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Interkulturelle Linguistik im Aufbruch

2011
978-3-8233-7682-8
Gunter Narr Verlag 
Csaba Földes

Der Band reflektiert die zunehmende Kultursensitivität linguistischer Forschungen und setzt sich mit Aspekten des interkulturellen Paradigmas auseinander. Im Mittelpunkt steht die Forschungsorientierung ´Interkulturelle Linguistik´ (IL). Diese wird hier als ein Ensemble von Forschungskonzepten und -orientierungen verstanden, die als eine ihrer Hauptaufgaben nicht bloße Unterschiede zwischen (zwei) Sprachen thematisieren, sondern das Besondere in interkulturellen Kontexten (mit mindestens zwei Sprachen) untersuchen, d.h., das, was weder in der einen noch in der anderen Sprachkultur alleine existiert, sondern nur durch eine Interaktion zweier oder mehrerer Sprach- bzw. Kommunikationskulturen entsteht. Dieses Verständnis von IL zwingt auch zum Nachdenken darüber, an welchem Gegenstand, welcher Methode und welcher Theorie, die aus diesen beiden resultiert, spezifisch interkulturelle und nicht bloß zwischenkulturelle Sprachkonstellationen untersucht werden können. Die versammelten Beiträge sollen zum einen durch ihre konzepttheoretischen Denkmodelle, zum anderen aufgrund ihrer empirischen Forschungsergebnisse zur Etablierung einer interkulturellen Linguistik den Weg ebnen.

Beiträge zur Interkulturellen Germanistik Herausgegeben von Csaba Földes Band 3 Csaba Földes (Hrsg.) Interkulturelle Linguistik im Aufbruch Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode ISBN 978-3-8233-6682-9 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: Universitätsdruckerei der Pannonischen Universität Veszprém Arbeitsnummer: 2011/ 107 Printed in Hungary ISSN 2190-3425 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Andrea Birk | Konversationale Implikaturen. Ein linguistisches Instrument zur Analyse interkultureller Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Waldemar Czachur | Was kann eine kontrastive bzw. kultur-kontrastive Diskursanalyse leisten? Einige Thesen zum diskursanalytischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Dietmar Heinrich/ Claudia Maria Riehl | Kommunikative Grundhaltung: Ein interkulturelles Paradigma in geschriebenen Texten . . . . . . . . . . . . . . . 25 Ulrike A. Kaunzner | Phonetik im Spiegel interkultureller Linguistik . . . . 43 Aleksander Kiklewicz | Kategorien der Interkulturellen Linguistik in systembezogener Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Annikki Koskensalo | Zum Theorie-Methodik-Empirie-Verhältnis von Inter- und Transkulturalität in der germanistischen Linguistik. Ein Vergleichsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Olga Kostrova | Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht (ZDF und Der Erste Fernsehkanal Russlands) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Holger Kuße | Kulturwissenschaftliche Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Anna Lewandowska/ Gerd Antos | Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Rosemarie Lühr | Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität in den Sprachen Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Inhalt VI Katarína Motyková/ Nina Cingerová | Präzedenznamen im Kontext der Interkulturalität: Das Beispiel „Gorbi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Natalia Mull | Interkulturelle Aspekte in der historisch-vergleichenden Sprachforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Bernd Müller-Jacquier | Produktion und Rezeption nonverbaler Handlungen in interkulturellen Situationen . . . . . . . . . . . . . . 199 Rossella Pugliese | Interkulturalität als Identität: Erfahrungen deutschitalienischer Sprachkontakte als literarische Inszenierung . . . . . . . . . . . . . 219 Mihály Riszovannij | Interkulturalität in der linguistischen Humorforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Elsayed Madbouly Selmy | Die interkulturell orientierte Linguistik und der Bezug zu ihrer eigenen Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Dennis Strömsdörfer | Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz Überlegungen zum Unterricht in der Auslandsgermanistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Anikó Szilágyi-Kósa | Geographische Namen von Sprachminderheiten als interkulturelle Phänomene - am Beispiel der Deutschen in Werstuhl/ Vöröstó . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 József Tóth | Überlegungen zur vergleichenden übersetzungsbezogenen Analysemethode konzeptueller Muster und Ereignisstrukturen im Deutschen und Ungarischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Salifou Traoré | Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik - am Beispiel des Genus verbi im Deutschen und im Thailändischen . . . 327 Beiträger(innen) und Herausgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Vorwort ‚Interkulturell‘ und ‚Interkulturalität‘ gelten heute als Modeworte, die auch die Linguistik nicht unberührt ließen. Neben Publikationen, in denen diese Stichworte lediglich als Attribute oder aber als nicht näher ausgeführte Deklarationen auftauchen, nimmt auch die Zahl von kulturbezogenen Forschungsbeiträgen zu, die in der Interkulturalität ein erkenntnisleitendes Paradigma erblicken und somit Fundamente einer Interkulturellen Linguistik (im Weiteren: IL) als eigenständige Disziplin herausarbeiten. Die zunehmende Hinwendung zur sprachlichen Interkulturalität bedeutete jedoch keineswegs, dass dadurch in jedem Fall auch etwas Neues an Gegenstandsfindung, Methode oder Theorie entstand, sondern mitunter auch, dass sich bestimmte traditionelle linguistische Teilbereiche (wie z.B. die Kontrastive Linguistik) eines Tages damit konfrontiert sahen, dass sie gleichsam ‚IL‘ betreiben. Die Unsicherheiten in der Frage, was nun IL will, was sie erforscht, lassen darauf schließen, dass das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode in der IL noch weitgehend ungeklärt ist. Für jede Wissenschaft, so auch für die Linguistik, ist jedoch die Beantwortung der Frage unumgänglich, welches Verhältnis innerhalb dieser Triade besteht. Zudem lässt sich die Reife einer Forschungsdisziplin wohl daran ablesen, inwieweit sie das Wechselverhältnis von Theorie, Empirie und Methode bewusst reflektiert. Während die bewusste Reflexion dieses Verhältnisses für die Naturwissenschaften in der Regel eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist sie für bestimmte Bereiche der Geisteswissenschaften, so auch für manche Teildisziplinen der Linguistik, eben noch keine. Es erschien uns deshalb sinnvoll, die sich allmählich herauskristallisierende IL einer solchen ‚Reifeprüfung‘ zu unterziehen, unabhängig davon, ob man sie als eine Teildisziplin, einen Forschungsbereich oder gar als ein Paradigma der Linguistik einstuft. Eine Lesart der IL, die sie als ein Ensemble von Forschungskonzepten und -orientierungen versteht, die wiederum nicht bloße Unterschiede zwischen (zwei) Sprachen thematisiert, sondern das Besondere in interkulturellen Konfigurationen (mit mindestens zwei Sprachen) untersucht; d.h., das, was weder in der einen noch in der anderen Sprachkultur alleine existiert, sondern nur durch eine Interaktion zweier oder mehrerer Sprachbzw. Kommunikationskulturen entsteht, könnte in der heute herrschenden großen Definitionsvielfalt Klarheit Vorwort VIII schaffen. Darüber hinaus zwingt dieses Verständnis von IL auch zum Nachdenken darüber, an welchem Gegenstand, welcher Methode und welcher Theorie, die aus diesen beiden resultiert, spezifisch interkulturelle und nicht bloß zwischenkulturelle Sprachkonstellationen untersucht werden können. In diesen Diskursrahmen ordnete sich die vom Kompetenzzentrum Interkulturelle Linguistik/ Germanistik der Pannonischen Universität Veszprém (Ungarn) vom 19.-20. Februar 2010 veranstaltete internationale Tagung ein, die unter dem Titel „Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode in der Interkulturellen Linguistik“ folgenden Schwerpunktthemen gewidmet war: - Lesarten der Interkulturalität in der zeitgenössischen Linguistik - Interkulturalität in der Sprache: empirische Fallbeispiele für interkulturelle Sprachprodukte - Interkulturalität in der Methode linguistischer Zugänge an verschiedene Forschungsgegenstände. Im vorliegenden Sammelband werden ausgewählte Beiträge dieser Tagung wie auch einige weitere, für diesen Zweck verfasste Aufsätze, die das inhaltliche Spektrum thematisch abrunden, veröffentlicht. Der Band soll mithin die zunehmende Kultursensitivität linguistischer Forschungen reflektieren und sich mit Aspekten des interkulturellen Paradigmas auseinandersetzen. Das zentrale Anliegen der präsentierten Beiträge besteht darin, zum einen durch ihre konzepttheoretischen Denkmodelle, zum anderen aufgrund ihrer empirischen Forschungsergebnisse zur weiteren Etablierung einer Interkulturellen Linguistik als dynamisches interbzw. transdisziplinäres Forschungsfeld den Weg zu ebnen. Dies dürfte angesichts des mittlerweile innerhalb der ‚Geisteswissenschaften‘ immer mehr Fachdisziplinen ergreifenden Wandlungsprozesses hin zu ‚Kulturwissenschaften‘ besonders aktuell sein. Für die kompetente Mithilfe bei der Durchführung der Tagung wie auch bei den Redaktionsarbeiten zu diesem Buch danke ich insbesondere meinen Mitarbeiter(inne)n Heide Bakai-Rottländer, Bianka Burka und Dr. Attila Németh. Veszprém, im Herbst 2011 Csaba Földes Konversationale Implikaturen. Ein linguistisches Instrument zur Analyse interkultureller Missverständnisse Andrea Birk (Bologna) 1 Einleitung Missverständnisse innerhalb der interkulturellen Kommunikation beruhen oft nicht auf dem, was direkt ausgesprochen und offen formuliert werden kann, sondern sie verbergen sich hinter den weniger expliziten Teilen einer Äußerung und bleiben als impliziter Hintergrund des Gesagten schwer erfassbar. Wirft man auf der Suche nach einem geeigneten Analyseinstrument für dieses Phänomen einen Blick auf die linguistische Theoriebildung, so bietet der auf Herbert P. Grice zurückgehende Begriff der k o n v e r s a t i o n a l e n I m p l i k a t u r 1 eine Möglichkeit, sprachtheoretische Erklärungen für diese interkulturelle Fragestellung zu liefern. Dazu wird nach einer methodischen Vorüberlegung (Kapitel 2) das interkulturelle Verstehensproblem als Implikaturproblem behandelt (Kapitel 3). Da die gestörte Kommunikation als solche erst erfassbar wird, wenn eine genaue Analyse der gelungenen Kommunikation vorliegt, folgt eine Untersuchung von monokulturellen Gesprächssituationen auf der Basis des Griceschen Kooperationsprinzips (Kapitel 4 und 5). Danach wird abschließend erläutert, wie interkulturelle Missverständnisse aufgrund von monokulturellen Implikaturen im interkulturellen Kontext entstehen können (Kapitel 6). 2 Methodische Vorüberlegungen Wenn man im Bereich der interkulturellen Kommunikation von Missverständnissen spricht, so hat man in den meisten Fällen missglückte Gesprächssituationen zwischen Partnern unterschiedlicher Kulturen vor Augen: Zwei Menschen reden miteinander und verstehen sich, obwohl die sprachlichen Barrieren überwunden sind, i m e i g e ntli c h e n S in n e nicht. Die Kommunikation ist __________ 1 In der Literatur findet sich auch der Terminus „konversationelle Implikatur“ (vgl. Levinson 2000). Mit der Verwendung des Begriffs „konversationale Implikatur“ wird die Terminologie der ersten Grice-Übersetzung von Meggle (1979) aufgegriffen, die hier und im Folgenden den begrifflichen Bezugsrahmen darstellen soll. Andrea Birk 2 gestört. Es entstehen Verwirrungen und peinliche Momente; Gespräche stocken, ja werden in extremen Situationen ganz abgebrochen 2 - und dies, obwohl die sprachliche Kompetenz das Gespräch durchaus ermöglichen sollte. Man verzichtet jedoch auf die Fortsetzung des Dialogs und redet nicht mehr mit einander, sondern ü b e r einander. Vorurteile entstehen oder werden zumindest bestätigt und ethnorelativierende Öffnungsversuche hin zum Anderen enden in ethnozentrischen Abgrenzungen vom Fremden, Be-fremdenden. Hierzu sei ein einfaches Beispiel aus dem deutsch-italienischen Kontext angeführt: 3 Zwei Studenten A (Italiener) und B (deutscher Erasmus-Student in Italien) treffen sich an der Universität in Italien. Beide sprechen Deutsch. A (Italiener): „Gehen wir einen Kaffee trinken? “ B (Deutscher): „Ich habe in 10 Minuten eine Vorlesung.“ A: „Gut, lass uns schnell rüber in die Bar gehen.“ B: „Du, ich muss wirklich in 10 Minuten in der Vorlesung sein.“ A: „Ja ich doch auch, also lass uns gehen.“ Beide schauen sich verwirrt an. In der Konversation hat etwas nicht geklappt - allerdings handelt es sich um ein Element, das keinen unmittelbaren sprachlichen Ausdruck findet. Wenn B auf die Frage von A antwortet „Ich habe in 10 Minuten eine Vorlesung.“, meint er, dass die Zeit nicht reicht, um einen Kaffee zu trinken. Offensichtlich versteht A das nicht, denn er wiederholt seine Einladung. Diese eigenartige Form des Nicht-Verstehens trotz sprachlichen Verstehens gehört zu den Fragestellungen, die innerhalb der Theoriebildung der interkulturellen Kommunikation von Anfang an mit großer Aufmerksamkeit bedacht wird. Bereits in den 1950er Jahren, in der Zeit, in der in den USA die ersten Forschungen zum Thema Interkulturalität durchgeführt werden, finden sich Untersuchungen zur Frage der Missverständnisse, die auftreten können, wenn __________ 2 Dies geschieht insbesondere dann, wenn Tabus der anderen Kultur gebrochen wurden. Vgl. dazu Birk/ Kaunzner (2009). 3 Bewusst wurde hier als Beispiel eine sehr einfache Kommunikationssituation gewählt, die nicht tief in den kulturell bedingten Wertekontext verankert ist und daher trotz ihres Störungspotentials eher leicht zu handhaben ist. Denn in vorliegendem Text soll es weniger um die Komplexität der Inhalte interkultureller Missverständnisse als um ihre sprachliche Form gehen, die in der Phase der theoretischen Aufarbeitung eine übersichtliche und leicht einsichtige Darstellung verlangt. Konversationale Implikaturen 3 Kulturen aufeinanderstoßen. 4 Es entsteht die so genannte Critical Incidents Technique, 5 bei der es sich im Wesentlichen um eine Untersuchung von spezifischen Konfliktsituationen im Kulturkontakt handelt. Diese empirische Methode wird zur Grundlage einer Vielzahl von unterschiedlichen Trainingsprogrammen, als deren bekanntestes der Cultural Assimiliator (Fiedler/ Mitchell/ Triandis 1971) gelten kann. Bei diesem Verfahren geht es darum, dem Einzelnen dazu zu verhelfen, eine kritische Situation aus der Perspektive der anderen Kultur zu sehen, um ihn dann langsam dazu zu führen, Reaktionen, die er ursprünglich als störend empfand, besser verstehen zu können. In den späten 1990er Jahren entwickelt Alexander Thomas eine heute weit verbreitete Variante des Cultural Assimilator, 6 bei der er unter Bezug auf seine Kulturstandardtheorie 7 die Regeln einer anderen Kultur bewusst zu machen und so das damit verbundene Konfliktpotential herabzusetzen versucht. Wie diese kurze Übersicht zeigt, sind die meisten Untersuchungen zu interkulturellen Missverständnissen im Bereich der Anthropologie, Psychologie und Soziologie anzusiedeln. Wichtigstes Ziel ist dabei, den Störfaktor in der Interaktionssituation als zwischenmenschliches Problem zu erfassen und durch entsprechende Übungs- und Trainingsprogramme zu eliminieren. Die oben beschriebene misslungene Einladung zum Kaffeetrinken kann dann als ein Missverständnis betrachtet werden, das auf den unterschiedlichen Kaffeesitten __________ 4 Die ersten Forschungen zur Interkulturellen Kommunikation entstanden in den 1950er Jahren am Foreign Service Institut in Arlington (Virginia), das eingerichtet worden war, um Militärs und Diplomaten, die nach dem zweiten Weltkrieg im Auftrag der USA ins Ausland reisten, auf ihren Aufenthalt vorzubereiten. Der wohl bekannteste Forscher an diesem Institut war Edward Hall, der mit seinem Buch „The Silent Language“ (1950) das erste große Standardwerk im Bereich der interkulturellen Kommunikation verfasste. 5 Die Critical Incident Technique wurde von John C. Flanagan (1954) entwickelt. Ursprünglich handelt es sich dabei um ein induktives Verfahren, bei dem durch direkte Beobachtung praktische Probleme gelöst und auf der dadurch gegebenen empirischen Basis psychologische Prinzipien entwickelt werden sollen. Anfangs wurde die Methode benutzt, um das Verhältnis von Mensch und Maschine besser verstehen zu können, bald wurde sie auch auf die menschliche Interaktion, angewandt und in diesem Zusammenhang speziell auf interkulturelle Konfliktsituationen übertragen. 6 Alexander Thomas ist der Herausgeber einer Buchreihe „Beruflich in... Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte“, deren erstes Buch „Beruflich in China“ er selbst verfasst hat: Thomas/ Schenk (2001). 7 Die Kulturstandardtheorie wird von Alexander Thomas in unterschiedlichen Werken dargelegt. Vgl. dazu etwa die Handbücher Thomas/ Kinast/ Schroll-Machl (2003) und Thomas/ Kammhuber/ Schroll-Machl (2003). Andrea Birk 4 in Deutschland und Italien beruht: Während man sich in Deutschland zum Kaffeetrinken mindestens eine halbe Stunde Zeit nimmt, handelt es sich in Italien um eine Angelegenheit von fünf bis zehn Minuten: Man begibt sich in eine Kaffeebar und bestellt einen Espresso, den man schnell trinkt. Die Kenntnis der jeweils anderen Sitten mag das Verständnis zwischen A und B erleichtern. Aus diesem Grund mag ein Bewusstmachungsprozess und ein eventuelles Simulationstraining A verdeutlichen, wie lange im deutschen Kontext das Kaffeetrinken dauert, und zudem B zeigen, um welche kurzfristige Angelegenheit es sich bei derselben Prozedur in Italien handelt. Danach weiß B, dass der Vorschlag von A durchaus mit dem Besuch der Vorlesung in Einklang zu bringen ist. Umgekehrt kann A bei einem eventuellen Unverständnis von B entsprechend reagieren, indem er B auf die italienischen Kaffeesitten aufmerksam macht. Das hier skizzierte Missverständnis des Kaffeetrinkens manifestiert sich allerdings nicht nur auf der Ebene des Denkens, Empfindens und Wertens, sondern findet im Dialog seinen unmittelbaren kommunikativen Ausdruck. Ein linguistischer Ansatz kann die psychologischen Untersuchungen daher sinnvoll ergänzen, indem er zeigt, wie sich die zwischenmenschliche Problematik im Medium Sprache widerspiegelt und welche linguistischen Fähigkeiten im Rahmen dieser Interaktionssituation eine Rolle spielen. 8 Dass es sich dabei um ganz spezifische Kenntnisse handelt, zeigt sich allein schon dadurch, dass der Konflikt entsteht, obwohl keine sprachlichen Barrieren vorhanden sind. Das heißt interkulturelle Missverständnisse beruhen nicht auf sprachlichem Unvermögen, sondern sie entstehen dadurch, dass offensichtlich über das Gesagte hinaus implizite Mitteilungen gemacht werden, die der fremdkulturelle Hörer nicht versteht. Im vorliegenden Fall verstehen beide Partner auf der Basis ihrer jeweiligen Kaffeesitten, allerdings werden diese im Dialog nicht explizit thematisiert. Der kulturelle Kontext bleibt implizit, im Hintergrund der Konversation, fließt aber an entscheidender Stelle als Störfaktor ein. 9 Wirft man auf der Suche nach einem geeigneten Analyseinstrument für ein so geartetes Phänomen einen Blick auf die linguistische Theoriebildung, so bietet die k o n v e r s a ti o n a l e I m plik a tu r von Herbert P. Grice eine Möglichkeit, sprachtheoretische Erklärungen für implizit Mitgeteiltes zu liefern, das interkulturelle Missverständnisse verursacht. __________ 8 Der sprachliche Ausdruck von interkulturellen Missverständnissen dürfte für den Fremdsprachenunterricht von ganz entscheidendem Interesse sein. Zur Verbindung von interkultureller Kommunikation und Fremdsprachenunterricht vgl. Kaunzner (2008). 9 Zur Beziehung von Fremderfahrung und Kommunikationsstörung vgl. Birk (2008). Konversationale Implikaturen 5 3 Das interkulturelle Verstehensproblem als Implikaturproblem Konversationale Implikaturen sind, knapp gesagt, Teile einer Äußerung, die nicht gesagt, wohl aber in einem bestimmten Gesprächskontext mitgemeint sind. Sie bleiben unausgesprochen, werden jedoch - wie der Terminus selbst schon verrät - auf Grund des konversationalen oder situationalen Kontextes erschlossen. Dank dieser Kontextualisierung ist die Bedeutung dessen, was ein Sprecher zu vermitteln beabsichtigt, in vielen Fällen wesentlich umfangreicher als die bloße konventionelle Bedeutung seiner Worte, Sätze und Sprachhandlungen. Umgekehrt geht das, was ein Hörer versteht, oft über die reine Sprachbedeutung hinaus, denn er, der Hörer, deutet das Gesagte vor dem Hintergrund der vorliegenden Konversationssituation. Hinsichtlich der terminologischen Festsetzung des Gesagten und des implizit Gemeinten bleibt Grice eher vage. 10 Hier soll zur Vereinfachung zwischen der ko n v e nti o n a l e n Bedeutung einer Äußerung und der damit verbundenen i m pliki e rt e n ( Grice 1979: 246) Sprecherabsicht unterschieden werden, der dann auf der Seite des Hörers das Sprachverständnis und das Hörerverständnis zugeordnet werden können. In einer schematischen Darstellung lässt sich die Implikatur als eine unterhalb der sprachlichen Kommunikation befindliche, wohl aber mitg e m e int e und auch mitv e r s t an d e n e Ebene auszeichnen: Sprecher Hörer Sprachliche Äußerung Konventionale Bedeutung Sprachverständnis Implikatur Sprecherabsicht Hörerverständnis Konversationale Implikaturen kennzeichnen daher einen ganz wesentlichen Bereich des Kommunikationsprozesses, in dem das Nicht-Verstehen bzw. Miss- Verstehen trotz sprachlichen Verstehens möglich ist und Kommunikationsstörungen entstehen können, auch wenn auf der Ebene der Wort- und Satzbedeutung so wie der Sprachhandlungen keine Schwierigkeiten vorliegen. Betrachten wir vor dem hier erläuterten theoretischen Hintergrund das oben dargelegte Beispiel: Mit der sprachlichen Äußerung „Ich habe in 10 Minuten eine Vorlesung“ verbindet B die Implikatur „Ich habe keine Zeit, einen __________ 10 Die terminologische Vagheit mag bei Grice auf dessen komplexen intentionalen Bedeutungsbegriff zurückzuführen sein, den er in seinen Schriften immer wieder problematisiert, aber nie vollständig klärt (Grice 1957, 1968 und 1969). Zur Nachfolgediskussion vgl. den in deutscher Sprache erschienen Sammelband von Meggle (1979). Andrea Birk 6 Kaffee trinken zu gehen“. A begreift zwar, dass mit diesem Satz eine Implikatur verbunden ist, allerdings meint er, B nehme seinen Vorschlag an. Es bedarf noch zweier weiterer Gesprächsturns bis klar wird, dass A die Implikatur, die mit der Äußerung von B verbunden war, nicht richtig verstanden hat, dass also Sprecherabsicht und Hörerverständnis differieren. An dieser Stelle tritt der konversationale oder situationale Kontext in den Blick, aufgrund dessen nach Grice die Implikatur vom Sprecher angedeutet und vom Hörer durch Interpretation erschlossen wird. Bevor nun die Frage gestellt werden kann, wie sich diese Kommunikationsstörung, die sich vor einem psychologischen Hintergrund als Differenz der Kaffeesitten erweist, in einem sprachpragmatischen Rahmen erklären lässt, muss generell geklärt werden, wie es möglich ist, dass über das Gesagte hinaus Mit-Gemeintes vermittelt wird. Wie kann ein Dialog gelingen, in dem Entscheidendes nicht gesagt wird? Wie ist es möglich, dass der Hörer etwas versteht, was der Sprecher nicht sagt, wohl aber meint? Um dies zu erklären, formuliert Grice ein Rahmenkonzept zwischenmenschlicher Kommunikation, durch das er jedes Gespräch als kooperatives Handeln auszeichnet. 4 Kooperatives Handeln als Rahmenkonzept für gelungene Kommunikation Der handlungstheoretische Ausgangspunkt der Überlegungen von Grice besteht in der Grundüberzeugung, dass jede Kommunikation eine Art Handeln, genauer eine Art kooperatives Handeln ist. 11 Grice fordert daher von jedem Gesprächsteilnehmer: „Mache Deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird.“ (Grice 1979: 248) Diesem so genannten Kooperationsprinzip unterliegen die Gesprächspartner in all ihren Einzelaktivitäten. Sie äußern ihre Gesprächsbeiträge, um etwas zu vermitteln, und verstehen die Äußerungen, indem sie unterstellen, dass diese kooperativ gemeint sind, d.h. dass sie gemacht wurden, um verstanden zu werden. Kurz, in jedem Gespräch geht es darum, Verständigung zu erreichen. Meinungsverschiedenheiten sind dabei durchaus möglich, sie bedürfen jedoch, um überhaupt zustande kommen zu können, des Verständnisses der anderen Meinung und unterliegen insofern ebenfalls dem Kooperationsprinzip. Dieses Prinzip steuert daher - unabhängig davon, ob sich die Gesprächspartner einig sind __________ 11 Der Allgemeinheitsanspruch von Grices These wurde in der Forschung heftig diskutiert. Konversationale Implikaturen 7 oder nicht - die Art und Weise, wie die Sprache benutzt wird, um in eine kommunikative Form der Interaktion einzutreten. Da das Kooperationsprinzip, in dieser Allgemeinheit formuliert, sehr abstrakt und für die Analyse von konkreten Gesprächsituationen recht ungriffig ist, macht Grice einen Präzisionsversuch, indem er vier so genannte Konversationsmaximen aufstellt, die er in Anlehnung an Kant nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität unterscheidet: Danach haben Gesprächsbeiträge ausreichend informativ (Quantität), wahr (Qualität), angemessen klar formuliert (Modalität) und relevant (Relation) zu sein. 12 Welche Rolle die Maximen im Einzelnen spielen und wie die Gesprächspartner mit ihnen umgehen, lässt sich am Besten am konkreten Fall zeigen. Dazu sei wieder das Beispiel des Kaffeetrinkens angeführt, dieses Mal jedoch nicht in Form eines gestörten interkulturellen Dialogs, sondern in der funktionierenden Variante eines monokulturellen Dialogs vor dem Hintergrund deutscher Kaffeesitten. Der Dialog könnte dann etwa folgendermaßen ablaufen: A: „Gehen wir einen Kaffee trinken? “ B: „Ich habe in 10 Minuten eine Vorlesung.“ B implikiert mit diesem Satz die Antwort „nein“, denn das Kaffeetrinken dauert mindestens eine halbe Stunde. A versteht dies auch und antwortet dann etwa: „Ach schade, dann vielleicht ein anderes Mal.“ In diesem kurzen Dialog antwortet B nicht auf die Ja/ Nein-Frage von A, sondern formuliert einen Aussagesatz, mit dem er offensichtlich einen Themenwechsel vollzieht: Er geht vom Kaffeetrinken auf das Thema der Vorlesung über. Allerdings ist diese Reaktion nicht als Eröffnung einer neuen Diskussionsphase gemeint und wird interessanterweise auch nicht so verstanden. 13 Vielmehr begreift A sofort, dass es sich bei dem Satz „Ich habe in 10 Minuten eine Vorlesung“ um die Antwort auf seine Frage handelt. Wie kommt es dazu? __________ 12 In der Nachfolge von Grice zeigt sich, dass die Relation der Relevanz besonders wichtig ist. Es gibt daher einige Autoren, die versuchen, die Maximen auf die Relevanz zu reduzieren (Sperber/ Wilson 1995). Andere versuchen die Maximen um das so genannte Höflichkeitsprinzip zu erweitern und damit einen weiteren wichtigen Aspekt des Kommunikationsverhaltens in den Bereich der Maximen zu integrieren (Leech 1983, Brown/ Levinson 1987). 13 An dieser Stelle scheinen A und B auch gegen gesprächsanalytische Prinzipien zu verstoßen, denn weder die Paarigkeit des Frage-Antwort-Gesprächsbeitrags wird eingehalten, noch wird der Themenwechsel als solcher interpretiert. Andrea Birk 8 Wesentlich ist an dieser Stelle die Konversationsmaxime der Relevanz, denn gegen diese verstößt B ganz offensichtlich, wenn er auf die Einladung zum Kaffeetrinken mit dem Hinweis auf den Vorlesungsbeginn antwortet, der auf den ersten Blick ja nichts mit dem Kaffeetrinken zu tun hat. Niemand könnte es A daher im Grunde verübeln, wenn er sich irritiert abwenden und die Kommunikation als beendet betrachten würde. Denn B verhält sich - zumindest augenscheinlich - absolut nicht kooperativ. Bemerkenswerterweise erfolgt genau diese Reaktion nicht, die man aufgrund des Kooperationsprinzips erwarten würde. Vielmehr läuft die Kommunikation ungestört weiter, A ist nicht im Geringsten irritiert, sondern reagiert freundlich, indem er sich wieder auf seine Einladung bezieht und sagt: „Ach schade, dann vielleicht ein anderes Mal“ . Der Grund für diese auf den ersten Blick verwunderliche Reaktion liegt laut Grice in den Konversationsmaximen, die so stark sind, dass die Teilnehmer eines Gesprächs eigentlich nie denken, sie gälten nicht mehr. Denn ginge A davon aus, dass B mit seiner Antwort die Maxime der Relation nicht respektiere und etwas Irrelevantes, weil nicht zum Thema Gehöriges sage, so würde er B gleichzeitig unterstellen, dass dieser das Gespräch abgebrochen habe. Und dies ist in einem kommunikativen Kontext etwas sehr Schwerwiegendes, da es mit einer Beleidigung des Gesprächspartners gleichzusetzen wäre, für die nach einer freundlichen Einladung zum Kaffeetrinken kein Anlass besteht. Daher versucht A die Situation zu retten, indem er annimmt, die Konversationsmaximen seien unverletzt, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht der Fall zu sein scheint. Das heißt er geht davon aus, dass die Information bezüglich der Vorlesung trotz des offensichtlich damit verbundenen Themenwechsels relevant ist. Dazu führt er ein Interpretations- oder Reparaturverfahren durch, bei dem er die problematische Äußerung so deutet, dass sie mit den Konversationsmaximen (wieder) verträglich ist. Er versteht die Aussage von B etwa so: „B hat es eilig, denn er muss in die Vorlesung, die in 10 Minuten beginnt. Daher kann er mit mir keinen Kaffee trinken.“ Es ist klar, dass solche Denkprozesse in Gesprächen selten explizit gemacht werden, weil im Allgemeinen keine Zeit bleibt, um alle Einzelheiten des kommunikativen Kontextes zu erwähnen. Dennoch sind wir jederzeit in der Lage, die explizite Form eines Dialogs auf Nachfrage zu liefern. Wir können also jederzeit sagen, was wir bei einer Äußerung mit-gemeint und mit-verstanden haben: A kann rekonstruieren, was er aus der Aussage von B erschlossen hat, ebenso ist B in der Lage zu explizieren, was er über die Aussage hinaus mitteilen wollte. Konversationale Implikaturen sind also an bestimmte Äußerungen geknüpft, jedoch nicht aufgrund der konventionalen Bedeutung; vielmehr müssen sie auf der Basis der Konversationsmaximen erschlossen werden. Konversationale Implikaturen 9 5 Gelungene Kommunikation im Kulturvergleich Vor dem Hintergrund des hier dargelegten Rahmenkonzepts lassen sich gelungene Kommunikationsformen im Kulturvergleich betrachten. Dazu soll das Beispiel des Kaffeetrinkens im Spannungsfeld der deutsch-italienischen Kulturunterschiede gesetzt und gezeigt werden, wie sich die unterschiedlichen Sitten des langen bzw. kurzen Kaffeetrinkens im Dialog wiederspiegeln. Das oben angeführte Gespräch wurde bereits als deutsche Variante ausgezeichnet, denn die Antwort „Ich habe in 10 Minuten eine Vorlesung“ implikiert eine Ablehnung der Einladung, da die Zeit nicht ausreichen würde. Betrachten wir im Vergleich dazu einen gelungenen italienischen Dialog: A: „Gehen wir einen Kaffee trinken? “ B: „Ich habe in 10 Minuten eine Vorlesung.“ B implikiert mit diesem Satz „ja“, denn eine Kaffeebar befindet sich immer in unmittelbarer Nähe. Man geht schnell dorthin und trinkt am Tresen einen Kaffee. Das dauert selten länger als fünf Minuten. B antwortet dann etwa: „Lass uns gleich in die Kaffeebar an der Ecke gehen. Die ist ganz nahe.“ Vergleicht man den hier angeführten italienischen Dialog mit dem oben erwähnten deutschen Gespräch, so lässt sich Folgendes festhalten: In beiden Fälle gilt das Kooperationsprinzip, d.h. A geht davon aus, dass die Konversationsmaxime der Relation nur verletzt erscheint, tatsächlich aber nicht verletzt ist. Zudem wird in beiden Fällen ein Reparaturverfahren durchgeführt, um die problematische Äußerung, die in beiden Fällen die gleiche ist, mit der Maxime wieder verträglich zu machen. Im jeweiligen monokulturellen Kontext funktioniert der Dialog, da dort die Implikatur ebenso verstanden wird, wie sie intendiert ist. Das heißt, Sprecherabsicht und Hörerverständnis entsprechen sich. Der Vergleich zwischen den beiden Versionen zeigt allerdings, dass die Art der Reparatur, die konversationale Implikatur, unterschiedlich ist: In der deutschen Version wird die Antwort von B als Absage und in der italienischen Version als Zusage gedeutet - der Unterschied könnte größer nicht sein. Die Kommunikation folgt also dem Kooperationsprinzip und der damit verbundenen Maxime der Relevanz, jedoch ist die Art der Implikatur bei übereinstimmender konventionaler Bedeutung der Äußerung verschieden. Insofern weisen die oben genannten Beispiele zwei kulturbedingte Implikaturvarianten einer in der konventionalen Bedeutung übereinstimmenden Äußerung auf. In einem einfachen Formalisierungsverfahren können die beiden Dialoge folgendermaßen dargestellt werden: Andrea Birk 10 Deutsche Variante Italienische Variante Deutscher B meint: konventionale Bedeutung (db1) + Sprecherabsicht (db2): db1 + db2 Deutscher A versteht: db1 + db2 Italienischer B meint: konventionale Bedeutung (ib1) + Sprecherabsicht (ib2): ib1 + ib2 Italienischer A versteht: ib1 + ib2 − Die Schlussfolgerung von A ist die von B intendierte. − Das Verständnis ist gegeben. − Der Dialog funktioniert. − Die Schlussfolgerung von A ist die von B intendierte. − Das Verständnis ist gegeben. − Der Dialog funktioniert. Dieser interkulturelle Vergleich, der deutlich macht, dass Implikaturen bei äquivalenten Äußerungen ganz verschieden sein können, führt wieder zurück zum Ausgangsproblem, zum interkulturellen Missverständnis und den damit verbundenen Implikaturen. 6 Monokulturelle Implikaturen im interkulturellen Dialog Betrachten wir vor dem hier erläuterten theoretischen Hintergrund das anfangs dargelegte Beispiel, in dem die Vereinbarung zum Kaffeetrinken nicht mehr im monokulturellen, sondern im interkulturellen Kontext stattfindet - und leider nicht gelingt: Mit der sprachlichen Äußerung „Ich habe in 10 Minuten eine Vorlesung“ verbindet der deutsche B die Implikatur „Ich habe keine Zeit einen Kaffee trinken zu gehen“. Der italienische A begreift zwar, dass mit diesem Satz eine Implikatur verbunden ist, allerdings meint er, B nehme seinen Vorschlag an, und interpretiert damit die Ablehnung als Akzeptanz. An dieser Stelle entsteht im interkulturellen Dialog das Missverständnis, denn beide Gesprächspartner greifen auf ihren jeweils eigenen kulturellen Kontext zurück und meinen bzw. verstehen dementsprechend Verschiedenes. Während der deutsche B mit dem Satz „Nein, ich habe keine Zeit“ intendiert, versteht der italienische A „Ja, ich habe Zeit“. In der Formalisierung lässt sich das Problem so darstellten: Interkulturelle Variante Deutscher B meint: konventionale Bedeutung db1 + Sprecherintention db2: db1 + db2 Italienischer A versteht: konventionale Bedeutung db1 + Hörerverständnis ib2: db1 + ib2 − Die Schlussfolgerung von A ist nicht die von B intendierte. − Das Verständnis ist nicht gegeben. − Der Dialog funktioniert nicht : A versteht als Akzeptanz, was als Ablehnung gemeint war. Konversationale Implikaturen 11 Die Formalisierung zeigt klar, dass das Meinen und Verstehen nicht übereinstimmen, denn an Stelle des intendierten db2 versteht der italienische A ib2. Dieses Missverständnis prägt den weiteren Gesprächsverlauf, in dem jeder auf seiner Position besteht, ohne dem anderen die eigenen Intentionen vermitteln zu können. Denn A schlägt erst einmal ganz konkret vor, in die nächste Bar zu gehen: „Gut, lass uns schnell rüber in die Bar gehen“. B dagegen wiederholt den Satz, mit dem er eine Ablehnung intendiert: „Du, ich muss wirklich in 10 Minuten in der Vorlesung sein“. Erst als A dies wieder nicht versteht und antwortet: „Ja, ich doch auch, also lass uns gehen“, bemerken beide, dass die Kommunikation gestört ist und jeder etwas anderes meint. Da die Implikatur unausgesprochen bleibt, dauert es eine Weile bis das Missverständnis zu Tage tritt. Die Verwirrung, in der sich beide Gesprächspartner befinden, wird wohl dazu führen, dass sie versuchen ihre Intentionen zu erklären und damit ihre konversationalen Implikaturen explizit zu machen. Auf diese Weise kann das Missverständnis geklärt und die Kaffeesitten der jeweils anderen Kultur deutlich gemacht werden. Wie auch immer die Lösung der Problemstellung im Einzelnen aussehen mag, insgesamt kann man festhalten, dass der Dialog einen kulturunabhängigen und einen kulturabhängigen Teil enthält. Dem Kooperationsprinzip und der damit verbundenen Maxime der Relevanz, die jede Kommunikation als solche auszeichnen, stehen die Implikaturen gegenüber, mit denen die Gesprächspartner auf ihren jeweiligen kulturellen Kontext zurückgreifen, so dass interkulturelle Verständnisprobleme auftreten können. 7 Schlussbemerkung Hier wurde das interkulturelle Missverständnis am Beispiel des Kaffeetrinkens als Implikatur ausgewiesen. Vorgegeben werden sollte damit eine Analysestruktur, die nicht den Anspruch erhebt, jede Art von interkulturellen Verständnissproblemen erfassen zu können, die aber Wege öffnen will zu einen neuen pragmalinguistisch orientierten Nachdenken über Gesprächsstörungen im Kulturkontakt. Die zwischenmenschliche Problemstellung wird dabei auf die sprachliche Ebene übertragen und bedarf dort einer neuen Situationsbeschreibung als Dialog. Diese für einzelne, im psychologischen Kontext bereits erfasste interkulturelle Missverständnisse zu liefern, wäre sicherlich ein Desiderat, dem die kulturwissenschaftlich orientierte Linguistik nachzukommen hätte. Welche Kategorien dabei im Einzelnen entstehen, ist nicht abzusehen, wesentlich ist jedoch, dass die sprachliche Form des Missverständnisses erfasst und untersucht werden muss - und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Nicht-Gesagten, wohl aber Mit-Gemeinten. Andrea Birk 12 8 Literatur Birk, Andrea (2008): Hermes’ Reisen durch die Welten. 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Was kann eine kontrastive bzw. kultur-kontrastive Diskursanalyse leisten? Einige Thesen zum diskursanalytischen Vergleich Waldemar Czachur (Warschau/ Warszawa) 1 Vorbemerkungen Die Diskurslinguistik gilt als ein in den Sozial-, Kultur-, und Politikwissenschaften sowie in der Linguistik etabliertes Forschungsprogramm. Allerdings begreift jede dieser Disziplinen ihren Gegenstand unterschiedlich und somit auch ihre Methodologie und Analysemethoden. Die Diskurslinguistik - soweit mehr oder weniger Konsens darüber herrscht - zielt darauf ab, die diskursiv erzeugten Wissensformationen innerhalb einer Kultur- und Sprachgemeinschaft aufdecken zu wollen. In der bisherigen diskurslinguistischen Forschung gibt es aber kaum Ansätze zur kontrastiven Problematik, d.h. allzu selten werden Fragen danach gestellt, welche erkenntnisleitenden Forschungsinteressen kann oder soll die kontrastive Diskurslinguistik verfolgen, welche Konsequenzen und Gefahren sich aus dem Vergleich von Diskursen zweier unterschiedlicher Kulturgemeinschaften ergeben und auf Basis welcher methodischen Grundlage solche kontrastiven Analysen durchgeführt werden sollen? 2 Diskurslinguistische Analyse - ihr Gegenstand, Ziele und Methoden Zunächst sei ein Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand der diskurslinguistischen Ansätze gegeben, wobei auch hier der Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht erhoben werden kann, weil die Diskurslinguistik als „eine Disziplin des unpräzisen Gegenstandes“ (Warnke 2007: 18) fungiert und mit zahlreichen methodologischen Ansätzen arbeitet. Die germanistische Diskurslinguistik schöpft ihre Inspiration vor allem aus den Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault, während z.B. die polonistische Diskurslinguistik stärker an die kognitivistischen, kommunikationswissenschaftlichen und stilistischen Ansätze anknüpft (vgl. Witosz 2010). Demnach wird Diskurs als eine Norm und Strategie begriffen, die im Prozess der Produktion von Aussagen und Texten angewandt wird (vgl. Labocha 1996: 51), oder aber auch als eine Menge von Äußerungen, die aus bestimmten Waldemar Czachur 14 sozialen Positionen konstruiert werden, als ein Typ der Kommunikationspraxis einer sozialen Domäne, eine funktionale Varietät und Stil (vgl. Witosz 2010: 175-176). Nach Zarzycka (2006) wäre festzuhalten, dass Diskurse nicht nur Texte oder Aussagen ausmachen, sondern die sich in den Texten und Aussagen niedergeschlagene Sichtweise auf den Gegenstand (vgl. Zarzycka 2006: 25). Somit gilt Diskurs als Ort der Bedeutungsaushandlung. Diskurse werden ferner in den diskurslinguistischen Überlegungen aufgefasst als „virtuelle Textkorpora“ (Busse/ Teubert 1994: 14), als „offene Menge von thematisch zusammengehörenden und aufeinander bezogenen Äußerungen“ (Adamzik 2001: 254), als „Formationssysteme von Wissenssegmenten“ (Busse 2003: 178), als „transtextuelle Einheit“ (Heinemann 2005: 21) oder als „eine Gebrauchsformation von Sprache/ eine epistemologische Funktion von Sprache“ (Warnke/ Spitzmüller 2008: 14). 1 Wichtig ist dabei, dass Diskurse als sprachliche und zugleich soziale Praktiken in Form von sprachlichen oder nicht-sprachlichen Handlungen zum Ausdruck kommen. Als Konsequenz der sprachlichen Aushandlungen, die auch als semantische Kämpfe (vgl. Felder 2006) bezeichnet werden, gelten die Prozesse der Wissenskonstituierung, die wiederum Machtverhältnisse in der Gesellschaft stabilisieren oder auch verändern. Als Ziel der linguistischen Diskursanalyse ist dann die Explizierung „kollektiven, verstehensrelevanten Wissens“ durch Sprachanalyse zu verstehen. Warnke/ Spitzmüller (2008) setzen als Ziele der diskurslinguistischen Analysen, „nicht nur Regularitäten des Sprachsystems jenseits der Grenze des Einzeltextes beschreiben zu wollen, sondern auf dem Weg der Sprachanalyse etwas über zeittypische Formationen des Sprechens und Denkens über die Welt aussagen zu können“ (Warnke/ Spitzmüller 2008: 15). Die zeittypischen Formationen des Sprechens und Denkens zu erfassen ist gleichbedeutend mit der Erfassung des sprachlichen, kollektiv anerkannten Wissens und dieses ist ein diskursives Ergebnis, denn es wird sprachlich konstruiert, argumentativ ausgehandelt und diskursiv distribuiert (vgl. Warnke 2009a). Somit ist das Wissen „nicht Erkenntnissicherung ontologischer Fakten, sondern sozial verhandeltes Gut der Vergesellschaftung“ (Warnke 2009b: 71). Indem das Wissen in oder durch Diskurse sprachlich erzeugt wird, kommt der Sprache eine wirklichkeitskonstituierende Funktion zu, „denn als geteiltes Wissen wird das erfahren, was sprachlich objektiviert ist„ (Warnke 2009b: 78). Sprachliches Wissen um die politische und kulturelle Wirklichkeit wird in sozialen Prozessen konstruiert __________ 1 Mehr zum Diskursbegriff u.a. bei Bluhm/ Geissler/ Scharloth/ Stukenbrock (2000), Miller (2006). (Kultur-)Kontrastive Diskursanalyse 15 und emergiert. 2 Dabei spielen die Handelnden mit ihren Intentionen und Interessen sowie der kulturelle Kontext eine besondere Rolle. 3 Kontrastivität in der linguistischen Diskursanalyse - Konsequenzen Was bedeutet aber, dass Diskurse aus zwei Sprachgemeinschaften miteinander verglichen werden? Als Konsequenz der vorherigen Überlegungen müsste man folgern, dass die kontrastive Diskursanalyse das von den Diskursen erzeugte, kollektiv anerkannte Wissen aus zwei Sprach- und Kulturgemeinschaften gegenüberstellen sollte. Was bedeutet denn eigentlich die diskursiv generierten Wissensbestände aus zwei Gemeinschaften miteinander zu vergleichen? Welchen Status hat das sprachliche Wissen? Mit welchen Kategorien soll das sprachliche Wissen erfasst und beschrieben werden? Und darüber hinaus - welches Erkenntnispotenzial und welche Gefahr bringt der Vergleich von diskursiv erzeugten Wissensformationen? Zunächst wird angenommen, dass der Diskursvergleich immer auch einen Vergleich von kulturspezifischen Phänomenen impliziert. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass die Handelnden im Diskurs, die jeweils ihre Interessen verfolgen und sich zu bestimmten Ereignissen, Gegenständen usw. unterschiedlich (sprachlich oder nicht -sprachlich) positionieren, über die sog. kulturelle Kompetenz verfügen, die auch die diskursive Kompetenz umfasst. Denn, wie dies Wengeler (2010) auf den Punkt gebracht hat: „das handelnde Subjekt ist nicht frei in seinen Äußerungen, sondern in einen sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang eingebunden, der das mitbestimmt, was zu sagen möglich ist und was konkret gesagt wird“ (Wengeler 2010: 78). D.h. nicht nur der Diskurs, sondern auch der kulturelle Zusammenhang bilden die Bedingungen des zu sagen Möglichen und der Diskurs sollte nicht als Quasi-Subjekt des Sprechens aufgefasst werden (vgl. Wengeler 2010: 78). Hier soll noch zum einen der Kulturbegriff und zum anderen der Wissensbegriff definiert und für eine kontrastive Analyse operationalisiert werden, um einen Vergleich nach __________ 2 Hingewiesen werden soll auf das nicht nur in den Sozialwissenschaften oft zitiertes Werk von Berger und Luckmann, in dem sie feststellen, dass „Sprache […] gemeinsame Erfahrungen [vergegenständlicht] und sie […] allen zugänglich [macht], die einer Sprachgemeinschaft angehören. Sie wird zugleich Fundament und Instrument eines kollektiven Wissensbestandes. Darüber hinaus stellt sie ein Mittel zur Vergegenständlichung neuer Erfahrungen zur Verfügung und ermöglicht deren Eingliederung in den bereits vorhandenen Wissensbestand“ (Berger/ Luckmann 2004: 72f.). Waldemar Czachur 16 den Erforderungen des kontrastiven Verfahrens möglich zu machen. Es handelt sich hier um das sog. tertium comparationis als Bezugsgröße für einen Vergleich (vgl. Czachur 2010). Der Kulturbegriff wird hier semiotisch und konstruktivistisch begriffen, wonach Kultur als „geteiltes Wissen“, „geteilter Sinn“, „Denkkollektiv“, „kollektives Gedächtnis“ bzw. „Wertegemeinschaft“ gesehen werden kann. Infolge dessen disponieren Kulturen Denken und Handeln, Wissen und Bedeutung. Auf den Punkt gebracht: Diskurse werden von Kulturen disponiert, in denen sie sich bewegen. Damit werden die Möglichkeiten und Grenzen des Sagbaren gesetzt (vgl. Spitzmüller 2005: 57). Das Wissen hingegen wird in der kognitivkonstruktivistischen Linguistik verstanden als − verstehensrelevant und als Schemata und Muster organisiert, − sprachlich konstruierte, argumentativ/ textuell ausgehandelte und diskursiv distribuierte Entität, − kulturspezifisches und somit auch soziales Phänomen, − wirklichkeits- und kulturkonstituierende Kraft, − Ausdruck der individuellen Sichtweisen und kollektiven Wertvorstellungen, − in seiner offenen Totalitätskonzeption mithin (Volks)Glauben, Überzeugungen, gesellschaftlich anerkannte Wirklichkeitsinterpretationen, Assoziationen und Stereotype. (vgl. Czachur 2011) Versucht man den Zusammenhang zwischen sprachlichem Wissen, Diskurs und kulturellem Kontext zu modellieren, so kann angenommen werden, dass − Diskurse zwischen der Kultur/ den Kulturen und der Sprache/ dem Wissen vermitteln, − Diskurse zum einen die Kultur/ die Kulturen und zum anderen die Sprache/ das Wissen einer Sprachgemeinschaft profilieren und stabilisieren, − Diskurse in einer Kultur Veränderungen ermöglichen, indem sie als argumentative Austragungsorte der Wertekämpfe gelten. (vgl. Czachur 2011) Daraus wird eindeutig ersichtlich, dass der kontrastive diskurslinguistische Ansatz einer Beschreibungskategorie bedarf, die zum einen die Erfassung der diskursiv profilierten Wissensformationen und zum anderen einen Vergleich nach dem Prinzip des tertium comparationis möglich macht. In Anlehnung an den amerikanischen Kognitivismus und an die slawischen, insbesondere polonistischen ethnolinguistischen Ansätze zum sprachlichen Weltbild, erscheint es angebracht, vom diskursiven Weltbild zu sprechen. Mit dieser Kategorie wird einerseits dem Postulat, das Wissen jeweils als diskursives Konstrukt aufzufassen, Rechnung getragen als auch die Möglichkeit eröff- (Kultur-)Kontrastive Diskursanalyse 17 net, den gegenseitigen Wirkungsprozess zwischen Kulturalität sowie der Diskursivität und der Bedeutungs- und Wissensgenerierung in seiner diskursiven Einzigartigkeit und Einmaligkeit zu erfassen. Die Kategorie des diskursiven Weltbildes bedarf jedoch einer weiteren Erläuterung, besonders im Hinblick auf ihr Verhältnis zu solchen Entitäten wie Wissen, Werte oder Diskurs. Eine grundsätzliche Bemerkung soll hier noch vorangestellt werden, die das diskursive Weltbild im generellen charakterisiert. Die Bezeichnung für die hier zu besprechende Kategorie besteht aus zwei Elementen, aus dem Element diskursiv und dem Element Weltbild. Es stellt sich die Frage, wofür diese Elemente stehen. Die Komponente Weltbild steht für das Bild, für die Erfassung, Konstruktion, Interpretation der Welt von einer Person, einer Gruppe oder einer Gemeinschaft. Das, wie ein Individuum oder eine Gemeinschaft das Weltbild z.B. eines Sachverhalts konstruiert, hängt vor allem von deren realen Erfahrungen oder narrativ wiedergegebenen Erfahrungswerten ab. Die Kategorie des Weltbildes ist mit der Kategorie des Denkstils von Fleck vergleichbar. Fleck stellt fest, dass, um etwas zu sehen, man zuerst um es wissen muss (vgl. Fleck 2007). Aus diesem Grund fungieren die Weltbilder als kognitive Konzepte, als Wissensrepräsentationen und -organisationen, die jeweils sprachlich konstituiert werden. Diese kognitiven und epistemologischen Konzepte entstehen dadurch, dass die Welt der Gegenstände und Sachverhalte in einer konkreten Kultur- und Sprachgemeinschaft versprachlicht wird bzw. in Zusammenhang mit der Sprache gebracht wird. Dadurch wird auch kollektiv anerkanntes Wissen generiert. Das Charakteristische für das Weltbild ist eine gewisse form- und inhaltsmäßige Stabilität und Dauerhaftigkeit. Die Komponente diskursiv steht hierbei für den dynamischen Charakter des Profilierungsprozesses von sprachlichen Weltbildern. Sprache als soziale und kulturelle Entität ist keine statische Größe, sie entwickelt und verändert sich permanent, weil sich die Gesellschaft permanent entwickelt. Daher erfolgt die Wissensgenerierung mittels Sprache in Diskursen. Demnach kann die Kategorie des diskursiven Weltbildes folgendermaßen definiert werden: − das diskursive Weltbild ist sprachlich kodiert, d.h., es gilt als sprachlich konstruiertes Denkmuster, Denkstil und Wissensspeicher, − das diskursive Weltbild ist zwar sprachlich konstruiert, wird aber diskursiv erzeugt, d.h., es gilt als Ergebnis von diskursiver Profilierung, von Kämpfen von kulturspezifischen Werten und Sichtweisen, als Produkt der diskursiv organisierten argumentativen Aushandlung, − das diskursive Weltbild ist kulturell bedingt, d.h. es gilt als „Momentaufnahme“ von Erfahrungen einer bestimmten Diskursgemeinschaft (sowohl der subjektiven Erfahrungen eines Individuums als auch als Interpre- Waldemar Czachur 18 tationsmuster für intersubjektive Erfahrungen), ist aber zugleich ein kulturelles Kontinuum. (Czachur 2011) Mit der Erfassung von diskursiven Weltbildern, die in einer Sprach- und Kulturgemeinschaft generiert werden, erfolgt auch die Erfassung von kulturspezifischen Sichtweisen, die für die in einer Diskursgemeinschaft spezifischen Werte stehen. Mit der Kategorie der kulturspezifischen Sichtweise können zum einen die Positionen und Interessen der einzelnen Diskurshandelnden und zum anderen die für eine Sprach- und Kulturgemeinschaft typischen und sich als dominant erwiesenen Denkweisen und Wissensmuster aufgedeckt werden. Die kulturspezifische Sichtweise ist in der kontrastiven Diskurslinguistik sowohl eine analytische Kategorie als auch eine handlungsbezogene, kognitive und anthropologische Entität. In der zweiten Lesart gilt sie als ein subjektivkultureller Faktor, der darüber entscheidet, auf welche Art und Weise über ein Objekt gesprochen und gedacht wird, auch über seine Kategorisierung und Konzeptualisierung, über die Wahl der onomasiologischen Basis für seine sprachliche Bezeichnung und über die Wahl der Eigenschaften, die dem Objekt in den Diskursen zugeschrieben werden (vgl. Barmiński 2009a und b). Vergleicht man also Diskurse, dann vergleicht man die diskursiven Weltbilder und die ihnen zugrundeliegenden kulturspezifischen Sichtweisen. Diese Weltbilder entstehen in Folge der semantisch-diskursiven Kämpfe und sie gelten als Ergebnis des Kampfes von Sichtweisen und Werten. Denn „auf Grund der unterschiedlichen Wissens- und Kommunikationsbereiche und der damit im Zusammenhang stehenden unterschiedlichen Bewertungen von Sachverhalten ist der Diskurs von einer deutlichen Konflikthaftigkeit geprägt“ (Spieß 2009: 311f.). Die Konflikthaftigkeit ist die Voraussetzung für das Diskursive und steht auch für einen Kampf der unterschiedlichen Sichtweisen, Perspektiven und Werte von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen, die eben die sprachlich manifestierte Bewertung von Sachverhalten, Ereignissen usw. mitbestimmen. Die Sichtweisen oder die Werte sind jeweils gruppen- und kulturspezifisch, denn sie basieren auf (historischen) bewusst oder unbewusst verarbeiteten Erfahrungen, die sich in gesellschaftlichen Zusammenhängen in Form von sozialen Praktiken einzelner Individuen oder bestimmter Gruppen verdichten und den Wissens- und somit Bewertungshorizont bedingen. Die Erfassung von diskursiven Weltbildern und kulturspezifischen Sichtweisen erfolgt auf Grund des sprachlichen Materials (über ein zusammengestelltes Korpus) durch die Analyse von beispielsweise Metaphern, Argumentationstopoi, Schlüsselwörtern, Frames, Kollektivsymbolik usw. (mehr dazu: DIMEAN- Modell von Warnke/ Spitzmüller 2008). Dass der Vergleich auf der Grundlage eines durchdachten methodologischen Konzeptes mit der Aufstellung eines (Kultur-)Kontrastive Diskursanalyse 19 tertium comparationis erfolgen soll, wurde bereits in einigen Arbeiten andiskutiert (vgl. Bartmiński/ Chlebda 2009, Czachur 2010). 4 Kontrastive Diskursanalyse: Vergleichsmöglichkeiten Bevor die Diskurse aus zwei unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen miteinander verglichen werden, soll überlegt werden, welche Konstellationen der Diskursvergleiche möglich sind und welche Erkenntnisinteressen sie jeweils verfolgen. Nach Böke/ Jung/ Niehr/ Wengeler (2000) sind folgende Vergleichskonstellationen von Diskursen möglich: − thematisch gleiche oder ähnliche Diskurse, die in zwei Diskursgemeinschaften gleichzeitig geführt werden, − thematisch gleiche oder ähnliche Diskurse, die in zwei Diskursgemeinschaften zu unterschiedlichen Zeiten geführt werden, − thematisch verschiedene Diskurse, die in zwei Diskursgemeinschaften zur gleichen Zeit geführt werden. Diese Überlegungen sind für die empirische Analyse von besonderer Bedeutung, weil ihre Ergebnisse je nach der Vergleichskonstellation von Diskursen anders ausfallen würden. An einigen Beispielen soll dies verdeutlicht werden. Vergleicht man thematisch gleiche Diskurse, die in zwei Diskursgemeinschaften gleichzeitig geführt werden, so stellt sich stets die Frage, ob die beiden Diskurse denselben Auslöser hatten. Als Beispiel kann u.a. der Diskurs zum Gaskonflikt aus dem Jahre 2009 gelten. Als kein russisches Gas mehr über die Ukraine nach Europa floß, waren fast alle Länder der EU betroffen. In all diesen Ländern wurde heftig darüber diskutiert, welche Aufgaben die EU in diesem Fall wahrnehmen soll, was die Aufgabe des Staates und was Aufgabe der Energiekonzerne ist, was die Energiesicherheit, die innere und nationale Sicherheit, Versorgungssicherheit oder Energiesolidarität bedeuten. Diese Begriffe werden in diesen Diskursen kulturspezifisch profiliert, denn jedes Land verfügt über andere historische Erfahrungen, materielle Ressourcen und politische Aspirationen. Aus der Analyse dieser Diskurse in Polen und Deutschland wurde deutlich, dass in Polen der Begriff Energiesolidarität eine dominante Rolle spielt und verstanden wird als die Notwendigkeit in schwierigen Situationen allen EU-Ländern untereinander zu helfen, während in Deutschland vor allem der Begriff der Unabhängigkeit vom russischen Gas als dominant erscheint. Demnach kommen durch die Analyse dieser Begriffe, die man als Schlüsselwörter bezeichnen kann, die kulturspezifischen Sichtweisen und Werte einer bestimmten Gemeinschaft zum Vorschein. In diesem Fall haben wir mit einem Waldemar Czachur 20 Diskursverständnis zu tun, der stark thematisch und zeitlich eingeschränkt ist, was aber auch die Genauigkeit und Tiefe der Analyse von kulturspezifischen Sichtweisen möglich macht. Im Forschungsinteresse steht öfter auch der öffentliche bzw. politische Diskurs als Gesamtheit der politisch oder gesellschaftlich relevanten Debatten zu bestimmten thematischen Fragen, die in Folge der diskursiven Ereignisse aktiviert werden. Es kann z.B. die EU-Osterweiterung oder der EU-Beitritt als ein solches diskursives Ereignis aufgefasst werden. So versucht Miller (2010) beispielsweise über die Analyse des Mediendiskurses Argumentationsmuster im deutschen und polnischen EU-Diskurs offenzulegen und damit auch implizit zu vergleichen. Ein noch anderes Diskursverständnis liegt solchen Analysen zugrunde, die z.B. dem Demokratie-Begriff im feministischen Diskurs in zwei Ländern nachgehen. Diesen Versuch unternahm Monika Grzeszczak (2010) anhand des Diskurses in Polen und Deutschland und kam zum Ergebnis, dass der Demokratie-Begriff in Polen zwei Profile erkennen lässt: Zum einen wird die Staatsform als „Demokratie ohne Frauen“, „Androkratie“ oder „patrialchale Demokratie“ bezeichnet und zum anderen manifestiert sich die Frauendiskriminierung in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens. In Deutschland dagegen lassen sich nach Grzeszczak drei Profile erkennen: Einerseits wird betont, dass das politische System keine volle Teilnahme beider Geschlechter an der Macht zulässt und andererseits wird hervorgehoben, dass die Gleichberechtigung beider Geschlechter vor allem im öffentlichen Leben noch nicht vollkommen umgesetzt wird. Dahinter stehen unterschiedliche Sichtweisen und Werte: die polnischen Feministinnen sprechen von der dominierenden, übermäßigten Rolle der Männer (besonders in der Politik), im deutschen Diskurs wird dagegen vor allem die Unterschätzung der Frauen und deren Rolle im politischen, gesellschaftlichen und beruflichen Leben betont (Grzeszczak 2010: 159). 5 Zusammenfassung Aus diesen obigen Beispielen wird deutlich, dass die kontrastive Diskursanalyse ein großes Erkenntnispotenzial im Bereich der Interkulturalität aufweist, weil sie über die Erfassung von diskursiven Weltbildern die kulturspezifischen Sichtweise und damit auch Werte aus zwei Sprach- und Kulturgemeinschaften offen legt und aus der Gegenüberstellung die Differenzen und Gemeinsamkeiten bewusst macht. Indem die kulturspezifischen Sichtweisen gegenüber gestellt werden, werden nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede offensichtlich, sondern auch die in einer Gemeinschaft bisher nicht sagbaren kog- (Kultur-)Kontrastive Diskursanalyse 21 nitiven Denk- und Argumentationsmuster als Alternativen sichtbar. Wie die Alternativen interpretiert werden, ist eine andere Frage. Hier ist das Interpretieren mit dem Prozess der Stereotypisierung und Generalisierung eng verbunden und deswegen ständig kritisch zu hinterfragen. Blickt man vor dem Hintergrund dieser Überlegungen auf die Ziele der kultur-kontrastiven Diskursanalyse zurück, so ist festzuhalten, dass sich die kultur-kontrastive Diskurslinguistik darauf konzentriert, die in der Analyse von Diskursen aus zwei Gemeinschaften identifizierten Unterschiede und Gemeinsamkeiten vor dem eigenkulturellen Hintergrund zu erklären. Damit wächst der kultur-kontrastiven Diskurslinguistik eine schwierige Erklärungsaufgabe zu. Sie muss erklären, warum die eine Gesellschaft gerade das weiß und die andere etwas anderes. Ihre praktische Relevanz ist vor allem zu begründen in der Bewusstmachung und Sensibilisierung für das Fremde und das Eigene sowie in der Kontrolle von Pauschalisierungen und Generalisierungen. Wichtig ist, dass der Vergleich, indem er Fremdheit, aber auch Eigentümlichkeit konstruiert, als Instrument der Selbstdistanzierung und Relativierung angesehen wird. In diesem Sinne gilt das Fremde als „Ferment“ für das Eigene. 6 Literatur Adamzik, Kirsten (2001): Grundfragen einer kontrastiven Textologie. In: Adamzik, Kirsten (Hrsg.): Kontrastive Textologie. Untersuchungen zur deutschen und französischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Roger Gabarell und Gottfried Kolde. Tübingen. S. 13-48. Bartmiński, Jerzy (2009a): Językowe podstawy obrazu świata. Lublin. Bartmiński, Jerzy (2009b): Aspects of Cognitive Ethnolinguistics. London/ Oakville. 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Gerade im Bereich des universitären Schreibens machen sich aber kulturspezifische Unterschiede im Aufbau der Texte und in einigen anderen Aspekten wie der subjektiven vs. objektiven Haltung des Schreibers besonders bemerkbar (vgl. Hornung 2002, 2009; Portmann-Tselikas 2001). Daher stellt sich in diesem Zusammenhang die entscheidende Frage: Inwiefern ist Schreiben in der Zweitsprache ein interkulturelles Problem und wie kann dieses didaktisch angegangen werden? Dabei ist auch zu klären, inwieweit kulturelle Unterschiede in der Wissenschaftssprache eine Rolle spielen oder nicht. Um diese Frage zu klären, ist zunächst ein methodisches Problem anzusprechen, nämlich: Welche Texte sollen bei der Analyse kulturspezifischer Besonderheiten in den Arbeiten ausländischer Studierender zugrunde gelegt werden? Vergleiche im Bereich kontrastive Textologie beziehen sich im Allgemeinen auf wissenschaftliche Zeitschriftenartikel, Rezensionen oder Abstracts. 1 In diesen __________ 1 In diesem Zusammenhang gibt es eine Vielzahl von kontrastiven Vergleichen im Bereich der Wissenschaftskommunikation, hier besonders zum Vergleich Deutsch- Englisch etwa von Clyne (1987, 1993 u.a.) Gnutzmann (1991), Busch-Lauer (2001), zum Deutsch-Französischen von Sachtleber (1993), zum Deutschen, Französischen und Englischen von Trumpp (1998), zum Deutschen und Russischen von Breitkopf (2006), zum Vergleich Deutsch-Englisch-Russisch von Baßler (2003) (vgl. auch die Beiträge in Adamzik 2001, Ehlich/ Heller 2006, Auer/ Baßler 2007a). Wesentlich zahlreicher sind noch die Vergleichspaare mit dem Englischen, hier sei nur exemplarisch Dietmar Heinrich/ Claudia Maria Riehl 26 Untersuchungen werden interkulturelle Unterschiede beim akademischen Schreiben herausgestellt, die sich v.a. auf Aspekte wie Makrostruktur, Stil, Selbstreferenz oder Subjektivität konzentrieren. Damit sind aber zwei Grundprobleme im Hinblick auf die oben genannte Problematik angesprochen: 1. Wissenschaftliche Texte stellen idealisierte Prototypen von professionellen Schreibern dar. Bei der Bewertung studentischer Arbeiten muss aber der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich dabei um Schreibnovizen im akademischen Bereich handelt. Daher sind kontrastive Studien, die sich mit studentischen Arbeiten, i.e. Seminararbeiten, auseinandersetzen, ein besonderes Forschungsdesiderat. So bemerkt etwa Kaiser (2002), dass zunächst die normative Basis (Wissenschaftsideal, Textmodelle, Stilideale) transparenter gemacht, z.T. auch kritisch hinterfragt werden muss, um festzustellen, über welche Stilideale und Textmuster die Studierenden verfügen, die sie dann gegebenenfalls aus der Muttersprache auf die deutsche Wissenschaftssprache übertragen. Kaiser (2002: 62f.) geht auch davon aus, dass die Textproduktion von Schreibnovizen viel stärker von einzelsprachlichen Texttraditionen geprägt ist als akademische Texte. 2. Die verschiedenen kulturellen Unterschiede in der Verwendung von Heckenausdrücken, Selbstreferenz und anderen rhetorischen Mitteln werden oft isoliert gesehen, statt als Teil einer kommunikativen Grundhaltung, die ein Grundkonstituens des Textes darstellt und damit auch ein kulturell stark verankertes Element bildet. Insofern stellen studentische Texte auch kulturelle Hybride dar. Im Gegensatz zu amerikanischen Studien, die sich bereits in den späten 80er Jahren mit kontrastiven Studien zum studentischen Schreiben auseinander setzten (vgl. Connor 1996: 130ff.), sind vergleichbare Studien für den deutschsprachigen Bereich eher selten und beschränken sich v.a. auf deutsch-romanische Kontraste (etwa Kaiser 2002, Schäfer 2010). Hier zeigt sich beispielsweise, dass spanischsprachige Schreiber viel stärkeren Wert auf die sprachlichstilistische Ausformung legen als die deutschen. Außerdem sind ihre Arbeiten stärker wertend und es werden Gefühle zum Ausdruck gebracht (me interesa, me sorprende que, vgl. Kaiser 2002: 228). Die deutschsprachigen Studenten __________ der Vergleich der englischen und tschechischen Wissenschaftssprache von Čmejrková (1996, 2007) erwähnt. Ein Forschungsüberblick zum Vergleich des Deutschen mit anderen Wissenschaftssprachen findet sich bei Breitkopf (2006: 11f.), ein Überblick zu Vergleichen mit dem Englischen bei Connor (1996) und Connor/ Nagelhourt/ Rozycki (2008), zu kulturellen Unterschieden auch Duszak (1997). Kommunikative Grundhaltung 27 bemühen sich dagegen mehr um Objektivität und stellen die formale Richtigkeit (Zitieren, Quellenangaben) in den Mittelpunkt (ebd. 177ff.). In ihren Arbeiten werden auch Unsicherheit und Zweifel ausgedrückt (scheinen, erscheinen, den Anschein haben, ebd. 228). Daraus wird ersichtlich, dass Parameter wie Subjektivität und Objektivität im romanischen Kontext einen ganz anderen Stellenwert haben als im Deutschen. Ausgehend von diesen Überlegungen wollen wir in unserem Beitrag sowohl eine methodische als auch eine theoretische Präzisierung bisheriger Herangehensweisen vornehmen: Zunächst soll ein methodisches Vorgehen bei der Erhebung eines geeigneten Textcorpus diskutiert werden, in einem zweiten Teil wird ein neuer Ansatz im Hinblick auf subjektive vs. objektive Orientierung von Texten vorgestellt, den wir mit dem Terminus ‚Kommunikative Grundhaltung‘ beschreiben wollen und den wir als eine wesentliche kulturspezifische Komponente betrachten. Der theoretische Ansatz soll dann an einem Aspekt, nämlich der Selbstreferenz, genauer exemplifiziert werden. 2 Forschungsansatz Da es sich beim Schreiben wissenschaftlicher Texte um eine sehr komplexe Aufgabe handelt, bei der eine Vielzahl von Kompetenzen eine Rolle spielen, soll in unserem Ansatz Wert auf die Ausbildung einzelner Teilkompetenzen (etwa nach Schmölzer-Eibinger 2008: 52ff.) gelegt werden. Wir wollen uns dabei auf zwei wesentliche Kompetenzen beschränken, die Argumentationsführung, d.h. die Kenntnis bestimmter Textordnungsmuster, und die Leseradäquatheit, d.h. die Fähigkeit einen Text auf einen bestimmten Adressaten hin auszurichten. Zu diesem Zweck wurde eine Schreibstudie durchgeführt, an der 40 tschechische Germanistikstudenten der Universität Hradec Králové und 30 muttersprachliche Germanistikstudenten der Universität Köln teilnahmen. Die Studierenden bekamen eine Aufgabe, die sich an das Muster in Riehl (2001) anlehnt, nämlich eine fiktive Umfrage zum folgenden Thema: Auslandssemester Pflicht Aufgrund der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft sind für viele Unternehmen gute Fremdsprachenkenntnisse und Erfahrungen mit fremden Kulturen zentrale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewerbung. Um den Hochschulabsolventen auf dem globalen Markt bessere Chancen zu eröffnen, fordern führende Vertreter aus Industrie und Wirtschaft deshalb, für alle Studierenden ein Pflichtsemester im Ausland einzuführen. Die Forschungsgruppe „Studium und Beruf“ der Wirtschaftsuniversität Prag führt dazu an verschiedenen Universitäten eine Befragung durch, in deren Rahmen auch Dietmar Heinrich/ Claudia Maria Riehl 28 Sie dazu aufgerufen sind, zu dieser Forderung nach einem Pflichtsemester im Ausland Stellung zu nehmen und Ihre Stellungnahme zu begründen. Ziel des Schreibprojektes war es, festzustellen, ob es in den Texten der beiden Gruppen neben den zu erwartenden Differenzen in der sprachlichen Kompetenz Unterschiede gibt, die sich auf kulturspezifische Faktoren zurückführen lassen. 2 Dieses Vorgehen bietet gegenüber bisherigen Untersuchungen die folgenden Vorteile: 1. Durch die Isolierung von Teilkompetenzen, die für wissenschaftliches Schreiben relevant sind, wird eine leichtere Vergleichbarkeit erzielt. 2. Da alle Schreiber das gleiche Thema bearbeiten, sind keine thematisch bedingten textsortenspezifischen Unterschiede in Betracht zu ziehen. 3. Durch den Vergleich der Texte in verschiedenen Sprachen kann kulturspezifisches pragmatisches Wissen analysiert werden. 3 Im Folgenden soll nun ein wichtiger Aspekt genauer erläutert werden, der einen zentralen Punkt in unserer Studie bildet, nämlich die Orientierung des Textes auf einen potenziellen Leser hin. Gerade hier gibt es große Unterschiede zwischen den beiden Probandengruppen, die möglicherweise auf kulturspezifische Gestaltungsmuster zurückzuführen sind und die besonders den Aspekt betreffen, den wir mit ‚kommunikativer Grundhaltung‘ bezeichnen. 3 Der Aspekt der ‚Kommunikativen Grundhaltung‘ 3.1 Begriffsklärung Der Begriff ‚Kommunikative Grundhaltung‘ lehnt sich an die Darstellung von Nussbaumer/ Sieber (1994) und Sieber (1998) an, die darunter mündlich orien- __________ 2 Dieses Schreibprojekt dient als Grundlage für ein Dissertationsprojekt von Dietmar Heinrich mit ca. 250 Probanden, auch unter Einbezug von Texten in der Erstsprache Tschechisch (s. Fußnote 3). 3 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Vergleich von Texten ein und desselben Schreibers in L1 und L2. Dies gibt zusätzlich Auskunft auf die Frage, ob bestimmte Unterschiede in den auf Deutsch verfassten Texten auch auf sprachliche Defizite zurückzuführen sind. Im Rahmen der Schreibstudie wurde diese Möglichkeit leider noch nicht durchgeführt, sie wird aber in dem bereits erwähnten Dissertationsprojekt von Dietmar Heinrich ebenfalls berücksichtigt werden. Kommunikative Grundhaltung 29 tierte versus schriftliche orientierte Ausdrucksformen verstehen und die darin im Wesentlichen mit dem Konzept von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Koch/ Oesterreicher (1985, 1994 et al.) übereinstimmen. In unserer Definition von ‚Kommunikativer Grundhaltung‘ möchten wir jedoch im Gegensatz dazu darunter nur einen Aspekt des Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Paradigmas fassen, der etwa bei Chafe (1982) mit den Termini involvement vs. detachment beschrieben wird. Bereits Tannen (1982: 17) wies darauf hin, dass der Faktor der Involvierung oder Distanzierung auf einer anderen Ebene anzusiedeln ist als die Paradigmen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, d.h. etwa, dass Involvierung nicht zwangsläufig mit konzeptioneller Mündlichkeit verbunden sein muss. Auch in Riehl (2001) zeigte sich, dass der von Sieber beschriebene Parlando-Stil zwar viele Elemente konzeptioneller Mündlichkeit aufweist, aber im Gegensatz zu einfachen mündlich geprägten Texten durchaus eine rhetorische Durchformung besitzt, die im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass der Schreiber bestimmte Involvierungsstrategien anwendet, um emotionale Wirkungen beim Rezipienten zu erzeugen. Dies lässt sich aber auch mit Texten bewerkstelligen, die einen sehr elaborierten Wortschatz und komplexe syntaktische Formen aufweisen. So zeichnen sich ja gerade literarische Texte durch ein hohes Maß an konzeptioneller Schriftlichkeit aus, aber gleichzeitig auch durch eine starke Markierung der Affektstruktur (s.u.), die Involvierung des Lesers hervorruft. Ein wesentliches Merkmal der Involvierungsstrategie ist u.a. das Herstellen einer unmittelbaren Sprecher-Hörer-Deixis durch die Präsenz von Schreiber und Leser im Textraum. Demgegenüber stehen Distanzierungsstrategien, d.h. Strukturen, die eine objektive Gestaltung zu erreichen suchen. Ein wesentliches Element ist dabei die Vermeidung von Sprecher- und Hörer-Referenz. Da die Konzeption mündlicher Äußerungen prototypischer Weise mit Involvierungsstrategien und die Konzeption schriftlicher Äußerungen mit Distanzierungsstrategien einhergeht, ist konzeptionelle Mündlichkeit in der Regel mit involvement und konzeptionelle Schriftlichkeit mit detachment verbunden. Dies ist aber, wie die gerade erwähnte Form der literarischen Erzählung zeigt, nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. 3.2 Merkmale von Involvierungsstrategien Ein wichtiger Aspekt der Involvierung ist in Kontrast zu dem von Chafe (1982) vorgeschlagenen Terminus involvement eine doppelseitige Bedeutung: Einmal das Sich-Einbringen des Sprechers selbst in den Text (sprecherseitige Involvierung) und einmal das Verwickeln des Hörers in den Text (hörerseitige Involvierung). Daher lässt sich die für die Involvierung wichtige unmittelbare Spre- Dietmar Heinrich/ Claudia Maria Riehl 30 cher-Hörer-Deixis durch zwei verschiedene Verfahren erzeugen: einmal die Selbstreferenz, d.h. der Sprecher verwendet die erste Person (Sg. oder Pl.) und zum anderen durch die unmittelbare Anrede des Lesers. 4 Ein weiterer Aspekt der Involvierung ist die Erzeugung einer sog. Affektstruktur (Boueke et al. 1995). 5 Dieser Terminus wurde für narrative Texte entwickelt, lässt sich unseres Erachtens aber ebenso auf argumentative Texte übertragen. Boueke et al. (1995: 78) verstehen unter Affektstruktur „jene Emotionalisierung und Strukturierung, durch die es dem Erzähler in besonderer Weise gelingt, den Zuhörer in das Geschehen einzubeziehen“. Dazu sind bestimmte Elemente einzusetzen, die emotionale Wirkungen beim Rezipienten und damit seine Anteilnahme hervorrufen. An der Textoberfläche kann dies durch die explizite Nennung von Gefühlsreaktionen auf ein bestimmtes Ereignis geschehen oder aber durch „Textpassagen mit impliziter emotionaler Relevanz“ (ebd. 98). Boueke et. al. (1995: 109) unterteilen die Affekt-Markierungen für die Textsorte ‚Erzählung‘ in drei Kategorien: 1. Die sprachlichen Elemente, die die Wahrnehmungen, Gedanken oder explizit verbale Handlungen der Hauptfigur umschreiben (Kategorie ‚Psychologische Nähe‘), 2. die sprachlichen Elemente, die „das Positive der plan-kompatiblen und das Negative der plandivergenten Ereignismenge“ (ebd.) betonen (Kategorie ‚Valenz‘), 3. die Elemente, die die Unerwartetheit zum Ausdruck bringen (Kategorie ‚Plötzlichkeit‘). Während die Kategorie der Plötzlichkeit tatsächlich erzähltextspezifisch zu sein scheint - markiert sie ja das eigentliche Grundkonstituens der Erzählung, nämlich den Bruch - so sind die beiden anderen Kategorien durchaus in argumentativen Texten zu finden. So wird etwa die Ebene der Valenz besonders durch wertende Adjektive und Modalpartikeln markiert, das Herstellen psychologischer Nähe geschieht durch das Involvieren des Lesers in den Textraum, bei narrativen Texten häufig durch Mittel wie direkte Rede. Ähnliches kann im argumentativen Text durch rhetorische Fragen erzeugt werden: Hat man die Studenten gefragt? Aber sind sie wirklich glücklich? (TB, 1.11) 6 Die Gedanken des Schreibers äußern sich in persönlichen Stellungnahmen (ich __________ 4 Im ersten Falle ist nicht auszuschließen, dass die Involvierung des Lesers selbst (also sein Bezug auf das Ich) ohne planerische Absicht erfolgt, daher wollen wir in diesem Fall von dem Terminus ‚Strategie‘ absehen. 5 Zur Erläuterung des Begriffs und seiner Herleitung aus psychologischen Theorien und den Markierungen von Emotionalität in der erzähltheoretischen Forschung (Labov u.a.) s. Boueke et al. (1995: 92ff.). 6 Beispiele aus dem Corpus. Zur Notation: Die Buchstaben sind die Akronyme des Schreibers, die erste Zahl das Studienjahr, die zweite die laufende Nummer. Die Texte der deutschen Schreiber sind durch das Kürzel dt gekennzeichnet. Kommunikative Grundhaltung 31 glaube, ich finde ...). Eine Anwesenheit von Schreiber und Leser im Textraum ist auch durch das inklusive wir gewährleistet (das wissen wir alle, IT, 1.20). Im Folgenden soll eines dieser zentralen Phänomene der Involvierungstechnik diskutiert werden, nämlich die Selbstreferenz, d.h. der Autor tritt hier durch die erste Person im Textraum in Erscheinung. 7 Diese vermittelt ebenso wie die zweite Person eine stärkere Nähe zwischen Schreiber und Leser, da sie sich auf die unmittelbare Sprecher-Hörer-Deixis bezieht und die Anwesenheit des Schreibers im Raum simuliert. Im Gegensatz dazu vermittelt die 3. Person in Form eines Agens und noch stärker die Agenslosigkeit (Passivkonstruktionen oder sog. Subjektschub) die Absenz von unmittelbarer Sprecher-Hörer- Deixis. Um den Rahmen des Artikels nicht zu sprengen, wollen wir uns im Folgenden auf den Aspekt der Selbstreferenz in Form der 1. Pers. Sg. beschränken und diesen im Zusammenhang mit der Involvierungsstrategie diskutieren. 3.3 Selbstreferenz als Involvierungsstrategie Das Thema Selbstreferenz ist auch deshalb sehr prominent, weil es gerade in Untersuchungen zu akademischen Texten immer wieder thematisiert wird. Während Kretzenbacher (1995) in Anschluss an Harald Weinrich (1989) noch ein sog. ‚Ich-Tabu‘ für das Deutsche formuliert hat, wird in neueren Arbeiten zum akademischen Schreiben immer wieder betont, dass durchaus auch Selbstreferenz vorkommt, wenngleich auch in geringem Prozentsatz und unterschiedlich je nach Disziplin (vgl. Steinhoff 2007). Auch viele kontrastive Studien sehen gerade in diesem Punkt wesentliche Unterschiede zwischen dem Deutschen einerseits und etwa romanischen oder slawischen Sprachen andererseits (vgl. etwa Kaiser 2002, Breitkopf/ Vassileva 2007, Čmejrková 2007). In den jeweiligen Beiträgen wurde immer wieder auf die unterschiedlichen Kontexte, Funktionen und Typen der Selbstreferenz hingewiesen, allerdings wurden diese kaum in einen konkreten Zusammenhang mit Involvierungsstrategien gebracht. Der Unterschied unseres Ansatzes zu den Ansätzen der Kontextualisierung des Ichs (etwa bei Kuo 1999, Vassileva 1998 und 2000, Čmejrková 2007), der Kategorisierung von Funktionen (interaktive, relativierende, narrative Funktion bei Breitkopf 2006) und des Ich-Gebrauchs in Zusammenhang mit Texthandlungen (wie Textstrukturierung, Untermauern einer These, Angaben metalingualer Äußerungen etc. bei Steinhoff 2007) wird hier __________ 7 Dies kann nicht nur durch die grammatische 1. Person des Verbs geschehen, sondern auch durch das Possessivpronomen der 1. Person wie in meines Erachtens, meiner Meinung nach. Dietmar Heinrich/ Claudia Maria Riehl 32 die Präsenz des Autoren-Ichs auf unterschiedlichen Ebenen des Textes thematisiert. 8 Die Analyse der verschiedenen Ebenen, auf denen die Selbstreferenz stattfindet, erlaubt es, zwischen unterschiedlichen Graden, bzw. unterschiedlicher Intensität der Involvierung zu unterscheiden. 4 Ebenen der Selbstreferenz 4.1 Ebene der Diskurssteuerung Auf der untersten Ebene, die noch kaum Involvierung in den Text nach sich zieht, sind ich-Kommentare anzusiedeln, die als sog. advance organizers zu verstehen sind. Darunter sind sprachliche Mittel zu verstehen, die eine Orientierung des Lesers im Text bewirken (z.B. im Folgenden werde ich ...). Der Kommentator tritt hier nur auf der Ebene des Diskurses in Erscheinung und kommentiert die Metaebene (sog. intratextuelle Prozeduren, vgl. Steinhoff 2007: 180ff.). Mit dieser Strategie möchte der Schreiber den Leser bei der Textrezeption unterstützen, daher kommt in diesen Passagen am häufigsten Selbstreferenz vor. Folgende Beispiele finden sich hierzu etwa in den Texten der tschechischen Schreiber: (1) a) Alles, was ich gerade geschrieben habe, sind die Vorteile (EK, 1.9) b) Eins noch möchte ich sagen (MD, 4.4) Auch bei den deutschen Schreiberinnern und Schreibern kommt die Selbstreferenz auf dieser Ebene häufiger vor, allerdings findet man dabei Unterschiede in der Darstellung. Was sich hier zeigt, ist, dass die muttersprachlichen Schreiber textspezifische Formulierungsmuster der advance organizers beherrschen: c) Letztlich komme ich zu dem Schluss, dass… (CC, 2.dt. ) d) Im Folgenden werde ich erläutern … (RD, 2.dt) __________ 8 Wie bereits betont, wird diese Analyse hier an einem einfachen argumentativen Text vorgenommen. Bei wissenschaftlichen Texten kommt noch eine weitere Ebene hinzu, nämlich der Fußnotentext. Dieser ist als Paratext anzusehen und eher der Textsorte Kommentar zuzuordnen. Es ist daher wahrscheinlich, dass dort der Autor stärker als Person hervortritt. So ist etwa auch das verstärkte Auftreten des sog. Verfasser- und Forscher-Ichs in den Fußnoten im Corpus von Steinhoff (2007) zu deuten. Kommunikative Grundhaltung 33 Hier zeigt sich bereits, dass wir es offensichtlich bei den Involvierungsstrategien mit einer zusätzlichen Ebene zu tun haben, die mit dem Paradigma von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verknüpft wird, denn die Beispiele 1a,b sind wesentlich stärker an mündlichen Mustern (Basiswortschatz etc.) orientiert, während 1c,d typische Formulierungsmuster konzeptioneller Schriftlichkeit darstellen. 4.2 Ebene der Meinungsäußerung Auf dieser Ebene wird der Bezug des Schreibers zum Dargestellten zum Ausdruck gebracht. Er involviert sich damit bereits wesentlich stärker in den Text und stellt psychologische Nähe her, indem er seine eigene Meinung äußert; er evaluiert damit das Dargestellte und bewertet die Argumente. In diesem Fall hat der Ich-Bezug die Funktion der Relativierung. 9 Durch das Auszeichnen der eigenen Meinung legt der Schreiber sich zum einen nicht fest und ist daher weniger angreifbar, zum anderen lässt er aber offen, dass der Leser eine andere Meinung vertritt, er vollzieht damit den Akt des Face-savings (vgl. Breitkopf 2006: 115). Der Ausdruck der eigenen Meinung kann zum einen aufgrund von Pseudo- Expertentum erfolgen, z.B. Ich habe mich intensiv mit dem Thema befasst und ich muss... widersprechen (VS, 1.37), kann aber auch eine persönliche Einstellung zum Thema zum Ausdruck bringen (vgl. Dieses Thema ist für mich interessant FJ, 4.5). Beispiele dazu aus dem Corpus: (2) a) Ich denke, dass es eine gute Idee ist, wenn… (KD, 1.15) b) Meiner Meinung nach ist dieser Gedanke sehr gut (EN, 2.21) c) Ich persönlich halte es nicht für sinnvoll, dass… (DE, 2.dt) d) Entgegen dieser Vorteile sehe ich jedoch diese Forderung als problematisch an (IA.2.dt) In diesem Falle unterscheiden sich die tschechischen Beispiele nicht nur durch ihr wesentlich häufigeres Vorkommen (s. 4.4), sondern auch durch den Typ von Urteilen. Während sich die deutschen Schreiber auf evaluative Urteile beschränken, kommen in den tschechischen Texten auch gustatorische Urteile __________ 9 Hier überschneidet sich die Funktion der ich-Referenz mit der von Unschärfemarkierern wie etwa scheinen (vgl. Auer/ Baßler 2007b: 20). Allerdings ist hier eine Skala anzunehmen: Ich: Meinung eines einzelnen → scheinen: Meinung vieler → generalisiert: Meinung aller. Dietmar Heinrich/ Claudia Maria Riehl 34 vor. Der Unterschied besteht darin, dass evaluative Urteile an einem objektiven Standard gemessen werden können, d.h. man kann ihnen widersprechen (Beispiel: Der Wein ist gut), während gustatorische Urteile nur persönliche Affekte zum Ausdruck bringen, denen man nicht widersprechen kann (Beispiel: Der Wein schmeckt mir gut, s. Keller 2006). Vgl dazu: e) Die Pflicht - dieses Wort habe ich nicht gern (BB, 1.31) f) Es freut mich, dass ... (DM, 1.18) g) Vor allem ekelt mich die Idee an... (KZ, 1.24) Beispiele wie e)-g) stellen zwar nur einen geringen Prozentsatz dar, in den Texten, in denen sie auftreten, sind sie aber ebenfalls ein Beispiel für eine stärkere Form der Involvierung. 4.3 Ebene des Dargestellten Auf der obersten Ebene, die zugleich die intensivste Form von Involvierung darstellt, wird eigenes Erleben als Argument eingesetzt. Damit wird nicht nur die Bewertung des Schreibers subjektiv, sondern auch das Dargestellte an sich verliert seine allgemeine Gültigkeit. Dies äußert sich als Ausdruck der eigenen Erfahrung (oder der nahe stehender Personen) (a) oder des Ausdrucks des eigenen Bezugs zum Thema: 10 (3) a) Ich persönlich verbrachte kein Semester im Ausland als Studentin einer Universität. Ich arbeitete als Au Pair in Deutschland. Wir haben auch Freunde im Ausland, die ich oft besuche. Als ich so 14 Jahre alt war, nahm ich mehrmals in den Ferien an den Ferienlager mit der deutschen Kindern teil. (KK, 4.7) b) Wenn ich Glück hätte, möchte ich natürlich im Ausland studieren, arbeiten, tanzen und den Yoga turnen. Es wäre nicht schlecht dort für ein paar Jahren leben und später vielleicht bleiben (AH, 1.3) Diese Beispiele zeigen bereits, dass es nicht nur verschiedene Ebenen der Selbstreferenz gibt, sondern dass Formen wie diese zwangsläufig eine stärkere __________ 10 Die narrative Funktion des Ich-Bezugs wird auch bei Breitkopf (2006: 76ff.) und Steinhoff (2007: 199ff.) ausführlich diskutiert. Allerdings hat Breitkopf einen sehr weit gefassten Begriff von Narration, sie versteht darunter grundsätzlich Tätigkeiten des Verfassers (z.B. Informationen über seine Forschungstätigkeit, aber auch Danksagungen, vgl. Breitkopf 2006: 76). Steinhoff dagegen definiert sein Erzähler-Ich auch in unserem Sinne als Darstellung eigener Erlebnisse und Erfahrungen (vgl. 2007: 199ff.). Kommunikative Grundhaltung 35 Involvierung des Schreibers bedingen, da sie nicht nur die Einstellung subjektivieren, sondern sogar die Argumentation an sich. Damit sind sie aber Ausdruck einer völlig anderen kommunikativen Grundhaltung, die eigentlich auf eine andere Textsorte schließen lässt (s.u.). 4.4 Unterschiede zwischen deutschen und tschechischen Schreibern auf den Ebenen der Selbstreferenz Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Texte der deutschen Schreiber wesentlich weniger Selbstreferenz zeigen. Das Maßgebliche dabei ist aber, dass die Unterschiede auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln sind. Die Übersicht zeigt, dass von den deutschsprachigen Schreibern grundsätzlich 20% überhaupt keine Selbstreferenz enthalten, während der Ich-Bezug bei 8% nur auf der Diskursebene oder wenn auf der Bewertungsebene, dann nur in der Conclusio erscheint (18%). Die tschechischen Studierenden zeigen dagegen in allen Texten Selbstreferenz und zwar neben der Diskursauch immer auf der Bewertungsebene (22%). Erstaunlicherweise sind es sogar 70%, die neben der Bewertungsebene auch die Darstellungsebene mit einschließen. Selbstverständlich ist das Corpus nicht repräsentativ, um statistische Relevanz überprüfen zu können, aber die Tendenzen sind eindeutig und scheinen sich auch in den im Rahmen des Dissertationsprojekts von Dietmar Heinrich erhobenen Texten weiter abzuzeichnen. Unterschiede bei den Ebenen von Selbstreferenz 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 O h ne Se lb str efere nz n ur Di skur seb ene Bew erten i n Co ncl usi o Di skur s un d Be we rten Bew er ten un d D arstel le n De utsche Tscheche n Dietmar Heinrich/ Claudia Maria Riehl 36 In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass in vielen Anweisungen zum Schreiben von wissenschaftlichen Texten explizit das ‚Ich‘-Tabu (Kretzenbacher 1995, s.o.) formuliert wird. Allerdings ist, wie Steinhoff (2007) an seinem Corpus herausgearbeitet hat, auch in deutschen wissenschaftlichen Texten durchaus Selbstreferenz möglich. Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass es sich hier fast ausschließlich um Referenzen auf der Diskursebene handelt, die damit eine relativ oberflächliche Involvierung des Schreibers zur Folge haben und somit immer noch die Kommunikative Grundhaltung der Objektivierung vorherrscht. 5 Erklärung: Unterschiede im kulturellen Wissen Der Vergleich der Texte der deutschen und tschechischen Studentengruppe zeigt deutlich unterschiedliche kommunikative Grundhaltungen: Auf der Seite der tschechischen Studierenden kommt ein wesentlich stärkeres Involvement - hier vertreten durch Formen der Selbstreferenz - zum Ausdruck, besonders auch die Selbstreferenz auf der Argumentebene (eigenes Erleben als Argument). Dafür sind nun zwei Erklärungsmuster möglich, die sich allerdings auch wechselseitig bedingen: Die erste Erklärung bedient sich des psychologischen Konzepts der sog. Kulturstandards, die nach Alexander Thomas (1999) als „zentrale Kennzeichen einer Kultur“ ein „Orientierungssystem des Wahrnehmens, Denkens und Handelns“ bilden. Im Hinblick auf den angesprochenen Grad der Involvierung ist insbesondere das Kulturstandardpaar „Sachbezug“ versus „Personenbezug“ von Bedeutung. Wie Sylvia Schroll-Machl/ Nový (2008) ausführen, ist in Deutschland in der beruflichen Kommunikation die Sachebene beherrschend (Zielorientierung, Argumentieren auf der Grundlage von Fakten, Aufzeigen von Handlungsansätzen, Darstellung von Voraussetzungen und Konsequenzen). Sachlichkeit im beruflichen Verhalten gilt als professionell. Auch auf sprachlicher Ebene wird die Sachorientierung schnell deutlich: man erklärt die „Sachlage“, folgt „Sachzwängen“, „man kommt zur Sache“ in geschäftlichen Besprechungen und „bleibt bei der Sache“ (vgl. Schroll-Machl/ Nový 2008: 32). Erst aus der Sachorientierung heraus erfolgt die Gestaltung der interpersonalen Beziehung. In Tschechien dagegen ist der Kulturstandard „Personenbezug“ dominanter, denn die erfolgreiche Gestaltung der Beziehungsebene wird als Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit betrachtet. Zunächst steht also mehr die agierende Person im Blickpunkt, weniger der Inhalt ihres Tuns. Auch hat die persönliche, mündliche Kommunikation Vorrang vor der schriftlichen: Die Schriftform für viele Informationen oder Dokumentationen wird sogar eher abgelehnt, weil sie ausschließlich die Sache darstellt unter Ausschluss Kommunikative Grundhaltung 37 eines persönlichen Eindrucks und persönlicher Kontakte. Die Bereitschaft zu mündlicher Berichterstattung existiert dagegen durchaus (ebd. 29). Die im Kontext der beruflichen Kommunikation beschriebenen Kulturstandards (hier Sachbezug vs. Personenbezug) haben Auswirkungen auf die Gestaltung von Texten, da viele kulturspezifische Einstellungen und Werte in bestimmten Diskurs-/ Textsortenkonventionen institutionalisiert sind. Wir gehen nun im Besonderen davon aus, dass sich diese unterschiedlichen Kulturstandards auch in unterschiedlichen kommunikativen Grundhaltungen ausdrücken. Diese verlangen wiederum unterschiedliche Darstellungsmuster, einmal ein Muster, das in höherem Maße Involvierungsstrategien aufweist, und einmal ein Muster, das auf Distanzierungsstrategien aufbaut. Bei Kulturen, bei denen eher der Personenbezug im Vordergrund steht, überzeugt der Autor den Leser durch seine persönlichen Urteile (evaluativer und gustatorischer Natur), persönliche Einstellungen und Erfahrungen dienen als Argumente. Bei Kulturen, in denen eher der Sachbezug im Vordergrund steht, überzeugt der Autor den Leser durch Urteile, die deskriptiv verpackt sind. Hier dienen allgemeine Einstellungen und Erfahrungen als Argumente, z.B. (4) Wenn man zum Beispiel auf die USA schaut, so können sich selbst finanziell gut situierte Studierende kaum die dort anfallenden Gebühren für internationale Studenten leisten, geschweige denn die Kosten für eine halbwegs adäquate Unterkunft (MK, 2.dt.) Ein weiterer Aspekt, der hier mit hereinspielt, sind die Unterschiede in der Einübung der Textsorten in der Schule. Hier spielen also Lehrpläne und Unterrichtstraditionen eine entscheidende Rolle. Denn auch die gerade erwähnten Grundhaltungen werden durch die unterschiedlichen Unterrichtstraditionen bestimmt. So legt etwa eine Sprachgemeinschaft durch die vorgeschriebenen Curricula fest, welche Textsorten vorrangig an die nächste Generation übermittelt werden sollen. Hier lässt sich beim Vergleich von Deutschland und Tschechien feststellen, dass man offensichtlich unterschiedliche Textsorten einübt. So steht etwa in den deutschen Lehrplänen die Erörterung (nach dem Muster pro - contra - conclusio) im Vordergrund, in der Tschechischen Republik dagegen der Essay (persönliche Meinung und Stellungnahme ist explizit gefragt). 6 Schlussbemerkung Mit der vorliegenden Studie konnte gezeigt werden, wie wichtig es ist, vermehrt studentische Arbeiten in die kontrastive Textanalyse einzubeziehen, um Dietmar Heinrich/ Claudia Maria Riehl 38 festzustellen, über welche Stilideale und Textmuster Studierende aus unterschiedlichen Kulturräumen verfügen. Weiter konnte dargestellt werden, dass die Verwendung von Mitteln der Selbstreferenz und anderen rhetorischen Mitteln nicht isoliert gesehen werden darf, sondern einen ganz wesentlichen Bestandteil eines interkulturellen Paradigmas bildet, das hier als ‚kommunikative Grundhaltung‘ bezeichnet wurde. Am Beispiel der Involvierungsstrategie der Selbstreferenz, die die Aufgabe hat, die Anwesenheit von Hörer und Leser im Textraum zu simulieren, ließ sich zeigen, dass die kulturellen Unterschiede nicht nur in der Häufigkeit zu verzeichnen sind, sondern dass entscheidend ist, auf welchen Ebenen des Textes Selbstreferenz vorkommt: Während die deutschen Schreiber überwiegend nur auf der Ebene der Diskurssteuerung auf sich selbst referieren, weisen die tschechischen Studierenden vor allem auf den Ebenen der Meinungsäußerung und auf der Argumentationsebene einen hohen Prozentsatz an Selbstreferenz auf. Sie demonstrieren damit die kommunikative Grundhaltung der Involvierung, während die deutschen Schreiber eine Distanzierungsstrategie verfolgen. Als Ursachen für diese kulturellen Unterschiede können zum einen unterschiedliche Kulturstandards angenommen werden - wie „Sachbezug“ versus „Personenbezug“ -, zum anderen sind diese Differenzen auch auf unterschiedliche Unterrichtstraditionen zurückzuführen. Es spielt demnach eine wichtige Rolle, welche Textsorten mit welcher kommunikativen Grundhaltung im Schulunterricht vermittelt werden. Diese Feststellungen haben nun Konsequenzen für den universitären Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht, in dessen Rahmen die Studierenden auch auf das wissenschaftliche Schreiben vorbereitet werden sollen: Hier ist es u.E. sehr wichtig, die Bedeutung unterschiedlicher kommunikativer Grundhaltungen zu thematisieren und auch die unterschiedlichen Ebenen des Textes anzusprechen, auf denen Involvierungsstrategien erfolgen können, sowie die Funktionen in ihrem kulturellen Bezug deutlich zu machen. 11 __________ 11 Außerdem ist der Forderung von Graefen (2009: 115) nachzukommen, dass grundsätzlich kleinere Einheiten, die nur Teilkompetenzen des wissenschaftlichen Schreibens beinhalten, eingeübt werden sollen. Kommunikative Grundhaltung 39 7 Literatur Adamzik, Kirsten (2001): Kontrastive Textologie. Tübingen. Auer, Peter/ Baßler, Harald (Hrsg.) (2007a): Reden und Schreiben von Wissenschaftlern. Frankfurt/ New York. Auer, Peter/ Baßler, Harald (2007b): Der Stil der Wissenschaft. 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Oft herrscht sogar die Meinung, es gebe keine interkulturelle Phonetik oder Phonologie: Klassische Kernbereiche der Linguistik wie die Grammatik, Syntax, Phonologie sind […] von der Herausbildung neuer interkultureller Forschungsrichtungen nicht betroffen: Es gibt keine interkulturelle Grammatik, Syntax oder Phonologie. (Raster 2002: 2). An anderer Stelle räumt man der Phonologie zumindest eine Randstellung ein: Wir werden sehen, dass Phonologie, Morphologie und Syntax tendenziell einen geringeren Anteil an kulturell bedingten Unterschieden aufweisen, Semantik, Pragmatik und Text hingegen einen potentiell höheren. (Di Meola 2006: 27). Aus diesem Grund stellt sich die Frage, was Gegenstand einer interkulturellen Phonetik ist. Die meisten Arbeiten bezogen sich lange fast ausschließlich auf kontrastive phonetisch-phonologische Untersuchungen (wie artikulationsphonetische Diskrepanzen), auf Fehleranalysen und darauf, welche Auswirkungen die Muttersprache auf die Fremdsprache Deutsch hat. Andere, die Phonetik betreffende Themenbereiche sind zum Beispiel Untersuchungen sprachenspezifischer Sprechstimmlagen (z.B. Fredrich 1987, Braun 1994) oder - im Rahmen der Akustik - Langzeit-Spektralanalysen (z.B. Harmegnies/ Landercy 1985). Aus der Reihe der Sprechwissenschaftler sind Eberhard Stock und Christina Zacharias hervorzuheben, die in den 1970er Jahren I n t o n e m e beschrieben, bei denen sie Russisch, Englisch und Deutsch verglichen (Stock/ Zacharias 3 1982: 77ff.). Diesen deskriptiv-kontrastiven Ansätzen stehen zwei Forschungsbereiche ergänzend gegenüber: In einem wird der Grundfrage nachgegangen, inwieweit Ulrike A. Kaunzner 44 phonetischen Unterschieden kulturelle Faktoren zugrunde liegen, im anderen geht es um die Wirkung der gesprochenen Sprache. Hinsichtlich des ersten Punktes gibt es zwei konträre Meinungen: Die meisten Forscher distanzieren sich von Behauptungen oder relativieren die Ansicht, phonetisch-phonologische Elemente könnten auf kulturelle Hintergründe zurückzuführen sein (siehe beispielsweise Di Meola 2006). (Das ist nicht zuletzt Grund dafür, warum sich die Interkulturelle Linguistik kaum mit diesem Gebiet befasst.) Andere wiederum vertreten die gegenteilige Auffassung. So legt der Franzose Alfred Tomatis den von ihm berechneten ethnischen „Hüllkurven“ 1 (les courbes d’enveloppe) u.a. geographisch-klimatische Bedingungen zugrunde, die das Gehör und damit die Frequenzprofile in der Stimme charakterisierten (vgl. Tomatis 1991). Sie würden nicht nur den interpersonalen Kommunikationsprozess, sondern generell die Völkerverständigung beeinflussen (mehr hierzu in Kapitel 4). Der andere Bereich befasst sich mit der Wirkung gesprochener Sprache: die S p r e c h w i r k u n g s f o r s c h u n g . 2 Dabei geht es niemals vorrangig um die bloße Messung und Auswertung phonetischer Signale, sondern vielmehr um die Interpretation der jeweiligen kommunikativen Relevanz dieser Signale für die am Prozess beteiligten sprechenden und (hör)verstehenden Menschen. (Hirschfeld/ Neuber/ Stock 2008: 781). Bevor ausgewählte Forschungsansätze an der Schnittstelle Interkulturelle Linguistik und Phonetik vorgestellt werden (Kapitel 3), werden im Folgenden Fragen der Sprechwirkungsforschung umrissen (Kapitel 2). Daran schließen sich ein paar Gedanken zum Thema „fremder“ Akzent und seine Auswirkung auf die interkulturelle Kommunikation an (Kapitel 4), die im 5. Kapitel mit Beispielen in Bezug auf das Sprachenpaar Italienisch-Deutsch illustriert werden. Abschließend (Kapitel 6) wird die Frage nach der Relevanz der phonetischen Sprechwirkungsforschung in der DaF-Didaktik aufgeworfen. __________ 1 Sprachenspezifische auditive Wahrnehmungsmuster, die sich laut Tomatis in den Stimmspektren widerspiegeln. 2 Mit Hilfe phonetischer, psychologischer und soziologischer Methoden soll hier herausgefunden werden, welche Wirkung bestimmte stimmliche, artikulatorische und prosodische Mittel auf den Rezipienten ausüben, wie diese mit Persönlichkeitseigenschaften in Beziehung gebracht werden, wie sie Verständlichkeit, Behaltensleistung, Interesse, Einstellung und Meinungsänderung beeinflussen. Bei Untersuchungen zur Wirkung und Bewertung von Gesprochenem ist der Frage nach der Kommunikationssituation und der Komplexität des Wirkungsprozesses besondere Aufmerksamkeit zu zollen. - Einen Überblick über die Grundfragen, Methoden und Ergebnisse der Sprechwirkungsforschung geben Krech/ Richter/ Stock/ Suttner (1991). Phonetik im Spiegel interkultureller Linguistik 45 2 Fragen der Sprechwirkungsforschung Innerhalb der Sprechwissenschaft trat seit Beginn der 1970er Jahre vor allem die Universität Halle mit Untersuchungen in den Vordergrund, die neben phonetischen (Stimm- und Sprechausdruck) auch rhetorische und sprechkünstlerische Aspekte zum Forschungsgegenstand hat. Dazu wurden zunächst fast ausschließlich i n t r a k u l t u r e l l e Kommunikationssituationen untersucht. Die p h o n e t i s c h e W i r k u n g s f o r s c h u n g befasst sich mit der kommunikativen Relevanz segmentaler und suprasegmentaler Elemente wie der Sprechmelodie und Akzentuierung, der Pausierung, der Tonhöhe, der Lautstärke, der Geschwindigkeit oder der Stimmqualität, die sowohl mit auditiven als auch apparativen Methoden untersucht werden. Hirschfeld/ Neuber/ Stock (2008: 782-83) nennen hierzu drei Forschungsgebiete: Zum einen die o r t h o e p i s c h e Forschung (wobei beispielsweise zum Zwecke der Entwicklung synthetischer Sprache die Reaktion artikulatorischer oder prosodischer Normabweichungen untersucht wird), zum anderen s o z i o p h o n e t i s c h e Untersuchungen (beispielsweise Normierungsfragen von phonetischen Formen in bestimmten Kommunikationssituationen) und schließlich das noch recht unterrepräsentierte Feld der Wirkung p r o s o d i s c h e r Merkmale, das in engem Zusammenhang mit der rhetorischen Wirkungsforschung gesehen werden muss, da gerade hier direkte Rückschlüsse auf Sprechereigenschaft, -einstellung und Qualität des Inhalts gezogen werden, die beim Rezipienten häufig unbewusst oder unterbewusst ablaufen. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war innerhalb der Sprechwissenschaft ein Umdenken über Sprachgrenzen hinweg zu verzeichnen, dem sicherlich auch die Etablierung der Interkulturellen Linguistik zugrunde liegt (Földes 2003). So findet man innerhalb der Sprechwirkungsforschung Arbeiten, deren Untersuchungsgegenstand die auf Interferenzen mit der Muttersprache zurückzuführenden Störungen im interkulturellen Kommunikationsprozess sind. Dabei muss das Feld gegenüber der DaF-Didaktik klar abgesteckt werden: Sprechwirkungsforschung befasst sich nicht mit Fragen der Sprachbeherrschung oder Ausspracheverbesserung. „Wirkungsuntersuchungen in der interkulturellen Kommunikation setzen eine elementare sprachliche Verständlichkeit voraus, die Kommunikation erst möglich macht“ (Hirschfeld/ Neuber/ Stock 2008: 784; vgl. Hirschfeld 1994; Neuber 2002). Ulrike A. Kaunzner 46 3 Forschungsansätze an der Schnittstelle Interkulturelle Linguistik - phonetische Wirkungsforschung Die Erweiterung des Bereichs der Sprechwirkungsforschung auf Kommunikationssituationen interkultureller Prägung eröffnet ein breites Spektrum an Fragestellungen. Im Besonderen können bewusste, unterbewusste oder unbewusste Reaktionen im interkulturellen Kommunikationsprozess durch kulturimmanente Faktoren wie Motivationen, Emotionen, Wertebewusstsein oder Vorurteile beeinflusst werden. Lange Zeit wurden interkulturelle Fragestellungen zur rhetorischen Wirkung phonetischer Parameter fast ausschließlich für den angloamerikanischen Raum untersucht, die Übertragbarkeit der Ergebnisse […] aus dem angloamerikanischen in den deutschen Sprach- und Sozialraum [ist aber] auch wegen der unterschiedlichen phonetischen und phonologischen Systeme und soziokulturellen sowie soziophonetischen Differenzen sehr fragwürdig. (Neuber 2006: 152). Heute gibt es auch in der deutschsprachigen Literatur zunehmend Arbeiten im Hinblick auf die kulturbezogene Rezeption phonetischer Elemente. Exemplarisch sollen im Folgenden vier Beispiele genannt werden. Augustin Ulrich Nebert (2007) befasst sich mit der Sprachbezogenheit von T o n h ö h e bei der Sprechstimme und unterstreicht die diesbezügliche Relevanz bei der Verwendung der mittleren Sprechstimmlage, die je nach Sprachgemeinschaft eigenen Regeln unterliegt. Er beschreibt die durch die Verwendung falscher Tonbereiche hervorgerufenen Missverständnisse und die durch Unkenntnis dieser Komponente zustande kommenden emotionalen Interferenzen in russisch-deutschen Kommunikationssituationen. Edith Slembek (1992) hebt die Bedeutung korrekter I n t o n a t i o n s k o n t u r e n im Zusammenhang mit Hörverstehensfähigkeit und Leseverstehensfähigkeit in der Fremdsprache hervor. Dazu zieht sie das Sprachenpaar Französisch-Deutsch heran: Wenn im Französischen das Informationszentrum tendenziell an erster oder zweiter Stelle einer Äußerung liegt, so werde sich ein frankophoner Deutschlerner beim Hören eines Satzes in der Zielsprache auf diese ihn vertraute Position konzentrieren und damit dem im Deutschen im Normalfall nach hinten verlagerten Fokus zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Folglich kann er die Botschaft nicht unbedingt korrekt interpretieren. E m o t i o n a l e A u s d r u c k s m i t t e l stehen bei Wieland Kranich (2003) im Mittelpunkt seiner empirischen Untersuchungen, die veranschaulichen, welche suprasegmentalen Eigenschaften gesprochener Sprache in Bezug auf emotionale Ausdrucksqualitäten ausschlaggebend sind. Er wirft hierbei immer wieder Phonetik im Spiegel interkultureller Linguistik 47 die Frage nach interkulturellen Übereinstimmungen und Unterschieden auf. Nachdem Emotionen, die durch verbale, nonverbale und paraverbale Mittel geäußert werden, auch Werte einer Kultur widerspiegeln, unterliegen sie kulturspezifischen Ausdrucks-, Kontroll- und Interpretationsregeln. Die r h e t o r i s c h e W i r k u n g p h o n e t i s c h e r M i t t e l ist Anliegen einer ausführlichen Studie von Kerstin Reinke (2008). Sie widmet sich der Sprechwirkung inadäquater (ausgangssprachlich geprägter) phonetischer Mittel im deutsch-russischen Kommunikationsprozess. Dabei untersucht sie das Sprachenpaar unter diversen Aspekten wie beispielsweise dem Ausmaß der emotionalen Wirkung russischer Sprecher aufgrund ihrer großen F0-Variabilität. 3 4 Der „fremde“ Akzent und seine Auswirkung auf die interkulturelle Kommunikation Fremder Akzent entsteht in erster Linie durch muttersprachlich geprägte auditive P e r z e p t i o n s m u s t e r und durch den Einfluss der muttersprachenspezifischen A r t i k u l a t i o n s b a s i s , also der für eine Sprache charakteristischen Artikulationsspannung und Bewegungsart der Artikulationsorgane. Erste bekannt gewordene Studien zur Definition sprachenspezifischer Parameter gingen von Pierre Delattre in den 1950er Jahren aus, der mit artikulationsphonetischen Analysen anhand von Röntgenbildern die Artikulationsbasis für unterschiedliche Sprachen verglich und hierbei merkliche Unterschiede verzeichnen konnte, beispielsweise bei Vokalen anhand der Zungenlage. Selbst beim Phonem / i/ , das zwischen den vier Sprachen nur geringe Atrikulationsunterschiede aufweist, wird dies am Abstand zwischen Zungenrücken und Gaumen deutlich (Delattre et al. 1952, Delattre 1965): Abb. 1: Charakteristische Artikulationsprofile des Phonems / i/ für die Sprachen Französisch, Englisch, Deutsch und Spanisch (Delattre 1965: 46) __________ 3 FO ist die sprechertypische Grundfrequenz in der Stimme, die als Tonhöhe wahrgenommen wird. Abweichungen innerhalb des FO-Bereichs machen die Sprechmelodie aus. Ulrike A. Kaunzner 48 Dass auditive Perzeptionsmuster für den Lautbereich, 4 aber noch stärker für prosodische Phänomene, 5 bereits in den ersten Lebenswochen und -monaten geprägt werden und später nur noch schwer, ab der Pubertät dann fast gar nicht mehr veränderbar sind, stellt eine lang vertretene Auffassung dar. Werker/ Tees (1984) zeigen beispielsweise schon in den 1980er Jahren die Abnahme der Laufdifferenzierungsfähigkeit bei Kindern im ersten Lebensjahr. Andere sprechen sogar von vorgeburtlicher Prägung. Andrea Bogner (2003) fasst die Erkenntnisse der frühen prosodischen Entwicklung in der Muttersprache wie folgt zusammen: Prosodische Merkmale der Sprache, und dabei insbesondere zeitliche, dem vokalen Matriarchat entstammende Muster, sind bereits zum Zeitpunkt der Geburt, wahrscheinlich aber auch schon früher ausschlaggebend für die Unterscheidung von eigener und fremder Sprache. 2-3 Monate alte Kinder können zwischen Sprachbeispielen in ihrer Muttersprache und einer unbekannten Sprache unterscheiden [sic! ] auch, oder gerade dann, wenn die Stimuli tiefpassgefiltert - so wie sie intrauterin empfangen werden - sind (Mehler et al. 1988), ein Beleg für die pränatale Sensibilisierung für Zeitparameter in vokalen Signalen. In diesem Zusammenhang müssen nochmals die Arbeiten von Alfred Tomatis herausgestellt werden, der schon in den 1940er und 1950er Jahren mit intrauterinen Analysen zur Sprachentwicklung das oben Zitierte antizipiert. Die von ihm errechneten sprachenspezifischen auditiven „Hüllkurven“ verdeutlichen, welche Frequenzbereiche in den einzelnen Sprachen tendenziell bevorzugt und welche vernachlässigt werden. Er nannte diese sprachenspezifischen Passbänder bandes passantes. 6 __________ 4 Vgl. auch das Konzept der Prototypen in der Sprachwahrnehmung bei Sendlmeier (2000). 5 Siehe beispielsweise Ramus/ Nespor/ Mehler (1999). 6 Die Passbänder sind einer der vier Parameter sprachenspezifischer auditiver Wahrnehmung, die Tomatis‘ Theorien der von ihm so benannten A u d i o - P s y c h o - P h o n o l o g i e zugrunde liegen. Er errechnete weiter ethnische Hüllkurven (les courbes d’enveloppe - die tendenzielle Verteilung der Obertöne bei der Lautbildung), Latenzzeiten (le temps de latence - die Zeit, die die Mittelohrmuskeln benötigen, um sich aufs Zuhören einzustellen) und Präzessionszeiten (le temps de précession - die zeitliche Abweichung zwischen der Registrierung des Schalls über die Knochenleitung und der über die Luftleitung). Phonetik im Spiegel interkultureller Linguistik 49 Abb. 2: Charakteristische Struktur der Passbänder (sensibelste Hörzonen) der Sprachen Deutsch, Englisch (britisch), Spanisch, Französisch, Italienisch, Englisch (amerikanisch), Russisch (nach Tomatis 1991: 136) Auf diesen Erkenntnissen aufbauend und seine Theorie der selektiven Taubheit vertiefend stellte er innovative und kuriose Behauptungen auf, wie etwa die, dass sich Völker mit sehr unterschiedlichen Hörkurven (und damit auch Frequenzprofilen in der Stimme) schwer verstehen würden. Er entwickelte schließlich eine elektronische Apparatur, das so genannte oreille electronique, mit dem er eine Hörerziehung namens Audio-Psycho-Phonologie durchführte, die auch beim Fremdsprachenlernen große Erfolge verzeichnen konnte (Tomatis 1963, 1991; Kaunzner 2001). Tomatis hat damit für phonetische Parameter (die sowohl der akustischen als auch der auditiven Phonetik zuzurechnen sind) nicht nur sprachenspezifische, sondern auch kulturelle und geographische Hintergründe aufgezeigt und so für die Untersuchung interkultureller Kontakte - ohne es explizit so zu nennen - ein Analyse- und Trainingsinstrumentarium zur Verfügung gestellt. 7 In der die P e r z e p t i o n s b a s i s bzw. H ö r m u s t e r betreffenden Tradition von Tomatis bewegen sich auch diverse Forschungen von Sprechwissenschaftlern im deutschsprachigen Raum. Helga Dieling (1989) spricht von sprachenspezifischen Laut- und Intonationsmustern, die die jeweilige Perzeptionsbasis darstellen; Hellmut Geißner (1984) beschreibt kultur- und gruppengebundene Hörmuster als Basis für muttersprachliche Intonationskonturen, die das Hörverstehen und Hörhandeln bestimmten und die nicht nur kognitive und so- __________ 7 Eine ausführliche Beschreibung und kritische Diskussion der auf Tomatis beruhenden Methode der Audio-Psycho-Phonologie findet man im Rahmen einer europaweit angelegten empirischen Studie zur Verifizierung ihrer Wirksamkeit beim Fremdsprachenlernen in Kaunzner (2001). Ulrike A. Kaunzner 50 ziale, sondern auch emotionale Komponenten haben. Edith Slembek (1992: 121) folgert daraus für den interkulturellen Kontakt: Die Hörmuster anderer Kulturen sind immer anders geprägt, Sinnangebote werden mit anderen Mitteln hergestellt. Das hat Auswirkungen auf das Hörverstehen und das Leseverstehen im Lernen jeder fremden Sprache, folglich auch in der Fremdsprache Deutsch. Laut Hirschfeld (1994) sind es vor allem vier Parameter von phonetischen Interferenzen, die in interkulturellen Kommunikationssituationen eine ungewollte Reaktion in Bezug auf Verständlichkeit und Sprachverarbeitung hervorrufen: die Wort- und Satzakzentuierung (einschließlich der damit verbundenen rhythmisch-melodischen Gestaltung von Äußerungen), die Realisation des Akzentvokals und der in der Akzentsilbe vorkommenden Konsonanten; […] die Quantität bei den Vokalen und die Artikulationsart und Artikulationsspannung bei den Konsonanten (Hirschfeld 1994: 161). Um dies zu verdeutlichen, seien im folgenden Kapitel ein paar Beispiele phonetischer Interferenzen beim Sprachenpaar Italienisch-Deutsch herausgegriffen, zunächst für den segmentalen Bereich, sodann für den suprasegmentalen Bereich. 5 Beispiel: Phonetische Interferenzen beim Sprachenpaar Italienisch-Deutsch - ihre Ursachen und kommunikative Wirkung Um der Frage nach Unterschieden in der Rezeption von lautlichen Phänomenen und prosodischen Elementen nachzugehen, werden die beiden Sprachen zunächst auf phonetischer Ebene gegenüber gestellt und anschließend Ursachen und Auswirkungen prosodischer Fehler skizziert (zur Vertiefung siehe Kaunzner 2008). Der Vergleich des italienischen und des deutschen L a u t i n v e n t a r s zeigt, allein in Bezug auf qualitative Merkmale, eine Relation von 7 im Italienischen zu 16 Vokalen im Deutschen: Phonetik im Spiegel interkultureller Linguistik 51 Abb. 3: Das italienische (oben) und das deutsche (unten) Vokalsystem im Vergleich Trägt man auch quantitativen Merkmalen Rechnung, so sind im italienischen Vokalviereck noch jeweils die Langvokale 8 anzuführen, im deutschen Vokalviereck die Langvokale [a: ], [ E : ], [e: ], [i: ], [o: ], [u: ], [ø: ], [y: ]. Neben den qualitativen und quantitativen Kriterien der Vokale verfügt schließlich jede Sprache über eigene Regeln zur Bestimmung der vokalischen Öffnungsgrade. Diese wie auch andere Diskrepanzen auf segmentaler Ebene auf Kulturunterschiede zurückzuführen, scheint laut Di Meola ein „aussichtsloses Unterfangen“. Ähnlich sei die Situation beim Konsonantensystem zu sehen, wenn man auch in Bezug auf den hohen Konsonantenanteil im Deutschen geneigt __________ 8 [a: ] casa, [ E : ] zero, [e: ] sera, [i: ] fine, [ ç : ] storia, [o: ] limone, [u: ] luna Ulrike A. Kaunzner 52 sein könnte, „dem Deutschen Härte und dem Italienischen Melodik zuzuschreiben (mit allen kulturellen Konnotationen).“ (Di Meola 2006: 28). So sei am Rande bemerkt, dass die Unterschiede in der Qualität von Lauten (Artikulationsort und -weise) den Höreindruck und damit die Sprechwirkung sicher beeinflussen. Ein „härterer Klang“ der deutschen Sprache gegenüber dem „weichen, melodiösen Klang“ der italienischen Sprache, der auch durch die fast ausschließliche CV-Struktur 9 der Endsilben italienischer Wörter bewirkt wird, sollte nicht auf kulturelle Unterschiede zurückgeführt werden. 10 Vielmehr kann man häufig folgende Beobachtung machen: Anhand des Klangs der Sprachen werden gerne Stereotype zu untermauern versucht. Wie es zu dieser Form der phonetisch basierten Stereotypenbildung kommt, sollte Anliegen der Sprechwirkungsforschung sein, die sich mit dem Sprachenpaar Italienisch-Deutsch bislang kaum oder gar nicht befasst hat. Die besondere Problematik italophoner DaF-Lerner gründet in p r o s o d i s c h e n Elementen. Selbst bei weit fortgeschrittenen italophonen Deutschlernern kann man trotz einer nahezu perfekten Aussprache auf segmentaler Ebene so etwas wie eine Verbesserungsresistenz in der Prosodie feststellen. Das betrifft in erste Linie Wortakzent, Satzakzent (Fokusprojektion) und Intonation (im engeren Sinne). Dabei muss man sich vor Augen führen, dass Prosodie ein phonologisches Phänomen darstellt: Die Bedeutung des Wortes, der Äußerung oder die kommunikative Absicht können sich beispielsweise mit der Verschiebung des Wortakzents, 11 des Satzakzents oder der Intonationskurve verändern. Wie kommt es zu diesen prosodischen Fehlern und was bewirken sie? Dass es sich hier um bereits vorgeburtlich angelegte Merkmale handelt, ist sicherlich ein wichtiger Grund dieser starken Veränderungsresistenz (vgl. Kap. 4). Fremdsprachenlerner scheinen schließlich intuitiv und unbewusst die muttersprachlichen Melodiemuster auf die Zielsprache zu übertragen: Die herkunftssprachlichen Muster werden auch beim Sprechen in der Fremdsprache benutzt und stellen so den Versuch dar, den gemeinten Sinn mit frem- __________ 9 In der Phonotaktik wird die Lautfolge in der Silbenstruktur durch die Abkürzungen (C) Konsonant und (V) Vokal beschrieben. CV-Struktur der Endsilbe bedeutet demnach, dass das Wort auf einen Vokal endet. 10 „Italienisch gilt allgemein als eine sehr melodische und hoch-musikalische Sprache, wohingegen Deutsch als ‚eckig‘ oder ‚hart‘ charakterisiert wird. Diese Unterschiede sind nur zu einem kleinen Teil intonatorisch bedingt. Sie gehen primär auf Unterschiede in der metrischen Struktur, der Silben-Struktur und der Segment-Struktur zurück.“ (Rabanus 2001: 63) 11 Beispiel: áncora (Anker) - ancóra (wieder, noch einmal) Phonetik im Spiegel interkultureller Linguistik 53 den Bedeutungen, aber mit den Möglichkeiten der Herkunftssprache zum Ausdruck zu bringen. (Slembek 1992: 121). Da die kommunikative Absicht aber unter anderem mit prosodischen Mitteln übertragen wird und letztere nicht nur Träger von emotionalen Signalen (vgl. Kranich 2003) sind, sondern auch ausschlaggebenden Einfluss auf Verständlichkeit und Überzeugungskraft haben (vgl. Neuber 2002, Miosga 2002, Redecker 2008), werden gerade diese Parameter verletzt und Missverständnisse in der interkulturellen Kommunikation vorprogrammiert. Ein paar prosodische Phänomene im Sprachvergleich Italienisch-Deutsch sollen herausgegriffen werden, um diese Problematik zu erhellen (zur Vertiefung siehe Kaunzner 2009). Typisch für den Klang des Italienischen und für seinen M e l o d i e v e r l a u f ist der regelmäßige Wechsel von betonten und unbetonten Silben, der auf einen silbenzählenden R h y t h m u s zurückgeht. Das Deutsche ist hingegen eine akzentzählende Sprache, die sich durch große Intensitätsschwankungen zwischen akzentuierten und nicht akzentuierten Silben auszeichnet. Die damit zusammenhängenden starken Reduktions-, Eliminierungs- und Assimilationserscheinungen sind im Italienischen unbekannt. Als Akzentuierungsmittel steht im Deutschen folglich der melodische Akzent im Vordergrund, während im Italienischen der temporale Akzent ein stärkeres Gewicht hat. Die unterschiedliche Akzentstruktur erklärt übrigens die Schwierigkeit italophoner Deutschlerner, Akzente wahrzunehmen, da Langvokale mit akzentuierten Silben verwechselt werden. Sendlmeier (2000: 122) betont weiter, dass die „Akzentuierung aller Wörter im Satz sowie die von den italienischen ‚parole piane‘ abgeleitete Mittelbetonung deutscher Wörter, […] zur mangelnden Auslautverhärtung und zur vollen Realisierung der unbetonten Silben führt.“ So bewirkt das regelmäßige Betonungsmuster des Italienischen schnell eine falsche Akzentuierung von Funktionswörtern und Akzenthäufungen, die vom deutschen Hörer als Informationsdichte interpretiert werden und große Einbußen in der Verständlichkeit bewirken. Fehler im W o r t a k z e n t gehen meist darauf zurück, dass das Italienische zum einen keinen etymologischen Wortakzent wie das Deutsche hat. Bei Nominalkomposita wiederum ist das akzenttragende Determinans meist nachgestellt (portabagagli vs. Gepäckträger). Bei einer unbewussten Übertragung des Akzentschemas kommt es schließlich zu den typischen Fehlakzentuierungen. Erwähnenswert sind weiter die Unterschiede in der F o k u s m a r k i e r u n g . Im Italienischen sind abrupte Tonbrüche bis zur Lösungstiefe, 12 wie sie das __________ 12 Der untere Bereich des Sprechtonumfangs, der beispielsweise bei terminaler Kadenz ohne Anstrengung erreicht wird, wenn die Melodie bis in die Lösungstiefe abfällt. Ulrike A. Kaunzner 54 Deutsche auszeichnen, äußerst untypisch; größere Bedeutung hat hierbei vielmehr die Satzgliedstellung. 13 Unter den vielen grammatischen Phänomen, die die Fokusmarkierung beeinflussen, sei die Verbstruktur des Italienischen erwähnt. Bei Fokussierung auf die Person benötigen Verben das Personalpronomen, während die Personenbestimmung sonst im Flexionsmorphem enthalten ist: vado vs. vado io. Im Deutschen kann diese Funktion allein durch Akzentuierung und Tonbruch übernommen werden: ich gehe vs. ich gehe. 6 Ausblick: Phonetische Wirkungsforschung und DaF-Didaktik Wenn wir auf die Lehrpraxis an Schulen und Universitäten schauen, so ergibt sich folgendes Bild: Die Lehrpersonen sind sich der Tragweite phonologischer Interferenzen oft nicht bewusst. Das liegt zum einen daran, dass Phonetik und Phonologie in der Lehrerausbildung (vor allem im Ausland) eine Randstellung einnehmen und die Ausbildung folglich meist keine Sprecherziehung beinhaltet. Zum anderen sind die Lehrkräfte oft keine Muttersprachler (und haben damit selbst Ausspracheprobleme). Im Fremdsprachenunterricht wird der Aussprache deshalb noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und wenn sie behandelt wird, dann meist in einem unausgewogenen Verhältnis zugunsten der Verbesserung von Einzellauten. Die Gründe, warum sich sowohl die Interkulturelle Linguistik als auch die Fremdsprachendidaktik mit ihren Forderungen nach interkultureller Kommunikationskompetenz verstärkt phonetischen Fragestellungen zuwenden sollten, liegen nicht zuletzt in der Erkenntnis der negativen Wirkungen phonetischer Abweichungen, vor allem im prosodischen Bereich. Diese führen im interkulturellen Gespräch zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen, zum Verständlichkeitsverlust und zum Verlust inhaltlicher Informationen (bedingt durch verzögerte Rekonstruktionsprozesse). Dabei kommt es ebenso zu verminderter sozialer Akzeptanz, negativen Emotionen und Irritationen, die ungewollte Rückschlüsse auf Charakter und soziale Zugehörigkeit mit sich ziehen. Nicht zuletzt ist „Abschalten“ eine typische Folge der beschriebenen Situation. (Vgl. Neuber 2002, Kranich 2003, Hirschfeld 1994). Ursula Hirschfeld, die in einer breit angelegten empirischen Studie in den 1990er Jahren die Ziele, Inhalte und Methoden der phonetischen Schulung im kommunikativen DaF-Unterricht untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, __________ 13 Zum Beispiel: Dt.: Er hatte mir das gesagt. → ER hatte mir das gesagt! / It. (in dreifacher Steigerung): Me l’aveva detto. → Lui me l’aveva detto! → Era lui che me l’aveva detto! → Quello che me l’aveva detto era lui! Phonetik im Spiegel interkultureller Linguistik 55 dass p h o n e t i s c h e V e r s t ä n d l i c h k e i t als übergeordnetes Ziel nicht ausreicht. Daher macht sie Vorschläge für einen lerngruppenspezifischen Unterricht bei der Studienvorbereitung und der Lehrerausbildung. Eine als Endresultat erreichte phonetisch verständliche, d.h. von der Norm und vom Gewohnten auf suprasegmentaler und segmentaler Ebene abweichende Aussprache ist für Muttersprachler nicht bzw. nur zum Teil akzeptierbar, führt zu direkten und indirekten Beeinträchtigungen der Perzeptionsprozesse und schließlich zu nicht intendierten Hörergebnissen sowie zu verminderten Informationsaufnahme und -behaltensleistungen. (Hirschfeld 1994: 160) Diese Erkenntnisse beginnen in den Lehrbüchern und im Sprachunterricht Früchte zu tragen. Dennoch ist eine Vertiefung und Ausweitung von phonetischen Fragestellungen in der Sprechwirkungsforschung dringend notwendig, um zum einen mit sprachenspezifischen Forschungsergebnissen auf Lernerbedürfnisse besser eingehen zu können. Zum anderen sind weitergehende und verfeinernde Forschungsvorhaben über die Wirkung prosodischer Merkmale erforderlich, da „gravierende Forschungslücken in der Beschreibung der paraverbalen Funktionen prosodischer Signale, insbesondere für den deutschen Sprachraum“ noch immer zu bemängeln sind (Hirschfeld/ Neuber/ Stock 2008: 782). Folgende Themenbereiche mit phonetischen Fragestellungen aus der Sprechwirkungsforschung könnten beispielsweise innerhalb der Interkulturellen Linguistik wertvolle Ergänzungen liefern: − Akzeptanz bzw. Akzeptanzgrenzen phonetischer Abweichungen − Prosodie als Identitätsmarker − Hierarchie der Verständlichkeitsbeeinträchtigung bei unterschiedlichen segmentalen und suprasegmentalen Fehlern − Beurteilung des Sprechers aufgrund stimmlicher, artikulatorischer und prosodischer Merkmale im Sprachvergleich − Beeinträchtigung des Gesprächsverlaufs aufgrund fehlerhafter Fokusmarkierung (z.B. Konsens/ Dissens) - Sprechwirkungsforschung und Stereotypen-/ Vorurteilsbildung Somit wird die Sprechwissenschaft mehr sprachenübergreifende Relevanz bekommen, um wichtige Beiträge auch für die Interkulturelle Linguistik und die DaF-Didaktik zu leisten. Davon werden schließlich auch Bereiche wie die Werbeforschung und die betriebliche Aus- und Fortbildung internationaler Unternehmen profitieren. Ulrike A. Kaunzner 56 7 Literatur Bogner, Andrea (2003). In fremder Umwelt: Die Fremdheit des Fremdsprachensprechers. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15/ 2003. http: / / www.inst.at/ trans/ 15Nr/ 06_4/ bogner15.htm (Stand: 29.8.2011) Braun, Angelika (1994): Sprechstimmlage und Muttersprache. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 61. S. 170-178. Delattre, Pierre C. (1965): Comparing the Phonetic Features of English, French, German and Spanish: An Interim Report. Heidelberg. Delattre, Pierre C./ Liberman, Alvin M./ Cooper, Franklin S./ Gerstman, Louis J. 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Kategorien der Interkulturellen Linguistik in systembezogener Auffassung Aleksander Kiklewicz (Olsztyn) 1 Vorbemerkung Der präsentierte Beitrag setzt sich die Interpretation der linguistischen Aspekte der interkulturellen Kommunikation (im Weiteren: IKK) aus der Sicht der allgemeinen Kommunikationstheorie, und zwar unter Berücksichtigung der universellen Struktur der Kommunikationssituation zum Ziel. Der Autor hat keine Absicht, die Sichtung der aktuellen einschlägigen Fachliteratur systematisch durchzuführen, die Publikationen, die Forschungserfahrungen der Linguisten aus West-, Ost- und Mitteleuropa zu vergleichen. Ausführliche Informationen zu diesem Thema können inzwischen im neuesten Buch von Földes (2007) nachgelesen werden. In diesem Beitrag werde ich mich auf zwei Aspekte der IKK konzentrieren, und zwar auf die sprachliche Codierung der Informationen und auf formal-strukturelle, semantische, pragmatische und distributive Texteigenschaften. Die Zielsetzung des Beitrags ist theoretisch, deshalb werden die empirischen Daten (aus dem Russischen und Polnischen) nur illustrativ verwendet, eine solche fragmentarische Erfassung scheint allerdings ausreichend zu sein, einige wichtige Probleme und Regelmäßigkeiten der IKK in Mittel- und Osteuropa darzustellen. 2 Der Begriff der interkulturellen Kommunikation In gegenwärtigen Forschungen der IKK dominieren Soziologen, Kulturologen, Sozialpsychologen. So unterscheiden die amerikanischen Forscher Gudykunst und Kim (2008) drei Aspekte der IKK: einen kulturellen, soziologischen und psychologischen Aspekt, sie behandeln aber nicht den linguistischen oder den semiotischen Aspekt. Das spiegelt die gegenwärtige Situation in der Sprachwissenschaft wider, die sich, wie Földes behauptet, „relativ zurückhaltend gegenüber diesem Themenbereich verhält“ (2007: 11). In der Linguistik beschäftigen sich hauptsächlich Forscher mit der Problematik im Bereich der angewandten Sprachwissenschaft, nämlich im Bereich der Übersetzungswissenschaft und der Glottodidaktik (vgl. Aleksandrowicz-Pędich 2005, Fritz 1998, Polok 2009, Roche 2001). Der theoretische Ausgangspunkt lautet: „Die Sprach- Aleksander Kiklewicz 60 wissenschaft sollte daher an ihrer Erforschung maßgeblich beteiligt sein, weil sich Kulturenbegegnungen im Rahmen kommunikativer Prozesse vollziehen, die sprachlich verfasst sind“ (Földes 2007: 11). Der Begriff der IKK wurde von Hall (1959) eingeführt und als bahnbrechende Arbeiten gelten die von Hofstede (1980), die die Forschungen über die IKK intensivierten. Es ist bemerkenswert, dass früher - noch im Mittelalter - die Idee des Interkulturalismus innerhalb der arabischen Kultur entstand. Einer der ersten Denker, der die These über die sprachliche und kulturelle Relativität im 10. Jahrhundert n. Ch. formulierte, war der arabische Denker Abu Hajan (1988). Er präsentierte die morgenländische, moslemische Kulturtradition, die sich bereits im 8. Jahrhundert bewusst und gezielt von der hellenistischen, im Allgemeinen der europäischen, Tradition distanzierte. In seiner Abhandlung unter dem Titel Das Buch des Genusses und Vergnügens schrieb Abu Hajan über die Beziehung zwischen der Kultur und Sprache und lehnte die Expansion der Logik der Geisteswissenschaft ab. Der arabische Philosoph, der zweifellos als einer der Vorläufer der idioethnischen Theorie der Sprache angesehen werden kann, betonte den charakteristischen für das Morgenland eigenen Verhaltensstil sowie dessen eigene Denkweise. In der europäischen Sprachwissenschaft entstand im 18. Jahrhundert die Idee d e s I n t e r k u l t u r a l i s m u s , d.h. eine solche, die den Ausdruck im Sprachsystem der Kultureigenart verschiedener Sprachträger findet, auf der Grundlage der berühmten These von Herder: „Die Sprache bestimmt die Grenze und den Umriss der ganzen menschlichen Erkenntnis“ (1879: 347). Humboldt setzte die Voraussetzungen der kulturkundlichen Doktrin in der Sprachwissenschaft fort. Er gilt als einer der Vorläufer der sprachlichen Typologie, wobei typologische Forschungen sich über längere Zeit auf das Sprachsystem („Langue“) bezogen, während die Sphäre der Sprachkommunikation („Parole“) bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts außerhalb des Interesses der Sprachwissenschaftler blieb. An der Entwicklung der Forschung zur IKK haben im Wesentlichen drei Schulen der Sprachwissenschaft aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anteil, denn, als die anthropologische Sprachauffassung in den Geistwissenschaften an Popularität gewann, berücksichtigte sie die Abhängigkeit der Zeichensysteme vom kulturellen Umfeld und zwar: 1) die amerikanische anthropologische Schule (die Theorie der Sprachrelativität); 2) die russische Schule der Sprachsoziologie; 3) die deutsche Schule des Neuhumboldtianismus. IKK wird als ein „Prozess der Verständigung der unterschiedliche Kulturen vertretenden Menschen mithilfe eines verbalen und nonverbalen Kommunikationskanals, unter Verwendung von verschiedenen Medien, darunter auch Massenmedien“ definiert (Filipiak 2003: 176). Die IKK vollzieht sich während der Interaktionen zwischen den Vertretern verschiedener Kulturen oder Sub- Kategorien der Interkulturellen Linguistik 61 kulturen und ist u.a. ethnisch-, milieu-, geschlechtlich-, alters-, berufs-, regions-, klassen- und konfessionsbezogen. Daher ist das Behandeln der IKK nur als ein Phänomen, das von Vertretern verschiedener ethnisch-kultureller Gemeinschaften realisiert wird, wie das z.B. die russische Forscherin Chajrullina versteht (2005: 17), als zu eng anzusehen. Zu den Trägern der IKK können einzelne Individuen, soziale Gruppen, Staaten, internationale Organisationen, usw. gehören. Demzufolge kann die Ansicht von Zaporowski zitiert werden, der die IKK als „eine Berührung“ von verschiedenen Haltungssystemen bezeichnet: Es handelt sich hier nicht nur um eine Grenzsituation oder um Differenzen zwischen Generationen oder Nationen, sondern im Allgemeinen um einen Kontakt, eine Durchdringung oder einen Zusammenstoß von zwei beliebigen aber unterschiedlichen Kultursystemen (2006: 25). Der Anstieg des Interesses an interkulturellen Aspekten sozialer Kommunikation ist durch zwei, diametral unterschiedliche Faktoren zu erklären. Es ist zum einen die Globalisierung, die verschiedene Kulturbereiche (Wirtschaft, Finanzen, Wissenschaft, Bräuche usw.) umfasst, und zum anderen der Dezentralisierungsprozess. D i e G l o b a l i s i e r u n g beruht u.a. auf der Zunahme des kulturellen Austausches, an dem sich eine immer größere Anzahl differenzierter Teilnehmer beteiligt. Nach der Definition der Internetseite Wikipedia, „bezieht sich die Globalisierung im weiteren Sinne auf die wachsende Integration und gegenseitige Abhängigkeit zwischen den auf der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Ebene global wirkenden Individuen“. Das bedeutet u.a. die steigende Aktualität des Faktors der kulturellen Unterschiedlichkeit, die den Integrationsprozessen im Wege stehen kann. Es ist dabei auf das Unterscheiden der Begriffe des vielfältigen Kulturalismus und Multikulturalismus zu achten. Besonders wichtig ist auch der T r a n s k u l t u r a l i s m u s , d.h. die Belebung der Kontakte und des Informationsaustausches zwischen den einzelnen Kulturen. Der Globalisierungsprozess geht in der heutigen Welt mit einem geradezu umgekehrten Prozess der Dezentralisierung, der Differenzierung von Kulturverhalten (bezogen auch auf Sprachverhalten) einher, dessen Sonderfall die Möglichkeit der Nutzung erneuerbarer Energien und die damit verbundene B e j a h u n g d e r P r o v i n z darstellt. Die zentrifugalen Tendenzen im Bereich jeder Kultur und Sprache bilden einen universalen Prozess, der das ganze Feld sozialer Kommunikation umfasst. Aleksander Kiklewicz 62 3 Richtungen der Forschungen zur interkulturellen Kommunikation Die IKK stellt eine Art der zwischenmenschlichen Kommunikation dar, daher ist auf sie ein allgemeines „wechselhaftes Engagement in der Kommunikation“ anzuwenden (Sarbaugh 1979). Ich schlage deshalb die Systematisierung verschiedener Aspekte der IKK vor, insbesondere der linguistischen Aspekte auf der Grundlage des allgemeinen Models der sozialen Kommunikation. Das in dieser Arbeit vorgeschlagene Modell enthält acht grundlegende Elemente: 1) den Kommunikationsbereich; 2) die Kommunikationssituation; 3) die Kommunikationsträger; 4) die Mitteilung; 5) den Code; 6) die Interaktion; 7) die Relation; 8) die Konvention. D e r K o m m u n i k a t i o n s b e r e i c h (vgl. „Funktionssystem“ im Sinne von Fleischer 2006: 210) bedeutet einen bestimmten Aufgabenkreis, in dem ein entsprechendes Kommunikationsprogramm verwendet wird. Es geht um solche Sphären wie Edukation, Wirtschaft, Medizin, Recht usw. D i e K o m m u n i k a t i o n s s i t u a t i o n ist dem von Hymes (2003: 41) vorgeschlagenen Begriff „setting“ ähnlich und enthält folgende Bestandteile: Zeit und Raum, Interaktionsart, Media, Attribute, Instrumente u.a. Als K o m m u n i k a t i o n s t r ä g e r treten der Sender und der Empfänger der Information auf. Die Rolle der dritten Personen (sog. Zuschauer) ist in einigen Situationen auch sehr wichtig. In der Massenkommunikation haben wir es mit einem institutionellen Subjekt (als Sender) und einem Massensubjekt (als Empfänger) zu tun. D i e M i t t e i l u n g besitzt drei Eigenschaftskategorien: eine formale, eine strukturelle und eine funktionelle, dabei werden die funktionellen Eigenschaften auf drei Arten realisiert: als semantische, pragmatische und distributive. In der schriftlichen Kommunikation kommt manchmal die Personifizierung der Mitteilung vor, die die Position eines Senders einnimmt - solche Situationen lassen die Behauptung zu, dass sich ein Mensch mit einem Text verständigt. D e r C o d e bedeutet ein verbales oder nichtverbales Zeichensystem, das den Prozessen der Generierung der Mitteilungen zugrunde liegt. Die Anwendung eines entsprechenden Codes hängt, einerseits, von den Interaktionsbedingungen, andererseits (besonders in multisprachlichen Situationen) von den Absichten der Kommunikationspartner ab. D i e I n t e r a k t i o n bedeutet eine kommunikative Handlung, die einseitig oder doppelseitig sein kann und in Form von verschiedenen Sprechakten, wie z.B. Bitte, Vorschlag, Rat, Drohung, Einladung, Verbot u.a. verwirklicht wird. D i e R e l a t i o n zwischen den Kommunikationsträgern wird anders als der interpersonale Kontext erfasst (s. Nęcki 2000: 94). Dabei werden die folgenden Kategorien der Interkulturellen Linguistik 63 sozialen Dimensionen berücksichtigt: die sozialen (symmetrischen oder nichtsymmetrischen) Rollen der Kommunikanten, Stimmung eines Kontakts - intime oder fremde, angenehme oder peinliche, freundliche oder feindliche usw. D i e K o n v e n t i o n setzt ein für Sender und Empfänger allgemeines Weltbild voraus (zum Weltbildbegriff s. Fleischer 2006: 322ff.). Die folgenden Termini werden wechselweise verwendet: Weltbild, Weltanschauung, Thesaurus, apperzeptives System, kulturelle Kompetenz. KOMMUNIKATIONSBEREICH KOMMUNIKATIONSSITUATION CODE Träger A Mitteilung Träger B INTERAKTION RELATION KONVENTION Auf das vorstehende Kommunikationsmodell stützen sich drei Forschungsrichtungen im Bereich IKK: 1. die soziologische Richtung - Forschungen zu Kommunikationsdifferenzen, die infolge von solchen Faktoren wie Interaktion, Kommunikationssituation, Relation oder aufgabenbezogene Einstellung von Individuen entstehen; es geht um Forschungen zu Prozessen der IKK in verschiedenen Be- Aleksander Kiklewicz 64 reichen des menschlichen Tuns, insbesondere in der Massenkommunikation, Politik, Verwaltung gesellschaftlicher Bewegungen usw.; 2. die kulturologische Richtung - Forschungen zu IKK im Spiegel von ethnischen, regionalen, politischen, beruflichen, fachlichen, alters- und geschlechtsbezogenen Konfrontation usw., Forschung zu Konzeptualisierung der Welt und Wertsysteme; 3. die linguistische Richtung (in der allgemeinen Auffassung - semiotische Richtung) - Forschungen zur Form, Struktur und Funktion von Mitteilungen als direkte Mittel beim Informationsaustausch. Die erwähnten Aspekte überdecken sich teilweise. In den linguistischen Forschungen zur IKK können z.B. eindeutig pragmatische Akzente gesetzt werden - es handelt sich um die Untersuchung pragmatischer Eigenschaften von Mitteilungen, d.h. von solchen, die eine auslösende Kraft aufweisen, indem sie bestimmte Kommunikationshandlungen realisieren. Darüber hinaus kann in der Mitteilungsform eine Information über die sozialen Nutzungskontexte kodiert werden, d.h. die stilistische Funktion (vgl. Kiklewicz 2004: 251ff.). Es ist bekannt, dass in den Sprachen mit einer langen und nachhaltigen Tradition des Schrifttums, wie z.B. der polnischen, tschechischen oder russischen Sprache, die stilistische Spaltung stärker ist als in den Sprachen, in denen die Kodifizierung Ende des 19. Jahrhunderts und sogar im 20. Jahrhundert erfolgte. Darunter fallen z.B. die ukrainische, mazedonische oder bosnische. Es gibt auch eine andere Beziehungsart zwischen dem pragmatischen und linguistischen Aspekt der IKK. Die interpersonale Konfiguration der Kommunikationsszene ist üblicherweise (obwohl nicht unbedingt) in bestimmten Sprachformen signalisiert. Dies betrifft vor allem das Ausdrücken der Relation der Dominanz „Haupt/ führend/ dominant - unterworfen/ geführt“. Wasilewski (2006: 126f.) weist darauf hin, dass die sprachlichen Höflichkeitsformen gegenüber „Personen mit höherem Status, häufig mit der Dominant-Position“, die zusätzlich durch Direktivität (mit unterschiedlicher Stärke) gekennzeichnet sind, verwendet werden. Zum anderen tritt auch das Phänomen der E m p a t h i e auf, d.h. ein vorgetäuschtes Annehmen durch die dominierende Person der Stelle des Unterworfenen. Die Umsetzung erfolgt über die Form pluralis benevolen („das vereinigende Wir“), worüber Wasilewski (2006: 157) schreibt. Auch die soziologische oder kulturologische Problematik der IKK kann linguistische Aspekte enthalten. Die Differenzen auf der Ebene der erkenntnisbezogenen Kompetenzen der Interlokuteure können die in ihrem Gedächtnis gespeicherten Präzedenztexte, d.h. Schlüsseltexte, wie Lieder, Gebete, Märchen, Witze, Sprichwörter, o.a. betreffen, die meistens unter Gestalt von R e m i n i s z e n z e n oder, nach Krasnych (2003: 191) als Appellation auftreten. Die Kenntnis der Präzedenztexte stellt einen wichtigen Teil der Kommunikationskom- Kategorien der Interkulturellen Linguistik 65 petenz dar - die Unkenntnis in diesem Bereich kann zum inadäquaten oder unvollkommenen Verständnis eines Textes führen. Die Komplikationen begleiten das Verstehen von vielen Kunsttexten, die solche Formen wie literarische Illusion, das Plastische, die konstruktive/ positive Parodie (ein Begriff von Głowiński), Travestierung, Stilisierung, Reminiszenz, verstecktes Zitat u.a. enthalten. Ein kulturmäßig „ungeübter“ Leser ist nicht in der Lage, einen sog. v e r t i k a l e n K o n t e x t , an den das Kunstwerk „appelliert“, zu dekodieren, sodass ein Teil der in Form der Präzedenzzeichen kodierten Information dem Leser „entkommt“. Es handelt sich z.B. um eine expressive oder ludische Funktion, die regelmäßig die Parodie begleitet, (vgl. Nycz 2000: 217) und die vom Leser eine bestimmte Kulturerfahrung, die Kenntnis von Archetypen verlangt. Ein charakteristisches Beispiel für einen mit Anspielungen verschiedener Art saturierten Text ist eine Erzählung von Wenedikt Jerofejew „Moskau - Petuschki“, die von Levin detailliert kommentiert wurde (1996). Der russische Forscher nannte in Jerofejews Text fünf Arten der Literaturquellen, auf die sich die bildliche Struktur des Poems stützt: 1) die Bibel, insbesondere „Das Lied der Lieder“ und der Psalter; 2) die sowjetischen Propagandatexte - journalistische, literarische, politische; 3) die sog. esoterischen russischen Dichter - Tjuttschew, Pasternak, Mandelstam; 4) die Literatur des Sentimentalismus, insbesondere „Sentimental Journey“ von Laurence Stern; 5) die russische Prosa des 19. Jahrhunderts, insbesondere die aus der Feder von Fjodor Dostojewski (ebd. 24). Bei der Übersetzung von solchen Texten in eine fremde Sprache ist nicht nur die Einhaltung des Ausgangsinhalts, sondern auch im gewissen Grad die Form und Struktur des Textes zu beachten, damit die in der Form und Struktur basierenden Konnotationen erhalten bleiben. Da die zwischenkulturellen Barrieren bei der Aufnahme der literarischen Texte manchmal außerordentlich deutlich zu spüren sind, gehört zu den Aufgaben der Literaturkritik die Interpretation der Zeichen fremder Kulturen. Es kommt vor, dass der Autor selbst diese Aufgabe übernimmt. Und so machte es der russische Prosaiker Andrei Bitow, indem er einen umfangreichen Band mit eigenen Kommentaren zu seinem Roman Puszkinsches Haus (umfangreicher als der Roman) veröffentlichte. Ein Literaturkritiker (oder ein sein Werk kommentierender Autor) tritt als Vermittler zwischen dem Text und dem Leser auf und identifiziert sich im gewissen Grade mit dem „ F ü h r e r d e r M e i n u n g “ in der Massenkommunikation, dessen Funktion auf der Übertragung und Erklärung wichtiger Informationen, die die Medien liefern, beruht. Ähnlich wie in den Massenmedien tritt in den literarischen Texten (insbesondere bei den an Anspiellungen reichen Texten) ein z w e i s t u f i g e r I n f o r m a t i o n s f l u s s a u f . Aleksander Kiklewicz 66 4 Aspekte der Interkulturellen Linguistik: Codierung der Information In erster Linie soll der Anwendungsgrad in verschiedenen Kulturen und Subkulturen von zwei Codearten, eines verbalen und nonverbalen Codes, untersucht werden. Hall teilte Kulturen in zwei Typen, und zwar in den mit einer niedrigen und einer hohen Kontextualität (1959) ein. In den Kulturen des ersten Typus überwiegen die verbalen Elemente - die Sprachmitteilungen, und in den Kulturen des zweiten Typus wird der Bereich der Kommunikation, der nonverbalen Zeichen, Attribute, Kommunikationsszenen usw. berücksichtigt. In der Kultur des Modernismus entstanden die semantischen Effekte infolge unkonventioneller (sie waren nicht programmiert im Sprachsystem) Beziehungen zwischen den Elementen der Form und der Struktur eines Textes, während in der Kultur des Postmodernismus der Kontext des Zeichens zur Quelle der Semantisierung wird. Die durch die Arbeiterklasse verwendete öffentliche Sprache (sog. restricted code) - ist in der berühmten Theorie der Soziolinguistik von B. Bernstein - im größeren Grad kontextmäßig geprägt als der von der Mittelklasse kultiviert ausgebaute Code (formelle Sprache). Ein unterschiedlicher Grad der Ausrichtung auf die nonverbalen Codes ist für geschlechtsbedingte Varianten der Sprachverhalten typisch: Die Forscher weisen auf die Überlegenheit der Frauen gegenüber den Männern im Bereich der Fähigkeit der Dekodierung von nonverbalen Signalen hin (Leathers 2008). Das Phänomen der Homonymie nonverbaler Zeichen ist in der IKK besonders gefährlich, da die Vertreter verschiedener Kulturen ein und derselben Form andere Inhalte zuschreiben. Das trifft z.B. auf Farbe zu: In Europa gilt schwarz als Trauerfarbe und in China weiß. Auch viele kinetische Zeichen mit der gleichen oder ähnlichen physiologischen Grundlage, z.B. Lächeln, werden anders gedeutet. Für die Amerikaner, so Ter-Minasova (2004), ist das ein Symbol des Erfolges, für die Russen dagegen ein Zeichen der Unehrlichkeit, der Heuchelei sogar. So wird die Entmutigung erklärt, die bei den Russen der Anblick der massenweise lächelnden Amerikaner hervorruft. Wie Sternin (2004: 46) schreibt: Das Lächeln in der Kommunikation der Russen ist kein Element der Etikette, das Lächeln kann nur ehrlich sein, d.h. drückt die Emotion der Zufriedenheit aus. Im Bereich der verbalen Codes verdienen vor allem folgende Phänomene untersucht zu werden: 1) die Umkodierung und 2) die Semikommunikation. D i e U m k o d i e r u n g bedeutet zielgerechte Änderung eines Codes, und zwar durch die Anwendung des Codes des Partners oder die Anwendung eines Intercodes, d.h. eines solchen, der im Bereich der IKK spezialisiert ist. Erstens soll auf die Regeln der Umkodierung aufmerksam gemacht werden, z.B. dass „in Kategorien der Interkulturellen Linguistik 67 einer vielsprachigen Situation der Code der Minderheit durch den Code der Mehrheit dominiert wird“ usw. Zweitens entsteht ein Problem, insbesondere heutzutage, in der Epoche der Globalisierung, bei der Aussonderung oder Erzeugung einer internationalen Kommunikationssprache. Bis jetzt hat diese Funktion am wirksamsten die englische Sprache erfüllt. Auf der Ebene der institutionellen Sprache sind die Prozesse der Umkodierung mithilfe einer Sprachpolitik geregelt. Der 1966 von Haugen eingeführte Begriff der S e m i k o m m u n i k a t i o n bildet das Gegenteil zur Umkodierung, denn sie beruht auf Kommunikationspartnern, Vertretern verschiedener Kulturgemeinschaften, von verschiedenen Codes, d.h. der Verwendung der eigenen Sprachen. Ähnliches läuft unter den Mitgliedern der nah verwandten Sprachgemeinschaften ab und hat den Charakter der gesprochenen Kommunikation. Als eine wichtige Voraussetzung der Semikommunikation ist der ausgeglichene Typ der vielsprachigen Situation, in der dieser Typ auftritt, anzusehen. Auch das gleichzeitige Auftreten im Bereich derselben Mitteilung (eines Textes) von zwei oder mehreren Codes ist kulturmäßig geprägt, vgl. das Phänomen der I n t e r k a l a t i o n . Im sog. sächsischen wissenschaftlichen Stil (vgl. Gajda 1999: 21) gehört zur Norm, den originalen Wortlaut der Zitate oder der Exemplifikation beizubehalten. Dies weist auf die Einstellung zur Mehrsprachigkeit hin, was eindeutig z.B. den Grundsätzen der russischen Wissenschaftstexte widerspricht. Die Interkalation (als eine Art der Interferenz) tritt häufig im Kulturgrenzgebiet auf. 5 Texteigenschaften in der interkulturellen Kommunikation Über das Funktionieren von Texten in der IKK entscheiden ihre Eigenschaften, die folgendermaßen eingestuft werden können: 1. formale und strukturelle Eigenschaften, 2. semantische Eigenschaften, 3. pragmatische Eigenschaften, 4. Verteilungseigenschaften. 5.1 Formale und strukturelle Texteigenschaften Der Unterschied zwischen den Kulturen kommt in einer bestimmten Einstellung zur Form und Struktur der Mitteilungen zum Ausdruck. In diesem Bereich findet eine große Vielfalt an Fragen, die sich auf die Form der nominativen Aleksander Kiklewicz 68 Zeichen (z.B. der lexikalischen Entlehnungen), auf die Orthographieregeln, auf verwendete graphische Zeichen und auf den Bereich der Anwendung der Sprache und des Schweigens, des Akzents usw. beziehen, ihren Platz. Mjačkouskaja (2009) macht z.B. auf den Unterschied zwischen der russischen und weißrussischen Kultur aufmerksam: Während sich in der russischen Kultur stark auf das Wort, auf die Sprache, eine Art des Verbozentrismus, konzentriert wird, womit für die Russen, so Mjačkouskaja, charakteristische Prinzipientreue, ideologische Haltung, beinahe ideologische Besessenheit verbunden ist, so sind die Weißrussen beinahe gleichgültig gegenüber der verbalen Kultur, der Bildung, der Rolle des Schrifttums im Allgemeinen. In Weißrussland gab es nie radikale Anhänger des Marxismus oder anderer Ideologien. Manche Kulturen lassen sich grundsätzlich nicht von den formalen Arten von Inhaltsmanifestation trennen, in dem Fall tritt die S y m b o l i s i e r u n g der Form auf. Z.B. die gotische Schriftart wird bis heute von vielen mit der deutschen Kultur assoziiert, insbesondere mit der Tatsache, dass sie in der späteren Renaissance in Deutschland entstand und während des deutschen Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Symbol des deutschen Nationalismus wurde. Ein wichtiger Faktor in der IKK ist die Aufgeschlossenheit des Sprachsystems für Entlehnungen, die im hohen Grade seine Internationalisierung voraussetzt und die Verständigung der Vertreter verschiedener Kulturen erleichtert. Die Intensivierung der Entlehnungen kann in bestimmten Objektbereichen auftreten, vgl. die lateinischen Begriffe in der juristischen Sprache oder englische Wörter in der modernen Sprache der Computertechnologien. Unter den Weltsprachen gelten als offen für lexikalische Entlehnungen die Sprachen, in denen über 50% Entlehnung auftritt, die Sprachen dagegen, in denen die Quote der Entlehnungen nicht über 10% hinausgeht, werden als geschlossen klassifiziert. Kotorova (2009: 84f.) - indem sie sich auf die amerikanischen Forscher Haspelmath und Tadmor beruft - zitiert eine Liste der Weltsprachen, die sich in jeder Hinsicht auszeichnen. Meist offen für Entlehnungen sind Sprachen derjenigen Länder, deren Bewohner viel reisen und auch kreolische Sprachen, die auf der Basis von einigen Sprachen entstanden sind. Die wenigsten Entlehnungen in ihren Sprachen weisen geschlossene Gesellschaften auf, die fern von der Zivilisation bleiben. Die Entlehnung ist ein selektiver Prozess: Von einem Sprachsystem zu einem anderen werden vor allem diese Begriffe übertragen, die exotische, in der Ursprungssprache nicht vorhandene Objekte bezeichnen (dieses Phänomen wird Inopie genannt), und auch diese Begriffe, die aus der Sicht des Rezeptors wichtig sind. Im gewissen Sinne bedeutet die Globalisierung die Expansion einer bestimmten Kultur. Es handelt sich nicht um eine Entlehnung von Begriffen, sondern um Entlehnung von Kultur- Kategorien der Interkulturellen Linguistik 69 werten, die als unabdingbar für das Funktionieren einer sozialen Gruppe sind oder aus irgendeiner Sicht bevorzugt bzw. nobilitiert werden. 5.2 Semantische Eigenschaften der Texte Die semantischen Eigenschaften einer Mitteilung in den zwischenkulturellen Beziehungen haben eine strategische Bedeutung, die darüber entscheidet, wie tief die Verständigung zwischen den Partnern ist. Aufmerksamkeit verdient insbesondere das Problem der P r ä s u p p o s i t i o n u n d d e r k u l t u r e l l e n K o n n o t a t i o n . Ich werde das Beispiel einer kulturell geprägten Konnotation behandeln: (1) Ich habe dir ein Spielzeug gekauft. (2) Ich habe dir eine Krawatte gekauft. (3) Ich habe dir ein neues Halsband gekauft. In den obigen Sätzen wird mithilfe der sprachlichen Form lediglich nur ein Teil einer in Sprache tatsächlich verarbeiteten Information übertragen. Erstens ergänzt der kulturell kompetente Interpret die in den Sprachformen ausgedrückte Information durch eine Voraussetzung von allgemeinem Charakter, die die Funktion einer großen Voraussetzung des Syllogismus erfüllt: (4) Es passiert (so), dass die Mutter dem Kind ein Spielzeug kauft. Es passiert (so), dass die Frau dem Mann eine Krawatte kauft. Es passiert (so), dass der Besitzer oder die Besitzerin des Hundes ihm ein Halsband kauft (und sagt zum Hund). Zweitens, der Interpret ergänzt die Aussage durch Schlussfolgern: (5) Es passiert (so), dass der Besitzer oder die Besitzerin des Hundes ihm ein Halsband kauft (und sagt zum Hund). Jemand sagt: Ich habe dir ein Halsband gekauft. Man kann daraus schließen: Die sprechende Person, eine Frau, hat für den Hund ein Halsband gekauft; Sie ist höchstwahrscheinlich die Besitzerin dieses Hundes. Die Frau sagt zum Hund: Ich habe dir ein Halsband gekauft. Eine kulturmäßig gebildete Person (z.B. in der urbanen Kultur) begeht hier keinen Fehler, d.h. sie wird - in einer neutralen Kommunikationssituation - den Satz (5) als z.B.: ‚Die Frau kaufte für den Mann ein Halsband‘, oder anders nicht interpretieren (obwohl für die Vertreter einer anderen Kultur, z.B. einer dörflichen Kultur, dieses überhaupt nicht selbstverständlich sein muss). Aleksander Kiklewicz 70 Unterschiedliche semantische Konnotationen verschiedener Kulturen können auch lexikalische Bedeutungen haben, obwohl formal das Wort aus einer Sprache in die andere Sprache übersetzbar ist. Das Substantiv mit der Bedeutung ‚die Sonne‘ ruft bei den Turkmenen und (und im Allgemeinen bei den Bewohnern südlicher Länder) negative, und bei den Russen (und im Allgemeinen bei den Bewohnern nördlicher Länder) positive Assoziationen hervor. Der semantische Mitteilungsaspekt in der IKK bezieht sich auch auf die schöpferische Funktion der Sprache, nämlich die Semantisierung grammatischer Formen. Da dieselben Bedeutungen in verschiedenen Sprachen einer verschiedenen grammatischen Kategorisierung unterliegen können, und mit ihrer Hilfe - unterschiedliche Konnotationen hervorbringen, die in der IKK eine Verformung der Verständigung zwischen den Partnern zur Folge haben können. Derselben Bedeutung ordnen die Interlokutoren verschiedene Konnotationen zu. Als Beispiel kann das grammatische Geschlecht dienen. Auf den russischen Neujahrskarten tritt das Neue Jahr als Mann, meistens als junger Mann, auf, während auf den bulgarischen Karten in diesem Zusammenhang eine junge Frau (manchmal auch ein kleines Mädchen) zu sehen ist. Dies ergibt sich daraus, dass das russische Substantiv god ‚das Jahr‘ das männliche Genus, und das bulgarische Substantiv godina ‚das Jahr‘ - ein weibliches Genus aufweist. Ähnlich tritt in den slawischen Sprachen das Volksbild des Todes (weibliches Genus) in Gestalt einer Frau auf, während in der deutschen Mythologie - der Tod (männliches Genus) mit dem Bild eines Mannes assoziiert wird. Die Semantisierung der grammatischen Genera hängt mit dem Problem der sog. „ p o l i t i c a l c o r r e c t n e s s “ und zwar mit der Gleichberechtigung der Frauen und Männer zusammen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die gegenwärtige Situation in Polen von der in Westeuropa, wo die Anwendung männlicher Formen auf Frauen als unzulässig gilt. In Polen wird dieses Problem zunächst bei Seite gelegt. Auf der Internetseite der Universität Ermland - Masuren in Olsztyn steht: (6) Von den Mitarbeitern der Universität Ermland-Masuren erhielten die Auszeichnung „Der Verdienstvolle“ für die Universität Ermland-Masuren: Stanisława Adamska, dr Janina Bieniaszewska, Janina Czarneta, Danuta Dąbrowska, dr Małgorzata Dmitryjuk usw. Im vorstehenden Text steht die Form des Partizips des männlichen Genus zasłużony (der Verdienstvolle) eindeutig mit der angeführten Liste der ausgezeichneten Frauen im Widerspruch. In der Humanistischen Fakultät dieser Universität - unabhängig vom Geschlecht des Begünstigten - wird die Medaille „Amicus Facultatis“, d.h. „Der Freund der Fakultät“ verliehen, obwohl das polnische Substantiv przyjaciel (der Freund) sowie das lateinische Substantiv ami- Kategorien der Interkulturellen Linguistik 71 cus männliches Genus haben und zugleich männliche Merkmale tragen. In der Bedeutung ‚eine Person, die ihre Sympathie jemandem oder einer Sache zeigt, ein Liebhaber, ein Wohlgesinnter, Protektor‘ tritt das Substantiv przyjaciel (der Freund) auch in den Idiomen auf: przyjaciel młodzieży (der Freund der Jugend), Towarzystwo Przyjaciół Warszawy (die Gesellschaft der Freunde von Warszawa), Towarzystwo Przyjaciół Dzieci (die Gesellschaft der Freunde der Kinder), Partia Przyjaciół Piwa (die Partei der Bierfreunde) u.ä. 5.3 Pragmatische Eigenschaften der Texte Im Bereich der pragmatischen Eigenschaften der Texte und Aussagen, die in der IKK verwendet werden, stellt der Kongruenzgrad des von den Vertretern verschiedener Kulturen angewandten Registers von S p r e c h a k t e n einen besonders interessanten Forschungsgegenstand dar. Unter den Bedingungen „der zwischenkulturellen Kommunikation“ (ein Begriff von Mikułowski-Pomorski), die zwischen Vertretern verschiedener nationaler Kulturen stattfindet, treten üblicherweise pragmatische Diskrepanzen auf; die Sprechakte, die in einem gewissen Kommunikationsraum auftreten, müssen nicht unbedingt in einem anderen Kommunikationsraum stattfinden. So schreibt z.B. Wierzbicka (1999: 234f.) über australische Aborigines Yolngu, die „sich verbal nie bedanken“. Selbst unter den Vertretern slawischer Länder sind derartige Unterschiede zu finden. Im Polnischen bedeutet das Wort pozdrowić/ pozdrawiać ‚begrüßen/ grüßen‘ (nach dem „Universalwörterbuch der polnischen Sprache“): 1) begrüßen (grüßen) jemanden durch Aussprechen einer Höflichkeitsformel oder durch Ausführung einer Geste; 2) übersenden (senden) jemandem einen Ausdruck der Erinnerung, der Freundlichkeit (gewöhnlich per Brief oder über eine Drittperson). Die Begrüßung stellt für die Polen einen Ausdruck von Gefühlen, Ausdruck einer spontanen Einstellung zu einer anderen Person dar. Von daher hat die Begrüßung nie einen offiziellen Charakter und kann nicht durch äußere Faktoren verursacht werden. Die polnische Etikette sieht generell keine ritualisierten Begrüßungen gleich aus welchem Anlass vor, während für die russische Kommunikationskultur dieses Phänomen völlig normal ist. In der Definition des russischen Wortes pozdravljat’ ‚gratulieren‘ tritt ein Element auf, das sich auf eine äußere Ursache beruft. Deswegen kann die russische Begrüßung einen offiziellen Charakter haben: (7) Pozdravlaju vas s priezdom; wörtlich: ‚Ich gratuliere ihnen zur Ankunft‘. Vgl. auch andere Beispiele für Anlassgrüße im russischen Kulturkreis: Aleksander Kiklewicz 72 (8) Pozdravlaju tebja s Novym godom! wörtlich: ‚Ich gratuliere ihnen zur Ankunft‘ (9) Pozdravljaju tebja s okončanijem školy; wörtlich: ‚Ich gratuliere dir zum Schulabgang‘ (10) Pozdravlaju tebja s jubileem; wörtlich: ‚Ich gratuliere dir zum Jubiläum‘ Das Problem funktioneller Identität der Sprechakte in verschiedenen Kulturen betrifft insbesondere die indirekten Akte, d.h. diese, bei denen die pragmatische Funktion mit der Bedeutung des interaktiven Operators nicht übereinstimmt. Antoni Słonimski schrieb, dass die Polen der ersten Emigrationswelle die englische Frage How do you do? buchstäblich verstanden haben. Sie haben detaillierte Antworten, mit der Beschreibung von allen Lebensprobleme gegeben. Für einen Engländer stellt How do you do? eine Höflichkeitsform, eine Art Begrüßung (‚Hallo, nett dich zu sehen‘) dar. 5.4 Verteilungseigenschaften der Texte Dilts (2001) schreibt über die Umgebung eines jeden Kommunikationsaktes: Es gibt keine Verhaltensformen, die außerhalb eines Kontextes informativ geprägt wären, z.B. außerhalb der Reaktionen, die sie hervorrufen oder voraussetzen. Jedes Verhalten kann als eine Ressource oder als ein einschränkender Faktor dienen, abhängig davon, wie es mit den übrigen Elementen des Verhaltenssystems verbunden wurde. Der Aspekt der Verteilung einer Mitteilung in interkulturellen Interaktionen bezieht sich auf die erwähnte Konstellation der Mitteilung in der Diskursstruktur, d.h. auf der höheren Ebene der Informationsübertragung. Ein interessantes Phänomen ist die P o s i t i o n i e r u n g d e r I n f o r m a t i o n in der Massenkommunikation, und insbesondere die sog. Tagesordnung. Und so beanspruchen die Nachrichten aus der Welt in den katholischen Medien in Polen („Radio Maryja“, TV „Trwam“) ein geringes Volumen im Pressedienst, was einen Ausdruck einer allgemeinen ideologischen Orientierung - der Marginalisierung der Fremdheit, darstellt. Die Positionierung der Webseiten beruht auf der Reihenfolge ihrer Präsentation. Dazu verglich Kowalska (2009) das polnische und ukrainische Internet in Bezug auf die Positionierung dieser Webseiten, die eine Information zum Thema „Feiertag“ enthalten. Die Analyse ergab, dass in beiden Quellen fast dieselben thematischen Gruppen auftreten, d.h. solche Texte, die bestimmte Feierarten beschreiben: Kategorien der Interkulturellen Linguistik 73 Polnisches Internet Ukrainisches Internet L.Nr. Thematische Gruppe Anzahl der Texte (%) L.Nr. Thematische Gruppe Anzahl der Texte (%) 1 Kirchliche Feiertage 20 1 Kirchliche Feiertage 26 2 Regionale Feiertage 16 2 Management von Feiertagen 22 3 Sonstige Feiertage 16 3 Kulturfeiertage 12 4 Kulturfeiertage 12 4 Politische Feiertage 12 5 Anlässliche Feiertage 10 5 Anlässliche Feiertage 10 6 Gesetzliche Feiertage 10 6 Regionale Feiertage 10 7 Ökologische Feiertage 8 7 Ökologische Feiertage 6 8 Politische Feiertage 8 8 sonstige Feiertage 2 Thematische Klassifikation der Webseiten in Bezug auf den Begriff „Feiertage“ Der Hauptunterschied zwischen dem polnischen und ukrainischen Internet betrifft die thematische Gruppe „Management von Feiertagen“, die den zweiten Platz in der ukrainischen Rangordnung bezieht (sie ist präsent in 22% der Webseiten), und die auf den ersten 50 Webseiten des polnischen Internets nicht präsent ist (Stand vom Mai 2009). Auffallend ist auch die Tatsache, dass die sich im polnischen und ukrainischen Internet wiederholenden thematischen Gruppen anders positionieren: unter den ersten zehn Webseiten im ukrainischen Internet, enthalten fünf eine Werbung von Agenturen, die sich mit der Organisation verschiedener Arten von Feiertagen (Hochzeiten, Namens- und Geburtstage, usw.) beschäftigen, was für das polnische Internet nicht charakteristisch ist. Daraus ist auf den eher kommerziellen Charakter der ukrainischen Internetseiten zu schließen. 6 Abschluss In einem alten Witz erkennt die Gemüseverkäuferin auf dem Markt einen Spion, weil er eine zu korrekte Sprache sprach. Man kann sich also in der IKK nicht darauf beschränken, eine ideale Sprache des Vermittlers zu erfinden, weil die Sprache auf eine unabwendbare Weise mit der Kultur verbunden ist, und die Sprachformen die Bedeutungen ausdrücken, die in verschiedenen Kulturen Aleksander Kiklewicz 74 anderen A s s o z i a t i o n s f e l d e r n zugeordnet werden. Mit anderen Worten - die Probleme der IKK sind nicht immer sprachlicher Natur, und die Sprachwissenschaftler sind nicht in der Lage diese selbstständig zu lösen. Es gibt dennoch Argumente zugunsten eines linguistischen Modells der IKK. Zum einen haben die Weltsprachen nicht nur viel Spezifisches, sondern auch viel Universales an sich, sodass die interkulturelle Verständigung grundsätzlich möglich ist. Zum anderen stellt die umgangssprachliche Kommunikation, wie z.B. Fleischer (2007: 65) behauptet, eine Grundlage für gegenwärtige Formen der Massenkommunikation dar, daher kann die Theorie der Sprache (insbesondere die linguistische Theorie des Zeichens, des Textes oder die Theorie der Sprachkontakte) eine Art Funktion des Aufklärungsmodells erfüllen, und so zum Vorbild der allgemeinen Theorie der IKK werden. Schließlich nimmt die Linguistik im System der Geisteswissenschaften eine vorrangige Position in Hinsicht auf den präzisen und systematisierten Begriffs- und Terminologieapparat, der über Jahrhunderte verbessert wurde, ein. Er eignet sich gut für die Beschreibung sowohl der Sprache als auch verschiedener Aspekte ihrer sozialen Funktionen. Er kann im gewissen Grade als eine „Intersprache“ der Wissenschaft über soziale Kommunikation eingesetzt werden. 7 Literatur Abu Hajan, at-Tauhidi (1988): Dialogi. Iz „Knigi uslady i razvlečenija“. In: Alajev, L.B. (Hrsg.): Vostok - Zapad. Issledovanija. Perevody. Publikacii. Moskva. S. 40-85. 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Annikki Koskensalo (Turku) 1 Einleitung Földes (2003: 58) hat recht, wenn er feststellt, dass es schwierig ist, gegenständliche inter- und transkulturelle Konfigurationen in den relevanten Fachwissenschaften zu erfassen und wissenschaftlich zu erforschen. Denn es fehlt an einer theoretisch fundierten und empirisch gestützten Begriffs- und Konzeptbildung von interkultureller Kommunikation (vgl. Földes 2007: 49). Bei der transkulturellen Kommunikation bzw. Transkulturalität ist die Situation noch weniger rosig. Denn dieses Forschungsfeld ist jünger als das andere Erwähnte, obwohl die Begriffsgeschichte der Transkulturalität älter ist. Vorerst aber zur B e g r i f f s h i s t o r i e d e r i n t e r k u l t u r e l l e n K o m m u n i k a t i o n : Der US-Philosoph Horace Kallen seines Zeichens Professor an der New School of Social Research, welcher 1924 den Begriff „Cultural Pluralism“ (Kallen 1924) als erster geprägt hat, hat zudem 1956 als erster die Idee der interkulturellen 1 Kommunikation entwickelt und publiziert (vgl. Kallen 1956). 1959 verwendete der US-Anthropologe Edward Hall (2005: 228) als erster - eher beiläufig im Vorwort seines Buches „The Silent Language“ - den Begriff „Intercultural communication“ (vgl. Beyersdörfer 2004: 43). 1990 ist erstmals auf Deutsch ein Buch publiziert worden, wo im Titel der Begriff „Interkulturalität“ zu finden ist (vgl. Breinig 1990). __________ 1 Das Adjektiv intercultural taucht bereits erstmals 1922 in einem Vortragstitel im Biologie-Bereich auf (vgl. Crider 1922: 542). 1924 rief die US-Regierung ein Bureau of intercultural Education ins Leben (vgl. Gürses 2008: 5). Seit den 1990er Jahren findet sich dieses Adjektiv in diversen Professionen und wissenschaftlichen Disziplinen wie z.B. Interkulturelles Management, Interkulturelles Lernen, Interkulturelle Germanistik und interkulturelle Kompetenz (vgl. ders.). Ein sehr elaboriertes Strukturschema interkultureller Handlungsfelder hat Kordes (o.J.: 3) ausgearbeitet. Das Adjektiv hat sich mit seinen sprachlichen Varianten international weitgehend durchgesetzt (vgl. Lüdemann 2003: 5). Annikki Koskensalo 78 Nun zur B e g r i f f s g e s c h i c h t e d e r T r a n s k u l t u r a l i t ä t : Der kubanische Anthropologe und Ethnologe Fernando Ortiz 2 (1940) verwendete schon 1940 den Begriff „transculturaciόn“. Der polnische Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski (1943: 650) hat dann als erster den Begriff von Ortiz ins Englische (= transculturation) übersetzt. Der Philosoph Wolfgang Welsch (1992: 5) von der Universität Jena verwendet dann als erster den Begriff Transkulturalität und verhilft diesem nicht nur im deutschen Sprachraum zu seiner Karriere. Ein theoretisch-methodologisch-empirischer Vergleichsversuch soll nun zeigen, inwiefern es zwischen Inter- und Transkulturalität Gemeinsamkeiten, Anschlußmöglichkeiten und Differenzen gibt. Als These gilt: B e i m j ü n g e r e n K o n z e p t d e r T r a n s k u l t u r a l i t ä t i s t d a s T h e o r i e - M e t h o d i k - E m p i r i e - V e r h ä l t n i s k l ä r u n g s b e d ü r f t i g e r a l s b e i m ä l t e r e n K o n z e p t d e r I n t e r k u l t u r a l i t ä t . 2 Hauptteil 2.1 Theoretische Fundierungen Földes (2003: 58) hat wiederum Recht, wenn er schreibt, dass bei Untersuchungen beider Konzepte diverse Paradigmen verwendet werden. Vorher sollen allerdings die beiden Konzepte der Interkulturalität 3 und Transkulturalität in gebotener Kürze genauer beschrieben und theoretisch fundiert werden. Engel/ Lewicki (2005: 4) konstatieren, dass sich das K o n z e p t d e r I n t e r k u l t u r a l i t ä t i n e i n e m g e w i s s e n K o n k u r r e n z v e r h ä l t n i s 4 z u d e n K o n z e p t e n d e r T r a n s - u n d M u l t i k u l t u r a l i t ä t befindet. Durch das Präfix „inter-“ wird beim K o n z e p t d e r I n t e r k u l t u r a l i t ä t fälschlicherweise suggeriert, dass Kulturen gemäß ihrer konzeptuellen Logik sich voneinander absetzen, gegenseitig verkennen, ignorieren, diffamieren, bekämpfen, nicht miteinander verständigen bzw. austauschen. Vielmehr ist rich- __________ 2 Ortiz betrachtet seine Beschreibung transkulturalisierender Prozesse als eine geschichtliche Analyse von Lebensformen in Kuba. Er entwickelt Transkulturation als Alternative zum Begriff der Akkulturation (vgl. Koch 2008: 12). 3 Konzepte der Interkulturalität haben Eingang in verschiedene wissenschaftliche Disziplinen wie in die Kulturwissenschaft, Linguistik, Literatur-&Filmwissenschaft, Philosophie, Psychologie und Pädagogik, aber auch in andere Bereiche wie ins Business-Management, in die Sozialarbeit oder Verwaltungsinstitutionen gefunden (vgl. Engel/ Lewicki 2005: 3). 4 Sprung (2003: 2ff.) beschreibt den Bildungsmarkt Interkulturalität, welcher durch Transkulturalität einen Konkurrenten gekriegt hat. Theorie-Methodik-Empirie-Verhältnis von Interkulturalität 79 tig, dass das Konzept Interkulturalität Wege der Harmonisierung von Kulturen sucht, um miteinander besser kommunizieren zu können (vgl. Földes 2005: 294). Verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten des Interkulturalität-Begriffes werden erst dann erschlossen, wenn „inter-“ im Sinne von zwischen, Wechsel- und Gegenseitigkeit, Gemeinsamkeit, Vermittlung und Zusammenarbeit verstanden wird. Denn erst dann profiliert sich eine Wissensdynamik, welche einerseits auf allen Ebenen mit kulturellen Differenzen kalkuliert und andererseits die potentiell gemeinsame und vermittelnde Zusammenarbeit betont (vgl. Elberfeld 2008: 26). Analog zur Interkulturellen Linguistik , wo man weniger Differenzen als vielmehr das Spezielle kontrastiv in interkulturellen Kontexten untersucht, welche durch die Interaktion zweier (oder mehrerer Sprachbzw. Kommunikationskulturen (vgl. Földes 2009: 1) entsteht, so lassen sich auch anhand des I n t e r a k t i o n s m o d e l l s d e r i n t e r k u l t u r e l l e n K o m m u n i k a t i o n (vgl. Gudykunst/ Kim 2003: 45) Auffälligkeiten fremder Kulturen beschreiben. Bei diesem Interaktionsmodell spielen Reziprozität, Kooperativität und Formen der Kooperation eine wichtige Rolle (vgl. Kallmeyer 1979: 63f.). Das K o n z e p t d e r T r a n s k u l t u r a l i t ä t bezeichnet den Umstand, dass heutzutage eine Vielzahl von Kulturen in der Gesellschaft existiert. Diese Kulturen sind im positiven Sinne durch Mischung und Durchdringung charakterisiert (vgl. Welsch 1996b: 58). Deswegen besteht keine dieser Kulturen mehr aus einem homogenen 5 Gewebe (vgl. Welsch 2005: 316ff.). Kulturen weisen __________ 5 Welsch (2010: 2) kritisiert an den Konzepten der Inter- und Multikulturalität, dass sie sich noch immer nach Herders Kulturbegriff bzw. Insel- und Kugelmodell orientieren (vgl. genauer Götze 2009: 327ff.). Er vertritt die These, dass sich weder aktuelle noch vergangene Kulturen mit den Begriffen und Vorstellungen erfassen und beschreiben lassen, wie es traditionelle Entwürfe geschlossener und einheitlicher Nationalkulturen suggerieren (vgl. Gippert/ Götte/ Kleinau 2008: 10). Es gibt aber Ausnahmen, wie Hausstein (2000: 231), der zufolge Theorien der Interkulturalität generell von einem Konzept offener Regelsysteme ausgehen, die sich wechselseitig konstituieren, auf Austausch angelegt sind und sich permanent wandeln. Der Kölner Erziehungswissenschaftler Auernheimer (2008: 149ff.) hat einen Versuch der Ehrenrettung Herders unternommen. Iljassova-Morger (2009: 39; Fn. 4) vermutet, dass sich Welsch deswegen so dezidiert gegen das Kulturkonzept von Herder als Prototyp für damals gängige essentialistische Konzepte gewandt hat, um sein Konzept der Transkulturalität dafür umso prägnanter profilieren zu können. Welsch interpretiert Herders Konzept zu vereinfacht, weil er den Unterschied zwischen Herders Philosophie und ihrer politischen Rezeption und kontextuell die Komplexität der damaligen historischen Situation zu wenig berücksichtigt (vgl. dies.). Alleine historisch gesehen stimmt Saids (1996a: 24) Feststellung, dass alle Kulturen hybrid sind, Annikki Koskensalo 80 derzeit vielmehr eine Verfassung vielfältiger kultureller Teile auf. Daher löst sich die Trennschärfe zwischen Eigen- und Fremdkultur auf (vgl. ebd.). Földes (2005: 294f.) bringt dazu treffend den Leitbegriff der Horizontverschmelzung (vgl. Gadamer 1940/ 1990) ein. Das Konzept der Transkulturalität entwirft somit ein anderes Bild vom Verhältnis der Kulturen: nicht mehr eines der Isolierung, des Konfliktes, sondern der Verflechtung, Durchmischung 6 und Gemeinsamkeit. Es fördert nicht Separierung, sondern Verstehen und Interaktionen (vgl. Welsch 1995: 44). Unter derartigen transkulturellen 7 Konditionen besteht immer die gute Chance, Gemeinsamkeiten nützen zu können, weil transkulturelle Muster stets einige Übergänge , Überschneidungen und Verflechtungen aufweisen, welche Anschlüsse und Interaktionen ermöglichen. Damit ergeben sich neue Verbindungen und weitere Integrationsschritte (vgl. Welsch 2005: 335). Der p r a g m a t i s c h a n g e l e g t e K u l t u r b e g r i f f d e s ö s t e r r e i c h i s c h e n P h i l o s o p h e n L u d w i g W i t t g e n s t e i n , dem zufolge es darauf ankommt, eine gemeinsam geteilte Lebenspraxis 8 zu haben, fördert ein menschliches Miteinanderauskommen (vgl. ders.). Wie vorher nur schlaglichterartig angedeutet, vermischen sich durch die Bewegungen der Kulturen zwischen Partikularisierung und Universalismus, Ver- __________ keine rein und identisch mit einem reinen Volk ist und keine aus einem homogenen Gewebe (sic! - A.K.) besteht. 6 Durchmischung, Verflechtung, Verschwimmen der Trennbarkeit zwischen Eigenem und Fremden und Hybridisierung zählt Welsch (2010: 3ff.) zu den Phänomenen der Makro-Ebene. Welsch verortet zudem auf der Mikro-Ebene eine transkulturelle Prägung von Individuen, wobei deren interne Transkulturalität den Umgang mit äußerer Transkulturalität (s. Makro-Ebene) erleichtert (vgl. ebd. 3ff.). Es lässt sich nun kritisch fragen: warum gibt es bei Welsch keine Meso-Ebene, wie etwa die Ebene der Organisationen, Institutionen, Vereine etc.? Und doch gibt es diese Ebene, obwohl sie Welsch (noch) nicht expressis verbis in seine Unterscheidung eingeführt hat, wenn er Transkulturalität in der Institution bzw. Organisation ,Hochschule‘ behandelt (vgl. ebd. 10-13). 7 Das Wort transkulturell kommt bis auf wenige Ausnahmen fast ausschließlich im Englischen (= transcultural) vor , wobei zumeist keine eindeutig klare semantische Differenzierung gegenüber intercultural erkennbar ist (vgl. Lüdemann 2003: 5). Genauso ist es trotz vieler Versuche bis jetzt nicht gelungen, trennscharfe Abgrenzungen zwischen den Begriffen multi-, intra-, inter- und transkulturell zu fixieren (vgl. ebd.). 8 Wergin versteht Transkulturalität als ein Konzept, mit welchem sich Prozesse beschreiben lassen, die auf dem Austausch zwischen Akteuren innerhalb einer Lebenswelt basieren (vgl. Krüger/ Meyer 2006: 271). Theorie-Methodik-Empirie-Verhältnis von Interkulturalität 81 einheitlichung und Diversifizierung, Essentialisierung und Dynamisierung 9 unvermeidlich wissenschaftliche mit populären Kulturbegriffen. Ein neues Paradigma ist in den Geisteswissenschaften aufgetaucht und zu einer speziellen Herausforderung für die Kulturwissenschaften geworden, nämlich Kultur als Paradigma. Denn ihr beider Gegenstand, eben die Kultur, ist nicht nur Ausdruck dieser Auffächerung, sondern auch ihre Theorie und Praxis zugleich. Die Gründe für dieses neue Kultur-Paradigma bestehen darin, dass man sich von einer Suche nach absoluten Wahrheiten und einer einzigen allumfassenden Theorie hat verabschieden und zum Untersuchen von Diskursen, Praktiken, Prozessen und partiellen Wahrheiten hinwenden müssen. Infolgedessen hat eine dementsprechende Kulturtheorie mindestens fünf Punkten Rechnung zu tragen: 1. einer zunehmenden Auflösung bzw. Transzendierung der Illusion, wonach Territorium und kulturelle Identität 10 deckungsgleich sein müssen; 2. einer Revitalisierung, Behauptung oder Erfindung bzw. einem Negieren von Traditionen als Basis einer kulturellen oder nationalen Identität, also einer Imaginierung von Nationen; 3. einer Diversifizierung, Aufsplitterung und Neukonstituierung von kulturellen Identitätsmustern bzw. Vielschichtigkeit kultureller Identität; 4. einer inflationären Verwendung des Kulturbegriffs und 5. einer Vermischung wissenschaftlicher mit populäreren Kulturbegriffen (vgl. WSP o.J.: 3). Nun wieder weiter im Text mit dem Theorieansatz von Welsch und damit zum Kulturbegriff von Wittgenstein: nach Gieseke/ Robak (2009: 10) spielt dabei mehr Interaktion als Verstehen eine Rolle. Das K o n v e r g e n z m o d e l l v o n K i n c a i d / R o g e r s (1981: 55), welches als eines der zentralen Modelle der transkulturellen Kommunikation figuriert, betont aber im Gegensatz zu Gieseke/ Robak gerade den Aspekt des gegenseitigen Verständnisses ja peilt dieses sogar als Kommunikationsziel an. Ausgehend von der Hypothese, wonach sich eine neue Kultur aus der Konvergenz kultureller Diversität mittels Kommunikation ergibt, meinen Kincaid/ Rogers (1981: 56), dass Kommunikation, bei der Teilnehmer Informationen miteinander teilen, um ein gegenseitiges Verständnis zu erreichen, besser verstehbar ist, wenn man diese Interaktionen als zusammenhängende Kommunikationskreise versteht. Nachdem die kommunikativen Muster 11 zweier mensch- __________ 9 Kordes (o.J.: 261, Abb. 23) hat eine Graphik übertitelt mit „Interkulturelle Paradoxien in und zwischen den Interspheren“ erstellt, welche ebenso für den transkulturellen Bereich relevant ist. Diese Auflistung relevanter Paradoxien , die zwar auch keinen Anspruch erheben, 100%ig komplett zu sein, ist m.E. beispielhaft (A.K.). 10 Sen (2007) weist auf die Gefahr der Identitätsfalle hin. 11 Diese kommunikativen Muster sind kulturell geprägt (vgl. dazu die Kulturemtheorie Oksaars (1988) bzw. speziell deren Kommunikationsraster 2003: 39). Annikki Koskensalo 82 licher Individuen ja nie identisch sind, so schlagen Kincaid/ Rogers ein Konvergenzmodell vor. Demzufolge fangen zwei Kommunikationspartner mit einer Austauschbeziehung an, wobei sich während dieses kommunikativen Prozesses ihre Interpretationsschemata und ihr Realitätsverständnis einander annähern. Dadurch lassen sich verschiedene Auffassungen von Individuen für eine gewisse Zeit reduzieren. Sobald aber dieser Prozess aus Gründen wie auch immer abbricht, divergiert wiederum auch das Verständnis 12 der beiden Teilnehmer. Daher haben solche Kommunikationsprozesse weder einen Anfang noch ein Ende (vgl. ebd.). Das Graduiertenkolleg aus Bremen hat im Laufe seiner Forschungen eine Reihe von T h e o r i e a n s ä t z e n zur besseren Fundierung der Transkulturalität zusammengetragen und erprobt: a) k o n s t r u k t i v i s t i s c h e A n s ä t z e ( B h a b h a , G l i s s a n t , H a l l , S a i d ) verbunden mit b) weitgehend p o s t s t r u k t u r a l i s t i s c h e n A n s ä t z e n ( D e r r i d a , D e l e u z e , F o u c a u l t , L a c a n ) und c) e t h n o l o g i s c h e n K o n z e p t i o n e n ( G e e r t s : K u l t u r a l s T e x t ) und d) aktuelle K o n z e p t i o n e n v o n P e r f o r m a n z u n d P e r f o r m a t i v i t ä t . Daneben haben sich folgende f ü n f T h e o r e m e als produktiv erwiesen: 1. der Habitusbegriff von Bourdieu, welcher kulturabhängige Identifikationen mittels einer Unterscheidung von gesellschaftlichen Feldern, Kapitalformen, Distinktionen an komplexen kulturellen Verhältnissen zu erkennen gestattet, 2. das Verständnis der Identität als Konstruktionsvorgang von Keupp, 3. der Generationenbegriff von Mannheim, welcher als ein geeignetes Konzept zur Beschreibung von nicht mehr primär nach ethnischen Kategorien differenzierten sozialen Gruppen in entsprechenden sozialen Bereichen dient; 4. Theorien zu Erinnerung und Gedächtnis und 5. die Akteur-Netzwerk-Theorie, die, wie Bhabha, das aktuelle, nicht-essentialistische Kulturverständnis in einer Vielfalt von Bezeichnungen auf Begriffe wie etwa variable Ontologie oder __________ 12 Escher (1999: 174) schlägt ein Konzept des transkulturellen Verstehens als dialogisches Erkenntnisprinzip vor, bei welchem der Diskurs, das Zusammen-Passen bzw. Passend-Machen im Vordergrund und nicht das Übereinstimmen bzw. Verstehen von einem native point of view aus steht. Denn Verstehen kann nicht im Zuge des Strebens nach einer Übereinstimmung oder eines Konsensbemühens gelingen, weil es immer eine Sache des Zusammenpassens und eben nicht des Übereinstimmens ist. Escher (1999: 174) deutet daher transkulturelles Verstehen als „Operationen bzw. Diskurse des Passend-Machens bzw. des Zusammenpassens von verschiedenen Sinn-, Normenbzw. Werte- und Bedeutungssystemen von Subjekten“ (Schwemmer 1996: 533). Theorie-Methodik-Empirie-Verhältnis von Interkulturalität 83 relative Existenz bringt (vgl. Auffarth/ Febel/ Bonz 2007: 16). Das Konzept der Transkulturalität 13 weist folgende V o r - u n d N a c h t e i l e auf: 1. Kritik 14 Der Wiener Philosoph Wimmer (2000: 171) verortet bei Welsch Sprachnot, weil er nach Durchdringung und Auflösung von Kulturen weiterhin von „der“ Kultur und „den“ Kulturen spricht. Die deskriptiv adäquate Transkulturalismusthese von Welsch hat kein fundamentum in re. Denn man kann nicht faktische Verhältnisse als transkulturell bezeichnen, wenn sich in vielen Gebieten eben keine solchen Verhältnisse, sondern vielmehr Widerstände bzw. __________ 13 Transkulturalität hat mittlerweile institutionell Fuß gefasst: so gibt es z.B. in Deutschland seit 1. April 2001 das Graduiertenkolleg „Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz“ an der Universität Erlangen, welches in einem Sammelband wichtige Grundlagentexte u.a. zur Interkulturalität und Transkulturalität vorgelegt hat (vgl. Allolio-Näcke/ Kalscheuer/ Manzeschke 2005: 221-354). Seit 2002 existiert an der philosophischen Fakultät der Universität Köln ein Zentrum für Inter- und Transkulturelle Studien. An der Universität Bremen ist das Institut für postkoloniale und transkulturelle Studien gegründet worden. An der gleichen Universität wird ein interdisziplinärer Studiengang „Transkulturelle Studien“ angeboten (vgl. Iljassova-Morger 2009: 37). Seit März 2004 gibt es dort zudem ein Doktorandenkolleg „Prozessualität in transkulturellen Kontexten: Dynamik und Resistenz“, welches im Februar 2007 seinen Abschlussbericht vorgelegt (vgl. Auffarth/ Febel/ Bonz 2007) und Resultate seiner Forschungen in einem Sammelband publiziert hat (vgl. Krüger/ Meyer 2006). An der Universität Heidelberg wird seit 2008 ein interdisziplinäres „Graduate Programme for Transcultural Studies“ angeboten. Im Bereich der Germanistik ist im Wintersemester 2007/ 08 ein Promotionsstudiengang „Deutsch als Fremdsprache/ Transcultural German Studies“ am Herder- Institut in Leipzig eingeführt worden. An der TU Dresden ist eine Professur für Deutsch als Fremdsprache/ Transkulturelle Germanistik eingerichtet worden (vgl. Iljassova-Morger 2009: 37). Seit Mai 2006 bearbeitet der Friedenskreis Halle e.V. das Projekt „Praxiswerkstatt Transkultur“. Dieser Kreis hat ebenfalls eine Dokumentation vorgelegt und befindet sich mittlerweile in der Follow-Up-Phase (vgl. Friedenkreis Halle e.V. 2007). In der Kommunikationswissenschaft hat Hepp (2006, 2009) zusammen mit Löffelholz (Hepp/ Löffelholz 2002) über transkulturelle Kommunikation grundlegende Publikationen vorgelegt. In Österreich besteht seit dem Wintersemester 2004 an der Universität Salzburg im Fachbereich Kommunikationswissenschaft eine Abteilung Transkulturelle Kommunikation (vgl. http: / / fodok.unisalzburg.at/ pls/ portal/ nav.show? x=&format=full_funktion&object=36324&lang=158 (Stand: 3.2.2010). 14 Es handelt sich aus Platzgründen nur um eine unwillkürliche, nicht vollständige Ansammlung von Kritikpunkten (A.K.). Annikki Koskensalo 84 Gegenbewegungen zeigen (vgl. Elm 2001: 13). Der Transkulturalitätsansatz kann kulturelle Tiefenstrukturen und Grundorientierungen nicht erfassen (vgl. ebd. 14). Hildebrandt kritisiert am Konzept der Transkulturalität, welches die Auflösung alter und die Entstehung neuer kultureller Differenzen im Blick hat, dessen sukzessiven Charakter (vgl. Allolio-Näcke/ Kalscheuer (2005: 445). Reichardt (2006: 35) kritisiert, dass das Netzmodell von Welsch per se eine Hybriditätstheorie ist und dessen Anspruch auf einleuchtende Klarheit per definitionem mit der Architektur seines Gedankengebäudes kollidieren muss. Die Wissensanthropologin Koch (2008: 14) kritisiert, dass Welsch das Konzept der Transkulturalität verallgemeinernd ohne exemplarische Ausarbeitung entwickelt hat, gleichwie die konkreten Umstände der Transkulturalisierung - anders als bei Ortiz - und Anlässe bzw. Bedingungen der Übernahme fremdkultureller Elemente offen 15 bleiben. Gippert/ Götte/ Kleinau (2008: 11, Saal 2007: 23) kritisieren am Ansatz von Welsch, dass bei diesem weder die Problematik der Machtverteilung 16 in diversen transkulturellen Strukturen noch die Dimension der Geschlechterverhältnisse 17 berücksichtigt wird. Riebeck (2008: 36) wirft dem Konzept der transkulturellen Gesellschaft globale Diskriminierung vor, weil Menschen ohne Internetzugang ausgeschlossen werden. Iljassova-Morger (2009: 40ff.) kritisiert zwei Schwachstellen des Transkulturalitätskonzeptes von Welsch, wonach 1. auf das traditionelle Kulturkonzept 18 __________ 15 Angesichts der Aufforderung von Welsch, einen kulturtheoretischen Paradigmenwechsel vorzunehmen, sind vielfältige Leerstellen im Konzept von Welsch verblieben, welche hinsichtlich dessen fruchtbarer Anwendung noch auszuarbeiten wären (vgl. Koch 2008: 14). 16 Welsch (2010: 9f.) beschäftigt sich in einem Teilkapitel mit Transkulturalisierung im Bereich polit-ökonomischer Machtprozesse. Nach Koch (2008a: 162f.) ist die Problematisierung von Machtaspekten und -relationen nicht nur ein essenzieller Bestandteil transkultureller Forschung sondern eigentlich jeder Kulturanalyse. 17 Welsch (2010: 5) zählt zu identischen Problem- und Bewusstseinslagen verschiedener Kulturen u.a. auch die feministische Bewegung, welche er ebenso als einen mächtigen Wirkfaktor quer durch verschiedene Kulturen betrachtet. 18 Welsch (2000: 341) selbst bietet bei diesem Paradox, demzufolge es einen Doppelcharakter beim Übergang zu einer neuen transkulturellen Verfassung von Kulturen gibt, einen Ausweg an, indem Einzelkulturen weiterexistieren und als Reservoir zwecks Entwicklung neuer Netze dienen. Er betont somit den prozessualen Charakter von Transkulturalität, wonach sich damit einerseits der aktuelle Zustand von Kultur(en) andererseits der permanent fortschreitende Bildungsprozess neuer kultureller Vernetzungen beschreiben lässt (vgl. Iljassova-Morger 2009: 41). Theorie-Methodik-Empirie-Verhältnis von Interkulturalität 85 zurückgegriffen und 2. ein Anspruch auf absolute Gültigkeit 19 erhoben wird. Germanistikprofessor Götze (2009: 325) wirft Transkulturalität 1. eine Beliebigkeit des Kulturrelativismus 20 und 2. ein fehlendes Wertekonzept 21 vor. 2. Vorteile Welsch (1997: 10ff.) nennt zunächst drei Vorteile des Konzeptes der Transkulturalität: 1. Es begünstigt Kontingenzbewusstsein. 2. Es führt wie selbstverständlich über die scheinbar harte Alternative von Globalisierung und Partikularisierung hinaus. 3. Es trägt den gegenwärtigen Vereinheitlichungssowie Differenzierungstendenzen Rechnung und entwirft deskriptiv und normativ ein anderes Bild vom Zustand und Verhältnis der Kulturen, welches nicht Isolierung und Konflikt, sondern Durchmischung, Gemeinsamkeit und Verflechtung beinhaltet. Welsch (2000: 350) formuliert ähnlich zu den obigen drei Punkten drei Jahre später zwei Vorteile gegenüber den anderen Konzepten wie auch gegenüber der Interkulturalität: 1. Es gibt einen deskriptiven Vorteil, weil Transkulturalität nicht nur lokalen sondern auch globalen, partikularistischen wie auch universalistischen Aspekten gerecht wird. 2. Es existiert ein normativer, __________ 19 Trotz dieser berechtigten Kritik ist eine generelle Tendenz von verstärkten transkulturellen Transfers nicht übersehbar (vgl. ebd. 42). 20 Zumindest vier Aspekte präzisieren bzw. relativieren den Kulturbegriff: 1. Kulturen sind nicht homogen sondern vielgestaltig. 2. Sie sind nicht statisch sondern historisch gewachsen und Veränderungen unterworfen. 3. Kulturen beeinflussen die ganze Lebenswelt des Menschen. 4. Prinzipiell sind Kulturen gleichwertig (vgl. Zojer 2001: 50). 21 Fukuyama (2006: 18) sieht einen Zusammenhang mit der Postmoderne und bezeichnet dies als „valuelessness of postmodernity“. Götze (2009: 325) hingegen vertritt einen Kulturbegriff des interkulturellen Dialogs auf Basis der UN-Erklärung der Menschenrechte, um ein globales Miteinander der Kulturen zu ermöglichen, Vorurteile abzubauen und in Zentren ein Entstehen von Parallelgesellschaften zu vermeiden. Der Vorwurf des fehlenden Wertekonzepts trifft nicht auf Transkulturalität zu, weil 1. bei dessen unterstelltem weiten Kulturbegriff expressis verbis von einer Gleichwertigkeit von Kulturen (vgl. Zojer 2001: 50) und einer Anerkennung von Menschen und Gesellschaften als Subjekte und Gleiche (vgl. Kordes o.J.: 39) ausgegangen wird, was sich mit den UN-Menschenrechten deckt und als Gemeinsamkeit und Anschlussmöglichkeit mit Interkulturalität zu sehen ist. Bei so einer Anlage ist der "Andere“ als Gleicher, also in gleicher Augenhöhe zu behandeln, zu akzeptieren und zu tolerieren. Ein solcher Umgang miteinander zieht beim Dialog der Kulturen einen ethischen Umgang inklusive gegenseitige Verantwortung nach sich und ist somit keine Glasperlenspielerei. Autoreflexivität wird durch Fremdreflexivität ergänzt und bisherige Leerformeln mit realem Leben erfüllt. Annikki Koskensalo 86 vorsichtiger ausgedrückt rekommendativer Vorteil, indem man die Perspektive der Transkulturalität zunächst einmal ausprobieren soll. Denn dann könnte man erkennen, dass inmitten angeblicher Uniformierungsprozesse zugleich neue Differenzierungen stattfinden und inmitten Unterschieden auch Gemeinsamkeiten bestehen, welche Anschluss- und Übergangsprozesse begründen. Giesecke/ Robak (2009: 11) nennen weitere sechs Vorteile: 1. Die Prozesse der Transkulturalisierung sind historisch belegbar, 22 wobei sich evidente Sedimente in der Kunst- und Kulturgeschichte finden lassen. 2. Die Konzeptualisierung von Kulturbegriffen beeinflusst das Kulturerleben. 3. Transkulturalität ist eine Konzeptualisierung von Kultur, welche Anschlüsse 23 und Übergänge intentional herstellt. 4. Die Konzeptualisierung von Transkulturalität betont speziell die Anforderung an menschliche Individuen, eine transkulturelle Binnenverfassung von Gesellschaft und wechselseitige Durchdringung von Eigenem und Fremden, anzuerkennen. 5. Dieser psychoanalytisch belegte Auftrag stellt einen zentralen Übergang zur Bildung her. Er führt zudem das ursprüngliche Akzeptanz-Problem von Eigenem und Fremdem 24 in sich selbst zurück. 6. Aktuelle Lebensformen und Praktiken erfordern miteinander zurechtzukommen. Von daher ist es sinnvoll, pragmatische Gemeinsamkeiten und Verbindungen zu schaffen, um eine Kultur für folgende Integrationsschritte zu ermöglichen. Bevor ein Zwischen-Resümee gemacht wird, soll ein kurzer Versuch eines Vergleichs zwischen Inter- und Transkulturalität gemacht werden: I n t e r - __________ 22 Vgl. exemplarisch Ortiz (1940/ 1970, 2005: 293-313). 23 Koch (2008a: 157) betrachtet das Konzept der Transkulturalität hervorragend anschlussfähig an wissensanthropologischen Ansätzen, welche Wissen analog zu Kultur konzeptualisieren. Es werden so Wissensbestände kultureller Gruppen hinsichtlich ihrer Inhalte, Repräsentationsformen von Wissen in diversen Medien und die Distribution des Wissens gruppenintern analysierbar. Damit werden diese mit Zusammenhängen, Widersprüchen und gemeinsamen Verständnissen vergleichbar. Mithilfe des wissensanthropologischen Paradigmas kann präzisiert werden, wie Differenzen produziert werden, wie Anschlussfähigkeiten an fremde Wissensbestände und -formen erfolgen, wie diese ergänzt und zu gemeinsam geteilten Beständen und Formen werden und wie Neubzw. Umdeutungen von bekanntem oder übernommenem Wissen werden (vgl. ebd.). 24 Nach Krüger/ Meyer (2006: 275) ist es gerade das Konzept der Transkulturalität und die Annahme einer Kommensurabilität von Fähigkeit sich Fremdes anzueignen bzw. sich so zu Eigen machen und zum Eigenen ein Ausgeschlossensein zu verhindern, welches bzw. welche Zugänge durch das Aufzeigen von Differenzen und herrschenden Diversität von Kulturen, Realitätssichten und/ oder sozialen Praktiken ermöglicht bzw. ermöglichen. Theorie-Methodik-Empirie-Verhältnis von Interkulturalität 87 k u l t u r a l i t ä t hat einen engen bis weiten Kulturbegriff 25 zugrunde liegen, als Paradigma die binäre, dichotome Differenz 26 von Eigenem und Fremden und besitzt ein dualistisches, binäres Denken. 27 T r a n s k u l t u r a l i t ä t hingegen bedient sich eines weiten Kulturbegriffs, hat Kultur als Paradigma und eine dialektische Denkweise (vgl. Koskensalo 2010: 5, Abb. 3), wobei diese wie der Dualismus zwei Seiten betrachtet, welche aber nicht voneinander getrennt betrachtet, sondern als eng miteinander verschränkt gesehen werden (vgl. Hofkirchner 2005/ 2006: 5f. ). Somit kann der transkulturelle Ansatz letzten Endes nicht (! ) wie der interkulturelle Ansatz dualistisch sein. Transkulturalität beschränkt sich weiters nicht alleinig auf Deskription; vielmehr setzt diese beim Dialog der Kulturen auf ein Ausverhandeln (Uzarewicz/ Uzarewicz 2001: 171), auf ein Herausfiltern von Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten Widersprüchen und Unterschieden, um Ansatzpunkte für eine gemeinsame Handlungsweise zu entwickeln (ebd.: 170). Welsch präferiert (s.o.) sein Konzept der Transkulturalität gegenüber Inter- und Multikulturalität, während Kordes (o.J.: 19; Tafel 1) einem Konzept genannt „Tatsächliche Interkultur“ den Vorzug gibt. Diese ist ein Endziel bzw. Resultat diskriminierender Bewegungen der Dekulturation und Akkulturation, wobei auf Seiten der Dekulturation die Inkulturation mit Multikulturation (= Tolerieren bzw. Vielfalt in der Einheit akzeptieren; recognition) und auf Seiten der Enkulturation die Transkulturation (= Integrieren bzw. Einheit aus der Vielfalt __________ 25 Rathje (2006: 12ff.) schlägt bezüglich einer zukünftigen Weiterentwicklung des Konzeptes interkultureller Kompetenz anstatt des kohärenzorientierten Verständnisses von Interkulturalität ein kohäsionsorientiertes vor. 26 Bhabha (1994: 219) bringt eine wichtige Einsicht seines Konzeptes des 3. Raumes ein: „Es geht um das Aushandeln von Identitätsunterschieden: um die Regulierung und das Aushandeln von Räumen, die sich fortwährend und zugleich kontingent ausdehnen, die hierdurch die Grenzen neu ziehen und dabei die Begrenztheit jedes Anspruches auf ein einzigartig auszeichnendes oder eigenständiges Merkmal von Differenz - sei es Klasse, Geschlecht oder Rasse - aufdecken. Differenz ist weder das Eine noch das Andere, sondern etwas anderes darüber hinaus, dazwischen.“ Dieser zwischenräumliche Übergang eröffnet Bhabha (2000: 5) zufolge eine Möglichkeit kultureller Hybridität, in welcher es einen Platz für Differenz ohne übernommene Hierarchie gibt. Letzteres deckt sich mit der ursprünglichen Idee interkultureller Kommunikation, wie Kallen (1956: 97f.) diese beschrieben hat: „The intent is in the common prefix: inter, which here postulates the parity of the different and their free and friendly communication with one another as both cooperators and competitors“. Allerdings zeigen empirische Untersuchungsresultate, dass auch 3. Räume (vgl. Bachmann-Medick 1998: 19-36) keine herrschaftsfreien Räume sind (vgl. Auffarth/ Febel/ Bonz 2007: 15). 27 Vgl. Kordes (o.J.: 261, Abb. 23). Annikki Koskensalo 88 zusammenschließen; transmission) steht. Die „Gewollte Interkultur“ ist der Zusammenfluss dieser beiden Seiten, welche dann durch ein wechselseitiges Aufeinanderwirken (Interaktion) und Zusammenwirkung (Synergie) zur Erlangung einer durch faire Beziehungen und Verhältnisse geregelten komplexen Ordnung genannt „Tatsächliche Interkultur“ dienlich sein soll. Allerdings muss dann interkulturelle Arbeit - im Gegensatz zur akkulturellen - sich um zwei Sensibilitäten bemühen: 1. Menschen und Gesellschaften müssen sich als Subjekte und Gleiche anerkennen. 2. Sie müssen ihre antagonistische Interaktion gemäß den Formen der Komplementarität vornehmen (vgl. ders: 39). Als Z w i s c h e n - R e s ü m e e ist zu ziehen, dass es wie oben bereits evident geworden einige Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede und Widersprüchlichkeiten zwischen den zwei Konzepten mitsamt ihren Paradigmen, 28 Kulturbegriffen, Denkweisen und Paradoxien usw. gibt, wenn man den Dingen etwas mehr auf den Grund geht. So scheint das Transkulturalitätskonzept gegenüber dem Interkulturalitätskonzept 29 zwar einige Vorteile aufzuweisen, wenngleich die beiden Konzepte und Begriffe sich nicht notwendigerweise ausschließen, wie dies Welsch suggeriert (vgl. Iljassova 2008: 14). Iljassova hat recht, wenn sie feststellt, dass jedes auf den ersten Blick griffige Modell mit dem Anspruch, das aktuelle Weltbild zu beschreiben, mit Vorsicht zu genießen ist und keinesfalls verabsolutiert werden sollte (vgl. dies.). Im Vergleich zur Interkulturalität kann Transkulturalität nur auf eine „kurze Begriffsgeschichte und […] erst spärliche Theoretisierung des Konzepts […] aufgrund der allerdings noch wenig elaborierten Überlegungen des Philosophen Wolfgang Welsch“ (Koch 2008a: 156f.) verweisen. Eine Theorie der Transkulturalität müsste sich nach Koch (2008: 16) über Konnektivität hinaus, welche die Mischung kultureller Formen und fremdkulturelle Bezüge als Identität stiftende Ressource thematisiert, zu weiteren wesentlichen Dimensionen positionieren: Motive und Modi des Mischens, Möglichkeitsräume von identitären Mehrfachbezügen und Praktiken, in denen Konnektivitäten hergestellt werden. __________ 28 Kuhns (1976: 11) zentraler These zufolge sind konkurrierende Paradigmen prinzipiell unvereinbar. Weiters lässt jedes Paradigma andere Probleme ungelöst. Es empfiehlt sich daher eine pragmatische Sicht beim Konzept-Vergleich (A.K.). 29 Als Kritiker des Interkulturalismus vgl. Hamburger (2009: 134-144) bzw. der Interkulturalität vgl. Gürses (o.J.: o.S.). Theorie-Methodik-Empirie-Verhältnis von Interkulturalität 89 2.2 Methodologischer Vergleich Die Methodologie beider Konzepte leidet unter gleichen bis ähnlichen Problemen. Földes (2007: 19-23) hat bei Interkulturalität eine Reihe von Problemen hinsichtlich Kultur, Sprache, Kommunikationsverhalten, Fremdheitserwartungen und Wahrnehmung/ Rezeption interkulturellen Handelns angeführt. Er schlägt dann in der Folge Lösungen für den Methoden-Einsatz vor (vgl. ebd. 36-49). Manrai/ Manrai (1996: 10) führen als Grund an, dass es wegen der Komplexität von Kultur schwierig sei, Kultur zu definieren. Daher falle es auch schwer, interkulturelle Differenzen zu operationalisieren und valide zu bestimmen (vgl. ebd.). Das Graduiertenkolleg (Auffarth/ Febel/ Bonz 2007: 17) in Bremen hat eine allgemeine Methodik der Transkulturalitätsforschung 30 entwickelt, die auf Erfahrungen mit interdisziplinärem Perspektivenpluralismus ihrer Mitglieder beruht und durch einen intradisziplinären Methoden-Mix gekennzeichnet ist. Im Zuge der Kollegarbeit bzw. dreijährigen Projektlaufzeit hat sich bei der WSP herausgestellt, dass alle methodischen Ansätze einzelner Promotionen sich insgesamt als sinnvoll erwiesen haben (vgl. ebd.). Es hat also im Sinne einer Evaluierung der gewählten Methoden 31 keine best-practices gegeben. Denn die situativ-jeweiligen Methodenentscheidungen müssen primär vor den Kriterien der gegenstandsentsprechenden Fachdisziplin bestehen müssen. Vielmehr hat sich in der Transkulturforschung eine reflektierte Methodik 32 wegen der speziellen Komplexität transkultureller Phänomene als besonders relevant und nötig erwiesen. Dieses reflexive Verhältnis zu Methoden zeigt sich konkret als Reflexivität im Falle empirischer Untersuchungen in Unterscheidungen zwischen 1. Methoden der Datenerhebung und -auswertung und 2. zwischen einerseits Methoden der Erhebung oder Analyse bzw. andererseits Epistemen der Datenauswertung (vgl. dies.). Ein Beispiel reflexiver Methodik in der Erforschung interkultureller Kommunikation findet sich eher als Ausnahme bei Müller-Jacquier (2004: 69-113). __________ 30 Kempf (1991: 119-132) hat sich bereits vor 19 Jahren mit der transkulturellen Verständnisbildung als Methodenproblem beschäftigt. 31 Vgl. gewählte Methoden der einzelnen Projekte der WSP unter www.wsp-kultur.unibremen.de. 32 Transkulturalität und Prozessualität bedingen einander wechselseitig. Transkulturalität bezeichnet bei gegenständlichen Forschungsprojekten nicht wie in komparatistischen Paradigmen kulturelle Universalien. Daher erfordert Transkulturalität offenes, reflexives Methodenverständnis. Die Methodik begrenzt sich nicht bloß auf ein vorher definiertes Realitätssegment, sondern nähert sich kontext- und standortbezogen sowie multiperspektivisch an (vgl. Auffarth/ Febel/ Bonz 2007: 6). Annikki Koskensalo 90 Nach Zirfas/ Göhlich/ Liebau (2006: 186ff.) verweist Transkulturalität sehr kleinteilig auf kulturelle Mischformen, soziale Hybridformen, Entwicklungen, Überschneidungen, vor allem performative Handlungsvollzüge und Ausdrucksformen. Daher braucht das Konzept Transkulturalität primär eine analytischethnographische Forschung, welche den Fokus auf begrenzte Phänomene wie etwa Migrationsbiographien, biographische Sprachprobleme, Erforschung mimetischer Prozesse wie Veränderung von Lebensstilen und die Erforschung von Identitäts- und Zugehörigkeitsmustern setzt (vgl. ebd. 192). Als weiteres Z w i s c h e n - R e s ü m e e ist anzumerken, dass bei der transkulturellen Forschungsmethodik 33 - im Gegensatz zur interkulturellen 34 - hauptsächlich ein reflexives Verhältnis zu Methoden besteht. 2.3 Empirie-Vergleich Bei der Interkulturalität gibt es ein weitgefächertes empirisches Feld (vgl. Abb. 1: Strukturschema interkultureller Handlungsfelder nach Kordes 2004: 3). Transkulturellen Prozesse 35 betreffen Austauschvorgänge zwischen Kulturen. wobei deren Gegenstände diverse Kulturphänomene wie etwa Sprache, Werte, Wissen darstellen, die sich im alltäglichen Gebrauch abspielen (vgl. Auffarth/ Febel/ Bonz 2007: 13). Transkulturelle Staaten gibt es kaum. Demorgon/ Kordes (2006: 32) nennen als transkulturelle Staaten die Türkei, bis vor Kurzem auch Mexiko und vor allem Frankreich, welches das Signum eines transkulturellen Laizitätsprinzips für sich beansprucht. Transkulturelle Gesellschaften gibt es bisher kaum, abgesehen von einer kleinen süd-indischen Stadt namens Auroville, wo 1829 Menschen nach dem __________ 33 Bei der transkulturellen Forschungsmethodik versucht man seit 2007 das transdisziplinäre Forschungsverfahren abzutesten (vgl. Unterkofler 2007). Balsiger (2009: 242) stellt fest, dass Transkulturalität und Transdisziplinarität nicht wirklich miteinander vergleichbar sind. Das ist richtig, weil es sich bei Transkulturalität um ein Forschungsfeld bzw. einen Forschungsgegenstand und bei Transdisziplinarität um ein Forschungsprinzip bzw. -verfahren handelt (A.K.). 34 Deren empirische und methodische Implikationen vgl. Korff (2009: 35ff.). 35 Transkulturelle Prozesse können in der Praxis sehr unterschiedlich verlaufen. Meistens ist daher eine Methodentriangulation ein geeignetes Analyseinstrument. Solche Prozesse sind zudem oft in ihren Dynamiken bzw. Resistenzen von affektiven Faktoren bestimmt, welche gegenüber institutionellen Momenten häufig Priorität erlangen. Solche Momente lassen sich mittels themenzentrierter oder qualitativer Interviews präziser analysieren (vgl. Auffarth/ Febel/ Bonz 2007: 13). Theorie-Methodik-Empirie-Verhältnis von Interkulturalität 91 Prinzip der Gleichheit mit Einheitslohn und ohne Vermögensbesitz leben (vgl. Demorgon/ Kordes 2006: 32, Riebeck 2008: 35). Transkulturelle Lebensweisen gibt es wohl an einigen Orten wie etwa Metropolen und für Menschen teilweise sogar alltäglich wiewohl in manchen Ländern nur in bestimmten Berufsgruppen, Schichten und jüngeren Generationen (vgl. Iljassova-Morger 2009: 42). Zudem gibt es bisher wenige Untersuchungen von Prozessen der Transkulturalisierung in Mikrobereichen (vgl. etwa Koch 2008). Ein Beispiel transkultureller germanistischer Linguistik (vgl. Földes 2005: 295ff.) bearbeitet Molnár (2006: 219-227) in ihrer Dissertation, wo sie sich im Falle des Werkes „Verrat“ von Maxim Biller mit der transkulturellen Konstitution deutsch-jüdischer Gegenwartsliteratur auseinandersetzt. Als letztes Z w i s c h e n - R e s ü m e e ist daher zu ziehen, dass bei der Transkulturalität der Zugang zum empirischen Feld im Vergleich zur Interkulturalität noch eingeschränkter ist. Transkulturalität leidet nach wie vor an großen empirischen Defiziten. 3 Schluss und Ausblick Die Zwischen-Resümees zeigen einige Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten zwischen Inter- und Transkulturalität im Theorie- Methodik-Empirie-Vergleich wiewohl Leerstellen und Desiderata auf, sodass in Zukunft genug Forschungsmöglichkeiten offenstehen. Daher erscheint es in dieser Phase des transdisziplinären Ansatzes noch verfrüht, einen Standpunkt darüber zu beziehen. Was den zentralen Streit des Dialogs der Kulturen und der Haltung der Geisteswissenschaften und auch der Verfasserin anbelangt, so ist in diesem Artikel evident geworden, dass dies auf Basis der UN-Menschenrechte zu geschehen hat. Im Sinne der Wertfreiheit nach Max Weber gilt es zunächst, die Kraft der Pro- und Kontra-Argumente des inter- und transkulturellen Ansatzes aufeinander wirken zu lassen. Keineswegs verbirgt sich dahinter positivistisches Agieren. Das hermeneutische Erklären ist in dieser Phase zugegebenerweise noch rudimentär, weil ja hier wissenschaftliches Neuland besteht. Zumindest sollte dieser Artikel ein wenig zur Klärung der Positionen beigetragen haben. Die These dieses Beitrags (s.o.) ist also in dieser Hinsicht zu korrigieren bzw. zu relativieren. Es gilt die Theorien besser zu fundieren, die Methodik auszufeilen bzw. zu optimieren, um die empirischen Felder, Forschungsfragen und Probleme besser erforschen zu können. Die relevanten Konzepte, Methoden, Forschungsfelder und Disziplinen könnten viel voneinander profitieren, sofern ein kooperativer Wille bei den handelnden Akteuren besteht. Annikki Koskensalo 92 4 Literatur Allolio-Näcke, Lars/ Kalscheuer, Britta (2005): Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz - Resümee und Ausblick. In: Allolio-Näcke, Lars/ Kalscheuer, Britta/ Manzeschke, Arne (Hrsg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/ New York. S. 443-453. Auernheimer, Georg (2008): Das Multikulturalismusverständnis bei Herder: Versuch einer Ehrenrettung. In: Neubert, Stefan/ Roth, Hans-Jochen/ Yildiz, Erol (Hrsg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept. 2.Aufl. Opladen. (Interkulturelle Studien). S. 149-176. 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Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht (ZDF und Der Erste Fernsehkanal Russlands) Olga Kostrova (Samara) 1 Problemstellung Eine der mächtigen Informations- und Kommunikationsquellen der Gegenwart ist das Fernsehen. Es wird „als ein allgemein sozial wirkendes Phänomen gesehen“ (Holly/ Püschel 1993: 128). Das Fernsehen besitzt riesige Möglichkeiten, das Massenbewusstsein zu beeinflussen und sich somit auf das geistige Leben der Menschen auszuwirken. Es erzeugt eine eigene „Vorstellungswelt“ (Geertz 1983: 20), deren Wirkung mit der Wirkung der Folklore in früheren Gesellschaften verglichen wird (Holly/ Püschel 1993: 134). Deshalb ist es besonders wichtig herauszufinden, welche Funktionen das Fernsehen in verschiedenen Ländern erfüllt. Um erfolgreich zu kommunizieren, muss man nicht nur die entsprechende Fremdsprache beherrschen, sondern auch die Kultur des anderen Volkes kennen. Die Linguisten können in diesem Prozess die Konzeptualisierungsart einerseits und andererseits Wege zur Informationsweiterleitung im Bereich Massenmedien transparent machen. Z i e l meines Beitrags ist, t h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e n interkultureller Verständigung via Massenmedia sowie die F o r s c h u n g s m e t h o d e n der Interkulturalität in diesem Bereich zu explizieren. Die empirische Basis bildet dabei die Analyse der Fernsehprogramme von je einem zentralen Kanal in Deutschland und Russland. Interkulturell gesehen, entstehen hier folgende Probleme: - Wie ist die interkulturelle Kommunikation in dem Mediadiskurs zu verstehen, wo die direkte Kommunikation ausbleibt? - Welche Begriffe beinhaltet interkulturelle Mentalität? - Welche Methoden kann man verwenden, um auf die Ergebnisse zu kommen, die für die Interkulturelle Linguistik relevant sind? - Inwieweit beeinflusst die Mentalität die Art der Informationszusammenfassung und -darbietung? - Welche linguistischen Besonderheiten optimieren in verschiedenen Ländern den kommunikativen Wirkungseffekt? Olga Kostrova 100 2 Forschungsstand und Forschungsmethode Wenden wir uns der ersten Frage zu, dann müssen wir uns im Klaren sein, was I n t e r k u l t u r a l i t ä t ist. Um ihr Wesen zu fassen, greift Földes (2009: 503) zur Metapher b l a c k b o x . Weiter führt er aus, dass Interkulturalität einerseits ein P h ä n o m e n , andererseits aber ein K o n z e p t ist (2009: 512). Ich stimme seiner Interpretation zu: Als Phänomen stellt sie „eine Art Beziehung“ dar, als Konzept ist sie eine Reflexion, die beim Vergleich von verschiedenen Kulturen erfolgt. Aus diesem Verständnis folgert Földes (2009: 518f.), dass man die Phänomenologie der Sprache und die Phänomenologie der Sprachwissenschaft sowohl aus der I n n e n als auch aus der A u ß e n p e r s p e k t i v e erforschen muss. Das Phänomen Interkulturalität ist in anderer Terminologie (Kostrova 2009: 16) als e n d o - und e x o e t h n i s c h e r interkultureller Raum bestimmt. Unter dem ersten wird die interkulturelle Wechselwirkung innerhalb eines und desselben Ethnos verstanden. Bei der exoethnischen Interkulturalität geht es um die Wechselwirkung von Kulturen mit verschiedener ethnischer Orientierung. Entsprechend sind auch Paradigmen der beiden Phänomene unterschiedlich. Die endoethnische Interkulturalität setzt das Alters-, Berufs- und Medienparadigmen voraus. Die exoethnische Interkulturalität ist in der Übersetzungswissenschaft realisiert. Andere Paradigmen dieser Art Interkulturalität haben einen metasprachlichen Charakter und bleiben in Vielem auf virtueller Ebene. In unserem Falle müssen sie aus dem Kultur-, Mentalitäten- und Sprachvergleich reflektiert werden. Sie integrieren also Kulturologie, Kogitologie und Ethnolinguistik. Diese Integration ist aber bis jetzt noch unbestimmt, sie wird eher intuitiv angenommen. Versuchen wir sie zu explizieren. Die interkulturelle Kommunikation in einem Mediadiskurs wie Fernsehprogramme zählt zu dem exoethnischen Kulturaustausch. Da die unmittelbare Kommunikation in diesem Bereich in der Regel ausbleibt, kann es sich hier lediglich um eine Kulturverständigung handeln, die durch die Medien vermittelt wird. Jede Ethnokultur prägt eine für sie eigene E t h n o m e n t a l i t ä t , denn - so Alefirenko (2010: 117) - die Mentalität erbt ethnokulturelle Informationen. In diesem Sinne definieren Hofstede/ Hofstede (2006: 2ff.) die Kultur als „kollektive Programmierung des Geistes“. Földes (2009: 508) mildert diese Definition, indem er die Kultur „als eine Art Navigator“ auffasst, „der die Feststellung des einzuschlagenden Kurses unterstützt, aber diese nicht erzwingt“. Doch auch in diesem Falle wird der Kultur ihre geistprägende Rolle nicht abgesprochen. Die exoethnische Kommunikation muss demzufolge zwischen zwei ethnischen Mentalitäten eingeortet werden, von denen jede eine eigene, in einer bestimmten Sprache ausgedrückte Perspektive ermöglicht. Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht 101 In den Forschungen, deren Gegenstand vergleichende Mentalität ist, sind Kriterien festgestellt, die die Mentalitäten unterscheiden. Laut Hofstede (1991: 28, 51, 113), deren Hypothesen zum Teil mit denen des russischen Forschers Hrolenko zusammenfallen (Hrolenko 2004: 319), sind es Machtdistanz, Individualismus vs. Kollektivismus, Universalismus vs. Partikularismus und starke oder schwache Unsicherheitsvermeidung. Andere Forscher (vgl. Bauer/ Inkeles/ Kluckhohn 1956: 141, Sternin 2002: 266ff., Labašuk 2004: 9) zählen zu solchen Kriterien die Opposition Rationalität/ Emotionalität, wobei Sternin meint (Sternin 2002: 283), dass die Emotionalität der Russen das Gefühl der kommunikativen Verantwortung überbrückt, das infolgedessen als schwach eingeschätzt wird. Schwache kommunikative Verantwortung beobachten die Russen im Fernsehen täglich; stark geprägt war sie zu Gorbatschows Zeit: Es wurde viel geredet, aber wenig gemacht. Die Rationalität hat noch ein anderes Oppositionsglied, und zwar die G e i s t i g k e i t . Diese Eigenschaft des russischen Sprachbewusstseins lässt sich nach Wierzbicka (1997: 33) in solchen unikalen Begriffen nieder wie душа, судьба, тоска (Seele, Schicksal, Sehnsucht). Wie wir sehen, sind alle Kriterien, mit Ausnahme der Machtdistanz, endoethnisch. Doch sind sie alle - so Makarov (2000: 36) - auf einen expliziten oder impliziten Vergleich mit einer anderen ethnischen Gemeinschaft orientiert. Nicht anders ist es bei den Einheiten, die zur Beschreibung der kulturellen Unterschiede gebraucht werden. In der russischen Kulturologie zählen zu solchen Einheiten Konzepte, Präzedenzzeichen und Symbole. K o n z e p t e versteht Stepanov (1997: 40, 42) als „kondensierte Kultureinheiten“, die nicht nur Logisches, sondern auch Emotionales - Sympathien und Antipathien, Bewertungen u.ä. - beinhalten. Nach Karasik (2002: 129) sind Konzepte vieldimensionale Sinneseinheiten, in denen Wertungen, Gestalten und Begriffe zusammenwirken. Alefirenko (2010: 219) betont die Fähigkeit der Konzepte, kulturelle Informationen aufzubewahren. Sie werden also - im Unterschied zu Földes - kultur- und sprachspezifisch, d.h. endokulturell verstanden. Als Beispiel eines solchen Konzepts führt Stepanov (1997: 42f.) zwei Festtage an, die jedem Russen geläufig sind: den 23. Februar, an dem Männern gratuliert wird, und den 8. März als Internationalen Frauentag. Interkulturell gesehen, kann man den 8. März als Feiertag erklären, nicht aber den 23. Februar, der ursprünglich als Tag der Sowjetarmee gefeiert wurde, jetzt aber als Tag des Heimatschützen, im Volksbewusstsein doch als Tag des Mannes wahrgenommen wird. Eine Abart der Konzepte bilden Präzedenznamen, die im Wörterbuch zur interkulturellen Kommunikation (Zinčenko/ Zusman/ Kirnose/ Rjabov 2010: 93) als Namen der nationalen Kulturwelt definiert sind. Symbole versteht Alefirenko (2010: 238f.) als mediale Zeichen, die tief im Unterbewusstsein der Seele wurzeln und somit die affektive Sphäre des Menschen berühren. Hier sehen wir wieder endokulturelles Herangehen, das doch eine reflexive Interkulturalität Olga Kostrova 102 impliziert. Versuchen wir nun, die angeführten Einheiten mit denen zu koordinieren, die in der allgemeinen Kommunikationstheorie erarbeitet sind. In diesem Zusammenhang wenden wir uns der Konzeption der d r i t t e n W i r k l i c h k e i t zu, die von Fleischer (2006: 286) entwickelt ist. Er versteht darunter das soziale System mitsamt seines M o d u s d e r K o m m u n i k a t i o n . Von diesem Verständnis ausgehend, formuliert er mehrere Hypothesen, die das System der dritten Wirklichkeit näher zu charakterisieren erlauben. Die erste Hypothese betrifft Äußerungen, denen zwei Formen zugeschrieben werden: eine physikalische singuläre und eine kognitiv-konstruktive. Im ersten Fall sind Äußerungen Kommunikationsmittel, im zweiten aber K o m m u n i k a t e . Die Kommunikate sind wiederum in doppelter Ausführung vorhanden: als i n d i v i d u e l l e und als bindende o p e r a t i v e . Die operativen Kommunikate wirken sich in der Kommunikationsbasis aus, „deren Kenntnis als ein Faktor der Zugehörigkeit zum jeweiligen System notwendig ist“ (Fleischer 2006: 288). Sie decken sich zum Teil mit Konzepten, Präzedenznamen und Symbolen und sind wie diese endokulturell orientiert. Die Fernsehprogramme enthalten ziemlich viele operative Kommunikate, was wir später sehen werden. Wichtig ist für unsere Zielsetzung Fleischers vierte Hypothese, die nicht nur D i s k u r s als unentbehrliches Element der Kommunikation postuliert, sondern auch die steuernde Rolle der W e l t b i l d e r in dem Diskurs behauptet. „Weltbilder entscheiden über die Zulässigkeit eines Elements in der dritten Wirklichkeit“, schreibt Fleischer (2006: 292). Auch bei russischen Linguisten findet man ähnliche Gedanken. Grišaeva (et al. 2009: 243) betont beispielsweise, dass die beständigen k o g n i t i v e n M o d e l l e , die uns die Wirklichkeit bewusst machen, einen bestimmten (endokulturellen - O.K.) Wahrnehmungsrahmen schaffen. Dieser Rahmen ist für das Verständnis der Fernsehprogramme ebenso relevant. Fiske (1987: 99-105) beschreibt Fernsehen als eine kontinuierlich dahinfließende Rezeptionserfahrung. Wie aus dem Gesagten folgt, sind bis jetzt nur noch endokulturelle Einheiten ausgeschieden, die den Kultur- und Mentalitätenvergleich implizieren. Anders ist es in der kontrastiven Sprachtypologie bestellt, wo vorausgesetzt wird, dass es in verschiedenen Sprachen Universalien und Unikalien gibt. In der Kogitologie und Kulturologie geht es bis jetzt nur noch um Unikalien. Wenn die Integration der Wissenschaften bei der Untersuchung der Interkulturalität ertragreich sein sollte, müsste man auch nach mentalen und kulturellen Universalien suchen. Diese Universalien werden in unserem Fall sicher einen relativen Charakter haben, denn wir vergleichen nur noch zwei Kulturen und zwei Mentalitäten. Doch ist ihre Ausscheidung aus meiner Sicht sinnvoll, weil sie die zu betrachtenden Gemeinsamkeiten hervortreten lassen. Mentale Universalien könnte man von den oben angeführten Unikalien ableiten. Das wären: das Verhältnis zur Macht; die Identifizierungsart, das Sicher- Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht 103 heitsgefühl und die seelische Veranlagung. Jede Universalie basiert auf einer oder mehreren Oppositionen. Das Verhältnis zur Macht wird als große vs. kleine Machtdistanz realisiert. Der Identifizierungsart liegen zwei Oppositionen zu Grunde: Individualismus vs. Kollektivismus, Universalismus vs. Partikularismus. Das Sicherheitsgefühl basiert auf der Opposition Geborgenheit - Ungeborgenheit und die seelische Veranlagung variiert als rational und emotional. Wie sich alle diese Kriterien auf den Vergleich von deutschen und russischen Fernsehprogrammen anwenden lassen, kommt später zur Sprache. Vorerst aber ist es unentbehrlich, Einheiten auszugliedern, mit deren Hilfe verschiedene Mentalitäten verglichen werden können. Als eine Universalie der Interkulturalität, die Konzepte und Präzedenznamen decken könnte, wäre die K o n z e p t u a l i s i e r u n g s a r t denkbar. Diese Universalie ist untrennbar vom sprachlichen Ausdruck und wird weiter an konkreten Beispielen erörtert. Darüber hinaus müssen wir bei der vergleichenden Analyse der Fernsehprogramme an die k o n t r a s t i v e T e x t o l o g i e denken, denn das Fernsehprogramm stellt eine Art H y p e r t e x t dar, der nicht nur Titel-Texte beinhaltet (wenn auch ich mich nur auf diese beschränke), sondern auch erweiterte Texte - Kommentare, Chats, Bloge u.a.m. Adamzik (2001: 27) hat in Bezug auf die kontrastive Textologie konkrete Desiderata benannt. Sie meint, dass man solche Forschungsprinzipien kontrastiver Texte finden sollte, die sprachliche Erscheinungen mit bestehenden Stereotypen in Verbindung bringen könnten. Es handelt sich darum, in solchen diffusen Konzepten wie Kultur und Mentalität Bereiche zu finden, in denen der Vergleich möglich ist. Anders gesagt, müssen die Linguisten die Kluft überbrücken, die zwischen kulturell bedingten Denkarten vorhanden ist. Aus meiner Sicht möchte ich hinzufügen, dass der Vergleich des sprachlichen Ausdrucks, der diese Kluft überbrücken sollte und der nicht minder wichtig ist, heutzutage eine tabula rasa ist. Müller-Jacquier (1999: 56) konstatiert „die […] allgemeine Unfähigkeit, sich über interkulturelle Situationen verständigen zu können“ und erarbeitet ein Raster für die Analyse interkultureller Kommunikation. Zu analysieren ist seiner Meinung nach unter anderem die Gesprächsorganisation, die Konventionen des Diskursablaufs, Themen, Direktheit/ Indirektheit, para- und nonverbale Faktoren, kulturspezifische Werte/ Einstellungen enthält. Die G e s p r ä c h s o r g a n i s a t i o n kann man dabei m.E. als eine Universalie ansehen, die durch angeführte Charakteristiken spezifiziert wird. Das Spezifische an der sprachlichen Gestaltung der Fernsehprogramme in Deutschland und in Russland im Sinne von Müller-Jacquier (ebd.) bildet den Gegenstand der kontrastiven Textologie und somit der interkulturellen Reflexion als Konzept wie weiter oben angedeutet ist. Olga Kostrova 104 Meine Hypothese wäre, dass die Interkulturalität, die zwischen dem deutschen und russischen ethnokulturellen Raum eingeortet ist und aus Fernsehprogrammen abgeleitet werden kann, sowohl Universalien, als auch Unikalien mentaler, kultureller und sprachlicher Art enthält. Die Universalien charakterisieren das Gemeinsame, was uns vereinigt, die Unikalien bestimmen kulturspezifische Unterschiede. Wie diese Unterschiede das Herangehen in der Konzeptualisierungsart der Fernsehprogramme bestimmen, zeige ich an zwei Beispielen, die ein und dasselbe Thema behandeln: das Erdbeben auf Haiti. Vom rationalen individualistischen Bewusstsein der Deutschen ausgehend, wendet sich ZDF an konkrete Bürger: Spenden für Erdbeben-Opfer. So können Sie helfen. Der Erste Kanal Russlands verfährt viel abstrakter, wobei auf die Machtdistanz verwiesen wird (es geht um die Hollywood-Stars) und die Hilfe nicht an konkrete Menschen, sondern an die gelittene Republik Haiti geht. Die schwache kommunikative Verantwortung kommt in dem Bild zum Vorschein, das zu undeutlich ist: Звезды Голливуда продолжают оказывать помощь пострадавшей от землетрясения Республике Гаити. (dt. Hollywood-Stars helfen der vom Erdbeben gelittenen Republik Haiti weiter) Der Texttyp Titel-Text hat m.E. drei wichtigste Funktionen, die zu interkulturellen Universalien gezählt werden können. Es sind Informationsgliederung, die mit der kontrastiven Textologie koordiniert; Konzeptualisierungsart, die universale Züge im Bereich Mentalität feststellt; Werbung, die die ethnokulturelle Spezifik berücksichtigt und sich auch auf die Textgestaltung auswirkt. In beiden betrachteten Programmen (dem deutschen und dem russischen) kommen diese Funktionen der Titel nicht gleich zum Ausdruck; ihre Realisierungsform wird zu ethnokulturellen Unikalien. 3 Deutscher Hypertext Fernsehprogramm 3.1 Gliederungsfunktion Bei der Gliederungsfunktion geht ZDF vorwiegend r a t i o n a l von der thematischen Gruppierung aus. Man kann da solche Themen finden wie Nachrichten/ Aktuelles, Wissen, Film, Politik/ Gesellschaft, u.a.m. Die Themen sind auch gruppiert, beispielsweise Ausbildung & Beruf, Auto & Verkehr. Nur selten kommt bei solchen Bezeichnungen die Funktion in den Vordergrund, wobei der Titel substantivisch bleibt: Unterhaltung, Ratgeber. Man sieht, dass alle Themenbezeichnungen durch Gattungsnamen in der generalisierenden Funktion realisiert sind. Nach Stocker (1998: 69) kommt hier der Modus Thematisierung zum Ausdruck. Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht 105 Charakteristisch ist, dass die Programme für die potenziellen Zuschauer t r a n s p a r e n t sind. Es gibt spezielle Zeichen, die den Text des Programms ergänzen und als Hinweise für Zuschauer dienen. Die Hinweise können Wörter enthalten, die mit Majuskeln geschrieben sind: TIPP, CHAT, LIVESTREAM. Daneben gibt es nonverbale Zeichen für Zwei-Kanal-Ton, Schwarz-Weiß, für den Hörfilm etc. Diese Hinweise sorgen für eine schnelle Orientierung, was man auch als Zeichen der Rationalität auslegen kann. Für die schnelle Orientierung wird auch anders gesorgt. So haben die Nachrichten oft die Ergänzung kurz/ kompakt/ 100sec. 3.2 Sprachliche Gestaltung des Titel-Textes beim ZDF Bei der sprachlichen Gestaltung der Sendungstitel wirken zwei Funktionen zusammen: die pragmatische W e r b u n g und die kognitive K o n z e p t u a l i s i e r u n g . Beide werden durch dieselben sprachlichen Mittel realisiert, von denen die wichtigsten Metaphern, Eigennamen und Anglizismen sind. Das expressive Potenzial von syntaktischen Einheiten wird auch ausgenutzt. 3.2.1 Konzeptualisierung durch lexikalische und lexikalisch-syntaktische Mittel Die M e t a p h e r n verbildlichen oder romantisieren oft die Titel, die ohne metaphorische Übertragung zu trocken wären. Die Metaphorisierung dient dazu, bestimmte Begriffe zu operativen Kommunikaten oder zu kollektiven Symbolen zu machen, ihnen eine positive Schattierung zu verleihen. Zu einem operativen Kommunikat wird z.B. der metaphorische Begriff ZDF-Fernsehgarten. Das Grundwort -garten geht auf die germanische Wurzel *gardazurück, die „Haus als umzäunter Besitz“ (Wahrig 1980: 519) bezeichnete. Die Sendungen werden auf einer offenen Bühne, in einem Garten gestaltet. Somit werden sie als etwas Besonderes konzeptualisiert, das in der dritten Wirklichkeit eine eigene Existenz hat, deren Kenntnis zeigt, dass man zum jeweiligen System gehört. Die Rolle der „Umzäunung“ spielt der Name des Kanals ZDF. Die E i g e n n a m e n werden in Fernsehprogrammen auch als operative Kommunikate benutzt. Ihre konkreten Funktionen fallen verschieden aus; gemeinsam ist, dass sie die Zuschauer, für die sie etwas bedeuten, werben. Die Eigennamen „besitzen die Eigenschaft, dass sie mit etwas ausgestattet sind, das für gewöhnlich ‚Image‘ genannt wird“ (Fleischer 2006: 357). Wer dieses Image kennt, für den ist die Semantisierung des anderen Objekts erleichtert, der ist leichter für das Programm zu gewinnen. Die Ländernamen können an das Ge- Olga Kostrova 106 fühl des Patriotismus appellieren, wenn es um das Heimatland geht, ob in einem Sportwettkampf oder in einem Quiz (vgl. Deutschland gegen Österreich). Sie können auch Mitleid hervorrufen (vgl. Kongo: ein geplündertes Land). Die Personennamen, wenn sie berühmten Menschen gehören, wirken als Autorität (vgl. Fleischer 2006: 358) und werben um ihre Fans. Die Konzeptualisierung zu K o l l e k t i v s y m b o l e n betrifft besonders solche Begriffe wie Forschung und Wissen, die für die Informationsgesellschaft von erstrangiger Bedeutung sind. Deshalb heißt es Abenteuer Forschung/ Wissen oder Expedition Wissen. Als Kollektivsymbole bekommen diese Begriffe das „Mehr-an-Bedeutung“, welches kommunikationsbedingt ist (Fleischer 2006: 309). Dieses Mehr-an-Bedeutung bringt einen perlokutiven Effekt hervor, indem es das Interesse an Wissen und Forschung weckt. Die Sendungen stellen aktuelle Themen als richtiges Abenteuer dar, beispielsweise erzählt man über das neue Flugzeug, das unsichtbar ist, unter dem Titel Neuerfindung der Tarnkappe. Andere Kollektivsymbole „besitzen die Kraft, eine Äußerung in ihrer diskurshaften Markiertheit zu verändern [..] Sie besitzen die Kraft, Meinungen, Standpunkte u. dgl. zu polarisieren, zu manipulieren und auszugrenzen“ (Fleischer 2006: 309). So ändert das Wort Schlacht in dem Küchendiskurs seine direkte Bedeutung, wenn es in der Zusammensetzung Die Küchenschlacht erscheint. Es wird mit hohen Gefühlen manipuliert und somit wird der Titel einer Sendungsreihe, wenigstens aus der Sicht des russischen Bewusstseins, zum kollektiven Symbol einer ironischen Heldentat. Fleischer (2006: 312) führt noch eine Eigenschaft der Kollektivsymbole an, die in Fernsehprogrammen realisiert wird. Er meint das für sie charakteristische Prinzip bzw. Verfahren des „Überpoilerns“, d.h. der multiplen Ü b e r t r e i b u n g . Die Argumentationsmittel schießen dabei weit über die Argumentationsgrundlage hinaus. Diese Eigenschaft besitzt der metaphorische Titel Volle Kanne. Er benennt das Morgenprogramm, das auf einen energiegeladenen Tagesablauf stimmen soll. Somit dient die metaphorische Wendung, die in der gesprochenen Sprache als Idiom wahrgenommen wird, als Kollektivsymbol von etwas Maximalem oder Extremem. Die Argumentationsbasis volles Gefäss wird dabei weit übertroffen. Das entstandene Kollektivsymbol „konsolidiert die Gruppe“ der Zuschauer, es dient „zur Herstellung des Wir-Gefühls“ (Fleischer 2006: 311). Ähnliche, doch nicht gleiche Funktionen übernehmen in ZDF-Fernsehprogrammen die A n g l i z i s m e n . Es gibt eine Menge davon sowohl in den Sendungstiteln, als auch in Kommentaren. Um einige Beispiele zu nennen: History, weekend, Wahlwatching, Doping-Watch etc. Sie stellen das Wir-Gefühl her, das aber global gemeint wird: Wir-in-Europa oder gar Wir-in-der-Welt. Ich glaube, dass einzelne englische Wörter oder Wendungen kaum zu Kollektiv- Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht 107 symbolen geworden sind. Zum Kollektivsymbol ist das Fremdwort als solches geworden, das die Interdiskurszugehörigkeit einer Aussage sichert (vgl. Fleischer 2006: 309). Wenn es z.B. um citydreams geht, so geht es selbstverständlich nicht nur um deutsche Städte, sondern eher um die Städte der Welt. Wir sehen, dass die dominierende Funktion der Metaphern und Anglizismen einen kognitiven Charakter hat. Die Eigennamen dienen vorwiegend als Image- und Werbungsmittel. Anders ist es bei rein syntaktischen Mitteln: Wortgruppen und Sätzen. Die sind vor allem pragmatisch gerichtet. 3.2.2 Syntax der Titel-Texte Die sprachliche Gestaltung von Wortgruppen und Sätzen unterliegt den entgegengesetzten Tendenzen: der Tendenz zur Sprachökonomie einerseits und der Tendenz zum erklärenden Ausdruck andererseits. Die erste Tendenz ist vorwiegend für die Wortgruppen charakteristisch, die zweite vorwiegend für die Sätze. Es lassen sich einige typische Modelle feststellen. Bei den W o r t g r u p p e n überwiegen substantivische Modelle, die im Allgemeinen auf die Rationalität zurückgehen. Die Sprachökonomie verstärkt diesen Eindruck. Sie kommt in Folgendem zum Ausdruck. Als Verbindungsmittel wird in vielen Wortgruppen die Kontaktstellung benutzt, was für den englischen Sprachbau charakteristisch ist. Die englischsprachigen Wortgruppen oder solche, die Anglizismen enthalten, dienen dabei anscheinend als Muster: Pop Galery Reloaded, countdown Mauerfall, Life + Style London. So stehen in dem Modell, das deutsche Wörter enthält, charakterisierende Beiwörter in der Kurzform und Substantive werden meistens klein geschrieben. Das Letzte kann man als Anpassung an europäische Normen auslegen, vgl. Berlin direkt; TV-Programm komplett; aspekte kompakt; ausland kompakt; praxis kompakt. Die Kleinschreibung haben die Substantive auch in dem Modell SUBST & SUBST, in dem die Konjunktion durch spezifisches Zeichen angegeben wird: kind & kegel; land & leute; natur & leben; körper & psyche; konsum & service. Typisch ist das Modell SUBST + SUBST, wobei das erste Substantiv eine Apposition zum zweiten bildet: Mythos Fremdenlegion, Mythos Atlantikschlacht. Manche von solchen Wortgruppen haben einen metaphorischen Sinn. So hat die Wortgruppe „Operation Catapult“ einen Untertitel Warum Churchill Frankreichs Flotte versenkte. Die Wortgruppe drehscheibe deutschland muss wohl auch im übertragenen Sinne verstanden werden. Die Substantive in den Wortgruppen können abgekürzt werden: wiso = Wirtschaft und Soziales. Andererseits werden Substantive mit Substantiven oder Adverbien zu Komposita zusammengezogen, was Fefilov (2003: 85) mit Recht für eine für das deutsche Sprachbewusstsein typische Konzeptualisie- Olga Kostrova 108 rungsart hält, die er nominativ-semantische Verallgemeinerung nennt. Charakteristisch ist, dass die Teile der Komposita klar getrennt und auf solche Weise lesefreundlich wirken. Diesen Eindruck erreicht man mit einigen Verfahren, beispielsweise dadurch, dass die Teile durch Bindestrich verbunden sind. Wenn das erste Substantiv eine Abkürzung ist, verhilft entweder der Bindestrich oder der Schriftenunterschied zu einer klaren Gliederung. Vgl. Tele-Akademie, TV- Programm, ZDF-Köpfe, Top-Thema, Doping-Watsh, heute-journal, ZDFspecialis, ZDFgeothek. Charakteristisch ist das Modell SUBST/ PRON + PRÄP + SUBST. Es wird selbstständig oder als Erklärung zu einem Substantiv gebraucht, das das Thema nennt. Im zweiten Fall steht die Wortgruppe meistens nach dem Doppelpunkt oder dem Gedankenstrich, oder die Erklärung kommt als Untertitel in der nächsten Zeile vor. Hier findet wieder die Veranlagung zum genauen rationalen Ausdruck statt, vgl. Musik im ZDF; Wir in Europa; Wien mit allen Sinnen; Die Ärzte - Der Medizintalk im ZDF; Kongo: das geplünderte Land; ZDFgeothek; Virtuelle Reise um den Globus. Adjektivische Modelle werden nicht so oft gebraucht, es finden sich Kurzformen dabei: total normal, fit & aktiv, einfach lecker. Die S ä t z e , die in den Titeln gebraucht werden, haben entweder einen erklärenden Charakter oder sie appellieren direkt an die Zuschauer. Die Erklärungsfunktion wird in einigen Varianten realisiert. Der erklärende Satz wird als Untertitel gebraucht, er kann als selbstständiger Satz auftreten oder als abgesonderter wie Satz (a-d). Als Kommentar, Argument oder Überlegung steht er nach einem Doppelpunkt (e) oder Gedankenstrich (f). Dabei kann er die Form eines abgesonderten Nebensatzes haben, oft eines Bedingungssatzes mit der Konjunktion wenn, vgl. (a) Sommersmog So bildet sich Ozon (b) Wahlen bei ZDFonline ZDF-Korrespondenten ziehen die Berlin-Bilanz (c) Folgen des Klimawandelns Wie sich Temperaturen und Niederschläge entwickeln (d) Wetterwissen Warum werden die Vorhersagen immer genauer? (e) Zukunftsbeiträge bei Krankenkassen: Was tun? (f) Sprachlos - wenn plötzlich die Worte fehlen Nicht selten enthalten die Titel-Sätze dialogische Formen. Es können Frage- und Aufforderungssätze sein. Dabei wechseln die kommunizierenden Seiten: Bildschirm, den das Fernsehprogramm vertritt, und der potenzielle Zuschauer. Der Wechsel lässt sich an sprachlichen Formen erkennen. Es gibt direkte An- Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht 109 sprachen in der Aufforderungsform, die sich an die Zuschauer wenden, die Machtdistanz wird hier gleich Null: (a) Bürger, rettet Eure Städte. (b) Willkommen bei Carmen Nebel. (c) Spenden für Erdbeben-Opfer So können Sie helfen (d) Hingehört! Das Tierstimmen-Quiz. (e) Wetten, dass? Es gibt eine Identifizierung mit dem Zuschauer, wenn beispielsweise der Titel fragt: Wer steuert die Globalisierung? Wie schlau ist Deutschland? Die Identifizierung als Individuum nimmt eine andere Form an. So kann eine Als-ob- Situation entstehen: Als ob der Zuschauer selbst fragte: Kann ich meinen Augen trauen? Oder als ob er selbst jemand anredete: Hallo deutschland. Die Dialogizität des Fernsehprogramms kann rhetorische Formen annehmen. Dabei wird die direkte Ansprache an den Zuschauer implizit. Ihre Funktion übernimmt die Rhetorik. So heißt ein technisches Programm Skype: Viele Nutzer - wenig Gewinn. Die Antithese im verballosen Satz regt zum Nachdenken an. 4 Hypertext Der Erste Kanal Russlands 4.1 Informationsgliederung Der erste russische Fernsehkanal verfährt dabei anders. Es wird nicht von dem Thema, sondern von der Funktion der Sendung oder von ihrem Genre ausgegangen. Es entstehen Informationsrichtungen, die mit charakterisierenden Adjektiven bezeichnet werden. Hier beginnt die emotionale Ausdrucksweise: познавательные (Erkenntnis-), развлекательные (unterhaltend), публицистические (publizistisch), аналитические (analytisch) u.s.w. Daneben werden einige Genres bezeichnet: Nachrichten, Interview, Talk-show. Themen werden innerhalb der Richtungen oder der Genres angegeben. Im russischen Fernsehprogramm gibt es keine besonderen Hinweise für die Zuschauer, die bei der Suche behilflich sein könnten. Das Programm wirkt weniger lesefreundlich. Olga Kostrova 110 4.2 Sprachliche Gestaltung der Titel-Texte im russischen Fernsehprogramm In den Sendungstiteln, die im Ersten Fernsehkanal Russlands vorkommen, wird die W e r b u n g s f u n k t i o n nicht nur mit der kognitiven, sondern auch mit der e m o t i o n a l b e w e r t e n d e n kombiniert. Die sprachlichen Mittel, die dabei verwendet werden, sind zum Teil die gleichen, wie im ZDF, zum Teil aber greift man zu anderen Mitteln, die die soziokulturellen Traditionen berücksichtigen. 4.2.1 Konzeptualisierung durch lexikalische und lexikalisch-syntaktische Mittel Gemeinsam ist, dass die Wörter in den Sendungstiteln oft in übertragenen Bedeutungen vorkommen. Dabei werden in russischen Titeln neben M e t a p h e r n auch M e t o n y m i e n gebraucht. So heißt das populärste Informationsprogramm Время (Zeit), wobei Zeit stellvertretend für Zeitereignisse steht. Der Titel ist zu einem K o l l e k t i v s y m b o l geworden, er symbolisiert das offizielle Nachrichtenprogramm. Ein Unterhaltungsprogramm hat den Titel Ледниковый период (Eiszeit). Es geht dabei um phantastische Tricks, ungewöhnliche Duette der Eiskunstläufer und die feierliche Atmosphäre, die dabei herrscht. Der Titel bleibt auf dem Niveau der metaphorischen operativen Kommunikate, er vereinigt die Zuschauer, die dieses Programm kennen, und besagt wenig denjenigen, die „außerhalb“ sind. Ein anderes metaphorisches Kommunikat ist Большие гонки (Großes Wettrennen), das nach dem französischen Muster den Wettkampf der Stars aus verschiedenen Ländern zeigt. Wie im ZDF kommen in den Titeln des Ersten Russischen Kanals E i g e n n a m e n vor. Es gibt populäre Moderatoren, deren Namen ein bestimmtes Image haben und wie Brands wirken. So heißt das Programm, in dem der bekannte Journalist Vladimir Posner berühmte Politiker, Kulturschaffende, Wissenschaftler oder Sportler interviewt, Познер. Der Name ist zu einem operativen Symbol eines Moderators geworden. Oft werden in den Sendungstiteln die Namen der ersten Personen des Staates gebraucht. Wenn es beispielsweise um Industrie oder Wissenschaft geht, so werden oft nicht konkrete Leistungen gezeigt, sondern man sieht oft Vladimir Putin, der die Situation kommentiert. An dieser Stelle müssen wir daran denken, dass Russland starke autoritäre Traditionen hat und dass die Menschen immer noch auf die Anweisungen von oben warten (vgl. Hofstede 1991: 26-28). Die Personennamen werden in solchen Fällen zu Kollektivsymbolen der Macht. Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht 111 Die Namen von hervorragenden russischen Schriftstellern sind auch zu Kollektivsymbolen geworden, man gebraucht sie in Titeln, besonders oft in jeweiligen Jubiläumsjahren. Nicht selten aber spielt man in den Titeln mit literarischen Namen, indem man verschiedene A s s o z i a t i o n e n hervorruft oder A n s p i e l u n g e n macht. So heißt eine Sendung im Genre Interview Gordon Quixote. Der Moderator dieses Programms Alexander Gordon assoziiert seinen Nachnamen mit Cervantes’ Helden, der gegen die Windmühlen kämpfte. Die „Windmühlen“ von Alexander Gordon sind aktuelle Schriftsteller, Maler, Wissenschaftler, die seine Ästhetik stören. Das W o r t s p i e l ist wohl das Besondere, was an den Titeln des Ersten Russischen Kanals im Vergleich zu denen des ZDF auffällt. Es schließt emotionale Konnotationen ein. Man benutzt es nicht nur mit Eigennamen, man findet es sowohl in Einworttiteln, als auch in Wortgruppen und Sätzen. So heißt ein Unterhaltungsprogramm Прожекторперисхилтон, wobei drei Wörter, darunter zwei Eigennamen, zusammen geschrieben sind. Es ist ein kollektiver humoristischer Bewusstseinsstrom, mit dem Paris Hilton nichts zu tun hat und vier Moderatoren Witze zu aktuellen Themen des politischen und gesellschaftlichen Lebens improvisieren, die zuweilen scharf bis satirisch wirken. Der Titel entstand zufällig, enthält wohl aber eine Anspielung auf das Skandalöse, das das Image des amerikanischen Modells umgibt. Das Programm, das im offiziellen Fernsehkanal ausgestrahlt wird, beansprucht schon mit seinem Titel, etwas Ungewöhnliches zu sein und die Fernsehkanons zu sprengen. Der Titel ist zu einem operativen Kommunikat einer improvisierenden Show geworden. Ein anderes Projekt heißt Мульт личности. Der Titel spielt einerseits auf das negative Kollektivsymbol Persönlichkeitskultus an, andererseits aber ist das erste Wort ein Bestandteil vom Kompositum мультфильм (Zeichentrickfilm). So hat der Titel zwei Lesarten. Wenn man das Programm nicht kennt, kommt man auf die erste Lesart, wenn man mit dem Programm bekannt ist, neigt man zu der zweiten. Die Show parodiert die berühmten Politiker aus Russland und dem Ausland, indem sie als Helden eines Puppentrickfilms in verschiedenen Situationen gezeigt werden, die mit Politik wenig zu tun haben. So erscheint Lukaschenko als Teilnehmer des Programms Wie man Millionär wird, Saakaschvili als Schürzenjäger etc. Das Ungewöhnliche des Titels macht ihn für die Nichteingeweihten semantisch undurchsichtig. Da der Titel eine ungenaue und eigentlich unzulängliche Information enthält, muss der potenzielle Zuschauer intuitiv entscheiden, ob er sich das Programm ansieht oder nicht (vgl. Suprun 1978: 72). Auf diejenigen, die das Programm kennen, wirkt der Titel doch sowieso vieldeutig. Bei den lexikalischen Mitteln fällt im Vergleich zum ZDF auf, dass j u r i s t i s c h e T e r m i n i sehr oft in den Programmtiteln metonymisch gebraucht werden. Man kann das historisch erklären. Spezielle Untersuchungen (Jam- Olga Kostrova 112 schanova 2006: 106ff.) beweisen, dass in Russland das Gesetz des Gewissens (also wieder ein emotionales Moment - O.K.) über dem juristischen Gesetz steht. Probleme der Gesetzgebung und Gesetzerfüllung, kriminelle Fälle sind deswegen höchst aktuell und stehen oft zur Diskussion. Im Ersten Russischen Fernsehkanal gibt es Projekte, die unmittelbar diesem Problem gewidmet sind, so heißt ein regelmäßig erscheinendes Programm Человек и закон (Mensch und Gesetz). Unter Dokumentarserien werden Detektive und Kriminelle Chroniken gezeigt. Es gibt auch Sonderserien, solche wie Спецрасследование (Sonderuntersuchung), wo kriminelle Straftaten, Wirtschaftsdelikte und Amtsvergehen untersucht werden, oder Федеральный судья (Föderalrichter), wo Wettkampf von Berufsjuristen stattfindet. Bemerkenswert aber ist, dass die Wörter aus dem Juralexikon in den Titeln solcher Programme erscheinen, die von der Kriminalität weit entfernt sind. So heißt das Programm, in dem das Äußere der Frauen im Mittelpunkt steht, von Stilisten und Zuschauern nicht einfach besprochen, sondern verurteilt wird, Модный приговор (das Modeurteil). Hier haben wir es wieder mit einer metonymischen Übertragung zu tun. Der Titel steht wohl noch im Banne der autoritären Kommunikation, die zur Anklage und Beschuldigung neigt (vgl. Kaškin 2003: 148). Die Untertitel dieses Programms enthalten wieder Juralexik, beispielsweise Дело о том, как вернуть цвет (Die Sache darum, wie man die Farbe gewinnt); обвиняется в том… (wird dessen verurteilt…). Die juristischen Termini bekommen dabei einen ironischen Schleier. Wie wir gesehen haben, geht das Wortspiel Hand in Hand mit Anspielungen verschiedener Art. Oft, um nicht zu sagen immer, sind diese Anspielungen ausgeprägt kulturspezifisch. So können die Titel Assoziationen auf die P r ä z e d e n z t e x t e hervorrufen. Ein soziales Projekt des Ersten Russischen Kanals hat beispielsweise den Titel Жди меня (Warte auf mich). Der Titel ist eigentlich ein Z i t a t : So lautet der Titel eines Gedichtes von Konstantin Simonov aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Das Gedicht ist vertont und wird ziemlich oft vorgesungen. Jeder Erwachsene kennt es. Das Projekt unter diesem Titel ist der Suche nach verlorenen Verwandten gewidmet. Das Zitat im Titel wirkt zweifelsohne emotional, weil der Präzedenztext den Russen viel mehr bedeutet. Eine kulturspezifische Ausprägung hat meiner Meinung nach auch der Titel Минута славы (Minute des Ruhmes). Die parallele Wortgruppenstruktur macht die Assoziation an das Kollektivsymbol Минута молчания (Minute des Schweigens) wach, wo man der Gefallenen oder Entschlafenen gedenkt. Da Minute des Schweigens einen hohen gesellschaftlichen Wert hat, beansprucht Minute des Ruhmes eine ähnliche Bewertung. Im Programm werden ungewöhnliche Leistungen der einfachen Menschen gezeigt, die durch diese Leistungen Fernsehprogramme aus interkultureller Sicht 113 berühmt werden. Da es aber oft um keine erstrangigen Angelegenheiten geht, kann man den Titel als etwas Ironisches wahrnehmen. 4.2.2 Syntax der Titel-Texte Hier lassen sich bestimmte Modelle beobachten, die nicht selten anders als beim ZDF strukturiert sind, was natürlicherweise mit dem Sprachbau des Russischen zusammenhängt. Am häufigsten kommen in der Titelfunktion die W o r t g r u p p e n vor. Dabei ist das Modell ADJ + SUBST wohl das gebräuchlichste. Fefilov (2003: 85) charakterisiert die russische Konzeptualisierungsart als nominativ-semantische Gliederung. Der kontrastive Sprachvergleich Russisch - Deutsch bestätigt das: Im Russischen gibt es eine größere Zahl der (relativen) Adjektive (Anohina/ Kostrova 2006: 53ff.). Entsprechende Wortgruppen werden im Deutschen durch Komposita wiedergegeben, vgl. Армейский магазин - Armeeladen; Контрольные закупки - Kontrolleinkäufe; Ударная сила - Stoßkraft u.ä. Das attributive Adjektiv kann durch das nachgestellte Substantiv im Genitiv ersetzt werden. Es entsteht das Modell SUBST Nom + SUBST Gen , vgl. Слово пастыря - Das Priesterwort; Сокровище нации - Die Schätze der Nation u.a.m. Manchmal kommen in den Titeln zwei Substantive im Nominativ vor, die durch die Konjunktion und verbunden sind: SUBST UND SUBST: Человек и закон - Mensch und Gesetz; Умницы и умники - Kluge Mädchen und Jungen; Гении и злодеи - Genies und Bösewichte. Einfache S ä t z e erscheinen in den Titeln nicht so oft. Dabei werden fast ausschließlich eingliedrige Sätze gebraucht. Das entspricht der allgemeinen Tendenz des russischen Sprachbaus, der viele Abweichungen von der Zweigliedrigkeit und Verbalität aufweist (Анохина/ Кострова 2006: 123ff.). In den Titeln wird diese Tendenz fast zum Gesetz. Es gibt eingliedrige Satzmodelle der subjektlosen Verbalsätze mit dem finiten Verb in der ersten Person Singular mit als-ob-Effekt (a) oder eingliedrige Infinitivsätze mit Einfühlungseffekt (b): (a) Хочу знать - Ich möchte wissen; Служу отчизне - Ich diene dem Heimatland. (b) Понять. Простить. - (Man muss) verstehen. Verzeihen. Es werden auch eingliedrige Frage- und Aufforderungssätze gebraucht, die eine dialogische Form nachahmen und somit einen perlokutiven Effekt erzielen: Давай поженимся - Wollen wir heiraten! Можешь? Спой! - Kannst du’s? Dann sing! Играй, гармонь любимая - Spiel, Harmonika, du Liebe. Olga Kostrova 114 5 Fazit: Interkultureller Vergleich Aus interkultureller Sicht haben deutsche und russische Hypertexte, die Sendungstitel und Kommentare enthalten, gemeinsame und unterschiedliche Züge. Die interkulturellen Universalien resultieren aus der gemeinsamen Zielsetzung der Fernsehprogramme, die auf Information und Werbung gerichtet sind und die Welt mittelbar konzeptualisieren. Die Konzeptualisierung geschieht durch Herausbildung von operativen Kommunikaten und Kollektivsymbolen, die durch Metaphern und Präzedenzzeichen realisiert sind, sowie durch Wachhaltung von Stereotypen. Beide Hypertexte weisen die Tendenz zum ökonomischen und zugleich bildlichen Ausdruck auf, der kulturspezifisch geprägt ist. Die Unterschiede, die zu Gestaltungsunikalien der kontrastiven Textologie gezählt werden können, kommen in den Prinzipien der Informationsgliederung, der Gruppierung von Sendungen und der formalen Organisation der Hypertexte zum Vorschein. Im deutschen Hypertext bildet vor dem Hintergrund des russischen die klare lesefreundliche Gestaltung eine Unikalie, die einerseits vom Rationalismus zeugt und andererseits die Werbefunktion realisiert. Auf der kognitiven Ebene ist der Gebrauch der Anglizismen als Indikator der Identifizierungsart zu bewerten. Im deutschen Fernsehprogramm ist ihr häufiger Gebrauch als eine mentale Unikalie zu verzeichnen, die die Neigung zum Universalismus signalisiert. Im russischen Fernsehprogramm kommen Anglizismen nur selten vor, was ich als Zeichen der Partikularisierung betrachte. Auf der Kulturebene lässt sich eine Unikalie des russischen Fernsehprogramms vor dem Hintergrund des deutschen hervorheben, das bestimmte stilistische Mittel - vor allem das Wortspiel - mit Vorliebe benutzt, wodurch die psychologische Veranlagung zur Emotionalität realisiert wird. 6 Literatur Adamzik, Kirsten (2001): Grundfragen einer kontrastiven Textologie. In: Adamzik, Kirsten: Kontrastive Textologie: Untersuchungen zur deutschen und französischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Roger Gaberell und Gottfried Kolde. Tübingen. S. 13-48. Alefirenko, Nikolai F. (2010): Lingvokulturologia: cennostno-smyslovoe prostranstvo jazyka: učebnoje posobije [Linguokulturologie: Wert und Sinn im Sprachraum: ein Lehrwerk]. Moskau. Anohina, Svetlana P./ Kostrova Olga A. (2006): Sravnitel’naja tipologija nemeckogo i russkogo jazykov [Kontrastive Sprachtypologie: Deutsch - Russisch]. Samara. Bauer, Raymond/ Inkeles, Alex/ Kluckhohn, Clyde (1956): How the Soviet System Works. 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Dieser doppelten Fragestellung nach Sprache in der Kultur und Kultur in der Sprache folgt auch die K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k . Für die I n t e r k u l t u r e l l e L i n g u i s t i k ist sie ebenfalls von Bedeutung, und den gleichen Fragehorizont teilen letztlich alle Linguistiken, deren Beschreibungen über die inneren Systeme von Ethnosprachen hinausreichen: die Soziolinguistik, die Ethnolinguistik, die Genderlinguistik und die Psycholinguistik, wenn sie als Ethnopsycholinguistik (Ufimceva 1996 und 1998) betrieben wird, um nur die Wichtigsten zu nennen. Dass Sprache und Kultur etwas, wenn nicht (fast) alles, miteinander zu tun haben, vereint diese Richtungen, ebenso wie sie die definitorische Bedeutung von K o m m u n i k a t i o n für den Kulturbegriff in ihren methodischen Aufbau integrieren - mehr oder weniger so explizit wie von Edward Hall mit „Culture is communication“ (Hall 1959: 97) schlagwortartig formuliert. Aus dieser Definition folgt die zweifache und korrelative Verknüpfung der Untersuchungsbereiche Sprache und Kultur: Sprache ist ein Mittel der Kommunikation, und Kultur basiert auf Kommunikation, sie ist ihr „Organisationsmodus“ (Fleischer 2003: 22). In der und durch die Kommunikation treten Sprache und Kultur in korrelative Beziehung zueinander. In der Sprachwissenschaft gilt es, diese Beziehung(en) aufzudecken und sprachsystemimmanente und sprachsystemexterne soziopragmatische, kulturelle, politische u.a. Faktoren in der Beschreibung eines konkreten sprachlichen Gegenstands aufeinander abzubilden. Dies kann sowohl synchron als auch diachron geschehen (vgl. zur korrelativen Beschreibung von Sprachentwicklung Kuße 2009b: 50). Das Ziel ist immer eine „thick description“ (Geertz 1973) sprachlich-kultureller Phänomene, mit der sprachwissenschaftlich ein Beitrag zur kulturellen Entzifferung von Gemeinschaften, Zeiten und Räumen, „kollektiven Standardisierungen“ des kommuni- Holger Kuße 118 kativen Handelns und Verhaltens, aber auch des Denkens, Empfindens und der inneren Diversität nationaler bzw. ethnischer Kulturen geleistet wird (vgl. Hansen 2003). Ist dies die Voraussetzung aller nicht ausschließlich systemlinguistisch ausgerichteten Linguistiken, so stellt sich natürlicherweise die Frage nach ihrer jeweiligen Besonderheit, nach ihren spezifischen Frageinteressen, in diesem Fall nach dem, was die K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k als besondere Wissenschaft von Sprache und Kultur auszeichnet und ganz besonders natürlich, was sie von ihrer nächsten Nachbarin, der I n t e r k u l t u r e l l e n L i n g u i s t i k unterscheidet. 2 Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext der Kulturwissenschaftlichen Linguistik Als Begriff ist K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k bisher nur in Ansätzen etabliert. Im englisch- und amerikanischsprachigen Raum gibt es gewichtige Arbeiten zu den c u l t u r a l l i n g u i s t i c s wie Palmer (1996). In analoger Wortbildung hat sich in Polen eine Schule der K u l t u r l i n g u i s t i k (poln.: lingwistyka kulturowa) etabliert (Anusiewicz 1994), und in Russland ist die S p r a c h k u l t u r o l o g i e (russ.: lingvokul’turologija), zu der auch die erwähnte S p r a c h l a n d e s k u n d e gehört, verbreitet (Jachnow/ Mečkovskaja 2002, Karasik 2002: 103-169, Maslova 2004). Im deutschen Kontext gibt es einige Publikationen, die dezidiert den Titel „ K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k “ tragen oder ihm nahe kommen (z.B. Schröder/ Kumschließ/ González 2001, Kuße/ Unrath-Scharpenack 2002, Gardt 2003, Linke 2005, Busse/ Niehr/ Wengeler 2005, Wengeler 2006). Eine wichtige Leistung der K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n L i n g u i s t i k ist zunächst ihre Integrationsfähigkeit verschiedener kommunikations-, gesellschafts- und kulturbezogener Linguistiken. In ihrem holistischen Programm werden Pragmalinguistik, Semantik und historische Semantik, die Diskurslinguistik (Warnke 2007, Warnke/ Spitzmüller 2008) und nicht zuletzt die I n t e r k u l t u r e l l e L i n g u i s t i k (Földes 2003, Hermanns 2003) zusammengeführt. Darüber hinaus ist sie eine i n t e r d i s z i p l i n ä r e Linguistik und Kulturwissenschaft, die - abhängig vom jeweiligen Untersuchungsobjekt - für die Beschreibung von (Sprach-)Kulturen bzw. der Wechselbeziehungen zwischen Sprachen und Kulturen Anknüpfungsmöglichkeiten in den Sozialwissenschaften, der Kultur- und Sprachphilosophie und anderen Wissenschaften sucht. In diesen Anknüpfungen bezieht die K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k als Objekte alle Kommunikationsmittel (also auch Paraverbales, Bilder, insbesondere Text-Bildkommunikate) in ihre Untersuchung mit ein, da anders die Gesamtheit von Kultur in der Kommunikation nicht erfasst werden kann. Kulturwissenschaftliche Linguistik 119 Sprache und Sprechen sind in der K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n L i n g u i s t i k aber nicht nur Objekte unter anderem und auch nicht nur Interpretationsmittel für Kulturen. Sprachliche Formen (Lexik, Syntax, Morphologie) und kommunikative (pragmatische) Formen (Sprechhandlungstypen, Textmuster) bleiben der eigentliche Forschungsinhalt. Das eine wie das andere, die Interdisziplinarität und der linguistische Objektbereich, können sicher auch für die I n t e r k u l t u r e l l e L i n g u i s t i k geltend gemacht werden, der Unterschied ist aber im vorrangig intr a kulturellen Bezug der K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n L i n g u i s t i k zu sehen. Ihre Forschungsmotivation kommt primär nicht aus kulturellen Kontaktphänomenen, Sprachmischungen, Fragen der Interkulturellen Kommunikation usw., sondern liegt in der Frage nach ethnokulturellen Besonderheiten und den inneren diskursiven Differenzierungen von Kulturen. Untersuchungen zu Kultur-, Kommunikations- und im engeren Sinne Sprachkontaktphänomenen können daran anschließen. 3 Humboldtianische und diskursdifferenzierende Kulturwissenschaftliche Linguistik Unter der Voraussetzung eines Kulturbegriffs, der materielle, mentale und soziale Entitäten umfasst (Artefakte, Normen, Werte, Überzeugungen sowie soziale Institutionen und soziales, kommunikatives Verhalten und Handeln) (Posner 2003), lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Herangehensweisen an Sprache-Kultur-Korrelationen unterscheiden. Die erste nenne ich h u m b o l d t i a n i s c h , die zweite d i s k u r s d i f f e r e n z i e r e n d oder auch d i s k u r s s e n s iti v . H u m b o l d t i a n i s c h sind Untersuchungen zu Sprache und Kultur, in denen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Merkmalen einer Ethnobzw. Nationalsprache (in Grammatik und Lexikon) und der Gesamtheit des ethnobzw. nationalen kulturellen Netzes, besonders aber der mentalen und sozialen Kultur hergestellt wird. Namengebend ist Wilhelm von Humboldt (1767-1835), gedacht ist in erster Linie an seine berühmte Formulierung der s p r a c h l i c h e n W e l t a n s i c h t : Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Act vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen Holger Kuße 120 möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen hinübertritt (Humboldt 1988b: 434). Diese Vorstellung Humboldts lässt sich korrelativ weiter denken, da in ihr Sprache die Gegenstände ihren Sprechern nicht als solche, sondern im kommunikativen Handeln zuführt. Die Sprecher selbst spinnen sich im (miteinander) Sprechen in ihre gemeinsame, sprachlich vermittelte Weltansicht ein (vgl. auch Humboldt 1988a). Die Annahme von sprachlichen Weltansichten impliziert deshalb nicht notwendig einen Sprachdeterminismus, der Sprache als eine Art manipulierendes Wesen hypostasiert, vielmehr kann die Sprache als „bildendes Organ des Gedankens“ (Humboldt 1988b: 426) in ihrer kommunikativen Einbettung und Funktion gesehen werden. Als humboldtianisch können in diesem etwas weiteren, paradigmatischen Verständnis deshalb verschiedene kognitive und kommunikationsanalytische Zugänge zum Verhältnis von Sprache und Kultur bezeichnet werden; z.B. Palmers 1996 elaborierte Synthese von linguistischer Anthropologie (Boasian Linguistics, Ethnosemantics, Ethnography of Speaking) und holistischer Kognitionslinguistik (besonders Langacker, Lakoff, Johnson) oder Wierzbickas 1992 Einbettung semantischer Universalien in ethnokulturell spezifische Derivationen großer semantischer Einheiten (besonders von schweren und polysemen Begriffen wie Seele oder Himmel). In der russischen Sprachwissenschaft hat sich seit den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine inzwischen sehr gut ausgebaute „Weltbildlinguistik“ (Eismann 2000a: 17) entwickelt, deren Ziel es ist, das in verschiedenen Sprachen universale oder spezifische „sprachliche Bild der Welt“ (russ.: jazykovaja kartina mira) zu beschreiben (Jakovleva 1994, Bulygina/ Šmelev 1997, Arutjunova 1998 u.a., vgl. auch Bartmiński 1990 und 2003 in der polnischen Sprachwissenschaft). Bei allen diesen Richtungen stellt sich allerdings die Frage nach der Trennung von E x egese und Ei s egese, also inwieweit schon durch die Suche nach einem „sprachlichen Weltbild“ „etwas aus der Sprache herausgesondert oder in sie hineingetragen wird und wie weit dadurch bestimmte Stereotype verfestigt werden“ (Eismann 2000b: 68). Und nicht weniger kritisch ist heute der in allen Spielarten humboldtianischer Sprachwissenschaft vorausgesetzte einheitliche Kulturbegriff zu hinterfragen, also das in der Literatur häufig mit dem romantischen Denken Johann Gottfried Herders (1744-1803) in Verbindung gebrachte Postulat der Einheit von Kultur, Nation und Sprache. K ultu r ebenso wie die Identität von Individuen ist, so die Kritik, (nicht erst) heute vor allem ein Resultat kultureller Mischungen und Grenzüberschreitungen, die als kulturelle „Hybridität“ (Bhabha 1994), „Transkulturalität“ (Welsch 1995) und neuerdings auch „Multikollektivität“ (Rathje 2009) bezeichnet werden. An diese Gegenmodelle zum Herderschen Kulturbegriff kann besonders die I n t e r - Kulturwissenschaftliche Linguistik 121 k u l t u r e l l e L i n g u i s t i k anknüpfen (vgl. Földes 2003: 57-59), aber auch die Kontakt- und Areallinguistik, die Untersuchung von Kleinsprachen und Mischsprachen sowie die Mehrsprachigkeitsdidaktik erhalten von Phänomenen des Kulturtransfers und der Kulturmischung neue inhaltliche Begründungen. Was bei soviel Transfer und Mischung, die die Begrifflichkeiten von Kultur und Sprache an ihre Grenzen führen, gleichwohl fehlt oder zumindest nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist die innere funktionale Differenzierung von Kulturen bzw. transkultureller Lebenskontexte. Und das, obwohl bereits die Prager Linguisten Funktionen der Literatursprache (die kommunikative, praktisch- und theoretisch-fachliche Mitteilungsfunktion und die ästhetische Funktion) sowie funktionale Sprachen (die Alltags-, Sach- und Dichtersprache) unterschieden (s. Havránek 1976). Heute sind diskurslinguistisch noch größere kommunikative Zusammenhänge in Betracht zu nehmen, in denen divergente Kommunikationsbereiche diskursiv differenziert sind und ihre jeweils eigenen ‚Sprachspiele‘ aufweisen (die ‚Sprachspiele‘ der Wirtschaft, Politik, Religion, der Medien, des Alltags usw.) (Kuße 2004: 3-20). Unterschiedliche Kommunikationsbereiche mit ihren jeweiligen Diskursen halten für die Kommunikationsteilnehmer unterschiedliche Vorgaben bereit (das Büro ist ein anderer Ort als das Schwimmbad und die Kommunikation im Geschäft eine andere als im Theater). Der Gesamtbereich von Kultur stellt somit ein Relationsgefüge von diskursiver und ethnisch-nationaler Gliederung dar, d.h. in Diskursen, ihren Verbindungen und Interdiskursen (Fleischer 1996: 30, Link 2008) entsteht jeweils eine (soziale und mentale) Kultur im ethnischen oder nationalen Sinne. Wir sprechen also primär nicht von russischer, deutscher oder amerikanischer Kultur, sondern von den Diskursregeln und kommunikativen Konventionen in der russischen, deutschen, amerikanischen Politik oder Wirtschaft, in den Institutionen des Rechts verschiedener Länder oder auch in den verschiedenen dominanten religiösen Konfessionen, in den Pop-, Sub- und Hochkulturen oder markanten Alltagsroutinen (z.B. amerikanischer vs. tschechischer Restaurantbesuch vs. russisches Küchengespräch usw.). Die kleine Aufzählung macht deutlich, dass bestimmte Kommunikationsräume und ihre Diskurse innerhalb ethnisch-nationaler Kulturen Besonderheiten aufweisen können. Sie sind in weiten Teilen aber ebenso ethnisch und national übergreifende Gebilde. Die Berücksichtigung dieser Überschreitungen ethnischer bzw. nationaler Grenzen ist eine Voraussetzung dafür, ethnische oder nationale Kulturen und Sprachgemeinschaften zuverlässig und nicht stereotyp voneinander zu unterscheiden. Übereinstimmungen von Diskursen in verschiedenen ethnischen oder nationalen Kulturen bilden zudem eine Rahmenbedingung für kulturelle Hybridität. Sie sind nicht nur eine Voraussetzung für Arbeitsmigration, sondern bereits für jeden Kulturtransfer. Je weiter die diskursiven Sphären zweier ethnischer oder nationaler Kulturen voneinander entfernt sind, desto geringer wird der Grad Holger Kuße 122 gegenseitiger Beeinflussung und desto weniger Hybridformen bilden sich aus (das ist einer der Gründe, warum es in Europa eher zu Formen der Amerikanisierung als etwa der Sinisierung kommen konnte/ kann). Die innere diskursive Differenzierung von Kulturen ist zusammen mit der diskursiven Überschreitung ethnischer bzw. nationaler Kulturen drittens ein Grund, den einheitlichen romantischen Kulturbegriff zu relativieren (ganz verabschieden muss man sich von ihm deswegen noch nicht), denn in allen Diskursen und institutionellen Kommunikationsbereichen wird Kultur gewissermaßen täglich ausgehandelt. Sie ist damit ein Strom kommunikativer Ereignisse, weniger ein Wald festgewachsener Entitäten. Radikal formuliert der Kulturphilosoph Ralf Konersmann: So etwas wie „die Kultur“ gibt es gar nicht. Es gibt nur diese Fülle von Ereignissen und Manifestationen, diese Masse von Hinterlassenschaften und Verweisen, diese vielfältigen, in Worten, Gesten, Werken, Regeln, Techniken niedergelegten Formen menschlicher Intelligenz und Weltbearbeitung. Aus dieser Vielfalt menschlicher Aktivität und Produktion geht die Kultur als der provisorische und in unablässiger Bewegung begriffene Mentalitäts- und Handlungszusammenhang, als der offene Kommunikationsraum hervor, der sie ist (Konersmann 2003: 8). Die Einheit, die eine Beschreibung von Sprache und Kultur in ihrer Korrelation überhaupt ermöglicht, ist deshalb weder auf der Ebene d e r K ultu r noch auf der d e r S p r a c h e zu finden, sondern allein in der funktionalen Differenzierung selbst. Das ist das Ziel der d i s k u r s d i f f e r e n z i e r e n d e n bzw. d i s k u r s s e n s i t i v e n K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n L i n g u i s t i k . Sie hat ihren Vorläufer und historischen Spiritus Rector in Ernst Cassirer (1874-1945) und seiner P hil o s o p hi e d e r s y m b o li s c h e n F o r m e n . In „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ knüpft Cassirer unmittelbar an das Humboldt-Zitat, den Kreis einer Sprache könne man nur verlassen, in dem man in den Kreis einer anderen hinübertrete, an und setzt es auf neuer Ebene fort: Was hier von der Welt der Sprachlaute gesagt ist, das gilt nicht minder von jeder in sich geschlossenen Welt von Bildern und Zeichen, also auch von der mythischen, der religiösen, der künstlerischen Welt (Cassirer 1994: 176). Cassirer unterscheidet die symbolischen Formen der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst und der wissenschaftlichen Erkenntnis als jeweils eigenen Bedeutungszusammenhang, der ein „eigenes konstitutives Prinzip [besitzt], das allen besonderen Gestaltungen in ihm gleichsam sein Siegel aufdrückt“ (Cassirer 1988: 31). Humboldts Verknüpfung von Ethnosprache und Denken wird also Kulturwissenschaftliche Linguistik 123 deutlich erweitert, aber auch dieser Differenzierung des Denkens in symbolischen Formen lässt sich - abgesehen vom sehr begrenzten, philosophisch begründeten Umfang des Formeninventars - eine gewisse Eindimensionalität vorwerfen, vor allem dann, wenn Cassirer den Zusammenhang von symbolischer Form und Denken deterministisch formuliert: Wir „können aus dem Umkreis dieser Formen niemals heraustreten […] Wir können nur in diesen Formen anschauen, erfahren, vorstellen, denken“, und: „jeder Versuch, sie gewissermaßen ‚von außen‘ zu betrachten, [ist] von Anfang an hoffnungslos“ (Cassirer 1994: 209). Das scheint Formmischungen und die Reflexion einer Form im Rahmen einer anderen auszuschließen. Die Beeinflussungsrichtung verläuft bei Cassirer wie bei Humboldt immer von einer bestimmten Form zu einer bestimmten mentalen Prägung. Bei beiden wird diese Eindimensionalität allerdings teilweise wieder aufgehoben. Im Falle Humboldts ist es die starke Betonung von Dialogizität, von Sprache als Sprechen, die ein mögliches deterministisches Missverständnis der s p r a c h l i c h e n W e l t a n s i c h t verhindert. Im Falle Cassirers überführt die auf den ersten Blick paradoxe Struktur der P h i l o s o p h i e d e r s y m b o l i s c h e n F o r m e n die Eindimensionalität in Mehrdimensionalität. Das Paradox besteht darin, dass das Ausdrucksmittel aller symbolischen Formen, die S p r a c h e , für Cassirer selbst eine s y m b o l i s c h e F o r m darstellt, die Sprache also zweifach gliedernd wirkt. Cassirers zweifache Gliederung von Kultur durch Sprache und Sprache in symbolischen Formen ist diskurslinguistisch produktiv. Sie ermöglicht die sprachlich-kulturelle Beschreibung von Kulturen und einzelnen kulturellen Elementen oder Ereignissen als Schnittpunkt diskursiver und ethnisch-nationaler Merkmale. Hinzu kommt als dritte Dimension die historische. Die Feststellung der Prager linguistischen Schule, dass Sprache dynamisch auch in der Synchronie als prinzipiell diachrones Geschehen zu betrachten ist, ist über die Sprache hinaus auf alle kulturellen Gegenstände anzuwenden. Somit ergibt sich für die K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k ein mehrdimensionales Beschreibungsmodell mit drei dominanten Beobachtungsachsen, in deren Schnittpunkt der jeweilige sprachliche Gegenstand zu untersuchen ist. Holger Kuße 124 DISKURSIVE G LIEDERUNG G ESCHICHTE ETHNISCH - NATIONALE K ULTURDIMENSION Untersuchungsgegenstand Abb.1: Beschreibungsdimensionen der Kulturwissenschaftlichen Linguistik Untersuchungsgegenstände sind sprachliche und kommunikative Formen, aber auch Inhalte, und zwar besonders Normen und Werte. Die K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k berührt immer auch Fragen der A x i o l o g i e und ist zu einem wesentlichen Teil selbst eine axiologische Sprachwissenschaft. Die Wolgograder Schule der Kulturlinguistik nennt sich selbst a x i o l o g i s c h e L i n g u i s t i k (Karasik 2002) und auch grundlegende Arbeiten der polnischen Kulturlinguistik (Dąbrowska 1994, Puzynina 1997, Krzeszowski 1997 und 1999, Bartmiński 2003) sind axiologisch ausgerichtet. 4 Linguistik der Norm (Diskurse und Diskurstypen) Die K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k ist (in Saussurescher Dichotomie) weder nur eine Linguistik der l a n g u e noch der p a r o l e , sondern v.a. eine Linguistik der N o r m im Sinne Coserius, der No r m als das definiert, „was in der einer funktionellen Sprache entsprechenden Rolle traditionell, allgemein und beständig, wenn auch nicht notwendig funktionell ist, nämlich alles, was man ‚so und nicht anders‘ sagt (und versteht)“ (Coseriu 1992: 297). Diese Normen sind situations-, textsorten- und - beides umfassend - diskursgeneriert. Recht gut wird das in der bekannten Diskursdefinition von Jürgen Link erfasst: Diskurse sind „institutionalisierte, geregelte Redeweisen als Räume möglicher Aussagen, die an Handlungen gekoppelt sind“ (Link 2008: 118). Im Fokus dieser Definition liegen in Abhängigkeit von Michel Foucaults Diskursverständnis die inhaltliche Begrenzung von Redeweisen in Diskursen und die auch mit Machtkonstellationen einhergehende Ermöglichung oder Verunmöglichung von Handlungsoptionen (also: Wer darf was, wann, wo sagen? ). Nicht weniger wichtig und für die K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k wesentlich ist die sprachliche Form der Redeweisen (also: Wie darf wer was, wann, wo sa- Kulturwissenschaftliche Linguistik 125 gen? ). Kurt Röttgers und im Anschluss an ihn Michael Fleischer haben beides in dem etwas bombastischen, aber treffenden Begriff R e d e g e w o h n h e i t s n o t w e n d i g k e i t e n zusammengefasst (Röttgers 1988: 124, Fleischer 1997: 30, s. auch Fleischer 2003: 17-81). In der Verknüpfung von Sprache und Denken sind es diese Gewohnheitsnotwendigkeiten des Inhalts, des Ausdrucks und der Berechtigung zur Äußerung, die zusammen, wie der russische Sprachkulturologe Jurij Stepanov schreibt, die jeweils „besondere mentale Welt“ (russ.: osobyj mental’nyj mir) eines Diskurses ausmachen (Stepanov 1998: 672). Zu präzisieren bzw. zu erweitern ist in der zitierten Diskurs-Definition von Jürgen Link die Attribution i n s t i t u t i o n a l i s i e r t e Redeweise, da Diskurse nicht nur an institutionalisierte Kommunikationsbereiche (Politik, Religion, Wirtschaft usw.) gebunden sind, sondern auch als th e m a ti s c h verbundene Einheiten in mehreren institutionalisierten Kommunikationsbereichen auftreten. So untersucht Wullenweber 2004 z.B. den „ökologischen Diskurs in Bulgarien“, der in den Medien, in der Politik, aber auch in der Alltagskommunikation stattfindet. In diesem Sinne sind Diskurse zunächst einmal virtuelle Textkorpora [...], die im Hinblick auf ein Thema oder ein Konzept nach begründeten Kriterien (etwa zeitliche, regionale, soziale oder mediale Eingrenzungen) zusammengestellt werden und deren Texte explizit oder wenigstens implizit aufeinander Bezug nehmen (Zybatow 1995: 71 im Anschluss an Busse/ Teubert 1992: 4). Hier handelt es sich bei Diskursen also um Kommunikationsabläufe in großen Kommunikationszusammenhängen zu gesellschaftlich in einer bestimmten Zeit bedeutsamen ‚Großgesprächsthemen‘. In diesem Verständnis ist Diskurs das makrostrukturelle Analogon zum mikrostrukturellen Gebrauch des Begriffs, in dem Diskurs mehr oder weniger synonym zu Gespräch, Dialog, Kon- versation ist (v.a. engl. discourse). Die beiden Abgrenzungen schließen sich nicht aus. D i s k u r s kann sowohl als institutionsgebundene soziale Praxis als auch als Textzusammenhang zu einem bestimmten Themenbereich verstanden werden. Eine spezielle thematische Diskurslinie, z.B. der ö k o l o g i s c h e D i s - k u r s , kann somit noch weiter untergliedert werden: ökologischer Diskurs in der Politik, in der Religion usw. Aber auch die umgekehrte Untergliederung ist natürlich möglich: politischer Diskurs zur Ökologie, zur Frauenemanzipation, zu den Menschenrechten vs. religiöser Diskurs zu den selben Themen usw. In diesen Untergliederungen lassen sich Spezial- und Interdiskurse abgrenzen (Link 2008), vor allem aber bilden Diskurse in ihnen und durch sie d i s - k u r s i v e N e t z w e r k e ; v.a. in den Medien, im Internet, aber auch im All- tagsgespräch (vgl. Kittler 1990, Nekvapil/ Leudar 1998, 2002 und 2003, die von d i a l o g i s c h e n Netzwerken sprechen). Holger Kuße 126 Alle diese diskursiven Großformen setzen sich immer aus T e x t e n zusam- men, die aus konkreten einzelnen Äuß e r u n g e n bestehen, die wiederum in bestimmten syntaktischen Formaten und mit einer bestimmten Lexik auf- treten, die sehr spezifisch sein kann (zum Beispiel in Fachsprachen oder auch in markiert religiösen Texten), aber nicht muss (z.B. im Alltagsgespräch). Die Aufgabe der diskursdifferenzierend verfahrenden Kulturwissenschaftlichen Linguistik ist es mithin, die Formen konkreter Äußerungen in konkreten Texten Diskursen zuzuordnen und im Diskurszusammenhang als Resultat der Regeln des Diskurses zu beschreiben. Texte lassen sich aber nur dann sicher als Partizipanten eines Diskurses erkennen, wenn Diskurse nicht nur durch ihren institutionellen Ort oder ihr Thema bestimmt werden, sondern auch Konventionen des Ausdrucks, der Argumentation, des Stils usw. ausprägen, an denen ein Kommunikationsakt auch dekontextualisiert als Teil eines Diskurses erkannt wird. Es muss deshalb zwischen dem D i s k u r s t y p (t y p e ) als Regelwerk und dem D i s k u r s als realer Konkretion (t o ke n) unterschieden werden. Die beschreibbaren R e d e g e w o h n h e i t s n o t w e n d i g k e i t e n von Diskursen machen den Diskurstyp aus, und zwar als ein System von Äußerungskonventionen, nach denen Äußerungen und Texte gebildet werden. Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch Mehrfachzuordnungen einzelner Texte und Äußerungen zu verschiedenen Diskurstypen möglich sind und von Sprechern und Rezipienten z.T. auch vorgenommen werden. Auch Diskursmischungen (z.B. religiöse Elemente in einem politischen Diskurs), wie sie besonders in den diskursiven Netzwerken innerhalb der Medien vorkommen, sind damit nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil: Die Diskursmischung kann überhaupt nur als solche wahrgenommen werden, wenn mindestens intuitiv ein Bewusstsein für die Regularitäten eines Diskurstyps vorhanden ist. 5 Beschreibungsebenen (diskursive Einbettung) Mit der Unterscheidung von D i s k u r s t y p und D i s k u r s als Realisation lässt sich die Entfernung eines konkreten Diskurses vom Diskurstyp erkennen und im besten Fall die Grenze bestimmen, an der ein Diskurs aufhört, t o k e n eines bestimmten Diskurstyps zu sein. Im Falle extremer Totalitarismen wie etwa dem Stalinismus lässt sich z.B. fragen, ob hier in der ‚Politik’ noch von ‚politischem Diskurs‘ gesprochen werden kann, oder ob der Herrschaftsdiskurs dieser Zeit bereits einen besonderen Diskurstyp bildete. Das gleiche gilt für Teile des Diskurses (einzelne Texte) im diskursiven Netzwerk. Hier kann beobachtet werden, wie innerhalb des Netzwerkes ein Text aus einem Diskurs in einen anderen Diskurs übergeht und nun dessen Regularitäten unterworfen wird (Umkodierung) - man denke etwa an die Wanderung eines so berühmten poli- Kulturwissenschaftliche Linguistik 127 tischen Phraseologismus wie Michail Gorbačovs angebliches „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ in den Alltagsdiskurs - heute angewendet bei allen möglichen, oft banalen Verspätungen; und zwar in der Regel als Entschuldigung derer, die nicht geduldig genug gewartet haben. Illokutionär ist damit aus einem indirekten Direktiv ein expressiver Sprechakt geworden. Umgekehrt können in diskursmischenden Akten Elemente aus einem anderen Diskurstyp einen bestimmten Diskurs verändern, ihn mindestens assoziativ in die Nähe des Diskurstyps bringen, aus dem die entnommenen Elemente stammen. Das ist z.B. beim Gebrauch markiert religiöser Wertmetaphern (Arche Noah, Paradies, Ewigkeit) im politischen Diskurs der Fall. Zu den Konventionen eines Diskurstyps gehört ferner die Zulässigkeit von Textsorten. Nicht alle Textsorten sind in allen Diskurstypen möglich. Lyrik ist im wissenschaftlichen Diskurs schwer denkbar. Manche Textsorten sind stark diskursgebunden. Die Form eines Gesetzestextes lässt sich kaum aus dem juridischen Diskurstyp transferieren und bleibt in nichtjuridischen Diskurskontexten ein Fremdkörper (was ästhetisch natürlich ein bewusst erzielter Effekt sein kann). Wieder andere Textsorten sind sehr flexibel einsetzbar. Die Textsorte R o m a n ist beispielsweise in fast jedem thematischen Diskurs realisierbar und kann auch in den meisten institutionsgebundenen Diskursen Verwendung finden: Es gibt den politischen Roman ebenso wie den religiösen, den Wirtschaftskrimi, und auch der Wissenschaftsroman ist möglich. Historisch können sich diese Zuordnungen und die tatsächliche Frequenz von Textsorten in bestimmten Diskursen verändern, ebenso wie sie in verschiedenen nationalen Kontexten unterschiedlich sein können. Die politische Rolle des Romans im absolut beherrschten Russland des 19. Jahrhunderts ist heute kaum noch vorstellbar, zumindest nicht im bundesdeutschen Kontext, ebenso wenig wie die antike rhetorische Gattung der Lobrede heute ein akzeptables Mittel des wissenschaftlichen Diskurses ist, was sie aber im Barock durchaus sein konnte; vgl. z.B. die wissenschaftliche Panegyrik des russischen Aufklärers Michail Lomonosov (1711-1765) in solchen Texten wie der „Rede über den Nutzen der Chemie“ (russ.: Slovo o pol’ze chimii) (Kuße 2004: 154-155 und 309-310). Die Diskursanalyse der Kulturwissenschaftlichen Linguistik ist d e s k r i p t i v . Die eingegrenzten Diskurse können, müssen aber keine kritischen und reflexiven „Entkoppelungen“ zur Klärung „problematisch gewordener Geltungsansprüche“ im Sinne des Diskursbegriffs von Jürgen Habermas sein (Habermas 1995: 130-131). Es geht aber auch nicht darum, Diskurse als Machtkonstellationen der Berechtigung (öffentlichen) Sprechens zu analysieren, wenngleich die zum Teil an Foucault angelehnte „kritische Diskurstheorie“ (Wodak 1989, Fairclough 1995, Jäger 2009, Jäger/ Jäger 2004, Weiss 2007) im Einzelfall methodisch einbezogen werden kann (insbesondere bei gesellschaft- Holger Kuße 128 lich produktiven Diskursen wie dem politischen Diskurs oder dem medialen Interdiskurs). Das linguistische Interesse am Diskurs richtet sich vor allem auf die formalen Regelhaftigkeiten, d.h. die Relation von Texten und Textsorten und Diskursen auf der Ebene von einzelnen Äußerungen. Somit werden zwei Untersuchungsbereiche zur Deckung gebracht und ihr Überschneidungsfeld eingegrenzt: auf der einen Seite die Einbettung einer Äußerung in Text und Diskurs, auf der anderen eine konkrete sprachliche Form (ein Syntagma, ein Lexem, eine Satzform usw.). Das schließt jeden deterministischen Kurzschluss zwischen Diskursen und sprachlichen Formen oder pragmatischen Konventionen von Sprechhandlungen aus. Gefragt wird vielmehr nach dem möglichen d i s k u r s s e n s i t i v e n Gebrauch der Einheiten. D i s k u r s s e n s i t i v i t ä t aber ist nicht mit Diskursabhängigkeit im Sinne einer Determination der Auswahl und Funktion von Formen durch einen Diskursbereich gleichzusetzen. Es handelt sich nicht um Abhängigkeiten oder gar Gesetzmäßigkeiten, sondern um A u f f ä l l i g k e i t e n . Diese können allerdings sehr bemerkenswert sein - die Auswahl einer bestimmten Lexik kann auf einen bestimmten Diskurstyp schließen lassen (z.B. Solidarität, Gerechtigkeit, Freiheit auf den politischen Diskurstyp), und auch bestimmte Sprechhandlungen können in bestimmten Diskursen besonders typisch auftreten. Diskurssensitiv sind z.B. Werbung und Politik für direktivisches B EWERTEN , die Religion hingegen für expressivisches B EWERTEN (Kuße 2007a). Im sprachlichen Mikrobereich lässt sich nachweisen, dass bestimmte Elemente wie Präpositionen oder Konjunktionen funktional diskurssensitiv differieren. Hierzu ein Beispiel: Die russische adversative Konjunktion no (dt. aber) generiert z.B. eine in der Regel axiologische +/ -Relation zwischen den Konjunkten. Diese weist in politischen Reden aufgrund ihres direktiven Charakters überwiegend die Reihenfolge + no - auf (indirekter Direktiv, der zur Verbesserung der Situation aufruft), während religiöse Reden (christliche Predigten) sehr viel mehr - no + zur Positivbewertung göttlichen Handelns in einer negativ bewerteten Welt kennen (Kuße 1998). Grafisch lässt sich die Einbettung in drei Kästen und einer Ellipse darstellen, die ineinander verschachtelt sind, aber auch jeweils über einander hinausragen. Ein Diskurstyp zeichnet sich u.a. durch Textsorten aus, aber die gleichen Textsorten können auch in anderen Diskurstypen vorkommen. Texte in Textsorten enthalten Äußerungen, aber diese Äußerungen sind auch in anderen (wenn auch nicht allen anderen) Textsorten möglich und die einzelne sprachliche Form ist im Rahmen des sprachlichen Systems auch textsorten- und diskursunabhängig beschreibbar. Kulturwissenschaftliche Linguistik 129 Diskurs in einem Diskurstyp Text in einer Textsorte Äußerung DISKURSSENSITIVES O BJEKT sprachliche Form Abb. 2: Diskursive Einbettung des Untersuchungsobjekts in der Kulturwissenschaftlichen Linguistik Im ethnisch-nationalen Vergleich der Diskursrealisierungen eines Diskurstyps werden die jeweiligen Objekte ebenfalls in ihrer diskursiven Einbettung beschrieben. B e i s pi e l 1 : Eine Untersuchung zur Internetpräsenz internationaler Unternehmen wie McDonalds oder IKEA hat im slawisch-amerikanisch-westeuropäischen Vergleich vor einigen Jahren die weniger ausgeprägte Persuasion mit Wertbegriffen besonders in russischen m i s s i o n s t a t e m e n t s ergeben (Kuße 2007b, Kuße 2009c). Auffällig war der gegenüber den USA und auch deutschen Seiten zurückhaltendere Gebrauch des Begriffs V e r a n t w o r t u n g im russischen Unternehmensweb, was sich u.a. mit der Polysemie des russischen otvetstvennost’ erklären lässt, das sowohl Verantwortung als auch Haftung bedeutet, aber auch auf kulturgeschichtliche Traditionen zurückgeführt werden kann. Der globale Wirtschaftsdiskurs dominiert in diesem Fall jedoch stark über sprachliche oder kulturelle Besonderheiten, denn inzwischen ist auch in Russland V e r a n t w o r t u n g (otvetstvennost’) ein verbreiteter, zur Unternehmenslegitimation werbewirksam eingesetzter Begriff (Kuße 2010, Veit 2010). B e i s pi e l 2 : Ein Wert der nationalen Selbstfindung ist in Russland der w e it e R a u m (präsent in der Werbung ebenso wie z.B. in der aktuellen Nationalhymne), der nicht nur eine geografische Gegebenheit des Landes bezeichnet, sondern metaphorisch auf den russischen Charakter übertragen wird - besonders in der Rede von der w e i t e n r u s s i s c h e n S e e l e (russ.: širokaja Holger Kuße 130 russkaja duša). Feststellen lässt sich eine hohe Frequenz des Attributs weit in metaphorischen wie nichtmetaphorischen Kollokationen des Russischen, deren Äquivalente im Deutschen unter anderem groß und breit sind, was humboldtianisch als Sprache-Kultur-Relation interpretiert werden könnte. Schaut man jedoch in die Diskursgeschichte des Russischen, so erweist sich die axiologische Metaphorisierung und schließlich Autostereotypisierung der W e i t e d e s r u s s i s c h e n C h a r a k t e r s v.a. als ein Resultat des langen, bei den slavophilen Romantikern des frühen 19. Jahrhunderts einsetzenden philosophisch-publizistischen Diskurses zum russischen Charakter und zur Bedeutung Russlands im Verhältnis zum westlichen Europa (Kuße i.Dr.). 6 Partieller Kontextualismus (die sprachtheoretische Basis) Die K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i n g u i s t i k hat eine besondere Affinität zur Pragmalinguistik (Kuße/ Unrath-Scharpenack 2002: 11), ist aber nicht darauf beschränkt, da sie nicht nur sprachliches Handeln, sondern auch Bedeutungskonstitutionen, Konzeptbildungen usw. im Diskurs und auf ethnischer bzw. nationaler kultureller Ebene beschreibt. Methodisch ist deshalb bei jedem Untersuchungsobjekt die Verknüpfung von Pragmatik und Semantik gefordert. Diese Verknüpfung kann nicht zufällig sein, sondern braucht eine sprachtheoretische Basis. Diese Basis bietet eine p r a g m a s e m a n t i s c h e I n v a r i a n z t h e o r i e , die ich als p a r t i e l l e n K o n t e x t u a l i s m u s bezeichne (Kuße 2008 und 2009a). Tatsächlich setzen die Unterscheidung von D i s k u r s t y p und D i s k u r s und die Beschreibung von diskurssensitiven sprachlichen Objekten, deren Form und Inhalt nicht nur durch den Diskurs bestimmt werden, sondern die zugleich auch eine Vorgabe für den Diskurs sind, die Möglichkeit voraus, die Variation sprachlicher, textueller und schließlich diskursiver Objekte aus ihrer Invarianz zu erklären. B e d e utu n g ist in diesem pragmasemantischen Bedeutungskonzept als Zeicheninhalt und Inhalt von Verstehensprozessen definiert, in dem auch kommunikative Informationen invariante Bedeutungsmerkmale bilden (vgl. die Argumentationslinguistik von Anscombre/ Ducrot 1983, aber auch die integrale Grammatik Apresjans 1995). Als Verstehensinhalt ist B e d e u t u n g sprachlich oder vorsprachlich, als Zeicheninhalt invariant, aber grundsätzlich nur in Bezug auf Situationen und damit kulturelle Deutungen von Ereignissen verstehbar, m.a.W.: Verständliche Äußerungen sind Äußerungen, die situativ und kulturell passen. Mit der Voraussetzung des partiellen semantischen Kontextualismus für Äußerungsbedeutungen wird der notwendigen Unterscheidung von Sagen (saying something) und Meinen (meaning something) (Bach 2005: 16) Rechnung getragen, ohne beide mit dem Dogma der Arbitrarität des Gesagten gegenüber dem Ge- Kulturwissenschaftliche Linguistik 131 meinten voneinander zu trennen. In der Kommunikation (z.B. eines Diskurses) werden einerseits, wie in der Konversationsanalyse angenommen, Bedeutungen ausgehandelt (vgl. Deppermann 2007; Deppermann/ Spranz-Forgasi 2002), diese Aushandlungen müssen jedoch nicht notwendig ‚Bedeutungsproduktionen’ sein. Vielmehr können Bedeutungen ‚vorliegen‘ und im Aushandlungsprozess erkannt werden. Der partielle Kontextualismus setzt voraus, dass jede Sprachbeschreibung auch über Sprache hinausgehen und in die Explikation „Dimensionen einschließen muss, die nicht als solche sprachlich sind“, um „die konstitutiven Verbindungen der Sprache mit anderen Dimensionen der Welt begreiflich zu machen“, wie Bertram (2006: 9f.) in seinem „Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie“ einleitend schreibt. Damit ist die Möglichkeit gegeben, Invarianz nicht einseitig auf einer sprachlichen oder kommunikativen Ebene zu erkennen, sondern als Schnittpunkt von sprachlicher, in der Regel lexikalischer Einheit, Sprechhandlung und kommunikativer Situation. Invarianz kann bei lexikalischen Einheiten als Kernbedeutung im Sinne prototypischer oder minimaler komponentialer Semantik bestimmt werden (Wierzbicka 1991, 1992 und 1996; Apresjan 1995, Keller 1996, Wirrwitz 2009). Als Invarianten von Sprechhandlungen lassen sich ihre konstitutiven Regeln auffassen (nach Searle), bei Frames (Wissensrahmen) und Skripts (erwartbaren Handlungsabläufen) liegen wiederum die Invarianten von Diskursen vor. Der partielle Kontextualismus geht nun davon aus, dass Invarianz jeweils nur holistisch, d.h. für alle drei Ebenen auf allen Ebenen gleichzeitig festgestellt werden kann. Das Programm der K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n L i n g u i s t i k erfasst somit alle sprachlichen und kommunikativen Ebenen. Beschrieben werden können ganze Diskurstypen und Diskurse, Sprechhandlungen in Diskursen, aber auch einzelne Elemente: begriffsbildende Lexeme ebenso wie Funktionswörter. Die Vorgehensweise ist sowohl vom speziellen Untersuchungsobjekt und seiner Einbettung in Diskursen her möglich, wie auch umgekehrt von der Ebene des Diskurses ausgegangen werden kann, um die sprachlichen Merkmale des Diskurses zu dokumentieren. Die Zahl der Untersuchungsobjekte ist unbegrenzt. 7 Literatur Anscombre, Jean-Claude/ Ducrot, Oswald (1983): L’argumentation dans la langue. Bruxelles. Anusiewicz, Janusz (1994): Lingwistyka kulturowa. Zarys problematyki. [Kulturlinguistik. Skizze der Problematik.] Wrocław. Holger Kuße 132 Apresjan, Jurij D. (1995): Izbrannye trudy. 2 Bde. Bd.1: Leksičeskaja semantika. Sinonimičeskie sredstva jazyka. Bd. 2: Integral’noe opisanie jazyka i sistemnaja leksikografija. [Ausgewählte Werke. 2 Bde. Bd. 1: Lexikalische Semantik. Synonyme Sprachmittel. Bd. 2: Integrale Beschreibung der Sprache und systemische Lexikographie.] Moskva. Arutjunova, Nina D. (1998): Jazyk i mir čeloveka. [Die Sprache und die Welt des Menschen.] Moskva. Bach, Kent (2005): Context ex Machina. In: Gendler Szabó, Zoltán (Hrsg.): Semantics vs. Pragmatics. Oxford. S. 15-44. Bartmiński, Jerzy (Hrsg.) (1990): Językowy obraz świata. [Das sprachliche Bild der Welt] Lublin. Bartmiński, Jerzy (Hrsg.) 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Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ Anna Lewandowska/ Gerd Antos (Halle) 1 Problemstellung und Zielsetzung Csaba Földes (2009) hat das Phänomen und das darauf basierende Konstrukt der ‚Interkulturalität‘ zu Recht als eine „Black Box“ gekennzeichnet. Er hat dabei diesen Schlüsselbegriff vieler kulturwissenschaftlicher Disziplinen in seinen vielfältigen und kaum mehr überschaubaren Facetten und Nuancen expliziert und damit einen entscheidenden Beitrag dafür geliefert, Licht in das Dunkel dieser „Black Box“ zu bringen. Im Folgenden können diese Überlegungen nur insofern vertieft werden, als nach einigen methodischen Konsequenzen für eine empirische Umsetzung der „Black Box“ gefragt werden soll. Konkret geht es um die Frage: Welche methodischen Konsequenzen kann und muss die auf konkrete Sprach- und Kommunikationsanalyse gerichtete Linguistik aus dem heute erreichten Reflexionsstand über ‚Interkulturalität‘ ziehen? 2 ‚Interkulturalität‘ Unter methodischen Aspekten erscheint der Begriff ‚Interkulturalität‘ als ein mehrdimensionales Interpretationsprodukt einer kulturvergleichenden Forschungs-Community. Ansatzpunkt für diese Bestimmung von ‚Interkulturalität‘ ist nach Földes (2009: 512) ein dynamisches und disziplinübergreifendes Konzept, das sich auf eine Erschließung von Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen einer Interaktion zwischen Kulturen richtet (einschließlich auch ihrer Wahrnehmung). Unter ‚Interaktion‘ (genauer: einem dynamischen Interaktionssystem) sind dabei sowohl Berührung als auch Austausch zu subsumieren. Meist spielt hierbei als weiterführendes Zielpostulat auch das wechselseitige Verstehen, die Verständigung und das Respektieren gegenseitiger Unterschiede eine Rolle. Unter einem handlungstheoretischen bzw. prozessorientierten Blickwinkel, der die diskursive Einbindung des Phänomens im Blick hat, kann man davon ausgehen, dass ‚Interkulturalität‘ nicht etwas ‚Fertiges‘, ‚Vorgegebenes‘ ist, sondern im kommunikativen Geschehen als interaktiver Aushandlungsprozess Anna Lewandowska/ Gerd Antos 138 konstituiert wird. Schließlich stellt ‚Interkulturalität‘ eine Interpretationsleistung dar. Wie man sieht, gipfelt diese Bestimmung in der Aussage, ‚Interkulturalität‘ sei letztlich eine „Interpretationsleistung“ der forschenden Akteure, also kein Zuschreibungsprädikat für eine objektive Beziehung zwischen zwei oder mehreren Kulturen. ‚Interkulturalität‘ bezeichnet also nicht das - wie auch immer zu verstehende - Konstatieren des Vorkommens von kulturellen Einflüssen in einem Kommunikationsraums, sondern die Reflexion über die Wahrnehmung bzw. das Auftreten oder Wirken von mehreren Kulturen in einem Kommunikationsraum - in welcher Gemengelage auch immer. Und Entsprechendes gilt für methodische Überlegungen: Was sich zwischen verschiedenen Kulturen abspielt, läßt sich nicht auf die schlichte Tatsache reduzieren, daß es mehrere Kulturen gibt, die abzählbare und vergleichbare Merkmale oder Merkmalsbündel aufweisen. So wie jeder Sprachvergleich von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache ausgeht, so auch jeder Kulturvergleich. Es gibt keinen Ort jenseits der Kulturen, der uns einen unbefangenen und unbeschränkten Überblick gestatten würde. (Waldenfels 2006: 109). Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer Methodik des Interkulturellen eine besondere Herausforderung. Wir wollen sie ansatzweise dadurch in den Griff bekommen, dass wir sensu Földes zunächst drei Reflexionsebenen der ‚Interkulturalität‘ unterscheiden und aufeinander beziehen wollen. Danach sollen verschiedene, aber auf Konvergenz abzielende Ansätze diskutiert werden, die „tools“ für einen methodischen Zugriff auf bestimmte Sprach- und Kommunikationsphänomene bereitstellen. 3 Die drei Ebenen der ‚Interkulturalität‘ ‚Interkulturalität‘ soll im Folgenden methodisch auf drei aufeinander zu beziehende Ebenen näher charakterisiert werden: 3.1 Objektebene Im Hinblick auf die Konstitution des interkulturellen Untersuchungsobjekts muss der oder die Forscher(in) zunächst eine erste Grundsatzentscheidung fällen. Er oder sie muss ein bestimmtes Phänomen X überhaupt als ein interkulturell relevantes Phänomen X I interpretieren. Das heißt, ein Phänomen X Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 139 muss sensu Földes (2009) im Hinblick auf die Erschließung von Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen einer Interaktion zwischen Kulturen als wahrnehm- und interpretierbar ausgezeichnet werden. Das solchermaßen als ‚interkulturell relevant‘ ausgezeichnete Phänomen X I sollte einen angebbaren Stellenwert in der dynamischen Interaktion zwischen Kulturen zugewiesen bekommen. Machen wir uns diese Entscheidung exemplarisch an Sprichwörtern klar: Das, was wir im Deutschen „Sprichwörter“ nennen, gab und gibt es bereits vor ihrer interkulturellen Reflexion. Wer daher z.B. glaubt, dass - wie vor allem im 19. Jahrhundert - aus Sprichwörtern sozusagen der „Volksgeist“ einer bestimmten Kultur spräche, der hat bereits eine methodische Grundsatzentscheidung gefällt, und zwar gegen eine interkulturelle Einordnung dieses Phänomens aus der Sicht des heutigen Reflexionsstandes. Auch wenn man mit Waldenfels (2006: 109) berücksichtigt, dass es „keinen Ort jenseits der Kulturen, der uns einen unbefangenen und unbeschränkten Überblick gestatten würde“, gibt, gilt natürlich nicht sozusagen die Umkehrung der Art: Wer deutsche, polnische oder ungarische Sprichwörter im Sinne des Nationalismus des 19. Jh. als Ausdruck der jeweiligen „nationalen Seele“ interpretiert, ordnet diese zwar in einen gewissen kulturellen Vergleich ein. Aber dieser wäre aufgrund eines Kulturimperialismus eine dogmatische Setzung, die der eigenen Kultur eine unbegründete dominante Rolle zuspräche. Um ein Phänomen X, hier also Sprichwörter, als einen interkulturell interessanten Gegenstand X I konstituieren zu können, muss zum einen auf einschlägige Theoriestücke oder Reflexionsleistungen zur Interkulturalität zurückgegriffen werden. Diese Gegenstandskonstitution schließt zum anderen die Lösung eines zentralen methodischen Problems mit ein: Es ist die Frage, ob es zu X I in der Kultur A ein Gegenstück Y in der Kultur B gibt? Bezogen auf unseren Gegenstand heißt das, deutsche Sprichwörter (oder was man dafür hält) müssen (zunächst probeweise) in Beziehung zu bestimmten sprachlichen Manifestationen einer anderen Kultur gesetzt werden, um sicherzustellen, ob Sprichwörter überhaupt miteinander vergleichbar sind. Allgemeiner ausgedrückt: Es reicht nicht, dass ein Phänomen X zwischen diversen Kulturen nur als ähnlich eingestuft wird. Vielmehr muss durch ein Rückgriff auf Ausschnitte von zwei oder mehr Kulturen herausgefunden werden, ob die in Beziehung gesetzten Phänomene auch äquivalent sind. Anders als Ähnlichkeit besagt Äquivalenz: In einer Kultur A hat X I einen vergleichbaren Stellenwert wie Y in einer anderen Kultur B. Um etwas, also X, als ein interkulturelles Phänomen wahrnehmen zu können, muss X I kulturübergreifend komplementarisiert, das heißt, zwei Phänomenenbereiche von als different eingestuften Kulturen A und B müssen als äquivalent ausgewiesen werden. Diese Äquivalenz kann sich dabei auf verschiedene Ebenen beziehen, z.B. auf unterschiedliche Handlungs-, Sprachund/ oder Wertsphären. Zugleich Anna Lewandowska/ Gerd Antos 140 muss unterstellt und dafür argumentiert werden, dass der kulturübergreifende Gegenstand, hier also Sprichwörter, als interkulturell unterscheidbar/ different zu betrachten ist. Voraussetzung für diesen ersten Schritt bei der methodischen Konstruktion auf der Objektebene ist also beides: Die Unterstellung von phänomenologischer Äquivalenz bei gleichzeitiger kultureller Differenz. Was immer man nämlich unter „Kultur“ verstehen will: Es müssen Phänomene sein, die sich trotz vermeintlicher oder tatsächlicher Ähnlichkeit von Kultur zu Kultur - wie auch immer - unterscheiden lassen. In diesem Sinne kann man von lateinischen, chinesischen, deutschen, ungarischen oder polnischen Sprichwörtern sprechen. Hier wäre also die einzelsprachliche Form ein Indikator für kulturelle Differenz zwischen Sprichwörtern. Wie verwickelt die Verhältnisse aber tatsächlich sind, lässt am Beispiel „My home is my castle“ exemplifizieren. Im Englischen meinte es ursprünglich eine Formel für das Recht auf Selbstverteidigung. Im Deutschen bringt man damit zum Ausdruck, dass alles, was in den eigenen vier Wänden geschieht, niemanden etwas angeht und diese Privatsphäre für alle anderen tabu ist (vgl. dazu Duden 2002b: 522). In der einschlägigen polnischen Literatur wird es oft als Entsprechung von „Wolnoć Tomku w swoim domku“ verstanden, was heute so viel bedeutet wie, dass der Mensch bei sich selbst zu Hause alles tun kann, wozu er nur Lust hat, selbst wenn er dadurch andere stört (vgl. dazu die verwickelten Hintergründe in Lewandowska 2008: 291ff.). Vordergründig kann man diese scheinbar äquivalenten Sprichwörter als „sprichwörtlichen Internationalismen“ 1 verstehen. Wer aber die interkulturellen Nuancen mit in Betracht zieht, wird schnell merken, dass sowohl die Unterstellung von Differenz bei gleichzeitiger Äquivalenz als auch die Unterstellung von Äquivalenz auf der Grundlage von Differenz einer mitunter sehr verwirrenden Dialektik gehorcht. Damit deutet sich bereits ein tief greifendes theoretisches und methodisches Problem an: Die Zuweisung von Eigenschaften und da vor allem die Explizierung von Relationen ist Gegenstand der interkulturellen Theoriebildung und damit Gegenstand von Diskussionen, Kontroversen und Konflikten. Für die Methodendiskussion über ‚Interkulturalität‘ ist die Kategorie des ‚Strittigen‘ konstitutiv. Wer dies ausschließt, betrachtet - unter Ausblendung der Reflexionsgeschichte der Forschungs-Community, d.h. unhistorisch und jenseits der einschlägigen Debatten, daher also „dogmatisch“ - Methoden als unstrittige Standards zur empirischen Erfassung und gegebenenfalls zur Messung. Wer hingegen die Diskussion über ‚Interkulturalität‘ sensu Földes in Rechnung stellt, der wird methodische Entscheidungen immer in Auseinandersetzung mit __________ 1 Bartoszewicz (1994: 17), vgl. auch 5.3 Äquivalenzansatz. Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 141 Erkenntnissen und Positionen der Interkulturalitäts-Debatte treffen müssen. Wie fruchtbar die methodische Rolle des Strittigen ist, zeigt sich an dem nächsten Schritt: Nur so kann auf der Meta-Ebene jeweils der Stellenwert des Phänomens in den beiden zu untersuchenden Kulturen ermittelt werden. 3.2 Meta-Ebene ‚Interkulturalität‘ bezeichnet nach Waldenfels (2006: 110) eine Zwischensphäre, deren intermedialer Charakter weder auf Eigenes zurückzuführen noch in ein Ganzes integriert, noch universalen Gesetzen unterworfen werden kann. […] Es bildet in diesem Sinne ein Niemandsland, eine Grenzlandschaft, die zugleich verbindet und trennt. Charakteristisch dafür ist ein mitunter konfliktäres „Ineinandergreifen von Eigenem und Fremden“ (Waldenfels 2006: 124). Mit der dynamisch zu verstehenden Aushandlung in diesem „Niemandsland“ beginnt ein Prozess, der im Sinne Földes‘ fast zwangsläufig dazu führt, ‚Interkulturalität‘ als ein mehrdimensionales Interpretationsprodukt jener Akteure zu verstehen, die sich mit der (Dynamik der) Beziehung von verschiedenen Kulturen beschäftigen. ‚Interkulturalität‘ als ein mehr-dimensionales Interpretationskonstrukt ist als Bezeichnung für die Resultante einer dynamischen Berührung zwischen Kulturen insofern ein höchst fragiles Konzept, weil hier in mehrfacher Staffelung die Vermittlung von Fremdheit ins Spiel kommt: Fremdheit ist keine allgemeine Funktion, die allen zukommt und reihum geht, sondern sie geht zurück auf eine Erfahrung, die […] immer auch durch Unsicherheit, Bedrohtheit, Unverständnis geprägt ist. […] Fremdheit als Unzugänglichkeit und Nichtzugehörigkeit sprengt alle Vermittlungs- und Aneignungsversuche. […] Unzugänglichkeit und Nichtzugehörigkeit beziehen sich auf bestimmte Zugangs- und Zugehörigkeitsbedingungen, so wie jede Anomalie sich von Normalitäten abhebt. Fremdheit erweist sich als Überschuß, der die jeweiligen Sinnvorgaben und Gesetzlichkeiten übersteigt und von ihnen abweicht.“ (Waldenfels 2006: 124f.). Wie schon deutlich wurde: Die Objektkonstitution auf der Objektebene ist ohne Rückgriff auf Erkenntnisse und Debatten auf der Meta-Ebene nicht sinnvoll. Bleibt die Frage: Wie lassen sich methodische Überlegungen zur ‚Interkulturalität‘ der Objekt-Ebene mit der Meta-Ebene angemessen vermitteln? Anna Lewandowska/ Gerd Antos 142 3.3 In-Beziehung-Setzung von methodischen Reflexionen zwischen Objekt- und Meta-Ebene Die dritte Reflexionsebene ist unter methodischen Aspekten das In-Beziehung- Setzen der beiden Reflexionsbereiche im Sinne einer ‚Passung‘. Der Forscher/ die Forscherin muss sich fragen, welches Phänomen er oder sie auf der Objektebene aus der Perspektive der Meta-Ebene konstituieren will und umgekehrt: Was muss in die Reflexion der Meta-Ebene über ‚Interkulturalität‘ eingehen, damit diese Reflexion nicht unterkomplex ist. Wir haben es hier also mit einer Variante des hermeneutischen Zirkels zu tun, bei dem sich gleichsam Gegenstandsreflexion und selbstbezügliche Theoriereflexion wechselseitig ergänzen. Welche Konsequenzen hat nun eine solche Bestimmung für methodologische Überlegungen und Standards im Bereich der ‚Interkulturalität‘? 4 Methodische Implikationen des heutigen Interkulturalitäts-Begriffs Zunächst einmal gilt für das Phänomen der ‚Interkulturalität‘ das, was auch für alle anderen Untersuchungsgegenstände gilt: Was kann man an ‚Interkulturalität‘ methodisch überhaupt ‚messen‘ und welche Instrumentarien sind dafür am angemessensten? Angesichts des „Black Box“-Charakters der Interkulturalität ist dies eine Frage mit einem ganz besonderen Herausforderungspotenzial. Im Folgenden soll gleichwohl ein erster heuristisch zu verstehender Versuch unternommen werden. Eine erste Konsequenz ergibt sich aus dem bereits Gesagten: Methodisch zwingend ist die bereits angedeutete Verknüpfung von Reflexionen über die Objektwie über die Meta-Ebene. Oder zugespitzt: Methodisch zwingend ist einerseits die Gegenstandskonstitution auf der Objektebene unter Explizierung von Annahmen und Reflexionen auf der Meta-Ebene. Beides muss aber andererseits auch im Hinblick auf das Methoden-Inventar der Wissenschaften geprüft, bewertet und abgeglichen werden. Ein besonderes Problem ist dabei, Vergleiche zwischen Ausschnitten aus den Kulturen A und B nicht automatisch als eine kontrastive Analyse zu modellieren, und das trotz oder gerade wegen der notwendigen Differenz des Vergleichs. Gerade wenn man das Gemeinsame oder Aspekte einer „Interkultur“ (Müller-Jacquier 2004) mit im Blick hat, kann man nicht so tun, als ob Vergleiche zwischen Kulturen bereits durch das Artefakt der Methode automatisch in einen Kulturvergleich münden müssten, wobei Kulturen als klar voneinander abgrenzbare Phänomene unterstellt werden. Denn Kulturen - so unterschiedlich sie auch scheinen mögen - haben Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 143 heute viele Berührungspunkte oder sie fließen gar partiell ineinander oder teilen sich bestimmte Aspekte von Supra-Kulturen wie etwa die global agierenden Supra-Kulturen Sport, Militär, Wirtschaft, Technik, Medizin oder Teilhabe an einer Weltreligion. Man muss also methodisch zweierlei offenhalten: Einmal die Annahme und den Nachweis von kulturübergreifenden Verwandtschafts- und Supra-Strukturen, die zu spezifischen ‚Interkulturen‘ führen können, aber auch zu sehr kulturspezifischen ‚Interkulturen‘. Beide Versionen muss man sinnvollerweise auch bei der Analyse von Sprichwörtern in Rechnung stellen (vgl. Permjakov in Grzybek 2000): Viele Sprichwörter sind nämlich miteinander verwandt, sei es durch direkte Übersetzungen, durch gleiche Traditionszusammenhänge oder durch Sinnverwandtschaft. Was folgt daraus für die Methoden-Reflexion im Bereich der ‚Interkulturalität‘? In Lewandowska (2008) wird am Beispiel eines interkulturell-kontrastiven Vergleichs von Sprichwörtern anhand polnischer und deutscher Printmedien eine methodische Maxime der ‚Interkulturalität‘ postuliert, die geeignet ist, methodische Kurzschlüsse zu vermeiden. In bewusster Anlehnung an die methodische Grundidee der ‚Prager Schule‘ heißt es dort (Lewandowska 2008: 97): Nicht jede beobachtbare Differenz oder Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Kulturen hat den gleichen kulturellen Stellenwert im System der jeweils anderen Kultur. Das heißt, nicht jede kontrastive Differenz und nicht jede Gemeinsamkeit ist auch interkulturell distinktiv! Was heißt das? Am Beispiel von so genannten „falschen Freunden“ lässt sich demonstrieren, dass scheinbare Gemeinsamkeiten zwischen z.B. zwei Sprachen/ zwei Systemen nicht immer interkulturell gleich bedeutsam sein müssen. Die Rolle von Festen und Feiern (Weihnachten, Geburtstag etc.) muss zwischen Kulturen keinesfalls immer gleich sein, obwohl dies rein oberflächlich so scheinen mag. Vielmehr muss - wie ausgeführt wurde - auf der Meta-Ebene reflektiert werden, welchen Stellenwert eine bestimmte Handlungsweise, bestimmte Einstellungen, Werte, Mentalitäten oder ein bestimmtes Objekt in einem kulturellen Kontext hat und ob dieser Stellenwert in der zu vergleichenden Kultur dazu äquivalent ist. Hinter vermeintlichen Gemeinsamkeiten können gravierende Unterschiede verborgen sein, so wie sich hinter vermeintlichen Unterschieden tiefe kulturelle Gemeinsamkeiten zeigen können. Das heißt, hinter jedem Kulturkontrast bzw. Kulturkontakt können sich unerwartete und unerwartbare ‚Geheimnisse‘ verstecken, die den Beteiligten wechselseitig weder bekannt noch vermittelbar sein müssen. (Lewandowska 2008: 161). Anna Lewandowska/ Gerd Antos 144 Insofern ist es richtig, dass man interkulturelle Vergleiche weder auf kontrastive noch auf konfrontative Studien reduziert. Vielmehr sollte es das zentrale methodische Ziel sein, strukturelle und sonstige Gemeinsamkeiten oder Unterschiede darauf hin zu reflektieren, inwieweit sie als interkulturell relevante Oppositionen verstanden werden können (vgl. Lewandowska 2008: 160). Doch wer legt fest, was eine interkulturell relevante Opposition ist? Hier könnte man im Sinne von F ÖLDES (2009) auf der Meta-Ebene das Konzept von Interkulturalität als Diskussions- und Reflexionskonstrukt verorten und es im Sinne von Hausstein (2005) wie folgt weiter operationalisieren: Interkulturell ist ein Phänomen relativ zu als äquivalent und divergent unterstellten Phänomenen einer anderen Kultur dann, wenn bei der methodischen Oppositionsbildung Folgendes berücksichtigt wird: (a) Begriffe sollen nicht als binär, sondern als relational konzipiert werden, (b)in das Verstehen des Anderen soll das Verstehen des Eigenen mit eingeschlossen werden, (c) Selbstaufklärung durch Selbstdistanzierung (eventuell auch Selbstkritik und Selbstveränderung) ist ebenso zu berücksichtigen wie eine Selbstveränderung, die zu neuen Verhältnissen zwischen Kulturen führen kann. 5 Interkulturell relevantes Methodencluster Welche Methoden können im Hinblick auf die genannten Maximen in Betracht gezogen werden? Nach Lewandowska (2008) bieten sich die folgenden fünf verschiedenen methodischen Ansätze an, die sich im Sinne einer Triangulation in ihren Vorteilen für eine interkulturell angemessene empirische Untersuchung ergänzen können. Das sind neben dem vergleichenden Korpusansatz, der kulturspezifische, der äquivalente, der interkulturell-universelle und schließlich der kultur-distinktive Vergleichsansatz. 5.1 Der vergleichende Korpusansatz Anknüpfend an die obigen Überlegungen geht es hier um die Frage, welche Phänomene in welchem Sinne überhaupt als ‚vergleichbar‘ betrachtet werden können. Wie können sie in empirisch nachvollziehbarer und überprüfbarer Hinsicht miteinander verglichen werden? Das beginnt schon mit der Frage nach der Vergleichbarkeit der zu vergleichenden Gegenstände: Was wollen wir im Deutschen oder Polnischen überhaupt zu den Sprichwörtern bzw. zu przysłowia zählen? Davon ist abhängig, wie und welche Korpora erstellt wer- Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 145 den. Für den so genannten vergleichenden Korpusansatz unterscheidet Lewandowska (2008) vier Typen von Korpora: 1. Vergleich von Sprichwörtern auf der Grundlage von (schon vorhandenen) Sprichwortsammlungen. Diese Korpora eignen sich für die Analyse von Sprichwortformen (in historischer, syntaktischer Hinsicht) und für semantische Untersuchungen. 2. Eine andere Form von Korpora erfordern Untersuchungen zum schriftlichen Vorkommen von Sprichwörtern (etwa bei Dichtern, Politikern usw.). Hier haben wir einerseits neben Sprichwortformen auch deren Gebrauchskontexte. Zum anderen werden durch die Publikationsform, Textsorte usw. bestimmte raum-zeitliche Grenzen für die Korpusbildung vorgegeben. 3. Ein dritter Typ von Korpora ist für Gebrauchsuntersuchungen vorzusehen, wie sie etwa bei der Erstellung von „parömiologischen Minima“ (vgl. Grzybek 1991) notwendig werden. Hier stellen sich u.a. folgende Probleme: Wer soll im Hinblick auf Alter, Geschlecht, soziale Gruppe usw. überhaupt befragt werden? Wie viele Personen muss man für ‚repräsentative Untersuchungen‘ vorsehen? Was muss im Hinblick auf ‚aktives‘ und ‚passives‘ Sprachwissen (z.B. über Sprichwörter) mitberücksichtigt werden? 4. Ein Mischtyp aus 2 und 3: Erfassung des aktuellen Gebrauchs von schriftsprachlichen Phänomenen auf der Basis von Belegen (z.B. Pressetexte, Werbung), deren Gesamtheit grundsätzlich nicht ermittelbar ist. Schon die Erstellung von einzelsprachlichen Korpora ist mit methodischen Problemen verbunden. Dies gilt umso mehr für die Korpora-Erstellung bei interkulturellen Vergleichen. Hier gilt insbesondere: Entscheidend für den Vergleichenden Korpusansatz ist […], dass in quantitativer Hinsicht ausreichend Daten erhoben und in vergleichbaren Korpora gegenübergestellt werden. Denn im interkulturellen Vergleich können isolierte Beobachtungen, illustrierende Beispiele oder wenige Daten zu systematisch irreführenden Aussagen führen (Lewandowska 2008: 166). 5.2 Der kulturspezifische Vergleichsansatz Jede Kultur hat ihre unzweifelhaften Besonderheiten. Dennoch sind sie unterschiedlich perspektiviert: Sie können aus einer Innenperspektive als „eigen- Anna Lewandowska/ Gerd Antos 146 kulturelle“ 2 Erscheinung verstanden oder aus einer Fremdperspektive, also auf der Grundlage eines Vergleichs, als typisch erkannt werden. Dennoch bleibt die Frage, die eine Quelle anhaltender Diskussionen und Umfragen, 3 ist: Was betrachten Deutsche aus einer Innenperspektive als ‚typisch deutsch‘? Aus der eigenkulturellen Perspektive werden häufig folgende Sprichwörter genannt: Morgenstunde hat Gold im Munde. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. Wir sitzen alle im selben Boot. Nach Mieder (1995b: 309, 311) ist das Sprichwort Morgenstunde hat Gold im Munde laut den Ergebnissen einer Umfrage von 1983 „tatsächlich das bekannteste deutsche Sprichwort“. 4 Mieder (1995b: 315) kommentiert dies folgendermaßen: Man spürt natürlich gerade an einigen dieser gebräuchlichen Sprichwörter, daß Arbeit, Fleiß und Geldverdienen eine große Rolle spielen. […] In der Tat liegt die Präokkupation mit Geld/ Gold/ Verdienen, Tageszeit/ Nacht/ Schlaf, und auch Arbeit/ Fleiß an der Spitze und doch wollen wir nur sehr vorsichtig auf einen möglichen Charaktertyp des Deutschen schließen. Noch schwieriger ist die Identifizierung von kulturspezifischen Sprichwörtern, die nicht ohne weiteres aus einer eigenkulturellen Perspektive als „typisch“ verstanden werden können. Sind also die folgenden Sprichwörter aus einer Fremdperspektive tatsächlich als ‚typisch deutsch‘ zu betrachten? Ordnung ist das halbe Leben. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. Polen haben es in dieser Hinsicht wohl leichter, weil in einigen Sprichwörtern das Verhältnis dieser Kultur zu anderen Kulturen wenn auch sehr stereotypisiert gespiegelt wird: __________ 2 Wir übernehmen diesen Begriff von Földes (2003: 10). 3 S. http: / / www.heimat-in-deutschland.de/ uebungen/ typisch_deutsch/ (Stand: 21.07. 2011). 4 Vgl. dazu die Fallstudie von Wolfgang Mieder (1997): „Morgenstunde hat Gold im Munde“, in der die Herkunft, die Überlieferung, die Funktion, die Bedeutung und die Verwendung dieses populärsten deutschsprachigen Sprichworts thematisiert wird. Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 147 Polak, Węgier dwa bratanki: i do szabli, i do szklanki. 5 Co Francuz wymyśli, Niemiec zrobi, Żyd sprzeda - Polak głupi wszystko kupi. 6 Pόki świat światem, nigdy Niemiec nie będzie Polakowi bratem. 7 Für Polen ist klar: Die zitierten Sprichwörter gehören zu ihrem typischen nationalen Kulturgut. Dazu gehört auch das Sprichwort „Polak potrafi! “ („Der Pole kann es/ schafft es! “). Dieses Sprichwort formuliert - oberflächlich betrachtet - ein ‚Zutrauen‘: Die Polen brauchen sich nur zusammenzureißen - dann können sie auch wirklich viel erreichen! Überlagert und in einer gewissen Weise pervertiert wurde dieser optimistische „Anfeuerungsruf“ in der zunächst viel versprechenden Ära von Edward Gierek (in den 1970er Jahren) als typische sozialistische Parole. Einerseits sollte mit dieser Parole der Stolz auf das „kreative Potenzial“ der Polen zum Ausdruck gebracht werden. Andererseits sollte aber diese Parole - als Mittel der so genannten „Erfolgspropaganda“ - die Polen zu zusätzlicher Arbeit für den sozialistischen Staat anspornen. Heutzutage wird dieses Sprichwort vorwiegend ironisch und sogar mit einem negativen „Beigeschmack“ gebraucht: Damit wird einerseits angedeutet, dass Polen auch dann keine größeren moralischen Schwierigkeiten haben, wenn sie etwas Problematisches tun (sollen). Andererseits wird diese sprichwörtliche Aufforderung für nicht unbedingt ruhmvolle Taten verwendet. Was bedeutet dies nun methodisch für den kulturspezifischen Vergleichsansatz? Ein Kriterium könnte sein, wenn auf ein kulturspezifisches Wissen Bezug genommen wird, über das die zu vergleichende Kultur nicht verfügt. In diesem Sinne wird mit Bezug auf polnische Sprichwörter darauf verwiesen: Um solche Sprichwörter überhaupt verstehen zu können, braucht man ein gewisses ‚Vorwissen‘, eine Art der ,Initiation‘, Sachkenntnis (Geschichte, Geographie, Eigennamen usw.). Deswegen sind viele polnische Sprichwörter ohne zusätzliche Erläuterungen für den ausländischen Adressaten oder den Adressaten, der aus einer anderen kulturellen Tradition stammt, schwer zu verstehende oder sogar kaum zu entschlüsselnde Botschaften, besonders in ihrer tieferen Bedeutung. Zu solchen Texten, die aufgrund ihrer Semantik Grenzen für den Empfänger setzen, gehören z.B. Sprichwörter, die ein polnisch-katholisches Kalendarium gleichsam ‚formen‘ (,Na św. Wincenty bywa mrόz cięty‘) […], Sprichwörter, die auf historischen Ereignissen beruhen (,Za krόla Olbrachta wyginęła __________ 5 Ausdruck der historischen polnisch-ungarischen Freundschaft: Der Pole und der Ungar sind zwei Vettern, sowohl „beim Säbel“ als auch „beim Glas“. 6 Sinngemäß: Was der Franzose erfindet, der Deutsche macht, der Jude verkauft - der dumme Polle kauft sicher alles. 7 Sinngemäß: Der Deutsche wird für den Polen nie - selbst nicht beim Weltuntergang - ein Bruder sein. Anna Lewandowska/ Gerd Antos 148 szlachta‘), die sich auf Eigennamen (,Nie od razu Krakόw zbudowano‘), auf die Bibel, auf die Antike oder auf regionale Folklore beziehen. (Kowalikowa 2001: 114, Übersetzung A.L.) 5.3 Der Äquivalenzansatz Im Äquivalenzansatz werden Phänomene verglichen, die ausgehend von den Übersetzungswissenschaften gemäß folgender Kriterien weiter differenziert werden können (vgl. Bartoszewicz 1994: 40): − identische Bedeutung der analogen Sprichwörter − identische Metaphorik − identische Bewertungselemente − identische lexikalische Bestandteile − identische Abweichung von der grammatischen Norm − identische rhetorische Transformation − identische stilistische Strukturierung − identische Quellen Im Sinne des anfangs angedeuteten Äquivalenzbegriffs müsste man hier differenzieren zwischen struktureller und funktionaler Äquivalenz, die in der Kriterienliste als „analog“ bezeichnet wird. Zur strukturellen Äquivalenz gehören die vor allem in der Übersetzungswissenschaft als von der Form her als „gleich“ unterstellten Phänomene, also Beispiele wie die Folgenden, die im Polnischen wie im Deutschen lexikalisch oder sogar morphologisch-syntaktisch formale Gleichheit aufweisen: (Dt.) Alte Liebe rostet nicht. (Pl.) Stara miłość nie rdzewieje. (Dt.) Adel verpflichtet. (Pl.) Szlachectwo zobowiązuje. Eine solche volle Äquivalenz tritt aber selten auf und wird alleine durch die Strukturen der beiden Sprachen eingeschränkt, z.B. durch die Artikel im Deutschen und ihre Ellipse (z.B. im Sprichwort), die im artikellosen Polnischen keine Entsprechung finden, z.B.: Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 149 (Dt.) ∅ Zeit ist ∅ Geld. (Pl.) Czas to pieniądz. 8 Zu Sprichwörtern mit struktureller Äquivalenz lassen sich auch semantisch gleiche Sprichwörter zählen: Na początku było Słowo. Am Anfang war das Wort. Przybyłem, zobaczyłem, zwyciężyłem. Veni, vidi, vici. Ich kam, ich sah, ich siegte. Być albo nie być. Oto jest pytanie. Sein oder nicht sein. Das ist die Frage. Myślę, więc jestem. Cogito, ergo sum. Ich denke, also bin ich. Ob aber zum Beispiel auch „sprichwörtliche Internalismen“ (Bartoszewicz 1994: 17) dazu zu zählen sind, also Sprichwörter, die in unterschiedlichen Kulturen Europas gleiche kulturelle Wurzeln haben, auf die Bibel, auf die römische Geschichte oder auf die gemeinsame literarische oder philosophische Tradition zurückgehen, erfordert bereits eine funktionale Analyse, die den interkulturellen Stellenwert der verglichenen Sprichwörter reflektieren müsste. Dazu gehören z.B.: (Dt.) Alle Wege führen nach Rom. (Pl.) Wszystkie drogi prowadzą do Rzymu. (Dt.) Morgenstunde hat Gold im Munde. (Pl.) Kto rano wstaje, temu Pan Bóg daje. (Dt.) Jedem Vogel gefällt sein Nest. (Pl.) Każdy ptak swe gniazdko chwali. Funktionale Äquivalenzen sind vor allem dort zu finden, wo aufgrund ähnlicher historischer Lebensbedingungen der Stellenwert im Gebrauch als „gleich“ unterstellt werden kann. Dazu gehören z.B. Sprichwörter, deren Äquivalenz nicht sofort ins Auge springt: __________ 8 Wir haben es hier also nicht mit vollständiger Äquivalenz zu tun (lexikalische, aber keine morphologische Übereinstimmung). Anna Lewandowska/ Gerd Antos 150 (Dt.) Lübeck ist nicht an einem Tage gebaut worden. (Pl.) Nie od razu Kraków zbudowano. Der Nachweis von sprichwörtlichen ‚Internationalismen‘, der die tiefe interkulturelle Verwandtschaft dieser Phänomene belegt, ist deshalb so wichtig, weil Menschen mit einer betont ‚eigenkulturellen‘ (bis nationalistischen) Sichtweise viele interkulturelle Gemeinsamkeiten nicht zur Kenntnis nehmen wollen oder sie sogar verneinen. Methodisch ist also der Äquivalenzansatz eine notwendige Ergänzung zum kulturspezifischen Vergleichsansatz. 5.4 Der interkulturell-universelle Ansatz Schon immer wurde hinter beobachtbaren kulturellen Unterschieden eine tiefer gehende ‚universelle‘ Gemeinsamkeit postuliert. Besonders produktiv wurde dieser Gedanke in der strukturalistischen Tradition. Für die interkulturelle Sprichwortforschung ist hier Permjakovs „Grammatik der sprichwörtlichen Weisheit“ wegweisend. Auf der Grundlage einer empirischen Erforschung von mehr als 50.000 Sprichwörtern stellte Permjakov fest, „dass in Sprichwörtern Inhalte modelliert werden, die sich universal in der Folklore der verschiedensten Kulturen finden lassen“ Grzybek (2000: 4). Daher postuliert Permjakov tiefensemantische „Modelle“, die die Grundlage für die Struktur aller Sprichwörter beschreiben sollen. Dahinter stehen Beobachtungen universell erscheinender äquivalenter Phänomene wie: Schmiede das Eisen, solange es heiß ist. (dt. Sprichwort) Kuj żelazo pόki gorące. (wörtliche Entsprechung im Polnischen) Forme den Lehm, solange er feucht ist. (ostafrikanisches Sprichwort) Trotz mancher Schwierigkeiten, konkrete Sprichwörter eindeutig einer abstrakten semantischen Tiefenstruktur zuordnen, ist der Ansatz von Permjakov ein methodisch sinnvolles Vorgehen bei dem Versuch, oberflächenstrukturell unterschiedliche, aber vergleichbare Phänomene in den verschiedensten Kulturen auf Universalien zurückzuführen. 5.5 Der kultur-distinktive Vergleichsansatz Sozusagen spiegelverkehrt zum interkulturell-universellen Ansatz geht es beim kultur-distinktiven Vergleich darum zu zeigen, dass Äquivalentes nicht immer gleich ist. Denn sprachlich äquivalent erscheinende Sprichwörter der Kultur A Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 151 müssen nicht in jedem Fall mit dem gleichen Sprichwort-Konzept der Kultur B übereinstimmen. Oder einfacher: Sie müssen in einer Kultur B nicht immer den gleichen Stellenwert wie in A haben. Dazu ein sowohl in Deutschland wie in Polen bekannter ‚Slogan‘: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “ Hier stellt sich zum einen die Frage, was dieser Slogan heute ist: Eine marxistische Parole? Ein inzwischen überholter, aber weithin bekannter Slogan? Ein Schlagwort oder gar ein Sprichwort? Wolfgang Mieder problematisiert dies wie folgt: Mit dem, was über ein Jahrhundert lang fast ‚heilige‘ Schlagwörter des Kommunismus waren, wird seit etwa fünfundzwanzig Jahren immer blasphemischer umgegangen […]. Überall macht sich die kritische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Lebensphilosophie bemerkbar, die auf sprachlicher Basis bald ernsthaft-satirisch, bald spielerisch-ironisch die nun vor sich gehende Zerstörung des Marxismus erkennen läßt (Mieder 1995a: 125). Aus polnischer Sicht kommentiert Dobrosława Świerczyńska (2001: 22) diesen Slogan wie folgt: Es stellt sich die Frage, ob die in der Vergangenheit (auch bei uns) so allgemein gebrauchte und heutzutage verspottete Parole von Marx ‚Proletarier alle Länder vereinigt euch! ‘ nicht inzwischen einen sprichwörtlichen Charakter angenommen hat, wenn man sie immer häufiger mit einem veränderten ersten Wort hört: Verbinden sollen sich ‚Händler‘, ‚Fahrer‘, ‚Päderasten‘ …, bis zu der Variante von Sławomir Mrożek ‚Menschen aller Planeten vereinigt euch‘. Aber in das Klima der neuen Zeit scheint am besten die gegenwärtige Version von Marx zu passen, der in der Zeit der allgemeinen ‚Perestroika‘ als Gespenst in einem der Fernsehsender der ehemaligen sozialistischen Ländern aufgetaucht ist und sogar offiziell verkündigt hat: ‚Proletarier aller Länder vergebt mir. (Übersetzung von A.L.). Ausdruck für die Vitalität des Slogans ist seine - vor allem in den Medien - gebrauchte Modifikation, etwa in der Schlagzeile „Liebeskranke, vereinigt euch! “ (Die Zeit Nr. 8, 15.02.2001, Leben S. 1) übrigens als Ankündigung für den ersten „Liebeskummerkongress“ in Berlin. Trotz einer im Deutschen vergleichbaren Variationsbreite hat die politische Parole „Proletariusze wszystkich krajów, łączcie się! “ („Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “) für Polen nach wie vor einen durch die nachwirkende historische Erfahrung geprägten anderen Stellenwert. Deutlich wird dies vor allem in einem Artikel aus der renommierten polnischen Wochenzeitung Polityka: „Antyglobaliści wszystkich krajów lączą się i nawet mają swojego Marksa“ (Polityka, Nr. 23, 09.06.2001, S. 86-90); wortwörtlich: „Globalisierungsgegner aller Länder vereinigen sich und haben sogar ihren eigenen Marx“. Anna Lewandowska/ Gerd Antos 152 Der Artikel porträtiert kritisch die Antiglobalisierungsbewegung: Heute ist es - glaubt man dem Artikel - wie in alten Zeiten der kommunistischen Bewegung: rote Fahnen, Zitate von Marx, Proteste gegen den Kapitalismus, Revolten auf den Straßen. Globalisierungskritiker aller Länder vereinigen sich tatsächlich in - inzwischen - insgesamt 1000 Organisationen. Sie haben ihre eigene Internetseite, mit genauen Angaben über die nächsten Demonstrationen und die nächsten Treffen. Wer will, kann sich also auf eine Art „Protest-Touristik“ („turystyka protestu“) begeben. Die Globalisierungskritiker haben zwar keine demokratische Legitimation, sind aber als Bewegung trotzdem präsent. Und sie haben sogar ihren eigenen Guru - ihren eigenen Marx: den französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Für Fremde erschließt sich der tiefere Sinn dieses Artikels nur dann, wenn die für Polen noch ganz selbstverständlichen historischen Parallelen mitgelesen werden. Der politische Bezug scheint zu dominieren, obwohl er inzwischen auf andere Formen von „Ausbeutung“ übertragen wird. In einem Artikel der Gazeta Wyborcza mit dem programmatischen Titel „Kupcy wszystkich branż, łączcie się“ 9 (wörtlich: „Kaufleute aller Branchen vereinigt euch“) wird das Problem der polnischen Kaufleute beschrieben, die sich durch immer mehr neu entstehende Ketten von ausländischen Verkaufsmärkten in ihrer Existenz gefährdet sehen. Der Rat lautet: Die einzelnen polnischen Kaufleute haben durchaus die Chance zu überleben, wenn sie sich in größeren Organisationen vereinigen und vor allem von den so heftig kritisierten ausländischen Markt-Ketten etwas lernen. Dass sich aber auch in Polen der Gebrauch dieses Sprichworts zu ändern beginnt, zeigt die Variation des Slogans in einer Werbeanzeige für Nokia-Handys: „bez względu na kolor, łączcie się“ 10 - (wörtlich: Ungeachtet der Farben, vereinigt euch! , im Sinne von verbindet euch! ). Das spielerische Element rückt diese Werbung in die Nähe des deutschen Gebrauchs. Wie man an diesem Beispiel sieht, wird die Parole sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Presse und öffentlichen Kommunikation ironisiert. 11 In Polen hat sie aber nach wie vor einen nicht nur konnotativen Hintersinn, der schon 1976 von Stanislaw Jerzy Lec in dem Aphorismus zum Ausdruck gebracht wurde: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Ich bitte gehorsamst fragen zu __________ 9 Gazeta Wyborcza: Nr. 247.3548, 21.-22.10.2000, S. 10-11. 10 Gazeta Wyborcza, s. Anhang; Nr. 73.3071, 27.-28.03.1999, S. 23. 11 Mieder (1995a: 125ff.) gibt dazu eine Reihe von einfallsreichen und amüsanten Beispielen aus Toilettensprüchen, aber auch aus der Literatur: Radfahrer alle Länder vereinigt euch. Ihr habt nichts zu verlieren als Eure Ketten. Soldaten aller Länder, verweigert euch. Proletarier aller Länder, vereinigt euch mit den Proletarierinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Sammelplatz: Westdeutschland (1979). Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 153 dürfen - wozu? “ 12 Dieser gesellschaftspolitischen Bankrotterklärung am nächsten kommt in einer deutschen Umschreibung wohl Wolfgang Mieder (1995a: 125), wenn er im Titel seines zitierten Aufsatzes vom „Geflügelten Abschied vom Marxismus“ spricht. Dass bei ‚kontrastiven‘ Analysen besonders die Konnotationen der zu vergleichenden Phänomene zu beachten sind, zeigt sich auch am Beispiel von „Mądry Polak po szkodzie“ („Der Pole ist erst durch (sic! ) Schaden klug“). Kłosińska/ Sobol/ Stankiewicz (2005: 373) kommentieren dieses Sprichwort in eine Richtung, einer angeblich „für Polen charakteristisch fehlende(n) Fähigkeit des Voraussehens der Gefahren und derer Vorbeugung“. Aus der eigenen historischen Perspektive glaubt der Pole unbelehrbar und dumm 13 zu sein - sowohl „vor dem Schaden“ als auch noch „danach“! Demnach handelt es sich um ein anders betontes Sprichwort-Konzept als im Deutschen, wo dieses Sprichwort eine deutlich positive Bedeutung aufweist: „Aus negativen Erfahrungen lernt man für zukünftiges Verhalten […]“, so Duden (Band 11, 2002: 649). 6 Ausblick Was folgt aus diesen methodischen Überlegungen für interkulturell-kontrastive Vergleiche? Die hier genannten Methoden müssen nun nach Maßgabe der Reflexion auf der Meta-Ebene im Hinblick auf ihre interkulturelle Wertigkeit hin geprüft werden. Das heißt u.a.: Wie kann man eine gewünschte Validität der Methoden erreichen? Lewandowska (2008) lehnt sich dabei an die in der Methodik übliche Triangulation an, die eine Kombination dieser Methoden nicht nur erlaubt, sondern im Hinblick auf die Maxime der Validität sogar vorsieht. Wie diffizil aber interkulturelle Validität sein kann, mag das verdeutlichen, was Luhmann (1984: 152) „doppelte Kontingenz“ nennt: Wenn Fremde aufeinander treffen, wird das Vertrauen in die jeweils bekannte Normalität einerseits ganz selbstverständlich in Anspruch genommen, andererseits aber auch durch die Konfrontation mit dem Fremdem bzw. mit dem Fremdsein grundlegend in Frage gestellt. Methodisch gewendet: „Jeder Anwesende nimmt __________ 12 Zitiert nach Mieder (1995a: 135). 13 Danach ist also der Pole eigentlich immer dumm, wie dies bei Kochanowski (2003) so umschrieben wird: „Nową przypowieść Polak sobie kupi, Że i przed szkodą, i po szkodzie głupi.“ Anna Lewandowska/ Gerd Antos 154 den/ die Anderen wahr und gleichzeitig sich als von dem/ den Anderen wahrgenommen“ (Feilke 1994: 82). 14 Angesichts solcher paradoxen Erfahrungen von interkultureller Kontingenz stellt sich die Frage: Wie sollen empirisch orientierte Wissenschaften damit umgehen? Wie kann man diese interkulturelle Kontingenz angemessen methodisch ‚umsetzen‘? Klar ist: Allein kulturelle Differenzen kontrastiv beschreiben zu wollen, greift methodisch zu kurz. Denn einerseits können interkulturelle Differenzen - wie hervorgehoben - für das Verständnis der jeweils anderen Kultur ganz folgenlos sein. Andererseits werden scheinbar gleiche Phänomene von unterschiedlichen Kulturen mitunter unterschiedlich bewertet. Die hier nur angerissenen Probleme machen deutlich, dass für interkulturell-kontrastive Vergleiche ein ‚Zusammenspiel‘ verschiedener methodischer Ansätze in Betracht gezogen werden sollte. Wie diese letztlich gewichtet und aufeinander bezogen werden, hängt allerdings von den konkreten interkulturellen Phänomenen ebenso ab wie von der auf der Meta-Ebene angesiedelten Berücksichtigung des interkulturellen Reflexionsstandes. Unter methodischer Perspektive geht es dabei vor allem um den jeweiligen kulturellen Stellenwert eines untersuchten Phänomens. Die Erforschung des jeweiligen kulturellen Stellenwerts impliziert - insbesondere vor einem strittigen Hintergrund - vor allem einen interaktiven Aushandlungsprozess im interkulturellen Diskurs. Letztlich bemisst und bewährt sich aber die Wahl einer Methode sensu Földes (2009) an jener Interpretationsleistung, die für die Bestimmung von ‚Interkulturalität‘ heute notwendig und alternativlos ist. 7 Literatur Bartoszewicz, Iwona (1994): Analoge Sprichwörter im Deutschen, Niederländischen und Polnischen. Eine konfrontative Studie. Wrocław. (Acta Universitatis Wratislaviensis; 1464). Duden (2002): Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Band 11. Mannheim. Feilke, Helmut (1994): Common-sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie des „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt am Main. __________ 14 Vgl. dazu auch die weiteren Ausführungen von Feilke (1994: 82ff.). Was passiert, wenn zwei Kulturen beginnen, sich wechselseitig wahrzunehmen, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Methoden des linguistischen Zugangs zu ‚Interkulturalität‘ 155 Földes, Csaba (2003): Interkulturelle Linguistik. Vorüberlegungen zu Konzepten, Problemen und Desiderata. Veszprém/ Wien. (Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis. Supplement; 1). Földes, Csaba (2009): Black Box ‚Interkulturalität‘. Die unbekannte bekannte (nicht nur) für Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache. Rückblick, Kontexte und Ausblick. In: Wirkendes Wort 59. S. 503-525. Grzybek, Peter (1991): Sinkendes Kulturgut? Eine empirische Pilotstudie zur Bekanntheit deutscher Sprichwörter. In: Wirkendes Wort 2. S. 240-264. Grzybek, Peter (Hrsg.) (2000): Die Grammatik der sprichwörtlichen Weisheit von G.L. Permjakov. Mit einer Analyse allgemein bekannter deutscher Sprichwörter. Hohengehren. Hausstein, Alexandra (2005): Kulturalisierung der Sprachvermittlung - Erfolge und Grenzen. Vortrag auf dem XIII. 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Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität in den Sprachen Europas Rosemarie Lühr (Jena) 1 Einleitung Von den Wortfeldern, die in dem Projekt „Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext: Der Mensch in Natur und Kultur“ behandelt werden, wird das Teilwortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ in seinen europäischen Bezug gestellt. Der methodische Zugriff sind Kollokationen: Die im Wortfeld zentralen Wörter Wille, Wunsch, Wahl werden auf ihre Kompositionsfähigkeit untersucht. Die daraus empirisch gewonnenen Bedeutungsmerkmale werden zur Beantwortung der Frage verwendet, welche Elemente des Wortfeldes einheimisches, welche interkulturelles Wortgut repräsentieren. Um festzustellen, ob sich die Wortfeldkonzeption im Laufe der Zeit geändert hat, wird Datenmaterial aus dem Älteren Neuhochdeutschen und dem Althochdeutschen zum Vergleich herangezogen. Der Beitrag hat also eine deutliche sprachhistorische Komponente. Sprachtheoretisch ergeben sich Einsichten in interkulturell nachweisbaren semantischen Wandel. Methoden zur Messung der Interkulturalität von Sprachen werden in Jena in zwei Projekten entwickelt. 1 Das eine, von der Volkswagenstiftung geförderte Projekt, behandelt „Normen- und Wertbegriffe in der Verständigung zwischen Ost- und Westeuropa“. Das andere lautet: „Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext: Der Mensch in Natur und Kultur“. Es handelt sich um ein neuartiges, an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften angesiedeltes Wörterbuchprojekt, das gegenüber anderen Wörterbüchern Etymologie mit der Organisation des Wortschatzes nach Wortfeldern verbindet. Auch werden - vom Deutschen ausgehend - die Wortfelder jeweils in ihren europäischen Bezug gestellt. Ausgehend von der philosophischen Frage „Wer ist der Mensch“ wird für die Wortfelder der Kulturbegriff des Menschen zugrunde gelegt, wobei der Naturbegriff „Was ist der Mensch“ der Sache nach diesem Kulturbegriff vorgeschaltet ist. Behandelt werden biologische Eigenschaften des Menschen; seine kulturellen Eigenschaften: der Mensch im Alltag; in der Vielfalt seiner kulturellen Be- __________ 1 Zu weiteren Verfahren vgl. Lewandowska/ Antos (2010). Rosemarie Lühr 158 ziehungen, z.B. zur Religion, zu Recht und Ethik, zur Wirtschaft, zu Wissenschaft und Kunst, zu neuen Technologien, sein Fühlen und Trachten. Von diesen Wortfeldern wird im Folgenden das Teilwortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ (vgl. Dornseiff 2004: 134ff.) ausgewählt, weil Intentionalität das Kennzeichen ist, das menschliches Handeln am meisten prägt. 2 Intentionalität enthält dabei - als nichtsprachliche kognitiv-handlungsbezogene Eigenschaft - sprachlichen Ausdruck und wird sekundär semantisch kodiert. Eben diese Kodierung kann interkulturell verschieden gefasst sein. 3 Die empirische Untersuchung zeigt zuerst auf, welche Bestandteile dieses Wortfeldes mit einheimischem, welche mit interkulturellem Wortgut besetzt sind. Als zweites wird das Wortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ mit dem des Älteren Neuhochdeutschen verglichen. Dafür ist das Schiller-Wörterbuch hilfreich, das ebenfalls in Jena erarbeitet wird. Es ist herauszufinden, ob Änderungen in der zugrunde liegenden Wortfeldkonzeption eingetreten sind, und wenn ja, ob dieser Wandel im Fühlen interkulturell nachweisbar ist (vgl. Hermanns 2003: 167) Der wichtigste Europäismus oder Internationalismus ist hier der Begriff Motivation. Abschließend wird die älteste Bezeugung des Wortfeldes im Althochdeutschen zum Vergleich herangezogen. Die Methode, die beim Wortfeldvergleich angewendet wird, ist der Kollokationsforschung entnommen: Die zu untersuchenden Begriffe werden auf ihre Kompositionsfähigkeit (vgl. Nübling 2008: 87) überprüft, um exakte Bedeutungsbestimmungen vornehmen zu können. Sprachtheoretisch versteht sich das Folgende als ein Beitrag zur Erforschung von interkulturell nachweisbarem semantischem Wandel. 2 Wortfeld Ein Wortfeld wird von Lexemen aus einem zusammenhängenden Bedeutungsbereich gebildet. Dabei wird nach lexikalischen und konzeptionellen Relationen getrennt. Zu den lexikalischen Beziehungen gehören (a) die Bedeutungsidentität bzw. Bedeutungsähnlichkeit (Synonymie), (b) die Gegenteiligkeit der Bedeutung (Antonymie) sowie (c) etymologische Beziehungen - einem Sprecher fallen, wenn er Assoziationsketten um einen Begriff bildet, nicht nur Synonyme und Antonyme ein, sondern auch etymologisch verwandte Wörter, also Wörter einer Wortfamilie. Und die konzeptuellen Beziehungen betreffen (a) das Ver- __________ 2 Vgl. „Derjenige, der wir sind, blickt schmerzlich auf den, der wir sein wollen“ (Karl Rahner). 3 Zum Terminus „interkulturell“ vgl. Földes (2009) und zum Terminus „transkulturell“ vgl. Welsch (1999). Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität 159 hältnis von Oberzu Unterbegriffen (Hyperonymie/ Hyponymie bzw. Superordination/ Subordination); (b) das Verhältnis eines Teils zu einem Ganzen (Meronymie/ Holonymie); (c) die kausale Beziehung (Ursache und Wirkung). In der Wortfeldforschung ist vor allem durch die Arbeiten von Lutzeier (1981, 1993) eine neue Forschungsphase eingeleitet worden. So bezeichnet Lutzeier (1993) die Wortfeldtheorie als integralen Bestandteil einer Kognitiven Linguistik. Wortfeldartige Organisationen seien dabei nicht nur für die kategoriale Einordnung individueller Äußerungen, sondern auch für die generelle Erfassung der sprachlichen Kategorisierungssysteme als kognitive Orientierungshilfen zuständig (nach Tóth 2044: 11). Während solche Kategorisierungssysteme bei Bezeichnungen von Konkretem durch lexikalische Bedeutungsbeziehungen erfasst werden können, müssen zu diesem Vorgehen bei Bezeichnungen von Abstraktem in der Regel weitere Analyseverfahren hinzukommen. Ein solches ist die Betrachtung von Wortverbindungen. Denn da ein Wort nur in bestimmten Kontexten vorkommt, können sich aus seiner Umgebung Aufschlüsse über dessen Semantik ergeben. Einschlägig ist das Framenet-Projekt von Charles Fillmore (Berkeley); hier werden Wortverbindungen prominent in ihrem lexikologisch-lexikographischen Bezug dargestellt. In ähnlicher Weise stellt Tóth (2004: 190) die Kontextseme den Kernsemen, d.h. den Merkmalen der Kernbedeutung, gegenüber (vgl. auch Feilke 1998: 74ff.) Von den möglichen Verbindungen charakterisieren Kollokationen eher, während Komposita mehr für die Kategorisierung zuständig sind; vgl. dicke Milch vs. Dickmilch (Feilke 2004: 54). Da Komposita im Deutschen so eine Möglichkeit darstellen, neue untergeordnete Kategorien zu bezeichnen (Pörings/ Schmitz 2003: 64) und damit Taxonomien eines Wortschatzes ausbilden, werden im Folgenden semantische Merkmale, Kernseme, aus der Art der Komposita, die mit Wörtern aus dem Wortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ gebildet werden, gewonnen. Hier sind insbesondere Determinativkomposita mit solch einem Wort als Vorderglied instruktiv: Sie zeigen, welche Begriffe durch dieses Vorderglied eingeschränkt werden können. Die Sem-Analyse muss aber auch im Falle von Komposita mit der Aufdeckung von Kontextmerkmalen einher gehen. So kann man die Kontextseme semantisch bestimmen, und ebenso, wie bei den Verben Valenzbeziehungen eine wichtige Rolle spielen, geht es bei Komposita um die syntaktischen Relationen, in der die beiden Kompositionsglieder zueinander stehen. Sind im Verband mit Komposita die Kernseme und Kontextseme, die ein Wort des Wortfeldes „Der Mensch in seinem Wollen“ hat, ermittelt, kann auch auf mögliche Benennungsmotive der Wörter Wille, Wunsch, Wahl geschlossen werden. Dieses Verfahren ist für die interkulturelle und historische Einordnung der Benennungen innerhalb des Wortfelds nützlich. Rosemarie Lühr 160 3 Der Mensch in seinem Wollen 3.1 im heutigen Deutsch 3.1.1 einheimische Wörter Der Untersuchungsschwerpunkt liegt auf den Wörtern, die am häufigsten komponiert vorkommen, nämlich Wille im Sinne von freier Wille, Wunsch und Wahl. Von diesen ist der Begriff freier Wille mit einer Reihe alltagspsychologischer Intuitionen verbunden: (1a) Der freie Wille ist auf Handlungsereignisse gerichtet, die unmittelbar und ohne ein vermittelndes kausales Zwischenglied vom Wollenden ausgeführt werden können. (1b) Der freie Wille involviert eine Wahlmöglichkeit, d.h., man hätte unter identischen Bedingungen anders handeln und entscheiden können. Es müssen also mindestens zwei Handlungsalternativen zur Verfügung stehen. (1c) Der freie Wille ist immer bewusst, er ist introspektiv wahrnehmbar. Ein bewusstes Selbst (bzw. eine zentrale innere Steuerinstanz) ist Urheber willentlicher Handlungen, und bewusste Absichten sind die unmittelbaren Auslöser von Willenshandlungen. (1d) Der freie Wille gilt als nicht durch externe Reize oder Ereignisse unmittelbar bestimmt. Wie man aber inzwischen weiß, ist willentliches Handeln nicht indeterminiert, sondern durch Antizipationen von Handlungseffekten und zukünftigen Bedürfnissen bestimmt. Willensfreiheit wird so als „Selbstdetermination“ angesehen (Goschke 2004: 186ff., Engelberg 2000: 203). Diese Auffassung kann mit der Vorstellung der bedingten Willensfreiheit, wie er in der Philosophie der unbedingten Willensfreiheit gegenübergestellt wird, vereint werden. Danach ist aufgrund der Komplexität der Umstände, die zur Willensbildung führen, eine Entscheidung zwar nicht vorhersehbar, aber objektiv steht aufgrund von Persönlichkeit und Umwelteinflüssen im Vorhinein fest, welcher Wille gefasst wird. In einer konkreten Situation besteht somit für eine Person nur eine Möglichkeit, sich zu entscheiden. Man vergleiche dazu Schopenhauers Ausspruch, der Mensch könne tun, was er will, aber er könne nicht wollen, was er will. Dennoch spricht man hier von Freiheit, weil die getroffene Wahl den Neigungen und Motiven der Person entspricht und somit ihren eigenen Willen repräsentiert: Auch wenn die Naturgesetze bestimmen, was wir tun und denken, können wir uns unter Berücksichtigung der jedem Menschen gegebenen Bedingtheiten als Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität 161 frei verstehen. Frei sind wir in diesem Sinne genau dann, wenn wir unseren eigenen Überzeugungen gemäß handeln können. Ein solcher Freiheitsbegriff, der ein bewusstes Reflektieren und eine bewusste Entscheidung voraussetzt, aber auch für möglich hält, steht nicht im Gegensatz zum Determinismus. Die Idee einer „absoluten Freiheit“, die gegen den Determinismus gerichtet ist, ist begrifflich inkohärent. (Bieri 2004) Stellt man nun als erstes diejenigen Kernseme, die die in der Definition (1) enthaltene Begriffsbestimmung reflektieren, zusammen, so gelangt man zur Intension des Begriffs Willensfreiheit. Es handelt sich um die Gesamtheit der Seme, die dem Bezeichneten gemeinsam sind und die die Schnittmenge der notwendigen Merkmale ausmachen. Wie Komposita mit Wille als Vorderglied deutlich machen, ist der Mensch eindeutig Willensträger. 4 Weitere Komposita mit Wille im Vorderglied finden sich unter (2). Wille hat dabei wie in Willensträger die Funktion eines Genitivus obiectivus als Kontextsem: (2a) Willensanspannung ,Konzentration des Willens zur Erreichung eines Ziels‘; Willensäußerung ,Äußerung des Willens, eines Entschlusses‘; Willenskundgebung = Willensäußerung; Willenserklärung (bes. Rechtssprache) ,Willensäußerung mit dem Ziel, rechtlich etwas zu erreichen‘; Willensbildung ,das Sich-Herausbilden dessen, was jmd., eine Gemeinschaft will‘ oder eines Genitivus subiectivus: (2b) Willensakt ,durch den Willen ausgelöste Tat, Handlung‘ oder eines Genitivus qualitatis: (2c) Willensfreiheit (vgl. oben); Willenskraft ,Fähigkeit eines Menschen zur Willensanspannung‘; Willensschwäche , Mangel an Willenskraft‘; Willensstärke ,hohes Maß an Willenskraft‘ (mit dem Antonym Willenlosigkeit) Aus den Kontextpartnern von Wille in diesen Komposita lassen sich nun folgende Kernseme des Begriffs freier Wille gewinnen: (3a) <vom Wollenden ausgehend>, <in eigener Macht> Willensträger; <Ausrichtung auf ein Handlungsziel mitsamt dessen selbsttätiger Initiierung> Willensanspannung, Willensakt; <Entscheidung für oder gegen eine Wahlmöglichkeit> <ohne externen Reiz> Willensfreiheit. __________ 4 Das Wort Willensträger steht übrigens nicht im „Deutschen Universalwörterbuch“, auf das für die Bedeutungsbestimmungen Bezug genommen wird; Willensträger findet sich aber ungefähr 5200mal im Internet. Es ist so durchaus ein Wort des Deutschen. Rosemarie Lühr 162 Hinzu kommt jedoch das in der Definition (1) nicht enthaltene Bedeutungsmerkmal: (3b) <mit unterschiedlichem Durchsetzungsvermögen> Willenskraft, Willensstärke, Willensschwäche, Willenlosigkeit Wie diese Komposita zeigen, kann die Durchsetzungskraft 5 unterschiedlich ausgeprägt sein. Für die Komposita mit dem nächsten Begriff aus dem Wortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“, dem Wort Wunsch, ist konstitutiv, dass es nicht in jemands Macht liegt, ob ein Wunsch erfüllt wird. Auch kommt in den Komposita nicht die Ausrichtung auf ein Handlungsziel, 6 sondern auf ein bestimmtes Objekt zum Ausdruck; vgl. dazu die auf Konkretes weisende Redewendung Wünsche werden greifbar. Man hat Komposita mit Wunsch in der Funktion eines Genitivus obiectivus als Kontextsem: (4a) Wunschgegner ,jmd., den man sich aus bestimmten Gründen als Gegner in einem Spiel, einer Diskussion wünscht‘; Wunschkind ,Kind, das sich die Eltern gewünscht haben‘ Eher einen Genitivus qualitatis vertritt Wunsch in: (4b) Wunschvorstellung ,von den eigenen Wünschen geprägte, nicht an der Wirklichkeit orientierte Vorstellung‘; Wunschtraum ,etwas äußerst Erstrebenswertes, Verlockendes, was sich [bisher] nicht hat verwirklichen lassen‘ (4c) Wunschkonzert ,aus Hörerwünschen, Wünschen aus dem Publikum zusammengestelltes Konzert [im Rundfunk]‘ oder: (4d) Wunschliste, Wunschzettel ,Liste, Zettel mit jmds. Wünschen‘, ähnlich Wunschträger 7 Es geht hier um konkrete Wünsche. Derjenige, der etwas wünscht, erscheint nicht in Zusammensetzungen. Im Vordergrund stehen vielmehr die Kernseme: __________ 5 Durchsetzungskraft kommt über 107000mal im Internet vor. Im „Deutschen Universalwörterbuch“ ist es nicht gebucht. 6 D.h., die selbsttätige Initiierung eines Handlungsereignisses steht bei Wunsch nicht im Zentrum des Begriffs. 7 Im Internet gibt es ebenso wie Willensträger einen Wunschträger. Der Beleg bezieht sich aber auf ein Ritual mit einem Lorbeerblatt. Man soll seinen Wunsch auf ein Lorbeerblatt schreiben und es dann in einer Räucherschale verbrennen. Wunschträger ist also von der Zusammensetzung her wie Wunschzettel, Wunschliste, ,Zettel, Liste, auf dem ein Wunsch oder Wünsche notiert sind‘, gebildet. Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität 163 (5) <nicht in eigener Macht stehend>, <Ausrichtung auf ein bestimmtes Objekt> Demgegenüber rücken bei dem dritten in Komposita auftretenden Begriff des Wortfelds „Der Mensch in seinem Wollen“, dem Wort Wahl, die Gegebenheiten, die zur Wahl stehen, ins Blickfeld. Entscheidend ist so das auf die Außenperspektive bezogene Kernsem: (6) <Ausrichtung auf eine von zwei oder mehr Möglichkeiten> Doch sind die Komposita zumeist lexikalisiert, sieht man von denjenigen ab, in denen Wahl die Bedeutung ,Abstimmung über die Berufung bestimmter Personen in bestimmte Ämter, Funktionen‘ hat; 8 vgl. : (7a) Wahlheimat ,Land, Ort, in dem sich jmd. niedergelassen hat und sich zu Hause fühlt, ohne dort geboren oder aufgewahsen zu sein‘; Wahlkind österr. ,Adoptivkind‘; Wahlspruch ,prägnant formulierter, einprägsamer Ausspruch, Satz von dem sich jmd. leiten lässt‘ Voll motiviert ist nur: (7b) Wahlmöglichkeit ,Möglichkeit der Wahl, Auswahl‘ 3.1.2 Fremdwörter Der interkulturelle Bestand des Wortfelds „Der Mensch in seinem Wollen“ kommt durch internationalen Weltverkehr, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, Informationsaustausch durch internationale Nachrichtenagenturen, indoeuropäische Sprachverwandtschaft, wechselseitige Entlehnungen und Sprachkonventionen in übernationalen Institutionen zustande. 9 Es handelt sich um die Wörter: (8a) Initiator (bildungssprachl.) ,jmd., der etwas veranlasst und dafür verantwortlich ist‘ (engl. initiator, ital. iniziatore, lat. initiator ,Beginner‘, ung. iniciátor ,eine Person/ Gruppe/ Organisation, die eine neue Sache, Unternehmung anregt/ initiiert‘) 10 __________ 8 Hierher auch: Wahlkönigtum, Wahlmonarchie ,Monarchie, bei der der Monarch durch eine Wahl bestimmt wird‘ 9 Filz Kania (2010: 9). 10 Bakos (2002: 288); ähnlich Tolcsvai Nagy (2007: 478), vgl. auch Tótfalusi (2005: 424). Rosemarie Lühr 164 (8b) Initiative ,erster tätiger Anstoß zu einer Handlung, Entschlusskraft, Unternehmungsgeist, Fähigkeit aus eigenem Antrieb zu handeln‘ (frz. initiative, ital. iniziativa, ung. iniciatíva) 11 (8c) Intention ,Absicht, Bestreben, Vorhaben‘ (engl. intention, ital. intenzione, lat. intentio, ung. intenció) 12 (8d) Motivation (Psychologie, Pädagogik) ,Gesamtheit der Beweggründe, Einflüsse, die ein Entscheidung, Handlung beeinflussen‘ (engl. motivation, ital. motivazione, ung. motiváció, 13 Motiv ,Beweggrund‘, ital. motivo) (8e) Impetus (bildungssprachl.) ,(innerer) Antrieb, Anstoß‘ (engl. impetus), lat. impetus ,Vorwärtsdrängen‘, ung. impetus ,Anfall, Schwung, Leidenschaft‘; 14 aber ital. impeto ,Kraft‘) (8f) Stimulus (bildungssprachl.) ,Anreiz‘ (engl. stimulus, ital. stimolo, ung. stimulus; 15 lat. stimulus eigtl. ,Stachel‘), Impuls ,Anstoß, Anregung‘ (engl. impulse, ital. impulso, ung. impulzus) 16 (8g) Alternative ,freie, aber unabdingbare Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, zweite, andere Möglichkeit, Möglichkeit des Wählens zwischen zwei oder mehreren Dingen‘ (ung. alternatíva) 17 Von diesen Europäismen bezeichnet Initiator denjenigen, der ein Wollen in die Verwirklichung umsetzt, also tätig wird. Das Kernsem dieses Nomen agentis ebenso wie des Abstraktums Initiative ist somit <(mit) Fähigkeit zur selbsttätigen Durchsetzung eines Handlungszieles>. Als Synonyme im Leipziger Wortschatzportal gelten: (9a) Anreger, Anstifter, Begründer, Motor, Schöpfer, Urheber, Vater (9b) Aktivität, Entschlusskraft, Fleiß, Unternehmergeist Doch ist keines dieser Synonyme voll bedeutungsgleich mit den Europäismen Initiator und Initiative, entweder fehlt das Merkmal ,Zielgerichtetheit‘ oder das zu einer Initiative gehörige ,Tätigsein‘. Dagegen gibt es zu den übrigen Europäismen eher entsprechende deutsche Wörter. So zielen Intention und Absicht auf die Umsetzung eines gewollten Handlungsereignisses. Diesem Bestreben geht ein Entschluss voraus. Demgegenüber bezeichnen Stimulus und Impuls wie Anreiz situative Anregungen, die von einer Person wahrgenommen werden. Sie wer- __________ 11 Bakos (2002: 288); Tolcsvai Nagy (2007: 478), Tótfalusi (2005: 425). 12 Bakos (2002: 293); Tolcsvai Nagy (2007: 487); Tótfalusi (2005: 433). 13 Bakos (2002: 434); Tolcsvai Nagy (2007: 700); Tótfalusi (2005: 627). 14 Tótfalusi (2005: 143); Bakos (2002: 280); Tolcsvai Nagy (2007: 465). 15 Bakos (2002: 61); Tolcsvai Nagy (2007: 951); Tótfalusi (2005: 840). 16 Bakos (2002: 282); Tolcsvai Nagy (2005: 415); Tótfalusi (2007: 468). 17 Bakos (2002: 25); Tolcsvai Nagy (2007: 50); Tótfalusi (2005: 38). Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität 165 den verhaltenswirksam, wenn sie auf bestimmte Wertungspositionen im Individuum treffen. Und von Motivation oder Beweggründen (Sg. Motiv, Beweggrund) spricht man, wenn die Richtung des aktuellen Verhaltens durch bestimmte Faktoren bedingt ist, z.B. durch angeborene frühkindliche Prägungen, situative Anreize, Persönlichkeitsmerkmale. Alternative und Wahlmöglichkeit schließlich werden heute weitgehend als Synonyme gebraucht, wenn man sagt: Ich habe mehrere Alternativen. Doch ist ursprünglich die Bedeutung enger als bei Wahl; denn Alternative bezieht sich eigentlich auf zwei Möglichkeiten. Somit hat man folgende Kernseme bei den internationalen Abstrakta: (10a) <Bereitschaft zur selbsttätigen Durchsetzung eines Handlungsziels> Initiative; <Ausrichtung auf die Umsetzung eines gewollten Handlungsereignisses> Intention, Absicht; <durch bestimmte Faktoren bedingte Ausrichtung auf Ziele> Motivation, Beweggründe; (Motiv, Beweggrund); <verhaltenswirksame Anregungen> Stimulus, Impuls, Anreiz; <Ausrichtung auf eine oder mehr Möglichkeiten> Alternative, Wahlmöglichkeit Diese Europäismen sind übrigens völlig eingedeutscht. Sie werden mit Präpositionen, Genitivus subiectivus, Infinitivkonstruktionen und dass-Sätzen als Kontextsemen verbunden, haben also deutsche Kontextpartner; z.B.: (10b) Initiative zur Abschaffung der Jagd; Motivation für die guten Vorsätze; Stimulus für die Zukunftsgestaltung; Impuls für Entwicklung; Alternative zur grünen Gentechnik Seltener kommt Intention mit Präposition vor: (10c) Die Förderung der Intention zur Tabakabstinenz in der Hausarztpraxis Das Vorbild ist Absicht zu: (10d) Nötigung setzt Absicht zur Behinderung voraus (10e) die Intention eines literarischen Werkes (10f) die Absicht der Regierung (10g) Er hat die Intention, etwas Großes zu schaffen (10h) Gründe ... für die Absicht etwas zu tun (10i) Wer das erste Mal auf die schweizerische Website Doodle.com kommt, macht das meist aus der Intention, dass er dazu eingeladen wurde, einen gemeinsamen Termin mit anderen Nutzern auszuhandeln (10j) Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten (Sigmund Freud) Rosemarie Lühr 166 Die Integration aller dieser Europäismen aus dem Wortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ geht so weit, dass diese fremdsprachlichen Wörter die einheimischen zumindest im Internet verdrängen; vgl.: (11) Beweggründe durch Motivation, Motiv (434.000 vs. 52.500.000, 14.500.000); Absicht durch Intention (4.840.000 vs. 57.900.000), Anreiz durch Stimulus, Impuls (1.060.000 vs. 30.300.000, 6.180.000), Wahl durch Alternative (31.300.000 vs. 283.000.000). Betrachtet man die Kollokationen, die diese Europäismen untereinander eingehen, so kommen am häufigsten Initiative und Motivation zusammen vor. Die englischen und französischen Belege mitgerechnet sind es im Internet etwa 7.180.000 Belege: (12a) The Five Most Common Initiative Killing Mistakes That Drain Your Motivation Levels. (12b) Das Herrenmode-Haus Wormland in Hannover setzt in seiner aktuellen Werbeaktion auf Motivation und Initiative. „Zupacken! “ lautet das Motto der Imagekampagne ... Man hat hier also sozusagen „interkulturelle Sprachprodukte“. Doch wie das Fehlen von Europäismen für die einheimischen Wörter Wille und Wunsch zeigen, ist der Bereich des Wortfelds „Der Mensch in seinem Wollen“, der auf das Individuum als Träger eines Willens und Wunsches weist, nicht interkulturell besetzt. Wie bemerkt, ist die Ausrichtung des Wollens unterschiedlich: Wille ist sozusagen die aktivische Variante zu passivischem Wunsch. 3.2 im Älteren Neuhochdeutschen Wie aber ist nun der Befund 200 Jahre früher, bei Friedrich Schiller? Hier ergibt sich ein anderes Bild. Von den Europäismen fehlen: (13) Initiator, Initiative, Impetus, Motivation - Motiv ist häufig belegt. Intention in der Bedeutung ,Absicht‘ kommt aber vor. Es erscheint mit der Präposition mit und Genitivus subiectivus als Kontextsemen: (14a) {Warb., NA 12/ 210} Belmont fragt, was ihre Intention mit Simnel sey. Sie erklärt sich darüber. (14b) {Not.Nachl., NA 21/ 91} Leßing hat im Saladin gar keinen Sultan geschildert, und doch ist die Intention Saladins mit Nathan, wie er ihm die Frage wegen der drey Religionen vorlegt, ganz sultanisch. Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität 167 Ebenso Impuls, aber selten (3mal): (15) {Demetr., Skizz., NA 11/ 140} Marina ist die Bewegerin der ganzen Unternehmung, die den ersten Impuls hinein bringt und die auch die Catastrophe herbeiführt. und 1mal Stimulus: (16) {Anm. u. Würde, NA 20/ 302} Bey dem REIZ (nicht dem Liebreiz, sondern dem Wollustreiz, stimulus,) wird dem Sinn ein sinnlicher Stoff vorgehalten, der ihm Entledigung von einem Bedürfniß, d.i. Lust verspricht. Und Alternative bedeutet wie heute zum Teil noch ,Möglichkeit des Wählens zwischen zwei Dingen. (17) {Rezension: Iphigenie auf Tauris, NA 22/ 236} Sie ist in die schreckliche Alternative gesetzt, entweder ihren Bruder und Freund aufzuopfern oder ihren Wohltäter zu betrügen Von den neuhochdeutschen Europäismen erscheinen also nur Alternative, Intention, Impuls und Stimulus bei Schiller. Auch bei den Komposita mit Wille im Vorderglied ist die Beleglage anders. Zum einen finden sich auch bei Schiller die in der Gegenwartssprache bezeugten Determinativkomposita: (18a)Willensakt, Willensfreiheit, Willenlosigkeit, Willenskraft, Willensstärke Zum anderen kommen Komposita hinzu. Auch bei anderen Autoren belegte Komposita sind: (18b)Willensfertigkeit ,Fähigkeit des Wollens‘ (Kant), Willenshandlung (Herder, Kant), Willensmeinung ,Offenbarung des Willens, Weisung, Absicht (meist von herrschenden oder leitenden Persönlichkeiten, dann auch von weniger hochgestellten)‘, 18 Willensvermögen (Jean Paul), Willensbestimmung (Kant), 19 Willenshandlung (Kant) - man spricht von inneren und äußeren, von einfachen und __________ 18 Grimm/ Grimm s.v.: Johann August Eberhard (1910). 19 Spitta (1884: 16f.). Rosemarie Lühr 168 zusammengesetzten Willenshandlungen, 20 von einfachen und zusammengesetzten. Nicht im Grimmschen Wörterbuch aufgenommene Komposita Schillers sind: (18c) Willensgesetz, Willensgüte, Willensverderbnis Die Häufigkeit solcher Willens-Komposita bei Schiller ist sicher auf den Einfluss von Kant zurückzuführen, den Schiller sehr geschätzt und verehrt hat. In Kants theoretischen Überlegungen zur Ethik ist die Annahme der Freiheit des Willens zentral. 21 Und bei den Komposita mit Wahl erscheinen bei Schiller Wahlfreiheit und Wahlspruch neben den Komposita mit Wahl im politischen Sinn, 22 während Komposita mit Wunsch ganz und gar fehlen. 4 Die neueren Europäismen Seit welcher Zeit gibt es nun aber die Europäismen, die bei Schiller nicht auftreten: Initiator, Initiative, Impetus, Motivation? Von diesen Wörtern ist: (19a)Initiator um 1900 unter Rückgriff auf spätlat. initiator ,Beginner, Einweiher‘ gebildet. Älter ist das zugehörige Abstraktum Initiative. Ausgangspunkt ist mfrz., frz. initative ,das Anregen, Veranlassen, Beginnen‘, eine gelehrte Bildung zu mfrz., frz. initier ,einweihen, einführen, mit etwas vertraut machen‘ (aus lat. initiare ,einweihen‘, z.B. in religiöse Mysterien, spätlat. auch ,anfangen‘) 23 Früher bezeugt ist: (19b) Impetus; das Wort ist im 16. Jh., anfangs noch mit lateinischer Flexion, aus lat. impetus ,das Vorwärtsdrängen, Aufschwung, Ungestüm‘ (zu lat. impetere ,auf jmdn. losgehen, ihn angreifen‘) übernommen. 24 __________ 20 „Solche durch einen Affect vorbereitete und ihn plötzlich beendende Veränderungen der Vorstellungs- und Gefühlslage nennen wir Willenshandlungen.“ (Eisler 1904: s.v.). 21 Kants theoretische Überlegungen zur Ethik bestehen aus drei Elementen: Dem sittlich Guten, der Annahme der Freiheit des Willens und der allgemeinen Maxime des kategorischen Imperativs. 22 Wahlfürst, Wahlgeschäft, Wahlherr, Wahlkapitulation, Wahlreich, Wahlstaat, Wahltag, Wahlthron, Wahlwoche. 23 Pfeifer (1993: 581f.). 24 Pfeifer (1993: 575). Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität 169 Am jüngsten scheint das Wort Motivation zu sein. Nach dem Duden: Herkunftswörtebuch ist es erst im 20. Jh. belegt, während (19c) Motivierung, eine Ableitung von motivieren ,begründen‘ (frz. motiver) bereits im 19. Jh. vorkommt. 25 5 Der Europäismus Motivation 5.1 Fremdwort Zu fragen ist nun, aus welchen Gründen dieses Wort notwendig geworden ist. Da sich mit dem damit bezeichneten Phänomen heute ganz unterschiedliche Wissenschaftszweige beschäftigen, die Theologie, Philosophie, am meisten aber die Soziologie und Psychologie, scheint er von großer Bedeutung für unser modernes Leben zu sein; vgl. dazu aus der Soziologie: (20) Handeln ist die Umsetzung von Motivation in Intention. Zum Handeln gehören Motivation und Intention gleichermaßen: aber man kann Theorien des sozialen Handelns danach klassifizieren, ob sie den Schwerpunkt auf die Motivation oder die Intention legen, anders gesagt: ob sie vom Individuum aus stärker zurück oder stärker nach vorne blicken. 26 Und in der Psychologie, genauer der Motivationspsychologie, unterscheidet man folgende angewandte Bereiche: (21) Soziale Beziehungen; Konsumforschung; Verkaufspsychologie; Handelspsychologie; Arbeits- und Organisationspsychologie; Gesundheitspsychologie; Klinische Psychologie; Pädagogische Psychologie; Sportpsychologie Auch gibt es spezielle Verfahren, um die Motivation festzustellen. So ist die Erhöhung der Leistungsmotivation am Arbeitsplatz heutzutage eine der Herausforderungen der Wirtschaft. Auf der anderen Seite bewirkt das Qualitätsmanagement, 27 dass eine hohe, auch durch Entlassungen bedingte Personalfluktuation, nicht zum Risiko wird. Diese Balancierung nimmt gegen Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr zu. Motivation ist somit ein Schlagwort der mo- __________ 25 Pfeifer (1993: 893): auch Motivation 19. Jh. 26 Meulemann (2006: 46). 27 Dazu TÜV Rheinland. Rosemarie Lühr 170 dernen Arbeitswelt; in Verbindung mit Arbeitsmoral ist es ein interkulturelles Schlüsselwort; vgl.: (22a) engl. (2005) Secrets of Motivation , Work Ethics, and Counter-Productive Behavior (1879) Princeton Rev. 1 61 Even psychological determinism is displaced by rigid mechanical necessity, and objective motivation is always real physical impulsation. (OED s.v.) (22b) frz. sur la motivation et la rétention des employés (22c) ital. morale lavorativa; motivazione al lavoro (22d) ndl. arbeitsmoraal; motivatie (22e) schwed. arbeitsmoral, motivation 5.2 Einheimisches Wort Wie schon ausgeführt, beruht der Euroäismus Motivation letzten Endes auf dem Lateinischen. Daher stellt sich nun die Frage, ob es dafür auch Europäismen gibt, die mit germanischem Sprachmaterial gebildet sind. In den skandinavischen Sprachen, im Niederländischen und Niederdeutschen und Deutschen hat man tatsächlich gemeinsame germanische Wörter. Doch stammen diese aus dem Deutschen: (23a) schwed. bevekelsegrund ,Beweggrund‘, ält. dt. Bewegungsgrund (Gellert, Lessing, Schiller u.a.), nhd. Beweggrund (23b) schwed. drivfjäder, nhd. Triebfeder (eigtl. ,treibende Stahlfeder eines Werkes‘) ,treibende Kraft‘ (Herder), 28 vereinzelt auch Treibfeder (23c) nschwed. orsak (mhd. nachklass. ursache; mndd. orsake; mndl. orsake, ml. oorzaak, spätan. órso k, dän. aarsag aus dem Deutschen), dt. Ursache (23d) schwed. drivkraft, nl. dryfkracht, dt. Triebkraft 29 Mit Ausnahme von mhd. nachklass. ursache ist keines der deutschen Wörter bereits im Mittelhochdeutschen belegt. __________ 28 Vgl. auch schwed. syfte ,Absicht, Bestimmung, Ziel, Zweck‘, eigtl. ,Visier am Schießgewehr‘, mit -ft- < -ktentlehnt aus mndd. sichte ,Sicht‘. 29 Vgl. im Schwedischen noch eggelse ,Anregung, Anreiz, Impuls, Triebfeder, Antrieb‘, anledning, sporre, viljedrift. Aschwed. äggia ist von dem Subst. äg ,etwas Spitzes‘ (vgl. dt. Ecke, nschwed. egg ,Schneide‘) abgeleitet (Wessén 2004: s.v.; SAOB s.v.). Wortfeldbedingte Grade von Interkulturalität 171 6 Das Wortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ in älterer Zeit Stellt man aber nun dem Wortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ das Althochdeutsche gegenüber (vgl. Köbler 1996: s.v.), so zeigt sich, dass die Übersetzer des Lateinischen für die Wörter Wille und Wahl zahlreiche Synonyme hatten. Sie verwendeten auch Komposita: (24a) für freier Wille: muotwillo; selbwala; selbwelī; selbwillo (24b) für Willensfreiheit: selbwala; selbwalt; selbwaltida; selbwaltigī; williwaltigī (24c) für freie Bestimmung: ahd. wala (24d)für voluntas libera (,Willensfreiheit, Freiwilligkeit‘): N williwaltigī; (,Freiwilligkeit, Willigkeit‘): N williwarba (25a) für Wahl: gikiosunga; irwelida; irwelidī; kiosunga; korunga; kuri; kust; wala; welī (25b) für freie Wahl: irwelida; irwelidī (26a) für impetus, incitamentum, irritamentum, stimulus (,Antrieb‘): anagitrib, anastōz, bīgang, drātī, gigruozida, (gi)stungida, giwegida, inbrurtida, ruornessī, skuntida/ skuntunga, sporo (26b)für causa, occasio (,Veranlassung‘): ortfruma (,Ansehen, Geltung, Autorität, Förderung‘); skepfida; skuld (26c) für causa, ratio (,Beweggrund, Ursache‘): meinunga; urhab (mhd. urhap, ält. nhd. Urhab ,veranlassender Vorgang‘) Man sieht: Bei Wörtern für ,Wille‘ und ,Wahl‘ machen - wie im Neuhochdeutschen - Bildungen von den Verben wollen, (er-)wählen und dazu von dem Verb walten die Basis aus, wobei zur Bezeichnung von ,frei‘ das Wort selbst, wie es in Selbstbestimmung auftritt, gebraucht werden kann. Die häufigsten Synonyme aber treten bei den Wörtern für ,Antrieb, Veranlassung, Beweggrund‘ auf (26), also den Wörtern, deren Bedeutung in dem heutigen Wort Motivation vereint ist. Schon in althochdeutscher Zeit war also das Konzept Motivation vorhanden, und, wie der Wortreichtum dafür zeigt, für die Menschen wichtig. Im Wortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ hat es einen ähnlichen Stellenwert wie im heutigen Deutsch, wenn auch die Anwendungsbereiche heute bedeutend vielfältiger sind als bei unseren Vorfahren. Doch weisen die zahlreichen Eindeutschungsversuche im Althochdeutschen darauf hin, dass man bestrebt war, für die lateinischen Wörter, die zu ihrer Zeit sicher Internationalismen waren, ein adäquates einheimisches Wort zu finden. Für Motivation gab es also in früherer Zeit eine Entwicklung vom Internationalismus zum einheimischen Wort, während heute im Zuge des Zusammenwachsens von West- und Osteuropa der Wandel in die umgekehrte Richtung zum interkulturellen Sprachprodukt verläuft, wie auch die übrigen Internationalismen im modernen Wortfeld „Der Mensch in seinem Wollen“ zeigen. Rosemarie Lühr 172 7 Literatur Bakos, Ferenc (2002): Idegen szavak és kifejezések szótára. 2. Aufl. Budapest. Bieri, Peter (2004): Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. 2. Aufl. München. Duden (2007): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 4. Aufl. Mannheim. Duden (2007): Deutsches Universalwörterbuch. 6. Aufl. Mannheim. 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Der Russe: „Gestern haben WIR den Mond rot angemalt! “ Der Amerikaner: „Und heute haben WIR darauf weiß ‚Coca -Cola‘ geschrieben! “ 1 Zielsetzung und Forschungskorpus Das Ziel des vorliegenden Textes ist die Analyse von k o n z e p t u e l l e n M e t a p h e r n , deren Ursprungsbereich ein P r ä z e d e n z p h ä n o m e n ist - und zwar ein P r ä z e d e n z n a m e , der einer Kulturgemeinschaft (Ursprungskultur) entstammt und in einer anderen Kultur (Zielkultur) aktualisiert und auf eine unterschiedliche Weise konzeptualisiert wurde. Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass das Aneignen von „fremden“ Präzedenznamen, das anhand der Verbindung von oben genannten Theorien erforscht werden kann, einen gerechten Platz in der i n t e r k u l t u r e l l e n L i n g u i s t i k findet, weil die Herauslösung des Präzedenzsnamens aus einer Kultur und seine Einbettung in einer anderen Kultur zur Herausbildung einer „dritten Größe“ (Földes 2009: 512), auch im Falle solcher verbalisierten Minimalelemente, unserer Überzeugung nach führen kann. Gleichzeitig entspricht das Verhältnis zwischen der „eigenen“ und der „fremden“ Konzeptualisierung, das in unserem Fall durch ein gemeinsames Präzedenzphänomen zu Stande kommt, Haussteins Charakteristik der Interkulturalität: „das Verhältnis kann man nicht als binär, sondern als relational auffassen und das Verstehen des Anderen schließt das Verstehen des eigenen Blickwinkels ein“ (Hausstein 2005, zit. nach Földes 2009: 512). Dabei steckt, wie Földes bemerkt, das entscheidende Moment „nicht in dem simplen ‚Zwischen‘, aber vielmehr in einer Reziprozität“ (Földes 2009: 512). Bemerkenswert ist, dass die „eigene“ Kultur auch eine „andere“ Dimension des Präzedenznamens erkennen kann und es kommt zur Herausbildung/ Entstehung einer dritten Einheit. Bei der Analyse von Metaphern gehen wir von Metapherformel X als Y aus, in der X der Zielbereich und Y der Ursprungbereich ist. Das primäre Ziel war dabei, im Schritt eins, die Beschreibung der Herauslösung eines Präzedenznamens aus seiner Ursprungskulturgemeinschaft und seine Aktualisierung in einer anderen Kultur. Im Schritt zwei, war es die Beschreibung der kulturspezifischen Konzeptualisierungen eines Präzedenznamens, der zum Ursprungs- Katarína Motyková/ Nina Cingerová 176 bereich wurde und im Schritt drei, die Beschreibung der metaphorischen Beziehung zwischen Ursprungsbereich und Zielbereich. Im Fokus standen primär nicht die Beziehungen auf der syntagmatischen Achse (Metonymie), sondern die Beziehungen auf der paradigmatischen Achse. Der Korpus wurde aus Artikeln der deutschen Zeitschrift Der Spiegel zusammengestellt, in ihren Drucksowie auch Online-Ausgaben von 1987 bis 2009. Die Schlüsselwörter waren bei der Zusammenstellung des Korpus die folgenden: Gorbi, deutscher Gorbatschow, als Gorbatschow. Als Komparationmaterial dienten Artikel aus russischen Druckmedien, die anhand des Nationalen Korpus der russischen Sprache (Nacional´nyj korpus russkogo jazyka), 1 selektiert wurden. Ein Beispiel stammt aus der Online-Ausgabe der russischen Zeitschrift Profil’. Ausgewählt wurden nur solche Artikel, in denen der Name Gorbatschow im übertragenen Sinn verwendet wurde. Diese wurden dann in weitere Kategorien, je nach den verwendeten Metaphern, eingeteilt. In unserem Artikel präsentieren wir die typischsten Beispiele einzelner Metaphern, die den jeweiligen Kategorien angehören. Wir sind uns dessen bewusst, dass das „deutsche“ Material von uns nur auf eine Zeitschrift begrenzt wurde, „Stichproben“ in den Zeitungsarchiven von Die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Die Berliner Zeitung haben allerdings erwiesen, dass man die ausgewählten Metaphern als signifikant für den deutschen medialen Diskurs im Ganzen betrachten kann. 2 Präzendenznamen als Bausteine von konzeptuellen Metaphern Präzedenzphänomene sind ein Begriff, unter dem wir alle präzendente Erscheinungen verstehen wie Präzedenztexte, Präzedenzaussagen, Präzedenznamen und Situationen. Karaulov hat den Begriff P r ä z e d e n z t e x t im Jahr 1986 eingeführt und somit die Theorie der Präzedenz begründet. Unter Präzedenztexten versteht er mental-verbale Einheiten, die für eine konkrete Kultur wichtig sind und in zahlreichen Diskursen der linguokulturellen Gemeinschaften immer wieder aktualisiert werden (Karaulov 1986, zit. nach Sokolova 2006). Die Theorie wurde von zahlreichen Linguisten weiterentwickelt, vor allem von Dmitrij Gudkov. Gudkov (2003) hat die einzelnen Präzedenzerscheinungen unter den Begriff P r ä z e d e n z p h ä n o m e n e zusammengefasst. Zu den Präzedenzphänomenen gehören einerseits verbale, andererseits nicht-verbale Phänomene (z.B. bekannte Skulpturen, Gemälde, Architekturwerke). Zu den verbalen Präzedenzphänomenen, die der Gegenstand unseres Beitrags sind, gehören __________ 1 Im Internet unter: http: / / www.ruscorpora.ru/ . Präzedenznamen im Kontext der Interkulturalität 177 Texte, Aussagen, Namen, Parolen und Situationen. Das Präzedenzphänomen ist ein Sachverhalt, der mit der Kultur und dadurch mit der Sprache verbunden ist. Es wird in der Sprache immer wieder aktualisiert. Es ist dynamisch in der Form, kann grammatisch modifiziert werden oder in eine andere Sprache versetzt werden. Die Appelation an Präzedenzerscheinungen ist eine spezifische Art der Intertextualität. Die Präzedenzerscheinungen bilden eine kognitive Basis einer jeden linguo-kulturellen Gemeinschaft und gehören zu dem Hintergrundwissen der jeweiligen Gemeinschaft. Wie Gudkov (ebd.) aber bemerkt, setzt sich die kognitive Basis nicht aus Vorstellungen als solchen zusammen, sie wird vielmehr von invarianten Vorstellungen, Phänomenen, die wir im Gedächtnis in minimalisierter, reduzierter Form bewahren, gebildet. So entspricht z.B. das Konzept GORBATSCHOW also nicht den persönlichen assoziativen Vorstellungen eines Individuums, sondern ist konventionalisiert und kann als kulturgebunden betrachtet werden. In der Kommunikation bedienen wir uns einer Invarianten innerhalb der eigenen Kultur - eines stereotypisierten Erscheinungsbildes. Gerade in dieser Hinsicht war die Abgrenzung des Präzedenzphänomens im Rahmen unserer Forschung wichtig, denn sie erlaubte uns nicht nur auf die Intertextualität, sondern auch auf die Interkulturalität hinzuweisen. Unserer Auffassung nach können Präzedenznamen als Konzepte im Sinne von Lakoff und Johnson (1998: 11) fungieren und bei einer Aktualisierung können sie unter bestimmten Bedingungen Bausteine einer konzeptuellen Metapher werden. Die Theorie der konzeptuellen Metaphern ist revolutionär in dem Sinne, dass sie die traditionelle Sichtweise der Metapher radikal verändert. Metaphern, so Lakoff und Johnson, sind nicht nur eine Angelegenheit der Sprache, sondern bestimmen und formulieren unser Leben und Handeln. 3 Begegnung der Kulturen im Text Wenn zwei verschiedene Konzepte aus einem Paradigma in einer Metapher „aufeinander treffen“, interagieren sie miteinander. Wenn zwei verschiedene Konzepte aus einem Paradigma aber aus zwei verschiedenen kulturellen Kontexten in einer Metapher interagieren, geht es in einem gewissen Sinne um einen interkulturellen Dialog, um die Begegnung von zwei Kulturen im Text. So kann das Konzept RASPUTIN, das auf die russische Kultur der vergangenen Zeiten und einen anderen geopolitischen Raum verweist, z.B. das Konzept eines amerikanischen oder deutschen Politikers erklären. Es entsteht ein metaphorisches Konzept POLITIKER als RASPUTIN, wo das Konzept eines Politikers mit Hilfe des konzeptualisierten Präzedenznamens Rasputin erfasst wird. In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung, wird z.B. Fujimoris ehemaliger Ge- Katarína Motyková/ Nina Cingerová 178 heimdienstchef Vladimiro Montesinos, der durch seine schmutzigen Praktiken bekannt wurde, als „‚Rasputin‘ Montesinos“ bezeichnet. In einem anderen Artikel aus derselben Zeitung wird der Intimus des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon, Kim Won Soo, als „ein ruchloser Rasputin und ‚heimlicher UN-Chef in der Kulisse‘“ bezeichnet. Es ist bemerkenswert, dass im Deutschen das Konzept RASPUTIN als das angemessenste gewählt wurde und es wurde kein einheimischer Präzedenzname bevorzugt. In den letzteren Beispielen wird aber nicht nur die manipulative Seite sondern auch das andere Gesicht Rasputins, das des Magiers, dargestellt, obwohl nicht akzentuiert. Die Züge dieses Gesichts, die in dem politischen Diskurs nur teilweise beleuchtet werden, können in anderen Diskursen als dominant hervortreten. Das Gesicht eines Gauklers, eines göttlichen Irren wartet bis es wieder sichtbar wird wie z.B. auf der Website www.rasputin.de, wo Rasputin als der „freie Geist“ dargestellt wird. 4 Kulturbedingter Kampf der Konzepte? Kulturspezifische Konzepte können eine andere Bedeutung in der jeweiligen Zielkultur annehmen. Das Konzept GORBATSCHOW ist ein gutes Beispiel dafür. Der erste und letzte Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow steht im Westen vor allem für das friedliche Ende des Kalten Krieges, in Deutschland für den Einsatz bei der Wiedervereinigung. Interessant ist, dass er nicht nur anhand der Selektion von Eigenschaften und politischen Schritten „angeeignet“ wird, sondern auch mit der Hilfe von Form. Der sowjetische Gorbačev wird zum deutschen Gorbi (vgl. Ossi, Wessi, Trabi, Honni). Im Russland steht Gorbatschow dagegen für den Zerfall der Sowjetunion und die Krise. Es wird aber auch ein anderes Bild von Gorbatschow reflektiert. Gorbi wird er immer dann genannt, wenn das „idealisierte“ westliche Bild des Politikers ironisiert wird. Denn Gorbatschow, so Jerofejew (2011: 36), spielte auf der europäischen Seite des Spielfelds. Die unten aufgeführten Beispiele zeigen die unterschiedlichen Konzeptualisierungen vom Präzedenznamen GORBATSCHOW, der in der Metapher die Funktion des Zielbereiches erfüllt. Gorbatschow wird im deutschen Diskurs als der Reform- und Hoffnungsträger, im russischen aber als der Zerstörer, konzeptualisiert. Im zweiten Schritt wird uns für die Zwecke der Diskursanalyse interessieren, wie dieses Konzept in der Funktion eines metaphorischen Konzeptes, angewendet wurde. GORBATSCHOW wird im russischen medialen Diskurs wie folgt konzeptualisiert: Präzedenznamen im Kontext der Interkulturalität 179 − GORBATSCHOW als ZERSTÖRER Die Wochenzeitschrift Zavtra, die für ihre Kritik der postsowjetischen Ordnung bekannt ist, betitelt den ersten ukrainischen Präsident Leonid Kravtschuk, der für die Ukraine den Vertrag über die Auflösung von Sowjetunion unterschrieben hat, als ukrainischer Gorbatschow (Zavtra, 9.3.2003). − GORBATSCHOW als SPINNER In einem weiteren Artikel wird Nikolaj Charitonow (der komunistische Kandidat in den Präsidentwahlen 2004) als der agrare Gorbatschow bezeichnet. Gerade in Bezug darauf, dass er „mit seinem Geschwätz die Agrarfrage verdreht hat“ (Zavtra, 17.6.2003). − GORBATSCHOW als NAIVER REFORMATOR Diese Sichtweise ist dabei nicht nur in den nationalistisch orientierten russischen Periodika vertreten ist. So wird beispielweise der amerikanische Präsident Barack Obama wird von der liberalen Wochenzeitschrift Profil’ als ein naiver Reformator dargestellt, in dem ihn der Artikel als den amerikanischen Gorbatschow bezeichnet (Profil’, 10.11.2008). Ganz unterschiedlich wird GORBATSCHOW indem deutschen Diskurs konzeptualisiert: − GORBATSCHOW als HOFFNUNGSTRÄGER „Die Stimmung in der DDR ist so schlecht wie nie in der 40-jährigen Geschichte des Staates. Die SED-Führung, vom Volk durch ein riesiges Polizeiaufgebot geschützt, aber feierte, als sei nichts geschehen. Michail Gorbatschow, der sowjetische Hoffnungsträger, spielte mit: Die DDR sei schon imstande, ihre Probleme zu lösen.“ (Der Spiegel, 41/ 1989) − GORBATSCHOW als REFORMANREGER „Bei seiner Visite zu den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR will der damalige Sowjetführer Michail Gorbatschow nach eigener Darstellung den legendären Satz ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‘ gesagt haben. Er habe damit den DDR-Oberen den Ernst der Lage klarmachen wollen, schreibt der damals als ‚Gorbi‘ gefeierte Sowjetreformer in seinen Erinnerungen“. (Der Spiegel, 32/ 2006) „Der Reformer Gorbatschow gibt den Ungarn und den Polen freie Hand für eine Demokratisierung des Systems, während er zu Hause auf die Bremse treten muss“. (Der Spiegel, 44/ 2009) Ähnliche Beispiele fanden wir auch in der Süddeutschen Zeitung. In einer Debatte zwischen Egon Bahr und Stefan Heym wird die Frage gestellt, wer der (ost-)deutsche Gorbatschow sei, der die neue Entwicklung anstoßen könnte (Süddeutsche Zeitung, 28.8.1989). Katarína Motyková/ Nina Cingerová 180 − GORBATSCHOW als GHOSTBUSTER Als Ghostbuster kämpft Gorbatschow gegen Phantome des Stalinismus in einer Rezension auf die Premiere des Perestroika-Spektakels ‚Moscow Gold‘ in London (Der Spiegel, 40/ 1990). Einerseits werden also dem Konzept GORBATSCHOW durch die einzelnen metaphorischen Äußerungen negative Eigenschaften zugeschrieben - die Metaphern aus dem russischen Kontext. Andererseits wird ein positives Filter verwendet - im Falle des Kontextes im deutschsprachigen Raum, wo Gorbatschow als der Widerschall des Rufes „Gorbi, Gorbi! “, mit dem Gorbatschow und seine Frau in der Bundesrepublik im Jahre 1989 vom deutschen Volk empfangen wurden, konzeptualisiert wird. Aus dem Beispiel des metaphorischen Konzeptes GORBATSCHOW ergibt sich, dass es sich zwar um die Aktualisierung desselben Präzedenznamens handelt, zwar in einem anderen Kontext, aber überhaupt nicht um das gleiche Konzept. Gorbatschow kann daher „auf Russisch“ als ein anderer Gorbatschow wie z.B. der „deutsche“ in den analysierten Texten auftreten. Gorbatschow wird in beiden Kontexten als ein Reformator konzeptualisiert. Die „westliche“ Presse aber lobt Gorbatschow, bewundert ihn und macht aus diesem Politiker ein Idol. Die russische Presse verurteilt ihn dagegen, macht ihm Vorwürfe. Ein Präzedenzphänomen kann eine lange Reise zu kulturspezifisch-metaphorischen Konzept durchmachen und sogar ein metonymischer Ausdruck für ein anderes Präzedenzphänomen werden, wie z.B. die Anspielung auf die christliche Parole Urbi et Orbi, die in ein Urbi et Gorbi sprachspielerisch umgewandelt wurde (Der Spiegel, 47/ 1997). Urbi et Gorbi steht hier für das Gipfeltreffen des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan in Washington (Der Spiegel, 51/ 1987). Im Bezug auf das oben erwähnte Präzedenzerreignis wird Michail Gorbatschow als ein „Säulenheilger politischer Moral“ (Der Spiegel, 47/ 1997) und als ein „Friedensfürst“ bezeichnet (Der Spiegel, 51/ 1987). Ein ähnliches Beispiel ist Michail Gorbatschows Äußerung „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, die Gorbatschow an Erich Honecker in Ost-Berlin am 7. Oktober 1989 adressierte (Der Spiegel, 32/ 1999). Sie wurde als „der umgekehrte Gorbi“ 10 Jahre später in einem Presseartikel auf folgende Weise aktualisiert: „Beim Silvester-Geschäft gilt der umgekehrte Gorbi. Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben. Die allzu früh entfachte Millenniumsbegeisterung mobilisierte viele, die später Angst vor der eigenen Courage bekamen.“ (Der Spiegel, 49/ 1999). Wenn man in Betracht zieht, dass es sich bei oben erwähnten Beispielen für konzeptuellen Metaphern um konstruierte Metaphern mit einer klaren persuasiven Absicht handelt, die nicht der Kategorie der Alltagsmetaphern angehören und als „wahre“ Metaphern identifiziert und dekodiert werden, muss man un- Präzedenznamen im Kontext der Interkulturalität 181 weigerlich in diesem Zusammenhang auch auf die potenzielle Anwendung des Instrumentariums im Rahmen der Diskursanalyse hinweisen. 5 Präzedenzphänomen im Rahmen der Diskursanalyse Das Präzedenzphänomen findet unserer Überzeugung nach einen selbstverständlichen Platz im Instrumentarium der kritischen D i s k u r s a n a l y s e . Die Rekonstruktion des Diskurses und das Begreifen des Diskurses ist unmöglich ohne die Anlehnung an die bereits bekannten Texte und Diskurssituationen, die seine Entstehung begleitet haben. Um so mehr tritt dieses Problem indem Zusammenhang mit dem medialen Diskurs auf, der nicht nur offensichtlich, sondern auch maskiert persuasiv ist. Ohne adäquate Beherrschung von Präzedenzphänomenen ist die Bewältigung der kulturellen Profilierung des jeweiligen Textes und somit die Arbeit mit diesem Text schwierig, die Konnotationen können missverstanden werden. Die Diskursanalyse kann ohne die adäquate Beherrschung des „Kulturkodes“ unvollständig sein. Zum Beispiel entpuppt sich die Allusion auf Gorbatschow in dem feinanalytischen Teil der Analyse nach Siegfried Jäger (2006, zit. nach Keller 2007: 33), d.h. in der Mikroanalyse und in der Analyse inhaltlich-ideologischer Aussagen und beeinflusst damit den interpretativen Teil, wo es um eine Art Defragmentierung der Diskursfragmente geht, um die Botschaft des Textes und die Intention richtig verstehen zu können. Fairclough und Wodak behaupten: „Diskurse sind nicht nur in eine bestimmte Kultur, Ideologie oder Vergangenheit eingebettet, sondern auch intertextuell mit anderen Diskursen verbunden“ (zit. nach Keller 2007: 29). Eine Analyse der oben erwähnten metaphorischen Beispiele überschreitet die Mikro- und Makrostruktur des Diskursfragmentes und wir bewegen uns auf der Ebene der Hyperstruktur. Bei der Diskursanalyse ist es wichtig den Blickwinkel zu erweitern. Wenn z.B. GORBATSCHOW als KRANKHEIT, MORBUS konzeptualisiert wird, besteht die Aufgabe des Analytikers auch darin, festzustellen, wer an dieser Krankheit leidet. Die Anwendung der Theorie der konzeptuellen Metapher im Rahmen der Diskursanalyse sähe dann folgendermaßen aus: Wenn die Strukturmetapher GORBI als KRANKHEIT, MORBUS, vorkommt, ist das vor allem in solchen metaphorischen Äußerungen, in denen diese Strukturmetapher mit einer anderen konzeptuellen Metapher interagiert. Die DDR wurde auf diese Weise „von Westen her mit dem Morbus Gorbi“ infiziert (Der Spiegel, 37/ 1987), die DKP soll an diesem Gorbatschow-Bazillus (Der Spiegel, 50/ 1988), an der Diagnose: Morbus Gorbi (Der Spiegel, 23/ 1989) gelitten haben. Katarína Motyková/ Nina Cingerová 182 Dieses Phänomen wuchs in eine Gorbi-Mania (Der Spiegel, 24/ 1989) oder Gorbi-Manie (Der Spiegel, 41/ 1993, 46/ 2004, Spiegel Online, 18.11.2009) über, und nicht nur die Deutschen, sondern die ganze Welt war von dieser Manie besessen, sogar die USA litten an einer Gorbomania (Der Spiegel, 25/ 1989). Es bestand die Frage, ob die Deutschen über Gorbi ihren Verstand verlieren können (Der Spiegel, 25/ 1989). Gorbatschow wurde im Text zu einem Kreml-Superstar (Der Spiegel, 24/ 1989), was auch die formalen Merkmale einer Superstar-Huldigung wie Anstecknadeln mit der Aufschrift „I like Gorbi“ und die so genannten Gorbi-Buttons (Der Spiegel, 46/ 1987) beweisen, genauso wie die Benennung Gorbi-Fan (Der Spiegel, 2/ 1988, Der Spiegel, 42/ 1999). Gorbatschow rief Emotionen wie eine Gorbi-Sympathiewelle (Der Spiegel, 25/ 1989) und Gorbi-Euphorie (Der Spiegel, 1/ 2006) hervor. Diese Emotionen hätten einen unerwünschten Effekt auf Soldaten der Bundeswehr in Form eines Gorbi-Effekts (Der Spiegel, 20/ 1989) ausüben können. Die Metaphern kann man anhand der folgenden Tabelle veranschaulichen: die DKP (als PATIENT und ÜBERTRÄGER) leidet an GORBI (als eine KRANKHEIT) die DDR (als PATIENT) leidet an GORBI (als eine KRANKHEIT) Die Deutschen, das ehemalige Westdeutschland (als DIE BESESSENEN) sind besessen von GORBI (als eine MANIE) 6 Schlussfolgerung Die von uns beschriebenen metaphorischen Konzepte und Metaphern sind kulturspezifisch. Sie sind zwar Präzedenznamen, die mit einem bestimmten Kulturraum in Verbindung stehen und in ihm tief verankert sind, sie können aber als verschiedene Konzepte in verschiedenen Kulturen funktionieren. Die Präzedenznamen werden aus der ursprünglichen Kultur herausgelöst, um in der Zielkultur als andere Konzepte in die Metaphern eingebettet werden zu können. Die konzeptuelle Metapher kann, wie wir am Beispiel GORBATSCHOW gesehen haben, das Terrain für weitere Metaphorisierung bereiten. Obwohl sie stets die Referenz zu Präzedenznamen behält, hat sie dennoch nichts mit dem russischen Konzept zu tun. Der politische und mediale Diskurs ist offen und schöpft gerne und häufig aus anderen Diskursen, das zeigt sich nicht nur an verschiedenen Diskursthemen, sondern auch daran, dass er sich auf spezifische Diskurse anderer Kulturen beziehen kann und somit kulturüberschreitend agiert. Die Präzedenznamen als Konzepte werden von der Zielkultur neu formuliert. Der Präze- Präzedenznamen im Kontext der Interkulturalität 183 denzname, oder ein Präzedenzphänomen überhaupt, kann auf diese Weise eine in der Sprache materialisierte Überbrückung von zwei Kulturen bilden. Deshalb gehört die Problematik der Präzedenzphänomene und ihre Konzeptualisierung in jeweiligen Kulturen, unseres Erachtens, zum Objekt der Forschung innerhalb der Interkulturellen Linguistik. 7 Literatur Földes, Csaba (2009): Black Box ‚Interkulturalität‘. Die Unbekannte Bekannte (nicht nur) für Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache. Rückblick, Kontexte und Ausblick. In: Wirkendes Wort 59. S. 503-525. Gudkov, Dmitrij (2003): Precedentnye fenomeny v tekstach političeskogo diskursa. In: Jazyk SMI kak objekt meždisciplinarnogo issledovanija. Otv. redaktor M.N. Volodina, Moskva. http: / / evartist.narod.ru/ text12/ 09.htm (Stand: 31.5.2010). Hausstein, Alexandra (2005): Kulturalisierung der Sprachvermittlung - Erfolge und Grenzen. Vortrag auf dem XIII. IDT 2005 in Graz. Im Internet unter http: / / www.idt- 2005.at/ downloads/ Resolutionen/ C1_Bericht_Hausstein.ppt (Stand: 27.10.2007). Jäger, Siegfried (2006): Diskurs und Wissen. In: Keller, Reiner/ Hirseland, Andreas/ Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bans 1: Theorien und Methoden. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden. S. 83-114. Jerofejev, Viktor (2011): Encyklopédia ruskej duše. 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Denn auch wenn Begriffe wie F r e i h e i t , D e m o k r a t i e und S i c h e r h e i t überall in Europa gebräuchlich sind, so haben diese Ausdrücke doch je nach Landessprache verschiedene Bedeutungsbestandteile. Mit Hilfe von historisch-linguistischen, soziologischen, philosophischen und anthropologischen Analysen verschiedener begrifflicher Konzepte können die vorhandenen inhaltlichen Übereinstimmungen und Abweichungen ermittelt und im Zusammenhang mit den politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen dargestellt werden. 1.1 In diesem Beitrag wird ein neues Forschungskonzept der historischen Linguistik vorgestellt. Dieses verbindet theoretische und methodische Ansätze der Historisch-Vergleichenden und Allgemeinen Sprachwissenschaft mit den Erkenntnissen aus Philosophie und Soziologie. 1 Den Forschungsgegenstand bilden die Normen- und Wertbegriffe im europäischen Kontext. Die Frage, ob wir „wertebegrifflich gesehen in Europa die- __________ 1 Dieses Konzept wurde im Rahmen des interdisziplinären Projekts „Normen- und Wertbegriffe in der Verständigung zwischen Ost- und Westeuropa“ erprobt. Das Projekt wurde 2007-2010 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Martin- Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt und von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen der Initiative „Einheit in der Vielfalt: Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas“ gefördert. Natalia Mull 186 selbe Sprache sprechen“, 2 steht im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Behandelt werden zentrale Wertbegriffe (wie z.B. ‚Demokratie‘, ‚Arbeit‘, ‚Recht‘ usw.) in ausgewählten Sprachen Ost- und Westeuropas, indem sie vergleichend dargestellt werden. Das Ziel dieses interdisziplinären und interkulturell orientierten Forschungskonzepts besteht somit darin, mögliche semantische und pragmatische Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Sprachgebrauch bestimmter Wertbegriffe in verschiedenen Sprachen und Gesellschaften aufzudecken und zu beschreiben. 2 Forschungskonzept Für ein genaues Verständnis der Normen- und Wertbegriffe ist eine Begriffsbestimmung notwendig. Diese besteht einerseits aus einer Analyse von Bedeutung und Wortgeschichte, andererseits aus einer Untersuchung der Begriffsgeschichte. Weiterhin ist die Relevanz und Bedeutung des jeweiligen Begriffs in gesellschaftlichen Diskursen wichtig. 2 . 1 S p r a c h w i s s e n s c h a f t l i c h werden die im Rahmen dieses Konzepts analysierten Begriffe synchron und diachron beschrieben. Dabei bilden die Normen- und Wertbegriffe im Deutschen die Grundlage für die Untersuchung. Die synchrone Wortanalyse besteht aus einer semasiologischen, einer onomasiologischen sowie einer syntagmatischen und kontextuellen Untersuchung. 2.1.1 Bei der s e m a s i o l o g i s c h e n Analyse wird anhand der Einträge in verschiedenen Wörterbüchern ein Komplex von prototypischen semantischen Merkmalen beschrieben, die die interne Wortstruktur bilden. Um dieses Konzept zu vervollständigen, werden weiterhin die aus dem Sprachgebrauch ermittelbaren Stereotype, die im Gegensatz zu den Prototypen das Ergebnis einer Assoziation darstellen, in die Analyse mit einbezogen. So bezeichnet das Wort Demokratie wörtlich die Volksherrschaft, ein Regierungssystem, in dem die vom Volk gewählten Vertreter die Herrschaft ausüben. Damit verbunden ist die Bedeutung als politisches Prinzip, nach dem das Volk durch freie Wahlen an der Macht im Staat teilnimmt. Weiterhin wird Demokratie zur Bezeichnung der Staaten verwendet, denen dieses Regierungssystem zugrunde liegt. Auch das Prinzip der freien und gleichberechtigten Mitbestimmung und Willensbildung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen gehört zur Semantik von Demokratie. 3 __________ 2 Vgl. die Projekthomepage: http: / / www.indogermanistik.uni-jena.de/ NW/ (Stand 29. 8.2011). 3 Vgl. Duden (2000): Eintrag ‚Demokratie‘. Interkulturelle Aspekte in der historisch-vergleichenden Sprachforschung 187 Ausgehend von diesen Definitionen lassen sich folgende prototypische semantische Komponenten feststellen: Demokratie beschreibt eine Herrschaftsform bzw. ein Regierungssystem und ist somit mit dem Begriff S t a a t l i c h k e i t verbunden. Freie Wahlen, die eng mit den Begriffen F r e ih e it und G l e i c h h e i t zusammenhängen, stellen im gegenwärtigen Sprachgebrauch ein wichtiges Merkmal dieser gesellschaftlichen Form dar. Demokratie als Bezeichnung eines Staates setzt t e r r i t o r i a l e u n d p o l i t i s c h e S o u v e r ä n i t ä t voraus und ist mit der n a t i o n a l e n u n d i n t e r n a t i o n a l e n A n e r k e n n u n g verbunden. Zu den wichtigsten Aufgaben eines demokratischen Staates gehören g e r e c h t e s H a n d e l n , F r i e d e n und S i c h e r h e i t . Weiterhin zählen T o l e r a n z und G l e i c h b e r e c h t i g u n g zu prototypischen Eigenschaften dieses Begriffs. Im Unterschied zum Demokratiebegriff, dessen gesellschaftliche Wertstellung schon an der Prototypikalität feststellbar ist, kann bei der semasiologischen Analyse von Sicherheit ihr gesellschaftlicher Wert erst aus dem Sprachgebrauch und aus den vorhandenen Stereotypen ermittelt werden. Allgemein bezeichnet Sicherheit einen Zustand des Sicherseins, Geschütztseins vor Gefahr oder Schaden bzw. höchstmögliches Freisein von Gefährdungen. Die zweite Bedeutung beschreibt Sicherheit als Gewissheit, Bestimmtheit. Weiterhin bezeichnet Sicherheit das Freisein von Fehlern und Irrtümern, die Zuverlässigkeit. Mit diesem Begriff werden außerdem die Gewandtheit, das Selbstbewusstsein und das sichere Auftreten verbunden. Im wirtschaftlichen Sinne sorgen hinterlegtes Geld, Wertpapiere als Bürgschaft für Sicherheit. 4 Zu den prototypischen Eigenschaften von Sicherheit gehören laut dieser Definition einerseits G e f a h r l o s i g k e i t und S c h u t z , andererseits K o r r e k t h e i t und Z u v e r l ä s s i g k e i t . Weitere prototypische Merkmale, die die gesellschaftliche Wertstellung dieses Wortes demonstrieren, werden im Sprachgebrauch klar. So wird Sicherheit am häufigsten mit F r i e d e n , F r e i h e i t und G e r e c h t i g k e i t verbunden, zum Beispiel in folgender Aussage aus einem Interview mit Wolfgang Schäuble über den Datenschutz: „Letztlich geht es immer um die Abwägung zwischen F r e i h e i t 5 und S i c h e r h e i t […]“ 6 So schreibt Karl Popper: „Wir müssen für F r i e d e n sorgen und nicht nur für die S i c h e r h e it, einzig aus dem Grund, weil nur der Frieden Sicherheit sicher machen kann[…].“ 7 Im folgenden Beispiel geht es um ein Ste- __________ 4 Vgl. Duden (2000): Eintrag ‚Sicherheit‘. 5 Hier und in folgenden Zitaten erfolgen Hervorhebungen und Übersetzung durch die Autorin. 6 Aus dem Interview mit taz am 8.2.2007. Vgl. http: / / www.taz.de/ 1/ archiv/ archiv/ ? dig=2007/ 02/ 08/ a0169 (Stand 29.8.2011). 7 Zit. nach www.zitate-online.de/ stichworte/ sorgen-machen (Stand 29.8.2011). Natalia Mull 188 reotyp von Sicherheit: „Wir werden uns genau diesen Anspruch auf Innovation und Gerechtigkeit, auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und s o z i a l e S i c h e r h e i t jetzt neu erarbeiten müssen.“ (Vgl. Spiegel 46/ 2009, S. 30) Neben der sozialen und kollektiven, inneren und äußeren oder Staats- und Rechtssicherheit findet man auch einige Stereotype, die weniger mit dem gesellschaftlichen Wert dieses Begriffs zu tun haben, wie z.B. passive und aktive Sicherheit, was sich auf den technischen Zustand eines Fahrzeugs bezieht. Die i n t e r n e Wortanalyse ergibt somit eine Auflistung prototypischer Eigenschaften, die die Entwicklung zum Wertbegriff motivieren. Mit Hilfe von Stereotypen wird sowohl der entsprechende Kontext als auch das Wortfeld ermittelt. Diese werden im zweiten Schritt im Rahmen der onomasiologischen Untersuchung beschrieben. 2.1.2 O n o m a s i o l o g i s c h gesehen werden die Begriffe in ein wortfeldartiges System gebracht, in dem die auftretenden Verkettungen und Verbindungen, wie z.B. Kollokationen und verschiedene Konnotationen erfasst werden. Auch hier spielen Assoziationen oft eine wichtige Rolle. Von Interesse sind insbesondere charakteristische Nominalphrasen, im weiteren Sinne auch Komposita und Sprichwörter. Zum Beispiel gelten für Demokratie Komposita wie Bildungs-, Kirchen- und Freizeitdemokratie, man vergleiche hier z.B. den Aufruf „B i l d u n g s d e m o k r a t i e statt Schuldiktatur! “. (Vgl. Spiegel 46/ 2009, S. 143) In seiner Wertstellung kommt der Begriff Sicherheit in den Zusammensetzungen Sicherheitsdienst, Sicherheitslage oder Sicherheitstruppe vor, so z.B. in einem Bericht über die aktuelle Situation in Afghanistan: „Der Westen setzte eine neue Regierung ein, installierte zu ihrem Schutz die Internationale S i c h e r h e i t s t r u p p e Isaf, stattete sie mit einem Uno-Mandat aus und schickte Aufbauhelfer ins Land[…]“ und weiter: „[…]diese Streitmacht konnte nicht verhindern, dass sich die S i c h e r h e i t s l a g e längst wieder dramatisch verschlechtert hat[…]“. (Vgl. Spiegel 4/ 2010, S. 81) 2.3 Einer der wichtigsten Punkte ist die d i a c h r o n e Untersuchung der Wortgeschichte von Normen- und Wertbegriffen in Bezug auf ihre Herkunft und ihren Bedeutungs- und Gebrauchswandel. Da dieser Wandel oft mit den geistes- und kulturgeschichtlichen, historisch-politischen, verkehrsgeographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zusammenhängt, werden neben der lexikalisch-morphologischen und etymologischen Wortanalyse auch die philosophische Begriffsgeschichte und Ergebnisse soziologischer Korpus-Untersuchungen zusätzlich zum sprachwissenschaftlichen Teil herangezogen. Etymologisch gesehen geht das Wort Demokratie auf das griechische Kompositum δημοκρατ ί α ‚Demokratie, Volksherrschaft‘ (Vgl. Menge-Güthling 1913: 165, I) zurück. Bei diesem Kompositum handelt es sich um eine Zusammensetzung aus dem Substantiv dēmos (δη ) μος ‚Volk‘) und dem Verb krateo (κρατεĩν ‚herrschen‘). Der Ursprung dieses Wortes wird mit Athen verbunden, wo im 5. Interkulturelle Aspekte in der historisch-vergleichenden Sprachforschung 189 Jh. v. Chr. die mit diesem Begriff bezeichnete Staatsordnung entstanden ist. Ins Deutsche wurde das Wort im frühen 16. Jahrhundert über das Lateinische democratia in seiner ursprünglichen Bedeutung ‚Herrschaft des Volkes, der Vielen, der Mehrheit, der Volksversammlung‘ entlehnt. (Vgl. DFW 1999: 246) Die ersten Belege stammen aus dem Wörterbuch von Dasypodius 1536: „Democratia, Herschung des gemeynen volcks“ (Zitiert nach DFW 1999: 252, I) und aus Luthers Tischreden 1539: „Politicus magistratus habet multas species: Monarchie, alsda ist regnum Galliae, Angliae, […], Aristocratia est magistratus civilis, ut Germaniae; democratia, ubi plures regunt, als in Schweitzen und Dytmars“. 8 Auch das Wort Sicherheit hat eine lateinische Grundlage. Doch während Demokratie heute noch als Fremdwort gilt, verbindet man das Abstraktum Sicherheit in erster Linie mit dem deutschen Adjektiv sicher. Dieses im Deutschen seit dem 9. Jahrhundert belegte Adjektiv führt Kluge (2002: 846, I) auf das lateinische sēcurus ‚sorglos, unbesorgt, unbekümmert, furchtlos‘ bzw. ‚sicher, gefahrlos, geschützt‘ als Attribut von locus, tempus, domus zurück. (Vgl. Pons 1999: 939, I) Sicherheit stellt somit eine Ableitung von sicher mit dem ererbten germanischen Suffix -heit dar und kann als eine Lehnbildung betrachtet werden, die unter dem Einfluss vom lateinischen Abstraktum securitas ‚Sicherheit, Sorglosigkeit‘ (vgl. ebd.) entstanden ist. Etymologisch gesehen gehören die Wörter dieses Bedeutungsfeldes nicht zum indogermanischen Grundwortschatz, sondern haben sich erst später gebildet. Sowohl sēcurus, das eine Zusammensetzung aus sē ‚ohne‘ und cura ‚Sorge, Pflege‘ ist, als auch das Abstraktum securitas sind erst seit Cicero und Lukrez belegt. (Vgl. Grundbegriffe 1984: 832) Erst später bekamen diese Wörter ihre Wertstellung in der philosophischen, politischen und juristischen Sprache, die dann - oft zusammen mit dem Wort - in andere Sprachen Europas übernommen wurde. Aus diesen sprachgeschichtlichen Beobachtungen folgt, dass es sich bei den europäischen Wertbegriffen oft um Wörter handelt, die erst im Laufe der Entstehung und Entwicklung des modernen Staates entstanden sind und deren Semantik an die gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst wurde, wie im Fall von Demokratie und Sicherheit. Andererseits finden sich unter den Begriffen auch Wörter, die auf indogermanische Wurzeln zurückgehen und damit mit den ‚archaischen‘, ‚vorstaatlichen‘ Inhalten eng verbunden sind. Dazu gehören beispielsweise Freiheit und Frieden, die bereits in Verbindung mit der Semantik von Demokratie und Sicherheit erwähnt wurden. __________ 8 Vgl. Martin Luther: Tischreden. In: WA TR (1916), Bd. 4, 4342 (7. Febr. 1539). Natalia Mull 190 3 Begriffsgeschichtlicher und soziologischer Aspekt 3.1 Parallel zur sprachwissenschaftlichen Analyse bezieht sich die s o z i o lo g i s c h e Untersuchung auf die Frage, wie der kommunikative Gebrauch von Begriffen den sozialen Wert beeinflusst. Außerdem wird untersucht, ob und wie die beschriebene Sprachverwendung von Normen- und Wertbegriffen in Bezug auf unterschiedliche soziale Gruppen variiert. Diskurs- und Inhaltsanalysen von öffentlichen Textquellen aus Ost- und Westeuropa zeigen hierbei, „welche Unterschiede bei der Verwendung und Interpretation von Wertbegriffen innerhalb und zwischen europäischen Kulturen bestehen, wie sich die verschiedenen Wertdiskurse im Zeitverlauf gewandelt haben und welchen Einfluss soziale Akteure und Kontexte auf die Verschiebung von Begriffsbedeutungen nehmen können.“ 9 3.2 Der p h i l o s o p h i s c h e Beitrag besteht in einer begriffshistorischen Darstellung des Bedeutungswandels. In methodischer Hinsicht wird bei der Bearbeitung dieses Teils besonders großer Wert auf die Extension der einzelnen Begriffe sowie auf die systematische Funktion gelegt, die diese in den verschiedenen Ansätzen besitzen. Als Textgrundlage gilt das einschlägige Literaturkorpus von der Antike bis zur Gegenwart. Dabei werden für die Zeit vor der Herausbildung der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin und ihrer Abgrenzung von anderen Disziplinen auch Texte theologischen, historischen und poetischen Charakters herangezogen. 10 Besonders bei der Frage nach dem Bedeutungsbzw. Konzeptwandel müssen die Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen, soziologischen und begriffshistorischen Analyse im Zusammenhang betrachtet werden. Das Zusammenfügen dieser unterschiedlichen Aspekte ermöglicht für jeden Begriff eine ausführliche und vielseitige Beschreibung seiner historischen Entwicklung. 3.3 Im alten Rom bezeichnete das Wort Sicherheit einen glücklichen seelischen Zustand, der mit dem Freisein von Sorgen und Gefahren verbunden war, und hatte somit eine philosophisch-psychologische Bedeutung. (Vgl. Grundbegriffe 1984: 832) Erst im 1. Jh. n. Chr. wurde securitas zum politischen Begriff, der den dauerhaften Frieden - Pax Romana - ausdrückte. Damit war __________ 9 Vgl. Internetseite des Projekts unter „Normen- und Wertbegriffe aus soziologischer Perspektive“: http: / / www.indogermanistik.uni-jena.de/ NW/ meth_2.html (Stand 29.8.2011). 10 Vgl. Internetseite des Projekts unter „Begriffshistorische Darstellung des Bedeutungswandels“: http: / / www.indogermanistik.uni-jena.de/ NW/ meth_3.html (Stand 29.8.2011). Interkulturelle Aspekte in der historisch-vergleichenden Sprachforschung 191 vor allem die öffentliche Ruhe und politische Ordnung gemeint. (Mehr dazu in Grundbegriffe 1984: 832-834) Aus der Kaiserzeit stammt die Verwendung von securitas im Sinne der finanziellen ‚Schuldsicherung‘, ‚Quittung‘, ‚Bürgschaft‘. (Vgl. Grundbegriffe 1984: 832) Diese zivilrechtliche Variante des Begriffes Sicherheit erhielt sich mit dem Römischen Recht und gehört inhaltlich auch heute noch zur Semantik von ‚Sicherheit‘. Im Mittelalter wurde der Gebrauch von Sicherheit zur Bezeichnung von Frieden auf den Bereich der Kirche übertragen, indem dieses Wort neben den Begriffen Pax Romana und Pax Christiana auftrat. In diesem Zusammenhang entstand die Formel pax et securitas, die dann in dieser Form auf das restliche Europa überging. (Ausführlich dazu in Grundbegriffe 1984: 834-836) Im Laufe der Zeit gewann der Sicherheitsbegriff im rechtlichen Bereich eine universale Bedeutung. Die individuelle physische und wirtschaftliche Sicherheit lag allen Schutzverträgen des Mittelalters zugrunde. Im Hoch- und Spätmittelalter gebrauchte man diesen Begriff speziell zur Bezeichnung des Schutzes der Reise- und Handelswege, welcher durch die zuständigen Landesherren in der Regel vertraglich garantiert wurde. Orts-, Straßen- und Marktsicherungen wurden oft ausdrücklich mit securitas bezeichnet. So zum Beispiel der Marktfrieden von Locarno (1164): ‚pacem firmam et securitatem […] firmiter indicimus‘ [wir sichern den dauerhaften Frieden und die Sicherheit feststehend zu]. (Vgl. Grundbegriffe 1984: 835) Die sprachliche und rechtliche Verbindung von F rie d e n und S i c h e r h e it führte dazu, dass in der Neuzeit die Sicherheit zu einem politischen Begriff wurde. Im Gegensatz zum Mittelalter ist die Herstellung und Gewährleistung von Sicherheit nunmehr eine politische Aufgabe, ja sogar die naturrechtlich fundierte Pflicht des Staates. Aus der Zeit der Industrialisierung stammt die Idee der Arbeits- und Lebensversicherung, während die Formel soziale Sicherheit erst 1934/ 35 als s o c i al s e c u rit y durch Franklin Roosevelt eingeführt wurde: „These three great objectives - the security of the home, the security of the livelihood, and the security of the social insurance - are, it seems to me, a minimum of the promise that we can offer to the American people […]“, heißt es in seiner Rede vom 8. Juni 1934. 11 Im 20. Jahrhundert erlebt der Begriff Sicherheit weitere semantische Veränderungen. Aufgrund der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges entsteht die Idee von der kollektiven Sicherheit, die seit 1919 in vielen internationalen __________ 11 Vgl. Franklin D. Roosevelt: Rede vom 8.6.1934. In: The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt. Ed. Samuel I. Rosenman. Bd. 3. S. 291f. Natalia Mull 192 Dokumenten auftaucht und in die Verfassung der Vereinten Nationen aufgenommen wurde. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wird dieser Begriff immer häufiger im Kontext des ‚Kampfes gegen den Terrorismus‘ verwendet. Die politischen und die gesellschaftlichen Umbrüche in der späten Neuzeit und Moderne haben die Wertstellung von Sicherheit stark beeinflusst. In Russland und anderen sozialistischen Staaten wurde die Idee von Rechtsstaat und Rechtssicherheit dem Begriff der sozialistischen Gesetzlichkeit untergeordnet. Der Sicherheitsbegriff wurde in Bezug auf die Absicherung des Staates gegen gefährliche Personen und Ideen verwendet. Aus dieser Zeit stammt der Gebrauch des Wortes Sicherheit als Kurzbezeichnung für den Staatssicherheitsdienst in der DDR. 12 3.2 Die Geschichte des Demokratiebegriffes im europäischen Raum unterscheidet sich von der Entwicklung des Sicherheitsbegriffes dadurch, dass das Wort Demokratie von Anfang an mit der Staatlichkeit verbunden war. Die Änderungen, die man im semantischen Inhalt dieses Wortes feststellen kann, waren deshalb in erster Linie von der Entwicklung des Staats- und des Rechtswesens abhängig. So genossen im alten Griechenland nur die ‚ f r e i e n B ü r g e r ‘ 13 Freiheit und Gleichheit als Vorteile der Demokratie. In modernen demokratischen Verfassungen werden Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit a ll e n unabhängig von der Herkunft und dem Geschlecht zugesichert. 14 Mit der Entwicklung der Nationalstaaten und unter dem Einfluss der Französischen Revolution wird der Demokratiebegriff auf moderne Verhältnisse übertragen und immer häufiger allgemein gebraucht. Er wird mit dem materiellen Wohlstand der Bürger, der Volkssouveränität und den Menschenrechten positiv assoziiert. Gleichzeitig dringt dieser Begriff in die Bereiche Sozial- und Kulturkritik ein. 15 Politische und gesellschaftliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts werden besonders in der Verwendung von Stereotypen sichtbar. Im Laufe des Kalten Krieges entstand das Stereotyp westliche Demokratie als Bezeichnung der Staaten Westeuropas und Nordamerikas im Gegensatz zu osteuropäischen Regierungssystemen, die sich zwar als Demokratien bezeichneten, oft jedoch von Diktatur und Totalitarismus geprägt waren. So findet man 1950 in der National- Zeitung (Basel): „Jugoslawien ist eine ‚Volksdemokratie’, und keine Macht wird __________ 12 Vgl. auch Duden (2000): Eintrag ‚Sicherheit‘, unter 6. 13 Dieser Begriff bezog sich auf einen kleinen Teil der Einwohner. Sklaven, Frauen und Fremde verfügten über keine politischen Rechte in Athen. 14 Vgl. z.B. Grundgesetz Deutschlands: GG 13,2 [Gleichheit vor dem Gesetz; Gleichberechtigung von Männern und Frauen; Diskriminierungsverbote]. 15 Man vgl. dazu die Einträge in den Wörterbüchern im 19. und 20. Jh., wie z.B. Brockhaus (1840: 372). Für Sprachbeispiele vgl. DFW (1999: 252ff.). Interkulturelle Aspekte in der historisch-vergleichenden Sprachforschung 193 aus ihr eine parlamentarische D e m o k r a t i e i m w e s t l i c h e n S i n n e machen[…]“. (Vgl. DFW 1999: 256) Aktuell findet man den Ausdruck westliche Demokratie(n) im Kontext des ‚Kampfes gegen den Terrorismus‘. So schreibt der Spiegel 2009 über die Diskussion um das so genannte Targeting-Verfahren, dass die zur Berechtigung solcher Einsätze gebrachten Erklärungen „verdecken, dass die Waffe, die so erfolgreich gegen den transnationalen Terrorismus einzusetzen ist, in fast allen w e s t l i c h e n D e m o k r a t i e n umstritten ist.“ (Vgl. Spiegel 49/ 2009, S. 31) Als neu kann das Stereotyp US-Demokratie charakterisiert werden. Im folgenden Beleg aus dem Spiegel wird über ein Interview mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad referiert. Als dieser auf Demokratie und Menschenrechte angesprochen wurde, „redete er schon nach 30 Sekunden über Unzulänglichkeiten der U S -D e m o k r a t i e : Iran sei demokratischer, weil dort mehr Präsidentenkandidaten zur Wahl stünden.“ (Vgl. Spiegel 46/ 2006: 152) 4 Wertbegriffe in verschiedenen Sprachen Europas Im Vergleich der Ergebnisse für das Deutsche mit ähnlichen Untersuchungen für andere Sprachen in Ost- und Westeuropa können die Unterschiede in der semantischen und pragmatischen Auffassung entsprechender Begriffe in der jeweiligen Sprache ermittelt und beschrieben werden. 4.1 So ist im Russischen das Lehnwort Demokratie und seine Derivate erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bekannt. (Vgl. Yudin 2009: 57) Am Anfang wurde diese Wortfamilie nur selten zur Bezeichnung der entsprechenden Herrschaftsform verwendet. Vielmehr stand dieser Begriff unter dem Einfluss der mit der Französischen Revolution verbundenen Ereignisse. Demokratisch war alles, was nicht-aristokratisch war und sich gegen den Adel wandte. Schon in dieser Zeit bekam der Begriff seine negative Konnotation, indem er für die Beschreibung von Eigenschaften und der Lebensweise niedriger sozialer Gruppen stand. (Vgl. ebd. 58f.) Erst mit dem Aufkommen des nordamerikanischen Staatsmodells verbindet man Demokratie im Russischen positiv mit einer Form der Staatsordnung. Mit dem Marxismus wurde Ende des 19. - Anfang des 20. Jahrhunderts die bis dahin pejorative Konnotation dieses Wortes bezüglich der einfachen Volksmassen positiv umgedeutet. Die Definition der Demokratie in russischen Wörterbüchern im 20. Jahrhundert unterscheidet sich wenig von den Bedeutungserklärungen dieser Zeit in anderen europäischen Ländern. Der Begriff bezieht sich auf eine Form der Staatsordnung, in der die Herrschaft des Volkes, sein Recht auf Mitbestimmung sowie ein großes Spektrum an Freiheiten anerkannt wird. (Für Beispiele vgl. ebd. 60ff. mit Literatur) Natalia Mull 194 Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts assoziiert man den Demokratiebegriff im Russischen in negativen Kontexten mit der Korruption und dem Untergang traditioneller gesellschaftlicher Werte. In diesem Sinne tritt diese Bezeichnung oft als Gegenbegriff zum Patriotismus auf. (Vgl. ebd. 66) Eine Besonderheit des russischen Sprachgebrauchs stellt die äußerst negative Verwendung dieses Begriffes im orthodox-christlichen Kontext dar. Die Enzyklopädie Heilige Rus’. Große Enzyklopädie des russischen Volkes. Russische Staatlichkeit schreibt 2002, dass Demokratie „eine antichristliche Lehre über die Volksherrschaft“ sei, deren Ideen auf Unwahrheiten basieren: „Selbst die Definition ist eine Lüge! Dieses Wort wird ins Russische als „Herrschaft des Volkes“ oder „Volksherrschaft“ übersetzt, aber in keinem der Staaten, die als demokratisch bezeichnet werden, regiert tatsächlich das Volk.“ Die Macht sei immer in den Händen einer kleinen Schicht, „deren Handwerk Politik ist und deren Beruf ein gewaltsamer und gnadenloser Kampf für diese Macht ist[…].“ (Zit. nach Yudin 2009: 65) Allgemein wird Demokratie in Russland in erster Linie als Absicherung der rechtlichen und sozialen Gleichheit gesehen. Im politischen Sinn sind Wahlen in einem Mehrparteiensystem sowie politische Rechte und Freiheiten für das Demokratiekonzept unentbehrlich. Eine wichtige Rolle spielen dabei das Prinzip der Gewaltenteilung sowie die Souveränität auf lokaler und regionaler Ebene. (Vgl. Petrosjan/ Swinzow 2004: 7) Zu den politisch-wirtschaftlichen Merkmalen der Demokratie zählen in Russland das Recht auf Privateigentum und das Recht, ein Unternehmen zu betreiben. Nur wenig Gewicht wird dem Mehrheitsprinzip und der Gleichstellung von Minderheiten gegeben. Dieser geringe Stellenwert der Beziehung zwischen Mehrheit und Minderheit ist möglicherweise der russischen Geschichte und Tradition geschuldet. 4.2 Im Rumänischen verteilt sich der semantische Inhalt von Sicherheit auf zwei Lexeme: securitate und siguranţă. Beide bezeichnen im Rumänischen allgemein den ‚Zustand des Sicherseins, Geschütztseins vor Gefahr oder Schaden; höchstmögliches Freisein von Gefährdungen‘ bzw. den ‚Zustand der Gefahrlosigkeit‘. (Vgl. Lăzărescu 2009: 231) In dieser allgemeinen Bedeutung sind beide Lexeme in einigen Kontexten austauschbar. In fachsprachlichen Kontexten gibt es jedoch Abgrenzungen. In politischdiplomatischen, wirtschaftlichen und historischen Texten kommt securitate vor, während die Verwendung von siguranţă dort unzulässig ist. Siguranţă begegnet zumeist in Alltagssituationen, wenn es um Selbstsicherheit oder um die Sicherheit des Arbeitsplatzes geht. (Vgl. ebd. 232) Eine Besonderheit der Begriffsgeschichte von Sicherheit im Rumänischen stellt die Verwendung beider Wörter zur Bezeichnung von Staatssicherheitsdiensten dar. Siguranza (siguranţă) galt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr- Interkulturelle Aspekte in der historisch-vergleichenden Sprachforschung 195 hunderts als Name für die Sicherheitspolizei Rumäniens, die besonders in der Zwischenkriegszeit für ihre Verfolgungsmethoden berüchtigt und gefürchtet war. 16 Die Securitate bezeichnete in der Nachkriegszeit den Staatssicherheitsdienst, dessen Tätigkeiten und Aufgaben mit denen der Staatssicherheit in der DDR vergleichbar waren. Aufgrund dieser politischen Prägung waren beide Bezeichnungen negativ konnotiert. Diese negative Konnotation nahm allmählich ab, nachdem die entsprechenden Institutionen aufgelöst waren. Heute wird securitate häufig im Kontext der k o ll e kti v e n S i c h e r h e it und der gemeinsamen Aktionen gegen den Terrorismus gebraucht. (Vgl. Lăzărescu 2009: 234) 5 Zusammenfassung Betrachtet man die erzielten Ergebnisse im Zusammenhang, können bezüglich der Wertbegriffe neben den inhaltlichen Unterschieden auch einige Parallelen und Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Während die Unterschiede größtenteils in einen Zusammenhang mit den innerstaatlichen gesellschaftlichen Ereignissen und Umbrüchen gebracht werden können, gehen die Übereinstimmungen häufig auf eine gemeineuropäische oder interstaatliche politische und wirtschaftliche Situation zurück. Außerdem setzen diese Gemeinsamkeiten oft die ‚archaischen‘ Ideen fort, welche als kulturelles Erbe bezeichnet werden. Der Begriff D e m o kr a ti e kann in allen Sprachen Europas sowohl sprachals auch begriffsgeschichtlich auf sein griechisch-römisches Konzept zurückgeführt werden. Seine ursprüngliche Bedeutung als Bezeichnung der Volksherrschaft blieb bis in die frühe Neuzeit unverändert. Erst seit der Französischen Revolution und der Entstehung der nordamerikanischen Staaten wurde die Semantik dieses Wortes erweitert. Die wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung führten dazu, dass die Verwendung dieses Begriffes auf verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens übertragen wurde. Aufgrund der geschichtlichen Entwicklungen einzelner Staaten im 20. Jahrhundert weichen einige prototypische Merkmale des Demokratiebegriffes in europäischen Sprachen voneinander ab. Ähnliche Ergebnisse gewinnt man für den S i c h e r h e it sbegriff. Als gemeinsam europäisch kann die hinter diesem Begriff stehende ursprüngliche Semantik betrachtet werden, die ähnlich wie bei Demokratie auf der griechischrömischen Antike basiert. Die einzelsprachlichen Bezeichnungen finden jedoch meist ihren etymologischen Anschluss innerhalb der jeweiligen Sprache. Im __________ 16 Eine kurze Zusammenfassung über beide Sicherheitsdienste Rumäniens findet man in Lăzărescu (2009: 232ff.). Natalia Mull 196 Unterschied zur Demokratie bezieht sich die Sicherheit inhaltlich nicht nur auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten, sondern hat auch eine psychologischphilosophische Bedeutung. Die Begriffsgeschichte von Sicherheit lässt sich in Grundzügen mit der Entwicklung des europäischen Nationalstaates verbinden. Basierend auf der Formel pax et securitas, die aus dem römischen Reich übernommen wurde, entwickelte sich Sicherheit im Laufe der Jahrhunderte zu einem Begriff, der sich neben dem Frieden auf die Bürgerrechte, Freiheit und Gleichheit bezieht und zu den wichtigsten Aufgaben eines Staates gehört. Im 20. Jahrhundert wurde der Inhalt dieses Begriffes je nach Staat und politischer Situation oft manipuliert, was in einigen Sprachen und Kontexten zu negativen Konnotationen führte. Die sprachgeschichtlichen, soziologischen und philosophischen Untersuchungen der Normen- und Wertbegriffe spielen im Rahmen der interkulturellen Kommunikation eine wichtige Rolle, da sie sowohl die übereinstimmenden als auch die voneinander abweichenden inner- und außersprachlichen Komponenten im Zusammenhang beschreiben und ihrer Herkunft zuordnen. Es ist leichter einander zu verstehen, wenn einem die Konzepte, die hinter den sprachlichen Ausdrücken des anderen stehen, in ihrer gesamten Komplexität vertraut sind. 6 Literatur Brockhaus (1840): Conversations-Lexikon oder kurzgefasstes Handwörterbuch. Bd. 3. Leipzig. Duden (2000): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden. (CD-ROM- Version). Mannheim DFW (1999) = Deutsches Fremdwörterbuch. Bd.4. Berlin/ New York. Grundbegriffe = Brunner, Otto/ Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart (Hrsg.) (1984): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart. Kluge (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24. Aufl. Berlin/ New York. Lăzărescu, Ioan (2009): Die Begriffe securitate und siguranţă im rumänischen Wortschatz. Eine Untersuchung ihres Bedeutungsfeldes und des von ihnen erfahrenen Bedeutungswandels. In: Bartmiński, Jerzy/ Lühr, Rosemarie (Hrsg.): Europa und seine Werte. Frankfurt am Main u.a. S.227-236. 17 __________ 17 Dieser Sammelband erschien neben zwei anderen im Rahmen des vorgestellten Projekts. Diese sind: Bock, Bettina/ Lühr, Rosemarie (Hrsg.) (2007): Normen- und Wertbegriffe in der Verständigung zwischen Ost- und Westeuropa. Frankfurt am Main u.a. sowie Bock, Bettina/ Lăzărescu, Ioan/ Lühr, Rosemarie (Hrsg.) (2010): Interkulturelle Aspekte in der historisch-vergleichenden Sprachforschung 197 Menge, Hermann/ Güthling, Otto (1913): Griechisch-deutsches und deutsch-griechisches Handwörterbuch. Teil I: Griechisch-deutsch. Berlin. Petrosjan, D.I./ Swinzow, I.W (2004): Russische Demokratie - ein Gegenwartsbild. Werte und Institutionen der Demokratie im Bewusstsein der Russen. (Version: http: / / www.fesmos.ru/ Publikat/ 011_Demokratiewerte_2006/ Demokratiewerte_dt.pdf, Stand 29.8.2011). Pons (1999): Wörterbuch für Schule und Studium Lateinisch-Deutsch. Stuttgart/ Düsseldorf/ Leipzig. Yudin, Aleksey (2009): Ponjatie „demokratija“ v slovarjah russkogo jazyka XIX-XXI vekov. In: Bartmiński, Jerzy/ Lühr, Rosemarie (Hrsg.): Europa und seine Werte. Frankfurt am Main u.a. S. 57-67. __________ Wahrheit, Recht, Verantwortung. Normen- und Wertbegriffe im interkulturellen Kontext. Bukarest. Weitere Informationen zum Projekt unter: www.indogermanistik.uni-jena.de/ NW. Produktion und Rezeption nonverbaler Handlungen in interkulturellen Situationen Bernd Müller-Jacquier (Bayreuth) 1 Einführung Alle Aspekte nonverbaler Zeichen sind traditionell Gegenstand der Semiotik. Doch geht das neuere Selbstverständnis dieser Grundlagenwissenschaft weit über die klassischen Zeichenbestimmungen und -klassifikationen hinaus. Ihre Gegenstände wurden inzwischen nicht nur auf die paraverbalen „kommunikativen Signale“ (Selting 1993: 100) 1 erweitert, sondern beziehen sich inzwischen auf alle Formen schrift- und sprechsprachlicher Äußerungen und ihre Deutungspotenziale. Kellers Semiotik, die unten näher erläutert wird, kann man gar als Weiterentwicklung einer grundlegenden Kommunikationstheorie - vor allem der von Watzlawick et al. (1967) - verstehen (s.u.). Doch zeigt eine solche Universalwissenschaft auch Schwächen: Eine Grenze semiotischer Theorieentwicklung liegt darin, dass sie Aspekte der Emergenz von Bedeutung nicht erfasst und auf die „Betrachtung des Zusammenwirkens interaktiver Aktivitäten in Bezug auf ein Wort“ (Nothdurft 2002: 66) verzichtet. Nur Keller verficht strikt den Gedanken der Verwendung sprachlicher Einheiten als Interpretationsvorlage und wird damit für neuere semantische embodiment-Konzepte anschlussfähig. Deren handlungsbezogene Beschreibungen von Worteinheiten (oder hier Zeichen) lauten z.B. „[…] setzt es ein als […], […] dient ihm zu […], […] gewinnt den Status eines […], […] wird im Verlauf des Gesprächs zu […], […] klingt wie […], taucht zusammen auf mit […]“ (Notdurft 2002: 65). Solche Zugriffe illustrieren den Spannungsbogen von Zeichenbedeutungen zwischen dem semiotisch bereits Konventionalisierten und dem situativ als Interpretationsvorlage Geschaffenen, „Aufgerufenen“ (Hausendorf 2002: 102) in Form interaktiver Bedeutungskonstitutionen. Dieser letzte Aspekt ist für den Forschungsbereich Interkulturelle Kommunikation konstitutiv (s.u.). Doch weder in der Semiotik noch in der interkulturellen Kommunikation ist die Vorstellung, die Rekonstruktion der Bedeutung eines sprachli- __________ 1 Im Einzelnen führt sie auf (1993: 38): Stimmqualität und Lautstärke, Bandbreite und Verlauf von Tonhöhen, Artikulationsspannung, Sprechgeschwindigkeit, -rhythmus, Pausen oder paralinguistische Aktivitäten wie z.B. Nase putzen, räuspern. Bernd Müller-Jacquier 200 chen Zeichens 2 bzw. eines piece of talk sei ein Prozessprodukt interaktiver Bedeutungskonstitution, eine allgemein akzeptierte Arbeitsgrundlage. Auf den ersten Blick lässt die Vielzahl (populär-)wissenschaftlicher Beiträge über die Bedeutung geheimer „Körpersignale“ (u.a. Jolly 2002, Morris 2002, Grammer 2004, Zerbst et al. 2006) eine intensive Erforschung des Gebrauchs und der Interpretation von Zeichen in der interkulturellen Kommunikation erwarten. Doch basieren viele Darstellungen auf unreflektierten, universalistischen Beschreibungen, die zudem in großem Umfang als nicht an fremdkulturelle Leser angepasste Übersetzungen vorliegen (vgl. u.a. Axtell 1994). Welche Wirkungen von unterschiedlichen Zeichenkonventionen ausgehen, und wie sie sich auf Interaktionsprozesse auswirken, ist kaum erforscht. Auch in diesem Beitrag geht es nicht um das Nachzeichnen solcher Aushandlungsprozesse von (Zeichen-)Bedeutungen, sondern um einen ersten, auch didaktisch motivierten Ansatz, unterschiedliche Typen von Zeichen zu bestimmen, die auf Seiten der Zeichen-Produzenten und -Rezipienten zu unterschiedlichen Interpretationen ihrer Verwendung führen. Es geht also um den Versuch, bereits im Stadium der Intentionalität, also bei den Grundannahmen von Zeichenhaftigkeit auf Probleme zu verweisen, die in interkulturellen Situationen zu Verstehensproblemen (Deppermann 2010: 9-10) führen können, und zwar weitgehend ungeachtet der bereits breit dokumentierten Möglichkeiten, dass und wie Interpretationen konventionalisierter Zeichen nicht übereinstimmen. Generell gehe ich davon aus, dass genaue Bestimmungen dessen, was Kopartizipanten in interkulturellen Situationen zum Ausdruck bringen und was lokal als Interpretationsressource genutzt wird, die forschungsmethodischen Voraussetzungen für weitere kulturwissenschaftliche Interpretationen interkulturellen Handelns darstellen. Problem dieser Position ist, dass Instanzen wie die Lexikologie oder das angekündigte Handbuch der Gesten, 3 die als „Auskunftsgeber“ dessen herangezogen werden, was von Kopartizipanten in Realsituationen angezeigt wird, nur unzuverlässige Auskünfte geben können. Wie unten erläutert wird, kann man von außen, also durch Betrachtung von Äußerungsformen, keine tragfähigen Aussagen über ihre Bedeutungen ableiten. Wie in der Gesprächsforschung üblich, konzentriert man sich als Forscher eher auf die Rezeption von produzierten Zeichen und versucht, aus der Analyse von Re- __________ 2 Hier verweise ich auf Kellers Unterscheidung (1995: 130f.) zwischen „Sinn“ (als Zweck, Intention einer Äußerung) und „Bedeutung“ (als konventionelle Ausdrucksform); sie kann an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden. 3 Vgl. Posner (1986). Nonverbale Handlungen in interkulturellen Situationen 201 Aktionen und entsprechend über Prozesse der Interpretation von Zeichen auf ihre Bedeutung zu schließen. Aber auch hier - und dies ist ein wesentlicher Aspekt dieses Beitrags - ist oft genug möglich, dass Intendiertes nicht als Zeichen-Interpretationsvorlage bemerkt oder angesehen wird oder dass Nicht-Intendiertes zur Bedeutungskonstruktion verwendet wird, ohne dass sich die unfreiwilligen Zeichenproduzenten den bewirkten Interpretationsprozessen bewusst werden. Der Versuch, eine entsprechende Typologie zu erstellen, ist auch der Grund dafür, dass hier keine authentischen Daten zur Differenzierung der Zeichentypen herangezogen werden. Wichtig erscheint in diesem Forschungsstadium, dass der Bereich der Analyse interkultureller Kommunikation um einen Aspekt bereichert wird, der sich mit grundlegenden Bestimmungsmöglichkeiten von Zeichenhaftigkeit beschäftigt. 4 2 Interkulturelle Kommunikation und Zeichenprozesse: eine Skizze Interkulturelle Kommunikation wird hier als interpersonaler Kommunikationsprozess verstanden, in den zwei oder mehrere Sprecher(innen) verschiedene konventionalisierte Systeme der Zeichenproduktion und -interpretation einbringen. Diese werden aus Forscherperspektive als prinzipiell gleichzeitig gültig angesehen. Sie unterliegen in der Interaktionspraxis latent oder auch offen ausgetragenen Aushandlungsprozessen. 5 Beide Aspekte, d.h. die unterschiedlichen Konventionen, an die Kopartizipanten anknüpfen, indem sie in vielfältiger Weise auf „bereits vorhandene gesellschaftliche Bedeutungskonstitutionen“ (Hausendorf 2002: 82) Bezug nehmen, und die unreflektierten oder perspektivisch relativierten Gültigkeitsansprüche bezüglich „gesetzter“ Konventionen bewirken spezifische Aushandlungsprozesse von Bedeutung, die sich an ver- __________ 4 Bezüglich dieses Ziels beziehe ich mich auf Teile einer Diplomarbeit von Allan Hjorth (1983), die in dänischer Sprache geschrieben wurde. Im Rahmen einer Magisterarbeit im Fach Interkulturelle Germanistik hat Markos Schinas (2006) weite Teile dieser Arbeit ins Deutsche übersetzt und sie damit deutschsprachigen Lesern zugänglich gemacht. Da ich die Übertragung von Schinas nicht überprüfen kann und er sich sehr eng an die Vorlage von Hjorth hält, gebe ich Hjorths Positionen in Form längerer Paraphrasierungen und Zitate aus Schinas Dokumentation wieder und möchte sie so in ausführlicher Form einem breiten Adressatenkreis zugänglich machen. 5 Im Unterschied zu monokulturellen Situationen geraten dabei grundsätzliche Faktoren interpersonaler Interaktion ins Blickfeld (vgl. u.a. Birkner 2002). Bernd Müller-Jacquier 202 schiedenen sprachlichen Merkmalen rekonstruieren lassen (vgl. u.a. Birkner 2002). Im Verlauf dieser offen oder auch indirekt ausgetragenen Absicherungen und Verhandlungen bezüglich möglicher konventioneller Gültigkeit von verwendeten Zeichen entsteht das, was die interkulturelle Kommunikationsforschung als Spezifikum ausweist, nämlich der Aspekt der Wirkungen von als sprachlich und/ oder kulturell aufgefassten Unterschieden. In diesem Beitrag steht ein Bereich, nämlich die Interpretation nonverbaler Zeichen im Vordergrund der Betrachtung. Im Folgenden wird behauptet und illustriert, dass in interkulturellen Situationen nicht nur das von Sprecher(innen) Intendierte und Ausgedrückte analysiert werden muss, 6 sondern gleichberechtigt die Interpretation der dargebotenen Ausdrucksformen sowie die Reaktionen des Rezipienten. Als Grundlage für die eingeforderten semiotischen Interpretationen von Zeichen in interkulturellen Situationen verweise ich auf den Theorieansatz von R. Keller, der fragt, wie Ko-Interagierende aus Dingen, die sie sinnlich wahrnehmen, interpretierende Schlüsse ziehen (1995: 12). Analog führt er Zeichenbedeutungen auf drei grundlegende Zeichen-Interpretationstypen zurück: 1. Symptome: Die Zeichenhaftigkeit von Symptomen entsteht nach Keller ausschließlich durch Interpretierende, die ein X durch kausale bzw. Teil-Ganzes-Schlüsse zum Zeichen machen. Denn Symptome werden sprecherseits nicht als Zeichen verwendet. Ihnen fehlt die Intentionalität. Wenn Keller darauf verweist, es sei „prinzipiell offen, wofür ein Symptom Symptom ist“ (1995: 113), kann man in interkulturellen Situationen nicht voraussehen, welche Eindrücke von Beteiligten als Symptom aufgefasst und wie sie dann interpretiert werden. So kann „bleiche, nicht gebräunte Haut im Sommer“ entweder nicht beachtet (s.u. Kategorie 4), oder als Symptom für ‚KopfarbeiterIn‘, ‚kränklich‘ oder ‚nordischer Typ‘ etc. interpretiert werden; oder es wird als intentional geschaffenes, symbolifiziertes Zeichen (Keller 1995: 167f.) für ‚Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum‘ (z.B. in China) gedeutet. Oder: „fremd- __________ 6 In der Literatur zur interkulturellen Kommunikation finden sich eine Reihe weiterer Klassifikationen nonverbaler Zeichen. So unterscheidet beispielsweise Kühn die mimische, gestische, körperliche haptische, auditive, olfaktorische, chronemische, proxemische und die Objekt-Dimension (2008: 53f.) und illustriert die einzelnen Typen und ihre Funktionen vergleichend mit Bezug auf interkulturelle Situationen. Dabei bezieht sie den oben geforderten Aspekt möglicher Wechselwirkungen ein, erläutert jedoch nicht, wie der Gebrauch nonverbaler Zeichen in interkulturellen Situationen unterschiedlich interpretiert werden kann bezüglich verschiedener Einordnungen der Zeichen selbst. Nonverbale Handlungen in interkulturellen Situationen 203 sprachlicher Akzent“ kann als Symptom für ‚Nichtmuttersprachlichkeit‘, ‚Nichtzugehörigkeit‘ oder ‚Begriffsstutzigkeit‘ etc. angesehen werden. Akzente können von Muttersprachensprechern auch vorgetäuscht werden, beispielsweise um eine Herkunftskategorisierung bezüglich einer bestimmten Fremdkultur zu provozieren. In dem Fall sind sie aber ikonisch zu deuten (Müller-Jacquier 2008). 2. Ikone: Nach Keller werden Ikone verwendet, um bei Adressaten bestimmte Assoziationen zu erzeugen: ihre „Bedeutung ist die wie auch immer geartete Ähnlichkeit (lautlich, graphisch, gestisch, direkt/ indirekt, stark/ schwach), die die Assoziation zu dem Gemeinten hervorruft. Dafür bedarf es u.U. einer ganzen Assoziationskette […]“ (1995: 124f., 160f.). Nicht die Ähnlichkeit selbst führt zum intendierten Interpretationsgegenstand, sondern bewusst angestoßene Assoziationen. Dieser nicht beliebige, doch interpretationsoffene Charakter von Ikonen führt in interkulturellen Situationen zu einer weitaus größeren Deutungsvielfalt als im monokulturellen. 7 3. Symbole: Sie sind - im Gegensatz zur gängigen Beratungsliteratur zum nonverbalen Handeln - nach Keller die am wenigsten komplizierten Zeichen, da sie auf Konventionen beruhen und durch Regeln ihres Gebrauchs interpretierbar werden: „Zu wissen, was ein Symbol bedeutet, heißt wissen, zur Realisierung welcher Intentionen es unter welchen Bedingungen verwendbar ist.“ (Keller 1995: 128f., 165f.) Unkenntnis der Regeln führt zu Schwierigkeiten, Symbole zu deuten. Nimmt man andere als die vorausgesetzten Konventionen an (s.u.), so deutet man Interpretationsvorlagen einfach (nur) falsch. Durch Analysen interkultureller Kommunikationsprozesse kann man dokumentieren, welche Deutungen fremdkulturelle Rezipienten vornehmen und versuchen zu rekonstruieren, ob sie mit den angenommenen Sprecher-Intentionen übereinstimmen. 8 Oder man kann erläutern, wie Zeichen aus den ge- __________ 7 Die Bezeichnung „monokulturell“ gilt als Oppositionsbegriff zu „interkulturell“ und behauptet keine widerspruchsfreie kulturelle Einheitlichkeit (vgl. Müller-Jacquier 2004). 8 Dieses analytische Konzept steht im Gegensatz zu vielen alltagsweltlichen und auch wissenschaftlichen - vor allem psychologisch begründeten - Positionen, die Zeichen als Vehikel zum Transport (vor-)gegebener Bedeutungen auffassen und das Problem interkultureller Kommunikation lediglich darin sehen, dass ihre Bedeutungen von Bernd Müller-Jacquier 204 nannten drei Typisierungen als ein anderer Typ aufgefasst werden, als sie intendiert waren (vgl. dazu Müller-Jacquier 2008). An dieser Stelle soll die Klassifizierung Kellers zur Reinterpretation der unten dargelegten Gliederung von Zeichendeutungen (Hjorth 1983) genutzt werden. Dadurch möchte ich zeigen, dass in interkulturellen Situationen bereits bei der Annahme von Zeichenhaftigkeit und bei semiotischen Grundkategorisierungen Prozesse ablaufen, die Verstehensprobleme beeinflussen. 3 Hjorths Zeichen-Klassifikation Der dänische Kommunikationswissenschaftler Allan Hjorth (1983) ist einer der ersten, die nonverbale Zeichen unter der Bedingung von Interkulturalität systematisch zu erfassen suchten. Sein Verdienst liegt darin, über gängige Vergleiche konventionalisierter Zeichen (in der Literatur vor allem als Embleme tituliert) hinauszugehen und die Interpretationsleistungen fremdkultureller Partizipanten auf verschiedenen Ebenen zu betrachten. In einer umfassenden Aufarbeitung der damaligen Literatur ordnet er die berichteten Fehlinterpretationen nonverbaler Zeichen in sechs Typen von Zeicheninterpretationen. Als Unterscheidungskriterien bestimmt er Faktoren der Intentionalität bei der Rezeption und Produktion von Zeichen. Da seine Systematisierung heute noch richtungsweisend ist, werden die identifizierten Problemkategorien im Folgenden skizziert. Dazu wähle ich nicht die von Hjorth ursprünglich eingeführte Reihenfolge, sondern beginne mit den offensichtlichen Interpretationsproblemen bezüglich angenommener Zeichen-Konventionen und schließe mit dem, was Hjorth das „unbewusste Empfangen“ nennt. Seine Beispiele kürze ich und verweise dort, wo einschlägige Studien vorliegen, auf aktuellere Publikationen, als sie Hjorth vorlagen. Seine strukturalistisch geprägten Zugriffe kommentiere ich anschließend mit Bezug auf Kellers semiotische Schlussprozesse (1995: 132f.), die ergänzende Typisierungen erlauben. __________ den Kopartizipanten durch Rekurs auf unterschiedliche, „kulturspezifische“ Konventionen bestimmt werden. Nonverbale Handlungen in interkulturellen Situationen 205 Z E I C H E N i n i n t e r k u l t u r e l l e n S i t u a t i o n e n Rezipient aus Kultur C 2 interpretiert Zeichen als intentional hervorgebracht … interpretiert Zeichen als nicht-intentional hervorgebracht … empfängt Zeichen unbewusst … Produzent aus Kultur C 1 bringt Zeichen intentional hervor … KATEGORIE 1 KATEGORIE 2 KATEGORIE 3 bringt Zeichen nicht intentional hervor … KATEGORIE 4 KATEGORIE 5 KATEGORIE 6 Abb. Hjorths Zeichen-Typisierung (1983: 179) bezüglich ihrer Produktion/ Rezeption Kategorie 1: P C1 : bringt Zeichen intentional hervor R C2 : nimmt Zeichen wahr, interpretiert es als intentional hervorgebracht In dieser Kategorie stellt Hjorth Versionen einer Geste oder Bewegung heraus, die in einer anderen Sprach- und Kulturgemeinschaft 9 aufgrund unterschiedlicher körpersprachlicher Konventionen aufgefasst und entsprechend unterschiedlich gedeutet werden. Dies geschieht laut Hjorth aufgrund geringer morphologischer Unterschiede zwischen den Modi der Ausführung der entsprechenden Gesten bzw. Bewegungen. Beispielsweise könne beim V-Zeichen zum Anzeigen der Zahl zwei die Ausführung (aufgerichteter Zeige- und Mittelfinger, Handrücken nach vorne oder nach hinten gewendet) bedeutungsunterscheidend wirken: Richte man in England den Handrücken nach vorne aus, führe man eine Beleidigung mit sexuellen Konnotationen aus. In Griechenland hingegen gelte es als Beleidigung, wenn man den Handrücken nach __________ 9 Diesen Begriff ziehe ich Hjorths Terminus „Kultur“ vor, denn die Rekonstruktion von interkulturellem Missverstehen soll durch Bezüge auf den Zeichencharakter von Interaktion und nicht auf unterschiedliche Kulturalität erfolgen. Dass Kultur und Zeichen in einem Wechselverhältnis stehen, sei dadurch nicht infrage gestellt, doch soll die gewählte Terminologie die häufigen lokalen Kulturalisierungen unterschiedlicher Verwendungskonventionen von Zeichen (s. Müller-Jacquier 2004) eindämmen. Bernd Müller-Jacquier 206 hinten ausrichtet (in England kann man mit der gleichen Fingergeste auch auf victory hinweisen). In Deutschland, Dänemark oder Schweden seien die beiden Versionen der Ausführung nicht bedeutungsunterscheidend: als freie Varianten werden sie je nach Situation entweder als Siegeszeichen oder als Anzeige von zwei gebraucht. Ähnlich verhält es sich bei Kopfbewegungen, die als Zustimmung oder Verneinung konventionalisiert sind: Konsens wird in großen Teilen Europas mit aufwärts und abwärts gehenden Kopfbewegungen ausgedrückt. In diesen Sprach- und Kulturgemeinschaften nutze man laut Hjorth für ja/ nein den so genannten „Nicken/ schütteln“-Code. Dabei ist es unerheblich, ob ein Nicken mit einer aufwärts gehenden oder einer abwärts gehenden Bewegung beginnt. Mitglieder derjenigen Sprach- und Kulturgemeinschaften Südeuropas und Kleinasiens, in denen ein „Neigen/ stoßen“-Code Anwendung findet, drücken jedoch gerade dadurch, dass sie mit einer aufwärts gehenden Kopfbewegung beginnen, eine Verneinung aus. Die Bewegungsrichtung des Kopfes schafft einen Unterschied in der Bedeutung. Bezüglich interkultureller Situationen verweist Hjorth darauf, dass sowohl von Gesten als auch von anderen Regungen kommunikative Versionen existieren, die in einer Sprach- und Kulturgemeinschaft als unterschiedliche Kineme und in einer anderen als Allokineme desselben Kinems aufgefasst werden. Laut Hjorth kommt es jedoch weit häufiger vor, dass sich eine morphologisch einheitliche Geste, die keine Allokineme kennt, in einer anderen Sprach- und Kulturgemeinschaft semantisch unterscheidet. Diesen Fall klassifiziert er als Unterkategorie Gleiche Geste und unterschiedliche Bedeutung: ein Produzent P C1 sendet eine Botschaft M mittels eines nonverbalen Zeichens S und der fremdkulturelle Rezipient P C2 versteht - trotz seiner unverfälschten Wahrnehmung von S - nicht M sondern ‚M‘. Dies hänge nicht nur von der entsprechenden Zuordnung im kulturellen Code des Rezipienten ab, sondern auch davon, ob diese Interpretation im Kontext der Situation Sinn ergibt. Und dieser hänge wiederum von kognitiven und affektiven Faktoren ab, z.B. davon, ob die Geste für den Rezipienten einen in Hjorths Terminologie positiven, neutralen oder negativen Wert hat. In den Fällen ‚positiv‘ und ‚neutral‘ sei die Interpretation ‚M‘ am häufigsten. Im Folgenden führt Hjorth ein Beispiel für einen negativen Wert an, in dem eine Geste als Irrtum des Produzenten interpretiert wird: Ein in Südamerika tätiger europäischer Manager möchte vor der Eröffnung einer Produktmesse seine Mitarbeiter motivieren. Dabei betont er begeistert, dass alles perfekt verlaufen wird und unterstützt seine Worte mit der Ringgeste, die er mit beiden Händen ausführt. Daraufhin reagieren seine lokalen Mitarbeiter mit einem Grinsen, das im Laufe seiner Ausführungen immer deutlicher wird und das er sich nicht erklären kann (in Südamerika und in bestimmten Gebieten am Mittelmeer hat die Ringgeste eine sexuelle Konno- Nonverbale Handlungen in interkulturellen Situationen 207 tation mit Verweis auf eine Körperöffnung; in Westeuropa dagegen steht sie für ‚okay/ perfekt‘). Laut Hjorth wurde die angeführte Geste in der gegebenen Situation nicht als sexuelle Aufforderung oder Beleidigung interpretiert, sondern als nicht intendierte Anspielung und - nach Keller - als Symptom für die mangelhafte Sprachkenntnis des Zeichenproduzenten. Eine weitere Unterkategorie betrifft die Verwechslung von Gesten. Wenn der Produzent (P) aus Sprach- und Kulturgemeinschaft C1 eine Geste ausführt, die in C2 nicht existiert, ergeben sich verschiedene Möglichkeiten des Rezipientenverhaltens: - R C2 registriert nicht, dass P C1 eine Geste ausführt. - R C1 bemerkt, dass P C1 eine Geste ausführt, versteht jedoch ihre Bedeutung nicht und versucht, sie zu erraten. - R C2 meint, eine Geste zu sehen, die er kennt; nämlich eine, die der ausgeführten ähnelt, sich jedoch in Wirklichkeit sowohl morphologisch als auch semantisch von ihr unterscheidet. Diese letzte Möglichkeit bezeichnen Hjorth als Gestenverwechslung und illustriert sie am folgenden Beispiel: Bei bestimmten Gesten führen wir mit unserem Zeigefinger Schraubbewegungen aus (Fingerschrauben). Die Schläfenschraube ist eine Geste, die man in Dänemark benutzt, um ‚törichtes Verhalten‘ anzuzeigen, dass jemand töricht ist oder sich töricht verhält. In einigen Mittelmeergebieten ist hingegen die Wangenschraube mit den Bedeutungen ‚gut/ lecker‘ oder ‚sexy‘ gebräuchlich; eine Geste, die in Dänemark unbekannt ist. Ein Däne könnte durch eine perzeptuelle Approximation im Gestikulationsraum die Wangenschraube für die ihm bekannte Schläfenschraube halten. Ähnlich können westeuropäische Touristen z.B. das japanische Zeichen für „Komm her! “ als „Auf Wiedersehen! “ oder „Verschwinde! “ interpretieren. Es handelt sich jedoch nicht um die gleiche Geste, denn in der japanischen Geste bewegen sich die Finger nacheinander und nicht geschlossen. Probleme durch Gestenverwechslung entstehen also dadurch, dass die Intention des Produzenten deswegen missverstanden wird, weil dem Rezipienten nicht bewusst ist, dass approximierende Gesten nur selten bedeutungsgleich sind. Weiterhin verweist Hjorth auf das Phänomen des Codewechsels zur Unzeit. Diese Bezeichnung hängt damit zusammen, dass es häufig Verwirrung auslöst, wenn eine Person aus Sprach- und Kulturgemeinschaft C1 versucht, ein nonverbales Verhalten aus C2 zu imitieren (Collett 1983): Wenn ein weltoffener Japaner einen Ausländer trifft, der japanische Sitten mag, wird der Japaner vor dem Dilemma stehen, sich für den westlichen Gruß des Händeschüttelns zu entscheiden oder nicht (Morsbach 1973). Wer Elemente des fremdkulturellen nonverbalen Verhaltenssystems übernimmt, um etwa Solidarität zu bekunden, Bernd Müller-Jacquier 208 kann bei R C2 nicht nur wertgeschätzt werden, sondern auch eine Unsicherheit darüber schaffen, welches Codesystem er nun benutzt. Solche Übernahmen können auch als unerwünschter Anspruch auf Zugehörigkeit zur fremden Sprach- und Kulturgemeinschaft aufgefasst werden. Bezüglich der Mimik existiert eine Reihe von Gefühlsausdrücken, die in fast allen Sprach- und Kulturgemeinschaften wiedererkannt werden können. Ekman (vgl. die aktualisierte Darstellung in 1992) unterscheidet universelle Gefühlsausdrücke wie Freude, Überraschung, Trauer, Angst, Ekel, Ärger. Doch kann ein Auslöser mehr als ein Gefühl hervorrufen. Wenn z.B. Dänen erschrecken, können sie Hybride zwischen Angst und Überraschung ausdrücken. Und wenn sie über etwas verbittert sind, zeigen sie eine Mischung aus Ärger und Trauer. Es ist fraglich, ob Mitglieder afrikanischer oder asiatischer Sprach- und Kulturgemeinschaften diese Mischgefühle verstehen. Auf jeden Fall ist nach Hjorth die deskriptive Forschung zur Funktion der in dieser Unterkategorie erwähnten Prinzipien noch unbefriedigend. Letztendlich werden auch morphologisch und semantisch identische Gesten problematisch, die bloß in unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht werden: Sowohl in Südamerika als auch in Europa nutzt man eine waagerecht gestreckte, nach unten gewandte Handfläche, um eine ‚Höhe‘ anzuzeigen. In Südamerika darf jedoch damit nur die Größe von Tieren angegeben werden, nicht von Menschen. Resümierend warnt Hjorth davor, einzelne Zeichen und Körperausdrücke isoliert zu betrachten, da sie ihre Bedeutung erst im Kontext erlangen, in dem sie verwendet werden. Aus Kellers Sicht sind die genannten Probleme relativ leicht zu bewältigen, denn die entsprechenden Zeichen sind durch ihre Konventionalität für R C2 lernbar. Kategorie 2: P C1 : bringt Zeichen intentional hervor R C2 : Zeichen wird wahrgenommen, als nicht-intentional hervorgebracht interpretiert Hier führt Hjorth die Batonisierung als Form der Aspektblindheit ein: Ein intentional hervorgebrachtes Zeichen hat in der Produzentenkultur eine konventionalisierte Bedeutung. In der Rezipientenkultur besitzt es entweder keine festgelegte Bedeutung oder eine, die in Bezug zur aktuellen Situation keine kommunikative Funktion erkennen lässt. So werden z.B. Embleme (Gesten, mit präziser lexikalischer Bedeutung) als emphatische Gesten (Gesten zur Unterstützung der verbalen und paraverbalen Zeichen) interpretiert. Als Beispiel kann die sog. Ringgeste dienen, die in Nordfrankreich die Bedeutung ‚okay‘ hat, in Südfrankreich jedoch benutzt wird, um anzuzeigen, dass etwas nutzlos ist Nonverbale Handlungen in interkulturellen Situationen 209 (‚zero‘). Man stelle sich ein Gespräch über ‚Weinqualität‘ zwischen einem Nordfranzosen (NF) und einem Südfranzosen (SF) vor: NF will einen Wein herausheben, indem er seine Qualität verbal lobt und dabei die Ringgeste ausführt; SF wird die insgesamt übermittelte Botschaft verstehen, jedoch übersehen, dass zu ihrer Übermittlung auch eine Geste verwendet wurde. Er wird sie als ein möglicherweise unterstützendes Begleitphänomen auffassen, das ohne Intentionalität hervorgebracht wurde. Zur Interpretation eines Emblems als emphatische Geste erwähnt Hjorth mit Bezug auf Collett (1982: 89) drei Voraussetzungen, die u.a. die Möglichkeit erklären können, dass ein konventionalisiertes Handeln manchmal als emphatisch interpretiert wird: (1) Es muss ein bekanntes nonverbales Zeichen mit gleicher und allgemein anerkannter Bedeutung existieren (z.B. der erhobene Daumen für ‚okay‘), so dass R C2 kaum die Existenz eines weiteren gleichbedeutenden Zeichens ausschließt. (2) Die Geste muss in Zusammenhang mit verbaler oder auch paraverbaler Kommunikation gebraucht werden. Somit kann sie als Begleitphänomen interpretiert werden. (3) Die Geste muss morphologische Ähnlichkeiten mit emphatischen Gesten aufweisen. Ein weiteres Phänomen dieser Kategorie sind Gleichsetzungen von asymmetrischen Interaktionsmustern, d.h. den Gebrauch bestimmter interaktiver Muster, die soziale Status- und Rollen-Unterschiede ausdrücken. In interkulturellen Situationen gehen Interagierende oft von einer Symmetrie aus, die situational nicht angemessen ist. Zum Beispiel sei es in einigen afrikanischen Stämmen für bestimmte Mitglieder nicht erlaubt, den Häuptling beim Grüßen anzusehen (Collett 1983). Beim Mossi-Volk in Obervolta manifestiere sich ein Status- und Machtunterschied in einer hochgradig ausgefeilten Asymmetrie des Grußverhaltens. Ebenso in Japan: Diese stehe in Verbindung mit einer Verbeugung. Der japanische Kommunikationspartner wird versuchen, sich tiefer als der europäische zu verbeugen. Das angemessene Verbeugungsverhalten, das außer dem Beugungswinkel auch die Anzahl der Verbeugungswiederholungen einbezieht, setze eine hohe Vertrautheit mit dem kulturellen und sozialen Milieu Japans voraus, so z.B. die situative Frauenrolle (Barakat 1973: 772f.). Insgesamt gilt: R C2 löst durch seine nicht-intendierte Egalisierung interaktionaler Asymmetrie Verwirrung aus, weil gesellschaftliche Konventionen verletzt werden. Auch wenn P C1 dabei R C2 keine Intention unterstellt, kann eine solche Egalisierung charakter- oder kulturbezogene Attributionen auslösen. Als letztes Phänomen dieser Kategorie verweist Hjorth auf Attributionen aufgrund von ‚display-rules‘ für Gefühlsausdrücke. Bei solchen (Darbietungsregeln) handelt es sich um kulturspezifische Konventionen mit dem Ziel der Kontrolle von emotionalen Reaktionen (Ekman 1977: 62). Sie werden im Sozialisierungsprozess erworben und als Sympton für Gefühle gedeutet, obwohl sie auch konventionalisierte Erscheinungsformen aufweisen. Durch ‚display- Bernd Müller-Jacquier 210 rules‘ werden die ursprünglichen Gefühlsäußerungen kaschiert. Im Bereich der interkulturellen Kommunikation können daher größere Missverständnisse auftreten. Im alten Japan z.B. musste die Samurai-Ehefrau lächelnd die Nachricht vom Tod ihres Ehemanns aufnehmen, was R C2 aus Europa sicherlich verwirren würde. ‚Display-rules‘ existieren auch in unserem Zeitalter; ihre konventionelle, also symbolische Ausgestaltung kann in interkulturellen Situationen persönlichkeitsbezogene Attributionen fördern. Sofern Rezipienten aber für Kontextualisierungen (Auer 1986) sensibel sind, ist es für sie - auch wenn sie aus anderen Sprach- und Kulturgemeinschaften stammen - möglich, anhand von redebegleitenden Symptomen (z.B. beinahes Zerreißen eines Taschentuchs; vgl. Morsbach 1973: 270, oder Prüfung der Biegefestigkeit eines Stiftes) den intendierten Gefühlsausdruck herauszulesen. Kategorie 3: P C1 : bringt Zeichen intentional hervor R C2 : Zeichen wird unbewusst empfangen Die erste Untergliederung dieses Typus, die Tickisierung als Aspektblindheit, illustriert, dass intrakulturell einheitliche Bedeutungen eines Emblems keine Gewähr für seine kulturübergreifende kommunikative Verwendung bieten: Einige in Südeuropa gebräuchliche Gesten mit situativ eindeutiger Bedeutung werden z.B. von Nordeuropäern eher unbewusst als Ticks im Sinne von unwillkürlichen, redundanten Bewegungen durch nervöse Muskelzuckungen aufgefasst. Für dänische Touristen bleibt z.B. das Kopfschleudern des entgegenkommenden sizilianischen Autofahrers als Emblem für „Nicht weiterfahren! Hier geht es nicht weiter! “ meist unverstanden. Die kognitive Bewusstheit ist in Situationen, die von Aspektblindheit und Emblemblindheit geprägt sind, gering und kann daher die Einordnung zu einer Kategorie des unbewussten Empfangens rechtfertigen. Solange ein Emblem idiosynkratisch ausgeführt und nicht mit verbalen Elementen kombiniert wird, solange diese Geste für R C2 nicht als Emblem gilt und solange auch der Kontext nicht auf eine Konventionalisierung hinweist, kann das Emblem als Tick rezipiert werden. Entsprechend können Tickisierungsprobleme bei Mitgliedern von Sprach- und Kulturgemeinschaften mit beschränktem Emblemkontingent besonders relevant werden. Z.B. besteht eine in Kolumbien gebräuchliche Geste mit der Bedeutung ‚Dieb‘ aus einem leichten Kratzen der Wange mit der angewinkelten Hand (Saitz/ Cervenka 1972: 138). Trotz einer konventionell präzisen Bedeutung wird sie z.B. von Dänen als Resultat eines Juckreizes oder als Tick interpretiert. Nonverbale Handlungen in interkulturellen Situationen 211 Außer dem Gestikbereich fallen unter den Begriff der Aspektblindheit auch Bereiche wie die Körperstellung oder die Arten des Gehens, die von Johnson (1976) erläutert werden. In dieser Unterkategorie werden intentionale Körperzeichen kaum wahrgenommen, d.h. in kognitiver Hinsicht gering verarbeitet, und als idiosynkratische oder kulturspezifische Verhaltensmuster oder Ticks ohne konventionelle Bedeutung empfangen. In eine letzte Unterkategorie fasst Hjorth verkürzte, rudimentäre Versionen von Gesten zusammen. Anwendungsfälle für diese Varianten sind Situationen, in denen ein Zeichen durch P C1 entweder diskret oder auch kryptisch produziert wird: ein Stoßen des Kopfes nach oben und hinten, verbunden mit dem Hochziehen der Augenbrauen und einem Zungenschnalzen hat in einigen Sprach- und Kulturgemeinschaften die Bedeutung von ‚nein‘ (z.B. Griechenland, Türkei und vereinzelt Süditalien, s. Morris et al. 1979). Ihre Mitglieder präsentieren sich untereinander oft nur eine oder zwei dieser Handlungskomponenten, um die Zeichenbedeutung mehr oder weniger kryptisch zu übermitteln. Zudem können jedoch auch soziale Stigmatisierung, Sanktionen oder Verbote die (rudimentäre) Produktion von Gesten beeinflussen (vgl. Hjorths Verweis auf Kendon 1983: 13f., der eine rudimentäre Version eines italienischen nationalistischen Grußes auf Malta beobachtet hat). Kategorie 4: P C1 : bringt Zeichen nicht-intentional hervor R C2 : Zeichen wird wahrgenommen, als intentional hervorgebracht interpretiert Hier handelt es sich nach Hjorth vor allem um Intentionsattributionen auf der Grundlage unbeabsichtigter Normbrüche. Diese reichen vom versehentlichen ‚auf den Fuß treten‘, was in bestimmten C2 einer Beleidigung entspricht, bis zur Verletzung religiös kodifizierter Normen, die in der Regel deutliche Sanktionen zur Folge haben. - Weniger dramatisch kann sich nonverbales Verhalten durch von Männern bzw. Frauen eingenommene Steh- und Sitzpositionierungen manifestieren: im Kontakt mit Höhergestellten wird interessanterweise ein Respekt-Erweisen je nach C2 entweder durch Sitzenbleiben oder durch Aufstehen ausgedrückt (vgl. Collet 1983). Körperstellungen können sowohl Haltungen wie Dominanz oder Unterwerfung als auch Gefühle ausdrücken und die interpersonale Beziehung beeinflussen. Auch können sie als Flirtsignale die Einleitung eines sexuellen Kontakts andeuten (vgl. Kruck/ Wiede 1996). Problematisch ist Hjorths Hypothese, dass sich dann, wenn sich der Produzent des Normbruchs in C2 befinde, die Wahrscheinlichkeit größer sei, dass Bernd Müller-Jacquier 212 das Versehen als intentional hervorgebracht interpretiert wird. Eine solche Tendenz hängt jedoch stark von der kulturspezifischen Gastrolle als auch von der Toleranz ab, die kulturell Nicht-Zugehörigen generell bei der Verletzung von Konventionen zugestanden wird. Kategorie 5: P C1 : bringt Zeichen nicht-intentional hervor R C2 : Zeichen wird wahrgenommen, als nicht-intentional hervorgebracht interpretiert Zu den unbeabsichtigten, als nicht-intentional interpretierten Brüchen von Gebrauchsnormen zählt Hjorth Tabu-Regelungen, die Augenkommunikation oder den Bruch von Regelungen, die den Körperkontakt (Haptik) betreffen. So bestünden kulturelle Normierungen bezüglich der Häufigkeit und Intensität öffentlicher Körperkontakte. Hierzu wurden in der Literatur bereits Muster mit unterschiedlich gebräuchlichen Körperberührungen erstellt (vgl. bes. Poyatos 2002). Im Bereich der Gestik fielen emphatische Gesten auf, die P C1 ausführt, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen, und die in einer anderen Sprach- und Kulturgemeinschaft von R C2 als Embleme mit genauen lexikalischen Entsprechungen fungieren können (z.B. Zeigen mit dem Mittelfinger bzw. Zeigen des Mittelfingers). Eine Rolle spielt nach Hjorth (s.o.) auch das Land, in welchem der Bruch der (Rezipienten-) Gebrauchsnorm stattfindet. Ist dies die Heimatkultur des Produzenten, sei die Wahrscheinlichkeit größer, dass (solange andere Zeichen nicht auf das Gegenteil hinweisen) sich der Rezipient für die Interpretation einer nicht-intentionalen Hervorbringung entscheidet. Nicht-intentionale Formen menschlichen Zeichenverhaltens gliedert Hjorth in monokanale Zeichen wie Körperstellung, bestimmte Aufführungsregeln, klassenbestimmtes Verhalten oder auch Ticks einerseits und Zeichenkombinationen aus unterschiedlichen Kanälen auf der anderen Seite. Die letzteren setzen sich aus Verbalia, Paraverbalia, Gesichtsausdruck, Gestik und Körperstellung zusammen. Inkongruenzen zwischen verbalen und nonverbalen Kanälen seien auf Rezipientenseite immer als Möglichkeit einzukalkulieren. Ungewöhnlich erscheint ein Faktor, der kaum als intentional angesehen wird: die Veränderungen der Augenpupillen. Nach Hjorth sind sie dennoch eine Interpretationsressource und werden durch asymmetrische Dekodierungskriterien, d.h. kulturspezifische Unterschiede bei der Interpretation der menschlichen Pupillengröße problematisch. Generell sind Pupillengrößen vom Grad des Erregungszustands (arousal) abhängig. In arabischen Sprach- und Kulturgemeinschaften wird jedoch das Produzieren und Interpretieren der Pupillengröße im Rahmen eines sozialen Lernprozesses eingeübt (Tarahian/ Hicks 1979). Nonverbale Handlungen in interkulturellen Situationen 213 Manche Araber scheinen also einen Kommunikationskanal (pupillometry) zu nutzen, der für viele R C2 kaum erkennbar ist und zu dem es kaum Forschungsliteratur gibt. Kategorie 6: P C1 : bringt Zeichen nicht-intentional hervor R C2 : Zeichen wird unbewusst empfangen Zu den Charakteristika dieses Typus gehören nach Hjorth beispielsweise Phänomene, die als Interaktionale Asynchronie beschrieben werden können: Wenn ein Kommunikationspartner aus P C1 während des Erzählens seine Stimmführung bzw. seinen Sprechrhythmus deutlich ändert oder auch seinen Körper bewegt, reagieren R C2 quasi-synchron (nach ca. 0,05 Sek. im Takt mit der Änderung) mit minimalen Bewegungen des Körpers und der Augen (vgl. Condon 1976). In der interkulturellen Kommunikation sei diese Synchronie viel geringer, weil sich die Konventionen unterscheiden. Entsprechend ist bei der Reaktion des Hörers weniger deutlich ein Takt zu erkennen (vgl. Leonard- Dolan 1980). Als Auswirkungen dieser so genannten Asynchronie können Fremdheitsgefühle und Spannungen entstehen, obschon sie von beiden Seiten kaum registriert werden. Ähnliches gilt für Unterschiede in der Verhaltenssegmentierung. Menschen nutzen ihr kulturell erworbenes System der Einteilung von Handlungsabläufen interpretativ, und in interkulturellen Situationen kann durch eine Mikroanalyse der Phasengliederung (vokal und körperbezogen) eine Disharmonie beider Systeme beobachtet werden (vgl. Leonard-Dolan 1980). So wird z.B. das Zeichenverhalten beim Grüßen in Phasen mit jeweiligen Mustern eingeteilt. 10 Während sich dieser Prozess zumindest unter Engländern, Amerikanern und Dänen wenig unterscheidet, kennt z.B. das Volk der Mossi in Obervolta die Phase des entfernten Grüßens nicht (vgl. Collett 1983). Letztendlich fällt auch die reduzierte Kongruenz der Körperstellung in die Kategorie wechselseitig unbewusst registrierter Zeichen. Hier kommt es besonders auf interaktional angepasste Körper-, Arm- und Beinstellungen an, einschließlich spezifischer Stehund/ oder Sitz-Positionen. __________ 10 Man beginnt nach Hjorth meist mit einem Gruß aus größerer Entfernung, der aus Augenkontakt und (eventuell) verbalen Elementen besteht und kommt über eine Annäherungsphase mit weniger Augenkontakt zu einer Nahbegrüßung; diese enthält auch das Händeschütteln und Verbeugen, häufig mit intensivem Augenkontakt (vgl. auch Eibl-Eibesfeldt 1979, der diese Phasen fälschlicherweise als universell betrachtet). Bernd Müller-Jacquier 214 4 Schlussfolgerungen Hjorths Gliederung ist Resultat einer Auswertung von Einzelbeiträgen über Zeichen, die als „kulturspezifisch“ angesehen werden und die in interkulturellen Situationen potenziell zu Irritationen führen. Die Grundanlage seiner Systematik, nämlich die durch R C2 in interkulturellen Situationen oftmals nicht genau bestimmbare Intentionalität von Zeichen, ist weiterhin aktuell und erweist sich als wichtige Klassifizierungsgrundlage. Auch sein deutlicher Hinweis darauf, dass Zeichenbedeutungen in interkulturellen Situationen nicht auf der Basis „gegebener“, konventioneller oder gar „innewohnender“ Eigenschaften interpretiert werden, sondern dass Rezipienten grundlegende Deutungsrobleme haben, indem sie die Nicht-/ Intentionalität einschätzen müssen, ist hochaktuell, auch für semiotische Grundlagendiskurse. Ergänzend und von einer Fokussierung auf Zeichen-Rezipienten ausgehend hat die hier einbezogene Position Kellers radikal in Frage gestellt, inwieweit Zeichen Bedeutung „tragen“. Sie hat den interaktiven Prozess der Zeichenkonstitution Richtung Rezipientenseite verlagert. Diese Aspektverschiebung von der Betrachtung des Zeichens hin zu seiner Verwendung und Rezeption ist gerade für die Analyse interkultureller Kommunikation grundlegend. Denn hier muss grundsätzlich, also bei Symbolen und in weiten Bereichen der Ikone von zwei oder mehreren gültigen, sprach- und kulturspezifischen Interpretationskonventionen in einer gemeinsam konstituierten Situation ausgegangen werden. Entsprechend müssen analytisch R C2 - Zeicheninterpretationen bestimmter P C1 -Vorlagen in den Mittelpunkt semiotischer Analysen treten. Denn diese sind die Grundlagen dessen, was als Bedeutungselaboration im weiteren Gesprächsablauf relevant gemacht wird. Aber auch ein anderer, sehr grundlegender semiotischer Aspekt wird durch Hjorth indirekt in die Diskussion eingebracht, nämlich die Tatsache, dass vor allem in interkulturellen Situationen mehr Phänomene als Interpretationsressource, also als potenziell zeichenhaft angesehen werden als in monokulturellen. Aus dem, was für P C1 in „Überschneidungskontexten“ bedeutungslos und damit nur beiläufig, nicht-intentional ausgedrückt ist, kann R C2 immer etwas Sinnhaftes interpretieren. Das gilt vor allem für Symptome: „Alles, was der Fall ist, kann zum Symptom dessen werden, was kausal daraus geschlossen werden kann, d.h. wenn es von einem Interpreten zur Prämisse eines Schlusses gemacht wird“ (Keller 1995: 122). Geht man nun mit Keller den nächsten Schritt, dass nämlich das Wissen darüber, dass Gesprächspartner Symptome interpretieren können, dazu verleitet, Symptome willentlich zu imitieren und sie damit als intentionales Zeichen zu verwenden (vgl. Prozesse der Ikonifizierung und Symbolifizierung, Keller 1995: 162f.), wird die wahre Komplexität interkultureller Zeicheninterpretation deutlich: neben den strittigen, aber durch „re- Nonverbale Handlungen in interkulturellen Situationen 215 pairs“ interaktiv klärbaren Problemen der Bedeutungskonstitution im Bereich konventioneller Zeichenverwendung muss sich die Forschung Zeichenbedeutungen zuwenden, die Rezipienten durch „falsche“ Intentionalitätszuschreibungen - um einmal mit Rekurs auf repräsentationistische Zeichentheorien zu formulieren - oder auch durch unbewusste Rezeptionen (vgl. Hjorths Kategorien 3 und 6 und die weiterhin repräsentationistisch interpretierende Sozialpsychologie, u.a. Manusov et al. 2006 oder Hall 2009) in ablaufenden Interaktionen direkt oder indirekt relevant setzen. Konzeptuell mögen sich die semiotischen „Grundverfahren der Interpretation“ (Keller 1995: 114f.) als weiter reichende, weil interaktional-prozessbezogen und nicht nur am strittigen Interpretationsort ausgerichtete Erklärungsansätze erweisen als das skizzierte System von Hjorth. Sein Verdienst ist jedoch, schon vor 30 Jahren auf Aspekte rezipientenbezogener Zeichenkonstitution verwiesen zu haben, zu einem Zeitpunkt also, als das kommunikationswissenschaftliche Credo noch dem Axiom „Man kann nicht nicht-kommunizieren“ (Watzlawick et al. 1967: 53) galt. Damit ist er Vorreiter einer für interkulturelle Situationen adäquaten Semiotik, die dieser Position ein „Man kann nicht nicht-interpretieren“ entgegenhält (Keller 1995: 15f.). 5 Literatur Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19. S. 22-47. Axtell, Roger E. (1994): Reden mit Händen und Füßen. Körpersprache in aller Welt. München. Barakat, Robert A. (1973): Arabic gestures. In: Journal of Popular Culture 6. 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Ausgehend von allgemeinen erkenntnistheoretischen Reflexionen wird unter Rückgriff auf konstruktivistisches, sprachphilosophisches, soziologisches, psychologisches und philologisch-semiotisches Gedankengut ein Identitätsbegriff entwickelt, der eine vornehmlich sprachlich-kommunikative Struktur von Identität als Selbstkonstrukt in den Vordergrund stellt. Darauf aufbauend soll schließlich gezeigt werden, wie sich das gewonnene Modell einer multiplen und prozesshaften sprachlich konstruierten Identität in Biondis interkultureller Sprachprogrammatik bestätigt und in dessen literarischem Schreiben zum Ausdruck kommt. 2 Erkenntnistheoretische Reflexionen 2.1 Konstruktivistische Prämisse Als begrifflicher Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird auf den radikalen Konstruktivismus (vgl. Glaserfeld/ Foerster/ Grundmann 1999, Hejl 1997, Rusch/ Schmidt 1993) und den sozialen Konstruktivismus (vgl. Gergen 1990, 1999, 2002) rekurriert. Ersterer postuliert, dass „menschliche Wahrnehmung, das Denken und Erinnern nicht eine äußere Realität abbilden oder repräsentieren, sondern eine eigene Wirklichkeit erzeugen“ (Rusch 2000: 18). Wirklichkeitswahrnehmung ist demnach nicht Vorfinden von Wirklichkeit, sondern ein Erfinden selbiger (vgl. Gumin/ Mohler 1985: VIII), und zwar unter dem Ein- Rossella Pugliese 220 fluss biologischer, kognitiver und sozialer Bedingungen, denen der Mensch und seine Wahrnehmung unterliegen (vgl. Schmidt 1994: 5). Mehr noch als der radikale Konstruktivismus, der Kommunikation und Sprache als Einflussfaktoren des Denkens und Erinnerns würdigt (vgl. Hejl 1994: 57), betont der soziale Konstruktivismus die soziale Interaktion, und somit auch die sprachliche, als Schlüssel zur Wirklichkeitskonstruktion (vgl. Gergen 2002). Den nachfolgenden sprachlich-textuellen Betrachtungen literarischer Identitätskonstruktion im interkulturellen Kontext bieten diese konstruktivistischen Ansätze ein solides erkenntnistheoretisches Fundament. 2.2 Linguistik unter konstruktivistischen Gesichtspunkten Die konstruktivistische Betrachtungsweise führt zu spezifisch linguistischen Schlussfolgerungen. Zunächst wird deutlich, dass sich zwischenmenschliche Kommunikation durch das von Shannon und Weaver (1949) entwickelte Sender-Empfänger-Modell nicht angemessen abbilden lässt (vgl. Krippendorf 1994, Stegu 2000: 207). Denn keinesfalls kann man Kommunikation auf den Informationstransport von A nach B reduzieren, sondern muss sie nach konstruktivistischer Konzeptualisierung vielmehr als Orientierungsinteraktion betrachten, bei der die Interaktionspartner die Konstruktion steuern und einander auf bestimmte Konstruktionsinhalte und -werte hinlenken (vgl. Rusch 1994: 60-78 und 1987: 158), d.h. als einen Prozess, in dessen Verlauf ein Individuum aufgrund des Verhaltens eines anderen Individuums veranlasst wird, bestimmte Informationen bzw. Bedeutungen systemintern zu konstruieren. „Es handelt sich dann um ein Verhalten/ Handeln, das sich eines produktiven semiotischen Systems als eines Instruments bedient“ (Figge 1999). Demnach haben Dinge keine dezidierte Bedeutung, keine Bedeutung per se, sondern erlangen eine solche erst im Rahmen von Interaktion. Bedeutung lässt sich als Resultat „der Interaktion parallel sozialisierter Kommunikationspartner“ (Schmidt 2000: 143) und als Leistung des Individuums definieren. Was für die Bedeutung im Allgemeinen zutrifft, gilt für die Textbedeutung im Besonderen. Ausgehend von Segres semiotischer These, Literatur sei ein Kommunikationsprozess, ist auch sie keine kodierte, konventionell festgelegte und unveränderliche Größe, sondern eine Variable: „la letteratura è una forma di comunicazione [...] La finalità comunicativa è già implicita nell’atto stesso di destinare una propria composizione scritta od orale a un pubblico dai limiti imprevedibili” (Segre 1985: 5). So wenig wie die Bedeutung eindeutig ist, so wenig kann es aus konstruktivistischer und semiotischer Sicht ein R i c h t i g v e r s t e h e n im Sinne absoluter Deckungsgleichheit zwischen Gemeintem und Verstandenem geben. Denn Interkulturalität als Identität 221 „Text bedient sich eines Zeichensystems und ist selbst ein System von Zeichen. Jeder Versuch, einen Text zu verstehen, beruht auf Annahmen über die Relationen von Zeichen und Bedeutungen und damit auch über die möglichen Verfahren, mittels Zeichen Bedeutungen zu rekonstruieren“ (Figge 1999). Im Hinblick darauf muss dem Verstehen als Individualleistung Rechnung getragen werden (vgl. Schmidt 2000: 143). 3 Sprache und Identität 3.1 Sprachapriori des Denkens und der Wirklichkeitskonstruktion Sprachphilosophisch äußert sich der konstruktivistische Betrachtungsansatz - weg vom Objekt und hin zum Subjekt des Erkennens - im Linguistic Turn und Pragmatic Turn: Ausgehend von der Subjektbezogenheit des Denkens wendet man sich verstärkt der Sprache als Bezugsgröße des Denkens zu, die hinsichtlich ihrer pragmatischen Dimension neu reflektiert wird und in Bezug auf Wirklichkeitskonstruktion ins Blickfeld rückt. Aufgrund ihrer „Nichthintergehbarkeit“ (vgl. Holenstein 1980) wirkt sie an Denk- und Erkenntnisprozessen mit und wird begrifflich als Sprachapriori gefasst, das „transzendentalsemiotische Apriori der Zeichen- und Sprachvermitteltheit des intersubjektiv gültigen Denkens” (Apel 1993: 40). 3.2 Identität als sprachlich ausgehandeltes Konstrukt Die Rolle gesprochener wie geschriebener Sprache aus konstruktivistischer und sprachphilosophischer Sicht liefert den Ansatz für einen Sprachbegriff, der in Bezug auf das literarische Schreiben Biondis noch detailliert herauszuarbeiten sein wird. Festzuhalten ist, dass Kommunikation als „zentrales Instrument sozialer Wirklichkeitskonstruktion“ (Schmidt 2000: 143) gelten darf und folglich Gespräch und Text zu Produktionsstätten von Wirklichkeit werden sowie von Identität als Sonderfall der Wirklichkeit, wobei ein Rekurs auf relevante soziologische und psychologische Identitätstheorien den besonderen Stellenwert der Sprache innerhalb identitätskonstruierender Prozesse bestätigt. So erklärt Mead (1968) mit seinem Modell der symbolvermittelten Kommunikation das Verfügen über Sprache zur Bedingung für ein Sich-Herausbilden von Identität. Im Mittelpunkt seiner Identitätstheorie steht die These, dass unser Selbst sich vornehmlich durch soziale Interaktion konstituiert vermittels der Sprache als zentralem Medium (s.a. Schmidt 2000). Identität ist demnach ein sprachlich Rossella Pugliese 222 ausgehandeltes Konstrukt, literarischer Text ein Schauplatz ihrer Manifestation. 4 Psychosoziale Identitätsaspekte 4.1 Pluraler Charakter und Multiplizität Fußt Identität aus soziologischer Perspektive (vgl. Goffmann 1973, Habermas 1973, Krappmann 2004) vor allem auf Interaktion und sozialen Beziehungen, lässt sich ihre Komplexität ohne die zusätzliche Berücksichtigung psychologischer Aspekte nicht vollends fassen. Denn der soziologische Blick fokussiert das Individuum zumeist aus der Ferne und von Außen; die Innenwelt bleibt für ihn unscharf und schemenhaft. Es gilt, diese Unschärfe in Schärfe zu verwandeln und die Konturen des Innen mit Leben zu füllen. Denn aus der einschlägigen Fachliteratur (vgl. Erikson 1973: 56, Park 1928: 887) ist bekannt, dass die Identitätsbildung einem inneren Antrieb folgt: einerseits dem Streben nach Gruppenzugehörigkeit, der sich in einer Adaptation an die Gruppenidentität niederschlägt, andererseits dem Drang, zu sich zu finden und man selbst zu sein im Sinne von Individualität als abgrenzendem Besonders-Sein (vgl. Erikson 1973: 18). Somit ist Identität gleichermaßen von dem Verlangen nach Gleichheit und dem Wunsch nach Andersartigkeit geprägt - ein Widerspruch, der sich als Identitätsdilemma bezeichnen ließe, aus dem letztlich nur eine multiple Identität resultieren kann (vgl. Erikson 1973: 16-17). So wie das Kommunikationsergebnis keine feste, unveränderliche Größe ist, hat folglich auch die sich kommunikativ konstituierende Identität einen pluralen Charakter. 4.2 Dynamik und Prozesshaftigkeit Erikson definiert die Ich-Identität als Form der Identitätsbildung, in der das „Ich wesentliche Schritte in Richtung auf eine greifbare kollektive Zukunft zu machen lernt und sich zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität entwickelt“ (Erikson 1973: 17). Mit seinem Phasenmodell, das vornehmlich die psychosozialen Modalitäten der Identitätsbildung in den Blick nimmt, postuliert er als Entwicklungsziel des Individuums zwar das Erlangen einer einheitlichen, definitiven Identität, parallel verweist er jedoch auf ein Ich, das sich nicht harmonisch bewahrt, sondern sich mittels konfliktueller Situationen fortwährend herausbildet. Ausgehend von einer unterstellten Krisenhaftigkeit der einzelnen Entwicklungsphasen, die sich latent in den jeweils anderen Phasen wiederfindet (Erikson 1973: 56), betont Erikson vor allem in seiner Forschung Interkulturalität als Identität 223 über die Ich-Identität des Kindes und Jugendlichen die konstitutiv ausschlaggebenden Momente des Bruchs und der Krise (vgl. Erikson 1973: 50). 5 Methodischer Ansatz Nachfolgende Betrachtung und Analyse der Texte Biondis können als vom russischen Formalismus inspiriert gelten, da sie aus sprachwissenschaftlicher und insbesondere aus italienisch-muttersprachlicher Sicht vornehmlich die Textform sowie verfremdende sprachformale Elemente fokussieren. Die Methode des russischen Formalismus betrachtet literarische Texte primär als Sprachkunstwerk mit Literarizität, dessen poetische Funktion aus seiner autoreflexiven Dimension erwächst. Auf dieser Grundlage leitet der Formalismus Deutungswie Erklärungsmuster unmittelbar aus dem Text ab - unter Vernachlässigung biographischer, politischer, psychologischer, soziologischer oder anderweitiger äußerer Faktoren, die die Hermeneutik in den Vordergrund stellt. Dadurch rücken die Verfahren der literarischen Texterstellung verstärkt ins Blickfeld, zu denen als konstitutives Konstruktionsprinzip insbesondere die V e r f r e m d u n g (Ostranenie) zählt (vgl. Schklowski 1916). Sie fordert vom Leser eine intensive Auseinandersetzung mit Worten und Wörtern, da sich diese nicht mehr gewohnheitsgemäß als semiotische Stereotypen erfassen lassen, wie später auch Bachtin (1979: 143) ausführt: [V]erfremdet wir das Wort durch die Zerstörung seiner gewohnten semantischen Reihe; bisweilen wird die Verfremdung auch auf den Gegenstand bezogen, freilich wird sie dann in grober Weise psychologisch verstanden: als das Herausheben eines Gegenstandes aus seiner gewohnten Rezeption (die gewohnte Rezeption ist natürlich genauso zufällig und subjektiv wie die ungewohnte). Konform mit konstruktivistischem Gedankengut stellt der formalistische Ansatz also jeden a b s o l u t e n Sinn in Frage und unterstreicht das Literaturverstehen als soziale Interaktion, bei der „[j]edes Wort (jedes Zeichen) eines Textes […] über seine Grenzen hinaus“ führt (Bachtin 1979: 352). Rossella Pugliese 224 6 Literarisches Schreiben zum Zweck der Identitätskonstruktion am Beispiel Franco Biondis 6.1 Biondi als interkultureller Autor Franco Biondi, 1947 in Forli geboren, folgte 1965 seinem Vater als Arbeitsmigrant nach Deutschland, wo er in verschiedenen Berufen tätig war. Über den zweiten Bildungsweg holte er sein Abitur nach und studierte Psychologie, bevor er sich als Romancier, Essayist und Lyriker betätigte. Aus literatursoziologischer Perspektive müsste man Biondi als Exponenten jener Migrantenliteratur bezeichnen, die in Deutschland infolge der in den 1950er Jahren einsetzenden Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte entstand. Bekannt wurde dieses Genre in den 1970er Jahren, die Woge des Autobiographischen und Authentischen nutzend, zunächst unter dem Titel Gastarbeiterliteratur (vgl. Kreuzer/ Seibert 1985, Hamm 1988) bevor in den 1980er Jahren von einer Literatur der Betroffenheit die Rede war (vgl. Biondi/ Schami 1981) 1 und sich das Genre dann in den 1990er Jahren unter der Flagge der Migrantenliteratur (vgl. Luchtenberg 1997, Rösch 2004, Schierloh 1984) bzw. Literatur der Fremde (vgl. Weigel 1992) seinen Platz in der deutschen Öffentlichkeit suchte. Mit der neueren wertfreien Bezeichnung der interkulturellen Literatur (vgl. Chiellino 2000, Amodeo/ Hörner/ Kiemle 2009) hat das Genre inzwischen sachlich angemessen auf neutralen Boden gefunden. Anders als diejenigen, die schon in ihrem Herkunftsland den Status als Autor innehatten, kam Biondi erst in der Fremde und durch die Fremdheitserfahrung zum Schreiben, die zunächst die eines Landes ist sowie dessen sozialer Verfassung und Tradition und die dort schließlich zur dominierenden Dimension wird. Die Fremdheitserfahrung ist für Biondi nicht nur das auslösende Moment seiner schriftstellerischen Tätigkeit, sondern auch der zentrale Gegenstand seiner Werke (vgl. Chiellino 1989: 68): der Bruch mit der Herkunft, der Prozess des Zur-Sprache-Kommens, der sich in der Begegnung mit der Fremde entwickelt, sowie die sich im Medium der Sprache bildende Identität. __________ 1 Biondi und Schami (1981: 134-135) „gebrauchen bewußt den […] auferlegten Begriff vom ‚Gastarbeiter‘, um die Ironie, die darin steckt, bloßzulegen. Die Ideologen haben es fertiggebracht, die Begriffe Gast und Arbeiter zusammenzuquetschen, obwohl es noch nie Gäste gab, die gearbeitet haben. Die Vorläufigkeit, die durch das Wort Gast zum Ausdruck gebracht werden soll, zerbrach an der Realität; Gastarbeiter sind faktisch ein fester Bestandteil der bundesrepublikanischen Bevölkerung. Weiterhin wird hier das Stigma ‚Gastarbeiter‘ bewußt eingesetzt, wie der Begriff ‚Prolet‘ seinerseits in den Zwanziger Jahren eingesetzt wurde.“ Interkulturalität als Identität 225 6.2 Identität sprachlich (er)finden Das literarische Schreiben konstituiert sich bei Biondi in der Abkehr von seiner Herkunftssprache, denn wie bei anderen Autoren interkultureller Literatur ist auch bei Biondi die Sprache seiner Werke nicht die Sprache seiner Herkunft. Das im Rahmen der literarischen Praxis vollzogene Ü b e r l a u f e n zur deutschen Sprache liegt jedoch nicht in der alltäglichen Notwendigkeit des Migranten begründet, in der für ihn zunächst fremden Sprache zu kommunizieren. Auf literarischem Terrain wird das Deutsch-Schreiben vielmehr zum Versuch, im Ankunftsland Fuß zu fassen. Somit erhebt Biondi die Literatur zu einem Medium der Identitätskonstruktion, aber auch zu einem Vehikel der Reflexion desjenigen Prozesses, in dem sich die menschliche Identität unter den spezifischen Migrationsbedingungen entwickelt. Bei den Romanen Biondis kann von einem „lebensgeschichtlichen Schreiben“ (Reeg 1997: 151) gesprochen werden, von einem Schreiben, das untrennbar mit der existenziellen Situation des Migranten verknüpft ist, der versucht, nach dem zunehmenden Sich-Entfernen von seiner kulturellen Herkunft in der fremden Sprache den Ort einer neuen Nähe zu finden, einer Nähe zu den Menschen und ihrem kulturellen, sozialen wie politischen Leben, aber auch zu den Dingen und zu sich selbst. Den durch das Verlassen des Herkunftslandes entstehenden Bruch verarbeitet Biondi literarisch als nomadenhafte Verortung des Migranten. In der Fremde wird seine Erfahrung der Diskontinuität zum Anlass einer Suche nach neuer Orientierung, die sich vor allem im Medium der Schrift(-sprache) vollzieht. Im Schreiben bildet sich eine neue Form von Identität heraus. So wird „die Literatur zur erschriebenen eigenen und damit zur identitätsstiftenden Welt“ (Reeg 1997: 151). Das Schreiben in deutscher Sprache wird für Biondi zum Medium, in dem sich auf der Schwelle zwischen den Kulturen noch eine (Rest-)Identität konstituieren kann. Über den langwierigen Prozess des Schreibens gelingt zumindest eine gewisse, mühsam erarbeitete Identitätsfindung. Doch so wie die Texte interkultureller Literatur im Allgemeinen und Biondis Texte im Besonderen lebensgeschichtlichen Kontexten eingeschrieben sind und die Einschreibung in neue sprachliche Räume eines ihrer Leitmotive ist, kann man sie nicht als autobiografische Dokumente lesen und ihnen Authentizität abverlangen. Denn gerade in ihrer Rolle als erschriebene Größen zeigen sich Biografie, Geschichte und Identität nicht in unmittelbarer Faktizität, sondern als literarischer Entwurf und fiktive Gestalt. Rossella Pugliese 226 6.3 Identitätssuche als Reise im Raum der Sprachen und Kulturen Biondis Literatur begreift Identität als Resultat des symbolischen Konflikts zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Als Prozess sprachlich vermittelter, sozialer und kultureller Bildung ist Identität nicht fix, nicht gegeben, sondern das dynamische und variable Resultat symbolischer Interaktion. In diesem Kontext kann das Eigene nicht ohne die Distanzierung von Rollenerwartungen und aufgesetzter Identität betrachtet werden. Insofern nährt sich Identität aus Konflikten 2 und Ambivalenzen, aus dem Widerstand gegen das Rollendenken, aus extremen Momenten des Migrationsprozesses, die zu exemplarischen Kulminationspunkten der Identitätsentwicklung werden. Deshalb muss Prozesshaftigkeit stets als integrales Moment der Identität verstanden werden, die nur in der Balance zwischen Ausgrenzung und Assimilation entstehen kann. Charakterisieren lässt sich Biondis Werk durch die räumliche Metapher des Dazwischen, wobei die Bilder des Nirgends-so-richtig-Dazugehörens und der doppelten Zugehörigkeit parallel laufen. Das Dazwischen bezeichnet die Problematik der Identitätsfindung, des Ich-Werdens in einer Welt, in der verschiedene Kulturen und Lebensformen aufeinandertreffen. Es beschreibt die Sinnsuche in der Interkulturalität als Dialektik von Identität und Alterität, wobei Interkulturalität nicht durch sprachliche Quantität bzw. Synthese oder gar durch den Austausch der Sprachen und Kulturen verstanden werden kann. Biondis Konzept der Interkulturalität verweist vielmehr auf einen dritten Weg zwischen den Fronten der traditionalistischen Ghettoisierung als Zeichen der Verweigerung von Konsens und Zugehörigkeit und der völligen Assimilation im Sinne eines Aufgebens alles Bisherigen; dazwischen steht die gemäßigte Position der Integration, die herkunftskulturelle Eigenheiten nicht opfert, sondern sie bewahrt und Ihnen im neuen Lebensumfeld einen würdigen Platz einräumt sowie Ausdruck verleiht. Vor diesem Hintergrund mögen die von Biondi entwickelten literarischen Schreibstrategien als Konturen einer Recherche gelten, die man unter dem Begriff der S c h w e l l e fassen könnte. Die Identitätssuche wir als Reise im Raum der Sprachen und Kulturen inszeniert, als niemals enden wollende Suche, als Figur des Aufschubs. So vermittelt Biondis Literatur die Akzeptanz des Unfertigen; denn Migrationserfahrung ist ein Prozess, der von Verwerfungen, Überlagerungen, Beschleunigungs- und Entkoppelungsbewegungen gekennzeichnet ist. Die Arbeit am Einsbzw. Ich-Werden wird von der Gewissheit begleitet, letztlich nie ein absolut gesichertes Sinnplateau erreichen zu können. Was im diskurs-ethischen Bereich das Ideal einer Übereinkunft in der Kommunikation __________ 2 Siehe auch 4.2 Dynamik und Prozesshaftigkeit. Interkulturalität als Identität 227 ist nennt Chiellino auf literarisch-kultureller Ebene eine ideelle „monokulturelle Transparenz in der Sprache“ (Chiellino, 1995: 9). Ausgeschlossen soll alles bleiben, was das ‚Man‘ in seiner (Selbst-)Gewissheit in Frage stellt und Schatten auf das klare Licht des Eigenen wirft. Und so provoziert Biondis Literatur durch das Aufeinandertreffen zweier Sprachen und Kulturen ein Opponieren gegen die Re-Ethnisierung, das sich einerseits im Grenzgängertum manifestiert bzw. in der Auflösung homogener, kohärenter, nationaler kultureller Systeme und Identitäten, andererseits als Synkretismus und Kritik am Eurozentrismus. Das Ziel dieses Zu-sich-selbst-Kommens ist keine substanzielle und bruchlose Identität, sondern das Bewusstsein der Identitätsproblematik und somit das Selbstbewusstsein des Individuums: „Mit der Sprache entsteht der Beobachter, mit ihm entstehen Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Ich“ (Schmidt 2000: 149). 7 Biondis literarisches Werk: ein interkulturelles Sprachprodukt 7.1 Die Sprache der Interkulturalität In der Beziehung zur Sprache ist das Problem der Migration, die Auseinandersetzung mit dem Fremden, in konzentrierter Form vorhanden, ist es doch allem voran die (Herkunfts-)Sprache, die den Fremden zum Fremden macht, die sein Fremdsein, sein Anderssein verrät. Biondi legt seiner literarischen Arbeit jedoch ein abweichendes interkulturelles Sprachmodell zugrunde, das sich in der Pluralität der Stimmen konstituiert: Das Konzept einer polyphonen, dialogischen Sprache, einer Sprache, die das Eigene und das Fremde zu balancieren weiß und der beziehungslosen Pluralität, der reinen Verschiedenheit, nicht nachgibt. Biondi zieht in seinem (Sprach-)Projekt deshalb bewusst keine Grenze zur Fremde, sondern dekonstruiert die binäre Opposition zwischen Eigenem und Fremden. An die Stelle der Differenzierung zwischen absoluter Ferne und absoluter Nähe tritt ein ästhetisches Konzept der Ambivalenz und der Schwelle. Denn auch die bewohnte Sprache bleibt ein Zwischen-Raum, ein identitätsstiftender Ort zwischen Herkunft und Ankunft. Das Fremde zur Sprache zu bringen und das Eigene in die Sprache einwandern zu lassen, ist Ziel eines Projekts, das zur Auseinandersetzung der Sprache(n) führen und schließlich zur Probe der Wandelbarkeit ihres Kanons werden muss. Dieses Zur-Sprache-Kommen ist nicht als Assimilation zu verstehen, sondern als dialektischer Prozess, in welchem das Eigene in den Konventionen der Sprache des Ankunftslandes zum Ausdruck zu kommen vermag und sie von innen her verwandelt, indem es das Standardrepertoire der Zielsprache erweitert (vgl. Wolf 1998: 104). Rossella Pugliese 228 Biondi macht sich auf die Suche nach einer neuen Sprache, nach einem neuen Idiom, weil keine der beiden Sprachen, weder das Deutsche noch das Italienische, die Fremde richtig zum Ausdruck bringen kann. Dieses neue Idiom wäre ein Medium, in dem das Besondere seinen Ausdruck und seine Rettung finden könnte. Im Grunde ist also nicht die Nationalsprache entscheidend, sondern die sprachliche Durchlässigkeit für die irreduzible und sich der sprachlichen Artikulation immer wieder entziehende Erfahrung des Migranten. Dieser wechselt nicht nur von einer Sprache in die andere, sondern seine besondere Situation charakterisiert sich durch die Simultaneität der Sprachen, durch eine neue Sprache, die genau dort entsteht, wo zwei Sprachen sich begegnen. Aus dem Mund des Migranten mag diese zwar fremd klingen, aber diese Verfremdung wirkt zugleich entzaubernd und zertrümmert die Illusion einer vermittlungslosen Identität zwischen Signifikant und Signifikat, eines Traums, der durch die sprachliche Konvention bestärkt wird. Signifikant und Signifikat brechen im Spiel mit der Sprache auseinander und öffnen einen neuen Bereich von Materialität und Klang. D.h. die Sprache muss sich öffnen, damit das bloße Äußere gleichsam nach innen gewendet und zur Darstellung des Gefühls der Fremde befähigt wird. „Ich fühlte, wie die geheimnisvollen Wörter auf mir lasten, wie sie zur Schraubzwinge geworden waren. Die Last der Wörter musste ich zersprengen“ (Biondi 1997: 31). 7.2 Biondis dialogisches Sprachmodell Biondi geht es um die Produktion einer neuen literarischen und kulturellen Realität mittels Interaktion zweier Sprachkulturen (Chiellino 1992: 11). Und so präsentiert er eine Sprache, die das Eigene und das Fremde auszutarieren weiß, eine von Bindungslosigkeit geprägte Denkfigur und Lebensweise im Dazwischen, im „dritten Raum“ (Wolf 1998: 103). Indem Sprache die Erfahrung der Fremde macht, sich der fremden Erfahrung öffnet, wird sie durch ihre innere Dialogizität zum Medium der Individualisierung und einer neuen Form der personalen Identität, die als solche in der Sprache der Differenz den Riss zwischen Herkunft und Ankunft bewahrt. Durch das bewusste Spiel mit der Sprache, das schon im Erlernen der Fremdsprache am Werk ist, wird ihre Konventionalität nicht allein reflektiert, sondern auch ironisch gebrochen, sodass die Grenzen des Konventionellen hervortreten. In der Überlagerung der verschiedenen Sprachen bildet sich eine ästhetische Komplexivität, die an die Stelle der Opposition zwischen Eigenem und Fremdem tritt, eine dritte Sprache, die von einer hybriden Logik der Dialogizität geprägt ist, nicht vom Entweder-Oder, sondern von einer Figuralität des Sowohl-Als-Auch. Interkulturalität als Identität 229 Biondis Sprache entsteht aus dem Sprachendialog, aus der Pluralität der Sprachen sowie aus ihren hybriden und fragmentarischen Verschränkungen und Verschiebungen. Sprachliche Fragmentarisierung, Hybridisierung und Polyphonie münden jedoch nicht in eine neue Einheit, in einen abgeschlossenen neuen Sprachraum. Vielmehr manifestiert sich in ihnen Biondis Opposition gegen die „verbal-ideologische [...] Zentralisierung und Vereinheitlichung“ (Bachtin 1979: 165). Zum Verstehen Biondis Literatur mögen folglich semiotische Betrachtungsweisen besonders geeignet erscheinen. Segre beispielsweise knüpft an Bachtins Polyphonie-Begriff und dessen Vielstimmigkeit des Romans an: Bachtin parla di plurivocità, e la individua anche nelle parti non dialogiche, dato che per lo più il parlatore assume il punto di vista di uno o dell’altro personaggio, e perciò anche nell’esprimersi, una parte delle sue peculiarità linguistiche, delle sue ideosincrasie. Un testo […] appare dunque […] stilisticamente pezzato, a seconda di chi parla, o con gli occhi di quale personaggio i fatti e i luoghi sono visti. (Segre 1985: 324) Biondis dialogische Sprache ist als ästhetisches Element zu fassen, aber auch als Modell gelungener Kommunikation und als Anerkennung des Migranten in seiner interkulturellen Identität, die ihn weder als Fremden konserviert noch ihm die kompromisslose, uneingeschränkte Anpassung an das ihm Fremde abverlangt. Denn die dialogische Sprache „ermöglicht die Überwindung nationalistischer Dualismen“ (Chiellino 2001: 84). 7.3 Erfahrungen italienisch-deutscher Sprachkontakte Die Sprache der Fremde, in der Biondi seine Prosa schreibt und die für ihn als wichtiges Mittel des Ausdrucks der Fremde fungiert, dialogisiert mit seiner Herkunftssprache und lässt die italienische Sprache, auch wenn diese nicht immer explizit auftaucht, im Deutschen mitschwingen. Biondi geht es jedoch nicht primär darum, ein gewissermaßen verquickendes Aufeinandertreffen d e s Deutschen und d e s Italienischen literarisch zu pauschalisieren. Mit Blick auf die selbst erlebte sprachliche Realität unternimmt er vielmehr den Versuch, gesprochene Sprache in unterschiedlicher Ausprägung (Alltagssprache, Umgangssprache sowie dialektale Varietäten) zu fiktionalisieren. Das Erlernen einer fremden Sprache und die Begegnung mit ihr wird nicht nur als Sprachnot, sondern als befreiende Suche nach einer eigenen Ausdrucksweise dargestellt, die sowohl neue Facetten der Wahrnehmung eröffnen als auch zu poetischen Sprachspielen jenseits der herkömmlichen Wortbedeutung führen kann. Der Zusammenprall von Fremdem und Eigenem wird vor allem durch sprachliche Rossella Pugliese 230 Grenzüberschreitungen deutlich, in denen das Deutsche unter anderem durch italienische Grammatik und Lexik durchbrochen wird. Der sich daraus ergebende, von der deutschen Standardsprache abweichende Sprachgebrauch äußert sich beispielsweise durch − ins Deutsche montierte Versatzstücke aus dem Italienischen 3 wie Babbo, Mamma, Nonna, trattoria, lasagne, osteria, ferragosto (vgl. Biondi 1997, 2007); − Formen von Gastarbeiterdeutsch 4 wie Nix verstehen, erwiderte ich, isch Bahnhof verstehen, andere nix (Biondi 1997: 24); − Zitieren italienischer dialektal verfasster Sprichwörter wie I bajocch i n’ja e’ mangh! (Biondi 1997: 159), italienischer Redewendungen wie A ognuno il suo mestiere (Biondi 2007: 291) und Lieder (A mezzanotte va/ la ronda del piacere/ e nell’oscurità/ ognuno vuol vedere (Biondi 2007: 260); − Übersetzen italienischer Redewendungen wie Du machst den Schlauen, eh? (it.: fai il furbo, eh? ) (Biondi 1997: 145) und Sprichwörter wie Der Teufel soll sie zertreten (Biondi 1997: 14; hier als nicht lineare Übersetzung des italienischen Sprichworts Che il diavolo se la/ lo porti! , dem das deutsche Sprichwort Der Teufel soll ihn/ sie holen! ) entspricht; 5 − Mischungen aus Erst- und Zweitsprache (Sprachenmischung): 6 E porcoddio, do is schun was dro! (Biondi 1997: 47); Nun suno nu schiavo, porcoddio […] ich dich kaputt, tutto kaputt, porcoddio (Biondi 1997: 112); Dein nächster Padrone soll das machen (Biondi 1997: 141); Ich suchte nach Reue, nach Schuld, verspürte r i m o r s i (Biondi 1997: 180); Mein Babbo (Biondi 1997: 120); − Abweichungen von Normen des Deutschen wie bei Seit dem Zug nach Deutschland war Zeit dahin (Biondi 1997: 37); − Versuche, den italienischen Akzent ins Deutsche zu transkribieren, so bei Aine Woche, zwai Wochen, drai Wochen (dt.: Eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen) (Biondi 1997: 38). __________ 3 Konstanter Gebrauch von Wörtern und Ausdrücken aus dem italienischen Lebenskontext. 4 Vgl. Clyne (1968), Dittmar/ Klein (1975), Meisel (1975), Riehl (2004). 5 Indem Biondi dem Absolutismus sprachlicher Konventionen bewusst mit ungebräuchlichen Sprachfiguren entgegentritt, stellt er Sprache in ihrer Selbstverständlichkeit und autoritären Selbstgenügsamkeit in Frage - nicht nur die deutsche, sondern auch die italienische; denn so wie die Herkunftssprache die deutsche Ausdrucksweise beeinflusst, verändert die Auseinandersetzung mit der n e u e n Sprache auch die a l t e Sprache, die Herkunftssprache, die durch Einwandern neuer Elemente gewissermaßen v e r f r e m d e t wird. 6 Vgl. Földes (1996, 1999). Interkulturalität als Identität 231 Biondi widersetzt sich in seiner vom konventionellen Sprachgebrauch abweichenden Sprachform allen Tendenzen der Sprachnormierungsinstanzen, die deutsche Sprache wie ein Monopol zu verwalten. Die aus der Muttersprache des Autors stammenden Wörter und Wortspiele wirken im deutschen Text buchstäblich wie Fremdkörper und fungieren als Infragestellungen der menschlichen Verfügungsmacht über die Sprache. Biondi spielt mit dem Effekt des F r e m d w o r t s und erzeugt damit Kraftfelder zwischen Text und Übersetzung, um das, was die sprachliche Konvention verdeckt, hervorzuheben, sodass „[d]ie Diskrepanz zwischen Fremdwort und Sprache […] in den Dienst des Ausdrucks der Wahrheit treten“ kann (Adorno 2003: 220). Die fremde Sprache wird zu einer spezifisch eigenen umgeformt, die weit über die gängigen und etablierten Ausdrucksweisen hinausgeht und sich dem Prinzip der Verständlichkeit und damit auch dem Willen zur Vermittlung und Verständigung entzieht. Diese paradoxe Strategie des literarischen Hermetismus trägt Züge der Subversion; der adäquate Ort des Sprechens und Schreibens kann folglich nur ein dritter Ort sein, ein Ort zwischen den Kulturen, fernab der Konvention und des gemeinsamen linguistischen Kanons und somit jenseits der problemlosen Konsumierbarkeit von Texten. 7.4 Sprache als kulturkonstituierendes Medium In einer Vielzahl von Sprachfiguren wird die Sprache der Fremde porös und beginnt für das ihr Fremde durchlässig zu werden, für die Sprache des Anderen, sodass die Eindimensionalität des Sinns zu oszillieren beginnt und sich ein neues kulturelles Gedächtnis entwickelt. Sprachliche Kommunikation zu verstehen heißt dann, sie als Szenario einer Auseinandersetzung in der Sprache sich begegnender und widerstreitender Weltsichten zu erkennen. Indem Biondi die deutsche Sprache mit seinem ureigenen, ihr fremden Kulturgedächtnis ausstattet, erlangt seine Literatur die Funktion einer interkulturellen Balance, die sich durch die wesentliche ästhetische Formbestimmung seiner Produktion bezeichnen lässt: einer „dialogischen Sprache […] die zentrale Kategorie seines Schreibens, die sich als interkulturelle Authentizität definieren läßt“ (Chiellino 2001: 83). „Nicht Vermittlung, sondern interkulturelle Glaubwürdigkeit der Inhalte und der Ziele ist die neue Grundlage“ (Chiellino 2001: 83). Somit ist das Schreiben kein Angebot zum Dialog. Vielmehr wird die Sprache durch Überwindung nationaler Beschränkungen in einem dialogischen Prozess zum Ort des bikulturellen Gedächtnisses (vgl. Chiellino 2001: 84). Ausgehend von Sprache als kulturell vorgegebenem Zeichensystem und von der Kulturgebundenheit jeglicher Textinterpretation wird Biondis Literatur mit ihren neuen interkulturellen Zeichensystemen zum Paradebeispiel des variab- Rossella Pugliese 232 len Paradigmas, dem die Literatursemiotik durch ihre Methodenvielfalt angemessen begegnen kann. Sie gestattet es, literarische Texte [mit der Frage nach ihrer Funktion] in einer Kultur zu konfrontieren. […], einen Zusammenhang zwischen literarischen Texten und der Kultur herzustellen, in der sie und aus der sie entstanden sind, […] und die Leistung der Literatur in der jeweiligen Kultur und für die Kultur zu bestimmen […] Literatursemiotik ist als Kulturwissenschaft zu sehen (Figge 1999), die besonders interkultureller Literatur in einzigartiger Weise gerecht wird. 8 Biondis interkulturelle Identität 8.1 Vereinbarkeit von Theorie und Praxis Basierend auf den Grundannahmen, dass Identität als Sonderfall von Wirklichkeit und als Ergebnis einer kommunikationsgestützten Orientierungsinteraktion konstruiert wird und das Kommunikationsmittel Sprache nicht zuletzt aufgrund seiner „Nichthintergehbarkeit“ (vgl. Holenstein 1980) wesentlich an der Wirklichkeitskonstruktion beteiligt ist, darf man Identität zu Recht als sprachlich ausgehandeltes Konstrukt verstehen, 7 das folglich - wie im Fall Biondi - auch erschrieben werden kann. Im Einklang mit etablierten Identitätstheorien 8 vereint Biondis interkulturelle Identität sowohl Heterogenität (anderen Identitäten gegenüber sowie in sich selbst), die sich aus dem Verlangen nach Gruppenzugehörigkeit und dem Wunsch, man selbst zu sein, nährt, als auch Prozesshaftigkeit 9 (vgl. Erikson 1973: 56); denn da sich Verlangen und Wunsch auf ein unerreichtes und womöglich unerreichbares Ziel richten, bilden sie den Anstoß für einen fortwährenden Prozess, in dessen Verlauf sich der Migrant einer Zugehörigkeit überhaupt erst annähern kann und sich sprachlich-kulturell neu zu definieren versucht sowie danach trachtet, ein neues Selbst zu entwickeln bzw. sein Selbst weiterzuentwickeln. Der plurale Charakter interkultureller Identität formt sich durch den Identitätsverlust des Migranten, der das Gefühl von Gleichheit und Kontinuität sowie den Glauben an die eigene soziale Rolle verliert, der nicht bleibt, wer er war, sondern in der Fremde ein anderer wird - vornehmlich vermittels krisenhafter Situationen, die den Weg seiner Migrationserfahrung säu- __________ 7 Siehe 3. Sprache und Identität. 8 Siehe 3.2 Identität als sprachlich ausgehandeltes Konstrukt. 9 Siehe 4. Psychosoziale Identitätsaspekte. Interkulturalität als Identität 233 men und seine Identitätsentwicklung mit Instabilität durchsetzen (vgl. Erikson 1973: 56). Im interkulturellen Kontext kann Identitätsbildung nicht nur als prozesshaft gelten, weil sie eine Entwicklung beschreibt, sondern muss sogar prozesshaft sein, wo Identität trotz ihrer heterogenen Gestalt nicht in unvermittelbare Differenzen zerfallen soll. Unter Berücksichtigung psychosozialer Gesichtspunkte bietet sich letztlich ein Identitätsbildungsmodell, das die seelische Instabilität des Migranten durch seinen Identitätsverlust erklärt und zugleich eine individuelle Entwicklungsperspektive aufzeigt, die den marginalen Status des Migranten in der Gruppe auf nichtassimilativem Weg überwindbar macht. Pluralen Charakter und Dynamik, die der interkulturellen Identität innewohnen, weiß Biondi mit seinem dialogischen Sprachmodell in überzeugender Weise programmatisch zu fassen und durch die literarische Konkretisierung glaubhaft und nachvollziehbar zu vermitteln. Auf der Grundlage sprachlich-kultureller Verquickung lässt er eine neue, erhabene Sprache entstehen, die den Migranten aus seiner Sprachlosigkeit erlöst, ihm eine Orientierung bietet und letztlich seine Verzweiflung in Hoffnung verwandelt, die Hoffnung auf eine neue, interkulturelle Identität. 10 8.2 Kein Tausch des Eigenen gegen das Fremde Biondis interkulturelle Literatur lebt von einem Prozess unendlicher Differenzierung in der Phase eines immer neuen Aufschubs der Identitätsfindung. Der Verlust von Heimat und Herkunftssprache wird nicht durch eine neue (sprachliche) Heimat kompensiert. In keinem Fall bedeutet interkulturelle Identität bei Biondi den Tausch des Eigenen gegen das vermeintlich identitätsstiftende Fremde. Der Migrant, der aus dem einen kulturellen Raum in den anderen tritt, bleibt ein Wanderer zwischen den Welten und bewahrt dadurch den Traum von Freiheit. Diese ist eins mit der Überwindung von Melancholie und Schwermut, die der Sehnsucht nach Heimat, nach Wurzeln und festem Boden unter den Füßen entspringen (vgl. Rushdie 1985). Die aus der ursprünglichen Trennung resultierende Melancholie wird fruchtbar gemacht; sie wird produktiv, indem sie sich als Abschied ohne neue Ankunft versteht, während der Migrant als Wanderer in Bewegung bleibt und seine Wanderschaft fortsetzt, ohne sesshaft zu werden. Doch Melancholie resultiert nicht nur aus der Einsicht in den Verlust des Ursprungs und die Unmöglichkeit seiner Wiederherstellung, sondern auch aus dem Blick, der die Wirklichkeit in der Perspektive des Möglichen und Veränderbaren sieht. __________ 10 Im Sinne einer sprachlich und orientierungsinteraktiv konstruierten Identität. Rossella Pugliese 234 8.3 Eine Identitätsfrage mit offenem Ende So authentisch Biondis italienisch-deutsche Sprachkontakte aufgrund seines lebensgeschichtlichen Hintergrunds und der eigenen Migrantenerfahrungen auch sein mögen, so wenig faktisch präsentiert er seine interkulturelle Identität. Indem er sie in ein literarisches Gewand kleidet, macht er sie zum „empirisch gegebene[n] Artefakt “ (Figge 1999) und somit zu einer erfundenen Größe, die keinen absolutistischen Anspruch auf Wahrhaftigkeit erhebt. „Da die literarisch konstruierte Welt per se nicht Realität und Wirklichkeit, sondern nur Modell einer solchen sein kann, ist sie in ihren Merkmalen nicht als ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ zu bewerten, sondern sie entzieht sich prinzipiell dieser Klassifikation“ (Figge 1999). Wenngleich man Biondi unterstellen darf, mit seinem Werk eine Intention zu verfolgen und die Rezipienten auf eine bestimmte Bedeutung hin orientieren zu wollen, wird er durch die Wahl der literarischen Form der Tatsache gerecht, dass es aus konstruktivistischer Sicht keine feste, determinierte Bedeutung gibt. In diesem Sinn darf auch seine interkulturelle Identität als literarisch inszeniertes subjektives Wirklichkeitskonstrukt verstanden werden, über das sich letztlich jeder Rezipient - so viel zumindest scheint festzustehen - sein eigenes Urteil bilden kann. Doch dieses bleibt ebenso offen wie das (un)mögliche Ende 11 der Identitätsfindung in Biondis Literatur. Denn das Spektrum subjektiver Wirklichkeitskonstruktion offeriert einen ungeahnten Nuancenreichtum, der alles möglich erscheinen lässt - in der realen wie in der literarischen Welt. 9 Literatur Adorno, Theodor W. (2003): Noten zur Literatur. Frankfurt am Main. Amodeo, Immacolata/ Hörner, Heidrun/ Kiemle, Christiane (Hrsg.) (2009): Literatur ohne Grenzen: Interkulturelle Gegenwartsliteratur in Deutschland: Porträts und Positionen. Sulzbach. Apel, Karl-Otto (1993): Pragmatische Sprachphilosophie in transzendentalsemiotischer Begründung. In: Stachowiak, Herbert (Hrsg.): Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens. Bd. IV: Sprachphilosophie, Sprachpragmatik und formative Pragmatik. Hamburg. S. 38-61. Bachtin, Michail M. (1979): Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main. __________ 11 Selbst für den Fall, dass Identität sich zeitlebens entwickelt und verändert und somit niemals ein Endstadium erreicht, kann der Mensch im Allgemeinen und der Migrant im Besonderen sich subjektiv doch als a n g e k o m m e n empfinden. Interkulturalität als Identität 235 Biondi, Franco (1997): In deutschen Küchen. Frankfurt am Main. Biondi, Franco (2007): Karussellkinder. Frankfurt am Main. Biondi, Franco/ Schami, Rafik (1981): Literatur der Betroffenheit: Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur. 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S. 102-104. Interkulturalität in der linguistischen Humorforschung Mihály Riszovannij (Szombathely) 1 Einführung Die linguistische Humorforschung der Gegenwart weist eine Reihe verschiedener Themen, Ansätze und Methoden auf. Ihre beiden Hauptrichtungen sind die Analyse der Strukturen komischer Texte („Warum wirk ein Text witzig? “) und die Untersuchung der Lachkulturen einer Gemeinschaft („Wer lacht worüber, aus welchen Anlass und in welcher Form? “). Interkulturalität als Aspekt und Schwerpunkt ist sowohl in den semantischpragmatisch ausgerichteten Analysen im Sprachvergleich, als auch im Rahmen der interaktionellen Linguistik vertreten, die sich auf die Lachkulturen multikultureller Gruppen konzentriert. Der vorliegende Aufsatz bietet anhand aktueller Trends und Fachliteratur einen Einblick in die interkulturelle Humorforschung, bei der sowohl die Textanalyse als auch die Diskursanalyse berücksichtigt werden. 2 Grundbegriffe: Interkulturalität, Komik, Lachkultur Unter ‚Kultur‘ verstehe ich entsprechend einer semiotischen Kulturdefinition ein dynamisches System von Zeichenbenutzern, Texten (d.h. Zeichenprodukten) und Kodes (Regeln) (vgl. Posner 1991). Ein Text ist dabei ein Artefakt, dem eine kodifizierte Bedeutung zugrunde liegt. Auch nonverbale Zeichensysteme können also als Texte betrachtet, müssen jedoch nicht als verbale Texte analysiert werden - es besteht keine Gefahr des „Linguizismus“. Kulturkontakt bedeutet somit das Aufeinandertreffen verschiedener Kodes und ihrer Benutzer, wobei verschiedene Phänomene, wie Kodewechsel, Kodemischung usw. auftreten können. Klassische Beispiele sind Kulturkontakte auf ethnischer und/ oder sprachlicher Grundlage (etwa „deutsch-polnischer Jugendaustausch“) mit oder ohne das Element des Exotischen („das ferne Fremde“). Auch die Interaktionen verschiedener Teilkulturen (Subkulturen) innerhalb einer nationalen oder Sprachkultur können als Kulturkontakt betrachtet werden. Beim Kulturkontakt treffen gleichzeitig parallele Normen- und Wertesysteme aufeinander, die auch die Kode- und Themenwahl und die Kommunikationsstrategien determinieren Mihály Riszovannij 240 bzw. beeinflussen. Das kann auch zum Konflikt führen - auch bei der humoristischen Kommunikation. In der linguistischen Humorforschung sind zwei Hauptrichtungen zu beobachten, die Erforschung von komischen Texten und von Lachkulturen. Beide sind miteinander eng verbunden, werden aber allzu oft gegeneinander ausgespielt wie die Systemlinguistik und die Pragmalinguistik/ die Soziolinguistik im Allgemeinen. Komik entsteht, vereinfacht formuliert, durch eine Diskrepanz im Text, die den Rezipienten zum Lachen bringt. Diese Diskrepanz muss bestimmte Kriterien erfüllen: Nicht jede Diskrepanz wirkt komisch bzw. lächerlich (denken wir an die nervöse Bemerkung „Hier riecht es so komisch...“). Diese Texte werden auch humoristische Texte genannt, ohne dem Begriff „Humor“ unbedingt eine philosophische und/ oder psychologische Dimension zu verleihen (als Weltanschauung, Verhaltensweise). Nach der Komik wird also meistens in den Texten gesucht, auf verschiedenen Ebenen. Lachkultur besteht aus den Lachenden (Zeichenbenutzer), dem Repertoire von komischen Gattungen (Texte, Zeichenprodukte) und den Kodes des Lachens. Es ist ein Regelsystem, das bestimmt, wer lacht worüber/ über wen aus welchem Anlass, in welcher Form und in welchem Kontext, analog zur „Esskultur“ oder „Sprachkultur“. 3 Interkulturalität und die Erforschung komischer Texte Die zentrale Fragestellung der linguistischen Komikforschung lautet: Was macht einen Text komisch, und was bringt den Rezipienten zum Lachen? Auf welcher Ebene soll man nach Diskrepanzen bzw. Inkongruenzen suchen, und welche Regeln werden dabei verletzt? Diese Untersuchungen - auch in der zeitgenössischen Linguistik - stehen in der Tradition der Rhetorik, Ästhetik und Literaturtheorie. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Semantik der Texte unter Einbezug der Pragmatik. Ein Teil der Arbeiten beschränkt sich auf die detaillierte Beschreibung der komischen Techniken von der Phonembzw. Graphemebene bis zur Textebene, andere versuchen eine erklärende („erklärungsadäquate“) Theorie zu bieten und verwenden dabei den von der generativen Linguistik geprägten Begriff der „Humorkompetenz“ (analog zur Sprachkompetenz). Die Arbeiten zur Komikforschung lassen sich in mehrere Gruppen einteilen, so z.B. Interkulturalität in der linguistischen Humorforschung 241 1) Theorie der Pointe, darunter literaturwissenschaftliche und volkskundliche, folkloristische Arbeiten (Müller 2003, Röhrich 1977) 2) Semantische und stilistische Analysen einzelner humoristischer Texte, z.B. von Witzen, monolingual und kontrastiv (Alexander 1997) 3) Textsortenspezifische Untersuchungen: Humor in der Werbung, Humor im Unterricht, Humor in den Medien usw. (Forgács/ Göndöcs 1997) 4) Theoretische Ansätze, etwa zur Semantischen Skript-Theorie des Humors (Attardo 1994) Als führenden theoretischen Ansatz möchte ich die Semantische Skripttheorie des Humors (SSTH) vorstellen. Sie wurde seit Mitte der 1980er von Viktor Raskin und seinem Schüler Salvatore Attardo erarbeitet und liegt in mehreren weiterentwickelten Versionen vor (Raskin 1985, Attardo 1994). Diese Theorie will ganz nach dem generativen Vorbild einer „Sprachkompetenz“ die so genannte „Humorkompetenz“ des Sprechers rekonstruieren, die Fähigkeit, humoristische Texte verstehen und produzieren zu können. Es ist allerdings keine Syntax-, sondern eine Semantiktheorie. Die zentrale Analysekategorie ist das semantische Skript, ein Informationsbündel, „eine internalisierte kognitive Struktur, die den Sprecher mit Informationen versorgt über Stand und Organisation der Dinge“ (Attardo 1994: 202ff.). Als Voraussetzung für den humoristischen Effekt, was einen Text komisch macht, erweist sich die Fähigkeit der Skripte, sich (total oder partiell) zu überlappen: bestimmte Textsegmente könnten mehreren Skripten zugeordnet werden und dadurch mit mehreren Lesearten kompatibel sein (Dies ist als etwas komplizierte Formulierung der Mehrdeutigkeit zu werten). Die Hauptthese der SSTH lautet: „Ein Text wird dann und nur dann witzig, wenn er mit zwei Skripten teilweise oder vollkommen kompatibel ist, und diese beiden entgegengesetzt sind“ (ebd. 205). Das ist kein neuer Gedanke in der langen Geschichte der Reflexion über Humor und Lachen. Bei Arthur Köstler heißt dieses Phänomen „Bisoziation“. Die meist untersuchte Gattung der SSTH ist der verbale Witz. Der Verlauf der Witzrezeption besteht aus den folgenden Schritten (ebd. 207): Aktivierung aller Skripte (Thema des Witzes, etwa “Arztbesuch“) → Lokutionsanalyse (das Gesagte im Witz) → Identifizierung der Bedeutungen → je nach Kompatibilität Aktivierung der Kombinationsregel → Dialogrekonstruktion, die Auslösung der Schlussfolgerungen. Wenn eine Lesart nicht passt, sucht man nach einem weiteren Skript. Nach der Kompatibilität wird auch der Gegensatz der Skripte erkannt, die Bedingungen der Witzigkeit erfüllt. Ob ein Text oder ein Gesprächssegment trotzdem witzig Mihály Riszovannij 242 sein kann, selbst wenn diese nicht erfüllt werden, bleibt offen. Es werden drei Klassen von Gegensätzen angenommen: aktuell/ nicht-aktuell; normal/ abnormal; möglich/ unmöglich, sowie fünf Typen von Hauptgegensätzen: gut/ schlecht, Leben/ Tod, obszön/ nicht obszön, Geld/ kein Geld, höherer/ niederer Status. Diese sind grundlegend, essenziell für das menschliche Leben - und weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kategorien der kognitiven Semantikbzw. Metaphertheorie auf. Somit ist die skriptbasierte Humorforschung zugleich eine Herausforderung für die semantische Theorie im Allgemeinen. Die ersten Versionen der SSTH analysierten fast ausschließlich vorgefertigte, verbale Witze (den „Standardwitz“), es wurden keine Segmente der spontanen Scherzkommunikation oder gar nonverbale Beispiele herangezogen. In der Weiterentwicklung der Theorie wurde sie auf andere Gattungen angewendet. Zusätzlich wurde die Pragmatik stärker mit der Annahme einer non-bonafide Kommunikation beim Witzerzählen betont. Über „Humor“ als Weltbetrachtungsmodus oder als Fähigkeit des Lachens wird wenig gesagt, und selbst bei der Erklärung der Komik wird alles auf die Skriptüberlappung zurückgeführt. Der Vater dieser Theorie, Salvatore Attardo sieht darin allerdings viel mehr: die „erste formale, ausgewachsene Anwendung einer semantischen Theorie auf Humor“. Da sie als formale Theorie Voraussagen macht und getestet werden kann gegen „harte Fakten“, sei sie „die epistemologisch stärkste linguistische Theorie, die es gibt“ (ebd. 207). Seine Kritiker sehen das allerdings anders. Die Gesprächsforscherin Helga Kotthoff bemängelt, dass bei der SSTH Humor „intrinsisch auf der Textebene verortet wird“. Das Weltwissen erlangt kaum Berücksichtigung, es bleibt insgesamt bei einer „kontextfreien Theorie“. Die Folge ist die „Beschneidung der Kreativität“ des Sprechers - und auch der interkulturellen Bezüge (Koffhoff 1998: 47). Interkulturalität taucht in der SSTH explizit nicht auf, trotzdem ist sie als Voraussetzung kaum zu übersehen. Zu den Beispielen für interkulturelle Fragestellungen gehören u.a. folgende Fragen: Wie sind die Makroskripte und komplexen Skripte in den Einzelsprachen aufgebaut? Gibt es Universalien oder Universalientendenzen bei den Skripten? Welche Rolle spielen die Wortfelder und der Aufbau des Lexikons? Sind sie interlingual betrachtet identisch, und wenn nein, welche Abweichungen lassen sich feststellen? Wie können dann Äquivalenzen erarbeitet werden in einer Kontaktsituation und welche Stellen führen zu Missverständnissen und Konflikten bei einem interkulturellen Kontakt? Sind diese Witze übersetzbar und wenn ja, auf welcher Grundlage? Auch andere Trends der systemlinguistischen Komik- oder Witzforschung haben die interkulturellen Aspekte längst erkannt. Dabei ist vorwiegend der Sprachvergleich gemeint, der aber heute nicht mehr ohne Kulturvergleich auskommen kann. Der Sprachvergleich erfolgt auf Lexem-, Satz und Textebene, die interkulturellen Aspekte werden je nach Kontext und Gattung einbezogen. Interkulturalität in der linguistischen Humorforschung 243 4 Interkulturalität und die Erforschung der Lachkulturen Die Erforschung von Lachkulturen erfolgt im Rahmen der interaktionellen Soziolinguistik und der anthropologischen Linguistik. Sie konzentriert sich auf die Lachgemeinschaften, die Produzenten und Rezipienten des Lachens, sowie die Strategien und Regeln der Scherzkommunikation (vgl. Kotthoff 1996a, 2003). Mit diesem Begriff werden Interaktionsformen bezeichnet, in denen ein Lachen (bzw. das Komische, der humoristische Effekt) gemeinsam „produziert“ wird: In Gesprächen konstruieren die Teilnehmer die Pointen. Dabei wird weniger auf vorgegebene Witze und Skripte zurückgegriffen, sondern vielmehr auf das gemeinsame Weltwissen, die Assoziationspotenziale der Gruppenmitglieder und eine Reihe pragmatischer Mittel wie Konversationsmaximen, Präsuppositionen und Implikaturen (s. detailliert in Kotthoff 1998). Je nach Kategorien wie Alter, Geschlecht oder sozialem Status entstehen spezielle Lachgemeinschaften und durch die unterschiedlichen Regeln, die dabei verwendet werden auch verschiedene Lachkulturen. Daher steht der Begriff in Pluralform - im Gegensatz zu seiner Verwendung bei dem Klassiker kulturhistorischer Lachkulturforschung, dem Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1985). Eine der zentralen Kategorien, nach der sich Lachkulturen gliedern und charakterisieren lassen, ist das soziale Geschlecht/ gender. Es ist ein Regelsystem, das bestimmt, wie sich Männer als Männer und Frauen als Frauen in einer Gemeinschaft zu verhalten haben. Eine vergeschlechtlichte Lachkultur ist demnach eine Lachgemeinschaft, in der das Geschlecht als ordnungstiftendes System eine zentrale Rolle spielt und bestimmt wer worüber, und in welcher Form lachen kann bzw. darf - als Frau oder als Mann, und wie das auf seine Männlichkeit bzw. ihre Weiblichkeit zurückwirkt? In einer Reihe von Untersuchungen wurden sowohl Formen und Funktionen des Lachens in gleichgeschlechtlichen Lachgemeinschaften als auch Asymmetrien des Lachverhaltens in gemischt geschlechtlichen Gruppen mit asymmetrischen Hierarchien aufgezeigt (vgl. Kotthoff 1996b). Eine besondere Leistung dieser Rekonstruktion war die Entdeckung der marginalisierten Artikulationsformen des „weiblichen Gelächters“, wie das Werk von Kabarettistinnen, Komikerinnen und Karikaturistinnen - in Geschichte und Gegenwart. In der soziolinguistischen Humorforschung ist Interkulturalität insgesamt viel stärker und expliziter präsent als in den Abhandlungen auf systemlinguistischer Basis. Oft ist die interkulturelle Betrachtungsweise sogar Voraussetzung für eine erfolgreiche, adäquate Beschreibung und Erklärung der Phänomene. Zum einen wird die Scherzkommunikation zwischen homogenen bzw. sich als homogen inszenierenden Gruppen untersucht, interkulturelles Wissen (inklusive Stereotypen und Vorurteile) spielt dabei sowohl vor als auch Mihály Riszovannij 244 nach dem Kulturkontakt eine Rolle. Zum Beispiel wenn Vertreter zweier Ortschaften oder Gangs aufeinander treffen und es zu Ortneckereien oder zum verbal duelling/ verbalen Duell kommt (vgl. den Klassiker von Dundes et al. 1970 oder neuere Anwendungen wie z.B. Pagliai 2009). Hierzu gehört auch der symbolische Kampf in Kriegszeiten zwischen zwei (oder mehreren) Lagern oder Parteien. Scherzkommunikation wird auch in heterogenen Gruppen betrieben, wobei Interkulturalität durch ihre Zusammensetzung (multiethnisch, multilingual) bereits in der Gruppe existiert und die Scherzkommunikation steuert. Als Beispiele für die Scherzkommunikation dieser Art seien die Untersuchungen in Gruppen mit Migrationshintergrund bzw. in gemischt ethnischen Gruppen erwähnt, z.B. das Lachverhalten von deutsch-italienischen oder deutsch-türkischen Kindern und Jugendlichen (Bierbach 1996, Keim 2008), ferner die verbalen und auch humoristischen Strategien von Roma-Kindern - für Ungarn besonders relevant (Réger 2002). Auch Kategorien, die in der interkulturellen Linguistik bzw. in der interaktionellen Soziolinguistik eine Rolle spielen, finden in der zeitgenössischen Erforschung der Lachkulturen Verwendung. Die Kategorie „Alter“ zum Beispiel kommt nicht nur bei Untersuchungen zum „Gelächter in den Jugendgruppen“ vor, sondern auch das „Senioren/ Seniorinnengelächter“ wird thematisiert - eine höchst spannende Interaktionsform, bei der sich Geschlecht und Alter gegenseitig beeinflussen (Streeck 1996). Ferner finden wir Untersuchungen zum Lachverhalten im Beruf, wie hierarchisches Gelächter Asymmetrien des Lachverhaltens in Krankenhäusern, an der Universität usw. (Coser 1996, Pizzini 1996). Hier kommen die Kategorien Beruf, sozialer Stand bzw. soziale Gruppe zur Geltung und interagieren ebenfalls mit der Kategorie Geschlecht. Neben den Lachkulturen der Privatsphäre (d.h. Neckereien und Scherzen in der Familie oder unter Freunden, vgl. Günther 1996, Hartung 1996, Kotthoff 2002) bekommt auch die Scherzkommunikation in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit (Mediengelächter, politische und Talk-Shows, vgl. Kotthoff 1996). Auch die angewandte Kommunikationsforschung, die an Lösungsvorschlägen bei Kommunikationskonflikten am Arbeitsplatz arbeitet, zeigt ein immer größeres Interesse an den Fragen der interkulturellen Scherzkommunikation (Marra/ Holmes 2007). Weitere Analysen der Lachkulturen des öffentlichen Lebens konzentrieren sich auf öffentliche Rituale des Lachens, mit Schwerpunkten wie Tabuverletzungen oder das Karnevaleske (Schröder und Rothe 2002). Die zentrale Fragestellung bleibt dabei unabhängig von der ausgewählten Gruppe: Wer lacht wann, worüber, unter welchen Umständen und in welcher Form? Die zusätzlichen Fragen betreffen die Kontexte und die Funktionen des Lachens, ferner sein Beitrag zur De- und Rekonstruktion der zugrunde liegenden sozialen Normen (Schröder 2002: 20). Auch die angewandte Kommunikationsfor- Interkulturalität in der linguistischen Humorforschung 245 schung, die an Lösungsvorschlägen bei Kommunikationskonflikten am Arbeitsplatz arbeitet, zeigt ein immer größeres Interesse an den Fragen der interkulturellen Scherzkommunikation (Marra/ Holmes 2007). 5 Interkulturalität und Normverletzungen Mit diesem Überblick beider Trends wollte ich zeigen, dass Interkulturalität aus der Scherzkommunikation und somit aus der Humorforschung überhaupt nicht wegzudenken ist. Doch was bedeutet „Humor“ im Kulturvergleich? Kann man überhaupt einen allgemeingültigen Humorbegriff, eine Grundformel für die Entstehung humoristischer Effekte angeben? Was soll dabei hervorgehoben werden? Die Fähigkeit, Texte als komisch wahrnehmen zu können (interkulturelle Humorkompetenz) oder mehr Humor im ursprünglichen Sinne eines Gemütszustandes: die Welt gelassen zu betrachten und seine Unzulänglichkeit durch Lachen zu bewältigen? Geht es um unterschiedliche Strukturen, Muster und Realisierungsstrategien humoristischer Texte in verschiedenen Kulturen? Um die kulturellen Unterschiede bei der Wahrnehmung der Diskrepanzen, als Teil eines unterschiedlichen Wahrnehmungssystems (Relativismustendenzen)? Um unterschiedliche gruppeninterne und gruppenexterne Regelungen, Sanktionierungen des Lachverhaltens im Rahmen der Lachkultur? Auch zur Handhabung dieser Herausforderung bieten sich entsprechende Ansätze an. Das Lachen setzt zwar die Wahrnehmung einer Normwidrigkeit voraus (normwidriges Verhalten oder Aussehen), aber die Art der Normverletzung sowie das Verhältnis des Rezipienten den verletzten Normen gegenüber beeinflusst das Lachen maßgeblich. Nicht alle Normverletzungen führen zum Lachen. So bemerkte bereits Aristoteles: Das Lächerliche sei „ein mit Hässlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht“ (1999: 17, in der Übersetzung von Manfred Fuhrmann). Diesen alten Gedanken formuliert der Amerikaner Thomas Veatch in seiner „Allgemeinen Theorie des Humors“ auf spezielle Weise neu. Er untersucht die beiden Hauptkomponenten die im humoristischen Prozess, bei der Entstehung des Lacheffektes entscheidend sind: den Grad der Verletzung der Ordnung der Dinge (Violation = V) und ihre Akzeptanz durch den Rezipienten, das Gefühl der Normalität (Normality = N) (Veatch 1998: 163). Diese beiden Komponenten sind die Voraussetzungen für den humoristischen Effekt und müssen im Gleichgewicht stehen, damit Lachen (und keine Gleichgültigkeit) und nur Lachen (und kein Schmerz) verursacht werden. Nach Veatch können drei Möglichkeiten entstehen: Mihály Riszovannij 246 1. Es wird nicht gelacht, wenn in einer Situation das Gefühl der Normalität herrscht, ohne dass irgendeine Normverletzung nachvollziehbar wäre (es gibt keine oder wird nicht wahrgenommen (+N, -V). 2. Sind die beiden Komponenten gleich stark präsent und im Gleichgewicht (+N, +V), dann wird eine komische (witzige) Verletzung wahrgenommen und es wird gelacht. 3. Aber wenn die verletzende Komponente ohne das Gefühl der Normalität, der Akzeptierbarkeit dominiert (-N, +V), entsteht eine schmerzhafte Verletzung und es wird ebenfalls nicht gelacht (Veatch 1998: 177). Diese Gradualität erklärt auch, warum jemand über bestimmte Phänomene lacht, und andere nicht (sein subjektives N-Element weicht von Phänomen zu Phänomen ab) und warum Bilder oder Texte, die einmal als komisch gewirkt haben, mit der Zeit ihre humoristische Wirkung verlieren oder gar Schrecken und Entsetzung auslösen können (z.B. waren Feindbilder teilweise lächerlich - heute tun uns die Opfer leid). Die Herausforderung für eine interkulturelle Humorforschung ist es bei diesem Ansatz, die Regelmäßigkeiten und Unterschiede bei der Realisierung der Drei-Stufen-Skala in den einzelnen Kulturen (bzw. Lachkulturen) zu identifizieren und zeigen, wie die Unterschiede des Lachverhaltens, die Ursachen von Missverständnissen zu erklären sind - mithilfe dieser Parameter: Wie wird eine Diskrepanz verstanden (wenn sie verstanden wird): als lustig, witzig, komisch - es kann gelacht werden; als verletzend - es kann nicht gelacht werden; als normiert verboten - es darf nicht, kann aber gelacht werden, siehe dazu die Forschungsrichtung „Humor in Diktaturen“. Ein weiterer Ansatz sei noch erwähnt, wegen seiner ähnlichen Annahme einer Skala der Variablen. In seiner „Semiotik des Lachens“ unterscheidet Lothar Fietz zwischen zwei Formen des Lachens - nach der Art der zugrunde liegenden Normabweichung. Zum einen kann die Verletzung von Normen ein moralisch-kritisches Überlegenheitslachen auslösen, wenn diese Normen von den Betrachtern als gültig und richtig angesehen werden (Kleidungskode, Verhaltensmuster) (Typ A). Dies ist der Fall bei den Spottfiguren, ob in Literatur oder Film. Werden aber die in der Darstellung verletzten Normen als bereits überholt angesehen, kann man mit einem zustimmenden, sympathisierenden Lachen rechnen (Typ B) (Fietz 1996: 19f.), wie es bei den Protagonisten von systemkritischen Witzen und anderen „positiven Figuren“ der Fall ist. Man kann also den Protagonisten aus der Position der Überheblichkeit auslachen oder mit ihm solidarisch mitlachen. Zusammenfassend lassen sich diese Typen der Normverletzungen wie folgt darstellen: Interkulturalität in der linguistischen Humorforschung 247 Norm dargestellter Akt Formen des Lachens Typ A + richtig richtig → moralisch-kritisches Überlegenheitslachen Typ B richtig + richtig → zustimmendes Lachen Bei der interkulturellen Erforschung von Lachkulturen hilft der Einbezug dieses Ansatzes die Klärung der Fragen, welche Normen bei der jeweiligen Inkongruenz verletzt und wie Sie wahrgenommen werden, ferner, welche Art des Lachens dabei - wenn überhaupt - entsteht. 6 Ausblick Bei den aktuellen Herausforderungen stellt sich immer wieder die Frage nach dem „interkulturellen Humorbegriff“: Lässt sich eine allgemein gültige Definition oder zumindest ein Rahmen aufgestellt werden, mit kulturspezifischen Parametern? Durch die Entstehung multikultureller Gesellschaften sind konkurrierende Humorverständnisse und interagierende Lachkulturen am selben Ort präsent, dies kann zu Missverständnissen und Konflikten führen, deren Lösung auch einen kommunikationswissenschaftlichen Beitrag erwarten. Durch die Massenmedien erreichen die „humoristischen Texte“ die Mitglieder anderer Lachkulturen, was zu vergleichbaren Konflikten führt, wie der Lachkonflikt in der interpersonellen Interaktion. Die Wirkungen der „Globalisierung der Scherzkommunikation“ sind eine weitere Herausforderung: Wie wirkt die Massenkommunikation auf das Humorverständnis einzelner Kulturen aus? Wird es nur Konflikte und weitere „Karikaturenkriege“ geben, oder kann diese Pluralität der Lachkulturen einen Beitrag zur Annäherung und Verständigung leisten? Auch diese Beantwortung dieser Fragen wartet auf die die interkulturelle Humorforschung. 7 Literatur Alexander, Richard J. (1997): Aspects of Verbal Humour in English. Tübingen. 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Und so hat die pragmatische Wende einen „cultural turn“ (Linke 2003: 36) bzw. eine „kulturalistische Wende“ (Hartmann/ Janich 1998) nach sich gezogen. Durch gewisse Umstände wie durch Migration multikulturell gewordene Gesellschaften, im Zeitalter der medialen Herrschaft und Globalisierung zunehmendes Zusammenrücken der Kulturen, weltmarktübergreifende Wirtschaftsinteressen und die Konflikte bzw. Auseinandersetzungen mit kulturellem Kolorit haben kulturelle Themen mehr an Bedeutung gewonnen, besonders in interkultureller Dimension. 1 Folglich haben die Fragen der Interkulturalität Einzug in etliche Wissenschaften gefunden, die in Begegnungen zwischen verschiedenen Kulturen konfliktöse Stellen aufzuspüren und interkulturell schlichtend einzuwirken versuchen. Interkulturell ausgerichtete Wissenschaften sind aus dem Boden geschossen, wie u.a. interkulturelle Philosophie, interkulturelle Pädagogik, interkulturelle Managementforschung, interkulturelle Psychologie (vgl. Hausstein 2000: 231, Földes 2003: 21ff.) In der Germanistik wollte man dieser Entwicklung nicht nachstehen. Zu recht: In den verschiedensten Teilen der Welt werden Germanistikstudien angeboten und die Fragen der Beziehung zwischen Inlands- und Auslandsgermanistik drängen sich auf. Die Folge war die Gründung der interkulturellen Germanistik (dazu Wierlacher 2003). Auf der Suche nach einem Beitrag der Linguistik innerhalb der interkulturellen Germanistik hat man sich ebenfalls um die Etablierung einer interkulturell orientierten Linguistik bemüht, die sich interkulturellen Fragestellungen widmet (Kniffka 1995, Földes 2003, Hermanns 1996, 2003). Diese Ansätze haben sich jedoch ausschließlich mit linguistischen Aspekten beschäftigt, die sich aus der Verschiedenheit der Kulturen ergeben. __________ 1 Vgl. Ehlich (1996: 922f.), Zojer (2001: 52). Nach Zojer (ebd.) soll das Interesse für interkulturelle Fragen bereits in den dreißiger und vierziger Jahren vorhanden gewesen sein. Elsayed Madbouly Selmy 252 Dazu gehören vor allem kulturelle Einflüsse auf die Sprache bzw. kulturelle Implikationen in der Sprache und ihre Auswirkung beim Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen. Einzelne linguistische Bereiche wurden auf diese Weise um eine interkulturelle Dimension erweitert. Für solche Fragestellungen waren selbstverständlich linguistische Teildisziplinen wie Pragmatik und Semantik fruchtbarer als andere. Anfangs hat man sich daher auf diese Bereiche fokussiert. Raster (2001, 2002, 2008) hat den Grundstein für eine andere, interkulturell ausgerichtete Linguistik gelegt, die ihre eigene Interkulturalität zum Untersuchungsgegenstand macht. Diese Forschungsrichtung fußt auf der Erkenntnis, dass „die Linguistik selbst in verschiedenen Kulturen auf verschiedene Weise existiert“ (Raster 2001: 9). Und somit bestehen viele Kontakt- und Transfermöglichkeit zwischen den verschiedenen Linguistiktraditionen, womit sich eine auf ihre Interkulturalität bezogene Linguistik befassen kann. Im Gegensatz zu den linguistischen Beschäftigungen mit Fragen der Interkulturalität ist diese Form interkulturell orientierter Linguistik „noch unzureichend entwickelt“ (Raster 2008: 120), obwohl sie für die Linguistik selbst etliche Vorteile mit sich bringen kann. In diesem Beitrag will ich die Idee einer ihre eigene Interkulturalität thematisierenden Linguistik weiter verfolgen und ihre Gegenstandsbereiche, ihre Vorgehensweisen und ihren Erkenntniswert zu bestimmen versuchen. Vorher werden aber die Vorstöße zu einer interkulturell orientierten Linguistik vorgestellt, dann die Herangehensweisen zur Erfassung der Beziehung zwischen Kultur und Sprache exemplarisch geschildert. Dabei werden diesbezüglich einige Mängel bzw. Probleme angesprochen. 2 Linguistische Interkulturalität Ohne die immer in einer Sackgasse endende Diskussion über den für die Thematik des Beitrags relevanten Begriff Kultur anzuzetteln, kann man vereinfacht konstatieren, dass Kulturelles sich im „gesamten Lebensraum des Menschen“ (Zojer 2001: 50) zeigt, aber auch in seinem „Verhalten“ und seinen „Aktivitäten“ als Kulturträger, die durch „die von ihm internalisierten Regeln und Muster“ bestimmt werden (Grucza 2000: 20). Die Sprache ist ein „integraler Bestandteil“ der Kultur (ebd. 22). Daher rührt die wechselseitige Beziehung zwischen Kultur und Sprache. Einerseits unterliegt die Sprache in vielerlei Hinsicht kulturellen Einflüssen und ist der Sammeltiegel, in der „sich die Kultur [zeigt]“ (Hermanns 2003: 365). Andererseits ist Kultur von der Sprache abhängig. Kulturelles benötigt nämlich die Sprache als Medium, damit es „praktiziert“ und „tradiert“ werden kann (ebd.). In der Regel spricht man von der „Kulturgebundenheit“ Interkulturalität der Linguistik 253 (Hermanns 1996: 339, 2003: 363) der Sprache. Abwegig wäre es jedoch nicht, auch von der Sprachgebundenheit der Kultur zu sprechen. Die Beschäftigung mit dem Wechselverhältnis zwischen Kultur und Sprache ist ein Dauerthema in der Linguistik, mit Höhepunkten und Phasen der Peripherisierung. Was die deutsche Sprachwissenschaft anbelangt, so zeigen die Betonung der Beziehung zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit bei Humboldt, Weisgerber und anderen, sowie die Aufdeckung des in der Sprache verankerten kulturellen Gutes bei Bopp, Grimm und anderen das frühe Interesse an dieser Thematik. 2 Multikulturell gewordene Gesellschaften, die Verflechtung der Beziehungen und Interessen im Zuge der Globalisierung und ethnische Auseinandersetzungen haben die Fragen der Interkulturalität etlichen Wissenschaften aufgezwungen. Der Anstoß für die Überlegungen, eine interkulturell ausgerichtete Linguistik zu etablieren, war die Gründung der interkulturellen Germanistik von Wierlacher und Co. als ein „neue(s) Paradigma“ (Wierlacher 2003: 3) und die damit verbundene Fokussierung auf interkulturelles Lernen bzw. interkulturelle Kompetenz. Zu den „Fachkomponenten“ der interkulturellen Germanistik gehört nämlich „Linguistik mit Fremdsprachenerwerbsforschung“ (ebd. 13). Die ersten Vorstöße zur Etablierung einer interkulturell ausgerichteten Linguistik stimmen im Ansatz überein, unterscheiden sich aber zum Teil in der Akzentsetzung. Eine „kulturkontrastive Linguistik“ schließt für Kniffka (1995) zwei Komponenten ein: „(a) contrastive descriptive linguistics dealing with cultural contrast as the object of the description and explanation“ und „(b) culture-contrastive applied linguistics, when it refers to FL-teaching in cultural contrast situations“ (ebd. 17). Ausgangspunkt der Überlegungen von Kniffka ist die Überzeugung, dass „systemlinguistische Perspektiven als Bezugswissenschaft für die Beschreibung des Kulturkontakts grundsätzlich nicht aus(reichen)“ (ebd. 65), besonders in Situationen mit Sprach- und Kulturkontrast. Dazu sollen „soziolinguistische und anthropologisch-linguistische Fragestellungen“ (ebd. 25) einbezogen werden. Am Beispiel des Fremdsprachenunterrichts bzw. Spracherwerbs im Ausland (besonders in Saudi Arabien und China) stellt Kniffka ein Modell vor, wie die „Dichotomie“ allgemeine und angewandte bzw. interdisziplinäre Sprachwissenschaft aufgehoben und in solchen Situationen ein angemessener Beschreibungsapparat entwickelt werden kann (ebd. 68). Einerseits liefert die allgemeine Sprachwissenschaft „Grundlagen“ für die Anwendung, durch „Rückkoppelung“ gewinnt sie andererseits „neue Erkenntnisse“ __________ 2 Einen Überblick über diachrone/ synchrone und deutschsprachige/ nichtdeutschsprachige Beschäftigungen mit Kultur und Sprache findet man bei Földes (2003: 12ff.). Elsayed Madbouly Selmy 254 (ebd. 64). Ein Ideal-Zustand für Kniffka besteht darin, dass die allgemeine Sprachwissenschaft schon bei ihrer Grundlagenforschung anwendungsorientiert und interdisziplinär vorgeht. Bezogen auf den Sprach- und Kulturkontakt im Fremdsprachenunterricht schließt die „Konzeption von allgemeinsprachwissenschaftlicher Grundlagen- und Anwendungsforschung“ drei Größen ein, die interrelational in den jeweiligen Kulturen betrachtet werden sollen: „Grundlagenforschung“, also linguistische/ grammatische Forschung, „angewandte Wissenschaft“, vor allem angewandte Sprachwissenschaft, und „Praxisfeld“, d.h. die Praxis des Fremd- und Muttersprachenunterrichts (ebd. 71ff.). So entwickelt die allgemeine Sprachwissenschaft „eine kulturkontrastive Grundlagen- und Anwendungsforschung, die nicht nur Daten für Sprachsysteme, sondern auch für kulturtypische Sprachverhaltenssysteme ermittelt und kontrastiert“ (ebd. 82). Im Fokus der Ausführungen von Kniffka steht, wie oben erwähnt, wie man „Lernverhaltenssysteme als Sinnganzheiten interpretiert und systematisch vergleicht“ (ebd.). Bei Hermanns (2003: 363) machen „nicht spezielle Gegenstände und Methoden“ eine interkulturell orientierte Linguistik aus, sondern „der Blickwinkel, unter dem sie ihre Gegenstände auswählt und betrachtet“ (vgl. auch Hermanns 1996: 339) Demnach ist die Linguistik interkulturell, „wenn sie bei Bestimmung und Beschreibung ihres Gegenstandes Sprache a) auf die Kulturgebundenheit von Sprachen, b) auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener Sprachkulturen achtet“ (Hermanns 2003: 363f., vgl. auch Hermanns/ Zhao 1996: 414). Hermanns (2003: 364ff.) nennt einige Themenkomplexe in der Semiotik, Semantik und Pragmatik, die von interkultureller Relevanz sind. Földes (2003: 44) betrachtet die interkulturelle Orientierung in der Linguistik als eine „Forschungsorientierung“, die sich mit dem „Phänomen des Sprach- und Kulturkontrastes sowie den Phänomenen des sozialen Kontakts und der kulturbedingten Interaktion zweier oder mehrerer natürlicher Einzelsprachen“ beschäftigt. Forschungsinteressen sind „Sprach- und Kulturkontrast bzw. -kontakt“, „kulturübergreifende Kommunikation im weitesten Sinne“ und der „sprachkommunikative Umgang mit Fremdheit/ Alterität“ (ebd.), die in verschiedenen Teildisziplinen der Linguistik wie u.a. Semantik, Pragmatik, Phraseologieforschung realisiert werden können. Alle angeführten Vorstellungen von einer interkulturellen Ausrichtung der Linguistik beschränken den Gegenstandsbereich auf das, „was aus sprachwissenschaftlicher Sicht an dem Phänomen der Kulturverschiedenheit festgestellt werden kann“ (Raster 2001: 9), d.h. auf die Erfassung der Wechselwirkung zwischen Kultur und Sprache. Sie sprechen auch verschiedene Aspekte der Interkulturalität aus linguistischer Perspektive an, sodass alle linguistischen Bereiche für die Erforschung der Interkulturalität in Frage kommen. Anfangs hat man in der Semantik, Pragmatik und Semiotik ein fruchtbares Terrain für die Untersuchung interkultureller Fragestellungen gefunden (vgl. Hermanns 1996: Interkulturalität der Linguistik 255 340, Hermanns/ Zhao 1996: 414, Hermanns 2003: 364). Später ist man aber zu der Überzeugung gekommen, dass fast alle Teilbereiche der Linguistik auch ein „interkulturelle(s) Paradigma“ (Földes 2003: 39) haben bzw. haben können wie u. a. Kommunikationstheorie, Sprachsoziologie, Fremdsprachendidaktik, Textlinguistik, Gesprächs- und Diskursanalyse, Lexikologie, Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft (Raster 2002: 1, Földes 2003: 39f., 45ff.). Aber nur in wenigen Bereichen hat man sich den Fragen der Interkulturalität zugewandt. So gibt es „interkulturelle Semiotik“ (Hermanns 2003: 365), „interkulturell vergleichende Semantik“ (Hermanns 2003: 367) bzw. „interkulturelle Semantik“ (Kühn 2006), „interkulturelle (Sprach-) Pragmatik“ (Hermanns 2003: 369, Herrlitz/ Koole/ Loos 2003), „interkulturelle Kommunikation“ (u.a. Rehbein 1985, Maletzke 1996, Ehlich 1996, Hess-Lüttich 2003), „interkulturelle Sprachdidaktik“ (Roche 2001) und eventuell „interkulturelle Übersetzung“ (Zojer 2001). Ein Blick auf diese Bereiche verrät, dass sie sich mit dem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen befassen und Faktoren behandeln, die sich direkt in solchen Begegnungen auswirken. In anderen Linguistikbereichen liegt auch eine unverkennbare Wechselwirkung zwischen Kultur und Sprache vor, die man aus interkultureller Perspektive behandeln kann. Eine Vorstellung des bisher Geleisteten in den einzelnen Teilbereichen der Linguistik bezüglich der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Kultur und Sprache ist überflüssig. Das liegt bereits vor allem in Handbuchartikeln vor. Außerdem wäre eine Erörterung des Potenzials der linguistischen Teildisziplinen hinsichtlich der Behandlung des Kultur-Sprache-Verhältnisses eine angesichts der Fülle möglicher Themen kaum zufriedenstellend zu bewältigende Aufgabe. In dem Statement von Humboldt, dass „die Geisteseigenthümlichkeit und die Sprachgestaltung eines Volkes in solcher Innigkeit der Verschmelzung in einander (stehen), daß, wenn die eine gegeben wäre, die andere müßte vollständig aus ihr abgeleitet werden können“ (Humboldt 1998: 171), werden, wenn auch indirekt, zwei Herangehensweisen angedeutet, um die wechselseitige Beziehung zwischen Kultur und Sprache erfassen zu können: Man kann die Kultur oder die Sprache zum Ausgangspunkt nehmen. Bisherige Beschäftigungen mit dieser Thematik lassen sich der einen oder anderen Herangehensweise zuordnen. Im Folgenden werden beide Herangehensweisen, die kultur- und die sprachbezogene, anhand von Beispielen aus einigen linguistischen Teilbereichen vorgestellt. 2.1 Die kulturbezogene Herangehensweise Die Kulturgebundenheit der Sprache offenbart sich darin, dass die Bereiche einer Sprache, wenn auch in einem unterschiedlichem Grad, kulturellen Bedingungen unterliegen. In der kulturbezogenen Herangehensweise untersucht Elsayed Madbouly Selmy 256 man den Einfluss kultureller Faktoren auf sprachliche Bereiche, d. h. man geht von der Kultur aus und findet ihre Auswirkung auf die Sprache heraus. Hierfür finden sich in der Literatur intrakulturelle, d.h. auf eine Sprache und eine Kultur bezogene, Beispiele, die man auch unter interkulturellen Fragestellungen untersuchen kann: − Zweifelsohne können Entwicklungen in kulturellen Bereichen die Sprachentwicklung maßgeblich mitbestimmen. Beispielsweise ist es größtenteils der lutherischen Reformation und den damit verbundenen Schriften und der Bibelübersetzung sowie der Erfindung des Buchdrucks zu verdanken, dass sich eine Variante des Deutschen zum Standard herausbilden konnte (vgl. Fleischer/ Helbig/ Lerchner 2001: 587ff.). Auch die Entstehung des Serbischen, des Kroatischen und des Bosnischen aus dem Serbokroatischen ist eine Folge politischer Entwicklungen (vgl. Jung 1993: 209, Raster 2008: 57). Dem Bezug zu kulturellen Gegebenheiten hat man in der Sprachgeschichtsforschung insofern Rechnung getragen, als die Sprachgeschichte nicht ausschließlich als eine Erfassung rein systeminterner Sprachveränderungen aufgefasst wird, sondern diese Veränderungen werden in ihrem gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen betrachtet (vgl. Fleischer/ Helbig/ Lerchner 2001: 45f., 513ff.; Linke 2003, Földes 2003: 13ff.). Ziel ist, „zu einem vertieften Verständnis von Sprache und Sprachveränderung zu kommen“ (Linke 2003: 46). In diesem Bereich haben sich verschiedene Ansätze herausgebildet (vgl. Linke 2003). − Außersprachliche Faktoren können im Sprachsystem selbst Veränderungen herbeiführen, und zwar auf allen Ebenen. Beispielsweise machen sich kulturelle Entwicklungen sofort im Wortschatz einer Sprache bemerkbar. Darin spiegeln sich nämlich alle Veränderungen in den kulturellen Bereichen wider. Auch sprachextern motivierte Veränderungen in der Syntax kommen vor. Für Hermanns (2003: 369) „[können] sprachhistorische Innovationen ihrerseits mitursächlich sein für kognitive Innovationen, d.h. für das Üblichwerden von neuen Denkmöglichkeiten“. Er zitiert ein Beispiel von Vilmos Ágel, wie die Literarisierung die Epistemifizierung des Modalsystems des Deutschen möglich machte. Die Verwendung von frau als Pendant zum indefiniten man ist ebenfalls als Ausdruck einer gesellschaftlich angestrebten Gleichstellung der Frau zu sehen. Genauso zu erklären ist die Schreibweise mit der femininen Endung und dem großen I, wie in LehrerInnen. Ein weiteres Beispiel: Gegen die Norm des klassischen Arabisch wird heute in der modernen arabischen Massenmediensprache das Agens in den Passivsätzen genannt, was sicherlich auf den Einfluss der Übersetzungen aus Fremdsprachen, besonders aus dem Englischen, zurückzuführen ist. Interkulturalität der Linguistik 257 Man hat auch den Einfluss kultureller Faktoren auf die Sprache aus der interkulturellen Perspektive untersucht: - Der schriftlichen und mündlichen Sprachverwendung in den verschiedenen Kulturen hat man in der Forschung mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Hier zeigt sich am deutlichsten die Kulturgeprägtheit. Dazu tragen verschiedene Faktoren bei. Die wesentlichen davon sind: 1. Zum Verstehen einer Äußerung reichen die Kenntnis der Bedeutung der „gebrauchten Wörter“ (Herrlitz/ Koole/ Loos 2003: 388) und das Entziffern „ihrer syntaktischen Verbundenheit“ (ebd.) nicht immer aus. Dazu kann „relevante(s) Wissen“ (ebd. 389) u. a. über den kulturellen Rahmen gehören. Es können nämlich „unterschiedliche Begriffssysteme aufeinandertreffen“ (Kühn 2006: 29), sodass Angehörige verschiedener Kulturen mit bedeutungsmäßig gleichgesetzten Ausdrücken „in ganz verschiedener Weise umgehen“ (Raster 2008: 86). Ehnert (1988: 301) nennt ein Beispiel für Missverständnisse auf dieser Ebene: Ein Araber nimmt die Aufforderung eines Deutschen „Komm doch mal vorbei! “ ernst und steht plötzlich bei ihm vor der Tür. Das Ergebnis ist ein peinlicher Besuch für alle Beteiligten. Das führt Ehnert auf die „unterschiedlichen kulturellen Konnotationen“ (ebd.) des sprachlichen Ausdrucks zurück, vor allem im Hinblick auf sich unterscheidende „Handlungen beim Besuch“ (Anmeldung, Tageszeit, … usw.) (ebd.) in der deutschen und arabischen Kultur. 2. „Kommunikative Apparate“, also „Mechanismen, die die Kommunikation steuern“ wie Rederechtverteilung, Reparaturen … usw. sind kulturspezifisch (Rehbein 1985: 13). Bei interkulturellen Begegnungen ergeben sich Probleme in erster Linie aus der Kulturabhängigkeit der die kommunikativen Apparate regelnden Konventionen und/ oder aus missverständlicher Deutung der für ihre Realisierung verwendeten verbalen und nonverbalen Mittel. 3. Die kulturelle Prägung macht sich bei der Klassifikation schriftlicher oder mündlicher Kommunikationsformen wie Textsorten, Sprechakte, kommunikative Gattungen bemerkbar (vgl. Hermanns 2003: 369). Auch in ihrer Realisierung lassen sich Unterschiede erkennen. Davon sind alltägliche kommunikative Formen wie Gratulieren oder Kondolieren betroffen, aber auch solche auf höherer Ebene wie wissenschaftliches Argumentieren (vgl. Hess- Lüttich 2003: 78). 4. Gesellschaftliche Institutionen, z.B. Familie, Schule, Behörden … usw., als Rahmen für kommunikative Handlungen unterscheiden sich in den verschiedenen Kulturen, und zwar „aufgrund historischer Entwicklungen“ (vgl. Rehbein 1985: 18, Ehlich 1996: 926f. und Hess-Lüttich 2003: 77f.). Und so kann fehlendes Wissen über kulturbedingte Unterschiede in den Rahmenbedingungen der entsprechenden Institutionen zu nicht erwartungs- Elsayed Madbouly Selmy 258 gemäßen Verhaltensweisen seitens der beteiligten Aktanten führen. Ein Beispiel: Ägyptische Austauschstudentinnen waren bestürzt über die Aufforderung des deutschen Arztes, sich auszuziehen bzw. den Oberkörper frei zu machen. In Ägypten bleibt nämlich alles bedeckt und der Arzt sieht sich nur die für die Untersuchung notwendigen Teile an bzw. befühlt sie mit der Hand. Der deutsche Arzt verhielt sich normgerecht und zeigte kein Verständnis für die Reaktion der Studentinnen. Es kam zu einem Eklat. 5. Nonverbale Elemente wie Gestik, Mimik, Sprechweise, physiologische Merkmale … usw. besitzen „kommunikative Relevanz“ (Raster 2008: 95), und diesen kann bekanntlich in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche Auslegung zukommen (vgl. u.a. Rehbein 1985: 13f., Hermanns 2003: 365ff., Raster 2008: 94ff.). Sie können daher bei einem interkulturellen Zusammenkommen Quellen kommunikativer Störungen darstellen. Das betrifft nonverbale Elemente für sich (beispielsweise Händedruck oder Küssen bei Begrüßungen) oder in Zusammenhang mit verbalen Handlungen wie ein Lächeln beim Erzählen vom Tod einer nah stehenden Person in Ostasien, das Angehörigen vieler Kulturen befremdlich vorkommen kann (vgl. Raster 2008: 96). Divergenzen dieser Art machen die schriftliche und mündliche Sprachverwendung zu einem in interkultureller Hinsicht problemreichen Bereich. Man hat sich allerdings nicht ausschließlich, wohl anfangs schon, mit aufgrund abweichenden Wissensrepertoires entstehenden Missverständnissen in interkulturellen Begegnungen beschäftigt. Das Augenmerk galt ebenfalls den Mechanismen zur Etablierung von einem gemeinsamen Wissen in kommunikativen Handlungen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen (vgl. Rehbein 1985: 10, Ehlich 1996: 925f., Herrlitz/ Koole/ Loos 2003: 390ff.). - Auch in der Translationswissenschaft, also der Wissenschaft des Übersetzens und Dolmetschens, hat man interkulturellen Fragen einen gebührenden Platz eingeräumt. Hier offenbart sich in der Tat eine besondere Kulturgebundenheit. Das Ergebnis des Translationsprozesses ist selbst ein „kultureller Transfer“ (Durusoy 2002: 2). Da wird nämlich ein Stück Kultur in eine andere Sprache übertragen. Für die Beteiligten am Translationsprozess, also den Translator und den Rezipienten, als Kulturträger gelten bestimmte kulturbezogene Maximen. Zu den Grundvoraussetzungen eines Translators als Vermittler zwischen Kulturen gehört nämlich eine „Kulturkompetenz“ (Kautz 2002: 430) bzw. eine „interkulturelle Kompetenz“ (Hennecke 2009: 40) in Bezug auf die Differenzen zwischen der eigenen und der fremden Kultur und den Umgang damit. Die kulturelle Zugehörigkeit des Rezipienten erfordert bei der Translation ein Extra-Augenmerk. Er kann das Translat „mit dem vorhandenen Bestand seiner Kodes“ (Hennecke 2009: 43) lesen. Damit im Falle abweichender Kodes zwischen zwei Kulturen keine teilweise Interkulturalität der Linguistik 259 oder vollständige Abweichung in der „dem Text zugewiesene(n) Bedeutung“ entsteht, muss das Translat entsprechend den kulturellen Kodes des Rezipienten „sinntragend“ (ebd.) (neu) gestaltet werden. Die zwischenkulturelle Sprachübertragung verbirgt außerdem eine Reihe kulturbedingter Probleme. Weniger problematisch sind die Nicht-Deckungsgleichheit bezeichneter Begriffe (vgl. Haas 2009: 64ff.), die Übertragung von kulturellen Spezifika (vgl. Hennecke 2009: 41) und von bildhaften Ausdrücken (vgl. Aktaş 2006). Problematischer sind „implizite Kulturbezüge“ in Texten (Hennecke 2009: 42). Das illustriert Coseriu (1981: 183) an Hand einer Textstelle aus einer ins Deutsche übersetzten, rumänischen Erzählung: Außergewöhnliche Ereignisse (z. B. Regengüsse, Drachen) werden zwar in der deutschen Übersetzung wiedergeben, aber nicht das, was an „außersprachlichen“ (ebd. 184) Kenntnissen „vorausgesetzt“ (ebd.) und daher nicht durch explizite Sprachmittel ausgedrückt wird. Solche Erscheinungen werden nämlich im Volksglauben als „Anzeichen für Ereignisse in der Zukunft“ (z.B reiche Ernte, Kriege) angesehen (ebd. 183). Solche implizite Bezüge müssen sowohl vom Translator als auch vom Rezipienten erkannt und in Bezug auf die Ursprungskultur verstanden werden. - Nach Kniffka (1993: 924f.) unterliegt die Planung und Durchführung des Fremdsprachenunterrichts einigen Faktoren, worin sich die Ausgangskultur, bei ihm die saudi-arabische, und die Zielkultur, bei ihm die deutsche/ westeuropäische, unterscheiden können: 1. Die „Einstellung“ der Lerner der Muttersprache und der Fremdsprache und ihren Sprechern gegenüber: Die Einstellung der Lerner der Fremdsprache gegenüber und ihre Klassifizierung als beispielsweise leichte, schwere, schöne oder hässliche Sprache kann auf tradiertem Wissen basieren, das vorurteilbehaftet sein, aus Sympathie bzw. Antipathie dem Sprachland und seinen Bewohnern herrühren oder durch genuine Eigenschaften der Sprache selbst motiviert sein kann. Neben dem Akzent (vgl. ebd. 924) können andere Eigenschaften der jeweiligen Sprache ebenfalls mitverantwortlich sein. So erscheinen agglutinierende Sprachen dem Lerner transparenter als flektierende, jedoch nur beim Lesen oder Schreiben, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht. Umgekehrt ist es beim Hören und Sprechen (vgl. Raster 2008: 74ff.). 3 2. Das „Vorwissen“ über den Effekt „phonetisch-phonologischer Klangmuster der Zielsprache“ auf die Lerner, d.h. ob der Klang der Wörter den Lernern „komisch/ seltsam/ unan- __________ 3 In der Oberschule war unter uns Schülern, die Ansicht verbreitet, Deutschlernen sei ein gutes Training für Mathematik. Das liegt wohl an den, im Vergleich zum Englischen, verschiedenen Flexionsarten und den Relationen zwischen ihnen, die wie mathematische Aufgaben den Schülern eine hohe Konzentration abverlangen. Elsayed Madbouly Selmy 260 ständig/ nett …“ (Kniffka 1993: 925) vorkommt: Hierzu gehören auch Homophone, also Wörter, die in beiden Sprachen ähnlich klingen, aber verschiedene Bedeutung haben. Kniffka erwähnt Beispiele mit unanständiger Bedeutung im Arabischen, z.B. das deutsche Wort Kuss klingt wie das arabische Wort für Vagina. 3. Die „Motivationen und Erwartungshaltungen“ (ebd. 925), warum man eine Fremdsprache lernt: Hier sind manchmal für die Zielkultur ungewöhnliche Motivationen zu finden, z.B. „weil es sonst nichts zu tun“ gibt (ebd. 926). Neben diesen Faktoren gibt es andere, die direkt Komponenten des Fremdsprachenunterrichts wie Inhalte oder Methodik betreffen und im saudi-arabischen Kontext echte Herausforderungen darstellen können. Themen wie Musik, Wahrsagen oder Horoskope sind aus religiösen Gründen in der Öffentlichkeit verpönt/ verboten. Wenn diese Themen in Lehrbüchern vorkommen, ist man automatisch in einer Zwickmühle zwischen der Überzeugung, dass solche Themen einen Bestandteil der Zielkultur bilden und daher unbedingt zum Lehrprogramm gehören, und dem Vorwurf der Areligiösität bzw. der Verwestlichungsversuche. In diesem kulturellen Kontext ist es außerdem eine der methodischen Kunststücke, wie bestimmte Inhalte geübt und vertieft werden können. Beispielsweise führt die Trennung der Männer und Frauen dazu, dass feminine bzw. maskuline Sprachelemente im Unterricht jeweils marginalisiert werden. Besonders prekär ist die Situation in Männergruppen, wo das Sprechen über die eigenen Frauen (Mutter, Schwester, Tochter) Tabu ist. In diesem Fall fungieren weibliche Lehrbuchfiguren als Vehikel (man hat jedoch keine bereichernden Variationen) oder man erfindet eine Phantom-Sie. 2.2 Die sprachbezogene Herangehensweise Die Sprache „schlägt … alle feinste Fibern ihrer Wurzeln in die nationelle Geisteskraft“ (Humboldt 1998: 145) und wird als „die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker“ (ebd. 171) betrachtet. Daher sind Versuche, aus der Analyse sprachlicher Daten Aussagen über kulturelle Besonderheiten der Sprachgemeinschaft zu gewinnen, durchaus nachvollziehbar, denn diese enthalten Indikatoren, anhand derer Aussagen über die dazugehörige Kultur gemacht werden können. Bei der sprachbezogenen Vorgehensweise versucht man also, kulturelle Implikationen in der Sprache herauszufinden. In der Forschung zur linguistischen Erfassung der Interkulturalität finden sich intra- und interkulturelle Beispiele für diese Verfahrensweise: - In der Sprachgeschichtsforschung hat man versucht, durch die „Textanalyse“ eine „Kulturanalyse“ zu betreiben. Hier will man über die Analyse der Interkulturalität der Linguistik 261 sprachlichen Formen „zu einem vertieften Verständnis der kulturellen Zusammenhänge, der kultur- und epochenspezifischen Modellierung von Erkenntnis, Erfahrung und Emotion“ kommen (Linke 2003: 46). - Phraseologismen bzw. Idiome, 4 Sprichwörter und bildhafte Stilfiguren wie Metaphern, Metonymien und Vergleiche bieten auch einen Einblick in die Kultur der jeweiligen Sprache. Sie weisen eine starke kulturelle Prägung aus und enthalten Einsichten, Wertungen, Weisheiten, Werte, Erfahrungsdesiderate einer Kulturgemeinschaft (vgl. Földes 2003: 46). - Jede Sprache besitzt „ihr eigenes kulturspezifisches Bedeutungssystem“ (Uhlisch 1995: 238). In diesem Bedeutungssystem stecken „sprachliche Konzepte“ (Goddard/ Wierzbicka 1999: 135), wie die Sprachgemeinschaft ihre Erfahrungen mit der Welt konzeptualisiert und kategorisiert. Gleichzeitig bestimmt dieses Bedeutungssystem das Denken und das Verhalten der Sprachgemeinschaft. Eine semantische Analyse kann also die Denk- und Verhaltensweisen einer Kulturgemeinschaft und die Mechanismen dahinter aufdecken. Kulturell bedingte Unterschiede in der Semantik betreffen eigentlich das Gros der Wörter einer Sprache. Die kulturelle Prägung lässt sich aber am besten an den „kulturspezifischen Wörtern“ (Goddard/ Wierzbicka 1999: 144, Hermanns: 2003: 367f.) im Bereich der Speisen, der Getränke, der Kleidung … usw. zeigen. Auch wie eine Sprache bestimmte „Bedeutungsdomänen“ lexikalisch ausdifferenziert, bei Goddard und Wierzbicka (1999: 144) „lexikalische Elaboration“ genannt, hängt von der Kultur ab. Das klassische Beispiel hierfür sind die Bezeichnungen für Schnee bei den Eskimos. Besondere Aufmerksamkeit hat man den kulturellen „Schlüsselwörtern“ 5 geschenkt. Solche Wörter sind charakteristisch für eine Kultur und an ihnen erkennt man „die handlungsdeterminierenden Kräfte einer Kultur“ (Lorenz 1997: 287), z.B. für die deutsche Kultur Arbeit, Heimat, Ordnung. 6 Diese Wörter haben eine Scharnierfunktion: Sie sind „Indikatoren“, indem sie „Aufschluß über wichtige Spezifika von einzelnen Kulturen geben“, aber auch „Instrumente“ in der Kommunikation für „angemessenes Verhalten“ in der jeweiligen Kultur (Hermanns/ Zhao 1996: 414f.). - Oft werden Eigenschaften einer Sprache in Beziehung zu deren Sprechern und ihrer Kultur gesetzt. Bei Humboldt hängen „die Vorzüge“ einer Sprache „von der Energie der geistigen Thätigkeit“ und „von der eigenthümlichen __________ 4 Zur Terminologie, vgl. Fleischer/ Helbig/ Lerchner (2001: 109). 5 Hermanns/ Zhao (1996: 414), Lorenz (1997: 287) (Er spricht auch von „Kulturwörtern“); Goddard/ Wierzbicka (1999: 144f.), Hermanns (2003: 368). 6 Vgl. Goddard/ Wierzbicka (1999: 145). Lorenz (1997) stellt am Beispiel der deutschen Kultur ein Modell vor, wie Schlüsselwörter einer Kultur aufzufinden sind. Elsayed Madbouly Selmy 262 Hinneigung dieser zur Abbildung des Gedanken“ ab (1998: 364). Er klassifiziert die Sprachen in „flectirende, agglutinirende und einverleibende“ (ebd. 363). Unter diesen Sprachtypen findet er die flektierenden „die allein richtigen“ (ebd.), mit anderen Worten die vollkommenen. 7 „Eine unvollkommenere Sprache beweist … den geringeren auf sie gerichteten Trieb der Nation“ (ebd. 364). Fußend auf „Humboldts These der Identität von Sprache und Volksgeist“ versucht Deutschbein (1965) vier „Kennzeichen“ der englischen Sprache, nämlich „ihr individueller, ihr objektiver, ihr empirischer und ihr dynamischer Charakter“ mit vier „Merkmalen“ des englischen Volkstums, nämlich „Individualismus, Objektivität, Empirismus und Aktivität“, in Zusammenhang zu bringen (ebd. 345). Er sucht den Ausdruck dieser vier volkstümlichen Eigenschaften in der Sprache. Beispielsweise ist der Individualismus der Engländer in vielen Bereichen wie Politik, Religion und Erziehungswesen zu beobachten. Er äußert sich u. a. in der Selbstständigkeit und dem Willen zur Freiheit und Unabhängigkeit (ebd. 345ff.). Sprachlich zeigt sich dieser Individualismus vor allem im Reichtum der Ausdruckweise, in der Vielfalt bei der Aussprache der Vokale, in dem Misserfolg der Versuche zur Festlegung des Sprachgebrauchs und darin, dass es in der Prosa des 19. und 20. Jahrhundert keine einheitliche Stilform gibt (ebd. 348ff.). Deutschbein (1959: 20) findet auch, dass „Satzmodelle Denkmodelle (sind)“. Sie bestimmen die Sprecher einer Sprache in ihrem „geistigen Verhalten der Wirklichkeit gegenüber“ (ebd.) Beispielsweise stellen die Satzmodelle in den indogermanischen Sprachen die Sprecher „dem Leben gegenüber auf Aktivität“ ein (ebd.). Man findet in dem Gebrauch von syntaktischen Reduplikationen und dem absoluten Superlativ im Italienischen einen Ausdruck der Neigung zur „Animation“ und der „Liebe zur Lautstärke und Darstellung“. 8 Die Inbeziehungsetzung von sprachlichen Merkmalen und Eigenschaften ihrer Sprachgemeinschaft ist aber ein nicht ganz einwandfreies Unterfangen, und zwar aus folgenden Gründen. Zum einen ist es fraglich, ob bestimmte Charakteristika einer Sprache bzw. einer Sprachgemeinschaft exklusiv vorbehalten sind. Die Eigenschaften des Englischen und der Engländer bei Deutschbein sind durchaus anderen Sprachen und ihren Sprechern zuzuschreiben, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Zum anderen gelten Pauschalurteile nicht ausnahmslos auf alle Sprachen bzw. Sprecher. Liang (2006) stellt Humboldts These über die Beziehung zwischen __________ 7 Schlegel hat auch den flektierenden Sprachtyp den Vorzug vor anderen Typen gegeben, vgl. Raster (2008: 34). 8 Goddard/ Wierzbicka (1999: 150). Hermanns (2003: 368f.) zitiert andere Beispiele für kulturelle Implikationen in der Grammatik. Interkulturalität der Linguistik 263 Sprachtyp und Entwicklungsstand der Sprachgemeinschaft auf den Kopf. Die Chinesen waren kulturell hoch entwickelt, obwohl ihre Sprache nach Humboldt zu den „formlosen, primitiven Sprachen“ gehörte (ebd. 36). Schließlich sei anzumerken, dass man bei solchen Erklärungsversuchen die Grenzen der faktengestützten morpho-syntaktischen Analyse verlässt und sich auf eine Ebene der manchmal kontroversen Interpretationen begibt. Ein Beispiel: Im Gegensatz zum Deutschen besitzt das Arabische im pronominalen Bereich eine feminine Form in der 2. Person Singular (Þanti (du feminin)) und Plural (Þantunna (ihr feminin)) und in der 3. Person Plural (hunna (sie Plural, feminin)). Diese feminine Präsenz im pronominalen Bestand kann zunächst als eine Hochschätzung des weiblichen Geschlechts ausgelegt werden. Eine tief gehende Betrachtung kann darin aber auch einen Ausdruck einer ausgeprägten Geschlechtertrennung und einer geschlechtsspezifischen Aufgaben- und Rollenverteilung sehen. Eine linguistische Beschäftigung mit der wechselseitigen Beziehung zwischen Kultur und Sprache, sei es in einer kultur- oder sprachbezogenen Herangehensweise, kann, wie diese knappe Darstellung zeigt, eine Palette von Fragestellungen umfassen, die aus einer interkulturellen Perspektive reichhaltige Befunde ergeben können. Neben dem im Laufe der Darstellung geäußerten Bedenken zu einigen Punkten der Versuche, die Interkulturalität linguistisch zu erfassen, ist aber die Forschung in diesem Bereich mit weiteren Problemen bzw. Barrieren behaftet, und zwar: 1. Nicht-Homogenität und Veränderlichkeit der Kulturen machen eine systematische Beschreibung einer Kultur „in ihrer Gesamtheit“ (Grucza 2000: 19) kaum möglich, und eine exemplarische unumgänglich. Problematisch ist dabei, dass in der Regel nur das, was „sich sehund/ oder hörbar“ macht (Grucza 2000: 19), zu allgemeingültigen Charakteristika einer Kultur deklariert wird. Und so kann interkulturelle Forschung einen Nährboden für Stereotypen und Vorurteile bieten. 2. Angesichts der eben angesprochenen schwierigen Erfassbarkeit einer Kultur begnügt man sich notgedrungen mit „Pauschalurteilen“ (Hansen 2009: 5), die zwar unverzichtbar sind, aber eine nicht vorhandene Homogenität suggerieren. Solche Pauschalurteile soll man daher „nur auf Kollektive, nicht aber auf deren Individuen“ beziehen (ebd. 7), denn die kulturelle Identität von Individuen erschöpft sich nicht in der Teilhabe am kulturellen Gut des Kollektivs. Daher ist die Unterscheidung von „Polykultur“ als der Kultur einer Gemeinschaft und der „Idiokultur“ (Grucza 2000: 26) einer Person/ Personengruppe dieser Gemeinschaft durchaus berechtigt und für interkulturelle Analysen unverzichtbar, damit kulturelle Züge einer Sprachgemein- Elsayed Madbouly Selmy 264 schaft nicht in ihrer absoluten, pauschalisierenden Gültigkeit, also ohne intrakulturelle Differenzierungen, zur Grundlage der Analyse genommen werden. Sonst werden Menschen nach ihrer kulturellen Zugehörigkeit zu ‚Erbsündern‘ stigmatisiert. Andere „soziale, altersbedingte, regionale, geschlechtsspezifische und individuelle Kategorien“ (Schinschke 1995: 37) können nämlich bei interkulturellen Begegnungen auch maßgebend sein. Die Analyse soll also nicht von der Kultur als kollektivem „normative(m) Schema“ (Hamburger 1990: 320) ausgehen. Vielmehr sollen intrakulturelle Differenzen und der reflexive und kreative Umgang des Individuums mit dem kollektiven Kulturgut berücksichtigt werden (vgl. Hamburger 1990: 320f., Bredella/ Christ/ Legutke 1997: 15f.). Umgekehrt ist Vorsicht geboten, aus den Ergebnissen allgemeingütige, pauschale Urteile über eine Kulturgemeinschaft abzuleiten. 3. Fehlinterpretationen sind bei solchen Analysen nicht ganz ausgeschlossen. So können, wie Hinnenkamp konstatiert, „Phänomene flugs zu (inter)kulturellen erklärt werden, die auch anderen Gründen geschuldet sein können“(zit. nach Kühn 2006: 13). Auch wenn Untersuchungen in diesem Bereich, den ich linguistische Interkulturalität nenne, in einigen Punkten problematisch erscheinen, bleiben solche Beschäftigungen bis jetzt nahezu alles, was eine interkulturell ausgerichtete Linguistik vorzuweisen hat. Im Moment verbindet man mit diesem Begriff fast nur die linguistischen Aspekte der Interkulturalität. Im Folgenden wird eine andere Form interkulturell orientierter Linguistik vorgestellt, die sich auf ihre eigene Interkulturalität bezieht, d.h. hier werden die Beschäftigungen mit der Sprachwissenschaft/ Sprache in den verschiedenen Kulturen zueinander in Beziehung gesetzt, um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Erkenntnisse sind rein linguistischer Natur. Diese Richtung nenne ich interkulturelle Linguistik. 3 Interkulturelle Linguistik Das Potenzial der „sprachlichen Selbstreflexion“ (Raster 2008: 150) ist „grundsätzlich“ (ebd.) den Sprechern aller Sprachen gleichermaßen gegeben. Dennoch sind die Sprachwissenschaften in den verschiedenen Kulturen nicht gleichermaßen entwickelt. Die Herausbildung eines sprachwissenschaftlichen Betriebs hängt nicht allein von der Gabe der sprachlichen Selbstreflexion ab, sondern vielmehr vom gesamtkulturellen Kontext, besonders von der Fundierung einer wissenschaftlichen Tradition in verschiedenen Bereichen. So sind die ersten Reflexionen über die Sprache im Rahmen der Behandlung von philo- Interkulturalität der Linguistik 265 sophischen Fragen zu finden (ebd. 128ff.). Es ist außerdem kein Zufall, dass es in den alten kulturellen Metropolen zur Etablierung linguistischer Traditionen gekommen ist (Raster 2002: 28ff.). Der Sprachtyp kann ebenfalls zur Verschiedenheit der Linguistik beitragen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Systemeigenheiten einer Sprache erfordern oft adäquate Herangehensweisen, die sich schlussendlich in der Beschreibung und den Kategorien niederschlagen. Darüber hinaus bestimmt der Sprachtyp das Entwicklungspotenzial von bzw. in bestimmten linguistischen Bereichen, wie im Falle der isolierenden Sprachen im Hinblick auf die Morphologie (Raster 2008: 139f.). Sicherlich sind auch der Kontakt zwischen den Kulturen und der sich möglicherweise daraus ergebende Austausch von linguistischem Gut ein mitbestimmender Faktor für die Entwicklung der Sprachwissenschaft in einer Kultur, sei es auf der Ebene der Rezeption oder der Übernahme. Fest steht also, dass Kulturen, was die Sprachwissenschaft betrifft, Unterschiede aufweisen. Manche verfügen nicht über eine Sprachwissenschaft, außerdem sind Unterschiede „qualitativer Natur“ in Bezug auf den Umfang und das Niveau festzustellen (vgl. Raster 2008: 117). Auf diese Ungleichheit bzw. Variationen der Sprachwissenschaften in den Kulturen baut die interkulturelle Linguistik auf. Die Verschiedenheit der Linguistik in den verschiedenen Kulturen lässt Raster (2001/ 2002) neben der oben vorgestellten linguistischen Interkulturalität, bei ihm „Linguistik der Interkulturalität“, einen zweiten Forschungsbereich postulieren, und zwar die „Interkulturalität der Linguistik“. 9 Damit initiiert Raster innerhalb der bisherigen interkulturell orientierten Linguistik eine Forschungsrichtung, die sich mit der Interkulturalität der Linguistik selbst befasst. Basierend auf der Unterscheidung zwischen der „eigenkulturellen“ und der „fremdkulturellen“ Sichtweise auf die Sprache und die Sprachwissenschaft sieht Raster (2002: 13ff.) „vier Forschungsfelder“ bzw. „Phänomenologien“ der auf ihre Kulturalität bezogenen Linguistik vor: Zwei Phänomenologien der Sprache und zwei der Sprachwissenschaft aus der Innen- und aus der Außenperspektive. Die Innenperspektive bezieht sich auf „die besonderen Formen …, in denen Sprache und Sprachwissenschaft in verschiedenen Kulturen erscheinen“ (ebd. 105). Konkret untersucht man im Rahmen der Innenperspektive, wie die Sprache und die Sprachwissenschaft einer bestimmten Kultur für die Sprecher der Sprache erscheinen, und wie die Sprache von der jeweiligen Sprachwissenschaft und die Sprachwissenschaft von sich selbst wahrgenommen wird __________ 9 Die Trennung zwischen „Linguistik der Interkulturalität“ und „Interkulturalität der Linguistik“ macht Raster (2002: 8) nach dem Vorbild der interkulturellen Philosophie, die auch zwischen „Philosophie der Interkulturalität“ und „Interkulturalität der Philosophie“ unterscheidet. Elsayed Madbouly Selmy 266 (vgl. ebd. 19, 105ff.). Dagegen werden in der Außenperspektive „die verschiedenen Fälle untersucht …, in denen sich sprachliche und sprachwissenschaftliche Systeme verschiedener Kulturen gegenseitig wahrnehmen“ (ebd. 105). Hier geht es darum, wie die Sprache und die Sprachwissenschaft einer Kultur von den Sprechern der Sprache einer anderen Kultur wahrgenommen werden, sowie um die gegenseitige Wahrnehmung der Sprachwissenschaften der verschiedenen Kulturen, und die Wahrnehmung einer Sprache durch eine fremde Sprachwissenschaft (vgl. ebd. 21ff., 41ff.). Mit Raster stimme ich darin überein, dass die Sprachwissenschaft und die Sprache in den verschiedenen Kulturen den Gegenstandsbereich der interkulturellen Linguistik bilden, und auch darin, dass die Innen- und Außenperspektive zu ihren konstitutiven Komponenten gehören, aber nicht als Bestandteile der Forschungsfelder bzw. Phänomenologien, sondern der Vorgehensweise, wie gleich bei der Vorstellung der Forschungsfelder gezeigt wird. Die Aufgabe der interkulturellen Linguistik besteht meines Erachtens darin, den Kontakt und den Austausch linguistischen Wissens zwischen den verschiedenen Kulturen zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen. Daraus ergeben sich zwei Forschungsbereiche: Der interkulturelle Linguistikkontakt und der interkulturelle Linguistiktransfer. Im Folgenden werden beide Forschungsbereiche kurz skizziert. 3.1 Der interkulturelle Linguistikkontakt Kulturen sind, besonders heute, keine isolierten Inseln, sondern es bestehen etliche Schnittstellen zwischen ihnen. Der Kulturenkontakt hat in der Regel einen Austausch der Wissenschaften nach sich gezogen. Im Bereich der Linguistik lassen sich schon lange Berührungspunkte der verschiedenen Linguistiktraditionen feststellen. Beispielsweise steht fest, dass die arabischen Grammatiker schon in frühen Zeiten mit anderen Linguistiktraditionen, vor allem mit der griechischen, in Kontakt gekommen sind (vgl. Alyasery 2003: 104ff.). Auch die Beschäftigung der deutschen/ westlichen Orientalisten mit der arabischen Sprachwissenschaft und der arabischen Linguisten mit der deutschen bzw. westlichen sind Belege für interkulturelle linguistische Kontakte. Außerdem ist heutzutage das linguistische Wissen der verschiedenen Linguistiktraditionen, vornehmlich durch Übersetzungen oder sogar direkten Kontakt, verfügbar. In diesem Forschungsbereich sollen der zwischen den verschiedenen Sprachwissenschaften schon erfolgte oder noch bestehende Kontakt und „alle Prozesse der gegenseitigen Wahrnehmung“ (Raster 2001: 10), d.h. die verschiedenen Sichtweisen der betreffenden Linguistiktraditionen aufeinander, registriert und dokumentiert werden. Damit hat dieser Forschungsbereich Interkulturalität der Linguistik 267 vorwiegend einen wissenschaftsgeschichtlichen Stellenwert. Der Sachlichkeit halber soll man die Außenperspektive, d.h. das Fremdbild einer Linguistiktradition aus dem Blickwinkel einer anderen, nicht verabsolutieren. Eine Innenperspektive, die das Selbstbild einer Linguistiktradition rekonstruiert, wird relativierende Zusammenhänge in die Betrachtung einbringen. Oft ergibt sich aus dem Kontakt bzw. eingehender Beschäftigung mit einer Linguistiktradition, dass es zur Übernahme bestimmter Elemente kommt. Auf den Linguistiktransfer wird gleich eingegangen, an dieser Stelle sei aber darauf hingewiesen, dass die Erfassung der übernommenen linguistischen Elemente und die Verfolgung ihrer Entwicklung in der jeweils anderen Linguistiktradition auch in diesen Forschungsbereich gehören. 3.2 Der interkulturelle Linguistiktransfer Die Nicht-Verfügung über eine Sprachwissenschaft, die Ungleichheit zwischen vorhandenen Linguistiktraditionen hinsichtlich des Umfangs und des Entwicklungsstandes und auf Spracheigenheiten zugeschnittene Erklärungsmuster und Kategorien sind fördernde Voraussetzungen für den linguistischen Austauschprozess zwischen den Kulturen. Gemeint ist die Übertragung von linguistischem Wissen einer Linguistiktradition, Geberlinguistiktradition, in eine andere, Nehmerlinguistiktradition. Beim Linguistiktransfer lassen sich drei Arten unterscheiden: 1. Der Transfer von Linguistikbereichen: Bei dieser Transferart kann ein Linguistikbereich wie Pragmatik, Psycholinguistik, Soziolinguistik samt seinem Gegenstandsbereich, seinen Methoden und seinem Erkenntnisinteresse von einer Kultur in eine andere übertragen werden. 2. Der Transfer von theoretischen Ansätzen: Hier können theoretische Ansätze in den einzelnen Linguistikbereichen, z.B. Sprechakttheorie, Gesprächsbzw. Diskursanalyse in der Pragmatik, Wortfeldtheorie, generative Semantik, Kasusgrammatik in der Semantik, Valenztheorie, generative Transformationsgrammatik in der Syntax, transferiert werden. In beiden Transferarten sind zwei Ebenen zu unterscheiden, die Rezeptions- und die Anwendungsebene. Die transferierten Linguistikbereiche bzw. theoretischen Ansätze können in der Nehmerlinguistik zur Kenntnis genommen, möglicherweise studiert und mit einer mehr oder weniger tiefgehenden Auseinandersetzung bedacht werden. Nur durch eine Anwendung auf eine andere Sprache werden die theoretischen Grundlagen der betreffenden Bereiche/ Ansätze überprüft und eventuell modifiziert. Die Projektion von fremden Berei- Elsayed Madbouly Selmy 268 chen/ Ansätzen auf eine Sprache stellt die Außenperspektive dar. Da aber Bereiche bzw. Ansätze nicht plötzlich aus dem linguistischen Boden schießen, sondern einen manchmal langen Weg von den Vorüberlegungen bis hin zur Kristallisierung des Bereichs/ Ansatzes durchlaufen, kann durch eine Innenperspektive in der Nehmerlinguistik festgestellt werden, ob schon in die Richtung tendierende Ansätze vorhanden sind. Dadurch kann man auch die Anwendbarkeit auf die jeweilige Sprache überprüfen. Kommt es in der Nehmerlinguistik zur Modifizierung der übernommenen Bereiche/ Ansätze, dann findet hier ein Feedback statt, das man als die Außenperspektive auf die Geberlinguistik ansehen kann. Offensichtlich können beide Linguistiktraditionen von so einem Transfer profitieren: Die Nehmerlinguistik wird um ein für sie neues linguistisches Teilgebiet bzw. um theoretische Ansätze bereichert, was zur Erweiterung ihres Umfangs und zur Anhebung ihres Entwicklungsstandes führt. Eine Modifizierung der transferierten Bereiche/ Ansätze im Rahmen einer nur theoretischen oder im Falle der Anwendung empirisch fundierten Auseinandersetzung in der Nehmerlinguistik gilt auch als eine Bereicherung für die Geberlinguistik, die ohne den Blick von außen wohl nicht zu erreichen ist. Wenn die Bereiche/ Ansätze in der Nehmerlinguistik gepflegt und weiter entwickelt werden, ist das auch ein bereichernder Beitrag zur Linguistik allgemein. Sowohl im Deutschen als auch im Arabischen sind beide Transferarten belegt, allerdings ist das Feedback nicht gleichermaßen ausgefallen. Die deutsche Sprachwissenschaft hat zwar linguistische Bereiche wie Pragmatik, Soziolinguistik oder Computerlinguistik übernommen, aber eine Menge Beiträge zu deren weiteren Entwicklung geleistet. Das gilt ebenfalls für theoretische Ansätze wie generative Transformationsgrammatik, Valenztheorie oder generative Semantik. Im Arabischen hat man auch der arabischen Linguistik nicht bekannte Linguistikbereiche rezipiert. Auch kontrastive Untersuchungen Deutsch/ Arabisch haben übernommene theoretische Ansätze als Bezugsrahmen genommen, wie Dependenz-/ Valenzgrammatik (Msellek 1988, Hammam 1994), Funktional-Semantik (Selmy 1993, Elkady 2001) oder Funktional-Pragmatik (Elnashar 2005, Nagi 2009, Schoaib 2009). Eine modifizierende Auseinandersetzung mit solchen Ansätzen hat jedoch selten stattgefunden. Eine Beschreibung des Deutschen nach dem jeweiligen theoretischen Ansatz lag oft bereits vor und eine kritische Auseinandersetzung hinsichtlich der Anwendung solcher Theorien auf das Arabische ist in der Regel ausgeblieben. Die Hinwendung zu den neuen Ansätzen geschah oft aus fachlicher ‚Modenarrheit‘ oder fachlichem ‚Opportunismus‘. Folglich kam es oft zur Verherrlichung der neuen Theorien als ‚Allzweckheilmittel‘ für linguistische Unwegsamkeiten. Somit hat ein für diese Theorien bereicherndes Feedback nicht immer stattgefunden. Die Überprüfung der Tauglichkeit solcher Ansätze für andere Sprachen gehörte ja nicht zu den primären Erkenntnisinteressen. Man unterlag eher dem Obligat Interkulturalität der Linguistik 269 der kontrastiven Linguistik, zwischensprachliche Konbzw. Divergenzen herauszufinden. Linguistische Bereiche und theoretische Ansätze stellen Herangehensweisen an die Sprache und an sprachliche Phänomene dar. Sie ermöglichen eine Erweiterung bzw. Verfeinerung des linguistischen Erkenntnisstandes, indem dadurch vorhandene Mängel traditioneller Vorgehensweisen aufgehoben, Phänomene besser erklärt, neue Aspekte entdeckt und Problemfälle aufgearbeitet werden. Diese Bereiche/ Ansätze sind ja in Bezug auf eine bestimmte Sprache, Ursprungssprache, entwickelt worden, aber ihre Grundlagen abstrahieren davon, sodass sie grundsätzlich auf andere Sprachen anwendbar sind. Das bedeutet: Mit der Übertragung solcher Bereiche/ Ansätze werden kaum Eigenschaften der Ursprungssprache mittransferiert. Nicht ausgeschlossen jedoch, dass man abweichende Erkenntnisse in der Nehmerlinguistik bzw. -sprache erreicht. Sowohl in der Ursprungslinguistik als auch in der Nehmerlinguistik sind die Bereiche/ Ansätze Mittel zur Gewinnung von neuen Erkenntnissen und bleiben in ihrem Feststellungsvermögen auf die Gegebenheiten der einen Sprache beschränkt. Das unterscheidet die erste und zweite von der folgenden dritten Transferart, bei der keine Herangehensweisen, sondern Erkenntnisse bezüglich einer Sprache transferiert und auf eine andere angewendet werden. 3. Der Transfer von linguistischen Erkenntnissen: In dieser Transferart werden in Bezug auf eine Sprache gewonnene Erkenntnisse auf eine andere übertragen, d.h. die eine Sprache fungiert als „Metasprache“ (Raster 2002: 62) bzw. „Kontrastsprache“ (Raster 2001: 11) für die andere. Hier werden also Erkenntnisse einer Sprache zur Gewinnung von neuen Erkenntnissen in einer anderen verwendet. Dies ist grundsätzlich in allen linguistischen Bereichen möglich, aber in den Bereichen mit stärkerer Sprachspezifik nicht ganz unproblematisch. Mit anderen Worten: Die Übertragung von Erkenntnissen beispielsweise in Bereichen wie Semantik oder Pragmatik dürfte leichter sein (hier liegt eher Kulturspezifik vor) als in denen der Morphologie oder Syntax, in denen die Spracheigenheiten stärker zum Tragen kommen. Was diese Art von Transfer allerdings erfolgsversprechend macht, ist die Erkenntnis, dass vorhandene Beschreibungen von Sprachen nicht vollständig sind bzw. sein können. Das liegt u.a. an der Komplexität des Phänomens Sprache, an dem Entwicklungsstand der jeweiligen Linguistiktradition oder/ und an der Adäquatheit der vorhandenen Beschreibungsmethoden. Infolgedessen kann das Aufeinanderbeziehen von Sprachen/ Sprachbeschreibungen etliche Lücken aufzeigen. Dadurch kann man auf in der vorhandenen Beschreibung der verglichenen Sprachen nicht erfasste Phänomene bzw. Probleme aufmerksam werden. Bei identischen Phänomenen in den zu vergleichenden Sprachen kann außerdem die Mangelhaftigkeit der vorhandenen Elsayed Madbouly Selmy 270 Erklärungen offensichtlich werden. In diesem Fall wird das adäquatere Erklärungsmodell einer Sprache auf die andere übertragen, oder ein neues aus den Erkenntnissen über beide Sprachen entwickelt. In der Linguistik ist übrigens die Verwendung einer Sprache als Metasprache für eine andere nicht neu. In der Prager Schule dienten nämlich Vergleiche zwischen verschiedenen Typen von Sprachen zur Gewinnung von neuen Erkenntnissen in Bezug auf eine oder beide verglichenen Sprachen. Auf diese Weise hat man besonders in Phonologie einschneidende Ergebnisse erzielt (vgl. u.a. Mathesius 1929, 1935-36, 1964, 1964a). Auch in neueren Arbeiten wird diese Art von Transfer praktiziert. Harweg (1990) zieht über die Analyse der Entsprechungen deutscher Präpositionen im Chinesischen neue Interpretationsmöglichkeiten der deutschen Präpositionen in Erwägung. Mit Zuhilfenahme der Erkenntnisse der indischen Grammatik im Bereich der Wortarten versucht Raster (2001), im Deutschen die Rückführung der Präpositionen auf Präverbien zu beweisen. Daraus zieht er Schlussfolgerungen in Bezug auf die Wortklasse der Präpositionen im Deutschen. Auf der Folie der verblosen Nominalsätze im Arabischen, die in der arabischen Grammatik als vollständige Sätze gelten, stellt Selmy (2007) die These von dem elliptischen Charakter der zweigliedrigen verblosen Strukturen im Deutschen in Frage. Meines Erachtens verfolgen alle vorgestellten Forschungsbereiche der interkulturellen Linguistik ausschließlich linguistikdienliche Ziele. Das Aufeinanderbeziehen von Sprachen und Sprachwissenschaften lässt Lücken in den Sprachwissenschaften bzw. in der Beschreibung der Sprachen erkennen, die durch einen Transfer gedeckt werden können. Auf diese Weise werden einzelne Sprachwissenschaften um weitere linguistische Bereiche und theoretische Ansätze bereichert und/ oder die Beschreibung ihrer Bezugsprachen wird um neue vorher unbekannte Phänomene bzw. Kategorien oder um adäquatere Beschreibungsmuster erfasster Phänomene erweitert. Auch die Linguistik allgemein profitiert von der interkulturellen Orientierung. Neben den Ursprungssprachen fungieren im interkulturellen Ansatz andere Sprachen als Prüfstein für linguistische Bereiche und theoretische Ansätze. Das führt zu ihrer Modifizierung und Weiterentwicklung, was der Linguistik allgemein neue Erkenntnisse in Bezug auf ihre theoretischen Grundlagen und Methoden bringt. Die interkulturelle Linguistik hat also eine Kontroll- und Ergänzungsfunktion für linguistischen Bereiche und theoretische Ansätze. Wenn Sprachen und Sprachbeschreibungen zueinander in Beziehung gesetzt werden, gewinnt die Linguistik auch allgemeine Einsichten in das Wesen des Phänomens Sprache und der sprachlichen Phänomene. Man kann also schlussfolgern, dass die interkulturelle Linguistik eine vervollständigende Funktion in Bezug auf die Linguistik Interkulturalität der Linguistik 271 hat. Durch den Transfer wird das Niveau der Linguistik allgemein und der einzelnen Linguistiktraditionen angehoben und mögliche Unzulänglichkeiten beim Umgang mit dem Phänomen Sprache oder mit einer bestimmten Sprache aufgehoben. Die interkulturelle Linguistik verwirklicht außerdem eine Vervollständigung anderer Art. Raster (2002: 2) bemängelt, dass „klassische Kernbereiche der Linguistik wie die Grammatik, Syntax, Phonologie“ von dem interkulturellen Paradigma „nicht betroffen“ sind. Diese Kritik bezieht sich aber auf die andere Form der interkulturell orientierten Linguistik, nämlich die linguistische Interkulturalität, in der es in erster Linie um die Untersuchung von interkulturellen Missverständnissen in der sprachlichen Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen geht. Aber die Kulturgebundenheit der Phänomene in diesen klassischen Bereichen wirken sich bei interkulturellen Kontakten nicht maßgeblich aus. Daher haben solche Bereiche kaum im Interesse der Untersuchungen im Rahmen der linguistischen Interkulturalität gestanden. In der interkulturellen Linguistik rücken sie dagegen in das Interessenfeld ein. In allen Forschungsbereichen können sie nämlich einbezogen werden. Damit wird keine linguistische Teildisziplin aus dem interkulturellen Paradigma ausgeschlossen bzw. marginalisiert. 4 Schlussbemerkungen Zum Schluss einige allgemeine, von bisherigen Ansätzen abgrenzende Anmerkungen zu meiner Vorstellung von einer interkulturellen Linguistik: Zunächst eine terminologische Klärung: Den Terminus interkulturelle Linguistik verwende ich hier anders als in der bisherigen Forschung. Földes (2003) und Hermanns (1996, 2003) verwenden ihn als Bezeichnung für die Beschäftigung mit der Interkulturalität aus linguistischer Sicht, also die linguistische Interkulturalität in diesem Beitrag. Das gilt auch für alle linguistischen Teilbereiche, die in diesem Sinne schon eine interkulturelle Forschungsrichtung vorweisen, wie interkulturelle Pragmatik, interkulturelle Semantik … usw. Dagegen ist interkulturelle Linguistik bei Raster (2001: 9, 2002: 8) ein Oberbegriff für zwei Forschungsrichtungen, nämlich die „Linguistik der Interkulturalität“ (hier linguistische Interkulturalität), und die „Interkulturalität der Linguistik“ (hier interkulturelle Linguistik). Die terminologische Trennung beider Richtungen halte ich für notwendig. Durch die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Linguistik und Interkulturalität bei der Bezeichnung beider Richtungen, also linguistische Interkulturalität und interkulturelle Linguistik, will ich die Schwerpunktlegung jeder Richtung und den Kontrast zwischen ihnen verdeutlichen. Im Raster’schen Konzept einer interkulturellen Linguistik kommt nichtwestlichen Sprachwissenschaften „eine konstitutive Rolle“ (Raster 2002, Vor- Elsayed Madbouly Selmy 272 wort) zu. Er beschränkt aber die Beteiligung an der Konstitution einer interkulturellen Linguistik auf Sprachwissenschaften, die in ihrer Entwicklung „eigenständig“ bzw. „unabhängig von fremden Einflüssen“ (ebd. 28), und „dauerhaft“, also „von längerer Dauer“ (ebd. 29) sind. Linguistiktraditionen ohne diese zwei Merkmale „fallen durchaus in den Gegenstandsbereich einer interkulturellen Linguistik; doch können sie nicht selbst als konstitutive Faktoren für das Zustandekommen einer interkulturellen Linguistik betrachtet werden“ (ebd.). Die konstitutive Rolle der in Frage kommenden Sprachwissenschaften besteht darin, dass sie neben der europäischen/ westlichen Sprachwissenschaft „als alternative Weise des Zugangs zur Sprache“ (ebd. 199) herangezogen werden. Raster schwebt hier ein Konzept einer „universalen Sprachwissenschaft“ (Raster 2008: 152) vor, in dem die Hegemonie europäischer/ westlicher Sprachwissenschaft durch die Beteiligung anderer ebenbürtiger Sprachwissenschaften ausgeglichen wird. Die Kriterien der Dauerhaftigkeit und Eigenständigkeit zielen darauf ab, dass diese Sprachwissenschaften zum einen ein „wirkliches Potential“ (Raster 2002: 36) besitzen, so dass sie „Aufschlusswert für westliche Sprachen“ (ebd.) besitzen. Zum anderen will Raster die Originalität der Beiträge dieser Sprachwissenschaften garantieren und einen „Re-Import“ (ebd. 63) verhindern, d.h. die Rückübertragung bzw. Wiederanwendung von Konzepten, die die europäische/ westliche Sprachwissenschaft hervorgebracht hat, auf westliche Sprachen. Die ausgesuchten Sprachwissenschaften will Raster in die Linguistikausbildung einbauen, und zwar als „verschiedene Schulen oder Richtungen, deren man sich nach Belieben zum Erreichen bestimmter Zwecke bedienen kann“ (Raster 2002: 200). Raster schließt etliche Linguistiktraditionen, z.B. die arabische, chinesische, hebräische, von der Konstitution der interkulturellen Linguistik aus (Raster 2002: 26ff., 67ff; 2008: 133ff.), und stellt die indische der europäischen Linguistik zur Seite als die „beiden wichtigsten Repräsentanten der universalen Sprachwissenschaft“ (Raster 2008: 152). Er geht ausführlich auf die indische Sprachwissenschaft, ihre Rezeption und ihren Einfluss auf die europäische Sprachwissenschaft ein (vgl. Raster 2002: 84ff.). Obwohl es ein Verdienst von Raster ist, nicht nur auf die Forschungsrichtung Interkulturalität der Linguistik aufmerksam zu machen, sondern auch zu praktizieren, konstruiert er mit der Fundierung theoretischer Grundlagen einer universalen Linguistik ein durchaus nachvollziehbares, aber ideales und schwer praktikables Konzept. Einige seiner Postulate finde ich einschränkend und belastend für das ganze Konzept. Erstens schränkt das linguistische ‚Reinheitsgebot‘ in Bezug auf die beteiligten Sprachwissenschaften zum einen die Beteiligung auf bestimmte Linguistiktraditionen ein und so könnte aus der momentanen Euro-/ Westzentrik in der Linguistik bald, nach der Vorstellung von Raster, eine Indozentrik werden. Zum anderen dürfte sich die Suche nach den die interkulturelle Linguistik konstituierenden, von fremden Einflüssen lupen- Interkulturalität der Linguistik 273 reinen Sprachwissenschaften sehr mühselig gestalten. ‚Jungfernsprachwissenschaften‘ ließen sich angesichts des wechselseitigen Austausches zwischen den verschiedenen Kulturen schwer finden. Außerdem wird das einen Streit um den Reinheitsanspruch zwischen den verschiedenen Sprachwissenschaften entfachen, was alles in ein ‚Politikum‘ verwandeln und den Blick von den Erkenntnisinteressen abwenden würde. Zweitens setzt das Betreiben der interkulturellen Linguistik nach dem Konzept von Raster das Studium der ausgesuchten Sprachwissenschaften und ihrer Bezugssprachen voraus, was ein zusätzliches Hindernis darstellen und die interkulturelle Linguistik in eine elitäre bzw. exotische Forschungsrichtung verwandeln könnte. Auch wenn man annimmt, dass die Integration solcher Sprachwissenschaften/ Sprachen in das Linguistikstudium in Europa/ im Westen realisierbar ist, dürfte das nicht der Fall woanders in der Welt sein. Und somit könnte die interkulturelle Linguistik eine euro-/ westzentrische Angelegenheit werden. Drittens ist die vorhandene Asymmetrie zwischen westlichen und nichtwestlichen Sprachwissenschaften im Hinblick auf den Umfang des von ihnen „abgedeckten Objektsbereichs“ und „auf die Entwicklung ihrer Methoden und Konzepte“ (Raster 2002: 36) nicht zu leugnen. Allein deswegen Aussagen über das Potenzial nichtwestlicher Sprachwissenschaften und ihren Aufschlusswert für westliche Sprachen zu machen, wäre wissenschaftlich nicht vertretbar, denn nur die Praxis kann solche Annahmen verifizieren. Dass die europäische/ westliche Sprachwissenschaft sich „mit der Sprachwissenschaft gleichsetzt“ (Raster 2008: 148) und sich mehr in der Geberrolle sieht, ist im Rahmen des geschichtlichen Rollenwechsels zwischen Geber- und Nehmerkulturen zu betrachten. Zurzeit ist die europäische/ westliche Kultur die gebende in allen Bereichen. In der Linguistik haben auch die Verherrlichung der europäischen/ westlichen Linguistik seitens nichtwestlicher Linguisten und das mangelnde Bewusstsein bei ihnen für die Möglichkeit einer Projektion ihrer sprachlichen und sprachwissenschaftlichen Methoden und Konzepte auf westliche/ europäische Sprachen bzw. Sprachwissenschaften zu diesem asymmetrischen Verhältnis beigetragen. Besonders wenn man bedenkt, dass westliche/ europäische Linguisten, wie Raster (2002: 69) konstatiert, „unzureichende Erkenntnis der Bedeutung und des Potentials“ nichtwestlicher Sprachwissenschaften besitzen. Mit der Etablierung einer interkulturellen Linguistik wird die Asymmetrie zunächst nicht ganz aufgehoben. Der Beitrag der einzelnen Sprachwissenschaften wird weiterhin variieren und in dieser Hinsicht hat die europäische/ westliche noch einen Vorsprung als Geberlinguistiktradition. Die interkulturelle Linguistik wird aber ein neues Bewusstsein für ein wechselseitiges Geber-Nehmer-Verhältnis schaffen. In der interkulturellen Linguistik schafft die Verschiedenheit der Sprachen/ Sprachwissenschaften optimale Bedingungen zur Gewinnung von neuen Erkenntnissen. Daher schließt die interkulturelle Linguistik, die mir vor- Elsayed Madbouly Selmy 274 schwebt, grundsätzlich jede Sprachwissenschaft bzw. Sprache in die interkulturell-linguistische Forschung ein, solange sie als Bezugssprachwissenschaft bzw. Bezugssprache für andere Sprachwissenschaften oder Sprachen herangezogen werden und zu aufschlussreichen Erkenntnissen führen können. Dabei ist eine genetische Verwandtschaft zwischen den Sprachwissenschaften/ Sprachen keine Garantie für einen erfolgreichen Austausch, denn hier zählt mehr die „Angemessenheit“ (Raster 2002: 78) des transferierten Linguistikwissens für die Nehmersprachwissenschaft bzw. -sprache. Und das wird, wie oben gezeigt, durch die Vorgehensweise abgesichert. Auch der Entwicklungsstand und der Umfang der Sprachwissenschaften sind nicht maßgeblich für ihr Potential, für andere Sprachwissenschaften/ Sprachen Erkenntniswert zu besitzen. Es kommt nämlich immer auf den konkreten Fall an, und jede Sprachwissenschaft kann grundsätzlich Aussagekraft in bestimmten linguistischen Bereichen haben. In diesem Zusammenhang sei zu erwähnen, dass die nicht vorhandene Eigenständigkeit der Linguistiktraditionen bzw. Freiheit von fremden Einflüssen kein Anlass ist, diese auszuschließen. Der stattgefundene Austausch mit anderen Linguistiktraditionen und die Rezeption bzw. Anwendung des übernommenen Linguistikguts ist auch von interkulturell-linguistischer Relevanz. Ebenfalls ist ein Re-Import grundsätzlich nicht abzulehnen, solange dieser, wie oben gezeigt, durch ein modifizierendes Feedback neue Erkenntnisse enthält. Nur so wird die interkulturelle Linguistik eine praktikable Forschungsrichtung, die alle Sprachwissenschaften/ Sprachen ohne Präferenzen einschließt und von jedem Linguisten mit Kenntnissen über mindestens zwei Sprachen und ihre sprachwissenschaftlichen Beschreibungen betrieben werden kann. Ich habe oft von zwei Sprachen und zwei Kulturen gesprochen. Dabei steht das Numerale zwei für die Mindestzahl der beteiligten Sprachen und Kulturen. In der interkulturellen Linguistik bilden Kultur und Sprache bzw. Sprachwissenschaft zwei Eckpfeiler. Raster (2002: 27) geht von dem „einfachste(n) Fall“ aus, „dass zu einer Kultur eine Sprache gehört“, schließt aber „komplexere Formen der Zuordnung“ (ebd.) nicht aus. Die Problematik dieser Ausgangsposition liegt darin, dass Sprachen sich über mehrere Kulturen erstrecken können, wie es beispielsweise beim Englischen und Deutschen der Fall ist. Aus den Erscheinungsformen einer Sprache in verschiedenen Kulturen können sich interessante Aspekte für die Forschungsrichtung linguistische Interkulturalität ergeben. Was die interkulturelle Linguistik angeht, wirkt sich dieser Umstand anders aus. Die linguistischen Erkenntnisse, auch wenn teilweise verschieden, sind in Bezug auf dieselbe Objektsprache gewonnen und schlussendlich ein Teil der Sprachwissenschaft dieser Sprache. Der Linguistiktransfer wird in diesem Fall zwar interkulturell, aber intralingual bzw. innerhalb der Sprachwissenschaft einer einzigen Sprache. Liegt der umgekehrte Fall vor, also zu einer Kultur gehören mehrere Sprachen wie beispielsweise die drei Hauptspra- Interkulturalität der Linguistik 275 chen Deutsch, Französisch und Italienisch in der Schweiz, hat man eine andere Sachlage. Geht man davon aus, dass es sich hier um drei Subkulturen, aber drei Sprachwissenschaften handelt, dann betreibt man so keine inter-, sondern intrakulturelle Linguistik. Es erfolgt nämlich ein interlingualer bzw. ein Austausch zwischen verschiedenen Sprachwissenschaften. Man kann also schlussfolgern, dass die Verschiedenheit der Kulturen nicht immer die Verschiedenheit der Sprachwissenschaften, dagegen aber die Verschiedenheit der Sprachen die Verschiedenheit der Sprachwissenschaften bedeutet. Daher ist in manchen Fällen die Bezeichnung interlinguale zutreffender als interkulturelle Linguistik. Was den Beitrag zur interkulturellen Germanistik, der die ersten Überlegungen zu einer interkulturell orientierten Linguistik entsprungen sind, anbelangt, erhöht die interkulturelle Linguistik die Erfolgschancen des Ansatzes. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der interkulturellen Germanistik, auch zur linguistischen Interkulturalität, bestehen in der interkulturellen Linguistik realistische Chancen zum interkulturellen gegenseitigen Lernen. Die „leitende Prämisse“ der interkulturellen Germanistik ist, dass „kulturelle Vielfalt … als Bereicherung und Quelle der Erkenntnis zu begreifen (sei)“ (Wierlacher 2003: 13). Dabei stehen das Eigene und das Fremde in einer dialektischen Beziehung, indem man „differente Sehweisen und Perspektiven auf die komplexe deutsche Kultur durch den vielfältigen Außenstandpunkt geradezu provoziert; umgekehrt wird die reziproke Fremderfahrung Studierender zur Möglichkeit erkenntnisfördernder Selbstreflexion“ (ebd.). Kulturelle Differenzen, auf die sich die interkulturelle Germanistik bezieht, schließen identitätsstützende Komponenten wie Werte, Glauben … usw. ein. Aus dem Gefälle zwischen Kulturen entsteht oft ein Gefühl der Minderwertigkeit bei Angehörigen der unterlegenen Kulturen, das in der Regel in eine Abwehrhaltung umschlägt. Daher kann es zum erwünschten gegenseitigen Lernprozess nicht kommen, in der Regel wegen mangelnder Bereitschaft, auf das Fremde einzugehen bzw. das Eigene in Frage zu stellen. Dagegen geht es in der interkulturellen Linguistik um den Austausch von Inhalten, die die kulturelle Identität nicht so stark betreffen. Sie können sogar in den nicht hoch entwickelten Linguistiktraditionen, und zwar aus dem Anliegen, linguistisch up to date zu sein, willkommen sein. Hier kann man sich also auf einer sachlichen und die Emotionen dämpfenden Ebene begegnen, denn die Angemessenheit des transferierten Linguistikwissens für die Nehmersprache bzw. -sprachwissenschaft ist ein Hauptkriterium beim Transfer. Die Voraussetzungen einer, linguistisch gesehen, ‚Empathie‘ sind also gegeben, und so kann auf linguistischer Ebene eine ‚Horizontverschmelzung‘ zustande kommen. Gelegentlich kann das Herz des Patriotismus höher schlagen. Das patriotische Ego kann dadurch gestillt werden, dass es sich um eine Geber- Nehmer-Beziehung handelt, zwar quantitativ nicht proportional, aber eventuell qualitativ. Es gibt noch einen Pluspunkt in der interkulturellen Linguistik: Es Elsayed Madbouly Selmy 276 kann zu einem echten Austausch zwischen Inlands- und Auslandslinguistik kommen. Das betrifft auf der einen Seite die Methodik: In der interkulturellen Germanistik soll die deutsche Kultur von anderen Kulturen wahrgenommen bzw. rezipiert werden, aber wie Raster (2002: 82) anmerkt, nach den Prämissen und Methoden der westlichen Wissenschaftstradition. Die interkulturelle Linguistik ermöglicht dagegen, dass die deutsche Sprache „mit den wissenschaftlichen Methoden und Konzepten einer fremden Kultur wahrgenommen und dargestellt wird“ (ebd.). Auf der anderen Seite findet ein Austausch zwischen Inlands- und Auslandslinguisten statt, der, wie die oben vorgestellten drei Transferarten zeigen, grundlegende Fragen der Linguistik umfasst. In Bereichen der interkulturellen Germanistik dagegen bringen Auslandsgermanisten oft nur ihren kulturellen ‚Senf‘ in die Diskussion ein. 5 Literatur Aktaş, Tahsin (2006): Übersetzungskritische Untersuchung des Romans „An diesem Dienstag“ Wolfgang Borcherts. In: Journal of Language and Linguistic Studies 2. S. 204-219. 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Nach einem theoretischen Überblick wird eine (vorläufige) Definition erstellt, die die Frage beleuchtet, wie EK und IG miteinander verbunden werden können. Der praktische Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit EK bei Lernenden und Lehrenden im Bereich der Auslandsgermanistik, besonders in Bezug auf die Ausbildung von Deutschlehrer(inne)n bzw. auf die Vermittlung von interkultureller Kompetenz. Darüber hinaus soll auch die außerunterrichtliche Kommunikation im Sinne des lebenslangen Lernens betrachtet werden. Daraufhin werden konkrete Vorschläge diskutiert, wobei besonders die Fragen der Durchführbarkeit sowie der zu erwartenden Schwierigkeiten zu erörtern sind. Anschließend folgt die kritische Auseinandersetzung mit den vorgestellten Konzepten und deren Bedeutung für die Erwachsenenbildung mit Bezug zur IG. Nach der Zusammenfassung wird ein Ausblick auf zukünftige Forschungsschwerpunkte gegeben, denn vor allem die so wichtige Rolle der EK im Zusammenhang mit der (universitären) Lehre ist bisher noch nicht besprochen worden. 2 __________ 1 Im Folgenden wird Interkulturelle Germanistik als IG und Emotionale Kompetenz als EK abgekürzt. 2 In Bezug auf die Literaturwissenschaft vgl. Mecklenburg (2008) und die ‚Mitteilungen‘ des deutschen Germanistenverbandes 2007; siehe hierzu auch die Hinweise in Schwarz-Friesel (2008: 76 und 130), Kotthoff (1993) in Bezug auf die Pragmatik und Kehrein (2002) in Bezug auf Prosodie; aber in Bezug auf Emotionen in der Dennis Strömsdörfer 282 2 Zur Interkulturellen Germanistik Der Begriff IG weist gleich mehrere Probleme auf: Erstens handelt es sich um einen von der deutschen Germanistik geprägten Terminus, der zweitens die nicht eindeutig definierten Bestandteile ‚Inter-‘ und ‚Kultur‘ als Selbstverständlichkeiten in sich trägt. Das größte Problem des Faches ist die schon in der Einleitung angedeutete sozialwissenschaftliche Bürde: Forschungssubjekt und Forschungsobjekt sind identisch, alle Beobachtung ist nur vermittelt - die Untersuchung des einen impliziert, dass lediglich Unterschiede zum anderen in Form von Abweichungen vom Normalen zu Tage treten. Außerdem, so ist zu bedenken, gibt auch die Lexik einer Sprache in gewisser Weise deren Beschreibung vor. 3 Dies liegt zum einen auch an der Tendenz, anstelle einer Theorie eine „narrative Wissenschaftsgeschichte“ (Kemper 2004: 412) zu implementieren. Daher findet sich heute eine schier unüberschaubare Menge an ‚neuen ‘ Disziplinen, von denen keine die Bezeichnung ‚Inter- ‘ ‚ oder gar ‚Interkulturell ‘ hinreichend erläutert, wie Földes gezeigt hat. 4 Hilfreich scheint es, wenn zunächst der Vergleich (mind.) zweier Sprachen als konstitutiv angesehen wird. 5 Der Begriff ‚Kultur ‘ , auf die Annahme des eigenen Willens gegenüber der bestimmenden Natur zurückgehend, entsteht erst durch eine ihn konstituierende Gesellschaft - und zwar als offenes, veränderbares System aller Denk-, Fühl- und Handlungsmuster mit verschiedener soziographischer Gliederung (z.B. Religion). 6 Daher muss sich m.E. eine IG vor allem mit Kommunikation als Sprach-Handlung 7 beschäftigen, d.h. sich als soziale Tätigkeit des Verstehens und Ver- __________ auslandsgermanistischen Lehre gibt es meines Wissens (noch) keine ausführlichen Untersuchungen. 3 In Bezug auf den Begriff „Emotion“ in der Germanistik vgl. Schwarz-Friesel (2007: 62ff.); vgl. aber auch den Ansatz von Raster (2002: 59ff.), der die Vorteile betont, eine Sprache mittels einer anderen (Meta-)Sprache zu beschreiben. 4 Siehe die Auflistungen samt Literaturhinweisen in Földes (2003: 19-24) z.B. als „interkulturelle Zahnmedizin“ (ebd. 24), und in Földes (2007a: 11f.). 5 Wiederum zu beachten ist, dass im Deutschen auch zwischen den Dialekten aus intra-kultureller Sicht große Unterschiede bestehen, so dass meine Formulierung impliziert: Sprachkontakt plus Kulturbegegnung. 6 Vgl. hierzu Casper-Hehne (2006: 7ff.) und Földes (2003: 42). 7 Damit meine ich den Austausch von Informationen im weitesten Sinne, also auch Handlungen; auf die Darstellung eines detaillierten Kommunikationsbegriffes wird aus platzökonomischen Gründen verzichtet. Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz 283 ständigens begreifen und dies in der Definition auch deutlich machen. 8 Der Kulturbegriff selbst ist außerdem so mannigfaltig, dass genaue Zahlen über die Menge an Definitionen stark voneinander abweichen. 9 Der IG wird gelegentlich vorgeworfen, den westeuropäischen Standpunkt auf die jeweilige Auslandsgermanistik zu übertragen, eben ohne diese besonders zu berücksichtigen. 10 Daran schließt sich die Behauptung an, in der Tradition der abendländischen Aufklärung (Brenner 1991) sich einem dialogisch gerierenden Kulturimperialismus 11 zu verschreiben, der obendrein nur durch inhaltsarme Formulierungen und durch ständige Wiederholung seiner nicht definierten Termini und Ziele sich zu legitimieren versuche - bis hin zum zynischen Vorwurf, als Rechtfertigung für die nutzlose Germanistik zu dienen. 12 ‚Kultur ‘ entsteht, so scheint mir, vor allem innerhalb von Kommunikation - verbaler und nonverbaler Art -, also auf der Beziehungsebene, so dass vor allem Denk- und Verhaltensmuster (d.h. Kommunikationsmuster) gemeint sind und so dass [...] der Begriff der „Kultur“ nicht isoliert von Einzelsprachen und von Kulturgemeinschaften als übergreifendes Konzept aufgefasst werden kann, da er in __________ 8 Zeichen - auch Sprachzeichen - haben nicht selbst eine Bedeutung, sondern sie erhalten sie mittels Interpretation der in einem bestimmten Kontext geäußerten und wahrgenommenen Zeichen; vgl. Deutschunterricht 5/ 2008, 33f.; auch Wittgenstein wusste: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (Wittgenstein 1969, PU 43). 9 Es kursieren unterschiedliche Zahlen von „mehr als 100“ bis „über 300“ (Földes 2007a: 20); Kroeber/ Kluckhohn (1952) nennen schon über 150 Definitionen. 10 Immerhin sind viele Veröffentlichungen hierzu aus Deutschland, so z.B. auch das Jahrbuch DaF oder die Zeitschrift Info DaF. 11 Vgl. die schon etwas ältere Kritik von Zimmerman (1991b: 25): „So wie sie derzeit von ihren Initiatoren konzipiert ist, hat die ‚Interkulturelle Germanistik‘ gerade wegen ihres scheinbar weltoffenen und menschheitsbeglückenden Pathos, das die weltpolitischen Abhängigkeitsverhältnisse und Wirtschaftsinteressen nicht aufdeckt, sondern hinter einer dialogischen Kommunikations- und Partnerschaftsideologie zum Verschwinden bringt, etwas von der traditionellen Scheinheiligkeit europäischen und deutschen ‚Kulturmissionarismus‘, der europäischen Machtinteressen seit eh und je die höheren Weihen verliehen hat und dem sie ihrem eigenen Anspruch nach gerade entgegenwirken will.“ 12 Kritische Stellungnahmen hat auch Kemper (2004: 412) gesammelt; vgl. auch Altmayer (1998). Dennis Strömsdörfer 284 verschiedenen Sprach- und Wissenstraditionen eine gravierende Mannigfaltigkeit aufweist. (Földes 2003: 11) 13 Földes fordert einen heuristischen Ansatz, der insbesondere Pragmatik und Semantik berücksichtigt, denn „unterschiedliche kulturelle Wertorientierungen [schlagen sich - D.S.] in den pragmatischen Regeln der Kommunikation nieder“ (Földes 2003: 45). 14 Die Handlungen zu untersuchen und dadurch verstehend die Vielfalt ihrer Wechselbeziehungen als Bereicherung anzusehen, muss also das Ziel einer germanistischen interkulturellen und transdisziplinären Perspektive sein. 15 In der Slawistik ist die Lakunen-Theorie bei der Beschreibung von interkultureller Kommunikation sehr verbreitet. Dabei handelt es sich um [...] nicht-äquivalente Lexik oder andere kulturelle Spezifika: [Lakunen] gelten aber auch ganz allgemein als ein Terminus zur Bezeichnung dessen, was in der einen Kultur vorkommt, nicht jedoch in einer anderen. (Földes 2003: 17) 16 Lakunen sind also Zustände, Prozesse und Realia, die der eigenen usuellen Erfahrung nicht entsprechen - die Probleme, die in solchen Situationen ‚usueller Lücken’ auftreten, wirken sich meist auf die Beziehungsebene aus, worin auch der Grund liegen mag für die zahlreichen, durchaus problematischen Beispiele für interkulturelle Kommunikationskonflikte. Kultur soll hier verstanden werden als ein bedeutungsorientiertes Verständnis, wobei „[...] die (soziale) Wirklichkeit nicht unmittelbar gegeben, sondern in Akten dirkursiver Deutung und Sinnzuschreibung von den Akteuren selbst konstruiert wird.“ (Altmayer 2010: 1408). Dieser „[...] nicht widerspruchsfreie Bestand an Denk-, Empfindungs- und Handlungsmustern [...]“ (Casper-Hehne 2006: 10) sollte dabei nicht kausal erklärt, sondern mittels eines verstehenden Zugriffs rekonstruiert werden. 17 __________ 13 Zur Diskussion des Kulturbegriffs in der Germanistik vgl. ausführlich Földes (2007a: 24ff., Kapitel 3). 14 Diesen Ansatz, das Verstehen zu fördern und eher Prozesse als Ergebnisse zu untersuchen, verfolgt auch Ertelt-Vieth (2005); vgl. hierzu deren Anforderungen an Interkulturelle Kommunikation (ebd. 17f.). 15 Földes betont die Transdisziplinarität, denn er hofft, dass in den Überschneidungsbereichen der Forschungspraxis entscheidende kreative Anstöße für zukünftige Forschungen entstehen (Földes 2007b: 78). 16 Zur Lakunen-Theorie vgl. Markovina (1993) und Sorokin (1993). 17 Eine erschöpfende Definition kann hier selbstverständlich nicht gegeben werden; interessant sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen zu Kultur in Daniel (2002: 443-466), die ebenfalls einen hermeneutisch-verstehenden Ansatz verfolgen. Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz 285 3 Zur Emotionalen Kompetenz Die Forschung zum Thema ‚Emotionen‘ in der Erwachsenenbildung findet, dank neuester neurobiologischer Erkenntnisse seit den 1990er Jahren, immer mehr Beachtung. 18 Es ist eine Abkehr von der Auffassung zu beobachten, dass „Emotionen als Krankheitsaspekt oder Ausdruck fehlgelaufener Sozialisation“ (Gieseke 2007: 47) angesehen werden (als Gegensatz zu Rationalität oder Vernunft). Denn vielmehr dienen sie gerade als soziokulturell überformtes Informationssystem des Individuums. In der Folge dieser Erkenntnisse sind auch diverse Modelle zur EK entwickelt worden, die hier nur erwähnt, aber nicht wiedergegeben werden können (Saarni 1999, zit. nach Einsiedler 2006). 19 In diesem Zusammenhang werden auch immer wieder gewisse pränatale, Grund- oder Basisemotionen genannt, deren Klassifizierung jedoch stark kulturabhängig ist (Schwarz-Friesel 2007: 66 und 73). 20 Allerdings ist auch eine wahre Flut von populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur zu verzeichnen, die oft unter dem Deckmantel des Etiketts ‚Emotion‘ banale Erkenntnisse als Sensation und Lebenshilfe anbietet. 21 Emotionen sind in der Kognitionswissenschaft kaum berücksichtigt (Schwarz-Friesel 2007: 89ff.), weil sie lange Zeit als der Kognition untergeordnet galten (ebd. 177), 22 doch die Verbindung ist offensichtlich: Die sprachliche Realisierung von Gefühlen bedeutet, dass die Person sich dessen bewusst ist und somit (kognitiv) klassifiziert und bewertet (Schwarz-Friesel 2007: 104): __________ 18 Beispielhaft seien hier genannt: Arnold (2003 und 2004), Müller-Commichau (2005). Arnold (2005: 11) weist auch darauf hin, dass die Tabuisierung der Emotionalität in der Wissenschaft in neueren Forschungsarbeiten eher rückläufig ist. 19 Die Erklärung dieses Modells in Einsiedler (2006: 78ff.), Nestle (2004: 228f.) und Gieseke (2007: 171f.); zum Konzept der „Emotionalen Intelligenz“ vgl. Goleman (2000) und die Erklärung in Gieseke (2007: 173f.); einen integrativen Ansatz zur emotionalen Kommunikation im Allgemeinen bieten Bartsch/ Hübner (2004). 20 Vgl. z.B. die problematische Zuordnung von Neid und Eifersucht im Vergleich zwischen dem Deutschen und dem Russischen (Diesen Hinweis verdanke ich Iwan Iwanowitsch Tschestnokow aus Wolgograd). 21 Beispielhaft seien hier Veeser (2007) und Seidel (2008), der sich nicht zu schade ist, den Untertitel „Gehirnforschung und Lebenskunst“ zu wählen, genannt. 22 Diese Erkenntnis der wechselseitigen Beeinflussung von Kognition und Emotion lässt sich auch in neueren erwachsenenpädagogischen Arbeiten feststellen (vgl. beispielsweise Gieseke 2007: 13ff.): „Bildung und lebenslanges Lernen können [...] nur über eine entwickelte Emotionalität gelingen [...]“ (ebd. 18), d.h. „[...] die polarisierenden Hierarchisierungen zwischen Gefühl und Verstand [seien] [...] als ideologisches Wissen zu betrachten“ (ebd. 201). Dennis Strömsdörfer 286 So sehr unser Leben durch den Mechanismus der Sachlichkeit der Dinge bestimmt scheint, so können wir in Wirklichkeit keinen Gedanken denken, ohne daß unser Fühlen die Dinge mit Wert ausstattete und ihnen gemäß unser Tun dirigierte. (Simmel 1999: 63) Neben der Bewusstheit ist aber auch die Fähigkeit eines Individuums zur bewussten Selbstreflexion auf die eigenen Gefühle von Bedeutung. Die im Laufe der Sozialisation entwickelten emotionalen Muster, das „selffullfilling feeling“ (Arnold 2005: 66), werden dem Selbst deutlich, so dass auch das Einfühlen in das Gegenüber, gleichsam aus einer beide beachtenden Perspektive, möglich wird: Nicht das Erzeugen von Wissen, sondern dessen Ermöglichung muss daher das Ziel des Lernens sein. Oft werden Emotionen in (mind.) drei Ebenen geteilt (Schumacher 2002: 105ff.): 23 subjektives Gefühl, körperlicher Zustand und Ausdruck. Aber Emotionen können nicht dergestalt auseinander gehalten werden, sondern sie müssen m.E. vielmehr als Prozess gesehen werden, der abhängig ist von der Sozialisation des Individuums und der nachfolgendes Handeln immer mit beeinflusst. Die Wirklichkeit wird dadurch erst konstruiert, die Emotionen werden „[...] durch die Werte- und Normenvorstellungen der sozialen und kulturellen Umwelt mitbestimmt“ (Schumacher 2002: 113), es handelt sich also um wirklichkeitsschaffende „Deutungs- und Emotionsmuster“ (Arnold/ Siebert 2006: 106). Die Individuen deuten ihre Welt aufgrund ihrer Erfahrung; und genau dadurch verändern sie sich, ihre Erfahrungen und eben auch diese Welt, sie lernen. 24 Aus konstruktivistischer Sicht 25 lässt sich sagen, dass die Welt nur so erkannt werden kann und dass nur so gelernt werden kann, wie es den Möglichkeiten des Individuums gegeben ist - so wie dem Individuum seine Umwelt vertraut ist, denn es gibt keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit. Emotional kompetente Individuen sind nicht nur sensibel für fremdes Empfinden (Empathie) sondern auch für das eigene (Selbstreflexivität), wodurch sich eine Beziehung (im Kommunikationsprozess) aufbaut, die es ermöglicht, gemeinsam Probleme und Aufgaben konstruktiv zu bewältigen. EK ist dabei __________ 23 Zur Einteilung von Emotionen vgl. auch die detaillierten Ausführungen in Kehrein (2002: 109-119). 24 „[W]ir deuten uns [...] die sich wandelnde Welt mit den Weltbildern, Denkgewohnheiten und Argumentationsmustern unserer Erfahrungswelt, also der Vergangenheit.“ (Arnold 2005: 34); vgl. zur germanistischen Perspektive auch Ertelt-Vieth (2005: 26f.). 25 Damit meine ich insbesondere Arnold (2005) und Arnold/ Siebert (2006); vgl. aber auch die kritischen Anmerkungen hierzu bei Gieseke (2007: 219ff.). Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz 287 jedoch immer kulturabhängig: 26 „[...] [W]e saw that cultures vary in the value they attach to different emotions, in emotion display rules, in the elicitors and language of emotion, and the complexity of emotional experience.” (Oatley/ Keltner/ Jenkins 2007: 79). Die einseitige, oft westlich geprägte Sichtweise 27 gilt es - besonders in Bezug auf IG - aufzubrechen zugunsten einer EK, die sich als interkulturell versteht. Durch diese Selbstreflexivität als Grundvoraussetzung wird eine „Transformation kognitiver und emotionaler Muster“ (Arnold 2005: 171) bewirkt, transformatives Lernen kann entstehen. Lehrende, die sich über ihre Gefühle im Klaren sind, handeln professionell - sie verfügen über pädagogische Gelassenheit. 28 Nun bieten besonders die für Verständnisprobleme anfälligen interkulturellen Kommunikationssituationen - hier konkret: die IG im Ausland - Möglichkeiten, durch Empathie und Selbstreflexivität ein Mehr an beiderseitigem Verständnis zu erzielen. Als Kernfähigkeiten für EK können nun festgehalten werden: − Sensibilität entwickeln für das eigene Befinden; − Empathie empfinden; eine Beziehung mit dem Gegenüber eingehen, die auf Beidseitigkeit beruht, und − konstruktiv mit problematischen Situationen umgehen (nach Müller-Commichau 2005: 13 und 77). __________ 26 „[...] für die Entwicklung emotionaler Kompetenz [ist] auch der kulturelle Kontext zu berücksichtigen.“ (Friedlmeier/ Trommersdorff 2002: 229). 27 „[...] Western view of individuals as rational and autonomous decision makers and of cognition and emotion as internal states and processes“ (Pavlenko 2005: 194); auch bezeichnend ist die geringe Beachtung der Lakunen-Theorie außerhalb der Slawistik. 28 „Wer zu erkennen vermag, dass er im Modus der emotionalen Konstruktivität sich auf sich selbst bezieht, verfügt über erste Voraussetzungen, sich selbst und die anderen sich auch anders, entdramatisierter und damit flexibler vorstellen und entsprechend handeln zu können.“ (Arnold 2005: 169). Dennis Strömsdörfer 288 4 Gefühl = Emotion? Ein Klärungsversuch 29 Emotionen sind untrennbar mit dem Organismus verbunden und sie finden sich in den je individuellen Realisierungsformen wieder: bewusst/ unbewusst, Aktivitätszustand und begleitende Handlung. Die kognitive Kategorisierung dient dabei der Orientierung, ja sie sorgt für eine gewisse Sicherheit. 30 Es bleiben das Problem der Zuordnungsbarkeit, denn Emotionen sind - wie schon gezeigt wurde - situations- und kontextabhängig, und die Schwierigkeit, Emotionen als positiv oder negativ zu bewerten. 31 Sinnvolle Hinweise scheinen die Parameter Qualität/ Wertigkeit, Dauer (vorübergehend oder dauerhaft) und Intensität zu liefern. Emotionen beziehen sich also auf die angeborenen Verhaltensmuster (z.B. Glück), auf die Einschätzung der Situation sowie auf einen (kognitiv verursachten) Ausgleich (z.B. mehr Glück zu erstreben oder Angst zu beseitigen). Das Gefühl dagegen beschreibt die subjektive Erlebenskomponente einer Emotion, es ist die Realisierung des subjektiven Erlebens und dadurch sprachlich kodierbar, daher gilt folgende Definition: „Die Kategorie EMOTION ist somit konzeptionell betrachtet Type und das Gefühl Token [...].“ [Hervorhebung im Original] (Schwarz-Friesel 2007: 78) Den Individuen ist der eigene emotionale Zustand bewusst und kann in einer wertenden Einschätzung sprachlich mitgeteilt werden. 32 „Gefühle sind subjektive Bewertungen bewusst wahrgenommener Emotionszustände“ (Schwarz-Friesel 2007: 80), 33 die nicht beobachtbar, aber in sprachlich kodifizierter Form beschreibbar sind - eine Sprachanalyse kann hier zugrunde liegende Konzeptualisierungen finden. Dennoch bleibt zu betonen, dass in der einschlägigen Fachliteratur keine einheitliche Unterscheidung von Gefühl und Emotion zu finden ist. __________ 29 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Schwarz-Friesel (2007); Beispiele für die synonyme Verwendung listet Schwarz-Friesel auf (ebd. 138); dass Gefühle nicht identisch mit Emotionen sind, betonen auch Fries (2000), Arnold (2005: 109ff.) aus erwachsenenpädagogischer Sicht und Schumacher (2002: 110f.). 30 Daher auch die Annahme der pränatalen, nicht kulturgebundenen Emotionen Glück, Zorn, Trauer, Furcht, die allesamt Überlebensvorteile böten. 31 Vgl. die Frage: Ist eine angenehme/ unangenehme Überraschung noch eine Emotion oder gehört sie in den Bereich der Kognition? 32 Auch unbewusst werden Gefühle mitgeteilt, z.B. durch eine zittrige Stimme; dies ist jedoch (im Normalfall aufrichtigen Sprachhandelns) auch ungewollt und unbeabsichtigt. 33 Vgl. den unsinnigen Satz: Er freute sich, war sich dessen aber nicht bewusst. Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz 289 5 Anmerkungen zur Praxis Noch liegen keine ausführlichen empirischen Befunde vor, obwohl die Bedeutung von Emotionen in der (Aus-)Bildung auch in neuesten internationalen Publikationen bestätigt wird: „The educational context is an emotional place, and emotions have the potential to influence teaching and learning processes (both positively and negatively).“ (Pekrun/ Schutz 2007: XIII) Verschiedene spezielle Untersuchungen (Kotthoff 1993, Bouchara 2002 über die Höflichkeit; Yakovleva 2004) haben bereits Einblicke gegeben, auch sind zu vielen Gelegenheiten Hinweise auf die Vermittlung von EK gegeben worden. Selbst innerhalb der Germanistik gibt es bereits Diskussionen, inwieweit Emotionen in der Praxis eine Rolle spielen sollen. Ein Beispiel hierfür sind die situativ unterschiedlichen Gesprächskonzepte, z.B. beim Bier: Während Amerikaner eher eine gute Atmosphäre schaffen wollen, sind deutsche Sprecher nicht abgeneigt, bei dieser Gelegenheit auch konfrontativ zu debattieren. Die Schlussfolgerungen daraus könnten sein, dass der Amerikaner den Deutschen für unhöflich und der Deutsche den Amerikaner für oberflächlich hält (Casper-Hehne 2006: 20 und 45ff.). Die meiner Meinung wichtigste, schon angedeutete Annahme muss - bei Lehrenden und im Folgenden auch bei den Lernenden - die Ausbildung des Bewusstseins sein, dass das kulturell bedingte Gefühl der Fremdheit eine Interpretation der Andersheit ist. Die sprachliche Beschreibung bestimmter Handlungen (sei es aus Erfahrung, oder aus literarischen oder visuellen Beispielen) zeigt, dass bestimmte Kommunikationshandlungen als fremd gefühlt (bzw. empfunden) werden, obwohl sie nur anders sind (also vor dem Hintergrund der eigenen Kultur). 34 Einsetzbar sind auch die aus dem Bereich der Interkulturellen Kommunikation bekannten Rollenspiele und Simulationsaufgaben, die allesamt zu erstaunlichen Ergebnissen führen - insbesondere wenn eine Gruppe mit Angehörigen verschiedener Kulturen so die Sichtweise der jeweils anderen Seite sehen und besprechen kann; die Eigen- und Fremdperspektive einzunehmen, erfordert ebendiese EK, das Einfühlen in den anderen. Eine Möglichkeit bietet sich hier auch im Einsatz von Filmen, die auch von den Lernenden selbst produziert werden könnten. 35 __________ 34 Beispielsweise bedeutet das Verschenken gelber Blumen bei einer russischen Hochzeit Unglück (resp. baldige Scheidung), während es in Deutschland diese Farbbedeutung nicht gibt. 35 Hier sei an das deutsch-französische TV-Projekt „Karambolage“ erinnert (http: / / www.arte.tv/ de/ europa/ karambolage/ 104016.html, Stand: 28.6.2011). Dennis Strömsdörfer 290 Praxis-Untersuchungen bei Fremdsprachenlernern zeigen besonders deutlich, dass sich die Einschätzung und die Stellung der Sprache innerhalb der Gesellschaft auf die Motivation auswirkt; und zwar i.S. einer wertvollen oder wertlosen Sprache. Hier bietet es sich an, zu emotionalen Antreibern (besonders bei im Ausland unterrichten Sprachen) zu suchen (vgl. Jeuk 2004). Dabei gehe ich von Motivation als einem Prozess von individuellen Anstrengungen aus, die in handlungsleitende Ziele überführt werden, die vor allem abhängig sind von den Lernbedingungen und -möglichkeiten sowie vom allgemeinen Umfeld. Dadurch ergibt sich eine Kombination aus intrinsicher und extrinsicher Motivation, die auch Emotionen berücksichtigen sollte. 36 Ein großes Praxis-Problem für Lehrende in fremdkultureller Umwelt in Bezug auf Emotionen ist deren Erkennbarkeit, weil sie verschiedene sichtbare (wie Erröten) oder nur messbare (wie die Herzfrequenz) Ursachen haben, d.h. es handelt sich um hypothetische Schlussfolgerungen, auf deren Grundlage Individuen bewerten. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Unterschiedlichkeit in der Gesprächsführung hinzuweisen. So sind Gesprächsphasen, Themen, Gesprächseröffnung und -beendigung, die Abfolge von Gesprächsschritten, Sprecherwechsel, Hörerrückmeldung sowie non- und paraverbales Verhalten kulturell sehr verschieden. 37 6 Überlegungen zum Unterricht Eine gemeinsame Kultur bringt auch gemeinsame Gefühle hervor: „Insofern Menschen einen Erfahrungsvorrat sozialer Wirklichkeit teilen, bilden sich unter ihnen auch gemeinsame Gefühlsdispositionen heraus“ (Neckel 2006: 124), d.h. Gruppen bündeln Gefühle zu gleichgerichteten Gefühlen (Deutungsmuster). Dieses Wissen nutzen emotional kompetente Lehrende in der IG, um auf die Lernenden verschiedener Muttersprache (und damit auch verschiedener Ausgangskulturen) einzugehen, um die Erwartungen der Lernenden zu antizipieren und diese auch gemeinsam zu reflektieren (auch vor dem fremdkulturellen Hintergrund). Lehrende, die sich der interpretierten Fremdheit aufseiten ihrer Lerner bewusst sind und sich damit auseinandersetzen, können die Ressource ‚Emotion‘ zur positiven Verstärkung nutzen, z.B. als Motivation im Team bei der Grup- __________ 36 Zu Motivation im Bereich DaF siehe Riemer (2010). 37 Vgl. auch die Erwartungserwartungen der Kommunikationspartner und die vom Gegenüber nicht erwartete Anpassung an das fremdkulturelle Verhalten (also das eigentlich in der jeweiligen Kultur ‚richtige’ Verhalten, Übergeneralisierung). Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz 291 penarbeit. 38 Die Identität der Lernenden wird gestärkt, weil deutlich wird, dass die subjektive Bewertung einer Situation, also die Sinnzuschreibung, bei identischer Ursache zu verschiedenen, zu positiven oder negativen Gefühlen führen kann. Hier ist der Lehrende gefordert, Vertrauen durch wechselseitige Empathie (kein Allein-Gelassen-Sein) aufzubauen. Die Problematik der Interpretation des Verhaltens Anderer zeigt sich auch in folgendem Beispiel: Schnell wird unhöfliches Verhalten als schlecht interpretiert, obwohl vielleicht nur das Wissen um adäquates Verhalten fehlte (z.B. bestimmte Essgewohnheiten). Fehlerhafte Grammatik dagegen wird lediglich als Wissenslücke, die durch Lernen behebbar ist, angesehen (Rathmayr 1996: 174). In konkreten Situationen ist es auch von großer Bedeutung, auf die unterschiedlichen Lerner einzugehen, die sich in der Auslandsgermanistik stark unterscheiden können, z.B. im Hinblick auf deren sprachliches Niveau (und allen daraus resultierenden Konsequenzen wie Ziel des Studiums, Motivation, generelle Lernbereitschaft und -gewohnheit). Daher ist es auch wichtig, die Lernstrategien zu erkennen und den verschiedenen Lernertypen (z.B. auditiver, visueller oder haptischer Typ) das Lernen zu ermöglichen - die Lehre hat also gewisse Ähnlichkeit mit einem Anbieten und Austesten. In diesen Situationen kann eine gewisse Lernbereitschaft angenommen werden, doch auch mit solchen Reaktionstendenzen wie Misstrauen, Überempfindlichkeit (vielleicht durch ein erlittenes Unrecht), Rückzug oder sogar Aggressivität muss gerechnet werden. Der Lehrende sollte dabei aber gewisse Verhaltensweisen der Lernenden nicht vorschnell verurteilen, sondern sich in den Gegenüber einfühlen sowie das Gute in Lehrsituationen finden und weiterentwickeln (z.B. Freude durch inhaltliche Gestaltungsfreiheit beim Lehren). Bei der außerunterrichtlichen Kommunikation ist vor allem die Situationsvielfalt zu beachten (vgl. Dinkelaker 2008). Im hier verstandenen Sinne bezieht sie sich auf jegliche Art von Kommunikation, die nicht im Rahmen eines institutionellen Lehr-Lern-Prozesses, also z.B. als Unterricht, stattfindet. Besondere Beachtung verdienen Situationen direkt vor und nach dem Unterricht, in denen der Übergang zu informellen Gesprächen zu erkennen ist, deren Bedeutung oft unterschätzt wird. 39 Auf die Lernenden auch hier einzugehen und ihre (meist nicht offen vorgebrachten) Interessen und Absichten zu berück- __________ 38 Als extrinsische Motivation: Das „Sich-Fühlen“ der Lernenden in den Unterricht integrieren. 39 Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass Pausen oft nur dazu reichen, um den Raum zu wechseln; vielleicht sollte diesem Zeitraum besonders aus erwachsenenpädagogischer Sicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden (in Bezug auf Anschluss- und biographisches Lernen). Dennis Strömsdörfer 292 sichtigen, macht EK im erwachsenenpädagogischen professionellen Handeln aus. Hier entstehen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, die sich nachhaltig positiv auf den Unterricht auswirken können (z.B. das Gefühl, ernst genommen zu werden) - sofern der Lehrende auch den Standpunkt des Gegenüber einnehmen, Empathie entwickeln kann. Daher sind auch die (zufälligen) Aufeinandertreffen mit Kollegen sowie von Lehrenden und Lernenden außerhalb der institutionell vorgegebenen Situation mit klarer Rollenverteilung ‚Lehrender‘ vs. ‚Lernender‘ nicht zu vernachlässigen (als extrinsische Motivation). Die Tatsache, dass die Weitergabe von Informationen oft auf dem Weg der informellen, nicht-institutionalisierten Kommunikation 40 verläuft, zeigt, wie wichtig diese Art des Miteinander-Sprechen(-Können)s ist: Außerhalb des Unterrichts, auf dem Weg zwischen den Seminarräumen werden entscheidende Informationen mitgeteilt, über deren Bekanntgabe der Hörer eine gewisse Zugehörigkeit zum Kollegium (russ. коллектив) erkennen kann. Der Blickpunkt ist außerdem auf die formale Richtigkeit gegenüber situativer Unangemessenheit zu richten. Ein nicht selten in Russland anzutreffendes Phänomen bezieht sich auf die Lexik: Unpassende Stilvarianten, bekannt aus (älteren) literarischen Werken, oder wortwörtliche Übersetzungen, die häufig fester und ausschließlicher Teil des Curriculums sind, werden gebraucht, wo sie nicht passen: z.B. die Wendungen „sich anschicken“, „hoch von Wuchs“ oder „was mich anbelangt“. 41 Ein weiteres Beispiel sind pragmatische Faktoren (vgl. Yakovleva 2004) wie bestimmte situative Gesprächsmuster bis hin zu vermeintlich einfachen Szenen wie Begrüßungen: Heißt es gegenüber dem Lehrenden „Tschüss“ oder „Auf Wiedersehen“? Sind diese Fehler nun zu korrigieren, auf einer Meta-Ebene zu thematisieren oder soll vielmehr die Absicht, warum diese Person die Kommunikation sucht, gefunden werden? Pädagogisch professionell Handelnde wissen um diese Probleme, sind sich der Wirkung ihrer Reaktion (ablehnen, zuhören, korrigieren) bewusst und können diese Situation nutzen, um das Verhältnis zum Lernenden zu stärken. Selbstreflexiver Umgang mit den Reaktionen in dieser Situation (und mit den Folgen, die oft erst wesentlich später deutlich werden), führt bei den Lehrenden zu einem Lernprozess, der sie befähigt, in der fremdkulturellen Situation angemessen zu reagieren. Das bedeutet z.B., den Lernenden ernst zu nehmen, sich __________ 40 Hiermit meine ich, dass die Informationsweitergabe an russischen Lehrstühlen oft nicht auf offiziellen Sitzungen, durch Rundbriefe oder Anschlagbretter geschieht, sondern einzig durch das persönliche Gespräch zwischen Kollegen. 41 Hier liegen die Gründe oft in der bloßen Nicht-Verfügbarkeit neuerer Bücher (belletristische wie wissenschaftliche Literatur sind gleichermaßen betroffen). Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz 293 über die Folgen eines flüchtigen Gesprächs bewusst zu werden (vielleicht bei sich selbst durch fehlende Informationen) und die eigenen Emotionen zu kontrollieren bzw. zu reflektieren. 7 Emotionale Kompetenz in der Interkulturellen Germanistik: Möglichkeiten und Vorschläge 42 Die schon vorgestellte Forderung nach lebenslangem Lernen bedeutet im Hinblick auf die Möglichkeiten, EK zu lernen und zu lehren, vor allem, sich auf Neues einzustellen, Neugierde zu kultivieren sowie Frustrationen konstruktiv zu nutzen. Außerdem ist die Einstellung, offen gegenüber allem als fremd Empfundenem zu sein, unerlässlich. 43 Problematisch ist die Umsetzung insofern, als zunächst ein Bewusstsein geschaffen werden muss, das diese Forderungen eben nicht selbstverständlich sind und erlernt werden müssen. Denn nur durch solcherlei Neuerungen, indem man auf sich und seine Gefühle schaut, ist Verbesserung möglich. 44 Da Gefühle die Sprachverwendung beeinflussen, müssen Lehrende sensibel sein für die Verhaltensweisen der Lernenden und diese nicht vorschnell verurteilen: Ein falsch ausgesprochener Name kann u.U. der Grund für das als Desinteresse gewertete Verhalten des Lerners sein. In Bezug auf die fremdkulturelle Kompetenz lässt sich festhalten, dass mimische und gestische Merkmale unterschiedlich gedeutet werden, allerdings beeinflussen sie durchaus die (unreflektierte) Gesamtwahrnehmung einer Person. Weil es in Bezug auf EK vor allem um Probleme auf der Beziehungsebene der Kommunikationspartner geht, ist der Umgang mit Unsicherheit ein Teil dieser Kompetenz, weil dadurch Reaktionstendenzen antizipiert werden können. Die Berücksichtigung der Schülerinteressen stellt die Lehrenden - nicht nur in Russland - vor das Problem, einerseits einem festen Curriculum folgen zu müssen, andererseits auch nicht in Wahllosigkeit (für die Lernenden: Orien- __________ 42 Eine weiterführende Liste mit Lehrwerken für den interkulturellen Unterricht findet sich in Georg-Eckert-Institut (2007); für fremdsprachlichen Schulunterricht vgl. Börner/ Vogel (2004). 43 Ich folge den Ausführungen Giesekes, die sogar ein lebensbegleitendes Lernen (meint: zu jeder Zeit und gleichsam ohne Endpunkt) nennt (Gieseke 2007: 13 und 114). 44 Wie oft ist nämlich ein Satz wie dieser zu hören: „Ich weiß schon, wie das geht, das muss mir niemand mehr auf irgendeiner Fortbildung beibringen“? Dennis Strömsdörfer 294 tierungslosigkeit) abzudriften. Eine (gewisse) Einbindung der Lernenden in die Unterrichtsplanung (z.B. bei der Konkretisierung eines Themas wie ‚Schulsystem Deutschlands‘), auch in Bezug auf Methoden, kann hier ein möglicher Ausweg sein. Wenn das Gelernte an die Lebenssituation der Lernenden anknüpfen kann (biographisches Lernen), so können auch Lernstrategien (z.B. in Bezug auf Problemlösungen) für andere Situationen vermittelt werden (Kirchgessner/ Bleher 2004: 167-169). 8 Kritische Anmerkungen Ein großer Kritikpunkt ist die unklare wissenschaftliche Basis des Faches IG. Wie soll eine Verständigung über wissenschaftliche Probleme reibungslos funktionieren, wenn die fachlichen Grundlagen und das Beschreibungsinventar nicht präzise formuliert sind? Von großer Bedeutung ist auch das Kompetenzproblem, d.h. das Wissen um die eigene und fremde Kultur bei Lehrenden und Lernenden. Daher ist es fraglich, ob die theoretische Vorbereitung Studierender im Fach IG (in Deutschland) auch die Fähigkeit mit sich bringt, in der Praxis auch so handeln zu können. Unbestritten ist dagegen die hohe Bedeutung persönlicher Erfahrungen im Ausland, das alltägliche Leben in anderen Kulturen (und deren Sprache! ) kennen zu lernen. Zu beachten ist ferner, dass es sich bei EK um eine Fähigkeit handelt, die nicht curricular lehrbar ist, sondern die vielmehr in konkreten Situationen und aus konkreten Erfahrungen heraus gelernt werden muss. Dabei hat auch jeder Lerner seinen ganz eigenen individuellen Lernweg, Inhalt, eigene Aktivität und Lernerverhalten zu verbinden. Aus diesem Grund ist der Ansatz der Ermöglichungsdidaktik aus der konstruktivistischen Erwachsenenbildung von Bedeutung. Den Lernenden (und damit auch sich selbst) die Möglichkeit zu geben, im Anschluss an die bereits vorhandenen (biographischen) Erfahrungen zu lernen, muss auch das Ziel innerhalb einer IG sein, die sich nicht nur als im deutschsprachigen Raum zu vertretendes Fach sieht, sondern als ein Fach, das - und hier folge ich dem Anspruch der IG, wie er zurzeit formuliert wird - die Erkenntnisse von nicht-muttersprachlichen Forschungen ebenso wie muttersprachliche Forschungen berücksichtigt und kombiniert. Nur eben auch als IG, Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz 295 die auch im Ausland eine wissenschaftliche Grundlage hat in der Form institutionalisierter Lehre oder als Forschungsnetzwerk. 45 EK, d.h. eine verbesserte Reflexionsfähigkeit aufseiten der Lehrenden - verstanden als erwachsenenpädagogische Professionalität -, könnte m.E. auch entscheidend zur Qualitätssicherung und -verbesserung der Lehre und somit zur Entwicklung des Faches IG beitragen. 46 9 Ein Ausblick Zukünftige Forschungen sollten sich mit der Konstitution einer IG als wissenschaftliches Fach beschäftigen. Viele Vorarbeiten sind geleistet und auch die bereits bestehenden Studiengänge, Netzwerke und Forschungszentren 47 zeigen die Bedeutung, die innerhalb und außerhalb der Germanistik diesem Bereich zuteil wird. Darüber hinaus bieten sich meines Erachtens besonders pragmatische Forschungsbereiche an, die auch an anderen Stellen schon gefordert wurden. 48 Hier lassen sich kulturelle (Sprach-)Handlungen beschreiben, die besonders für das alltägliche Verständnis, für den interkulturellen Umgang zwischen Individuen von Bedeutung sind. Dagegen haben auch lexikalische, phonetische oder literarische Forschungen ihre Berechtigung, die vor allem einer praktisch ausgerichteten IG Grundlagen und Hinweise liefern können, die - und jetzt gebrauche ich diesen Begriff zum ersten Mal - Missverständnisse vermeiden helfen. Hier dürfen Fähigkeiten wie die vorgestellte EK nicht vernachlässigt werden, nur weil sie sprachlich schwer auszumachen ist, aber eben dennoch, wie gezeigt wurde, die Sprachhandlungen entscheidend prägen, weil die EK auf der Beziehungsebene ansetzt. Dies ist auch entscheidend für Dolmetscher und Übersetzer, die insbesondere Schwierigkeiten mit dem Übertragen von Bedeutungen haben, die mehr als bloß lexikalische Bedeutungen zu __________ 45 Hier sei beispielhaft die Gründung des Internationalen Forschungs- und Nachwuchsnetzwerkes für Interkulturelle Germanistik (IFNIG) in Ungarn am 1.9.2008 genannt (http: / / german.uni-pannon.hu/ index.php, Stand: 28.9.2011). 46 Im Hinblick auf die anstehende Internationalisierung der Lehre in Folge des Bologna-Prozesses ein entscheidendes Kriterium. 47 Z.B. der Exzellenzcluster zu Sprache und Emotion in Berlin (http: / / www.languagesof-emotion.de, Stand: 28.9.2011) oder die Forschungsarbeiten an der Universität Göttingen (http: / / www.uni-goettingen.de/ de/ 15032.html, Stand: 28.9.2011) 48 Vor allem die Vorschläge zur Komparatistischen Pragmatik (Redder 2002: 286), die pragmatischen Transfers (Földes 2007b) über die Grenzen der Inlandsgermanistik hinaus und die funktionale Pragmatik (Casper-Hehne 2006: 42-44). Dennis Strömsdörfer 296 seien scheinen. 49 Denn diese Berufsgruppe schafft auch ein Stück (sprachliche) Identität beim Übersetzen, sie hat die „transkulturelle ‚Fugenposition’“ (Földes 2003: 54) inne, die beim Gegenüber möglicherweise andere als die auszudrücken beabsichtigten Wirkungen zeigen. Optimistisch blicke ich solchen Ansätzen entgegen, die sich mit interkultureller Pragmatik - dazu zähle ich auch die Lakunen-Theorie 50 - sowie mit Forschungen zu transkultureller Kommunikation (Hepp 2007) beschäftigen, weil diese Informationen über die sprachlichen Konzepte 51 liefern können. Eine empirische Analyse der EK im (Germanistik-)Unterricht an ausländischen Hochschulen bringt m.E. jedoch gleich mehrere Probleme mit sich: Zunächst sollten Forschender und Lehrender nicht die gleichen Personen sein; zweitens wäre der zeitliche und organisatorische Aufwand immens 52 und nicht zuletzt gibt es auch Bedenken in der Messbarkeit und Beurteilung von EK - allein müsste die Bereitschaft zur Auseinandersetzung innerhalb germanistischer Forschungen zuerst geschaffen werden. Allerdings weist schon Schwarz-Friesel darauf hin, dass es sehr wohl (für das Deutsche bei Muttersprachlern) linguistisch beschreibbare Manifestationen von Emotionen gibt (Schwarz-Friesel 2007: 130 und 138), so dass man auch die kommunikative Leistungsfähigkeit der neu erlernten Sprache untersuchen könnte. Insgesamt scheint sich der Fokus vor allem auf die im Ausland tätigen und lebenden (deutschsprachigen) Menschen (hier besonders der Schwerpunkt Wirtschaft) zu richten. 53 Aber ich halte auch den Blick auf die Kommunikation in- und außerhalb des Unterrichts sowie auf die informellen Gespräche (u.a. zur Informationsbeschaffung) für ein geeignetes und sehr weites Forschungsfeld. Die Grenzen dieser Diskussion liegen schließlich in der Praxis selbst - __________ 49 Das Problem der Bedeutungserklärung besteht in kulturell typischer Diffusität, die zu zirkulären Beschreibungen oder Unklarheiten führt. 50 Hier scheint mir folgende Unterscheidung von Bedeutung: mentale Lakunen (z.B. Vatersnamen im Russischen), Tätigkeitslakunen (z.B. russ. ‚drug‘ im Vergleich zu dt. ‚Freund‘ und engl. ‚friend‘) und gegenstandsbezogene Lakunen (z.B. die Gestaltung von universitären Veröffentlichungen mit nationalen Symbolen in Deutschland und Russland) (Ertelt-Vieth 2004: 83ff.). 51 Z.B. über Tabus, spezielle kulturelle Tätig- und Fertigkeiten sowie über die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden in- und außerhalb des Unterrichts. 52 Es müssten also deutsche Muttersprachler gefunden werden, die mehrere Jahre im Ausland als Lehrer arbeiten - möglichst mehrere Lehrende in verschiedenen Städten - und die über die nötigen technischen Einrichtungen verfügen; eine nicht nur für russische Universitäten große Anforderung. 53 Vgl. die aktuelle Studie von Hormuth (2009), in der aus gesprächsanalytischer Perspektive der Fokus gelegt wird auf Deutsche, die im Ausland waren, und die zwecks Erfahrungsaustausch mit Deutschen sprechen, die ins Ausland gehen werden. Interkulturelle Germanistik und Emotionale Kompetenz 297 nämlich in der Tatsache, dass ein Rezept zum problem- und reibungslosen Zusammenleben - wenn es denn überhaupt jemand ernsthaft sucht - sich nicht zu finden lohnt. 10 Literatur Altmayer, Claus (2010): Konzepte von Kultur im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: Krumm, Hans-Jürgen u.a. (Hrsg.) (2010): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin/ New York. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 35.2). S. 1402-1413. Arnold, Rolf (2003) (Hrsg.): Emotionale Kompetenz. Theorien und Anwendungen. Pädagogische Materialien der Universität Kaiserslautern, Heft Nr. 20. Kaiserslautern. Arnold, Rolf (2004): Emotionale Kompetenz und emotionales Lernen in der Erwachsenenbildung. Pädagogische Materialien der Universität Kaiserslautern, Heft Nr. 18. 2. Aufl. Kaiserslautern. Arnold, Rolf (2005): Die emotionale Konstruktion der Wirklichkeit. 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Geographische Namen von Sprachminderheiten als interkulturelle Phänomene - am Beispiel der Deutschen in Werstuhl/ Vöröstó Anikó Szilágyi-Kósa (Veszprém) Die Eigennamen eines Volkes wie auch sein ganzes Sprachsystem stehen in engster, außerordentlich verwickelter Beziehung zu den Wandlungen seiner Geschichte, insbesondere aber zur historischen Entwicklung seiner Kulturgeschichte. […] Dieser Forschungsbereich der Sprachwissenschaft ist also in erster Linie nichts anderes als angewandte Kulturgeschichte. (Pais 1921: 158) 1 1 Zur Einleitung Der vorliegende Beitrag widmet sich den Mikrotoponymen einer ungarndeutschen Siedlung auf dem Plattenseeoberland, Werstuhl/ Vöröstó (Komitat Veszprém/ Ungarn). Geographische Namen der ungarndeutschen Gebiete wurden vor allem von der früheren onomastischen Forschung mit der Zielsetzung untersucht, (deutsche) dialektale Merkmale festzustellen und dadurch u.a. das Herkunftsgebiet der deutschen Siedler festzulegen bzw. die ethnischen Siedlungsverhältnisse eines Gebietes zu klären. Die Minderheitensituation bietet jedoch auch ein großes Potenzial an interlingualen Kontakten, so ist in jedem Fall mit der gegenseitigen Beeinflussung der Sprachsysteme und damit auch der Eigennamen zu rechnen, dies trifft demzufolge ebenso auf geographische Namen zu, die einen speziellen Teil des Lexikons darstellen. „Namen in Sprachinseln haben andere Schicksale als Appellative in Sprachinseln, insbesondere aber als Namen im Binnengebiet.“ (Hornung 1996: 1037) Die eigenartigen onomastischen Merkmale, die sich aus den Sprach- und Kulturkontakten ergeben, lassen auf die Intensität und/ oder Länge der Kontakte schließen. Andererseits ist die Erforschung der Sprachenkontakte ohne den Beitrag der Onomastik nicht vorstellbar (vgl. Földes 2001). Nach einer kurzen, skizzenhaften Darstellung von verschiedenen Typen der ungarndeutschen geographischen Namen soll nun anhand von Beispielen ge- __________ 1 Aus dem Ungarischen übersetzt von A. Sz-K. Anikó Szilágyi-Kósa 302 zeigt werden, welche interkulturellen Züge (bedingt durch Sprachenkontakte bzw. Zweisprachigkeit) die Mikrotoponyme (vor allem Flur- und Straßennamen) der nachtürkischen ungarndeutschen Siedlungsgebiete aufweisen können. Weiter soll veranschaulicht werden, welche Formen der Äquivalenz bei den parallel existierenden Mikrotoponymen (zwischen der deutschen sowie ungarischen Benennung) nachweisbar sind. 2 Geographische Namen als besondere sprachliche Zeichen Eigennamen sind innerhalb einer Gemeinschaft unentbehrliche Bestandteile des Lebens. Sie fungieren auch als Vermittler von Wertvorstellungen und sind wichtige Indikatoren für die Ausprägung von Identität und deren Wandlungen. Dies trifft für alle Arten der Eigennamen (nomen proprium) zu, insbesondere für Anthroponyme und Toponyme im weiteren Sinne des Wortes. Deshalb sind Eigennamen für alle wissenschaftlichen Disziplinen von Bedeutung, die sprachliche, kulturelle oder soziale Verhältnisse bzw. Vorgänge einer Gemeinschaft erforschen. Die Toponyme widerspiegeln zudem Siedlungsverhältnisse eines Gebietes, wobei sich geographische Namen auch den (sich stets erneuernden) gesellschaftlichen Verhältnissen hervorragend anpassen können. Geographische Namen (vor allem Makrotoponyme und Namen von größeren Gewässern) erscheinen oft als sprachliche Zeichen ohne inhärente Bedeutung (z.B. Donau/ Duna/ Danubio), aus diesem Grund können sie relativ leicht in andere Sprachen übernommen werden. Sie dienen zur situationsunabhängigen Referenz und verfügen über begrenzte Übersetzungsmöglichkeiten. Die weitgehend eigenständige Entwicklung der geographischen Namen von Sprachminderheiten ergibt sich einerseits aus der (relativen) Stabilität des Eigennamenmaterials, andererseits aus dem Einfluss der Mehrheitssprache und Mehrheitskultur (z.B. durch unterschiedliche Benennungstraditionen). Für die Toponyme in Kontaktsituationen ist eine Zwei- oder gar Mehrsprachigkeit charakteristisch, wobei „Zweinamigkeit […] die Regel“ ist (Hornung 1996: 1033). In der onomastischen Forschung wird damit im Zusammenhang zwischen ‚Endonymen‘ und ‚Exonymen‘ unterschieden, wobei der Begriff ‚Exonym‘ primär geprägt wurde (Breu 1996: 445), und als Gegenwort dazu der Terminus ‚Endonym‘ entstand. Diese Termini werden bei Breu (1996: 445) folgendermaßen definiert: „Die Namensform der „sprachlichen Umgebung“ eines Namenträgers ist sein Endonym, die übrigen Namensformen - mit denen der Namensträger in anderen Sprachen benannt wird - sind seine Exonyme.“ Aus sprachwissenschaftlicher Sicht, vor allem aber aus dem Blickwinkel der Sprachinselforschung stellt sich die Frage nach der Klärung der „sprachlichen Geographische Namen von Sprachminderheiten 303 Umgebung“, da sich die sprachlichen Verhältnisse in Sprachkontaktsituationen sehr verschieden gestalten können. Die Entscheidung der Zugehörigkeit zu einer Sprache im Falle von Eigennamen bedarf ebenfalls einer Klärung des Blickwinkels. Die lexikalische Zugehörigkeit wird dadurch bestimmt, ob ein Eigenname dem Wortschatz bestimmter Sprachen „ohne Rücksicht auf Struktur und Etymologie“ (Breu 1996: 445) angehört oder nicht, während die etymologische Zugehörigkeit durch die sprachgeschichtliche Erforschung der Herkunft des Eigennamens festgestellt werden kann. Auch im Falle der deutschen Sprachinseln muss davon ausgegangen werden, dass den deutschsprachigen Bezeichnungen der (ehemaligen) ortsansässigen Bevölkerung bereits vorhandene Toponyme zugrunde liegen. Diese Tatsache „[…] wurde und wird von den deutschbewussten Bewohnern nicht ohne Weiteres akzeptiert. Volksetymologie […] war[…] die Folge.“ (Hornung 1996: 1035) In der Mikrotoponomastik (bei der Benennung von Straßen, Fluren, Bergen und Ortsteilen) sind häufig „Namenpaare“ vorzufinden. Die Sprachspezifität bei Eigennamen bedeutet, dass der Name als lexikalisches Element einer Sprache erkannt und/ oder ihr zugeordnet wird, wobei bei diesen Entscheidungen nicht nur das sprachliche, sondern auch das kulturelle Wissen von Bedeutung ist. 3 Zur ungarndeutschen Forschungsliteratur Hutterer (1970/ 1991) betonte in seiner zusammenfassenden Studie, dass in der ungarndeutschen Onomastik die Arbeiten zu den geographischen Namen überwiegen. Dies ist auch der Tatsache zu verdanken, dass groß angelegte Materialsammlungen der Toponyme in Ungarn - vor allem hinsichtlich der von Deutschen dicht bewohnten transdanubischen Regionen - in großer Zahl erschienen sind, die eine reichliche und fundierte Grundlage zu toponomastischen Forschungen boten (u.a. Balogh - Ördög - Markó (1964-1986) über das historische Komitat Zala, Balogh - Ördög (1982-2000) über das Komitat Veszprém, Pesti (1982/ 1983) über das südwestungarische Komitat Baranya, auch „schwäbische Türkei“ genannt). (Eine ausführliche Bibliographie dazu s. bei Gerstner 2002.) Vor allem vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen zahlreiche beschreibende und analysierende Beiträge zur ungarndeutschen Toponomastik, z.B. Vass (1929) über Straßennamen von Buda/ Ofen, Bárdos (1933) über die von Pécs/ Fünfkirchen, Péterdi (1934) über Flurnamen im Bakony/ Buchenwald. Mollay veröffentlichte ab den 1960-er Jahren mehrere Studien über deutsch-ungarische Namenkontakte, vor allem aus dem Gebiet der historischen (heute österrei- Anikó Szilágyi-Kósa 304 chisch-ungarischen) Sprachgrenze (Hoffmann 2003: 121). Auch in der neueren Forschung sind ungarndeutsche geographische Namen sowohl als Quellengrundlage (Sasi 2004) als auch als Ausgangspunkt für dialektologische Analysen (Gerstner 2002) präsent. Die neueste Fachliteratur zum Thema setzt sich zum Ziel, die Integration der geographischen Namen in einem allgemeinen (von Sprachkonstellationen unabhängigen) Rahmen wegweisend zu interpretieren (Póczos 2009). Dies erfolgt durch die grundlegende Annahme, dass die einzelnen Sprachgemeinschaften über toponymische Normen verfügen, die bestimmte Benennungsmodelle entstehen und funktionieren lassen (Hoffmann 2007: 33). 4 Zu Benennungsmodellen bei ungarndeutschen Ortsnamen Auch anhand der deutschen Ortsnamen von ungarischen Örtlichkeiten lassen sich verschiedene Benennungsmodelle nachvollziehen. Zu den ältesten deutschen Ortsnamen in Ungarn gehören historisch überlieferte Städtenamen aus dem Mittelalter, die durch die - seit der ungarischen Staatsgründung im 10. Jh. - ständige deutschsprachige Präsenz entstanden sind: Buda/ Ofen, Győr/ Raab, Székesfehérvár/ Stuhlweißenburg, Veszprém/ Wesprim, Pécs/ Fünfkirchen). Bei einigen dieser Makrotoponyme handelt es sich um Übersetzungsnamen: z.B. Székesfehérvár/ Stuhlweißenburg: ung. szék: ‚Stuhl‘ + fehér: ‚weiß‘ + vár: ‚Burg‘) oder Buda/ Ofen, wobei das ungarische Lexem (buda: ‚Ofen‘) als Appellativum veraltet ist und somit seine Bedeutung den Sprachteilhabern nicht mehr klar ist. Andere sind phonetisch-phonologische Eindeutschungen (Veszprém/ Wesprim), wieder andere drücken verschiedene Benennungsmotive aus: z.B. Győr/ Raab, Győr - wahrscheinlich aus dem ungarischen Personennamen Jewr/ Geur (Kiss 1983: 254), Raab - Flussname aus dem keltischen Flussnamen Arrabo, der später auf die Siedlung an einem Zusammenfluss zweier Gewässer übertragen wurde (Kiss 1983: 254). Die Bewohner nachtürkischer ungarndeutscher Siedlungen, welche im 18.- 19. Jh. - in den meisten Fällen auf dem Gebiet von entvölkerten, ehemals ungarischen Ortschaften - zustande kamen, brachten dann massenhaft deutsche Ortsnamen und auch Mikrotoponyme hervor. Dabei waren „Neubenennungen“ selten: Im Plattenseeoberland waren deutsche Siedler die Namengeber einiger neu gegründeten Ortschaften (meist Bergwerke oder Hütten), dazu entstanden dann später die ungarischen Übersetzungen, z.B. Böhmischhütten/ Csehbánya, Deutschhütten/ Németbánya. Im ungarndeutschen Namenmaterial kommen auch voneinander unabhängig entstandene Parallelbezeichnungen vor: z.B. Farkasgyepű/ Wirtshäusl. Es gibt auch Beispiele für eine teilweise oder vollständige Übersetzung der ungarischen Namensform: z.B. Bakonyszentiván/ Geographische Namen von Sprachminderheiten 305 Sankt-Iwan, Lókút/ Rossbrunn, Nagyvázsony/ Großwaschon. Am häufigsten jedoch sind assimilerte ~ integrierte (eingedeutschte) Namen, die phonetischphonologische Varianten (z.B. Tótvázsony/ Totwaschon) darstellen, in einigen Fällen mit einer volkstymologischen Deutung (Mór/ Moor, Örvényes/ Erwin, Vöröstó/ Werstuhl, oder durch deutsche Ortsnamensuffixe Eplény/ Epling, Bánd/ Bandau, Márkó/ Markau, (Balaton)Csicsó/ Tschitschofen/ Tschitschau ergänzt. Durch die phonematische Eindeutschung und eine gleichzeitige bewusste Namenschöpfung (für denselben Ortsnamen) konnten auch intralinguale Namenpaare entstehen, z.B. Hidegkút (‚kalter Brunnen‘) - Kaltenbrunn (schriftlich) vs. dialektal (mündlich) Hidikut. 5 Empirische Analyse 5.1 Zum Erhebungsgebiet Das ausgewählte Untersuchungsgebiet auf dem Plattenseeoberland gehört zu den ältesten nachtürkischen Siedlungsgebieten der Deutschen in Ungarn. Die Ortschaft, deren geographische Namen analysiert werden sollen, ist Vöröstó/ Werstuhl, sie liegt etwa 20 Kilometer von Veszprém/ Wesprim entfernt. Der ungarische Ortsname Vöröstó (‚roter See‘) entstand wahrscheinlich anhand des in Richtung Großwaschon/ Nagyvázsony gelegenen größeren Teiches, dessen Boden durch Minaralien rötlich gefärbt ist. (Kiss 1983: 702) Erste urkundliche Erwähnung fand die Siedlung als Besitz der Sankt-Michaelis Basilika in Veszprém/ Wesprim im 12. Jh., im Jahre 1221 fiel das Dorf an die Benediktiner in Almád (später Monostorapáti, Dornyai 1927: 297), und blieb Jahrhunderte in ihrem Besitz. Im 16. Jh., während der verheerenden Türkenkriege schrumpfte die Dorfbevölkerung immer mehr, 1556 wurde das Dorf durch die Türken zerstört. Im 17. Jh. befand sich das Dorf dann im Besitz der Burg Vázsonykő (heute Nagyvázsony/ Großwaschon). Da die Lehnherrenfamilie ausgestorben war, übereignete der König 1649 die ihm zugefallenen Güter István Zichy. Aus der ersten großen Volkszusammenschreibung nach der Befreiung von der Türkenherrschaft (1696) kennen wir die damaligen Dorfbewohner und ihren Pfarrer namentlich, es waren ausschließlich Ungarn, die zwischen 1629 und 1657 zum protestantischen Glauben übergingen. (Márkusné Vörös 2005: 28) Gegen Ende der Türkenzeit, in den letzten Jahrzehnten des 17. Jh.s wurde das Dorf gänzlich entvölkert. Die Flucht der Bevölkerung hatte den Verfall der ehemaligen Siedlungen und ihrer Umgebung zur Folge: „Laut zeitgenössischen Berichten bot das Mittelgebirge nach der Befreiung von der türkischen Be- Anikó Szilágyi-Kósa 306 satzung gegen Ende des 17. Jh.s das Bild totaler Verwüstung“. (Hutterer 1963: 91) Im 18. Jh. besaß die Familie Zichy im Komitat Veszprém 17 Dörfer, darunter befand sich auch Vöröstó/ Werstuhl. In den Urkunden erschien 1723 als mögliches Datum der Neubesiedlung durch deutsche Siedler, sodass „1723 Graf Emmerich Zichy die Erlaubnis zur Ansiedlung an Adam Höckl und Genossen erteilte“. (Isbert 1931: 139) 2 Seit der Neubesiedlung durch Deutsche in den 1720er Jahren bis ins 20. Jh. war Vöröstó/ Werstuhl eine einsprachige (deutsche) Gemeinschaft, obgleich in umliegenden Gemeinden der näheren Umgebung auch Ungarn, Angehörige einer anderen Sprach-, Kultur- (und z.T. Konfessions-) Gemeinschaft lebten. 3 5.2 Zur Quellenlage Die wichtigste Quelle stellt das Korpus der 1981/ 82 erfolgten mündlichen Sammlung dar (Balogh - Ördög 1982-2000): Damals wurden ältere ortsansässige (deutschstämmige) Dialektsprecher zu den geographischen Namen ihres Ortes befragt: Anton Timmer (84 Jahre), Josef Timmer (62 Jahre), Ambros Weiss (73 Jahre). Die Sammlung ist auch im Druck (Balog - Ördög 2000) erschienen. Als eine weitere wichtige, schriftliche Quelle wurden die handgezeichneten Katasterkarten aus den Jahren 1858 und 1925 zu den einzelnen Vermessungen des Ortes im Veszprémer Komitatsarchiv 4 herangezogen. __________ 2 Die Familiennamenform Höckl ist in den Werstuhler/ Vöröstóer Taufbüchern nicht zu finden, der dort sesshafte Antonius Heckel/ Heckl und seine Frau Barbara ließen zwischen 1744 und 1759 insgesamt sieben Kinder taufen. (Höckl und Heckl sind jedoch als synonyme Schreibungen anzusehen.) 3 Eine ausführlichere Darstellung des Ortes siehe: Szilágyi-Kósa (2011). 4 Siehe: www.veml.hu Geographische Namen von Sprachminderheiten 307 Abb. 1: Karte der Dorffluren der Gemeinde Vöröstó/ Werstuhl mit den Namen der Feldbesitzer 5 (1858) 5.3 Flurnamentypen im Namenmaterial von Vöröstó/ Werstuhl Aufgrund der späteren, sekundären Ansiedlung der Deutschen auf dem Gebiet des Plattenseeoberlandes entstand ein neueres (deutsches) Namensystem, das durch „durchsichtigere“ Namenelemente (Póczos 2009) gekennzeichnet ist als das alte (lediglich fragmentarisch erhalten gebliebene) ungarische Namengut. In der ungarischen Forschungsliteratur gehört zu den wichtigsten Theorien hinsichtlich der mehrsprachigen Bezeichnungen geographischer Entitäten zweifellos die der „parallelen Namengebung“ von Kniezsa (1941). Kniezsa geht davon aus, dass in ethnisch gemischten Gebieten oft (anderssprachige) Namenpaare mit gleicher Bedeutung entstehen, die jedoch nicht als Übersetzungsnamen zu interpretieren sind. Sie sind vielmehr anhand der gleichen Benennungsmotive entstanden und zwar zu einer Zeit, als die im Namen festgehaltene Semantik (z.B. der Personenname der Besitzer) noch für den Ort __________ 5 VeML Térképgyűjtemény. [Kartensammlung des Komitatsarchivs Veszprém]. K-187. Anikó Szilágyi-Kósa 308 charakteristisch war. Es gibt demnach keine solchen Parallelbezeichnungen für Ortschaften, in denen die eine Ethnie früher ansässig war als die andere. So betrachtet kann man in unserem Fall annehmen, dass Makrotoponyme (z.B. Ortsnamen, wie auch der Name Vöröstó), die sowohl schriftlich (z.B. in Urkunden oder Verträgen der Lehnherrenfamilie) als auch mündlich (in den umliegenden Siedlungen) überliefert worden sind, in eingedeutschter Form in den Sprachgebrauch der neuen deutschen Siedler übernommen wurden. Viel flexibler als Orts- und Gewässernamen sind hingegen Mikrotoponyme, denn sie folgen den Wandlungen des Denotats (Art der Bewirtschaftung, charakteristischer Pflanzenbestand, Besitzer usw.), deshalb wurden sie nicht aus dem Ungarischen übernommen (sofern diese überhaupt bekannt waren), sondern es entstanden durch eine innere Namengebung neue. Dadurch ist bei dem deutschen Namenmaterial oft auch das Namengebungsmotiv erkennbar. 5.3.1 Teilnahme der beiden kontaktierenden Sprachen an den geographischen Benennungen Die oben erwähnte Namensammlung sowie die Karten enthalten in der Ortschaft Vöröstó/ Werstuhl insgesamt 94 Denotate. Nimmt man die quantitativen Verhältnisse der interlingualen Entsprechungen unter die Lupe, ergeben sich folgende Ergebnisse. nur ungarisch 6% beide Sprachen 66% nur deutsch 28% Abb. 2: Quantitative Verhältnisse bei der Bezeichnung der Denotate in den beiden Sprachen Bei zwei Drittel der benannten Denotate (66%) verzeichnen die Karten oder nannten die Gewährspersonen (mindestens) zwei anderssprachige Mikrotoponyme (Endonyme und Exonyme), die als semantische Äquivalente angesehen werden können, da sie sich auf das gleiche Denotat beziehen. Bei einem Drittel der Denotate waren jedoch Benennungen lediglich in der einen oder Geographische Namen von Sprachminderheiten 309 anderen Sprache vorzufinden, ohne dass ein anderssprachiges Äquivalent dazu vorhanden (gewesen) wäre. Bezeichnend für die lange Jahrhunderte konstanten ethnischen Verhältnisse (bzw. für die einsprachige deutsche Dorfgemeinschaft) sind geographische Bezeichnungen (28%), die ausschließlich auf Deutsch existieren. In dieser Gruppe kommen sowohl Flurnamen als auch Bezeichnungen für Ortsteile und Gebäude vor, z.B.: − Caonkeszl ə (‚Czaungasse‘) 6 − Halt ə rszhejz ə (‚Haltershäuser‘) − Tor ə fprun ə (‚Dorfbrunnen‘) − Puklvísz ə (‚Buckelwiese‘) − Tájhkráv ə (‚Teichgraben‘) Es gibt sogar zweifache deutsche Benennungen ohne ungarisches Äquivalent: Stikl ə szak ə (‚Stückchenacker‘) ~ Gróf-Johannes-Acker, wobei bei dem Lexem Gróf eher die dialektale Aussprache als die Einwirkung der Mehrheitssprache zu erwägen ist (ung. gróf: ‚Graf‘). Bei der Benennung von neueren Denotaten hingegen gibt es Beispiele für ausschließlich ungarische Eigennamen ohne deutsche Entsprechung (6%), diese Fälle zeugen vom weit vorangeschrittenen Sprachwechselprozess in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s., z.B.: − Fő utca (‚Hauptstraβe‘) − Vízmű (‚Wasserwerk‘) − Téesz-major (‚LPG-Gebiet‘) − Antal Andrási-erdőrész (‚Waldgebiet von Antal András‘) 5.3.2 Zwei- oder gemischtsprachige Bezeichnungen Die Mikrotoponyme für die 62 Denotate, für die es Bezeichnungen in beiden Sprachen gibt, lassen sich in folgende Typen unterteilen. 7 Vollständige Äquivalente (66,1%) bilden die Namenpaare, bei denen sowohl die grundlegende Struktur als auch der semantische Inhalt der geographischen __________ 6 Bei dem Ort Vöröstó/ Werstuhl mit lediglich einer Dorfstraße wurden (und werden heute noch) die Einfahrten in die Höfe Gassen genannt. 7 Wegen der Auf- und Abrundungen der Prozentangaben ergeben sich insgesamt nicht genau 100%. Anikó Szilágyi-Kósa 310 Namen identisch sind. Dies ist sowohl bei eingliedrigen als auch bei zwei- (selten mehr-)gliedrigen Namen oft der Fall, z.B.: − Kender-földek (‚Hanfacker‘) - Hanfak ə (‚Hanfacker‘) − Ökörréti-dűlő (‚Ochsenwiesenacker‘) - Oksz ə víz ə ak ə (‚Ochsenwiesenacker‘) − Agyagföldi-árok (‚Lehmackergraben‘) - Lóm ə ak ə kráv ə (‚Lehmackergraben‘) Bei manchen Flurnamen (11,3%) handelt es sich um eine teilweise semantische Entsprechung, wo das eine Glied des syntagmatisch aufgebauten Mikrotoponyms in der anderen Sprache anders benannt wird. Selten wird dabei das zweite, gattungsbezeichnende Glied durch ein anderes Lexem ausgetauscht, z.B. Kenderáztatók (‚Hanfeinweicher‘) - Han ə floh (‚Hanfloch‘). Häufiger wird das präzisierende erste Glied gewechselt, z.B.: − Temetői dűlő (‚Friedhofsacker‘) - Krejcak ə (‚Kreuzacker‘) − Hilbert-árok (‚Hilbertgraben‘) - Vasz ə rkráv ə (‚Wassergraben‘) − Kálvária-dűlő (‚Kreuzwegacker‘) - Tajhak ə (‚Teichacker‘) − Ragonya-rét (‚Ragonya-Wiese‘) - Éd ə lmansziszvísz ə (‚Edelmansiswiese‘) In einem Fall gibt es zwei deutsche Entsprechungen für den ungarischen Namen Bikaistálló (‚Stierstall‘), wobei die eine eine partielle phonetische Eindeutschung darstellt (Wik ə stal), die andere jedoch von einem anderen Benennungsmotiv zeugt: Kmósejan (‚Gemeindescheune‘). Das ungarische Wort bika (‚Stier‘) ist in Form von Wike Teil von vielen ungarndeutschen Dialekten. In beiden Sprachrichtungen (lediglich zu einem Anteil von insgesamt 4,8%) kommt es vor, dass - im Vergleich zur den anderssprachigen Äquivalenten - ein Namenglied „fehlt“: Bei Szentháromság-szobor (‚Heilige Dreifaltigkeit- Denkmal‘) - Hajlih Trejfaltihkhejt (‚Heilige Dreifaltigkeit‘) bzw. bei Csapás (‚Trieb‘) - Trípak ə (‚Triebacker‘). Bei insgesamt 17,7% liegen den anderssprachigen Bezeichnungen unterschiedliche Benennungsmotive zugrunde. Von ganz anderen Motiven legen z.B. die Flurnamen Vászolyi úti-dűlő (‚Wasloerwegacker‘) und Plesz (‚Blösse, Bleiche? ‘) Zeugnis ab. Das ist zugleich ein seltener Fall, in dem der deutsche Flurname kürzer ist als die (umschreibende) ungarische Entsprechung. Geographische Namen von Sprachminderheiten 311 fehlendes Glied 5% teiläquivalent 11% nichtäquivalent 18% volläquivalent 66% Abb. 3: Namentypen der zweisprachigen Namenpaare 5.3.3 Sprachenkontaktphänomene Die Mikrotoponyme der untersuchten Ortschaft Werstuhl/ Vöröstó bezeugen auf vielfältige Weise die Sprachenkontakte zwischen dem Deutschen und Ungarischen. Eingedeutschte ungarische Flurnamen (2,1%) gibt es in Verbindung mit dem ungarischen Lexem határ (‚Grenze‘ bzw. ‚Flur‘): im Falle von Határdűlő (‚Gemarkungsflur‘) - Hat ə rak ə (‚Gemarkungsacker‘) und Hármashatár (‚Dreifache Grenze‘) - Trejhot ə rstó (‚Dreifachgrenzstein‘). Das ungarische Wort határ ist in Form von Hotter Lehnwort in vielen ungarndeutschen Dialekten. Bei dem deutschen geographischen Namen (Gebäudenamen) kvel ə m (‚Gewölbe‘) für den Dorfladen kann es sich um eine Art undurchsichtige Spiegelübersetzung aus dem Ungarischen handeln, oder aber die Bezeichnung kann auch die aus Österreich übernommene mundartliche Benennung sein. (Im Ungarischen lautet die Bezeichnung für ‚Laden‘ (bolt) durch eine metonymische Bedeutungserweiterung mit dem Wort für ‚Gewölbe‘ (bolt/ ozat/ hajtás) gleich, da Läden ursprünglich unter den offenen Gewölben der mittelalterlichen Häuser errichtet wurden.) Mit dem Wandel der sprachlichen Situation ist erklärbar, dass manche Denotate, die eine neue Funktion erhielten, im Deutschen weiterhin mit der alten Funktion: Alt ə Schúl (‚Alte Schule‘), im Ungarischen jedoch mit der neuen: Orvosi rendelő (‚Arztpraxis‘) benannt wurden. Bezeichnend für die örtlichen Besitzbzw. Bewirtschaftungsverhältnisse kommen Personennamen bei 12,8% der Mikrotoponyme vor. Dabei können nicht nur Familiennamen, sondern auch Übernamen eine Rolle spielen. Anikó Szilágyi-Kósa 312 − Éd ə lmansziszprinl ə (‚Edelmanns Brunnen‘) − Krinlisvíz ə (‚Krinlis Wiese‘) − Lejtolt-keszl ə (‚Leitold-Gasse‘) − Svarc Lejtoldsz Khapel ə (‚Schwarz-Leitolds Kapelle‘) Der nach der Familie Edelmann benannte Brunnen hatte im Zusammenhang mit der Geburt eine große Bedeutung für die Vöröstóer/ Werstuhler Dorfgemeinschaft, indem er Kindern gegenüber als Herkunftsort der Neugeborenen bezeichnet wurde. Von Gewährspersonen in Werstuhl/ Vöröstó konnte man die in ganz Ungarn verbreitete Erklärung hören, wonach der Storch durch den offenen Kamin die Kinder in das Haus bringe (Frau Johanna Mekler, geb. 1930). Nach der Angabe einer anderen alten Dialektsprecherin (Frau Theresia Timmer, geb. 1922, gest. 2008) jedoch war aber in ihrer Kindheit eine andere Geschichte allgemein verbreitet: 8 tā mus man hingēn an tēn ed‘lmanzis prun ə unt do ə t mus man ænęn sęmęl nōšmæs ə , unt naxtem nem ə sīs raos unt briŋ ə sīs hæm („da muss man hingehen an den Brunnen der Edelmanns und dort muss man eine Semmel hineinschmeißen und nachdem nehmen sie’s raus und bringen sie’s heim“). Dies entspricht alten germanischen Vorstellungen, nach denen alles Lebendige aus dem Wasser stamme. Der Familienname Edelmann kommt in den Taufbüchern ein einziges Mal als Name des Vaters im Jahre 1747 vor. Die Gewährsperson konnte keine Auskunft darüber geben, wo sich der Brunnen der Edelmanns befindet. Der ehemalige Dorfschullehrer László Molnár hingegen kannte den Edelmannsens Brunnen, aus dem auch seinen Kenntnissen nach alle Werstuhler/ Vöröstóer Kinder stammten: Die Quelle befindet sich auf der Éd ə lmansziszvísz ə , ihr Wasser erreicht das Dorf aus südlicher Richtung an der Schnapsbrennerei (neben dem ehemaligen Gemeindehaus) und fließt am Hilbert-Haus vorbei nach Norden auf die Wiese. Offensichtlich war es diese mündlich überlieferte Tradition, die den geographischen Namen auch nach dem Wegziehen oder Aussterben der Familie aufrechterhalten ließ. 6 Schlussbemerkungen In der interkulturellen Situation der Vöröstóer/ Werstuhler Gemeinschaft, deren zweisprachiges mikrotoponymisches Namenmaterial untersucht wurde, sind Endonyme und Exonyme nicht immer eindeutig voneinander zu trennen. __________ 8 Die Gewährspersonen wurden zwischen 2001 und 2004 von der Verfasserin des Beitrags mehrmals befragt. Geographische Namen von Sprachminderheiten 313 Den Ortsnamen betreffend kann man mit Sicherheit die Eindeutschung des alten ungarischen Ortsnamens bestätigen, in der Mikrotoponymik aber folgte die deutsche Siedlergemeinschaft ihren eigenen Benennungsmustern, die jedoch weitgehend mit den Modellen der ungarischen Namengebung übereinstimmen. So entstanden zu einem großen Teil äquivalente Bezeichnungen, wobei die Eigennamen die Veränderungen der sprachlichen Situation widerspiegeln, d.h. neuere Denotate oder Funktionen mit Namenelementen der zunehmend vordringenden Mehrheitssprache Ungarisch benannt wurden. Die deutschen Mikrotoponyme fungieren als sprachliche Relikte und konservieren auch alte, nicht mehr bestehende Besitzverhältnisse oder andere Charakteristika des Dorfgeländes. 7 Literatur Balogh, Lajos/ Ördög, Ferenc (Hrsg.) (1982-2000): Veszprém megye földrajzi nevei. Budapest. Balogh, Lajos/ Ördög, Ferenc/ Markó, Imre (Hrsg.) (1964-1986): Zala megye földrajzi nevei. Zalaegerszeg. 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Überlegungen zur vergleichenden übersetzungsbezogenen Analysemethode konzeptueller Muster und Ereignisstrukturen im Deutschen und Ungarischen József Tóth (Veszprém) 1 Vorüberlegungen - Zielsetzung und Hypothese Die vorliegende Studie ist ein integrativer Bestandteil einer umfangreichen Arbeit, in der sprach- und kulturspezifisch strukturierte Ereigniskomplexe im Deutschen und im Ungarischen modelliert und miteinander verglichen werden, um so den ereignisstrukturbasierten Ansatz vor dem Hintergrund einer vergleichenden verbsemantischen Analyse weiterzuentwickeln. Die Studie zielt weder auf die Problematik der Repräsentationsmodelle zur Beschreibung von Wortbedeutungen im Gedächtnis (z.B. Schwarz 1992, Dietze 1994, Kiefer 2000, Löbner 2003, Tóth 2006, 2007a,b) noch auf die ersten ereignisstrukturellen Theorien, wie sie in Folge von Pustejovskys Arbeiten (z.B. 1988, 1991, 1995) entstanden sind. Zudem wird nicht auf weitere Forschungsergebnisse der Ereignisstruktursemantik (z.B. Engelberg 1994, 1995a,b, 2000; Kiefer 2006, Tóth 2010b) eingegangen oder zur Problematik selbst, was Ereignisse sind (Stoecker 1992), Stellung bezogen. Meine Absicht ist, eine mögliche, noch nicht abgeschlossene linguistische Methode vergleichender kontrastiver verbsemantischer Analyse vorzustellen, mit der zukünftig bestimmt auch das Besondere in interkulturellen Kontexten (Deutsch-Ungarisch), d.h. die Interaktion deutscher und ungarischer Sprachbzw. Kommunikationskulturen untersucht werden kann. Die zentrale, aber bis jetzt noch offene Frage lautet, ob kontrastive semantische Analysen nur Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen (d.h. nur zwischenkulturelle Sprachkonstellationen) aufdecken oder ob dadurch auch interkulturelle Sprachkonstellationen bzw. interkulturelle Interaktionssituationen aufgedeckt werden können. Ich nehme an, dass kontrastive intra- und interlinguale semantische Untersuchungen, die m.E. als integrative, methodische Betsandteile einer interkulturellen Semantik anzusehen sind, ermöglichen, auch die Interkulturalität (Wierlacher 1987, 2001, Wierlacher/ Bogner 2003, Földes 2003, 2007a,b,c; Kühn 2006, Tóth 2010a) wahrzunehmen. Kontrastive, kultursensitive semantische Untersuchungen dieser Art sind in Zukunft mehr als bisher erwünscht, auch wenn durch sie in dieser Studie nur übersetzungsbezogene interkulturelle Effekte wahrgenommen werden können. József Tóth 316 Die Komplexität der Fragestellung wird an einigen Textbeispielen aus Günter Kunerts Kurzgeschichte Zentralbahnhof (1972) sowie an ihrer ungarischen Übersetzung von Mária Ember Központi pályaudvar (1969) exemplifiziert. Die zielsprachlichen Einheiten sind als Ausschnitte interkultureller Kommunikationsvorgänge zu ergründen, wobei es nicht darum geht, wie kulturspezifische Wortbedeutungen im Kontext interkultureller Kommunikation sowie die damit verbundenen Verstehensprobleme und -konflikte beschrieben werden können, sondern darum, ob in den Textbeispielen überhaupt von einer Art kultur- und sprachbezogene Sensitivität der ungarischen Übersetzerin die Rede sein kann. 2 Der lexikalische ereignisstrukturbasierte Ansatz Die ereignisstrukturelle Theorie zur Repräsentation der Verbbedeutung basiert darauf, dass Verben auf komplexe, intern strukturierte Ereignisse referieren. Die Bedeutungsrepräsentation eines Verbs besteht in der Repräsentation seiner Ereignisstruktur. Das bedeutet, dass Verben Ereignisse bezeichnen, die aus verschiedenen Teilereignissen bestehen, die über verschiedene Relationen miteinander verknüpft sind. Diese Teilereignisse sind wiederum über semantische Relationen mit den Ereignispartizipanten verbunden (Engelberg 2000). In Anlehnung an Engelberg (2000) gehe ich von den folgenden Maximen aus: 1. Die Verben bezeichnen Ereignisse, die aus mehreren Teilereignissen bestehen können. 2. Teilereignisse können Ereignisse, Prozesse oder Zustände sein. Verben können sich dabei auf die Bezeichnung von dauernden oder punktuellen Teilereignissen beschränken. 3. Zwischen den Teilereignissen können z.T. kausale, jedoch immer auch temporale (z.B. gleichzeitige, aufeinander folgende) Relationen bestehen. 4. Die den thematischen Argumenten entsprechenden Partizipanten sind nicht notwendigerweise in alle Teilereignisse involviert. An die Teilereignisse, in die sie involviert sind, sind sie durch bestimmte semantische Relationen (Agens, Patiens etc.) gebunden. 5. Das Stattfinden der einzelnen Teilereignisse ist durch die offene verbale Proposition entweder impliziert oder präsupponiert. Konzeptuelle Muster und Ereignisstrukturen 317 3 Begriff Ereignis Ich gehe davon aus, dass die Sprecher alle Szenen in ihrer Vorstellungs- und Erfahrungswelt als komplexe Ereignisse konstruieren, die durch Sätze sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Von der konzeptuellen bzw. der sprachlichen Seite her gesehen bestehen solche komplexen Ereignisse immer aus mehreren Komponenten, die im Weiteren unter die Lupe genommen werden. Unter dem Begriff Ereignis verstehe ich in einem sehr weiten Sinne einen Zustand, einen Vorgang, eine Handlung, eine Erfahrung, eine Besitzrelation, eine Bewegung oder eine Übertragung (Pörings/ Schmitz 2003). 4 Arbeitsmethode Den Ausgangspunkt für eine vergleichende Analyse bilden Konzepte bzw. konzeptuelle Muster. Ich will der Frage nachgehen, wie Konzepte in deutschen und ungarischen Sätzen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Durch Sätze kann sprachlich ausgedrückt werden, wie komplexe Ereignisse in unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt konstruiert werden. Von der konzeptuellen Seite her gesehen bestehen solche Ereignisse immer aus mehreren Elementen. Ich beschreibe ein Ereignis als Ganzes und wähle die relevanten Hauptteilnehmer (Teilnehmerrollen) aus und setze sie miteinander in Beziehung. Ein Teilnehmer tritt in einer bestimmten Teilnehmerrolle auf. Unter Teilnehmer verstehe ich begriffliche Einheiten, die durch ein Verb, das ein bestimmtes Ereignis bezeichnet, zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Jedes Ereignis ist für sich genommen einzigartig, doch lassen sich in Anlehnung an Pörings und Schmitz (2003) Ereignisse nach einer begrenzten Anzahl von Typen kategorisieren, d.h. in so genannten Ereignisschemata einteilen. Diesen Ereignisschemata sind auf der sprachlichen Seite jeweils typische Satzmuster zuzuordnen. In diesen sprachlichen Formen spiegelt sich wider, wie die Sprecher auf konzeptueller Ebene die Teilnehmer in einem Ereignis miteinander in Beziehung setzen. Weitere sprachliche Elemente des Satzes helfen, das Ereignis in Bezug auf uns selbst sowie den Ort und Zeitpunkt unseres Sprechens zu positionieren. Durch so genannte Verankerungselemente können wir ausdrücken, wo und wann das Ereignis stattfindet oder stattgefunden hat, oder ob es stattfinden wird, stattfinden könnte oder unter bestimmten Bedingungen stattfinden würde. Ein komplexes, in sich vollständiges Ereignis in deutscher und ungarischer Sprache zu beschreiben, heißt also alle möglichen, jedoch relevanten kleinen Details, die sich in irgendeiner Weise an diesem Ereignis beteiligen, in beiden Sprachen zu bestimmen und zu beschreiben (Pörings/ Schmitz 2003). Die Arbeitsmethode will das Verhältnis zwischen einem Ereig- József Tóth 318 nis und dem Satz, mit dem dieses Ereignis beschrieben werden kann, explizieren. Dieses Ereignis ist durch einen Prozess der Abstraktion gekennzeichnet. 4.1 Erste Komponente des Beschreibungsmodells: Ereignisschemata und Teilnehmerrollen Zur Beschreibung eines Ereignisses müssen nur die relevanten Aspekte des Ereignisses ausgewählt werden. In einem Ereignis sind ein oder mehrere begriffliche Einheiten involviert, die als Teilnehmer des Ereignisses bezeichnet werden. Teilnehmer sind in der Regel Personen, Tiere oder Dinge (z.B.: Agens, Patiens). Bei der Konstruktion von Ereignissen ist einer begrenzten Anzahl von konzeptuellen Mustern zu folgen, die Ereignisschemata genannt werden. Diese Schemata umfassen eine oder mehrere semantische Teilnehmerrollen (Agens, Patiens, Essiv, Objekt, Experiens, Ziel, Empfänger etc.). Prototypische Ereignisschemata: 1. Das Essivschema kann erfragt werden: Wie ist etwas? Was ist was? Es kennzeichnet unterschiedliche Arten des Seins (z.B. Identifikation, Kategorisierung, Zuschreiben einer Eigenschaft, Orstangabe, Existenzbehauptung). 2. Das Vorgangs- oder Prozessschema bezeichnet einen momentan stattfindenden Prozess und kann mit: Was geschieht gerade? , erfragt werden. Im Mittelpunkt steht dabei eine so genannte Autonomieskala, auf der das Patiens in unterschiedlichem Maße autonom erscheint. 3. Das Handlungsschema antwortet auf die Frage: Was tut jemand? Das Agens wird dabei als Ursprung der aufgebrachten Energie angesehen und die Energie wird auf ein Patiens übertragen, wobei das Agens der Ausführende der Handlung ist. 4. Mit dem Erfahrungsschema (Was erfährt, fühlt, sieht jemand? ) wird die mentale Verarbeitung des menschlichen Kontaktes mit der Umgebung konstruiert. 5. Das Besitzschema (Was hat jemand/ etwas? ) assoziiert einen Besitzer (kann nicht nur menschlich sein) mit einem Besitztum (z.B. materieller, mentaler Besitz, Betroffenheit, Ganzes-Teil-Beziehung, Verwandtschaftsbeziehung). 6. Das aus einem Vorgangsschema bzw. einem Handlungsschema kombinierte Bewegungsschema (Ursprung-Weg-Ziel-Schema) wird erfragt mit: Wohin bewegt sich jemand? 7. Das ebenfalls aus je zwei verschiedenen Schemata (aus dem Besitzschema und dem Vorgangsschema oder aus dem Handlungsschema und dem Bewegungsschema) kombinierte Übertragungsschema (Wer gibt wem was? ) impliziert einen Anfangs- und einen Ergebniszustand (Pörings/ Schmitz 2003). Konzeptuelle Muster und Ereignisstrukturen 319 Bei der Analyse der komplexen deutschen und ungarischen Ereignisstruktur ist zunächst die Zugehörigkeit des jeweiligen Ereignisses auf der konzeptuellen Ebene zu einem entsprechenden Ereignisschema festzustellen. Darüber hinaus ist es des Weiteren wichtig, die Wortstellung und die Satzmuster, mit denen diese Schemata sprachlich zum Ausdruck gebracht werden können, zu bestimmen. 4.2 Zweite Komponente des Beschreibungsmodells: Lineare und hierarchische Struktur der Sätze (Satzmuster) Auf der konzeptuellen Ebene stehen die Teilnehmer eines Ereignisses miteinander in Beziehung. Die lineare Struktur eines Satzes ist nur ein Aspekt der komplexen Struktur der deutschen und ungarischen Sätze, in einem Satz bestehen auch noch hierarchische Beziehungen. Von den Bestandteilen des Satzes, d.h. von den Satzkonstituenten stehen einige mit bestimmten Konstituenten in einem engeren Zusammenhang als mit anderen. Die verschiedenen Ebenen des Denkens werden in geschriebener oder gesprochener Sprache linear, d.h. in räumlicher bzw. zeitlicher Abfolge, abgebildet. Die konzeptuellen Ereignisschemata werden durch die sprachliche Struktur abgebildet, deshalb ist es wichtig zu beschreiben, wie dieser Linearisierungsprozess verläuft. In verschiedenen Sprachen nimmt der Linearisierungsprozess die unterschiedlichsten Formen mit den unterschiedlichsten Ereignissen an. (z.B. Andreas hat es seiner Mutter gegeben. (E sub + PK: HV + E akk + E dat + PK: Part.) (Engel 2004); András odaadta az anyukájának. (S + PK: V + Dat.best.) (Keszler/ Lengyel 2008) Im Vergleich der zwei Sprachen gibt es verschiedene Positionen für die einzelnen Satzkonstituenten. Jede der zwei Sprachen macht von diesen Positionen auf eine andere Weise Gebrauch. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Hörer bei der Verarbeitung eines Satzes dessen Kompositionsstruktur erkennen muss. Sätze sind nicht nur linear, sondern auch hierarchisch geordnet, ihre Konstituenten liegen auf unterschiedlichen grammatischen Ebenen. Niedere Konstituenten werden dabei zu höheren Konstituenten zusammengesetzt. So lässt sich die Struktur eines Satzes mit einem Baumdiagramm darstellen: József Tóth 320 Satz Nominalphrase Prädikatsphrase Andreas Hilfsverb Verbalphrase Nominalphrase Nominalphrase Verb Andreas möchte seiner Mutter Bücher schenken. Die lineare Struktur sieht wie folgt aus: Subjekt + Hilfsverb + ind. Objekt + dir. Objekt + Verb. Die lineare Abfolge im Satz stellen Satzmuster dar, worunter die strukturellen Rahmen, die für die Grundtypen von Sätzen im Deutschen und Ungarischen existieren, zu verstehen sind. Im Falle jedes Satzes ist so auch zu bestimmen, welches Satzmuster der Aussagesätze (z.B. kopulatives, intransitives, transitives, ditransitives etc.) vorliegt. Es besteht nämlich eine systematische Beziehung zwischen Ereignisschemata und Satzmustern (Pörings/ Schmitz 2003). 4.3 Dritte Komponente des Beschreibungsmodells: Die verankernden Elemente eines Satzes Ereignisse werden nicht nur in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers verankert, eine Äußerung weist zahlreiche weitere, so genannte Verankerungselemente auf, die durch grammatische Faktoren ausgedrückt werden können. Zur Darstellung der konzeptuellen Verankerung eines Ereignisses durch Verankerungselemente lässt sich das Zwiebelmodell von Pörings und Schmitz (2003: 106) heranziehen: Konzeptuelle Muster und Ereignisstrukturen 321 Sprechakt Sprechereinstellung Sprechzeit Betrachtperspektive Kernereignis perfektiver, imperfektiver, progressiver Aspekt Tempus Modalität Satzmodus Das Kernereignis ist von unterschiedlichen Schalen umhüllt: Die äußere Schale bildet der Satzmodus bzw. der Sprechakt. Durch den Sprechakt wird eine bestimmte kommunikative Absicht ausgedrückt. Man erfährt, ob es sich beispielsweise um eine Mitteilung, eine Frage, eine Aufforderung etc. handelt. Die nächste Schicht stellt die Einstellung des Sprechers zum Ereignis dar. Durch die Modalität des Satzes wird grammatikalisch ausgedrückt, ob der Sprecher ein Ereignis z.B. für wahr, für möglich oder eben für sicher hält. Des Weiteren werden die zeitlichen Zusammenhänge (Sprechzeit, Ereigniszeit und Betrachtzeit) grammatisch durch unterschiedliche Tempora ausgedrückt. Die innerste Schale bezieht sich auf den Verlauf des Ereignisses, die Ereignisse können aus der Außen- und Innenperspektive betrachtet werden (Pörings/ Schmitz 2003). 4.4 Zwischenbilanz Zusammenfassend lassen sich die einzelnen Komponenten der vergleichenden Analysemethode wie folgt darstellen: I. (a) Ereignis → Wie viele Teilereignisse? (b)Teilereignisse (dauernd, punktuell etc.) → Prozess, Zustand, Vorgang, Bewegung etc. (c) Relationen zwischen den Teilereignissen → kausal, temporal etc. (d)Sind die thematischen Argumente in alle Teilereignisse involviert? (e) Sind die einzelnen Teilereignisse durch die verbale Proposition impliziert oder präsupponiert? József Tóth 322 II. Ereignisschemata und Teilnehmerrollen (Essivschema, Vorgangsschema, Handlungsschema, Erfahrungsschema, Besitzschema, Bewegungsschema, Übertragungsschema und Agens, Empfänger Essiv, Experiens, Objekt, Patiens, Ziel, etc.) III. Linearisierungsprozess und die hierarchische Struktur der Sätze IV. Die verankernden Elemente der Sätze 5 Exkurs: Konzeptuelle Muster und Ereignisstrukturen im Sprachvergleich (Deutsch-Ungarisch) Es ergibt sich die Frage, in welchen Bereichen mit meiner Methode interkulturelle und nicht nur zwischensprachliche Sprachkonstellationen untersucht werden können. An dieser Stelle sind beispielsweise frames und scripts in interkulturellen Kontexten zu nennen. Als weiterer Anwendungsbereich der Methode können folgende Textbeispiele gelten, die in der Zukunft mit der oben vorgestellten Methode analysiert werden sollten. In den Textbelegen kann die Sprachsensitivität der ungarischen Übersetzerin wahrgenommen werden: (1a) An einem sonnigen Morgen stößt ein Jemand innerhalb seiner Wohnung auf ein amtliches Schreiben: es liegt auf dem Frühstückstisch neben der Tasse. (1b) Egy napos reggelen Valaki a lakásában hivatalos írásra bukkan: a reggelizőasztalon hever, a csésze mellett. (2a) Wie es dahinkam, ist ungewiß. (2b) Nem lehet tudni, hogyan került oda. (3a) Kaum geöffnet, überfällt es den Lesenden mit einer Aufforderung: (3b) Kinyitja, és máris a következő felszólítással támadnak rá a sorok: (4a) Durch die spiegelnde Leere der Herrentoilette hallt sein einsamer Schritt: (4b) Magányos léptei visszhangot vernek a férfimosdó tükrökkel szegélyezett ürességében: (Kunert 1969, 1972) Konzeptuelle Muster und Ereignisstrukturen 323 6 Zusammenfassung Der Beitrag ist der Zielsetzung entgegengekommen, denn es ist gelungen, eine - wenn auch noch nicht - abgeschlossene linguistische Methode vorzustellen, die an manchen Stellen noch einer weiteren Präzisierung bedarf. Das produktive Besondere in spezifischen interkulturellen Kontexten (Deutsch- Ungarisch) - wenn sie auch in dieser Studie eher übersetzungsbezogene interkulturelle Effekte sind - lieferten meine deutschen Belege und deren ungarische Übersetzungen aus dem Textkorpus, wobei darauf hinzuweisen ist, dass meine Absicht in dieser Studie bloß die Vorstellung des methodischen Vorgehens war und nicht die vergleichende Analyse selbst. Es ist klar, dass vergleichende verbsemantische Analysen imstande sein müssen, auch die Besonderheiten der Interaktion deutscher und ungarischer Sprachbzw. Kommunikationskulturen zu eruieren. Mit der Weiterentwicklung der Methode kontrastiver grammatisch-semantischer Analysen sollten nicht nur Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen zwei oder mehreren Sprachen, sondern auch interkulturelle Sprachkonstellationen aufgedeckt und beschrieben werden können. In diesem Sinne sind vergleichende intra- und interlinguale semantische Untersuchungen als integrative, methodische Bestandteile einer interkulturellen Semantik zu betrachten. 7 Literatur Dietze, Joachim (1994): Texterschließung: Lexikalische Semantik und Wissensrepräsentation. München/ New Providence/ London/ Paris. Engelberg, Stefan (1994): Ereignisstrukturen. Zur Syntax und Semantik von Verben. Wuppertal. (Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 282 „Theorie des Lexikons“; 60). Engelberg, Stefan (1995a): Event Structure and the Meaning of Verbs. In: Bærentzen, Per (Hrsg.): Aspekte der Sprachbeschreibung. Akten des 29. Linguistischen Kolloquiums, Århus 1994. Tübingen. S. 37-41. Engelberg, Stefan (1995b): Event Structure and Lexical Semantics. Paper Presented at SCIL, VII, University of Connecticut, Storrs, April 1995. Engelberg, Stefan (2000): Verben, Ereignisse und das Lexikon. Tübingen. (Linguistische Arbeiten; 414). Engel, Ulrich (2004): Deutsche Grammatik. München. 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In diesem Zusammenhang berichtet jedoch Harden (1990: 224): Beim Versuch, Malaiisch zu lernen, ist mir aufgefallen, daß das Fehlen gewohnter Kategorien keineswegs als Erleichterung angesehen werden kann, dass man plötzlich nicht mehr sagen kann, was man will, sondern nur noch das, was die Sprache zuläßt. Die folgenden Darstellungen verfolgen daher den Zweck, am Beispiel der grammatischen Kategorie ,Genus verbi‘ in der deutschen und der thailändischen Sprache zu zeigen, dass auch grammatische Strukturen kulturspezifische Erscheinungsformen sind. Dabei werden drei Ebenen, die Formebene, die Bedeutungsebene und die Funktionsebene, unterschieden, die einen Zugang zur Analyse grammatischer Kategorien 1 ermöglichen und die wir ‚kulturspezifische Deutungsebenen‘ nennen wollen. Sie sind zwar eng miteinander verbunden, diese Verflechtung ist aber keineswegs automatisch linear, denn die grammatischen Formen kennzeichnen die Eigenheiten der jeweiligen Sprachen. Jede sprachliche Form hat zwar eine gegebene Bedeutung, nicht aber zwingend eine - bzw. nur eine - Funktion, wenn wir unter Funktion, grob formuliert, eine intendierte Sprechhandlung verstehen. So haben z.B. die Deklinationsparadigmen des Deutschen eine morphosyntaktische Bedeutung, jedoch keine __________ 1 Unter grammatischen Kategorien verstehen wir im weiteren Sinne die Wortarten und die den Lexemen zukommenden bedeutungsrelevanten Eigenschaften (Tempus, Modus, Genus verbi usw.) (Glück 2000: 335). Salifou Traoré 328 kommunikative Funktion. Anders verhält es sich mit den Kategorien des Sprachgebrauchs (z.B. Temporalität, Modalität, Genus verbi usw.). Die Unterscheidung von Form, Bedeutung und Funktion ist für die Ausarbeitung einer interkulturell ausgerichteten Grammatik entscheidend. Die Trichotomie ist den traditionellen Dichotomien signifiant und signifié bzw. Ausdruck und Inhalt deshalb vorzuziehen, weil diese vielerorts lediglich mit „Form“ und „Bedeutung“ identifiziert werden. Daraus könnte resultieren, dass keinerlei Differenzierung zwischen „Bedeutung“ und „Funktion“ vorgenommen wird. Dies sollte aber nicht so sein. Auf die Tatsache, dass „Bedeutung“ und „Funktion“ nicht gleichzustellen sind, haben bereits Forschungen der Prager Schule aufmerksam gemacht. Darauf weist auch Helbig (2002: 50) hin: „Der Prager Schule ist ein Funktionsbegriff eigen, der nicht rein semantisch ist im traditionellen Sinne, aber auch nicht distributionell und völlig asemantisch wie bei den amerikanischen Strukturalisten“. Dies lässt sich, so Helbig, beispielsweise durchaus am Phonem veranschaulichen, das zwar keine Bedeutung hat, wohl aber eine Funktion, „die Funktion nämlich, Inhalte und Bedeutungen zu unterscheiden“ (Helbig 2002: 50). Ähnlich unterscheidet Weinrich das sprachliche Zeichen in „Kodebedeutung“ und „Textbedeutung“ und erklärt dies wie folgt: „Die Meinung (Text-Bedeutung) eines Sprachwissens im Text unterscheidet sich von der Bedeutung (Kode-Bedeutung) dieses Sprachwissens, wenn man es sich isoliert denkt, durch eine mehr oder minder starke Determination, die vom sprachlichen und/ oder situativen Kontext geleistet wird“ (1976: 201). In diesem Zusammenhang sind auch Coserius drei „Typen sprachlichen ,Inhalts‘“ zu erwähnen, die aus Bezeichnung, Bedeutung und Sinn bestehen. Die Bezeichnung betrachtet Coseriu im strukturalistischen Sinne als den „Bezug auf die ,Wirklichkeit‘ bzw. die jeweils bestimmte Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck und einem ,realen Sachverhalt‘, also zwischen Zeichen und bezeichneter Sache“ (1992: 262). Die Bedeutung, erklärt er, sei der in einer bestimmten Sprache und ausschließlich durch diese gegebene Inhalt eines Zeichens oder Ausdrucks. Den Sinn fasst Coseriu als den eigentlichen Inhalt eines Textes auf, d.h. als das, was der Text über Bezeichnung und Bedeutung hinaus (und durch diese) ausdrückt. Dieser Bedeutungsschicht werden wir sehr leicht und sogar täglich in all den Fällen gewahr, in denen wir uns, obwohl wir die wörtliche Bedeutung bestimmter Wörter und Sätze verstanden haben, doch fragen, was damit wohl gemeint sei; wir suchen also etwas, das über Bedeutung und Bezeichnung hinausgeht und sich von diesen Inhalten unterscheidet; wir fragen uns gerade, was der Sinn (die Absicht, der Zweck, die Implikation usw.) dessen ist, was wir sprachlich, d.h. nach den Regeln der Sprache und den Normen des Sprechens im allgemeinen, schon verstanden haben (1992: 263). Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 329 Aus der obigen Darstellung sollte deutlich geworden sein, dass sprachliche Zeichen über die Form hinaus sowohl eine Bedeutung als auch eine Funktion haben, welche Unterschiedliches zum Ausdruck bringen. Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens erweist sich als eine synchron-konstante Größe, während seine Funktion handlungskontextuell bedingt ist. 2 Die grammatischen Kategorien und ihre kulturspezifischen Deutungsebenen 2.1 Formebene Auch wenn in der aktuellen linguistischen Forschung die Strukturkomponente gering gewichtet zu sein scheint, kommt man bei der Ermittlung der Andersartigkeit von Sprachen nicht umhin, ihrer Geformtheit Beachtung zu schenken, denn das Sprachsystem stellt, zumindest intralingual, die Voraussetzung für die Frage nach Inhalt und Funktion grammatischer Kategorien dar. Darüber hinaus ist mit dem Wahrnehmen der Strukturkomponente der Sprache eine Kompetenz verbunden, die für die Entwicklung der Sprachhandlungskompetenz unentbehrlich ist. Dies macht Eisenberg (2006: 5) deutlich: Wer sich mit einer Sprache zu beschäftigen hat und andere als feuilletonistische Aussagen über sie machen möchte, muß sich auf strukturelle Gegebenheiten beziehen können. Egal, ob einer den Thesen vom Niedergang unserer Muttersprache widersprechen will, ob er das Pidgin von Arbeitsimmigranten erfassen möchte, ob er sprachtherapeutisch oder sprachpädagogisch tätig ist oder irgendein anderes sprachpraktisches Interesse hat, er wird das jeweilige Sprachverhalten leichter und weitgehender verstehen, wenn die verwendete Sprache ihm strukturell durchsichtig ist. Das Gesagte dürfte auch für eine pragmalinguistische Herangehensweise an Sprache gelten. In diesem Zusammenhang kann man Steger zustimmen, wenn er im Rahmen einer kontrastiven Pragmatik die Idee „eines pragmatischen Apparates allein“ in Frage stellt, weil man mit guten Gründen bezweifeln muß, daß der Rückgriff allein auf die pragmatische Ordnung der vorhandenen sprachlichen Mittel ohne eine Rückkoppelung an ihre systematische Ordnung in der linguistisch-systematischen Kompetenz (Grammatik, Semantik, Lexikon) hinreichend vollständig ist für eine Kontrastierung von Sprachen. Hierfür muß vielmehr notwendigerweise auf die systematisch-formale Ordnung der Grammatik (einschließlich der Textgrammatik) und auf das Lexikon zurückgegriffen werden, weil sie wesentliche Vor- Salifou Traoré 330 aussetzungen dafür bilden, daß richtige und situationsangemessene Sätze und Texte entstehen und verstanden werden können (Steger 1991: 434f.). Ferner ermöglicht es die Mitberücksichtigung formaler Aspekte, die grammatischen Kategorien in ihrem jeweiligen sprachkulturellen Entstehungsbzw. Herausbildungskontext wahrzunehmen. Schließlich sind sie keine universalen Kategorien, sondern sie sind einzelsprachstrukturspezifisch geprägt. Dies dürfte auch dem Sinn Wilhelm von Humboldts (1994: 17) gerecht werden, nämlich „dass die anschauliche Kenntnis der grammatischen Ideenverknüpfung in [den einzelnen Sprachen]“ die Untersuchung ihres inneren Zusammenhangs voraussetzt. Auf diese Weise können „komplexe Reflexionen kultureller Merkmale“ (Roche 2001: 31) einer Sprachgemeinschaft erschlossen werden. 2.2 Bedeutungsebene In der bisherigen Grammatikforschung hat sich die Gepflogenheit etabliert, hinsichtlich sprachlicher Mittel eine binäre Unterscheidung vorzunehmen, die von Form und Funktion. Der letztgenannte Terminus wird manchmal synonym für „Bedeutung“ verwendet. Dabei wird jedoch übersehen, dass Bedeutung und Funktion nicht grundsätzlich gleich sind und sich dementsprechend auch nicht immer decken, wie uns die Phoneme / k/ und / m/ in „Kuss“ und „muss“ vor Augen führen. Beide Phoneme haben hier die Funktion, Bedeutungen zu unterscheiden. Analog verhält es sich auch mit den grammatischen Kategorien, wie etwa den Verbalkategorien Tempus, Modus, Genus verbi und Person, die neben einer Kodebedeutung auch eine Textfunktion haben. Für eine interkulturell angelegte Grammatik heißt das zunächst, dass nicht nur die formalstrukturellen Eigenheiten der Kategorien, sondern auch ihre kontextunabhängige Bedeutung in den jeweiligen Sprachen im Fokus der Betrachtung stehen müssen. 2.3 Funktionsebene Die dritte Ebene bei der Erfassung eigenkultureller Unterschiede zwischen grammatischen Kategorien stellt die Funktion dar. Der Begriff der Funktion bedarf jedoch wegen seiner Verwendung in vielfältigen funktionalen Forschungsansätzen in der Sprachwissenschaft einer Präzisierung, denn „[ein] Funktionsbegriff, der durch Zusammenfassung unterschiedlichen sprachwissenschaftlichen Konzepten entstammender heterogener und divergenter Komponenten entsteht, wird zwangsläufig theoretisch fragwürdig und praktisch kaum handhabbar“ (Schmidt 1982: 11f.). Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 331 Der Begriff der Funktion in der Sprachwissenschaft als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin lässt sich auf Wilhelm von Humboldt und seinen Zeitgenossen Karl Ferdinand Becker zurückführen (Welke 2002: 5). Allerdings legten diese zwei unterschiedliche Konzepte von Funktion vor: Während Becker Funktion unter syntaktischen Aspekten behandelte, bezog Humboldt sie auf die grammatischen Verhältnisse: „Die grammatischen Verhältnisse insbesondere hängen durchaus von der Absicht ab, die man damit verbindet. Sie kleben weniger den Worten an, als sie von dem Hörenden und Sprechenden hineingedacht werden“ (Humboldt 1994: 54). Die gegenwärtige Diskussion zum funktionalen Paradigma speist sich aus verschiedenen Quellen mit unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen. So führt beispielsweise Helbig (2002: 342) „drei unterschiedliche Ansätze“ an, „die in gleicher Weise das Attribut ‚funktional‘ in zentraler Weise für sich in Anspruch nehmen“: die funktionale Grammatik und funktional-kommunikative Sprachbeschreibung der ehemaligen (sic! ) DDR, die funktionale bzw. „realistische“ Grammatik und die funktionale Grammatik Diks. 2 Die funktionale Grammatik und die funktional-kommunikative Sprachbeschreibung der DDR beziehen sich auf Forschungen der Potsdamer Schule, deren Hauptvertreter Schmidt ist. Der sprachfunktionale Ansatz dieser Schule war sowohl sprachtheoretisch als auch unterrichtspraktisch motiviert. Es ging ihr vor allem um die „Zielgerichtetheit und Zweckbestimmtheit“ sprachlichen Handelns und der sich darauf beziehenden sprachlichen Mittel. Dazu schreibt Schmidt (1982: 16): Funktion, aufgefaßt als Zielgerichtetheit und Zweckbestimmtheit, weist immer über den Funktionsträger hinaus, sie ist generell auf das Ziel der Tätigkeit bzw. auf den Zweck des Instruments gerichtet. Das Attribut funktional bedeutet deshalb im Rahmen unseres Konzeptes ‚durch die Zielgerichtetheit/ Zweckbestimmtheit bedingt, bestimmt‘ (sic! ) bzw. ‚auf die Zielgerichtetheit/ Zweckbestimmtheit bezogen‘. Funktional-kommunikativ ist demnach ‚durch die Kommunikationsziele bedingt, bestimmt‘ bzw. ‚auf die Kommunikationsziele bezogen‘. Eine Schwäche der Potsdamer Schule besteht für Helbig (2002: 353ff.) darin, dass sie die Grammatik und das Sprachsystem vernachlässigt hat. Die funktionale bzw. „realistische“ Grammatik fokussiere nicht nur die Beschreibung grammatischer Strukturen, sondern auch der psychologischen Realität und der damit verbundenen spracherwerbstheoretischen Fragestellungen. Mit der funktionalen Grammatik Diks wird auf verschiedene funktionale Subebenen ver- __________ 2 Weitere Ansätze finden sich bei Welke (2002: 5f.). Salifou Traoré 332 wiesen, und zwar auf die syntaktischen Funktionen (Subjekt, Objekt usw.), die semantischen Funktionen (Rollen) und die pragmatischen Funktionen (Thema - Rhema, Topik - Fokus usw.), die in einer Abhängigkeitsrelation stehen. So schreibt Dik (2000: 565) „Die Semantik wird als der Pragmatik und die Syntax als der Semantik untergeordnet angesehen“. Wenn wir aber mit Schwarze (2003: 209) formulieren, dass es in der heutigen Situation der Linguistik eher darum gehen dürfte, „unser Wissen über Sprache und Sprachen zu erweitern und zu vertiefen, als zu den konkurrierenden Theorien noch eine weitere hinzuzufügen“, dann legen wir unserem Funktionsbegriff die Sprachfunktionsauffassung von Karl Bühler zugrunde, wie er sie in seinem epochalen Werk Sprachtheorie (1934 [1999]) formuliert. Auf der Grundlage der von Platon im Kratylos formulierten Annahme, die Sprache sei ein organon, entwirft Bühler ein Kommunikationsmodell, in dessen Mittelpunkt die Funktion der Sprache steht. Bereits im Vorwort seiner Monographie schickt Bühler (1999) voraus: Werkzeug und Sprache gehören nach alter Einsicht zum menschlichsten am Menschen: homo faber gebraucht gewählte und ausgeformte Dinge als Zeug und das Zoon politikon setzt Sprache ein im Verkehr mit Seinesgleichen [...] Die Sprache ist dem Werkzeug verwandt; auch sie gehört zu den Geräten des Lebens, ist ein Organon wie das dingliche Gerät, das leibesfremde materielle Zwischending; die Sprache ist wie das Werkzeug ein geformter Mittler. Mit Sprache meint Bühler Sprachsystem. Dies ist umso plausibler, als das Sprachsystem wie ein Werkzeug, das benutzt wird, um einen Zweck zu erreichen, eine formal-strukturelle Seite voraussetzt, um eine bestimmte sprachliche Funktion zu erzielen. Auf diese Weise beschreibt Bühler das sprachliche Zeichen folgendermaßen: Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen (1999: 28). Daraus leitet Bühler drei Grundfunktionen der menschlichen Sprache ab, und zwar Ausdruck, Appell und Darstellung (1999: 28), die im Folgenden noch einmal knapp zusammengefasst werden: − Die Darstellungsfunktion ist die dominierende und bezieht sich auf die Dinge der Welt (Gegenstände und Sachverhalte). Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 333 − Die Ausdrucksfunktion betrifft den Sender/ Sprecher und dessen „Innerlichkeit“. − Die Appellfunktion fokussiert den Empfänger/ Adressaten, der dazu aufgefordert wird, auf eine Mitteilung/ ein Kommunikationszeichen zu reagieren. Das Sprachfunktions-Konzept von Bühler beeinflusste besonders die Prager Schule. So unterscheidet Jakobson (1979) im Rückgriff auf Bühler und auf der Grundlage der „konstitutiven Faktoren“ sprachlicher Kommunikation (Sender, Empfänger, Mitteilung, Konzept, Kode, Kontakt) sechs Funktionen natürlicher Sprache: − Die referentielle oder denotative bzw. kognitive Funktion; sie bezieht sich darauf, dass eine Information mitgeteilt wird. Diese entspricht in etwa der Darstellungsfunktion bei Bühler. − Die emotive oder expressive Funktion; diese bringt die Haltung des Sprechers zum Gesprochenen zum Ausdruck. Dabei werde versucht, einen Eindruck über eine bestimmte Emotion, wirklich oder vorgetäuscht, zu erwecken. Sie steht im Zusammenhang mit Bühlers Ausdrucksfunktion. − Die konative Funktion; sie drückt aus, dass ein Empfänger aufgefordert wird, auf eine Mitteilung zu reagieren. Der Zusammenhang mit Bühlers Appell liegt auf der Hand. − Die phatische Funktion; diese verweist auf Erstellung und Aufrechterhaltung der Kommunikation. − Die metasprachliche Funktion bezieht sich auf das Sprechen über die Sprache. Der Empfänger will sicherstellen, dass er die Mitteilung des Senders richtig verstanden hat und umgekehrt. − Die poetische Funktion bringt den ästhetischen Aspekt der Sprache zum Ausdruck. Sie ist keineswegs auf die Dichtung bzw. diese auf die poetische Funktion zu reduzieren. Jakobson übernimmt also drei Bühler’sche Funktionen, die Darstellungsfunktion, die Ausdrucksfunktion und die Appellfunktion, und erweitert sie. Für die grammatischen Kategorien sind diese „Primärfunktionen“ in dem Sinne zentral, dass sich Sprachen als Werkzeuge, „um einer (sic! ) dem andern etwas mitzuteilen über die Dinge“ (Bühler 1999: 24), formal-strukturell unterscheiden und dass durch die Funktion der Systemeinheiten durchaus ein gemeinsamer Nenner zwischen ihnen erzielt werden kann: Was in der Sprache a mit Struktur x ausgedrückt wird, kann in der Sprache b mit Struktur y funktionalisiert werden. Dies bringt Coseriu (1992: 74) folgendermaßen auf den Punkt: Es ist also notwendig, zwischen dem zu unterscheiden, was keine ‚sprachliche‘ Funktion ist und dem, was dies allemal ist, zwischen dem, was eine Sprache mit Hilfe weiterer Bestimmungen sagen kann und dem, was sie normalerweise sagt Salifou Traoré 334 und unmittelbar sagen muß. In der Tat kann jede Sprache auch ausdrücken, was eine andere Sprache auszudrücken vermag, wenn es sich um genauer bestimmte Werte handelt (jedoch nicht umgekehrt): Sie kann das insbesondere dadurch, daß sie explizite Determinierungen hinzufügt. In diesem Sinne besteht zwischen den einzelnen Sprachen im Hinblick auf ihre Möglichkeiten, zumindest im Prinzip kein Unterschied [...]. Wenn eine Sprache nur Zahlwörter bis ‚vier‘ hätte, dann wären die Zahlen über ‚vier‘ aus ihrer Sicht auch keine sprachlichen Funktionen; aber diese Sprache könnte solche Zahlen trotzdem bezeichnen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die oben ausgeführten Ebenen, die Formebene, die Bedeutungsebene und die Funktionsebene, konstituieren im Hinblick auf die grammatischen Kategorien die Eckpfeiler einer interkulturell konzipierten Grammatik. Sie reflektieren die strukturelle, semantische und funktionale Relativität natürlicher Sprachen und tragen damit dazu bei, die Inhalte grammatischer Kategorien in einem interkulturellen Verhältnis zu strukturieren. Wie dies möglich ist bzw. verwirklicht werden kann, wollen wir anhand der Verbalkategorie „Genus verbi“ im Deutschen und im Thailändischen zeigen. 3 Das Genus verbi in der deutschen und der thailändischen Sprache 3.1 Formebene 3.1.1 Das Genus verbi im Deutschen Im Vergleich zu den anderen grammatischen Kategorien im Deutschen, die wietestgehend morphologisch realisiert werden, ist das Genus verbi und vor allem dessen Teilkomponente Passiv eher morphosyntaktisch zu definieren, denn im Unterschied zum Aktiv, dessen morphologische Motiviertheit auf der Hand liegt, wird das Passiv in dem Sinne periphrastisch gebildet, dass es eine Kombination mehrerer Formwörter benötigt (Kuntz 2004: 50). Während weiterhin über die Frage nach dem Wesen des Aktivs durchaus Konsens herrscht - das Aktiv erkennt man an den präsentischen und präteritalen Stämmen der Verben bzw. an haben + Partizip II eines Vollverbs (begrenzt auch an sein + Partizip II) (Brinker 1990: 116) -, ist es kein leichtes Unterfangen, die Passivformen abzugrenzen, d.h., zu unterscheiden, welche Konstruktion dazu gehört und welche nicht (vgl. Engel 1991, Flämig 1991, Weinrich 1993, Duden 1995, Eichler/ Bünting 1996, Zifonun et al. 1997, Götze/ Hess-Lüttich 1999, Helbig/ Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 335 Buscha 1999). Die Abgrenzungsproblematik des Passivs bringt Kuntz (2004: 50) folgendermaßen zum Ausdruck: [Einige Grammatiker und die meisten Autoren im Bereich Deutsch als Fremdsprache] klassifizieren das Passiv nach der Form des Hilfsverbs in ‚werden-Passiv‘ und ‚sein-Passiv‘ [...]. Wer sagt uns, dass ‚sein‘ und ‚werden‘ die einzig möglichen Hilfsverben des Passivs sind? Was ist mit Sätzen wie: ‚Diese Verbrecher gehören eingesperrt‘, ‚In der Bibel steht geschrieben‘, oder ‚Ich bekam den ersten Preis zuerkannt‘? [...]. Umgekehrt genügt die Betrachtung der Verbform allein nicht, um ein Passiv nachzuweisen. So etwa ist ‚Ich bin entlassen‘ vermutlich ein Zustandspassiv, ‚Ich bin verreist‘ dagegen ein Perfekt Aktiv und ‚Ich bin verliebt‘ weder das eine noch das andere, sondern ein Satz mit dem Verb ‚sein‘ + Adjektiv nach dem Muster: ‚Ich bin groß, klug, reich [...]‘ etc. Aber in allen drei Fällen haben wir ganz unbestreitbar ein Verb ‚sein‘ + Partizip II. In der Tat begegnen sich in der Forschungsliteratur zum Genus verbi zwei Positionen zur Abgrenzung von Aktiv und Passiv. Die erste nimmt eine linearstrukturelle Bestimmung der Genera der Verben vor und orientiert sich damit an den formal definierten verbalen Strukturen. Dementsprechend gehören die Konstruktionen werden + Partizip II und in Grenzen sein + Partizip II zum Passiv und alle anderen Gefüge zum Aktiv (Brinker 1990, Flämig 1991, Duden 1995, Eichler/ Bünting 1996, Götze/ Hess-Lüttich 1999, Helbig/ Buscha 1999). Diesen Grammatikern ist gemeinsam, dass sie Passivformen von passivähnlichen Strukturen abheben. So verweist etwa Flämig (1991: 427) „auf verbale Fügungen mit passivähnlichem Charakter, deren gemeinsames Merkmal darin besteht, daß der Täter, der Urheber oder die Ursache nicht durch das syntaktische Subjekt ausgedrückt werden“. 3 Die zweite Position dagegen macht diese Unterscheidung nicht, sondern betrachtet auch die „Passiv-Paraphrasen“ (Helbig/ Buscha 1999: 183) als Passivstrukturen schlechthin (Engel 1991, Zifonun et al. 1997). Diese Position leidet jedoch darunter, dass sie formale und semantische Kriterien miteinander vermischt. Sollte das Passivsein semantisch, d.h. nach dem Grad der Betroffenheit des syntaktischen Subjekts, definiert werden, wird man sich schwer tun, folgende Konstruktionen einzuordnen: (1) a. Er leidet. b. Die Arbeit steht zur Diskussion. c. Er erledigte die Arbeit zu unserer großen Überraschung. __________ 3 Dabei geht es vor allem um die verbalen Fügungen bekommen/ erhalten/ kriegen und gehören + Partizip II. Salifou Traoré 336 In den Sätzen sind die Subjekte keineswegs aktivisch, dennoch liegen hier Aktivformen vor. Die Genera der Verben sind also, um mit Weinrich (1993: 155) zu sprechen, keineswegs mit den „Verhaltens-Kategorien“ Aktivität und Passivität gleichzusetzen. Die zweite Position wirft die Frage auf, welche Kriterien herangezogen werden sollen, um den Kern der Teilkategorie „Passiv“ zu bestimmen. Auf diese Problematik macht Leiss (1992: 72) aufmerksam: „Bis heute ist unser Wissen über das Passiv äußerst unvollkommen. Es besteht keine Einigkeit darüber, was die wesentlichen und was die unwesentlichen Merkmale eines uns bekannten Passivs, z.B. des Passivs im Deutschen, sind“. Angesichts dieser Sachlage erweist sich eine theoretische Festlegung als notwendig, um es mit Popper (1994: 31) zu formulieren, „die Maschen des Netzes [...] enger zu machen“. Hier können etwa durchaus prototypentheoretische Ansätze herangezogen werden, um das „Zentrum“ von der „Peripherie“ zu unterscheiden bzw. den Grad der Typikalität von Aktiv und Passiv zu ermitteln. Die Prototypentheorie basiert nach Löbner (2002: 260ff.) auf der Grundannahme, dass eine Kategorie durch ihren Prototyp definiert ist und dass die Bedingungen, die den Prototyp selbst definieren, nicht notwendig für alle Mitglieder der Kategorie gelten. Der Kategorienzusammenhalt erfolgt über Familienähnlichkeit. Die weniger typischen Vertreter der Kategorie treten an die Peripherie. In diesem Sinne verfügen Aktiv und Passiv über bestimmte prototypische Vertreter, die ihre kategorialen Merkmale aufzeigen. So zeichnet sich das prototypische Aktiv dadurch aus, dass es (i) unmarkiert ist, (ii) ein Agens im Nominativ hat und (iii) transformierbar ist; z.B.: (2) Der Mann wäscht den Wagen. Demgegenüber ist das Passiv (i) markiert, (ii) wird mit dem Hilfsverb „sein“ oder „werden“ gebildet, (iii) ermöglicht Valenzreduktion; z.B.: (3) Der Wagen wird gewaschen. Diese Differenzierungskriterien sind lediglich als eine Rahmenorientierung zu betrachten, um die formal-strukturelle Prototypikalität von Aktiv und Passiv zu ermitteln. Entsprechend folgen wir der ersten Position und zählen im Deutschen die Konstruktionen werden + Partizip II eines Vollverbs, „werden-Passiv“, und begrenzt sein + Partizip II, „sein-Passiv“, zum prototypischen Passiv. Dabei können die Hilfsverben werden und sein „mit [ihrem] gesamten Tempus-Modus-Paradigma“ (Zifonun et al. 1997: 1792 und 1809) erscheinen. Alle anderen Formen bzw. Gefüge gehören zum Aktiv. Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 337 3.1.2 Das Genus verbi im Thailändischen In der Grammatik der thailändischen Gegenwartssprache dagegen ist das Genus verbi unter terminologischem Aspekt keine Einheitenkategorie, von der Aktiv und Passiv abgeleitet werden, sondern es besteht für jede Erscheinung eine terminologische Prägung, nämlich gantuwajok und kammawajok. Gantuwajok entspricht in etwa dem Aktiv. Der Terminus verweist auf einen Satz bzw. eine Äußerung, in dem/ der das Subjekt etwas tut bzw. der/ die vor allem in der gesprochenen Sprache mit einem Verb beginnt. Dies ist unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, dass das Thailändische eine Pro-Drop-Sprache ist und dementsprechend das Subjekt weglassen kann, wenn dies der Kontext zulässt: (4) Thúuk khon kin ku ǎ yt ǐ aw. [alle - essen - Nuddeln] (Alle essen Nudeln) 4 (5) Aa caan k ǐ an n ǎ ŋsue. [Lehrer - schreiben - Buch] (Der Lehrer schreibt) (6) A: Khun tham aray yùu? [Herr - machen Fragepartikel-alai - Aspektmarker] (Was machen Sie? ) B: Rian n ǎ ŋsue. [studieren - Buch] (Ich lese) Kammawajok steht für das Passiv. Der Terminus bringt „ein leidendes Subjekt“ zum Ausdruck bzw. den Zustand des Leidens als Folge einer Tat, Handlung oder eines Geschehens. Formal wird kammawajok mit don und thuuk markiert (vgl. Prasithrathsint 1985, 1988 und 2000; Higbie/ Thinsan 2002), z.B.: (7) Nákrian thuuk tii. [Schüler - Passivmarker - schlagen] (Der Schüler wird geschlagen) (8) Kh ǎ w doon rótchon taay. [er - Passivmarker - Auto - überfahren] (Er wurde von einem Auto überfahren) Im Gegensatz zu gantuwajok kann in kammawajok das Subjekt eines Satzes nicht weggelassen werden. Auf das Subjekt folgt unmittelbar der Passivmarker. Tritt aber das Zukunftsmorphem cà oder der Vergangenheitsmarker dâay auf, muss er in eine Position nach rechts gerückt werden, z.B.: (9) Wangna cà thuuk tii. [Wangna - Zukunftsmorphem - Passivmarker - schlagen] (Wangna wird geschlagen werden/ worden sein) __________ 4 Im Folgenden werden die Thai-Schriftzeichen durch die lateinische Lautschrift ersetzt, um auch Lesern, die das Thailändische nicht kennen, einen Zugang zu den Beispielen zu ermöglichen. In eckigen Klammern steht die wörtliche Wiedergabe der Beispiele im Deutschen, danach folgt in runden Klammern die angemessene Übersetzung. Salifou Traoré 338 Hinsichtlich des Tempusparadigmas kann im Thailändischen wie im Deutschen das verbale Geschehen des Passivs Handlungen in der Vergangenheit, in der Gegenwart oder in der Zukunft zum Ausdruck bringen. So drückt jede Konstruktion mit dây oder cà zusätzlich zu doon oder thuuk drückt ein vergangenes oder zukünftiges Geschehen aus, doch sind die Tempusmarker nicht zwingend. Überdies werden im Thailändischen Passivmarker ausschließlich deontisch gebraucht. Darin äußert sich, wie später zu zeigen sein wird, ein grundsätzlicher funktionaler Unterschied zwischen dem Thailändischen und dem Deutschen, denn im Letzteren können mithilfe von Passivformen z.B. auch Aufforderungen ausgedrückt werden. 3.2 Bedeutungsebene 3.2.1 Die Bedeutung des Genus verbi im Deutschen Es ist in der Forschungsliteratur zum Genus verbi vielfach darauf hingewiesen worden, dass die Kategorienbezeichnungen „Aktiv“ und „Passiv“ keine „Verhaltenskategorien“ (Weinrich 1993: 155) sind und insofern mit „Aktivität“ und „Passivität“ nichts zu tun haben (Brinker 1971 und 1990, Schoenthal 1976, Leiss 1992, Radtke 1998). Das Aktiv drückt demgemäß keineswegs nur eine Tätigkeit aus, genauso wie das Passiv keineswegs nur ein Leiden, wie die folgenden Sätze zeigen: (10) a. Er wäscht das Auto. (Handlung) b. Er schläft. (Zustand) c. Die ganze Nacht hindurch wurde gezecht. (aktives Verhalten) Brinker (1990: 116f.) erklärt die „Grundbedeutung“ des Aktivs folgendermaßen: Die Grundbedeutung des Aktivs ist wesentlich dadurch bestimmt, daß das Subjekt eines Aktivsatzes in der Regel das Agens des im Satz ausgedrückten verbalen Geschehens bezeichnet. Unter dem Terminus ‚Agens‘ soll dabei nicht nur der Täter, Verursacher oder Urheber, sondern auch die Ursache oder ganz allgemein der Ausgangspunkt des verbalen Geschehens (der Handlung oder des Vorgangs) verstanden werden. Man kann also sagen, daß das Geschehen im Aktiv agensbezogen dargestellt wird: Beispiele: (1) Hans schlägt den Hund. (2) Wir gedenken der Toten. (3) Er hilft dir. (4) Ich sorge für Arbeit. (5) Er tanzt. Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 339 Ferner schränkt Brinker aber zu Recht diese Auffassung ein: „Allerdings kann das Aktiv [...] ein Geschehen auch nicht-agensbezogen bzw. agensunabhängig darstellen; das Subjekt des Aktivsatzes ist in semantischer Hinsicht nicht grundsätzlich mit dem Agens gleichzusetzen“ (1990: 117). Daraus erhellt die Schwierigkeit, die mit der Bestimmung der Bedeutung des Aktivs verbunden ist. Anders verhält es sich mit dem Passiv, das deshalb keine semantische Einheitskategorie darstellt, weil es aus zwei Formen besteht: Vorgangspassiv und Zustandspassiv bzw. werden-Passiv und sein-Passiv. Im Verhältnis zum Aktiv bestimmen Helbig/ Buscha (1999: 163f.) die Bedeutung der beiden Passivformen wie folgt: Das Vorgangspassiv drückt den gleichen Sachverhalt in der objektiven Wirklichkeit aus wie das Aktiv. Es unterscheidet sich vom Aktiv jedoch durch eine verschiedene Blickrichtung auf das Geschehen. Das Aktiv lässt das Geschehen agensorientiert erscheinen, das Vorgangspassiv nicht. Das Zustandspassiv drückt - im Unterschied zu Aktiv und Vorgangspassiv - überhaupt kein Geschehen, keinen Prozeß, sondern einen Zustand - als Resultat eines Prozesses - aus. Ähnlich wird auch in den meisten gegenwärtigen Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache (Engel 1991, Flämig 1991, Weinrich 1993, Duden 1995, Eichler/ Bünting 1996, Zifonun et al. 1997, Götze/ Hess-Lüttich 1999) das Genus verbi gedeutet. Ob das Vorgangspassiv aber nur agensbzw. täterabgewandt ist, darüber herrscht kein Konsens. Für Eisenberg (2006: 136) beispielsweise kann das Passiv nicht nur täterabgewandt, sondern in besonderer Weise auch - zugewandt sein, wenn der Passivsatz eine von-Phrase enthält. Dies lässt sich zudem nach Eisenberg von der Funktion des Passivs (vgl. Abschn. 3.3.1) ableiten, das Agens stärker zur Geltung kommen zu lassen als im Aktiv (2006: 136). Analog erweist sich für Redder (1997: 68) aus einer funktional-pragmatischen Sicht die Bezeichnung ,Zustandspassiv‘ als sachlich unangemessen, weil es sich dabei „um die Nachgeschichte einer Handlung als Element einer vorliegenden Situation und mit Blick auf Anschlußhandlungen [handelt]“ (1997: 70). Hier werden offensichtlich semantische von funktionalen Größen nicht getrennt. Im Folgenden wollen wir eine Bedeutung des Genus verbi annehmen, die sich von seiner Funktion unterscheidet. Dementsprechend betrachten wir das Aktiv als prozessual und agenszugewandt, das werden-Passiv als prozessual und agensabgewandt, das sein-Passiv als nicht prozessual und nicht agenszugewandt (vgl. Brinker 1971: 15, Helbig/ Buscha 1999: 164). Ein weiterer Aspekt der Bedeutung des Passivs im Deutschen bezieht sich auf die Frage, ob die Hauptanschlussmittel des Agens („von“ und „durch“) überhaupt eine Bedeutung haben. In den meisten Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache (vgl. z.B. Engel 1991, Flämig 1991, Weinrich 1993, Duden 1995, Zifonun et al. 1997) werden Salifou Traoré 340 je nachdem, ob das Agens mit der Präposition „von“ oder „durch“ an den Passivsatz angeschlossen wird, grundsätzliche semantische Differenzierungen vorgenommen. So sagt etwa Engel (1991: 455): „Die Präposition von wird meist verwendet, wenn ein selbsttätiger Urheber des Geschehens - namentlich ein Mensch - vorhanden ist. Geht es um Gegenstände oder Ereignisse, die das Geschehen unwillkürlich verursacht oder ausgelöst haben, so wird eher durch verwendet“. Dies veranschaulicht Engel mit dem folgenden Beispiel: (11) Die Vorlage wurde vom Parlament/ durch das Parlament gebilligt. Mit der Präposition „von“ wird, so Engel, das Parlament als selbsttätig entscheidende Größe bezeichnet; „durch“ 5 hingegen lasse darauf schließen, dass das Parlament ein Rädchen in einer für den Außenstehenden kaum mehr durchschaubaren Abstimmungsmaschinerie sei. Erwähnt werden muss noch das Faktum, dass im Deutschen die Bildung eines Passivs von der Bedeutung und der syntaktischen Eigenschaft des Verbs eingeschränkt wird (mehr dazu bei Flämig 1991: 423ff., Götze/ Hess-Lüttich 1999: 110f., Helbig/ Buscha 1999: 181f.). 3.2.2 Die Bedeutung des Genus verbi im Thailändischen Die Bedeutung des Aktivs im Thailändischen ist in vieler Hinsicht identisch mit der des Passivs im Deutschen. In der thailändischen Sprache ist das Aktiv gleichfalls prozessual und agenszugewandt. Allerdings muss hier das Agens wie im Deutschen nicht immer genannt werden, da das Thailändische ja, wie gesagt, eine Pro-Drop-Sprache ist und dementsprechend die Agensposition leer lassen kann. In diesem Fall ist das Agens des Geschehens aus dem Kontext zu erschließen. Dies lässt sich auch aus der Bezeichnung des Aktivs im Thai ableiten: Gantuwajok bedeutet so viel wie ,Der Satz/ die Äußerung, in dem/ der das Subjekt etwas tut‘. Diese Möglichkeit besteht nicht im Passiv: Das Agens muss im Regelfall genannt werden. Zudem hat im Thailändischen das Passiv grundsätzlich eine negative Bedeutung, die auf der Hand liegt, wenn man sich mit dem ursprünglich im __________ 5 Helbig/ Buscha (1999: 173) sehen aber keinen wesentlichen Bedeutungsunterschied zwischen den Anschlussmitteln von und durch. Dies sei nur erkennbar, wenn beide im gleichen Satz nebeneinanderstünden und dadurch in Opposition zueinander träten: Ich wurde von meinem Freund durch einen Boten verständigt. Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 341 Buddhismus geprägten Kompositionselement kamma aus dem das Passiv ausdrückende Kompositum kammawajok auseinandersetzt. Der Ausdruck kamma (Pali) oder karma(n) (Sanskrit) ist im Zusammenhang mit der buddhistischen Grundfrage der Seelenwanderung entstanden. Dies erklärt Percheron (1982: 11) wie folgt: Es hatte sich die Vorstellung gebildet, daß nach dem Tode nicht alles zu Ende sei und daß die Welt jene unbegreifliche Kraft, die in einem lebenden Körper haust, wiedersehen wird. Die Asketen oder die einfachen Gläubigen verstanden darunter etwas, was ins Reich des Unbewussten gehört, ein Verlangen nach Dauer als Lohn für ein gutes oder ein schlechtes Leben. So entfaltete sich die Vorstellung von der Seelenwanderung, die wahrscheinlich schon lange im Geist des indischen Menschen geschlummert hatte. Um von der Masse verstanden zu werden, individualisierte sie die Weltseele und erklärte die Einzelseele als eine Folge von Existenzen, deren Art und Weise jeweils von den Handlungen in der vorausgegangenen Existenz bestimmt werde. Der Mensch kann nach dieser Vorstellung vorübergehend zu einer Gottheit werden, allerdings auch zu einem Tier und sogar zu einer Pflanze. Das Band, das eine Existenz mit der folgenden verbindet, nannte man Karman. Es leitet sich von der indischen Wurzel kri (machen) her und bedeutet soviel wie ‚Tat, Handlung, Werk‘. Darüber hinaus meint es hier jene dem Körper innewohnende feinsubstantielle Kraft, die von einer Existenz in die andere geht gemäß dem moralischen Wert der Taten, Worte und Gedanken eines Menschenlebens. Daraus ist ersichtlich, dass kamma die Rückwirkungen von Handlungen auf deren Akteure selbst zum Ausdruck bringt. Handlungen können gutes oder schlechtes kamma bedeuten. Sie können aber auch „karmisch“ (neutral) sein. Gutes kamma kann bereits im Leben belohnt werden oder bewirken, dass man bei einer Wiedergeburt in guten menschlichen Verhältnissen bzw. in der Göttersphäre lebt. Schlechtes kamma dagegen kann beispielsweise dadurch bestraft werden, dass bei einer Wiedergeburt man unter schlechten Umständen (als Tier, Dämon usw.) lebt (vgl. Erricker 1995: 43ff. und 117). Dies veranschaulicht die folgende buddhistische Lehre: Wenn Du wissen willst, wie Du früher handeltest, dann schau, was Du heute bist. Wenn Du wissen willst, was Du später sein wirst, dann schau, wie Du heute handelst. 6 __________ 6 Quelle: www.lengerke.de/ term/ kamma.htm (Stand: 30.6.2011) Salifou Traoré 342 Dadurch wird auch im Buddhismus die ritualisierte Opfergabe als günstige Tat/ Handlung erklärt. Nichts wird dem Schicksal überlassen. In diesem Zusammenhang erklärt der buddhistische Lehrer Buddhadāsa Bhikkhu (2001: 2): Könnte der Mensch wirklich das Leiden durch Opfergaben und Beten beseitigen, wäre niemand in der Welt übrig, der noch leiden müßte, denn jeder kann opfern und beten. Da die Menschen aber immer noch dazu neigen zu leiden, obwohl sie Rituale ausüben und beten, ist das eindeutig nicht der Weg, der zur Befreiung führt. Das Wort kamma verweist also im Buddhismus u.a. auf die Handlungen, die durch das Haften entstehen bzw. auf das Verhängnis, das aus ungünstigen, schlechten Handlungen resultiert. Von der Religion ausgehend, hat der Ausdruck kamma in die Sprache Eingang gefunden und wird dort mit den Ausdrücken doon und thuuk identifiziert, die im Allgemeinen negativ konnotiert werden. Im online-Wörterbuch Deutsch - Thai/ Thai - Deutsch unter www. clickthai.de/ LEXIKON/ online.html werden diese Wörter unter dem Suchwort „Passiv“ wie folgt beschrieben: doon v. leiden, betroffen sein, kollidieren; aux. (zur Bildungs des Passivs) thuuk v. treffen, berühren; adj. richtig, korrekt, billig, recht, günstig, preiswert; v. werden (Passiv) Wie die folgenden Sätze veranschaulichen, lässt sich die negative - „leidende“ - Konnotation von doon und thuuk aus der Bedeutung dieser Wörter in ihrer Funktion als Vollverben ableiten (Prasithrathsint 2000: 3 und 7): (12) Kh ǎ w thuuk yaaphít. [er - leiden - unter einer Vergiftung leiden] (Er leidet unter einer Vergiftung) (13) Kh ǎ w khwâang kɔ̂ɔn h ǐ n doon h ǔ a m ǎ a. [(er - Stein werfen - Passivmarker - Kopf - Hund) (Er warf einen Stein, der den Kopf des Hunds traf/ Er hat einen Stein geworfen, der den Kopf des Hunds getroffen hat) Mit der negativen Bedeutung von doon und thuuk - und somit als Passivmarker - ist die Tatsache verbunden, dass sie im Regelfall in der Umgebung von Verben mit negativen Konnotationen erscheinen. Von Higbie/ Thinsan (2002: 130ff.) stammt die folgende Liste von dreizehn thailändischen Verben, die Passivkonstruktionen zulassen: 7 __________ 7 Vom Autor für diesen Beitrag leicht verändert. Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 343 (1) (mîid) bàat: jdn. schneiden, verletzen; etwas (Beziehungen) beeinträchtigen; etwas (Ruf, Ansehen) schädigen, z.B.: Ph ǒ m doon mîid bàat. [ich - Passivmarker - Messer - schneiden/ verletzen] (Ich wurde geschnitten/ verletzt) (2) chon: gegen jdn. fahren, jdn. anfahren; jdn. schlagen, treffen, z.B.: Kh ǎ w doon chon. [er - Passivmarker - anfahren] (Er wurde angefahren) (3) dàa: jdn. schelten; mit jdm. schimpfen, z.B.: Nákrian doon dàa. [Schüler - Passivmarker - schimpfen] (Der Schüler wurde gescholten) (4) gooŋ: jdn. (um etwas) betrügen; jdn. hintergehen, z.B.: Ch ǎ n doon gooŋ. [ich - Passivmarker - betrügen] (Ich wurde betrogen) (5) (jàp: jdn. verhaften, festnehmen, z.B.: Kh ǎ w thuuk tamrùat jàp. [er - Passivmarker - Polizei - verhaften] (Er wurde von der Polizei verhaftet) (6) khâataay: jdn. töten, umbringen, z.B.: Kh ǎ w thuuk khâatay. [er - Passivmarker - töten] (Er wurde getötet) (7) khàmooy: stehlen, klauen, z.B.: Khɔŋ ph ǒ m thuuk khàmooy. [Sachen - ich - Passivmarker - stehlen] (Meine Sachen wurden gestohlen) (8) lâi ɔ̀ɔk: jdn. entlassen; jdm. kündigen, z.B.: Khon ŋaan thuuk lâi ɔ̀ɔk. [Arbeiter - Passivmarker - entlassen] (Dem Arbeiter ist gekündigt worden) (9) lɔ̀ɔk: jdn. betrügen (in Liebe, Beziehungen usw.), z.B.: Ch ǎ n thuuk lɔ̀ɔk. [ich - Passivmarker - betrügen] (Ich bin betrogen worden) (10) pràp: zu einer Geldstrafe verurteilen; ein Bußgeld bezahlen, z.B.: Ph ǒ m doon pràp phrɔ khàp rot rew. [ich - Passivmarker - zu einer Geldstrafe verurteilen - Auto schnell] (Wegen überhöhter Geschwindigkeit wurde ich zu einer Geldstrafe verurteilt) (11) tè: jdn., ein Tier treten, z.B.: Sùnák doon tè. [Hund - Passivmarker - treten] (Der Hund wird getreten) Salifou Traoré 344 (12) tii: schlagen (nur für Menschen gebräuchlich), z.B.: Nákrian thuuk tii. [Schüler - Passivmarker - schlagen] (Der Schüler wurde geschlagen) (13) yiŋ: jdn. erschießen, z.B.: Mii khon doon yiŋ. [haben - Mensch - Passivmarker - erschießen] (Jemand wurde erschossen) Die Liste zeigt deutlich, dass der Begriff des Passivs im Thailändischen negativ besetzt ist. Die Passivmarker kommen in verbalen Umfeldern vor, in denen das Subjekt benachteiligt wird bzw. in ungünstige Umstände gerät/ geraten ist. Dementsprechend kann man in der thailändischen Sprache beim Passiv im wahren Sinne des Wortes ein „leidendes“ Subjekt voraussetzen. Dabei sind die beiden Marker doon und thuuk durchaus austauschbar (Higbie/ Thinsan 2002: 130ff.) Angesichts des bisher Ausgeführten ist Götze zuzustimmen, wenn er das fehlende Interesse der „kontrastiven Grammatiken traditionellen Zuschnitts“ an den philosophisch-kulturellen Aspekten der Sprachen als eine Schwäche betrachtet: Kontrastive Grammatiken traditionellen Zuschnitts, die lediglich sprachliche Phänomene von Ausgangs- und Zielsprache vergleichen, greifen deshalb häufig zu kurz, weil sie die philosophisch-kulturellen Grundlagen der Sprachen nicht bedenken. Eine interkulturelle Grammatik der Zukunft muss also mehr leisten: Sie muss Philosophie, Ontologie und Religion mit der Linguistik verbinden, also die Grundlagen des Denkens der Menschen in unterschiedlichen Kulturen mit den sprachlichen Repräsentationen, die lediglich Ausdruck der zugrunde liegenden Reflexionen sind [...] (2004: 254). Andererseits muss aber angemerkt werden, dass das thailändische Passiv unter dem Einfluss des Englischen einen Bedeutungswandel erlebt, vom Negativen zum Neutralen (vgl. Prasithrathsint 1985, 1988 und 2000). Der Wandel bezieht sich allerdings ausschließlich auf thuuk, doon bringt nach wie vor Negatives und Ungünstiges zum Ausdruck. Im Hinblick auf thuuk unterscheidet Prasithrathsint (2000: 1f.) zwischen einem adversativen thuuk-Passiv und einem neutralen thuuk-Passiv. Die beiden wichen dadurch voneinander ab, dass beim neutralen Passiv der Marker thuuk drei grundlegende Bedingungen erfüllen muss: − Er erscheint mit einem belebten Subjekt im Umfeld eines nicht-adversativen Verbs in einem nicht-adversativen Kontext: Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 345 − Aa caan khon nán thuuk klàaw th ǔ eng bɔ̀ykhráŋ. [Dozent - Mensch - dieser - Passivmarker - reden - oft] (Es wird oft über diesen Dozenten geredet) − Er erscheint mit einem unbelebten Subjekt im Umfeld eines nicht-adversativen Verbs: − Aa h ǎ an thuuk tàk sày caan. [Essen - Passivmarker - füllen - in - Teller] (Das Essen wird in den Teller gefüllt) − Er erscheint mit einem unbelebten Subjekt, zwar im Umfeld eines adversativen Verbs, aber in einem nicht-adversativen (neutralen) Kontext: − Tàp thuuk thamlaay. [Leber - Passivmarker - zerstören] (Die Leber wurde zerstört) Der Bedeutungswandel des thuuk-Passivs betrifft jedoch lediglich solche Menschen, die Kontakte zu einer westlichen Sprache, vor allem zum Englischen, (gehabt) haben. Zu diesem Ergebnis kommt Prasithrathsint (1988: 378) in ihrer Analyse der Passivkonstruktionen im Thailändischen: The result of [our test] seems to confirm [...] that the influence of English leads to a higher frequency of passive constructions. The evidence is found in the greater frequency of passive constructions in academic writing than in newspaper editorials. It is generally accepted that the ‚ways of talking‘ in the former kind of writing are more like English than in the latter. In other words, Thai academic writing, which deals with the dissemination of new knowledge, has adopted the style of presenting facts from English academic writing, whereas Thai newspaper editorials, which normally do not focus on spreading new knowledge but expressing opinions about domestic affairs, do not seem to be influenced by English to the same extent. Über diesen Rahmen hinaus wird das Passiv im Thai in der Alltagskommunikation negativ bewertet (Higbie/ Thinsan 2002). Es ist zudem durchaus möglich, doon und thuuk zusammen in der gleichen Umgebung zu verwenden. Für Prasithrathsint (2000: 9) sind solche Kopulativkomposita im Thailändischen üblich, auch deswegen, weil sie einer der Eigenschaften dieser Sprache entsprechen: The use of / doon/ and / thuuk/ together as a reduplication is not an uncommon phenomenon in Thai. Many compound words are made of two words of the same meanings […] for example: / plian-pleeng/ (change + change) ‚change‘, / peut-pheui/ (open + open) ‚open up, disclose, reveal, uncover‘. Very often do we find that one of the words in a semantic doublet becomes obsolete and the other one survives well. Salifou Traoré 346 Hinzuzufügen ist, dass im Unterschied zum Deutschen, in dem das Agens mit der Präposition von oder durch angeschlossen wird, im Thailändischen das Agens grundsätzlich ohne Zusatzanschlussmittel zwischen dem Passivmarker doon/ thuuk und dem Vollverb erscheint: (14) Nákrian thuuk kruu tii. [Schüler - Passivmarker - Lehrer - schlagen] (Der Schüler wird vom Lehrer geschlagen) Nach diesen Darstellungen soll nun die Funktion des Passivs näher betrachtet werden. 3.3 Funktionsebene 3.3.1 Die Funktionen des Passivs im Deutschen In seiner Textgrammatik der deutschen Sprache macht Weinrich (1993: 169) auf die grundlegende Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv aufmerksam: In der traditionellen Grammatik hat man seit der Antike das erweiterte Passiv (unter Vernachlässigung des sehr viel häufigeren einfachen Passivs) als Standardform des Passivs angesehen und es als Umformung [...] einer angeblich gleichbedeutenden aktivischen Konstruktion aufgefaßt [...]. Die Auffassung einer völligen Bedeutungsgleichheit zwischen dem einfachen Aktiv [...] und dem erweiterten Passiv [...] ist aber grammatisch nicht gerechtfertigt. Man darf [...] das erweiterte Passiv nicht einfach als die Umkehrung des Aktivs ansehen, auch wenn eine mehr als zweitausendjährige kategoriale Tradition der Grammatik eine solche Auffassung nahezulegen scheint. In der Tat sind Aktiv und Passiv weder bedeutungsnoch funktionsgleich. Ähnlich unterscheidet sich die Bedeutung des Passivs von seiner Funktion. In diesem Zusammenhang formuliert Heringer zu Recht: „Natürlich kommen wir ohne die Bedeutung nicht weit, wir kommen im Gebrauch aber doch über die Bedeutung hinaus“ (2004: 36). Mit Aktiv und Passiv sind grundsätzlich unterschiedliche funktional-kommunikative Strategien verbunden (Götze/ Hess-Lüttich 1999: 108). Darüber hinaus stellen sie für den Schreibenden wichtige Textgestaltungsmittel dar. Dementsprechend erteilen wir Autoren der Ratgeberliteratur eine klare Absage, die die Verwendung des Passivs pauschal verurteilen. So formuliert z.B. Schneider (2002: 287): „Verben sind besser als Substantive; Verben im Aktiv besser als im Passiv [...]“. Eine solche Äußerung verkennt die vielfältigen kommunikationsstrategischen Funktionen des Passivs. Dass Aktiv und Passiv funktional- Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 347 kommunikativ nicht gleich sind, lässt sich auch aus ihrer Vorkommenshäufigkeit in Kommunikationssituationen ableiten. So verweist etwa der Duden (1995: 170f.) darauf, dass im Durchschnitt etwa 93% der finiten Verbformen auf das Aktiv und 7% auf das Passiv entfallen, wobei 5% im werden-Passiv und 2% im sein-Passiv vorkommen. Die Funktionen des Passivs im Deutschen sind vielfältig. In der vorliegenden Arbeit wollen wir diese voneinander unterscheiden und entsprechend drei Hauptfunktionen des Passivs unterscheiden: 1) eine allgemeine kommunikative Funktion, 2) eine Textfunktion und 3) eine textsortenspezifische Funktion. Diese sind komplementär. Zudem ist ihnen die Eigenschaft gemeinsam, die Valenz von Verben in gewissem Rahmen reduzieren zu können (vgl. Brinker 1990: 121, Flämig 1991: 425ff., Zifonun et al. 1997: 1837ff., Radtke 1998: 265ff.). 8 Zu 1): Das Passiv drückt in Anlehnung an Pape-Müller (1980: 93ff.), Brinker (1990: 119ff.), Flämig (1991: 425ff.), Zifonun et al. (1997: 1838ff.), Götze (1999: 86f.), Götze/ Hess-Lüttich (1999: 108ff.) allgemeine kommunikative Funktionen, die sich in der Regel auf eine außersprachliche Realität beziehen, aus, wenn das Agens − unbekannt ist oder nicht genannt werden kann; Beispiel: In den Juwelierladen wurde letzte Nacht eingebrochen. − unwichtig ist, weil allgemein bekannt; Beispiel: Das Gerät darf nur mit reinem Wasser betrieben werden. − nicht genannt wird, weil es zuvor bereits erwähnt wurde bzw. aus dem Textzusammenhang erschlossen werden kann, wie der folgende Text von Brecht (nach Brinker 1990: 119) zeigt: In der Erwartung großer Stürme In einem alten Buch über die Fischer der Lofoten lese ich: Wenn die ganz großen Stürme erwartet werden, geschieht es immer wieder, daß einige der __________ 8 Es muss hier angemerkt werden, dass es durchaus Passivbildungen gibt, in denen die Valenzreduzierung nicht möglich ist, wie folgende Beispiele aus Siewierska 1984: 37-39) zeigen: − Die Theatergruppe wird das Stück „Die Vögel“ des antiken griechischen Komödienschreibers Aristophanes in einer modernen Bearbeitung von Hermann Steintal vorstellen [...]. Die Gruppe und das Stück wurden vom Landesverband Amateurtheater Baden-Württemberg ausgewählt. − Die Reise beginnt am 30. August und wird von Professor Hans-Peter Doll, dem Landesbeauftragten für den künstlerischen Bühnennachwuchs, geleitet. Nicht möglich wären: − [...] Die Gruppe und das Stück wurden ausgewählt. − Die Reise beginnt am 30. August und wird geleitet. Salifou Traoré 348 Fischer ihre Schaluppen am Strand vertäuen und sich an Land begeben, andere aber eilig in See stechen [...]. bewusst nicht genannt wird, weil man Verantwortlichkeiten verschleiern oder trotz besseren Wissens den Täter verschweigen will; Beispiel: Ich bestätige, dass Maschadow in der Nähe der Ortschaft Tolstoi-Jurt getötet worden ist. Dort kam es zu einem Gefecht. Maschadow versteckte sich in einem Bunker unter einem der Häuser“, sagte der Sprecher der russischen Streitkräfte im Nordkaukasus, Ilja Schabalkin [...] (Süddeutsche online, 08.03.05). − aus Gründen der Diskretion nicht genannt wird; Beispiel: Ja, das ganze Geld ist verjubelt worden. − eine Aufforderung erteilt wird; Beispiel: Es wird aber jetzt geschlafen! Diese Funktion steht im Zusammenhang mit der „Eigenschaft des Passivs als Mittel zur rigorosen Durchsetzung von Normen, Verpflichtungen und Verboten“ (Polenz 1985: 186). Dabei geht es in Verwaltungstexten vor allem um das sein-Passiv: In den Klausurräumen ist das Rauchen untersagt. Eine weitere allgemeine kommunikative Funktion des Passivs besteht in der Möglichkeit, in der gesprochenen Umgangssprache von einem intransitiven Verb ein werden-Passiv zu bilden, um mit dieser ungewöhnlichen Konstruktion Ironie bzw. Scherz auszudrücken (Duden 1995: 177, Kuntz 2004: 59); Beispiel: Er ist nicht gegangen, sondern gegangen worden (entlassen worden). Zu 2): Die Textfunktionen des Passivs sind im Vergleich zu den allgemeinen kommunikativen in dem Sinne textintern motiviert, dass sie „metatextuelle“ Phänomene fokussieren. Hier geht es insbesondere um die Leistung des Passivs bei der Linearisierung einer Äußerung und des damit verbundenen kommunikativen Werts bzw. stilistischen Effekts (vgl. Flämig 1991: 426f., Weinrich 1993: 179ff., Duden 1995: 174f., Zifonun et al. 1997: 1843ff.). Dazu schreibt Flämig (1991: 427): 9 Der geeignete Wechsel von Aktiv- und Passivsätzen kann [...] dazu beitragen, die Monotonie gleichartiger Satzmuster zu unterbrechen, dem Ausdruck eine größere Beweglichkeit zu verleihen, Satzfolgen übersichtlicher zu gestalten und damit deren Verständigungswert zu erhöhen. __________ 9 Vgl. auch Eisenberg (2006: 134ff.) Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 349 Zifonun et al. (1997: 1843) sprechen von „Argumentrestruktuierung“ und leiten daraus zwei textuelle Grundfunktionen des Passivs ab: − Das Passivsubjekt ist thematisch (unmarkierter Fall). Hier bietet das Passiv die Möglichkeit, „einen unmittelbaren thematischen Anschluß von minimaler Distanz [vorzunehmen]“ (Zifonun et al. 1997: 1844), Beispiel: [...] und die Lorelei ist ein Mädchen. Dieses Mädchen wurde von einem Schiffer, von einem Fischer, einmal im Netz gefangen. − Das Passivsubjekt ist hervorgehoben (markierter Fall); Beispiel: Cäsar hat nämlich auf dem Forum (...) einen Tempel bauen lassen, den er seiner Stammutter Venus geweiht hat. In diesen Tempel wurde eine Statue der Venus gestellt (Zifonun et al. 1997: 1846). Dabei kann das expletive es als das syntaktische Subjekt des Satzes vorkommen; Beispiel: Es wurden die dollsten Gerüchte verbreitet (Zifonun et al. 1997: 1846). Weitere textuelle Funktionen des Passivs (Pape-Müller 1980, Eroms 1986; Flämig 1991) bestehen u.a. darin, − eine Abfolge gleichlautender Pronomen oder Artikel zu vermeiden; Beispiel: Aktiv: Dort wohnt die Frau, die die Polizei verhaftet hat. Passiv: Dort wohnt die Frau, die von der Polizei verhaftet worden ist. − eine Äußerung zu disambiguieren. So kann der Aktivsatz Die Mutter liebt sie, aber nicht die Tochter. passivisch unterschiedlich gedeutet werden: Sie wird von der Mutter, aber nicht von der Tochter geliebt. Die Mutter wird von ihr geliebt, aber nicht die Schwester. Sie, aber nicht die Schwester, wird von der Mutter geliebt. Die Mutter wird von ihr, nicht aber von der Schwester geliebt. − das Agens durch Endstellung zu rhematisieren 10 ; Beispiel: Ein Theaterstück wird von Heinrich geschrieben (Eroms 1986: 11). Aus diesem Grund zählt Eroms die Aktiv-Passiv-Diathese zu den wichtigsten formalen Mitteln zur Kennzeichnung der Thema-Rhema-Gliederung. __________ 10 Dabei kann das Agens ausgeklammert werden; Beispiel: [...] jetzt wird Müller angespielt, von Meier (Duden 1995: 175). Mit dieser Nachfeldbildung ist ein besonderer Mitteilungswert des Handlungsträgers von Meier verbunden. Salifou Traoré 350 − eine Äußerung dadurch zu objektivieren, dass der Sprechende in den Hintergrund tritt. In Frage kommt hier vor allem das subjektlose Passiv; Beispiel: Bei den hier erörterten theoretischen Standpunkten sowohl von Piaget als auch von der Wygotski-Schule kann festgestellt werden, dass die rein linguistischen Aspekte bei ihren Untersuchungen vernachlässigt worden sind [...] (Oksaar 2003: 75). Diese Darstellungsweise begegnet insbesondere in technischen und wissenschaftlichen Abhandlungen, in denen es mehr oder weniger darum geht, einen Sachverhalt so objektiv wie möglich auszuführen. Damit gelangen wir zu der textsortenspezifischen Funktion des Passivs. Zu 3): Schließlich sind die Passivstrukturen im Deutschen kennzeichnend für bestimmte Textsorten, nämlich fachsprachliche Darstellungen der Naturwissenschaften, der Geschichte oder der Technik; Texte der Medien, insbesondere Berichte über Vermutungen, und Hypothesen, die noch nicht bewiesen werden können, Erlasse und Verordnungen (Götze 2000: 185). Nach Götze rechtfertigt sich das Passiv hier daraus, dass in diesen Textsorten die Darstellung des Prozesses, des Ergebnisses, des Vorgangs im Vordergrund stehen. Dies veranschaulicht der folgende Auszug aus der gemeinsamen Habilitationsordnung der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes vom 12. Juli 2000: (5) Der Habilitationsantrag kann zurückgezogen werden, solange der Habilitandin/ dem Habilitanden noch kein Bescheid über die Eröffnung des Habilitationsverfahrens zugestellt worden ist [...]. Wird der Habilitationsantrag nach der Eröffnung des Habilitationsverfahrens zurückgezogen, so gilt er als abgelehnt. Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass im Deutschen Aktiv und Passiv keineswegs auseinander abgeleitete Strukturen sind: Die Wahl einer Passivform ist im mündlichen wie schriftlichen Kommunikationsprozess mit grundlegenden Strategien verbunden, die anhand dieser Struktur optimal bewältigt werden können. 3.3.2 Die Funktionen des Passivs im Thailändischen Im Thailändischen bezieht sich das Passiv von seiner Bedeutung her im Regelfall, wie bereits ausgeführt (vgl. Abschn. 3.2.2), auf einen ungünstigen Sachverhalt wie beispielsweise Strafen, Schlagen, Schimpfen, Leiden, Töten usw. Schon aus diesem Grund wird in der thailändischen Sprach- und Kulturgemeinschaft dieser Struktur eine geringere kommunikationsstrategische Be- Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 351 deutung beigemessen. So geht aus einer breit angelegten Untersuchung von Prasithrathsint (1988: 375ff.), die die Verwendung von Passivkonstruktionen im Thailändischen im 19. und im 20. Jahrhundert bis 1982 dokumentiert, hervor, dass lediglich 4,26% aller Verbalstrukturen als Passivkonstruktionen vorkommen. 11 Zudem scheint es so, dass eher diejenigen, die unter dem Einfluss insbesondere der englischen Sprache stehen, auf das Passiv als ein „neutrales“ alltägliches Kommunikationsmittel zurückgreifen. Dies ist vor allem der Fall, wenn es in der geschriebenen Sprache darum geht, neue, der Thai-Kultur fremde Wissenselemente darzustellen (Prasithrathsint 1988: 378f.). Allerdings scheint dieses Sprachkontaktphänomen auf einer höheren Ebene die Grammatiker und Grammatiken der Thai-Sprache kaum zu beeinflussen, denn die meisten sind sich darüber einig, dass die Anwesenheit des Passivmarkers doon oder thuuk in einer Äußerung diese negativ konnotieren (vgl. Khanjanawan 1999, Khamchai 2000, Upakit-Silapasan 2002). Dementsprechend wirkt der Satz (15) Kh ǎ w thuuk ch əə n. [er - Passivmarker - einladen] (Er wurde eingeladen) befremdlich. In diesem Fall wird die Passiversatzform dâayráp bevorzugt: (16) Kh ǎ w dâayráp ch əə n. Dementsprechend legte einer der Master-Studierenden des Autors im Rahmen des Seminars Kontrastive Analyse Deutsch - Thailändisch (Sommersemester 2002) folgendes Zeugnis ab: „Im Thailändischen bevorzugt man das Aktiv. Das Passiv kommt nicht so oft vor, weil es ein ungünstiges Ereignis zum Ausdruck bringt. Aber man kann andere Verben als Ersatzformen des Passivs benutzen, wie z.B. dâayráp (erhalten/ bekommen/ kriegen), mii (haben), k əə d (geschehen/ passieren)“. 12 Darüber hinaus kann zwar im Thailändischen das Agens weggelassen werden, wenn der Handelnde, der Verursacher, deutlich aus dem Kontext hervorgeht; Beispiel: (17) Khonŋaan thuuk l ǎ y ɔ̀ɔk. [Arbeiter - Passivmarker - entlassen] (Der Arbeiter wurde entlassen) Daraus sollte jedoch nicht geschlossen werden, dass das Passiv im Thailändischen die gleichen Funktionen wie im Deutschen übernehmen könnte. Im Gegenteil: Im Thai ist der Gebrauch des Passivs in dem Sinne stark begrenzt, als es dort grundsätzlich negativ eingestuft wird. Das thuuk-Passiv kann zwar __________ 11 Dabei wurde allerdings nicht ermittelt, wie viel Prozent der Konstruktionen auf das doon-Passiv und wie viel auf das thuuk-Passiv entfallen. 12 Dazu auch Diller (1988: 287ff.) Salifou Traoré 352 unter dem Einfluss des Englischen auch neutral benutzt werden, diese syntaktische Kontamination kommt jedoch eher in den ins Thailändische übersetzten Texten vor (vgl. Prasithrathsint 1985 und 1988). Im alltäglichen Sprachgebrauch des Thailändischen wird kaum auf die Passivmarker zurückgegriffen. 4 Zusammenfassung der Ergebnisse Aus dieser Analyse lässt sich schließen, dass sowohl im Deutschen als auch im Thailändischen Aktiv und Passiv formal-strukturell differenziert werden. Bezüglich ihres Gebrauchs jedoch, d.h. ihrer Bedeutung und Funktion, ist eine Reihe von Unterschieden zu Tage getreten. Im Deutschen unterscheiden sich Aktiv und Passiv zunächst in ihrer Art und Weise, Ereignisse/ Handlungen zu perspektivieren. Während das Aktiv den Handelnden, den Verursacher, in den Mittelpunkt der Darstellung rückt, betont das Passiv vielmehr den Vorgang/ Prozess bzw. den erreichten Zustand. Weiterhin wird in der alltäglichen Kommunikationspraxis mehr auf das Aktiv als auf das Passiv zurückgegriffen. Diese relativ begrenzte Vorkommenshäufigkeit des Passivs, kann auch in gewisser Hinsicht auf das Faktum zurückgeführt werden, dass im Gegensatz zum Aktiv, das mit nahezu allen Verben gebildet werden kann, eine Passivbildung nicht mit jedem Verb möglich ist. Dies macht deutlich, dass das Passiv keineswegs prinzipiell als Transformation der Aktivform zu betrachten ist. Außerdem zeichnet sich im Deutschen das Agens je nach dem Kontext durch mehr oder weniger (syntaktische) Flexibilität aus. Mit anderen Worten: Das Agens kann in Anwesenheit bestimmter Textaufbaufaktoren (Kohärenz, Mitteilungsperspektive usw.) weggelassen werden bzw. eines der drei Stellungsfelder (Vor-, Mittel- und Nachfeld) besetzen. Diese Flexibilität strukturiert grundlegende funktionale Gebrauchsweisen des Passivs im Deutschen. Es gibt also zwischen Aktiv und Passiv im Deutschen formal-strukturelle, semantische und vor allem funktional-kommunikative Unterschiede. Demgegenüber werden im Thailändischen Aktiv und Passiv durch die Benutzung oder Nicht-Benutzung der grammatikalisierten Elemente doon und thuuk als Passivmarker formal gekennzeichnet. Wie im Deutschen gibt es auch hier zwei Passivformen. Das doon-Passiv wird ausschließlich negativ gebraucht. Das thuuk-Passiv kann zwar auch neutral gebraucht werden, diese Verwendungsform ist jedoch selten und bisher in Übersetzungen ins Thailändische anzutreffen. Die negative Konnotation des Passivs im Thailändischen wird verständlich, wenn wir in dieser Sprache der Passiv-Bezeichnung Rechnung tragen: In der thailändischen Sprache wird das Phänomen des Passivs mit dem Terminus Grammatik im Spiegel interkultureller Linguistik 353 kammawajok referiert, dessen erstes Kompositionsglied kamma im Buddhismus wurzelt und dort auf ein Leiden bzw. einen ungünstigen Umstand verweist, der so viel heißt wie „die Art und Weise zu leiden“. Darauf ist die Tatsache zurückzuführen, dass die Verwendung der Passivmarker im Thai im Vergleich zum Deutschen grundsätzlich auf solche transitiven Verben begrenzt ist, die auch negative Verhältnisse zum Ausdruck bringen: schlagen, strafen, schimpfen, verletzen, töten, stehlen usw. Dadurch wird im Thailändischen der Funktionsmodus des Passivs eingeschränkt. Wir haben es hier also mit einem grammatischen Phänomen zu tun, dem in der jeweiligen Sprachgemeinschaft eine eigenkulturelle kommunikative Relevanz zugesprochen wird. Während im Deutschen das Passiv zu den Regeln des Sprachgebrauchs mit den damit verbundenen vielfältigen Funktionen gehört, hat im Thailändischen diese Struktur außer ihrer formal-strukturellen Eigenschaft, die sich darin äußert, dass doon und thuuk eine feste Position im Satz haben, eine recht geringe Mitteilungsperspektive. Dies dürfte dazu führen, dass aus der Sicht eines thailändischen Deutschlernenden diese Struktur zwar formal-strukturell durchaus wahrgenommen wird, aber kommunikationsfunktional deutlich mehr leistet als das vertraute strukturierte Vorwissen in der eigenen Sprache. Darüber hinaus hat die Analyse deutlich gemacht, dass sich Interkulturalität in der Linguistik im Allgemeinen nicht in den Sprachhandlungskategorien erschöpft. Es wurde gezeigt, inwieweit grammatische Kategorien kulturspezifisch geprägt sein können. 5 Literatur Brinker, Klaus (1971): Das Passiv im heutigen Deutsch. Form und Funktion. München/ Düsseldorf. Brinker, Klaus (1990): Aktiv und Passiv in der deutschen Sprache der Gegenwart. In: Muttersprache 100. S. 116-127. Bhikkhu, Buddhadāsa (2001): Handbuch für die Menschheit. 2. Aufl. Chaiya/ Surat Thani. Bühler, Karl (1999): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 3. Aufl. Stuttgart. Coseriu, Eugenio (1992): Einführung in die allgemeine Sprachwissenschaft. 2. 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Obitza 1, pok. 5, PL-10725 Olsztyn/ Polen; E-Mail: akiklewicz@gmail.com Herausgeber und Beiträger(innen) 358 Prof. Dr. Annikki Koskensalo | Universität Turku, Institut für Lehrerausbildung, Assistentinkatu 5, FIN-20014 Turku/ Finnland; E-Mail: ankoske@utu.fi Prof. Dr. Olga A. Kostrova | Interregionale Akademie für Sozial- und Geisteswissenschaften, Fakultät für Fremdsprachen, Abteilung Deutsch, Lehrstuhl Deutsch, Maxim-Gorki-Straße 65/ 67, RU-443043 Samara/ Russland; E-Mail: Olga_Kostrova@mail.ru Prof. Dr. Holger Kuße | Technische Universität Dresden, Institut für Slavistik, Zeunerstraße 1d, D-01062 Dresden/ Deutschland; E-Mail: holger.kusse@tu-dresden.de Dr. Anna Lewandowska | Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, Luisenstraße 2, D-06099 Halle/ Deutschland; E-Mail: anna.lewandowska@germanistik.uni-halle.de Prof. Dr. Rosemarie Lühr | Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Indogermanistik, Zwätzengasse 12, D-07743 Jena/ Deutschland; E-Mail: Rosemarie.Luehr@uni-jena.de Dr. Katarína Motyková | Comenius-Universität Bratislava, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Germanistik, Niederlandistik und Skandinavistik, Gondova 2, SK-81499 Bratislava/ Slowakei; E-Mail: kmotykova@gmail.com Natalia Mull | Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Indogermanistik, Zwätzengasse 12, D-07743 Jena/ Deutschland; E-Mail: natalia.mull@uni-jena.de Prof. Dr. Bernd Müller-Jacquier | Universität Bayreuth, Interkulturelle Germanistik, Universitätscampus, Gebäude GWI, D-95440 Bayreuth/ Deutschland; E-Mail: mue-jac@uni-bayreuth.de Dr. Rossella Pugliese | Università della Calabria, Dipartimento di Linguistica, Via Pietro Bucci, Cubo 20 b, I-87036 Arcavacata di Rende/ Italien; E-Mail: puglierosa@tiscali.it Prof. Dr. Claudia Maria Riehl | Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur I, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln/ Deutschland; E-Mail: Claudia.Riehl@uni-koeln.de Beiträger(innen) und Herausgeber 359 Doz. Dr. Mihály Riszovannij | Westungarische Universität, Campus Savaria, Lehrstuhl für Germanistik, Berzsenyi tér 2, H-9700 Szombathely/ Ungarn; E-Mail: riszov@btk.nyme.hu Ass.-Prof. Dr. Elsayed Madbouly Selmy | Ain-Shams-Universität Kairo, Pädagogische Fakultät, Abteilung für Deutsch, EG-11757, Kairo/ Ägypten; E-Mail: sayed1958@yahoo.de Dennis Strömsdörfer | Wolgograder Staatliche Pädagogische Universität, Lehrstuhl für deutsche Philologie, Prospekt Lenina 27, RU-400131 Wolgograd/ Russland; E-Mail: DAAD.Wolgograd@gmail.com Doz. Dr. Anikó Szilágyi-Kósa | Pannonische Universität Veszprém, Germanistisches Institut, Füredi u. 2, H-8201 Veszprém/ Ungarn; E-Mail: szkosa@btk.uni-pannon.hu Doz. Dr. József Tóth | Pannonische Universität Veszprém, Germanistisches Institut, Lehrstuhl für germanistische Linguistik, Füredi u. 2, H-8201 Veszprém/ Ungarn; E-Mail: jozsef.toth@btk.uni-pannon.hu PD Dr. Salifou Traoré | Ramkhamhaeng University, Department of Western Languages, German Section, Hua Mark, Bangkapi, THAI-10240 Bangkok/ Thailand; E-Mail: salifout@hotmail.com