspekt an und formulieren provokativ, dass „[...] in der Hauptsache [...] die Romanistikausbildung noch immer auf bestimmte Berufsfelder (Lehrer, Übersetzer) bezogen [bleibt] und [...] sich 6 Schiewe (2003: 408-410) führt diese unterschiedlichen Interessensgebiete und Ausrichtungen von Sprachwissenschaft und Sprachkritik auf historische Ursachen zurück und datiert die Trennung beider Ansätze ins 19. Jahrhundert. Zentrale Positionen des Verhältnisses von Sprachkritik und Sprachwissenschaft, Fragen zur Überwindung der Trennung sowie Möglichkeiten einer linguistisch begründeten Sprachkritik werden von Schiewe (2003) und Wimmer (2003) diskutiert. Die Relevanz der Romanistik 9 mit der Vorstellung offensichtlich nur schwer anfreunden [kann], daß sie in der Hauptsache nur noch als Produzent eines Teils von Kombinationswissen gefragt ist.“ Eine wichtige Frage, die sich hieraus ergibt, ist die, ob man, angesichts der unbestreitbaren Verschiebungen in der Arbeitsmarktnachfrage, die romanistische Ausbildung auf andere konkrete Berufsbilder zuschneidet (wie dies mit konkreten Studiengängen an mehreren Universitäten praktiziert wird), oder ob man die Relation zwischen Fach und Gesellschaft auf andere, allgemeinere Weise herzustellen versucht. Eine ausführliche Antwort auf diese komplexe Frage kann an dieser Stelle angesichts der angestrebten Schwerpunktsetzung nicht gegeben werden. Angemerkt sei lediglich, dass die Feststellung vom Wegbrechen des traditionellen Ausbildungsziels angesichts großer Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern keinesfalls in dieser globalen Form aufrechterhalten werden kann 7 . Im übrigen ist den kritischen Überlegungen von Holtus zuzustimmen, der sich gegen die Rolle der Romanistik als „Produzent eines Teils von Kombinationswissen“ (1996: 36) wehrt und unterstreicht, dass es nicht darum gehen könne, „‘kombinierbare Wissens- und Methodenbestände’ bereitzuhalten, sondern selbst ein Angebot zu erarbeiten, das geeignet ist, die Relevanz romanistischer Lehr- und Forschungsinhalte und -methoden für die ‘Ausrichtung an transdisziplinären Großfragestellungen’ herauszustellen“ (ebd.: 37). Auch Raible (1998) und Kramer (1999) stimmen im Tenor überein, dass eine starre Zuordnung zu konkreten Berufsbildern - mit Ausnahme des Lehrerberufs - wenig praktikabel bis unmöglich ist. Aber wie sieht es aus mit dem Anwendungspotenzial romanistischer Ausbildung? RomanistInnen haben gelernt, sich wissenschaftlich mit einem anderen Kulturkreis auseinanderzusetzen. Sie beherrschen im Idealfall zwei 8 romanische Sprachen mehr oder weniger fließend 9 und haben Wissen und Kompetenzen erworben, die ihnen die Kommunikation mit Mitgliedern (mindestens) eines anderen Kulturkreises 7 In Hessen beispielsweise gilt Spanisch derzeit als Mangelfach, HispanistInnen können hier mit bevorzugter Einstellung rechnen. 8 Dies stellt ein wichtiges Merkmal gerade der deutschsprachigen Romanistik dar, das Raible (1998: 260f.) unter den Stichwörtern Interdisziplinarität und Komparatistik als wichtiges Kapital des Faches betrachtet. 9 Die Sprache macht freilich nicht die Hauptsache eines - wie auch immer geprägten - Romanistikstudiums aus, wenngleich dies erfahrungsgemäß die Einstellung vieler Studienanfänger ist. Fragt man Studierende vor allem in Anfangssemestern nach ihrem Studienfach, hört man vielfach die Antwort ‘Französisch’ oder ‘Spanisch’. Claudia Polzin-Haumann 10 gestatten. Daraus ergeben sich die unterschiedlichsten Berufsperspektiven. Die wichtigsten seien kurz angerissen: • Wirtschaft/ Unternehmenskommunikation (z.B. Koordination der Zusammenarbeit deutscher Konzerne mit ihren Tochterfirmen in romanischen Sprachräumen 10 ), • Wissenstransfer im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit, • Internationale Organisationen, • Öffentlichkeitsarbeit, • Kulturmanagement (Museen, Kunst, Literatur, Tourismus, Kulturpolitik u.a.), • Medien (Verlage u.a.), • Bildung (Weiterbildung wirtschaftlicher Führungskräfte u.a.). Von wesentlicher Bedeutung erscheint in allen Fällen die Kombination von fachwissenschaftlichen Kompetenzen und kulturellen wie sprachlichen Schlüsselqualifikationen. Dies stellt auf jeden Fall ein wichtiges, ja ein zunehmend wichtigeres Kapital dar, das die angewandte romanistische Linguistik ausbauen sollte, zumal Wannewitz (1999: 89) nach ihrer Untersuchung 11 zu dem Ergebnis kommt, dass „[…] die negativen (emotionalen) Markenwerte der Geisteswissenschaftler […] ihre vorhandenen Produktwerte so stark [überlagern], daß eine objektive Beurteilung dieser Bewerber/ innen durch die einstellenden Unternehmen zugunsten anderer Absolventen häufig nicht stattfindet. Auf diese Weise werden vor allem die ausgeprägten Schlüsselqualifikationen der Geisteswissenschaftler bei der Einstellungsentscheidung von den Unternehmen nicht ausreichend berücksichtigt.“ 10 Der Weg in die Wirtschaft wird häufig über Praktika und andere Zusatzqualifikationen geebnet, um die sich die Studierenden während des Studiums mehr oder weniger selbstständig bemühen müssen. Im BA-Studiengang Romanistik der Universität des Saarlandes etwa sind berufsqualifizierende Praktika integraler Bestandteil des Modulplans. 11 Die Untersuchung beruht auf einer Befragung von 427 (159) Personalleitungen der größten in der Bundesrepublik Deutschland tätigen Unternehmen (ebd.: 68). Die Relevanz der Romanistik 11 3.2. Vernetzungsaufträge und Konfliktpotenziale einer Disziplin an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft: Beispiel Lehrerausbildung Angewandte Linguistik ist, hier herrscht Konsens (z.B. Schiffler 1990, Knapp ²2007: 1-4), eng mit den vielfältigen Aspekten des Spracherwerbs verbunden. Aus romanistischer Sicht wurden diese Aspekte allerdings bislang so gut wie gar nicht untersucht 12 . Die an der Lehrerausbildung beteiligten Disziplinen (Fachwissenschaften, im gegebenen Fall Linguistik und Literaturwissenschaft 13 , daneben Sprachlehrforschung, Fremdsprachendidaktik) haben sich eher auf eigene Forschungs- und Lehrgebiete zurückgezogen und ihre zweifellos vorhandenen Berührungspunkte nicht kultiviert, im Gegenteil: Die jeweils andere Seite wurde bzw. wird oft als Problem wahrgenommen: Königs (2002: 22f.) stellt treffend fest, dass „[...] viele Fachwissenschaftler die Fachdidaktik (immer noch) als lästigen Wurmfortsatz betrachten [...]“, während seitens der Fachdidaktik oftmals die Einstellung vorherrscht, dass die Fachwissenschaft keine Ahnung von den praktischen Anforderungen des Schulalltags habe (ebd.: 31) 14 . Beide Einstellungen sind zweifellos einem fruchtbaren Austausch über enge Fachgrenzen hinweg nicht zuträglich und mögen zumindest bis zu einem gewissen Grad den Umstand erklären, dass ein solcher bislang eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Kurz: Es besteht offenbar ein Theorie-Praxis-Problem. Erhebungen zufolge besitzen Lehrer in der Regel zwar ausreichend Fachkompetenz, aber oftmals keine angemessenen didaktischen, pädagogischen und diagnostischen Fähigkeiten (Königs 2002: 22). Die linguistische Ausbildung, die sie während ihres Studiums erworben haben - laut Jodl (2006: 5) macht diese in einem klassischen Philologiestudium ca. 30% aus - können sie offenbar nicht mit der schulischen und unterrichtlichen 12 Michel (2006) legt den Schwerpunkt auf die Didaktik; Harden (2006) stellt interdisziplinäre Bezüge her, arbeitet aber nicht spezifisch romanistisch, um nur zwei rezente Beispiele zu nennen. 13 Die auch an der Lehrerausbildung beteiligte Sprachpraxis wird hier nicht als Forschungsgebiet aufgefasst; vgl. aber unten Kap.4. 14 Königs (2002: 31) führt hier exemplarisch ein Zitat an, das tatsächlich viele ReferendarInnen sinngemäß zu Beginn der zweiten Ausbildungsphase gehört haben dürften: „Jetzt vergessen Sie erst einmal, was Sie auf der Universität alles gemacht haben. Hier läuft alles ganz anders.” Claudia Polzin-Haumann 12 Praxis verbinden 15 . Das Desiderat, dessen sich eine angewandte romanistische Linguistik annehmen muss, besteht also darin, die sie betreffenden fachlichen Inhalte mit Blick auf die Notwendigkeiten der Lehrpraxis integriert zu vermitteln. Konkrete Vorschläge hierzu legt Zydatiß (1998: 313- 315) im Rahmen von grundlegenden Überlegungen zu einer Reform der Fremdsprachenlehrerausbildung dar. Zentral ist hierbei insgesamt der Gedanke, dass „[...] [d]ie künftigen Fremdsprachenlehrer nicht weniger linguistische Theorie [brauchen], sondern zum Teil andere Inhalte und Erkenntnisse als der Philologe herkömmlicher Art“ (Zydatiß 1998: 314). Im Einzelnen ist dem Autor zuzustimmen, wenn er etwa „[...] solide sprachwissenschaftliche Kenntnisse in Bezug auf die Geschichte und Struktur der jeweiligen Zielsprache sowie deren regionale, soziale und funktionale Varietäten“ (ebd.: 313) fordert, jedoch zugleich anmahnt, dies mit Blick auf die später für die unterrichtliche Umsetzung notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln (vgl. für detaillierte Überlegungen hierzu Polzin- Haumann 2008). Dem erwähnten Theorie-Praxis-Problem kann man ebenso durch die Verbindung von sprach- und literaturwissenschaftlichen Inhalten begegnen, wie Fritz (2008) in seinem Beitrag zu einer schulgerechten didaktischen Aufbereitung frankophoner Literatur Afrikas anschaulich zeigt. Das literaturbzw. kulturwissenschaftliche Gebiet der postcolonial studies lässt sich am konkreten Beispiel eines Romans (hier Allah n’est pas obligé (d’être juste dans toutes ses choses ici-bas) von Ahmadou Kourouma) durchaus mit diatopischen Merkmalen des afrikanischen Französisch und sprachlich-kulturellen Elementen der afrikanischen Frankophonie (individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit, Französisch im Kontakt mit afrikanischen Sprachen, Status und Funktionsprofil der verschiedenen Sprachen u.a.) verbinden. Eine angewandte romanistische Linguistik kann außerdem dazu beitragen, das Bewusstsein für die Wichtigkeit der verschiedenen diasystematischen Ebenen sowohl für den gesteuerten L2-Erwerb als auch für die Sprachvermittlung zu schärfen: Variation und Varietäten bedeuten nicht zuletzt auch Normenpluralität; sie stehen in engem Zusammenhang mit der Frage nach der jeweils adäquaten Norm, ein Problem, das weit über den Aspekt der rein grammatischen Korrektheit hinausgeht und für 15 Wobei zu unterstreichen ist, dass es in der Unterrichtspraxis nicht um eine bloße konkrete Anwendung oder Umsetzung der fachwissenschaftlichen Inhalte geht; vgl. hierzu auch Steinbrügge (2008). Die Relevanz der Romanistik 13 den wichtigen Bereich des interkulturellen sprachlichen Handelns von zentraler Bedeutung ist. Schließlich kommt der angewandten romanistischen Linguistik auch im Rahmen des vor allem auf europäischer Ebene 16 zunehmend wichtigen Konzepts der Mehrsprachigkeit und der Mehrsprachigkeitsdidaktik (Frings 2006, Meißner/ Reinfried eds., 1998) mit den in den Blick rückenden Aspekten der Sprachenbzw. Sprachfamilienähnlichkeiten 17 sowie sprachtypologischen Fragen eine wichtige Rolle zu. Schröder (2005: 107, 109f.) kann damit nur bedingt zugestimmt werden, wenn er unterstreicht, dass der erforderliche ‘gesellschaftliche Nutzen’ der Romanistik über einen geänderten Umgang mit der Didaktik erreicht werden kann 18 : Sicher muss die Vermittlungsebene gestärkt werden (2005: 109), aber kann dies nicht effektiver durch eine integrale Sicht, wie sie eine angewandte romanistische Linguistik idealiter vertritt, umgesetzt werden als durch eine grundsätzliche Aufrechterhaltung der Trennung zwischen Theorie und Praxis? Dies ist nicht als Plädoyer für eine Auflösung weder der Sprachlehrforschung noch der Fachdidaktik zu verstehen. Doch die Unterscheidung, wie sie traditionell gezogen wird zwischen Fachwissenschaft und Vermittlungswissenschaften, zwischen Sprachwissenschaft auf der einen und Sprachlehrforschung und Fachdidaktik auf der anderen Seite, jede primär oder ausschließlich mit ihren je spezifischen Fragestellungen, Schwerpunktsetzungen und Zielen beschäftigt, bietet für die komplexe Wirklichkeit der heutigen Gesellschaft, die die engen Disziplingrenzen überschreitet, wenig Perspektiven. 4. Angewandte romanistische Linguistik heute: Schlussbemerkungen und Ausblick Eine angewandte romanistische Linguistik im Dienste gesellschaftlicher Wirklichkeiten und Forschungszusammenhänge ist, das sollte hier bei- 16 Wichtiger Orientierungspunkt ist hier der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (übers. 2001). 17 Vgl. z.B. Projekte wie EuroCom, in denen systematisch die auf genealogischer Ebene bestehenden Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, um damit (primär rezeptive) Mehrsprachigkeit in Sprachenfamilien zu erreichen (http: / / www.eurocom.uni-saarland.de/ ). 18 „Natürlich braucht die Franko-Romanistik Didaktiker, die mit einem weiten Konzept von Didaktik und sprachenübergreifend an ihrer [sic] Aufgabe herangehen, die das Fach kennen, auch in seinen Problematiken, gleichzeitig aber fähig sind, schulischen Unterricht, Französischunterricht, zu durchschauen“ (2005: 110). Claudia Polzin-Haumann 14 spielhaft gezeigt werden, eine Disziplin, die sich auf multiple Weise durch Vernetzungen auszeichnet: • Vernetzungen innerhalb des Faches, zwischen sprach-, literatur- und kulturwissenschaftlichen 19 Teilbereichen sowie Sprachpraxis; • Vernetzungen zwischen Theorie und Praxis (z.B. Linguistik, Lehrerausbildung, Schule), zum einen durch die Rezeption und die Integration linguistischer Forschungsergebnisse in die Sprachlehre, zum zweiten und vor allem durch eine romanistische Linguistik, die bereits im universitären Linguistikunterricht die späteren Vermittlungsprozesse in den Blick nimmt; • auf die vernetzte Praxis ausgerichtete Forschungsinhalte 20 . Eine umsetzungsorientierte und gesellschaftsbezogene, also eine angewandt-romanistische Linguistik, die generell für Studierende, besonders aber für zukünftige Lehrer 21 ein Maximum an Erkenntnispotenzial beinhaltet, erfordert, linguistische Methoden und Inhalte mit Blick auf ihre späteren Anwendungskontexte aufzubereiten. Denn wenn im universitären Linguistikunterricht - je nach Universität bzw. betreffendem Institut sogar überwiegend - zukünftige Fremdsprachenlehrer ausgebildet werden, werden die Lerner mit linguistischen Fragestellungen, Inhalten und Methoden konfrontiert, die sie später ggf. als Lehrer vermitteln. Die Linguistik selbst hat also über die Schulrelevanz der Lehr- 19 Die auch in der Abschlussdiskussion des diesem Band vorausgegangenen Romanistischen Kolloquiums aufgegriffene Frage nach dem Verhältnis von Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft soll hier nicht diskutiert werden; vgl. hierzu programmatisch Gardt (2003) und Wengeler (2006). 20 Dies entspricht m.E. der Forderung von Kramer nach „praktischer Bodenhaftung“ der Romanistik, die der Autor auf der Grundlage seiner Kritik an der derzeitigen Situation der Romanistik formuliert, in der er diagnostiziert: „Von dem, was heute in der romanistischen Forschung abläuft, findet kaum etwas seinen Niederschlag in der Lehre, und für die meisten Felder beruflicher Praxis ist weder das, was geforscht wird, noch das, was gelehrt wird, von irgendeiner auf den ersten Blick sichtbar werdenden Relevanz“ (1999: 56). Bezeichnend ist es übrigens, dass Kernüberlegungen zu diesen Aspekten schon von Raasch (1980) geäußert wurden, jedoch auf allgemeiner Ebene und ohne Bezug auf romanistische Realitäten - dies mag zumindest ein Grund dafür sein, dass entsprechende Ansätze sich hier nicht entwickeln konnten. 21 Die Frage der Anwendungsbezogenheit stellt sich in grundsätzlich ähnlicher, wenn auch konkret unterschiedlicher Weise für weitere, oben skizzierte künftige Arbeitsbereiche heutiger Romanistik-Studierender sowie für weitere romanistische Forschungsgebiete, wie die vielfältigen Beiträge in diesem Band zeigen. Die Relevanz der Romanistik 15 und Lerninhalte nachzudenken. Dieser Schritt - das sei nochmals betont - bedeutet keine Verringerung linguistischer Inhalte; er bezieht sich allein auf ein gründliches Abwägen von für die spätere Praxis relevanten Inhalten. „Eine fremde Sprache als Lernsprache modellieren zu können [...], läßt die Fähigkeit von Studierenden, gegenstandsbezogene Deskriptionen von authentischer, textgebundener Sprache in realen Verwendungssituationen leisten zu können, als vorrangiges Ziel der sprachwissenschaftlichen Ausbildung erscheinen“, unterstreicht Zydatiß (1998: 314). Dies schließt aber z.B. Aspekte der geschichtlichen Entwicklung der Zielsprache als curriculare Inhalte keineswegs aus, um nur ein Beispiel zu nennen. Die (verstärkte) Ausrichtung der romanistischen Linguistik auf anwendungsorientierte Fragestellungen - in den vielfältigen Formen, die hier skizziert wurden - erscheint damit als angemessene Antwort auf die in den gegenwärtigen Debatten um die Neugestaltung der universitären Ausbildung immer wieder geäußerte Forderung, die Studieninhalte auf ihre Praxisrelevanz zu hinterfragen. Insbesondere die Reform der Lehramtsstudiengänge ist u.a. mit der Aufgabe verbunden, die Fachinhalts- und die Vermittlungsebene besser zu verzahnen, ein Desiderat, auf das in Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung schon seit längerem aufmerksam gemacht wird (z.B. Zydatiß 1998, Königs 2002, Meißner 2000). Änderungen sind also, wie gezeigt, nicht nur in der sprachpraktischen Ausbildung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer nötig, wie Meißner (2000: 49) zu Recht betont, sondern ebenso in der linguistischen Ausbildung. 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Romanistik und Linguistik Wissenschaftliche Disziplinen sind bekanntlich nicht ausschließlich über ihren Objektbereich zu fassen, sondern sind auch und vor allem sozialkonstruierte Phänomene, deren genaue Abgrenzbarkeit zu Nachbarbereichen nur selten gegeben ist. Ähnlich wie in anderen Fällen von Kategorisierung - auch schon im vorwissenschaftlichen ‚Worten der Welt’ - besteht einerseits die Erwartung präziser Abgrenzungen und/ oder Definitionen, andererseits kann dieser nur in Teilbereichen entsprochen werden. Im Allgemeinen wird zwar bei ‚Wissenschaft’ eine ganz besondere Affinität zu Präzision gesehen, aber auch hier ist die entsprechende Umsetzung weit weniger absolut als von vielen angenommen, und dies nicht nur unter postmodernen epistemologischen Vorzeichen (vgl. Stegu 1998). Dieser Befund gilt sowohl innerhalb der Einzeldisziplinen als auch auf der Metaebene der Wissenschaftstheorie und -systematik. Wenn man sich nur ein wenig damit beschäftigt, ist dem Gesamtgebäude der Wissenschaft sein Dauerstatus als work in progress leicht anzusehen. Diese Vorbemerkung soll u.a. als Erklärung dazu dienen, warum das Verhältnis zwischen „Romanistik“ und „Linguistik“ (im Besonderen: „Angewandter Linguistik“) nicht ein bereits lange oder gar a priori geklärtes ist. Sozial als solche anerkannte Disziplinen verfügen über Martin Stegu 22 eigene Lehrstühle, Journale, wissenschaftliche Gesellschaften, und in unserer Wahrnehmung vermischen sich oft die hier direkt zugänglichen Eindrücke mit prinzipielleren Überlegungen bzw. überlagern diese - so ist Romanistik für uns oft nur, was in (den meisten? ) romanistischen Seminaren, Instituten, Departments gemacht wird, während Linguistik mit dem identifiziert wird, was an uns bekannten linguistischen Professuren an Forschung betrieben wird. Bei den entsprechenden Interessens- und Forschungsbereichen kommt es hier jedoch zwangsläufig zu Überschneidungen, die wohl nicht durch normative Intervention vermieden werden können oder sollen. Schon das gegenseitige hierarchische Verhältnis von Einzel- (bzw. ‚Sammel’-) Philologien wie Romanistik, Anglistik, Slawistik usw. zur (allgemeinen) Linguistik zeigt die ganze Komplexität des Problems. Einerseits ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprachstrukturen und -funktionen nur untergeordneter Teilbereich der Gesamtromanistik, gemeinsam mit (oder realistischer formuliert: parallel zu) literatur- und kulturwissenschaftlichen sowie landeskundlichen Interessen, andererseits ist die (allgemeine) Linguistik im Verhältnis zur ‚romanistischen Linguistik’, die sich quasi ausschließlich nur mit romanischen Sprachphänomenen befasst, Letzterer hierarchisch übergeordnet. (Die hierarchischen Strukturen werden noch komplexer, wenn wir auch die Ebenen der romanischen Einzelsprachen inklusive der dort zu unterscheidenden Diasysteme einfügen.) Ist denn „romanistische Linguistik“ nur „allgemeine Linguistik mit romanischen Beispielen“, oder hat sie noch andere zusätzliche Eigenschaften? Ich würde eher Ersteres annehmen; etwaige Unterschiede sind kontingent und erklären sich aus verschiedenen (wissenschaftssoziologisch zu erklärenden) Traditionen, sie sind aber nicht prinzipieller Natur. Eine andere Frage, deren Beantwortung auch nicht überall gleich ausfallen wird, ist, ob z.B. „französ(ist)ische Linguistik“ automatisch immer auch „romanistische Linguistik“ ‚ist’, oder ob letzterer Ausdruck nur dann verwendet werden soll, wenn übereinzelsprachliche Aspekte innerhalb der Romania untersucht werden. Ähnlich wie beim altbekannten Zeit-Paradoxon - dass wir so lange ‚wissen’, was Zeit ist, bevor wir nicht beginnen, genauer darüber nachzudenken - funktioniert wissenschaftliche Praxis selbst dann sehr gut, wenn bestimmte grundsätzliche wissenschaftstheoretische und - systematische Aspekte noch immer nicht endgültig gelöst sind. Ich glaube nicht, dass z.B. an konkreten französisch-deutschen kontrastiven Sprachanalysen interessierte ForscherInnen in ihrer Arbeit deshalb Romanistik, Angewandte Linguistik und Sprachbewusstsein 23 gehemmt sind, weil sie jetzt nicht genau wissen, ob sie romanistische, französistische, germanistische, allgemeine oder auch Angewandte Linguistik betreiben. Andererseits darf es auch nicht ausgeschlossen sein, dass LinguistInnen sich immer wieder mit disziplinären und wissenschaftstheoretischen Grundsatzfragen befassen, und dies ist gerade auch in einem Kontext des allgemeinen Interdisziplinaritätsdiskurses sehr anzuraten, nicht unbedingt, um die eigene Disziplin vor dem Gespräch mit anderen in ihrer Eigenart total abzugrenzen, sondern um sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen disziplinärer selbst- und fremdgesteuerter Identitätskonstruktion zu reflektieren. Ähnlich wie bei sich neu herausbildenden Nationen sind Abgrenzungsfragen mitunter sehr heikel und werden tendenziell fast radikal geführt (etwa wenn die relativ junge Translationswissenschaft einerseits sich selbst als „Interdisziplin“, vgl. Snell- Hornby 1994a, sieht, andererseits LinguistInnen die Zuständigkeit für ‚allgemeine’ übersetzungsbezogene Fragestellungen inzwischen abspricht, vgl. Stegu 1997). Abgrenzung und ein sekundäres Sich-wieder-Öffnen sind m.E. zwei Seiten ein und desselben heuristisch-konstruierenden Spiels, und eine etwas relativierende Position, die von prototypischen Modellen ausgeht, d.h. zwar (proto-)typische Kernbereiche, aber eher vage und offene Übergangsbereiche in periphere[re]n Zonen annimmt, würde auch dem disziplinären - und hier auch vor allem interdisziplinären - Diskurs nicht unbedingt schaden. Auch wenn auf die besondere Rolle der Angewandten Linguistik (AL) erst weiter unten näher eingegangen wird, soll hier bereits auf eine besondere Querverbindung mit potenziellem Synergieeffekt hingewiesen werden: Die AL interessiert sich besonders für Diskurse und hier auch für die diskursive Konstruktion sozialer Wirklichkeit. Eine lohnende Aufgabe wäre es daher beispielsweise, disziplinbezogene Textpassagen - sozusagen „mission statements“ - in Einführungswerken, Homepages der entsprechenden wissenschaftlichen Gesellschaften etc. diskursanalytisch zu untersuchen. Auch hier hätten wir es dann mit einem Umkippen der Hierarchierelationen zu tun: die Angewandte Linguistik nicht als weiter unten angesiedeltes Subfeld einer Einzeldisziplin, sondern als Analyseinstrument und damit Metadisziplin für den wissenschaftstheoretischen und insbesondere disziplinenbezogenen Diskurs. Martin Stegu 24 3. Angewandte Linguistik Eine sehr gute Einführung in Entstehung und Status der Angewandten Linguistik - und dies nicht nur in ihrem Verhältnis zur Romanistik oder zur romanischsprachigen Welt - geben Platen/ Vogel 2001 (im Rahmen des Lexikons der Romanistischen Linguistik). Dabei verweisen sie darauf, dass es sich bei der Angewandten Linguistik um eine „vergleichsweise junge Bezeichnung für ein jahrhundertealtes Konzept“ (Platen/ Vogel 2001: 69) handle, und es „konkrete Anwendungen der Sprachwissenschaft, eine AL avant la lettre also“ schon immer gegeben habe (ebd.). Standen am Anfang der institutionellen Geschichte, so beim ersten Kongress der AILA (Association Internationale de Linguistique Appliquée) in Nancy 1966, noch „Traduction automatique/ Pédagogie des langues vivantes“ im Mittelpunkt (vgl. Platen/ Vogel 2001: 71) und war besonders auch im angelsächsischen Raum eine besondere Affinität von applied linguistics und (fremd-) sprachenbezogenen Fragen festzustellen (die teilweise noch immer implizit und explizit besteht), hat sich das Forschungsinteresse über Fragen des Erstspracherwerbs immer mehr in Richtung „Kommunikationsaspekte und -probleme“ ausgeweitet, und wir kommen zu so einer umfassenden Definition wie „the theoretical and empirical investigation of real-world problems in which language is a central issue” (Brum t 1997: 93). Die Homepage des Weltkongresses für Angewandte Linguistik der AILA (= Association Internationale de Linguistique Appliquée) in Essen 2008 zählt folgende angewandt-linguistische Hauptbereiche auf: The problems Applied Linguistics deals with range from aspects of the linguistic and communicative competence of the individual such as first or second language acquisition, literacy, language disorders, etc. to language and communication related problems in and between societies such as e.g. language variation and linguistic discrimination, multilingualism, language conflict, language policy and language planning. (http: / / www.aila2008.org/ applied-linguistics.html, konsultiert im April 2008) Platen und Vogel fassen das gesamte Spektrum recht pointiert in folgender Weise zusammen: Das mit AL verbundene Begriffsverständnis variiert je nach wissenschaftspolitischem Standpunkt recht stark, ist zudem von Land zu Land unterschiedlich akzentuiert und scheint dadurch auch zeitbedingten Differenzierungen zu unterliegen; kleidet man das derzeitige konzeptionelle Spektrum in ein konsumbezogenes Bild, so ergibt sich zugespitzt formuliert der folgende Stand: auf der einen Seite ein eher bescheidener Kiosk, der vor allem Romanistik, Angewandte Linguistik und Sprachbewusstsein 25 Gebrauchsgüter für die (Fremd-) Sprachendidaktik offeriert, auf der anderen ein riesiger Hypermarché, dessen Angebotspalette all das enthält, was einer - wie auch immer gearteten - theoretischen oder „Reinen Linguistik“ […] antithetisch gegenübergestellt werden kann. (Platen/ Vogel 2001: 69) Zusätzlich zu Platen/ Vogel 2001 möchte ich noch fünf Punkte besonders hervorheben: a) das Verhältnis von applied linguistics und linguistics applied bzw. die Rolle der Theorie(n) in der angewandten Linguistik, b) die Unterscheidung einer kritik- und effizienzorientierten Richtung, c) das Verhältnis von „fremd-/ zweitsprachlicher (L2-/ Ln-)“ und „muttersprachlicher (L1-)“ Orientierung, d) die Tendenz angewandt-linguistischer Subdisziplinen, sich als eigene Disziplinen zu verselbstständigen, e) die besondere Rolle von language awareness für die AL. Punkt e) wird der Abschnitt 4 gewidmet sein, die Punkte a) bis d) will ich noch im vorliegenden Kapitel behandeln. ad a) Ganz zu Beginn der Angewandten Linguistik war man vielfach der Meinung, existierende (oder noch zu schaffende) linguistische Theorien (z.B. Grammatiktheorien) könnten und sollten direkt in Anwendung umgesetzt werden. In dieser Konzeption wäre die Angewandte Linguistik als solche theorielos, die entsprechenden Theorien wären in der Theoretischen Linguistik zu finden. Diese Sichtweise wurde dann „linguistics applied“ genannt (vgl. Widdowson 2000), während man für „applied linguistics“ immer mehr zur Überzeugung gelangte, dass sie eigener spezifischer Theorien bedarf. Wodak 2001 unterscheidet schließlich zwischen „theoretical applied linguistics“ und „applied applied linguistics“. Terminologisch befriedigen diese Bezeichnungen nicht sehr; im Deutschen würde sich dieses Problem lösen oder zumindest abmildern lassen, wenn wir „applied linguistics“ durch „anwendungsorientierte Linguistik“ ersetzen wollten, wodurch Erweiterungen wie „theoretische anwendungsorientierte Linguistik“ und „angewandte anwendungsorientierte Linguistik“ viel weniger widersprüchlich bzw. tautologisch erscheinen würden. Freilich hat sich inzwischen „applied linguistics“ als „angewandte Linguistik/ Sprachwissenschaft“ bereits so etabliert, dass sich die Bezeichnung „anwendungsorientiert“ kaum mehr durchsetzen würde. ad b) Die AL besteht aus einer Reihe von Subdisziplinen (auf die gleich weiter unten - unter c - eingegangen wird); wenn wir uns deren jeweilige Anwendungsbereiche ansehen, lassen sich zwei Richtungen feststellen, eine „kritikorientierte“ und eine „effizienzorientierte“. Die Kritische Martin Stegu 26 Diskursanalyse z.B. (vgl. Fairclough 1995, Jäger 2004) ist, wie ihr Name schon sagt, a priori kritikorientiert, Sprachlehrforschung (vgl. Edmondson/ House 2006) eher effizienzorientiert (um besseren „Fremdsprachenoutput“ zu erzielen), obwohl auch hier kritische Analysephasen möglich und notwendig sein können. In manchen Fällen erscheinen sowohl die kritikals auch die effizienzorientierte Richtung gleich sinnvoll und komplementär, obwohl verschiedene communities jeweils nur einer von ihnen den Vorzug geben. So kann etwa die Auseinandersetzung mit Werbekommunikation (vgl. Janich 2005) entweder unter dem Vorzeichen der Aufdeckung manipulativer Mechanismen (meist auch mit ideologiekritischem Anspruch) oder im Hinblick auf eine noch wirksamere, letzten Endes profitorientierte Gestaltung von Werbeanzeigen betrieben werden. Da in diesem Zusammenhang keine normativen Vorgaben getätigt werden sollen („Angewandte Linguistik hat vor allem x [und nicht y] zu sein.“), sei nur auf die entsprechende Bandbreite der Angewandten Linguistik hingewiesen und höchstens der Wunsch ausgesprochen, jeweils beide Ansätze im Auge zu behalten (im Sinne einer entsprechenden awareness, siehe weiter unten), auch wenn dann pragmatische Entscheidungen getroffen werden (müssen), die eher in die eine oder in die andere Richtung gehen. ad c) Wie bereits erwähnt, besteht ursprünglich ein naher Zusammenhang zwischen der AL und dem Lernen/ Erwerben zusätzlicher Sprachen; abgesehen vom Interesse auch am Erstspracherwerb ist die Erweiterung in Richtung „allgemeine Kommunikationsprobleme“ erst später als zentrales Interessensgebiet der AL dazu gekommen. Im Fall der deutschen Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e.V.; www.galev.de) scheint letzterer Bereich besonders stark vertreten zu sein, weil hier vor allem an diesen Fragen interessierte GermanistInnen sehr stark repräsentiert sind (und die FremdsprachenforscherInnen vor allem in der vor Jahren mehr oder minder von der GAL abgespaltenen Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF; www.dgff.de) ihre neue ‚Heimat’ gefunden haben). Ein Punkt, der mir jedoch sehr wesentlich erscheint, ist folgender: Die totale Trennung in L1- und L2bzw. Ln-bezogene Fragen lässt sich weniger denn je aufrechterhalten. Wenn es beispielsweise um die Problematik von Verkaufsgesprächen geht, müssen immer mehr Menschen diese sowohl in ihrer Mutter- oder Haupt-Kultursprache als auch in Englisch, eventuell auch in einer weiteren Sprache führen können. Daher gehört das Thema „Verkaufsgespräch“ sowohl in den L1als auch L2- Romanistik, Angewandte Linguistik und Sprachbewusstsein 27 / Ln-Forschungsbereich der AL. Auch wenn in gewissen Lernphasen volle Konzentration auf eine einzige Sprache angebracht sein kann, gehört die Zukunft des Sprachunterrichts einer Mehrsprachigkeitsdidaktik, die auch die L1 miteinbeziehen muss (die L1 der ‚Mehrheitsbevölkerung’ aber auch die tatsächliche[n] L1 der jeweiligen SprecherInnen). Die sich immer mehr ausweitende europäische und globale Mehrsprachigkeit führt somit Bereiche der AL wieder zusammen, die für sehr lange Zeit eher getrennt gesehen und untersucht worden sind. ad d) In Zeiten immer weiter fortschreitender Wissensdifferenzierung und -spezialisierung besteht die Tendenz, dass sich einzelne Subdisziplinen immer mehr abkapseln und ihre VertreterInnen keine Zugehörigkeit zu ihren ursprünglichen ‚Mutterdisziplinen’ mehr verspüren. Diese Autonomisierung von Subdisziplinen wird oft zusätzlich mit deren vorliegender Interdisziplinarität begründet, die (angeblich) von der ursprünglichen (hier: Sprach-) Wissenschaft immer mehr wegführt. So hört man des Öfteren u.a. von ÜbersetzungswissenschaftlerInnen, Interkulturellen KommunikationsforscherInnen und auch FremdsprachendidaktikerInnen (vgl. die vorhin erwähnte Gründung der DGFF), dass ihre wissenschaftlichen Interessen nicht mehr hauptsächlich durch (traditionell) linguistische Ansätze befriedigt werden können. Dieses Argument kann nur teilweise überzeugen, weil die „Interdisziplinarisierung“ potenziell jedes Fach treffen kann, ohne es dadurch gleich aufzulösen, und die Angewandte Linguistik ohnehin meist „Linguistik und noch etwas anderes“ ist. Im Emanzipierungsprozess der Übersetzungswissenschaft wurde meist die Loslösung von einer Linguistik propagiert, die es ja eigentlich gar nicht mehr gab (als ausschließliche „Systemlinguistik“; vgl. Snell- Hornby 1994b). Es ist nicht einzusehen, warum etwa ein Faktor „Übersetzungsauftrag“ nur von einer unabhängigen Translatologie, und nicht auch von einer Kontextfaktoren einbeziehenden AL mitberücksichtigt werden kann. Dies soll keineswegs bedeuten, dass die ‚Rechtmäßigkeit’ einer eigenständigen Translationswissenschaft etc. in Frage gestellt werden soll. Ähnlich wie im Fall der Entstehung neuer Staaten und Nationen ist hier der Wille der entsprechenden community maßgeblich; problematisch ist nur die Stützung mit Argumenten, die einfach nicht haltbar sind. Genauso wie in anderen Bereichen die Pluralisierung von Identitäten Thema ist, wäre auch hier eine Lockerung disziplinärer Zuschreibungen empfehlenswert. Das etwas unbefangenere Umgehen mit Kategorien- Martin Stegu 28 grenzen, wie es sich seit dem Auftauchen der Prototypensemantik durchgesetzt hat, könnte und sollte auch für die Abgrenzung bzw. eben auch Nichtabgrenzung von Wissenschaftsdisziplinen gelten (wenn dies auch bisweilen für den praktischen Wissenschaftsbetrieb einige Probleme mit sich bringen dürfte). Der Entscheidungszwang „entweder innerhalb oder außerhalb der AL“ muss nicht immer zielführend sein. De facto ist es ohnehin so, dass bei vielen (den meisten? ) Subdisziplinen der AL ihre genaue Verortung in dieser nicht ganz festzumachen ist, man denke etwa auch an die (nicht ausschließlich angewandt betriebenen) Bereiche Kontrastive Linguistik, Psycho- und Soziolinguistik. Die Reflexion über deren Stellung im Gebäude der (Sprach-) Wissenschaft ist m.E. theoretisch wertvoll, aber sie muss - in einem (post-) postmodernen Wissenschaftskontext - nicht zu endgültigen und unverrückbaren Zuordnungen führen. Die gerade geäußerten einerseits ‚zuordnungsskeptischen’, andererseits ‚zuordnungsliberalen’ Überlegungen gelten im Übrigen ceteris paribus auch für das Verhältnis zwischen der Angewandten Linguistik (als Gesamtdisziplin, aber auch ihren Subdisziplinen) und der Romanistik. 4. Language Awareness und Angewandte Linguistik 4.1. Was bedeutet „Language Awareness“? Wie wohl nicht anders zu erwarten, existiert im - überdies noch eher jungen - Forschungsfeld „Language Awareness“ kein einheitlich definitorisches Bild darüber, was diese Bezeichnung alles umfasst (vgl. dazu auch die seit 1991 erscheinende gleichnamige Zeitschrift). Es ist nicht einmal geklärt, ob es sich hier um eine weitere eigene (angewandt-) linguistische Subdisziplin handelt, nur um einen eher beschränkten Objektbereich oder um einen ganz speziellen approach oder Blickwinkel für (quasi jede? ) sprach- und kommunikationsrelevante Fragestellung. Wie auch aus den weiteren Ausführungen hervorgeht, wird hier die Meinung vertreten, dass Sprachbewusstheit ein ganz wesentlicher Bestandteil angewandt-linguistischer Betätigung ist, vor allem in Hinblick auf eine Förderung, Verbesserung usw. dieser Bewusstheit, der man im Englischen oft unter der Bezeichnung awareness raising begegnet (vgl. http: / / ec.europa.eu/ education/ policies/ lang/ awareness/ konsultiert im April 2008). Romanistik, Angewandte Linguistik und Sprachbewusstsein 29 Bei einer näheren Auseinandersetzung mit dem Language-Awareness- Begriff wären beide Bestandteile abzuklären, der language- und der awareness-Aspekt (vgl. dazu Stegu/ Wochele 2006). Aus verschiedensten Gründen trete ich für eine sehr breite Interpretation von language awareness ein, weil es sich auf jeden Fall um ein großes zusammenhängendes Feld handelt, dessen Teilbereiche mit fließenden Grenzen ineinander übergehen. Die „Bewusstheit“ beginnt bei mehr oder minder automatisch ablaufenden punktuellen Aufmerksamkeitsphänomenen und endet bei sehr elaborierten wissenschaftlichen Theorien. Auch wenn einige AutorInnen (in einem weiten Sinn verstandene) Theorien nicht mehr dem awareness-Konzept zuordnen würden, werden vor allem laientheoretische Zugänge von vielen als Bestandteil von language awareness angesehen (vgl. Knapp-Potthoff 1997). Da trotz vieler wissenschaftstheoretischer, im Übrigen sehr normativer Abgrenzungsversuche auch die Grenzen zwischen Laien- und ExpertInnen-Theorien fließend sind, wären auch von der scientific community anerkannte (Sprach-) Theorien als Erscheinungsformen einer breit aufgefassten Sprachbewusstheit zu kategorisieren. Nichtsdestotrotz ist auf der Folie der Angewandten Linguistik - als einer „primär für Laien betriebenen“ Sprachwissenschaft - Laienvorstellungen von Sprache und Kommunikation ein besonders geeignetes, ‚prototypisches’ Untersuchungsfeld. Ein weiteres Untersuchungsgebiet betrifft auch die Unterscheidbarkeit von consciousness, einem in der Kognitionswissenschaft sehr präsenten Begriff (vgl. Cattell 2006), und awareness. Wenn wir uns nunmehr dem language-Aspekt zuwenden wollen, stellen sich neuerlich Fragen der Abgrenzung (oder auch Nicht- Abgrenzung), und zwar zu Ansätzen wie communication awareness, semiotic awareness oder auch cultural/ intercultural awareness (vgl. Stegu 2007). Relevant und untersuchenswert wären auch Querverbindungen zu Aufmerksamkeitstypen und Laientheorien ganz anderen Weltphänomenen gegenüber, z.B. nature awareness, technical awareness, medical awareness usw. Language kann nun entweder langage sein, Sprache als das menschliche Kommunikationsinstrument par excellence, mit seinen Grenzen und Möglichkeiten, oder eben langue, eine Einzelsprache als System/ Struktur oder auch in ihrem Funktionieren, vor allem unter soziolinguistischpragmatischem Gesichtspunkt. Daneben lassen sich etliche Teil-awarenesses annehmen, wobei im Grunde jeder Sprachebene auch eine solche Spezial-awareness zuordenbar wäre (vgl. Stegu/ Wochele 2006), z.B. phonetical/ phonological, morphological, Martin Stegu 30 syntactical usw. awareness. Hierbei stellt sich die Frage, wie sich derartige partielle awarenesses zu anderen Teil-awarenesses und zur Gesamtawareness verhalten. Schließlich gibt es Mischformen und sonstige schwerer einordenbare, aber für die Angewandte Linguistik sehr wesentliche awareness-Typen wie language learning awareness (vgl. Edmondson 1997) und die uns im Weiteren noch näher interessierende „Mehrsprachigkeitsbewusstheit“ (vgl. Morkötter 2005, Jessner 2006). Schließlich wäre beim ‚Gesamtterminus’ language awareness noch der onomasiologische und semasiologische Weg zu unterscheiden - geht es uns um das gesamte (potenzielle) Begriffsfeld, oder geht es uns um Abgrenzungen bzw. das Verhältnis dieses ganz bestimmten Signifikanten zu linguistic awareness, metalinguistic awareness, knowledge about language usw., oder auch zu in anderen Sprach- und Kulturgemeinschaften verwendeten Ausdrücken wie Sprachreflexion, Sprachbewusstheit, Sprachbewusstsein; conscience linguistique, éveil aux langues, coscienza/ consapevolezza linguistica u.Ä. (vgl. Stegu/ Wochele 2006; Gnutzmann 2003). Für mich ist jedenfalls der allgemeinste und verbreitetste einer Reihe von quasi-synonymen Termini eben language awareness, und ihn sehe ich als „terminus generalis“ für ein Gesamtphänomen mit verschiedenen Übergangsstufen, wobei - wie erwähnt - die Reaktionen und Auffassungen von Laien (und nicht von WissenschaftlerInnen) den prototypischen Interessenskern darstellen. Nicht ganz geklärt ist m.E. auch das Verhältnis von „awareness“ zu „attitude“ (vgl. Garrett/ Coupland/ Williams 2003), oder - wenn man will - zwischen eher kognitiv-rationalen und emotiven Haltungen. Hier scheint es auch eher so zu sein, dass gewisse Schulen von awareness sprechen, andere von attitude, aber dass auch hier Übergänge sinnvoll anzunehmen sind. Ich würde auch in diesem Zusammenhang vorschlagen, attitude unter einen sehr breit aufgefassten awareness-Begriff unterzuordnen. 4.2. Die Rolle von „Language Awareness“ in der Angewandten Linguistik und der Romanistik In der Angewandten Linguistik waren es vor allem zwei Bereiche, in denen Sprachbewusstheit besonders thematisiert worden ist, einmal im Kontext von Spracherwerb und Sprachenlernen - und hier sogar zunächst sogar im Fall der Erstsprache (vgl. die britische language awareness- Bewegung der 70er/ 80er Jahre; siehe den geschichtlichen Überblick bei Romanistik, Angewandte Linguistik und Sprachbewusstsein 31 James/ Garrett 1992), dann aber auch immer mehr im Hinblick auf das (zumindest teilweise ‚bewusstere’) Lernen von Fremdsprachen. Die andere betroffene Disziplin ist die Soziolinguistik, und zwar vor allem jener Bereich, bei dem es um das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitssprache oder verschiedener Sprachvarietäten zueinander geht, ein Verhältnis, das ja auch von der ‚einfachen’ SprecherIn in irgendeiner Weise wahrgenommen und reflektiert wird. Gerade auch in und für die Romania wurde diese Art von Sprachbewusstsein öfter untersucht (vgl. Cichon 1998). Die veränderte europäische Situation mit der offiziell von Europarat und EU geförderten Mehrsprachigkeit hat ja auch das allgemeine Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitssprachen durcheinander gewirbelt - wenn man nämlich nicht mehr von den ‚Nationalstaaten’ (wie Frankreich, Deutschland usw.) ausgeht, sondern von der übereinzelstaatlichen ‚Einheit’ Europa. Hier spielt der bereits einmal erwähnte Terminus „Mehrsprachigkeitsbewusstheit“ eine wesentliche Rolle. Gerade die romanischen Sprachen spielen als Fremdsprachen im europäischen Kontext vor allem als L3/ Ln (vgl. Hufeisen/ Lindemann 1998) - hinter dem nicht mehr vermeidbaren Englisch - eine wichtige Rolle, und daher sind hier Mehrsprachigkeitsbewusstheit und Mehrsprachigkeitsdidaktik besonders prominente Termini. Hier soll aber auch die Hypothese vertreten werden, dass language awareness ein Schlüsselterminus für die gesamte Angewandte Linguistik ist, sein könnte oder sollte. Begnügen sich manche mit einer bloßen Beschreibung des Ist-Zustandes von Bewusstheiten, geht es anderen auch und primär um ein awareness raising. Und diese geförderte und verbesserte Bewusstheit, irgendwo zwischen erhöhter Aufmerksamkeit und nicht mehr gänzlich laienhaften Sprach- und Kommunikationsvorstellungen lokalisiert, betrifft in gewisser Weise das ganze Spektrum angewandter Sprachwissenschaft. Dabei sollten Laien für verschiedenste Kommunikationssituationen in entsprechender Weise sensibilisiert, d.h. ihre diesbezügliche awareness erhöht werden, unter weitestgehendem Verzicht auf angeblich Sofortwunder leistende Rezepte (vgl. z.B. die so oft verbreiteten Empfehlungs- und Verbotslisten bei interkulturellen Fragestellungen). Auch wenn es viele Laien zunächst enttäuschen mag, sehe ich mehr Chancen für eine seriöse Angewandte Linguistik darin, die angesprochene awareness bzw. Sensibilisierung zu erhöhen, als konkrete und echt allgemein gültige präskriptive Antworten zu geben („Wie gestaltet man Werbeanzeigen besser? “, „Wie formuliert man Gebrauchs- Martin Stegu 32 anweisungen verständlicher? “, „Wie verhält sich ein deutscher Manager bei einem Geschäftsessen in Frankreich? “„Welche Fremdsprachenlehrmethode ist die beste? “ usw.). (Zur Präskriptivitätsproblematik in der Angewandten Linguistik vgl. Antos 1995 und Stegu 2002.) In vielen Fällen wird das Individuum konkrete Entscheidungen treffen, aber nicht oder nur selten auf Grundlage einer direkten Empfehlung der Angewandten Linguistik (so wie auch die Politologie nicht bestimmte Parteien bei der Wahl empfehlen oder die Physik als solche zur Frage „Atomkraftwerke ja oder nein? “ Stellung beziehen kann). Die Möglichkeiten und Grenzen einer Disziplin zu erkennen ist jedenfalls auch Ergebnis eines entsprechenden awareness raising. 5. Schlussüberlegungen Der vorliegende Beitrag hatte mehrere Hauptanliegen, die alle miteinander verbunden waren. Es ging um eine Kurzdarstellung der Angewandten Linguistik, ihrer Objektbereiche und der Rolle, die der zweifellos nach wie vor etwas schillernde Begriff language awareness in der (und für die) AL spielt. Eine irgendwie sinnvolle, wissenschaftstheoretisch begründbare ‚essentielle’ Unterscheidung zwischen einer ‚allgemeinen’ angewandten, einer romani(sti)schen angewandten, einer anglistischen angewandten usw. Linguistik erscheint mir nicht haltbar. Gerade in Zeiten, wo Mehrsprachigkeit inkl. einer Mehrsprachigkeitsdidaktik propagiert wird, ist auch auf dieser Metaebene eine künstliche Aufrechterhaltung angeblich total getrennter ‚Kästchen’ nicht am Platz. Gerade die angewandte LinguistIn, die sich auch so gerne mit Diskursen und deren Analyse befasst, sollte sich bewusst (! ) sein, dass disziplinäre (Selbst- und Fremd-) Zuordnungen, auch wenn sie für bestimmte Zwecke und in bestimmten Kontexten ihre ‚pragmatische’ Berechtigung haben mögen, keine absoluten Kategorien darstellen, sondern eben nur diskursive Konstruktionen sind - mit deren entsprechenden Möglichkeiten und Grenzen. Von einer gegenseitigen Öffnung an sich ähnlich orientierter (Sub-) Disziplinen, die normalerweise gar nicht vom üblichen Appell zu Interdisziplinarität erreicht werden, sind jedenfalls positive theoretische und praktische Synergieeffekte für den Sprachen- und Kommunikationsbereich zu erwarten. Romanistik, Angewandte Linguistik und Sprachbewusstsein 33 Literaturverzeichnis Antos, Gerd (1995): „Warum gibt es normative Stilistiken? Sprachtheoretische Überlegungen zu einem scheinbar trivialen Problem“, in: Stickel, Gerhard (ed.): Stilfragen. 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Dabei stellt sich die Frage, ob die ÜW im Vergleich zur AL als eine Teildisziplin („Tochter“), als eine eng verwandte, aber gleichrangige Disziplin („Schwester“) oder als eine nur entfernt verwandte Disziplin („Cousine“) aufgefasst werden soll. Da es sehr unterschiedliche Ansichten zu dieser Problematik gibt, möchte ich erst gar nicht versuchen, allen Beteiligten gerecht zu werden, sondern meine eigene, subjektive Sicht der Dinge zum Ausgangspunkt nehmen, denn das Verhältnis zwischen AL und ÜW beschäftigt mich aus biographischen Gründen seit einigen Jahren. Als ich in den achtziger Jahren im Studiengang Diplom-Übersetzer studierte, tat ich dies am „Fachbereich Angewandte Sprachwissenschaft“ der Universität Mainz in Germersheim. Aus institutioneller Sicht erschien das Übersetzen am Germersheimer Fachbereich damals also als Tochter der AL. Inzwischen bin ich auf verschlungenen Pfaden, die mich nach Heidelberg, Stuttgart, Graz, Innsbruck und Köln geführt haben, wieder nach Germersheim zurückgekehrt, dieses Mal als Lehrender. Der dortige Fachbereich hieß bei meiner Rückkehr „Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft“ 1 . Es war also neben der AL mit der Kulturwissenschaft eine zweite „Mutterdisziplin“ hinzugekommen. Mein eigenes Lehrgebiet nennt sich „Französische und italienische Sprach- und Übersetzungswissenschaft“, was eher auf ein schwesterliches Verhältnis der Fachgebiete Sprach- und Übersetzungswissenschaft schließen lässt. Um die Verwirrung komplett zu machen, sei noch erwähnt, dass die beiden österreichischen Institute, an denen ich als Gastprofessor tätig war, die Bezeichnung „Translationswissenschaft“ im Titel tragen (das 1 Inzwischen ist eine weitere Umbenennung erfolgt („Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft“). Michael Schreiber 36 „Institut für Translationswissenschaft“ in Innsbruck und das „Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft“ in Graz). Die Sprachwissenschaft spielt in den dortigen Studiengängen eine weniger prominente Rolle als in Germersheim, so dass es erscheint, als wären die „Translationswissenschaft“ (d.h. die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft) und die AL nicht mehr als Cousinen. Eine Klärung tut also Not - zumindest für meine eigene Positionierung (zur Vermeidung akademischer Schizophrenie). Da auch die klinische Linguistik zur AL gerechnet wird, erlaube ich mir, Sie mit meiner Selbsttherapie zu behelligen. Die Therapie besteht aus drei Schritten: Zunächst möchte ich versuchen, den Begriff der AL zu erörtern, anschließend werde ich über die Entwicklung der ÜW sprechen und zum Abschluss versuchen, beide Disziplinen miteinander in Beziehung zu setzen. 1. Angewandte Linguistik Der Terminus Angewandte Linguistik wird in der einschlägigen Literatur in unterschiedlichen Lesarten verwendet, sofern er überhaupt definiert wird. Man kann mindestens vier Lesarten unterscheiden: 1. Lesart: AL im weitesten Sinne kann jegliche Anwendung linguistischer Methoden oder Erkenntnisse bezeichnen. Franciszek Grucza lehnt in seinem Aufsatz „Über den Status der Angewandten Linguistik“ (1990), einer der wenigen Publikationen, in denen der Begriff der AL überhaupt problematisiert wird, diese weite Lesart mit folgender Begründung ab: Wer […] die AL [= Angewandte Linguistik] mit der Auswertung linguistischer Kenntnisse gleichsetzt, muß mit absurden Konsequenzen rechnen: Nach derartiger Auffassung würde ein Psychologe, der linguistische Erkenntnisse aus- und verwertet zum angewandten Linguisten. Und umgekehrt: Ein Linguist, der psychologische Informationen auch nur zur Kenntnis nähme, würde sich zum angewandten Psychologen verwandeln. (Grucza 1990: 28) Die Unterscheidung, auf die Grucza hier abhebt, erinnert an diejenige zwischen Sprachpsychologie (Anwendung linguistischer Erkenntnisse in der Psychologie) und Psycholinguistik (Anwendung psychologischer Erkenntnisse in der Linguistik), allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Auch wenn Unterscheidungen wie diejenige zwischen Sprachpsychologie und Psycholinguistik in der Praxis, vor allem bei interdisziplinären Forschungsprojekten, nicht immer leicht durchzuführen sind, können wir zumindest eines festhalten: Das Kriterium der „Anwendung“ allein ist Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft 37 nicht hinreichend, um den Begriff der AL zu definieren und von verwandten Disziplinen abzugrenzen. 2. Lesart: In neueren Publikationen zur AL wird statt des Kriteriums der Anwendung häufig ein anderes Kriterium herangezogen: die Problemorientierung, die sich im „zielgerichteten Einsatz linguistischen Know-hows zur Lösung praktischer Probleme“ (Platen/ Vogel 2001: 70) äußere. So schreibt Karlfried Knapp in seinem Vorwort zu dem UTB- Lehrbuch Angewandte Linguistik: Angewandte Linguistik ist heute generell zu definieren als eine Disziplin, die sich mit der Beschreibung, Erklärung und Lösung von lebens- und gesellschaftspraktischen Problemen in den Bereichen von Sprache und Kommunikation befasst. (Knapp 2007: XX) Auch diese Definition ist immer noch sehr weit gefasst. Ich zitiere in diesem Zusammenhang noch einmal Grucza, der an ähnlichen Definitionen kritisiert, dass letztlich alle Phasen einer wissenschaftlichen Untersuchung zur Problemlösung beitragen können: Die Verwendung derartiger Ausdrücke wie etwa ‚Problemlösungswissen’ für die Bezeichnung des praktisch anwendbaren Wissens schlechthin scheint mir aber auch deshalb irreführend zu sein, weil hier nicht nur dieses Wissen, sondern im Grunde genommen auch alle anderen Wissensbereiche - der deskriptive genauso die [sic] der explikativ-prädikative - gleichermaßen der Lösung von Problemen und letztlich auch der Lösung von praktischen Problemen dienen. (Grucza 1990: 27) Auch bei dieser Lesart scheint es also kaum möglich zu sein, eine klare Abgrenzung der AL vorzunehmen. 3. Lesart: Grucza selbst schlägt ein anderes Kriterium vor. Er unterscheidet hierzu vier Phasen einer „Forschungskette“: 1. deskriptive Phase, 2. explikative Phase, 3. prädiktive (prospektive) Phase, 4. applikative (angewandte) Phase. Die AL setzt er mit der 4. Phase gleich: AL [= Angewandte Linguistik] und RL [= Reine Linguistik] bilden komplementäre Teile der gesamten Linguistik im Sinne einer auf ein und denselben Gegenstand bezogenen vollständigen Forschungskette. Die AL umfaßt die letzte Phase [= applikative Phase], die RL dagegen die vorangehenden Phasen [= deskriptive, explikative, prädiktive Phase]. (Grucza 1990: 32) Nach dieser Definition wäre die AL also keine eigene Disziplin, da die vier genannten Phasen in jeder Teildisziplin der Linguistik zum Tragen kommen können, von der Phonetik bis zur Soziolinguistik. Diese Konzeption hat allerdings einen terminologischen Nachteil: Der Terminus AL evoziert aufgrund seines statischen Charakters - im Unterschied zu einer Michael Schreiber 38 dynamischen Bezeichnung wie applikative Phase - die Existenz einer entsprechenden Disziplin. Dies mag dazu beigetragen haben, dass sich Gruczas Konzeption bis heute nicht durchgesetzt hat. 4. Lesart: Eine heute weit verbreitete Lesart des Ausdrucks AL in der deutschsprachigen und internationalen Forschung ist die „institutionelle“ Lesart. Zur AL werden nämlich sehr unterschiedliche Teildisziplinen und Forschungsgebiete gezählt, die de facto nicht durch inhaltliche Kriterien zusammengehalten werden, sondern durch die Zuordnung des betreffenden Forschungsgebietes zu einem Dachverband, z.B. zur Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) oder zur Association Internationale de Linguistique Appliquée (AILA). Hierbei ergeben sich jedoch folgende Probleme: Bei der Zuordnung linguistischer Teildisziplinen zur AL gibt es unterschiedliche nationale Traditionen. In Großbritannien wurde der Begriff Applied Linguistics lange Zeit auf die Kontrastive Linguistik und den Fremdsprachenunterricht bezogen. Doch diese recht starre Zuordnung hat seit den achtziger Jahren begonnen sich aufzulösen. Hierzu ein Zitat aus einem Forschungsbericht von Margaret Rogers aus dem Jahre 1988 („Developments in Applied Linguistics and Language Teaching“): To recap: while in the 1950s and 1960s applied linguistics had a very clear meaning for some as being synonymous with traditional contrastive analysis, and then in the 1970s became associated with language teaching in general, not linked necessarily to any particular model, it appears that in the 1980s there is a lack of consensus about its basic approach, as well as about its scope. (Rogers 1988: 5) Eine Reminiszenz der fremdsprachendidaktischen Grundorientierung der Applied Linguistics zeigt sich in dem Namen der Zeitschrift, aus dem der Artikel von Margaret Rogers stammt: IRAL. International Review of Applied Linguistics in Language Teaching. Im deutschen Sprachraum ist die Extension des Begriffs AL traditionell weiter gefasst. Karlfried Knapp lehnt daher in seinem bereits zitierten Vorwort des Lehrbuchs Angewandte Linguistik die Eingrenzung des Gegenstandsbereichs auf „die Anwendung von linguistischen Theorien für den Sprachunterricht“ ab (Knapp 2007: XIX). Allerdings scheint sich bisher im deutschen Sprachraum noch kein Kanon von Disziplinen oder Forschungsgebieten herausgebildet zu haben, die zur AL gerechnet werden. Vergleicht man etwa die Sektionen der Gesellschaft für Angewandte Linguistik, die auf der Homepage der GAL aufgeführt sind, mit den Beiträgen zu dem bereits erwähnten Lehrbuch Angewandte Linguistik (Knapp et al. 2007), dessen Entstehung „auf eine Initiative von Mitgliedern des Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft 39 Vorstands und Beirats der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) zurück[geht]“ (Knapp 2007: XXII), so fallen folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf: Zum harten Kern der AL scheinen u.a. Gebiete wie die Sprachdidaktik und die Medienkommunikation zu zählen. Daneben gibt es in der GAL aber auch Sektionen, die in dem genannten Lehrbuch nicht vertreten sind. Das gilt z.B. für die Sektion „Lexik und Grammatik“, die offenbar ein anderes Konzept der AL widerspiegelt. Hier geht es nicht um die Zuordnung der Bereiche Lexik und Grammatik (also praktisch des gesamten Sprachsystems) zur AL, sondern um anwendungsorientierte Teilaspekte, z.B. um die Anwendung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Lexikographie und der Grammatikographie (beide im Lehrbuch nicht vertreten). Umgekehrt enthält das Lehrbuch Kapitel zu Gebieten, die in der GAL nicht durch eigene Sektionen vertreten sind, z.B. Klinische Linguistik und Forensische Linguistik (Knapp et al. 2007: 548ff., 566ff.). Noch diffuser wird das Bild, wenn man internationale Verbände wie die AILA einbezieht. Zu den aktuellen „Research Networks“ der AILA zählen Forschungsprojekte zu Bereichen, die die GAL offenbar bisher noch nicht für sich entdeckt hat, z.B. „Language and Migration“. Ein weiteres Problem liegt darin, dass die Linguistik in einigen Disziplinen nur für einen Teil der Anwendung relevant ist. So ist die Linguistik in der Fremdsprachendidaktik zwar für den Grammatikunterricht von Interesse, aber nicht oder höchstens am Rande für den Literatur- und den Landeskundeunterricht. Eine Disziplin wie die Fachdidaktik kann daher der Dachdisziplin AL nicht als ganzes untergeordnet werden. Zwischenfazit: Aus institutioneller Sicht erscheint die AL also nicht als eine wohldefinierte Disziplin oder Dachdisziplin, sondern eher als ein loses, offenes Cluster von Disziplinen und interdisziplinären Forschungsgebieten, deren gemeinsamer Nenner nur schwer zu fassen ist. Gegen den nahe liegenden Vorwurf der Heterogenität der in der GAL vertretenen Bereiche wehrte sich 1990, beim 20. Jubiläum der GAL, deren damaliger Vorsitzender Bernd Spillner mit folgenden Worten: Als heterogen kann diese Anwendungsfelder nur auffassen, wer einerseits das problemorientiert-interdisziplinäre Forschungsinteresse der Angewandten Linguistik übersieht und andererseits nicht die für menschliches Denken und Interagieren zentrale und konstitutive Rolle von Sprache begreift. (Spillner 1990: 8f.) Eine operationalisierbare Definition der AL bleibt Spillner aber schuldig. Man könnte sich unter diesen Umständen also mit einer gewissen Berechtigung die Frage stellen: Brauchen wir überhaupt die AL, wenn sie Michael Schreiber 40 doch bisher nur vage definiert zu sein scheint und auch die institutionelle Anbindung keine wirkliche Klarheit bringt? Für den Bereich der romanischen Sprachwissenschaft möchte ich diese Frage trotz meiner eigenen Skepsis der AL gegenüber derzeit mit einem Ja beantworten, denn die verschiedenen Teilbereiche der AL sind im Kanon der romanischen Sprachwissenschaft noch nicht ausreichend vertreten. Dies zeigt sich deutlich in dem Beitrag von Martin-Dietrich Gleßgen zum 14. Romanistischen Kolloquium, „Kanonbildung in der Romanistik und in den Nachbardisziplinen“. Gleßgen hat dort Einführungen und Handbücher zur romanischen Sprachwissenschaft systematisch miteinander verglichen. Er kommt dabei u.a. zu dem Schluss, dass bestimmte Anwendungsbereiche noch nicht angemessen in den einführenden Publikationen thematisiert werden: Pour revenir aux manuels, ceux-ci devraient expliquer plus concrètement comment la linguistique romane s’intègre dans la formation universitaire et éventuellement aussi dans l’univers professionnel (citons p.ex. la facilité d’apprentissage de langues apparentées); […] (Gleßgen 2000: 230) In diesem Zusammenhang möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass gerade das „Romanistische Kolloquium“ immer wieder Themen aus dem Bereich der AL behandelt hat (auch wenn der Ausdruck AL im Titel der diesjährigen Tagung zum ersten Mal explizit genannt wird), z.B. Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen (Dahmen et al. 1991), Romanistik und neue Medien (Dahmen et al. 2004) oder Romanische Sprachwissenschaft und Fachdidaktik (Dahmen et al. 2007). Tagungen wie diese könnten also langfristig zu einer Erweiterung des Kanons der romanischen Sprachwissenschaft im Hinblick auf eine stärkere Anwendungsorientierung beitragen. 2. Übersetzungswissenschaft Um die Problematik des Verhältnisses zwischen AL und ÜW besser nachvollziehen zu können, bedarf es einiger Erläuterungen hinsichtlich der Etablierung der ÜW (vgl. Schreiber 2006: 31ff.). Bis in die siebziger Jahre hinein galt die ÜW im deutschen Sprachraum meist als Teildisziplin der Linguistik. Die „Abnabelung“ von der Linguistik fand in den achtziger Jahren statt, und zwar besonders dezidiert im Rahmen der so genannten Skopostheorie (Reiß/ Vermeer 1984), die nicht nur den Übersetzungszweck (Skopos) in das Zentrum des Interesses rückte, sondern Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft 41 auch betonte, dass Übersetzen und Dolmetschen nicht nur ein sprachlicher, sondern immer auch ein kultureller Transfer sei: In der Translationswissenschaft ist es zur Zeit noch weithin üblich, von ausgangs- und ziels p r a c h l i c h e m Text, Leser usw. zu sprechen. Hier wird demgegenüber meist von Ausgangs- und Zieltext, -rezipient usw. gesprochen. Damit soll von vornherein betont werden, daß Translation nicht nur ein sprachlicher, sondern immer auch ein kultureller Transfer ist. (Reiß/ Vermeer 1984: 4) Die Argumente dafür, dass eine Konzeption der ÜW als AL zu eng ist, liegen tatsächlich vor allem im kulturellen Bereich: Zwar machen sprachliche Probleme einen Großteil der tatsächlich vorkommenden Übersetzungsprobleme aus, aber alle Aspekte des Übersetzens können von einem rein sprachwissenschaftlich ausgerichteten Ansatz nicht erfasst werden. Dass ein linguistischer Ansatz bei der literarischen Übersetzung zu kurz greift, liegt auf der Hand. Nach dem Besuch eines Proseminars zur Einführung in die französische Sprachwissenschaft ist man in der Regel noch nicht in der Lage, Baudelaire zu übersetzen. Doch auch in Bezug auf die Fachübersetzung gelten Einschränkungen: Man kann einen juristischen, technischen oder medizinischen Fachtext weder verstehen noch korrekt übersetzen ohne entsprechende Fachkenntnisse. Aufgrund der Verschränkung von Sprache und Kultur sowie von Sprachwissen und Sachwissen sind die Grenzen zwischen der ÜW und den benachbarten Disziplinen fließend, so dass z. B. Mary Snell-Hornby von der Universität Wien die Translationswissenschaft (Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft) explizit als Interdisziplin bezeichnet: Heute [...] kann man allgemein feststellen, daß ‚Translation Studies’ bzw. die Translationswissenschaft zumindest unter Fachleuten als eigene Disziplin anerkannt ist, wobei allerdings erkannt wurde, daß die Grenzen zu anderen Disziplinen so unscharf sind (gemeint sind hier nicht nur Sprach- und Literaturwissenschaft, sondern vor allem die Psychologie, die Ethnologie und die Philosophie), daß man eher von einer ‚Interdisziplin’ reden sollte. (Snell- Hornby 1996: 61) Snell-Hornby spielt hier die Rolle der Sprach- und Literaturwissenschaft im Vergleich zu den anderen genannten Disziplinen herunter. Ein gegenläufiger Trend zu den genannten Emanzipierungsbestrebungen zeigt sich in jüngster Zeit: Befürworter einer Wiederannäherung an die Sprach- und Literaturwissenschaft sehen in der ÜW keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin und bevorzugen daher den Terminus Übersetzungsforschung, so der anglistische Literaturwissenschaftler Norbert Greiner und der romanistische Sprachwissenschaftler Jörn Albrecht, die eine Michael Schreiber 42 zweibändige Einführung unter dem Titel Grundlagen der Übersetzungsforschung publiziert haben (Greiner 2004; Albrecht 2005). Meine eigene Position zu dieser Problematik habe ich in einem Artikel zum Verhältnis von ÜW und Romanistik folgendermaßen dargelegt: Die Emanzipation der Übersetzungswissenschaft (bzw. Translationswissenschaft) mag man begrüßen oder nicht - rückgängig machen läßt sie sich wohl nicht mehr. Nicht von der Hand zu weisende Argumente für eine relative Eigenständigkeit der Translationswissenschaft liegen m.E. in der Notwendigkeit einer eigenen, wissenschaftlich begründeten Methodik für die Übersetzer- und Dolmetscherstudiengänge und in der Ausbildung eines eigenen wissenschaftlichen Nachwuchses. (Schreiber 2003: 195) Der Mangel an promovierten und vor allem habilitierten Übersetzungswissenschaftlern hat z.B. zur Folge, dass die meisten Professuren an Übersetzer- und Dolmetscherinstituten nach wie vor von Philologen besetzt sind. Nicht alle von ihnen lassen sich so intensiv auf den Gegenstand Übersetzen ein wie mein eigener Lehrer Jörn Albrecht. Nun noch ein kurzer Blick in einige romanischsprachige Länder: In der Romania ging man bei der Etablierung der ÜW z.T. eigene Wege. Es gibt aber auch Parallelen zum deutschen Sprachraum. Analog zur Situation in Deutschland betrachtete z.B. der Linguist Georges Mounin, einer der Pioniere der Übersetzungswissenschaft im französischen Sprachraum, die wissenschaftliche Erforschung des Übersetzens noch Mitte der siebziger Jahre als „branche de la linguistique“ (Mounin 1976: 198). An der Pariser ESIT (Ecole Supérieure d’Interprètes et de Traducteurs) konzipierte man dagegen bereits 1974, als unter der Federführung von Danica Seleskovitch ein Promotionsstudiengang für die Erforschung des Dolmetschens und Übersetzens eingeführt wurde, die traductologie als eigenständige, von der Linguistik unabhängige Disziplin. Der Terminus traductologie und z.T. auch die damit verbundene Konzeption wurden auch in andere romanischsprachige Länder exportiert, vgl. span. traductología und it. traduttologia (Schreiber 2008: 51). Die gegenwärtig umfangreichste romanischsprachige Einführung in die ÜW stammt von Amparo Hurtado Albir (Barcelona) und trägt den Titel Traducción y traductología (Hurtado Albir 2001). Aber auch in der Romania gibt es Stimmen, die den interdisziplinären Charakter des Übersetzens unterstreichen. Dazu Margherita Ulrych von der Universität Triest in ihrem Vorwort zu dem Sammelband Tradurre: Un approccio multidisciplinare: […] oggi la traduzione può essere considerata come una multidisciplina di grande profondità e ampiezza, che attinge ispirazione da discipline diverse - la Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft 43 linguistica, la letteratura, gli studi culturali, la storia, l’antropologia, l’etnografia, la psicologia, la filosofia e la teologia - e abbraccia diversi aspetti, dal puramente teorico al descrittivo e applicato. (Ulrych 1997: XII) Die Parallelen zu dem oben angeführten Zitat von Mary Snell-Hornby sind unverkennbar. Ungeklärt bleibt jedoch dabei, wie die ÜW gleichzeitig eigenständig und eine Interdisziplin sein kann. In diesem nach wie vor nicht vollständig geklärten Status der ÜW zeigt sich nicht zuletzt auch eine Parallele zu dem ebenfalls nicht zufriedenstellend geklärten Status der AL. 3. Übersetzungswissenschaft und Angewandte Linguistik Wie stellt sich nun das Verhältnis von ÜW und AL heute dar? Von Seiten der AL gibt es widersprüchliche Signale. Zwar ist das Gebiet Übersetzen und Dolmetschen sowohl in der GAL als auch in der AILA seit Jahren mit eigenen Sektionen bzw. Forschungsprojekten vertreten, in der ersten Auflage des mehrfach zitierten, umfangreichen Lehrbuchs (Knapp et al. 2004) fehlte jedoch ein entsprechender Beitrag. Dieses Versäumnis wurde in der zweiten, erweiterten Auflage nachgeholt. Diese enthält einen Beitrag mit dem Titel „Übersetzen“ von der Übersetzungswissenschaftlerin Christina Schäffner. Die AL taucht dort allerdings nicht mehr als Dachdisziplin, sondern nur noch als „Hilfsdisziplin“ auf. Schäffner weist darauf hin, […] dass Erkenntnisse der Angewandten Linguistik und ihrer Teildisziplinen, vor allem der kontrastiven Linguistik, Pragmatik, Soziolinguistik, Textlinguistik, Fachsprachenlinguistik und der interkulturellen Kommunikationsforschung für die Übersetzungstheorie und -praxis nutzbar gemacht wurden. Von zunehmender praktischer Relevanz ist auch die Korpuslinguistik, die in jüngster Zeit eine starke Ausbreitung erfahren hat. (Schäffner 2007: 448) Die Tatsache, dass es tatsächlich nicht sinnvoll ist, die gesamte ÜW der AL unterzuordnen, wird klarer, wenn wir uns die Teildisziplinen anschauen, die heute zur ÜW gerechnet werden. So unterscheidet Amparo Hurtado Albir in ihrer bereits zitierten Einführung (2001: 146) drei Teildisziplinen der traductología: estudios teóricos, estudios descriptivos und estudios aplicados. Zu den estudios teóricos kann man insbesondere die allgemeine Übersetzungstheorie rechnen, die nicht auf ein bestimmtes Sprachenpaar beschränkt ist, und die ganz unterschiedlich ausgerichtet sein kann (z.B. funktionalistisch, hermeneutisch oder eben auch linguistisch). Der linguistische Zugang ist hier also einer unter mehreren. Zu den Michael Schreiber 44 estudios descriptivos kann man u.a. die historisch-deskriptive Übersetzungsforschung rechnen, wie sie etwa am Göttinger Sonderforschungsbereich „Literarische Übersetzung“ betrieben wurde. Die Linguistik spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. Anders sieht es bei den estudios aplicados aus. Hierzu zählt u.a. die sprachenpaarbezogene ÜW, welche sich mit sprachenpaarbedingten Übersetzungsproblemen beschäftigt. Hier spielt die Linguistik, insbesondere die kontrastive Linguistik, naturgemäß eine zentrale Rolle. Dennoch können kontrastive Linguistik und sprachenpaarbezogene ÜW nicht völlig gleichgesetzt werden. In der sprachenpaarbezogenen ÜW geht es nämlich nicht nur um einen Sprachvergleich auf der Ebene von System und Norm, sondern immer auch um die Lösung von Übersetzungsproblemen. In einem Aufsatz zum Verhältnis von Kontrastiver Linguistik und sprachenpaarbezogener ÜW habe ich diese Lösungsorientiertheit als Unterscheidungskriterium herangezogen: Diese Lösungsorientiertheit ist m.E. das wichtigste Kriterium zur Abgrenzung der STW [= sprachenpaarbezogenen Translationswissenschaft] von der KL [= kontrastiven Linguistik]. Lösungsorientiertheit ist allerdings nicht mit Präskriptivität zu verwechseln: Die STW kann auch deskriptiv vorgehen, indem sie empirisch beschreibt, wie Übersetzer und Dolmetscher mit sprachenpaarbedingten Problemen umgehen. (Schreiber 2004: 87) Aus heutiger Sicht muss ich zugeben, dass das Kriterium der „Lösungsorientiertheit“ zwar geeignet ist, um die sprachenpaarbezogene ÜW von einem rein systembezogenen Sprachvergleich abzugrenzen, dass es aber deutliche Parallelen zu der bereits erwähnten „Problemorientierung“ der AL gibt. Daher würde ich heute weniger puristisch formulieren: Die sprachenpaarbezogene ÜW ist das Forschungsgebiet, in dem ÜW und AL aufeinander treffen. Nach so vielen doch recht akademischen Fragestellungen, die jemandem, den das Verhältnis zwischen AL und ÜW nicht persönlich betrifft, möglicherweise nur ein Schulterzucken entlocken, möchte ich abschließend wenigstens noch andeuten, was heute in der angewandten, sprachenpaarbezogenen ÜW an praktischer Forschungsarbeit geleistet werden kann. Auch hier erlaube ich mir, aus praktischen Gründen meine eigenen Arbeiten in den Mittelpunkt zu stellen. Mich persönlich interessieren momentan besonders textlinguistisch und pragmatisch bedingte Übersetzungsprobleme. Als Beispiel möchte ich die rhetorischen Fragen herausgreifen, die ich in einem mehrsprachigen Textkorpus untersucht habe, das für derartige Untersuchungen geradezu eine Fund- Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft 45 grube ist: die Reden des Europäischen Parlamentes (zum Folgenden vgl. Schreiber 2009). Ich beginne mit einer Eigenart, die bei der Analyse der Reden mit Ausgangssprache Französisch unmittelbar auffällt: In französischen Reden werden rhetorische Fragen häufig durch Infinitivfragen ausgedrückt. Romanischsprachige Übersetzer können diese Konstruktion problemlos nachbilden, germanischsprachige nicht: La question demeure: comment obliger les États membres à respecter les droits et la dignité des immigrés et des demandeurs d’asile? Il problema resta: come obbligare gli Stati membri a rispettare i diritti e la dignità degli immigrati e di coloro che chiedono asilo? La cuestión sigue siendo la siguiente: ¿cómo obligar a los Estados miembros a respetar los derechos y la dignidad de los inmigrados y de los solicitantes de asilo? Mantém-se a quest-o: como obrigar os Estados-Membros a respeitarem os direitos e a dignidade dos imigrantes e requerentes de asilo? Die Fragestellung bleibt dieselbe: Wie verpflichtet man die Mitgliedsstaaten zur Wahrung der Rechte und der Würde der Einwanderer und der Asylbewerber? The question remains, how can Member States be forced to respect the rights and the dignity of immigrants and asylum-seekers? De vraag is nog altijd hoe wij de lidstaten ertoe kunnen dwingen de rechten en de waardigheid van de migranten en asielzoekers te eerbiedigen. (Verhandlungen des Europäischen Parlaments, 27.10.1999) Die deutsche und die englische Übersetzung entfernen sich zwar strukturell von dem romanischen Vorbild, bleiben dem Ausgangstext inhaltlich aber sehr nahe: Durch die unpersönliche Konstruktion im Deutschen bzw. die agenslose Passivkonstruktion im Englischen bleibt wie in der Infinitivfrage ebenso offen, an wen sich die Frage richtet. Der niederländische Übersetzer hat dagegen für eine persönliche Konstruktion in der 1. Person Plural optiert und die Zuhörer damit explizit einbezogen. (Die „Rhetorizität“ der Frage besteht in dem zitierten Beispiel übrigens darin, dass der Redner keine Antwort erwartet, da er in der Folge seine Frage selbst beantwortet, d.h. die Frage dient zur Einleitung eines eigenen Vorschlags. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen.) Michael Schreiber 46 In den deutschen Reden fällt auf, dass rhetorische Fragen häufig Modalpartikeln enthalten. Tendenziell bestätigen die Ergebnisse aus den Untersuchungen der Reden des EU-Parlamentes die Ergebnisse der kontrastiven Partikelforschung: Für deutsche Modalpartikeln finden sich nicht immer explizite Entsprechungen in den anderen Sprachen. Umgekehrt werden bei Übersetzungen ins Deutsche häufig Modalpartikeln hinzugefügt, wie in der folgenden Übersetzung aus dem Französischen. Hier wurde bei der Übersetzung ins Deutsche die Modalpartikel schon ergänzt (Kontext: Aussprache über ein Gebäude des Europaparlamentes in Straßburg): Il est temps de revenir aux principes fondamentaux […] et de tracer pour nos concitoyens les perspectives de l’organisation pacifique de notre continent, respectueuse des droits de l’homme et fondée sur un modèle européen de développement économique et social. Que valent, dans cette perspective, la couleur des murs de nos bâtiments ou la pression des chasses d’eau? Es ist an der Zeit, zu den Grundprinzipien zurückzukehren […] und unseren Mitbürgern die Prinzipien für die friedliche Gestaltung unseres Kontinents aufzuzeigen, die die Menschenrechte achtet und sich auf ein europäisches Modell für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung gründet. Was bedeuten angesichts dieser Perspektiven schon die Farbe der Wände unserer Gebäude oder der Wasserdruck in der Toilettenspülung? (Verhandlungen des Europäischen Parlaments, 17.09.1999) Die Modalpartikel schon markiert den Ergänzungsfragesatz hier als „negativ-rhetorisch“, d.h. es wird eine negative Antwort impliziert. Im französischen Ausgangstext ergibt sich der Gegensatz zwischen den erwähnten „großen“ europäischen Fragen und den unbedeutenden baulichen Details aus dem Kontext, er wird also nicht zusätzlich hervorgehoben wie durch die Modalpartikeln im Deutschen. Auch andere Ausdrücke der Modalität finden sich in den deutschen Reden häufiger als in den französischen, z.B. Modalverben, wie im folgenden Beispiel: Nous allons demain honorer M. Gusm-o, chef de la résistance du peuple de Timor oriental. Lui dirons-nous que nous acceptons dans le même temps de réduire d’un tiers l’aide à la reconstruction de son pays? Morgen wollen wir Xanana Gusm-o, den Führer des Widerstands des Volkes von Osttimor, ehren. Wollen wir ihm dabei sagen, dass wir gleichzeitig eine Kürzung der Mittel zur Unterstützung des Wiederaufbaus seines Landes um ein Drittel vornehmen? (Verhandlungen des Europäischen Parlaments, 14.12.1999) Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft 47 Dieses Zitat enthält in dem einleitenden Aussagesatz und in der rhetorischen Frage jeweils nur in der deutschen Übersetzung ein Modalverb (wollen), im französischen Ausgangstext finden sich stattdessen zwei Futurformen (ein futur proche in temporaler Funktion und ein modales futur simple). Aus Sicht der sprachenpaarbezogenen ÜW kann festgehalten werden, dass die Ergebnisse solcher Textanalysen für Übersetzer und Dolmetscher von großem Interesse sein dürften. Gegenüber älteren Arbeiten zum Sprachvergleich verspricht insbesondere die stärkere Berücksichtigung textlinguistischer und pragmatischer Faktoren nützliche Erkenntnisse für die Lösung von Übersetzungsproblemen. Ein Desideratum bleibt die varietätenlinguistische Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes, z.B. durch die Einbeziehung von Texten außereuropäischer (z.B. afrikanischer oder lateinamerikanischer) Redner, die auf einer anderen rhetorischen Tradition aufbauen. Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die im Untertitel meines Beitrags gestellte Frage zurückkommen: Ist die ÜW nun eher eine „Tochter“, eine „Schwester“ oder eine „Cousine“ der AL? Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Mutter-Tochter-Beziehung der Vergangenheit angehört, da die AL heute nur für einen Teilbereich einer breit angelegten ÜW zuständig sein kann. Da dieser Teilbereich, d.h. die sprachenpaarbezogene ÜW, nach meiner Auffassung jedoch ein besonders wichtiger Teilbereich ist, dessen Bedeutung nicht heruntergespielt werden sollte, sind ÜW und AL sicher mehr als nur Cousinen, d.h. entfernte Verwandte. Die Metapher von der Schwester-Schwester-Beziehung scheint also der Realität am nächsten zu kommen. Und tatsächlich hat das Verhältnis zwischen ÜW und AL ja einiges mit einer solchen Beziehung gemein: Obwohl vor allen Dingen die kleinere, gerade dem Flegelalter entwachsene Schwester (die ÜW), die größere (die AL) manchmal „anzickt“ (wie man heute so schön sagt), haben beide doch mehr miteinander gemein, als sie manchmal wahrhaben wollen. Literaturverzeichnis Albrecht, Jörn (2005): Übersetzung und Linguistik, (Grundlagen der Übersetzungsforschung, Bd. 2). 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Einleitendes und der theoretische Rahmen Den theoretisch-konzeptionellen Rahmen dieser Untersuchung bildet die Diskursanalyse, wobei besonders Arbeiten aus der kritischen Diskursanalyse (KDA) (van Leeuwen 2005, Fairclough 2003) und Cultural Studies (Dyer 1998, Fiske 1996) zu Grunde liegen. Die linguistische Basis bildet die Systemisch-Funktionale Linguistik (Halliday 1994) und daran anknüpfend die KDA nach Fairclough (2003) und van Leeuwen (2005). Diskurs und diskursive Praxis werden dabei als sozial konstitutiv wie sozial konstituiert verstanden (vgl. Fairclough/ Wodak 1997: 264f., Fairclough 1998, Chouliaraki/ Fairclough: ebd., Fairclough 1995: 18) und als multimodale Phänomene gesehen, bei denen sich verbale und visuellsemiotische Realisationsmodi gleichberechtigt ergänzen: A multimodal approach assumes that the message is 'spread across' all the modes of communication [...] each mode is a partial bearer of the overall meaning of the message. All modes, speech and writing included, are then seen as always partial bearers of meaning only. (Kress 2002: 6) Vor diesem Hintergrund wird die Rolle von farbigen Teilnehmern im französischen Werbediskurs und deren Identitätskonstruktion betrachtet. 1 Es koexistieren verschiedene Identitätskonzepte: Identität wird einerseits als statisches, unveränderliches und homogenes Konzept verstanden (vgl. 1 Mediale Identitätskonstrukte beruhen grundsätzlich auf Texten, da sie jedoch Bezugspunkte in der außersprachlichen Wirklichkeit haben können, sind sie an sich hyperreal (cf. John Fiske 1996: 68ff.: hyperreal figure). Auch wenn diese hyperrealen Entitäten Spuren der außermedialen Existenz in sich tragen, sind sie doch eigenständig. Fairclough stellt eine Verschiebung zu Signifikationen ohne Referenz fest: „there is no real object only the constitution of an object in discourse.“ Fairclough (1998: 139). Julia Kuhn 54 u.a. Reisigl 2003: 31-48), andererseits als prozedurales Phänomen gesehen, das Veränderungen unterliegt und durch diskursive Leistung konstituiert wird (Schmidt 2000: 113ff., Chouliaraki/ Fairclough 1999: 96ff.). Schmidt (2000: 115) stellt Identität dementsprechend als „kommunikatives Konstrukt“ dar. Rezente Mediengesellschaften produzieren semiotisch-diskursive „Images“ und verfolgen damit kalkuliert die Strategie „folgenreicher Aufmerksamkeit“ (Schmidt 2000: 235) für Personen, Produkte oder Organisationen zu erregen (vgl. u.a. Hellmann 2005, Hellmann 2003, Fairclough 2002: 163f., Chouliaraki/ Fairclough 1999: 96, Schmidt 2000: 235f.). Das Zusammenspiel aller „modes of communication“ drückt sich bei der Werbung besonders im verstärkten Einbezug von Bildmaterial aus, denn „visual structures realize meanings as linguistic structures do also, and thereby point to different interpretations of experience and different forms of social interactions“ (Kress/ van Leeuwen 1996: 2). Das hier angewandte von Kress/ van Leeuwen entwickelte „descriptive framework that can be used as a tool for visual analysis” (Kress/ van Leeuwen 1996: 2) ist als Mittel der kritischen Analyse von visuellen Texten konzipiert. Kress/ van Leeuwen (1996) orientieren in der Tradition der SFL ihre „Grammar of Visual Design“ an der metafunktionalen Auffassung semiotischer Kommunikate, die demnach immer zugleich Elemente auf den Ebenen der ideationalen, interpersonalen und textualen Metafunktion umfassen. Dabei betrifft die ideationale Ebene die Repräsentation, die interpersonale Ebene die Interaktionsmuster, die textuale Metafunktion die Ebene der Komposition, wobei die Ebenen nicht immer klar zu trennen sind und sich teils überlappen können. Im Rahmen der ideationalen Metafunktion unterscheiden Kress/ van Leeuwen (2006) Prozesse, Teilnehmer und Umstände, die in die beiden Hauptprozesstypen, narrative und konzeptuale Prozesse, involviert sein können. In narrativen Prozessen können Handlungen durch Vektoren 2 dargestellt werden, die narrative Dynamizität im visuellen Text herstellen: Vectors can be realized by depicted elements (structural elements of buildings, perspectivically drawn roads leading the eye to elements in the background, etc.) or by abstract graphic elements, leading the eye from one element to another, beginning with the most salient element, the element that first draws the viewer's attention. (Kress/ van Leeuwen 1996: 216) 2 Stehen Vektoren für zielgerichtete Aktionen, sind sie transaktional. Ohne Ziel sind sie non-transaktional. Nicht über Vektoren involvierte Elemente bilden die Umstände. Ethnisches Marketing 55 Im Rahmen der ideationalen Metafunktion können als Untertypen narrativer Prozesse agentivische 3 und non-agentivische Prozesse 4 unterschieden werden. Während bei agentivischen Prozessen Interaktion involvierter Akteure stattfindet, unterliegen bei non-agentivischen Prozessen die abgebildeten Teilnehmer einem Ereignis. Die Art der Einbindung der abgebildeten Teilnehmer in Prozesse weist den Akteuren semantische Rollen zu. Von den narrativen Prozessen sind die konzeptualen Prozesse zu unterscheiden, in denen Vektoren weitgehend fehlen, und die zeitlose inhaltliche Qualität besitzen. Konzeptuale Prozesse können klassifikational (Taxonomien), analytisch (Teil-Ganzes Strukturen) oder symbolisch (symbolisches Attribut oder symbolisch-suggestiver Prozess (Stimmung, geringe Detailtreue)) sein. Die interpersonale Metafunktion behandelt die Position des Betrachters in Hinblick auf die allfällige Etablierung einer imaginativen „pseudosozialen“ Beziehung zwischen Betrachter und abgebildetem Teilnehmer, wobei die Positionierung eine Bewertung impliziert, die aufgrund von Blickkontakt 5 , Einstellungsgröße, Winkel und Perspektive entsteht. When images confront us with friendly smiles or arrogant stares, we are not obliged to respond, even though we do recognize how we are addressed. The relation is only represented. We are imaginarily rather than really put in the position of the friend, the customer, the lay person who must defer to the expert. (Kress/ van Leeuwen 1996: 121) Neben dem Design und der Position des Betrachters ist bei der interpersonalen Funktion auch die visuelle Modalität von Bedeutung, die unterschiedliche naturalistische Darstellungen unterscheidet, wobei Farbe, Tiefe und Helligkeit von Bedeutung sind. Die textuale Metafunktion setzt sich mit der Komposition und deren Bedeutung auseinander, wobei Position (links, rechts, oben, unten), Salienz (relatives visuelles Gewicht) und Rahmung (Markierung durch Konnektion, Diskonnektion) von Bedeutung sind. 3 Die in die Interaktion involvierten Akteure können in agentivisch projektiven Prozessen eine gesamte Proposition darstellen; Vektoren gehen hier von Akteuren aus, die zu Interaktanten werden, wenn Vektoren zwischen ihnen etabliert werden. 4 Non-agentivische Prozesse sind Ereignisse, denen die abgebildeten Teilnehmer unterliegen. 5 Der Blickkontakt kann auf pragmatischer Ebene einen Akt des offers oder der demand von activity oder information darstellen (Fairclough 2003). Julia Kuhn 56 2. Empirischer Teil 1: historische Beispiele 2.1. Savon Dirtoff (1930) Ausgehend von den hier in aller Kürze dargestellten Grundlagen soll in der Folge anhand von Beispielen gezeigt werden, wie die semiotischdiskursive Repräsentation farbiger Akteure vor der Entstehung des ethnischen Marketings, etwa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, ausgesehen hat. Im Anschluss werden die Grundlagen des ethnischen Marketings illustriert und an einem Beispiel gezeigt, wie die Herausbildung des ethnischen Marketings die diskursiven Marketingstrategien für ein Produkt (Banania) verändert hat. Schließlich wird anhand eines anderen Beispiels (Tête Nègre) die Frage aufgeworfen, ob in jüngerer Zeit nicht trotz ethnischen Marketings auch diskriminierende 6 diskursive Repräsentationen vorkommen. Das erste Beispiel der frühen diskriminierenden diskursiven Repräsentation ist die Seifenwerbung « Dirtoff » (siehe Anhang 8). Die Werbung besteht aus den verbalen Texten „Le savon Dirtoff me blanchit ! “, „En vente partout ! “, „Le savon Dirtoff nettoie tout.“, „Pour mécaniciens, automobilistes et ménagères.“. Die ersten beiden verbalen Texte sind im oberen Bildbereich links und rechts angeführt, der verbale Text „Le savon Dirtoff nettoie tout“ steht im unteren Bildbereich links, der verbale Text „Pour mécaniciens, automobilistes et ménagères“ unten rechts. Der visuelle Text stellt einen agentivisch, narrativen Prozess dar: Der dargestellte Teilnehmer schwarzer Hautfarbe trägt eine Diener-Uniform und wäscht sich die Hände, die dadurch weiß werden. Vom dargestellten Teilnehmer aus wird ein Blickkontakt zum Betrachter als Vektor etabliert. Im linken unteren Teil des visuellen Textes ist das Produkt vergrößert abgebildet und verdeckt ein Waschbecken, das Teil des Settings darstellt. Die Art der Abbildung weist dem dargestellten Teilnehmer die semantische Rolle des Akteurs zu. Durch symbolische Attribute wie die Diener- Uniform wird klassifizierend eine Unterordung des dargestellten Teilnehmers in Bezug auf den Betrachter suggeriert. 6 Im Sinne Esseds (1991: 43) wird Rassismus als eine Form von Diskriminierung verstanden als „ideology, structure and process in which inequalities inherent in the wider social structure are related, in a deterministic way, to biological and cultural factors attributed to those who are seen as a different ‚race’ or ‚ethnic group’“ (Essed 1991: 43). Teun van Dijk (1984: 13ff.) unterscheidet ethnicism, racism und ähnliche Formen der Diskriminierung nicht strikt und weist auf Überlappungserscheinungen hin. Ethnisches Marketing 57 Im Rahmen der interpersonalen Metafunktion ist die Position des Betrachters eine leicht erhöhte, wobei die Positionierung des dargestellten Teilnehmers (TN) eine negative Bewertung impliziert. Durch den Blickkontakt wird ein offer of information (Das Produkt ist gut.) etabliert, das in der Art eines hortatory reports 7 (Fairclough 2003) ein demand of action (Kaufen Sie das Produkt! ) beinhaltet. Die Einstellungsgröße in Hinblick auf den dargestellten Teilnehmer ist nah, was ein Vertrauensverhältnis suggerieren soll. Winkel und Perspektive lassen den Betrachter den dargestellten TN von oben sehen und suggerieren eine Hierarchierelation zwischen Betrachter und TN. In Hinblick auf die visuelle Modalität fällt der einfarbig gelb gehaltene Hintergrund, von dem sich der dargestellte TN abhebt, auf. Die Hautfarbe des TN ist schwarz (bis auf die Hand, die gerade weiß wird), sein Hemd weiß, der Gürtel gelb, seine Hose gestreift, was einen starken Kontrast impliziert. Dieser farblichen Hervorhebung entspricht auch die Komposition des visuellen Textes in Hinblick auf die textuale Metafunktion: der dargestellte Teilnehmer ist im Zentrum positioniert und salient, das relative visuelle Gewicht liegt auf ihm. Durch Rahmung zusätzlich hervorgehoben werden der dargestellte Teilnehmer, seine Tätigkeit, seine Aussagen „Le savon Dirtoff me blanchit ! “, „En vente partout ! “ sowie das dargestellte Produkt. Der obere, gelb unterlegte Bereich des visuellen Textes hebt sich stark von einem schwarzen Rahmen, der im unteren Teil breiter ist, ab und trennt den Rahmeninhalt von den beiden verbalen Texten „Le savon Dirtoff nettoie tout.“, „Pour mécaniciens, automobilistes et ménagères.“, die unterhalb des Rahmens im unteren Bildbereich stehen. Die Diskonnektion der verbalen Texte unterstreicht den Sprecherwechsel: Während die verbalen Texte innerhalb des Rahmens Aussagen des dargestellten TN sind, stellen die verbalen Texte außerhalb des Rahmens Informationen des Produzenten dar. Beide Texte, der verbale und der visuelle, enthalten die problematische Aussage, dass die Seife schwarze Haut bleicht: „Le savon Dirtoff me blanchit ! “. Der verbale Text „Le savon Dirtoff nettoie tout.“ impliziert, dass das Bleichen schwarzer Haut wünschenswert sei und einer Reinigung von Schmutz gleichkäme. Im visuellen Text wird dies 7 Eine besondere Form von Genrerealisation, die typisch für die „Marketisierung“ diskursiver Praxis ist, stellen die von Norman Fairclough so genannten „hortatory reports“ dar: „descriptions with a covert intent, aimed at getting people to act in certain ways on basis of representations of what is“ (Fairclough 2003: 96). Julia Kuhn 58 dargestellt durch den farbigen Teilnehmer, der seine Hände bleicht und diesen Umstand mit begeistertem Gesichtsausdruck begleitet. Diese Aussage ist moralisch äußerst problematisch. Die Tatsache, dass Haut- Bleich-Produkte der Kosmetikindustrie auch heute gute Verkaufszahlen erreichen, zeigt, dass diese Haltung längst nicht überwunden ist. 2.2. Chocolat Potin (1848) Das zweite Beispiel früher semiotisch diskursiver Diskrimination im Werbediskurs ist eine Werbung für Chocolat Potin. Die Darstellung von Chocolat Felix Potin zeigt einen dargestellten Teilnehmer schwarzer Hautfarbe in Diener Livree, der fröhlich tanzend eine Tasse Schokolade in der einen und einen Schneebesen in der anderen Hand hält. Der Hintergrund ist abstrakt gehalten, gestreift und besteht aus vier Längsstreifen in Weiß und Rot (siehe Anhang 5). Der verbale Text im oberen Bildteil lautet „Chocolat Felix Potin. Battu et content“, der verbale Text im unteren Bildteil lautet „Sans lait son Chocolat est exquis à l’eau. Battez-le avec la Chocolette Felix Potin“. Im Rahmen der ideationalen Metafunktion nach Kress/ Van Leeuwen (2006) ist ein narrativer, agentivischer Prozess dargestellt. Vektoren entstehen durch die Arme des Teilnehmers und führen zu der Tasse Schokolade hin. Der durch die Blickrichtung des dargestellten Teilnehmers etablierte Vektor weist nach oben zum Produktnamen Chocolat Felix Potin. Die interpersonale Metafunktion etabliert zwischen dargestelltem Teilnehmer und Betrachter ein offer of information, Blickkontakt besteht nicht, der Teilnehmer adressiert den Betrachter nicht direkt, sondern stellt durch sein Verhalten, das tänzerisch Begeisterung ausdrückt, seine Wertschätzung für das Produkt dar. Die Einstellungsgröße ist mittel, wodurch kein Nahverhältnis zwischen Betrachter und dargestelltem Teilnehmer aufgebaut wird. Perspektivisch sind Betrachter und dargestellter Teilnehmer auf gleicher Ebene dargestellt. Die visuelle Modalität ist akzentuiert auf den dargestellten Teilnehmer, der mittig positioniert ist und sich durch die Farbgebung der Darstellung salient vom Hintergrund abhebt. Das visuelle Gewicht liegt auf dem dargestellten Teilnehmer, dessen Arme als Vektoren auf das Produkt, dessen Blick als Vektor auf den Produktnamen verweisen. Durch die zentrale Position des Teilnehmers entsteht eine Referenzambiguität in Bezug auf den verbalen Text „battu et content“. Kress/ Van Leeuwen (2006) schreiben der Positionierung von Text unterschiedliches Gewicht zu. Das obere Bildfeld gehört dem Bereich des Idealen, das Ethnisches Marketing 59 untere Bildfeld dem Bereich des Realen. So stellt „battu et content“ einen Idealzustand dar - der Text im unteren Bereich „battez-le avec …“ wird insofern disambiguiert, als dass deutlich wird, dass „battez-le“ sich auf die Schokolade, die mittels Schneebesen geschlagen werden soll, beziehen kann. Dies hebt allerdings die Annahme der Referenz von „battu et content“ auf den dargestellten Teilnehmer keineswegs ganz auf. Das Adjektiv „content“ schließt semantisch einen nicht belebten Referenten aus. Es ist kein Anhaltspunkt gegeben, der einer Koreferenz des Partizips „battu“ und des Adjektivs „content“ widerspräche. Dass der Teilnehmer Referent und Protagonist für den verbalen Text ist, wird auch durch die Verwendung des Personalpronomens im unteren Textteil deutlich „Sans lait, son chocolat…“. Die Ambiguität bzw. die Unmöglichkeit der Disambiguierung der Referenz von „battu et content“ weist die Werbung vom ethischen wie moralischen Standpunkt als inakzeptabel aus. 3. Ethnisches Marketing Der ethnische Werbediskurs war seit diesen frühen Beispielen einer starken Entwicklung unterworfen. Die Gesellschaft ist multikultureller geworden, das Zusammenleben verschiedener Ethnien ist zur Selbstverständlichkeit geworden, die Industrie hat Menschen unterschiedlicher ethnischer Provenienz als potentielle Kunden erkannt und Strategien entwickelt, um diese erfolgreich zum Zielpublikum zu machen und als Kunden zu gewinnen: das ethnische Marketing. Immer mehr Unternehmen erkennen, dass nationale Märkte nicht homogen sind, die potentiellen Kunden eines nationalen Marktes verschiedenen Kulturen entstammen und in dieser Diversität enormes Potential steckt. Marketingstrategien passen sich den veränderten Gesellschaftsstrukturen an. 8 Werbung beeinflusst das Kaufverhalten. 9 Die Konkurrenz ist vielfältig und nimmt mit der Globalisierung weiter zu. Der Preiswettbewerb stellt längst nicht mehr das einzige Entscheidungskriterium für Kaufentscheidungen dar. Werbung entscheidet über Kaufverhalten - doch unter- 8 Anne Sengès: Le Marketing ethnique, publié 11 juin 2003 dans La Presse http: / / www.annesenges.com/ publicity/ lapresse.htm. 9 La publicité, c’est une « technique de communication dont l’objectif est de modifier l’attitude et/ ou le comportement des consommateurs à l’égard d’un produit. » Lehu, Jean-Marc: « L’encyclopédie du marketing - Publicité » http: / / www.emarketing.fr/ Glossaire/ ConsultGlossaire.asp? ID_Glossaire=6204 . Julia Kuhn 60 schiedliche Kulturen verlangen unterschiedliche Werbestrategien. Der Grundsatz „andere Länder andere Sitten“ (autre temps, autres mœurs 10 ) ist heute zu pauschal, auch in Hinblick auf den nationalen Markt eines einzelnen Landes muss es heute differenzierter heißen « à chaque culture ce qui lui convient ». 11 In der EU scheint dieser Umstand bislang noch nicht gänzlich realisiert worden zu sein, während in den USA auf unterschiedliche Ethnien abgestimmtes Marketing, das ethnische Marketing, eine Selbstverständlichkeit darstellt. 12 Es hat nicht nur die Anzahl der ethnischen Gruppen und ihrer Repräsentanten, sondern auch deren Kaufkraft zugenommen. 13 Bei ethnischem Marketing geht es primär um die Verbesserung der Verkaufszahlen, wobei eine korrektere, respektvollere, humanere Gestaltung der Werbung einen notwendigen positiven Nebeneffekt darstellt. 14 In der EU leben Menschen mit Migrationshintergrund häufig bereits in der zweiten oder dritten Generation in einem Staat und werden dort respektiert, wie das Beispiel Nicolas Sarkozys, der als „der erste Immigrantensohn im Elysée“ (Profil, 30. April 2007: 92) im Frühjahr 2007 zum französischen Staatspräsidenten gewählt wurde, zeigt. Dass dies nicht immer so war, haben die Beispiele der historischen Werbungen von Chocolat Potin und Savon Dirtoff illustriert. Diskrimination in der Werbung gilt heute als missglücktes ethnisches Marketing. Werbekommunikation soll im Rahmen des Marketings einerseits über die funktionellen Charakteristika eines Produktes informieren, andererseits ein image aufbauen. Marketing-Kommunikation besteht aus den folgenden Elementen: 10 Sengès (2003) 11 Sengès (2003) 12 Cf. Mogniss (2005) 13 Cf. Sengès (2003) 14 Cf. Pascal Blanchard: Le marketing ethnique est arrivé ! De l'apparition du marketing ethnique en France, publié le 14/ 07/ 2003 [http: / / www.amadoo.com/ article. php? ama_prefix=&aid=2605 cité d’après http: / / 1libertaire.free.fr/ Marketing Ethnik. html, consulté le 11 octobre 2006]. Ethnisches Marketing 61 Unternehmen - Kodierung - Botschaft - Entcodierung - potentieller Kunde - Kauf/ Nicht Kauf 15 Im Vorfeld einer Werbekampagne müssen die Ziele eines Unternehmens klar abgesteckt werden. Die potentiellen Kunden, die angesprochen werden sollen, müssen klar definiert und nach Alter, ethnischer Herkunft, Interessen u.v.a. differenziert werden. Unternehmen wenden sich nicht immer direkt an die potentiellen Kunden, sondern es können vermittelnde Institutionen, wie Opinion Leader, zwischengeschaltet sein. Auch das ethnische Marketing folgt dem oben angeführten Schema: (Unternehmen - Kodierung - Botschaft - Entcodierung - potentieller Kunde - Kauf/ Nicht Kauf), allerdings werden beim ethnischen Marketing besonders die unterschiedlichen Ethnien als Teilgruppen der Bevölkerung eines Landes und spezifische Zielgruppen berücksichtigt. Es wird eine Segmentierung des Marktes in signifikante, in sich weitgehend homogene Untergruppen vorgenommen, die beispielsweise religiös motiviert sein können oder aufgrund ihrer ethnischen Provenienz unterschieden werden können. 16 Dementsprechend werden Produkte in ihrer Charakteristik, Distribution und kommunikativen Vermarktungsstrategie adaptiert. 17 Der Einbezug unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen birgt allerdings immer die Gefahr diskriminierender Darstellung in sich. Das ethnische Marketing ist um 1900 in den USA entstanden, wo die Gesellschaft bereits damals durch Multikulturalität geprägt war, was eine ethnische Segmentierung des Marktes notwendig machte. Ein frühes Beispiel für ethnisches Marketing war ein von C.J. Walker entwickelter Kamm speziell für krauses Haar und dessen gezielte Bewerbung bei den potentiellen farbigen Kunden. Walker bewarb das Produkt in Zeitschriften, die von der farbigen Bevölkerung verstärkt gelesen wurden, und passte auch die Preispolitik dem Zielsegment an. Viel jünger ist das 15 Maruani (1991: 165f.). 16 Cf. http: / / enset-media.ac.ma/ cpa/ ethno_marketing.htm. 17 Lehu (2006) Julia Kuhn 62 ethnische Marketing in Frankreich, wo erst seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts das ethnische Marketing bewusst betrieben wird. In den USA hat sich die Gesellschaft seit 1900 verändert, sprach man seinerzeit vom melting pot, verwendet man heute das Bild des salad bowl, es geht nicht mehr um die Verschmelzung zu einer einheitlichen Bevölkerung, sondern immer mehr um das bunte Miteinander und die vielfältige Koexistenz verschiedener Bevölkerungsgruppen. Eine Struktur, der das ethnische Marketing entgegenkommt. Während sich Immigranten früher in die amerikanische Gesellschaft integrieren wollten, tendieren sie heute vielmehr dazu, ihre jeweiligen Sprachen und Kulturen (Hispanics, Afro Americans, Asians etc.) weitgehend beizubehalten und weiter zu pflegen. Multikulturelle Gesellschaften sind heute im Zeitalter der Globalisierung weit verbreitet, so gehören in GB 6% der Bevölkerung einer ethnischen Minderheit an, in Deutschland leben 2,6 Millionen Türken. In Frankreich stammen 10% der Bevölkerung aus anderen Ländern. Diese Gruppen stellen ein beachtliches Kundenpotential für Unternehmen dar. 18 Ethnisches Marketing ist in modernen Gesellschaften unumgänglich geworden. Allerdings treten immer wieder Hindernisse besonders institutioneller Natur auf. So fehlen etwa in Frankreich Statistiken über die ethnischen Wurzeln von Bevölkerungsgruppen. Eine derartige systematische Erfassung wäre hier illegal. 19 Dementsprechend veröffentlicht nicht einmal das Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques (L’INSEE) Statistiken über Personen, die aus anderen Ländern stammen und eingebürgert wurden, über die Kinder von Personen, die ursprünglich aus anderen Ländern stammen und mittlerweile französische Staatsbürger sind, oder über die „ultramarins“, die in Frankreich leben. Es wird in Frankreich lediglich zwischen gebürtigen Franzosen und Franzosen, die die französische Staatsbürgerschaft erst im Laufe ihres Lebens erhalten haben, unterschieden. Als Ausländer gelten Personen, die in Frankreich leben, aber keine französische Staatsbürgerschaft haben. 20 18 In Deutschland richtet sich beispielsweise der deutsche Telefonanbieter Oteo speziell an den türkischen Konsumenten, indem er günstige Tarife für die Türkei anbietet. 19 Aufgrund der gesetzlichen Beschränkung sind französische Unternehmen in Hinblick auf Studien zum Verhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in ihren Analysemöglichkeiten eingeengt cf. http: / / www.edicas.fr/ site/ mar.cgi? TypeJ =20060419173323&journal_id=20060719122723 ; 2006 ; http: / / www.adetem. org/ fr/ images_db/ RVP_18-19.pdf. 20 http: / / www.recensement.insee.fr/ FR/ RUB_MOT/ ACC_MOT.htm#nationalite. Ethnisches Marketing 63 Der eigentliche Anfang des ethnischen Marketings ist in den 1960er Jahren anzusiedeln, in denen eigene Agenturen wie Vince Cullers Advertising für Afro-Amerikaner und SAMS für hispanics gegründet wurden. Auch innerhalb von Unternehmen wurden spezialisierte Abteilungen eingerichtet. Zu den frühen Werbungen, die das Segment der Afro-Amerikaner erreichen wollten, gehörte 1956 die Coca-Cola 21 Werbung (siehe Anhang 1). In jüngerer Zeit hat der Spielzeughersteller Mattel eine Kampagne gestartet, im Zuge derer Puppen hergestellt wurden, die für unterschiedliche ethnische Gruppen bestimmt waren. 22 3.1. Überlegungen zur Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung und zum ethnischen Marketing in den USA Die amerikanische Bevölkerung ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Die Hauptrolle bei diesem Wachstum spielt die Immigration. Die ethnischen Gruppen sind dabei neben der weißen Bevölkerung Hispano- Amerikaner, Afro-Amerikaner und asiatischstämmige Amerikaner. 11,3% der Gesamtbevölkerung der USA sind Hispano-Amerikaner, es sind dies 31 Millionen Personen. Diese Gruppe, die besonders seit den 1960er Jahren verstärkt auftritt, stellt eine der dynamischsten in den USA dar. Bereits Ende der 90er Jahre gab es in Kalifornien mehr Latinos als Angelsachsen, und das Spanische wurde zur zweiten Sprache des Landes. Die stärksten Untergruppen der Personen mittel- und südamerikanischer Provenienz sind Mexikaner, Puertorikaner und Kubaner, deren wirt- 21 Als Vorreiter des ethnischen Marketings versucht Coca-Cola bereits 1956 auch afroamerikanische potentielle Kunden zu erreichen und zeigt Weiße und Afro- Amerikaner gemeinsam in seiner Werbung (siehe Anhang 1). Ab 1972 erscheinen auch andere ethnische Gruppen. Coca-Cola vermittelt bereits sehr früh die wichtige Botschaft der Integration. In Jahr 2002 engagiert sich ein anderer Cola Produzent, das tunesische Unternehmen Mecca Cola, in ganz anderer Weise: Mecca Cola lanciert den Slogan « Ne buvez plus idiot, buvez engagé ! » (Le succès du Mecca Cola: http: / / www.havovwo.nl/ vwo/ vfa/ bestanden/ vfa05it4-5.pdf). Das Produkt versteht sich als ethnisch engagiert und nähert sich bewusst den maghrebinischen Minderheiten in Frankreich an. 10% der Verkäufe von Mecca Cola kommen palästinensischen Kindern zugute und 10% humanitären Werken. Die Verkaufszahlen in Frankreich beliefen sich im Jahr 2003 auf 20 Millionen Euro. Mecca Cola bezieht bewusst eine nicht unumstrittene politisch ethnisch engagierte Position, die nicht nur in Opposition zum übermächtigen amerikanischen Konkurrenzunternehmen Coca Cola steht, sondern auch eine allgemein kulturelle anti-amerikanische Position bezieht. 22 http: / / clio.revues.org/ document446.html. Julia Kuhn 64 schaftliches Potential steigt, zumal die Wachstumsrate der hispanophonen Bevölkerung hoch ist. Die Kaufkraft hat im Jahr 2008 ca. $ 575 Milliarden erreicht, und diese Ziffer ist seither im Steigen begriffen. Die meisten Hispano-Amerikaner leben in den USA in den großen Städten wie Los Angeles (6,9 Millionen), New York (3,8 Millionen), Miami (1,5 Millionen), San Francisco (1,4 Millionen), Chicago (1,4 Millionen) und Houston (1,3 Millionen). 23 Die afro-amerikanische Gruppe umfasst 35,4 Millionen Menschen, das sind 12,8% der amerikanischen Bevölkerung und stellt somit die stärkste ethnische Bevölkerungsgruppe in den USA. Die Kaufkraft der Afro-Amerikaner wird derzeit auf 726 Milliarden Dollar geschätzt. Die afro-amerikanische Bevölkerung konzentriert sich auf Washington (57,7%), Mississippi (36,8%), Louisiana (33,8%) und South Carolina (29,4%). In den USA leben 10,8 Millionen Asiaten und stellen somit 3% der Bevölkerung dar. Mehr als die Hälfte leben in Kalifornien, New York und auf Hawaii. Die asiatische Gruppe stellt keine homogene dar, sondern zerfällt in die folgenden sechs Hauptgruppen: Chinesen, Philippiner, Inder, Vietnamesen, Koreaner und Japaner. Die Kaufkraft der Asiaten beläuft sich auf 254 Milliarden Dollar. Sämtliche ethnische Gruppen nehmen zahlenmäßig zu, ihre Kaufkraft steigt, und sie stellen einen interessanten Markt dar. Die amerikanischen Unternehmen präsentieren Produkte und Dienstleistungen, die den spezifischen Ansprüchen und Gepflogenheiten entsprechen. In den USA profitiert das ethnische Marketing davon, dass hier Minderheiten erfasst werden und Statistiken über deren ethnische Herkunft, im Gegensatz zu Frankreich, legal sind. Besonders in großen Städten spielen ethnische Minderheiten eine bedeutende Rolle: In Los Angeles besteht die Bevölkerung aus 46% Latinos, 12% Schwarzen, 11% Asiaten und nur 32% Angelsachsen. Auch New York 24 gehört zu den „kosmopolitesten“ Städten der Welt mit seinen 164 Nationalitäten. 25 Die Techniken des ethnischen Marketings betreffen vor allem die Verpackung und die mehrsprachige Etikettierung, die Errichtung von Filialen in geographischer Nähe der anvisierten Märkte im Rahmen des grass roots marketing, die Verwendung von den ethnischen Minderheiten 23 http: / / visionarymarketing.com/ articles/ pubethnique/ pubethnique3.html#hisp. 24 New York ist geprägt von einer starken Präsenz von Asiaten (7%, besonders in Queens), 25,2% Schwarzen und 24% Latinos. 25 http: / / f.monthe.club.fr/ Doctextes/ USA_Population.pdf. Ethnisches Marketing 65 entsprechenden Bildern und Slogans in Medien (Zeitschriften, Zeitungen, Katalogen, Webseiten) und Geschäftslokalen. 26 Die Unternehmen sind sich der Bedeutung der ethnischen Minderheiten bewusst und wissen um deren Kaufkraft. Von heute bis 2050 werden die ethnischen Gruppen zahlenstärker als die Weißen sein. 3.2. Gedanken zum ethnischen Marketing in Frankreich Im Vergleich zu den USA hat Frankreich spät mit dem ethnischen Marketing begonnen. Doch auch Frankreich verfügt über eine sehr multikulturelle Gesellschaft - 10% seiner Bevölkerung sind nicht-französischer Herkunft, und doch engagiert sich Frankreich nach wie vor vergleichsweise kaum im Bereich des ethnischen Marketings. Einer der Gründe mag im Fehlen entsprechender Statistiken über die ethnische Herkunft der Einwohner des hexagone liegen, das in der französischen Gesetzgebung begründet ist. 27 Le principe républicain ne permet pas de recenser la population en fonction de l'origine ethnique. Cela rend donc difficile une approche segmentée selon les origines (Mandin 2006). Im Jahr 1998 hat der Sieg der französischen Mannschaft bei der Fußball- WM dazu beigetragen, dass in Frankreich ein kollektives Bewusstsein entstanden ist, das Frankreich als Land mit Einwohnern vielfältiger Herkunft, black, blanc, beur, und unterschiedlicher Kulturen wahrzunehmen beginnt. Noch heute sprechen Soziologen vom so genannten Weltcup-Phänomen, dem effet coupe du monde. Im Bereich des Konsums allerdings ist bislang weder von den Industriellen noch von den grandes enseignes das Phänomen, dass die französische Gesellschaft pluriethnisch ist, wirklich wahrgenommen worden. Nach wie vor werden in französischer Werbung kaum farbige Menschen gezeigt, und wenn, ist diese Darstellung nicht selten klischeebehaftet und zeigt mitunter Anspielungen auf koloniales Gedankengut, das immer noch nicht der Vergangenheit anzugehören scheint. 28 26 http: / / www.moroccousafta.com/ downloads/ Les%20attentes%20du%20consommateur20am %C3%A9ricain.pdf. 27 http: / / www.edicas.fr/ site/ mar.cgi? TypeJ=20060419173323&journal_id=20060 719122723. 28 Amalou 2001: 80-81. Julia Kuhn 66 3.3. Die Strategien des ethnischen Marketings Das ethnische Marketing verfolgt verschiedene Strategien, wie die Integrationsstrategie, das micro marketing und die multikulturelle Strategie. Bei der Integrationsstrategie wird ein Produkt einheitlich beworben, und es werden Marketingstrategien eingesetzt, die unterschiedliche Ethnien gleichermaßen ansprechen. Es werden systematisch Mannequins unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit eingesetzt, und es wird die implizite Botschaft vermittelt, dass das entsprechende Produkt für alle geeignet sei und ethnische Zugehörigkeit keine Rolle spiele. Die Strategie des micro marketing besteht in der gezielten Veränderung von Elementen des Marketing Mix für eine Produktpalette oder Dienstleistung: wie die Anpassung von Verkaufsstrategien, spezifische Wahlen in Hinblick auf das Distributionsnetz, Anpassung der Werbung an verschiedene Idiome, Dialekte, Soziolekte u.ä.. Die multikulturelle Strategie kam Anfang der 90er Jahre auf und basiert auf solider multikultureller Expertise innerhalb der Unternehmen und gezielter Anpassung von Produkt und Marketing an die jeweilige Zielgruppe (cf. Tréguer/ Segati 2003: 198-199). Beispiele für die Integrationsstrategie sind Werbeannoncen wie diejenigen von Western Union 29 , die mit Models unterschiedlicher ethnischer Provenienz potentielle Kunden verschiedener ethnischer Gruppen (für den Geldtransfer durch Western Union) zu gewinnen suchen (siehe Anhang 2). Für die SNCF entwirft die Werbeagentur Devarrieux-Villaret ein realistisches Universum für die Werbespots der Pariser Vorortlinien, die der Vielfältigkeit der Nutzer dieser Linien gerecht wird. 30 Auch Mattel verfolgt die Integrationsstrategie. Bis 1990 hatte die Puppe Barbie helle Haut und blaue Augen. In den 90er Jahren wurde sich das Unternehmen Mattel der Pluriethnizität seiner potentiellen Kunden bewusst und brachte eine schwarze Barbie auf den Markt, eine Puppe mit asiatischem und Latina-Aussehen folgten. 31 Als Frankreich die Fußball-WM 1998 gewonnen hatte, wurde Zinedine Zidane (Zizou) zum Superstar in Frankreich und wurde für Werbungen engagiert. Die Firma Dior bewarb ihr Parfum Eau Sauvage (Anhang 3) mit ihm und durchbrach durch das Einsetzen eines Algeriers zur Bewerbung eines französischen Parfums ein bislang bestehendes Tabu. 29 Agence France-Presse: Le marketing "ethnique" émerge timidement en France (WEEKENDER), 1 avril 2005. 30 Le Monde: Le pluriethnisme reste peu présent dans la publicité en France, 21 février 2004. 31 http: / / clio.revues.org/ document446.html. Ethnisches Marketing 67 Auch die Firma Clarins hat sich dem ethnischen Marketing geöffnet. Die Kosmetikprodukte der Firma Clarins sind für alle Frauen gedacht, Makeup-Produkte allerdings müssen der Hautfarbe angepasst sein und unterschiedliche Töne haben, was Models unterschiedlicher ethnischer Provenienz vorführen. L’Oréal (www.loréal.fr) wendet in seinem ethnischen Marketing die multikulturelle Strategie an, indem es in seinen Werbespots nicht nur Models unterschiedlicher ethnischer Provenienz zeigt, um Kunden verschiedener ethnischer Provenienz anzusprechen, sondern auch über spezielle Produktserien verfügt, die auf ethnische Gruppen zugeschnitten sind, wie eine eigene Haarpflegeproduktreihe für „afrikanisches“ Haar, das unter dem Label Softsheen Carson vertrieben wird. In Frankreich werden die Produkte dieser Reihe in ausgewählten Pariser Geschäften verkauft (Galeries Lafayette, Printemps, Carrefour u.a.). 32 Carrefour (wie auch Auchan) geht auch in anderer Hinsicht auf die spezifischen Bedürfnisse seiner Kunden unterschiedlicher ethnischer Provenienz ein: Neben den erwähnten Kosmetikprodukten wird die Palette der angebotenen Nahrungsmittel abgestimmt, und es werden etwa Nahrungsmittel, die den Vorschriften der halal-Ernährung entsprechen, angeboten. Hautfarben haben unterschiedliche Stellenwerte in der französischen Werbung. Während Beurs und Beurettes besser vertreten sind, gestaltet sich für Schwarze die Situation weit schwieriger. Seit 1998 sind farbige Sportler, besonders Fußballstars, verstärkt in der Werbung präsent: So wirbt Zidane für Vittel, Dior und Ford (siehe Anhang 3). Nicht nur die Präsenz des Farbigen in der Werbung hat sich verändert, auch die beworbenen Produkte sind andere. Trat der Schwarze in älteren französischen Werbungen besonders für exotische Produkte, wie Zuckerrohr, Rum, Bananen, aber auch Kakao und Schokolade auf, bewerben Farbige heute Luxusartikel und Alltagsprodukte. Trotzdem ist in Frankreich der Farbige nach wie vor nicht in dem Maß wie in den USA als potentieller Kunde anerkannt. Er gilt als eine Untergruppe mit schwacher Kaufkraft (cf. Amalou 2001: 86-90). 32 Eine andere Marke in diesem Segment, die speziell auf afrikanisches Haar abgestimmt ist, ist Iman, welche in Frankreich bei Monoprix und Marionnaud (in ausgewählten Filialen) verkauft wird. Cf.: Les Echos: Le « business » ethnique s'installe en France, 9 mars 2005. Julia Kuhn 68 On croit que noir égale banlieue égale misère, mais on ne comprend pas que noir égale mode égale consommation (Nemale 1997) 33 . Um diesem Missstand abzuhelfen, wurden Agenturen (wie SOPI) gegründet, die ethnischen Minderheiten zu einer repräsentativeren Darstellung verhelfen sollen und ihr Ziel wie folgt definieren: En termes publicitaires, le but de l’agence pour la diversité est de donner plus de représentativité aux minorités ethniques. Du côté du marketing direct, il s'agit d'apprendre à connaître les comportements de consommation de ces minorités, qui sont sans doute à peu près équivalents à ceux du reste de la population, mais avec des spécificités. D'où la création d'une base de données comportementales. 34 SOPI stellt fest: „Près de 10 millions de ses habitants ne sont pas comme tout le monde - mais comment ? “ Um diese Frage besser beantworten zu können, führte die Agentur SOPI eine exemplarische Studie in Frankreich durch, bei der 10.000 Personen in Hinblick auf deren Zugehörigkeit zu ethnischen Minoritäten und herkunftsbedingte Spezifika, die sich auf Konsumgewohnheiten auswirken, erfasst wurden. 35 Das Ergebnis: Ethnische Minderheiten sind häufig stärker durch persönliche Bindungen an Familie und Freunde (auch in ihren Kaufentscheidungen) geprägt. Mundpropaganda spielt eine bedeutende Rolle, Afro-Franzosen hören 2,5 Mal stärker auf Mundpropaganda als der Durchschnittsfranzose. 36 Ethnische Minderheiten sind Marken, die sie einmal gekauft haben und kennen, besonders treu. 4. Empirischer Teil 2: Beispiele im Wandel der Zeit Die Existenz von ethnischem Marketing lässt vermuten, dass Diskrimination in der Werbung heute endgültig der Vergangenheit angehört und sich ein kritisch bewusster Umgang mit Ethnien herausgebildet hat. Auch wenn, wie obige Beispiele zeigen, ein starkes Bewusstsein entstanden ist, sind allerdings diskriminierende Darstellungen auch heute nicht ausge- 33 http: / / www.souss.com/ forum/ forum-general/ 4716-marketing-ethnique-pensezde-frilosite-francai.html 34 http: / / www.sopi.fr 20 novembre 2006 35 La Libération: Les minorités, clientèle à saisir, 17 février 2005 36 Stratégies: L’Afro Power sort de l’ombre, 25 mai 2006 Ethnisches Marketing 69 schlossen. 37 Dass problematische Darstellungen längst nicht gänzlich der Vergangenheit angehören, illustrieren die folgenden Beispiele. 4.1. Das Beispiel Banania Das Frühstücksgetränk Banania ist ein Beispiel für ein Produkt, das bereits vor der Entstehung des ethnischen Marketings existierte und bis heute verkauft wird. Seine Werbestrategie veränderte sich dementsprechend. In einer frühen Phase bewarb eine junge Frau das Produkt (siehe Anhang 4b), die bald von der Darstellung eines Soldaten abgelöst wurde, der in stilisierter Form bis heute erhalten blieb. Eine der frühen Werbungen für Banania soll hier semiotisch diskursiv analysiert werden, um dann den Vergleich mit jüngeren Formen anzuschließen. Im analysierten frühen Beispiel (siehe Anhang 4a) wird der Betrachter mit freundlichem Lächeln durch den dargestellten Teilnehmer, einen farbigen Soldaten, dem tirailleur sénégalais, adressiert. Der Betracher sieht perspektivisch von oben auf den dargestellten TN hinunter. Der durch den Blickkontakt etablierte Vektor drückt ein demand of action (Join me! ) und ein offer of information (Das Produkt ist gut.) aus. Der verbale Text auf der Kiste „Banania, le plus nourrissant des aliments français … en vente partout“ stellt ein offer of information dar. Die Distanz zum dargestellten Teilnehmer ist eine mittlere, es entsteht kein Näheverhältnis. Die Darstellung des Teilnehmers und des Settings ist eine Zeichnung, die naturalistisch ist. Die verwendeten Farben sind kräftig. Im Zuge der Positionierung von verbalem und visuellem Text steht entsprechend Kress/ Van Leeuwen (2006: 186 ff.) im oberen Bildbereich das Ideale, hier der Produktname Banania. Im unteren Bildbereich, wo nach Kress/ Van Leeuwen (2006: 186 ff.) das Reale angesiedelt ist, steht der Slogan ‚Y’ a bon’. Der mittige Bereich der visuellen Darstellungen ist nach Kress/ VanLeeuwen (2006: 186 ff.) der zentralen Information vorbehalten, hier ist der Teilnehmer, der das Produkt in Händen hält, abgebildet. In Hinblick auf die relative Größe dominiert der TN, auf dem auch der Fokus liegt. 37 Selbst ethnische Werbung ist von diskriminierenden Elementen nicht frei: Florence Amalou (« Le livre noir de la pub - Quand la communication va trop loin ») weist darauf hin, dass die Darstellung farbiger Menschen häufig mit Klischees überfrachtet ist, die in Frankreich besonders aus der Kolonialzeit stammen (cf. Amalou 2001: 81). Allerdings ist dieser Umstand nicht zwingend den Werbefachleuten anzulasten - Werbungen entstehen im Auftrag, und nicht selten sind es die Auftraggeber, die Ursache für diskriminierende Darstellungen sind, wenn etwa „Naomi Campbell, mais en plus clair“ (Amalou 2001: 82) als Model gewünscht wird. Julia Kuhn 70 Auch der relative Farbkontrast hebt den TN mit seiner bunten Kleidung vor dem Setting der gelblich beigen Steppenlandschaft hervor. Kulturelle Symbole sind dabei der Fes als Kopfbedeckung und die Farbgebung der Kleidung ‚bleu, blanc, rouge’ (blaue Jacke, weiße Hose, roter Fes), die dem drapeau français entspricht und die für nationalistische Gesinnung des TN steht. Das gelbliche Setting entspricht der Farbe eines der Hauptbestandteile des Produktes, der Banane. Das Gewehr zu Füßen des Soldaten fällt auf und trägt zur naturalistischen Darstellung bei. Im Laufe der Zeit verändert sich die Werbung, die Darstellung des TN wird abstrakter, der Körper wird durch gezeichnete Bananen als Arme und Beine ersetzt (Anhang 4d), die Kleidung fällt weg, der Blickkontakt wird aufgelöst, und der Vektor verschiebt sich vom Betrachter weg und hin zum Produkt (Anhang 4 b, e, f). Durch diesen veränderten Vektor wird der Sprechakttyp offer of information (Fairclough 2003) ausgedrückt, was auch durch die Geste des erhobenen Zeigefingers unterstrichen wird. Das Setting der Hintergrundlandschaft verschwindet und wird durch eine einfarbige Fläche ersetzt. Dies verstärkt die Salienz des dargestellten TN, der im Zentrum steht. Der Winkel wird verändert, der Betrachter schaut nicht mehr hinunter, sondern befindet sich auf gleicher Ebene mit dem Teilnehmer. Die Rolle des Produktes verschiebt sich, während es zunächst Teil des Settings war, rückt es immer weiter in den Vordergrund und wird größer (Anhang 4e, f). Farblich hebt sich die weiße Tasse kontrastreich vom einfarbigen Hintergrund ab, während auf der früheren Abbildung die weiße Tasse vor weißer Hose keinen starken Kontrast bildete. Das Produkt (bzw. die Tasse, die das Produkt enthält) wird immer größer und realistischer repräsentiert, in der neuesten visuellen Darstellung wird die Tasse gekippt und somit nicht nur das Behältnis, sondern auch das Produkt bzw. dessen Inhaltsstoffe dargestellt. Das Setting wird im Laufe der Zeit stark reduziert, beibehalten wird jedoch der rote Fes, der aufgrund der Reduktion der anderen Elemente an Gewicht gewinnt. Die Darstellung des TN wird weniger wirklichkeitsnah und abstrahiert. Der Schriftzug Banania wechselt seine Position, steht entweder oben oder unten, bleibt jedoch dominant. Der ungrammatische Slogan y’ a bon 38 , der dem Teilnehmer in den Mund gelegt wird, verschwindet in den jüngeren Darstellungen. In den jüngeren Annoncen 38 Der Slogan Y’ a bon hat lange Zeit die Werbekampagne begleitet. Dieser ungrammatische Satz sei der Ausspruch eines verletzten senegalesischen Tirailleurs gewesen, nachdem man ihm Banania zu trinken gegeben habe. (Y'a bon banania, le retour! : www.grioo.com/ info3897.html). Ethnisches Marketing 71 steht der verbale Text „Le bon petit déjeuner équilibré“ (Anhang 4f), der den verbalen Text „Le petit déjeuner familial“ (Anhang 4d, e) der älteren Annoncen ersetzt. Diese Verschiebung reflektiert einen Wandel, während bei der älteren Version die Familie betont wird, weist die jüngere darauf hin, dass das Produkt zur ausgewogenen Ernährung beiträgt und so dem ausgeprägten Gesundheitsbewusstsein der Zeit entspricht. Die Reduktion der semiotisch diskursiven Elemente und die stärkere Abstraktion bei der Darstellung des TN erheben weniger Anspruch auf den Wahrheitswert der Aussage. Der veränderte Winkel auf den TN hebt die durch die ursprüngliche Positionierung implizierte Bewertung der Minderwertigkeit auf. Die Darstellung war von Anfang an nicht unumstritten. Bereits 1940 ruft die Werbung besonders bei farbigen Betrachtern Aggressionen hervor: „Je déchirai tous les rires de Banania sur les murs en France“ 39 . Erst 30 Jahre später erfolgen erste Reaktionen: im Jahr 1977 verschwindet der Slogan Y’ a bon von den Plakaten (Amalou 2001: 85). Im Jahr 2005 wird eine Sammelklage auf Unterlassung der Verwendung von „clichés insultants“ gegen das Unternehmen Nutrimoine, den Eigentümer der Marke Banania, eingebracht, mit dem Ergebnis, dass sich Nutrimoine im Jahr 2006 entschließt, den Slogan gänzlich aufzugeben. 4.2. Das Beispiel Tête nègre Die semiotische Darstellung des Werbediskurses von Banania hat sich verändert doch auch der moderne Werbediskurs ist nicht immer unproblematisch in Hinblick auf diskriminierend-klischeehafte Darstellungen. Als Beispiel sei hier die Süßware Tête Nègre 40 der Firma Haribo 41 andiskutiert, die im Jahre 2006 zu den meistverkauften Bonbons in Frankreich gehörte. 42 Die schwarzen Lakritzbonbons Tête Nègre haben die Form eines Gesichts mit großen runden Augen, flacher Nase und krausem Haar. Sie repräsentieren somit typische Klischees der Darstellung eines Schwarzen. 39 Léopold S. Senghor, politicien et poète sénégalais, cacique de la négritude et pionnier de l’indépendance politique et émancipation mentale de l’Afrique noire (Amalou 2001: 88). 40 Dieser Produktname überrascht umso mehr als Tête de Nègre die frühere Bezeichnung für die Schwedenbombe war, die durch Meringue au Chocolat oder tête au Choco ersetzt wurde. 41 TETE NEGRE à sucer chez l’allemand Haribo : http: / / lesogres.org/ article. php3? id_article=2421 42 www.obonbon.com, Abbildung des Produktes siehe Anhang 6. Julia Kuhn 72 Auf der Verpackung findet sich eine Abbildung, die spärlich bekleidete schwarze Kinder zeigt, die um ein trommelndes weißes Kind, das Haribo- Maskottchen, Ringelreihen tanzen. Dargestellt ist ein narrativ, agentivischer Prozess (Kress/ van Leeuwen 2006: 59ff.), in den vier interagierende Akteure involviert sind, drei der dargestellten Teilnehmer sind schwarzer Hautfarbe, einer weiß. Ein Vektor wird durch den Blick des mittig dargestellten weißen Teilnehmers etabliert, der Blickkontakt zum fiktiven Betrachter hergestellt. Die Blicke der um den im Zentrum positionierten weißen Teilnehmer im Kreis tanzenden Schwarzen sind auf den weißen Teilnehmer gerichtet, wodurch eine Hierarchierelation repräsentiert wird. Im Sinne der interpersonalen Metafunktion sieht der Betrachter die dargestellten Teilnehmer von oben, eine Positionierung, die eine Bewertung impliziert. Durch den zum Betrachter etablierten Blickkontakt wird ein offer of information gegeben, das mittels dargestelltem Tanz die Botschaft „Das Produkt macht Spaß.“ vermitteln soll, darüber hinaus jedoch produktunabhängig wertende Sekundärinformationen nahelegt. Wie geteilt die Reaktionen auf die semiotisch diskursive Repräsentation dieses Produktes in Frankreich waren, zeigt Verschave (2006) 43 , der in Hinblick auf die französisch-afrikanischen Beziehungen und den französischen Werbediskurs die Frage stellt: „Françafrique - le crime continue? “. 5. Conclusio In diesem Beitrag wurde gezeigt, wie der Werbediskurs in Frankreich in Hinblick auf unterschiedliche ethnische Gruppen im Laufe der Zeit sensibilisiert wurde. Die Rolle des farbigen Teilnehmers hat sich, vor dem Hintergrund des ethnischen Marketings, von diskriminierender Darstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum attraktiven potentiellen Kunden gewandelt. Auch wenn einzelne neuere Beispiele vermuten lassen, dass dieser Wandel noch nicht gänzlich vollzogen sei, ist der Grundgedanke des ethnischen Marketings, das die Realität einer multikulturellen Gesellschaft mit vielfältigen Konsumgewohnheiten berücksichtigt, mittlerweile allgemein anerkannt. 44 43 Verschave, Francois-Xavier (ed.): Françafrique - Le Crime Continue ? , http: / / boiscaiman-1791club.blogspot.com/ 2006/ 09/ haribo-oder-das-rassistische.html. 44 « Adopter le marketing ethnique, c’est donc accepter l’existence d’une société composée d’un agrégat de communautés qui se distinguent par leurs modes de Ethnisches Marketing 73 Literaturverzeichnis Amalou, Florence (2001): Le livre noir de la pub. Paris: Stock. Barthes, Roland (1967a): Elements of semiology. London: Cape. Barthes, Roland (1967b): Système de la mode. Paris: Seuil. Barthes, Roland (1977): Image, music, text. Essays selected and translated by Stephen Heath. New York: Hill and Wang. 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Lange Zeit war Werbung verpönt aufgrund ihres manipulativen und persuasiven Charakters, inzwischen hat sich jedoch die Einstellung dazu geändert. Sie ist ein Spiegel unseres Zeitgeistes und unserer Alltagskultur und beeinflusst in bedeutendem Maße unsere Sprache, unsere Verhaltensformen und unser Lebensgefühl. Im Rahmen der Angewandten Linguistik (AL) bietet sich deshalb immer wieder das Thema der Werbesprachenforschung an, um aktuelle Tendenzen in der Sprachgestaltung und Sprachverwendung aufzuzeigen. Wie verändert sich Sprache, welche Kommunikationsstrategien werden gewählt, um aus der Masse der Werbenden herauszuragen? Ganz konkret lassen sich in Bezug auf die Werbepraxis drei wesentliche Aufgaben für die AL formulieren (vgl. Stöckl 2004: 233): Interpretationskompetenz: Durch die vollständige Analyse von Werbetexten unter Einbeziehung aller Kodesysteme lassen sich der Prozess des Werbetextens und die dazugehörigen Strategien aufzeigen. Somit trägt die AL durch systematisches und reflektierendes „Lesen“ von Werbung zur Mediensozialisierung und zum Erlernen von Kommunikationskritik bei. Letztere ist für die Überarbeitung und Adaption von Werbetexten notwendig. Hilfe zur Kommunikationsplanung: Um Werbemaßnahmen produkt- und zielgruppengerecht gestalten zu können, sind Erkenntnisse bezüglich der aktuellen Diskurseigenschaften bestimmter Produktkategorien bzw. Marktsegmente nötig. Bei der Entscheidung für geeignete Werbestrategien und Kommunikationsstile dienen linguistische Textanalysen als wichtige Grundlage. Für eine optimale Zielgruppenansprache ist nicht zuletzt eine Analyse deren sprachlicher und kommu- Annette Lühken 86 nikativer Gewohnheiten (Redestile, sprachliche Inszenierung, Medieneinsatz) sinnvoll. Textoptimierung: Bei der Formulierung von Werbetexten und deren Kombination mit anderen Gestaltungselementen muss immer wieder zwischen verschiedenen Formulierungen und Gestaltungsalternativen abgewogen werden. Hierfür können verschiedene linguistische Kategorien bezüglich ihrer kommunikativen Wirkung in Betracht gezogen werden. Dies wird erleichtert durch die Kenntnis der Prinzipien der Werbekommunikation sowie die Verwendung vorliegender Forschungserkenntnisse. Zu berücksichtigen sind bei der Werbeplanung die kommunikativen Unterschiede der verschiedenen Werbeträger, die bei einer Werbekampagne zum Einsatz kommen. 2. Gegenstände linguistischer Werbeanalysen Stöckl (2004: 237f.) plädiert für ein umfassendes Programm der Werbeanalyse, zu der sich aus linguistischer Sicht ein dreiteiliges Konzept anbietet, wobei die nicht-linguistischen Modelle und Erkenntnisse mit einbezogen und genutzt werden sollen. Werbeplanung-Konzeption - Marketing- und Werbeziele - Zielgruppenbestimmung mediale Umsetzung (Mediaplan) - Marketing-, Werbe- und Gestaltungsstrategie - Marktforschung: vorhandene Kommunikationsstile Werbegestaltung-Formulierung: Makroebene - Produktspezifik, linguistische Werbestrategie - Layout, Gewichtung der Zeichenmodalitäten - Funktionale Textgliederung - Themenstruktur - Sprachhandlungsstruktur Werbegestaltung-Formulierung: Mikroebene - Lexik (Schlüsselwörter, Konnotationen, Assoziationen) - Phraseologie inszenierte sprachliche Varietäten - Rhetorik/ Stil(Figuren) - Sprache-Bild-Bezüge Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung 87 - Bildgestaltung typographische Gestaltung Werbekontrolle-Optimierung plausible Wirkungsweisen und -hypothesen - Werbetest - Kommunikationskritik - Optimierung von Werbetexten. Im Rahmen dieser Analyse soll der Fokus auf die Werbegestaltung und -formulierung reduziert werden, da diese die Kernbereiche einer linguistischen Analyse darstellen, die Bereiche der Werbeplanung und Werbekontrolle werden nur für die Interpretation der gewonnenen Ergebnisse herangezogen. So ist beispielsweise bei der Feststellung der verwendeten sprachlichen Varietät auf die mögliche Zielgruppenbestimmung der Konzeptionsphase zu schließen. Für eine umfassende Analyse sind fünf linguistische Disziplinen zu berücksichtigen, die sich in ihren Ergebnissen ergänzen (Stöckl 2004: 238): - Sprachstrukturelle Systemlinguistik: Phonetik/ Graphemik, Morphologie, Wortbildung, Lexik, Syntax - Rhetorik: rhetorische Figuren, rhetorische Textgliederung - Pragmatik: Sprachhandlungen (Sprechakte), kontextueller Rahmen des Werbetextes - Semiotik: allgemeine Kommunikationsmodelle der Werbung, nicht sprachliche Zeichensysteme des Werbetextes (Bild, Ton, Musik etc.) und ihre Verknüpfung - Textlinguistik/ Stilistik: Argumentationen, Textmuster(-mischungen), Werbestile. In Bezug auf Werbetexte in den traditionellen Werbeträgern sind in der Vergangenheit weitreichende linguistische Untersuchungen vor allem von Janich (2005), Sowinski (1998) und Schifko (1982) vorgelegt worden, die Ausgestaltung von Werbung im Internet hingegen bedarf noch weiterer Untersuchungen. Da das Internet über weitere Werbebausteine verfügt, die es deutlich von den Möglichkeiten der Anzeigenwerbung abgrenzen, soll zunächst die traditionelle und dann die neue Makrostruktur von Werbung, die durch die veränderte Rezeptionssituation im Internet entstanden ist, beschrieben werden. Annette Lühken 88 3. Das Internet im Vergleich zu anderen Werbeträgern Traditionell verfügt ein werbendes Unternehmen über verschiedene Werbeträger, wobei Fernsehen und Publikumszeitschriften zu den am häufigsten verwendeten zählen. Sie werden vorwiegend für strategische Werbung, also langfristige Strategien eingesetzt und bilden meist die Grundlage einer Werbekampagne. Für taktische Werbung (v.a. Einzelaktionen und Zusatzkampagnen) bietet sich neben den bereits genannten Werbeträgern auch der Hörfunk wegen seiner einfachen Gestaltungs- und schnellen Aktualisierungsmöglichkeiten an. Die Wahl des Werbeträgers hängt aber auch von anderen Faktoren, wie zum Beispiel der Reichweite, Nutzung durch die Zielgruppe und Eignung für die gewählte Werbebotschaft, ab. Auch die sehr unterschiedlichen Kosten sind bei der Entscheidung für einen Werbeträger zu berücksichtigen. Reduziert sich der Appell einer Anzeige auf die geschickte Kombination von Text und Bild, erweitern sich die Möglichkeiten von Fernsehen und Film auf Bild, Text und Ton. Der jüngste Werbeträger, das Internet, bietet zusätzliche Appellmöglichkeiten durch die Verwendung von Text, Bild, Ton und interaktiven Steuerelementen. Durch Letztere werden Werbegestalter mit der Herausforderung konfrontiert, Werbung so zu konzipieren, dass der Betrachter sie auch wirklich will und sogar noch selbst etwas dazu beiträgt, indem er beispielsweise das Produkt seinen Anforderungen anpasst 1 , es individualisiert und somit (hoffentlich) zu einer Kaufentscheidung bewegt wird. An dieser Stelle muss aber auch auf die veränderte Motivations- und Rezeptionssituation des Lesers hingewiesen werden, der im Internet eher selten „zufällig“ angesprochen wird (wie es beispielsweise bei der Werbeanzeige in einer Zeitschrift oder auf einer Plakatwand der Fall ist), sondern viel häufiger bewusst die Web-Adresse eines werbenden Unternehmens eingibt, um weiterführende Informationen zu einem Produkt zu erhalten. 1 So kann er zum Beispiel ein Fahrzeug in Farbe und Ausstattung seinen Vorstellungen anpassen und es dann im Internet betrachten. Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung 89 4. Die Bausteine der Werbung (am Beispiel französischer Werbung) 4.1. Schlagzeile/ Headline Die Schlagzeile ist der Aufhänger einer Werbeanzeige und neben dem Bild das zentrale Element mit dem Ziel der Aufmerksamkeitsgewinnung. Ist sie bei Anzeigenwerbung nach wie vor ein wichtiges Element als sprachlicher (und typographischer) Blickfang, so ist sie bei Internetwerbung seltener zu finden bzw. wird sie häufig durch ein interaktives Steuerelement ergänzt, welches mit weiterführenden Internetseiten verbunden und per Mausklick bedienbar ist: Cliquez ici, Abonnez-vous, zwei häufige Imperative mit dem Ziel der Aufmerksamkeitsgewinnung und Motivation zur weiteren Informationsabfrage/ Auseinandersetzung mit der Werbung. Häufig ist bereits die Schlagzeile einer Internetseite mit einem Link versehen, so zum Beispiel die Schlagzeile „Einstiegspreise bis 31. Mai 2007“ des aktuellen Internetauftritts von Peugeot Deutschland. 4.2. Slogan und Claim Die Hauptfunktion des Slogans ist es, die Wiedererkennung des Produkts, der Marke und/ oder des werbenden Unternehmens zu ermöglichen. Er wird meist medienübergreifend wiederholt und hat dabei imagebildenden Charakter. In kurzer und prägnanter Form fasst er die wesentliche Werbeaussage zusammen, wobei er allgemein formuliert ist und somit eine längere Lebensdauer hat. Bei der Betrachtung von aktuellen Internetauftritten fällt nun auf, dass der Slogan kaum eine Rolle spielt und eher selten auf einer Internetseite zu finden ist. Wirbt Citroën auf seiner deutschen Webseite mit „Nichts bewegt Sie wie ein Citroën“, so ist dieser Slogan auf der französischen Seite nicht mehr zu finden. Möglicherweise beurteilen die meisten Unternehmen die imageprägende und erinnerungsfördernde Funktion des Slogans im Internet als irrelevant, da ja die Homepages von Interessenten aktiv und gezielt aufgesucht werden. Vielleicht ist auch aufgrund der eher ungelenkten Leserichtung einer Webseite, die durch das Anklicken interaktiver Elemente gar nicht von „oben bis unten“ gelesen wird, ein Slogan als Textelement, welches meistens am unteren Ende einer Anzeige auftaucht, bei einer Internetseite überflüssig (vgl. Janich 2005: 227). Ein weiteres sprachliches Gestaltungselement der Werbung ist der Claim, der in Print-Anzeigen typischerweise am Ende eines Fließtextes zu Annette Lühken 90 finden ist. Der Claim, den Zielke (vgl. Zielke 1991: 84f.) als Sinn- und Merkspruch beschreibt, der ein Fazit aus dem Fließtext zieht und als solches vom Leser erinnert werden soll, ist im Gegensatz zum Slogan eng mit dem vorausgehenden Text verbunden. Im Internet erscheint er häufig als zusammenfassender Ausblick auf den folgenden Fließtext und übernimmt so die Funktion einer Schlagzeile. Zur Abgrenzung zwischen Claim und Slogan bleibt festzuhalten, dass der Slogan zur Wiedererkennung eines Produkts, einer Marke oder eines Unternehmens beiträgt und dabei imagebildende Funktion hat (z.B. Renault - Créateur d’automobiles) (vgl. Janich 2005: 48). Er wird wiederholt und in allen Anzeigen zu einem Produkt, einer Marke oder einem Unternehmen aufgeführt und hat die Funktion einer Visitenkarte der Ware/ Marke (vgl. Baumgart 1992: 40f.). Durch den anzeigen- und oft auch medienübergreifenden Einsatz des Slogans kann er keine konkreten Inhalte einer Anzeige zusammenfassen. Dies ist Aufgabe des Claims, der in der Werbefachsprache auch als ‚Anzeigenabbinder’ bezeichnet wird. Er besitzt keinen Wiederholungscharakter und bezieht sich auf einen bestimmten, mit ihm verbundenen Fließtext. 4.3. Fließtext In der traditionellen Anzeige hat der Fließtext die Aufgabe, das Thema der Schlagzeile aufzugreifen und weitere Informationen zu geben, die das Interesse des Lesers vertiefen. Durch die umfangreicheren Informationen werden im Fließtext andere sprachliche Mittel eingesetzt als bei Slogan und Schlagzeile. Auch Internetseiten verfügen über Fließtexte, wobei diese meistens nicht auf der Startseite einer Homepage zu finden sind, sondern erst durch den gezielten Mausklick geöffnet werden. Inwieweit sie tatsächlich spezifische Informationen zur Verfügung stellen oder eher der Imagepflege und der Vorbereitung eines persönlichen Kontaktes (z.B. bei Automobilherstellern Wegbereiter für den Gang zum nächsten Händler) dienen, ist durch eine inhaltliche Analyse zu klären. 4.4. Produktname Er ist Gegenstand vor allem onomastischer Untersuchungen und wurde bereits oft analysiert. Für die Analyse der Internetwerbung stellt der Produktname keine eigene Herausforderung dar, sodass er nicht explizit in diesem Aufsatz behandelt wird. Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung 91 4.5. Werbeplacements Sie gehören zu den typischen Formen der Internetwerbung. Vor allem beim Anwählen kommerzieller Webseiten (z.B. von Publikumszeitschriften) öffnen sich Banner, Buttons oder Pop-ups, um auf andere Unternehmen/ Produkte aufmerksam zu machen. Banner gehören zu den ältesten und auch erfolgreichsten Werbeformen im Internet. Sie sind meist rechteckig und am oberen Seitenrand zu finden. Waren Banner zunächst nur einfach durch Blinken animiert, so muss heutzutage ein Banner schon gut durchdacht sein, um den Webseitenbesucher dazu zu bewegen, ihn anzuklicken. Banner bieten viele Gestaltungsmöglichkeiten, da sie animiert werden können. Idealerweise erzählt ein Banner eine eigene Geschichte, denn es geht durch den hohen Einsatz an Bannern darum, aus der Menge herauszustechen und zum Klick zu animieren. Ist der Internetnutzer erst einmal auf der verlinkten Seite gelandet, entscheidet dann die Qualität dieser Seite darüber, ob eine weitere Auseinandersetzung mit den verbundenen Informationen stattfindet oder nicht. Buttons hingegen sind kleiner und meist am Rand platziert. Auch sie können statisch oder animiert sein. Pop-ups sind zusätzliche Browser-Fenster, die beim Anklicken eines Links aufspringen und meist Werbung beinhalten. Diese visuellen Elemente überdecken dabei gezielt andere Informationen und werden von Internetnutzern eher als störend empfunden. Daher gibt es seit einiger Zeit unterstützende Computerprogramme, die das Öffnen von Pop-ups unterbinden und so deren Einsatz für werbende Unternehmen immer unattraktiver werden lassen. 4.6. Bildelemente Bilder dienen als wichtiges Instrument für den Blickfang und werden inhaltlich schneller erfasst als Texte. Auch sind sie für die Vermittlung emotionaler Inhalte, die besonders in der französischen Werbung eine Rolle spielen, besser geeignet als Texte. Bilder erregen die Aufmerksamkeit, erzeugen Emotionen und werden leicht memoriert. Bei der klassischen Anzeige ist es meist so, dass das Bild im Verhältnis zum Text dominiert, da ja der Betrachter nur beiläufig auf die Anzeige aufmerksam wird und somit in wenigen Sekunden ein bleibender Eindruck hinterlassen werden muss. Beim Internetauftritt kann das Verhältnis zwischen Text und Bild anders aufgeteilt werden, da ja, wie bereits erwähnt, der Umworbene bewusst den Klick auf die Homepage des werbenden Annette Lühken 92 Unternehmens getan hat, um Informationen zu erhalten. Da er zuerst auf der Startseite der Homepage landet, wird diese in der folgenden Analyse primärer Untersuchungsgegenstand sein. Der erste Eindruck entscheidet darüber, ob es zu einer weiteren Auseinandersetzung mit den gegebenen Inhalten kommt oder nicht. Im Gegensatz zur Printanzeige können Bilder im Internet dynamisch oder statisch sein, und zwar in Form von Filmsequenzen oder einzelnen Fotos/ Bildern. Letztere können einen dynamischen Eindruck machen, indem sie mittels verschiedener Ein- und Ausblendtechniken bewegt werden. Bezüglich des Bildinhalts kann unterschieden werden zwischen wirklichen oder fiktionalen sowie formrealen oder formabstrakten Bildern. Zu beachten ist hierbei, dass nicht einfach zwischen Foto und Zeichnung unterschieden werden kann, da durch die möglichen Computeranimationen Fotografien bearbeitet und somit verfremdet werden können. 5. Das Analysemodell Bevor eine aktuelle Homepage in Bezug auf die oben genannten Bausteine untersucht wird, soll kurz das verwendete Analysemodell aufgezeigt werden, welches eine strukturierte Darstellung der Ergebnisse aus linguistischer Sicht ermöglicht. Das Analysemodell basiert auf dem ganzheitlichen Modell von Janich (2005: 204), wurde aber um die Komponenten „bewegtes Bild“ und „Ton“ erweitert, die im Internet zusätzlich als aufmerksamkeitserregende Elemente zum Einsatz kommen können. Somit kann von einem „erweiterten ganzheitlichen Analysemodell“ gesprochen werden. In der ersten Analysestufe des adaptierten Modells werden die textexternen Faktoren untersucht, die bei der Gestaltung der Webseite eine Rolle gespielt haben. Hierbei gilt das Augenmerk dem Werbemittel, der Produktbranche und dem Werbeziel. Da es sich bei Werbung immer um einen Kommunikationsprozess handelt, werden auch Sender (Produzent/ Agentur) und möglicher Empfänger (Zielgruppe) unter Berücksichtigung der Marktsituation dargestellt. Die zweite Analysestufe zeigt Aufbau, Struktur und Form der Teiltexte auf und bezieht sich hierbei auf verbale und visuelle Aspekte. Hinzu kommt dann eine Erweiterung, die im visuellen Bereich den Einsatz von (bewegten) Bildern sowie im akustischen bzw. auditiven Bereich die Verwendung von Ton beschreibt. Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung 93 Die dritte Analysestufe befasst sich mit dem Inhalt bzw. der Bedeutung der Teiltexte auf verbaler und visueller Ebene unter Beachtung ihrer Intratextualität. In der Erweiterung des Modells werden auch auditive Inhalte mit einbezogen. Auf der Synthesestufe des adaptierten Modells erfolgt dann die Darstellung des Zusammenspiels der textexternen und textinternen Faktoren, die zur Argumentation und Persuasion verwendet werden. Hierbei werden auch die akustische Ebene und Animationen berücksichtigt, sofern sie bei der Werbegestaltung eingesetzt wurden. Anhand des beobachtbaren Zusammenspiels der verwendeten Elemente wird dann das vermutete Werbeziel formuliert. 6. Ein Analysebeispiel: Die Homepage des französischen Automobilherstellers Citroën Annette Lühken 94 1. Analysestufe: Erste Skizzierung der textexternen Faktoren Es handelt sich um eine Homepage im World Wide Web, die primär für französische Internetnutzer gedacht ist, da die Adresse citroen.fr durch das Kürzel .fr auf eine landesspezifische Seite verweist. Ebenso gibt es eine Seite citroen.com, die international genutzt werden soll. Diese Seite ist zwar auf Französisch verfasst, per Mausklick auf einen entsprechenden Button kann aber die englische Version geladen werden. Darüber hinaus gibt es weitere länderspezifische Seiten, so beispielsweise citroen.de und citroen.es in der jeweiligen Landessprache und kulturspezifischen Gestaltung. Die Produktbranche Automobil bedient einen internationalen Markt, wobei bereits der unterschiedlichen Bedeutung und dem Image des Autos in verschiedenen Ländern Rechnung getragen werden muss 2 . Als Werbeziele sind hier mehrere zu nennen, handelt es sich doch um eine Homepage für alle Modelle von Citroën. Es werden sowohl neue Modelle (Einführungswerbung) als auch bekannte Modelle (Erhaltungswerbung) gezeigt. Da es mittlerweile selbstverständlich ist, dass ein Unternehmen über eine eigene Homepage verfügt, kann auch das Werbeziel der Imagepflege genannt werden, wofür vor allem die Gestaltung und Bedienmöglichkeiten der Homepage bedeutsam sind. Es geht nicht mehr nur um Präsenz im Internet, sondern auch um Information und, auf der französischen Seite deutlich erkennbar, um Unterhaltung 3 . Sender ist die konzerneigene Marketingabteilung 4 mit Sitz in Poissy bei Paris. Ein spezifischer Empfänger ist nicht direkt zu erkennen, die französische Seite richtet sich ganz allgemein an alle Franzosen (wobei der Zugang zur Homepage international unbeschränkt möglich ist), die sich für die Marke Citroën interessieren. Es gibt jedoch auf der Startseite die Möglichkeit der Zielgruppenspezifizierung: Der Button Autres sites Citroën auf der Seite rechts unten erlaubt die Auswahl verschiedener Seiten wie z.B. Collcit (für Mitarbeiter) oder Citroën Entreprise (für Unternehmer). Bezüglich der aktuellen Marktsituation ist zu sagen, dass auf dem französischen Markt ein großer Wettbewerb zwischen den nationalen Herstellern Renault, Peugeot und Citroën herrscht, wobei Renault vor Peugeot und Citroën Marktführer ist in Bezug auf die Neuzulassungen in 2 Im Rahmen dieser Analyse werden kurze Vergleiche zur deutschen Homepage gezogen, um wesentliche kulturelle Unterschiede aufzuzeigen, die sich in der Verwendung von Sprache, Bild und interaktiven Elementen manifestieren. 3 Siehe hierzu Analysestufe 2 und 3. 4 Konzern PSA mit den beiden Automobilherstellern Peugeot und Citroën. Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung 95 den letzten Jahren. 5 Wettbewerbsvorteile erhoffen sich die Hersteller durch umweltfreundlichere Motoren und Energiesparkonzepte, die auf den Homepages vorgestellt werden. Zu beachten ist jedoch, dass Peugeot und Citroën dem Konzern PSA angehören und dadurch in beiden Fahrzeugen die gleiche Technik verwendet wird. Der Unterschied liegt eher im Bereich des Markenimages. 2. Analysestufe: Aufbau, Struktur und Form der Teiltexte/ akustische Mittel In Bezug auf die verbale Gestaltung der Homepage sind verschiedene Textelemente zu erkennen, deren Verteilung kurz beschrieben werden soll. In der Kopfzeile befindet sich eine Menüleiste mit 7 Spalten, bei denen sich per Mausklick jeweils ein Schieber öffnet, der weitere Links zu den einzelnen Themen (Promotions, Véhicules neufs, Occasions, Services, Points de vente, Actualité und www.citroen.com) beinhaltet. Links neben dieser Menüleiste ist das Markenlogo mit dem Markennamen angeordnet 6 . Unterhalb der Menüleiste befindet sich ein dreiteiliger Bildbereich, der etwa ein Drittel der Homepage einnimmt. In jedem der animierten Bilder wird in einer Kombination aus Bildern und Texten für verschiedene Leistungen (während der Analyse: Prime écolo, Zeitschrift CôtéOuest, C2 & C3 Stop & Start) geworben. Im linken und größten der drei Rahmen wird ein Schild eingeblendet mit der Frage: Votre véhicule A PLUS DE 8 ANS? DÉCOUVREZ LA PRIME ÉCOLO. Auf dem eingeblendeten Button erscheint dann eine weitere Aufforderung im Imperativ: Prime ÉCOLO Cliquez ici. Die verschiedenen Grün- und Gelbtöne sowie die stilisierten Pflanzen und der Schmetterling verstärken den Umweltgedanken sowie den Eindruck von Sauberkeit und Harmonie. Zur Aufmerksamkeitsgewinnung wurden verschiedene Schriftarten und -größen sowie Großdruck und unterschiedliche Farben verwendet. Durch die Animation der einzelnen Textteile mit verschiedenen Blendeffekten wird das Bild sehr unruhig, es kann aber möglicherweise dennoch die Aufmerksamkeit des Betrachters erlangen, der nach und nach die vollständigen Informationen bzw. den weiterführenden Link eingeblendet bekommt. 5 Neuzulassungen in 2005 in Frankreich: 2 067 789, davon Renault 524 415, Peugeot 362 191, Citroën 271 301 (Quelle: www.quid.fr, Fichier central des automobilistes). 6 Auf der deutschen Homepage ist eine ähnliche Menüleiste in einer Spalte links angeordnet. Eine Menüleiste im Kopfbereich fehlt. Stattdessen findet man stark vergrößert Logo und Schriftzug von Citroën im Kopfbereich. Annette Lühken 96 Der mittlere Bildrahmen informiert den Betrachter im Wechsel über verschiedene Themen, so beispielsweise über die neue Zeitschrift Côté- Ouest, in der eine Reise an die französische Westküste mit dem Citroën C3 Cabrio beschrieben wird. Hierbei wechseln sich verschiedene Bildeinstellungen ab und ermöglichen eine Betrachtung des Fahrzeugs aus unterschiedlichen Perspektiven. Textelemente sind außer der Nennung (typographisch hervorgehoben durch Großschrift) der Zeitschrift nicht vorhanden. Es dominiert der Bildanteil. Erst das Anklicken des Bildes verrät, wer oder was CôtéOuest ist. Der rechte Bildrahmen berichtet mit wenigen Worten über das neue Kraftstoffsparsystem Stop & Start, welches für die Modelle C2 und C3 zu haben ist. Auch hier ist kaum Text vorhanden, erst der Klick auf den Bildteil öffnet eine mit ihm verbundene Unterseite, die Zusatzinformationen und technische Details bietet. Unter diesen drei animierten Bildbereichen läuft ein Schriftband mit kleinen Lettern und präsentiert aktuelle Angebote: Soyez les premiers à découvrir Citroën C4 Picasso…1 parrain… 2 heureux bénéficiaires d’un cadeau… Wiederum wird per Imperativ versucht, den Leser dazu zu bringen, per Mausklick weitere Informationen einzufordern. Das Nomen premiers vermittelt ein Gefühl von Exklusivität und Chancenvorsprung, das Verb découvrir weckt den Entdeckergeist und macht neugierig. Auch der zweite Satz argumentiert bewusst emotional: Das Adjektiv heureux sowie die Substantive bénéficiaires und cadeau erzeugen den Eindruck des „Beschenktwerdens“, und die Verlinkung führt zu einer Cross-Selling- Aktion, bei der Citroën für den Erwerb einer American Express Kreditkarte wirbt. Die Argumentation wurde hier in Form einer Steigerung verfasst: 1 parrain… 2 heureux bénéficiaires… Unter diesem laufenden Schriftband, welches nicht ständig vorhanden ist, befinden sich drei Spalten, die inhaltlich sehr unterschiedlich aufgebaut sind. Links ist eine Spalte mit dem Titel Actualité im Fettdruck mit Großbuchstaben, deren Schriftgröße deutlich über derjenigen der darunter angeordneten Textfelder liegt. Die drei Textfelder beginnen jeweils mit einem interaktiven Feld [En bref] bzw. [Produit], welches zu aktuellen Nachrichten aus dem Ralley-Rennsport oder zu Unternehmensneuigkeiten führt. Der jeweils darunter beginnende Satz deutet das Themengebiet an: Au terme de deux intenses journées de course… Dieser Satzanfang in poetischem Stil soll dazu motivieren, weitere Nachrichten zu lesen, wobei hier sehr wahrscheinlich nur der Ralley-Interessierte angesprochen wird, der weiß, dass aktuell ein Rennen stattfindet. Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung 97 Im darunter liegenden Textfeld beginnt die Aussage mit L’association Française de la Presse Automobile… und führt zu aktuellen Berichten der Automobilpresse über verschiedene Modelle von Citroën. Die französische Presse wird somit als Referenz oder eine Art Testimonial eingesetzt, als Fürsprecher für das Unternehmen: Wenn die Presse positiv über Citroën schreibt, muss es logischerweise eine gute Marke sein. Das letzte Textfeld in dieser Spalte beginnt beinahe wie eine Erzählung, Trois Citroën SM… Wie es weitergeht, ist durch Klick auf den Link [En bref] zu erfahren. Die Informationen dieser linken Spalte wechseln mehrmals täglich, es ist jedoch keine Systematik erkennbar. Die mittlere Spalte ist überschrieben mit dem Imperativ DÉCOUVREZ LA GAMME in grauen und schwarzen Großbuchstaben und einer auffälligen Schriftgröße. Rechts daneben befinden sich zwei Reiter, die mit Particuliers und Utilitaires beschriftet sind und eine Unterscheidung der Fahrzeugpalette in Personenwagen oder Nutzfahrzeuge ermöglichen. So ist der Betrachter in der Lage, die gesuchten Informationen vorab zu filtern. Je nach Wahl sind dann verschiedene Modelle vom C1 bis zum Kombi in Kleinformat abgebildet und jeweils mit modellspezifischen Informationen verlinkt. In dieser Spalte ist außer den Modellbezeichnungen, die entweder aus dem Großbuchstaben C plus einer Zahl (z.B. C1) oder alleine aus einem Namen (z.B. Jumper) bestehen, kein Text vorhanden. Die Spalte schließt nach unten ab mit drei schmalen, rechteckigen Buttons, die folgende Navigationsmöglichkeiten bieten: Der linke Button ist betitelt mit Quelle Citroën Choisir? und führt zu weiteren Erläuterungen bezüglich der einzelnen Modelle. Das Verb choisir ist optisch durch Fettdruck hervorgehoben. Der mittlere Button Personnalisez votre Citroën ermöglicht die individuelle Gestaltung des Wunschautos mithilfe eines entsprechenden interaktiven Programms. Hier ist der Markenname in Fettdruck hinterlegt. Der letzte Button verweist auf Services et Avantages, wobei hier durch Fettdruck das Augenmerk vor allem auf die „Vorteile“ gelenkt werden soll. Die rechte Spalte stellt eine Art personalisierten Bereich dar, der mit CITROËN & VOUS? überschrieben ist und verschiedenfarbige Buttons aufführt, die zu unterschiedlichen Themenbereichen führen. Der erste Button in Blau führt zum nächsten Citroën-Händler: Votre point de vente Citroën verweist auf die Funktion dieses interaktiven Bereichs, der Imperativ Trouvez-le en 1 clic soll zur Handlung führen. Durch die direkte Ansprache mittels votre und vous fühlt sich der Leser Annette Lühken 98 das erste Mal persönlich angesprochen, seine Wünsche und Bedürfnisse stehen nun im Mittelpunkt. Auch der nächste Button in Hellgrün spricht den Nutzer wieder persönlich an: Votre Espace Citroën. Voir les services… Hier ist der Befehl etwas abgeschwächt durch die indirekte Konstruktion mittels Verb im Infinitiv, welches aber ebenfalls eine aktive Handlung beschreibt. Der dritte Button in Orange aktiviert per Substantiv-Konstruktion und ist somit ebenfalls ein abgeschwächter Versuch zur Motivation einer Handlung, hier: Die Vereinbarung einer Probefahrt. Demande d’essai, RDV. Appel gratuit! Der Hinweis auf den kostenlosen Anruf könnte der wichtigste Motivator sein. Der vierte Button in Rot führt zum Newsletter Citroën, ein direkter Appel erfolgt durch Inscrivez-vous. Am auffälligsten ist hier die Verwendung des Anglizismus Newsletter, der auf die regelmäßige Informationszusendung per elektronischer Post verweist. Dies erfolgt aber nur, wenn man sich vorher auf der entsprechenden Unterseite anmeldet. Die Homepage führt in der letzten Zeile, außerhalb des eigentlichen Gesamtrahmens eine weitere Menüleiste auf, die 7 Kategorien enthält: Plan & Mentions légales, Catalogue, Demander un essai, Votre avis, Demander un rendez-vous en Atelier, Newsletter und (optisch etwas hervorgehoben durch einen Schieber) Autres sites Citroën. Diese Menüleiste führt teilweise zu den gleichen Unterseiten wie die entsprechenden Links innerhalb der Seite, kann aber zur schnelleren Orientierung für denjenigen dienen, der sich mit der doch sehr stark animierten Homepage nicht näher befassen möchte. Akustische Elemente werden auf der Startseite nicht verwendet, teilweise sind die Unterseiten (v.a. für Produktneuheiten) mit Musikeinspielungen hinterlegt, die den Emotionsaufbau unterstützen sollen. Im Vergleich zum französischen Internetauftritt ist die für Deutschland erstellte Seite www.citroen.de sehr viel konservativer gestaltet. Hier überwiegt bei der Farbgestaltung eine Kombination verschiedener Grautöne mit der Unternehmensfarbe Rot. Es gibt nur zwei animierte Bildrahmen, die jedoch keine so hohen Bildfrequenzen aufweisen und in sanfter Überblendtechnik die Bilder austauschen. Dadurch wird deutlich mehr Ruhe ausgestrahlt. Der größte Bildrahmen zeigt sehr ästhetisch fotografierte Modelle von Citroën, die ein Gefühl von Qualität und Wertigkeit erzeugen. Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung 99 3. Analysestufe: Inhalt/ Bedeutung der Teiltexte/ Wechselwirkung mit akustischen Mitteln Auffällig ist, dass die Homepage viel weniger mit verbalen Elementen arbeitet, als dies möglich wäre. Es dominieren visuelle Effekte in Form von bewegten Bildern, einfliegenden Kurzinformationen, laufenden Schriftbändern. Es überwiegen bunte Farben, und die Bilder haben teilweise comicähnlichen Charakter. Insgesamt wirkt der Internetauftritt sehr jugendlich, fast ein wenig verspielt. In stetem Wechsel werden die Themen, die in den drei Bildbereichen kommuniziert werden, aufgeführt, sodass der Eindruck entsteht, die Homepage würde ständig überarbeitet werden. Bezüglich des Informationsgehalts der Startseite muss festgestellt werden, dass hier der Schwerpunkt deutlich auf der Bekanntgabe aktueller Angebote, technischer Entwicklungen im Bereich Umwelt sowie Cross-Selling-Aktionen liegt. Der Textanteil reduziert sich weitestgehend auf Imperative, die den Internetnutzer aktivieren sollen, sich per Mausklick auch die verlinkten Unterseiten anzusehen in der Hoffnung, ihn für Citroën begeistern zu können. Die denotativen Angaben dienen der Orientierung auf der Startseite, der konnotative Bereich (hier: das Thema Umwelt) wird durch Farbe, Bildelemente und wenig Text so gestaltet, dass der Eindruck der Umweltfreundlichkeit von Citroën durchaus geweckt wird. Fachvokabular wird auf der Startseite nicht verwendet, Wortschöpfungen wie z.B. Prime écolo (écolo ist die Apokope von écologique) sind aus dem Alltag bekannt und werden durch die Bildwahl (Schmetterling, grüne Blätter) unterstützt. Besondere verbale Gestaltungen, die zum Aufbau von Emotionen dienen könnten, wie dies bei Anzeigenwerbung der Fall ist, sind nicht vorhanden, der Interessent soll durch spielerische Aktivitäten und Animationen zur Auseinandersetzung mit der Homepage und somit den Modellen und verbundenen Zusatzleistungen von Citroën bewegt werden. Interesse wird durch die Anwahl der Homepage bereits vorausgesetzt, der erste Schritt hin zu einem möglichen Kauf wurde somit bereits getan. Bei der Bildauswahl werden am häufigsten die beiden Erfolgsmodelle C2 und C3 gezeigt, die zu den Kleinwagen von Citroën gehören. Vermutlich wurde auch deshalb die Gestaltung der Seite auf ein eher jugendliches Publikum abgestimmt. Man geht davon aus, dass Käufer Annette Lühken 100 höherwertiger Fahrzeuge nicht unbedingt zu den typischen Internetbenutzern zählen 7 . Akustische Elemente werden, wie bereits erwähnt, nur auf einzelnen Unterseiten verwendet. Synthesestufe: Korrelation von textinternen und textexternen Faktoren Die französische Homepage arbeitet sehr stark mit den Möglichkeiten des Internets. Animierte Bilder, Verlinkungen und spielerische Elemente führen zu einem Gesamteindruck, der Dynamik, Leichtigkeit, Jugendlichkeit und Spaß miteinander verbindet. In Bezug auf eine mögliche Zielgruppe lässt sich hier eine Tendenz zu jüngeren Käufern erkennen, die bunte Bilder und Comics aus ihrem Alltag kennen. Warum keine bzw. kaum akustische Mittel verwendet wurden, kann nur vermutet werden. Möglicherweise sind die Ladezeiten zu hoch, und es dauert zu lange, bis die entsprechenden Seiten auf einem üblichen Heimcomputer gestartet werden können. Somit besteht das Risiko, dass das geweckte Interesse wieder nachlässt und der Leser die Seite verlässt. Es kann auch sein, dass die Ausstattung der meisten Computer mit Lautsprechern eher unzureichend ist. Innerhalb der Startseite sind keine klaren Argumentationsstrategien erkennbar, der Nutzer springt von einer Information zur anderen, bestimmte Reihenfolgen sind hier nicht vorgegeben. Inwieweit der Interessent sich für einen konkreten Kauf durch den Besuch der Internetseite entschließen kann, ist nicht zu sagen. Das Hauptaugenmerk liegt aber sehr wahrscheinlich eher auf der Erzeugung eines positiven Images und Lebensgefühls, welches man vielleicht durch den Kauf eines Fahrzeugs erreichen kann. So lässt sich als mögliches Werbeziel die Imagebildung und -festigung vermuten, die durch eine entsprechende Gestaltung der Homepage erreicht werden soll. Da der aktuelle Auftritt ganz sicher nicht alle möglichen Käufergruppen anspricht, bietet Citroën entsprechende zielgruppenspezifische Seiten an, die eine Identifikationsmöglichkeit bieten. 8 7 Bei der deutschen Seite ist dies nicht der Fall. Die Seitengestaltung ist eher auf typische Käufer der Mittelklassemodelle ausgerichtet. Seriosität und Professionalität überwiegen, spielerische Elemente sind nur vereinzelt vorhanden in Form von bewegten realen Bildern. 8 Siehe den Button Autres sites Citroën rechts unten auf der Startseite. Linguistische Charakteristika der französischen Internetwerbung 101 7. Schlussbemerkung und Ausblick Durch die Analyse von Internetseiten sowie den Vergleich verschiedener Homepages innerhalb der gleichen Produktbranche können unternehmensübergreifende und auch spezifische Tendenzen in Bezug auf die Gestaltung einer Homepage festgestellt werden. Im Falle der linguistischen Betrachtung französischer Homepages werden die verschiedenen Kommunikationsstrategien erkennbar, derer sich die Webdesigner bedienen, um die Aufmerksamkeit des Betrachters möglichst lange für die Internetseite zu gewinnen. Die Erkenntnisse der AL ermöglichen die zielgruppengerechtere Gestaltung einer Homepage, da sie spezifische Merkmale von Sprache und deren Verwendung in der Internetwerbung nicht nur aufzeigen, sondern auch erklären kann. Somit können zukünftige Werbeplanungen, z.B. die eines deutschen Unternehmens, welches auf dem französischen Markt per Internetauftritt präsent werden möchte, zielgruppengerecht ausgearbeitet werden, statt die deutsche Homepage einfach nur zu übersetzen. 9 Die vielseitigen linguistischen Unterdisziplinen ermöglichen eine umfassende Analyse sowohl der Textals auch der Bild- und Tongestaltung und können Hilfestellungen bei der Werbegestaltung geben. Es muss jedoch eingestanden werden, dass die Verwendung und Bedeutung von Texten bei der Werbung im Internet wesentlich geringer ist, als dies bei anderen Werbemitteln wie beispielsweise Anzeige oder Fernsehspot der Fall ist. Bilder und interaktive Elemente dominieren, und es zeigt sich, dass für die Interpretation und Erklärung ihrer Verwendung kulturspezifische Kenntnisse erforderlich sind. Hier benötigt die Linguistik die Unterstützung der Kulturwissenschaften, um gemeinsam umfassende Ergebnisse liefern zu können. Denn ein Franzose hat ein anderes Verhältnis zum Internet als ein Deutscher, und es dürfen nicht nur sprachliche Unterschiede bei der Webseitengestaltung berücksichtigt werden. 9 Einfache Übersetzungen von Homepages findet man immer häufiger im Internet. Sie werden mit der fortschreitenden Globalisierung und der damit verbundenen möglichen Kosteneinsparung begründet. Annette Lühken 102 Literaturverzeichnis Baumgart, Manuela (1992): Die Sprache der Anzeigenwerbung. Heidelberg: Physica. Janich, Nina ( 4 2005): Werbesprache - Ein Arbeitsbuch. Tübingen: Narr. Knapp, K. et al. (eds.) (2004): Angewandte Linguistik - Ein Lehrbuch. Tübingen/ Basel: Francke. Müller, S./ Gelbrich, K. (2004): Interkulturelles Marketing. München: Vahlen. Schifko, P. (1982): „Die Werbetexte aus sprachwissenschaftlicher Sicht“, in: Tietz, B. (ed.): Die Werbung. Handbuch der Kommunikations- und Werbewirtschaft. Bd. 2. Landsberg am Lech: Moderne Industrie, 982-996. Sowinski, B. (1998): Werbung. Tübingen: Niemeyer. Stöckl, H. (2004): „Werbekommunikation - Linguistische Analyse und Textoptimierung“, in: Knapp, K. et al. (eds.): Angewandte Linguistik - Ein Lehrbuch. Tübingen/ Basel: Francke, 233-254. Zielke, Achim (1991): Beispiellos ist beispielhaft oder: Überlegungenzur Analyse und zur Kreation des kommunikativen Codes von Werbebotschaften in Zeitungs- und Zeitschriftenanzeigen. Pfaffenweiler: Centaurus. Antje Zilg Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 1. Einführung Markennamen sind ein wichtiger Bestandteil unserer alltäglichen Sprachumgebung. Sie begegnen uns in der Presse-, Rundfunk- und Fernsehwerbung ebenso wie auf Plakatwänden, beim täglichen Einkauf im Supermarkt und im eigenen Haushalt. Ein Konsument kommt täglich mit mehr als 300 Marken in Kontakt (vgl. Latour 1992: 140). Quantitative Schätzungen der Markennamen weltweit sind zwar aufgrund der Kurzlebigkeit vieler solcher Namen, der hohen Neuprägungsrate und der vielen sich im Umlauf befindenden ungeschützten Namen schwierig (vgl. Wehking 1984: 9), dennoch kann davon ausgegangen werden, dass ihre Zahl in Italien etwa eine Million beträgt und stetig ansteigt (vgl. Botton/ Cegarra/ Ferrari 2002: 9). Die Notwendigkeit, für immer neue Produkte Namen zu finden, hat einen sprachlichen Notstand geschaffen (vgl. Römer 1976: 62). Um Namen für neue Erzeugnisse zu erhalten, werden Wörter aus fremden Sprachen übernommen, Abkürzungen zu Namen erhoben, Wörter oder Silben zerrissen und neu zusammengefügt, und neue Lautfolgen werden erfunden. Unter allen Namenarten stellen Bezeichnungen für Produkte den wohl am stärksten expandierenden Bereich dar (vgl. Platen 1997: 11). Während Personen-, Orts- und Gewässernamen oftmals auf jahrhundertealte Etymologien zurückblicken, werden Markennamen als synchrone Artefakte betrachtet, die außerhalb der diachronen Evolution konzipiert werden (vgl. Kalverkämper 1978: 302). In der heutigen Zeit der Globalisierung der Märkte, des wachsenden internationalen Konkurrenzdruckes sowie der durch Reizüberflutung geprägten Konsumgesellschaft müssen neue Produkte auf dem Markt schnell ihre Anteile gewinnen (vgl. Platen 1997: 162; Latour 1996: 177). In diesem Kontext hat sich mittlerweile die kommunikationspsychologische Einsicht durchgesetzt, dass dem Namen entscheidende Bedeutung beizumessen ist, denn die Wiedererkennung eines Produkts erfolgt in der überwiegenden Zahl der Fälle über den Namen (vgl. Platen 1997: 162). Der Name gilt gleichsam als kognitiver Anker, der dem Verbraucher Orientierung ermöglicht, und für den er ein ganzes Wertpaket verkörpert Antje Zilg 104 (vgl. Sprengel 1990: 410). Der richtige Name als Ausgangspunkt einer Marke ist zur Conditio sine qua non, zum strategischen Erfolgsfaktor geworden (vgl. Latour 1992: 140). Der Name wird daher auch Grundstein der gesamten Kommunikation sein (vgl. Latour 1996: 177). 2. Forschungsstand, Korpus, Methodik Für die linguistische Forschung gelten Markennamen aufgrund ihres ausgeprägten Praxisbezugs und der Vielfalt des verwendeten sprachlichen Materials als wesentliche Bereicherung. Das Feld der Markennamen stellt einen Sprachbereich mit eigenen Gesetzen und sprachschöpferischen Impulsen dar. Die ihnen eigene Flexibilität und Dynamik ermöglicht es, die Entwicklungstendenzen des Sprachsystems in gewissen Grenzen zu antizipieren. Es existieren zwar Darstellungen der italienischen Werbesprache sowie Untersuchungen zu Markennamen allgemeiner Art oder spezifische Bereiche betreffend für das Deutsche und Englische. Auch gibt es italienische marketingorientierte Literatur zu Markennamen. Einer explizit sprachwissenschaftlichen Analyse italienischer Markennamen wurde sich bisher jedoch noch nicht gewidmet. 1 Basis der Beschreibung der Bildung und Bedeutung italienischer Markennamen ist ein Korpus bestehend aus 950 Markennamen der Lebensmittelindustrie. Der Lebensmittelmarkt stellt im Rahmen der Analyse der italienischen Gegenwartssprache in zweifacher Hinsicht ein geeignetes Untersuchungsgebiet dar. Zum einen enthält er Namen, mit denen die Konsumenten tatsächlich konfrontiert werden. Zum anderen enthält er zahlreiche originär italienische Namen, die noch nicht der Globalisierung zum Opfer gefallen sind und daher die Benennungspraxis in Italien modellhaft veranschaulichen. Die Markennamen wurden durch eine Feldforschung in verschiedenen Lebensmittelmärkten während eines mehrwöchigen Italienaufenthaltes zusammengetragen. Zusätzlich wurde für sämtliche Namen auf Informationen der Hersteller bzw. auf Produktbeschreibungen zurückgegriffen. Gegenüber einer Zusammenstellung des 1 Zur italienischen Werbesprache vgl. Jacqmain (1973), Baldini (1987) und Chiantera (1989). Zu Untersuchungen von Markennamen allgemeiner Art vgl. Praninskas (1968), Herstatt (1985), Platen (1997) sowie Botton/ Cegarra/ Ferrari (2002). Mit Markennamen spezifischer Bereiche beschäftigen sich Sialm-Bossard (1975), Voigt (1982) und Wehking (1984). Einer betriebswirtschaftlichen Orientierung folgen die Werke von Kapferer/ Thoenig (1991), Esch (2001) und (2003) sowie Langner (2003). Juristische Aspekte behandeln Seutter (1996) und Sena (2001). Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 105 Korpus aus veröffentlichten Listen registrierter Markennamen, bei der die jeweiligen Produkte nur annähernd bestimmt werden können, bietet die Feldforschung den Vorteil der genauen Kenntnis des Referenten. Diese ist in Verbindung mit den Hersteller- und Produktinformationen für die korrekte Bestimmung der Bildung und Bedeutung zahlreicher Namen unerlässlich. Die linguistische Analyse der italienischen Markennamen folgt einem induktiven Ansatz. Im Verlauf der Arbeit werden die einzelnen Bildungstechniken theoretisch erläutert und an charakteristischen Beispielen veranschaulicht. Im Vordergrund stehen bei der Untersuchung graphische, lautliche, morphologische, semantische, lexikalische und rhetorische Fragestellungen. Da Werbung immer kulturspezifisch ist, werden auch kulturelle Aspekte berücksichtigt. Leitfragen sind: • Gibt es Besonderheiten in der graphischen und lautlichen Struktur der Markennamen? • Können diese Namen mit Begriffen und Kriterien der traditionellen Wortbildung erfasst werden? Wenn dies der Fall ist, welche Wortbildungstypen sind produktiv? • Wie ist die semantische Struktur der Markennamen, und welche semantischen Bezüge zu bestimmten Bereichen gibt es? • Woher beziehen die Namen ihr Wortmaterial? Wie stark ist die Präsenz fremdsprachiger Elemente? • Welche rhetorischen Stilmittel werden eingesetzt? Das Ergebnis stellt eine Typologie der Markennamen dar, die Bildungsmodelle für die Kreation zukünftiger Namen enthält. 3. Markennamen im Kontext des Branding Den Begriff des Branding prägten nordamerikanische Siedler als Bezeichnung für die Brandmarkung von Tieren. Mangels eingezäunter Koppeln wurden zur Klärung der Besitzverhältnisse sämtliche Tiere mit dem Zeichen ihres Besitzers gebrandmarkt, so dass ausgerissene Tiere mittels des Brandzeichens ihren Eigentümern zugeordnet werden konnten (vgl. Langner 2003: 3). In Anlehnung an Esch/ Langner wird Branding im Rahmen des Marketing verstanden als: Alle Maßnahmen, die dazu geeignet sind, ein Produkt aus der Masse gleichartiger Produkte herauszuheben und die eine eindeutige Zuordnung von Antje Zilg 106 Produkten zu einer bestimmten Marke ermöglichen (vgl. Esch/ Langner 2001a: 441). Auf gesättigten Märkten mit ihren qualitativ austauschbaren Produkten spielt das Branding als Mittel zur Differenzierung von der Konkurrenz eine zentrale Rolle. In den vergangenen Jahren hat es in der Marketing- Praxis zunehmend an Bedeutung und Aktualität gewonnen. Geeignet, diesen Markierungsanspruch zu erfüllen, sind vor allem der Markenname, das Markenzeichen bzw. das Markenbild und die Verpackungsbzw. Produktgestaltung, denn diese Elemente differenzieren eine Marke von konkurrierenden Marken und ermöglichen eine eindeutige Zuordnung der Angebote zu der betreffenden Marke (vgl. Langner 2003: 5). Die Brandingelemente erfüllen diese Aufgabe über inhaltliche und formale Gestaltungsmittel. Dem Begriff „brand“ entspricht im Italienischen der Begriff „marca“, wie es die Ausführungen von Botton/ Cegarra/ Ferrari verdeutlichen: La prima parola da considerare è marca: questa racchiude in sé la combinazione del disegno, del segno grafico e del nome, ovvero tutto ciò che designa i beni-servizi di un’azienda o di un gruppo di aziende, e consente così di identificarli e di differenziarli da quelli dei concorrenti. (Botton/ Cegarra/ Ferrari 2002: 10) Als Markenname wird der verbal wiedergebbare, artikulierbare Teil der Marke bezeichnet (vgl. Kotler/ Bliemel 2001: 736). Markennamen übernehmen eine zentrale Kommunikationsfunktion, denn sie dienen als Rufnamen für die Angebote einer Marke und machen diese dadurch für alle Konsumenten verbal formulierbar (vgl. Langner 2003: 27). Dem Markenlogo kommt als visuellem Bestandteil des Branding eine besondere Bedeutung zu. Markenlogos können in Bild- und Schriftlogos unterschieden werden. Bildlogos wiederum werden in konkrete und abstrakte Logos differenziert (vgl. Esch/ Langner 2001b: 497f.). Für die Logogestaltung ergeben sich im einzelnen folgende Anforderungen: Markenlogos müssen Aufmerksamkeit erregen, Gefallen erzielen, positionierungsrelevante Assoziationen kommunizieren und leicht wahrnehmbar und erinnerbar sein (vgl. Esch/ Langner 2001b: 498f.). Bei den zunehmend nach Lust und Stimulation suchenden Konsumenten spielt die Markenästhetik im Rahmen der Beurteilung von Marken eine Schlüsselrolle. Auf gesättigten Märkten mit funktional austauschbaren Produkten können Marken entweder nur noch durch eine erlebnisbetont gestaltete Markenkommunikation oder durch eine entsprechend ästhetisch Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 107 gestaltete Verpackung oder das Produktdesign differenziert werden (vgl. Esch 2003: 196). Das Branding bedarf einer ganzheitlichen Betrachtung, in der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Markenelementen bei der Kreation einer neuen Marke explizit zu berücksichtigen sind. Markenname, Markenzeichen und Produkt werden vom Rezipienten nicht isoliert, sondern in der Regel zusammen wahrgenommen, und erst das Zusammenspiel zwischen Markenname, Markenzeichen und Produktdesign bzw. -verpackung entscheidet über den Erfolg einer Brandingmaßnahme (vgl. Esch 2003: 157ff.). Name, Logo und Produktverpackung sollten daher die gleichen, im Sinne des Positionierungsziels angestrebten Assoziationen kommunizieren (vgl. Esch/ Langner 2001b: 506). Das Branding-Dreieck veranschaulicht diese Zusammenhänge: Markenname Markenzeichen Produkt- / Verpackungsgestaltung Abbildung 1: Das Branding-Dreieck (Quelle: Langner 2003: 27) Antje Zilg 108 Abbildung 2: Beispiele integrierten Brandings - CAPPUCCINE und DIA- MANTE Werbung ist immer kulturspezifisch. Im Bereich des Branding können neben dem Namen auch das Logo sowie die Verpackung bzw. das Produkt kulturspezifische Aspekte vermitteln. Die ausgeprägte Religiosität 2 zeigt sich deutlich im Logo der Marke LE TRE MARIE. Kennzeichnend für die italienische Kultur ist weiterhin eine ausgeprägte Emotionalität. Auch diese lässt sich im Bereich des Branding nachweisen. So taucht das Motiv der Zärtlichkeit im Falle von ABBRACCI sowohl in der Namensgebung als auch in der Produktgestaltung auf. Es handelt sich um eine Gebäcksorte der Firma MULINO BIANCO, deren eine Hälfte Rahm und deren andere Hälfte Schokolade enthält. Durch die Form und die zweifache Farbgebung sieht das Gebäck aus wie eine Umarmung. Das Konzept wird durch die Produktbeschreibung unterstützt: „gli ABBRACCI Mulino Bianco, il piacere unico di due biscotti insieme. […] Ad ogni morso un’emozione, per una colazione sempre nuova e piena di dolcezza. […] Lasciati coccolare dagli ABBRACCI, l’ideale per te e per tutta la famiglia.” 2 Auf die Fragen nach der Existenz Gottes, dem Verpflichtungscharakter der Gebote, dem Kirchenbesuch sowie nach der Akzeptanz der kirchlichen Autorität liegen die positiven Antworten der Italiener in der Regel um 10 bis 20% höher als im europäischen Durchschnitt. Diese Sonderstellung ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen ist Italien im Unterschied zu anderen Ländern nie von einer großen Glaubensspaltung erfasst worden, zum anderen befindet sich in Italien der Sitz des Papstes (vgl. Brütting 1997: 688). Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 109 Abbildung 3: Brandingelemente und Kulturspezifika - Religiosität und Zärtlichkeit 4. Bildung und Bedeutung italienischer Markennamen Im Bereich der Markennamen des italienischen Lebensmittelmarktes kommt ein Höchstmaß an sprachlicher Kreativität zum Ausdruck. Im Folgenden werden graphische, morphologische, semantische, lexikalische sowie rhetorische Besonderheiten italienischer Markennamen vorgestellt. 4.1. Die graphische Struktur der Markennamen Die Bildung eines schutzfähigen Namens ist bereits durch leichte graphische Veränderungen eines Lexems möglich. Der direkte Bezug zum Denotat des Lexems bleibt erhalten, durch die abweichende Graphie kann jedoch die Merkfähigkeit des Namens gesteigert werden, und es können weitere Assoziationen erzeugt werden. So ist der Markenname FAGOLOSI ausgehend von favolosi gebildet worden und enthält das Adjektiv golosi ‚naschhaft, schmackhaft’. Die leichte graphische Modifikation eines Lexems kann auch einen Hinweis auf das benannte Produkt vermitteln. So verweist das Graphem < w > in WUOI? und WULEVÙ auf die Produktart würstel. Die abweichende Graphie kann sich auf verschiedenen Ebenen artikulieren: • Auslassung eines Graphems, z.B. MAMA MIA (mamma) • Substitution eines Graphems, z.B. FAGOLOSI (favolosi) Antje Zilg 110 • Substitution eines Graphems durch eine Graphemkombination, z.B. SUILLO (suino) • Diakritisches Zeichen, z.B. POLLÌ (polli) • Kombinationen, z.B. NÁTTÚRA (natura). Bei Betrachtung der Markennamen ist die phonologische Schreibung einiger Kreationen auffällig. Sie erscheint überwiegend in Bildungen, die fremdsprachliches Material enthalten. Dabei kann es sich sowohl um die Auslassung von Graphemen handeln, denen keine lautliche Realisierung entspricht, als auch um die Substitution von Graphemen. Phonologische Schreibung Typ Markennamen Transkription Vollform Graphemausfall BIG FRUT BREK FURRINI / fru: t/ / br E k/ / furr’ini/ fruit break fourr(er) Graphemsubstitution BEBI RISO LAVAZZA DEK PAN BRIOSCÉ / ’ bEbi / / dEk / / bri OS e/ baby dec(affeinato) brioché Graphemsubstitution und -ausfall GRAN BISQUI’ KYR SNEK / bis’k ú i/ / kyR / / zn E k/ biscuit cure snack Tabelle 1: Die phonologische Schreibung in der italienischen Markennamenbildung Eine besondere Stellung nehmen in der italienischen Markennamenbildung die Grapheme < i > (SALSÌ, MIRTÍ), < k > (CUBIK, KREMLI- QUIRIZIA), < x > (FRUIX, CEREALIX) und < y > (CREMY, MOZARY) sowie der Buchstabe h (HALTA, HOLÉ) ein. Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 111 4.2. Die morphologische Struktur der Markennamen Unter formalen, rein äußerlich strukturellen Aspekten betrachtet, können viele Markennamen durch Derivation, Komposition und Kurzwortbildung beschrieben werden. Im Bereich der durch Derivation entstandenen Markennamen erweist sich der Begriff des (freien) Basislexems als problematisch. Die Basis ist oftmals derart gekürzt oder verfremdet, dass eine lexikalische Bedeutung nicht unmittelbar ersichtlich ist, z.B. VANETTA. Gleiches gilt für die gekürzten Konstituenten zahlreicher Komposita, z.B. FRUTTAPEC (pectina). Einige Suffixe sind sehr produktiv, in dem Sinne, dass sie sich an eine Vielzahl von „Basislexemen“ anfügen lassen. Die so entstehenden Ableitungen werden jedoch im Wörterbuch oft nicht aufgeführt. Derartige Bildungen werden als Kreationen der Werbesprache betrachtet, z.B. RISOTTERIA (risotto), PATATELLE (patata), NASTRINE (nastro), CREMOLO (crema). Die Produktivität einzelner Elemente offenbart sich in besonderem Maße im Bereich der modifizierenden Suffixe, mit denen Substantiven und Adjektiven eine verkleinernde und verniedlichende Note verliehen werden kann. Modifizierende Suffixe einfach -ello,a ACETELLI; LATTELLA; NATURELLA -etto,a CIUFFETTI; POLARETTI; TRANCETTO -ino,a NIDINA; TEGOLINO; VIPINO -olo,a CREMOLO; FRÙTTOLO; GHIOTTOLI -otto,a GOCCIOLOTTI; IL TONNOTTO zusammengesetzt -ell(o) + -ino,a BRUSCHELLINE -ott(o) + -ino,a SACCOTTINO -ott(o) + -ello,a PIZZOTTELLA Nominalisierung von Verben -ino,a; -ello,a FURRINI; LE ROSOLINE; SCOTTARELLE Tabelle 2: Werbesprachliche Kreationen durch Suffigierung Antje Zilg 112 Großer Beliebtheit erfreuen sich Markennamen, in denen das zur Bildung des absoluten Superlativs dienende Suffix -issimo statt an einen adjektivischen Stamm an ein Substantiv angeschlossen wird: CONISSIMO (cono), CUBISSI- MO (cubo), FAGIOLISSIMA (fagiolo), INSALATISSIME (insalata), POMODO- RISSIMO (pomodoro). Die folgende Tabelle enthält Belege der einzelnen Derivationsverfahren: Derivation Beispiel Suffixe: Substantivsuffixe Adjektivsuffixe Modifizierende Suffixe Superlativsuffix IL PASTAIO; LA CREMERIA LE VENEZIANE; POLARE GOCCIOLE; LE NUVOLETTE I FRESCHISSIMI; LEVISSIMA Präfixe SDRINK; SUPERUOVO Suffixoide OVITOBIO; PATABIO Präfixoide AGROITTICA; OVOMATTINO Tabelle 3: Die Derivation in der italienischen Markennamenbildung Die Beliebtheit der Komposita in der Werbesprache lässt sich durch das Prinzip der sprachlichen Ökonomie begründen. Wenn auch die Abgrenzung der Komposition von der syntaktischen Fügung problematisch ist, so stellen Markennamen doch immer eine begriffliche Einheit dar. Sie sollen ein Produktkonzept eindeutig vermitteln und so einen wesentlichen Beitrag zur Positionierung der Marke leisten. Im Untersuchungsmaterial sind folgende Kompositionstypen nachweisbar: Komposition Beispiel Komposition i.e.S. N+N CONO FIORE; GOCCIAMENTA N+A AMICA VERDE; MAREBLU A+N DOLCI FIOCCHI; PRIMOSOLE V+N GIRAVOLTE; SCOTTADITO N+Präp+N CUOR DI MELA; POLPADORO A+A FRESCO TENERO; FRESCOBLU N+Adv PIZZASÚ; OROPIÙ Adv+N PIÙ GIORNI; PIÙ GUSTO Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 113 Komposition Beispiel Syntagmen und Sätze Nominalsyntagma LA BUONA FORCHETTA; LA TAZZA D’ORO Präpositionalsyntagma DEL MONTE; IN LINEA Koordination NUDO & CRUDO; PRENDI E VAI Sätze: Aussagesatz vollständig Aussagesatz elliptisch Fragesatz Aufforderungssatz Exklamativsatz TI VOGLIO; THAT’S AMORE MEGLIOCOSÌ; PRONTI PER VOI WUOI? ; WULEVÙ FRIGGI BENE; PRENDI E VAI VIVA LA CREMA! Tabelle 4: Die Komposition in der italienischen Markennamenbildung Die Analyse der morphologischen Struktur der Markennamen zeigt, dass eine Gruppe von Markennamen über Erstbzw. Letztglieder verfügt, die sich anlehnen an Vollformen von Substantiven (z.B. latte: BONLAT, CHICCOLAT, PRIVOLAT, PARMALAT) und Adjektiven (z.B. grande: GRAN AROMA, GRANCEREALE, GRANSORPRESA, GRANRICETTE). Diese Elemente sind ebenso serienbildend wie Präfixe und Suffixe, haben jedoch eine lexikalische Bedeutung. Eine weitere Gruppe von Markennamen ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen Vollformen als Substantive (z.B. menta: MENTALIQUIRIZIA, GHIACCIOMENTA, GOCCIAMENTA), als Adjektive (z.B. fresco: FRESCOBLU, FRESCO- COLLE, FRESCONEVE), Präpositionen (z.B. up: DAN’UP, PIZZ’UP, PRESS UP) oder als Adverbien (z.B. più: PIÙINTEGRALI, PIÙLEGGERI, OROPIÙ, POLPAPIÙ) reihenbildend sind. Diese analogische Reihenbildung von gekürzten Formen und Vollformen kann als morphologisches Bauprinzip in der Markennamenbildung betrachtet werden. Die Affixoide befinden sich gleichsam in statu nascendi. An dieser Stelle offenbart sich die Schwierigkeit einer klaren Abgrenzung zwischen der Derivation und der Komposition. Für die Lebensmittelindustrie gelten folgende Elemente als branchentypische werbesprachliche Affixoide: Antje Zilg 114 Reihenbildende Elemente Gekürzte Formen ACTI-; -BON-; -CAO/ -KAO; CHOCO-; CONDI-; -CREM-/ -CRÈM/ KREM-; GRAN-; -LAT/ -LÁT; -PAN-; PATA-; SAN-; VAL- Vollformen -DELIZIE; -FETTE; -LATTE; -MARE-; -MENTA-; -MIX-; -NEVE-; -ORO-; ORTO-; -POLPA-; -ROLL-; -SOIA/ -SOYA; -SOLE; -SNACK-; -TOAST/ -TOST DOLCE-/ DOLCI-; FRESCO-; -GHIOTTO-; -PRONTO/ A- -PIÙ-; FIOR DI-; -UP Tabelle 5: Reihenbildende Elemente in der italienischen Markennamenbildung Die Leistung der Kürzungsverfahren besteht darin, sprachlich knapp realisierte Korrelate zu erzeugen, die gut erinnert werden können. Es hat sich herausgestellt, dass gerade im Bereich der Kürzungen die genaue Kenntnis des Referenten zur exakten Herleitung eines Bildungsmusters unerlässlich ist. Die Möglichkeiten der Bildung eines Markennamens durch ein Kürzungsverfahren sind sehr vielfältig, wie die folgende Übersicht belegt: Kürzungsverfahren Beispiel Apokope substantivisch CONDÌ (condimento) adjektivisch NIPIOL (nipiologico) Apokope +Aphärese adjektivisch BIOTIK (probiotico) Synkope substantivisch BUFFLÒ (buffolo) Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 115 Kürzungsverfahren Beispiel Kontamination Kürzung EK Kürzung ZK Kürzung EK + ZK PATAFETTE (patata + fette) FRESCOMAR (fresco + mare) FRUBETTO (frutto + sorbetto) Haplologie Kürzung EK Kürzung ZK Kürzung EK + ZK EK + ZK ungekürzt NATURICCHI (natura + ricchi) MANDORLAT (mandorla + latte) MIELIZIA (miele + delizia) ORZORO (orzo + oro) Initialwörter Initialwort Initialwort + A / N N + Initiale AIA - Agricola Italiana Alimentare ACE ROSSO VITA-C Tabelle 6: Kürzungsverfahren in der italienischen Markennamenbildung Besondere Aufmerksamkeit gebührt im Rahmen der Untersuchung der morphologischen Struktur italienischer Markennamen auch der Bildung neuer Namen auf der Basis bestehender Firmen-, Sortiments- oder Linienmarkennamen. Die folgende Tabelle bezeugt die Vielfalt der Bildungsmuster: Bildung mittels bestehender Markennamen Beispiel Affigierung Präfix + MN MN + modifizierendes Suffix MN + fremdsprachiges Suffix MN + Superlativsuffix SUPERCIRIO (Cirio) BIRAGHETTE (Biraghi) DANETTE (Danone) DANISSIMO (Danone) Komposition im engeren Sinne MN + N N + MN A + MN MN + A MN + A + N N + Präp + MN SANTALMOUSSE (Santal) ZOO-DORIA (Doria) BIANCA PREALPI (Prealpi) SANTAL SUNNY (Santal) SANTAL ACTIVE DRINK (Santal) VITA DI SANGEMINI (Sangemini) Syntagmen Nominalsyntagma LE MANIE DI EHRMANN (Ehrmann) Antje Zilg 116 Bildung mittels bestehender Markennamen Beispiel Kürzungsverfahren Einfache Bildungen GALBI (Galbani) Kontamination: Kürzung der EK Kürzung der ZK Kürzung der EK + ZK DORIBAR (Doria + bar) LAVAZZA DEK (Lavazza + decaffeinato) DORICREM (Doria + crema) Haplologie: Kürzung der EK Kürzung der ZK Kürzung der EK + ZK EK + ZK ungekürzt BISCOLUSSI (biscotto + Colussi) GIMAS (Gim + mascarpone) SFIZIOLÌ (sfizioso + Olivolì) GISOIA (Gis + soia) Tabelle 7: Die Bildung mittels bestehender Markennamen 4.3. Die semantische Struktur der Markennamen Die Analyse semantischer Aspekte der Markennamen des italienischen Lebensmittelmarktes hat zur Aufdeckung zahlreicher onomastischer und lexikalischer Übernahmen geführt. Bei den onomastischen Übernahmen stellen im Bereich der Personennamen die als Firmennamen fungierenden Patronyme (COLUSSI, GALBANI, PERONI) die bedeutendste Kategorie dar. Neben Familiennamen werden in der Markennamengebung auch Vornamen eingesetzt, so ALLEGRA, ANNABELLA und BENIAMINO. Im Rahmen der Betrachtung von Personennamen sind auch die vielen Vornamen von Heiligen zu erwähnen, die in den Bestand italienischer Markennamen Eingang gefunden haben: S. GIORGIO, SAN BENE- DETTO, SAN CARLO, SAN GIULIANO, SAN MARTINO, SANTA LUCIA, SANTA ROSA, SANT’ORSOLA. Zahlreich sind die Markennamen, in denen Vornamen mit weiblichen Familienbezeichnungen kombiniert werden: MAMA MARIA, MAMMA ANTONIA, NONNA ISA, NONNA MARIA. Der für viele italienische Familien charakteristische mutterzentrierte Zusammenhalt findet in diesen Bildungen seinen Ausdruck. Im Bereich der Toponyme überwiegen deutlich die einfachen Bildungen (SCOZIA, SICILIA, TIGULLIO). Die Werbesprache kennt kaum Grenzen bei der Verwendung weiterer Eigennamentypen zur Bildung von Markennamen. Das Spektrum reicht von Namen literarischer Figuren wie OTELLO, über Namen historischer Persönlichkeiten wie DANTE, hin zu Namen eines Palazzo, z.B. ARNABOLDI, oder eines Schiffes, so DORIA. Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 117 Bei der Übertragung lexikalischer Einheiten auf Produkte erhält eine bestimmte Einheit des Wortschatzes zu ihrer bisherigen Bedeutung eine weitere Bedeutung hinzu, und zwar die Bedeutung des Produkts, dem sie als Bezeichnung dienen soll. Bei den lexikalischen Übernahmen dominieren aus kategorialer Sicht deutlich die Substantive (ABBRACCI, FAVOLE, SORRISI), gefolgt von den Adjektiven (CROCCANTE, IDEALE, POLARE). Auch Verben (RISTORA), Adverbien (ECCO) und Pronomen (MIO) können als Markennamen fungieren. Markennamen können inhaltlich zu bestimmten Gruppen zusammengefasst werden. Zur Beschreibung dieser inhaltlichen Zusammengehörigkeit, die sich nur eingeschränkt mit der Wortfeldtheorie im Sinne Triers erfassen lässt, wurde der Begriff der „Spenderbezirke“ eingeführt (Zilg 2006: 144f.). Die Spenderbezirke können differenziert werden in solche, in denen sich Charakteristika der italienischen Kultur widerspiegeln, und in Spenderbezirke, die sicherlich auch im Markennamenbestand anderer Länder nachweisbar sind. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die im Bereich der Markennamen des italienischen Lebensmittelmarktes aufgedeckten Spenderbezirke: Kulturspezifische Spenderbezirke Universelle Spenderbezirke Bezirk Beispiel Bezirk Beispiel Familie MAMA MIA NONNA ISA Botanik BUCANEVE LIGUSTRO Religion LE TRE MARIE PANEANGELI Tiere GIAGUARO LO SCOIATTOLO Zärtlichkeit ABBRACCI COCCOLE Exotik BAMBÙ COLIBRÌ Musik DUETTO RITORNELLI Märchen/ Zauber FAVILLE MAGIE Meer NOSTROMO SKIPPER Schnee und Eis FRESCONEVE POLARE Himmel(skörper)/ Sternbild SPICCHI DI SOLE STELLA BIANCA Zeit 10 E TRENTA MATIN Tabelle 8: Spenderbezirke in der italienischen Markennamengebung Im Rahmen der Analyse der semantischen Struktur italienischer Markennamen der Lebensmittelindustrie gilt es auch, mögliche Botschaftsinhalte und Bedeutungselemente aufzudecken, die in den Markennamen enthal- Antje Zilg 118 ten sind. Als charakteristisch für die Markennamen des Lebensmittelmarktes gelten Angaben über die Zusammensetzung des benannten Produkts. Diese kommen dem Informationsbedürfnis der Konsumenten entgegen. Der Hinweis auf die Inhaltsstoffe eines Produkts führt aber vielfach dazu, dass Konkurrenzprodukte mit ähnlichen Namen entstehen, wie folgende Reihe verdeutlicht: POLPABELLA, POLPADORO, POLPAPRONTA, TUTTAPOLPA. Sämtliche Namen dienen der Bezeichnung von Tomatenmark bzw. -fruchtfleisch. Wird ein Name in diesem Bereich juristisch geschützt, sollte mit Blick auf die Wahrung des Individualcharakters des Namens in Betracht gezogen werden, auch für ähnlich klingende Namen die Schutzfähigkeit zu beantragen. Es ist ebenfalls möglich, dass im Namen nicht nur angegeben wird, welche Bestandteile das Produkt aufweist, sondern auch, welche nicht enthalten sind: GLUTEN STOP (gelato senza glutine), PRIVOLAT (prodotti senza latte e senza uovo), ZEROGÌ (biscotti senza grassi), ZEROGRANO (frollini senza glutine). Die folgende Tabelle stellt eine Übersicht der verschiedenen Hinweisarten dar, die in einem Markennamen begegnen können: Hinweisart Beispiel Produktgattung ZICAFFÉ; PASTASÌ Produktbestandteile DELIZIE DI MAIS; SELENELLA Produkteigenschaften: Form Geschmacksrichtung Konsistenz Größe Farbe Inhaltsmenge Schnelle Zubereitung Transportfähigkeit Naturbelassenheit Frische Tradition CONISSIMO; SPICCHI DI PARMA FIOR DI LIMONE; VOGLIA DI FRAGOLA CROCCANTE; I MORBIDI COPPA KING; I MACIMINI AMBRA (Produkt); BLU (Verpackung) ACQUA PANNA 75 (0,75 Liter); SIX APPEAL (sechs Scheiben) 4 SALTI IN PADELLA; I PRESTOBUONI LC1 GO; POCKET COFFEE NATURA AMICA; DOLCEZZE DI CAMPO FRESCOCOLLE; PIÙ GIORNI “COME UNA VOLTA! ! ”; IL VECCHIO MULINO Herkunft FIOR DI MONTAGNA; ALPILATTE Zielgruppe BEBI RISO; IL PRIMO FRESCO Verbrauchszeit 10E TRENTA; PRIMI RAGGI Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 119 Hinweisart Beispiel Verwendungszweck CONDIVERDE RISO; ZUPPALATTE Art der Zubereitung LA BRACERIA; LE ROSOLINE Wirkung RELAX; RISTORA Tabelle 9: Hinweise in der italienischen Markennamengebung 4.4. Lexikalische Besonderheiten der Markennamen In der Markennamengebung werden fremdsprachige Formen gezielt als gestalterisches Element eingesetzt. Bei den fremdsprachigen Elementen kann es sich um einfache lexikalische Übernahmen handeln (JOY, CAPRICE), um komplexe Bildungen mit fremdsprachiger Erst- oder Zweitkonstituente (SPEEDY PIZZA, CAPRICCIO NOIR), um einen fremdsprachigen Stamm (NUTELLA, CROISSINI) oder auch um ein fremdsprachiges Wortbildungsbzw. Flexionsmorphem (CREMY, DANETTE). Beim Einsatz fremdsprachiger Formen kommt dem Englischen und Französischen eine besondere Bedeutung zu. Neben den zahlreichen Formen, die englisches und französisches Material enthalten, ist die relativ hohe Anzahl an komplexen Bildungen, die deutschsprachiges Material aufweisen, sowie die Frequenz spanischer Wortbildungsmorpheme auffällig. Fremdsprachen Übernahme Komplexe Bildung Stamm bei WB/ Flexion WBs-/ Flexionsmorphem Sonst. Engl. JOY SPRAY PAN NUTELLA CREMY BEN’S Franz. CAPRICE ESTATHÉ CROISSINI DANETTE Latein OPTIMUM COELSANUS Griech. NAUTILUS GALATINE Deutsch KINDER ALTOSPECK NUSSETTOS Spanisch FIESTA PESCANOVA BANITA Portug. PAULISTA A’S DO MAR Flämisch ACTIMEL Tabelle 10: Der Einsatz von Fremdsprachen in der italienischen Markennamenbildung Zahlreiche Substantive und Adjektive kehren regelmäßig wieder und nehmen eine Schlüsselstellung im Gedanken- und Sprachfeld der italienischen Lebensmittelwerbung ein. Für sie wurde der Begriff der „Schlüsselkonzepte“ definiert. Hierbei handelt es sich um jeweils ein lexikalisches Element, das der Graphie unterschiedlicher Sprachen folgen Antje Zilg 120 und in den Markennamen, in denen es vorkommt, an unterschiedlicher Stelle gekürzt worden sein kann. Die lexikalischen Elemente erscheinen in vielfältiger Form, teilweise auch in unterschiedlichen Wortarten. So findet das Schlüsselkonzept frutta in folgenden Markennamen seinen Ausdruck: FRUTTA YO, FRUTTAPEC, FRUIT JOY, BIG FRUT, CROUSTY FRUITS, FRÙTTOLO, FRUTTY, FRUBETTO, FRUCCHERO, FRUIX. Auch die Markennamen AROMAT, FANTASIE AROMATICHE, GRAN AROMA, MAGIA D’AROMI sowie LE VOGLIE, BIOVOGLIA, MINI VOGLIE, VOGLIA DI FRAGOLA, VOGLIA DI PASTA! , TI VOGLIO können mittels des Begriffs „Schlüsselkonzept“ als zusammengehörig erfasst werden. Die Schlüsselkonzepte umfassen Elemente zur Beschreibung von Art, Form, Geschmacksrichtung usw. der benannten Produkte, z.B. crema, fiore, latte, limone, yogurt, und Elemente zur Qualifizierung des Geschmacks wie aroma, bontà/ buono, fresco, ghiotto, gustoso/ gusto/ sapore, delizia. Sie umfassen weiterhin suggestive Elemente wie amico, mare, neve, sole, stella, hochwertende Elemente wie grande, oro, più, sowie solche, die als kennzeichnend für die italienische Kultur betrachtet werden können, z.B. dolcezza/ dolce, tenerezza/ tenero, voglia, santo. Auch werden Elemente nachgewiesen, die den aktuellen Gesundheitstrend bezeugen, wie cereale, fitness, sano, soia, vita/ vivere/ vivo, oder Naturbelassenheit ausdrücken, z.B. cascina, macina/ mulino, natura, orto, val(le). 4.5. Rhetorische Figuren Der Einsatz rhetorischer Stilmittel in der Sprache der Werbung gilt als Beleg für die Lebenskraft und Wirksamkeit der antiken Rhetorik. Im Kontext der Untersuchung von Markennamen nehmen die Kategorien figure di ritmo (z.B. Alliteration: FIBREFETTE, POLPAPRONTA), figure di pensiero (z.B. Quasi-Homophonie: SIX APPEAL - sex appeal) und figure di significato (z.B. Metapher: SANGUE MORLACCO für liquore di marasca, colore rosso cupo) eine wichtige Stellung ein. Im Bereich der figure di significato kommt der Figur der Metonymie besondere Bedeutung zu. So bestehen zahlreiche Möglichkeiten der Benennung eines Produkts durch eine verwandte Bezeichnung. Die folgende Tabelle vermittelt einen Überblick über verschiedene Möglichkeiten metonymischer Relationen: Markennamen im italienischen Lebensmittelmarkt 121 Metonymische Relation Beispiel Produkt Behältnis, aus dem Produkt konsumiert wird LA TAZZA D’ORO Kaffee Aufbewahrungsgefäß des Produkts ANFORA Olivenöl Werkzeug zum Verzehr des Produkts LA BUONA FORCHETTA Teigwaren Werkzeug zur Herstellung des Produkts LE RASAGNOLE Teigwaren Werkzeug zur Verarbeitung eines Inhaltsstoffes MACINE Gebäck Herkunftsort des Produkts BELLA NAPOLI Pizza Entstehungsort des Produkts CESTELLA Frischkäse Anbaugebiet eines Inhaltsstoffes IL POGGIOLO Olivenöl Verkaufsstätte des Produkts DROGHERIA & ALIMENTARI Kräuter und Gewürze Farbe des Produkts BIANCA LIEVE Sahne Farbe eines Inhaltsstoffes MULINO BIANCO Gebäck, Brotwaren Berufsbezeichnung BECHÈR Fleischu. Wurstwaren Tabelle 11: Übersicht metonymischer Relationen 5. Schlussbetrachtung Das Feld der Markennamen stellt neben seiner wirtschaftlichen und juristischen Bedeutung auch für die Linguistik ein überaus interessantes Untersuchungsgebiet dar. Die Analyse zeigt auf, welche weiterführenden Ergebnisse erzielt werden können, wenn Aspekte der Angewandten Linguistik in einem interdisziplinären Rahmen behandelt werden. Dies gilt insbesondere für die praktische Verwertbarkeit. So erfüllt eine deskriptiv-synchronische Studie von Markennamen für verschiedene Zielgruppen unterschiedliche Funktionen. Für Namensentwickler stellt eine deskriptiv-synchronische Studie von Markennamen eine nützliche Arbeitsgrundlage dar, da sie Bildungsmodelle für die Kreation zukünftiger Namen enthält. Bei Expansion der unternehmerischen Tätigkeit auf den italienischen Markt ist die Kenntnis der dort herrschenden Benennungspraxis Voraussetzung für die Entwicklung von Namen, die die Konsumenten erreichen. Juristen dient das verbesserte Verständnis bezüglich der Mechanismen der Namensbildung z.B. in markenrechtlichen Verfahren, wenn es gilt, den Grad der Antje Zilg 122 Ähnlichkeit und die mögliche Verwechslungsgefahr zweier Namen nachzuweisen. Für Konsumenten schließlich erfüllt eine linguistische Analyse von Markennamen eine Aufklärungsfunktion. Die Fähigkeit, Bildungsmuster zu entschlüsseln, erleichtert dem Verbraucher die Orientierung im Angebotsdschungel. Literaturverzeichnis Baldini, Massimo (ed.) (1987): Le FANTAPAROLE. Il linguaggio della pubblicità. Rom: Armando. Botton, Marcel/ Cegarra, Jean-Jack/ Ferrari, Béatrice (2002): Il nome della marca. Creazione e strategia di naming, 3. Aufl., Mailand: Guerini e Associati. Brütting, Richard (ed.) (1997): Italien-Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Justiz, Gesundheitswesen, Verkehr, Presse, Rundfunk, Kultur und Bildungseinrichtungen. Berlin: Erich Schmidt. Chiantera, Angela (ed.) 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Darunter befindet sich eine wachsende Zahl junger Menschen, die sich für romanische Sprachen interessieren, jedoch nicht das Lehramt an Gymnasien oder Realschulen anstreben. Wer mit einem romanistischen Studienabschluss außerhalb von Schule und Hochschule einen Arbeitsplatz sucht, benötigt jedoch in der Regel Zusatzqualifikationen. Da studienbegleitende Praktika und vereinzelte Weiterbildungsmaßnahmen während des Studiums nicht immer zu dem gewünschten Erfolg führten, entwickelten einige Universitäten und Fachhochschulen Kombinationsstudiengänge, in denen das Studium einer oder zweier Fremdsprachen mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Fach, in der Regel Betriebswirtschaftslehre, verbunden wurde. Mittlerweile gibt es an deutschen Hochschulen ein knappes Dutzend derartiger Studiengänge 1 , in denen eine Fremdsprachenphilologie und Wirtschaftswissenschaft studiert werden können. Man muss sich jedoch fragen, ob Philologie und Wirtschaftswissenschaft, zwei auf den ersten Blick völlig verschiedene und wissenschaftssystematisch weit auseinander liegende Fächer, einen gemeinsamen Gegenstandsbereich oder sogar gemeinsame Forschungsinteressen haben. 1 Als Beispiele seien die folgenden Studiengänge angeführt: „Kulturwirtschaft“ (Universität Duisburg-Essen), „Moderne Fremdsprachen, Kulturen und Wirtschaft“ (Universität Gießen), „Wirtschaftsromanistik Französisch/ Spanisch“ (Universität Kassel), „Sprachen und Wirtschaft“ (Fachhochschule Köln), „Kultur und Wirtschaft: Romanistik“ (Universität Mannheim), „Kulturwirtschaft/ International Cultural and Business Studies“ (Universität Passau). In den genannten Bachelor- und Masterstudiengängen werden die sprachlichen Fächer und Wirtschaftswissenschaften gelegentlich vernetzt, meist jedoch unverbunden nebeneinander studiert, was von Studierenden zu Recht immer wieder kritisiert wird. Otto Winkelmann 126 Dass es sachliche Berührungspunkte zwischen Sprache und Wirtschaft gibt, scheint unbestritten, und der Zusammenhang von Sprache und Wirtschaft wird seit mehr als zwei Jahrzehnten in verschiedenen Monographien und Sammelbänden immer wieder thematisiert. 2 Landläufig wird angenommen, dass das Hauptziel der Wirtschaft in der Produktion und dem Vertrieb von Gütern und in der Bereitstellung von Dienstleistungen besteht. Dies ist natürlich richtig. Gleichzeitig darf man aber nicht übersehen, dass wirtschaftliches Handeln mit einer großen Vielfalt sprachlicher Handlungsformen einhergeht. Mit anderen Worten, Sprache spielt nicht nur im menschlichen Zusammenleben überhaupt, sondern auch in der Wirtschaft, z.B. in einem Unternehmen, eine beträchtliche Rolle und ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor für den Unternehmenserfolg. Sprachverwendung im wirtschaftlichen Umfeld, kurz Wirtschaftskommunikation genannt, ist daher ein ergiebiges Forschungsfeld für die Linguistik, die jedoch für die Untersuchung dieses Bereiches auf wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen muss. In meinem Beitrag werde ich zeigen, dass es sinnvoll ist, Wirtschaftskommunikation eingebettet in ihren wirtschaftlichen Kontext linguistisch zu untersuchen, und dass infolgedessen die Untersuchung interdisziplinär angelegt werden muss. Außerdem muss die Beschreibung der Wirtschaftskommunikation nicht nur rein deskriptiv, sondern auch anwendungsorientiert, d.h. problemlösend, betrieben werden. Es ist davon auszugehen, dass die Beschäftigung mit Wirtschaftskommunikation nicht nur eine Bereicherung für die Linguistik darstellen wird, sondern auch die Berufschancen von Studierenden, die ein philologisches Fach mit Betriebs- oder Volkswirtschaftslehre verbinden, deutlich erhöht. 2. Ausgewählte Probleme der Wirtschaftskommunikation Nehmen wir den alltäglichen Fall an, dass eine deutsche Firma ein Produkt herstellt, das sie in einem romanischsprachigen Land verkaufen möchte. Dabei müssen verschiedene Probleme gelöst werden, die partiell sprachlicher Natur sind und für die die romanistische Linguistik in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Betrieb Lösungen erarbeiten sollte. Zunächst muss überlegt werden, ob der im deutschen Sprachraum verwendete Name des Produktes für den Vertrieb im Ausland adäquat 2 Vgl. z.B. Müller (1991), Spillner (1992), Bolten (2000), Brünner (2000), Thörle (2005), Müller (2006). Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 127 ist, oder ob ein neuer Produktname für das jeweilige Land kreiert werden muss. Es gibt einige Beispiele, die zeigen, dass ein deutscher Produktname nicht ohne Weiteres übernommen werden kann, etwa weil in der Sprache des Ziellandes bereits ein formal identisches oder ähnliches gemeinsprachliches Wort existiert oder weil er möglicherweise negative Assoziationen hervorruft und auf diese Weise den Absatz des Produktes eher behindert als fördert. Drei Beispiele mögen diese Problematik illustrieren: Der deutsche Markenname Persil entspricht orthographisch genau dem französischen Wort persil [ pERsi ], das Petersilie bedeutet, und ist daher zum Vertrieb des gleichnamigen Waschmittels wenig geeignet 3 . Andere Firmen mussten ähnliche Erfahrungen machen: So brachte die japanische Automobilfirma Toyota einen Sportwagen mit der Typenbezeichnung MR2 heraus. Die französische Aussprache dieser Buchstaben- und Ziffernkombination [ E m ERdë ] erinnert klanglich an emmerder bzw. emmerdeuse und scheint daher für den französischen Markt nicht gerade günstig. Auch die russische Automobilfirma A A war nicht gut beraten, ihre Automarke LADA mit der Typenbezeichnung NOVA in Spanien unter diesem Namen zu vermarkten, denn wenn man die beiden Namensbestandteile nacheinander ausspricht und eine zusätzliche Wortfuge einsetzt, hat der Produktname LADA NOVA im Spanischen keinen guten Klang 4 . Damit das Produkt von potentiellen Kunden zur Kenntnis genommen wird, muss es beworben werden, und zwar in Form von Anzeigen, Plakaten, Fernseh- oder Rundfunkwerbespots, Broschüren, Prospekten, Werbebriefen, durch Direktwerbung oder im Internet. Zuvor muss jedoch die Werbung der Konkurrenzprodukte im Absatzland analysiert werden, um adäquate eigene Formen der Werbung zu entwickeln. Dabei kommt dem Werbetext eine besondere Bedeutung zu. Vergleichende Studien deutscher und französischer Werbemittel verschiedener Branchen haben gezeigt, dass die bloße Übersetzung eines deutschen Textes ihr Ziel deutlich verfehlen kann. Ein Beispiel für eine völlig gescheiterte Werbung 3 Der Name des von der Fa. Henkel entwickelten Waschmittels wurde nach den ursprünglichen Produktbestandteilen Perborat und Silikat durch Apokopierung und Zusammenfügung geprägt. In Frankreich wird dieses Waschmittel unter dem Namen Le Chat vertrieben, in Italien lautet der Produktname Dixan. 4 Lada no va bedeutet Lada funktioniert nicht . Zu Misserfolgen, die mit einem inadäquaten Markennamen in Verbindung gebracht werden, sog. Big Business Blunders, vgl. den gleichnamigen Beitrag von Ricks (1988) sowie Latour (1996: 119- 121) und Zilg (2006: 65-67). Otto Winkelmann 128 lieferte 1985 das schweizerische Handelsunternehmen Migros, das seinen deutschen Slogan „Ja - Migros hat’s“ einfach als Oui - Migros l’a ins Französische übersetzte und damit nicht nur viele französischsprachige Kunden verärgerte, sondern von der Presse der Suisse Romande mit Hohn und Spott überschüttet wurde. Unverzeihlich ist, wenn bei der Übertragung eines Slogans ein Übersetzungsfehler auftritt wie derjenige, der einer anderen deutschschweizer Firma unterlief, die auf einem graphisch sehr ansprechenden Plakat Werbung für Anrufbeantworter machte und dabei die im Deutschen durchaus einleuchtende Botschaft „Glücklich, wer immer erreicht werden kann“ als Heureux, qui toujours peut être atteint ins Französische übersetzte. 5 Die Werbewirksamkeit dieses Slogans in der Französischen Schweiz war nicht nur gleich null, sondern die Plakataktion erwies sich auch als kontraproduktiv, vom finanziellen Verlust einmal ganz abgesehen. Bei der Durchführung einer Werbekampagne im Ausland müssen andere Diskurstraditionen, Mentalitäten, Einstellungen und Erwartungshaltungen berücksichtigt werden. Schlüsselwörter oder Hochwertwörter, die im Deutschen wirken, können in einem spanischen oder italienischen Werbetext wirkungslos bleiben. Der umweltfreundliche Charakter von Produkten, der in deutschen Werbebroschüren besonders hervorgehoben wird, ist in der südlichen Romania weniger gefragt. Technische Fachwörter, die in der deutschen Automobilwerbung eine wichtige Rolle spielen, beeindrucken französische Kunden, die ihre Kaufentscheidung eher vom Komfort 6 als von der Technik eines Automobils abhängig machen, wenig. Umgekehrt hat die Literatur in Frankreich einen sehr viel höheren Stellenwert in der Werbung als in Deutschland. Französische Werbetexte verwenden nicht nur viel häufiger als deutsche aus der Literatur bekannte rhetorische Figuren, sie enthalten häufig auch Anspielungen auf Titel literarischer Werke, wie z.B. die Schlagzeile, mit der eine französische Kosmetikfirma vor einiger Zeit für ihre Schönheitsprodukte warb: „A la recherche du teint perdu.“ 7 Manchmal erscheinen 5 In diesem Falle wäre joindre das richtige Verb gewesen. Frz. atteindre bedeutet zwar auch „erreichen“ (atteindre un but), aber mit dem Ausdruck être atteint verbinden französische Muttersprachler die Vorstellung „(von einer Krankheit) befallen sein“. 6 Wie Annette Lühken in ihrer kürzlich erschienenen Dissertation gezeigt hat, nimmt das Werbeargument „aisance-confort“ in der Internetwerbung der französischen Automobilindustrie immer noch einen sehr hohen Stellenwert ein (vgl. Lühken 2010: 246, 252). 7 Eine sehr gelungene Anspielung auf das siebenbändige Romanwerk A la recherche du temps perdu von Marcel Proust. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 129 sogar ganze Werbetexte in Gedichtform 8 , wie es besonders bei der Parfümwerbung auffällt. Zu bedenken ist auch, dass englischsprachige Werbung in Frankreich infolge der französischen Sprachgesetzgebung strengen Regelungen unterliegt und nicht dieselbe Wirkung entfaltet wie in Deutschland. Ein deutscher Hersteller von Heißkanaldüsen warb in seinem deutschen Firmenporträt mit dem Aufmacher „Some like it hot“ durchaus gekonnt mit einer Anspielung auf den berühmten Billy Wilder-Film „Manche mögen’s heiß“ mit Marilyn Monroe. Der englische Filmtitel wurde in der französischen Version des Firmenporträts beibehalten, ohne zu bedenken, dass der Film in Frankreich unter dem Titel „Certains l’aiment chaud“ bekannt geworden ist. Wenn Kunden ein Produkt erworben haben, der Umgang mit diesem jedoch nicht selbstverständlich ist, muss seine zweckmäßige Verwendung unter Berücksichtigung der Käufergruppe verständlich beschrieben werden. Dies ist bei allen Produkten der Fall, die im weitesten Sinne technischer Natur sind, kann sich jedoch auch bei Fertiggerichten als nützlich erweisen. Daher sind geeignete Gebrauchsanweisungen, Bedienungsanleitungen oder Beipackzettel in der Fremdsprache zu redigieren. In all diesen Bereichen müssen zunächst einmal die sprachlichen Gepflogenheiten des Ziellandes bzw. der anvisierten Sprachgemeinschaft und die Struktur der dort üblichen sprachlichen Ausdrucksweisen studiert werden, bevor man sich an die Arbeit macht. Idealerweise müssen Sach- und Fachkenntnisse, Sprachkompetenz sowie linguistisches und landeskundliches Wissen in die Redaktion eines produktbegleitenden Textes einfließen. Nehmen wir weiter an, dass eine deutsche Firma ihre Produktionsstätte ins romanischsprachige Ausland verlagern oder dort eine Filiale eröffnen möchte. In diesen Fällen sind die Probleme sprachlicher Art noch vielfältiger: Zunächst einmal müssen eine Reihe rechtlicher Voraussetzungen geklärt werden. Dies erfordert ein Verstehen der jeweiligen wirtschaftsrechtlichen Dokumente - ein Anwendungsfall für die Fachtextlinguistik. Mit den Behörden des Ziellandes muss verhandelt und zusammengearbeitet werden. In der Regel haben die einzelnen Institutionen besondere Kommunikationsformen und einen spezifischen Sprachgebrauch entwickelt. Sodann müssen deutsche Mitarbeiter, die in dem geplanten Zweigwerk oder in der Filiale leitende Funktionen übernehmen sollen, die Landessprache jedoch noch nicht gut genug 8 Zum Einsatz der Lyrik in Werbebotschaften vgl. Klöden (2008). Otto Winkelmann 130 beherrschen, sprachlich gezielt auf ihre Aufgabe vorbereitet werden und zwar mit Hilfe einer genauen Lernzielanalyse und lernbegleitender Tests. Hier ist ein gezielter, effektiver Fremdsprachenunterricht vonnöten. In dem im romanischsprachigen Land gegründeten Betrieb bzw. in der Filiale muss eine innerbetriebliche Kommunikationsstruktur aufgebaut werden, die die romanischsprachigen Mitarbeiter einbindet. Hier geht es um die betriebsinterne Kommunikation, die organisiert werden muss. Fachliche und sachliche Berührungspunkte zwischen Linguistik und den Wirtschaftswissenschaften gibt es, wie die oben genannten Beispiele gezeigt haben, genügend. Reicht diese Feststellung aber für die Etablierung eines interdisziplinären Faches oder eines Studienschwerpunktes aus? Ich meine ja. Nun entsteht eine Teildisziplin der Angewandten Linguistik nicht dadurch, dass Linguistik auf Texte eines bestimmten Fachgebiets angewandt wird. Um es überspitzt zu formulieren: Eine linguistische Untersuchung des Fachwortschatzes italienischer Wetterberichte konstituiert noch keine meteorologische Linguistik. Ein interdisziplinäres Fach kommt nur zustande, wenn auch für die andere beteiligte Disziplin Sprache zumindest partiell zum Gegenstandsbereich wird und wenn sie Aussagen über Sprache macht. Dies ist im vorliegenden Beispiel der Fall, auch wenn es nicht allen Fachvertretern bewusst ist. Es genügt jedoch, einen kurzen Blick in eine Einführung in die Betriebswirtschaftslehre zu werfen, um festzustellen, wie ausführlich dort Sprache direkt oder indirekt thematisiert wird. 9 Außerdem haben viele Firmen erkannt, dass eine gut funktionierende interne Kommunikation und eine zielwirksam funktionierende externe Kommunikation wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens beitragen können. Die Frage ist nun, wie man diese Disziplin nennen soll. Ein passender Terminus existiert bereits seit geraumer Zeit, auch wenn er bisher noch in keinem linguistischen Wörterbuch zu finden ist und von den Fachverbänden der Angewandten Linguistik noch nicht in den Kanon ihrer Sektionen aufgenommen wurde. Es handelt sich um die sog. Wirtschaftslinguistik, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts an einigen deutschsprachigen, niederländischen und tschechischen Handelshochschulen entstanden ist. Es lohnt sich, den wissenschaftlichen 9 Dies trifft in besonderem Maße auf die Darstellung der Bereiche Führung, Personalentwicklung und Marketing zu. Vgl. hierzu beispielsweise Schierenbeck 17 2008. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 131 Ertrag dieser „historischen“ 10 Wirtschaftslinguistik einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, da diese Forschungsrichtung sehr viele Anregungen für die linguistische Analyse der modernen Wirtschaftskommunikation bietet. 3. Die historische Wirtschaftslinguistik Die Anfänge der sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Sprache des Handels und der Wirtschaft gehen von den Einzelphilologien an den Universitäten aus, beginnend mit der Arbeit von Schrader (1886), der Monographie von Fehr (1909) sowie der Dissertation und dem Wörterbuch von Schirmer (1911). Die Tradition dieser Arbeiten wird durch die Leipziger Dissertationen von Kuhn (1931) und Heidel (1936) fortgeführt und nach dem Zweiten Weltkrieg in modifizierter Form und mit anderen Schwerpunkten von der Fachsprachenforschung wieder aufgegriffen. Sehr früh interessieren sich auch die Handelshochschulen für die Problematik, wie man an dem Beitrag von Penndorf zur historischen Entwicklung des kaufmännischen Briefstils (1909) und den etymologischen Artikeln von Strigl (1909) erkennen kann. Bald darauf verlagert sich die Erforschung der Wirtschaftssprache schwerpunktmäßig an die Handelshochschulen, weil dort ein entsprechender Bedarf an fachsprachlicher Ausbildung in den Fremdsprachen besteht und außerdem die wirtschaftswissenschaftliche Sach- und Fachkenntnis vorhanden ist. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begründet Ewald Messing schließlich die Wirtschaftslinguistik als eigene Disziplin. Die erste Phase der historischen Wirtschaftslinguistik, die ich als vorstrukturalistisch-philologische Phase bezeichnen möchte, beginnt um 1920 und dauert bis zum Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie erreicht ihren Höhepunkt und Abschluss mit Messings Sammelband aus dem Jahre 1932. In dieser Zeit entstehen zahlreiche Aufsätze und Einzelstudien. Die zweite Phase der historischen Wirtschaftslinguistik, die strukturalistisch-funktional ausgerichtet ist, entsteht um 1930 an der Handelshochschule Prag. Sie ist theoretisch und methodisch dem Prager Linguistenkreis und letzten Endes dem de Saussureschen Strukturalismus verpflichtet. Die von Siebenschein 1936 ins Leben gerufene Wirtschaftsgermanistik gehört partiell ebenfalls zur historischen Wirtschafts- 10 In Anlehnung an Bungarten 1997 spreche ich von der „historischen“ Wirtschaftslinguistik, um sie von einer weiter unten spezifizierten „modernen“ Wirtschaftslinguistik abzugrenzen. Otto Winkelmann 132 linguistik, nimmt jedoch eine Sonderstellung ein, da sie auch die Literatur mit einbezieht. Die durch die historische Wirtschaftslinguistik begründete Fachtradition wird durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. 3.1. Vorläufer und Anfänge der historischen Wirtschaftslinguistik Die Anfänge der sprachwissenschaftlichen Erforschung der Sprache des Handels und der Wirtschaft reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. So veröffentlichte Otto Schrader 11 bereits 1886 in Jena eine Arbeit mit dem Titel Linguistisch-historische Forschungen zur Handelsgeschichte und Warenkunde. Im Jahre 1909 erschienen zwei wegweisende Studien, die sich mit der Entwicklung der deutschen und englischen Handelssprache befassten: Die Göttinger Dissertation von Peter Nolte war dem Thema Der Kaufmann in der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters 12 gewidmet, und die Züricher Habilitationsschrift von Bernhard Fehr 13 , die von der St. Gallener Handelshochschule herausgegeben wurde, untersuchte Die Sprache des Handels in Altengland 14 . Erwähnung verdient ferner das von der Export-Akademie des K. und K. Österreichischen Handelsmuseums in Wien verlegte Büchlein von Hans Strigl 15 mit dem Titel Kaufmännische Ausdrücke. Sprachgeschichtlich erläutert, in dem der Autor die wichtigsten deutschen Handelstermini etymologisch deutet. Einen Meilenstein in der Erforschung der deutschen Handelssprache bildet das 1911 in Straßburg veröffentlichte Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache auf geschichtlichen Grundlagen von Alfred Schirmer 16 . Schirmer liefert in seinem Wörterbuch nicht nur zahlreiche Erstbelege von Fachausdrücken des Handels, sondern stellt in der Einleitung seines Werkes die Wort- und Stilgeschichte der deutschen Kaufmannssprache 17 11 Otto Schrader (1855-1919) war seit 1890 Professor für Indogermanistik an der Universität Jena und wechselte 1909 an die Universität Breslau. 12 Durch die Berücksichtigung mittelalterlicher literarischer Quellen kann Nolte als Vorläufer der von Hugo Siebenschein ins Leben gerufenen Wirtschaftsgermanistik gelten. 13 Bernhard Fehr (1876-1938) lehrte Anglistik an der Universität Zürich. 14 Der Untertitel seiner Arbeit lautete: Wirtschafts- und kulturgeschichtliche Beiträge zur englischen Wortforschung. 15 Hans Strigl lehrte als Professor an der Handelsschule in Wien. 16 Alfred Schirmer war Dozent an der 1898 gegründeten Handelshochschule Leipzig. 17 Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts existiert eine lange Reihe einsprachiger oder mehrsprachiger kaufmännischer Wörterbücher, die der Berufsausbildung und somit praktischen Zwecken dienten, wie z.B. August Schiebe, Kaufmännisches Handwörterbuch (1833), C. F. Edler, Terminologie des Kaufmanns (1841), Heinrich Brutzer, Wörterbuch der Handels- und Geschäftssprache (1867), Friedrich Wilhelm Eitzen, Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 133 von den Anfängen bis zum Erscheinungszeitpunkt des Werkes ausführlich dar, wobei auch zahlreiche Geschäftsbriefe abgedruckt sind. Schirmer beschränkt sich auf die „Kaufmannssprache in engerem Sinne“ und berücksichtigt nur „die Ausdrücke, mit denen der Kaufmann den geschäftsmäßigen Betrieb des Güteraustausches in allen seinen Einzelfunktionen benennt“ (S. V). Die romanische Sprachwissenschaft profitiert übrigens in hohem Maße von Schirmers Wörterbuch, da es die aus dem Lateinischen und den romanischen Sprachen stammenden Fachwörter des Handels lückenlos verzeichnet. Aus dem Latein der Renaissance stammen beispielsweise die Ausdrücke Auktion, Hypothek, Kaution, Kontrakt, Obligation. Zwischen dem Ende des 15. Jahrhunderts und dem Beginn des 18. Jahrhunderts strömt eine große Anzahl italienischer Handelstermini in die deutsche Sprache ein, wie z.B. Bank, Konto, netto (15. Jh.), Bilanz, Kapital, Kontokorrent, Provision, Saldo, Valuta (16. Jh.), Agio, Assekuranz, Giro, Porto, Rabatt, Skonto, Spedition, Spesen (17. Jh.), Firma, Inkasso, Manko, Storno (Beginn des 18. Jhs.). Aus dem Französischen wurden Agent, Courtage, Effekten, Fonds (17. Jh.), Chartepartie, en gros, en détail, importieren, exportieren (18. Jh.), Bon, Branche, Devisen, emittieren, Expertise, Kulanz, Kupon, Reklame, Tantieme (Ende des 18. bis Mitte des 19. Jhs.) entlehnt. Hinzu kommen noch einige Ausdrücke der Börsenterminologie wie Baisse, Hausse, placieren, kotieren. 3.2. Die erste Phase der historischen Wirtschaftslinguistik Der entscheidende Anstoß zur Entwicklung der Wirtschaftslinguistik ist jedoch Ewald Messing zu verdanken, der als Dozent für Deutsch an der Handelshochschule Rotterdam lehrte. Bereits während des Ersten Weltkrieges veröffentlichte er erste wort- und sachgeschichtliche sowie etymologische Arbeiten. In seinem 1916 erschienenen Beitrag „Vom ‚trockenen Wechsel’. Ein sprachwissenschaftlicher Einzelbeitrag zur wissenschaftlichen Durchdringung des Inhalts des vom Handel dargebotenen Materials“ 18 entwarf er eine kurze Geschichte des Geldhandels, der im 13. Jahrhundert in Italien aufkam, und lieferte auf der Grundlage historischer Quellen eine Erklärung für die Bezeichnung „trockener Wechsel“ (Eigenwechsel), die eine Lehnübersetzung aus dem Italienischen cambio secco darstellt. 1917 befasste er sich mit der Etymologie der deutschen Bezeich- Wörterbuch der Handelssprache, Deutsch-Englisch (1893), um nur einige zu nennen (vgl. Schirmer 1911: XXXVIIIf.) 18 Wieder abgedruckt in Messing 1932: 48-53. Otto Winkelmann 134 nungen Wirt und Wirtschaft und stellte Überlegungen zu Herkunft und Bedeutung der miteinander verwandten Suffixe dt. -schaft, engl. -ship und niederld. -schap an. 19 Gleichzeitig machte Messing sich Gedanken über die Aufnahme der Sprachwissenschaft in den Lehrplan der Handelshochschulen. Bereits 1916 forderte er: „[Eine] Gründlichere Schulung des Kaufmanns auch in sprachlichen Dingen, das ist’s, was wir unbedingt nötig haben, wenn wir die Handelswissenschaften zu einem festgefügten Gebäude machen wollen! “ 20 . 1920 erkannten die vier holländischen Universitäten Amsterdam, Groningen, Leiden und Utrecht an, dass auch die Angewandte Sprachwissenschaft an den niederländischen Handelshochschulen vertreten sein müsse und zwar als Fach mit der Bezeichnung „Taalkundige Handelsbeschrijving“/ „Sprachkundliche Handelsbeschreibung“. Das Arbeitsprogramm umfasste die Erstellung einer Materialsammlung, berufssprachliche Forschung und die handelsunterrichtliche Verwertung der gesicherten Ergebnisse der Sprachforschung (vgl. Messing 1932: 78). Im Jahre 1921 gründete Messing schließlich einen Verein für „sprachkundlichen Handelsunterricht“ (Vereeniging voor taalkundig handelsonderwijs). Wichtigstes Ziel des Vereins war „die Förderung des Studiums der Handelssprache und die Schaffung einer breiten Grundlage sprachkundlich orientierter Handelskunde für den Unterricht in der Handelssprache“ (vgl. Messing 1932: 77). Der Verein gab die erste wirtschaftslinguistische Fachzeitschrift heraus, die den Titel De Handelscorrespondent trug. Sie wurde im Jahre 1924 unter dem Titel De Spiegel van Handel en Wandel fortgeführt und erschien bis 1934. Der von Messing herausgegebene Sammelband enthält zahlreiche Wiederabdrucke von Beiträgen, die in den beiden oben erwähnten Zeitschriften erschienen waren. In dem Vortrag 21 „Methoden und Ergebnisse der wirtschaftssprachlichen Forschung“, den Ewald Messing auf dem Ersten Internationalen Linguisten-Kongress in Den Haag (10.-14. April 1928) gehalten hat und der als Manifest der ersten Phase der Wirtschaftslinguistik angesehen werden kann, stellt der Autor fest, dass die Wirtschaftswissenschaft der Sprachwissenschaft zwei bahnbrechende Erkenntnisse verdankt (S. 8): Erstens ist die Sprache ein wirtschaftliches Gut, weil die in einem Unternehmen erzeugten „Sprech- und Schreibprodukte“ Mittel zur „Realisierung eines 19 Wieder abgedruckt in Messing 1932: 54-76. 20 Vgl. Messing 1932: 48f. Kursivierung im Original. 21 Der Vortrag ist als Sonderdruck im Jahre 1928 im Verlag von Kemink & Zoon in Utrecht erschienen. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 135 Wirtschaftszweckes“ sind. Zweitens gehört die Sprache in die Reihe der Produktionsfaktoren, da „Sprech- und Schreibhandlungen“ innerhalb eines Unternehmens eine Arbeitsleistung im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne darstellen. Diese Erkenntnis mutet ausgesprochen modern an, wenn man bedenkt, dass heutzutage Personen, die im höheren Management einer Firma beschäftigt sind, 70% und mehr ihrer Arbeitszeit auf kommunikative Tätigkeiten verwenden. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Messings Vorstellungen der Wirtschaftslinguistik an vielen deutschen, österreichischen und schweizerischen Handelshochschulen rezipiert. Schwerpunkte waren Leipzig, Berlin, München, Wien und St. Gallen. An diesen Hochschulen, die im Zuge des sich entwickelnden Welthandels um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet worden waren 22 , wurden auch Fremdsprachen unterrichtet, allen voran Englisch und Französisch. Aus naheliegenden Gründen lag der Schwerpunkt des Fremdsprachenunterrichts an den Handelshochschulen auf der Handelskorrespondenz und der betriebswirtschaftlichen Fachterminologie. Der Fremdsprachenunterricht wurde nicht nur von Lektoren, sondern auch von Sprachwissenschaftlern erteilt. Letztere plädierten für eine linguistische Vertiefung des Fremdsprachenunterrichts. Uneinigkeit bestand darüber, wo die Wirtschaftslinguistik institutionell angebunden sein sollte. Während die meisten Vertreter der Wirtschaftslinguistik der Meinung waren, dass das neue Fach bei der Sprachenabteilung der Handelshochschulen verbleiben müsse, sprachen sich andere dafür aus, die Wirtschaftslinguistik in die Wirtschaftswissenschaften einzugliedern. Auch der Name der neuen Disziplin schwankte lange Zeit. Sprach Messing zunächst noch von „sprachkundlicher Handelsbeschreibung“, so tauchte 1923 im Titel eines seiner Aufsätze im Maandblad voor Handelsonderwijs en Handelswetenschappen zum ersten Mal die niederländische Entsprechung des Ausdrucks Wirtschaftslinguistik 23 , nämlich „Economische Linguistiek“, auf. Daneben hält sich aber auch die Bezeichnung „Handelssprachkunde“ (vgl. Jordan 1932, 198), „Wissenschaft der Handelssprache“ (vgl. Kluge 1921/ 1932, 147) oder „fremdsprachlicher Unterricht an Handelshochschulen“ (vgl. Snyckers 22 Die Gründungsdaten der ältesten deutschsprachigen Handelshochschulen sind: 1898 (Handelshochschule Leipzig und Hochschule für Welthandel Wien), 1899 (St. Gallen), 1901 (Frankfurt am Main und Köln), 1906 (Berlin), 1908 (Mannheim), 1910 (München), 1915 (Königsberg), 1919 (Nürnberg). 23 Der entsprechende deutsche Ausdruck erscheint meines Wissens zum ersten Mal in Messing 1928: 7. Otto Winkelmann 136 1928/ 1932: 301). Thematisch wiesen die in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts verfassten Beiträge zur Wirtschaftslinguistik eine große Breite auf. Hinzu kamen unterschiedliche, sich teils zuwiderlaufende methodische Ansätze 24 . Die historische Wirtschaftslinguistik war somit weit davon entfernt, eine einheitliche Disziplin darzustellen. In einem seiner frühen programmatischen Aufsätze 25 vertritt Messing die Auffassung, dass die Aufgabe der Sprachwissenschaft an Handelshochschulen und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in erster Linie darin bestehe, den „Handelsbeflissenen“ historische Zusammenhänge aufzuzeigen. Im Mittelpunkt der von der Wirtschaftslinguistik durchzuführenden berufssprachlichen Forschung müsse daher die „bedeutungsgeschichtliche Untersuchung“ der Fachausdrücke des Handels und der Wirtschaft stehen 26 : „Es muß also angestrebt werden die Ermittlung der Vorstellung, die ein berufssprachlicher Ausdruck bei seinem ersten Auftreten andeutete.“ Die Vorstellung, die mit einem modernen Berufsausdruck verbunden ist, soll in ihrem „Werden und Wachsen“ aufgezeigt werden (S. 78). In einer Nachbemerkung (vgl. Messing 1932: 82-84) zu Messings oben erwähntem Beitrag fordert Theodor Blum 27 , dass „in den Lehrplan einer Handelshochschule ein Kolleg über Handelssprache gehört, das eine planmäßige Zusammenfassung des kaufmännischen Wort- und Begriffsinventars bieten und dieses teils wortkundlich, teils entwicklungsgeschichtlich und vergleichend wissenschaftlich zu behandeln hätte.“ (S. 83). Hier geht es um die Erfassung und historische Deutung der wirtschaftswissenschaftlichen Fachausdrücke. Blum kommt zu folgendem Schluss: „Zur harmonischen-wissenschaftlichen ‚Allgemeinbildung eines 24 In einem Überblicksartikel zur Wirtschaftslinguistik hatte Heribert Picht (1998: 336) in Anlehnung an Drozd/ Seibicke (1973: 68ff.) und Hoffmann (1984: 37ff.) zwischen einer diachronischen und einer synchronischen Strömung unterschieden. Die diachronische Wirtschaftslinguistik unterteilte er weiter in eine historische bzw. historisierende, eine nationenwissenschaftliche und eine ökonomische Richtung. Schaut man sich die wirtschaftslinguistischen Publikationen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts genauer an, so stellt man fest, dass diese schematische Einteilung häufig durchkreuzt wird. Mehrere Autoren vertreten Ansichten, die verschiedenen Strömungen angehören. 25 „Handelssprachliche Forschung und sprachkundlicher Handelsunterricht“ (1921), Wiederabdruck in Messing 1932: 77-85. 26 Messing verstand die „berufssprachliche bedeutungsgeschichtliche“ Erforschung der Sprache des Handels von Anfang an als Angewandte Sprachwissenschaft, eine Auffassung, der man sich heutzutage nicht uneingeschränkt anzuschließen vermag. 27 Theodor Blum, der am Polytechnikum Köthen Betriebswirtschaftslehre unterrichtete, war im Jahre 1921 Schriftleiter des 18. Jahrgangs der Zeitschrift Deutsche Handelsschul-Lehrer-Zeitung. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 137 Kaufmannes gehört auch ein vertieftes Verständnis der sprachlichen Ausdrucksmittel seines Gebietes“ (S. 84). Leo Jordan 28 ist ebenfalls der Ansicht, dass die sprachlichen Formen der Handelssprache nicht nur beschrieben, sondern historisch erklärt werden müssen. Sein Credo lautete: „Was man verstehen will, muß man entstehen sehen“ (S. 192). Ebenso wie Blum unterstreicht er in seinem Beitrag den Bildungswert des philologisch-handelssprachlichen Unterrichts, der zu einer „Besinnung des Kaufmanns auf sich selber“ führe (S. 197). Für Alfred Schirmer ist die Wirtschaftssprache ein Spiegel der Wirtschaftsgeschichte. Auf Anregung Messings veröffentlichte er seit 1922 eine Reihe von Einzelstudien, in denen er das „Werden und Wesen des wirtschaftlichen Wortschatzes“ zur Geschichte des deutschen Handels und zur Entwicklung der Wirtschaft in Beziehung setzte. Seine wichtigsten Aufsätze sind in dem 1925 in Leipzig erschienenen Büchlein Vom Werden der deutschen Kaufmannssprache. Sprach- und handelsgeschichtliche Betrachtungen zusammengestellt. Das Buch soll in erster Linie „dem denkenden Kaufmann zeigen, wie sein beruflicher Wortschatz allenthalben wichtige Zeugnisse der Sprachentwicklung, der Handelsgeschichte und des Kulturlebens unseres Volkes bewahrt“ (S. 3). Eine weitere Facette der historischen Wirtschaftslinguistik zeigt sich in den Schriften von Arnold Schröer 29 . Seiner Meinung nach besteht die Aufgabe der Sprachwissenschaft an Handelshochschulen nicht im „Einpauken sogenannter ‚praktischer Fertigkeiten’, sondern [in der] sprachwissenschaftlichen Betrachtung der sprachlichen Erscheinungen in der Welt des Handels“ (S. 130, Hervorhebungen im Original). Die historische Betrachtung der Handelssprache führe zu einem Verständnis von dem „Leben des Handels eines Volkes“ (S. 135). Hier kommt bereits eine globale, kulturgeschichtliche Auffassung zum Ausdruck. Aufschlussreich ist, dass Schröer die Interdisziplinarität der Angewandten Sprachwissenschaft betont (S. 133). Wer sich mit Wirtschaftslinguistik befasst, muss seiner Meinung nach auch „die ganze Welt der Warenkunde und der Technologie, der Volkswirtschaft und der Privatwirtschaft in allen ihren gegebenenfalls in Frage kommenden Zweigen“ kennen (S. 131). 28 Der bekannte Romanist Leo Jordan (1874-1940) war vorübergehend als Französischdozent an der Handelshochschule München tätig. 29 Arnold Schröer, war an der Handelsakademie Wien zunächst Professor der englischen Sprache und Korrespondenz, bevor er an die Universität Freiburg und anschließend an die Universität Köln berufen wurde. Otto Winkelmann 138 In einem Vortrag, den Messing 1930 auf dem ersten Internationalen Kongress für Handelshochschulunterricht in Lüttich gehalten hatte und der in seinem Sammelband abgedruckt ist, geht er noch einen Schritt weiter und fordert die Schaffung von Lehrstühlen 30 für ein „eingehendes nationenwissenschaftliches Sprachstudium, für die Erfassung der nationalen Wirtschaftskultur“ (S. 123). Damit steckt Messing den weitest möglichen Rahmen für die Wirtschaftslinguistik ab, wie er in der Konzeption des Faches, die sich in der Einleitung seines Sammelbandes (S. 6) findet, zum Ausdruck kommt: Die Wirtschaftslinguistik dient der Menschheit, indem sie die sprechenddenkenden Menschen aufzeigt als Glieder einer zunächst national-, dann aber auch international geknüpften Kette, und sie erforscht und lehrt die Methoden, mittels derer wir die verschiedenen Völker aus ihrer Nationalkultur heraus verstehen und würdigen lernen. Die Wirtschaftslinguistik dient der Völkerverständigung und darüber hinaus der Selbsterkenntnis. 31 In diesem Zitat zeigt sich sehr klar die „nationenwissenschaftliche“ Ausrichtung der Wirtschaftslinguistik Messings, die eine Erweiterung der diachronischen Wirtschaftslinguistik darstellt. In seinen späteren Schriften schwebte Messing eine „Nationenwissenschaft“ (1932: 121) vor, die „Recht, Sitten, Gewohnheiten, politische, soziale und wirtschaftliche Organisationen, kurz: die gesamte Kultur eines jeden Volkes“ in seiner Sprache erfasst. 32 Es wäre jedoch völlig falsch, Ewald Messing nur sprachhistorische oder „nationenwissenschaftliche“ Interessen zuschreiben zu wollen. Seine Vielseitigkeit zeigt sich in einem Themenkatalog, der in seinem bereits erwähnten Vortrag auf dem Ersten Internationalen Linguistenkongress in Den Haag enthalten ist. Darin zählt er folgende, in Frageform gekleidete Aufgabenstellungen und Teilthemen der Wirtschaftslinguistik auf (S. 14f.): 30 Messing berichtet in dem erwähnten Vortrag, dass die Handelshochschule Leipzig ordentliche Lehrstühle für die sprachwissenschaftliche Behandlung der nationalen Wirtschaftskultur des französischen und englischen Sprachgebietes geschaffen habe (S. 122). 31 Hervorhebungen im Original. 32 Drozd/ Seibicke (1973: 69) haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Linguistik mit den fachfremden Aufgaben, die in dem obigen Zitat enthalten sind, völlig überfordert wäre. Was Messing fordert, ist eher eine Aufgabe der Landeskunde bzw. der empirischen Kulturwissenschaft. Nicht ohne Grund sieht Bolten (2003: 175) in der nationenwissenschaftlichen Ausrichtung der Wirtschaftslinguistik einen Vorläufer der interkulturellen Wirtschaftskommunikation. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 139 - Worauf beruhen die suggestiven Kräfte des Wortes und wie werden sie am besten erzeugt? An welche Bestandteile der Sprache sind sie gebunden? - Welches sind die Funktionen der einzelnen sprachlichen Ausdrucksmittel? - Welche Arten der Zusammensetzung dieser Sprachelemente sind am wirksamsten? - Wie entstehen Schlagworte, wie bildet man sie? - Welche Gesetzmäßigkeiten gelten für die Benennung von Gütern? - Wie verhält sich die Gemeinsprache zur Sprache des „wirtschaftlichen Verkehrs“? - Welche wirtschaftssprachlichen Ausdrücke geben Aufschlüsse wirtschaftsgeschichtlicher Art? - Welche wirtschaftssprachlichen Ausdrücke sind besonders bezeichnend für die Art des wirtschaftlichen Denkens? Man erkennt an diesen Fragen, die nach Messing sowohl für die Muttersprache als auch für die Fremdsprache beantwortet werden müssen, viele Querverbindungen zu Fragestellungen der modernen Angewandten Linguistik. Erstaunlich ist außerdem, dass auch von Funktionen der sprachlichen Ausdrucksmittel und vom Verhältnis der Wirtschaftssprache zur Gemeinsprache bei Messing die Rede ist, beides Themenbereiche, mit denen sich die zweite Phase der Wirtschaftslinguistik auseinandersetzte. Bereits in der ersten Phase der historischen Wirtschaftslinguistik traten Gegenpositionen zu der wort- und sachgeschichtlich bzw. etymologisch orientierten Forschungsrichtung auf. So stellte Alexander Snyckers 33 in aller Deutlichkeit fest: Beim Studium der fremden Wirtschaftssprachen 34 an Handelshochschulen handelt es sich nicht nur um die Etymologie, sondern auch um die Erforschung des gegenwärtigen Begriffsinhalts der Fachausdrücke. Es ist zwar sehr lehrreich, über die Entstehung eines Wortes unterrichtet zu sein; für den Mann der Praxis aber ist es wertvoller, genau zu erfahren, welche verschiedenen Bedeutungen dieses Wort in der modernen Wirtschaftssprache hat. Daß man dabei erörtern muß, warum es diese Bedeutungen hat, ist selbstverständlich, eine solche Erläuterung jedoch ist nicht mit einer rein etymologischen Erklärung zu verwechseln. Während Sprachwissenschaftler wie Jordan und Schröer die historischphilologische Forschung in den Vordergrund stellten und die Bedeutung 33 Prof. Dr. Alexander Snyckers stammte aus Belgien. Er unterrichtete Französisch an der Handelshochschule Leipzig und war von 1931 bis 1933 und von 1937 bis 1938 Rektor dieser Hochschule. 34 Zur Wirtschaftssprache gehören nach Snyckers (1932: 295) auch die Handelssprache und die Rechtssprache, soweit diese das Handelsrecht betrifft. Otto Winkelmann 140 der Sprachpraxis herunterspielten, unterstrich Snyckers, dass an Handelshochschulen 35 vorrangig die einschlägige fremdsprachliche betriebswirtschaftliche Terminologie „unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen und der Handelsbräuche des fremden Landes besonders im Vergleich mit denen des eigenen“ unterrichtet werden müssten (S. 277). Snyckers fasst die Ziele, denen der fachsprachliche Unterricht an Handelshochschulen dienen soll, wie folgt zusammen (S. 302): 1. Die Absolventen müssen mit den ausländischen Geschäftspartnern persönlich in Kontakt treten können und in der Lage sein, die Verhältnisse des Auslandsmarktes an Hand einheimischer Quellen zu studieren. 2. Die Absolventen müssen die Fähigkeit besitzen, Briefe handelstechnischen Inhalts einwandfrei in der Fremdsprache abzufassen. 3. Die Ausbildung von Handelssprachlehrern. 4. In wissenschaftlicher Hinsicht müssen der „Verkehrs- und der Rechtsinhalt der wichtigsten Wendungen und Klauseln des Welthandels“ untersucht werden. Der praktische Zweck dieser Forschung liegt darin, dass bei internationalen Verhandlungen und Vertragsabschlüssen Missverständnisse und somit auch mögliche Rechtsnachteile vermieden werden können. In einem anderen Beitrag weist er auf die enge Verzahnung von wirtschaftsfachsprachlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Ausbildung hin (S. 301): [...] es ist unmöglich, die Wirtschaftssprache mit ihrem Reichtum an Fachausdrücken unter Berücksichtigung der handelsrechtlichen Bestimmungen und Verkehrsgebräuche fremder Länder zu lehren oder zu verstehen, wenn man sich nicht schon vorher mit den Einzelheiten des Handels und der Wirtschaft vertraut gemacht hat. 3.3. Die zweite Phase der historischen Wirtschaftslinguistik Zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts entstand an der Prager Handelshochschule die synchronisch-funktionale Wirtschaftslinguistik, die auf den sprachtheoretischen Konzeptionen des Prager Linguistenkreises beruhte und sich in der Auseinandersetzung mit den diachronisch ausgerichteten Arbeiten der ersten Phase der historischen Wirtschaftslinguistik entwickelte. Die Hauptvertreter dieser Richtung 35 Snyckers ist wie viele andere Vertreter der historischen Wirtschaftslinguistik der Meinung, dass Wirtschaftslinguistik an einer Handelshochschule angesiedelt bzw. einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät angegliedert sein solle. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 141 waren Josef ada 36 , Leontij V. Kopeckij, Tomáš Krej í und Zdenek Van ura. Gegenstand der synchronisch-funktionalen Wirtschaftslinguistik, die sich bewusst von der traditionellen Sprachwissenschaft und der Diachronie abwendet, ist die Wirtschaftssprache und ihr Funktionieren. Das Verdienst der Prager Wirtschaftslinguisten liegt weniger in weiteren vertieften Untersuchungen zur Sprachverwendung im Bereich des Handels und der Wirtschaft als in dem Bemühen, die Wirtschaftslinguistik auf eine solide theoretische und methodische Grundlage zu stellen. Josef ada (1935: 234) kritisiert, dass die Beiträger des von Messing herausgegebenen Sammelbandes sich über die Abgrenzung und die Methodologie der Wirtschaftslinguistik offensichtlich nicht einig seien. Der größte Teil der Autoren wolle die Wirtschaftssprachen mit den Methoden der historischen Sprachwissenschaft erforschen, andere setzten die lexikalischen und syntaktischen Charakteristika der Wirtschaftssprachen zu den Handelsbräuchen der betreffenden Länder in Beziehung, und eine dritte Gruppe leite aus den Besonderheiten der Wirtschafts- und Handelssprache Einsichten über die Psychologie und Lebensgewohnheiten der jeweiligen Völker ab 37 . Dementsprechend bestehe Uneinigkeit darüber, als was die Wirtschaftslinguistik aufzufassen sei, „comme science linguistique, ou bien comme partie de l’étude des civilisations, ou bien même comme partie des études économiques“ 38 . Nach ada kann die Wirtschaftslinguistik nur als Zweig der Allgemeinen Linguistik betrachtet werden. Diachronische Methoden könnten dabei allenfalls als Hilfsmethoden herangezogen werden. Sprache müsse „dans son état actuel et dans toute son étendue“ 39 untersucht werden. Innerhalb des Sprachsystems stellt die Wirtschaftssprache seiner Meinung nach eine funktionale Varietät dar, die einem bestimmten Zweck dient. Während frühere Studien vornehmlich Einzelwörter der Fachsprachen untersuchten, will ada die Fachsprache der Wirtschaft in ihrer Gesamtheit beschreiben. Der Zweck der Wirtschaftssprache, d.h. die Anpassung an Gegebenheiten des wirtschaftlichen Lebens, bestimmt die Wortwahl und die syntaktische Struktur der Wirtschaftssprache bis hin zur Art, wie Verhandlungen geführt werden, und zur speziellen Gestaltung von 36 Prof. Dr. Josef ada organisierte den Fremdsprachenunterricht an der Handelshochschule Prag und war der Leiter einer entsprechenden Arbeitsgemeinschaft (vgl. Wiener 1935: 8). 37 Letzterer Bereich gehört nach ada (1935: 234) zur Kulturkunde. 38 Vgl. ada 1935: 234. 39 Vgl. ada 1935: 235, Kursivierung im Original. Otto Winkelmann 142 Schriftstücken. Die Wirtschaftssprache umfasst nach ada (1935: 236) u.a. die Sprache der - Verhandlungen (négociations commerciales) - Wirtschaftsberichterstattung (journalisme) wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftsrechtlichen Abhandlungen (traités scientifiques, économiques et juridiques) - Werbung (réclame) - Handelsverträge (traités de commerce) - Handelsgesetze (lois) - Handelskorrespondenz (correspondance) - Dokumente der Buchführung (écritures de comptabilité) Nur ein systematischer Vergleich kann nach ada (1935: 236) die Besonderheiten der einzelnen funktionalen Untertypen der Wirtschaftssprache aufdecken. Dies bedeutet beispielsweise, dass die Handelskorrespondenz mit anderen Formen der Korrespondenz verglichen werden muss. 40 Auch Zdenek Van ura (1936: 162) bezieht eine klare Gegenposition zu den diachronischen Studien der ersten Phase der historischen Wirtschaftslinguistik, die er aus der Sicht der Sprachbenutzer für unergiebig hält: „Technical terms are used by professional groups to whom the question of their origin is more or less irrelevant.“ Zwar bildeten Fachtermini seiner Meinung nach den semantischen Kern einer jeden Fachsprache. Es könne aber sein, dass Textpassagen oder ganze Texte, wie z.B. Werbebotschaften, keine Fachausdrücke aufwiesen, obwohl sie unzweifelhaft wirtschaftlichen Zwecken dienten. Nach Van ura (1936: 162) müsse unter „Wirtschaftssprache“ das gesamte sprachliche Material verstanden werden, das wirtschaftlichen Zwecken dient, und nicht nur isolierte Wörter und Wendungen. Insofern müssten ganze Diskussionen, Dokumente (Briefe, Verträge, Wirtschaftsartikel, Wirtschaftsnachrichten und Werbebotschaften) als „Realisierungen“ der Wirtschaftssprache angesehen werden. Für die Prager Wirtschaftslinguisten ist die Wirtschaftssprache ein strukturiertes und funktionales Ganzes, eine funktionale Varietät (functional dialect), die einen Ausschnitt aus dem Gesamtsystem der jeweiligen Einzelsprache darstellt und wirtschaftlichen Zwecken dient. Innerhalb der Wirtschaftssprache kann man nach Van ura (1936: 163) verschiedene „Stile“ unterscheiden, wie z.B. den Stil der Handels- 40 Im Übrigen obliegt die Beschäftigung mit der Wirtschaftslinguistik nach ada (1935: 236) nicht den Universitäten, sondern den Handelshochschulen (écoles de haut enseignement commercial), die das Wirtschaftsleben in ihrer gesamten Breite behandeln. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 143 korrespondenz, der Zeitungsartikel, der Lehrbücher, der wissenschaftlichen Arbeiten, der Rechtsdokumente etc. Nach Van ura (1934) umfasst der Gegenstandsbereich der synchronischen Wirtschaftslinguistik folgende Teilgebiete 41 : 1. die traditionelle Sprache der Handelskorrespondenz mit ihrem internationalen und nationalen Formelschatz, 2. die kodifizierte Terminologie des Geld- und Warenhandels 3. die Sprache der Wirtschaftswissenschaften (Volkswirtschaft, Privatwirtschaft, Wirtschaftsrecht etc.) 4. die Börsensprache (in ihrer gesprochenen und geschriebenen Form) 5. die Werbesprache (Anzeigen, Reklame etc.) Die Wirtschaftslinguistik muss nach Auffassung der oben genannten Linguisten der Prager Handelshochschule nicht nur die Teilbereiche der Wirtschaftssprache synchronisch erforschen, sondern auch den Stellenwert der Wirtschaftssprache innerhalb des Sprachsystems und gegenüber den übrigen funktionalen Varietäten klären. 3.4. Die Wirtschaftsgermanistik Die sog. Wirtschaftsgermanistik wurde von dem Prager Germanisten Hugo Siebenschein 42 mit seinem 1936 erschienenen Werk Abhandlungen zur Wirtschaftsgermanistik begründet. Ihm geht es darum, Germanistik und Wirtschaftsgeschichte miteinander zu verknüpfen und die „sprachlichen Leistungen der deutschen Handelssprache“ (verstanden als Standessprache) herauszustellen. Im Vorwort (S. 6) umreißt Siebenschein die beiden Aufgabenstellungen der Wirtschaftsgermanistik: Erstens geht es darum, die „Spiegelungen des Handels und des Kaufmannes in der Dichtung, in unserem spezifischen Falle in der deutschen Dichtung ...“ zu untersuchen 43 . Zweitens sind die „spezifischen Formgebungen der Spracherscheinungen kaufmännischen Inhalts“ zu erforschen. Nur letztere Zielsetzung hat m.E. etwas mit Wirtschaftslinguistik zu tun. 41 Zitiert nach Drozd/ Seibicke (1973: 75). 42 Hugo Siebenschein (1889-1971) war von 1945 bis 1949 Professor an der Karls- Universität Prag und ab 1959 Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. 43 Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass Siebenscheins Wirtschaftsgermanistik in der Göttinger Dissertation von Peter Nolte (1909) zum Thema Der Kaufmann in der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters einen wichtigen Vorläufer hatte. Noltes Dissertation ist in Siebenscheins Literaturverzeichnis nicht aufgeführt. Otto Winkelmann 144 Im ersten Teil des Buches beschäftigt sich der Autor mit dem ausgehenden Mittelalter, genauer gesagt, mit der Epoche, die von der Mitte des 14. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts reicht. Das ausgehende Mittelalter ist nach Siebenschein die „Geburtsstunde des modernen Handels“ (S. 9) und der Geldwirtschaft. Es ist auch die Zeit, in der das Minnelied vom „Meisterlied“ abgelöst wurde. Letzteres stellt für Siebenschein den Beginn der bürgerlichen (handwerklichen) Poesie dar, die u.a. von den Meistersingern von Hans Sachs verkörpert wurde. Anhand literarischer Quellen zeichnet der Autor ein Bild der damaligen Wirtschaftsverhältnisse. Der zweite Teil enthält acht kulturhistorische und literaturgeschichtliche Exkurse, u.a. über die Singschulen der Meistersinger als Männerbünde, ein Stück von Hans Sachs (1494-1576) und das verfallende Rittertum. Der dritte Teil des Buches, das eigentlich einen Sammelband darstellt, ist der Wirtschaftslinguistik gewidmet und nimmt mit 168 von insgesamt 254 Seiten den weitaus größten Raum des Werkes ein. Dieser Teil umfasst drei große Abschnitte: Zunächst geht es um wortgeschichtliche Studien zu zentralen Begriffen des Handels (Kaufen, Verkaufen, Kaufmann, Kaufmannschaft, Handel, Geschäft, Reisen, Wirt, Wirtschaft, Kirche, Geld, Kapital, Schuld, Zins, Gewinn, Steuer, Ware, Betrug, Vermögen, S. 80-113). Auch hier greift Siebenschein auf spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen (Hans Sachs, Ulrich von Hutten, Martin Luther) zurück. Es geht Siebenschein vor allem darum, Bedeutungsveränderungen anhand von Textbelegen aufzuspüren und zu zeigen, wie grundlegende kaufmännische Bezeichnungen allmählich zu Fachtermini wurden. In dem Abschnitt „Sprachkritische Bemerkungen zum Wechselgesetz“ fordert Siebenschein eine „linguistische Untersuchung der Sprache der Handelsgesetzgebung“ (S. 117). In diesem Teil untersucht der Autor verschiedene Fassungen des tschechoslovakischen Wechselgesetzes von 1927 in der deutschen Übersetzung aus linguistischer Sicht und unterzieht die Texte einer eingehenden sprachlichen Kritik. Er behandelt die Orthographie, die Wortbildung, den Artikelgebrauch, Zustandsformen und Aussageweisen der Verben, die Hilfsverben, die Syntax, den Gebrauch ausgewählter Präpositionen, die Vereinfachung des Satzbaues und den doppelten Genitiv. Im Vordergrund seiner Sprachkritik stehen stilistische Fragen und die Textverständlichkeit. Zu Beginn des Abschnittes stellt Siebenschein kritisch fest, dass „die Germanistik einseitig literarisch, philosophisch und religiös orientiert ist“ (S. 117). Ferner kritisiert er die „Sprachbarbarei des juristischen Amtsstils“ (ebd.). Eigentlich müssten nicht nur das Wechselgesetz, sondern auch „das Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 145 Handelsrecht, das Versicherungsrecht, das Scheckrecht und sonstige mit dem Handel verbundene Gebiete des Obligationsrechtes“ einer sprachkritischen Betrachtung unterzogen werden (S. 119). Im letzten Abschnitt des Buches, der mit „Die Industrialisierung als Faktor der Umgestaltung der deutschen Handelssprache“ überschrieben ist, untersucht Siebenschein sehr ausführlich die Veränderungen in der deutschen Handelskorrespondenz des 19. Jahrhunderts. Er stellt als Erstes fest, dass es zu einer Erhöhung des „Sprachtempos“ (S. 148) gekommen ist, die sich als Streben nach Kürze des Ausdrucks, Gebrauch von Formeln und Vereinfachung des Satzbaus äußert. Außerdem bemerkt er eine „Entpersönlichung des Briefstils“ und eine „Affektausschaltung“, die mit der im 19. Jahrhundert eingetretenen allgemeinen „Verbürokratisierung“ (S. 156) zusammenhängt, die auch den Handel erfasst hat. In den Geschäftsbriefen setzen sich, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, immer mehr Formeln durch. Bei den wichtigsten Vorgängen des Handels, wie z.B. Angebot, Bestellung, Annahme, Begleichung, Buchung etc. werden, nach dem Vorbild der Bankkorrespondenz, immer mehr feststehende Ausdrücke verwendet (S. 181). Auch Mahnbriefe werden umgestaltet. Auf den letzten 50 Seiten seines Werkes analysiert Siebenschein die zeitgenössische deutsche Werbesprache, insbesondere Slogans und Schlagzeilen auf Plakaten, Anschlägen, Schildern, Aufschriften, Geschäftstafeln, in Warenverzeichnissen und Inseraten (S. 201). Er betont die „sprachgestaltenden Kräfte der Reklame“ (S. 200). Anhand von 60 Textauszügen stellt er sprachkritische und sprachpsychologische Überlegungen zur Werbesprache an, die durchaus modern anmuten und der synchronischen Wirtschaftslinguistik zuzuordnen sind. Die weitere Entwicklung der historischen Wirtschaftslinguistik wurde durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Zwischen den wirtschaftslinguistischen Arbeiten der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts und heutigen Untersuchungen zur Fachsprache der Wirtschaft und zur Unternehmenskommunikation besteht keine Forschungskontinuität. Einige wenige spätere Ausläufer der historischen Wirtschaftslinguistik nach dem Zweiten Weltkrieg, wie z.B. die Arbeit von Olav Brattegard 44 , fanden keine Fortsetzung. 44 Die Studie von Olav Brattegard mit dem Titel Wirtschaftslinguistische Studien. I. Der deutsche kaumfännische Schriftverkehr in handelstechnischer Funktion im Wandel der Zeiten erschien 1953 in Bergen in der Reihe Skrifter fra Norges handelshøyskole. Otto Winkelmann 146 4. Moderne Wirtschaftslinguistik Nach der eingehenden Erörterung der Entstehung und Entwicklung der historischen Wirtschaftslinguistik möchte ich im letzten Teil meines Beitrags skizzieren, wie eine moderne Wirtschaftslinguistik konzipiert sein sollte und welche Anwendungsmöglichkeiten sie der Romanistischen Linguistik bietet. Dabei werde ich wichtige Themen, nützliche Anregungen und verwertbare Forschungsergebnisse der historischen Wirtschaftslinguistik aufgreifen und diese durch Vorschläge ergänzen, die seit der Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts von Seiten der Fachsprachenforschung, der Betriebslinguistik 45 oder der Ethnographie der Unternehmenskommunikation 46 gemacht wurden. Ziel ist es, einen Themen- und Fragenkatalog zu entwerfen, der als Forschungsprogramm einer modernen Wirtschaftslinguistik dienen kann. Unstrittig ist, dass Wirtschaftslinguistik eine Teildisziplin der Linguistik bildet und in den Bereich der Angewandten Linguistik gehört. Moderne Wirtschaftslinguistik muss m.E. auf einer soliden empirischen Grundlage beruhen und anwendungsorientiert arbeiten, oder mit anderen Worten problemlösend ausgerichtet sein. Auf eine gründliche Deskription eines Ist-Zustandes folgt die Festlegung eines mit den Kommunikationspartnern zu vereinbarenden Soll-Zustandes und die Aufzeigung von Wegen zu seiner Erreichung. Wo die Wirtschaftslinguistik institutionell angesiedelt ist, an Universitäten, Fachhochschulen oder Handelshochschulen, ist letzten Endes zweitrangig; wichtig ist, dass Linguisten möglichst unter einem Dach mit Wirtschaftswissenschaftlern zusammenarbeiten können. Ferner muss wirtschaftslinguistische Forschung in einen wirtschaftswissenschaftlichen Kontext eingebettet sein und darauf Bezug nehmen. In methodischer Hinsicht hat sich die Wirtschaftslinguistik an Methoden der Gesprächslinguistik und der kommunikativ-pragmatischen Textlinguistik zu orientieren. Dabei kommen sowohl qualitative als auch quantitative Methoden zum Einsatz. Die diachronisch orientierten Wort- und Begriffsstudien der ersten Phase der historischen Wirtschaftslinguistik liefern zwar wertvolle 45 Die sog. Betriebslinguistik wurde von Reiner Pogarell 1985 an der Universität Paderborn im Rahmen eines Forschungsprojektes ins Leben gerufen, dessen Ziel darin bestand, „die Einsetzbarkeit von Linguisten in Industriebetrieben nachzuweisen“ (vgl. Pogarell 1988: 319). Nach Pogarell sind Linguisten in Firmen dort einsetzbar, wo es um Sprache geht, insbesondere in der betrieblichen Außenkommunikation, der innerbetrieblichen Kommunikation und der Schulungsabteilung. 46 Vgl. hierzu Müller (2006). Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 147 Hintergrundinformationen, und sie weisen auf kulturgeschichtliche Zusammenhänge hin, für eine moderne, anwendungsorientierte Wirtschaftslinguistik sind sie jedoch irrelevant. Nach wie vor wichtig ist die synchronische Erforschung der Terminologie des Geld- und Warenhandels, worauf Van ura bereits 1934 hingewiesen hat. Man denke dabei nur an die schillernden Bezeichnungen neuer „Finanzprodukte“. Was den Gegenstandsbereich der Wirtschaftslinguistik betrifft, so sollte zwischen einem Kernbereich und einem Erweiterungsbereich unterschieden werden. Der Kernbereich bezieht sich auf die gesamte wirtschaftliche Kommunikation eines Unternehmens und umfasst sowohl die interne als auch die externe Unternehmenskommunikation. Interne Kommunikation liegt vor, wenn alle Kommunikationspartner Firmenangehörige sind; um externe Kommunikation handelt es sich, wenn ein Kommunikationspartner Außenstehender ist. Der Erweiterungsbereich umfasst Text- und Gesprächstypen der Wirtschaftswissenschaften (beispielsweise volks- oder betriebswirtschaftliche Monographien, Aufsätze, Handbücher, Vorträge oder Vorlesungen), der Handelsgesetzgebung, der Wirtschaftspresse sowie der Börse. Bezüglich des Kernbereichs der Wirtschaftslinguistik empfiehlt es sich, zunächst einmal den gesamten Informationsfluss eines Unternehmens systematisch zu durchforsten und die Textsorten und Gesprächstypen der internen und der externen Unternehmenskommunikation zusammenzustellen und zu klassifizieren 47 , damit man anschließend einen Ansatzpunkt zu ihrer Optimierung erhält. Dabei wird nach Themen, Anlässen und Medien unterschieden. 4.1. Texttypen der internen Unternehmenskommunikation Zu den wichtigsten Texttypen der internen Unternehmenskommunikation gehören Hausmitteilungen über aktuelle firmenspezifische Ereignisse in Form von Aushängen, Rundschreiben oder Sammel-E-Mails über das Intranet. Neben Informationen seitens der Firmenleitung nehmen Mittei- 47 Die Unterscheidung zwischen interner und externer Unternehmenskommunikation ist für die Grobklassifikation der wirtschaftlichen Kommunikationsformen wichtig, sie ist aber nicht in jedem Falle trennscharf, denn es gibt Überschneidungen, wie z.B. das Unternehmensleitbild, das sich in erster Linie an die Belegschaft richtet, jedoch auch nach außen kommuniziert wird, um bei den Partnern des Unternehmens eine positive Imagewirkung zu erzielen. In mehreren Bereichen, wie z.B. dem Verkauf, der Werbung oder der Öffentlichkeitsarbeit, existieren schriftliche und mündliche Formen der Wirtschaftskommunikation nebeneinander, wobei für die einzelnen Text- und Gesprächstypen jedoch unterschiedliche sprachliche Regeln gelten. Otto Winkelmann 148 lungen der Personalvertretung bzw. des Betriebsrates breiten Raum ein. Auch Controlling-Meldungen und Statistiken gehören zu den firmeninternen Mitteilungen, die jedoch meist nur einem eingeschränkten Personenkreis zugänglich gemacht werden. Zu Sitzungen und Besprechungen wird in größeren Firmen in der Regel schriftlich eingeladen, und die Ergebnisse werden in Form von Protokollen festgehalten und anschließend an die Gesprächsbeteiligten verschickt. An den „Schwarzen Brettern“ finden sich Hinweise auf Veranstaltungen aller Art, insbesondere Schulungsangebote und Möglichkeiten der Weiterbildung für Betriebsangehörige. Auch die Ankündigung von Wahlen zum Betriebsrat und die Bekanntgabe von Wahlergebnissen erfolgen in der Regel an besonderen Anschlagtafeln. Im Personalbereich fallen sehr viele verschiedene Texttypen an. Interne Stellenanzeigen werden meist als Aushang bekannt gemacht oder im Intranet veröffentlicht. Im Rahmen der Einstellung werden Arbeitsverträge 48 ausgefertigt. Im Falle von Problemen bei der Zusammenarbeit können Abmahnungen und Kündigungen verschickt werden. Bei der Beendigung der Firmenzugehörigkeit oder auf Wunsch der Mitarbeiter werden Arbeitszeugnisse ausgestellt, in denen in der Regel standardisierte Formulierungen verwendet werden. Für langjährige Firmenzugehörigkeit können Urkunden ausgehändigt werden. Die Abfassung von Glückwunsch- und Kondolenzschreiben gehören ebenfalls zum Aufgabenbereich einer Personalabteilung. Ferner existieren Formulare 49 für Krankmeldungen, Urlaubsanträge und Reisekostenabrechnungen. Die Tätigkeitsbereiche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden in Stellenbeschreibungen festgehalten; ihr Verhalten wird durch Arbeitsanleitungen und Dienstvorschriften geregelt. Im Produktionsbereich sind häufig Sicherheitsanweisungen und Warnhinweise in Form von Plakaten, Aushängen oder Aufklebern angebracht. Als zentrales Informationsmedium der internen Kommunikation dient die Mitarbeiterzeitschrift bzw. die Unternehmenszeitung, die an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie gelegentlich auch an deren Familienangehörige und an im Ruhestand befindliche ehemalige Mitarbeiter 48 Die Verträge können auch Verlängerungen, Versetzungen oder Beförderungen betreffen. 49 In großen Firmen gibt es Formulare oder spezielle Blöcke für Gesprächsnotizen nach Telefonaten oder Besprechungen. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 149 verteilt wird. 50 Neben Berichten über aktuelle Ereignisse findet sich in der Unternehmenszeitung oft das Unternehmensleitbild bzw. die Firmenphilosophie, die zusammen mit den Unternehmenszielen an die Mitarbeiter kommuniziert wird. 51 Die interne Kommunikation ist keine Einbahnstraße. Neben der Abwärtskommunikation (von der Firmenleitung, den Abteilungsleitern oder Vorgesetzten zu ihren Mitarbeitern) gibt es auch eine Aufwärtskommunikation, die in umgekehrter Richtung verläuft und weniger stark ausgeprägt ist. So können sich Firmenangehörige schriftlich an ihre Vorgesetzten, die Werks- oder Geschäftsleitung wenden, wenn sie Anregungen, Beschwerden oder Verbesserungsvorschläge vorbringen möchten. 4.2. Texttypen der externen Unternehmenskommunikation Grundsätzlich ist bei der externen Unternehmenskommunikation zu bedenken, dass alle Schriftstücke, die eine Firma verlassen, nicht nur Informationsfunktion besitzen, sondern auch zur Imagebildung beitragen. Insofern hat die Außenkommunikation eines Unternehmens auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Geschäftstätigkeit und den Ertrag einer Firma. Der älteste und immer noch wichtigste Typ der externen Unternehmenskommunikation ist die sog. Handelskorrespondenz, d.h. der schriftliche Austausch von Nachrichten geschäftlichen Inhalts zwischen Handels- oder Geschäftspartnern. Dazu gehören u.a. Rundschreiben an Geschäftspartner, Anfragen an Lieferanten, Antwortschreiben auf Anfragen, Angebote an Kunden, Auftragsterteilungen und Bestellungen, Versandanzeigen, Lieferscheine und Rechnungen, Empfangs- und Zahlungsbestätigungen, Zahlungsaufforderungen, Reklamationen, Mahnungen wegen ausstehender Lieferung oder Zahlung und Mängelrügen. Beim Kauf hochwertiger Güter wird ein schriftlicher Kaufvertrag abgeschlossen, auf den die Allgemeinen Geschäftsbedingungen Anwendung finden. In der Personalabteilung werden Stellenanzeigen aufgesetzt, die an die Presse weitergegeben oder im Internet veröffentlicht werden. An 50 Gelegentlich wird die Unternehmenszeitung auch zur Außenkommunikation eingesetzt. 51 Zahlreiche große Firmen veröffentlichen ihr Unternehmensleitbild, ihre Werte und Visionen in besonderen Broschüren oder auf ihrer Website. Otto Winkelmann 150 Bewerberinnen und Bewerber werden Einladungen zu Vorstellungsgesprächen oder Absagen verschickt. Eine wichtige Rolle kommt der Werbekommunikation zu. Im Bereich der Produktwerbung kommen Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften, Plakate, Rundfunk- und Fernsehwerbesendungen 52 , Serienbriefe (sog. Mailings) und Broschüren zum Einsatz. Damit Produkte erfolgreich vermarktet werden können, müssen werbewirksame Marken- und Produktnamen 53 kreiert werden. Kundenzeitschriften, in denen sowohl Produktals auch Unternehmenswerbung betrieben wird, sollen die Kundenbindung verstärken. In den letzten Jahren setzen immer mehr Firmen das Internet zur Übermittlung von Werbebotschaften ein. 54 Produktbegleitende Texte informieren die Kunden über die korrekte Verwendung und Handhabung der gekauften Waren. Daher sind Gebrauchsanweisungen, Bedienungsanleitungen und Beipackzettel wichtige Produktbestandteile. Darüber hinaus können produktbegleitende Texte durch Kaufbestätigung und Qualitätsbetonung den Vertrieb unterstützen und zur Kundenbindung beitragen. Große Firmen veröffentlichen regelmäßig Geschäftsberichte, mittels derer Kunden, Anteilseigner, Kreditinstitute und die interessierte Öffentlichkeit über die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens im Berichtszeitraum informiert werden. Jahresberichte enthalten neben der Bilanz und den Vermerken der Buchprüfer in der Regel auch einen Lagebericht und einen Überblick über abgeschlossene, laufende und geplante Projekte. Üblicherweise wird der Jahresbericht auch zur Imagepflege genutzt und ist dementsprechend aufwendig gestaltet. 52 Rundfunk- und Fernsehwerbesendungen werden hier als Texttypen aufgefasst, da ihnen in jedem Falle ein Skript zu Grunde liegt, auch wenn sie in Gesprächsform realisiert werden. 53 Bereits Messing (1928: 15, Anm. 20a) weist auf den Wert werbewirksamer Namengebung hin. Er berichtet, dass ein nordamerikanischer Düngemittelhersteller sich gezwungen sah, den Namen seines Düngemittels Acidphosphate in Superphosphate abzuändern, da die Bauern nicht bereit waren, ein als „Säure“ bezeichnetes Produkt auf ihren Feldern auszubringen. Wie dpa am 29.12.2010 berichtete, werden eine französische Kartoffelsorte namens „La Ratte“ und eine in Kroatien sehr beliebte Limonade mit dem Namen „Pipi“ bei deutschen Verbrauchern kaum auf Gegenliebe stoßen. 54 Die Möglichkeiten der Internetwerbung sind vielfältig. Sie umfasst alle Bausteine der Printwerbung und verwendet darüber hinaus Banner, Popups sowie Ton- und Videosequenzen. Wer will, kann sich über sog. Newsletters über neue Produkte informieren lassen. Auch E-Mails enthalten oft angehängte Werbebotschaften, die in den seltensten Fällen erwünscht sind. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 151 Dem Bereich der Public Relations bzw. der Öffentlichkeitsarbeit kommt in Zeiten der zunehmenden Globalisierung mit ihrem verschärften Wettbewerb eine wachsende Bedeutung zu. Ganz allgemein geht es hierbei um die Schaffung, Aufrechterhaltung und Verbesserung eines positiven Firmenimages in der Öffentlichkeit. Im schriftlichen Bereich steht bei der Öffentlichkeitsarbeit die Erstellung und Verbreitung von Pressemitteilungen über das Unternehmen, seine Geschäftstätigkeit und sein soziales und ökologisches Engagement im Vordergrund. Besonders gefragt ist die PR-Abteilung in Krisensituationen. Ein wichtiger Teilaspekt der Öffentlichkeitsarbeit ist die Entwicklung und Pflege der Corporate Identity, des einheitlichen Erscheinungsbildes einer Firma, das nicht nur im Logo und in den Firmenfarben, sondern auch im Auftreten und in der Geschäftskorrespondenz zum Ausdruck kommt. Die Grundsätze der Corporate Identity müssen zunächst in der Geschäftsleitung diskutiert und anschließend schriftlich ausformuliert werden. 4.3. Gesprächstypen der internen Unternehmenskommunikation Besprechungen mit Führungskräften, Kollegen und Mitarbeitern zum Zwecke der Planung, Organisation und Zusammenarbeit am Arbeitsplatz 55 machen den Großteil der geschäftlich veranlassten internen Unternehmenskommunikation aus. Es kann sich dabei um Teamsitzungen, Konferenzen, Arbeits- oder Projektsitzungen handeln. 56 Meistens sind dabei die Gesprächsbeteiligten persönlich anwesend; Besprechungen können aber auch im Rahmen einer Telefon- oder Videokonferenz stattfinden. Dieses Verfahren bietet sich an, wenn mehrere Personen an mehreren Standorten oder aus verschiedenen Filialen eines Unternehmens beteiligt sind. In manchen Abteilungen großer Firmen findet regelmäßig ein Jour Fixe statt, im Rahmen dessen aktuelle Themen oder Probleme besprochen werden. Strategiegespräche und Krisengespräche finden meistens in der Unternehmensleitung unter Beteiligung eines ausgewählten Personenkreises, z.B. der Leitung der Kommunikationsabteilung, statt. Im Rahmen von Besprechungen werden oft Präsentationen gehalten, bei denen Ergebnisse von Arbeits- oder Projektgruppen vorgestellt werden. 55 Informelle Flurgespräche, Privatgespräche und Plauderei (Small Talk) wirken sich zwar positiv auf das Betriebsklima und die Arbeitsfreude der Mitarbeiter aus, sie zählen m.E. aber nicht zur Wirtschaftskommunikation, da sie primär nicht „wirtschaftlichen Zwecken“ dienen. 56 Zu innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen vgl. Müller (1997). Otto Winkelmann 152 Im Personalbereich sind die Gesprächstypen besonders zahlreich: Zu den sog. Kontaktgesprächen 57 gehören Begrüßungen, Vorstellungen, Verabschiedungen sowie Gespräche oder Ansprachen anlässlich von Jubiläen. Daneben gibt es in regelmäßigen Abständen Beurteilungs- und Kritikgespräche zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Auch Abmahnungs- und Kündigungsgespräche fallen in den Zuständigkeitsbereich der Personalabteilung. Zur Wiedereingliederung länger erkrankter Mitarbeiter können besondere Wiedereingliederungsgespräche geführt werden. In der Personalabteilung oder in der Firmenleitung werden Lohn- und Gehaltsverhandlungen geführt. In Mitarbeiterversammlungen informiert die Firmenleitung die Belegschaft über wichtige Veränderungen, wie z.B. eine bevorstehende Umstellung der Produktion, eine geplante Unternehmensfusion oder eine drohende Werksschließung. Im Produktionsbereich werden Arbeitsanweisungen und Instruktionen in der Regel mündlich erteilt. 4.4. Gesprächstypen der externen Unternehmenskommunikation Die meisten der oben in Abschnitt 4.1. aufgeführten Mitteilungen an Geschäftspartner, Kunden und Lieferanten können auch in mündlicher Form übermittelt werden, wobei die Vereinbarungen in der Regel später schriftlich bestätigt werden müssen. Besondere Bedeutung kommt dem Verkaufsgespräch zu, das zum Bereich des Direktvertriebs gehört. Durch Systematisierung des traditionellen telefonischen Verkaufsgesprächs hat sich das Telefonmarketing entwickelt, in dem von Seiten des Verkäufers oder des Mitarbeiters eines Callcenters häufig nach Skript vorgegangen wird. Verhandlungen mit Geschäftspartnern, Lieferanten, Kunden oder Vertretern von Behörden können unter vier Augen oder am Telefon geführt werden. Viel Fingerspitzengefühl wird seitens der zuständigen Firmenangehörigen bei Reklamations- und Beschwerdegesprächen benötigt, wenn es einerseits darum geht, unzufriedene Kunden zufriedenzustellen, andererseits aber unberechtigte Ansprüche abgewehrt werden müssen. Vorstellungsgespräche gehören ebenfalls zur externen Unternehmenskommunikation, weil mindestens eine außenstehende Person, der Bewerber oder die Bewerberin, daran teilnehmen. Es können auch mehrere Bewerber zu einer Bewerberrunde eingeladen werden. Ein 57 Vgl. Müller (2006: 151f.) Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 153 Bewerbungsgespräch kann auch in Form eines Telefoninterviews durchgeführt werden. Auch Öffentlichkeitsarbeit findet häufig mündlich statt, z.B. in Form von Fernseh- oder Rundfunkinterviews mit Unternehmenssprechern. Eine besondere Form der Gesprächstypen der externen Unternehmenskommunikation stellt das sog. Lobbying dar, bei dem Beauftragte einer Firma oder eines Wirtschaftsverbandes gezielt auf Entscheidungsträger der Politik oder der Verwaltung zugehen, um die wirtschaftlichen Interessen ihrer Auftraggeber durchzusetzen. 5. Bilanz und Perspektiven Im dritten Kapitel dieses Beitrags wurde deutlich, dass die linguistische Beschäftigung mit der Sprache des Handels und der Wirtschaft bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Ferner zeigte sich, dass die Wirtschaftslinguistik der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wertvolle Einsichten in wesentliche Teilgebiete der Wirtschaftskommunikation geliefert hat, insbesondere hinsichtlich der Entstehung der Fachtermini des Handels und der Entwicklung der Handelskorrespondenz. Ewald Messing, dem die Gründung der Wirtschaftslinguistik als Teilbereich der Angewandten Linguistik zu verdanken ist, hatte bereits früh darauf hingewiesen, dass Sprechen und Schreiben in einem Unternehmen als Produktionsfaktoren anzusehen sind und dass die „suggestiven Kräfte des Wortes“ in der Wirtschaftskommunikation von besonderer Bedeutung sind. Die Prager Wirtschaftslinguisten stellten die synchronische Perspektive in den Vordergrund und dehnten den Gegenstandsbereich der Wirtschaftslinguistik auf alle schriftlichen und mündlichen Formen der Wirtschaftskommunikation einschließlich wirtschaftswissenschaftlicher Abhandlungen, Handelsgesetze und Wirtschaftsberichterstattung aus. Im Zentrum einer modernen Wirtschaftslinguistik muss m.E. die interne und externe Unternehmenskommunikation stehen. Die dazu gehörigen Text- und Gesprächstypen wurden im vierten Kapitel aufgeführt und erläutert. Moderne Wirtschaftslinguistik erfasst, beschreibt und analysiert somit mündliche und schriftliche Äußerungen, die wirtschaftlichen Zwecken dienen. Mir schwebt die Wirtschaftslinguistik als interdisziplinäres Fach vor, in dem die Wirtschaftswissenschaft den Rahmen beschreibt, innerhalb dessen wirtschaftliches Handeln sich vollzieht, und die Linguistik die sprachlichen Mittel beschreibt, die zur Otto Winkelmann 154 Erreichung wirtschaftlicher Ziele eingesetzt werden. Als angewandter Wissenschaftszweig ist die Wirtschaftslinguistik außerdem gehalten, wirtschaftssprachliche Texte und Gespräche unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten zu optimieren. Infolgedessen muss eine romanistische Wirtschaftslinguistik u.a. Lösungsvorschläge für die im zweiten Kapitel angesprochenen Probleme erarbeiten. In diesem Falle wird die Wirtschaftslinguistik um eine interkulturelle Perspektive bereichert. Legt man den im vierten Kapitel skizzierten Themenkatalog der internen und externen Unternehmenskommunikation zu Grunde, so wurden von der romanistischen Linguistik nur wenige Bereiche gründlich erforscht. 58 Gerade im Bereich der internen Kommunikation gibt es nur wenige empirisch fundierte Arbeiten. Dies erklärt sich teilweise dadurch, dass die Materialbeschaffung in Unternehmen aus Gründen des Datenschutzes und der Vertraulichkeit von Geschäftsvorgängen besonders schwierig ist. Um so mehr Anerkennung verdienen die Arbeiten von Britta Thörle (2005) und Andreas P. Müller (2006), denen es gelungen ist, ein umfangreiches Korpus von innerbetrieblichen Besprechungen aus je einem deutschen, französischen und spanischen Werk eines weltweit operierenden Konzerns der Automobilzuliefererbranche (Thörle 2005: 44) zusammenzustellen und linguistisch zu analysieren. Ansatzweise wurden Mitarbeiterzeitungen untersucht. 59 Die Erforschung romanischsprachiger Arbeitszeugnisse mit ihren verklausulierten Formulierungen steht noch aus. Im Bereich der externen Unternehmenskommunikation ist von romanistischer Seite die Werbekommunikation recht gut erforscht. Wortschatz, Wortbildung, Syntax und Stil der französischen Werbesprache werden in der wegweisenden Arbeit von Marcel Galliot (1955) gründlich beschrieben. Andere Arbeiten befassen sich in vertiefter Weise mit Slogans oder Schlagzeilen der Anzeigenwerbung, wie z.B. die Monographie von Blanche Grunig (1991). Als besonders beliebt erweist sich die Automobilwerbung. Anzeigen der französischen Automobilwerbung werden von Susanne Eichholz (1995) untersucht. Die Internetwerbung von Peugeot, Renault und Citroën wird von Annette Lühken (2010) anhand ausgewählter Modellpräsentationen exemplarisch beschrieben. Mirko Minucci (2008) analysiert in seiner Dissertation Plakate und Printanzeigen 58 Nachfolgend führe ich eine kleine Auswahl mir wichtig erscheinender themenrelevanter Arbeiten auf, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 59 Vgl. die Magisterarbeit von Julia Brenner aus dem Jahre 2006 mit dem Titel Linguistische Aspekte von Mitarbeiterzeitungen. Plädoyer für eine romanistische Wirtschaftslinguistik 155 italienischer Automobilfirmen und vergleicht sie mit ihren deutschen Entsprechungen. Ebenfalls kontrastiv angelegt ist die Arbeit von Stephen Hahn (2000), in der deutsche und französische Anzeigen für dasselbe Produkt im Hinblick auf kulturspezifische Adaptionen untersucht werden. Italienische Markennamen des Lebensmittelbereichs wurden von Antje Zilg (2006) und Sigrid Muselmann (2010) aus unterschiedlicher Perspektive beschrieben. Beide Arbeiten enthalten zahlreiche Hinweise darauf, welche Typen von Markennamen auf dem italienischen Lebensmittelmarkt eine besondere Akzeptanz besitzen. Mit der Versprachlichung der Corporate Identity eines international agierenden Pharmakonzerns auf den italienisch-, spanisch- und portugiesischsprachigen Websites des Unternehmens setzt sich Tanja Emmerling (2007) auseinander. Nur wenig erforscht sind bisher Stellenanzeigen, produktbegleitende Texte und Jahresberichte 60 , die in einer romanischen Sprache abgefasst wurden. Obwohl es zur Handelskorrespondenz der romanischen Sprachen zahlreiche Ratgeber und Briefsteller gibt, fehlen systematische linguistische Untersuchungen dieses Themenbereiches. Mit den von den Prager Wirtschaftslinguisten, insbesondere ada, Van ura und Siebenschein, angesprochenen wirtschaftswissenschaftlichen Texttypen und mit Gesetzen und Verwaltungsvorschriften für Handel und Wirtschaft hat sich die Romanistische Linguistik bisher kaum beschäftigt. Günstiger sieht es im Bereich der französischen Wirtschaftsberichterstattung aus, die beispielsweise auf ihre Syntax und Lexik (vgl. Ihle-Schmidt 1983), die Verwendung von Relationsverben (vgl. Kreipl 2004) oder ihre Metaphorik (vgl. Brandstetter 2009) hin untersucht und beschrieben wurde. Die Sprache der Börse wurde gelegentlich erforscht, insbesondere im Hinblick auf ihre Metaphorik. Wie dieser kurze Überblick gezeigt hat, eröffnet sich für die Romanistische Wirtschaftslinguistik im Bereich der Wirtschaftskommunikation im Allgemeinen und der Unternehmenskommunikation im Besonderen ein weites und vielversprechendes Forschungsfeld. 60 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Saarbrücker Dissertation von Hans-Jörg Schlierer (2004) zum Thema Kulturspezifische Stilmerkmale deutscher und französischer Geschäftsberichte. Eine kontrastive Analyse. Otto Winkelmann 156 Literaturverzeichnis Bolten, Jürgen (ed.) 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So zeigt Frederick Bodmer (1943) in seinem bekannten Werk „The Loom of Language“ am Beispiel der germanischen und der romanischen Sprachfamilie praktische Wege zum Erwerb einer Sprachkompetenz auf, die sich nicht auf eine bestimmte Sprache beschränkt, sondern mehrere miteinander verwandte Sprachen umfasst. Mario Wandruszka (1969) führt in Sprachen, vergleichbar und unvergleichlich auf der Grundlage eines umfangreichen Textcorpus in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch einen umfassenden multilateralen Übersetzungsvergleich durch, der originelle Anregungen für den Übersetzungsunterricht bietet. Diesen Beispielen ließen sich leicht weitere hinzufügen. Trotzdem ist eine breit angelegte, systematische Nutzung der didaktischen Möglichkeiten des Sprachvergleichs erst in jüngster Zeit festzustellen. Damit reagiert die moderne Fremdsprachendidaktik darauf, dass aufgrund der stark zunehmenden internationalen Kontakte die Zahl der Personen, die Fremdsprachenkenntnisse benötigen, ständig steigt. Da jedoch für den Erwerb solcher Kenntnisse nur ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung steht, werden didaktische Konzepte benötigt, die auf die speziellen Bedürfnisse der jeweiligen Lernergruppe eingehen und insbesondere den thematischen Rahmen und die zu vermittelnden sprachlichen Fertigkeiten (Sprechen, Hörverstehen usw.) eingrenzen, um schneller zu Lernerfolgen zu gelangen. Mit dem Ziel, eine rezeptive Kompetenz in Fremdsprachen und speziell in den weniger verbreiteten Sprachen Europas zu fördern, sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe unterschiedlicher Initiativen ent- Reiner Arntz 164 wickelt worden, die zu einem erheblichen Teil durch sprachpolitische Bemühungen der Europäischen Union inspiriert wurden. Wichtige Anregungen gingen von dem Expertenseminar zur Compréhension multilingue en Europe aus, das 1997 in Brüssel von der EU-Kommission durchgeführt wurde (Klein 1999: 57). Hier wurden drei didaktische Aspekte herausgearbeitet, die für eine umfassende Förderung der Mehrsprachigkeit in Europa von grundlegender Bedeutung sind: • eine deutliche Unterscheidung zwischen den einzelnen Kompetenzen, z.B. Sprechen und Hörverstehen, • der Erwerb von Teilkompetenzen mit der Möglichkeit, diese modular zu erweitern, • die Nutzung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Sprachen. Diese drei Gesichtspunkte werden inzwischen in einer Vielzahl von Projekten in zahlreichen europäischen Ländern berücksichtigt, deren gemeinsames Ziel die Entwicklung der „Interkomprehension“, d.h. eines gegenseitigen Verstehens innerhalb von Sprachfamilien, ist. Die Fernuniversität Hagen hat in zwei vielbeachteten Kongressen 1998 und 2001 (Kischel/ Gothsch 1999; Kischel 2002) Vertreter dieser Projekte zusammengeführt und eine vorläufige Bilanz gezogen. Große Beachtung fand in diesem Zusammenhang das an der Universität Frankfurt betriebene Projekt EuroComRom (Klein/ Stegmann 2000), bei dem es darum geht, in kurzer Zeit eine rezeptive Kompetenz in einer beliebigen romanischen Sprache zu entwickeln. Auf der Grundlage angemessener Französischkenntnisse erhalten die Lerner eine umfassende Einführung in das Spanische, Italienische, Portugiesische, Katalanische oder Rumänische, gegebenenfalls auch in eine seltenere romanische Sprache wie Rätoromanisch. Sie erfahren, dass sie bereits viel mehr von der neuen Sprache kennen als sie ahnen und gewinnen auf diese Weise Selbstvertrauen im Umgang mit der Fremdsprache. Die erste Etappe ist dabei der Erwerb der Lesekompetenz; von dieser relativ leicht zu schaffenden Basis aus können anschließend Hör-, Sprech- und Schreibkompetenz entwickelt werden. Damit wird insbesondere der Zugang zum Erlernen solcher Sprachen, die bislang weniger häufig gelernt werden, erheblich erleichtert. Das dargestellte Konzept hat sich als ausgesprochen erfolgreich erwiesen, so dass es nun an andere Sprachfamilien angepasst wird; so gibt es inzwischen ein Projekt EuroComSlav mit der Ausgangssprache Russisch (Zybatow 2002) und ein Projekt EuroComGerm (Hufeisen 2002). „Kontrastsprache“ Portugiesisch 165 Besondere Aktualität gewinnen die geschilderten Überlegungen zur Vermittlung einer romanischen Mehrsprachigkeit im Zusammenhang mit der aktuellen Umstrukturierung der romanistischen Studiengänge an deutschen Universitäten. Bis vor einigen Jahrzehnten durfte man von einem solide ausgebildeten Romanisten einen Überblick über die wichtigsten Sprachen der Romania auf der Grundlage des Lateinischen erwarten. An die Stelle dieser Gesamtschau, die man durchaus als eine spezielle Form romanischer Vielsprachigkeit bezeichnen kann, ist eine zunehmende Spezialisierung getreten, so dass heute ein "Hispanist" oder "Italianist", der kein Wort Französisch spricht, keineswegs ungewöhnlich ist. Im Rahmen der z. Zt. entstehenden Masterstudiengänge bietet sich die Chance, anspruchsvolle Studienangebote zu entwickeln, die, ganz im Sinne der traditionellen Romanistik, das Gemeinsame der romanischen Sprachen und Kulturen in den Vordergrund stellen. Das setzt allerdings voraus, dass die Studierenden die Möglichkeit erhalten, sich in einem überschaubaren Zeitraum die erforderlichen Sprachkenntnisse gerade in den romanischen Sprachen, die nicht an deutschen Schulen gelehrt werden, anzueignen. Das gilt nicht zuletzt für das Portugiesische. 2. Neue Wege zum Portugiesischen Das Portugiesische spielt in mehreren der bislang erarbeiteten Methoden zur Entwicklung von Interkomprehension eine Rolle, und es ist für diesen Ansatz geradezu prädestiniert: mit seinen über 200 Millionen Sprechern ist Portugiesisch zwar alles andere als eine „kleine“ Sprache, und es hat auf globaler Ebene insbesondere als Nationalsprache Brasiliens durchaus Gewicht; trotzdem wird Portugiesisch in Deutschland und Europa eher selten gelernt, und es steht fast überall im Schatten des Spanischen, das sich einer unvergleichlich größeren Popularität erfreut. Es liegt also nahe, mit Hilfe eines modularen bzw. kontrastiven Ansatzes Hemmschwellen bei potentiellen Lernern abzubauen und ihnen den Weg zu dieser wichtigen Kultursprache zu ebnen. Zwei Ansätze hierzu sollen im Folgenden skizziert werden. Die bereits erwähnte Methode EuroComRom nutzt in systematischer Weise die Verständnishilfen, die sich aus der Sprachverwandtschaft ergeben; dies gilt nicht nur für den Wortschatz, sondern für alle sprachlichen Ebenen, auch für die Syntax. Im Einzelnen geht es um sieben Bereiche, in denen man in jeder neuen Sprache, sofern sie zur gleichen Sprachfamilie gehört, Bekanntes auffinden kann: von den Internationalismen und dem Reiner Arntz 166 romanischen Grundwortschatz bis hin zur Morphosyntax und den produktiven Wortbildungsmorphemen (Klein 1999: 60ff.). Nachdem diese „sieben Siebe“ durchlaufen sind, bleiben nur noch die (nicht allzu zahlreichen) so genannten Profilwörter, d.h. diejenigen Wörter, die nur in der betreffenden Sprache existieren (im Portugiesischen beispielsweise ainda, embora, porém). Anschließend wird ein so genanntes Miniporträt für diese Sprache erstellt, das zunächst den geographischen und historischen Rahmen absteckt und anschließend die wichtigsten Charakteristika der Sprache in Aussprache und Schrift sowie in der Wort- und Lautstruktur zusammenfasst, und in einem so genannten Minilex die häufigsten Wörter der wichtigsten Wortarten, ca. 400 Wörter, vorstellt (Klein/ Stegmann 2000: 205 ff.). Damit ist die Basis für eine grundlegende Lesefähigkeit im Portugiesischen geschaffen, die man nun durch eine spezielle Lesefähigkeit in bestimmten Fachgebieten erweitern oder in Richtung auf eine aktive Sprachbeherrschung ausbauen kann (Klein 1999: 63ff.). Die Methode EuroComRom wurde am Institut für Romanistik der Universität Frankfurt entwickelt; die primäre Zielgruppe waren daher zunächst deutschsprachige Studierende, die bereits über eine gute Grundlage in einer romanischen Sprache, in der Regel im Französischen, verfügten. Inzwischen liegen adaptierte Fassungen in einer Reihe von Sprachen vor, so dass auch ein Einstieg für Lerner mit anderen Muttersprachen, z.B. Spanisch oder Italienisch, möglich ist. In der Methode EuRom4, die von den Universitäten Lissabon, Salamanca, Rom und Aix-en-Provence im Rahmen des LINGUA-Programms entwickelt wurde, hat man von vornherein einen multilateralen Ansatz gewählt. Dieser Kurs bietet Personen, die Portugiesisch, Spanisch, Italienisch oder Französisch beherrschen, die Möglichkeit, die jeweiligen drei anderen romanischen Sprachen zu erlernen. Das Kursmaterial ist viersprachig angelegt: Zunächst wird die Methode parallel in den vier Sprachen vorgestellt; es folgt das Kernstück des Kurses, die kontrastiv aufbereiteten Lesestücke. Den Anfang bildet eine Reihe von portugiesischen Originaltexten, jeweils mit ihrer spanischen, italienischen und französischen Übersetzung sowie mit kontrastiv angelegten Erklärungen zu Syntax, Lexik und Idiomatik. Es folgen spanische Originaltexte, jeweils mit portugiesischer, italienischer und französischer Übersetzung usw. Den Abschluss des Kursmaterials bildet eine ausführliche kontrastive Grammatik der vier Sprachen. „Kontrastsprache“ Portugiesisch 167 3. Portugiesisch im Rahmen des Hildesheimer Drittsprachenprogramms Die Vermittlung fachbezogener Lesekenntnisse tritt also immer mehr in den Blickpunkt des Interesses. Damit wächst auch die Einsicht, dass es hier weit mehr als im traditionellen Fremdsprachenunterricht darauf ankommt, dass das Lehrmaterial auf die spezifischen Voraussetzungen des Lerners, insbesondere auf seine Vorkenntnisse und sein Lernziel, abgestimmt ist. 3.1. Das Konzept des Drittsprachenprogramms Auf der Grundlage dieser Überlegungen werden am Institut für Angewandte Sprachwissenschaft der Universität Hildesheim speziell konzipierte jeweils dreisemestrige Lehrveranstaltungen zu so genannten Kontrastsprachen angeboten, die sich an Sprachstudierende höherer Semester wenden (Arntz 1999: 107). Den Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Lehrangebots bildete der Wunsch von Studierenden, neben den beiden regulär studierten Sprachen innerhalb eines überschaubaren Zeitraums solide Grundkenntnisse in einer weiteren Sprache zu erwerben, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Bei den behandelten Sprachen geht es um weniger häufig gelernte germanische und romanische Sprachen, zunächst um Niederländisch, Italienisch und Portugiesisch. Diese Sprachen bieten besonders gute Voraussetzungen für die Anwendung der kontrastiven Methode, da alle Lerner bereits mindestens eine germanische bzw. romanische Sprache - als Muttersprache oder als Fremdsprache - beherrschen; diese bereits vorhandenen Sprachkenntnisse werden nun systematisch für das Erlernen der neuen Sprache nutzbar gemacht. Ebenso wichtig ist der modulare Aufbau des Kursprogramms: Jedes Modul ist eine in sich geschlossene Einheit, so dass die Teilnehmer sich auf Modul I, das eine passive Kenntnis der betreffenden Sprache vermittelt, beschränken können. Im Normalfall gehen sie jedoch anschließend zu Modul II über, das auf eine aktive Sprachbeherrschung abzielt. Seine Abrundung findet das Programm in Modul III - Übersetzen von Sach- und Fachtexten aus der Fremdsprache in die Muttersprache -, das ebenfalls eine in sich geschlossene Einheit darstellt. Dieses Konzept wurde zu Beginn der 90er Jahre in Hildesheim zunächst im Rahmen eines Pilotprojekts „Rezeptive Kompetenz Niederländisch“ (Arntz/ Wilmots 2008) erprobt. In diesem Kurs wurden die Reiner Arntz 168 muttersprachlichen Deutschkenntnisse sowie die Englischkenntnisse der Kursteilnehmer systematisch genutzt. Wesentlich eingehendere Untersuchungen ermöglichte ein groß angelegtes Projekt im Rahmen des EU- Programms LINGUA; Ziel des Projekts war die Entwicklung von Lehrmaterial zur Vermittlung fachsprachlicher Lesekenntnisse im Italienischen. Das hier erarbeitete Material, mit dem bis heute in Hildesheim gearbeitet wird, wendet sich ebenfalls an deutsche Muttersprachler, wobei die bereits vorhandenen Kenntnisse in weiteren romanischen Sprachen genutzt werden (Veronesi/ Cavagnoli 1997). Aufbauend auf den in diesen beiden Projekten gesammelten Erfahrungen wurde in den letzten Jahren ein Kurs „Kontrastsprache Portugiesisch“ entwickelt, der inzwischen in Buchform vorliegt (Arntz/ Ré 2007). Der wesentliche Unterschied zu dem Italienischkurs liegt darin, dass es im Falle des Portugiesischkurses nur eine romanische Bezugssprache gibt, die allerdings in der Kursstruktur eine zentrale Rolle spielt: das Spanische. Daher sind gute Spanischkenntnisse, die vor Kursbeginn nachgewiesen werden müssen, Voraussetzung für die Teilnahme. Dies bietet die Möglichkeit, überall, wo sich es anbietet, die Ähnlichkeit zum Spanischen zu nutzen, gleichzeitig aber auch immer wieder anhand von konkreten Beispielen auf die Tücken der Sprachverwandtschaft hinzuweisen. Der Inhalt der drei Module soll im Folgenden näher erläutert werden. 3.2. Kontrastsprache Portugiesisch - Modul I Modul I (Rezeptive Kompetenz) soll den Lernern den Einblick in die portugiesische Sprache vermitteln, den sie benötigen, um portugiesische Sach- und Fachtexte mit Hilfe eines Wörterbuchs lesen zu können. Die Inhalte sind folgendermaßen auf die zehn Lektionen verteilt: Text + Fragen zum Text Portugiesisch und Spanisch im Vergleich Strukturen des Portugiesischen + Übungen 1) O português e o espanhol: duas línguas próximas Internationalismen, Panromanischer Wortschatz, Iberischer Wortschatz, Speziell portugiesischer Wortschatz • Alfabeto e pronúncia • Artigos definidos e indefinidos • Presente do indicativo • Pronomes pessoais e pronomes reflexos „Kontrastsprache“ Portugiesisch 169 Text + Fragen zum Text Portugiesisch und Spanisch im Vergleich Strukturen des Portugiesischen + Übungen 2) O português: uma língua românica Grade der Übereinstimmung: die „guten Freunde“ • Regras de acentuaç-o • Presente do indicativo: verbos irregulares e reflexivos • Gerúndio • Preposições e contracções • Números cardinais 3) O português: língua europeia e global Grade der Übereinstimmung: die „falschen Freunde“ • Possessivos e demonstrativos • Pronomes relativos • Pretérito perfeito simples • Formaç-o do feminino dos adjectivos • Plural dos substantivos e adjectivos 4) Um retrato dos portugueses Lautentsprechungen Portugiesisch - Spanisch • Presente do conjuntivo • Particípio do perfeito e Pretérito perfeito composto • Voz passiva • Comparativo e superlativo 5) A economia portuguesa Unterschiedliche Verwendung von Artikeln, Adjektiven, Adverbien und Präpositionen • Imperfeito do indicativo • Indefinidos • Pronomes pessoais • Perífrases verbais Reiner Arntz 170 Text + Fragen zum Text Portugiesisch und Spanisch im Vergleich Strukturen des Portugiesischen + Übungen 6) O Instituto Camões: uma ponte portuguesa para outros continentes e culturas Unterschiedliche Verwendung der Pronomina im Portugiesischen und Spanischen • Infinitivo pessoal • Advérbios • Períodos e preposições de tempo • Imperativo • Números ordinais 7) Portugal: um país de emigrantes e imigrantes Deutsche, spanische und portugiesische Fachtexte im Vergleich - Teil 1 • Condicional simples ou presente • Condicional composto ou passado • Pretérito imperfeito do conjuntivo • Preposições e locuções prepositivas de lugar 8) Brasil: um panorama Deutsche, spanische und portugiesische Fachtexte im Vergleich - Teil 2 • Pretérito mais-queperfeito composto e simples • Futuro simples • Pretérito mais-queperfeito do conjuntivo • Outras preposições e locuções prepositivas 9) Cabo Verde: um país africano e lusófono Phonetische und orthographische Unterschiede zwischen europäischem und brasilianischem Portugiesisch • Futuro imperfeito do conjuntivo • Futuro composto do indicativo • Colocaç-o dos pronomes • Conjunções e locuções disjuntivas, adversativas e concessivas „Kontrastsprache“ Portugiesisch 171 Text + Fragen zum Text Portugiesisch und Spanisch im Vergleich Strukturen des Portugiesischen + Übungen 10) Português e espanhol na América do sul: guerra ao portunhol Lexikalische und morphosyntaktische Unterschiede zwischen europäischem und brasilianischem Portugiesisch • Uso do Imperfeito do conjuntivo • Uso de conjunções nas frases hipotéticas • Perífrases verbais • Formas de tratamento • Neologismos, empréstimos e estrangeirismos Im Mittelpunkt jeder der zehn Lektionen steht ein portugiesischer Originaltext. Insbesondere die ersten Texte sollen den Lerner zum Vergleichen, Raten und Kombinieren anregen und ihm zeigen, dass seine Spanischkenntnisse eine gute Grundlage für das Verstehen portugiesischer Texte bieten. Auch in diesem Zusammenhang spielt die Phonetik eine wichtige Rolle; es ist allgemein bekannt, dass das Portugiesische sich hier in besonders auffälliger Weise vom Spanischen abhebt. Am Anfang stehen Texte, die die Besonderheiten der portugiesischen Sprache und ihr Verhältnis zu den übrigen romanischen Sprachen, insbesondere zum Spanischen, behandeln. Die folgenden Texte setzen sich mit der wirtschaftlichen und kulturellen Situation Portugals auseinander und leiten über zu den abschließenden Texten, in denen es um die portugiesischsprachigen Länder außerhalb Europas geht. Wichtigstes Kriterium bei der Auswahl der Texte war neben ihrem Inhalt ihre morphosyntaktische Progression. Grundsätzlich wird im Laufe der 10 Lektionen die gesamte relevante Grammatik des Portugiesischen behandelt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den grammatischen Phänomenen, die in der geschriebenen Sprache, vor allem in Sachtexten, besonders häufig auftreten. Daher werden diese sprachlichen Elemente in anderer Reihenfolge und mit anderer Gewichtung dargestellt, als dies in den gängigen Portugiesischlehrwerken der Fall ist. Im Hinblick auf die morphosyntaktische Progression ist dabei Folgendes besonders auffällig: Bereits in Lektion 4 werden die verschiedenen Formen des Passivs eingeführt, die üblicherweise erst später behandelt werden, weil sie eher für schriftliche Texte und weniger für die mündliche Kommunikation typisch sind. Das Gleiche gilt für die Verwendung des perfeito und des Reiner Arntz 172 imperfeito, ein für Lernende mit deutscher Muttersprache problematisches Thema, das hier bereits in der Lektion 3 eingeführt wird. Andererseits sind Themen, die in den gängigen Lehrbüchern vorrangig behandelt werden, auf die letzten Einheiten verschoben worden, wie z.B. die Anredeformen, die erst in der 10. Einheit präsentiert werden. Dies zeigt gleichzeitig, dass auch solche Bereiche der portugiesischen Morphosyntax behandelt werden, die in Fachtexten eine geringe Rolle spielen - allerdings in anderer Reihenfolge und mit anderer Gewichtung, als das sonst üblich ist. Daneben spielt die Lexik eine zentrale Rolle: Es geht darum, dem Lerner den Grundwortschatz zu vermitteln, den er benötigt, um portugiesische Sach- und Fachtexte zu lesen; dieser Grundwortschatz muss dann von Fall zu Fall durch den Spezialwortschatz des betreffenden Fachgebiets ergänzt werden. Bei den in das Kursmaterial übernommenen Texten handelt es sich um Originaltexte, die in einzelnen Fällen leicht modifiziert wurden, wenn dies in syntaktischer oder lexikalischer Hinsicht sinnvoll erschien. Eine große Herausforderung stellte die Entwicklung möglichst abwechslungsreichen Übungsmaterials dar. Dabei wurde der Schwerpunkt zum einen auf Lexik und Morphologie, zum anderen auf Textinhalt und Textstruktur gelegt. Im lexikalisch-morphologischen Bereich nehmen Übungen zur gemein- und fachsprachlichen Wortbildung, zur Strukturierung von Wortfeldern, zu Synonymie und Antonymie sowie zu Internationalismen und Falschen Freunden breiten Raum ein. Besonderes Gewicht kommt jedoch den Übungen zu, die im weitesten Sinne das Verstehen von Textinhalten betreffen; hierzu gehören z.B. die Zuordnung von Überschriften zu Textteilen, das Einfügen von Konnektoren und Konjunktionen in den Text, das Umsortieren von Sätzen, um die Textstruktur zu rekonstruieren, oder die Beantwortung ergänzender Sachfragen. Es liegt auf der Hand, dass beide Übungskategorien sich vielfach überschneiden, z.B. wenn es darum geht, lexikalische Einheiten ihren jeweiligen Definitionen zuzuordnen. Wie die Übersicht der Kursinhalte ebenfalls zeigt, nimmt der portugiesisch-spanische Sprachvergleich im gesamten Kursverlauf breiten Raum ein. Die Entwicklung von Übungen zu diesem Kursteil stellt eine besonders interessante Aufgabe dar, da es, soweit ersichtlich, hier bislang noch keine Erfahrungen gibt. Drei Beispiele für solche Übungen sollen hier kurz vorgestellt werden. Im ersten Fall geht es um die so genannten Falschen Freunde im Sprachenpaar Portugiesisch-Spanisch: „Kontrastsprache“ Portugiesisch 173 1. Hier haben Sie eine Liste falscher Freunde Portugiesisch-Spanisch. Vervollständigen Sie folgende Tabelle mit Hilfe eines Wörterbuches: PORTUGUÊS DEUTSCH ESPAÑOL DEUTSCH assinatura asignatura doce doce farol farol namorado enamorado ruivo rubio seta seta taça taza / tasa todavia todavía vassoura basura Der zweite Fall betrifft den Bereich der Lexikologie bzw. Phraseologie. Hier wurde im Anschluss an einen Dialogtext folgende Aufgabe gestellt, die die Unterschiede in der Idiomatik des Spanischen und des Portugiesischen unterstreicht: Ordnen Sie die Begriffe zu: a) era muito gira (1) ser divertido b) Que chatice! (2) ¿Te parece bien? c) tenho que me ir embora (3) era muy buena d) vou ter com (4) me tengo que ir e) tens que te despachar (5) puede ser que vaya f) os autocarros costumam ser (6) un poco dulce g) sou capaz de ir (7) ¡Qué mal! h) ser engraçado (8) me voy a encontrar con i) um bocado doce (9) te tienes que apurar j) Achas bem? (10) los autobuses suelen ser In der letzten Übung, einer Übersetzung, geht es um ein spezifisch portugiesisches Phänomen, den infinitivo pessoal, der in vergleichbarer Form im Spanischen nicht existiert: Übersetzen Sie bitte ins Spanische: Ao chegarmos ao aeroporto, encontrámos o bilhete. A comeres tanto, n-o vais emagrecer nunca. É melhor ficares hoje em casa. Reiner Arntz 174 É pena termos pouco tempo. Ela pede para passares hoje por lá. 3.3. Kontrastsprache Portugiesisch - Modul II Beim Einstieg in Modul II (Aktive Kompetenz) sind die Studierenden mit den Strukturen des Portugiesischen weitgehend vertraut und können sich nun hauptsächlich dem Erwerb der Sprechfähigkeit und dem Ausbau ihrer lexikalischen und phraseologischen Kenntnisse widmen. Da die Lerner über eine gute methodische Grundlage verfügen, bereitet ihnen der Übergang von Modul I zu Modul II keine Schwierigkeiten. In diesem Kursteil spielt die Idiomatik eine wichtige Rolle, wie der folgende Auszug aus dem einleitenden Lesestück zu Lektion 10 verdeutlicht, dessen geographischen Hintergrund das portugiesischsprachige Moçambique bietet: Bloco 10 - Surpresa e medo em Moçambique Uma das maiores reservas animais do mundo encontra-se no sul do continente africano. É o Parque Transfronteiriço Grande Limpopo, localizado em territórios de três países: Moçambique, África do Sul e Zimbabué. S-o 35 mil quilómetros quadrados, quase o tamanho de Israel. Espécies como zebras, hipopótamos, elefantes, leões e girafas encontramse entre as primeiras que foram deslocadas para esta área, onde se pretende evitar o processo da sua extinç-o. Os amigos encontram-se em Xai-Xai, no sul de Moçambique, na casa do Germano, o primo do Nuno, que é veterinário e trabalha no Parque Grande Limpopo. Ontem estiveram lá com ele e o Manel teve um pequeno incidente. Nuno: Manel, diz lá. O que é que farias se aparecesse agora um elefante? Manel: Sei lá! Poderia mostrar-lhe uma formiga e fugiria imediatamente. Dizem que têm medo das formigas. Maria: A sério? Que curioso! Vê lá aqueles pássaros, s-o enormes. Andreia: Mas por que é que o jeep n-o avança? Será que n-o temos mais gasolina? Germano: N-o sei se é a gasolina, se calhar é a bateria. Mas isto resolve-se rapidamente. Vou telefonar para o próximo posto de vigilância. Nuno: E vamos ficar aqui? Germano: Claro, n-o pode acontecer nada enquanto estivermos quietinhos. Emília: Olha lá os gatinhos! Que giros. Ou s-o c-es? „Kontrastsprache“ Portugiesisch 175 Andreia: Emília! Onde é que puseste os teus óculos? Meu Deus, n-o estás a ver que s-o tigres? ... Die Übungen sind breit gefächert, wie die folgenden Beispiele, die der gleichen Lektion entnommen wurden, verdeutlichen sollen: Rever a gramática 1. Perífrases verbais. Risque a estrutura que n-o corresponde e traduza para o Alem-o a frase correcta. a) Acabaste com / Acabaste em tudo! E agora o que é que vou comer? b) Deixaste de / Deixaste em fumar? Que óptimo! c) Estava para / Estava a ir ao Brasil, mas a empresa resolveu mandar outra pessoa. d) Fiquei de / Fiquei em falar com eles. e) Deixei no / Deixei do médico a bolsa. Que chatice! f) O Frederico começou a / começou em fazer o estágio na Holanda. g) Já estás para / estás a estudar? Que aplicado! h) A festa acabou num / acabou ao pesadelo. 2. Sopa de verbos. Coloque os verbos a seguir nas frases correspondentes: a) Se o Jo-o _____________________ comprar os livros seria fantástico. b) Pede à Natália e à Lena para _____________________ com a professora. c) A Mónica e o Bento _____________________ quatro anos na África. d) A Marta _____________________ ir também com vocês. e) O Luís e o Pedro _____________________ trabalhado o Ver-o todo connosco. f) Onde é que _____________________ os rapazes? N-o os vejo. g) A Gabriela já _____________________ cinco exames esta semana. eram poderia est-o há tiveram teve falarem falaram estiveram pudesse trabalhar têm Reiner Arntz 176 h) A Susana e o António _____________________ com o escritor no congresso. i) Desculpe, sabe onde _____________________ um supermercado aqui perto? j) Ainda estás a _____________________ no aeroporto? k) Donde _____________________ os teus amigos da universidade? l) Coitados! N-o _____________________ muita sorte no casino. 3. Complete com os verbos, adjectivos, advérbios e substantivos que faltam: Jürgen, um suíço que ___________________ em Portugal quase dez anos, conta-nos as suas experiências no país. «Os ___________________ anos foram difíceis, claro, porque n-o ___________________ bem a língua. Mas, aos poucos, os portugueses ___________________ a maneira correcta de viver neste país. Para uma pessoa que ___________________ da Suiça, há que aprender a ter um ___________________ de paciência e n-o pensar tanto, tanto nos planos. Para mim o ___________________ problema foram os horários porque eu n-o ___________________ jantar t-o tarde. No primeiro ano acho que estive seis ___________________ no médico, no mínimo! ___________________ muitíssimo de morar lá. Agora, por causa do trabalho estou ___________________ em casa, na Suíça.» 3.4. Kontrastsprache Portugiesisch - Modul III In dem abschließenden Modul III (Übersetzerische Kompetenz) werden Sachtexte unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade zu verschiedenen Themenbereichen gelesen, analysiert und übersetzt; bei der Textauswahl können die Interessenschwerpunkte der Teilnehmer berücksichtigt werden. Dies soll das folgende Beispiel veranschaulichen: Texto N o 6 A grande difus-o e popularizaç-o da psicologia levantam alguns problemas PARA INTRODUZIR O TEMA: Quais s-o as definições correctas? „Kontrastsprache“ Portugiesisch 177 1) dado A ) estudo científico do pensamento, da percepç-o, da emoç-o, da aprendizagem e do comportamento dos seres humanos e das suas relações e interacções com o ambiente físico e social. 2) comportamento B ) carácter, qualidade predominante no organismo; conjunto de caracteres inatos num indivíduo (traços psicofisiológicos) que determina os seus comportamentos (reacções emocionais, estados de humor, carácter, etc.) 3) psicologia C ) cada um dos factos ou dos princípios em que assenta uma discuss-o; elemento, base, para a formaç-o de um juízo. 4) quotidiano D ) nocivo; prejudicial; perigoso; ruinoso. 5) temperamento E ) que sucede, que se pratica todos os dias, habitualmente. 6) pernicioso F ) conjunto de reacções observáveis no homem e nos animais, resultantes da experiência individual anterior e que n-o s-o estereótipo da espécie. 1) ___ ; 2) ___ ; 3) ___ ; 4) ___ ; 5) ___ ; 6) ___ A grande difus-o e popularizaç-o da psicologia levantam alguns problemas A revista "Psychology Today", em Setembro de 1983 lançou um concurso aos seus leitores muito divertido. Tratava-se de inventar uma teoria ou uma terapia psicológica para chamar a atenç-o, de forma lúdica, para as "pseudo psicologias". Um exemplo dos vencedores foi o "Autozodíaco": os clientes enviavam o modelo, ano e número de série do seu carro e na volta recebiam uma carta astrológica que continha informaç-o sobre o temperamento individual do seu carro, dias em que n-o haveria problemas em fazer viagens, etc. Reiner Arntz 178 Embora se tratasse duma brincadeira, este exemplo ilustra bem o absurdo de vários pseudo cientistas e alertam para o facto de, frequentemente, se fazer comércio à custa de falsos dados ou de interpretações incorrectas da psicologia; seja em situações em que as pessoas se encontram fragilizadas e procuram apoio, seja nos meios de comunicaç-o. Vêem-se, por exemplo, alguns "consultórios de psicologia" ou os testes do tipo "conheça o seu parceiro ideal" ou ainda artigos como "conselhos para ter sucesso na vida". A psicologia é um campo de estudo que atrai e fascina exactamente porque está presente em toda a nossa vida e os seus dados podem ser utilmente aplicados. Por exemplo, muitos estudos têm salientado a importância da relaç-o entre a m-e e o bebé para o desenvolvimento saudável deste. A aplicabilidade destes factos traduziu-se, entre outras, numa maior sensibilidade do pessoal médico e da enfermagem na situaç-o de parto: os bebés s-o, geralmente, dados imediatamente à m-e que os acarinha e acalma. No entanto, a generalizaç-o de dados deste tipo pode ter efeitos perniciosos especialmente se forem tomados como "receitas" válidas para toda a gente e de forma rígida. Continuando com a relaç-o m-e bebé, nos anos 70 considerava-se quase imprescindível que uma mulher amamentasse o filho com o seu leite, sen-o poderia correr o risco de que esta relaç-o n-o fosse t-o boa ou de que o bebé n-o recebesse os anticorpos necessários para uma boa defesa orgânica. Mas imaginemos uma situaç-o em que a m-e n-o o pudesse fazer, seja pelo horário do trabalho, seja por outras circunstâncias. Esta ideia provocou naquela altura sentimentos de culpa em muitas m-es, embora actualmente todo o mundo saiba que nenhuma criança tem tido um trauma por causa disso. Em todas as situações do quotidiano interpretamos e fazemos juízos sobre o nosso comportamento e o dos outros. É um facto natural e legítimo, até porque precisamos de dar sentido à informaç-o que nos rodeia. Mas n-o podemos produzir a ciência por si. Devemos equacionar as nossas interpretações, opiniões e ideias duma forma aberta, tendo em atenç-o que elas s-o falíveis e evitando a rigidez dos pressupostos. „Kontrastsprache“ Portugiesisch 179 EXERC CIOS I. Verdadeiro ou falso. Marque com um X: V F - Linhas 1 - 7: O concurso lançado pela revista promovia teorias e terapias numa base científica. - Linhas 8 -14: A psicologia está a ser utilizada para fazer comércio com dados falsos e interpretações incorrectas. - Linhas 15 - 16: A psicologia é uma ciência fácil de compreender porque os factos que analisa est-o presentes no quotidiano. - Linhas 22 - 24: A base da psicologia é propor só tratamentos universais e gerais. - Linhas 32 - 34: É normal fazer juízos sobre os comportamentos próprios e alheios. - Linhas 34 - 37: A rigidez é a maneira correcta de equacionar os nossos dados e interpretações. I. Segundo o texto, qual é o verbo que mais se aproxima à ideia? - Linha 1: A revista Psychology Today ofereceu / ganhou um concurso aos seus leitores. - Linha 4: Os clientes colocavam / dirigiam o modelo à redacç-o da revista. - Linha 8: Este exemplo mostra / toma bem o absurdo dos pseudo cientistas. - Linha 15: A psicologia é um campo de estudo que cativa / conhece e fascina. - Linha 23: Especialmente se forem feitos / interpretados como "receitas válidas" para toda a gente. - Linha 27: Mas vejamos / suponhamos uma situaç-o em que a m-e n-o o pudesse fazer. - Linha 29: Esta ideia gerou / tentou sentimentos de culpa em muitas m-es. - Linha 35: Devemos igualar / entender as nossas interpretações. Reiner Arntz 180 Auch in diesem abschließenden Modul spielt der kontrastive Ansatz, d.h. der systematische Vergleich von Sprachstrukturen, eine entscheidende Rolle. Dabei hat es sich bewährt, ab und zu auch mit Texten zu arbeiten, die parallel sowohl im Deutschen als auch im Spanischen und im Portugiesischen vorliegen. Da die Studierenden sich bereits seit längerer Zeit mit dem Übersetzen und der Übersetzungstheorie beschäftigen, sind ihnen die Möglichkeiten und Grenzen des Übersetzungsvergleichs gut vertraut, so dass man hier problemlos mit dieser Art von Material arbeiten kann. Bei einem solchen trilateralen Übersetzungsvergleich erschließt sich - je nach Fach, Textsorte, Kreativität des Übersetzers usw. - eine ganze Skala von Ähnlichkeitsgraden. Dabei ergibt sich etwa im Falle völkerrechtlicher Verträge beim portugiesisch-spanischen Vergleich ein sehr hohes Maß an (fach)sprachlicher Übereinstimmung zwischen dem Portugiesischen und dem Spanischen, die insbesondere auf das gemeinsame römische Erbe beider Rechtsordnungen zurückzuführen ist. Hinzu kommt, dass wichtige EU-Texte parallel in mittlerweile 23 Sprachen veröffentlicht werden, was zu einer gewissen Harmonisierung auf der syntaktischen Ebene und auf der Textebene führt (Arntz/ Ré 2007: 98). Zwar kann man ohne große Mühe weitere Textsorten, etwa aus dem Bereich des Zivilrechts, finden, die einen ähnlichen Eindruck vermitteln, doch nimmt der Grad der Ähnlichkeit zwischen beiden Sprachen mit Sicherheit ab, wenn man beispielsweise Texte technischen Inhalts vergleicht (Arntz/ Ré 2007: 99 f.). Noch größer werden die Divergenzen zwischen Portugiesisch und Spanisch, wenn der Fachlichkeitsgrad des Textes sinkt; dies wird beispielsweise deutlich sichtbar, wenn man die Werbebroschüre eines Automobilherstellers in ihrer deutschen, spanischen und portugiesischen Parallelfassung betrachtet (Arntz/ Ré 2007: 224). 4. Romanische Interkomprehension als Chance für die Romanistik Das große Interesse der Hildesheimer Spanischstudenten an dem Kurs „Kontrastsprache Portugiesisch“ beweist, dass es für ein solches relativ kompaktes Lehrangebot durchaus eine Nachfrage gibt. Damit bietet sich eine realistische Möglichkeit, das Erlernen des Portugiesischen, das den Studierenden interessante Perspektiven eröffnet, attraktiver und populärer zu machen. „Kontrastsprache“ Portugiesisch 181 Nach regelmäßigem Besuch der dreisemestrigen Lehrveranstaltung und nach Bestehen des Abschlusstests erhalten die Kursteilnehmer ein Zertifikat. Damit leistet dieses Lehrangebot zugleich einen Beitrag zur Modularisierung und zur flexiblen Gestaltung der Fremdsprachenausbildung. Daher bietet es sich an, die hier gesammelten Erfahrungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen: In der internationalen Kommunikation lassen sich heute nämlich zwei gegenläufige Tendenzen feststellen: Einerseits entwickelt sich das Englische immer mehr zu einer lingua franca, die eine mehr oder weniger gute Verständigung zwischen Sprechern unterschiedlicher Muttersprachen sicherstellt. Auf der anderen Seite sind immer mehr Sprachgemeinschaften intensiv bemüht, die Bedeutung und den Status ihrer Sprache zu festigen. Solche Bestrebungen werden auf europäischer Ebene insbesondere durch sprachpolitische Maßnahmen der Europäischen Union unterstützt. Dabei spielen die Fachsprachen und ihre systematische Weiterentwicklung eine wichtige Rolle, denn eine Sprache kann auf Dauer nur dann überleben, wenn sie auch in allen Bereichen der Fachkommunikation funktionsfähig ist. Das bedeutet, dass ungeachtet der gefestigten Position des Englischen die Nachfrage nach Übersetzungs- und Dolmetschleistungen in zahlreichen weiteren Sprachen eher noch zunehmen wird. Wer sich professionell mit der Sprachvermittlung beschäftigt, hat also auch in Zukunft weit bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wenn er über das unverzichtbare Englisch hinaus über eine oder mehrere weitere Arbeitssprachen verfügt. Dass den romanischen Sprachen hier eine besondere Bedeutung zukommt, steht außer Zweifel. Es gilt also, potentiellen Lernern einen adäquaten Zugang zu diesen Sprachen zu eröffnen und sie anzuleiten, das methodische Wissen, das sie bereits früher beim Erlernen von Sprachen erworben haben, gezielt einzusetzen. Dies kann zugleich die Basis für die Entwicklung einer romanischen Mehrsprachigkeit sein. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass in den letzten Jahrzehnten im Bereich der romanischen Sprachen interessantes Lehrmaterial entwickelt worden ist, das ein hohes didaktisches Niveau und einen klaren Praxisbezug aufweist. Es ist zu hoffen, dass die Romanistik in der aktuellen Diskussion um die Neupositionierung des Faches in der deutschen Hochschullandschaft auch diesen Trumpf ins Spiel bringt. Reiner Arntz 182 Literaturverzeichnis Arntz, Reiner (1999): „Passive Mehrsprachigkeit: Eine Chance für die ‚kleinen’ Sprachen Europas“, in: Kischel, G./ Gothsch, E. (eds.): Wege zur Mehrsprachigkeit im Fernstudium. Hagen: Fernuniversität, 101-114. Arntz, Reiner/ Ré, Andrés (2007): Kontrastsprache Portugiesisch - Ein neuer Weg zum Portugiesischen auf der Grundlage des Spanischen. Wilhelmsfeld: Egert. Arntz, Reiner/ Wilmots, Jos (2008): Kontrastsprache Niederländisch - ein neuer Weg zum Niederländischen auf der Grundlage der germanischen Sprachverwandtschaft. Wilhelmsfeld: Egert. Blanche-Benveniste, Claire et al. (eds.) (1997): Eurom4 - Apprentissage Simultané de Quatre Langues Romanes. La Nuova Italia Editrice: Scandicce (Firenze). Bodmer, Frederick (1943): The Loom of Language. London: Allen & Unwin. (dt. Ausgabe: Die Sprachen der Welt (1997) Köln: Parkland.) Hufeisen, Britta (2002): „Concepts of Multilingualism in the Germanic Languages - Statt einer Einleitung“, in: Kischel, G. (ed.): EuroCom - Mehrsprachiges Europa durch Interkomprehension in Sprachfamilien. Hagen: Fernuniversität, 199. Kischel, Gerhard (ed.) (2002): EuroCom - Mehrsprachiges Europa durch Interkomprehension in Sprachfamilien. Hagen: Fernuniversität. Kischel, Gerhard/ Gothsch, Eva (eds.) (1999): Wege zur Mehrsprachigkeit im Fernstudium. Hagen: Fernuniversität. Klein, Horst G. (1999): „Von der Intercomprehension zur Eurocomprehension am Beispiel der romanischen Sprachen“, in: Kischel, G./ Gothsch, E. (eds.): Wege zur Mehrsprachigkeit im Fernstudium. Hagen: Fernuniversität, 53-66. Klein, Horst G./ Stegmann, Tilbert D. (2000): EuroComRom - Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können, 3., korr. Aufl., Aachen: Shaker. Veronesi, Daniela/ Cavagnoli, Stefania (1997): Glottodidattica settoriale modularizzata per gruppi specifici: L’italiano per giuristi ed economisti. Bolzano: Accademia Europea Bolzano. Wandruszka, Mario (1969): Sprachen, vergleichbar und unvergleichlich. München: Fink. Zybatow, Lew (2002): „Slawistische Interkomprehensionsforschung und EuroComSlav“, in: Kischel, G. (ed.): EuroCom - Mehrsprachiges Europa durch Interkomprehension in Sprachfamilien. Hagen: Fernuniversität, 357-371. Holger Wochele Sprachbewusstheit und Laienlinguistik: zur Fehlertoleranz im Französischen und Italienischen bei der Beurteilung durch muttersprachliche Laien 1. Einleitung Ein wesentlicher Teilbereich der Angewandten Linguistik ist die Sprachlehrforschung bzw. die Fremdsprachendidaktik (cf. Bußmann 2002, s.v. Angewandte Linguistik; Platen/ Vogel 2001), die die Romanistik bzw. die Lehre der romanischen Sprachen als Fremdsprachen vor große Herausforderungen stellt. Denn die Rahmenbedingungen für den Unterricht der romanischen Sprachen haben sich geändert: Dies betrifft vielleicht weniger die universitären Romanistiklehrstühle als vielmehr Schulen, Gymnasien und Hochschulen, in denen die romanischen Sprachen als fachbezogener Sprachunterricht für Studierende nicht-philologischer Fächer unterrichtet werden - wie dies zum Beispiel an der Wirtschaftsuniversität Wien der Fall ist. Denn durch die Beliebtheit des Englischen, das den Status einer globalen „lingua franca“ eingenommen hat (Crystal 1997; Seidlhofer 2001 und 2004), werden die romanischen Sprachen zunehmend Tertiärsprachen, also in der Terminologie von Britta Hufeisen zweite bzw. dritte Fremdsprachen (Hufeisen/ Lindemann 1998), die nach und neben einer ersten Fremdsprache erlernt werden, da ja vielerorts besonders von Eltern bezweifelt wird, dass es sinnvoll sein könnte, eine andere Fremdsprache als Englisch als erste Fremdsprache zu erlernen. Betrachtet man Französisch und Italienisch also als typische so genannte „Tertiärsprachen“, so hat das neben strukturellen Konsequenzen für deren Didaktik (d. h. ihre Funktion für die Entwicklung von Mehrsprachigkeit, language awareness und für die sprachübergreifende Didaktik) auch Konsequenzen quantitativer Natur: Für ihre Beherrschung muss ein anderes Ausbildungsziel formuliert werden. Zwar sollen laut Trilingualismus-Deklaration des Europarats 1997 und der Europäischen Kommission 1995 mindestens zwei Fremdsprachen gelernt werden. Es reichen aber für weitere Tertiärsprachen „ausgewählte Teilkompetenzen“ (Bausch/ Helbig 2003: 461-462), während für die erste Fremdsprache mit Holger Wochele 184 Einschränkungen weiterhin die near nativeness als Ausbildungsziel postuliert werden kann (ibid.). Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist die Wirtschaftsuniversität Wien, wo Studierende des Studiengangs „Internationale Betriebswirtschaft“ zwei Fremdsprachen vertieft studieren, wobei in den meisten Fällen die erste Sprache Englisch, die zweite dagegen häufig eine romanische Sprache (Französisch, Italienisch oder Spanisch) ist. Im Zusammenhang mit der Frage nach den (eventuell neu zu formulierenden) Ausbildungszielen in dieser konkreten Situation soll im Rahmen eines Projekts festgestellt werden, welche Maßstäbe man bei den Studierenden bei der Beurteilung ihrer schriftlichen Produktionen in der Fremdsprache anlegen soll. Dabei sollte man von ihren künftigen Gesprächspartnern in der Fremdsprache ausgehen, die in aller Regel „Laien“, d. h. keine Linguisten oder Sprachlehrer sein werden. Daraus resultieren folgende Forschungsfragen: 1) Wie beurteilen diese „Laien“ nicht-native schriftliche Äußerungen im Französischen und im Italienischen? Und sekundär stellt sich die Frage, ob es beträchtliche Unterschiede in Bezug auf die Beurteilung durch Laien und durch Fremdsprachenlehrende gibt. 2) Gibt es Unterschiede in der Beurteilung durch Frankophone und durch Italiener? Die zweite Frage betrifft den romanistischen Aspekt des Projekts, da dem romanistischen Gemeinplatz zufolge Franzosen fremdsprachliche Leistungen im Französischen strenger bewerten und rigoroser in Bezug auf ihre Muttersprache sind als z.B. Italiener. Dieser Topos kann stellvertretend durch Pfister (2002: 259) belegt werden, der in seinem Aufsatz „Die Bedeutung der korrekten Sprache in Frankreich“ ausführt, dass der in Frankreich gebräuchlichen Kommentierung eines sprachlichen Fehlers mit „Ce n’est pas français“ in Italien sicher kein „Questo non è italiano“ entspräche. Was den französischen Kommunikationsstil im wirtschaftlichen Kontext betrifft, hebt auch Rainer 2007 in den Abschnitten „Sprachwahl“ und „Sprachbeherrschung“ hervor, dass Franzosen es nicht nur vorziehen, wenn Verhandlungen in ihrer Sprache geführt werden, sondern auch, dass dem „korrekten und geistreichen Gebrauch“ (Rainer 2007: 237) des Französischen in Frankreich ein hoher Stellenwert zukommt. Die Franzosen zeigten, so die von Rainer 2007 angeführte einschlägige Literatur zu den Besonderheiten der französischen Sprachbewusstheit und Laienlinguistik 185 Geschäfts- und Berufswelt, „Vergnügen an geschliffener, geistvoller Sprachbeherrschung und extravaganten Pointen“ (Breuer/ de Bartha 2002: 33, zitiert nach Rainer 2007: 238), sie legten ihren Standpunkt mit „kartesianischer Logik, eleganter Phrasierung und verbalem Blumenschmuck“ dar (Schnitt 1999: 42) und neigten zu „ausschweifender Verbalakrobatik und theatralisch in Szene gesetzter Gestik“ (Hildenbrand 1997: 85). Grundlage hierfür ist natürlich stets die korrekte Beherrschung der französischen Sprache. Daher soll im Rahmen dieses Projekts überprüft werden, inwieweit diese Vorstellungen von der geringeren Toleranz der Franzosen gegenüber unzureichenden, nicht-nativen Kompetenzen in ihrer Muttersprache empirisch bestätigt werden können. Im Folgenden sollen zunächst einige dem Projekt zu Grunde liegende theoretische Begrifflichkeiten erläutert (Sprachbewusstheit, Laienlinguistik, Fehler und Fehlerbewusstheit) und eine Verortung des Projekts vorgenommen werden (Kapitel 2). Im darauf folgenden Kapitel werden dann ausgewählte Ergebnisse von Pretests vorgestellt, die besonders den Bereich „Fehlerbewertung“ betreffen. Für eine umfassendere Darstellung des Projekts, das auch den Bereich „Kompetenzbewusstheit“ als Gegenpol der „Fehlerbewusstheit“ umfasst, sei auf Stegu/ Wochele 2006 (bes. 402-405) verwiesen. 2. Theoretische Grundlagen (Sprachbewusstheit, Laienlinguistik, Fehlerbewusstheit) Der erste der hier zu erläuternden Begriffe, die „Sprachbewusstheit“ oder „language awareness“ (=LA im Folgenden), verzeichnet seit einigen Jahren in der Sprachdidaktik Hochkonjunktur - was zu einem großen Teil seiner schillernden Bedeutung geschuldet ist. Dabei werden sowohl language als auch awareness häufig nicht eindeutig bestimmt. Language kann hier nicht nur die verschiedenen Ebenen einer Einzelsprache vom Komplexen (Text, Textteile) zum Einfachen (Satz, Satzglieder, Flexionsformen, Wortzeichen, Flexionszeichen; Phoneme und Grapheme; cf. Henne nach Molitor 2000: 15) umfassen. Sondern es geht auch um language als die Sprachfähigkeit des Menschen im Allgemeinen, und damit über die Ebene der eben beschriebenen linguistic awareness hinaus um eine kommunikative Bewusstheit über das Funktionieren von Sprache sowie eine Sprachlernbewusstheit (language learning awareness), also um das Wissen um Sprachlernstrategien (Rampillon 1997, Gnutzmann 2003: Holger Wochele 186 337). Auch für das zweite Glied „awareness“ ist ähnlich unscharf von einem Kontinuum von bloßen Aufmerksamkeitsphänomenen bis hin zu elaborierten Theorien auszugehen (Stegu/ Wochele 2006: 402). Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition des Begriffs ist inexistent. Immer wieder zitiert wird die Definition des National Council in Education (1985), die begriffsgeschichtlich auf die Anfänge der LA-Bewegung verweist; durch LA sollten die dramatisch schlechten sprachlichen Leistungen der Schüler in Großbritannien verbessert werden: Language Awareness is a person’s sensitivity to and conscious awareness of the nature of language and its role in human life (zitiert nach James/ Garrett 1992: 4). Diese Definition lässt sowohl ein produzentenals auch rezipientenorientiertes Verständnis von Sprachbewusstheit zu; in diesem Beitrag allerdings soll Sprachbewusstheit eher rezipientenorientiert verstanden werden, da entschieden werden soll, welchen Einfluss LA auf die Beurteilung von fremdsprachlichen Kommunikaten hat. Mit anderen Worten soll Sprachbewusstheit hier als Ausdruck von „Fehler-, Kompetenz- und Mehrsprachigkeitsbewusstheit“ betrachtet werden, die ein Laie einem nicht-nativen Sprecher seiner Muttersprache entgegenbringt, und in der sich unbewusste sowie bewusste Einstellungen und Sprachnormen und daraus resultierende Erwartungshaltungen gegenüber dem Gesprächspartner manifestieren. Berücksichtigt werden müsste bei einer eingehenderen Begriffsklärung auch das Verhältnis von „Sprachbewusstheit“ und „Sprachbewusstsein“ (Gnutzmann 2003). Versteht man „Sprachbewusstsein“ als „linguistic awareness“, wie Glück (1993, s.v. Sprachbewußtsein) übersetzt, dann wäre Sprachbewusstsein ein Teilaspekt der Sprachbewusstheit; manches spricht jedoch auch dafür, das Sprachbewusstsein als eine höhere, elaboriertere Form der Sprachbewusstheit zu konzipieren - wie dies für Molitor der Fall ist: Sprachbewusstsein, welches die Bewertung von Strukturen impliziert, ist für sie auf einer höheren Ebene anzusiedeln als Sprachbewusstheit (2000: 32). Die Definition des Begriffs „Laie“, der auf Antos 1996 verweist und im Eingangskapitel schon häufig gefallen war, kann relativ kurz ausfallen: Gemeint sind im Rahmen dieser Untersuchung Nicht-Linguisten und Nicht-Sprachenlehrende. Da im Folgenden nur Vorgehensweise und erste Ergebnisse in Bezug auf Fehlertoleranz dargestellt werden sollen, kann hier darauf verzichtet werden, die Begriffe „Laienlinguistik“, „Laientheorien/ Folk theories“ bzw. „subjektive Theorien“ (Kallenbach 1996) Sprachbewusstheit und Laienlinguistik 187 genauer zu erläutern. Gerade für den qualitativ angelegten Teil des Projekts, der nicht die Bewertung von Einzelsätzen, sondern von komplexen schriftlichen Kommunikaten vorsieht (Stegu/ Wochele 2006: 405- 409), ist solch eine Begriffsklärung gleichwohl unverzichtbar. Schlussendlich sollen noch einige Absätze zum Begriff des „Fehlers“, zu seiner Bedeutung in der Sprachlehrforschung und zur Verortung des Projekts bzw. der Pretests in den schon existenten Studien zur Fehlerbewertung folgen. Bei Bußmann 2002 findet man eine Definition des Begriffs „Fehler“ nur indirekt s.v. Fehleranalyse, und zwar als „Abweichung von der Norm der Zielsprache“; bei Glück 1993 erfolgt s.v. Fehler ein Verweis auf den Begriff Korrektur, wo dann zwar u.a. von Fehleranalyse, Fehlerklassifikation und Fehlerursachen die Rede ist, aber keine Definition des Begriffs vorgenommen wird. Laut Marquilló Larruy (2003: 16-17) ist es unmöglich, den Begriff „erreur“ absolut zu definieren, da er im Unterricht stets entweder in Bezug zur Zielsprache, zum bisher Erreichten oder zur Interimssprache der Lerner gesetzt werden kann. Der jeweils gewählte Standpunkt ist für die Definition ausschlaggebend. James 1998 widmet in seinem Standardwerk zu Fehlern im Fremdsprachenunterricht das ganze dritte Kapitel (1998: 62-89) der Definition des Terminus „error“. Am gelungensten ist laut James die Definition von Lennon (1991: 182), der Fehler unter Bezugnahme auf den muttersprachlichen Kommunikationspartner des Lernenden folgendermaßen definiert: linguistic form or combination of forms which, in the same context and under similar conditions of production, would, in all likelihood, not be produced by the speakers‘ native speaker counterparts. James unterscheidet weiterhin vier Dimensionen der Abweichung („deviance“), nämlich Grammatikalität, Akzeptabilität, Korrektheit und die „Seltsamkeit“ („strangeness and infelicity“, James 1991: 75-76) der Äußerung in der Fremdsprache. Außerdem unterscheidet er Versprecher („slips“) von Fehlern, die der Lerner selbst korrigieren kann, sofern er darauf hingewiesen wird („mistakes“), und Fehlern, die der Lerner nur mit fremder Hilfe zu korrigieren im Stande ist („errors“; James 1991: 83). Als vierten Typ führt James (ibid.) die Kategorie der „Solözismen“ („solecisms“) an, in der hauptsächlich Muttersprachler fehleranfällig sind. Gemeint sind damit insbesondere Verstöße gegen puristische Grammatikregeln, die im formalisierten Fremdsprachenunterricht häufig mitgelehrt werden, die aber Muttersprachler andererseits nicht im selben Maße verinnerlicht und automatisiert haben. Dies führt dazu, dass Mutter- Holger Wochele 188 sprachler bisweilen den Eindruck haben, Ausländer sprächen ihre Muttersprache „korrekter“ oder „besser“. Wichtiger scheint es aber aufzuzeigen, wie sich der Stellenwert von Fehlern in der Sprachlehrforschung in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass verschiedene Personen bzw. Personengruppen, die Muttersprachler der Zielsprache sind, „Fehler“ anders bewerten (s. auch James 1998: 11), und dass Fehlerbewertungen auch historischen Veränderungen unterworfen sind. Daher erweist sich der Fehlerbegriff als sehr relativ. Darüber hinaus hat sich nämlich die Ansicht durchgesetzt, dass Fehler beim Erlernen einer Fremdsprache ein natürlicher Bestandteil des Sprachlernprozesses sind, ein Teil einer Lerner- oder Interimssprache, ein Indiz für mentale Prozeduren. Infolgedessen sind Fehler nicht mehr ein um jeden Preis zu vermeidendes Übel. Gerade durch die kommunikative Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts rückte die globale Verständlichkeit der Kommunikate in den Vordergrund, der einzelne Fehler verzeichnete demgegenüber geringeres Interesse. Dies spiegelt sich auch im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen wider (Trim/ Butz 2001). Die Deskriptoren der einzelnen Kompetenzstufen unterstreichen, was bereits beherrscht wird, und fokussieren nicht auf Unzulänglichkeiten und Fehler. So lautet beispielsweise der Deskriptor für „Hörverstehen allgemein“ als rezeptive Fähigkeit für die Kompetenzstufe A1: „[Der Lerner, H.W.] kann verstehen, wenn sehr sorgfältig und langsam gesprochen wird und wenn lange Pausen Zeit lassen, den Sinn zu erfassen“ (Trim/ Butz 2001: 72). Nicht zum Ausdruck gebracht wird hier, was der Lernende noch nicht beherrscht. Dennoch könnte diese „humanere“ Einstellung gegenüber dem Phänomen „Fehler“ einer anthropologischen Konstante diametral entgegenstehen, der zufolge Abweichungen eher wahrgenommen werden als Normübereinstimmungen. Daher fallen Fehler wohl eher auf als das ohnehin Korrekte. Versucht man, diese beiden Einstellungen zum Fehler in Einklang zu bringen, so könnte eigentlich das Ziel der Fremdsprachenausbildung nicht oder nicht nur sein, eine Fremdsprache möglichst „korrekt“ und fehlerfrei zu beherrschen. Denn dieses Ziel dürfte nur in den wenigsten Fällen erreicht werden. Stattdessen sind komplementär interkulturelle Kompetenzen gefragt, d. h. die Fähigkeit, in der eigenen Muttersprache mit Nicht-Muttersprachlern zu kommunizieren, Fehler zu tolerieren und den „Sinn“ des Kommunikats in Zweifelsfällen durch Fragen auszuverhandeln. Zeilinger-Trier (2007: 376) fordert beispielsweise in diesem Zusammenhang eine erhöhte Sprachbewusstheit der Sprachbewusstheit und Laienlinguistik 189 Schüler, wenn sie mit Nicht-Muttersprachlern in ihrer Muttersprache sprechen, d.h. je nach Gesprächspartner z.B. durch Verzicht auf zu komplexe sprachliche Strukturen oder auf unbekannte, familiäre lexikalische Einheiten zur Verständigung beizutragen. Erst diese Einstellung erleichtere die Interkomprehension. Die beiden oben genannten, sich ergänzenden, komplementären Bewusstheiten, die Fehler- und die Kompetenzbewusstheit, sollen im vorliegenden Projekt bei Laien in einer Untersuchung ermittelt werden. Fehler wurden schon immer in verschiedene Kategorien eingeteilt (zur ausführlichen Klassifizierung von Fehlern vgl. James 1998: 129-172 bzw. verschiedene Prinzipien der Klassifizierung auch bei Lavric 1988: 475- 476), wobei vor allem die Skala „leicht - schwer“ stets eine große Rolle gespielt hat. Allerdings befanden über die „Schwere“ der Fehler meist die Lehrenden bzw. die Forschenden aus dem Bereich der Didaktik - und dies geschah in der Unterrichtspraxis häufig auf der Grundlage mehr oder minder intuitiver Kriterien. Dazu kam, dass, wie oben dargelegt, das Interesse am Fehler besonders in der Sprachlehrforschung, zum Teil aber auch in der Unterrichtspraxis nachgelassen hat. Um die Kommunikation in der Fremdsprache nicht zu gefährden, wurde dem Fehler und seiner Bewertung nur geringe Beachtung geschenkt. Das Design des Projekts möchte beiden Haltungen die Befragung von Laien gegenüberstellen, die in der Praxis die realen Gesprächspartner der Studierenden der Wirtschaftsuniversität sein werden. Deren Befragung kann Aufschluss darüber geben, ob und inwieweit die Beurteilungen von Lehrenden und Laien parallel verlaufen und ob - wie im qualitativen Teil zu zeigen sein wird - einzelne Fehler das globale Urteil nachhaltig beeinträchtigen. An Untersuchungen, wie Fehler durch verschiedene Personenkategorien beurteilt werden (native speakers vs. non-native speakers; Lehrende vs. Nicht-Lehrende), sollen hier Birdsong/ Kassen 1988, Chiang 1999, Davies 1983, Delisle 1982, Dordick 1996, Ervin 1979, Hughes/ Lascaratou 1982, James 1977, Kobayashi 1992, McCretton/ Rider 1993, Piazza 1980, Politzer 1978, Santos 1988 aufgezählt werden. Ein beträchtlicher Teil dieser Studien betrifft allerdings Äußerungen in nicht nativem Englisch, Deutsch oder seltener Russisch (Davies 1983, Delisle 1982, Dordick 1996, Ervin 1979, Hughes/ Lascaratou 1982, James 1977, Kobayashi 1992, McCretton/ Rider 1993, Politzer 1978, Santos 1988). Weiters besteht ein Unterschied zu dem hier geplanten Forschungsdesign darin, dass viele Studien zwar die unterschiedliche Fehlerbewertung durch Muttersprachler und Nicht-Muttersprachler zum Gegenstand haben, aber nur in seltenen Fällen (auch) muttersprachliche Holger Wochele 190 linguistische Laien die Schwere des Fehlers beurteilen sollen. Wenn dies der Fall ist, werden zudem häufig ausschließlich Muttersprachler aus einem schulischen oder universitären Kontext befragt (z.B. deutsche Schüler bei Delisle 1982 und Politzer 1978, französische Schüler bei Piazza 1980, College-Studenten bei Dordick 1996), nicht jedoch „Entscheidungsträger“ aus dem Bereich der Wirtschaft. Von den oben genannten Forschungen berücksichtigen die folgenden acht (auch) das Urteil muttersprachlicher Laien, worunter allerdings auch Schüler und Nicht- Philologie-Studierende fallen: Davies 1983, Delisle 1982, Dordick 1996, Ervin 1979, Hughes/ Lascaratou 1982, Piazza 1980, Politzer 1978, Santos 1988. Es muss hinzugefügt werden, dass die Mehrheit der erwähnten Studien Untersuchungen sind, in denen jeweils einzelne, kontextlose Sätze den Befragten meist in schriftlicher, zum Teil auch in mündlicher Form zur Beurteilung vorgelegt wurden (so Birdsong/ Kassen 1988, Davies 1983, Delisle 1982, James 1977, McCretton/ Rider 1993, Piazza 1980, Politzer 1978). Den Autoren ist teilweise diese Begrenztheit ihrer Studien bewusst, so gestehen Birdsong/ Kassen (1988: 7) ein, dass die Fehlerbewertung „under an artificial set of conditions“ stattgefunden habe. Im Gegensatz dazu gehen lediglich Chiang 1999, Dordick 1996, Kobayashi 1992 und Santos 1988 bei der Fehlerbewertung von komplexeren Texteinheiten (kurze Textpassagen, Essays und Aufsätze) aus. Das Argument des mangelnden sprachlichen Kontextes kann nun auch für die hier vorgestellten Ergebnisse geltend gemacht werden. Dennoch sei wiederholt, dass sie lediglich eine Seite der Medaille darstellen. Im Projekt bzw. auch bei den Pretests wurden die Befragten auch um Stellungnahmen zu komplexeren schriftlichen Texten gebeten, wie andernorts dargelegt wurde (Stegu/ Wochele 2006). Neuland wird damit im Rahmen des Projekts bzw. für die hier vorgestellten Teilergebnisse von Pretests insofern betreten, als es bisher vergleichende Studien zur Fehlerbewertung durch Laien von nichtnativen französischen bzw. italienischen Äußerungen nicht gibt. 3. Praktischer Teil: Design der Studie zur Beurteilung von Fremdsprachenkompetenz und Pretests Im zweiten, praktischen Teil soll das Design der Pretests skizziert werden, die im Sommer 2006 durchgeführt wurden und die als Vorstufe des eigentlichen Projekts dienen. Der Zweck der Pretests bestand darin, Sprachbewusstheit und Laienlinguistik 191 einen ersten Eindruck über die Verständlichkeit der Fragen, über Probleme der Befragten mit bestimmten Aufgaben, Häufigkeitsverteilung der Antworten, Probleme des Interviewers, technische Probleme bei der Durchführung des Interviews, Zeitdauer der Befragung, Wohlbefinden des Befragten usw. zu bekommen (Molitor 2000: 68). Als beurteilende muttersprachliche Laien wurden frankophone und italienische (nicht Philologien studierende) Austauschstudierende der Wirtschaftsuniversität Wien bzw. anderer Wiener Universitäten ausgewählt, während in der Hauptstudie bei „Laien“ für den quantitativen Teil an die Befragung von Studierenden in Frankreich und Italien, für den qualitativen Teil an Personalchefs, Manager oder Angestellte multinationaler Unternehmen gedacht ist. Teilgenommen an den französischen Pretests haben zehn, an den italienischen drei Personen. Einschränkend muss gesagt werden, dass die hier interviewten Laien keine „idealen“ Laien sind, da sie seit mehr oder weniger langer Zeit in Österreich leben und damit möglicherweise potenziellen Germanismen und Interferenzen aus dem Deutschen toleranter gegenüberstehen bzw. sich ihrer vielleicht nicht bewusst werden. Da eine genauere Beschreibung der vierteiligen Pretests schon andernorts erfolgte (cf. Stegu/ Wochele 2006: 406-409), soll hier der auf die Fehlertoleranz fokussierende dritte Teil im Mittelpunkt stehen. Ausgangsmaterial der zu beurteilenden Fehlersätze waren schriftliche, authentische, von deutschsprachigen Studierenden der Wirtschaftsuniversität Wien angefertigte Texte, die als Hausaufgaben im Rahmen von sprachpraktischen Übungen zur Wirtschaftssprache Italienisch bzw. Französisch abgefasst wurden. Die Fehlersätze wurden dabei zu didaktischen Zwecken leicht verändert; die Beurteilung pragmatischer oder textorganisatorischer Kompetenzen spielte keine Rolle. Wie bei Piazza 1980 wurden die Interviewten gebeten, isolierte Sätze, die jeweils einen Fehlertyp enthielten, hinsichtlich deren Verständlichkeit und Akzeptabilität auf einer von 1 bis 5 reichenden Skala zu bewerten. Für jeden Fehlertyp wurden drei Repräsentanten gewählt, zur Kontrolle wurden zwei fehlerlose Sätze integriert, so dass insgesamt 35 Sätze zu beurteilen waren. Die Anordnung der einzelnen Fehlersätze nach Typen war natürlich eine willkürliche. Zwar ist die Anzahl der zu beurteilenden Sätze Ergebnis einer Beschränkung, vergleicht man die Befragung mit derjenigen von Linda Gaylord Piazza 1980, die 100 Sätze aus 20 Fehlerkategorien umfasste. Eine Befragung solchen Umfangs, wie sie in der Hauptstudie vorgesehen ist, hätte in der Phase der Pretests allerdings die Geduld der Probanden überstrapaziert. Holger Wochele 192 In beiden Sprachen waren Fehlersätze folgender Kategorien vertreten: 1. Verwechslung von Adjektiv und Adverb, 2. Verbalmorphologie, 3. Lexikfehler (z.B. Kollokation: Est-ce qu’il faut *faire un concours? , anstatt passer un concours), 4. Genus des Substantivs, 5. Kongruenz Substantiv - Adjektiv, 6. Präpositionen, 7. Auxiliarselektion, 8. Orthographie. Für das Italienische gab es weiters folgende drei Kategorien: a) Form des Artikels (*li edifici anstatt gli edifici), b) Gebrauch des Artikels (*30% dei turisti anstatt il 30% dei turisti) und c) eine weiter gefasste Kategorie zum Artikelgebrauch bei Demonstrativadjektiven (*nel questo caso anstatt in questo caso) und zur Verwendung von Demonstrativpronomen. Für das Französische wurde die Kategorie „Gebrauch des Artikels“ zweigeteilt, d.h. es wurden einerseits Fehlersätze zu einer Kategorie zusammengefasst, in denen der Artikel nach Mengenangaben falsch verwendet wurde (*beaucoup des inconvénients anstatt beaucoup d’inconvénients). Die übrigen Fälle (z.B. Setzung des article indéfini nach der Negation: *Je n’ai pas encore fait des recherches concrètes, anstatt …. de recherches concrètes) bildeten die zweite Kategorie der falschen Artikelverwendung. Die letzte Kategorie für das Französische umfasste den fehlerhaften Gebrauch der Demonstrativadjektive und -pronomen sowie der Relativpronomen (*On habite dans une ville qui on ne connaît pas, anstatt …qu’on ne connaît pas). Insgesamt lagen damit in 8 von 11 Fällen sprachübergreifend vergleichbare Fehlertypen vor. Die geringe Probandenzahl bei den Pretests (zehn vs. drei Befragte) und auch die geringe Repräsentantenzahl pro Fehlertyp (drei pro Kategorie) erlauben natürlich keine repräsentativen Aussagen. Gleichwohl sollen abschließend Tendenzen illustriert werden, die sich aus der Auswertung der Pretests ergeben. Hierbei kann besonders gut der kontrastive Aspekt Italienisch vs. Französisch herausgestellt werden. Die Fehlersätze wurden wie oben dargelegt von den Befragten hinsichtlich ihrer Verständlichkeit und hinsichtlich ihrer Akzeptabilität zwischen 1 („völlig verständlich“ bzw. „völlig akzeptabel“) und 5 („völlig unverständlich“ bzw. „völlig inakzeptabel“) bewertet. Betrachtet man die Ergebnisse bezüglich der Verständlichkeit, so nimmt in beiden Sprachen der Fehlertypus „Verwechslung von Adjektiv und Adverb“ die Spitzenstellung ein (2,48 für das Französische, 2,0 für das Italienische). Fehlende Kongruenz ist in beiden Sprachen der Fehler, der die Verständlichkeit am geringsten beeinträchtigt (1,07 vs. 1,0). Genus- und Orthographiefehler beeinträchtigen die Verständlichkeit in beiden Sprachen gleichermaßen wenig, während Lexikfehler in beiden Sprachen - mehr noch im Französischen - als sehr verständnishemmend bewertet werden (Platz 2 Sprachbewusstheit und Laienlinguistik 193 für das Französische, Platz 3 im Italienischen). Fehler im Artikelgebrauch und bei der Verwendung der Präpositionen belegen in beiden Sprachen das Mittelfeld, Fehler bei der Auxiliarselektion werden demgegenüber strenger bewertet. Differenzen ergeben sich hinsichtlich der Bewertung falsch gebildeter Verbformen: Im Italienischen liegen hier die Werte höher als im Französischen. Insgesamt liegen der höchste und der niedrigste Wert für das Französische (2,48 vs. 1,07) deutlich über dem Italienischen (2 vs. 1); berechnet man jedoch den durchschnittlichen Wert für alle elf Kategorien, so ergibt sich ein anderes Bild: 1,51 für das Italienische, 1,46 für das Französische. Mit anderen Worten bewerteten die italienischen Befragten die Verständlichkeit der Sätze im Durchschnitt leicht geringer als die frankophonen Befragten. Anders sieht die Situation aus, wenn die Fehlersätze in Bezug auf ihre Akzeptanz (Irritationsgrad) beurteilt werden: Erstaunlicherweise liegen hier - global gesprochen - die italienischen Werte höher als die französischen. Tendenziell sind in beiden Sprachen natürlich die Werte für „Akzeptabilität“ höher als für „Verständlichkeit“: Ich kann einen fehlerhaften Satz zwar verstehen, der Fehler darin kann mich jedoch trotzdem sehr stören. Umgekehrt ist kein unverständlicher Satz akzeptabel. Auch in puncto Akzeptabilität liegen Genus- und Kongruenzfehler am Ende der Skala; die Verwechslung von Adjektiv und Adverb, die Auxiliarselektion in den zusammengesetzten Zeiten, Fehler in der Verbalmorphologie und fehlerhafter Gebrauch der Demonstrativpronomen (Französisch) verzeichnen sehr hohe Werte. Auffallender als hinsichtlich der Verständlichkeit sind hier jedoch die Unterschiede zwischen beiden Sprachen: So werden Orthographiefehler im Italienischen viel höher, also schwerer geahndet als im Französischen, während Lexikfehler im Italienischen lediglich Platz 9 belegen. Interessant ist ferner, dass im Französischen Fehler bei der Verbalflexion zwar die Verständlichkeit wenig beeinträchtigen, gleichwohl als sehr störend betrachtet werden. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass sich aufgrund der Unterschiede zwischen französischen und italienischen Befragten in der Bewertung der „Akzeptabilität“ ein heterogeneres Bild ergibt als bei der Bewertung der „Verständlichkeit“. Und dass abermals die Durchschnittswerte für das Italienische höher liegen (2,53) als für das Französische (2,35). Mit anderen Worten haben sich die französischen Befragten noch deutlicher als bei der Verständlichkeit hinsichtlich der Akzeptabilität der Fehler als toleranter gezeigt. Bei aller gebotenen Vorsicht hinsichtlich der bereits erwähnten Repräsentativität dieser Pretests könnten diese Ergebnisse doch ein Anhaltspunkt dafür sein, dass der oben beschriebene Holger Wochele 194 „Normfetischismus“ und die enge Beziehung der Franzosen zu ihrer Muttersprache nicht ohne Weiteres dazu führen, dass ihre Fehlertoleranz gegenüber nicht nativen schriftlichen Produktionen geringer ist als die der Italiener. Baasner/ Thiel (2004: 104) konstatieren beispielsweise im italienischen Schulwesen ein „ungebrochene[s] Prestige der klassischen Bildung“, entfällt doch dort in den letzten fünf Jahren des liceo classico knapp die Hälfte des erteilten Unterrichts auf die Fächer Italienisch, Altgriechisch und Latein. Auch dieser Umstand dürfte Auswirkungen auf die Vorstellungen von „Korrektheit“ und „Angemessenheit“ nicht-nativer sprachlicher Äußerungen haben. 4. Zusammenfassung und Perspektiven Wie gerade erwähnt, scheint die Antwort auf die oben gestellte Forschungsfrage hinsichtlich der Fehlerbewertung durch Frankophone und Italiener offen zu sein. Die in Frankreich bzw. in Italien durchzuführende Hauptstudie wird gesichertere empirische Grundlagen liefern, um zu einem klareren Ergebnis zu kommen. Die Trennung zwischen einem qualitativen, die Kompetenzbewusstheit betreffenden, und einem quantitativen Teil zur Fehlertoleranz, die mittels Fehlersätzen ermittelt werden soll, wird es erlauben, eine umfangreichere Befragung unter Studierenden in Frankreich und Italien durchzuführen. Umfangreicher wird die Studie nicht nur hinsichtlich der Anzahl der Befragten ausfallen, die in beiden Ländern etwa gleich hoch sein sollte, sondern auch hinsichtlich der zu bewertenden Sätze. Bei der Erstellung der definitiven Fragebögen wird ferner noch zu berücksichtigen sein, inwieweit die oben erwähnten Fehlertypen repräsentativ für die Kenntnisse der Studierenden in der Endphase ihrer Fremdsprachenausbildung sind. Das hier zu Grunde gelegte Material spiegelt nämlich ihren Sprachstand zu Beginn ihrer Ausbildung wider. Literaturverzeichnis Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationsproblemen im Alltag; am Beispiel von Sprachratgebern und Kommunikationstrainings. Tübingen: Niemeyer. Baasner, Frank/ Thiel, Valeria (2004): Kulturwissenschaft Italien. Stuttgart: Klett. Sprachbewusstheit und Laienlinguistik 195 Bausch, Karl-Richard/ Helbig, Beate ( 4 2003): „Erwerb von zweiten und weiteren Fremdsprachen im Sekundarschulalter”, in: Bausch, Karl-Richard/ Christ, Herbert/ Krumm, Hans-Jürgen (eds.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen/ Basel: Francke, 459-464. 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Einleitung In der modernen Fremdsprachendidaktik gilt es mittlerweile als grundlegendes Prinzip, in der frühen Lernphase zunächst diejenigen Lexeme zu ermitteln, die in formal (und zumeist auch semantisch) identischer bzw. vergleichbarer Form sowohl in der Muttersprache als auch der betreffenden Fremdsprache vorkommen und somit den Lernern bereits bekannt sind. Ein zudem sehr reiches sprachliches Reservoir stellt in diesem Zusammenhang der potenzielle Wortschatz dar, also diejenigen Wörter der Zielsprache, die vom Lerner bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht produktiv und/ oder rezeptiv beherrscht werden, die allerdings für ihn u.a. aufgrund von interlingualer Analogie und intralingualer Regelhaftigkeit auf den Ebenen der Morphologie und Wortbildung ohne größere Probleme semantisch erschließbar sind. Im Langenscheidt Sprachführer Türkisch aus dem Jahre 2004 finden sich beispielsweise die folgenden Ausdrücke, die für die meisten Sprecher einer romanischen und germanischen Sprache verständlich sind: ananas, kakao, brokoli, yogurt, patates, ketçap, margarin, nektarin, salata, domates, limon, parfümeri, kivi, müsli, adres, telefon, bungalov, kamping, duç, resepsiyon, televizyon, otel, rezerve, kasa, fatura, ampul, priz, teras, masa, vantilatör, lavabo, valiz, karavan, otobus, metro, bagaj , bilet, pilot, tren, tuvalet, istayon, peron, vagon, feribot, kaptan, klima, restaurant, adaptör, motor, fren, benzin, kontrolör, internet café, bar, pardon, konyak, likör, votka, gri, kravat, süpermarket, akü. Diese Wortliste legt die Vermutung nahe, dass zumindest die europäischen Sprachen über die Jahrhunderte hinweg einen gemeinsamen Wortschatz entwickelt haben. Schon Benedek Elemér Vidos verwies im Jahre 1968 auf die Existenz eines übereinzelsprachlichen bzw. sprachfamilienübergreifenden Wortschatzes, der auf lateinisch-romanischen Wurzeln fußt. Wir können also eine Annäherung […] romanischer […], germanischer […] und anderer europäischer Sprachen im Rahmen der lateinisch-romanischen Affinität beobachten und feststellen, dass sich diese Sprachen in demselben Andre Klump 200 kulturellen Klima entwickelt haben, und dass dies in ihrem Wortschatz entsprechende Spuren hinterlassen hat. Es gibt also eine europäische Mentalität (mentalité européenne), eine sprachliche und kulturelle Einheit, einen »gemeineuropäischen Wortschatz« (»European Words«), der die Universalität und Einheit des Lateinischen und die lateinisch-romanische Affinität, die im Grunde nichts anderes als eine europäische Affinität ist, zum gemeinsamen Nenner hat […]. (Vidos 1968: 433f.) Diese in vielen europäischen Sprachen verankerten Internationalismen gehen auf historische Entlehnungsprozesse zurück, die insbesondere mit dem christlichen Mittelalter, der Weltanschauung des Humanismus, dem Vorbildcharakter der französischen Kultur im 17. und 18. Jh. sowie mit dem angloamerikanischen Einfluss nach dem 2. Weltkrieg in Verbindung stehen. 1 Der Tatsache, dass es sich hierbei weniger um nationale als um europäische Ereignisse, Kräfte und Bewegungen handelt, die im Laufe der Zeit eine Vernetzung der lexikalischen Systeme, eine Art „lexikalisches Intersystem“ entstehen ließen, wird vielfach in den einzelsprachlich orientierten Philologien im Bereich der Germanistik und Romanistik zu wenig Rechnung getragen. 2 Eine vollkommen isolierte Betrachtung der französischen, spanischen oder italienischen Sprachgeschichte einerseits sowie auch die synchrone Ausblendung der internationalen Kommunikation und des multimedialen Sprachaustauschs andererseits lassen trotz vergleichbarer lexikalischer Erscheinungen in den jeweiligen benachbarten oder gar weit entlegenen Idiomen „die Gesamtheit der Sprachen […] als ein unverbundenes Nebeneinander von je eigen gestalteten Gebilden erscheinen […].“ 3 Die Anfang der 90er Jahre von den Germanisten Peter Braun, Burkhard Schaeder und Johannes Volmert ins Leben gerufene Internationalismenforschung verfolgt nunmehr das Ziel, den gemeinsamen Bestand an lexikalischen und morphologischen Zeichen europäischer Sprachen vor dem Hintergrund der internationalen Kommunikation zu untersuchen. Im Rahmen dieses Beitrags sollen zunächst Gegenstand und Methodik dieser recht jungen Forschungsdisziplin skizziert und anschließend der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag gerade die romanischen Sprachen für die Internationalismenforschung leisten können. 1 Vgl. Braun (1990: 14) und Braun/ Krallmann (1990: 35). 2 Vgl. Volmert (1990: 48). 3 Schaeder (1990: 35). Zur Rolle der Romanistik für die heutige Internationalismenforschung 201 2. Gegenstand und Methoden der heutigen Internationalismenforschung „Deutschland [ist] das Land der Fremdwörterbücher“. Zu diesem Ergebnis kam Peter von Polenz im Jahre 1967 im Rahmen seiner Studie zum Verhältnis von Fremdwort und Lehnwort und kritisierte in diesem Zusammenhang, dass in Deutschland die Bezeichnung „Fremdwort“ vorrangig die geschichtliche Herkunft unterstreicht und der tatsächliche Gebrauchswert des betreffenden Ausdrucks unberücksichtigt bleibt. 4 Diese „Fremdwörter“ würden in anderen Ländern eher als „Lehnwörter“ in normalen Wörterbüchern oder als Spezialwörter des Fach- und Bildungswortschatzes geführt und nicht so sehr unter dem Blickwinkel der „"Überfremdung", der Bedrohung "nationalsprachlichen Erbes"“ 5 betrachtet werden. Nicht zuletzt aus dieser Fremdwortdebatte ist die Forschungsrichtung der Internationalismenforschung hervorgegangen. Bereits zuvor haben sich verschiedene Disziplinen, v.a. die kontrastive Linguistik, die Übersetzungswissenschaft oder die historisch vergleichende Sprachwissenschaft aus unterschiedlichen Beweggründen dem Gegenstand der Internationalismen gewidmet. 6 Der Terminus „Internationalismus“ erfuhr jedoch traditionell eine unzureichende begriffliche Bestimmung. 7 Die definitorische und terminologische Grundsteinlegung erfolgte erst mit dem von Braun/ Schaeder/ Vollmer im Jahre 1990 veröffentlichten Sammelband Internationalismen. Der Untersuchungsgegenstand der Internationalismenforschung, deren Terminologie bis heute in den meisten linguistischen Nachschlagewerken unberücksichtigt geblieben ist, 8 wird in dem vorgenannten Sammelband, dem 2003 ein weiterer folgen sollte, wie folgt definiert: Die Erkenntnisrichtung der Internationalismen-Forschung […] zielt darauf ab zu beschreiben, was sich im Lauf einer längeren historischen Entwicklung zwischen Sprachen im Kontakt an System-Gemeinsamkeiten herausgebildet hat (Volmert 1990: 47). 4 Vgl. Braun (1990: 30). 5 Volmert (1990: 48). 6 Zur Geschichte der Internationalismenforschung vgl. Schaeder (2003: 74-78). 7 Vgl. Braun (1990: 17). 8 So auch noch in der aktuellen dritten Auflage des Lexikon[s] der Sprachwissenschaft von Hadumod Bußmann aus dem Jahre 2002. Andre Klump 202 Untersucht wird somit die Vernetzung der lexikalischen und morphologischen Systeme europäischer Sprachen in Geschichte und Gegenwart vor dem Hintergrund der internationalen Kommunikation. Der Schwierigkeit einer Definition von Internationalismus, die u.a. die verschiedenen sprachlichen Ebenen, die übereinzelsprachliche Existenz und internationale Verständlichkeit berücksichtigt, wurde zunächst mit der folgenden allgemeinen Definition begegnet, deren einzelne Bestimmungsmerkmale anschließend im Detail beleuchtet wurden: Unter “Internationalismus“ versteht man ein Wort, das mit gleicher oder ähnlicher Ausdrucksseite und mit gleicher oder ähnlicher Bedeutung in verschiedenen Sprachen verbreitet und meist ohne Übersetzung spontan verständlich ist. (Volmert 2003: 25). 9 Um von einem Internationalismus sprechen zu können, müssen demnach u.a. die folgenden Kriterien erfüllt sein, die sich auch am Beispiel Text aufzeigen lassen: dt. Text engl. text nl. tekst schwed. text dän. tekst frz. texte sp. texto it. testo port. texto rum. text russ. tekct türk. tekst Die einzelsprachlichen Entsprechungen des deutschen Wortes Text finden sich nicht nur in der germanischen, sondern auch in der romanischen Sprachfamilie und darüber hinaus in nicht-indoeuropäischen Sprachen wie dem Türkischen, so dass die Bedingung der Existenz in einer nicht genetisch verwandten Sprache erfüllt ist, und man insofern nicht von einem reinen Germanismus, Romanismus oder Indoeuropäismus sprechen kann. Auch lässt sich eine weitgehende Übereinstimmung in Schreibung und Bedeutung konstatieren. Trotz geringfügiger Abweichungen in der Graphie und Wortbildung sind diese Ausdrücke auch ohne Übersetzung verständlich bzw. in solch einer Liste als einander entsprechend zu erkennen. Die Aussprache kann nur bedingt berücksichtigt werden, da die Sprachen auf dieser Ebene am stärksten divergieren. 10 Auf allgemeinsprachlichem Niveau lassen sich in der deutschen, englischen und französischen Gegenwartssprache nach der Studie von Braun (1990: 17) etwa 3.500 bis 4.000 Internationalismen ausmachen. Ihre Übereinstimmungen auf der semantischen Ebene betreffen dabei oftmals nur einen Teil der Semstruktur, da das Wort zumeist mit nur einer 9 Vgl. auch die Definitionen von Schaeder (1990: 43 und 2003: 98). 10 Vgl. Braun (1990: 17) und Schaeder (2003: 93-94). Zur Rolle der Romanistik für die heutige Internationalismenforschung 203 Bedeutungsvariante entlehnt wurde. Für den übereinzelsprachlichen Vergleich werden Internationalismen bestimmten Begriffs- und Sachbereichen zugeordnet (z.B. Maßeinheiten, Musikinstrumente, Getränke, Kleidung, Tänze, Pflanzen, Bauwesen, Tierbezeichnungen). 11 Innerhalb der Gruppe der Internationalismen unterscheidet man die sog. Interlexeme, Intermorpheme und Inter-Phraseologismen: Interlexem: Abstrakte Basiseinheit des mehrsprachigen Lexikons auf der Interlangue-Ebene, die durch formal (annähernd) kongruente und inhaltlich (annähernd) äquivalente Lexeme in den Einzelsprachen repräsentiert wird. (Volmert 2003: 36) Neben den prototypischen Vertretern, d.h. den eingliedrigen und zumeist substantivischen Lexemen, zählen auch übereinzelsprachlich vergleichbare Derivationsaffixe und Redensarten zur Gruppe der Internationalismen. Zur Gruppe der formal (annähernd) übereinstimmenden und inhaltlich (nahezu) äquivalenten Intermorpheme zählen insbesondere die lateinisch und griechisch basierten Eurofixe 12 (wie beispielsweise die Präfixe multi- und hyper-, die Suffixe -tion und -kratie mit ihren einzelsprachlichen Ausprägungen) sowie - mit einigen Abstrichen - bestimmte morphosyntaktische Elemente als Ausdruck grammatischer Kategorien. Als Inter-Phraseologismen gelten Redensarten und Sprichwörter, die in vielen Sprachen formal und inhaltlich annähernd gleich auftreten. Sie sind das Ergebnis internationaler Kontakte auf politischer, kultureller sowie ökonomischer Ebene. 13 Auch sind derart übereinzelsprachliche Gemeinsamkeiten oft religiösen Ursprungs, da viele ursprüngliche Bibelzitate mit der Zeit den rein religiösen Kontext verlassen und den Status der „geflügelten Worte“ erlangt haben. Sie werden heute vielfach nicht mehr als biblische Worte gedeutet. Beispiel für Inter-Phraseologismen: dt. sein Herz auf der Zunge tragen eng. to wear one’s heart on one’s sleeves nl. zijn hart op de tong hebben/ dragen frz. avoir le coeur sur les lèvres it. portare il cuore in bocca sp. tener el corazón en la mano Die einzelsprachlichen Vertreter von Inter-Phraseologismen vermitteln mit vergleichbaren Wortkombinationen und dem paradigmatisch entsprechenden Wortmaterial eine annähernd gleiche Gesamtbedeutung, wobei die Autosemantika in höherem Maße übereinstimmen. 11 Vgl. Braun (1990: 19). 12 Vgl. Klein/ Stegmann ( 3 2000: 139-145). 13 Vgl. Braun/ Krallmann (1990: 76). Andre Klump 204 Die meisten Redensarten, die auf bestimmte Körperteile (v.a. Auge, Bein, Fuß, Hand, Herz, Kopf, Nase, Mund/ Maul, Ohr und Zunge) rekurrieren, stellen zugleich Inter-Phraseologismen dar. Der internationale Wortschatz, an dem viele Sprachen partizipieren, stammt zu einem Großteil aus den romanischen Sprachen und deckt sich mit dem sprachfamilienspezifischen romanischen Wortschatz stärker als mit dem einer anderen Sprachfamilie. 14 So kommt Meißner (1993: 118) zu der Erkenntnis, dass „[d]er panromanische Wortschatz aufgrund der historischen Stellung des Gelehrten- und Neolateins Frankreichs, Italiens und Spaniens und nicht zuletzt des romanischen Englands das zahlreichste Segment der europäischen Interlexis“ darstellt. Viele dieser Internationalismen sind über das Französische, das über drei Jahrhunderte lang die führende Gebersprache Europas war, in die verschiedenen Sprachen gelangt. 3. Potenzielle romanistische Beiträge für die Internationalismenforschung Wenngleich im Rahmen der Internationalismenforschung mehrfach die verstärkt einzelsprachliche Orientierung der heutigen Sprachwissenschaft kritisiert wurde, 15 stellt sich dennoch keineswegs die Frage, ob Internationalismen überhaupt aus dem speziellen Blickwinkel einer romanischen Einzelphilologie bzw. Romanismen unter dem Dach der Internationalismenforschung beleuchtet werden können: „Internationalismen lassen sich aus der einzelsprachlichen Perspektive betrachten und dann als deutsche, englische, französische usw. Internationalismen beschreiben und klassifizieren.“ 16 Als Desideratum gelten insbesondere Untersuchungen hinsichtlich der Beschaffenheit, Frequenz und Verteilung von Internationalismen in den romanischen Sprachen. 17 Neben der Pressesprache (in Tages- und 14 Vgl. Klein/ Stegmann ( 3 2000: 37). 15 Vgl. Schaeder (1990: 35). 16 Schaeder (2003: 103). 17 Als den bisher einzigen „nennenswerte[n] Beitrag“ der Romanistik bezeichnete Schaeder in einer E-Mail vom 04. Februar 2007 den Aufsatz „Anmerkungen zur Interlexikologie aus romanistischer Sicht“ von Franz-Joseph Meißner (1993). Eine richtungsweisende Studie in neuerer Zeit stellt seines Erachtens die von Horst Geckeler an der Universität Münster betreute Staatsarbeit „Konvergenzen im Worschatz ausgewählter europäischer Sprachen“ von Nadine Piolot aus dem Jahre 2003 dar. Hierbei handelt es sich um eine Auswertung von zwei Ausgaben der Zur Rolle der Romanistik für die heutige Internationalismenforschung 205 Wochenzeitungen) kommen dabei der aktuelle Diskurs in den Massenmedien, in der Fernsehberichterstattung, in den Spielfilmen, in Sportübertragungen und in der Werbung als einzelsprachliche (romanistische) Untersuchungsfelder für die Datenerhebung in Betracht. Speziell romanistische Anwendungsbereiche stellen u.a. die zwei- oder mehrsprachige Terminologiearbeit, Fachlexikographie und Fremdsprachendidaktik dar. So greift die Interkomprehensionsforschung nach der Methode EuroComRom z.T. auf die Ergebnisse der Internationalismenforschung zurück und widmet sich verstärkt dem innerromanischen Verstehensprozess. Als überaus fruchtbare romanistische Untersuchungsgegenstände der Internationalismenforschung 18 kommen u.a. die folgenden in Betracht: • Internationalisierung im gemein-, bildungs- und fachsprachlichen Bereich In den sprachübergreifenden Untersuchungen, denen bislang eine verstärkte Fundierung von romanistischer Seite fehlt, konnten allgemeine Tendenzen zu einer starken Internationalisierung in den gemein- und bildungssprachlichen Sektoren mit politisch-ökonomischem und technisch-wissenschaftlichem Hintergrund aufgezeigt werden. 19 Während gemeinhin die Bereiche der kommerziellen Warenwerbung, der Unterhaltung, des Sports und der Mode einer verstärkt internationalen Prägung unterliegen, erweist sich die Sprache der Literatur und Jurisprudenz als eher konservativ. • Internationalisierung und Wortarten Die Internationalisierung erfasst hauptsächlich die Klasse der Substantive sowie die nominale Wortbildung. Aus sprachfamilienübergreifender Sicht finden sich hingegen nahezu keine ausdrucksäquivalenten Funktionswörter (Konjunktionen, Präpositionen, Pronomina, Partikeln, Hilfs- Tageszeitung Libération (März 2003), in denen insgeamt 69.114 Lexeme (tokens) verzeichnet wurden. Es fanden sich 3.288 Repräsentanten von Internationalismen (4,76 %), darunter 2.644 Substantive, die in drei oder mehr Sprachen (Frz./ Dt./ Eng./ Span./ Rus.) vorkommen. Die zehn gebräuchlichsten Internationalismen waren film, million, américain, président, politique, euro, international, candidat, russe, problème. Ebenso erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der vergleichsweise frühe Beitrag „Les internationalismes dans les langues romanes“ von Pierre Lerat (1988). 18 Eine Aufstellung der bisher publizierten Beiträge im Bereich der Internationalismenforschung findet sich bei Schaeder (2003: 78-81). 19 Vgl. Volmert (1990: 55). Andre Klump 206 verben). Internationalismen in Form von Adjektiven und Verben treten demgegenüber sporadisch in bestimmten Kontexten, z.B. in den Fach- und Wissenschaftssprachen (eher Verben) oder im Bereich der Politik, Kultur und Wirtschaft (eher Adjektive) in Erscheinung. 20 Diese allgemeinen Beobachtungen gilt es, auf der Basis eines einzelsprachlichen Korpus (z.B. des Französischen oder Spanischen) zu untermauern bzw. gegebenenfalls zu relativieren. • Internationalismen im innerromanischen Vergleich Wenngleich deutsche Internationalismen mit ihren französischen, englischen und spanischen Entsprechungen oftmals nur ein(ig)e (wenige) gemeinsame Inhaltskomponente(n) besitzen, bleibt zu klären, ob innerhalb der romanischen Sprachen eine Tendenz zur Inter-Polysemie besteht, vgl. den dt. Ausdruck Autorität, der mit dem frz. autorité, dem span. autoridad und dem it. autorità zwar die Bedeutungsvarianten '(Amts)Gewalt', 'Macht(Befugnis)' und 'Ansehen', nicht aber die Komponente 'Behörde' teilt. Nicht nur die übereinstimmende, sondern auch die abweichende semantische Struktur bei formal identischen bzw. ähnlichen Ausdrücken in bestimmten romanischen Sprachenpaaren (z.B. Spanisch-Italienisch, Katalanisch-Italienisch) verdient in diesem Zusammenhang eine besondere Betrachtung. Als Beispiele für die romanische Inter-Homonymie seien die „falschen Freunde“ it. burro 'Butter' und span./ port. burro 'Esel' genannt. • Einzelsprachliche bzw. kulturspezifische Lexeme Als Pendant zu den vorbeschriebenen Internationalismen fungieren sprach- und landesspezifische Ausdrücke, die trotz semantischer Vergleichbarkeit keinerlei formale Ähnlichkeit erkennen lassen, z.B. frz. papillon it. farfalla port. borboleta rum. fluture span. mariposa engl. butterfly dt. Schmetterling nl. vlinder frz. fanion it. gagliardetto, port. bandeira, span. banderín dt. Wimpel engl. pennant Auch hier wäre gerade aus der sehr fruchtbaren romanistischen Perspektive heraus zu untersuchen, welche sprachlichen Bereiche traditionell und 20 Vgl. Volmert (1990: 55). Zur Rolle der Romanistik für die heutige Internationalismenforschung 207 wohl auch in Zukunft von der Internationalisierung unbeeinflusst bleiben. 4. Schlussbetrachtung Im Rahmen dieses Beitrags wurde mit der Internationalismenforschung ein sprachvergleichender und auf die gegenwärtige Sprachverwendung bezogener Arbeitsbereich der Angewandten Linguistik vorgestellt und sodann aufgezeigt, welche diskursbezogenen Untersuchungsgebiete und -gegenstände sich in diesem Zusammenhang für die romanische(n) (Einzel-)Philologie(n) ergeben können. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft insbesondere von der Romanistik neue Impulse für die Erforschung wie auch für die lexikographische Aufbereitung des übereinzelsprachlichen Wortschatzes ausgehen. Literaturverzeichnis Braun, Peter (1990): „Internationalismen - Gleiche Wortschätze in europäischen Sprachen“, in: Braun, Peter/ Schaeder, Burkhard/ Volmert, Johannes (eds.): Internationalismen. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer, 13-33. Braun, Peter/ Krallmann, Dieter (1990): „Inter-Phraseologismen in europäischen Sprachen“, in: Braun, Peter/ Schaeder, Burkhard/ Volmert, Johannes (eds.): Internationalismen. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer, 74-86. Braun, Peter/ Schaeder, Burkhard/ Volmert, Johannes (eds.) (1990): Internationalismen. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer. Braun, Peter/ Schaeder, Burkhard/ Volmert, Johannes (eds.) (2003): Internationalismen II. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer. Bußmann, Hadumod (ed.) ( 3 2002): Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart: Krömer. Klein, Horst G./ Stegmann, Tilbert D. ( 3 2000): EuroComRom - Die sieben Siebe - Romanische Sprachen sofort lesen können. Aachen: Shaker. Lerat, Pierre (1988): „Les internationalismes dans les langues romanes“, in: Hommage à Bernard Pottier. Bd.2. Paris: Klincksieck, 438-491. Meißner, Franz-Joseph (1993): „Anmerkungen zur Interlexikologie aus romanistischer Sicht“, in: Muttersprache 103, 113-130. Piolot, Nadine (2003): Konvergenzen im Wortschatz ausgewählter europäischer Sprachen. Staatsexamensarbeit Münster (Betreuung: Horst Geckeler). Andre Klump 208 Polenz, Peter von (1967): „Fremdwort und Lehnwort, sprachwissenschaftlich betrachtet“, in: Muttersprache 77, 65-80. Schaeder, Burkhard (1990): „Versuch einer theoretischen Grundlegung der Interationalismen-Forschung“, in: Braun, Peter/ Schaeder, Burkhard/ Volmert, Johannes (eds.): Internationalismen. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer, 34-46. Schaeder, Burkhard (2003): „Neuerlicher Versuch einer theoretischen und methodischen Grundlegung der Internationalismen-Forschung“, in: Braun, Peter/ Schaeder, Burkhard/ Volmert, Johannes (eds.): Internationalismen II. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer ,71- 107. Vidos, Benedek Elemér (1968): Handbuch der romanischen Sprachwissenschaft. München: Hueber. Volmert, Johannes (1990): „Interlexikologie - theoretische und methodische Überlegungen zu einem neuen Arbeitsfeld“, in: Braun, Peter/ Schaeder, Burkhard/ Volmert, Johannes (eds.): Internationalismen. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer, 47-62. Volmert, Johannes (2003): „Internationalismen und die Rolle des Lateins als ,Muttersprache Europas’, in: Braun, Peter/ Schaeder, Burkhard/ Volmert, Johannes (eds.): Internationalismen II. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer, 23-50. IV. Sprachpolitik, Sprachkontaktforschung, Lexikographie und die Rekonstruktion gesprochener Sprache Joachim Born Angewandte Linguistik als Einmischung: Der Beitrag der Sprachwissenschaft zu einer demokratischen und effizienten Sprachpolitik 1. Wissenschaft und Politik - Symbiose oder Konkurrenz? Meine Ausgangsthese ist, dass sich Spezialisten, hier: Wissenschaftler, in der Öffentlichkeit zu Wort melden sollten, um mit ihren Fachkenntnissen dazu beizutragen, dass Entscheidungen getroffen werden, die nachvollziehbar, nachhaltig und akzeptabel sind, ohne dass Effizienz und demokratisches Miteinander darob vernachlässigt werden. Niemand wird einem Mediziner die Berechtigung absprechen, sich zu Fragen wie Aidsprävention, Gefahren des Passivrauchens oder einer Krankheitsbzw. Gesundheitsprophylaxe schlechthin zu äußern; jedermann ist gewohnt, dass als „fünf Weise“ antonomasierte und camouflierte Wirtschaftswissenschaftler publikumswirksam in die Politik hineinregieren, und natürlich wird man von einem Kernphysiker verlangen (können), dass er Entscheidungsträger und Öffentlichkeit über Risiken und Chancen von Atomkraftwerken aufklärt. Andererseits hören viele Menschen staunend zum ersten Mal in ihrem Leben anlässlich von Bomben, Putschen oder ethnischen Konflikten, dass es Fächer wie Albanologie, Kaukasiologie oder Orientalistik gibt, wenn area-studies-erfahrene Kollegen sich kenntnisreich zu den Spannungen im Kosovo, den gärenden Unruheherden in Tschetschenien und Abchasien oder einer Entführung durch rivalisierende Clans im Jemen äußern. Das könnte man so weiterführen, insbesondere Natur- und Ingenieurswissenschaftler haben nicht nur die politische Großwetterlage auf ihrer Seite, sie sind auch mit ihren Erkenntnissen und Produkten gern gesehene Vorbereiter und Begleiter auf außenpolitisch getarnten Industriepolitikreisen. In einem generell als essenziell für die Menschheit angesehenen Bereich, dem der Sprache, scheint dies nicht so recht zu klappen. Selten hört man, dass bei der Planung von Lehrplänen oder Studienreformen, ganz zu schweigen von Problemen, die aus Sprachkontakt und Sprachkonflikt entstehen, Linguisten um ihren Rat gebeten werden oder diesen - von sich aus - offensiv kundtun. Statt Sprachwissenschaftlern scheint man die Lösung Joachim Born 212 dieser nach den Lehren der katalanischen Soziolinguistik - bei uns als Neldes Gesetz („es gibt keinen Sprachkontakt ohne Sprachkonflikt“) bekannt gewordenen - unvermeidlichen Machtkämpfe vielmehr Juristen, Erziehungswissenschaftlern, Soziologen und Politikwissenschaftlern, Statistikern oder gar Literaten zuzutrauen. Es kommt noch hinzu, dass auch Politiker - da sie ja selbst Sprache und Sprachen mehr oder weniger kompetent einsetzen - meinen, sich ein Fachurteil anmaßen zu können. Das hat eine lange Tradition seit dem mittelalterlichen Europa und der Abkehr vom Latein. Beginnend mit Karl dem Großen und seinem bekannten Ausspruch „Eine andere Sprache zu besitzen heißt, eine andere Seele zu besitzen.“ über seinen Namensvetter, hier zu Lande der V., in der Hispania Carlos Primero, der den Genueser Senat wissen ließ: „Aunque pudiera hablar en latín, toscano, francés o tudesco, prefiero hablar en castellano porque me entienden todos.“ über den unsäglichen Franco, der schon am 1. Oktober 1936 von sich gab: España se organiza en un amplio concepto totalitario, por medio de instituciones nacionales que aseguran su totalidad, su unidad y continuidad. El carácter de cada región será respetado, pero sin perjuicio de la unidad nacional, que la queremos absoluta, con una sola lengua, el castellano, y una sola personalidad, la española. 1 bis hin zu Helmut Schmidt, der rund um seinen 90. Geburtstag allseits gefeiert wurde und wird und der (sprachpolitisch) kein bisschen altersweiser geworden zu sein scheint. Noch 2004 polterte er in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt: „Ein gelungenes Beispiel [für einen multikulturellen Staat] ist Singapur, aber die dort lebenden Kulturen sprechen alle Englisch, und das politische System setzt auf Obrigkeit. Wie schwer ist es dagegen, bei uns Deutsch durchzusetzen. Wenn Sie die Aufschriften an den Geschäften auf dem Steindamm studieren, werden Sie feststellen, daß [sic] viele türkisch sind.“ 2 Man 1 Das Zitat variiert ein wenig im Wortlaut, nicht aber in der Diktion. Die hier angeführte Version wird auf einer hagiografischen Homepage, die Ewiggestrige dem Caudillo gewidmet haben (http: / / www.generalisimofranco.com), aufgeführt, findet sich aber auch in ernsthaften wissenschaftlichen Werken wie bei Torrealdai (1987: 73) oder King (2005: 33). 2 Wieviel Anatolien verträgt Europa? Helmut Schmidt: Nächsten Monat wird er 86, doch politikmüde ist der frühere Bundeskanzler noch lange nicht. Gerade hat er in einem weiteren Buch („Die Mächte der Zukunft“) seine Gedanken und Sorgen über die Lage in der Welt notiert. Dazu gehört auch das Wort vom „Kampf der Kulturen“, das in Deutschland neue Konjunktur hat. Kann man Millionen Moslems in diese Gesellschaft integrieren? Gehört die Türkei in die EU? Diese und andere Fragen Angewandte Linguistik als Einmischung 213 könnte diese Liste beliebig fortführen - der eine kämpft für Niederdeutsch, der nächste wider Denglisch, und - wir kommen zur Romania - für indigene Sprachen, für autochthone Minderheiten stärker als für allochthone, für die Erhaltung des Französischen in jeder noch so abseitigen internationalen Organisation, für die Einstellung der Lusitanistik vs. Italianistik usw., die Verankerung in oder Eliminierung aus Lehrplänen - das gegenseitige Zerfleischen im Grunde kongenialer Kollegen wird dann billigend hingenommen… 2. Definition von Sprachpolitik Sprachpolitik umfasst i.w.S. folgende Themenbereiche: 1) politisch motivierte Maßnahmen zur sprachlichen Integration oder Assimilation einerseits und zur Unterdrückung andererseits, d. h. zur Reduzierung oder sogar Eliminierung sprachlicher Varietäten, z. B. von regionalen Sprachformen im Hinblick auf die Standardsprache zum einen oder die besondere Förderung Letzterer zum anderen; 2) den Versuch vieler Staaten, eine gemeinsame nationale Identität mittels einer vereinenden Sprache zu begründen; 3) Bemühungen, mit Hilfe politischer Mittel einer Sprache den für sie erforderlichen Ausbau, d.h. einen kodifizierten, standardisierten und schließlich normierten Regelapparat zu verschaffen, der sie in die Lage versetzt, sich als Amts-, National-, Verhandlungs- oder Verkehrssprache ggf. in Konkurrenz, Kontakt oder Kooperation zu oder gegenüber anderen Sprachen als Ausdrucksform mündlicher und schriftlicher Kommunikation zu behaupten; 4) Bestrebungen, der jeweiligen Sprache die administrativen, finanziellen und apparativ-personellen Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, die den kulturell oder ökonomisch bedingten Spracherwerb von Nicht-Muttersprachlern zum Zweck ihrer internationalen Verankerung und Erlernung als Fremdsprache gewährleisten; 5) Maßnahmen, das sprachliche Miteinander in polyethnischen und/ oder -lingualen Staatsverbänden wie in inter- und supranationalen Organisationen zu regeln; 6) den Einfluss, den interessierte politische Kreise, wissenschaftliche Akademien, Vereine oder sonstige Institutionen und Organisationen auszuüben versuchen, um auf die Sprache dergestalt einzuwirken, dass fremdsprachliche Einflüsse zugunsten puristischer muttersprachlicher Regelungen eliminiert werden (z. B. in Frankreich durch die Academie française). Darüber hinaus wird Sprachpolitik im engebeantwortet Helmut Schmidt im Abendblatt. Hamburger Abendblatt, 24.11.2004. (http: / / www.abendblatt.de; Zugriff am 31.05.2007) Joachim Born 214 ren Sinne als sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit 7) der Darstellung der direkten Verflechtung politischer und sprachlicher Ausdrucksformen im öffentlichen Diskurs im Hinblick auf gesellschaftspolitisch relevante und/ oder brisante Themen und mit 8) dem kritischen Aufzeigen von Zusammenhängen, in denen Sprache als Diffamierungs-, Disziplinierungs- oder Repressionsinstrument gegen ungeliebte Mehr- oder Minderheiten, gegen politisch Andersdenkende, gegen ethnisch, „rassisch“, religiös, sexuell, generisch oder generational Missliebige dient, verstanden. 3 Sprachpolitik war immer schon ein Gebiet, in dem sich unbequeme Linguisten oder besser gesagt, Linguisten, deren Thesen oder Bekenntnisse als unbequem, provokant, manchmal schwer verdaulich erwiesen, tummelten. Sie teilen aus und bekommen zurückgezahlt, bestes Beispiel sind (romanistische) Sprachwissenschaftler, die sich für die Eigenständigkeit des Moldauischen oder des Valencianischen einsetzen - denn hier ist die große Gemeinde der ansonsten filo-minoritären Kollegenschaft (aus durchaus guten Gründen) eher für eine Subsummierung unter das Rumänische bzw. Katalanische. 4 3. Akteure von Sprachpolitik Es fällt auf, dass traditionelle sprachpolitische Ansätze tief verwurzelt sind in einem Vertrauen auf in der Gesellschaft wohlverankerte Institutionen. Das sind neben dem Staat die Schule, die Kirche, die Parteien - 3 Es soll nicht verschwiegen werden, dass auch hier die Definitionen in guter geisteswissenschaftlicher Tradition auseinander driften. Es wird in diesem Artikel und speziell in dieser Definition nicht unterschieden zwischen Sprachpolitik und Sprachenpolitik (obwohl es auch dafür gute Gründe gibt), auch die v.a. von der französischen Soziolinguistik betriebene Eigenständigkeit der glottopolitique (s. v.a. Guespin/ Marcellesi 1986) wird hier - trotz einer würdigenden Kenntnisnahme - nicht weiter verfolgt, da „Sprachpolitik“ als Oberbegriff aufgefasst wird. 4 Vermintes Gebiet im wahrsten Sinne des Wortes waren auch immer die Dolomiten mit ihrer autochthonen romanischen Minoritätensprache, dem Ladinischen. So hatte sich der verehrte Kollege Hans Goebl in den 1980er Jahren heftige publizistische Kontroversen betreffs der Questione ladina geliefert (s. u.a. Goebl 1984), denen nicht minder engagiert u.a. vom ebenso verehrten Kollegen Johannes Kramer geantwortet wurde (Kramer 1984). Auch wenn in dieser öffentlichen Auseinandersetzung in der Rückschau möglicherweise das eine oder andere Wort unverhältnismäßig heftig formuliert war, stellt diese Polemik doch einen Meilenstein für eine deutschsprachige Soziolinguistik dar, die ihre Erkenntnisse auch (sprach-)politisch versteht. Viele Studierende und junge Wissenschaftler folgten begeistert diesem Disput. Angewandte Linguistik als Einmischung 215 denken wir nur an die ethnisch-national-sprachlichen Parteien nicht nur in der europäischen Romania 5 -, Hochschulen, Medien, Akademien, gesetzliche Bestimmungen. Die meisten seriösen Beschreibungen zur soziolinguistischen und sprachpolitischen Situation einer betreffenden Sprache listen „brav“ die Verankerung in den von Weinreich, Fishman, Ferguson begründeten und den unterschiedlichen nationalen Schulen weiter getragenen Domänen oder Funktionen auf. 6 Das wird aber dem gewandelten Autoritätenbild und den heute als Vorbilder dienenden, Identität schaffenden Personen und sonstigen Trägern nicht mehr gerecht. Wer geht - zumindest in der westlichen Welt - heute noch in die Kirche und lässt sich vom Pfarrer den Nutzwert einer Varietät (über das Gebet oder die Liturgie) erklären? Wer vertraut noch Politikern, die im Wahlkampfstimmenfang auf einmal eine Guaraní- oder Quechua-Identität für sich reklamieren? 7 Wer lacht nicht über die alten Herren (und sehr selten Damen), die in ihren Wachphasen während langatmiger Akademiesitzungen die verderblichen Einflüsse des Englischen auf das Französische geißeln? Und von der Autorität von Lehrern brauchen wir erst gar nicht zu reden… Die Medien wandeln sich: Früher galt es als vorbildlich, wenn gedruckte Erzeugnisse in irgendeiner beliebigen Varietät als solche vorlagen - schließlich musste bewiesen werden, dass als „Dialekt“, „Mundart“ oder ganz generell „schlechtes Sprechen“ desavouierte Idiome auch für die geschriebene Form taugten. Dann wurde die Einführung von Sprachen in die Radio- und Fernsehwelt als unerlässlich für das Überleben insbesondere kleinerer Sprachen betrachtet. Aber: Wer liest 5 Gerade das Spanien der Autonomien ist hier besonders proliferant: Linke wie rechte Parteien definieren sich vor allem ethnolinguistisch, so im Baskenland der PNV-EAJ, die EA und die aufgrund von Verboten immer wieder wechselnden Parteien, die der ETA nahe stehen, in Katalonien die CiU und die ERC, in Galicien der BNG. Das sind nur die bekanntesten, auch Aragón, León, die Balearen und Valencia - aber auch nicht alloglotte Regionen - haben eigene Parteien hervorgebracht. In vergleichsweise kleinerem Rahmen ist das Phänomen auch in der Bundesrepublik Deutschland vorhanden: Seit eh und je vertritt der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) die Interessen der dänischsprachigen Minderheit in Schleswig-Holstein. 6 Es soll keiner denken, dass hiermit Kollegenschelte betrieben werden soll. Vielmehr geht es um allmähliches Umdenken, damit die nachfolgenden Generationen erreicht werden können. Um gar keinen Verdacht in dieser Richtung aufkommen zu lassen, nenne ich hier als „schlechtes“ Beispiel meine eigene Dissertation (Born 1992: ²1998)… 7 Berühmtes Beispiel war der peruanische Präsident japanischer Herkunft, Alberto Fujimori, der justament in Wahlkämpfen seine philo-indigene Ader entdeckte und pflegte. Joachim Born 216 heute noch? Wer schaut Regionalfernsehen statt internationalisierter Telenovelas? Und ist es nicht so, dass etwa die Einführung des deutschen Radiowesens in Südbrasilien die sensibleren Geister unter den Teutobrasileiros endgültig in die Arme der lusitanischen Staatssprache fallen ließ, weil sie geradezu einen Selbsthass verspürten, zu einer Kultur zu gehören, die vornehmlich Heino und bayerische Blasmusik durch den Äther schickte? Vertreibt die partiell volkstümelnde Heimatpropaganda im rätoromanischen TV-Programm des Schweizer Fernsehens (SF), Radio e Televisiun Rumatscha (RTR), mit Serien wie Crair u betg crair: il latin dals chatschaders - eine übrigens beeindruckende Sendung! - nicht die letzten liberalen und fortschrittlichen Geister aus den engen Tälern, zumal die Jagd ja nicht gerade als urban, cool oder lässig gilt? 8 Aber die Medien reagierten: Heute gibt es leonesische Chatrooms, valencianische Blogs, eine Guaranífassung des Internets, Hip-Hop-Okzitanisch-Unterricht durch Massilia Sound System oder Asterix-Comics auf Hessisch wie Asturisch - die Unterdrückten melden sich und schlagen zurück. In den Antipoden etwa wurde die Implementierung gegenwarts- und zukunftstauglicher Technologien gefeiert, wie die beste chilenische Tageszeitung La Tercera in ihrer Ausgabe vom 29. März 2007 (S. 24) zu berichten weiß: „En una ceremonia en Los Sauces, IX Región, se hizo la entrega oficial de la versión Windows Mapuzugun 9 , un software que busca preservar y difundir la cultura del pueblo mapuche a través de las nuevas tecnologías.” Man mag es bedauern, wenn Bill Gates an die Stelle von Jesus (oder wahlweise Karl Marx) tritt, es ist aber die einzige Möglichkeit, Tradition und Moderne zu versöhnen. Hier erhält das berühmte Warhol- Wort „Es wird die Zeit kommen, da ist jeder für fünf Minuten berühmt“ auch eine sprachpolitische Bedeutung: Heute kann jede oder jeder für fünf Minuten (aber auch länger) ganz persönlich eingreifen, sprachpolitische Vorschläge machen, nachweisen, dass sie/ er in der Lage ist, diese auch umzusetzen und andere dazu bewegen, diesem Weg nachzufolgen. 8 Ich möchte hier hervorheben, dass TV-Programme überall auf der Welt derartige Klischees bedienen. Nur schadet Telemüll eben den großen Sprachen nicht. Dieser Hinweis soll unterstreichen, dass nicht Häme, sondern Sympathie hinter den Formulierungen steckt. Außerdem hat der Fernseher ja wirklich eine tolle Zusatzfunktion: Man kann ihn ausschalten! 9 Mapuzugun (häufiger Mapudungun) ist das Autoglottonym der mapuche für ihre Sprache (die also nicht Mapuche heißt - das ist lediglich das Ethnonym! ); die romanistische Sprachwissenschaft hängt leider noch heute oftmals an der europäisch formulierten Bezeichnung Araukanisch. Angewandte Linguistik als Einmischung 217 Es ändern sich also die Akteure - ein wütender gaskognischer Landwirt wie Joseph (José) Bové wird für viele nachahmenswert, weil er nicht nur - gegen die Globalisierung demonstrierend - eine McDonald’s-Filiale mit seinem Traktor niederwalzt, sondern dies mit okzitanischen Sprüchen begründet. Romands aus der Westschweiz überschreiten den Röschtigraben - aller landestypischen Mehrsprachigkeitsfolklore zum Trotz - nur noch Englisch parlierend, weil ihnen der munter Schwyzertütsch parlierende Rechtsaußen Blocher auf seine Art vorführt, wer Herr im Schweizer Haus ist. Und nicht zuletzt gibt es viele Menschen (übrigens auch Wissenschaftler! ), die sich fragen, ob die gemütsmühlenhaft vorgetragene Hegemonialrolle der weltweiten lingua franca, die ja allen - zumindest in Deutschland - in irgendeiner Phase des Lernens oktroyiert wird, anzweifeln, indem sie fragen, ob nicht der Nutzwert einer Sprache über den Prestigewert zu setzen sei. Schließlich fährt fast jeder (Deutsche, Franzose, Schwede) irgendwann in seinem Leben einmal in das katalanische Sprachgebiet, um Ferien zu machen, kauft beim türkischen oder arabischen Gemüsehändler ein, partizipiert an der deutsch-französischen partnerschaftlichen Freundschaft und ist - gerade im Geburtsland der lingua franca - froh, dass abseits der eigenen unsäglichen gastronomischen Kreationen ein Angebot vorhanden ist, das Urdu, Bengali oder Marathi sprechende Migranten aus Indien, Bangladesch oder Pakistan zubereiten. Der Nutzwert des Englischen geht dabei (außer zugegeben im letzten Fall…) - gegen Null. Prestigewerte des Französischen sind gesunken, die des Katalanischen gleich Null (weil unbekannt), des Türkischen: unter Null (aus den bekannten Gründen), des Urdu, Bengali oder Marathi, dito. Es liegt eine Situation vor, in der Sprachkontakte ohne beteiligte Sprache(n) stattfinden. In diesem Falle ist allerdings weniger der Staat gefordert (wohl aber in der Diversifikation der Sprachen und eventuell positiven Diskriminierung im öffentlichen Leben und in der Schulpolitik), sondern die Eigenorientierung des mündigen Subjekts, das sich fragen muss: „Welche Sprachen kann ich tatsächlich brauchen? “ In Grenzgebieten (EU-Konzept der „Nachbarsprachen“) funktioniert das bisweilen - allerdings oft als Einbahnsprache. So lernen Polen und Tschechen eher Deutsch als umgekehrt, Aranesen beherrschen Französisch als „Hauptverkaufssprache“. In anderen Fällen wird das Problem pragmato-linguistisch gelöst: Man vermischt schlichtweg Sprachen mit wenig Abstand wie die Anrainer der hispanisch-lusischen Trennlinie - sowohl in Europa als auch an den Grenzen Brasiliens zu Argentinien, Paraguay und v.a. Uruguay: Man pflegt hier wie dort ein mehr oder weniger stabiles Portuñol. Joachim Born 218 4. Wikipedia Ein beredtes Beispiel für die Tatsache, dass man sich einmischen kann und (Sprach-)Geschichte mitgestalten kann, ist die weitgehend anarchisch verwaltete Online-Enzyklopädie Wikipedia, in der im Gegensatz zu den altehrwürdigen Lexika wie Brockhaus, Larousse oder Encyclopædia Britannica nicht mehr erlauchte Wissenschaftler und erfahrene redaktionelle Lexikografen die Diktion vorgeben, sondern sich vor allem jüngere Autoren gegenseitig befeuern und auch kontrollieren. Das schließt nicht per se aus, dass auch hier die gesamte Breite der sprachpolitischen Autoritäten - Professoren, Lehrer, Pfarrer, Politiker, Journalisten, Schriftsteller - mitmischen kann, die Meinungshoheit jedenfalls haben jene in diesem Medium nicht mehr. Entsprechend wird auch lamentiert, dass der Manipulierbarkeit Tür und Tor offen stünden. Aber wurde nicht auch höchst offiziell immer wieder sprachpolitisch manipuliert? Warum durften denn Kurden keine Kurden sein, sondern Bergtürken? Weshalb muss man den Bewohnern eines aus der jugoslawischen Erbmasse entstandenen Staates ein Slavovor das Mazedonische stellen und das Land außerdem hinter einem Akronym (FYROM - Former Yugoslav Republic of Macedonia) verstecken? Und um den Blick auf die weiter unten behandelten Beispiele zu lenken: Warum muss man Valencianer gegen Katalanen ausspielen, warum indigene Sprachen herabwürdigen oder warum eine geänderte Fremdsprachennachfrage in Abrede stellen? Wie sehr Wikipedia gerade „kleinere“ Sprachen befördern kann, mag die folgende Tabelle verdeutlichen: Tabelle 1: Quantitative Verteilung von Wikipedia-Artikeln nach Sprachen (Stand 30.5.2007) 10 Nr. Sprache Wiki Artikel Nutzer 1 English en 1 808 072 4 521 082 2 Deutsch de 591 611 405 010 10 Wie schnell sich Wikipedia vergrößert, vermag teilweise die im Anhang platzierte Tabelle 2 verdeutlichen. Angewandte Linguistik als Einmischung 219 Nr. Sprache Wiki Artikel Nutzer 3 Français fr 501 013 256 060 6 Italiano it 303 720 174 633 8 Português pt 261 385 235 299 9 Español es 237 780 415 722 19 Român ro 64 225 35 676 21 Català ca 61 879 6 822 26 Lumbaart lmo 51 285 246 33 Sinugboanong Binisaya (Cebuano) 11 ceb 33 139 266 37 Galego gl 24 226 2 140 45 Euskara eu 18 071 1 265 54 Brezhoneg 12 br 13 972 517 55 Latina la 13 145 2 068 56 Nnapulitano nap 12 468 487 64 Sicilianu scn 9 801 639 70 Walon wa 8 967 258 71 Asturianu ast 8 262 558 72 Piemontèis pms 8 183 153 11 Die Zahl ist beeindruckend, jedoch besagt „Eintrag“ nicht unbedingt, dass eine solche Seite auch mit Inhalt gefüllt ist - gerade beim Cebuano handelt es sich oft um Hülsen (‘stubs’). 12 Bretonisch Joachim Born 220 Nr. Sprache Wiki Artikel Nutzer 73 Occitan oc 8 062 382 77 Krèyol ayisyen hat 7 052 187 81 Aragonés an 5 970 342 87 Corsu co 5 401 244 92 Vèneto vec 4 642 297 107 Nouormand/ Normaund nrm 2 571 121 117 Furlan fur 2 076 235 119 Arpitan frp 1 933 135 124 Líguru lij 1 624 122 129 N huatl nah 1 334 232 135 Dzhudezmo lad 1 115 191 144 Lingala ln 643 129 149 13 mo 401 244 150 Rumantsch rm 397 197 158 Arm-neashce 14 roarup 278 175 163 KiKongo kg 250 96 167 Sardu sc 235 187 13 Moldauisch - diese Version wurde im übrigen geschlossen - Sprachpolitik pur auch in der Wikipedia-Anarchie (aber das wäre ein eigenes Thema). 14 Aromunisch Angewandte Linguistik als Einmischung 221 Nr. Sprache Wiki Artikel Nutzer 171 Emilià eml 209 118 187 Bamanankan (Bambara) bm 134 122 201 Papiamentu pap 68 146 210 Aymar aru ay 45 138 211 Avañe' 15 gn 45 131 Die Tabelle unterstreicht, dass in Ländern mit romanischer Amtssprache Minoritäten zumindest virtuell Raum finden. Nicht immer sind es anerkannte Minderheitensprachen, auch Dialekte - deren Abstand zum Standard oftmals größer ist! - finden hier eine Ausdrucksbasis. Andererseits haben Idiome wie das Bündnerromanische erst spät 16 , das Dolomitenladinische und das Valencianische bis heute noch nicht Versionen in ihrer Sprache durch ihre Repräsentanten anmelden lassen. Ansonsten sind historische Idiome und Ausbausprachen wie Aragonesisch, Asturisch und Galicisch gut vertreten, andere wie Aromunisch, Frankoprovenzalisch, Judenspanisch und Sardisch eher schwach. Besonders bemerkenswert sind die vielfältigen italienischen Varietäten (Emilianisch, Ligurisch, Lombardisch, Neapolitanisch, Piemontesisch und Venetisch). Auch Kreolsprachen wie Haitianisch oder Papiamento hinterlassen ihre Spuren in der virtuellen Enzyklopädie. Groß ist gleichwohl der Nachholbedarf der autochthonen Sprachen der Romania Nova: In der (afrikanischen) Frankophonie finden sich lediglich vereinzelte Beiträge in den Bantuverkehrssprachen Lingala und KiKongo sowie in der Mandesprache Bambara. 17 Die indigenen Sprachen Lateinamerikas sind vor allem in Gestalt der überregionalen Kommunikationsmedien Quechua, Náhuatl, Aymara und Guaraní präsent. 15 Guaraní 16 Zur Dokumentation dieser Entwicklung die auf Portugiesisch dargestellte Tabelle im Anhang. 17 In jüngster Zeit ist z. B. auch Wolof hinzugekommen. Joachim Born 222 5. Ethische Aspekte Bei aller sprachlichen (sprachpolitischen) Demokratie und Anarchie müssen aber auch einige ethische Aspekte berücksichtigt werden: Als Sprachwissenschaftler mit einer Verbundenheit mit und Verantwortung gegenüber Sprechern von Minoritätensprachen findet man sich so gerade in Lateinamerika in einer zwiespältigen Situation wieder. Zum einen möchte man alles Denkbare beitragen, um ein Überleben und einen Ausbau der sprachlichen Vielfalt zu gewährleisten. Zum anderen darf uns philologischer Übereifer nicht dazu verführen, Minderheiten mit Hilfe von ordnungspolitischen Maßnahmen „ihr Glück“ aufzuzwingen und sie gewissermaßen in zooähnlichen Reservaten den Gefahren und Errungenschaften der modernen Gesellschaft zu entziehen. Dass dies zuweilen freiwillig geschieht - wie etwa bei besonders konservativen und daher auch sprachtreuen, religiösen Kleingruppen, die jedwede Neuerung ablehnen -, darf uns nicht dazu verleiten, eine ethnolinguistische Diversität zu oktroyieren. Gleichwohl sollten wir Druck machen und bessere Ausgangsmaterialien fordern. Das heißt in concreto, dass wir darauf dringen sollten, in Volkszählungen möglichst genaue Daten zum sprachlichen Alltag zu erheben. Darauf kann eine Sprachencharta, die das (freiwillige) Recht des Einzelnen auf sprachliche Selbstbestimmung regelt, aufbauen. Wissenschaftler müssen - gewissermaßen parallel zu diesen gesellschaftlich-administrativen Prozessen, die ja nicht von heute auf morgen zu realisieren sind - mit ihren Methoden dazu beitragen, dass politisch untermauerte Desiderata eine gesicherte Datengrundlage erhalten. Dazu gehört die Kleinarbeit im Detail, die Feldforschung, die Corpuserhebung, die computationale Auswertung der gesammelten Daten ebenso wie ein Prozess der Kompromissfindung (so etwa der Ausgleichsdialekt vêneto in Rio Grande do Sul) 18 und die Schaffung von Akzeptanz einer (oft künstlichen) Koiné bei den Multiplikatoren einer 18 Hier wurde auf der Grundlage verschiedener norditalienischer Varietäten eine Schriftsprache entwickelt, die zumindest für die literarische Produktion vorbildhaften Charakter hat. Ansonsten gilt natürlich auch hier, dass es in Minoritätengebieten so viele Meinungen wie Sprecher gibt. Allerdings musste auch hier - vergleichbar dem Rumantsch Grischun - ein Exoglotter den Vereinheitlichungsbemühungen auf die Sprünge helfen: War es in der Schweiz ein Germanophoner, so tat sich im südlichsten Bundesstaat Brasiliens ein polnischstämmiger Priester hervor - die Leistung muss insbesondere unter dem Aspekt gewürdigt werden, dass im Vergleich zur Schweiz keine nennbaren finanziellen Ressourcen zur Verfügung standen (Strawinski 1987). Angewandte Linguistik als Einmischung 223 künftigen Propagierung dieser Sprachen 19 . Letztere müssen erklären können, was der Nutzen einer sprachpolitischen Bestimmung ist. Mit einem Wort: Es ist unethisch, wenn Wissenschaftler einseitig Verantwortung des Staates für seine Minderheiten einfordern, gleichzeitig aber nicht dazu bereit sind, das beizutragen, wozu sie am besten in der Lage sind: den linguistischen Datenapparat zu liefern, um ein Abdriften in reine Folklore zu verhindern. Hier ergeht der Appell an die Interdisziplinarität, denn: Alleine können Linguisten dies nicht verwirklichen. Sie sind aufgerufen, zum einen zu kooperieren mit Ethnologen, Soziologen, Musikologen, Religions- und Agrarwissenschaftlern, Medizinern und ggf. Ethnomathematikern und dies zum anderen in fruchtbarer Kooperation mit den „Kräften vor Ort” umzusetzen: mit Lehrern, Priestern, Schamanen, Umweltaktivisten, Administratoren und - das wird leider allzu oft vergessen - den Sprechern selbst. 6. Drei aktuelle Fallbeispiele 6.1. Valencianisch Das Valencianische spielt in der spanischen Regionalsprachendiskussion eine partikuläre Rolle. Blicken Katalanisch, Baskisch und auch Galicisch auf eine Vergangenheit zurück, die sie als Opfer des Franquismus erscheinen und damit heute schon aus politischer Korrektheitsoptik als legitimiert erscheinen lässt, ist das Valencianische zwar keine Erfindung der Diktatur, aber immer deren besonderen Zuspruchs sicher gewesen, galt es doch, die republikanischen und demokratischen Kräfte, die nicht zu Unrecht hinter dem Katalanischen vermutet wurden, zu spalten und zu schwächen. Nicht umsonst erschienen hier die Klassiker, einst der katalanischen, heute der gesamten Soziolinguistik, von Aracil bis Ninyoles, die im doppelten Sprachkontakt Valencianisch - Kastilisch und Valencianisch - 19 Wie schon in der vorigen Fußnote angerissen, haben Koinéen Akzeptanzprobleme, da im Grunde genommen jeder sich als Opfer sieht, niemand eins zu eins seine Varietät abgebildet sieht. Der größte Fehler ist immer wieder der Oktroi der Koiné - diese wird in Konkurrenz zu den autochthonen Idiomen gesehen, nicht als Ergänzung zur Erleichterung der (schriftlichen) Kommunikation. Oftmals gibt es diese Konkurrenz eigentlich gar nicht: Oder hat etwa das Standarddeutsche die schwyzertütschen Varietäten aus nennenswerten Domänen zurückgedrängt? - Es dürfte eher das Gegenteil der Fall sein! Joachim Born 224 Katalanisch einen doppelten Sprachkonflikt ausmachten. 20 Die Schlussfolgerung der dort tätigen Forscher: „Es gibt keinen Sprachkontakt ohne Sprachkonflikt“ ist später als das schon in Kapitel 1 erwähnte Neldesche Gesetz als einer der meistzitierten Klassiker der Soziolinguistik eingegangen. 21 Die jahrzehntelangen sprachpolitischen Fehden, die im Grunde das postfranquistische Erbe Valencias abbilden (auf der provalencianischen Seite die Epigonen des alten Regimes rund um den Partido Popular 22 , auf der anderen Seite die prokatalanische republikanische Linke aus Sozialisten und Izquierda Unida), konnten erst 2005 durch eine Neufassung der Autonomieverfassung halbwegs befriedet werden. Den Sprachartikel kommentierte El País wie folgt: Se incluye en la reforma estatutaria la Academia Valenciana de la Llengua, entidad que reconoce la unidad lingüística del valenciano y el catalán. Se establece que sus normas serán de obligado cumplimiento para la Administración valenciana. (El País, 26.05.05, 31) Das erschien immerhin als gewichtiger Fortschritt gegenüber der alten Version, die in Artikel 7 sechs Punkte umfasste: 1. Los dos idiomas oficiales de la Comunidad Autónoma son el valenciano y el castellano. Todos tienen derecho a conocerlos y usarlos. 2. La Generalidad Valenciana garantizará el uso normal y oficial de las dos lenguas y adoptará las medidas necesarias para asegurar su conocimiento. 3. Nadie podrá ser discriminado por razón de su lengua. 20 Zu den seinerzeit herausragenden Soziolinguisten gehören auch Badia i Margarit, Reixach und andere, die einem größeren deutschen Publikum durch die von Georg Kremnitz herausgegebene Anthologie Sprachen im Konflikt vertraut wurden (Kremnitz 1979). 21 Der Ausdruck stammt von Kees de Bot. 22 Als Beispiel seien die unterschiedlichen Statements des katalanischen Sozialisten Pasqual Maragall, Präsident Kataloniens, und seines valencianischen Pendants von der konservativen Volkspartei, Francisco Camps, referiert, die diese vor dem Komitee der Regionen der EU äußerten. Während sich Maragall auf ein schlichtes “Avui ja puc parlar català a Europa” beschränkte, strich Camps die „riqueza de unas lenguas autonómicas, autóctonas y reconocidas“, darunter das „valenciano“, heraus. Er hob die Geschichte des Valencianischen hervor: „En valenciano se redactaron las primeras leyes medievales. Ausiàs March, un gran poeta europeo, escribió su poesía en valenciano, así como Joanot Martorell escribió un libro de caballerías europeo, pues el protagonista recorre casi toda Europa: Tirant lo Blanc.” Er vereinnahmte so für das Valencianische ein Werk, das als eines der wichtigsten Stücke der katalanischen Literatur gilt. (La Vanguardia, 17. November 2005, 14) Angewandte Linguistik als Einmischung 225 4. Se otorgará especial protección y respeto a la recuperación del valenciano. 5. La ley establecerá los criterios de aplicación de la lengua propia en la Administración y en la enseñanza. 6. Mediante ley se delimitarán los territorios en los que predomine el uso de una y otra lengua, así como los que puedan exceptuarse de la enseñanza y del uso de la lengua propia de la Comunidad. 23 Heute wird man als engagierter Sprachwissenschaftler vor Ort den Eindruck nicht los, es gebe eine Art „Waffenstillstand“ - offiziell rührt man die Sache nicht zu stark auf, einige Werke zum valencià problematisieren den Konflikt allenfalls rudimentär 24 . Spricht man die Menschen auf die Problematik direkt an, wird einem oftmals (indirekt) klargemacht, dass man sich als Außenstehender - entgegen der Diktion dieses Artikels - nicht einmischen solle, das sei doch eine interne Angelegenheit. Im Falle des Valencianischen ist jedoch eindeutig festzuhalten, dass die beharrlichen Bemühungen der Fachwelt mit dazu beigetragen haben, dass nunmehr auch von offizieller Seite die Einheit von Katalanisch und Valencianisch nicht weiter bestritten wird. 6.2 . Guaraní In Europa hat man sich längst an das Motto gewöhnt, das die Sprachenregelung der Europäischen Union bestimmt: „Jede nationale Amtssprache ist auch Amtssprache der Gemeinschaft“. Trotz aller Klagen - u.a. aus Deutschland -, dass Französisch und - immer mehr! - Englisch den Arbeitsalltag dominierten, gilt die eiserne Regel, dass erstens alle verbindlichen Rechtstexte in allen Amtssprachen vorliegen müssen (alles Originale im Ideologem der EU! ) und zweitens Redner in offiziellen Sitzungen ihre Muttersprache benutzen dürfen. Letzteres wurde früher in alle Amtssprachen simultan gedolmetscht, heute sind aufgrund der gestiegenen Zahl von Amtssprachen (23) und der damit verbundenen exponentiell gestiegenen Zahl von Sprachenpaaren (506) nur noch Übersetzungen in eine reduzierte Zahl von Sprachen üblich. Darüber wird viel polemisiert, auch gelästert - Tatsache bleibt, dass der Europäische Sprachendienst zwar Geld kostet, bei Weitem jedoch nicht der kostspieligste Brocken der Europäischen Integration ist. 23 http: / / www.ua.es/ ugt/ pas/ opoauxadvo/ temario2005/ tema6.pdf 24 Etwa Calatayud et al. ( 5 1998 [1993]), der Diccionario Caramull Avançat Valenciano oder auch Pellicer i Borràs 2007. Joachim Born 226 So weit, so gut! Auch wenn einige Sprachen benachteiligt sind und deren Vertreter lauthals murren - etwa die Katalanen, die verglichen mit Maltesern oder Esten eine vergleichsweise große Sprache darstellen, aber eben in keinem Land nationalen Amtssprachenstatus haben 25 -, auch wenn damit das Problem großer alloglotter exochthoner Sprachen und Völker (v.a. Türkisch und Arabisch, aber auch Chinesisch, Urdu oder Hindi) nicht einmal erwähnt wird, sind wir Europäer stolz auf diese Lösung und neigen dazu, unsere Errungenschaften gerne anderen „verkaufen“ zu wollen. Denn diese offiziell verordnete Vielsprachigkeit könnte nach unserer Vorstellung als Vorbild dienen für andere Institutionen, die zumindest vorgeben, etwas mehr als eine institutionell verankerte Freihandelszone zu sein. Das Bündnis, das am ehesten mit dem Projekt der Europäischen Gemeinschaften vergleichbar ist, das nicht nur Warenaustausch, Abschottung gegenüber Drittmächten und Deregularien für die Wirtschaft predigt, ist der Mercado Común del Sur/ Mercado Comum do Sul (Gemeinsamer Markt des Südens), kurz Mercosur/ Mercosul, ein Zusammenschluss von ursprünglich vier Staaten des so genannten Cono Sur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay), die in ihrem Vertrag von Asunción (1991) als Ziel auch eine Vertiefung der kulturellen Beziehungen festschrieben. Dieses Bündnis strahlt auf die Nachbarn aus - Venezuela trat 2006 bei 26 , die anderen südamerikanischen Staaten sind mit Kooperationsverträgen verbunden. Sprachlich stellte sich die Lage für die Vertrag schließenden Staaten einfach dar. Sie legten im Vertrag von Asunción vom 26. März 1991 - auf Spanisch und auf Portugiesisch - fest: ARTÍCULO 17 Los idiomas oficiales del Mercado Común serán el español y el portugués y la versión oficial de los documentos de trabajo será la del idioma del país sede de cada reunión. ARTIGO 17 Os idiomas oficiais do Mercado Comum ser-o o português e o espanhol e a vers-o oficial dos documentos de trabalho será a do idioma do país sede de cada reuni-o. Es scheint also, als müsste lediglich das Verhältnis zwischen Portugiesisch und Spanisch gelöst werden. Was aber ist mit den indigenen 25 Wohl aber in Andorra, das jedoch nicht Mitglied der EU ist. 26 Allerdings ist die volle Integration des Landes nicht abgeschlossen. Angewandte Linguistik als Einmischung 227 Sprachen? Was mit den alloglotten Zuwanderern? Ein Schema über die möglichen Sprachkonflikte im Mercosur könnte dergestalt illustriert werden: Abbildung 1: Sprachkonfliktsituationen im Mercosur Sprachkonflikt Spanisch - Portugiesisch Mercosur/ -sul - Amtssprachenregelung Verfassungstexte der Mitgliedstaaten Spanisch / Portugiesisch - autochthone Sprachen Spanisch / Portugiesisch - diatopische Varietäten Spanisch / Portugiesisch - diastratische Varietäten Spanisch / Portugiesisch - allochthone Sprachen Autochthone Sprachen - allochthone Sprachen alle Sprachformen - Gruppensprachen (gíria, lunfardo, vesre) Europäische Varietäten - amerikanische Varietäten Brasilianisches Portugiesisch: polyzentrisch Mercosur Viele Entscheidungsträger kennen die multiplen potenziellen Sprachkonflikte nicht, sind daher auf kompetenten Rat angewiesen, den sie nicht immer suchen. Eine Ausnahme ist der bezüglich gesellschaftlicher Benachteiligungen sehr sensible brasilianische Präsident Lula. Er etablierte eine Reihe von Gremien, die ihm in Fragen der autochthonen wie allochthonen Minderheiten zuarbeiten - und für Erstere hatte dies durchaus schon erste Erfolge gezeitigt. Aber auch im Falle des Guaraní wird deutlich, dass aktives Einschreiten etwas bewirken kann. Nach lautstarken Forderungen von Minderheitenvertretern und ihnen wohl gesonnenen Nichtregierungsorganisationen (und auch politischen Institutionen) wurde das Guaraní schließlich als (dritte) offizielle Sprache des Joachim Born 228 Mercosur anerkannt. 27 Bei ihrem 37. Gipfeltreffen am 23. und 24. Juli 2009 in Asunción beschlossen die Präsidenten des Bündnisses diese Aufwertung des autochthonen Idioms. 6.3. Spanisch in Thüringen Ein besonders krasser Fall, der das Eingreifen von Sprachwissenschaftlern erforderlich macht, liegt in Thüringen vor. Dort werden bis heute keine Spanischlehrer ausgebildet, d.h. ein reguläres Staatsexamen existiert nicht, man beschränkt sich vielmehr auf ein paar Modellschulen, in denen Lehrer unterrichten, die entweder importiert werden (was selten der Fall ist angesichts der schlechteren Bezahlung als etwa im Nachbarland Hessen) oder - und das ist weitaus häufiger - in einem Zusatzstudium mit Deputatsminderung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ausgebildet wurden. Immer wieder haben Mitglieder des Lehrkörpers der Universität Jena auf das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage hingewiesen - in einer Magisterarbeit wurde klipp und klar nachgewiesen, das Eltern- und Schülerwünsche das Spanische hinter dem Englischen auf Platz zwei sehen (Szyska 2006). Thüringer Schüler haben dadurch Standortnachteile gegenüber ihren „Konkurrenten“ aus fast allen anderen Bundesländern, die selbstverständlich Spanisch lernen können. 28 Es muss festgehalten werden, dass das Verhalten der Kultusbürokratie eine Verhöhnung des demokratischen Willens ist. Anfragen werden in der Regel mit der Antwort, es bestehe keine Nachfrage, abschlägig beschieden. Natürlich kommen den Kultusbürokratien neue Hochschulhierarchien entgegen, in denen nicht mehr der Fachmann (hier der Hispanist) mit den zuständigen Behörden kommuniziert, sondern dieses - ist er gehorsam - über Dekanat und Präsidium, wahlweise Rektorat abwickelt. Dass dies nicht immer automatisch zu sachdienlichen Lösungen führt, wird kein involvierter Kollege bestreiten wollen. 29 27 Dabei hatte die paraguayische Zeitschrift Takuapu noch zwei Jahre zuvor beklagen müssen: „La esperada ratificación del guaraní como ‘Lengua Oficial del Mercosur’ ha resultado una frustración para los guaranistas, ya que la declaración de los mandatarios de la región habló finalmente solo de una ‘Lengua del MERCOSUR’“. (Takuapu. Literatura - Arte - Humanidades 18, Febrero 2007, 1) 28 Natürlich mit der Einschränkung, dass auch anderswo nicht flächendeckend „sprachliche Demokratie“ praktiziert wird. 29 Daraus könnte man folgern, dass die „Einmischung“ natürlich auch anderenorts zu erfolgen hat. Angewandte Linguistik als Einmischung 229 7. to delat’ - Was tun? Ja, was also tun? Besonders modern ist es nicht, Lenin zu zitieren - auch wenn in der Wirtschaftskrise offenbar einige seiner Rezepte auf einmal nicht mehr völlig obsolet erscheinen… Tatsache ist aber, dass seine sprachpolitische Utopie, die später Stalin ja so gnadenlos kassierte, schon sehr nahe an „moderne“ Vorstellungen heranreichte. So schrieb Lenin 1914 in der Proletarskaja pravda 30 : Es muß sichergestellt werden, daß die Bevölkerung Schulen bekommt, an denen in den lokalen Sprachen unterrichtet wird, und es muß sichergestellt werden, daß in die Verfassung ein Gesetz eingeht, das die Privilegierung irgendeiner Nation und die rechtliche Benachteiligung irgendeiner nationalen Minderheit ausschließt. 31 Das war natürlich noch der revolutionären Begeisterung vor der Regierungsübernahme geschuldet, liefert aber zu den damals ja ausgesprochen nationalistischen, wenn nicht chauvinistischen Einstellungen der Völker einen bis heute gültigen Kontrapunkt. Wie alle Utopien hat auch die Leninsche Vorstellung von Sprachenpolitik und -verteilung zugleich etwas Erstrebenswertes wie rührend Naives. Sie zeigt aber, dass sprachpolitische Fragen natürlich auch Machtfragen sind. Wer gibt schon gerne Privilegien ab? Da wird auch knallhart wirtschaftlich kalkuliert: Die angloamerikanischen Volkswirtschaften sparen bekanntermaßen bis zu drei Prozent ihres BIPs ein, weil sie es sich leisten können, auf Fremdsprachenkenntnisse zu verzichten und die anderen gewissermaßen nötigen, den erfolgreichen sprachlichen Kontakt auf deren eigene Kosten zu garantieren. Das trifft natürlich kleine Sprachen wie das Guaraní noch härter, aber eben auch vergleichsweise wohlhabende Industriestaaten beschränken ihre Lehrerausbildung auf das (schon bezahlte) vorhandene Angebot. Sprachliche Demokratie wird also immer anecken. Zu Recht klang in der Diskussion im Anschluss an den Vortrag auf der Tagung in Rauischholzhausen die Frage an: „Schön und gut, Thüringen mag ja klar sein, aber wie kann man etwas in València oder gar im Mercosur bewirken? “ 32 Auch wenn auf den ersten Blick natürlich das Sprachgebiet der Guaraní weiter weg liegt als die Heimat der benachbarten 30 Ausgabe Nr. 14 vom 18. Januar. 31 Zitiert nach Lenin (1975: 283) in Übersetzung in den wirklich herausragenden Bänden, die Wolfgang Girke und Helmut Jachnow in den 1970er Jahren edierten (Girke/ Jachnow 1974 bzw. 1975). 32 Vor allem der Kollege Reiner Arntz, dem ich dafür zu Dank verpflichtet bin, weil er dadurch wirklich zum Nachdenken an(ge)regt (hat)! Joachim Born 230 Kultusbürokraten, kann hier für Romanisten keine Ausrede gelten: Romanistik ist per definitionem ein internationales Fach, die verbesserten Reise- und Vernetzungsmöglichkeiten machen es leichter als in früheren Zeiten, Kooperationen mit Kolleginnen und Kollegen in den entsprechenden Gebieten zu starten, viele europäische Projekte rufen ja gerade dazu auf. Niemand kann sich heute herausreden, er oder sie habe ja gar keine Möglichkeit, auf Entscheidungsträger einzuwirken. Wir müssen uns aber trauen (oder den Willen entwickeln, tätig zu werden). 8. Schluss Meine Ausgangsthese, Wissenschaftler, in diesem speziellen Falle: Sprachwissenschaftler, müssten sich einmischen, bleibt nach diesen Ausführungen zentral. Als Linguisten können wir die Welt im Prinzip nicht stärker verändern, als das jeder andere auch tun kann. Aber wir müssen unser Wissen dort einbringen, wo wir wohl anderen überlegen sind: im Metier der Sprache und der Maßnahmen, die diese betreffen. Ich habe mit Bedacht drei völlig unterschiedliche Situationen ausgewählt, in denen wir aufgrund unseres Sachverstands die Pflicht haben einzuschreiten. Das gilt zum einen dann, wenn diktatorische Kryptolinguistik auch einen Wechsel des politischen Systems überlebt hat und bis heute eher Ausdruck für einen politischen Standpunkt ist als irgendwie linguistisch begründete Abgrenzung - der Fall des Valencianischen. Das gilt zum zweiten, wenn es offensichtlich eine Tendenz in multilingualen Organisationen gibt, prestigeärmere Sprachen auf die Seite zu schieben - in diesem Falle das Guaraní. Und schließlich muss Schülern und Eltern der Rücken gestärkt werden, wenn eine bornierte Bürokratie und ihre Handlanger schlichtweg einen Bedarf weglügen, der offenkundig vorhanden ist, um einerseits Kosten, andererseits Ärger zu ersparen. Hier, denke ich, darf es für uns kein Zaudern geben - hier ist unser Einschreiten im Sinne von Demokratisierung und Diversifizierung gefordert. Literaturverzeichnis Acord de l’Acadèmia Valenciana de la Llengua (AVL), adoptat en la reunió plenària del 9 de febrer del 2005, pel qual s’aprova el Dictamen sobre els principis i criteris per a la defensa de la denominació i l’entitat del valencià. 11ss. Angewandte Linguistik als Einmischung 231 Born, Joachim (1992, ²1998): Untersuchungen zur Mehrsprachigkeit in den ladinischen Dolomitentälern. Ergebnisse einer soziolinguistischen Befragung (= pro lingua, 14). Wilhelmsfeld: Egert. Calatayud, Ricard/ Ruiz, Francesc/ Sanz, Rosa ( 5 1998, 1993): Guia gramatical per a l'ús de la llengua. Exercicis autocorrectius. València: Tabarca. Diccionari Caramull Avançat Valenciano (2009): Projecte editorial i direcció: Nieves Almarza Acedo/ Concepción Maldonado González. Boadilla del Monte/ Madrid: SM. Girke, Wolfgang/ Jachnow, Helmut (1974): Sowjetische Soziolinguistik. Probleme und Genese (= Scriptor Taschenbücher, Linguistik und Kommunikationswissenschaft, S 17). Kronberg/ Ts.: Scriptor. 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In: Girke, Wolfgang/ Jachnow, Helmut (eds.): Sprache und Gesellschaft in der Sowjetunion. 31 Dokumente aus dem Russischen - ins Deutsche übersetzt und kritisch eingeleitet. Übersetzt von W. Girke, H. Jachnow, W. Jachnow, J. Peters. München: Fink, 282ff. Pellicer i Borràs, Joan Enric (2007): Guia essencial de la llengua. Madrid: Adonay. Strawinski, Alberto Vitor (1987): Dicionário Vêneto Sul·rio·grandense - Português com breves noções gramaticais do Idioma Vêneto Sul·rio·grandense. Porto Alegre: Escola Superior de Teologia/ Caxias do Sul: Editora da Universidade de Caxias. Szyska, Daniela (2006): Spanisch an Thüringer Gymnasien: Eine Studie zum interkulturellen Lernen. Magisterarbeit. Jena: Friedrich-Schiller-Universität. Torrealdai, Joan Mari (1987): Censura y literatura vasca. In: Abellán, Manuel L. (ed.): Censura y literaturas peninsulares (= Diálogos Hispánicos de Amsterdam, 5). Amsterdam: Rodopi, 65-97. Valencià clar que sí. Curs 2004-05. 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In diesem Beitrag möchte ich einen zur Zeit viel diskutierten Teilaspekt des Sprachkontakts aufgreifen - die Anglizismen - und der Frage nachgehen, weshalb der Umgang Frankreichs und Italiens gegenüber dieser Erscheinung unterschiedlich ist. 2. Eine Bestandsaufnahme Hält man sich in Italien und Frankreich auf, so stellt man schnell fest, dass der Umgang mit englischen Lehnwörtern in diesen zwei Ländern sehr verschieden ist. Das ist bereits so bei der Buchung eines Zimmers für den Urlaub. Möchte ein Italiener bei einer Privatperson untergebracht werden, so sagt er: Cerco un bed and breakfast Franzosen dagegen bedienen sich bevorzugt der Ausdrücke: Je cherche une chambre d'hôte oder Je cherche une chambre chez un particulier. Auch das Gefühl der Sprachloyalität scheint unterschiedlich ausgeprägt zu sein. Denn auf die Aussage "Statt sich um den Schutz der Minderheitensprachen zu kümmern, sollte man eher das Italienische bzw. das Französische vor den Anglizismen schützen." reagierten eher die Franzosen als die Italiener bejahend 1 . 1 Diese Frage ist Teil eines Fragebogens, den ich für die Durchführung einer Mikrountersuchung in den Westalpen verwendet habe. Livia Gaudino Fallegger 236 Folgende statistische Daten (adaptiert aus Görlach 2006: 1706) untermauern diese Beobachtungen: Status von 858 weit verbreiteten Anglizismen (%) Voll akzeptiert marginal Summe Nicht bekannt Französisch 16,9 49,2 66,1 33,9 Spanisch 12,1 48,6 60,7 39,3 Italienisch 26,2 43,7 69,9 30,1 Rumänisch 20,4 37,6 58,0 42,0 Deutsch 31,1 55,8 86,9 13,1 Denn aus dem Vergleich von Akzeptanz und Bekanntheitsgrad von 858 weit verbreiteten Anglizismen unter den großen romanischsprachigen Bevölkerungsgruppen geht hervor: 1. dass die Durchlässigkeit für englische Lehnwörter in Italien am größten ist; 2. dass der Anteil voll akzeptierter Anglizismen in Italien deutlich höher als in den anderen romanischen Ländern ist. Empirische Feststellungen dieser Art deuten auf unterschiedliche Traditionen der Sprachpolitik und des Sprachverständnisses hin. Auf diese möchte ich im Folgenden vergleichend eingehen. 3. Französisch/ Englisch 3.1. Der geschichtliche Blickwinkel Der Sprachkontakt zwischen Französisch und Englisch beginnt schon im frühen Mittelalter, als die Normannen im Jahre 1066 England erobern und das Französische somit beinahe bis zu Beginn des 16. Jhs. als prestigeträchtige Zweitsprache neben dem Angelsächsischen dient (Klare 1998). Der Austausch zwischen den beiden Sprachen ist in dieser Zeit ziemlich einseitig, denn das Englische bleibt zuerst einmal Nehmersprache. Natürlich ist damals auch schon das Französische Nehmersprache, allerdings stammt das aufgenommene Wortgut aus dem Italienischen. So wundert es nicht, wenn eine der ersten puristischen Schriften Frankreichs - Deux dialogues du nouveau langage françois italianizé (von Henri Estienne auf 1578 datiert) ein Pamphlet gegen den Einfluss des Italienischen ist. Morbus anglicus? 237 Die erste bedeutende Welle angelsächsischer Entlehnungen 2 erreicht Frankreich im 18. Jh., d.h. in einer Zeit, in der sich das Französische längst als prestigeträchtige Universal- und Bildungssprache etabliert hat. Die Übernahme der Anglizismen steht in Verbindung mit der Bewunderung der Aufklärung für das politische System Englands und die dortige Philosophie 3 . Der Einfluss des englischen Wortschatzes ist derart ausgeprägt, dass sich das Gefühl ausbreitet, man habe es mit einer Krankheit zu tun, was wiederum die Prägung des Anglomanie-Begriffs 4 und die ersten Reaktionen dagegen auslöst. So stammt aus dem Jahr 1757 ein Pamphlet von Fougeret de Monbron mit dem bezeichnenden Titel Préservatif contre l'anglomanie. Der Trend zur Neugestaltung der Machtverhältnisse zwischen Englisch und Französisch verstärkt sich im 19. Jh. Humbley (2002) spricht dabei von einer erneuten Anglomaniewelle. Zu den auslösenden Faktoren zählt er die industrielle Revolution (auf die Lehnwörter aus dem Eisenbahnwesen, der Tuchindustrie, dem Berg- und Maschinenbau zurückgehen) sowie die Bewunderung für den britischen Lebensstil und einige seiner Gewohnheiten; dazu zählen das international wachsende Interesse für bestimmte Sportarten (etwa Tennis, Fußball oder Schwimmen) und die Entdeckung des Tourismus. Inzwischen werden in Frankreich die Stimmen derjenigen immer lauter, die das Englische als eine nationale sowie internationale Bedrohung empfinden. Repräsentativ dafür ist die 1878 erschienene Schrift L'anglomanie dans le français et le barbarisme anglais usité en France von Améro Justin. Wenig später - 1883 − wird die Alliance française gegründet, eine staatliche Einrichtung, die als Vorbote der Frankophoniebewegung verstanden und indirekt auch als erstes Indiz für die kommende Krise des Französischen als internationale Sprache interpretiert werden kann. Im Laufe des 20. Jhs. verliert das Französische endgültig seinen Primat als internationale langue véhiculaire. Parallel dazu wird das britische Englisch in seiner Rolle als Gebersprache vom amerikanischen Englisch überholt. Die unangefochtene Dominanz des Englischen in wirtschaftlich sehr dynamischen und richtungsweisenden Bereichen (Freizeit- und 2 Höfler ( 1979: 568) schreibt: „[…] für fr. anglicisme [ist (Vf.)] die Bedeutung 'façon de parler, locution propre à la langue anglaise qui est transportée dans une autre langue' seit 1652 unzweifelhaft bezeugt.“ 3 Man denke nur an die Lettres sur les Anglais (Voltaire 1734), an die Rezeption der Philosophie Bacons, Hobbes und Lockes sowie an das Echo der revolutionären Bewegungen des 17. Jahrhunderts. 4 Diese Wortschöpfung ist seit 1754 belegt (Rey 2007). Livia Gaudino Fallegger 238 Kulturindustrie, Informatik-, Computer- und Softwareindustrie) sowie in der globalisierten Massenkommunikation löst eine schwer steuerbare Aufnahme englischen Lehnguts aus. Das Englische setzt sich parallel dazu sogar in den ehemaligen Kolonien Frankreichs und in den romanischen Ländern als erste Fremdsprache durch. 3.2. Sprachpolitische Reaktionen In Frankreich wird diese Entwicklung insbesondere seitens des Staates, des akademischen Milieus und der intellektuellen Eliten mit großer Sorge verfolgt (vgl. Meyer 1997). Dabei bildet sich ein Komplex von Ängsten heraus, zu deren Kern die berechtigte Furcht gehört, die Expansion des angloamerikanischen modus vivendi korreliere mit der allmählichen Verdrängung des Französischen und daher auch Frankreichs von der politischen Weltbühne. Darauf reagiert das Land mit der Verabschiedung von Gesetzen zur Einschränkung und Regulierung des fremdsprachlichen Einflusses auf nationaler Ebene und mit der Gründung mehrerer nationaler sowie internationaler Sprachpflegeorganisationen. 1975 wird die Loi Bas/ Lauriol verabschiedet, die im Namen des Verbraucherschutzes und unter Androhung einer Geldstrafe die Verwendung französischer Lexeme anstatt von Xenismen in öffentlichen Texten vorschreibt. Parallel dazu werden Terminologiekommissionen bestellt, denen die Aufgabe zukommt, französische Lexeme zu erarbeiten, welche fachsprachliche Entlehnungen (hauptsächlich Anglizismen) ersetzen sollen. Werden diese Vorschläge in Form eines Erlasses (arrêté de terminologie) im Journal officiel veröffentlicht, finden sie auch Eingang in die Wörterbücher und sind für alle vom Staat abhängigen Institutionen bindend. Da das Gesetz Bas/ Lauriol viel Kritik erntet und weite Sektoren des öffentlichen Lebens immer noch von Anglizismen durchtränkt sind, verschärft der Staat 1994 die bestehende Gesetzgebung durch die Verabschiedung der Loi Toubon. Eine entscheidende Passage dieses Textes lautet: Le recours à tout terme étranger [....] est prohibé lorsqu'il existe une expression ou un terme français de même sens [...] (Meyer 1997: 15). Da allerdings der Conseil constitutionnel gerade diesen Abschnitt als nicht verfassungskonform erklärt, weil er gegen das Prinzip der freien Meinungsäußerung verstößt, kommt die erwünschte Verschärfung auch nach Inkrafttreten der Loi Toubon nicht zustande. Morbus anglicus? 239 Die legislative Sprachlenkung erfährt einen konkreten Niederschlag in den vielen im 20. Jh. gegründeten staatlichen, halbstaatlichen und privaten Sprachpflegeorganisationen und -institutionen zur défense de la langue française, die der Académie française (1635) zur Seite stehen. Dazu zählen unter anderem: • die Association française de normalisation en matière de langage technique (seit 1926); • das Haut comité pour la défense et l’expansion de la langue française, 1966 gegründet, erfährt in den 80er Jahren eine Umbenennung in Commissariat général à la langue française; • der Conseil supérieur de la langue française (seit 1989); • die Commission générale de terminologie et néologie (1996), welche die Funktion hat, die unterschiedlichen Terminologiekommissionen zu koordinieren; • die Délégation générale à la langue française (seit 1989) et aux langues de France (seit 2001). Ihr Ziel ist die Verbreitung des bon usage „dans les domaines de l’enseignement, de la communication, des sciences et des techniques“; sie ist außerdem an der Erarbeitung von Fachwörterbüchern beteiligt; • noch zu erwähnen sind schließlich die Communiqués de mise en garde der Académie française, welche seit 1964 mit erläuternden Zusätzen in der Zeitschrift Défense de la langue française erscheinen. Diesen Organisationen obliegen u.a. normative Aufgaben in Fragen phonetischer, orthographischer und morphologischer Anpassung der Lehnwörter. Außerdem sind sie direkt oder indirekt mit der Bildung von Ersatztermini befasst. Zu den allgemein anerkannten Adaptationsrichtlinien zählen: • die Vermeidung des Fremdwortes, wenn passende Termini bereits vorhanden sind: Beispiele: für stripping (Venektomie): tireveine, démembrement, éveinage, strippage; für computer: ordinateur; für hardware: matériel; • die graphische Integration des Xenismus: télécom (mit zusätzlichen accents aigus) und chronoposte mit Anfügung eines e muet im Auslaut; • die Anpassung der Aussprache: Comeback: Engl. [k U mb é k], Fr. ['k O mbak]; management: Engl. ['m é n ç d J m W nt], Fr. [mana J m A$ ]; Livia Gaudino Fallegger 240 • die Verwendung der französischen Flexionsregel auch für Fremdwörter. D.h. z.B. die Bildung des Plural mit -s, auch dann, wenn das Englische das Flexionsmorphem -es vorsieht (un flash/ des flashs statt flashes; un body/ des bodys statt bodies) 5 ; • die morphologische Anpassung des Terminus an die Wortbildungsregel des Französischen. D.h. in erster Linie Proskription der Abfolge "Determinans/ Determinatum", daher also hommesandwich, navette-spatiale (space-shuttle), écho fantôme (ghost echo) sowie die Substitution fremder Suffixe wie etwa -ing, -er, -ty, -cy durch autochthone. Beispiel: boycottage statt boycotting; footballeur statt footballer. Die Terminologiekommissionen haben seit ihrer Entstehung über 2000 offizielle Ersatztermini geschaffen 6 . Einige der erfolgreichen als auch der misslungenen zeigt folgende Tabelle (vergleiche dazu Humbley 2002): akzept. Termini nicht akzept. Termini microwave micro-ondes football balle au pied half-time mi-temps cash and carry payer-prendre culture shock choc culturel airbag sac gonflable computer ordinateur face lifting lissage on line en ligne hit-parade palmarès Die sprachpflegerische Tätigkeit des Staates wird außerdem durch den öffentlichen Diskurs unterstützt und getragen. Bezeichnend ist diesbezüglich die nachhaltige Resonanz auf die 1964 veröffentlichte Streitschrift Parlez-vous franglais? (René Etiemble) oder die kontroverse Diskussion um Sky Mr Allgood! Parlons français avec Monsieur Toubon, eine 1994 erschienene Persiflage des Toubon-Gesetzes 7 . 5 Gebildete, die des Englischen mächtig sind, geraten bei dieser Empfehlung in Konflikt. 6 Sind die neu geprägten Lexeme (z.B. micro-ondes) Lehnprägungen oder nicht? Beantwortet man diese Frage positiv, tritt der aus französischem Blickwinkel problematische Fall ein, dass auch die Neuschöpfungen weiterhin als eine Subklasse der Anglizismen begriffen werden können. 7 Man beachte, dass allgood die persiflierende Lehnübersetzung des Familiennamens Toubon ist; dieser ist seinerseits ein Homophon zu tout bon, also 'alles gut'. Morbus anglicus? 241 3.3. Auswirkungen der sprachpolitischen Maßnahmen Wie sich die sprachpflegerischen Tätigkeiten des Staates tatsächlich auswirken, ist derzeit noch nicht eindeutig erkennbar. Ihre korrekte Einschätzung setzt als Erstes zuverlässige Daten über die Zahl der tatsächlich aufgenommenen englischen Lehnwörter voraus. Diese können jedoch nur bedingt geliefert werden, weil der Anglizismusbegriff von Arbeit zu Arbeit unterschiedlich weit gefasst wird. Sofern das Hauptaugenmerk auf die französische Pressesprache gerichtet ist, bleibt festzustellen, dass die meisten quantitativ ausgerichteten Untersuchungen − darunter auch die Gießener Dissertation von Scherer (1923) − zu dem Ergebnis kommen, der Anglizismenanteil liege immer unter 5%. Plümer (2000) stellt bei einem Vergleich der französischen mit der deutschen Pressesprache fest, dass die Zahl der verwendeten Entlehnungen im Französischen tatsächlich niedriger als im Deutschen ist (499 gegenüber 1047, Plümer 2000: 270). Betrachtet man Pressesprache als eine Art Fachsprache, so wird Plümers Beobachtung von Görlach 2006 bestätigt. Danach ist nämlich im Französischen die Zahl der entlehnten Fachtermini tatsächlich rückläufig, nicht jedoch die der englischen Wörter in der Allgemeinsprache (Görlach 2006: 1703). Auch fehlen bis dato zuverlässige Erkenntnisse über die Einstellung der Franzosen zur staatlichen Sprachpolitik. Die Daten in Beinke 1990 stützen die Annahme, die Bereitschaft der Franzosen, Sprachgesetze positiv zu bewerten, sei in den 70er und 80er Jahren graduell gestiegen. So hätten sich 80% der Beteiligten an einer SOFRES-Befragung mit dem geplanten Toubon-Gesetz einverstanden erklärt. Entgegen dieser Annahme würden nach Reinke (2006: 471) von 57 befragten Franzosen nur 8 die Verabschiedung der Sprachgesetze begrüßen. Die Ablehnung äußere sich in Kommentaren wie ridicule, inutile, débile et chauvin, c'est empêcher l'évolution, perte de temps. Unklar ist auch das Schicksal der vorgeschlagenen Ersatztermini oder termes officiels. Nur eine kleine Zahl scheint sich problemlos durchzusetzen. Allerdings geht aus Reinkes Untersuchung (2006: 471) hervor, 47,8% ihrer französischen Informanten würden die Ersatztermini den Anglizismen vorziehen. Ist der betroffene Ersatzterminus wie etwa logiciel (‚Software’) auch im frankophonen Kanada verbreitet, dann ziehen ihn sogar 74,8% der befragten Franzosen dem Anglizismus vor. Somit ist das Bild, das sich aus den Untersuchungen gewinnen lässt, eher unscharf. Trotz einer gewissen Sensibilisierung der französischen Livia Gaudino Fallegger 242 Bevölkerung für die Problematik scheint dem Engagement des Staates und der sprachpflegerischen Organisationen der erhoffte Erfolg nicht beschieden. Die Ursache dafür liegt nach manchen Beobachtern darin, dass die Abwehr des franglais eine reine Eliteerscheinung sei (Beinke 1990: 289, Walker 2000: 41-47). Der französische Sprachpurismus sei − so Walker − keine primär sprachliche Erscheinung. Er drücke vielmehr eine soziale Haltung aus, die gekennzeichnet ist durch die Verachtung für allgemeine Verhaltensarten und Trends. Der Ursprung dafür müsse im 17. Jh. gesucht werden, als die puristisch geprägte Sprechsprache des Hofes und die Literatursprache der königlich anerkannten Autoren Vorbilder für den bon usage wurden. Walkers Meinung ist sicherlich plausibel, ihr Erklärungspotential jedoch nicht ausreichend. Der Einfluss des Englischen weist, verglichen mit vergangenen Formen der Interferenz und des Sprachenkontaktes, eigenartige, bislang unbekannte Züge auf, die objektiv betrachtet Auslöser von Unbehagen und Ratlosigkeit sein können. Es handelt sich um ein Massenphänomen, dessen Ausbreitung aufgrund der Digitalisierung der Kommunikation beeindruckend schnell verläuft. Gerade diese Umstände stellen eine Überforderung für die traditionelle Sprachlenkung dar und lösen gleichzeitig bei sprachbewussten Gesellschaftsgruppen das Gefühl der Machtlosigkeit aus. Da die heutigen Kommunikationsmedien als weltweite Multiplikatoren fungieren, verwandeln sich englische Wörter schneller denn je in Internationalismen. Dies wiederum tangiert die Kreativität der Einzelsprache. Denn: wozu die Schaffung von Ersatztermini − wie etwa logiciel oder ordinateur − , wenn die ganze Welt Software und Computer verwendet und sich dabei unkompliziert verständigt? 4. Italienisch/ Englisch 4.1. Der geschichtliche Blickwinkel Der englische Einfluss auf das Italienische geht allein auf Fernkontakt zurück. Bis zum Ende des 17. Jhs. ist die Aufnahme von englischem Wortgut sporadisch und auf punktuelle Ereignisse beschränkt. Dazu zählen etwa politische Beziehungen zwischen den britischen Inseln und der Republik Venedig. Dass Venedig sich im 15. Jh. für die Gründung einer Botschaft in London entscheidet, begünstigt unweigerlich den Sprachkontakt zwischen dem Angelsächsischen und der venezianischen Morbus anglicus? 243 Ausbausprache 8 . Auch spielen Einzelpersonen eine gewisse Rolle. So schreibt der seit 1545 in London lebende Florentiner Petruccio Ubaldini nach seiner Rückkehr die Berichte Relazione d'Inghilterra und Descrizione del Regno di Scozia, welche nicht wenige Wortprägungen zur Bezeichnung typisch angelsächsischer Institutionen enthalten (dazu Cartago 1994). Ausgeprägter wird die Aufnahme englischen Wortguts erst im 18. und 19. Jh. 9 Kennzeichnend für Italien ist allerdings, dass zumindest bis zu Beginn des 19. Jhs. die Aufnahme englischen Wortguts über das Französische verläuft. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass die Rezeption des englischen historischen Romans über französische Übersetzungen der Originaltexte geschieht. Außerdem gilt weiterhin, dass die Mehrzahl der bis zu Beginn des 20. Jhs. neu erworbenen Xenismen französische Lexeme sind. So geht aus einer Untersuchung von Stefania de Stefanis Cicconi (1990: 309-474) hervor, dass noch um die Mitte des 19. Jhs. von allen in den Periodika Mailands enthaltenen Xenismen nur 15% englischen Ursprungs waren. Auch in Italien wird das Französische in seiner Funktion als bevorzugter Wortschatzzulieferer erst im Laufe des 20. Jhs. verdrängt, wobei insbesondere nach dem 2. Weltkrieg die amerikafreundliche Haltung der Italiener die Verlagerung des Einflusses vom angelsächsischen zum amerikanischen Englisch begünstigt. Die anhaltende Bewunderung für den wirtschaftlichen und kulturellen Erfolg der USA, welcher als durchaus nachahmenswert empfunden wird, verwandelt die anfängliche Zurückhaltung der Italiener gegenüber dem Englischen kurzerhand in eine nachhaltige Aufnahmebereitschaft. 4.2. Zur aktuellen Lage Die Zahl der im Italienischen vorkommenden Anglizismen ist bis dato unklar. Nach Pulcini (2002: 155) lassen sich im heutigen Allgemeinwortschatz zwischen 1500 und 2000 integrale Anglizismen zählen. Sie stellt allerdings auch fest, dass unter den 1888 Anglizismen des elektronischen Zingarelli-Wörterbuchs (1996) Lexeme wie film, sport oder bar gar nicht als solche erfasst sind. Die Zahl der Anglizismen steigt auf 2300, wenn, wie in Randos Wörterbuch der Anglizismen (1987), auch 8 Angemerkt sei allerdings, dass als Sprachen der Diplomatie das Mittellatein und das Französische fungierten. 9 Der Begriff anglicismo taucht bereits 1764 in einem Artikel des Aufklärers Giuseppe Baretti für die Zeitschrift La frusta letteraria (N. XXIV) auf (Baretti 1932: 294). Livia Gaudino Fallegger 244 angepasste Formen und Lehnprägungen berücksichtigt werden. Werden darüber hinaus Fachkorpora miteinbezogen, dann ist ein drastischer Anstieg der Zahl zu erwarten. So gehen Pasquarelli und Palmieri (1987) davon aus, dass 30% der Lexeme in den Bereichen Wirtschafts- und Handelssprache Anglizismen darstellen. Als regelrecht von Anglizismen überflutet gelten die Medien- und die Werbesprache. Überraschenderweise bietet das italienische Panorama auch unerwartete Trends. So ist festzustellen, dass in Sparten wie der Informatik oder dem Fußball, deren Fachwortschatz anfangs gänzlich durch integrale Anglizismen abgedeckt wurde, inzwischen unter dem Einfluss der Massenmedien eine Art Rückentwicklung zum Italienischen eingetreten ist, die von der Sprache selbst und nicht von externen Kontrollinstanzen gesteuert wird (vgl. Massimo Fanfani 2002: 224). So sind football, goal, corner, fault, free-kick, offside durch calcio, rete, calcio d'angolo, fallo, calcio di punizione und fuorigioco ersetzt worden. Auch Dubletten sind durchaus verbreitet: display schermo, hard disk disco rigido, laptop portatile, scanner lettore ottico, copyright diritti d'autore, cameraman operatore televisivo, hi-fi alta fedeltà. Vor dem 20. Jh. aufgenommene Entlehnungen wurden immer mehr oder weniger stark phonetisch, graphisch und morphologisch italianisiert. Ein schönes Beispiel liefert folgender Abschnitt aus einem Brief von Giosuè Carducci (1857): „... al caffè avevo un conto di 5 lire, tutto per ponci e rum bevuto in meno di un mese.” Inzwischen ist die Tendenz zur Anpassung rückläufig. Der Rückgriff auf das englische Originalwort ist so ausgeprägt, dass bereits angepasste Lexeme wie etwa ponce/ punch (‚Punsch’) durch das Originalwort ersetzt werden. Die verbreiteten Englischkenntnisse sowie die Übernahme der englischen Wörter über die audiovisuellen Medien dürften hierbei eine Rolle spielen. 5. Italien/ Frankreich: die ungleiche Anglizismenbehandlung Worauf kann die unkontrollierte Aufnahme von englischem Wortgut in Italien zurückgeführt werden, und warum wird dieser Vorgang nicht wie in Frankreich durch Sprachlenkung gesteuert? Die Beantwortung dieser Fragen verlangt die Einbeziehung der italienischen Sprachgeschichte. Bis 1861 ist Italien politisch ein zersplittertes Land. Dies verlangsamt die Bildung einer allgemein akzeptierten überregionalen Sprachvarietät. Die so genannte Questione della lingua, d.h. die Frage nach einer für das Morbus anglicus? 245 ganze italienische Territorium bindenden Distanzsprache, ist im Jahre 1861 weiterhin offen. Die Regierung Italiens, unterstützt von den Intellektuellen der Zeit, darunter auch Alessandro Manzoni, orientiert sich am zentralistischen Sprachmodell Frankreichs. So wie der französische Staat, welcher das Prinzip cuius regio eius lingua (Schmitt 1990: 357) durchsetzt, will auch Italien una d'armi, di lingua e d'altare sein (Manzoni, Marzo 1821). Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass die ersten sprachpolitischen Maßnahmen zur Steuerung fremdsprachigen Einflusses erst nach der Einigung im Jahr 1874 ergriffen werden. Es handelt sich um ein Gesetz, welches Geldstrafen für die Verwendung von Fremdwörtern auf Laden- und Werbeschildern vorsieht. 1877 erscheint Il lessico della corrotta italianità von Fanfani und Arlìa, welche bereits die corruzione della lingua beschwören und eine Säuberung des Wortschatzes vorschlagen. Eine Verschärfung der national bedingten Xenophobie erlebt Italien unter dem Faschismus. Eine von der Regia Accademia d'Italia (1926-1944) dafür eingerichtete Kommission wird mit der Reinigung des Italienischen von fremdem Wortgut und der Schaffung von Ersatzwörtern beauftragt. 10 Der Anachronismus dieses Maßnahmenkatalogs lässt sich erst dann begreifen, wenn die Daten zur Italophonie im 20. Jh. herangezogen werden. Noch nach dem ersten Weltkrieg haben 80% der Italiener einen Dialekt als Muttersprache. Auch noch in den 60er Jahren spricht die Mehrheit der Italiener (ca. 60%) nur einen der vielen Dialekte. Erst in den 90er Jahren ändern sich die Sprachverhältnisse derart, dass das Italienische wirklich die Muttersprache der meisten Italiener ist. Die Sprachpolitik Mussolinis diente somit der Befriedigung nationalistisch geprägter Bestrebungen der italienischsprechenden und faschistisch orientierten Elite und nicht dem Schutz einer sonst von der Masse kaum benutzten Sprache. Mit der Zerschlagung des Faschismus schält sich auch der Wille nach einer Demokratisierung der sprachlichen Verhältnisse heraus. Dabei setzt sich die Überzeugung durch, die natürliche Sprachentwicklung sei der bewussten Sprachlenkung vorzuziehen (Mulja i 1988: 298). Italiens Haltung gegenüber dem englischen Einfluss wäre allerdings nur unvollständig beschrieben, wenn nicht erwähnt würde, dass seit ca. 15 Jahren Sinn und Funktion puristischer Maßnahmen auch in Italien thematisiert werden. Diese Wende, die ohne die Durchsetzung des italiano 10 Einige Ersatzwörter haben sich tatsächlich durchgesetzt: budget/ bilancio, grapefruit/ pompelmo. Die meisten setzen sich nicht durch: fiorellare für flirtare, mossa für start. Livia Gaudino Fallegger 246 popolare als Landessprache undenkbar wäre, betrifft allerdings nur einen kleinen Personenkreis (dazu gehören Teilbereiche der akademischen Welt, einige Intellektuelle, die Accademia della Crusca, Repräsentanten des Kultus- und Bildungsministeriums, sowie Vertreter der Übersetzerorganisationen). Als Ansporn dazu diente der von Arrigo Castellani 1987 verfasste Artikel "Morbus anglicus". In diesem Skript prophezeit Castellani den Niedergang des italienischen Sprachsystems, falls regulierende Maßnamen nicht schnellstens eingeleitet werden. Castellanis Beitrag hat eine nachhaltige und kontroverse Debatte ausgelöst. Die akademische Welt hat Castellanis Thesen eher zurückhaltend aufgenommen. Die meisten Linguisten, dazu zählen Persönlichkeiten wie Nencioni oder de Mauro, sehen im Englischen keine Bedrohung. Vielmehr herrscht die Überzeugung vor, dass die Durchlässigkeit des Italienischen für fremdes Wortgut sowie die Fähigkeit dieser Sprache, solche Fremdwörter kreativ zu assimilieren, als ein Indiz ihrer Vitalität zu interpretieren ist. Beifall erhielt dagegen Castellani in jenen Kreisen der Gesellschaft, die sich − wie etwa die Übersetzer (vgl. Cappelli 2005) − eindeutige Richtlinien wünschen. Auch manche Vertreter der politischen Welt fühlten sich von Castellanis Artikel angesprochen. Eine bislang unbekannte Intensivierung hat die Diskussion um die Sprachpflege erfahren, als Andrea Pastore, ein Senator der vorletzten Berlusconi-Regierung, 2003 dem Parlament den Vorschlag unterbreitete, einen mit dem Französischen Conseil supérieur de la langue française vergleichbaren Consiglio superiore della lingua italiana zu gründen. Diese direkt dem Ministerpräsidenten unterstellte Institution hätte als Aufgaben die Aufwertung und den Schutz des Italienischen in Italien und im Ausland, die Modernisierung und Überwachung der Sprache in der staatlichen Verwaltung, die Schaffung neuer, vor allem fachsprachlicher Terminologien und die Steuerung des fremdsprachlichen Einflusses in den Medien, in der Wirtschaft und in der Werbung. Der Ausgang dieses Projektes ist momentan noch offen. Fest steht, dass neben erklärten Gegnern des Consiglio, wie etwa Leonardo Maria Savoia (Savoia 2004), welcher sogar die Entstehung einer dittatura linguistica fürchtet, auch Befürworter zu finden sind, welche − wie Luca Serianni (Serianni 2006) − , durchaus bereit sind, eine derartige Institution zu unterstützen, sofern diese nicht als verlängerter Arm der Politik dient. Was allerdings von beiden Parteien vehement abgelehnt wird, ist die systematische Verwendung des Englischen in bestimmten naturwissenschaftlichen Disziplinen. Als negatives Beispiel wird die Entscheidung Morbus anglicus? 247 von Oslo zitiert, die Veranstaltungen der medizinischen Fakultät auf Englisch statt auf Norwegisch anzubieten. 6. Fazit Ob der englische Einfluss als eine gefährliche Krankheit oder eine unbedeutende Malaise zu gelten hat, ist eine Frage, die sich durch rein rationale systemlinguistische Überlegungen nicht beantworten lässt. Dass das Toleranzniveau gegenüber angloamerikanischem Sprachmaterial in Italien höher als in Frankreich ist, lässt sich in erster Linie sprachhistorisch begründen. Die Etablierung des Italienischen als Landessprache ist noch zu jung, als dass ihr die politische, akademische und intellektuelle Welt insgesamt mit unbegrenzter Sprachloyalität begegnen könnten. Die jahrhundertelange sprachliche Zersplitterung des Landes sowie die Erfahrung des Faschismus erschweren die Akzeptanz zentral gesteuerter Sprachlenkung. Dem Italienischen fehlt heutzutage noch jene Aura, die breiten Bevölkerungsgruppen puristische Anstrengungen wie die Bekämpfung der Xenismen plausibel erscheinen ließen. Im Unterschied zu den Franzosen, bei welchen die Verwendung englischen Sprachguts einen unangenehmen ideologischen Paradigmenwechsel evoziert (von der liberté, égalité, fraternité zum rein kapitalistischen way of life der USA), empfinden Italiener, welche über keine eigenen soziopolitischen Alternativmodelle verfügen, gar kein Unbehagen dabei. Andererseits muss festgehalten werden, dass die inzwischen erreichte Stabilisierung des Italienischen und die immer spürbarer werdende Konkurrenz anderer Sprachen auf dem europäischen Parkett allmählich, wenn auch nur bei einer Minderheit, einen gewissen Stimmungsumschwung auch in Italien auslösen. Die vehemente Reaktion des französischen Staates gegenüber dem Angloamerikanischen wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass der Kampf um die Reinheit des Französischen und um den Erhalt seiner internationalen Geltung Ausdruck eines tiefergehenden Antagonismus ist. Die glorreiche Vergangenheit der französischen Sprache, vor allem ihre jahrhundertelange Tradition als supranationale Kultursprache, ist zu tief im nationalen Sprachbewusstsein verankert, als dass man stillschweigend die Hegemonie des Englischen in Kauf nehmen würde. Livia Gaudino Fallegger 248 Literaturverzeichnis Améro, Justin (1878): L'anglomanie dans le français et les barbarismes anglais usités en France. Paris: Baudry. Beinke, Christiane (1990): Der Mythos 'franglais'. Zur Frage der Akzeptanz von Angloamerikanismen im zeitgenössischen Französisch. Frankfurt et al.: Lang. 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Einleitung Ein wichtiger Zweig der Angewandten Linguistik ist traditionell die Lexikographie, eine Disziplin, die nach Quemada (1990: 869f.) zwei unterschiedliche und einander doch ergänzende Teilbereiche umfasst: zum einen die praktische oder angewandte Lexikographie, die in der Herstellung von Wörterbüchern mit Hilfe spezifischer lexikographischer Techniken besteht; zum anderen die theoretische Lexikographie oder Metalexikographie, d.h. die wissenschaftliche Beschäftigung mit Wörterbüchern, bspw. in Form von Wörterbuchkritik, Wörterbuchtypologie oder Wörterbuchbenutzungsforschung. Die Metalexikographie leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, dass Erkenntnisse der modernen Linguistik Eingang in die praktische Lexikographie finden, woraus sich wiederum eine positive Rückkopplung auf die Metalexikographie selbst ergibt (cf. ibid.: 885) 1 . Im Folgenden soll die aktuelle Entwicklung allgemeiner einsprachiger Wörterbücher des Französischen kritisch beleuchtet werden. Im Mittelpunkt dieser metalexikographischen Untersuchung steht die vergleichende Analyse der Makro- und Mikrostruktur sowie des Gebrauchswerts ausgewählter Printwörterbücher und elektronischer Wörterbücher, da Letztere seit der Jahrtausendwende zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die typologische Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands basiert auf der von Hausmann (1989b: 968-981) vorgeschlagenen Wörterbuchtypologie, in der allgemeine einsprachige Wörterbücher in zwei Untertypen unterteilt werden: erstens Definitionswörterbücher i.e.S. oder Sprachwörterbücher, zweitens enzyklopädische Wörterbücher (cf. auch Hausmann 1 Es handelt sich bei diesem Beitrag um die überarbeitete Fassung meines Habilitationsvortrags, gehalten am 21.01.2009 am Fachbereich Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen. Christina Ossenkop 252 1977: 5f.; Quemada 1990: 874f.) 2 . Beide Untertypen werden in der nachfolgenden Untersuchung berücksichtigt, allerdings ausschließlich solche Wörterbücher mit alphabetisch angeordneter, extensiver Makrostruktur (cf. Hausmann 1977: 4ff.). Zu klären sind insbesondere folgende Fragestellungen: - Welche makro- und mikrostrukturellen Unterschiede bestehen zwischen den wichtigsten allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Französischen? - Welchen Nutzungsmehrwert haben die aktuellen elektronischen Wörterbücher des Französischen ggfs. gegenüber traditionellen Printausgaben, insbesondere mit Blick auf ihren Einsatz in der lexikologischen Forschung? Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Aspekt der Wörterbuchbenutzung. Zunächst müssen allerdings einige metalexikographische Grundbegriffe geklärt werden, bevor im Anschluss die Makro- und Mikrostruktur der folgenden Printwörterbücher analysiert wird: Mehrbändige Wörterbücher: - AF 9 = Académie française (1992-), Dictionnaire de l’Académie française, 9 e édition, Tome 1: A - Enz, Paris, Imprimerie Nationale, 1992; Tome 2: Éoc - Map, Paris, Imprimerie Nationale/ Ed. Librairie Arthème Fayard, 2000 3 . - GR 2001 = Rey, Alain (ed.) ( 2 2001), Le Grand Robert de la langue française. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française de Paul Robert, 6 vols., Paris, Dictionnaires Le Robert. - TLF = Imbs, Paul/ Quemada, Bernard (eds.) (1971-1994), Trésor de la langue française. Dictionnaire de la langue française du XIXe et du XXe siècle, 16 vols., Paris, Editions du Centre National de la Recherche Scientifique. 2 Einsprachige enzyklopädische Wörterbücher, die „in gleichem Maße auf Sach- und Sprachinformationen Wert leg[en] und den zentralen Wortschatz umfa[ssen] [...]“, sind nach Pitzek (1999: 3f.) in der deutschen Lexikographie nicht vorhanden, haben aber in der französischen Lexikographie einen hohen Stellenwert. 3 In einigen Fällen wurde zusätzlich die 8. Auflage des Akademiewörterbuchs (cf. Académie française 1931-1935) einbezogen, da von der 9. Auflage bisher nur zwei Bände vollständig veröffentlicht wurden. Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 253 Einbändige Wörterbücher: - PL 2009 = Jeuge-Maynart, Isabelle et al. (eds.) (2008), Le Petit Larousse Illustré en couleurs, édition 2009, Paris, Larousse. - PR 2008 = Rey-Debove, Josette/ Rey, Alain (eds.) (2007), Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, nouvelle édition millésime 2008, Paris, Dictionnaires Le Robert. Im Anschluss daran wird der Nutzungsmehrwert elektronischer Wörterbücher im Vergleich zu den zugrundeliegenden Printversionen einer kritischen Prüfung unterzogen. Die sich daraus ergebenden Desiderata werden abschließend mit den Ergebnissen einer unter Studierenden durchgeführten Befragung verglichen. 2. Grundbegriffe der Metalexikographie Zu den wichtigsten metalexikographischen Grundbegriffen, die für eine vergleichende Wörterbuchanalyse relevant sind, gehören die der Makro- und Mikrostruktur eines Wörterbuchs. Die Makrostruktur ist nach Wiegand (1989a: 372) „eine Ordnungsstruktur, deren Trägermenge eine (nichtleere, endliche) Menge von Leitelementträgern eines lexikographischen Nachschlagewerkes ist“, d.h. sie besteht aus einer nach einem bestimmten Leitelement - bspw. dem Alphabet - geordneten Folge von Wörterbucheinträgen (cf. auch Hausmann 1977: 3). Unter der Mikrostruktur versteht Wiegand (1989b: 443) hingegen diejenige Ordnungsstruktur, die festlegt, welche Angaben aus welchen Angabeklassen in welcher Reihenfolge der Artikel enthält. Die Mikrostruktur kann daher als besonders ausgezeichnete Teilstruktur der vollständigen Artikelstruktur [...] gelten, da sie - neben der Makrostruktur - die ‚Informationsverteilung’, d.h. die Verteilung der Angaben über den Wörterbuchgegenstandsbereich regelt [...] 4 . 4 Im Kontext der Modellierung einer lexikographischen Datenbasis unterscheidet Müller-Spitzer die Mikrostruktur darüber hinaus von der Inhaltsstruktur eines Wörterbuchartikels: Eine konkrete hierarchische Inhaltsstruktur (auf der Ebene der Datenbasis) könne unterschiedlich viele konkrete hierarchische Mikrostrukturen (auf der Ebene der Präsentation, z.B. des gedruckten Wörterbuchs) hervorbringen (Müller-Spitzer 2006: 91ff.). Christina Ossenkop 254 Sowohl die Makroals auch die Mikrostruktur weisen Zugriffsstrukturen auf, die gemeinsam den äußeren und inneren Suchpfad innerhalb des Wörterbuchs bilden. Die Makrostruktur verfügt über eine unterschiedliche Anzahl an äußeren Zugriffsstrukturen, die den Wörterbuchbenutzern das systematische Suchen der Wörterbucheinträge ermöglichen. Hat ein Wörterbuch nur eine äußere Zugriffsstruktur, handelt es sich um ein monoakzessives Wörterbuch. Lässt sich dagegen auf den gleichen Datenbestand auf unterschiedliche Weise zugreifen - z.B. über das Wörterverzeichnis und ein zusätzliches Register -, spricht man von einem polyakzessiven Wörterbuch. Demgegenüber verfügt die Mikrostruktur eines Wörterbuchs über eine innere Zugriffsstruktur, deren Kenntnis den Benutzern ermöglicht, systematisch nach Angaben innerhalb des Wörterbuchartikels zu suchen (cf. Wiegand 1989a: 393ff.). Zu den Informationen, die in der Regel von einem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch bereitgestellt werden, gehören u.a. Angaben zur Wortbedeutung, Etymologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik. Zu den wichtigen Zugriffsmöglichkeiten gehören neben der alphabetischen Makrostruktur die Querverweise (cf. Quasthoff/ Wolff 1999: 2, sowie Mühlschlegel/ Ahlers 2004: 80). Nun haben unterschiedliche Wörterbuchbenutzer auch unterschiedliche Nutzungs- und Zugriffsbedürfnisse. Studierende des Französischen, die einsprachige Wörterbücher überwiegend als Nachschlagewerke konsultieren, suchen darin voraussichtlich andere Informationen als Sprachwissenschaftler, die lexikologische Untersuchungen durchführen möchten. Die Mikrostruktur eines allgemeinen einsprachigen Wörterbuchs sollte daher in jedem Fall eine klare hierarchische Bedeutungsgliederung aufweisen und typographisch übersichtlich gestaltet sein, um den Zugriff auf die für die jeweilige Nutzergruppe relevanten Informationen zu erleichtern. 3. Die Makro- und Mikrostrukturen der ausgewählten Printwörterbücher Im Folgenden werden exemplarisch einige Charakteristika der Makro- und Mikrostruktur der ausgewählten Printwörterbücher aufgezeigt. 5 5 Die für die Wörterbücher verwendeten Siglen sind in der Bibliographie verzeichnet. Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 255 3.1. Die Makrostruktur der ausgewählten Printwörterbücher Die untersuchten Wörterbücher unterscheiden sich u.a. deutlich in ihrer Nomenklatur. Das umfangreichste Werk ist der 16-bändige TLF mit insgesamt mehr als 100.000 verzeichneten Lemmata, gefolgt vom 6-bändigen GR mit gut 75.000 Einträgen. Die einbändigen Wörterbücher PR und PL liegen mit 60.000 bzw. 59.000 Stichwörtern fast gleich auf, während das dreibändig angelegte französische Akademiewörterbuch den geringsten Lemmabestand aufweist: Die bereits erschienenen Bände 1 und 2 enthalten rund 25.500 Stichwörter, geplant sind etwa 45.000 6 . Alle untersuchten Wörterbücher haben eine initialalphabetische, und zwar überwiegend eine glattalphabetische Makrostruktur. Diese zeichnet sich nach Wiegand dadurch aus, daß jeder Wörterbuchartikel genau einen Textblock bildet, so daß die Abfolge der Textblöcke zugleich die der Wörterbuchartikel ist, und das gesamte Wörterbuchverzeichnis von genau einer (striktalphabetisch geordneten) vertikalen Lemmareihe durchzogen wird, die vom ersten bis zum letzten Lemma reicht (Wiegand 1989a: 383, 385) 7 . Einzig der TLF ist gemäßigt nestalphabetisch strukturiert: Bei dieser Anordnungsform können mehrere Wörterbuchartikel zu einem einzigen Textblock gruppiert werden, wobei es unter den Artikeln mindestens einen mit einem Nestlemma gibt, d.h. mit einem Lemma, „das nicht alphabetisch eingeordnet ist“ (ibid.: 391). In Einzelfällen ist die nestalphabetische Anordnungsform auch im GR zu finden, z.B. werden einige Partizipien als Untertextblöcke zum jeweiligen Infinitiv gruppiert. Insbesondere bei nestalphabetischer Anordnungsform stellt sich die Frage nach den äußeren Zugriffsstrukturen, denn die Nestlemmata müssen von den Wörterbuchbenutzern auch gefunden werden können. Der 6 Das Akademiewörterbuch wird seit 1993 vorab in einzelnen Faszikeln im Journal Officiel veröffentlicht, sodass im Zuge der Fertigstellung der drei Bände Korrekturen bereits eingearbeitet werden. 1986 veranschlagte der damalige Ständige Sekretär der Akademie 12 Jahre für die Veröffentlichung des gesamten Wörterbuchs, es wurden jedoch bereits 16 Jahre für die Publikation der Bände 1 und 2 benötigt (cf. AF 9 , tome 1: III). Das jüngste Faszikel (poursuivre à préside) ist im Journal Officiel n°. 7 vom 15. April 2010 erschienen, d.h. die Faszikel, die zum Band III zusammengefasst werden, umfassen bisher den Lemmabestand von maquereau bis préside (cf. Literaturverzeichnis (im Folgenden abgekürzt als LV) 4, Académie française). 7 Sie unterscheidet sich dadurch von der nischenalphabetischen Anordnungsform, die aus „wenigstens zwei, höchstens aber endlich vielen, striktalphabetisch geordneten Wörterbuchartikeln (den Nischenartikeln) [besteht], die zu genau einem Textblock gruppiert sind“ (Wiegand 1989a: 388), und von der nestalphabetischen Anordnung. Christina Ossenkop 256 GR ist monoakzessiv, d.h. auf den Lemmabestand des alphabetischen Wörterbuchteils kann ausschließlich mit Hilfe dieses alphabetischen Wörterbuchteils zugegriffen werden, wobei alle Nestlemmata durch Untertextblöcke typographisch hervorgehoben wurden. Anders ist die Situation im TLF: Dieses Wörterbuch, das eine deutlich höhere Anzahl an Nestlemmata aufweist, hat zumindest in den Bänden IV-XVI eine polyakzessive Zugriffsstruktur, d.h. auf den Lemmabestand kann zum einen über den alphabetischen Wörterbuchteil, zum anderen über ein Register zugegriffen werden, in dem die Nestlemmata verzeichnet sind (cf. dazu auch ibid.: 400ff.) 8 . Es stellt sich nun die Frage, welche sprachlichen Einheiten in den untersuchten Wörterbüchern lemmatisiert werden. Die fünf Werke unterscheiden sich beispielsweise im Hinblick auf die Aufnahme von Regionalismen (diese werden im AF vollständig ausgeklammert), Xenismen und Fachwörtern. Hier nimmt das AF nur diejenigen Lexeme auf, die bereits Teil des allgemeinen Wortschatzes sind bzw. für die kein französisches Äquivalent existiert (cf. AF 9 , tome 1: III), es ist aber, wie ich anhand der Belegstrecke CAC/ CAD untersucht habe, nicht merklich restriktiver als die vom Umfang her vergleichbaren Wörterbücher PL und PR (dies gilt analog für Substandardlexeme) 9 . Im TLF und GR ist die Anzahl an Xenismen, Fachwörtern und Substandardlexemen (bzw. fachspezifischen und nicht standardsprachlichen Verwendungsweisen) aufgrund des umfangreicheren Lemmabestandes naturgemäß deutlich höher als in den anderen drei Werken. Auch in Bezug auf die Lemmatisierung von Mehrwortlexien und festen Fügungen lassen sich Unterschiede zwischen den einzelnen Wörterbüchern feststellen. Mehrwortlexien und feste Fügungen können nämlich in Abhängigkeit vom Grad ihrer Lexikalisierung entweder als Volllemmata der Makrostruktur zugewiesen werden oder der Mikrostruktur einer der enthaltenen lexikalischen Einheiten, wobei die Lemmatisierung von Wörterbuch zu Wörterbuch variiert und nicht in jedem Fall ein Verweis unter dem anderen möglichen Stichwort vorhanden ist. Die erstgenannte Lösung wird von allen Wörterbüchern mit Ausnahme des AF bei 8 Der PL und das AF haben ebenfalls eine polyakzessive Zugriffsstruktur, weil auf Lemmata, bei denen es eine vom Conseil supérieur de la langue française empfohlene orthographische Variante gibt, zusätzlich über ein Register zugegriffen werden kann. 9 Maurice Druon, 1992 amtierender Ständiger Sekretär der Akademie, schreibt diesbezüglich im Vorwort zum ersten Band des AF: „nous poursuivons notre chemin entre les deux haies épineuses du purisme et du laxisme“ (cf. ibid.: VI). Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 257 pomme de terre gewählt, die letztgenannte bei cas de figure und chevalier de la triste figure. Mit Blick auf die äußeren Zugriffsstrukturen der Wörterbücher heißt dies, dass man gegebenenfalls unter mehreren Stichwörtern nachschlagen muss, bevor man das gewünschte Ergebnis findet. 10 3.2. Die Mikrostruktur der ausgewählten Printwörterbücher Auch in der Ausführlichkeit ihrer Mikrostruktur unterscheiden sich die fünf untersuchten Printwörterbücher beträchtlich. 11 Vergleicht man zum Beispiel den Artikel cadre im PL und im PR, so fällt Folgendes auf: Cadre wird im PL zweimal lemmatisiert: cadre 1 in der Bedeutung ‚Gegenstand, der etwas einrahmt’ oder ‚Situation, die etwas/ jmd. umgibt’, cadre 2 in der Bedeutung ‚Person in leitender Position’. Der PL weist zwei der Signifikatvarianten somit als Homonyme der Makrostruktur zu, während der PR, wie im Übrigen auch alle anderen untersuchten Wörterbücher, cadre nur ein einziges Mal lemmatisiert und alle Signifikatvarianten als polyseme Verwendungsweisen in die Mikrostruktur einordnet (cf. PR 2008 und PL 2009, s.v. cadre). Beide Artikel sind zudem unterschiedlich lang, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass im PR alle Verwendungsweisen des Lexems durch Beispiele, typische Kollokationen und/ oder Zitate illustriert werden. Im PL wird dagegen lediglich die zweite Verwendungsweise von cadre 1 - „Ce qui borne, limite l’action de qqn, de qqch [...]“ - nebst der ihr untergeordneten festen Fügung dans le cadre de durch jeweils ein Beispiel gestützt (cf. ibid.). Die Ebene der Syntagmatik sowie des Gebrauchs wird somit im PL kaum berücksichtigt. Gleiches lässt sich für die Ebene der Paradigmatik sagen: Im PR finden sich im Artikel cadre insgesamt 12 durch einen Pfeil gekennzeichnete Verweise auf bedeutungsähnliche lemmatisierte Lexeme. Im PL ist dagegen kein einziger Verweis unter cadre 1+2 enthalten (cf. ibid). Was die Anordnung der einzelnen Verwendungsweisen betrifft, so folgt der PR einer klaren semantischen Gliederung: Durch römische Zif- 10 Gleiches gilt im Übrigen für Signifikantvarianten. 11 Als Lemmaangaben sind in allen fünf Wörterbüchern grammatische Informationen zur Wortart und zu Unregelmäßigkeiten in der Verbkonjugation zu finden. Mit Ausnahme des AF enthalten alle untersuchten Wörterbücher darüber hinaus weitere relevante grammatische Informationen, bspw. zur Pluralbildung von Komposita. Angaben zur Aussprache sind im AF und im PL nur sporadisch enthalten, in den drei anderen Wörterbüchern in jedem Wörterbuchartikel. Des Weiteren enthalten alle Wörterbücher Hinweise zur Etymologie, die sich in ihrer Ausführlichkeit allerdings stark voneinander unterscheiden. Christina Ossenkop 258 fern sind die drei Hauptverwendungsweisen gekennzeichnet: I. cadre im konkreten Sinn (‚Gegenstand, der etwas einrahmt’), II. cadre im übertragenen Sinn (‚Situation o.ä., die etwas/ jmd. umgibt’), III. cadre bezogen auf Personen in leitender Position. Diese Hauptverwendungsweisen werden mit Hilfe arabischer Ziffern, die zusätzlich durch ein quadratisches Aufzählungszeichen markiert werden, weiter untergliedert, wobei an erster Stelle die jeweilige Grundbedeutung genannt wird, die weiteren Verwendungsweisen chronologisch nach dem Erstbeleg geordnet werden. Mehrwortlexien wie cadre de bicyclette, cadre de vie oder cadre de réserve werden ihren übergeordneten Verwendungsweisen zugeordnet und durch einen Spiegelstrich oder eine Raute vom Fließtext abgesetzt: PR 2008: CADRE I. ‚Gegenstand, der etwas einrahmt’ 1. ‚Rahmen (aus Holz, Metall etc.)’ 2. ‚Koje’ (Fachterminus der Seefahrt) 3. ‚Gestell, Einfassung’ (Technischer Fachterminus) cadre de bicyclette, de moto ‚Fahrrad-/ Motorradrahmen’ cadre de déménagement ‚Umzugscontainer’ cadre mobile ‚Kreuzspule; Rahmenantenne’ 4. ‚Frame’ (Fachterminus der Informatik) II. ‚Situation o.ä., die etwas/ jmd. umgibt’ 1. ‚Umgebung’ cadre (de vie) ‚Lebenssituation, Lebensbedingungen’ ‚(soziale, psychologische, juristische u.a.) Rahmenbedingungen’ 2. ‚Plan, Entwurf, Handlungsrahmen (eines Romans etc.)’ 3. Le cadre de III. ,Person in leitender Position’ 1. ‚milit. Führungsstab, Kader’ cadre de réserve ‚Reservekader’ cadre sédentaire ‚Bodenpersonal’ (Fachterminus der Luftfahrt) - Cadre noir ‚Lehrkörper der Nationalen Reitschule von Saumur’ 2. ‚Stellenplan’ 3. ‚Unternehmensleitung, leitender Angestellter’ Der PL ist in seiner Inhaltsstruktur weniger klar: cadre 1 wird in insgesamt sechs durch arabische Ziffern gekennzeichnete Verwendungsweisen unterteilt: Ziffer 1, 4, 5 und 6 beziehen sich auf cadre mit konkreter Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 259 Bedeutung (‚Gegenstand, der einrahmt’), wobei 4 und 5 zusätzlich durch Buchstaben unterteilt sind. Ziffer 2 und 3 verweisen dagegen auf übertragene Bedeutungen von cadre, darüber hinaus wird unter Ziffer 2 die feste Fügung dans le cadre durch eine Raute markiert: PL 2009: cadre 1 : 1. ‚Holz-/ Metallrahmen’ 2. ‚Rahmenbedingungen, Handlungsspielraum’ dans le cadre 3. ‚Umgebung, Situation’ 4. a) ‚Fahrradrahmen’ b) ‚Gerüst im Bergwerk’ 5. a) ‚Umzugscontainer’ b) ‚Bienenwaben’ 6. ‚Frame’ Im Artikel cadre 2 werden zuerst die allgemeinsprachlichen Verwendungsweisen ‚leitender Angestellter’ und ‚Person mit Leitungsfunktion’ angegeben, danach die fachsprachlichen Verwendungsweisen beim Militär: ‚Reservekader’, Cadre noir. PL 2009: cadre 2 : 1. ‚leitender Angestellter’ 2. ‚Person mit Leitungsfunktion’ MIL. 1. ‚Reservekader’ 2. ‚Schwarzer Kader: Lehrkörper der Nationalen Reitschule von Saumur’ Die Reihenfolge der Verwendungsweisen wird im PL somit offensichtlich nicht durch die Datierung der Erstbelege und historische Bedeutungsfiliation bestimmt, sondern basiert auf Kriterien, die nicht explizit gemacht werden. Zu vermuten ist, dass die geschätzte Verwendungshäufigkeit ausschlaggebend für die Reihenfolge war. Beim direkten Vergleich der Artikel cadre im PR und PL lässt sich also erstens feststellen, dass der PR über eine wesentlich reichhaltigere Mikrostruktur verfügt (bezogen auf syntagmatische und paradigmatische Angaben, Beispiele, Zitate, Verweise, ...) und dass diese Mikrostruktur zweitens nach semantischen Prinzipien klar gegliedert ist, d.h. die innere Zugriffsstruktur ist im PR leichter nachvollziehbar als im PL. Wodurch unterscheidet sich nun im Vergleich zu den beiden einbändigen Wörterbüchern die Mikrostruktur in den mehrbändigen Werken? Christina Ossenkop 260 - Der GR stimmt in seiner hierarchisch-semantischen Gliederung mit dem PR überein, unterscheidet sich von diesem jedoch in der Anzahl an Belegen, Zitaten, syntagmatischen und paradigmatischen Angaben. - Das AF folgt zwar ebenfalls einer logisch-semantischen Struktur bei der Angabe der einzelnen Verwendungsweisen des Lexems cadre (cf. AF 9 , tome 1, VI), ordnet diese jedoch nicht hierarchisch an, sondern linear. Die Verwendungsweisen werden durch Beispiele statt durch Zitate ergänzt, paradigmatische Verweise sind nicht vorhanden. - Der TLF weist schließlich die mit Abstand reichhaltigste Mikrostruktur auf, insbesondere im Hinblick auf die Anzahl der angegebenen Bedeutungsnuancen, die Angaben zu syntagmatischen Beziehungen sowie die Zitate und Beispiele 12 . Die zwei Hauptverwendungsweisen des Lexems - I. cadre im Sinne einer Begrenzung und II. cadre mit Bezug auf eine bestimmte Personenkategorie - werden hierarchisch auf bis zu drei Unterebenen untergliedert. Die Mikrostruktur des TLF ist allerdings relativ unübersichtlich, was v.a. mit der Fülle des Belegmaterials zusammenhängt. 4. Der Nutzungsmehrwert elektronischer Wörterbücher im Vergleich zu den zugrundeliegenden Printversionen Elektronische Wörterbücher müssen prinzipiell denselben Anforderungen gerecht werden wie Printwörterbücher, zumindest was die Qualität der darin enthaltenen Informationen betrifft. Sie sollten allerdings darüber hinaus so konzipiert sein, dass die spezifischen Vorteile des elektronischen Mediums darin konsequent umgesetzt werden und ein Nutzungsmehrwert gegenüber Printwörterbüchern entsteht. 13 Für den sprachwis- 12 Informationen zu Orthographie und Aussprache, Etymologie und Wortgeschichte, zur Gebrauchsfrequenz des Lexems sowie eine kurze Bibliographie sind in vier als solche gekennzeichneten Subartikeln am Ende des Artikels zu finden. Bei anderen Stichwörtern kommt häufig noch ein Subartikel zur Wortbildung hinzu. 13 Cf. u.a. Quasthoff/ Wolff 1999: 2, sowie Noll 2004: 91. Für die Wörterbucherstellung ist darüber hinaus die Möglichkeit der Aktualisierung, Korrektur und Erweiterung elektronischer Wörterbücher hervorzuheben, die vor allem dann ein Vorteil ist, wenn sich im Laufe der Bearbeitung unterschiedlicher Wörterbuchstrecken neue linguistische oder lexikographische Einsichten ergeben (cf. Gloning/ Welter 2001: 127, sowie Gloning/ Schlaps 1999: 33). Aus der Perspektive der Wörterbuchbenutzer bringt die Möglichkeit der ständigen Aktualisierung allerdings das Problem der Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 261 senschaftlichen Gebrauch sind dabei - neben vielen anderen Faktoren - vor allem die erweiterten Forschungsperspektiven von Bedeutung, die sich aus der Bereitstellung multipler Zugriffsstrukturen ergeben, bspw. für die Erfassung der Wortschatzarchitektur 14 . Von besonderem Interesse ist dabei nach Gloning/ Welter die Möglichkeit, unterschiedliche lexikologische Fragestellungen miteinander zu verknüpfen - z.B. gleichzeitig nach Fachgebiet und etymologischer Herkunft suchen zu können - und dadurch „Teilwortschätze [...] und Kreuzklassifikationen [...]“ aus dem Gesamtwortschatz herauszufiltern (Gloning/ Welter 2001: 128f.). Die Frage stellt sich, ob die elektronischen Wörterbücher des Französischen in ihren Suchfunktionen bereits so ausgereift sind, dass mit ihrer Hilfe solch komplexe lexikologische Fragestellungen bearbeitet werden können. 4.1. Online-Wörterbücher (nicht-kommerzielle Werke) Die Entwicklung der elektronischen Lexikographie in Frankreich begann 1957 mit dem Projekt des bereits erwähnten Trésor de la langue française (TLF), der als korpusbasiertes allgemeines historisches Wörterbuch konzipiert wurde. Die für die Redaktion und Publikation des TLF notwendige Dokumentation wurde vom Institut für französische Sprache INaLF in Form einer bibliographischen, lexikographischen und textuellen Datenbank erstellt 15 , und noch während der Arbeiten am TLF entstand die Idee, zusätzlich eine elektronische Version dieses Wörterbuchs zu veröffentlichen. Die ersten Untersuchungen zur Digitalisierung des Werks, dessen erste chronologische Etappe - der TLF XIX e - XX e siècle - zwischen 1971 und 1994 publiziert wurde, wurden 1990 an der Forschungseinrichtung Reproduzierbarkeit von Suchergebnissen mit sich (cf. Mühlschlegel/ Ahlers 2004: 80). 14 Beim Einsatz elektronischer Wörterbücher für den wissenschaftlichen Gebrauch ist auch die Zeitersparnis von großer Bedeutung, denn bestimmte Themen lassen sich aufgrund des Aufwandes mit Hilfe von Printwörterbüchern nicht umfassend bearbeiten (cf. Noll 2004: 91, Gloning/ Schlaps 1999: 22). Der wissenschaftliche Nutzen eines elektronischen Wörterbuchs als linguistische Ressource hängt dabei nach Stein (2004: 115) von seinem Informationsgehalt, von der Flexibilität der Zugriffsstrukturen und den Möglichkeiten ab, die Ressource an die Ziele der Nutzung anpassen zu können, darüber hinaus von rechtlichen Beschränkungen, die die Weiterverwertung der Daten betreffen. 15 Diese Datenbank, die Belege aus den Jahren 1789 - 1964 enthielt, sollte später auch die Grundlage der französischen Textdatenbank FRANTEXT bilden, wobei in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgrund der technischen Gegebenheiten noch nicht an das Erstellen einer großen Textdatenbank oder gar eines elektronischen Wörterbuchs zu denken war (cf. LV 4), ATILF, „La préface du TLFi“). Christina Ossenkop 262 ATILF der Universität Nancy durchgeführt, die Digitalisierung wurde 1998 abgeschlossen 16 . Nach einer dreijährigen Test- und Verbesserungsphase wurde die elektronische Version des TLF 2001 unter dem Titel TLFi (Trésor de la Langue Française informatisé) im Internet frei zugänglich gemacht und ist seit 2004 darüber hinaus als CD-ROM erhältlich. 17 Der TLFi ist sicherlich das wichtigste einsprachige Online-Wörterbuch des zeitgenössischen Französisch, daneben ist die Online-Version des Akademiewörterbuchs von Bedeutung. Beide Werke sind im Internet frei zugänglich und entsprechen inhaltlich in allen Punkten den zugrundeliegenden Printversionen. 4.1.1. Die 9. Auflage des Akademiewörterbuchs Die 9. Auflage des Akademiewörterbuchs umfasst den Lemmabestand des gedruckten Werks von a bis promesse. 18 Der Hauptunterschied zur Printversion besteht in den multiplen Zugriffsmöglichkeiten 19 : Die einzelnen Artikeltexte sind in neun so genannte Informationsfelder - champs d’information - unterteilt: u.a. das Lemma, Angaben zur grammatikali- 16 Das der nationalen Forschungsförderung CNRS unterstellte Institut National de la Langue Française (INaLF) fusionierte am 1.1.2001 mit der an der Universität Nancy 2 angesiedelten Forschungseinrichtung LANDISCO (Langue Discours Cognition) und wird seitdem unter dem Namen ATILF (Analyse et Traitement Informatique de la Langue Française) weitergeführt (cf. LV 4, ATILF, „Historique“). 17 Nach den Angaben des ATILF ist die Nomenklatur des TLFi mit 100000 Stichwörtern gegenüber dem gedruckten Pendant etwas umfangreicher. Das Wörterbuch enthalte insgesamt 270000 Definitionen, 430000 Beispiele und 350 Millionen Buchstaben (cf. LV 4, ATILF, „Présentation“). Die Ausgabe auf CD-ROM unterscheidet sich weder inhaltlich noch in ihren Suchfunktionen von der Online-Version, lässt sich jedoch in gängige Textverarbeitungsprogramme implementieren und schafft somit Unabhängigkeit vom Vorhandensein eines Internetzugangs. 18 Dem Benutzer wird eine Version des Wörterbuchs mit aufklappbaren Menüs und eine ohne aufklappbare Menüs angeboten, wobei der erstgenannten aufgrund besserer Navigationsmöglichkeiten der Vorzug zu geben sei (cf. LV 2, ATILF/ Académie française). Zum einen sind die Einträge des Wörterbuchs mit den orthographischen Empfehlungen des Conseil supérieur de la langue française sowie untereinander in Form von Querverweisen verlinkt. Zum anderen besteht von den einzelnen Wörterbuchartikeln aus die Möglichkeit der Hypertextnavigation in anderen elektronischen Wörterbüchern (älteren Auflagen des AF, TLFi) sowie in lexikalischen Datenbanken des Französischen (cf. ibid., „Présentation générale - Navigation hypertextuelle“). 19 Die Online-Version des AF ermöglicht damit u.a. die Suche nach Suffixen und in Komposita gebundenen Lexemen, die kombinierte Suche nach Wortarten und Technolekten (fachspezifischen Domänen), die Suche nach der etymologischen Herkunft oder auch nach Sachgebieten, wobei die Anzeige der Antworten auch in Listenform möglich sei (cf. ibid., „Présentation générale - Principes de base“). Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 263 schen Kategorie oder zur fachspezifischen Domäne sowie kursiv gedruckte Artikelabschnitte. Auf diese kann für eine Suche einzeln oder kombiniert zugegriffen werden (auch eine Volltextsuche ist möglich) 20 . Für wissenschaftliche Zwecke ist vor allem die kombinierte Suche in unterschiedlichen Informationsfeldern interessant: So lässt sich das gesamte Wörterbuch oder eine bestimmte Belegstrecke durch Kombination der Informationsfelder bspw. nach Substantiven kombiniert mit Registermarkierungen oder etymologischen Angaben durchsuchen. 21 Die Online-Version der 9. Auflage des Akademiewörterbuchs ist somit der Printversion aufgrund der multiplen Zugriffsstrukturen deutlich überlegen; für lexikologische Untersuchungen eignet sie sich aber nur bedingt, da erstens die Veröffentlichung noch nicht abgeschlossen ist und zweitens die inhaltlichen Unzulänglichkeiten der Printversion in die Online-Version übernommen wurden. 4.1.2. Der TLFi Auch im TLFi wurden die einzelnen Wörterbuchartikel in unterschiedliche Informationsfelder (hier: objets textuels) unterteilt, auf die einzeln oder kombiniert zugegriffen werden kann (cf. LV 4, ATILF, „Le Trésor de la Langue Française informatisé“ - „En savoir plus...“). Es gibt insgesamt drei menügestützte Suchroutinen: die einfache Suche („recherche d’un mot“), die „recherche assistée“ und die „recherche complexe“. Bei der „recherche assistée“ kann ein Stichwort in Kombination mit insgesamt 20 unterschiedlichen Informationsfeldern gesucht werden. Sucht man z.B. ein Verb, das in der Waldwirtschaft verwendet wird und in dessen Definition das Lexem arbre vorkommt, erhält man als Ergebnis eine Liste mit 2 Verben, die dann nacheinander als Vollartikel aufgerufen werden können. In der Ansicht können insgesamt 6 unterschiedliche Informationsfelder farblich hervorgehoben werden. Allerdings ist die „re- 20 Die Volltextsuche erlaubt die Suche nach Einzelwörtern, Syntagmen, flektierten Formen sowie die Suche mit Hilfe von Platzhaltern, die sowohl Inklusion als auch Exklusion des Stichwortes ermöglichen (cf. ibid., „Rechercher dans le dictionnaire“ - „Lancer une recherche dans le dictionnaire“ - „Expression stella“). An einige Informationsfelder können darüber hinaus unterschiedliche Suchanfragen (mit Hilfe menügestützter Suchroutinen) gerichtet werden. Dabei ist auch die Erstellung alphabetischer Wortlisten sowie eine Personalisierung der Suchoptionen möglich, indem die voreingestellten Informationsfelder an die eigenen Suchbedürfnisse angepasst werden (cf. ibid., „Personnaliser les options“ - „Que peut-on personnaliser? “). 21 Zudem lassen sich die Ergebnisse, die in der Regel in derselben Anordnung wie im gedruckten Wörterbuch präsentiert werden, alphabetisch aufsteigend oder absteigend nach dem Lemma oder der grammatikalischen Kategorie sortieren (cf. ibid.). Christina Ossenkop 264 cherche assistée“ nicht immer erfolgreich: Die Suche nach aus dem Deutschen entlehnten Substantiven, die den Fachgebieten der Chemie zuzuordnen sind, führt bspw. zu keinem Ergebnis, obwohl zahlreiche solcher Lexeme (cadmium, cobalt, spath, zinc, ...) im TLFi lemmatisiert sind. Hier führt die „recherche complexe“ zum Erfolg, bei der Anfragen an unterschiedliche Informationsfelder miteinander kombiniert werden können, wobei definiert werden muss, in welcher hierarchisch-semantischen Beziehung - Inklusion oder Abhängigkeit - die einzelnen Felder zueinander stehen. Insgesamt betrachtet ist der TLFi aufgrund seines komplexen Inhalts und seiner differenzierten Suchmöglichkeiten für die Untersuchung lexikologischer Fragestellungen geeigneter als das Akademiewörterbuch. Kritisch anzumerken sind allerdings zwei Punkte: - Es erfordert viel Übung, sich in die komplexen Suchfunktionen einzuarbeiten, zumal die Ergebnisse nicht in jedem Fall verlässlich zu sein scheinen, wie ich bei einer exemplarischen Suche nach aus dem Deutschen entlehnten Fachwörtern der Chemie in einer selbst erstellten Wortliste sowie im gesamten Lemmabestand feststellen konnte (cf. ähnliche Kritikpunkte bei Mühlschlegel/ Ahlers 2004: 88) 22 . - Die Markierungen des TLFi, die exakt denjenigen der Printversion entsprechen 23 , sind meines Erachtens für lexikologische Untersuchungen des Lemmabestands nicht flexibel genug: So kann man bspw. zwar nach konkreten Datierungen von Erstbelegen suchen, nicht aber nach allen Fachwörtern, die im gesamten 19. Jahrhundert aus einer Sprache entlehnt wurden. Darüber hinaus sind einzelne Markierungen nicht immer demselben Informationsfeld zugeordnet: So findet sich beim französischen Adverb très der Hinweis auf die Funktion der Intensivierung in der Definition, bei absolument oder combien jedoch als Indikator direkt bei der Angabe der Wortart. Solange gleiche 22 Dazu habe ich eine Wortliste für die Belegstrecke CAC/ CAD erstellt und mit Hilfe der „recherche complexe“ nach aus dem Deutschen entlehnten Fachwörtern der Chemie durchsucht. Als Resultat wurden genau 3 Lexeme angezeigt: cacodyle, cacodylate, cadmium. Problematisch für die Validität der Suchergebnisse war, dass das Lexem cacodyle bei der komplexen Suche im gesamten Lemmabestand nicht angezeigt wurde. 23 Es gibt allein 150 unterschiedliche Markierungen für fachsprachliche Domänen, die aus einer Liste ausgewählt werden können. Eine Liste für stilistische oder kommunikativ-pragmatische Markierungen ist jedoch nicht vorhanden, sodass die Eingabe des adäquaten Stichworts dem Zufall überlassen bleibt bzw. anhand eines Beispiels ausgewählt werden muss. Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 265 Informationen aber unterschiedlichen Informationsfeldern zugewiesen sind, können lexikologische Untersuchung zur Wortschatzarchitektur mit Hilfe des TLFi nicht zuverlässig durchgeführt werden. 4.2. Wörterbücher auf CD-ROM (kommerzielle Werke) Die untersuchten Wörterbücher auf CD-ROM können entweder einzeln oder zusammen mit der zugrundeliegenden Printversion erworben werden. Sie entsprechen inhaltlich den gedruckten Wörterbüchern, weichen jedoch in den bereitgestellten Zugriffsmöglichkeiten von diesen ab. 24 4.2.1. Der Grand Robert de la langue française (2001) Die Benutzeroberfläche der aktuellen elektronischen Version des GR 2001 besteht aus einem Hauptfenster für den Text des Wörterbuchartikels und einem Navigatorfenster, in dem eine Lemmaliste erscheint und dessen Ansicht über drei horizontale Reiter bestimmt wird. 25 Über diese hat man wahlweise Zugriff auf Lemmata (einschließlich der Nestlemmata) und Signifikantvarianten, auf alle flektierten Formen sowie auf feste Fügungen, Redewendungen und Sprichwörter. 26 Über vier vertikale Reiter kann man zwischen der Lemmaliste, einer Abbildung der hierarchischen Struktur des gerade angezeigten Artikels, einer Liste der Suchergebnisse oder einem Überblick über die Suchgeschichte wechseln. Darüber hinaus lässt sich bei der Visualisierung eines Wörterbuchartikels zwischen unterschiedlichen Dokumentationstiefen wählen, bspw. der Anzeige des kompletten Artikels oder des Artikels ohne Zitate. Alle Verweise, aber auch alle Wörter in den Definitionen und Beispielen sind verlinkt, sodass man 24 Zum TLFi auf CD-ROM cf. 4.1. 25 Der Grand Robert ist das erste französische Großwörterbuch, das überhaupt auf CD- ROM erschienen ist (cf. Stein 2004: 109). Die aktuelle, auf der 2. Auflage von 2001 basierende Version kostet 199€, das Online-Abonnement für 12 Monate 48€ (cf. LV 4, Éditions Le Robert). 26 Klickt man im Artikeltext auf Verben, erhält man Zugriff auf das zugehörige Konjugationsparadigma, bei allen Substantiven und Adjektiven auf Feminin- und Pluralbildung. Diese Informationen können, wie auch die einzelnen Artikeltexte, ausgedruckt und kopiert werden, während diese Funktion bei Ergebnislisten auf die ersten 200 Wörter beschränkt ist (cf. LV 2, Catach et al. 2006, „Aide en ligne“, s.v. „La recherche étendue (en texte intégral)“). Über „aide en ligne“ gelangt man darüber hinaus zu Vor- und Nachspann des Wörterbuchteils, die neben den Vorwörtern zur 1. und 2. Auflage u.a. das phonetische Alphabet, Verzeichnisse, Listen und eine Bibliographie enthalten. Christina Ossenkop 266 durch einen Doppelklick sofort zu dem dazugehörigen Wörterbuchartikel gelangt. Neben der Suche im Lemmabestand ist auch die Suche in den Zitaten sowie Volltextsuche 27 möglich, wobei die beiden letztgenannten Suchroutinen mit logischen Operatoren wie „und“, „oder“, „außer“ kombiniert werden können. Damit lässt sich bspw. in Zitaten gleichzeitig nach einem Stichwort und dem Namen eines Autors oder Werktitels suchen 28 . Außerdem lässt sich die Suche nach technischen Domänen mit der Suche nach Wortarten oder der etymologischen Herkunft kombinieren, während kein Zugriff auf die Phonetik besteht. Allerdings liefern diese Kombinationen insofern keine zuverlässigen Ergebnisse, als der gesamte Volltext und nicht nur definierte Textabschnitte durchsucht werden: Die Suche nach den Markierungen „grec“ und „didactique“ zeigt somit nicht nur didaktische Fachwörter griechischer Herkunft an, sondern auch alle Artikel, in denen eines der beiden Stichwörter in Beispielen und Zitaten, Werktiteln etc. vorkommt. Für lexikologische Untersuchungen ist der Grand Robert damit nur eingeschränkt einsetzbar, auch wenn er zweifellos einen Nutzungsmehrwert gegenüber der Printversion hat. 29 4.2.2. Der Nouveau Petit Robert de la langue française 2009 Der Nouveau Petit Robert 2009 ähnelt in Benutzeroberfläche und Zugriffsstrukturen dem Grand Robert 2001, geht in seinen komplexen Suchfunktionen („recherches par critères“) jedoch deutlich über diesen hinaus. 30 Zu den wichtigsten Unterschieden gehören folgende: 27 Bei der Volltextsuche werden alle lemmatisierten Formen gesucht, d.h. auch alle Flexionsformen. 28 Letztere sind wiederum mit Artikeln aus dem enzyklopädischen Wörterbuch Petit Robert des noms propres verlinkt. 29 Immerhin kann der gesamte Datenbestand elektronisch durchsucht werden. Von Vorteil sind darüber hinaus die Möglichkeit, einzelne Textelemente gezielt ein- und ausblenden zu können, sowie die deutlichere Visualisierung der hierarchischen Untergliederung. 30 Die aktuelle Printausgabe des Nouveau Petit Robert (PR 2011) kostet 59€, die Ausgabe auf CD-ROM 70€ und die Printausgabe einschließlich CD-ROM 89€, wobei sich die Preise im Vergleich zur hier vorgestellten Ausgabe von 2009 nicht erhöht haben. Mittlerweile gibt es den Nouveau Petit Robert auch im Online-Abonnement zum Preis von 24€ für 12 Monate (cf. LV 4, Éditions Le Robert). Die Online-Version (cf. LV 2, Rey-Debove/ Rey 2009) unterscheidet sich von der in diesem Kapitel vorgestellten CD-ROM lediglich ein wenig in der Benutzeroberfläche, nicht jedoch im Hinblick auf die Funktionen (cf. ibid., „aide“). Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 267 - Über den Reiter „entrées“ ist eine Suche mit Platzhaltern möglich, die auf einzelne oder mehrere Buchstaben, einen Vokal oder einen Konsonanten spezifiziert werden kann. Die Platzhaltersuche kann mit der Suche nach der grammatikalischen Kategorie und z.T. einem bestimmten morphologischen Paradigma (z.B. Verben der 1. Konjugationsklasse) kombiniert werden und ist auch für flektierte Formen möglich. - Über den Reiter „phonétique“ erhält man Zugriff auf die lautliche Seite der Lexeme. Hier ist ebenfalls eine Platzhaltersuche möglich, die z.B. für die Suche nach phonologischen Minimalpaaren oder möglichen Phonemkombinationen fruchtbar gemacht werden kann. - Über den Reiter „étymologie“ kann nach Wörtern aus einer bestimmten Sprache oder Sprachgruppe in Verbindung mit dem Erstbeleg in der französischen Sprache gesucht werden. - Über den Reiter „texte intégral“ kann schließlich im gesamten Volltext oder in einzelnen bzw. mehreren Textfeldern gesucht werden (Artikelstruktur, Definitionen, Beispielen und festen Fügungen, Querverweisen und Antonymen sowie Markierungen des Gebrauchs und der technischen Domäne). Eine Verbindung mit Platzhaltern ist allerdings nicht möglich, d.h. man kann nicht gleichzeitig nach Vollformen und abgekürzten Formen suchen. Insgesamt bietet der Nouveau Petit Robert 2009 auf CD-ROM deutlich mehr Suchmöglichkeiten als der Grand Robert 2001. 31 Als nachteilig für den wissenschaftlichen Gebrauch wirken sich die eingeschränkten Kombinationsmöglichkeiten der Suchkriterien aus, da manche Suchanfragen bspw. nur an den gesamten Wortschatz möglich sind, die Ergebnisliste jedoch nicht weiterverarbeitet werden kann. Darüber hinaus lassen sich nicht alle aus lexikologischer Sicht sinnvollen Suchfragen miteinander verbinden: So kann man bspw. nach der Etymologie in Verbindung mit der Datierung des Erstbelegs suchen, nicht aber in Verbindung mit der Wortart, morphologischen Kriterien oder fachspezifischen Domänen. 31 Im Vergleich zum Grand Robert enthält das Navigatorfenster des Petit Robert zudem einen vierten horizontalen Reiter („composés“), über den man Zugriff auf alle Komposita (syntagmatisch oder mit Bindestrich) erhält. Außerdem enthält das Wörterbuch insgesamt 16000 akustische Aufnahmen der Lemmata und weitere von Zitaten. Christina Ossenkop 268 4.2.3. Der Petit Larousse Illustré (2009) Der Petit Larousse Illustré ist in seinen Suchfunktionen, zumindest was die sprachliche Information betrifft, im Vergleich zu den zuvor betrachteten Wörterbüchern deutlich eingeschränkt. Über den Suchmodus „Index“ haben die Benutzer die Option, gleichzeitig auf die gesamte Nomenklatur oder einzeln auf Appellativa (einschließlich flektierter Formen) und Eigennamen zuzugreifen. Bei der Suche nach Appellativa werden sowohl der Lemmabestand als auch der Volltext durchsucht und die Ergebnisse getrennt angezeigt 32 , die Suchanfrage kann allerdings nicht gezielt an bestimmte Textfelder (wie fachspezifische Markierungen, Etymologie, grammatikalische Kategorien etc.) gerichtet werden. Zwar ist immerhin die Suche nach flektierten Formen und die Platzhaltersuche möglich, ausgefeiltere Suchmodi sind jedoch der Suche im enzyklopädischen Teil des Wörterbuchs vorbehalten, z.B. durch Verwendung von Filtern (Kategorie, Disziplin, Ort, Zeit). Für sprachwissenschaftliche Untersuchungen ist der Petit Larousse Illustré damit kaum besser geeignet als die dazugehörige Printversion. Lediglich der Suchmodus „jeux de mots“ birgt einen gewissen Vorteil, da sich damit nach Komposita, Derivaten, Minimalpaaren etc. suchen lässt. In seiner Funktion als Nachschlagewerk ist der Petit Larousse Illustré dagegen ein Gewinn im Vergleich zur Printversion, und zwar vor allem aufgrund der möglichen Hypertextnavigation - jedes Wort im Artikeltext ist mit den zugehörigen Artikeln aus dem sprachlichen und enzyklopädischen Teil des Wörterbuchs verlinkt - und der Multimediaanwendungen, die neben Fotos, Bildern, Karten bspw. auch akustische Aufnahmen (z.B. von Tierstimmen, Musikstücken und -instrumenten, Nationalhymnen) und pädagogische Animationen zu enzyklopädischen Themen enthalten. Der enzyklopädische und der sprachliche Teil des Wörterbuchs, die in der Printversion voneinander getrennt sind, werden in der elektronischen Version also sinnvoll miteinander verbunden. 33 5. Der Wörterbuchgebrauch im Französischstudium Im Zentrum der vorausgehenden Ausführungen stand die Frage, welchen Nutzungsmehrwert elektronische Wörterbücher gegenüber Printversio- 32 Bei Verben enthält die Ergebnisanzeige einen Link zum entsprechenden Konjugationsparadigma. 33 Der Petit Larousse Illustré kostete im Jahre 2009 ohne CD-ROM 29,90€, mit CD-ROM 10€ mehr (aktuell ist nur der Preis für die Version ohne CD-ROM aus der Homepage ersichtlich, der ebenfalls 29,90€ beträgt, cf. LV 4, Éditions Larousse). Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 269 nen für die lexikologische Forschung mit sich bringen. Nun sind Wörterbücher allerdings nicht primär als Datenbasis für die Erforschung des Wortschatzes konzipiert, sondern als Nachschlagewerke, mit deren Hilfe konkrete Informationsbedürfnisse z.B. bei der Textrezeption oder -produktion gestillt werden sollen. Aus unterschiedlichen Nutzungsinteressen ergeben sich nun wiederum unterschiedliche Nutzungs- und Zugriffsbedürfnisse beim Gebrauch eines Wörterbuchs, d.h. es ist davon auszugehen, dass Sprachwissenschaftler, die lexikologische Untersuchungen durchführen wollen, andere Anforderungen an Wörterbücher stellen und ein anderes Nutzungsverhalten zeigen als beispielsweise Studierende, die Wörterbücher überwiegend als Nachschlagewerke konsultieren. Um nun Aufschluss über das studentische Wörterbuchbenutzungsverhalten zu bekommen, habe ich am 15. und 16. Dezember 2008 eine kleine empirische Befragung unter 71 Studierenden 34 an der Justus-Liebig-Universität Gießen durchgeführt, und zwar in drei unterschiedlichen Lehrveranstaltungen zur französischen Linguistik für das 3. Studienjahr (bzw. Hauptstudium). Der verwendete Fragebogen bestand aus insgesamt 6 Fragen zum Gebrauch ein- und zweisprachiger Wörterbücher in gedruckter und elektronischer Form, die Antwortkategorien waren vorgegeben. 35 Die ersten beiden Fragen bezogen sich auf den Gebrauch zweisprachiger und einsprachiger Wörterbücher zu Hause und an der Universität, wobei die Angaben zum Wörterbuchgebrauch zu Hause in der Regel deutlich höher lagen als zum Wörterbuchgebrauch an der Universität. 36 Nur jeweils drei Studierende erklärten, zu Hause keine zweisprachigen Printwörterbücher oder Online-Wörterbücher zu benutzen, während immerhin 61 Studierende keine zweisprachigen Wörterbücher auf CD-ROM 34 Es handelte sich um 60 Personen mit Deutsch als Muttersprache (darunter waren insgesamt 4 bilinguale Studierende, in einem Fall mit Französisch und in drei Fällen mit einer anderen zusätzlichen Muttersprache), drei Personen mit der Muttersprache Französisch und 8 Personen mit anderen Muttersprachen. Die Studierenden verteilten sich auf das 3. - 14. Fachsemester, allerdings war knapp die Hälfte (insgesamt 35) im 5. oder 7. Fachsemester eingeschrieben. 35 Für die Hilfe bei der Auswertung der Fragebögen bin ich Daniela Thorn zu Dank verpflichtet. 36 Berücksichtigt man nur die Printwörterbücher, die zu Hause gebraucht werden, so liegen unter den zweisprachigen Wörterbüchern Pons Großwörterbuch (26 Nennungen), Langenscheidts Handwörterbuch (25 Nennungen) und Pons Kompaktwörterbuch (24 Nennungen) etwa gleich auf, während unter den einsprachigen Wörterbüchern der Petit Robert mit 49 Nennungen klar vor dem Micro Robert mit 27 Nennungen rangiert. Christina Ossenkop 270 verwendeten. 37 Betrachtet man die Antworten zum Gebrauch einsprachiger Wörterbücher, so fällt sofort der Unterschied in Bezug auf die Nutzung elektronischer Wörterbücher auf: Während nur 2 Studierende nach eigenen Informationen keine einsprachigen Printwörterbücher benutzen 38 , gebrauchen 60 Studierende keine einsprachigen Online-Wörterbücher und 61 keine einsprachigen Wörterbücher auf CD-ROM. Wörterbücher auf CD-ROM werden damit von den befragten Studierenden insgesamt am seltensten konsultiert, obwohl diese, wie unter 4.2. aufgezeigt, in der Regel vielfältigere Suchmöglichkeiten bieten als Online-Wörterbücher, dafür in der Regel aber nicht kostenlos sind. Woran liegt es nun, dass Online-Wörterbücher unter den zweisprachigen Wörterbüchern von der befragten Zielgruppe ausgesprochen häufig verwendet werden, unter den einsprachigen Wörterbüchern aber so gut wie keine Rolle spielen? Auf die Frage nach den Informationen, die die Studierenden in einem einsprachigen Wörterbuch suchen, wurden der Reihenfolge nach am häufigsten Angaben zur Orthographie, Wortbedeutung, Paradigmatik und Grammatik genannt (67-63 Studierende), gefolgt von Angaben zur Syntagmatik und Aussprache (56 bzw. 52 Studierende). Deutlich geringer war dagegen das Informationsbedürfnis bzw. die Nutzung der Informationen zur Etymologie sowie zu varietätenlinguistischen Markierungen des Gebrauchswertes eines Lexems (28-27 Studierende). 39 Die Angaben der Studierenden unterscheiden sich dabei nicht grundsätzlich von ihren Angaben zu den Suchmöglichkeiten, die sie bei der Konsultation elektronischer Wörterbücher nutzen: Hier dominiert die Suche nach Einzelwörtern und Wortgruppen oder Kollokationen (66-63 Studierende), gefolgt von der Suche nach paradigmatischen Informationen, Wortarten bzw. grammatischen Informationen (57-50 Studierende) sowie nach gebundenen Lexemen oder Affixen und Sachgebieten (45-35 Studierende). Das Schlusslicht bilden wiederum die Suche nach varietätenlinguistischen Markierungen und Etymologie (25-18 Studierende). 40 Auffäl- 37 Das beliebteste zweisprachige Online-Wörterbuch war LEO Deutsch-Französisch mit 62 Nennungen, gefolgt von Pons.eu (31 Nennungen). 38 Aus den Antworten zur dritten und vierten Frage geht hervor, dass zu Hause insgesamt 48 der befragten 71 Studierenden bei Textrezeptionsproblemen und 58 bei Textproduktionsproblemen sowohl ein zweials auch ein einsprachiges Wörterbuch verwenden. 39 Nur 1 Studierende(r) mit Französisch als Muttersprache fügte eine eigene Angabe hinzu, und zwar die Suche nach der Übersetzung ins Deutsche. 40 39 bzw. 40 Studierende geben explizit an, in einsprachigen Printwörterbüchern nie nach varietätenlinguistischen Angaben oder Etymologie zu suchen, für elektronische Wörterbücher liegen die Angaben sogar noch leicht darüber (40 bzw. 46 Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 271 lig ist allerdings, dass die spezifischen Vorteile des elektronischen Mediums wie die Suche in bestimmten Teilen des Lemmabestands, die kombinierte Suche oder die Platzhaltersuche durch Trunkierung kaum genutzt werden (19-12 Studierende). 41 Die Möglichkeiten, die die überwiegend verwendeten zweisprachigen Wörterbücher LEO Deutsch-Französisch und Pons.eu in dieser Hinsicht bieten, sind im Vergleich zu den in Kapitel 4 untersuchten einsprachigen elektronischen Wörterbüchern allerdings auch äußerst eingeschränkt. 42 Den primären studentischen Informationsbedürfnissen wie dem Nachschlagen von Orthographie und Wortbedeutung kommen die elektronischen Wörterbücher aber durchaus entgegen: Sie bieten einen schnellen Zugriff auf Erstinformationen, die dann gegebenenfalls durch Zusatzinformationen zur Paradigmatik, Syntagmatik etc. ergänzt werden müssen, Informationen, die in den zweisprachigen Online-Wörterbüchern jedoch nur eingeschränkt vorhanden sind. Dass die befragten Studierenden nun offensichtlich zweisprachige Online-Wörterbücher fast ausschließlich mit einsprachigen Printwörterbüchern kombinieren, könnte auf folgende Faktoren zurückzuführen sein: 1. Die kostenlosen einsprachigen Online-Wörterbücher Dictionnaire de l’Académie française und Trésor de la langue française weisen einen vergleichsweise geringen Bekanntheitsgrad auf, weil auch die zugrundeliegenden Printversionen von Studierenden kaum genutzt werden (nur eine Person gab in der Befragung an, den Trésor de la langue française zu verwenden). Darüber hinaus erfordert die Nut- Studierende). Hier scheint also tatsächlich ein geringes Informationsbedürfnis vorzuliegen, was bei etymologischen Angaben vermutlich mit der stark synchronen Ausrichtung des Gießener Romanistikstudiums zusammenhängt. In Bezug auf varietätenlinguistische Markierungen ist dagegen eher davon auszugehen, dass den Studierenden deren Bedeutung für den adäquaten Gebrauch der französischen Sprache nicht bewusst ist. Genaueren Aufschluss über diese Zusammenhänge könnte allerdings nur eine umfassende empirische Untersuchung zum Wörterbuchbenutzungsverhalten der befragten Studierenden geben. 41 Aufschlussreich sind auch hier die Antworten, in denen „nie“ angegeben wurde: 53- 42 Studierende nutzen nie die spezifischen Suchmöglichkeiten elektronischer Wörterbücher (Platzhaltersuche, kombinierte Suche, Suche in bestimmten Teilen des Lemmabestandes) und kennen diese zum Teil nicht einmal, was u.a. aus Fragezeichen auf den ausgefüllten Fragebögen hervorging. 42 LEO Deutsch-Französisch bietet immerhin die Möglichkeit der Einzelwort-, Mehrwort- und Mustersuche (nach gebundenen Lexemen oder Affixen) an, die darüber hinaus mit den Kategorien „Wortart“, „Fachgebiet“ und „Stilebene“ kombiniert werden können (cf. LV 2, LEO GmbH). In Pons.eu ist dagegen ausschließlich die Einzelwortsuche möglich (cf. LV 2, Pons GmbH). Christina Ossenkop 272 zung der von beiden Online-Wörterbüchern bereitgestellten Suchroutinen eine gewisse Übung. 2. Die Nutzung von Wörterbüchern auf CD-ROM ist in der Regel kostenpflichtig, sofern die Werke nicht von Bibliotheken bereitgestellt werden. Darüber hinaus können Wörterbücher auf CD- ROM häufig nur auf einem einzigen Computer-Arbeitsplatz verwendet werden. 3. Für den Grand Robert, der als elektronisches Wörterbuch auf CD- ROM kostenlos über das Netz der Universität zur Verfügung gestellt wurde, gilt wie für den TLF und das Akademiewörterbuch, dass er auch als Printausgabe kaum genutzt wird (nur zwei Nennungen in der Befragung). 4. Der Petit Robert, das von den befragten Studierenden mit Abstand am häufigsten verwendete einsprachige Wörterbuch, stand zum Zeitpunkt der Befragung nicht im Netz der Universität zur Verfügung. Es wäre interessant zu untersuchen, ob das Vorhandensein dieses meistgebrauchten Wörterbuchs als Online-Abonnement oder als CD-ROM im Intranet der Universität zu einem signifikanten Anstieg des Gebrauchs der elektronischen Version führen würde und ob damit zusätzlich ein Anstieg in der Nutzung der für das elektronische Medium spezifischen Suchroutinen verbunden wäre. 6. Fazit Als Ergebnis dieses Vergleichs allgemeiner einsprachiger Wörterbücher des Französischen in ihrer gedruckten und elektronischen Version ist festzuhalten, dass die digitalen Versionen zwar in der Regel einen Nutzungsmehrwert in ihrer Funktion als Nachschlagewerke beinhalten, dass sie jedoch als Grundlage für die lexikologische Erforschung des französischen Wortschatzes bisher nur eingeschränkt geeignet sind. Bestimmte, für die sprachwissenschaftliche und insbesondere lexikologische Forschung unabdingbare Voraussetzungen, die bereits im Jahr 2000 u.a. von Noll und Stein gefordert wurden, wurden in den untersuchten elektronischen Wörterbüchern noch nicht zufriedenstellend umgesetzt. Dazu gehört bspw. die uneingeschränkte Möglichkeit des Exports von Artikeln und Ergebnislisten (einschließlich deren Weiterbearbeitung), der vollständige und direkte Zugriff auf die Artikeltexte und alle darin enthaltenen Informationstypen sowie der kombinierte Zugriff auf einzelne Textfelder. Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 273 Die einzelnen Suchfunktionen sind für lexikologische Untersuchungen häufig nicht optimal aufeinander abgestimmt bzw. können nur eingeschränkt miteinander kombiniert werden, und nur im TLFi existiert die Möglichkeit, eigene Datenbestände in Form von Wortlisten anzulegen und diese dann auch zu durchsuchen (cf. Noll 2004: 101s., Stein 2004: 107, 111). Der Grund für diese Unzulänglichkeiten ist in erster Linie darin zu sehen, dass die untersuchten einsprachigen elektronischen Wörterbücher des Französischen auf Printversionen basieren, sodass sie nach wie vor bestimmten Zwängen unterworfen sind, die u.a. durch das zweidimensionale Medium „Buch“ bedingt sind. 43 Diese Zwänge können nach Klein in einem Digitalen Lexikalischen System überwunden werden, das er auch als „Wörterbuch der Zukunft“ bezeichnet: Darunter versteht er „ein flexibles, jederzeit erweiterbares und auf bestimmte Zwecke zuschneidbares Digitales Lexikalisches System (DLS), das in seiner Grundform nur auf dem Computer steht“ (Klein 2004: 12). Die Vorteile eines solchen Digitalen Lexikalischen Systems, das nicht an eine Printausgabe gebunden ist, seien seine Modularität, inkrementelle Funktionalität, die Möglichkeit der kumulativen Entwicklung sowie des Methodenpluralismus (ibid.: 27-30). 44 Für die lexikologische Forschung, insbesondere Untersuchungen zur inhaltlichen Strukturierung des Wortschatzes, wäre ein solches „Wörterbuch der Zukunft“ ausgesprochen wünschenswert, denn zu den nach wie vor bestehenden Desiderata gehört u.a. die Möglichkeit, auf die einzelnen Verwendungsweisen eines Lexems getrennt zugreifen und diese ggfs. mit den Verwendungsweisen anderer Lexeme zu weiterverarbeitbaren Teildokumentationen verbinden zu können (cf. Gloning/ Schlaps 1999: 30ff.). 43 Zu diesen Zwängen gehören nach Klein (2004: 23-27) die Beschränkungen des Umfangs, die mangelnde Erweiterbarkeit, Beschränkungen durch den Schriftcode und durch die Oben-Unten-Rechts-Links-Darstellung sowie eingeschränkte Möglichkeiten der Exemplifizierung. Einige dieser Zwänge wurden allerdings in den untersuchten elektronischen Wörterbüchern bereits überwunden, z.B. durch die Integration akustischer Aufnahmen. 44 Unter Modularität versteht der Autor (ibid.) die voneinander unabhängige Bearbeitung und Nutzung einzelner Komponenten eines DLS (z.B. Aussprache, Morphologie, Syntax, Semantik, Etymologie, ...), unter inkrementeller Funktionalität die Möglichkeit, im Bearbeitungsprozess schrittweise die Informationstiefe erhöhen und dadurch gleichzeitig an mehreren Artikeln arbeiten zu können. Das DLS ist beliebig erweiterbar und aktualisierbar (kumulative Entwicklung) und erlaubt die Kombination verschiedener Methoden (Methodenpluralismus). Dahinter steht die Idee einer evolutiven Lexikographie, bei der Korrekturen, Aktualisierungen und Erweiterungen kontinuierlich eingearbeitet werden. Christina Ossenkop 274 Komplexe Suchanfragen des Typs: „Bei welchen Lexemen hat sich zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert ein Bedeutungsunterschied ergeben, der auf den Einfluss einer Kontaktsprache zurückzuführen ist? “, oder: „Mit Hilfe welcher sprachlichen Einheiten wird im heutigen Französisch die kommunikativ-pragmatische Funktion der Höflichkeit ausgedrückt? “ lassen sich mit den vorhandenen elektronischen Wörterbüchern noch nicht untersuchen, da diese mit exakt den gleichen Markierungskategorien wie die zugrundeliegenden Printwörterbücher arbeiten und nicht als Wortschatzinformationssysteme strukturiert sind. Geht es allerdings im Wesentlichen um das schnelle Nachschlagen von Wortbedeutungen, Orthographie o.Ä., d.h. um die primären Nutzungsbedürfnisse studentischer Wörterbuchbenutzer, so weisen die elektronischen Wörterbücher des Französischen insbesondere aufgrund der Schnelligkeit des Zugriffs bereits heute deutliche Vorteile gegenüber Printausgaben auf. Literaturverzeichnis 45 1. Printwörterbücher AF 8 = Académie française (1931-35): Dictionnaire de l’Académie française, 8 e édition, 3 tomes (A - Ens, Ens - Pho, Phr - Zyg). Paris: Hachette. AF 9 = Académie française (1992-): Dictionnaire de l’Académie française, 9 e édition, Tome 1: A - Enz, Paris, Imprimerie Nationale, 1992; Tome 2: Éoc - Map. Paris: Imprimerie Nationale/ Ed. Librairie Arthème Fayard, 2000. GR 2001 = Rey, Alain (ed.) (2001): Le Grand Robert de la langue française. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française de Paul Robert, 6 vols., Paris: Dictionnaires Le Robert. PL 2009 = Jeuge-Maynart, Isabelle et al. (eds.) (2008): Le Petit Larousse Illustré en couleurs, édition 2009. Paris: Larousse. PR 2008 = Rey-Debove, Josette/ Rey, Alain (eds.) (2007): Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, nouvelle édition millésime 2008. Paris: Dictionnaires Le Robert. TLF = Imbs, Paul/ Quemada, Bernard (eds.) (1971-1994): Trésor de la langue française. Dictionnaire de la langue française du XIX e et du XX e siècle, 16 vols., Paris: Editions du Centre National de la Recherche Scientifique. 45 Auf die Untergliederung des Literaturverzeichnisses (abgekürzt LV) wird im Text bei Verweisen auf elektronische Quellen Bezug genommen, um deren Auffindbarkeit zu erleichtern. Allgemeine einsprachige Wörterbücher des Französischen 275 2. Elektronische Wörterbücher ATILF/ Académie française: Dictionnaire de l’Académie française, neuvième édition. Version informatisée. Contient les mots de A à PROMESSE, unter: http: / / atilf. atilf.fr/ academie9.htm (Zugriff am 16.12.2010). ATILF/ Nancy Université - CNRS: Le Trésor de la langue française informatisé, unter: http: / / atilf.atilf.fr/ tlf.htm (Zugriff am 16.12.2010). Catach, Laurent et al. (eds.) (2006): Le CD-ROM du Grand Robert. Version électronique du Grand Robert de la langue française, Version 2.0. 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Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, version électronique, nouvelle édition (version 3.3). Paris: Le Robert/ Sejer, unter: http: / / pr2010. bvdep.com/ (Zugriff am 15.12.2010). 3. Sekundärliteratur Druon, Maurice (1998): „La neuvième édition du Dictionnaire de l’Académie française“, in: Quemada, Bernard/ Pruvost, Jean (eds.): Le Dictionnaire de l’Académie française et la lexicographie institutionnelle européenne. Actes du colloque international (17, 18 et 19 novembre 1994). Paris: Champion, 455-461. Gloning, Thomas/ Schlaps, Christiane (1999): „Prototypen für ein elektronisches Goethe-Wörterbuch“, in: Sprache und Datenverarbeitung 2/ 1999, 21-34. Gloning, Thomas/ Welter, Rüdiger (2001): „Wortschatzarchitektur und elektronische Wörterbücher: Goethes Wortschatz und das Goethe-Wörterbuch“, in: Lemberg, Ingrid/ Schröder, Bernhard/ Storrer, Angelika (eds.): Chancen und Perspektiven computergestützter Lexikographie. 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ATILF (Analyse et Traitement Informatique de la Langue Française), unter http: / / www.atilf.fr/ (Zugriff am 16.12.2010). Éditions Larousse, unter: http: / / www.editions-larousse.fr/ (Zugriff am 16.12. 2010). Éditions Le Robert, unter: http: / / www.lerobert.com (Zugriff am 16.12.2010). Konstanze Jungbluth Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache: Familienbücher des 19. Jahrhunderts aus Pernambuco 1. Einleitung Im Rahmen des XXIII. Romanistischen Kolloquiums haben wir in Rauischholzhausen darüber gesprochen, welche sprachwissenschaftlichen Forschungen der Angewandten Linguistik zugeordnet werden sollen. Neben einer problemorientierten und einer anwendungsorientierten Linguistik kann auch die empirisch fundierte sprachwissenschaftliche Forschung als ein Teil der Angewandten Linguistik verstanden werden. Sprachwissenschaftliche Theoriemodelle sollen in ihrer Anwendung für die Interpretation sprachlicher Daten nachgeschliffen, korrigiert und justiert werden. Dieses Anliegen verlangt die Verknüpfung von Theorie und Empirie und fördert den Sprachen übergreifenden Ansatz linguistischer Forschungen, wie er beispielhaft im Sonderforschungsbereich 441 Theoretische und empirische Grundlagen der Grammatikforschung an der Universität Tübingen (1999-2008) erprobt und usualisiert wurde. 1 Aus diesem Kontext rührt mein Beitrag, der von schriftsprachlichen Daten des brasilianischen Portugiesisch ausgeht, die allein Hinweise auf den Gebrauch dieser Varietät der westromanischen Sprache auf amerikanischem Boden aus der Zeit vor der Aufzeichnung mündlicher Daten geben können. Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile: Im ersten Kapitel wird das Kontinuum zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit entfaltet und der Begriff des autor semiculto eingeführt. Im zweiten Kapitel werden die fokussierten brasilianischen Manuskripte beschrieben und in eine Reihe mit den europäischen Vorläufern aus Italien, Katalonien und Spanien gestellt. Dieser europäische Ursprung wird mit den lateinamerikanischen Texten in Kapitel drei verglichen. Um Wiederholung zu vermeiden, möchte ich die an der Interpretation der Daten hinsichtlich ihrer Zuordnung zu den linguistischen Teildisziplinen interessierten Leserinnen und Leser darum bitten, die beiden 1 Vgl. www.sfb441.uni-tuebingen.de (Stand 03/ 2008). Konstanze Jungbluth 280 Kapitel zwei und drei komplementär zu lesen. Während beispielsweise in Kapitel 2.2. die Besonderheiten der pernambucanischen Familienbücher in makro- und mikrostruktureller Hinsicht, differenziert bezüglich ihrer lexikalischen und grammatischen Variation, entfaltet werden, greife ich in den Kapiteln 3.1. und 3.2. die phonologischen und morphosyntaktischen Besonderheiten heraus, in welchen die brasilianischen Manuskripte ihren europäischen Vorbildern gleichen. Eine umfassende Beschreibung der Morphosyntax, wie sie in diesen Texten vorliegt, würde den Rahmen dieses Aufsatzes überschreiten. Das Ziel ist vielmehr eine explorative Darstellung dieser Quellen, die Ansatzpunkte für zukünftige Forschungsvorhaben benennt und die insbesondere sichtbar macht, worin der Wert dieser Dokumente für die sprachwissenschaftliche Forschung überhaupt liegt. 2. Mündlichkeit - Schriftlichkeit: los autores semicultos Um die Daten aus den vorliegenden Manuskripten im zeitgenössischen Kontext einzuordnen, möchte ich zunächst die Autoren und die möglichen Adressaten der Schriftstücke in den Blick nehmen. Ähnlich wie in Europa (Weiand 1993, Jungbluth 1996, Simon i Tarrés 1988) haben auch in Lateinamerika die Familienoberhäupter der Gehöfte für ihre Nachfahren das für die Leitung dieser landwirtschaftlichen Unternehmen wichtige Wissen aufgezeichnet. Es handelt sich um handschriftliche Quellen, die einerseits Auskunft über die familiären Angelegenheiten, wie z.B. Geburten, Todesfälle, Heiratsschließungen geben, andererseits für den Anbau, die Pflege und Ernte landwirtschaftlicher Produkte wichtige Informationen verzeichnen, aber auch tagebuchähnliche Abschnitte umfassen können. Die Schreiber und die Leser sind meist wenig geübt im Umgang mit der Schrift. Sie sind in einer Gesellschaft von Analphabeten die Ausnahme, und ihre Rolle in der oralen Gesellschaft ist geprägt durch eine häufige Verknüpfung mündlicher und schriftlicher Vermittlungspraktiken, insbesondere kommt dem Vorlesen eine bedeutsame Rolle zu (Schlieben-Lange 1985, 1990, 1997). Auch sind die Verläufe des Lese- und Schreiberwerbs mit modernen Erwerbskarrieren nicht vergleichbar, sie sind zeitlich begrenzter, diskontinuierlich und prekär. Diese besonderen historischen Umstände, die seit der frühen Neuzeit bis mindestens zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht 2 bestehen, haben Wulf 2 Die allgemeine Schulpflicht muss für Europa auf das Ende des XIX. Jh. datiert werden, in Lateinamerika ist sie bis heute noch nicht flächendeckend (vgl. Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 281 Oesterreicher (1994) dazu veranlasst, den Begriff des autor semiculto zu prägen. 3 Er ist derjenige, der nur sporadisch schreibt und liest, oft nur ein oder zwei Mal pro Jahr, sodass er nur eine geringe Übung in dieser Kulturpraxis hat. Häufig lassen sich in den Texten deshalb in besonders pointierter Weise Spuren des Mündlichen wiederfinden. Gerade darin liegt auch der besondere Wert dieser Quellen. Wir Sprachwissenschaftler, die wir uns der Pragmatik der Sprachgeschichtsschreibung (Schlieben-Lange 1983) annehmen, suchen nach Spuren, die uns jenseits der Aufzeichnung mündlicher Daten Hinweise auf den umgangssprachlichen Gebrauch der Sprache vergangener Zeiten geben. Im Falle des brasilianischen Portugiesisch besteht ein besonderes Interesse darin herauszufinden, seit wann das Sprechen in Amerika sich von dem in Europa entfernt hat und in welcher Weise sich das europäische und das amerikanische Portugiesisch unterscheiden. Die Forschungen zum brasilianischen Portugiesisch haben noch keine große historische Tiefe erlangt. Seit etwa Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ging es den brasilianischen Linguisten zuvorderst darum, die eigene Norm zu deskribieren und Referenzwerke für den Unterricht und den allgemeinen Gebrauch zu entwickeln. Die Forschungsanstrengungen waren im Kontext des panlateinamerikanischen NURC 4 (Norma URbana Culta) Projektes vernetzt (Lope Blanch 1977, Callou 1999). Die exemplarischen, in ganz Brasilien durchgeführten Datenerhebungen 5 haben das Ziel, den Sprachgebrauch der gebildeten beispielsweise die Anstrengungen im Bereich der Schul- und Bildungspolitik, wie sie unter der Präsidentschaft von Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva in Brasilien unternommen wurden; Poblet 2003). 3 „Die Verfasser der Texte [Texte des 16. Jh. über die Eroberung von Peru, Stoll 1997] zählen nicht zu den Schreibexperten im engeren Sinne, d.h. es handelt sich nicht um Gelehrte. Sie können aufgrund ihrer Vertrautheit mit der Abfassung schriftlicher Texte aber in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Francisco de Jerez z.B. ist als escribano ein professioneller Schreiber (Stoll 1997: 7), wohingegen Alonso Borregán als semiculto eingestuft wird, was bedeutet, dass beide nicht gänzlich ungebildet sind, dass ihre Erfahrung mit dem Erstellen komplexer Texte jedoch gering ist (ib.)“ (Weidenbusch 2006: 2286). 4 „Em 1967, Juan M. Lope Blanch, professor e pesquisador ligado ao Colegio de México, obteve junto ao Programa Interamericano de Linguística e Ensino de Idiomas (PILEI) a aprovaç-o de seu ‹Proyecto de Estudio Coordinado de la Norma Linguística Culta en las principales capitales de Hispanoamérica›” (Castilho 2007: 6). 5 Zunächst, d.h. 1969, waren nur Recife, Salvador, Rio de Janeiro, S-o Paulo und Porto Alegre ausgewählt worden. Später folgten nach und nach die übrigen Hauptstädte. Der Aufschwung der Wissenschaft, insbesondere die Gründung der Universitäten, begünstigte diese Entwicklung maßgeblich. Konstanze Jungbluth 282 Bürger in den Hauptstädten der einzelnen Bundesstaaten zu erfassen, um darauf aufbauend landesweit eine eigenständige Orientierung anhand einer brasilianischen präskriptiven Norm zu entwickeln. Die Auswertung der gesammelten Daten in Form von Lexika 6 und Grammatikwerken 7 (Castilho 1990-2002), die keineswegs abgeschlossen ist, hat dazu beigetragen, dass das Wissen um die eigene Norm gewachsen ist und sich gefestigt hat, was mit einer Abwendung von der in der Kolonialzeit und der ersten postkolonialen Ära präponderanten europäischen Norm mit dem Zentrum Lissabon einhergeht. In einem zweiten Schritt nun interessieren sich die Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler für die historische Reichweite dieses spezifisch brasilianischen Sprachgebrauchs. Sie haben deshalb das panbrasilianische Projekt PHPB 8 (Para a Historia do Português Brasileiro) ins Leben gerufen, um die Forschungsanstrengungen landesweit zu verknüpfen. 9 Unbedingt müssen in diesem Kontext auch solche Quellen berücksichtigt werden, die nicht den hochsprachlichen Gebrauch wider- 6 „Banco de dados ‹Usos do Português›, do Centro de Estudos Lexicográficos da Universidade Estadual Paulista, campus de Araraquara. Trata-se de 70 milhões de ocorrências de português escrito, organizados por Francisco da Silva Borba, para a publicaç-o de dicionários e gramáticas: Borba (1990), Moura Neves (2000).” Atalbia de Castilho (2001, Encontro do AILP Lisboa), Corpus diacrônico do português brasileiro http: / / www.fl.ul.pt/ pessoais/ ailp/ encontro/ ataliba.htm 061108. 7 „Os resultados parciais foram publicados na série ‹Gramática do Português Falado›, 8 volumes, editados pela Editora da Unicamp. O Projeto de Gramática do Português Falado teve início na UNICAMP em 1988, envolvendo mais onze universidades brasileiras, num total de 32 pesquisadores altamente qualificados. Os objetivos s-o preparar uma gramática de consulta com base nos materiais levantados anteriormente pelo Projeto NURC do Brasil. Foram organizados cinco grupos de trabalho, cada um com um coordenador, sob a coordenaç-o geral de Ataliba T. de Castilho: Fonética e Fonologia (Maria Bernadete M. Abaurre), Morfologia (Margarida Basílio e Ângela Rodrigues), Sintaxe das relações gramaticais (Mary Kato), Sintaxe das classes de palavras (Maria Helena Moura Neves) e Organizaç-o textual-interativa (Ingedore Koch).” http: / / sistemas.usp.br/ atena/ atnCurriculo LattesMostrar? codpes=65970 031808. 8 „O Projeto para a História do Português de S-o Paulo, iniciado em 1997, já no ano seguinte havia tomado uma dimens-o nacional, com a inclus-o voluntária de equipes de Pernambuco, Bahia, Rio de Janeiro, Paraíba, Minas Gerais, Paraná e Santa Catarina. O projeto compreende três subprogramas: (1) constituiç-o de um korpus diacrônico, (2) história social, (3) mudança gramatical, esta compreendendo duas orientações, a gerativista e a funcionalista.” http: / / sistemas.usp.br/ atena/ atnCurriculoLattesMostrar? codpes=65970 031808. 9 Vgl. insbesondere auch Pessoa 2001, Lopes 2003, Gomes (2010), auf die ich im Folgenden zurückkommen werde. Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 283 spiegeln, auch wenn ihre Erschließung besonders mühsam ist. Einerseits liegen sie nicht wie etwa Theaterstücke gedruckt vor, sondern nur handschriftlich. Andererseits sind die Papiere aufgrund ihres wenig prätentiösen Erscheinungsbildes nicht selten unvollständig überliefert, sodass die druckschriftliche Aufbereitung der Daten 10 besondere Schwierigkeiten bereitet und sehr zeitaufwändig ist. Auf der Suche nach geeigneten Quellen, die sich zu einem in gewisser Weise homogenen und insofern vergleichbaren Korpus zusammenführen lassen, hat sich die Orientierung an Diskurstraditionen bewährt. 2.1. Pragmatik der Sprachgeschichtsschreibung: Diskurstraditionen Unter Diskurstraditionen verstehen wir neben den bekannten literarischen Gattungen Textformen, wie z.B. die Form eines Privatbriefs oder eben eines Familienbuchs, die sich durch eine gemeinsame Finalität auszeichnen. Dementsprechend lassen sich in ihrer Struktur Übereinstimmungen feststellen, weil sich genau diese Formen beim sprachlichen Handeln als geeignet herauskristallisiert haben, um den mit den Schriftstücken oder Diskursen verknüpften Handlungszielen zu entsprechen. Ihr kontinuierlicher Gebrauch führt zu Veränderungen, ausnahmsweise auch zu neuen Formen (Koch 1997). Ausgehend von den Texten in ihrer transkribierten Form, die die empirische Datenbasis repräsentieren, werden Abstraktionen auf zwei historischen Ebenen und auf universeller Ebene vorgenommen. universell Sprechen historisch Diskurstraditionen historisch Einzelsprache, z.B. brasilianisches Portugiesisch aktuell Daten: Texte oder Diskurse Exemplare einer Diskurstradition Graphik 1: Sprachliche Abstraktionsebenen unter besonderer Berücksichtigung der Diskurstraditionen (Coseriu 1958, Schlieben-Lange 1983, Jungbluth 1996, Koch 1997, Oesterreicher 1997, Marcuschi 2001) 10 Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die transkribierte Fassung unausweichlich bereits eine hermeneutisch geleitete Interpretation der Daten auf einer ersten Ebene beinhaltet. Konstanze Jungbluth 284 2.2. Induktive, deduktive und abduktive Schlussfolgerungen Die Schlußverfahren sind einerseits induktiv, z.B. wird von den Daten auf die Regeln der Einzelsprache, von den historisch gebundenen Diskurstraditionen auf die universellen Bedingungen des Sprechens geschlossen. Andererseits sind sie deduktiv, weil beispielsweise auch aufgrund der Kenntnisse vieler anderer Exemplare der vorliegenden Diskurstradition, bestenfalls aus mehreren Sprachen, in umgekehrter Richtung Okkurrenzen im Text als diskurstraditionell motiviert interpretiert werden können, oder weil ein bestimmter Sprachgebrauch als einzelsprachliche Mittel für Referentialisierung oder Alterisierung interpretiert werden, die der universellen Ebene angehören. Selbst abduktive Schlussfolgerungen sind anwendbar, wenn im konkreten Exemplar nicht Vorhandenes der Interpretation zugrunde gelegt wird, indem aufgrund der Gestaltmerkmale der Diskurstradition erwartbare sprachliche Okkurrenzen oder Merkmale als fehlend bedeutsam gemacht werden (Peirce 1932: 1991). 3. Italienische, katalanische, spanische und portugiesische Familienbücher Aus der Zusammenschau verschiedener Exemplare der Diskurstradition Familienbuch, die vier verschiedenen romanischen Sprachräumen zugeordnet werden müssen, möchte ich in diesem Kapitel eine Beschreibung dieser Textsorte europäischen Ursprungs vornehmen, die die dazugehörende Schreib- und Lesepraxis in ihrem historischen und besonders in ihrem sozialen Kontext berücksichtigt und die thematischen Schwerpunkte der Texte auflistet, um schließlich makro- und mikrostrukturelle Merkmale der brasilianischen Exemplare aus Pernambuco zu entfalten. Unter einer literaturwissenschaftlichen Perspektive forschte Christof Weiand (1993) nach den Ursprüngen der Autobiographie, die er in den libri di famiglia des 13. bis 15. Jahrhunderts in Florenz entdeckte. Die italienischen Kaufmannsfamilien begannen in dieser Zeit, neben der für buchhalterische Zwecke nötigen Auflistung der Einnahmen und Ausgaben in den libri di conti auch genealogische Daten und von Fall zu Fall Ereignisse der Familiengeschichte, cronica familiare, für ihre Nachfahren aufzuschreiben. Aus der alltagspraktischen Verknüpfung der libri di conti mit der cronica familiare entsteht die neue Diskurstradition des Familienbuchs. Die Konvergenz von zwei vorausgehenden, separat gepflegten Diskurstraditionen belegt einmal mehr diese Form des Ursprungs neuer Textsorten wie ihn Koch (1997) am Beispiel der Flugschriften bereits Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 285 festgestellt hat. Stellvertretend habe ich die mit ricordi und memoria betitelten Exemplare von Marcello Alberini und Goro Dati in die Übersicht aufgenommen. Die Verbreitung der Diskurstradition über Italien hinaus lässt sich auch anhand von katalanischen Manuskripten verfolgen. Schon in den Titeln ist die Nähe zu den italienischen Vorbildern offensichtlich: Sebastià Casanovas, memòries; Joan Bautista Seriñana, notas del tems. Das Familienbuch von Narcís Ciurana mit dem Titel Llibre de comptes i memòries schließt an die in den ersten europäischen Exemplaren gefundene Verknüpfung der beiden zugrundeliegenden Textsorten an, die selbstverständlich auch parallel dazu als eigenständige Diskurstraditionen bis heute weitergeführt werden. Beide, Rechnungs- und Tagebücher, erweisen sich verglichen mit der heutzutage nur noch ausnahmsweise praktizierten Diskurstradition Familienbuch als langlebig und robust. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Schreibpraxis, ein Familienbuch zu führen, in Europa spürbar abnahm, setzten manche der im Nordosten Brasiliens ansässigen Grossgrundbesitzer dieses europäisch geprägte Textmuster fort, um für ihre Nachfahren wichtige Daten aufzuschreiben 11 . Aufgrund der kulturellen und klimatischen Bedingungen in Südamerika ist die Annahme berechtigt, dass diese Texte noch wesentlich lückenhafter überliefert wurden, als dies für Europa bekannt ist. Diese Charakterisierung trifft sowohl für die einzelnen Manuskripte zu, die häufig nur unvollständig erhalten geblieben sind, als auch für die Menge der Manuskripte insgesamt. Die detaillierte Vorstellung der pernambucanischen Manuskripte von Félix Cavalcanti de Albuquerque Melo, José Joaquim Pinto, Jo-o Mauricio Cavalcanti da Rocha Wanderley und José Fernandes Bastos, die bereits in ihren Titeln auf die europäischen Vorbilder Bezug nehmen, wird in Abschnitt 2.2. weitergeführt. italiani • Alberini, Marcello (1511-1580), Ricordi • Dati, Goro (1362-1435), Memoria (Weiand 1993: 23) 11 Einschränkend sei auf das Familienbuch von José Joaquim Perpetuo verwiesen, das in einer Abschrift von 1880 überliefert ist, die vermutlich ca. siebzig bis hundert Jahre nach seiner ursprünglichen Entstehung vorgenommen wurde (Vgl. Abb. 1 und Kapitel 2.2.1.2). Konstanze Jungbluth 286 catalanes • Casanovas, Sebastià (1710-1767), Memòries d‘un pagès • Seriñana, Joan Perpetuo (1818-1903), Notas del tems (Jungbluth 1996) españoles • Ciurana, Narcís (1871-1924), Llibre de comptes i memòries (Figueras/ Puigvert 1998) port. brasileiros • Cavalcanti de Albuquerque Melo, Félix (1821-1901), Livro de Assentos (Gilberto Freyre 1959/ 1989) • Perpetuo, José Joaquim (* 1748/ Abschrift 1880: Luiz Antonio Pinto), Livro de Assentos • Cavalcanti da Rocha Wanderley, Jo-o Mauricio (*1819 12 -? ), Livro de família e de contas, 1856-1866 • Fernandes Bastos, José (Porto Feliz: 1856-1887), Livro de contas com cartas copiadas intercaladas e assuntos familiares. Graphik 2: Die Familienbücher in brasilianischem Portugiesisch und einige ihrer europäischen Vorbilder 3.1. Schreibtradition und Gebrauch der Familienbücher 3.1.1. Die Autoren und die Leser Das Schreiben der Familienbücher oblag den Familienoberhäuptern, die dem jeweiligen Familienbesitz in Form von Haus und Hof als einer ökonomischen Gesamtheit vorstanden. Die Erben, meist die erstgeborenen Söhne, benutzten die Kulturtechnik des Schreibens, um für sich selbst und für ihre Nachfahren wichtige Daten festzuhalten. Das Medium der Schrift erlaubt die Entbindung der sprachlichen Botschaft von Zeit und Raum. Die Ressourcen im großfamiliären Kontext wurden so verteilt, dass mindestens auch ihre erstgeborenen Söhne im Lesen und auch im Schreiben ausgebildet wurden, wobei sich die Erwerbsprozesse von heute üblichen deutlich unterschieden. 12 Assento deminha idáde - Nas/ no anno de 1819 Aos 23 de Jun/ das 8 p. a da noite (Livro de família e de contas, página 3). Die fehlenden Buchstaben am Zeilenumbruch sind durch den mangelhaften Erhalt der Quelle bedingt. Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 287 3.1.2. Die Schreibpraxis Schreibmaterialien waren im Vergleich zu heute rar und wertvoll, Papier wurde deshalb häufig mehrfach verwendet. Die Schreibpraxis zeichnete sich besonders durch das Kopieren hand- und in geringerem Maße druckschriftlicher Texte aus, weil das Papier nur eine begrenzte Haltbarkeit hatte. Entsprechend wird wiederkehrend das Verb copiar verwendet, um die eigene Tätigkeit zu bezeichnen (Perpetuo 1776/ Pinto 1880: 2). Die überlieferten Familienbücher sind oft mehrfach abgeschrieben worden 13 . Abbildung 1: Ausschnitt aus dem Familienbuch von José Joaquim Perpetuo (*1748-? / Pinto 1880), Livro de Assentos, página 1 14 Die landwirtschaftlichen Abläufe, die den Wachstums- und Ernterhythmen verpflichtet sind, eröffneten nur sporadisch und unregelmäßig Zeitrahmen, in denen der einsame Gestus des Lesens und Schreibens ausgeübt werden konnte, wobei das Lesen zuvorderst lautes Lesen impliziert, dem die interaktiv im Kontext einer mehrheitlich durch Analphabeten geprägten Gesellschaft bedeutsame Aufgabe des Vorlesens nahe liegt (Schlieben-Lange 1990, Goetsch 1994). Noch begrenzter war die Zeit, in der eine Einweisung in die Techniken des Lesens und möglicherweise auch des Schreibens erfolgte (Jungbluth 1996). Die Anleitung in diesen Kulturtechniken war nicht selten in eine religiöse Unterweisung eingebunden, wie z.B. in den Katechismusunterricht. 13 Vgl. Abbildung 1 und Kapitel 2.2.1.2. und die folgende Erklärung des Familienbuchschreibers Félix Cavalcanti de Albuquerque e Mello (2.4.1880): Por estar estragado o livro dos meus assentos,/ trasladeios para [..] o presente, „da das Buch mit meinen Aufzeichnungen kaputt gegangen ist, habe ich sie in das hier übertragen“. 14 Transkription und Übersetzung: Copia dos assentos feitos p[e]. lo Licenciado José Joaq[ui]. m / Perpetuo à respeito de sua Familia, em um livro/ q.[ue] existe em poder da Familia de seu finado neto/ o D[e]z[embargad]. or Jo-o Salomé de Gueiroga. „Kopie der Aufzeichnungen, die von José Joaquim/ Perpetuo mit Bezug auf seine Familie angefertigt wurden, aus einem Buch, das im Besitz seines verstorbenen Enkels war, dem Landgerichtsrat Jo-o Salomé de Gueiroga.“ Ich danke Marlos Pessoa für die Hinweise zur Interpretation der Abkürzung Dz. or . Konstanze Jungbluth 288 3.1.3. Obligatorische und fakultative Themen Seinem doppelten Ursprung entsprechend (vgl. Einleitung zu Kapitel 2 oben; Weiand 1993, Jungbluth 1996) versammelt ein Familienbuch Daten zu verschiedenen Themen. Obligatorisch sind genealogische Daten, die auch die Form einer Dokumentation religiöser Akte mit einer familiären Bedeutung annehmen können. Die Familienbuchschreiber verzeichnen z.B. Hochzeiten und Taufen, denen im gesellschaftlichen Kontext jener Zeit eine den diskursweltlichen Rahmen der Religion überschreitende, juristische Bedeutung zukam. Fakultativ können narrativ verfasste Passagen Teil eines Familienbuchs sein. Die Autoren berichten von außergewöhnlichen Ereignissen, wie z.B. dem Besuch des Bischofs, und von politischen Ereignissen, sie notieren besondere klimatische und astrologische Erscheinungen. Manche schreiben Empfehlungen für den Nutzpflanzenanbau 15 und die Viehzucht auf oder verzeichnen juristische Akte wie beispielsweise Kauf- und Verkaufsverträge. 3.1.4. Die Form Vielleicht wäre es treffender, diese Kapitelüberschrift in den Plural zu setzen, denn neben Textpassagen finden sich vielfach auch Listen 16 , Tabellen, Briefe und Rechnungen in den Manuskripten. 15 Z.B. die beiden Seiten zu O Girasol, in: Jose Fernandes Bastos, Livro de contas [..] y assuntos familiares, Porto Feliz 8.4.1877. O Girasol |Em 1869, o governo da India/ pedio esclarecimentos por intervenç-o/ do Lord Lyons embaixador da Inglater_/ ra em Paris, sobre os effeitos da cultura/ desta planta, p a . isso que lhe constava/ que tinha a propriedade de neutra_/ lizar o pernicigo effeito das exhalaçõ_/ es dos pantanos. [..] O pé da cal é um excellente adu/ bo para as terras onde ella se cultiva. „Die Sonnenblume. 1869 bat die Regierung von Indien mittels des englischen Botschafters Lord Lyons in Paris um Erklärungen über die Anbaueffekte dieser Pflanze, weil sie im Ruf stand, die Eigenschaft zu haben, den schädlichen Effekt der Ausdünstung der Sümpfe zu neutralisieren. [...] Kalk ist ein hervorragender Dünger für die Felder, in denen sie angebaut wird.“ 16 In diesem Punkt ähneln die Familienbücher stellenweise den ersten Dokumenten, die in romanischen Sprachen überliefert sind (Koch 1992). Keineswegs beginnt die Schriftlichkeit mit literarischen Texten, weder in ontonoch in phylogenetischer Perspektive. Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 289 Abbildung 2: Ausschnitt in Form einer Rechnung aus dem Familienbuch von J. A. Accioli Lins (1886) Manche Manuskripte bündeln Papiere unterschiedlichen Formats. Es gibt auch Exemplare, in denen lose Dokumente, Abschriften von Dokumenten oder Briefe eingelegt sind (vgl. den Titel des Familienbuchs von José Fernandes Bastos, 1856-1887, Livro de contas com cartas copiadas intercaladas e assuntos familiares 17 ). Dementsprechend gibt es keine einheitliche Form, vielmehr zeichnet sich die Diskurstradition des Familienbuchs gerade durch die Verknüpfung verschiedener Textformen aus. Auf den Ursprung der Rechnungsbücher verweist die häufiger anzutreffende Form einer spaltenförmigen Textgliederung, in der seitlich das Datum typisch für Familienbücher europäischen Ursprungs - oder ein den Inhalt markierendes Stichwort herausgestellt wird, welchem nicht zuletzt eine indexikalische Funktion zukommt, die dem Leser das Auffinden der relevanten Information erleichtern soll. 17 „Rechnungsbuch mit beigelegten, kopierten Briefen und Familienangelegenheiten“ Vgl. das anonyme Manuskript Successos de Barcelona, Jungbluth 1996: 60, 97-115; Casanovas, Sebastià, Memòries d’un pagès, Jungbluth 1996: 70-73. Konstanze Jungbluth 290 Abbildung 3: Der Familienbuchschreiber Félix Cavalcanti de Albuquerque e Mello ordnet seinen Text spaltenförmig an. 18 3.2. Lateinamerika: z.B. die pernambucanischen Familienbücher Die Tradition der Familienbücher ist vermutlich in vielen Teilen Lateinamerikas verbreitet gewesen, allerdings ist die Archivierung dieser meist unprätentiösen Dokumente bislang vernachlässigt worden. Erst allmählich wird der Wert dieser überlieferten Texte erkannt, die als Teil des nationalen kulturellen Erbes angesehen werden müssen. Historiker und Sprachwissenschaftler, aber auch andere Kulturwissenschaftler wie Ethnologen, Soziologen und Anthropologen haben begonnen, diese Quellen systematisch zu sammeln und auszuwerten, um sich anhand ihrer Lektüre einem Bild von den sozialen und kulturellen Lebensumständen und dem sie reflektierenden Sprachgebrauch vergangener Jahrhunderte anzunähern, wobei das Forschungsinteresse auch durch die Suche nach dem Ursprung der eigenen, vom europäischen Portugiesisch unterschiedlichen Norm geleitet wird. Der Nordosten Brasiliens, insbesondere die Gegend des heutigen Pernambucos, ist der Europa am nächsten liegende Teil Südamerikas, eine seit der portugiesischen Kolonisation durch den Zuckerrohranbau geprägte Landschaft. Demzufolge sind die weit verstreut liegenden 18 Cheia de 1854|Em 23 de Junho de 1854, os rios/ produziram cheias t-o grandes, que figuravam/ um diluvio. As tradicções precedentes/ n-o accusam outra igual, causou as- / sombro, mas n-o constou que houvessem/ desgraças a lamentar. „Sturzregen von 1854| Am 23. Juni 1854 schwollen die Flüsse so an, weil [que mit kausaler Bedeutung] wolkenbruchartige Regenfälle niedergingen. Die vorausgehenden Gepflogenheiten kannten keinen vergleichbaren [Sturzregen], er löste ein Erschrecken aus, aber es ist nichts darüber bekannt, dass Verluste zu beklagen gewesen wären.“ (Cavalcanti, Livro de assentos, pág. 20); vergleiche zum Junktor que 3.2. Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 291 engenhos, in denen das Zuckerrohr ausgepresst wird, die ökonomischen Zentren der landwirtschaftlichen Betriebe. Der in den USA ausgebildete Soziologe Gilberto Freyre (1900-1987), gebürtiger Pernambucano aus der Hauptstadt Recife, hat in seinem Werk Casa Grande e Senzala, „Herrenhaus und Sklavenhütte“, die historischen, sozialen und kulturellen Lebensumstände dieser für die Kolonialzeit typischen ökonomischen Einheiten anschaulich dargestellt, in denen die patriarchalisch strukturierte, vergleichsweise kleine Gutsherrnfamilie, os brancos („die Weißen“), mit den viel zahlreicheren pretos („den Schwarzen“) afrikanischer Abstammung zusammen lebten. Der international anerkannte 19 und unter anderem auch als Gutachter für die Bundesregierung 20 tätige Wissenschaftler hat eine umfangreiche Sammlung von Familienbüchern aus seinem Heimatstaat zusammengetragen, die seit kurzem in der Fundaç-o Gilberto Freyre auch für interessierte Wissenschaftler zugänglich ist. Aus diesen Quellen aus erster Hand schöpfte er selbst, einzelne Manuskripte (vgl. Kapitel 2.2.1.1.) edierte er, wobei er aufgrund seines historischsoziologisch-literarisch geprägten Interesses und mit Blick auf ein breites Publikum bei der Druckvorbereitung auf eine Wiedergabe der Feinheiten verzichtete 21 . 3.2.1. Quellenlage 3.2.1.1. Félix Cavalcanti de Albuquerque e Mello, Livro de assentos Bei dem Familienbuch von Félix Cavalcanti handelt es sich um ein besonders wertvolles, weil vollständig erhaltenes Dokument, das die Lebensumstände, politischen Ereignisse und klimatischen Besonderheiten 19 Er wurde für die UNESCO (1948) tätig, wo er dem Rat der acht Weisen (von Paris) angehörte. Die UNO beauftragte ihn 1954, ein Gutachten zur Rassensituation in Südafrika zu erstellen. http: / / www.destinopernambuco.com.br/ personalidades. php 053008. 20 1954 unter Konrad Adenauer schrieb Gilberto Freyre für die Bundesregierung eine gutachterliche Expertise zum Thema der Besatzungskinder. (Görgen 1965; http: / / bvgf.fgf.org.br/ portugues/ obra/ livros/ pref_outros/ herrenhaus.htm; 052908) 21 „Sin duda, los materiales del proyecto Documentos lingüísticos de la Nueva España son de utilidad también para acercarse a la Nueva España desde otras disciplinas, tales como la historia de la vida cotidiana o la sociologia” (Company 2007: 11). Für die Zwecke dieser Disziplinen genügen meist auch standardisierte Ausgaben, allerdings haben sich auch hier die Ansprüche an quellengetreue Editionen gesteigert, die in Fortsetzung der philologischen Texteditionen als eine die Disziplinen übergreifende, gemeinsame Datenbasis wünschenswert sind und mindestens für bisher nicht edierte Manuskripte der Maßstab sein sollten. Konstanze Jungbluth 292 des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschreibt. Das Manuskript wurde in einer für die Leser des 20. Jahrhunderts normalisierten Schreibweise von Gilberto Freyre 1989 unter dem Titel O velho Félix e suas Memórias de um Cavalcanti ediert. Das Original befindet sich in der Fundaç-o Gilberto Freyre in Recife, Pernambuco. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht wären verlässliche Ausgaben der Quellen 22 wünschenswert, die möglichst nah an der Handschrift bleiben und mehrdeutige Stellen nicht einebnen, sondern vermerken. Solange solche druckschriftlichen Unterlagen nicht zur Verfügung stehen, muss auf die Manuskripte selbst zurückgegriffen werden. Las líneas generales de búsqueda y selección de materiales [...] siguen los lineamentos [...] para la constitución de corpus de interés lingüístico: espontaneidad, coloquialidad e informalidad son requisitos que imponemos al documento que ha de ser seleccionado, ya que la meta es rescatar documentación que, a través de la lengua escrita, contenga rasgos de oralidad. (Company 2007: 11) 3.2.1.2. José Joaquim Perpetuo, Livro de assentos Beim erhalten gebliebenen Manuskript handelt es sich um eine Abschrift aus dem Jahr 1880. Sie umfasst 20 Seiten. Auf der letzten Seite unterschreibt Luiz Antonio Pinto. Dass es sich bei der Abschrift gleichzeitig um eine bearbeitete Fassung handelt, kann dem in Abbildung 4 wiedergegebenen Ausschnitt entnommen werden. 22 Vgl. den Begriff der normatica ecdótica (Company 2007: 16): „Hemos realizado una transcripción paleográfica estrecha, respetando os sandhis y los errores, ya que ellos nos pueden aproximar a la lengua oral de la época. Mantenemos e indicamos la separación de línea y desatamos en cursivas las abreviaturas” (Company 2007: 16- 17). Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 293 Abbildung 4: Luiz Antonio Pinto erklärt am Ende seiner Abschrift des Familienbuchs von José Joaquim Perpetuo, dass er den Inhalt zusammengefasst und neu geordnet hat 23 . Luiz Antonio Pinto schreibt über seine Tätigkeit: „Ich habe davon abgesehen, viele andere interessante Bemerkungen abzuschreiben, die sich in dem erwähnten Buch finden, da diese hier genügen, um die Methode und Regularität zu beweisen, der der Referendar José Joaquim Perpetuo in seinem Leben gefolgt ist. Ich habe nicht die gleiche Reihenfolge bewahrt, die die Aufzeichnungen haben, um meine Arbeit zu erleichtern.“ Der vorangestellte Begriff Nota 24 verweist auf wirtschaftliche und juristische Dokumente. 3.2.1.3. Jo-o Mauricio Cavalcanti da Rocha Wanderley, Livro de família e de contas Bei diesem Manuskript handelt es sich um ein schmales aber hohes Buch, das der Bar-o de Tracunhaen bezeichnenderweise mit den Worten para lembrança beginnt. Das Buch umfasst zehn Jahre: 1856-1866. Dem Manuskript ist zu entnehmen, dass der Autor 1816 geboren wurde. Mir ist nicht bekannt, wie lange er gelebt hat. Das Buch umfasst 58 Seiten mit jeweils etwa 27 bis 30 Linien pro Seite. Das Manuskript trägt den Stempel 23 Deixo de copiar muitos outros assentos/ curiosos que se encontraõ no livro men-/ cionado, p[o]. r q.[ue]só estes bastaõ p. a[ra] provarem/ o methodo e regularidade q.[ue] o Licenciado/ José Joaq[ui]. m Perpetuo seguio em sua vi-/ da. N-o conservei a m[es]. ma ordem seguida nos/ assentos p[ar]. a mais facilitar o meu traba/ lho (Perpetuo/ Pinto 1748/ 1880, página 20). 24 Vgl. Überschrift Nota mit dem Titel des katalanischen Familienbuchs von Joan Bautista Seriñana (1818-1903), Notas del tems (Jungbluth 1996). Konstanze Jungbluth 294 einer Buchhandlung livraria ecconomica N o . 2 Rua do Crespo, No. 2 Defronte do arco de St o . Antonio/ Pernambuco. Der Kladdencharakter des Manuskripts wird einerseits durch eine fehlende Gliederung des Fließtextes erzeugt, andererseits durch eingestreute, kleinere, abgesetzte Textblöcke, die Rezepte und Rechnungen enthalten, die der Autor durch Kreuze als gelöscht markiert hat. 3.2.1.4. José Fernandes Bastos, Livro de contas y assuntos familiares Das Manuskript aus Porto Feliz besteht aus vier verschiedenen Teilen. Das Livro de contas umfasst die Jahre 1856 bis 1867 mit der Paginierung 5 25 , 24 bis 431 und die Jahre 1867 bis 1877 ohne Paginierung. In der pasta genannten Mappe, das im Archiv der Fundaç-o Gilberto Freyre aufbewahrt wird, befindet sich noch ein Buch mit abgeschriebenen Briefen, Livro de cartas copiadas, aus den Jahren 1880 bis 1887 ohne Paginierung, das ca. 150 Seiten umfasst, das mit den anderen Livros de familia lose beigelegten Briefen vergleichbar ist. 3.2.2. Makrostruktur Die graphische Gliederung der Texte wurde bereits in Kapitel 2.1.4. angesprochen. Neben der Anordnung in Form von Spalten findet sich mehrheitlich eine horizontal ungegliederte, vertikal mittels vorangestellter Überschriften differenzierte Textgestaltung (vgl. Abb. 4). Viele Familienbuchschreiber haben die Gewohnheit, ihre jeweiligen Eintragungen zu signieren, um in Anlehnung an die juristischen Vorbilder den Inhalt ihrer kommunikativen Botschaft zu bezeugen: E para cons_/ tar faço este termo que assigno. „Um das zu bestätigen, benutze ich diesen Ausdruck und 26 unterschreibe“ (Félix Cavalcanti 1.3.1843). Auch die kalligraphische Ausführung der bereits erwähnten Überschriften und der ersten Buchstaben des Fließtextes verweist auf die Kenntnis der Usancen der Textlegung der bereits früh aus dem Diskursuniversum des Alltags ausgegliederten Diskurswelt des Rechts 27 . Die Datierung der Eintragungen schließt an die Form an, in der Rechnungsbücher geführt werden, gleichzeitig ist sie typisch für Tagebucheintragungen, die als Teil der Diskurstradition der Familienbücher 25 Die Seiten 1-4 und 6-23 fehlen. 26 Vgl. 3.2. Man beachte den Anschluß mittels des Junktors que, der seinem Wesen nach an der Grenze zwischen Hypotaxe und Parataxe liegt. 27 Zum Begriff des Diskursuniversums vgl. Schlieben-Lange 1996, Jungbluth/ Schlieben-Lange 2004. Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 295 regelmäßig vertreten sind. Sie münden in die autobiographischen Genres ein, die gerade für die literarischen Werke der Neuzeit charakteristisch sind (Weiand 1993). Abbildung 5: Erklärung und Unterschrift des Familienbuchschreibers Félix Cavalcanti de Albuquerque Mello 28 3.2.3. Mikrostruktur: lexikalische und grammatische Aspekte Auf der Ebene der sprachlichen Mittel lassen sich lexikalische und grammatische Aspekte unterscheiden. Wie die Ausschnitte bereits zeigen, zeichnet sich die Textgestalt nicht durch einfache Sätze aus. Die Lektüre wird durch die fehlende Interpunktion und durch die den Zeilenumbruch selten markierende Schriftführung erschwert. 3.2.3.1. Lexikalische Variation Neben einem alltagssprachlichen, insbesondere die genealogischen (1), kalendarischen (2) und die (kranken) Körperteile (3) betreffenden Wortschatz steht ein auf religiöse Würdenträger (4), Handlungen (5) und landwirtschaftliche (6) Kontexte referierender Fachwortschatz. Die Differenzierung auf lexikalischer Ebene, die die Diskurswelten anklingen lässt, ist exemplarisch in dem Paar aceite : oleo (7) belegt, wovon das 28 Declaraç-o / Por estar estragado o livro dos meus assentos,/ trasladeios para para o presente, e n’este/ continuar os que forem succedendo. Recife, rua / Vidal de Negreiros, n o 115, 2º andar, 2 de Abril/ de 1880. Felix Cavalcanti de Albuquerque Mello „Erklärung/ da das Buch mit meinen Aufzeichnungen kaputt gegangen ist,/ habe ich sie in das hier übertragen/ um die fortzusetzen/ die vorausgegangen sind, Recife/ Vidal de Negreiros- Straße, Nr. 115, 2. Stock, 2. April/ 1880. Felix Cavalcanti de Albuquerque Mello.” Konstanze Jungbluth 296 Erstere auf Olivenöl als landwirtschaftliches Produkt und Lebensmittel referiert, das Letztere auf seine Verwendung im kirchlichen oder weiter gefasst im christlichen, insbesondere im zeremoniellen Glaubenshorizont. Vocabulário comúm Vocabulário de especialidade religi-o agricultura (1) filho, padrinhos, neto, familia (4) bispo, vigário (6) potassa, semente, adubo (2) fevereiro, abril, outubro, junho, anno, 4. a feira, noite, dia, madrugada (5) baptizeime 29 / baptisouse; fabricaçaõ de vélas oliveira, amendõa, palmeira, (3) côr, ventre, (febre) (7) aceite (7) oleo 30 Graphik 3: Beispiele für allgemein- und fachsprachliches Vokabular aus den pernambucanischen Familienbüchern des 19. Jahrhunderts 3.2.3.2. Morphosyntaktische Variation Die Unterschiede im Bereich der morphosyntaktischen Variation zum gegenwärtig geschriebenen brasilianischen Portugiesisch sind nicht so groß, wie zu erwarten war. Abgesehen von dem parataktischen Gebrauch der Konjunktion que (vgl. 3.2.; Jungbluth 1998) beschränken sich die Abweichungen im Wesentlichen auf Variationen im Gebrauch der Präpositionen (2.2.3.2.2.) und auf eine freiere Wortstellung (2.2.3.2.1.). Der Gebrauch der Pronomina in Subjektposition beispielsweise, der bei Nullsubjektsprachen wie dem europäischen Portugiesisch und Spanisch regelmäßig obsolet ist, weicht im vorliegenden Korpus nicht ab. Die heutzutage zu beobachtende Häufigkeit der Pronomina im brasilianischen Portugiesisch, z.B. „Mercedes 190. […] E ele (! ) chegou facil aos 200 km/ h em nossa pista“ (Elizaincín 2007: 124, Kato/ Negr-o 2000, Reich 29 Der Gebrauch des Reflexivpronomens der 1. Person in Verbindung mit der 1. Person der finiten Verbform ist hier auffällig, besonders weil die Handlung ja gar nicht von ihm selbst ausgehen konnte. Concepción Company (2007: 17) beobachtet im mexikanischen Spanisch des 18. Jahrhunderts eine „proliferación de pronombres posesivos que parecen un tanto superfluos [...] murió a los ochenta y tres años de su[! ] edad”. 30 pôz-lhe Os Santos Oleos o Reverendo Ignacio Bello de Freitas „[anläßlich der Taufe] salbte ihn Hochwürden Ignacio Bello de Freitas mit den heiligen Ölen” (Cavalcanti da Rocha Wanderley, 1856, Livro de assuntos, 1 ra página). Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 297 2002) 31 , das sich diesbezüglich nicht nur vom europäischen Portugiesisch, sondern auch vom amerikanischen Spanisch unterscheidet, hat sich offenbar erst später auf die dritte Person ausgeweitet (zur Verwendung der Pronomina der 1. und 2. Person vgl. Lopes 2003, 2005). 3.2.3.2.1. Präpositional eingeleitete Syntagmen Die beobachtete Variation betrifft die Präpositionen a ‘an, am, bei’ und em ‘in, an, auf’, die sich für temporale Angaben durchgesetzt haben und auch in den Manuskripten bereits mit einer höheren Frequenz auftreten als die durch a eingeleitete Fügung 32 . Bemerkenswert ist außerdem die Ergänzung der Wochentagsangabe durch das vorangestellte dia ‘Tag’, die heutzutage im Portugiesischen ungebräuchlich ist. [nasci] a 19 de Março 33 em um dia 6. a feira 34 3.2.3.2.2. Wortstellung In vielen Sätzen steht das finite Verb voran (Serve este livro „Dieses Buch taugt [für]“, Cavalcanti 1.3.1843), präpositional eingeleitete Syntagmen sind nach- oder vorangestellt. Honorio Jr. nasceu em 24 de Abril de 1771 S 35 V 36 SYNTAGMA prep Em 7 de Julho [..] nasceu uma menina morta SYNTAGMA prep V S 31 „A diferencia del español, lengua pro-drop, el portugués [brasileiro] hace explícito el sujeto pronominal en las oraciones afirmativas; y no solo eso, sino que, además, refiere a objetos no humanos y hasta no animados por medio del pronombre personal de tercera” (Elizaincín 2007: 124; Ergänzung in eckigen Klammern KJ). 32 Im Unterschied zum europäischen Portugiesisch werden Verben der Bewegung im brasilianischen Portugiesisch regelmäßig mit em verknüpft, vgl. Pedr-o 2002. 33 Vgl. Nasci á 19 e baptizei-me á 25 de Março,[José] falliceu á 16 de Março (Perpetuo 1748/ Pinto 1880, 1 ra página) neben [nasceu] no dia 2 de Março (Cavalcanti 1828-1901, 1 ra página), wie es bis heute üblich ist. 34 hoje: na sexta-feira; wobei na die Verschmelzung der Präposition em mit dem bestimmten Artikel im Singular/ Feminin a repräsentiert. Keinesfalls steht die Form im Zusammenhang mit der zur Diskussion stehenden Präposition a. 35 S für das Subjekt. 36 V für das Prädikat (= finite Verbform). Konstanze Jungbluth 298 4. Europäischer Ursprung und lateinamerikanische Merkmale: ein Vergleich der Alten und der Neuen Romania Mit dem Ziel, einen Vergleich zwischen dem europäischen Ursprung und den brasilianischen Familienbüchern durchzuführen, knüpfe ich exemplarisch an Ergebnisse meiner Forschung zu den katalanischen Familienbüchern an (Jungbluth 1996). Sie stehen am Ende der Praxis, Familienbücher zu schreiben, wie sie sich in Europa im Laufe von mehr als fünfhundert Jahren entwickelt hat (vgl. Kapitel 2). 4.1. Phonologische Gemeinsamkeiten: Sibilanten, unbetonte Vokale und Hiate Im Hinblick auf orthographische Unterschiede zur heutigen Schriftsprache ist die geringe Abweichung in den Manuskripten europäischer und brasilianischer Herkunft bemerkenswert, was die Annahme relativiert, die Autoren hätten nur wenig Übung im Schreiben. Eine Ausnahme stellen lediglich die Wiedergabe der Sibilanten, die unbetonten Vokale und die Markierung der Hiate dar. Sibilanten Katalanisch: messus ‘meses’ Seriñana 1886 37 salebraran ‘celebraren’ Seriñana 1886 38 Bras. Port.: prezença ‘presença’ Lins 10.6.1886 39 felism[en]te ‘felizmente’ Lins 10.6.1886 Unbetonte Vokale Katalanisch: cumensarem ‘comensarem’ Seriñana 1864 40 Bras. Port. Cavalcante 41 ‘Cavalcanti’ Cavalcanti1843/ 1880, 1 deferentes ‘diferentes’ Cavalcanti 1819/ 1880, 1 37 Jungbluth 1996: 129. 38 Vgl. en dicho zitio ‘sitio’; a dicha cassa ‘casa’; nessesario ’necesario’: español mejicano siglo XVIII, Company 2007: 15. 39 uzado ‘usado’ Lins 15.8.1886; nauzeas ‘náuseas’ Lins 22.8.1886; caza ‘casa’ Lins 10.6.1886; recuza ‘recusa’ Lins 15.8.1886. 40 Jungbluth 1996: 124. 41 Die Variation bei der Schreibung der Eigennamen ist auch bei den katalanischen Familienbücher verblüffend: Juan Batista Sariñana, Juan Bautista Sariñana, Juan Babtista Sariñana. Noch unterschiedlicher werden die Ländernamen wiedergegeben: Francia, Fransa, França, Frannsa, Franse, France; Cataluña, Cataluñya, Cataluya, Catalulla (Jungbluth 1996: 123). Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 299 Hiat Katalanisch: trayisio ‘traïcio’ Casanovas 1710/ 1767 §1 42 Bras. Port. trahidos ‘tirados’ Cavalcanti 1843/ 1880, 1 4.2. Abkürzungen und morphosyntaktische Konvergenz: der parataktische Gebrauch des Junktors que Die Lektüre erschweren insbesondere die zahlreichen Abkürzungen (vgl. 2.1.2.: Dz. or ‘Dezembargador’ «Landgerichtsrat»), die die Repräsentation auf graphischer Ebene betreffen, und die parataktischen Reihungen mittels des Junktors 43 que, die dem mündlichen Sprachgebrauch nahe sind (Jungbluth 1998) und die der strukturell tieferen, morphosyntaktischen Ebene zuzuordnen sind (vgl. Kapitel 2.2.2. und 2.2.3.2.; Abbildung 3). In der Übersetzung habe ich markiert, an welchen Stellen eine nach schriftsprachlicher Norm als syntaktische Hypotaxe zu charakterisierende Struktur im Original vorliegt, die nicht nachgebildet wurde. Um den Sinn der Aussage zu wahren, wird einer dem Grunde nach parataktischen Interpretation der Vorzug gegeben: Jo-o Luis q e [que] com o f. o [filho] M. el [Manuel], o espancado, todos bastante/ alcoolizados durante o tempo q.[que] se conservar-o na feira/ da cidade do RRio [sic! ] formôzo durante o dia44 de hontem, no meio de/ m tos [muitos] q [que] se d-o ao m mo [mesmo] vicio, devem ter tido contestaç-o, continu/ ando-as 45 p las [pelas] estradas, e dando maior forsa a [...] ao chegar a suas cazas. Lins 22.8.1886 Jo-o Luis [que] und sein Sohn Manuel, der Prügelheld, beide ziemlich alkoholisiert [ 46 que] von dem Besuch der Kirmes in Rio inmitten von vielen anderen, die 47 sich dem gleichen Laster hingaben müssen gestern eine Streiterei vom Zaun gebrochen haben, die sie auf ihrem Weg durch 42 Jungbluth 1996: 131. 43 Der Begriff geht auf Raible 1992 zurück. 44 sobre línha: hochgestellt. 45 Ich beziehe das nachgestellte Pronomen trotz seiner Form im Plural auf contestaç-o. 46 durante o tempo q. „von der Zeit, in welcher [que] sie sich aufgehalten haben“. Die einen Relativsatz einleitende Funktion ist im Verständnis nach Raible ebenfalls noch nah an der parataktischen Integration der zweiten Proposition in den Hauptsatz und insofern ebenfalls als vergleichsweise flach zu charakterisieren (vgl. im Folgenden). 47 Hier die einzige Okkurrenz von que, die als eine den Relativsatz einleitende Konjunktion übersetzt wurde. Konstanze Jungbluth 300 die Straßen fortgesetzt haben, sodass sie nur mit großer Mühe ihre Häuser erreicht haben. Die flache Hierarchie der nähesprachlich geprägten Verknüpfung charakterisiert nicht nur die Diskurstradition des Familienbuchs, sondern zeichnet sich auf der universellen Ebene des Sprechens als ein Mittel aus, das die Aussagen nebeneinander stellt, ohne sie über die bloße sequentielle Abfolge hinaus hierarchisch oder semantisch in Beziehung zueinander zu setzen. Die Texte selber stellen sich insofern als semioral, als an der Schwelle zum mündlichen Gebrauch konzipiert, dar. Neben dem bereits vorgestellten Junktor que sind auch häufig Gerundialkonstruktionen 48 zu beobachten (vergleiche Textauszug in 3.2.). Diese beiden syntaktischen Mittel erscheinen mir in ihrem im Vergleich zu anderen Diskurstraditionen hochfrequenten Gebrauch geeignet, die Textsorte Familienbuch insgesamt und die Einzelsprachen überdachend zu charakterisieren. Los esquemas de junción de un texto - junctores que contiene y frecuencia relativa- son síntomas para determinar la tradición discursiva a la que el texto pertenece. (Kabatek 2006: 165) Zusammenfassend können die deskriptiven Merkmale in folgender Tabelle einander gegenübergestellt werden: Alte Romania Neue Romania Makrostruktur Kombination von Familienchronik und Buchführung Formale Unterteilung nach Jahren Familienchronik und Aufzeichnungen (assuntos) Unterteilung nach dem Inhalt (Abb. 3) Mikrostruktur I: Graphie und Phonologie Variation in Graphie und Phonologie Vergleichsweise gleichförmig innerhalb ein und desselben Textes, zahlreiche Abkürzungen 48 Man beachte die Beiordnung des zweiten gerundial angeschlossenen Nebensatzes continuando [..] e dando im oben zitierten Beispiel (Lins 22.8.1886). Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache 301 Mikrostruktur II: Morphosyntax Parataxe ist vorherrschend; wenig Variation im Gebrauch der Präpositionen und Konjunktionen; Junktor que ohne unterordnende Funktion Mehr Variation und komplexere Sätze, allerdings selten eine über eine Unterordnung des 1. Grades hinausgehende Struktur; Junktor que ohne unterordnende Funktion Graphik 4: Vergleich der Merkmale der Familienbücher aus der Alten und der Neuen Romania Das Material verdient es, weiter transkribiert und ausgewertet zu werden, denn es werden viele Merkmale deutlich, die die Romania insgesamt charakterisieren. In einzelsprachlicher Hinsicht sind die Deskriptionen im Hinblick auf ihre Zuordnung zum schriftsprachlichen und mündlichen Code des brasilianischen Portugiesisch zu prüfen. Diese Diskurstradition liefert neben den berücksichtigten Theaterstücken und in Ergänzung zu den transkribierten Briefen (Lopes 2003: 2005) eine wichtige Datengrundlage für das Korpus zur Rekonstruktion der Geschichte des brasilianischen Portugiesisch. In kulturwissenschaftlicher Perspektive, in die eine Angewandte Linguistik sinnvollerweise eingebettet werden sollte, zeigt sich die Notwendigkeit, historische, insbesondere mentalitätsgeschichtliche und soziale Kontexte zu berücksichtigen mit dem Ziel, die Interpretation der sprachlichen Daten jenseits ihrer sprachwissenschaftlichen Analyse sinnstiftend auszurichten. Literaturverzeichnis Aschenberg, Heidi/ Wilhelm, Raymund (2003): Romanische Sprachgeschichtsschreibung und Diskurstraditionen. Tübingen: Narr. Borba, Francisco da Silva (1990): Dicionário Gramatical de Verbos. S-o Paulo: UNESP. Callou, Dinah I. (1999): „Projeto NURC no Brasil: décadas de 70 a 90“. In: Revista Lingüística, Vol. 11, ALFAL, 231-250. 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