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Sprichwörter multilingual

2012
978-3-8233-7704-7
Gunter Narr Verlag 
Kathrin Steyer

Das Sprichwort lebt, auch im 21. Jahrhundert. Und es sind gerade sprachtechnologische Erfindungen der Neuzeit wie große elektronische Textkorpora, die eindrucksvoll von der Häufigkeit und Festigkeit, aber ebenso von der Wandlungsfähigkeit solcher fest geprägten Sätze im aktuellen Sprachgebrauch zeugen. Sprichwörter sind Weisheitssätze und tradiertes Kulturgut, die universale Bilder und kulturspezifische Symbole erschließbar und verstehbar machen. Man lernt durch sie auch einiges über die Sprache selbst: über Invarianz und Varianz, über Musterhaftigkeit und Produktivität, über sprachliche Oberflächen und pragmatischen Mehrwert. Die Autoren dieses Bandes sind renommierte Forscher auf dem Gebiet der Parömiologie und Phraseologie. Die Beiträge wurden auf der internationalen Tagung "Sprichwörter multilingual. Sprachliche Muster - kommunikative Einheiten - kulturelle Symbole" vorgestellt, die von 27. bis 28. September 2010 am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim stattfand. Der erste Teil des Bandes widmet sich theoretischen, empirischen und sprachvergleichenden Aspekten moderner Sprichwortforschung. Der zweite Teil dokumentiert die Ergebnisse des EU-Projekts SprichWort. Dabei werden Konzepte, Vorgehensweisen und praktische Ergebnisse des Projekts präsentiert sowie innovative Fragestellungen für die Parömiologie diskutiert.

Kathrin Steyer (Hrsg.) Sprichwörter multilingual Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 6 0 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 60 Kathrin Steyer (Hrsg.) Sprichwörter multilingual Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie Redaktion: Dr. Elke Donalies Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Volz, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6704-8 Inhalt Vorwort ........................................................................................................... 7 Teil I: Aktuelle Fragen und Tendenzen der Parömiologie Wolfgang Mieder „The World‘s a Place“ - Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas ............................................................................................. 13 Harald Burger Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede - theoretisch und textuell, synchron und diachron betrachtet.......................... 45 Valerij M. Mokienko Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? ................... 79 Peter Grzybek Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels. Kenntnis ≡ Bekanntheit [⇔ Verwendung ≈ Frequenz] ? ! ? ........................... 99 Britta Juska-Bacher Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung: Möglichkeiten der Informantenbefragung .................................................. 139 Carmen Mellado Blanco Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern aus dem kognitiven Feld SCHWEIGEN am Beispiel des Sprachenpaares Deutsch - Spanisch................................. 165 Harry Walter Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern. Erfahrungen der Greifswalder Parömiografie ......... 205 Željka Matulina Die Verwendung von Sprichwörtern in kroatischen, bosnischen, serbischen und deutschen Printmedien ....................................................... 227 Mona Noueshi Wie das Land, so das Sprichwort. Interkulturelle und sprachlichstilistische Aspekte in deutschen und arabischen Sprichwörtern. Eine kontrastive Untersuchung ................................................................... 259 Inhalt 6 Teil II: Das EU-Projekt SprichWort - Methoden, Komponenten, Ergebnisse Vida Jesenšek Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und didaktischer Sicht. Zum Projekt SprichWort........................................ 275 Kathrin Steyer Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung. Parömiologische Fragen im Lichte korpusmethodischer Empirie.............. 287 Katrin Hein Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora................................................................................. 315 Melanija Fabčič Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente in der Sprichwortdatenbank. Eine Untersuchung basierend auf den Unterschieden in der Konzeptualisierung ................................................... 341 Peter Ďurčo Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern aus der Sicht der kontrastiven Parömiografie................................................................... 357 Tamás Forgács Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform - unter besonderer Berücksichtigung der Relation Deutsch - Ungarisch ..... 379 Elizabeta Bernjak Slowenische und ungarische Sprichwörter kontrastiv ................................ 405 Tamás Kispál Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform ........................... 417 Darina Víteková Autonomes Lernen von Sprichwörtern am Beispiel eines systematisch aufgebauten Konzepts interaktiver Aufgaben und Übungen auf der Sprichwortplattform ................................................. 437 Brigita Kacjan Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen. Bedeutung, Funktionen und Umsetzung..................................................... 453 Vorwort Sind Sprichwörter überhaupt noch zeitgemäß? Angesichts moderner - vor allem von E-Mail, SMS und sozialen Netzwerken geprägter - Kommunikation könnte man vermuten, dass sie nur noch als sprachliche Spuren unserer Ahnen existieren und kein genuiner Bestandteil der alltäglichen Sprachwelt mehr sind. Aber: Das Sprichwort lebt, allen Unkenrufen zum Trotz. Und gerade sprachtechnologische Erfindungen der Neuzeit wie elektronische Textdatenbanken (Korpora) zeugen von der Lebendigkeit und Vitalität von Sprichwörtern - auch im 21. Jahrhundert. Die Korpora zeigen eindrucksvoll die Häufigkeit, Festigkeit und Produktivität solcher fest geprägten Sätze und illustrieren die komplexen Funktionen, die Sprichwörter in der Kommunikation einnehmen können. Sätze wie Weniger ist mehr , Der Schein trügt oder Der Weg ist das Ziel sind so häufig, dass sie oft gar nicht als Sprichwörter wahrgenommen werden. Man benutzt sie, um eine Lebensweisheit zu vermitteln oder um bestimmte Situationen zu kommentieren. Die indirekte und oft bildliche Art und Weise des Ausdrückens ist dabei ein ganz besonderes Pfund, mit dem Sprichwörter wuchern können. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff verwendet man eben nicht dafür, dass jemand eine Gefahr wittert und noch rechtzeitig flieht, sondern dass sich jemand aus seiner Verantwortung stiehlt und dies zu kritisieren ist. Manche Sprichwörter de„moralisieren“ etwas, wie Ordnung ist das halbe Leben oder Ohne Fleiß kein Preis, andere schaffen neue Horizonte wie Der Glaube versetzt Berge oder Den Mutigen gehört die Welt. Alle sind jedoch aus der Alltagserfahrung der Sprecher entstanden und werden in eben diesem Sinne verwendet. Sprichwörter sind im Gegensatz zu anderen Wortgruppen relativ fest und werden dennoch in der alltäglichen Sprache stets angepasst und verändert. Kennt man die Bedeutung des Sprichworts Wer A sagt, muss auch B sagen, so kann man auch solche Abwandlungen wie Wer Argentinien sagt, muss auch Tango sagen oder Wer Puppe sagt, muss auch Barbie sagen verstehen und bilden. Alte Sprichwörter wie Alte Ochsen machen gerade Furchen oder Abbitte ist die beste Buße vergehen, neue, z. B. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben oder Der frühe Vogel fängt den Wurm, finden Eingang in die Allgemeinsprache. Kathrin Steyer 8 Sprichwörter sind zuvörderst Weisheitssätze. Wenn man sich intensiv mit Sprichwörtern beschäftigt, beginnt man über kurz oder lang, die eigene Welt mit ihrer Hilfe zu sehen, zu kommentieren und zu interpretieren. Die Weisheit des Überlieferten hilft vor allem auch, die heutige Welt zu verstehen. Sprichwörter sind darüber hinaus wichtige Träger kultureller Symbole. Man kann von ihnen lernen, welcher Erfahrungsschatz, welche Werturteile und Mentalitäten in unterschiedlichen Sprachgemeinschaften verankert sind. Besonders aufschlussreich ist daher die sprachvergleichende Perspektive. In vielen Sprachen sagt man Zeit ist Geld oder Der Fisch stinkt vom Kopf her. Eigener Herd ist Goldes wert scheint dagegen ein spezifisch deutsches Phänomen zu sein. Auch wenn Sprichwörter verschiedener Sprachen oft durch unterschiedliches Wortmaterial geprägt sind, lassen sich doch häufig ähnliche Bedeutungen ausmachen. Im Deutschen folgt auf Regen Sonnenschein, im Tschechischen wird es dagegen nach dem Sturm und im Ungarischen nach bedecktem Himmel heiter, aber immer ist es der versöhnliche Ausblick, dass nach schlechten Zeiten auch wieder gute kommen. Die Morgenstunde hat in vielen Sprachen etwas Goldenes: Im Slowakischen gibt es das Sprichwort Morgenstunde, Goldenstunde und im Slowenischen heißt es Morgenstunde, goldene Stunde; die Ungarn glauben daran, dass jemand, der früh aufsteht, Gold findet. Aber auch das tschechische Sprichwort Der Morgenvogel springt weiter betont den Vorteil des frühen Morgens. Sprichwörter sind jedoch nicht nur tradiertes Kulturgut. Man lernt durch sie viel über die Sprache selbst, über Festigkeit und Varianz, über Musterhaftigkeit und Produktivität, über sprachliche Oberflächen und pragmatischen Mehrwert. Und hier kann die Parömiologie einiges zu aktuellen linguistischen Diskussionen über Chunks, Cluster, Muster und Konstruktionen beitragen, nicht zuletzt schöpfend aus eigener, jahrzehntelanger strukturalistischer und semiotischer Forschung, die sich schon lange vor der ‘konstruktionistischen Wende’ für Bauformen, Modelle und Schablonen, für abstrakte Konzeptualisierungen und überindividuelle parömiologische Universalia interessierte. Der vorliegende Band ist geprägt von der Vielstimmigkeit der Autoren aus zehn Ländern, ihren spezifischen sprachlich-kulturellen Hintergründen und sehr unterschiedlichen Sichtweisen auf den Phänomenbereich der Parömien. Die Autoren sind renommierte Forscher auf dem Gebiet der Parömiologie und Phraseologie. Die Beiträge wurden auf der internationalen Tagung des EU- Projekts SprichWort unter dem Rahmenthema „Sprichwörter multilingual. Sprachliche Muster - kommunikative Einheiten - kulturelle Symbole“ vom 27. bis 28. September 2010 am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim Vorwort 9 vorgestellt. Der erste Teil widmet sich theoretischen, empirischen und sprachvergleichenden Aspekten moderner Sprichwortforschung. Der zweite Teil dokumentiert die Ergebnisse des EU-Projekts SprichWort. Eine Internetplattform für das Sprachenlernen (2008-2010, 143376-LLP-1-2008-1-SI-KA2- KA2MP). Dabei werden Konzepte, Vorgehensweisen und praktische Ergebnisse des Projekts präsentiert sowie innovative Fragestellungen für die Parömiologie diskutiert. Wir hoffen, dass dieser Band nicht nur Parömiologen zur Freude und Erhellung gereicht, sondern sich auch bisher eher nicht so sprichwortaffine Leser vom Reiz und der Strahlkraft dieses Wortschatzbereichs anstecken und vielleicht auch überzeugen lassen. Ich bedanke mich bei Katrin Hein für die nochmalige Durchsicht der Manuskripte, bei Dominika Pawlowski und Petra Brecht für die technische Unterstützung. Mannheim, im Juni 2012 Kathrin Steyer Teil I: Aktuelle Fragen und Tendenzen der Parömiologie Wolfgang Mieder „The World's a Place“ - Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas Kathrin Steyer mit Dankbarkeit und Anerkennung gewidmet Wie andere Weltpolitiker vor ihm, hat auch der amerikanische Präsident Barack Obama ein beachtliches Repertoire an Sprichwörtern, die seinen Büchern, Reden und Interviews eine metaphorische und eingängige Ausdruckskraft verleihen. Besonders in solchen Fällen, wo es für seine angloamerikanischen Sprichwörter nur partielle oder keine Äquivalente gibt, entstehen für Übersetzer erhebliche Schwierigkeiten. Dies wird an Hand deutscher Übersetzungen seiner beiden Bücher Dreams from My Father. A Story of Race and Inheritance (1995) und The Audacity of Hope. Thoughts on Reclaiming the American Dream (2006) sowie einiger seiner bedeutendsten (inter-)nationalen Reden gezeigt. Darüber hinaus wird nachgewiesen, dass es Barack Obama in seiner Sprichwörterverwendung meist darum geht, „to make the world a better place“ - „die Welt zu einem besseren Platz [zu] machen“, gleichgültig ob er sich nun in Amerika für was auch immer engagiert oder anderswo auf der Welt. Ganz gewöhnliche Volkssprichwörter sowie Bibelsprichwörter helfen ihm dabei, die verschiedensten Argumente, Ideen und Pläne zum Ausdruck zu bringen. Gewisse Sprichwörter, wie etwa All men are created equal - Alle Menschen sind gleich geschaffen; A house divided against itself cannot stand - Ein in sich gespaltenes Haus hat keinen Bestand; E pluribus unum - Aus vielen eins; Do unto others as you would have them do unto you - Was du nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem andern zu und auch das moderne Sprichwort The world is a place - Die Welt ist ein Platz ergeben sozusagen den moralischen Kompass auf seinem hoffnungsvollen Weg als Präsident der Vereinigten Staaten und als Weltbürger. Sprichwörter und Politik sind seit eh und je aufs Engste miteinander verbunden, wie es die politische mit Sprichwörtern versehene Rhetorik von Politikern des zwanzigsten Jahrhunderts wie etwa Wladimir Iljitsch Lenin, Adolf Hitler, Winston S. Churchill, Mao Zedong, Nikita Cruschtschow und Willy Brandt auch für die Moderne unter Beweis stellt (Mieder 2009a). In Amerika sieht das nicht anders aus, wo Präsidenten wie Abraham Lincoln und Harry S. Truman sich als besonders sprichwortreich erwiesen haben (Mieder 2000, Mieder / Bryan 1997). Aber das gilt ähnlich für Präsidenten wie John Adams Wolfgang Mieder 14 i und seine den sogenannten Gründungsvätern absolut ebenbürtige Frau Abigail, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt, Franklin Delano Roosevelt, John F. Kennedy, Ronald Reagan und andere mehr, die alle nicht nur traditionelle Volkssprichwörter in ihre Schriften und Reden aufgenommen haben, sondern sich auch bemüht haben, hier und da Aussagen zu formulieren, die später zu geflügelten Worten oder gar Sprichwörtern geworden sind. Ich habe versucht, all dies historisch und sprachkulturell in meinen beiden Büchern The Politics of Proverbs. From Traditional Wisdom to Proverbial Stereotypes (1997) und Proverbs are the Best Policy. Folk Wisdom and American Politics (2005) darzustellen und bin voll und ganz überzeugt davon, dass Sprachwissenschaftler, Folkloristen, Kulturhistoriker, Politologen, Soziologen und ganz besonders Phraseologen und Parömiologen sich viel eingehender mit diesem sprachlichen Phänomen befassen sollten. Das bedeutendste Werkzeug unserer Politiker ist die Sprache, die sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten einsetzen, um ihre Ideen und Pläne durchzusetzen. Sprichwörter, von den noch zahlreicher auftretenden sprichwörtlichen Redensarten und anderen Phraseologismen einmal ganz abgesehen, sind bei dieser politischen Kommunikation als vorgeprägte und eingängige Sprachware schnell zur Hand und verleihen den Argumenten eine metaphorische Ausdruckskraft und einen natürlichen Autoritätsanspruch. Als mehr oder weniger manipulativ eingesetzte Volksweisheiten erweisen sich Sprichwörter als effektive und verbindende Kommunikationsmittel, die allen Muttersprachlern verständlich und nachvollziehbar sind (Nichols 1996, Louis 2000). Doch wie sieht all dies nun aus, wenn ein zeitgenössischer Präsident wie Barack Obama im modernen Medienzeitalter mit einer sprachlich recht heterogenen amerikanischen Bevölkerung beziehungsweise mit Menschen aus aller Welt zu kommunizieren versucht? Gewiss, Englisch ist eine Weltsprache, aber es gibt bekanntlich mehrere „Englishes“ auf der Welt, was zu Unterschieden in der Aussprache, im Vokabular, in der Semantik und auch in der Phraseologie führt. Ganz so automatisch, wie man vielleicht allzu schnell meinen möchte, kann oder sollte die Verwendung von Sprichwörtern auf der Weltbühne vielleicht doch nicht sein, denn wenn Barack Obama zum Beispiel eine Rede über Einwanderungsprobleme im Bundesstaat Arizona auf Englisch hält, muss er damit rechnen, dass er mit Leuten spricht, die kaum Englisch sprechen und denen auch die einfachsten Sprichwörter nicht geläufig sind. Das gilt ähnlich für seine Ansprachen in anderen Ländern, wo zwar viele Zuhörer seinen Aussagen durchaus folgen können, und doch kann es gerade bei metaphorischen Sprichwörtern, für die es keine Äquivalente in der Landessprache gibt, zu Ver- Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 15 Mieder_Autkorr_09-07-12 ständnisschwierigkeiten kommen. Nun kommt diesbezüglich hinzu, dass Barack Obama ein sehr sprach- und kommunikationsbewusster Politiker ist, der zusammen mit seinem Team von „speech writers“ unter der Leitung von Jon Favreau auf solche Sachen zu achten scheint. Wie ich in meinem Buch „Yes We Can“. Barack Obama's Proverbial Rhetoric (2009c) gezeigt habe, ist dieser gebildete und intellektuelle Präsident aller Sprachlagen fähig, das heißt, seine beeindruckende Sprachfertigkeit schließt obszönen Slang, die Umgangssprache überhaupt und auch das hohe Sprachniveau des Akademikers ein. Bis zu dem Zeitpunkt seines Amtsantritts am 20. Januar 2009 (bis dahin geht mein Buch) hat dieser sprachbegabte Politiker hauptsächlich zu seinen amerikanischen Mitmenschen gesprochen, denen die Verwendung von Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten keine Verständnisschwierigkeiten machen. Jetzt aber, wo er immer öfter international auftritt, ist zu beobachten, dass die Frequenz gerade der Sprichwörter zurückgeht, was gewiss für die Übersetzer eine Erleichterung sein dürfte. Man erinnere sich diesbezüglich nur an die Auftritte von Nikita Chruschtschow vor den Vereinten Nationen in New York, wo er regelrechte Sprichwörterkanonaden von sich gab, die den Simultanübersetzern Schweißausbrüche verursachten und dem internationalen Verständnis während des Kalten Krieges nicht gerade geholfen haben dürften. In den folgenden Betrachtungen wird es sich um Aspekte handeln, die ganz allgemein Teil einer funktionalen und kommunikativen Untersuchung von Sprichwörtern sind. Es dreht sich also u. a. um die internationale Bekanntheit der von Barack Obama verwendeten Sprichwörter, um ihre Übersetzbarkeit, um Entlehnungen, um Kulturmündigkeit, um Kommunikation und etliches mehr. All dies lässt sich bereits in Obamas autobiografischem Buch Dreams from My Father. A Story of Race and Inheritance (1995) erkennen, das auf Deutsch mit dem stark veränderten Titel Ein amerikanischer Traum. Die Geschichte meiner Familie (2008) erschienen ist. 1 Zuerst fand das Buch wenig Beachtung, doch das änderte sich gewaltig, als es nach Obamas großer Rede am 27. Juli 2004 auf dem Parteitag der Demokraten in Boston als Neuauflage erschien. Mit dieser und weiteren Reden begann Obamas rascher Aufstieg als Spitzenpolitiker, doch ist sein Buch, das inzwischen in zahlreichen Sprachen zu einem Bestseller mit mehreren Millionen verkauften Exemplaren geworden ist, von ganz besonderem Interesse für seine Sprache. Hier zeigt sich der Autor als Schriftsteller ohne politische Ambitionen, völlig unbekannt und nur darauf bedacht, ein gut geschriebenes und lesbares Buch über seine afrika- 1 Seitenangaben ohne Autorennennung bei den im Folgenden zitierten Auszügen aus Dreams from My Father / Ein amerikanischer Traum beziehen sich jeweils auf diese Ausgaben. Wolfgang Mieder 16 Mieder_Autkorr_09-07-12 nisch-amerikanische Familiengeschichte und über das Schicksal schwarzer US-Bürger vorzulegen. Die Reaktion in der Presse war durchaus positiv, und seine Sprache und sein Stil wurden immer wieder zu Recht gelobt. Dass sein sprachliches Können gerade durch das häufige Auftreten von Phraseologismen geprägt ist, hat man dabei jedoch nicht beachtet (ein Phraseologismus pro 1,9 Seiten; vgl. Mieder 2009c, S. 38). Wie dem auch sei, das Buch zeigt Barack Obamas natürliche Sprachbegabung, und im Prinzip hat er diesen sprichwörtlich geprägten Sprachstil bis heute beibehalten. Doch nun kommt die Überraschung: Schaut man sich die deutschen Übersetzungen seiner Bücher und Reden an (und es wird für andere Sprachen ähnlich sein), dann könnte man in der Tat meinen, dass es mit der Sprichwörtlichkeit der Sprache Obamas nicht weit her ist! Mit anderen Worten, die Übersetzer tun sich schwer mit der Übertragung von Sprichwörtern, einmal weil sie diese, besonders wenn es sich nur um intertextuelle Anspielungen handelt, nicht als solche erkennen, und zum anderen, weil sie sie für nicht wichtig halten und auch nicht wissen, wie man sie am Besten ins Deutsche übertragen könnte. Dieses Problem gilt selbstverständlich ganz allgemein für die Übersetzbarkeit von Sprichwörtern, für die es bekanntlich außer totalen Entsprechungen oft nur partielle oder gar keine Äquivalente gibt (Fiedler 2007, S. 115-135; Koller 2007). Hier ist ein sprachlich besonders interessantes Beispiel, das außer der Anspielung auf die beiden bekannten englischen Sprichwörter There are more fish in the sea und There are as good fish in the sea as ever came out of it (Mieder / Kingsbury / Harder 1992, S. 213, Nr. 37-38) auch Obamas Wissen um die Schülersprache seiner Jugend auf Hawaii erkennen lässt. Es dreht sich um ein Gespräch über Mädchen zwischen Obama und seinem etwas älteren Freund Ray, der berichtet, dass gewisse weiße Mädchen nicht mit ihm ausgehen wollen: „Just 'cause a girl don't go out with you doesn't make her racist.“ „Don't be thick, all right? I'm not just talking about one time. Look, I ask Monica out, she says no. I say okay ... your shit's not so hot anyway.“ Ray stopped to check my reaction, then smiled. „All right, maybe I don't actually say all that. I just tell her okay, Monica, you know, we still tight. Next thing I know, she's hooked up with Steve ‘No Neck’ Yamaguchi, the two of 'em all holding hands and shit, like a couple of lovebirds. So fine - I figure there's more fish in the sea. I go ask Pamela out. She tells me she ain't going to the dance. I say cool. Get to the dance, guess who's standing there, got her arms around Rick Cook. ‘Hi, Ray,’ she says, like she don't know what's going down. Rick Cook! Now you know that guy ain't shit. Sorry-assed motherfucker got nothing on me, right? Nothing.“ (73) Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 17 Mieder_Autkorr_09-07-12 Ist das die ehrwürdige Sprache eines US Präsidenten? So könnte Obama heutzutage nie im Leben auftreten, aber dieser kurze Dialog mit mehreren Phraseologismen aus der Analsprache und der Sprichwortanspielung zeigen, dass hier ein Schriftsteller am Werke ist, ähnlich wie ja auch Winston S. Churchill seine gewaltige Karriere mit seinem Roman Savrola (1897) begonnen hat und schließlich für seine sprichwortreichen historisch-politischen Schriften 1953 den Nobelpreis für Literatur erhielt (Mieder / Bryan 1995). In der wohl doch zu oberflächlich und rasch durchgeführten Übersetzung von Matthias Fienbork gehen die analen Slangphraseologismen sowie das Tiersprichwort völlig verloren! „Nur weil die Mädchen nicht mit dir ausgehen, sind sie noch lange keine Rassisten.“ „Red keinen Stuss, Mann. Es ist doch nicht nur einmal passiert. Also, ich frage Monica, sie sagt nein, ich sage okay ... ist eh nicht so viel los mit dir.“ Ray hielt inne, um zu sehen, wie ich reagiere, und grinste dann. „Na ja, vielleicht nicht wortwörtlich. Ich hab nur gesagt, okay, Monica, weißt ja, wir gehören zusammen. Und was sehe ich? Sie ist mit Steve-‘No-Neck’-Yamaguchi zusammen, die beiden halten Händchen und turteln rum. Na schön, sie ist ja nicht die Einzige, sage ich mir. Ich frage Pamela. Sie sagt, sie hat keine Lust mitzukommen. Ich sage: Cool. Und rat mal, wen ich dann auf der Party sehe, die Arme um Rick Cook gelegt. ‘Hi, Ray’, sagt sie, ganz unschuldig. Rick Cook! Der Typ ist doch ne armselige Null. Dem bin ich doch haushoch überlegen, stimmt's? Haushoch.“ (89) Vielleicht hätte Matthias Fienbork sich doch die Mühe machen sollen, kurz in Karl Friedrich Wilhelm Wanders bewährtem Deutschem Sprichwörter-Lexikon (1867-1880) nachzuschlagen, und da hätte er das deutsche Äquivalenzsprichwort Es gibt noch so gute Fische im Meer, als man je daraus geholt hat rasch gefunden (Wander 1867, Bd. I, Sp. 1031, Nr. 71). Er hätte also ohne Weiteres Es gibt mehr Fische in der See (im Meer) übersetzen können, und auch für die anderen Redensarten hätte es gewiss bessere Möglichkeiten gegeben, den von Obama so gut getroffenen Schülerjargon wiederzugeben. Mein Interesse hier und an weiteren Beispielen ist absolut nicht, Fienborks an und für sich recht gute Übersetzung schlecht zu machen, weiß ich doch aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, gerade die sprichwörtliche Sprache zu übertragen. Dennoch sollten Übersetzer ganz allgemein sich mehr mit mono- und bilingualen Sprichwörtersammlungen befassen, die schließlich u. a. zusammengestellt werden, um exaktere Übersetzungen zu ermöglichen. Wolfgang Mieder 18 Mieder_Autkorr_09-07-12 Außerdem gelingen Fienbork eine ganze Reihe von Sprichwortübertragungen, und zwar besonders, wo er sich auf die exakten deutschen Entsprechungen beruft, also etwa: Water will find its own level. From time to time he [his father] would include advice [in his letters], usually in the form of aphorisms I didn't quite understand („Like water finding its level, you will arrive at a career that suits you“). (76) Das Wasser findet seinen Weg. Von Zeit zu Zeit erteilte er [sein Vater] Ratschläge [in seinen Briefen] in Form von Aphorismen, die ich nicht ganz verstand („Wie das Wasser seinen Weg findet, so wirst auch Du einen Beruf finden, der zu Dir passt“). (92) Bei solchen „Aphorismen“ des Vaters handelt es sich normalerweise um Sprichwörter, doch benutzt Obama in all seinen schriftlichen und mündlichen Aussagen meines Wissens nicht einmal den Begriff ‘proverb‘ (‘Sprichwort‘) als einleitende Kennzeichnung für Sprichwörter. Das gilt auch für Bibelsprichwörter, die er wiederholt wortwörtlich oder leicht abgewandelt verwendet, und für die es normalerweise dann auch im Deutschen und anderen Sprachen keine Übersetzungsschwierigkeiten gibt: The truth shall make you free. (John 8: 32) It was nice to believe that the truth would somehow set me free. But what if that was wrong? What if the truth only disappointed, and my father's death meant nothing, and his leaving me behind meant nothing, and the only tie that bound me to him, or to Africa, was a name, a blood type, or white people's scorn? (302) Die Wahrheit wird euch freimachen. (Johannes 8: 12) Ich stellte mir vor, dass mich die Wahrheit befreien würde. Und wenn das eine Chimäre war? Wenn die Wahrheit mich enttäuschen, der Tod meines Vaters mir nichts bedeuten würde, ebenso wenig wie die Tatsache, dass er mich im Stich gelassen hatte, und mich mit ihm oder Afrika nur ein Name verbinden würde, ein bestimmtes Blut oder die Verachtung der Weißen? (310) Völlig richtig geht der Übersetzer auch mit von Obama abgewandelten Sprichwörtern um, so zum Beispiel wenn das Sprichwort eigentlich Once a thief, always a thief lautet und Obama thief zu thug umändert: „‘Once a thug, always a thug’, Angela said“ (181) - „‘Einmal Gangster, immer Gangster’, sagte Angela“ (194). Das gilt auch für das folgende Beispiel, wo Obama das alte Sprichwort Desperate diseases must have desperate cures abwandelt: „Desperate times called for desperate measures, and for many blacks, times were chronically desperate“ (199-200) - „Hoffnungslose Zeiten verlangen unge- Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 19 Mieder_Autkorr_09-07-12 wöhnliche Maßnahmen, und aus Sicht vieler Schwarzer waren es chronisch hoffnungslose Zeiten“ (212). Ich sehe allerdings keinen Grund, warum der Übersetzer die dreimalige Verwendung des Adjektivs desperate (‘hoffnungslos’) nicht im Deutschen beibehalten hat. Die damit verbundene Parallelstruktur des Ausgangssprichworts wäre damit beibehalten worden und hätte wohl deutschen Lesern die Sprichwörtlichkeit der Aussage zugänglicher gemacht. Von besonderem Interesse ist der Versuch, das neuere amerikanische Sprichwort Go with the flow, das auch als sprichwörtliche Redensart to go with the flow kursiert, zu übersetzen. Gewiss, es besteht eine gewisse semantische Verbindung mit der älteren Redensart to swim with the stream, aber so ganz identisch sind sie doch wohl nicht. To swim with the stream wird wegen seiner eher negativen Semantik nicht als Sprichwort benutzt, während Go with the flow normalerweise als positiver Ratschlag eingesetzt wird. Doch hier nun die amerikanisch-deutschen Paralleltexte: Roy looked at me and smiled. „I can tell you worry too much, Barack. That's my problem as well. I think we need to learn to go with the flow. Isn't that what you say in America? Just go with the flow.“ (267) Roy sah mich lächelnd an. „Ich sehe dir an, dass du dir viele Sorgen machst, Barack. Das ist auch mein Problem. Wir müssen wohl lernen, gegen den Strom zu schwimmen. Sagt man nicht so - schwimm mit dem Strom? “ (276) Was ist Matthias Fienbork hier passiert? Wie kommt er dazu, to go with the flow durch gegen den Strom zu übersetzen? Hier liegt offensichtlich ein nicht beabsichtigter Fehler vor, denn auch sinngemäß müsste es ganz deutlich im Deutschen mit dem Strom heißen. Ich hätte aber auch das Wort Amerika nicht ausgelassen, denn es dreht sich doch gerade um etwas, was in eben diesem Land gesagt wird, und das ist nicht genau dasselbe wie in der alten europäischen Redensart mit dem Strom schwimmen. Und nun sitze ich Neunmalkluger (! ) auch fest. Denn wie ist das Wort flow zu übersetzen? Vielleicht mit Flut im Sinne von ‘Geh mit der Mehrheit’, denn darum dreht es sich schließlich. Allerdings geschieht es auch, dass ein Sprichwort unnötigerweise durch ein ideengleiches Sprichwort übersetzt wird, da es längst als Lehnübersetzung im Umlauf ist. In dem folgenden Gespräch gibt Roy bekannt, dass er in Amerika ein Importgeschäft mit afrikanischen Holzschnitzereien aufmachen will. Natürlich hat er bereits Geld für einige anscheinend wertlose Schnitzereien ausgegeben, die ihm als Muster dienen sollen. Ein zukünftiger Geschäftsmann muss, dem modernen Sprichwort You have to spend money to make money entsprechend, mit solchen Ausgaben zurechtkommen, denn ohne sie ist kein Geschäft aufzubauen: Wolfgang Mieder 20 Mieder_Autkorr_09-07-12 „I told you, these are just samples,“ he [Roy] said as he folded the carvings back in their wrapping. „An investment, so I will know what the market wants. You can't make money unless you spend money, eh, Barack? “ - „That's what they say.“ (360) „Wie gesagt, es sind nur Muster“, meinte er [Roy] und legte die Figuren wieder in die Verpackung. „Eine Investion. Damit ich weiß, was der Markt hergibt. Kein Gewinn ohne Risiko, stimmt's, Barack? “ - „Sagt man.“ (367) Baracks Antwort That's what they say (‘Sagt man’) weist direkt auf das bekannte Sprichwort hin, wobei die deutsche Formulierung Kein Gewinn ohne Risiko keine schlechte Entsprechung darstellt. Allerdings existiert das amerikanische Sprichwort längst im Deutschen als Lehnsprichwort in mehreren Varianten als Man muss Geld ausgeben, um Geld (welches) zu machen (bekommen, beschaffen, verdienen). Übersetzer können sich bei modernen Sprichwörtern also nicht unbedingt auf Sprichwörtersammlungen oder Wörterbücher verlassen, da diese leider die neuen Sprichwörter nur sehr vereinzelt registrieren (Doyle 1996, Mieder 2009b). Doch hier könnten selbstverständlich Google und andere Datenbanken sehr hilfreich sein, um festzustellen, ob ein fremdsprachliches Sprichwort bereits in der Zielsprache als Lehnübersetzung existiert. Obama hätte natürlich auch That's what the proverb says schreiben können, doch wie bereits gesagt, gehört dieser Begriff interessanterweise nicht zu seinem aktiven Wortschatz. Dabei hat er ein offensichtliches Interesse an Sprichwörtern und erweist sich in seiner Familiengeschichte sogar als ausgesprochener Ethnologe und Folklorist, der während seiner Afrikareise nach Kenia zu dem Luo-Stamm seines Vaters Volkserzählungen und Sprichwörter notiert hat. Im folgenden Beispiel kennzeichnet er ein afrikanisches Sprichwort als ‘saying’, was im Englischen oft als Synonym für ‘proverb’ benutzt wird. Es ist also absolut in Ordnung, wenn der Übersetzer hier den passenderen Begriff ‘Sprichwort’ anführt und den Text wörtlich übersetzt. In dem folgenden Gespräch geht es um die rechtlichen Streitereien bei der Auflösung der Erbanteile von Obamas Vater: „The lawyers are eating very well off this case, I believe. How does the saying go? When two locusts fight, it is always the crow who feasts.“ (382) „Die [Rechtsanwälte] verdienen ganz ordentlich an diesem Streit. Wie lautet das Sprichwort? Wenn zwei Heuschrecken sich streiten, freut sich die Krähe.“ (387) Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 21 Mieder_Autkorr_09-07-12 Wenige Seiten später kommt es dann sogar zu einer regelrechten Sprichwörteranhäufung von der Luo sprechenden Granny (Großmutter), die dann von Auma (Obamas Schwester) für den Bruder wörtlich übersetzt werden, und diese Vorgangsweise befolgt dann folgerichtig auch der deutsche Übersetzer mehr oder weniger. Es dreht sich in diesem mit sexuellem Humor versehenen Gespräch um den Brauch des vorehelichen Geschlechtsverkehrs und die Rolle der Frau in der Luogemeinschaft überhaupt: „They say that this thing about grabbing the woman was part of Luo custom. Traditionally, once the man pays the dowry, the woman must not seem too eager to be with him. She pretends to refuse him, and so the man's friends must capture her and take her back to his hut. Only after this ritual do they perform a proper marriage ceremony.“ Auma [Obama's Sister] took a small bite of her food. „I told them that in such a custom some women might not have been pretending. [...] I asked her [Granny, the grandmother] if the man would force the girl to sleep with him the night of her capture, [...], and she told me that no one knew what went on in a man's hut. But she also asked me how a man would know if he wanted the whole bowl of soup unless he first had a taste.“ (404-405) Sie sagen, das sei Luo Tradition gewesen. Der Mann entrichtet das Brautgeld, und die Frau darf nicht allzu willig erscheinen. Sie muss die Unwillige spielen, woraufhin sie von den Freunden des Mannes entführt und in seine Hütte gebracht wird. Erst nach diesem Ritual findet die eigentliche Hochzeitsfeier statt [hier fehlt etwas in der deutschen Übersetzung]. Ich [Auma, Obamas Schwester] habe geantwortet, dass bei einem solchen Brauch manche Frauen die Unwillige bestimmt nicht nur gespielt haben. [...] Ich habe sie [Granny, die Großmutter] gefragt, ob das Mädchen mit dem Mann am Tag ihrer Entführung schlafen musste, [...]. Sie meinte, dass niemand wusste, was in der Hütte eines Mannes vor sich ging. Aber sie fragte auch, wie der Mann denn wissen sollte, wie die Suppe schmeckt, wenn er nicht vorher ein bisschen davon probiert.“ (407-408) Anschließend versucht Granny noch, den jungen Leuten mit zwei weiteren Sprichwörtern das traditionelle Leben der Luo zu erklären, und macht ihnen auf diese Weise klar, dass sie als junge Frau damals das Leben nicht anders kannte: „Our women have carried a heavy load. If one is a fish, one does not try to fly - one swims with the other fish. One only knows what one knows. Perhaps if I were young today, I would not have accepted these things. Perhaps I would only care about my feelings, and falling in love. But that's not the world I was raised in. I only know what I have seen. What I have not seen doesn't make my heart heavy.“ I [Barack] leaned back on the mat and thought about what Granny had said. There was a certain wisdom there, I supposed; she was speaking of a different time, another place. (406) Wolfgang Mieder 22 Mieder_Autkorr_09-07-12 „Bei uns haben die Frauen ein schweres Los ertragen. Wer ein Fisch ist, versucht nicht zu fliegen - man schwimmt mit den anderen. Man weiß nur, was man weiß. Wenn ich heute jung wäre, hätte ich diese Dinge vielleicht nicht akzeptiert. Vielleicht wären mir meine Gefühle wichtiger, und ich würde mich verlieben wollen. Aber ich bin in einer anderen Welt aufgewachsen. Ich kenne nur, was ich gesehen habe. Was ich nicht gesehen habe, das bedrückt mich nicht.“ [fehlende Übersetzung]. Aus Grannys Worten sprach eine andere Zeit [und ein anderer Platz]. Und Weisheit. (408-409) Grannys drei Sprichwörter Man weiß nicht, ob man die ganze Suppenschüssel will bis man sie zuerst geschmeckt hat, Wer ein Fisch ist, versucht nicht zu fliegen und Man weiß nur, was man weiß, die dann von dem Ethnolgen Obama als „Weisheit“ einer anderen Zeit charakterisiert werden, zeigen in der Tat eine andere Mentalität auf. Aber es gibt für Barack Obama gerade in dieser Aussage der Granny noch zwei sehr gewichtige Begriffe, nämlich world (‘Welt’) und place (‘Platz’), wobei der Übersetzer den letzteren leider unterschlagen hat. Für Obamas persönliches Lebensverständnis aber sind einmal der ‘Platz’ (Ort, Lokalisierung) und zum anderen die ‘Welt’ an sich Grundbegriffe, die seine innersten Überzeugungen ausdrücken. Der einzelne Mensch ist selbstverständlich an seinen im Prinzip kleinen Lebensraum mit all seinen Traditionen und Aufgaben gebunden, gleichzeitig aber ist jeder Mensch ein wenn auch winziger Teil der gesamten Welt. Das gilt ebenfalls für geografische beziehungsweise politische Dimensionen, und so ist etwa Obamas Chicago nur Teil des Staates Illinois und dieser wieder nur einer der fünfzig Vereinigten Staaten und dieses große Land nur ein Teil der ganzen Welt. Die gesamte Welt aber ist eine Gemeinschaft, die die Menschen global zusammenbindet. Mit solchem Weltverständnis hat eine auf Menschlichkeit beruhende Globalisierung vielleicht eine Chance, wie Obama es wiederholt mit einigen leitmotivisch verwendeten Sprichwörtern als mutige Hoffnung zum Ausdruck gebracht hat. Und es gibt in seinem „früh“-biografischen Buch etwa in der Mitte eine Stelle, wo Barack Obama all dies durch ein neues amerikanisches Sprichwort ausdrückt, wobei dieses wiederum von einem früheren Sprichwort ausgeht, dessen Weisheit sich sogar bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Es gehört allerdings ein gewisser und wohl auch akribischer Spürsinn für Sprichwörter dazu, um diesen zweimal auftretenden Text zu entschlüsseln. Dem - wie gesagt - durchaus fähigen Übersetzer Matthias Fienbork ist das Sprichwort leider entgangen, obwohl er doch sicherlich die literarische Kulturmündigkeit besitzt, um William Shakespeares All the world's a stage aus dem Lustspiel As You Like It (1599) hinter Obamas The world is a place zu verspüren. Die Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 23 Mieder_Autkorr_09-07-12 Vorstellung der Welt als Theater bestand bereits in der Antike, und das lateinische Sprichwort Totus mundus agit histrionem (wörtl.: Die ganze Welt spielt Theater) stand als Inschrift am Shakespeare'schen Globe Theatre (Scholze- Stubenrecht 1993, S. 160). Auf Englisch sind Varianten des Sprichwortes seit dem frühen 16. Jahrhundert überliefert, bis es dann durch Shakespeare als „All the world's a stage, And all the men and women merely players“ (II, vii, 139) eine gewisse Fixiertheit bekam, wobei die einfachere Variante The world is a stage ebenfalls weiterhin fortlebte (Wilson 1970, S. 918; Mieder / Kingsbury / Harder 1992, S. 677, Nr. 2 und S. 678). Ins Deutsche wurde das Sprichwort durch August Wilhelm Schlegels Übersetzung „Die ganze Welt ist Bühne, Und alle Frauen und Männer bloße Spieler“ entlehnt, wo es zusätzlich in der Variante Das ganze Leben ist ein Theater tradiert wird (Büchmann 1995, S. 268). Natürlich aber existieren im Deutschen auch die dem Englischen verwandten Kurzformen Die ganze Welt ist ein Schauspiel (Wander 1880, Bd. IV, Sp. 161, Nr. 99) und Die Welt ist ein Theater (ebd., Sp. 164, Nr. 183). In der Verwendung des Sprichwortes bei Obama kommt noch hinzu, dass dieser an der modernen Musikszene interessierte Zeitgenosse folgendes Sprichwortlied The World is a Place (1976) der „Rhythm“-Gruppe im Sinn hatte, wo die relativ neue Variante The world is a place durch die Vorstellung einer ethisch verbundenen Welt exemplifiziert wird: The world is a place for the whole human race to live and relate as brothers. People's eyes are filled with tears and pain. Who's to say your life ain't worth a thing? What can we do to build a house with joy? Spread some love to every girl and boy. It's a place for the human race to live and relate as brothers. (http: / / www.youtube.com/ watch? v=LzAEQunS-YA) Zweifelsohne drückt dieses populäre Lied das ethische Wertsystem Obamas aus, das die ganze Welt als brüderlich-schwesterliche Gemeinschaft in einem großen Welthaus betrachtet. Das alles ist von Bedeutung, wenn man das folgende Gespräch zwischen Obama und seinem Freund Johnnie auf einer Straße in Chicago in seiner Autobiografie liest: Wolfgang Mieder 24 Mieder_Autkorr_09-07-12 [Johnnie]: „I'm telling you, man, the world's a place.“ [Obama]: „Say, the world is a place, huh.“ [Johnnie]: „That's just what I'm saying.“ (249) [Johnnie]: „Mann, ich sag dir, es geht verrückt zu in der Welt.“ [Obama]: „Ja, das Leben ist verrückt.“ [Johnnie]: „Sag ich doch.“ (260) Um seine sprichwörtliche Aussage, dass die Welt ein interessanter Platz mit allen möglichen Geschehnissen und Zuständen ist, noch zu verstärken, fügt der Freund einen kurzen Bericht hinzu, in dem ein junges weißes Mädchen von einem hohen Gebäude in den Tod gesprungen ist. Zum Schluss verfällt der Freund dann in einen skatologischen Straßenslang, der von Obama mit der Wiederholung des Sprichwortes kommentiert wird: „So that's what I'm saying, Barack. Whole panorama of life out there. Crazy shit going on. You got to ask yourself, is this kinda stuff happening elsewhere? Is there a precedent for all of this shit? You ever ask yourself that? “ „The world's a place,“ I repeated. „See there! It's serious, man.“ (251) „Genau das meine ich, Barack. Das ganze Leben. Dieser ganze Wahnsinn. Da fragt man sich: Passiert das überall? Gibt es irgendeinen Grund für diese ganze Scheiße? Fragst du dich das manchmal auch? “ „Die Welt ist verrückt“, wiederhole ich. „Sag ich doch, Mann.“ (261) Was in diesen beiden kurzen Gesprächen mit dem Sprichwort The world's a place zum Ausdruck kommt ist, dass es sich bei diesem modernen Sprichwort nicht so sehr um ein Antisprichwort zu The world's a stage handelt (Litovkina / Mieder 2006), sondern um eine semantische Erweiterung des älteren Sprichwortes. Das neue Sprichwort drückt aus, dass alle möglichen Dinge auf der Welt passieren, die wir nicht kontrollieren oder gar verstehen können. Aber deshalb müssen wir nicht verzweifeln, denn jene „stubborn ideas - survival, and freedom, and hope“ (273; „unbeugsame Ideen - Überleben, Freiheit, Hoffnung“, 281), wie Obama schreibt, werden sich behaupten und den Kampf für Veränderung und Fortschritt weiterführen. Unsere globale Zusammengehörigkeit erfordert von uns ein neues Weltverständnis, wo die Welt ein sicherer Platz für alle Menschen ist. Wenn nun aber die deutsche Übersetzung die Welt ganz einfach für verrückt erklärt und auch das moderne Sprichwort damit unterschlägt, so schießt sie nicht nur parömiologisch, sondern auch se- Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 25 Mieder_Autkorr_09-07-12 mantisch an der eigentlich positiv gemeinten Botschaft dieses Zentralkapitels des ganzen Buches vorbei. Obama glaubt fest daran, dass die Welt ein Platz ist, wo durch Ethik, Hoffnung und guten Willen ein besseres Dasein für alle Menschen zu finden ist, oder sprichwörtlich ausgedrückt, wo alle das Recht auf einen Platz an der Sonne haben können. Im Epilog zu seiner zukunftsträchtigen Autobiografie, die im Goethe'schen Sinne als schriftstellerische „Dichtung und Wahrheit“ charakterisiert werden kann, spricht Obama dann bereits hier das bis heute immer wieder von ihm wiederholte Grundmotiv seines ethischen Weltverständnisses aus, das 1776 von Thomas Jefferson in der Declaration of Independence so eloquent zum Ausdruck gebracht wurde (Aron 2008, S. 91-96). Er spricht hier auch von „the voices of the people“ (437; „die Stimmen der Leute“, 439), die und auf die er immer hört, und als Sprichwortforscher denkt man dabei sogleich an das klassische und in viele Sprachen lehnübersetzte Sprichwort Vox populi, vox dei (Gallacher 1945). Vor allem aber sind das längst zum Sprichwort gewordene All men are created equal und die sprichwörtliche Triade Life, liberty and the pursuit of happiness Obamas Leitmotive für diese bessere Welteinrichtung: We hold these truths to be self-evident [that all men are created equal. That they are endowed by their Creator with certain inalienable rights. That among these are life, liberty and the pursiuit of happiness]. In those words [of the beginning of the Declaration of Independence], I hear [...] the voices of the people [...]. (437) Wir erachten diese Wahrheiten als selbstverständlich [, daß alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichten Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören]. In diesen Worten [des Anfangs der Unabhängigkeitserklärung] höre ich [...] die Stimmen der Leute [...]. (439) Barack Obama braucht für seine amerikanischen Leser diese sprichwörtlichen Sätze aus der Unabhängigkeitserklärung natürlich nicht zu zitieren, aber in den Übersetzungen hätte man diese vielleicht ergänzen sollen. Doch wie dem auch sei, als menschenrechtliche Leitbilder spricht Obama sie immer wieder aus, und das ist auch der Fall in seinem zweiten Buch mit dem so angebrachten Titel The Audacity of Hope. Thoughts on Reclaiming the American Dream (2006), das im Deutschen in der Übersetzung von Helmut Dierlamm und Ursel Schäfer als Hoffnung wagen. Gedanken zur Rückbesinnung auf den American Dream (2007) erschienen ist. 2 2 Seitenangaben ohne Autorennennung bei den im Folgenden zitierten Auszügen aus The Audacity of Hope / Hoffnung wagen beziehen sich jeweils auf diese Ausgaben. Wolfgang Mieder 26 Mieder_Autkorr_09-07-12 Nachdem er das sprichwörtliche Credo aus der Unabhängigkeitserklärung in seiner großen Parteitagsrede der Demokraten am 27. Juli 2004 in Boston, die ihn als wenig bekannten US Senator fast über Nacht zu einem Spitzenpolitiker machte, wortwörtlich zitiert hatte (Mieder 2009c, S. 110), taucht es erwartungsgemäß in dem Kapitel über ethische „Werte“ in seinem zweiten Buch erneut auf: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Those simple words are our starting point as Americans; they describe not only the foundation of our government but the substance of our common creed. Not every American may be able to recite them; few, if asked, could trace the genesis of the Declaration of Independence to its roots in eighteenth-century liberal and republican thought. But the essential idea behind the declaration - that we are born into this world free, all of us; that each of us arrives with a bundle of rights that can't be taken away by any person or any state without just cause; that through our own agency we can, and must, make our lives what we will - is one that every American understands. It orients us, sets our course, each and every day. (53) „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichten Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ Diese einfachen Worte aus unserer Verfassung sind der Ausgangspunkt unserer Geschichte als Amerikaner. Sie sind nicht nur die Gründungserklärung unseres Staates, sondern auch die Substanz unserer gemeinsamen Weltanschauung. Wahrscheinlich kann sie nicht jeder Amerikaner auswendig, und nur wenige könnten die Entstehung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung auf ihre Ursprünge im liberalen und republikanischen Denken des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Doch die zentralen Gedanken, die der Erklärung zugrunde liegen: das wir frei geboren werden, und zwar alle; dass wir alle von Geburt an eine Reihe von Rechten haben, die uns kein Staat und keine Person ohne gerechten Grund nehmen darf; dass wir durch unser eigenes Handeln aus unserem Leben machen können und müssen, was wir wollen; das sind Gedanken, die alle Amerikaner verstehen. Sie dienen uns jeden Tag zur Orientierung und Kursbestimmung. (75) In diesem Auszug aus seinem Buch über Amerika bezieht sich Obama selbstverständlich auf die amerikanische Bevölkerung, aber in seinen großen Reden in Straßburg (3. April 2009) und Kairo (4. June 2009) zum Beispiel „internationalisiert“ Obama diese grundsätzlichen Menschenrechte. Parömiologisch gesehen geht dabei selbstverständlich das emotionale Element des sprich- Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 27 Mieder_Autkorr_09-07-12 wörtlichen Credo verloren, da dieses in anderen Sprachen nicht als Sprichwort aufgefasst wird, egal wie gut die Übersetzung sein mag. Das Problem der Nulläquivalenz ergibt sich bei der Übersetzung von Texten Obamas immer wieder, weil er als sprachbewusster Autor und Redner oft auf amerikanische Sprichwörter zurückgreift, die in anderen Sprachen nicht existieren. Das ist ganz besonders der Fall, wenn er aus dem reichhaltigen Sprichwortgut der schwarzen Amerikaner schöpft (Daniel 1973; Mieder 1989, S. 111-128; Prahlad 1996), das übrigens auch vielen Amerikanern nicht bekannt sein dürfte. So spricht Obama in seiner Biografie davon, dass es unter Schwarzen leider das Stereotyp gibt, hellhäutige Schwarze seien besser als dunkelhäutige. Dieses Vorurteil hat sich als als doppelt gereimtes Sprichwort verfestigt, was in der Übersetzung verloren geht: I'd become familiar with the lexicon of color consciousness within the black communiy - good hair, bad hair; thick lips or thin; if you're light, you're all right; if you're black, get back. (193) Mir waren die Stichworte des schwarzen Bewusstseins vertraut geworden - gutes Haar, schlechtes Haar, dicke Lippen, dünne Lippen, hellhäutig besser als schwarz. (205) Von Interesse ist auch Obamas Erwähnung eines Plakats mit einem Sprichwort, das mir als Parömiologen nicht bekannt war. Dennoch ist es unter Schwarzen gang und gäbe und drückt hoffnungsreich aus, dass auch arme Menschen wertvolle Menschen sind: [...] a poster of a young black boy that read „God Don't Make No Junk.“ (232) [...] ein Plakat, das einen schwarzen Teenager mit der Textzeile „Gott produziert keinen Ausschuss“ zeigte. (243) Indem Obama die ungrammatische Umgangssprache des Ghettos in Chicago zitiert, zeigt er sich erneut als ein an Sprachnuancen interessierter Autor. Das Sprichwort entsprechend zu übersetzen, ist fast unmöglich, aber Wörter wie produzieren und Ausschuss scheinen mir nicht „sprichwortgemäß“ zu sein. Vielleicht wären die Varianten Gott tut nicht Mist machen oder auch Gott macht (baut) keinen Mist besser. Dabei käme dann die deutsche Redensart Mist machen (bauen) zur Geltung (Röhrich 1991/ 92, Bd. II, S. 1036-1037), die die Sprichwörtlichkeit des Originaltexts bewahren würde. Ein drittes afroamerikanisches Sprichwort, das ebenfalls nicht unbedingt allen Amerikanern geläufig ist, lautet God can (will) make a way out of no way, und es drückt den Glauben und die Hoffnung aus, dass Gott der schwarzen Bevöl- Wolfgang Mieder 28 Mieder_Autkorr_09-07-12 kerung auf ihrem Weg aus der sozialen Misere helfen wird. Das Sprichwort existiert auch in der säkularisierten Kurzfassung Making a way out of no way, und so wird es von Obama in seinem Buch Audacity of Hope / Hoffnung wagen zitiert, obwohl er sich gleichzeitig dennoch auf das Wort Gottes bezieht. Die Übersetzer haben ihr Bestes getan, aber deutsche Leser werden sich fragen, warum diese Aussage in Anführungsstrichen steht. Es ist ja kein Zitat aus der Bibel, und Obama hat es lediglich als Volkssprichwort in seinem Text hervorgehoben: In the day-to-day work of the men and women I met in church each day, in their ability to „make a way out of no way“ and maintain hope and dignity in the direst of circumstances, I could see the words made manifest. (207) In der Alltagsarbeit der Männer und Frauen, die mir jeden Tag in der Kirche begegneten, in der Art, wie es ihnen gelang, „einen Weg aus der Ausweglosigkeit zu finden“ und Hoffnung und Würde noch unter den schwierigsten Umständen zu bewahren, erkannte ich das Fleisch gewordene Wort. (267) Wenn die Übersetzer sich die Mühe gemacht hätten, diesen Text über Google im Internet abzurufen, hätten sie feststellen können, dass es sich um ein geläufiges Sprichwort handelt, das übrigens in beiden Varianten mehrmals auch von Martin Luther King benutzt wurde (Mieder 2011). Obama, der vor allem Abraham Lincoln, Frederick Douglass (vgl. Mieder 2001) und Martin Luther King zu seinen Vorbildern erklärt hat, kannte das Sprichwort wahrscheinlich aus der mündlichen Überlieferung, wobei eine Beeinflussung durch King nicht auszuschließen ist. Aus dem Buch Audacity of Hope / Hoffnung wagen lassen sich etliche Beispiele anführen, wo die Übersetzer Helmut Dierlamm und Ursel Schäfer die von Barack Obama verwendeten Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten nicht beachtet haben. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass sie wenig Interesse an der metaphorischen Sprache haben und demnach manches Redensartliche ausgelassen haben. Wo sie ein amerikanisches Sprichwort ohne deutsches Äquivalent wörtlich übersetzen, geht dann leider die Sprichwortstruktur wegen der deutschen Syntaxregeln verloren: There is a saying in Illinois politics that „signs don't vote,“ meaning that you can't judge a race by how many signs a candidate has. (112) Es gibt ein Sprichwort in der Politik von Illinois, dass „Plakate nicht wählen“, will sagen, dass man die Chancen in einem Wahlkampf nicht danach beurteilen kann, wie viele Plakate für einen Kandidaten werben. (150) Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 29 Mieder_Autkorr_09-07-12 Zu beachten ist hier erneut, dass Obama den Begriff ‘saying’ statt ‘proverb’ vorzieht und die Bedeutung des nur regional bekannten Sprichwortes erläutert. Für die beiden Übersetzer hätte er das freilich ebenfalls für das nur angedeutete Sprichwort The best-laid plans of mice and men often go astray tun sollen, das auf eine Zeile des Gedichts To a Mouse (1786) des schottischen Dichters Robert Burns zurückgeht (Mieder / Kingsbury / Harder 1992, S. 467, Nr. 2; Shapiro 2006, S. 118, Nr. 3). Da das ursprünglich geflügelte Wort geschweige denn das Sprichwort im Deutschen nicht gängig geworden ist, haben die Übersetzer die Anspielung zwar sinngemäß verdeutscht, aber die Sprichwörtlichkeit ist völlig abhanden gekommen. Das noch dazukommende Sprichwort War is hell, das von Obama durch die Verwendung des Konjunktivs etwas entstellt wird, klingt dagegen in der deutschen Fassung weiterhin mit. Wie dem auch sei, für amerikanische Leser sind beide Sprichwörter erkennbar, aber indem Obama sie nicht als traditionelle Weisheitsregeln in ihrem ursprünglichen Wortlaut integriert, entfällt die gewisse Didaktik, die eine doppelte Sprichwortverwendung mit sich bringen würde oder könnte. Barack Obama will sich nicht unbedingt als Lehrmeister der Nation ausgeben, obwohl er das, um ehrlich zu sein, schon hin und wieder in diesem Buch und auch in seinen Reden tut: When I ponder the work of a George Kennan or a George Marshall, when I read the speeches of a Bobby Kennedy or an [Senator] Everett Dirksen, I can't help feeling that the politics of today suffer from a case of arrested development. For these men, the issues America faced were never abstract and hence never simple. War might be hell and still be the right thing to do. Economies could collapse despite the best-laid plans. People could work hard all their lives and still lose everything. (36) Wenn ich an die Arbeit eines George Kennan oder eines George Marshall denke oder wenn ich die Reden von Robert Kennedy oder [Senator] Everett Dirksen lese, kann ich mich trotz allem des Eindrucks nicht erwehren, dass die Politik von heute unter einer schweren Lähmung leidet. Für die erwähnten Männer waren die Probleme, mit denen Amerika konfrontiert war, niemals abstrakt und deshalb niemals einfach. Ein Krieg konnte die Hölle sein und trotzdem das Richtige. Eine Volkswirtschaft konnte trotz hervorragend ausgearbeiteter Pläne zusammenbrechen. Menschen konnten ihr ganzes Leben hart arbeiten und trotzdem alles verlieren. (54) Hier sind noch einige weitere nur kurz im Kontext angegebene Sprichwörter, die Obamas Vorliebe für angloamerikanisches Sprichwortgut erkennen lassen. Liest man dann die Übersetzung, so ist von dieser offensichtlichen Sprichwörtlichkeit des Obama'schen Stils kaum noch etwas zu merken. Im ersten Beispiel dreht es sich um das alte Sprichwort Old habits die hard, wofür es das Wolfgang Mieder 30 Mieder_Autkorr_09-07-12 deutsche Partialäquivalent Alte Gewohnheit lässt sich schwerlich verändern (Wander 1867, Bd. I, Sp. 1679, Nr. 3) gibt, die man in die Pluralform abändern könnte. Die Übersetzung Alte Gewohnheiten sind schwer auszurotten trifft eigentlich gut zu, nur bleibt von dem Sprichwortstil Obamas nichts übrig: Old habits die hard, and there is always a fear on the part of many minorities that unless racial discrimination, past and present, stays on the front burner, white America will be let off the hook and hard-earned gains may be reversed. (248) Alte Gewohnheiten sind schwer auszurotten, und viele Angehörige von Minderheiten sind der Ansicht, dass die Rassendiskriminierung in Vergangenheit und Gegenwart Thema bleiben muß, weil das weiße Amerika sonst vom Haken gelassen wird und hart erkämpfte Fortschritte wieder rückgängig gemacht werden. (319) Auch dieses zweite Beispiel zeigt erneut, dass die beiden Übersetzer wohl ihr Bestes getan haben. Immerhin behalten sie von dem englischen Sprichwort Look before you leap den Sprung bei, und indem sie die deutsche sprichwörtliche Redensart den Sprung wagen (Schemann 1993, S. 783) anwenden, bleibt etwas Sprichwörtliches bestehen. Andere Äquivalente wären Erst besinn's, dann beginn's oder Erst wägen, dann wagen (Mieder 1988, S. 76, Nr. 608), wobei das zweite Sprichwort ohne Weiteres hätte benutzt werden können: Just as important, the painstaking process of building coalitions forces us to listen to other points of view and therefore look before we leap. (310) Genauso wichtig ist es, dass der mühsame Aufbau einer Koalitionsstreitmacht uns dazu zwingt, andere Ansichten zu hören und uns umfassend zu informieren, bevor wir den Sprung wagen. (397) Ein drittes Beispiel sei noch genannt, wo Obama das moderne amerikanische Sprichwort Been there, done that benutzt, und wo uns die bilingualen Sprichwörtersammlungen und Wörterbücher mit möglichen Entsprechungen nicht weiterhelfen. Es ist seit etwa zwanzig Jahren ungemein beliebt in Amerika und bedeutet so viel wie ‘etwas schon kennen bzw. schon erlebt haben’: I looked behind me and noticed [Senator Dick] Lugar standing toward the back of the room. „You don't want a closer look, Dick? “ I asked, taking a few steps back myself. „Been there, done that,“ he said with a smile. (312) Ich sah mich um und merkte, dass [Senator Dick] Lugar sich nach hinten in den Raum zurückgezogen hatte. „Wollen Sie sich das nicht genauer ansehen, Dick? “, fragte ich, während ich selbst ein paar Schritte zurückwich. „War schon da, kenne ich schon“, sagte er grinsend. (401) Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 31 Mieder_Autkorr_09-07-12 Die Übersetzung ist an und für sich in Ordnung, und ich weiß auch nicht, wie man das neue Sprichwort besser übertragen könnte. Es sei denn, es gibt inzwischen unter deutschen Jugendlichen ein neues deutsches Sprichwort, das dem Sinngehalt und möglichst auch der Struktur der amerikanischen Vorlage entspricht. All dies soll nicht heißen, dass den beiden Übersetzern nicht doch perfekte Sprichwörterübertragungen gelingen, und zwar vor allem dann, wenn es das vorliegende Sprichwort in beiden Sprachen gibt. Dafür hier noch einmal drei von mir nicht weiter kommentierte kurze Beispiele, wobei es sich bei dem zweiten um ein international verbreitetes Bibelsprichwort (Matthäus 22: 21) handelt: After all, talk is cheap; like any value, empathy must be acted upon. (68) Reden kostet nichts; wie bei allen Werten muss auch das Einfühlungsvermögen praktische Konsequenzen haben. (95) The reluctance on the part of many evangelicals to be drawn into politics - their inward focus on individual salvation and willingness to render unto Caesar what is his - might have endured indefinitely had it not been for the social upheavals of the sixties. (200) Das Widerstreben vieler Evangeliker, sich in die Politik hineinziehen zu lassen - ihre Innerlichkeit, ihre Konzentration auf die individuelle Erlösung, ihre Einstellung, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist - , könnte für immer Bestand gehabt haben, wenn es nicht die sozialen Unruhen der sechziger Jahre gegeben hätte. (259) But as much as I insist that things have gotten better, I am mindful of this truth as well: Better isn't good enough. (233) So sehr ich jedoch darauf bestehe, dass die Verhältnisse besser geworden sind, so sehr bestehe ich auch auf einer zweiten Wahrheit: Besser ist nicht gut genug. (300) Das letzte Beispiel bezieht sich auf die verbesserten Zustände der schwarzen Amerikaner, doch betont Barack Obama mit dem Sprichwort Better isn't good enough, dass es bei allem Fortschritt immer noch große soziale, wirtschaftliche und leider auch rassistische Probleme gibt. Immer wieder hebt er hervor, dass alle Bürger der Vereinigten Staaten eine große einheitliche Familie darstellen sollten, und dafür dient ihm das lateinische Sprichwort E pluribus unum, das bei Virgil E pluribus unus (Shapiro 2006, S. 791, Nr. 22) lautet, als treffender Slogan, der übrigens seit 1782 auf dem Wappen der Nation steht (Burrell 1997, S. 187-188; Aron 2008, S. 23-25). Anfangs drückte das lateini- Wolfgang Mieder 32 Mieder_Autkorr_09-07-12 sche Sprichwort die politische Vereinigung der jungen Demokratie aus, doch wird es heute immer mehr als vereinigendes Prinzip der so differenzierten Bevölkerung des Landes bezogen. So war es ein großer politischer Coup, als Obama sich mit seiner unvergesslichen Rede auf dem bereits erwähnten Parteitag der Demokraten am 27. Juli 2004 in Boston mit diesem Sprichwort als der große Vereiniger aller Amerikaner profilierte. Er hatte Millionen von Fernsehzuschauern bereits mit dem an sich interrogativen Bibelsprichwort Am I my brother's keeper (Genesis 4: 9) auf die Idee einer zusammenhängenden nationalen Großfamilie vorbereitet, indem er die Bibelfrage in einen indikativen Satz umwandelte und den Brüdern die Schwestern, die die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, hinzugesellte. Natürlich tat der damalige Senator auch gut daran, dem dann folgenden lateinischen Sprichwort die englische Lehnübersetzung Out of many, one hinzuzufügen, denn ganz so lateinfest sind seine Mitbürger nun doch nicht. All dies erweist Obama als effektiven Rhetoriker, der sehr gut Bescheid weiß über die kommunikative Aussagekraft von Bibel- und Volkssprichwörtern: A belief that we are connected as one people. If there's a child on the south side of Chicago who can't read, that matters to me, even if it's not my child. If there's a senior citizen somewhere who can't pay for her prescription and has to choose between medicine and the rent, that makes my life poorer, even if it's not my grandmother. If there's an Arab American family being rounded up without benefit of an attorney or due process, that threatens my civil liberties. It's that fundamental belief - I am my brother's keeper, I am my sister's keeper - that makes this country work. It's what allows us to pursue our individual dreams, yet still come together as a single American family. „E pluribus unum.“ Out of many, one. (Mieder 2009c, S. 111; diese zweisprachige Formulierung erscheint auch in Obamas Rede vom 4. Juni 2009 an der Universität Kairo) Ein Glaube, dass wir als Menschen miteinander verbunden sind. Wenn es auf der Südseite von Chicago ein Kind gibt, das nicht lesen kann, dann geht mich das an, auch wenn es nicht mein Kind ist. Wenn es irgendwo eine Seniorin gibt, die nicht für ihre Medikamente bezahlen kann und zwischen Medizin und Miete wählen muss, das macht mein Leben ärmer, auch wenn es nicht meine Großmutter ist. Wenn es eine arabisch-amerikanische Familie gibt, die ohne Beihilfe eines Anwalts oder rechtmäßigen Vorgangs abgeholt wird, das bedroht meine Zivilrechte. Es ist dieser grundsätzliche Glaube - ich bin meines Bruders Hüter, ich bin meiner Schwester Hüter - weshalb dieses Land funktioniert. Deshalb ist es uns erlaubt, unseren individuellen Träumen zu folgen und doch als eine einzige amerikanische Familie zusammenzukommen. „E pluribus unum.“ Aus vielen, eins. [meine Übersetzung] In seiner Siegesrede als neu gewählter Präsident am 4. November 2008 in Chicago kam Obama ganz zum Schluss auf dieses Sprichwort zurück, das er Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 33 Mieder_Autkorr_09-07-12 dieses Mal als truth (‘Wahrheit’) und als Ausdruck des „American Dream“ völlig richtig nur auf Englisch zitierte. Als er dann noch seinen so einflussreichen Slogan Yes We Can hinzufügte, war das Volk voller Begeisterung für den charismatischen Mann, der ihm mit seiner sprichwörtlichen Rhetorik Hoffnung für eine bessere Zukunft für alle versprach: This is our moment. This is our time - to put our people back to work and open doors of opportunity for our kids; to restore prosperity and promote the cause of peace; to reclaim the American Dream and reaffirm that fundamental truth - that out of many, we are one; that while we breathe, we hope, and where we are met with cynicism, and doubt, and those who tell us that we can't, we will respond with that timeless creed that sums up the spirit of a people: Yes We Can. (Mieder 2009c, S. 132) Dies ist unser Augenblick. Dies ist unsere Zeit - unseren Mitbürgern wieder zur Arbeit zu verhelfen und unseren Kinder die Türen zu neuen Chancen zu eröffnen; den Wohlstand zu erneuern und Frieden zu fordern, den Amerikanischen Traum zurückzugewinnen und unsere fundamentale Wahrheit zu bekräftigen - dass wir aus vielen doch eins sind; dass wir hoffen, solange wir atmen. Und wo wir auf Zynismus und Zweifel treffen, und auf jene, die uns sagen, dass wir es nicht schaffen können, dort werden wir mit der zeitlosen Überzeugung antworten, die den Geist dieses Volkes ausmacht: Ja, wir können. (Heinze / Meyer (Hg.) 2009, S. 129) Die „fundamentale Wahrheit“, die, wie gesagt, bis auf Virgil zurückgeht, wird jedoch in der deutschen Übersetzung kaum als Sprichwort erkannt werden, und zwar auch deshalb, weil die lateinische Fassung nicht in den gängigen deutschen Zitatenlexika steht (vgl. etwa Bayer 1994; Büchmann 1995; Kasper 1996). So geht bei aller Übersetzungskunst die so beeindruckende Sprichwörtlichkeit Obamas immer wieder verloren. Zum Teil passiert das selbst, wenn der bibelfeste Obama ein Bibelsprichwort zitiert oder auch nur darauf anspielt. Die Übersetzung, Verbreitung, Geläufigkeit und Bekanntheit von Bibelsprichwörtern ist ja nicht identisch von Sprachkultur zu Sprachkultur, und zu diesem Problemkreis gibt es geradezu ein Paradebeispiel, was uns zum Schlussteil dieses Beitrags noch etwas tiefer in die (inter-)nationale Sprichwortpraxis Barack Obamas eindringen lässt. Den Hintergrund dazu habe ich in meinem Buch „ A House Divided “. From Biblical Proverb to Lincoln and Beyond (1998) geliefert. Dort zeige ich, dass das Bibelsprichwort A house divided against itself cannot stand (Mark 3: 25) aus der so einflussreichen King James Bibelübersetzung von 1611 vor allem durch die wiederholte Verwendung von Abraham Lincoln vor dem amerikanischen Bürgerkrieg zu einem äußerst bekannten Volkssprichwort geworden ist. Inzwi- Wolfgang Mieder 34 Mieder_Autkorr_09-07-12 schen denken die meisten Amerikaner eher an Lincoln als die Bibel, wenn sie das Sprichwort hören oder benutzen, obwohl Obama in seinem Buch Audacity of Hope / Hoffnung wagen die richtige Feststellung macht: „It is a truism that we Americans are a religious people“ (198) - „Es ist eine Binsenwahrheit, dass wir Amerikaner ein religiöses Volk sind“ (257). Im Deutschen jedoch war Martin Luther in seiner Bibelübersetzung von 1534 die Wiedergabe dieser Bibelstelle mit „Wenn ein Haus mit sich selbst uneins wird, kann es nicht bestehen“ (Markus 3: 25) einmal nicht mundgerecht gelungen, so dass sie, im Vergleich zu so vielen anderen Weisheiten aus der Bibel, in der deutschen Sprache nicht sprichwörtlich geworden ist (Schulze 1860, Cornette 1942). Doch man sehe und staune, dem konnte abgeholfen werden, und zwar vor gar nicht langer Zeit. Das Verdienst, die Bibelstelle im Nachhinein doch noch zu einem deutschen Sprichwort zu machen, gebührt keinem anderen als Willy Brandt. Er hatte das Sprichwort auf Englisch mit Bezug auf Abraham Lincoln am 12. April 1959 in Springfield, Illinois, in seiner Festrede zum 150. Geburtstag des ehemaligen und so beliebten Präsidenten zitiert. Und jetzt kommt der sprichwörtliche Clou! Als es dann 1989/ 90 zur Wiedervereinigung kam, erinnerte sich Brandt an dieses Sprichwort und begann es in seiner neuen und bedeutend eingängigeren Übersetzung Ein in sich gespaltenes Haus hat keinen Bestand in zahlreichen Reden - manchmal gleichzeitig auf Englisch und Deutsch - zu verwenden. Diese Formulierung ging durch sämtliche Medien, und es gibt mittlerweile genügend Belege, um behaupten zu können, dass diese geglückte Formulierung inzwischen sprichwörtlich geworden ist (Eggert 1998, S. 79f.; Mieder 1998, S. 115-125). Und was hat dies nun alles mit Obama zu tun? Zuerst einmal sei gesagt, dass er, wie viele andere Präsidenten vor ihm, dieses Sprichwort schnell zur Hand hat, wenn es gilt, im eigenen Land oder anderswo vor Zwiespalt und Absonderung zu warnen. Dabei bezieht er sich nie auf die Bibel, sondern immer auf den von ihm als persönlichen Helden bewunderten Abraham Lincoln, wie etwa in dem Kapitel über die Verfassung in seinem Buch Audacity of Hope / Hoffnung wagen: I'm left with Lincoln, who like no man before or since understood both the deliberative function of our democracy and the limits of such deliberation. We remember him for the firmness and depth of his convictions - his unyielding opposition to slavery and his determination that a house divided could not stand. (97) Bleibt nur noch Abraham Lincoln, der wie niemand vor oder nach ihm die diskursive Funktion unserer Demokratie und die Grenzen des Diskurses erkannt hatte. Wir erinnern uns an ihn wegen der Unerschütterlichkeit und Tiefe Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 35 Mieder_Autkorr_09-07-12 seiner Überzeugungen, wegen seiner kompromisslosen Ablehnung der Sklaverei und seiner Überzeugung, dass ein geteiltes Haus keinen Bestand haben kann. (132) Die Übersetzung ist an und für sich gut, aber auf Grund meiner Nachforschungen zu diesem neuen Sprichwort würde ich geteiltes durch in sich gespaltenes ersetzen, was die Aussage durch Syntax und Stil eher als Sprichwort zu erkennen gäbe. Ich bezweifle allerdings, dass selbst der so intelligente Obama all dies wusste, als er als Präsidentschaftskandidat am 24. Juli 2008 seinen großen Vortrag in Berlin hielt. Natürlich aber sprach er dort von der nun aufgehobenen Teilung der Stadt durch die Mauer und ging dann über zu einer beeindruckenden Anaphora auf der Basis von „The walls between ... cannot stand“, um gegen solche Zerspaltenheit zu argumentieren. Gewiss, diese mehrmals wiederholte Formel ist nicht dasselbe wie das Sprichwort A house divided against itself cannot stand, aber ich kann mir kaum Amerikaner vorstellen, die bei dieser strukturgleichen Aufzählung nicht an Lincoln und das Sprichwort gedacht haben. Ich bin auch überzeugt, dass der so sprachlich bewusste und gewandte Rhetoriker Obama genau wusste, dass dieser Bezug seiner Rede einen erhöhten Aussagewert und emotionalen Autoritätsanspruch verleihen würde: Yes, there have been differences between America and Europe. No doubt, there will be differences in the future. But the burdens of global citizenship continue to bind us together. A change of leadership in Washington will not lift this burden. In this new century, Americans and Europeans alike will be required to do more - not less. Partnership and cooperation among nations is not a choice; it is the one way, the only way, to protect our common security and advance our common humanity. That is why the greatest danger of all is to allow new walls to divide us from one another. The walls between old allies on either side of the Atlantic cannot stand. The walls between the countries with the most and those with the least cannot stand. The walls between races and tribes; natives and immigrants; Christian and Muslim and Jew cannot stand. These now are the walls we must tear down. (Mieder 2009c, S. 121-122) Ja, es gab Differenzen zwischen Amerika und Europa. Kein Zweifel, es wird auch in Zukunft Differenzen geben. Aber die Last der Weltbürgerschaft wird uns weiter verbinden. Ein Wechsel der Führung in Washington wird diese Last nicht erleichtern. In diesem neuen Jahrhundert werden sowohl Amerikaner als auch Europäer mehr tun müssen - nicht weniger. Partnerschaft und Kooperation zwischen Nationen sind keine Wahlmöglichkeit; es ist der eine Weg, der einzige Weg, um unsere gemeinsame Sicherheit zu schützen und unsere gemeinsame Menschlichkeit voranzubringen. Wolfgang Mieder 36 Mieder_Autkorr_09-07-12 Deshalb besteht die größte Gefahr darin, neue Mauern zuzulassen, die uns voneinander trennen. Die Mauern zwischen den alten Verbündeten auf beiden Seiten des Atlantiks können nicht bestehen bleiben. Die Mauern zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern können nicht bestehen bleiben. Die Mauern zwischen Rassen und Volksstämmen; der Urbevölkerung und Immigranten; Christen und Muslimen und Juden können nicht bestehen bleiben. Diese Wände müssen wir nun niederreißen. (Heinze / Meyer (Hg.) 2009, S. 80) Schade, dass die Übersetzer statt können nicht bestehen bleiben nicht dreimal können keinen Bestand haben geschrieben haben, was die offensichtliche Sprichwortanspielung deutlicher zum Ausdruck gebracht hätte. Man mag dies als Spitzfindigkeit oder Nörglertum auffassen, aber da Barack Obama diese Vorliebe für das Sprichwörtliche nun einmal hat und diese zu seinem so überzeugenden metaphorisch und emotional ausgeprägten Redestil gehört, sollte man so weit es irgendwie geht auf diese Aspekte achten. Bei all dieser sprachlichen Akribie sollte natürlich nicht vergessen werden, dass es Obama, besonders seitdem er Präsident geworden ist, neben seinen amerikanischen Landsleuten immer auch um „global citizenship“ und „common humanity“ - „Weltbürgerschaft“ und „gemeinsame Menschlichkeit“ geht. Das aber kommt ganz besonders deutlich in dem nun folgenden letzten Beispiel zum Ausdruck, wo es um Barack Obamas leitmotivische Vorliebe für die sogenannte „golden rule“ - „goldene Regel“, das heißt die globale Weisheit des längst zum Volkssprichwort gewordenen Bibelsprichwortes Do unto others as you would have them do unto you (Matthew 7: 12) - Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg auch keinem andern zu (Matthäus 7: 12), geht. In seinem politischen und persönlichen Manifest Audacity of Hope / Hoffnung wagen gibt er in dem Kapitel über seine „Values“ (‘Werte’) ein für allemal bekannt, dass ihm dieses Sprichwort als ethische Grundregel gilt. Da er sich darauf verlassen kann, was mit der golden rule gemeint ist, kann er diese Bezeichnung stellvertretend für das Sprichwort in seiner subjektiven Aussage gelten lassen: Empathy [...] is at the heart of my moral code, and it is how I understand the Golden Rule - not simply as a call to sympathy or charity, but as something more demanding, a call to stand in somebody else's shoes and see through their eyes. (66) Einfühlungsvermögen [...] steht im Zentrum meines Moralkodex und er prägt mein Verständnis der Goldenen Regel (des kategorischen Imperativs) als ein Verhalten, bei dem nicht nur Mitgefühl oder Wohltätigkeit gefordert sind, sondern etwas Schwierigeres, nämlich dass man sich in einen anderen hineinversetzt und die Welt mit seinen Augen sieht. (92) Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 37 Mieder_Autkorr_09-07-12 Mir ist nicht ganz klar, warum die Übersetzer den Hinweis auf den von Immanuel Kant ähnlich formulierten kategorischen Imperativ hier einschieben, der schließlich nicht hundertprozentig mit der Bibelaussage übereinstimmt. Obama, der als Politiker mit allen Bevölkerungsschichten kommunizieren will, hat diesen philosophischen Begriff ganz bewusst nie erwähnt. Auch würde er in diesem Sprachzusammenhang nicht passen, wo Obama doch auf die Erwähnung der goldenen Regel gleich noch zwei sprichwörtliche Redensarten folgen lässt, die seine moralische Forderung nach Einfühlungsvermögen volkssprachlich erläutern. Leider scheint es im Deutschen jedoch für die Redensart to stand in someone else's shoes keine metaphorische Entsprechung zu geben, denn dem Phraseologismus sich in die Lage eines anderen versetzen fehlt die Bildhaftigkeit. In einem späteren Kapitel über seinen „Faith“ (‘Glauben’) kommt Obama noch einmal auf die goldene Regel zurück, um seine Grundeinstellung gegenüber anderen Menschen in aller Welt herauszustellen. Auch hier verzichtet er wieder darauf, das eigentliche Sprichwort einzuschließen: This is not to say that I am unanchored in my faith. There are some things that I'm absolutely sure about - the Golden Rule, the need to battle cruelty in all its forms, the value of love and charity, humility and grace. (224) Das soll nicht heißen, dass ich in meinem Glauben nicht verwurzelt bin. Bei manchen Dingen bin ich mir absolut sicher: beim ethischen Imperativ, bei der Notwendigkeit, Grausamkeit in all ihren Erscheinungsformen zu bekämpfen, beim Wert von Liebe und Mitgefühl, Demut und Gnade. (288) Hier nun haben die beiden Übersetzer die golden rule kurzerhand durch den Begriff des ethischen Imperativs ersetzt, und man fragt sich, warum sie nicht den kategorischen Imperativ beibehalten haben. Doch wie gesagt, warum all dies, wo die goldene Regel doch auch im Deutschen ein sprichwörtlicher Begriff ist und für das längere Bibelsprichwort stehen kann. All dies schießt an dem bewussten Stilwillen Obamas vorbei, der als religiöser Mensch in einem Kapitel über seinen Glauben von der goldenen Regel und nicht vom kategorischen Imperativ, den er ganz gewiss kennt, sprechen will. Der nächste Beleg der goldenen Regel, dieses Mal jedoch als Sprichwort ausgedrückt, tritt in Barack Obamas gewichtiger Rede über die amerikanische Rassenfrage auf, die er am 18. März 2008 in Philadelphia gehalten hat. Und hier nun ist er fast schon ein vergleichend arbeitender Parömiologe, der sehr gut weiß, dass diese Menschheitsregel in sehr ähnlichen Varianten in den Religionen der Welt zu finden ist (Hertzler 1933-1934; Griffin 1991, S. 67-69; Wolfgang Mieder 38 Mieder_Autkorr_09-07-12 Burrell 1997, S. 13-27; Wittmer 2007). Erklärend fügt er gleich noch das auf beide Geschlechter erweiterte Bibelsprichwort Am I my brother's keeper? (Genesis 4: 9) hinzu, das er, wie schon gezeigt wurde, bereits in seiner Rede vom 27. Juli 2004 in Boston auf diese Weise mit Respekt gegenüber den Frauen der Welt „modernisiert“ hatte: In the end, then, what is called for is nothing more, and nothing less, than what all the world's great religions demand - that we do unto others as we would have them do unto us. Let us be our brother's keeper, Scripture tells us. Let us be our sister's keepers. Let us find that common stake we all have in one another, and let our politics reflect that spirit as well. (Mieder 2009c, S. 120) Am Ende wird nichts mehr und nichts weniger notwendig sein, als das was alle großen Religionen verlangen - dass wir niemandem etwas antun, was uns nicht selbst angetan werden soll. Lasst uns unseres Nächsten Bruder sein, wie die Bibel uns lehrt. Lasst uns unserer Nächsten Schwester sein. Lasst uns einen gemeinsamen Anteil an einander finden und lasst unsere Politik diesen Geist ebenso reflektieren. (Heinze / Meyer (Hg.) 2009, S. 56) Doch was um Gottes Willen, um einen entsprechenden Phraseologismus zu verwenden, haben sich die Übersetzer Raoul Heinze und Christian Meyer hier gedacht? Die goldene Regel der Lutherbibel ist mehr oder weniger noch zu erkennen, aber was hat es mit „unseres Nächsten Bruder“ auf sich? Warum nicht die Bibelfassung ‘unseres Bruders Hüter’, die meiner Meinung nach doch wohl auch eine andere Bedeutung hat? Hier ist zum Vergleich eine unsinnige Computerübersetzung aus dem Internet, wobei die Maschine trotz grammatischer und syntaktischer Fehler immerhin bibelfest zu sein scheint: Am Ende dann, was erforderlich ist, ist nichts mehr und nichts weniger, als das, was alle großen Weltreligionen fordern -, dass wir euch andere tun, als hätten wir sie uns tun sollen. Lassen Sie uns unsere Bruders Hüter sein, sagt uns die Schrift. Lassen Sie uns unsere Sister's Keeper werden. Lassen Sie uns gemeinsam, dass dem Spiel haben wir alle in einander, und lassen unsere Politik zu reflektieren, dass Geist. (2010 WorldNetDaily, www.wnd.com ) Die sprachlich bessere Übertragung von Heinze / Meyer hat aber dennoch ein weiteres Manko, was der anonymen Maschinenübersetzung nicht vorzuwerfen ist. Sie hat Obamas world's religions als Weltreligionen wiedergegeben, während die beiden Übersetzer nur von Religionen sprechen. Und doch kommt es Barack Obama auf die Welt an, denn er sieht sich nicht als isolierter Bürger Amerikas, sondern vielmehr als integrierter Weltbürger, der seine Berliner Rede vom 24. Juli 2008 mit der folgenden nicht nur als Floskel gemeinten Selbstcharakterisierung begann: „I speak to you [...] as a citizen - a proud citizen of the United States, and a fellow citizen of the world“ - „Ich spreche zu Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 39 Mieder_Autkorr_09-07-12 Ihnen [...] als Bürger - ein stolzer Staatsbürger der Vereinigten Staaten und ein Mitbürger der Welt“ (Heinze / Meyer (Hg.) 2009, S. 75). Diese Betonung der Welt - erinnern wir uns an das von ihm verwendete Sprichwort The world is a place mit der Erweiterung „for the whole human race“ des zitierten Liedtextes - ist ein menschliches sowie sozialpolitisches Leitmotiv Obamas. Ein großartiges Beispiel dafür war, weltpolitisch gesehen, der Auftritt des Präsidenten an der Universität Kairo am 4. Juni 2009, wo der Höhepunkt seiner enthusiastisch applaudierten Rede erreicht war, als er zum Schluss eine auf der goldenen Regel beruhende Weltordnung, ein ethisch ausgerichtetes Welthaus heraufbeschwor, wo alle Menschen Brüder und Schwestern sind und in Frieden miteinander leben: All of us share this world for but a brief moment in time. The question is whether we spend that time focused on what pushes us apart, or whether we commit ourselves to an effort - a sustained effort - to find common ground, to focus on the future we seek for our children, and to respect the dignity of all human beings. It's easier to start wars than to end them. It's easier to blame others than to look inward. It's easier to see what is different about someone than to find the things we share. But we should choose the right path, not just the easy path. There's one rule that lies at the heart of every religion - that we do unto others as we would have them do unto us. (Applause.) This truth transcends nations and peoples - a belief that isn't new; that isn't black or white or brown; that isn't Christian or Muslim or Jew. It's a belief that pulsed in the cradle of civilization, and that still beats in the hearts of billions around the world. It's a faith in other people, and it's what brought me here today. ( http: / / www.obamaspeeches.com/ ) Wir alle teilen diese Welt nur für einen kurzen Augenblick. Die Frage ist, ob wir uns in dieser Zeit auf das konzentrieren, was uns auseinander treibt, oder ob wir uns einem Unterfangen verpflichten - einer andauernden Bestrebung - Gemeinsamkeiten zu finden, uns auf die Zukunft zu konzentrieren, die wir für unsere Kinder wollen, und die Würde aller Menschen zu achten. Es ist einfacher, Kriege zu beginnen, als sie zu beenden. Es ist einfacher, die Schuld auf andere zu schieben, als sich selbst zu betrachten. Es ist einfacher zu sehen, was uns von jemand anderem unterscheidet, als die Dinge zu finden, die wir gemeinsam haben. Aber wir sollten uns für den richtigen Weg entscheiden, nicht nur für den einfachen. Es gibt auch eine Regel, die jeder Religion zugrunde liegt, dass man andere behandelt, wie man selbst behandelt werden möchte. (Applaus.) Diese Wahrheit überwindet Nationen und Völker - ein Glaube, der nicht neu ist, der nicht schwarz oder weiß oder braun ist, der nicht Christen, Muslimen oder Juden gehört. Es ist ein Glaube, der in der Wiege der Zivilisation pulsier- Wolfgang Mieder 40 Mieder_Autkorr_09-07-12 te, und der noch immer in den Herzen von Milliarden Menschen auf der Welt schlägt. Es ist der Glaube an andere Menschen, und er hat mich heute hierher gebracht. ( http: / / www.sueddeutsche.de/ politik/ 503/ 471047/ text/ ) Das sind in der Tat ehrenhafte Worte, die das Bibelsprichwort oder die goldene Regel auf alle Menschen der Welt bezieht und diese auffordert, auf die Menschenwürde zu achten und ein friedliches Weltgebäude zu errichten. Ob solche Worte nobel genug sind, als so junger amerikanischer Präsident den Friedensnobelpreis zu bekommen, das sei dahingestellt. Barack Obama selbst, und wohl die meisten Amerikaner, hätten es gerne ein Jahrzehnt oder mehr abgewartet. Doch wichtiger ist momentan, dass Obama am 10. Dezember 2009 in Oslo den Ehrenpreis in Empfang genommen hat, und dass er sich in seiner Nobelpreisrede erneut auf das goldene Bibelwort bezogen hat, dessen Weisheit er als ethische Grundlage für eine humane Weltordnung betrachtet: The one rule that lies at the heart of every major religion is that we do unto others as we would have them do unto us. Adhering to this law of love has always been the core struggle of human nature. We are fallible. We make mistakes, and fall victim to the temptation of pride, power, and sometimes evil. Even those of us with the best intentions will at times fail to right the wrongs before us. But we do not have to think human nature is perfect for us to still believe that the human condition can be perfected. We do not have to live in an idealized world to still reach for those ideals that will make it a better place. ( http: / / www.obamaspeeches.com/ ) Es gibt eine Regel, die jeder Weltreligion zugrunde liegt: dass wir andere so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Es war schon immer der größte Kampf der menschlichen Natur, sich an dieses Gebot der Nächstenliebe zu halten. Denn wir sind fehlbar. Wir machen Fehler, und wir fallen den Versuchungen des Stolzes, der Macht und manchmal des Bösen zum Opfer. Sogar diejenigen mit den besten Absichten sind manchmal nicht in der Lage, die offensichtlichen Übel zu beheben. Aber wir müssen nicht daran glauben, dass die menschliche Natur vollkommen ist, wenn wir daran glauben, dass der Mensch doch nach Vollkommenheit streben kann. Wir müssen nicht in einer idealisierten Welt leben, um uns für die Ideale einzusetzen, die die Welt zu einem besseren Ort machen. ( http: / / www.uni-kassel.de/ fb5/ frieden/ themen/ Friedenspreise/ obama.html ) Jawohl, „to make the world a better place“ - „die Welt zu einem besseren Platz machen“, darum geht es Barack Obama eigentlich immer, gleichgültig Zur (inter-)nationalen Sprichwortpraxis Barack Obamas 41 Mieder_Autkorr_09-07-12 ob er sich nun in Amerika für was auch immer engagiert oder anderswo auf der Welt. Ganz gewöhnliche Volkssprichwörter sowie Bibelsprichwörter helfen ihm dabei, die verschiedensten Argumente, Ideen und Pläne zum Ausdruck zu bringen. Gewisse Sprichwörter, wie etwa All men are created equal - Alle Menschen sind gleich geschaffen; A house divided against itself cannot stand - Ein in sich gespaltenes Haus hat keinen Bestand; E pluribus unum - Aus vielen eins; Do unto others as you would have them do unto you - Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg auch keinem andern zu und selbstverständlich auch das moderne Sprichwort The world is a place - Die Welt ist ein Platz ergeben sozusagen den moralischen Kompass auf seinem hoffnungsvollen Weg als Präsident der Vereinigten Staaten und als Weltbürger. Wenn er an diesen Sprichwörtern festhält und weiterhin dem afroamerikanischen Sprichwort Making a way out of no way - Einen Weg aus keinem Weg machen gemäß sein Bestes tut, dann könnte er eines Tages in der Tat ebenbürtig neben seinen Helden Abraham Lincoln, Frederick Douglass, Woodrow Wilson, Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, George Marshall und Nelson Mandela stehen. Seine sprichwörtliche Rhetorik hat ihm bisher auf diesem Weg gute Dienste geleistet, und Sprichwörter als erprobte Weisheiten werden zweifelsohne auch weiterhin eine erhebliche Rolle zu spielen haben, damit wir schließlich als Weltfamilie singen können: The world is a place Die Welt ist ein Platz for the whole human race für die ganze Menschheit to live and relate zu leben und zu handeln as brothers and sisters. als Brüder und Schwestern. Literatur Aron, Paul (2008): We hold these truths ... and other words that made America. Lanham, MA. Bayer, Karl (1994): Nota bene! Das lateinische Zitatenlexikon. München. Büchmann, Georg (1995): Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. 40. Aufl.. Berlin. Burrell, Brian (1997): The words we live by. The creeds, mottoes, and pledges that have shaped America. New York. Cornette, James C. (1942 [1997]): Proverbs and proverbial expressions in the German works of Martin Luther. Diss. Univ. of North Carolina at Chapel Hill. [Im Druck hrsg. v. 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Harald Burger Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede - theoretisch und textuell, synchron und diachron betrachtet 1. Ein Blick auf die Terminologie und ihre Geschichte Seit Antike und Mittelalter werden Sprichwort und Redensart - unter wechselnden Titeln - als eng verwandte sprachliche Formen angesehen, in einem Kontext mit Sentenz, Maxime, Zitat, ohne dass die Typen auch nur einigermaßen konsistent voneinander abgegrenzt wären (vgl. dazu die detaillierte Studie von Hallik 2007). Heute sind es vor allem Sprichwort und Redensart, die in einschlägigen, vor allem parömiologischen, Studien in einem Atemzug genannt und untersucht werden, während Formen wie Sentenz oder Maxime kaum mehr Objekt parömiologischer/ phraseologischer Analyse werden. Häufig werden in Arbeiten zum ‘Sprichwort’ stillschweigend auch Redensarten mit einbegriffen. (In nahezu jedem Band von Proverbium findet man Beispiele dafür.) Das Umgekehrte gilt nicht im gleichen Maße. Im Folgenden werde ich nur einleitend einige terminologische bzw. klassifikatorische Überlegungen anstellen. Eigentliches Ziel des Artikels ist es, der Frage nachzugehen, inwieweit es berechtigt ist, die beiden phraseologischen Kategorien in enger Nachbarschaft zu sehen, wenn man ihr Auftreten in konkreten Texten miteinander konfrontiert. 1.1 Sprichwort und sprichwörtliche Redensart In der Parömiologie ist der Terminus ‘sprichwörtliche Redensart’ bis heute gängig. Parömiologen rücken sprichwörtliche Redensarten in die unmittelbare Nähe von Sprichwörtern, während man in der Phraseologieforschung eher von ‘Idiomen’ spricht und damit eine schärfere Grenze zu den Sprichwörtern markiert. Manche Parömiologen trennen ferner die ‘sprichwörtlichen Redensarten’ von den ‘einfachen Redensarten’ ab und etablieren eine weitere Kategorie, die ‘Phraseologismen’, die weder Sprichwörter noch Redensarten sind. Demgegenüber dient in der Phraseologieforschung ‘Phraseologismus/ Phrasem’ als Oberbegriff, der sowohl Sprichwörter als auch Idiome sowie andere Typen fester Wortverbindungen umfasst. Harald Burger 46 Die Kriterien, die in der Parömiologie für die Bestimmung von ‘sprichwörtlicher Redensart’ angeführt wurden, sind ausführlich in der „Einleitung“ zu Röhrichs Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten sowie in leicht revidierter Form im „Vorwort“ zur Neuausgabe (1991) zusammengestellt: 1 „Wie schon der Name sagt, gehören die sprichwörtlichen Redensarten in die Nähe der Sprichwörter; und doch sind sie keine“ (Röhrich 1991, Bd. 1, S. 23). Die Formulierung zeigt bereits ein gewisses Dilemma, das sich auch im weiteren Text nicht auflöst. Die Unterschiede zum Sprichwort sind relativ klar, sie bestehen in „Form, Struktur und Funktion“. Die auffallendste und unbestrittene Differenz besteht darin, dass das Sprichwort satzwertig ist, die sprichwörtliche Redensart aber eine Wortverbindung unterhalb der Satzgrenze darstellt. Ferner gibt es klare Unterschiede in Semantik und Pragmatik. Z. B. ist die sprichwörtliche Redensart im Gegensatz zum Sprichwort „wertfrei, nicht normativ“, sie hat „keine lehrhafte oder ethische Tendenz“ (ebd., S. 24). Worin aber besteht die „Nähe zum Sprichwort“? Zunächst wird festgehalten, dass es Übergangsbzw. Grenzfälle gibt, bei denen ein Ausdruck sowohl in satzwertiger als auch in satzgliedwertiger Form vorkommt und es schwer entscheidbar ist, welcher die (historische oder strukturelle) Priorität hat (vgl. Röhrich 1991, Bd. 1, S. 24). Die Übergänge werden dadurch ermöglicht, dass viele sprichwörtliche Redensarten durch eine ihrerseits formelhafte Formulierung wie man soll (nicht) zu satzwertigen Verbindungen ausgebaut werden können und dass umgekehrt ein Sprichwort in einem bestimmten Kontext in ein verbales Phrasem umgewandelt werden kann. Damit ist die Grenze zwischen satzwertigen Phrasemen wie den Sprichwörtern und allen anderen Phrasemen unterhalb der Satzgrenze fließend: 1 Im Folgenden zitiere ich nach der digitalen Ausgabe. Die digitale Ausgabe basiert auf der fünfbändigen Neuausgabe, die 1991 im Herder Verlag, Freiburg i. Br., erschien. Im Vorwort zur Neuausgabe, auf das ich im Folgenden nicht näher eingehe, wird ausführlicher als vorher auf die Phraseologie-Forschung Bezug genommen und es werden neben Sprichwort und sprichwörtlicher Redensart weitere Phrasem-Typen einbezogen (besonders Röhrich 1991, Bd. 1, S. 13ff.). Wie schon in der „Einführung“ wird auch im „Vorwort“ - und hier noch deutlicher - hervorgehoben, dass es neben den eigentlichen Sprichwörtern weitere satzwertige phraseologische Verbindungen gibt (z. B. die in der Phraseologie als „feste Phrasen“ bezeichneten Ausdrücke), die nicht die semantischen und funktionalen Sprichwort-Kriterien erfüllen. Der Terminus ‘sprichwörtliche Redensart’ findet sich nach Röhrich (ebd., S. 31) zuerst 1683 in Justus Georg Schottels Ausführlicher Arbeit von der Teutschen Hauptsprache (S. 1102ff.), während „Redensart“ als Lehnübersetzung von französisch „façon de parler“ erstmalig bei Joh. Arndt Vom wahren Christentum (Frankfurt a. M. 1605) erscheint. Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 47 Manchmal freilich ist unser Sprachgefühl nicht so sicher. Was hat z. B. Vorrang: die Redensart gute Miene zum bösen Spiel machen oder das Sprichwort Man muß gute Miene zum bösen Spiel machen? (Röhrich 1991, Bd. 1, S. 23) Ein Kriterium, wie die Frage zu entscheiden wäre, wird nicht gegeben. Röhrich besteht aber darauf, dass solche Übergänge im Prinzip Ausnahmen sind: Abgesehen von einer recht schmalen Randzone der Übergänge, sind sprichwörtliche Redensarten doch durchaus eigenständige Gebilde. Sie stehen von Anfang an neben den Sprichwörtern und haben mit diesen nicht zu viele Berührungspunkte; d. h. nur in relativ wenigen Fällen gibt es für eine sprichwörtliche Redensart auch ein paralleles Sprichwort. (Röhrich 1991, Bd. 1, S. 24) Aus folkloristischer Sicht sind sie zudem weniger prominent als die Sprichwörter: Von allen Teilgebieten der sprachlichen Volksüberlieferung gelten die sprichwörtlichen Redensarten als das unscheinbarste. Unter den ‘einfachen Formen’ sind sie die einfachsten. (Röhrich 1991, Bd. 1, S. 26) Was aber ist nun - abgesehen von der relativ schmalen Übergangszone - das Gemeinsame von Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten? Mit dem Sprichwort gemeinsam aber hat die sprichwörtliche Redensart das sprechende, kräftige und einprägsame Bild, das ebenso wie das Sprichwort in seinem Wortlaut traditionell festgefügt ist. (Röhrich 1991, Bd. 1, S. 24) (Dabei ist aber zu bedenken, dass nicht alle Sprichwörter „bildhaft“ sind, worauf Röhrich selbst hinweist: Ein Sprichwort kann bildhaft sein; es muß aber nicht. Es gibt zahlreiche Sprichwörter, die ohne jeden bildlichen Ausdruck und ohne jede Übertragung auskommen, z. B. Aller Anfang ist schwer - Ende gut - alles gut. Sprichwörtliche Redensarten dagegen sind in der Regel bildlich. (Röhrich 1991, Bd. 1, S. 31) Es ist also nur eine Teilmenge der Sprichwörter, die sich hinsichtlich des Kriteriums „Bildhaftigkeit“ mit den sprichwörtlichen Redensarten überschneiden.) Und weiter heißt es: Das ‘Sprichwörtliche’ einer Redensart liegt darin, daß sie in ihrem Wortlaut relativ konstant ist. (Röhrich 1991, Bd. 1, S. 25) In der Terminologie der Phraseologie ausgedrückt: Sprichwörtliche Redensarten haben zwei Lesarten - eine literale und eine phraseologisch-figurative - und sie weisen ein hohes Maß an „Festigkeit“ auf (auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen, siehe Burger 2010, S. 15ff.). Harald Burger 48 Nun ist es mit der ‘Bildhaftigkeit’ von Phrasemen so eine Sache - worauf ich verschiedentlich hingewiesen habe (z. B. schon Burger 1989). In der Parömiologie werden auch solche Phraseme, die nicht mehr motiviert sind, deren Bildhaftigkeit also synchron keine Rolle (mehr) spielt für das Verständnis der übertragenen, phraseologischen Bedeutung, als sprichwörtliche Redensarten bezeichnet. So sind die Phraseme etw. auf die leichte Achsel nehmen oder auf beiden Achseln tragen meist nur noch bildlich gebraucht, ohne daß der Sprechende beim Gebrauch dieser Redensarten noch die Vorstellung einer Achsel zu haben braucht. Sie dürfen darum als sprichwörtliche Redensarten betrachtet werden. (Röhrich 1991, Bd. 1, S. 32) Daraus ergibt sich eine offenkundige Ungereimtheit: Gerade die nicht mehr motivierten, opaken Idiome sind für den Parömiologen besonders interessante Vertreter der sprichwörtlichen Redensarten, obwohl ihre „Bildhaftigkeit“ durchaus nicht evident ist. Der Grund dafür ist leicht nachvollziehbar: Die unmotivierten oder nicht mehr voll motivierten Idiome sind kulturhistorisch von besonderem Interesse, sie weisen auf Brauchtum, ältere kulturelle Verhältnisse, alte Texte usw. zurück. Die verdunkelte Bildhaftigkeit kann dann vom Parömiologen unter Zuhilfenahme folkloristischer Quellen wieder durchsichtig gemacht werden. Um dieser aus linguistischer Perspektive unbefriedigenden Situation zu begegnen, habe ich in den letzten Jahren verschiedentlich versucht, den Begriff ‘Bildhaftigkeit’ schärfer zu fassen, als dies im Rahmen der Parömiologie und auch der Phraseologie üblich war bzw. teilweise immer noch praktiziert wird (Burger 2007, 2008; ein anderer Ansatz zu einer Neukonzeption des Begriffs findet sich in Dobrovol‘skij / Piirainen 2005) und eine Neu-Definition des ‘idiomatischen Bildes’ zu geben. Der Grundgedanke ist der, dass Idiome konkret vorstellbare, ‘bildhafte’ Elemente (sogar eine vollständige konkrete, ‘bildhafte’ Lesart) aufweisen können, ohne dass diese für die phraseologische Lesart motivierend sein müssen. Von einem ‘idiomatischen Bild’ hingegen kann man nur unter bestimmten, eng umrissenen Bedingungen sprechen. 2 2 In Burger (2010, S. 99) habe ich dies so formuliert: Damit man von einem idiomatischen Bild sprechen kann, müssen (mindestens) die folgenden Bedingungen erfüllt sein: 1. Das Idiom muss eine wörtliche Lesart haben, die als konkrete vorstellbar ist. (Das ist die ‚Bildhaftigkeit‘ des Idioms.) 2. Der Zusammenhang zwischen der wörtlichen und der phraseologischen Lesart muss für den muttersprachlichen Sprecher/ Hörer nachvollziehbar sein, d. h., er muss die wörtliche Lesart als ein „natürliches“, „einleuchtendes“ Modell für die phraseologische Lesart Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 49 Aus linguistischer Sicht ist es also nicht gerechtfertigt, die sprichwörtlichen Redensarten von den - wie Röhrich sagt - „einfachen“ oder „gewöhnlichen“ Redensarten abzugrenzen. („Mit den Achseln zucken ist z.B. nur eine gewöhnliche Redensart, die keiner Erklärung bedarf.“, Röhrich 1991, Bd. 1, S. 32.) Eine weitere Perspektive liefert eine Analyse mit Hilfe der Logik. Eismann und Grzybek haben in einem Artikel von 1994 im Anschluss an Permjakov eine logisch fundierte Beschreibung von Sprichwort / sprichwörtlicher Redensart / Phraseologismus (= Idiom) gegeben, von der ich nur die Hauptpunkte nennen möchte. 3 Sowohl Sprichwörter als auch sprichwörtliche Redensarten sind „modellierbar“, d.h. auf eine allgemeinere tiefensemantische Struktur zurückführbar. Dies ist beim Phraseologismus nicht der Fall, er ist singulär. So kann nach dieser Auffassung die sprichwörtliche Redensart aus der Mücke einen Elefanten machen auf die tiefensemantische Struktur ‘Unter bestimmten Bedingungen verwandelt sich die eine Sache in eine andere (...)’ zurückgeführt werden, und auf derselben Tiefensemantik basieren andere oberflächenstrukturelle Formulierungen. Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten haben mindestens zwei phraseminterne nominale Argumente (aus der Mücke einen Elefanten machen), der Phraseologismus hat nur ein Argument (den Vogel abschießen). Die Unterschiede sind allerdings deutlich: Sprichwörter sind All-Sätze (Wer A sagt, muss B sagen = ‘jeder, der A sagt, muss B sagen’; Lügen haben kurze Beine = ‘alle Lügen haben kurze Beine’ usw.). Sie haben eiempfinden, anders gesagt: er muss das Idiom als „motiviert“ auffassen. Mögliche Zusammenhänge können als metaphorische, metonymische, symbolische usw. Relationen beschrieben werden. 3. Der Zusammenhang muss lexikalisiert sein, d.h., die metaphorische Übertragung ist auf eine Interpretation festgelegt. Man könnte sagen: Die phraseologische Lesart determiniert die wörtliche Lesart als den Bildspender genau dieser Metapher und sie interpretiert das Bild in einer bestimmten (arbiträren) Weise. Das Bild ist integraler Bestandteil des Idioms als Zeichen. Die Bedingung (1) trifft auf viele Idiome zu, ohne dass auch die Bedingungen (2) und (3) erfüllt sein müssen. D. h., viele Idiome sind bildhaft, haben aber kein idiomatisches Bild. Das trifft vor allem auf solche zu, die nicht mehr motiviert sind, deren Entstehungsgeschichte also nicht mehr nachvollziehbar ist und die auch synchron nicht mehr als motiviert empfunden werden. Z. B. jmdm. einen Korb geben: Ein Korb ist konkret vorstellbar, auch die Handlung ‘jmdm. einen Korb geben’ im wörtlichen Sinn. Aber diese vorstellbare Handlung kann nicht als motivierend für die idiomatische Bedeutung des Ausdrucks aufgefasst werden. 3 Die logischen Formeln, mit denen die Autoren operieren, finden sich in Eismann / Grzybek (1994, S. 117f.). Harald Burger 50 nen Allquantor, was bei sprichwörtlichen Redensarten und Phraseologismen nicht der Fall ist. Aus phraseologischer Sicht ist diese Dreiteilung der Klassen kaum aufrechtzuerhalten. Insbesondere ist die Zuordnung bestimmter Phraseme zu bestimmten tiefensemantischen Modellen nicht frei von Willkür und es fällt schwer, intersubjektiv fassbare Kriterien für diesen Prozess zu formulieren. Eismann und Grzybek sind denn auch nicht voll überzeugt davon. Sie weisen auf die vielen Übergangsfälle hin und auf die Tatsache, dass es letztlich eine Frage des Gebrauchs, der Realisierung in Texten ist, ob man eine Redensart als sprichwörtlich oder nicht klassifizieren soll. Angesichts dieser Situation entfällt meines Erachtens überhaupt das Bedürfnis nach einer Kategorie ‘sprichwörtliche Redensart’. Es gibt nur eine große und recht heterogene Klasse von ‘Idiomen’, die sich auf einer Skala von gänzlich motiviert bis gänzlich unmotiviert anordnen lassen, ohne dass dies etwas mit der ‘Bildhaftigkeit’ zu tun hätte. 1.2 Ältere Terminologie- und Klassifikationstraditionen Wenn man aus Sicht der Phraseologie den Termini und Klassifizierungen der Parömiologie nur partiell zustimmen kann, so ist doch ein durchgehendes Merkmal der Sprichwortforschung für die gesamte Phraseologieforschung wegweisend geblieben: die übergreifende Sicht auf alle phraseologischen Erscheinungen. Blickt man in die Sprachgeschichte zurück und wirft einen Blick auf die frühen Sprichwortsammlungen, dann sieht man, dass auch dort zusammen mit den Sprichwörtern Idiome und andere phraseologisch verwandte Erscheinungen dargestellt werden. Man sieht aber auch, dass das Interesse an einer übergreifenden Sicht solcher Phänomene sehr unterschiedlich motiviert sein kann. Warum werden in älterer Zeit Sprichwörter und Idiome und noch weitere phraseologische Typen zusammengesehen? Was ist das Gemeinsame? Woran sind z. B. die großen Sammler wie Erasmus von Rotterdam oder für das Deutsche Agricola interessiert - um nur zwei epochemachende Beispiele herauszugreifen? Erasmus von Rotterdam geht es in seiner monumentalen Sammlung (Collectanea adagiorum) lateinischer und griechischer Ausdrücke (zwischen 1500 und 1536 entstanden) darum, die antiken Belegstellen vorzuführen, die Ausdrücke in ihren antiken Kontexten zu zeigen und damit für die zeitgenössische Textproduktion wieder zu verlebendigen. Oft handelt es sich um ganze Ketten von Zitaten, wobei der „Ursprung“ einer Formulierung weniger wichtig ist als Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 51 die Belegbarkeit bei renommierten Autoren. Dabei verzeichnet er nicht nur Sprichwörter (wie Vestis virum facit), sondern auch einfache Wörter (Labyrinthus) und Idiome (Oleum camino addere). Das übergreifende Interesse ist die Zitierbarkeit von antiken Sprachelementen, die die Stilistik humanistischer Textproduzenten bereichern sollen. Johannes Agricola, ein Schüler Martin Luthers (Sybenhundert und fünfftzig teütscher Sprichwörter [...], 1534) hat ein ganz anderes Interesse: Im Vorwort („Worzu die sprichwortter dienen“) hebt er vor allem die prägnante Kürze hervor: Von anbegynn der welt haben die weisen leutt alle gesetze vnd rechte / ynn kurtze wort verfasset / auff das man sie leichtlich behalten kunde. [...] vnd noch heutte bey tage findt sichs also / das fromme erbare leutte wenig wort machen. [...] Also haben vnsere alte Deutschen einfeltig geredt / vn wenig wort gebraucht / auch wenig gesetze gehabt. [...] Denn ynn kurtze schlüsse haben sie (vnsere forfaren) das leben der menschen / als ynn kurtze regeln verfasset. [dann kommen Beispiele: Treue/ Untreue, Mäßigkeit/ Unmäßigkeit usw.] Dann führt er aber aus, dass es ihm um die volkssprachlichen deutschen Sprichwörter gehe, im Gegensatz zu Erasmus. Er verweist auf seine mittelhochdeutschen und zeitgenössischen Quellen (z. B. Freidank, Sebastian Brant), betont aber, dass die große Menge der deutschen Sprichwörter erst noch gesammelt werden müsse, und ruft seine Leser dazu auf, sich am Sammeln zu beteiligen. Ja ich wil yedermeniklich bitten / vmb aller Deutschen ehre und trew willen / Es wolle zu diesem wercke helffen / wer da konne / Denn wir alle sampt werden zu schaffen genug haben / auff das wir die Deutsche sprach auffbringen. (Vorrede) In seiner Sammlung finden sich, wie bei Erasmus, nicht nur eigentliche Sprichwörter, sondern ebenso Idiome und sonstige Phraseme verschiedenster Art. Zu jedem Item gibt er eine „Außlegung“, die divergierende Aspekte betreffen kann, und keineswegs ist es immer die didaktische Potenz des Ausdrucks, die im Vordergrund steht. Natürlich spielt religiöse Belehrung eine wichtige Rolle, wie im Beispiel Gott ist mit im schiff (Nr. 29): ‘Schiff’ ist eine Metapher für das Leben in Gefahr. Gott steht dem Menschen in Gefahren bei: Die im schiff seind müssen auch also stehen fahr / leibs vnd lebens. Gott ist mit im schiffe / vnd verschaffet daß denen / so in geferlichkeyt sein / nicht schade. Man kann das Sprichwort anwenden auf alle Arten von Gefahren: Harald Burger 52 [...] also mag man diß wort brauchen in allem anlygen / es sey in fahr leibs / lebens / ere / oder guts / Gott ist mit im schiff / Gott wirt vns nicht lassen. Dann führt Agricola den Ausdruck auf die Bibel zurück - und er tut dies überall, wo es möglich ist: Ich halt daß diß sprichwort herkomme auß der geschichte / daß der Euangelist Mattheus schreibt / da Christus mit seinen Aposteln auff dem mer war / vnnd schlieff. [...] Denn wie kunden die wellen des meeres schaden / weil der schöpffer des meeres bey yhnen zugleich im schiffe war? / Also auch vns. Sonst begnügt er sich mit einer semantischen oder sachlichen Erläuterung, und dies besonders bei Idiomen, denen auf den ersten Blick keine Lehre abzugewinnen ist. Hier ist es vor allem die Undurchsichtigkeit eines Ausdrucks - z. B. bei einer Metapher, die nicht jeder unmittelbar versteht -, die ihn zu einer Auslegung anregt, z. B.: Er ist zum Fuchß worden Ich habe droben gesagt im wort. Er hat mit der hawt bezalt / daß wir Deutschen vil figuren haben / da durch wir das sterben des menschen außreden / als / Er ist zum Fuchße worden. Füchse haben grüben / wie auch das Euangelion sagt / dainnen sie sich verbergen / also hat der mensch auch sein grab / darein er kreucht wenn er gestorben ist / auff daß das wort bestehe / das Got zu Adam sagte / Staub bistu / zu staub soltu wider werden. (Nr. 510) Dass „wir Deutschen vil figuren haben“ - also Metaphern -, die sich auf das Sterben beziehen, ermöglicht dann schließlich doch eine religiöse Belehrung. Aus heutiger Sicht besonders aufschlussreich und durchaus frappierend sind aber die Fälle, in denen eine primär religiöse Intention nicht auszumachen ist, sondern die den Autor offensichtlich nur oder doch vor allem wegen ihrer sprachlichen Auffälligkeit bzw. Intransparenz zu einer Auslegung anregen. So gibt er zu dem nominalen Phrasem Ein dünne zunge (Nr. 187) eine medizinisch-physiologisch-semantische Erklärung: Wer das fiber hat / odder sonst gebrechen des magens / der lungen odder leber / dem wirt die zunge dick [...] [Er schmeckt nicht mehr den Unterschied von süß und sauer usw., alles schmeckt ihm bitter.] Widderumb haben die eine dünne zungen / denen nichts bricht / vnd konnen alles wol schmecken / denn schmack ist der zungen eygenthumb / wie der nasen / riechen. [Wer eine dünne Zunge hat, der kann alles schmecken, den Unterschied zwischen guter und schlechter Speise, süßen und sauren Getränken.] er schmeckt bald was gut ist. Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 53 Für das verbale Phrasem Ich hab es von horen sagen (Nr. 179), das er natürlich nicht in einer abstrahierenden Nennform, sondern in aktualisierter Form (Ich habe es...) anführt, gibt er eine semantisch-pragmatische Erklärung: Was man horet / ist nicht so gewiß / als das man sihet / Vnd wenn einer sagt / er habs von horen sagen / so stellt ers inn einen zweyffel / vnd will es nicht fur ein gantze warheyt nach sagen / wenn er es aber gesehen hat / so dringet er darauff / vnnd will es bekant seyn was er geredet hat. Für das satzwertige Phrasem Es regnet wenn ich will (Nr. 576) - das sicherlich kein Sprichwort ist - gibt er eine langfädige und skurrile narrative Erklärung, die von ferne an Johann Peter Hebels Kalendergeschichten erinnert: Diß wort ist auß der that erwachssen / Man sagt daß eyn pawer gewesen sey / der sich hören lassen bei seinen nachbawren / wie er ein pferd hab / das sey klüger denn yhr Pfarrherr / darzu so regne es auff seinen acker wenn er wölle. Die mehre kommen für den Pfarrherr [usw.] Es scheint mir wichtig zu sehen, dass bei Agricola nicht die Zitierbarkeit im Vordergrund steht, auch nicht so etwas wie der Wahrheitsanspruch, sondern vor allem der Erklärungsbedarf bei gängigen Metaphern oder bei undurchsichtig gewordenen Mehrworteinheiten. Und hier kommen neben den Sprichwörtern eben auch die Idiome in den Blick. Erasmus und Agricola haben also ganz unterschiedliche Interessen bei ihrer Sammel- und Erklärungspraxis. 2. Sprichwörter versus Idiome Im Folgenden geht es mir darum, einige Gesichtspunkte zu nennen, die für eine vergleichende Betrachtung von Sprichwörtern und Idiomen relevant sein können. Sehr knapp hat Harnish (1993 [2003]) die Hauptmerkmale von Sprichwörtern und Idiomen einander gegenübergestellt. Für Sprichwörter nennt er die folgenden hauptsächlichen Kriterien: 1. they are traditional 2. they are sentential 3. they are general 4. they allude to common truths 4 5. they have a (relative) fixed form 4 ‘Common truth’ versteht der Autor in Analogie zu ‘common knowledge’. „Like common knowledge, which need not be knowledge at all, common truths need not actually be true. [...] a given speaker does not actually have to suppose that a common truth is true, they only have to think that most people think that it is.“ (Harnish 1993 [2003], S. 166) Harald Burger 54 6. they have some (rudimentary) literary value 7. they have constative or directive force (Harnish 1993 [2003], S. 168). ‘Idioms‘ werden dagegen so charakterisiert: These are non-compositional chunks of language, which can resemble proverbs because they have a fixed form and are sometimes traditional and sometimes have literary value. However they are rarely sentential and (so? ) lack explanatory or directive force. (ebd.) Im Gegensatz zur (heutigen) phraseologischen Terminologie ist dies ein sehr enges Konzept von ‘idiom’, und so benötigt Harnish noch eine weitere Kategorie, die den Sprichwörtern benachbart ist, die ‘metaphors’ - soweit diese traditionell und (mehr oder weniger) verfestigt sind und die nicht als ‘noncompositional‘ betrachtet werden können. Wenn man diese Kategorien zusammenfasst unter einem weiteren Konzept von ‘Idiom’, kann man der Gegenüberstellung im Großen und Ganzen zustimmen. Es ist völlig unbestreitbar, dass Sprichwörter und Idiome - abgesehen von der bei Röhrich angesprochenen schmalen Übergangszone - funktional betrachtet ihre eigenen, klar getrennten Domänen haben, wie sie in der Auflistung von Harnish deutlich werden. Insbesondere, dass Sprichwörter pragmatische Funktionen haben, die Idiome nicht haben - und vice versa -, muss nicht mehr diskutiert werden. Ich möchte mich bei der folgenden Konfrontation von Sprichwörtern und Idiomen nicht auf die strukturellen Aspekte beziehen, sondern auf die Phraseme im Gebrauch, allerdings nur in geschriebenen Texten. Dort wo es möglich ist, werde ich jeweils eine historische Situation mit der heutigen konfrontieren, wobei es natürlich nicht darum gehen kann, Entwicklungen zu zeigen, sondern nur etwaige Ähnlichkeiten und Kontraste. Und meistens wird es sich um Fragen handeln, für die noch keine fertigen Antworten vorhanden sind. Auf die ersten drei Punkte werde ich nur stichwortartig eingehen, da mir dazu nicht genügend historische Daten zur Verfügung stehen, auf die drei weiteren etwas eingehender und unter Einbeziehung historischer Texte. 2.1 Quantitative Verteilung Heute ist es ganz klar, dass Sprichwörter in Texten gegenüber Idiomen in der Minderzahl sind. Ich habe keine korpusgestützten Zahlen, aber die Evidenz ist wohl eindeutig. In früheren Zeiten war die Situation vielleicht anders. Wenn man Texte der frühen Neuzeit liest, sind Sprichwörter mindestens so prominent wie Idiome. Die relative Abnahme der Sprichwörter ist kein Phänomen Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 55 der jüngsten Zeit. Mangels quantitativer historischer Daten will ich mich da auf keine Spekulationen einlassen, sondern nur die Frage als eine Aufgabe für künftige historische Phraseologie formulieren. 2.2 Metasprachliche Indizierung Metasprachliche Hervorhebung, Umrahmung, Einleitung ist bei Sprichwörtern häufig - und war es schon immer. Ein beliebiges Beispiel: So schmeckt der Sommer Ein Sprichwort lautet „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“. Dafür tut es dieser Rosé - er sorgt für intensivste Sommergefühle. So sehr, dass man sich wünscht, die warme Jahreszeit möge nie enden; oder zumindest so lange dauern, bis man sich an dem Corbières satt geschnuppert und getrunken hätte. [...] (Coopzeitung 34, 24.8.2010, S. 27) Dies gilt auch für gesprochene Sprache, wo nach Ďurčo (2002) bekanntlich der häufigste Konnektor ist, der das Sprichwort an den Kontext bindet. Sprichwörter werden also häufig als Texte oder Formeln einer zweiten, bereits präexistierenden Ebene beigezogen und indiziert. Das kann den Sinn haben, sich auf diese Ebene zu „berufen“, es kann aber auch dazu dienen, sich davon zu distanzieren: Krumme Linie im Ständerat Bausparen gegen die Kantone wab. - Wir wollen nicht dramatisieren. Ob in der Schweiz bei den Steuern auch noch ein Abzug fürs Bausparen eingeführt wird, ist keine zentrale Frage. Die Steuern werden dadurch noch komplizierter [...]. Einen wirksamen Beitrag zur Wohneigentumsförderung bilden Steuerabzüge kaum; „nützts nüüt, so schadets nüüt“, 5 kann man aber den Volksmund sprechen lassen. Und weil das Anliegen zweifellos populär wirkt, ist es taktisch vielleicht nicht dumm, wenn der Ständerat es gar nicht erst auf eine Volksabstimmung ankommen lassen und auf Gesetzesstufe eine Lösung suchen will, die den Rückzug zweier Volksinitiativen ermöglicht. Doch trotzdem: [sachlich sei die Idee falsch, aus mehreren Gründen] (Neue Zürcher Zeitung, 9.6.2010) Die Neue Zürcher Zeitung ist keine besonders volksnahe Zeitung. Wenn sie „den Volksmund sprechen“ lässt, so geschieht das als ironisierendes Zitat, in Anführungszeichen, und in Mundart (obwohl es das Sprichwort auch hochdeutsch gäbe: Nützt es nichts, so schadet es auch nichts fehlt zwar in Duden 11, weist aber viele Google-Belege auf mit metasprachlichen Formeln wie nach dem Motto). 5 Hervorhebungen durch den Verfasser sind hier und im Folgenden fett gesetzt. Harald Burger 56 Dobrovol’skij / Lûbimova (1993) haben gezeigt, dass dies aber keine exklusive Eigenschaft von Sprichwörtern ist, sondern durchaus auch bei Idiomen vorkommt, wenn man z. B. die Bildhaftigkeit oder auch die Phrasenhaftigkeit hervorheben will. Auch die direkte Benennung des Idioms als ‘Redensart’ ist nicht selten anzutreffen, wie schon eine oberflächliche Google-Suche zeigt, z. B.: Er [Kubrick] ist, wie die Redensart sagt, nach getaner Arbeit sanft entschlafen, knapp eine Woche nachdem er seinen letzten Film „Eyes Wide Shut“ fertiggestellt hatte. (Der Spiegel, 17.7.1999) [Nicht ganz klar ist hier, worauf sich die metasprachliche Formel bezieht - auf nach getaner Arbeit oder sanft entschlafen oder beides.] Eine genauere Korpussuche wird wahrscheinlich zeigen, dass die metasprachliche Indizierung bei Sprichwörtern häufiger ist als bei Idiomen und dass sich die Formeln der Indizierung unterscheiden. Z. B. findet man die Formel nach dem Motto vorwiegend bei Sprichwörtern und sonstigen Satzphrasemen, während wie man so schön sagt sich eher ausgewogen auf die beiden Phrasemtypen zu verteilen scheint. 2.3 Ort im Text Es ist verschiedentlich gezeigt worden, dass Idiome in der Presse häufig an exponierten Stellen des Textes auftreten, in der Schlagzeile, am Anfang und Ende des Fließtextes als eine Art Rahmen usw., nach diesem Muster: Nur in der Schlagzeile (aber in der Unterzeile finden sich zwei weitere Idiome): Jammern wie die Bauern Bis zu acht Milliarden haben die Stromer in den Sand gesetzt. Jetzt machen sie die hohle Hand. Die Schweiz hat eine neue Jammerbranche: die Elektrizitätswirtschaft. Wie die Bauern müssen auch die Strommer sich an die Marktregeln gewöhnen. Denn sie verlieren mit der Liberalisierung die schützende Monopolstellung. So will es eine EU-Richtlinie, um die auch die Schweiz nicht herumkommen wird. (Tages-Anzeiger, Zürich, 18.9.1997) Rahmung: Wie der Hamster im Rad Die lange Nacht in Brüssel endete für die Schweiz wie schon so oft: kein Durchbruch und kein Abbruch, vielmehr neue Zusatzschlaufen im bilateralen Marathon mit ungewissem Ende. Die Schweiz hat sich in den letzten Monaten in der Verkehrsfrage bewegt, das attestierten ihr die Aussenminister und der Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 57 Verkehrskomissar der EU. Dennoch kommt sich die Schweiz vor wie der Hamster im Rad, der sich ständig bewegt und dennoch nicht vom Fleck kommt. (Neue Zürcher Zeitung, 19.3.1998) Diese Tendenz zu auffallender Positionierung zeigen auch die Sprichwörter, z. B. im folgenden Zeitungskommentar, der durch einen Biblismus (nach Johannes 8, 12: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“) gerahmt ist und im Fließtext eine Reihe weiterer Phraseme enthält (der Stoff, aus dem die Träume sind, wie der Esel am Berg): Kommentar: Der werfe den ersten Stein Klar weiss ich auch als Mutter, was Pubertät ist. Oder zumindest beginnt es mir zu dämmern. Als Teenager der „wilden“ 68er war man ja auch schon jemand. Man hatte seine Schwärme. Der Nachbarsjunge mit dem silbernen Fahrrad rückte zum Objekt der Anbetung auf, der Lateinlehrer und der Mann aller Männer, James Dean im „Bravo“. Die ihnen entgegengebrachten Regungen aber waren mehrheitlich aus dem Stoff, aus dem die Träume sind. Mit anderen Worten: Die erinnerte Jugend ist, wie eine Studie über das Sexualverhalten der 16bis 20jährigen hierzulande unlängst bestätigt hat, von der heutigen gar nicht so weit entfernt. [...] Dann liest du eine Nachricht wie diese: Ein 14- und ein 15jähriger Bub haben ein kleines Mädchen sexuell missbraucht. Wie der Esel am Berg stehst du vor deinen eigenen Heranwachsenden. Du hoffst vielleicht, dass die Standards, die du ihnen mitgegeben hast - oder diejenigen ihrer Lehrer und ihrer Freunde -, sie vor dem Schlimmsten bewahren. Und jedenfalls wirst du den ersten Stein nicht werfen. (Tages-Anzeiger, Zürich, 10.6.1997) Ein Beispiel für Rahmung (mit verschiedenen Modifikationen) aus einem Leserbrief zu einem Sportkommentar - wie denn überhaupt Leserbriefe ein idealer Fundort für Rahmungen sind, da die Überschrift in der Regel von der Redaktion gesetzt wird, mit auffälligem Sprachmaterial aus dem Brief selbst: Steinschmeisser im Glashaus Türkyilmaz' Auftritt, eine Frechheit, TA vom 22.10. Eine Bemerkung vorweg: Gewiss hat Kubi Türkyimaz schon brillantere Spiele geliefert als jenes gegen Fiorentina. Schlecht hat er allerdings nach seiner Verletzungspause nicht gespielt. Um so unverständlicher ist die Polemik, die der sonst so besonnene Günter Netzer gegen ihn vom Zaun reisst. Solche verbalen Steine sollte jemand, der selber im Glashaus sitzt, nicht schmeissen. UELI MÄGLI , ZÜRICH (Tages-Anzeiger, Zürich, 3.11.1998) Harald Burger 58 Freilich sind die Sprichwortbelege, die ich in meiner (noch nicht auf Korpora gestützten) Sammlung finde, weit seltener als die Idiombelege - was ja durchaus der heutigen quantitativen Verteilung der Klassen entspricht. Für ältere Zeiten stehen mir zu diesem Punkt keine aussagekräftigen Daten zur Verfügung. Abb. 1 (zu S. 59 gegenüber) 2.4 Häufung Die Häufung von Phrasemen ist ein sowohl historisch als auch synchron gesehen aufschlussreiches Phänomen. 6 Die Gründe für eine Aneinanderreihung desselben und doch nicht ganz desselben können ganz unterschiedlich sein. 6 Sabban (2007, S. 250) weist darauf hin, dass Häufung „konstitutiv für bestimmte Textsorten und ihre Funktionen“ sein kann und dass Häufungen einzelner Phrasemtypen bestimmte Funktionen haben können. Auf potenzielle Unterschiede zwischen Sprichwörtern und Idiomen geht sie aber nicht ein. Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 59 In der frühen Neuzeit haben wir Texte wie das Narrenschiff von Sebastian Brant (1494) mit zahlreichen Passagen, in denen Sprichwörter und Idiome gehäuft auftreten. Die Häufung hat ihren ganz klaren didaktischen Sinn. z. B. wird der sprichwörtliche Grundgedanke ‘man kann nicht zwei Herren dienen’ - mit der Konkretisierung ‘Welt versus Gott’ (nach Matthäus 6, 24) 7 - visuell und textuell in verschiedenen Variationen durchgespielt. 8 Der Holzschnitt (siehe Abb. 1 auf der Vorseite) zeigt einen visualisierbaren Aspekt - den Jäger, der mit einem Hund zwei Hasen jagt - des allgemeineren Gedankens. Das im Bild visualisierte Sprichwort wird sowohl im darüber stehenden Motto als auch im nachfolgenden Text (Narrenschiff, Kap. 18) sprichwortartig ausgeführt. Die verschiedenen in Bild und Text realisierten Sprichwörter haben als onomasiologischen Rahmen den sprichwörtlichen Grundgedanken, der sie didaktisch umfasst. Motto: Der vocht zwen hasen uff ein mol Wer meynt zweyn herren dienen wol Vnd richten vß me dann er sol Text: Der ist eyn narr der vnderstot Der welt zuo dienen / vnd ouch got Dann wo zwen herren hat eyn knecht Der mag jn nyemer dienen recht Gar offt verdürbt eyn hantwercksman Der vil gewärb vnd hantwerck kan Wer jagen wil / vnd vff eyn stund Zwen hasen vohen / mit eym hund Dem wurd ettwan kum eyner wol [...] Die Visualisierungen im Narrenschiff geben, wie in diesem Beispiel, eine Konkretisierung einer allgemeineren Idee, oder sie weisen darauf hin, dass verschiedenste Handlungen an einen übergreifenden Sinnbereich gebunden 7 Lutherbibel 1545: „Niemand kann zweien Herren dienen. Entweder er wird einen hassen und den andern lieben, oder wird einem anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“. 8 Sabban (2007, S. 250) behandelt Verfahren dieser Art - allerdings nicht bezogen auf historische Texte - unter dem Aspekt ‘Bildfeld’: „(3) Häufung von Phrasemen (...) aus demselben oder einem verwandten Bildfeld. Mit dieser Art von Häufung wird die Aufmerksamkeit auf eben dieses Bildfeld gelenkt. Das Verfahren ist somit, wie die meisten Modifikationen, geeignet, die wörtliche Ebene zu evozieren.“ Harald Burger 60 sind, bzw. dass sie unter einem solchen Sinnbereich zusammen gesehen werden können. Ein Beispiel, das vor allem mit Idiomen operiert, sind die SINNLOSEN HAND- LUNGEN (vgl. dazu Burger 2012). In Kap. 32 von Brants Narrenschiff wird „frowen huetten“ (bereits in der Überschrift) thematisiert und einerseits durch das Bild, das verschiedene typisch sinnlose Handlungen zeigt, andererseits durch den Text in den interpretativen Rahmen SINNLOSE HANDLUNGEN eingefügt. Da es sich hier um Handlungen und nicht um allgemeine Aussagen handelt, die visualisiert werden, werden nicht Sprichwörter, sondern Idiome kumuliert. Allerdings handelt es sich dann um den Typ von Idiomen, der sich leicht zu einer sprichwortartigen Formulierung ausbauen lässt: Man soll nicht / man kann nicht ... xy tun, das wäre eben sinnlos. Das Motto lautet: Der huett der hewschreck an der sunn Vnd schüttet wasser jn eyn brunn Wer huettet das syn frow blib frum Darunter sieht man den Holzschnitt: Abb. 2 Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 61 Wer die zur Diskussion stehende Handlung ausführt („Wer huettet das syn frow blib frum“), der handelt so wie der, der „huett der hewschreck an der sunn“ usw., also wie der, der eine der notorischen sinnlosen Handlungen ausführt. Im 100 Jahre späteren Lalebuch (1597) stehen Sprichwörter im Vordergrund der Häufungen, der Sinn der Häufung ist aber noch weitgehend derselbe: Es haben die Alten vor viel hundert jaren disen herrlichen spruch / welcher auch noch zu disen vnseren zeiten warhafft / vnd deßhalben gelten soll / gehabt / da sie also gesprochen: Eltern wie die geartet sind / Also sind gmeinlich jhre Kind: Sind sie mit Tugenden begabt / An Kindern jhr deßgleichen habt. Kein guter Baum gibt böse Frucht: Der Mutter nach schlegt gern die Zucht. Ein gutes Kalb / ein gute Kuh: Das Jung thuts gern dem Vatter zu. Hat auch der Adler hoch von Muht Forchtsame Tauben je gebrut? Doch merck mich recht / merck mich mit fleyß / Was man nicht wescht wirdt selten weiß. (1. Kap.) Die Sprichwörterliste als onomasiologisch verkettete Häufung verstärkt die Geltung des uralten „herrlichen Spruchs“. Wenn jemand die Idee hat - wie es bei den Lalen der Fall ist - dass „die Weyber der Männern Arbeit verrichten sollen“, dann ist das Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das wird auch hier belegt durch eine Sprichwortliste, die wiederum durch den Grundgedanken onomasiologisch zusammengehalten wird: Dann / wie schon zum theil vermeldet / Des Herren Tritt den Acker tüngt / Des Herren Aug das Viehe verjüngt. Des Herren gegenwertigkeit Helt in gehorsam Knecht vnd Meyd. Wa der Herr nicht selbst kommet hin / Da ist gewißlich schlecht der Gwinn. (2. Kap.) Harald Burger 62 Freilich lässt sich mit den Sprichwörtern auch die Narrheit stützen - was wohl als eine Form von ironischer Verwendung der Sprichwörter aufgefasst werden muss. Denn als die Lalen mit ihrem närrischen Tun beginnen und sich fragen, „bey welchem Zipffel man die Narrenkappen angreiffen solte“, da verhandeln sie des langen und breiten und lassen sich alle Zeit der Welt beim Diskutieren. Dann weil der handel sehr wichtig vnd schwer / vnd jr aller heyl vnd wolfart daran gelegen / wolt es sich damit nit eylen lassen. Gut ding muß haben gute weil: Ehe wigs / dann wags 9 / so triffst das ziel. Eylen zusehr thet niemaln gut: Gmach gehn man auch weit kommen thut. (6. Kap.) Phraseographen wie Sebastian Franck (Sprichwörter, 1541) exzerpieren dann solche onomasiologischen Listen und liefern gleichzeitig Vorbilder für die Sprichwortverwendung, z. B.: Bauwest ein hauß / so machs vollend auß. Hast kind / so zeuch sie. Nimmst ein weib / so wart jr. Weiber vnnd pferde wöllen gewart haben. Wart deines ampts. Was du anfahest / das mach auß. Es ist besser nit anfahen / denn erliegen / Fliehen / dann schendlich fechten / Nit bauwen / dann nicht außrichten. [...] (S. 15f.) Den Ausdruck Weiber hueten führt Franck (Sprichwörter, S. 27) auf unter dem Obertitel „Vergebne arbeyt“. Unter diesem Titel verzeichnet er insgesamt 26 Items. Im folgenden Beispiel gibt der lateinische Satz, wie auch sonst öfters, die übergreifende Idee wieder: Es ist besser ein arm dann den hals abgefallen. Praestat vni malo obnoxium esse, quàm duobus. [...] Es ist besser das kind weyne / dann der vatter. Besser schel dann blindt. Besser gutloß / dann ehrloß. Besser arm mit ehren / dann reich mit schanden. Besser in den reisen / dann in den eisern. [...] Besser erstickt / dann erfroren. Besser etwas / dann nicht. [...] (S. 15) Ganz anders bei Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1826): Immer wenn der Taugenichts einsam, mit seiner Pfeife im Garten sitzend, über sein Leben meditiert oder vor sich hin „philosophiert“, neigt er dazu, seine Einsichten in Sprichwörtern zu formulieren: 9 Wörtl.: Zuerst wäge es ab, dann wage es. Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 63 Es wird keinem an der Wiege gesungen, was künftig aus ihm wird, eine blinde Henne findet manchmal auch ein Korn, wer zuletzt lacht, lacht am besten, unverhofft kommt oft, der Mensch denkt und Gott lenkt, so meditiert ich, als ich am folgenden Tage wieder mit meiner Pfeife im Garten saß und es mir dabei, da ich so aufmerksam an mir heruntersah, fast vorkommen wollte, als wäre ich doch eigentlich ein rechter Lump. - Ich stand nunmehr, ganz wider meine sonstige Gewohnheit, alle Tage sehr zeitig auf, eh sich noch der Gärtner und die andern Arbeiter rührten. Da war es so wunderschön draußen im Garten. (S. 353f.) Dem Portier werden „philosophische Gedanken“ in den Mund gelegt, die in der Wirklichkeit der Erzählung diejenigen des Taugenichts sind: Mir aber ging mancherlei im Kopfe herum. Die Jungfer, die mir vorhin die Rose geschenkt hatte, war jung, schön und reich - ich konnte da mein Glück machen, eh man die Hand umkehrte. Und Hammel und Schweine, Puter und fette Gänse mit Äpfeln gestopft - ja, es war mir nicht anders, als säh ich den Portier auf mich zukommen: „Greif zu, Einnehmer, greif zu! jung gefreit hat niemand gereut, wers Glück hat, führt die Braut heim, bleibe im Lande und nähre dich tüchtig.“ In solchen philosophischen Gedanken setzte ich mich auf dem Platze, der nun ganz einsam war, auf einen Stein nieder, denn an das Wirtshaus anzuklopfen traute ich mich nicht, weil ich kein Geld bei mir hatte. (S. 375) Wenn man der literaturwissenschaftlichen Fachliteratur glauben darf, ist dieser Hang zu den Sprichwörtern ein Symptom der „Einfalt des Herzens“, die Eichendorff in seinem Helden verwirklicht. Einfalt war damals kein pejoratives Prädikat, noch nicht in der Nähe der heutigen Einfältigkeit. Prädikate wie ‘schlicht’, ‘uneigennützig’, ‘liebenswürdig’ werden dem Einfältigen zugeschrieben. 10 10 Ter Haar (1977, S. 28) zitiert den Brockhaus von 1830: „Einfalt ist dem Vielfältigen und Mannigfaltigen entgegengesetzt, wie das leicht Übersehbare dem Verwickelten, schwer zu Übersehenden, zu Erkennenden. (...) Den moralisch Einfältigen nennt man auch den Mann von schlichtem Herzen, einfacher Sitte; seine Beschränkung ist freiwillig. Wer einfältigen Verstandes ist, kann nicht nach weitaussehenden und verwickelten Absichten handeln; wer einfältigen Herzens ist, will es nicht. Der Stimme seines Gewissens folgend klügelt er nicht über seine Pflichten, er übt sie aus, unbekümmert um den Grund derselben, über welchen der Philosoph sich oft gern in Zweifel verwickelt und den der Weltling gern untergrübe. Sein Leben zeichnet sich aus durch eine Übereinstimmung der Gesinnungen und Handlungen, welche alle entfernte eigennützige Nebenabsichten ausschließt, wobei denn freilich seine Einfalt des Herzens zum Weltklugen als Einfalt des Verstandes erscheinen mag. (...) der moralisch Einfältige ist gewiß, durch Liebenswürdigkeit das Herz zu gewinnen; er gewinnt es aber, ohne es zu wollen, denn auch hier ist er frei von Absicht.“ Harald Burger 64 Mahoney (2005, S. 158ff.) sieht darin allerdings eher eine ironische Persiflage der Sprache einfacher Leute. In solchen Augenblicken des „Philosophierens“ erliege der Taugenichts - beinahe - der Versuchung, zum Spießbürger zu werden, wie sich in der folgenden Passage besonders deutlich zeige: Der Schlafrock stand mir schön zu Gesichte, und überhaupt das alles behagte mir sehr gut. So saß ich denn da und dachte mir mancherlei hin und her, wie aller Anfang schwer ist, wie das vornehmere Leben doch eigentlich recht bequem sei, und faßte heimlich den Entschluß, nunmehr alles Reisen zu lassen, auch Geld zu sparen wie die andern und es mit der Zeit gewiß zu etwas Großem in der Welt zu bringen. (Taugenichts, S. 358f.) Christina Isensee (2008) hat gezeigt, dass in Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche (1842) Häufungen von Phrasemen einen ganz anderen Sinn haben: Sie kommen in auffälliger Häufung im Zusammenhang mit Tarnung, Verwirrung, Verschleierung, Verzerrung, Verstecken, Vernebelung, Lüge und Täuschung“ vor. „Sie bringen nicht als ‚Wahrheiten‘ und ‚Weisheiten‘ Aufklärung und Licht in das Geschehen, sondern tragen viel mehr zur Verdunkelung und Verschleierung bei. (Isensee 2008, S. 132), z. B. in der, wie Isensee nachweist, stark manipulativen Sprache von Simon: Ja, Mädchen, zu spät gefreit, hat immer gereut! Jetzt bist du alt und das Kind ist klein. Jedes Ding hat seine Zeit. Aber wenn ein altes Haus brennt, dann hilft kein Löschen. (Isensee 2008, S. 138) Die weiteren Beispiele zeigen, dass die Verdunkelungsstrategie ebenso von Sprichwörtern wie von Idiomen übernommen wird. Insofern weicht die Technik deutlich von den bisher besprochenen ab. In heutigen Texten finden sich Häufungen vor allem in Kleinformen, in der Lyrik, in Aphorismen, wie Wolfgang Mieder vielfach (z. B. 2000 und zuletzt 2010) demonstriert hat. Dabei steht der Aspekt der Modifikation im Vordergrund. Das gilt auch für die viel kommentierten Idiom-Häufungen bei Günther Grass (Die Blechtrommel, Hundejahre), bei Helmut Heißenbüttel, bei Martin Walser. Im Gegensatz zur frühen Neuzeit fehlt heute auch der vorgegebene interpretative Rahmen (wie ‘Sinnlose Handlungen’). Er muss jeweils textintern konstruiert werden. Sabban (2007, S. 250) weist im Anschluss an verschiedene Studien darauf hin, dass die gehäufte Verwendung eines Phrasemtyps [...] eine Distanz zu genau diesem Ausdrucksmittel ausdrücken [kann]. Das Verfahren hat ein Potential für distanziert-spöttische, satirisch-ironisierende Redeweisen und begegnet zum Beispiel in den Textsorten Glosse und Sketch [...]. Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 65 Gemeint sind hier also Texte der Gegenwart. Bei Häufungen ist es fast die Regel, dass Phraseme des gleichen Typs gehäuft werden, dass aber nicht gemischt wird. Wo dies doch der Fall ist, sind solche Texte aufschlussreich für die textinternen Relationen und Funktionen der Typen. Was trägt der eine, was der andere zur Textkonstitution bei? Schöne Beispiele dafür finden sich beim Barock-Autor Georg Philipp Harsdörffer in seinen Frauenzimmer Gesprächspielen (1644-1657), wo sich ganze Texte finden, die nur aus Sprichwörtern und Idiomen bestehen, z. B. Briefe (nach spanischen, italienischen, französischen Vorbildern). Beispielsweise liest man in einem ersten Brief eine ziemlich bösartige Beschimpfung einer Frau durch ihren Liebhaber (? ), worauf die Frau in einem zweiten Brief ebenso bösartig antwortet (Bd. 1, S. 219ff.). 11 Es sei hier nur der Anfang des Briefes der Frau angeführt: Edel vermeinter Junker Wie man in Wald schreiet / so laut es wieder / und wer Vbel redt / muß Vbels hören / und wer gerne viel höret / höret viel / das er nicht gerne höret. Nun seyd ihr eben für die rechte Schmitten kommen / vnd sol euch euer Brief gedeyen wie dem Hund das Gras: Dann ob ich wol Anfangs davorgehalten / keine Antwort sey auch eine Antwort: So habe ich doch nachmals bedacht / daß man Böß mit Bösem vertreiben muß / und daß auf eine Klage gleichwol eine Antwort gehöret. [...] Aber wie vermeinet ihr / ich hab euch wollen am Narrenseil führen / das Hälmlein durchs Maul ziehen / und Stroh in Bart flechten: O es fehlt um ein gantzen Baurenschritt / und kan niemand einen leichter / als ein jeder sich selbsten / betriegen. [...] (S. 224f.) Die Sprichwörter zu Beginn geben den allgemeinen argumentativen Rahmen, warum der erste Brief eine solche Antwort provoziert. Dann kommt die Adaptation an die konkrete Situation und Person der Schreiberin, mit den Idiomen seyd ihr eben für die rechte Schmitten kommen... und sol euch...gedeyen wie dem Hund das Gras. In ihrem Räsonnement - ob sie überhaupt eine Antwort schreiben soll - bedient sich die Frau wieder einer Reihe von Sprichwörtern (keine Antwort sey auch eine Antwort usw.). Die anschließenden Unterstellungen - was sie nach Meinung des Mannes „verbrochen“ haben solle - sind mit Idiomen formuliert (ich hab euch wollen am Narrenseil führen usw.), da es 11 Die Angabe von Band und Seitenzahlen erfolgt gemäß dem Neudruck. Harald Burger 66 sich um Handlungen handelt. Dass der Mann sich geirrt habe, wird emphatisch mit der festen Phrase es fehlt um ein gantzen Baurenschritt ausgedrückt und schließlich durch ein Sprichwort argumentativ bekräftigt (kan niemand einen leichter / als ein jeder sich selbsten / betriegen). In den Gesprächspielen findet sich sogar ein ganzes Schauspiel (Das Schauspiel Teutscher Sprichwörter, Bd. 2, S. 309-417) von 1641, das vorwiegend mit Phrasemen operiert. Es handelt sich dabei um eine Nachbildung - von eigentlicher „Übersetzung“ kann man kaum sprechen - eines französischen anonymen Textes (Comédie des Proverbes) von 1632. Das Schauspiel hat mit sprachlicher Realität sicher nicht viel zu tun und ist für unsere heutigen Begriffe wenig unterhaltsam, aber es konstruiert eine Art experimentelle Situation für die Einbettung von Phrasemen im dialogischen Text. Und auch hier findet sich eine relativ klare Funktionsteilung von Sprichwörtern und Idiomen: Mit Idiomen treiben die Figuren die Handlung voran, mit Sprichwörtern begründen sie ihre Handlungen vorausdeutend oder nachträglich. Im argumentativen Wortgefecht dienen vor allem Sprichwörter als rhetorische Waffen. 2.5 Phraseme als Indizes für Idiolekt und Soziolekt Wie schon 1982 von Burger / Buhofer / Sialm im Handbuch der Phraseologie gezeigt wurde (S. 10ff.), gehört es zu den Techniken von Romanautoren wie Theodor Fontane, bestimmte Typen von Phrasemen bestimmten Idiolekten und Soziolekten zuzuordnen. Fontane ist in der deutschen Literatur sicher der absolute Meister dieser narrativen Technik. Wie seine eigenen Notizen zeigen, konstruiert er seine Figuren häufig durch die Sprache, mit der er sie ausstattet, und dabei spielt die Phraseologie eine prominente Rolle. Es findet sich eine ganze Bandbreite von Konstellationen, von der Sprache der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Figuren mit ihren schlichten Sprichwörtern und Idiomen über die der reichen Bürger mit ihrer zum Teil hochtrabenden, zum Teil aber auch ironischen Sprechweise bis hin zum erstaunlich flexiblen und ironisierenden Konversationston des märkischen Adels. Bei der Beschreibung der Fontane'schen Phraseologie würde es zu einer Verzerrung der Perspektive führen, wenn man, wie ich das bisher getan habe, den Fokus nur auf Sprichwort und Idiom lenkt. Hier ist unbedingt der Bereich der ‘Geflügelten Worte’ den beiden anderen Kategorien an die Seite zu stellen. Geflügelte Worte spielen in der Phraseologie des Bürgertums wie des Adels im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle, und nicht umsonst hat Georg Büchmanns Sammlung Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 67 (Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes, erstmals 1864, dann in vielen weiteren Auflagen) einen so durchschlagenden Erfolg gehabt. Geflügelte Worte sind dadurch charakterisiert, dass sie eine identifizierbare Textquelle haben und von einem Teil der Sprecher noch als Zitat empfunden werden (vielleicht nicht immer mit Kenntnis der genauen Quelle), dass sie sich aber oft im Übergang zu „normalen“ Phrasemen befinden. Ich will hier nur zwei Beispiele kontrastieren: Einerseits den Kommerzienrat van der Straaten - „Große Petristraße 4, einer der vollgiltigsten Finanziers der Hauptstadt“ aus L'Adultera (1882) und andererseits den Stechlin aus Der Stechlin (1899), „Dubslav von Stechlin, Major a. D. und schon ein gut Stück über Sechzig hinaus“ - „der Typus eines Märkischen von Adel, aber von der milderen Observanz, eines jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln“. Van der Straatens Sprichwörter sind nicht spektakulär, sondern halten sich im Rahmen der Wertvorstellungen seiner Gesellschaftsschicht: Und zur Belohnung: das Bild [eine Kopie von Tintorettos L'Adultera] soll nicht an den Eckpfeiler, sondern wirklich in die Galerie. Verlaß dich darauf. Und um dir nichts zu verschweigen, ich hab' auch über all das so meine wechselnden und widerstreitenden Gedanken, und mitunter denk' ich: ich sterbe vielleicht drüber hin. Und das wäre das Beste. Zeit gewonnen, alles gewonnen. Es ist nichts Neues. Aber die trivialsten Sätze sind immer die richtigsten. (Kap. 2, S.15) 12 In seiner Phraseologie stehen Sprichwörter, feste Phrasen und auch Idiome nebeneinander, die z. T. Lokalcharakter haben. Bereits ganz zu Beginn wird er durch diesen lokalen Aspekt seiner Phraseologie charakterisiert: Einige neuerdings erst unternommene Reisen nach Paris und Italien, die übrigens niemals über ein paar Wochen hinaus ausgedehnt worden waren, hatten an diesem Tatbestande nichts Erhebliches ändern können und ihm jedenfalls ebenso seinen spezifisch lokalen Stempel wie seine Vorliebe für drastische Sprüchwörter und heimische „geflügelte Worte“ von der derberen Observanz gelassen. Er pflegte, um ihn selber mit einer seiner Lieblingswendungen einzuführen, „aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen“ und hatte sich, als reicher Leute Kind, von Jugend auf daran gewöhnt, alles zu tun und zu sagen, was zu tun und zu sagen er lustig war. (Kap. 1, S. 7) „(...) Denn es ist schließlich alles ganz egal und, mit Permission zu sagen, alles Jacke...“ Der aus der vergleichendsten Kleidersprache genommene Berolinismus, mit dem er seinen Satz abzuschließen gedachte, wurd' auch wirklich gesprochen, aber er verklang in einem Getöse, das der Major durch einen ge- 12 Das Sprichwort kommt übrigens auch in Effie Briest und Stine vor. Harald Burger 68 schickt kombinierten Angriff von Gläserklopfen und Stuhlrücken in Szene zu setzen gewußt hatte. (Kap. 5, S. 33) [Die Ellipse deutet darauf hin, dass Fontane bei seinen Lesern damit rechnet, dass sie das Phrasem verstehen.] Ein Beispiel für seinen Umgang mit Geflügelten Worten: Van der Straaten fiel in einen heftigen Krampfhusten, weil er, unter dem Lesen, unklugerweise von seinem Sherry genippt hatte. Nichtsdestoweniger sprach er unter Husten und Lachen weiter und erging sich in Vorstellungen Reiffscher Großtaten. „In politischer Mission. Wundervoll. O lieb' Vaterland, kannst ruhig sein. Aber einen kenn' ich, der noch ruhiger sein darf: er, der Unglückliche, den er sucht. Oder sag' ich gleich rundweg: der Attentäter, dem er sich an die Fersen heftet. Denn um etwas Staatsstreichlich-Hochverräterisches muß es sich doch am Ende handeln, wenn man einen Mann wie Reiff allerpersönlichst in den Sattel setzt. Nicht wahr, Sattlerchen von der Hölle? Und heut' abend noch! Die reine Ballade. ‘Wir satteln nur um Mitternacht.’ O Lenore! O Reiff, Reiff.“ Und er lachte konvulsivisch weiter. (Kap. 8, S. 53) „Lieb Vaterland magst ruhig sein“ - heißt eine berühmte Zeile aus Die Wacht am Rhein, 1840 von Max Schneckenburger gedichtet. Im Kaiserreich hatte das Lied in der Vertonung von Karl Wilhelm (1854) fast den Status einer Nationalhymne. Van Straaten zitiert also nicht ganz wortgetreu. Außerdem führt er das Geflügelte Wort in den aktuellen Kontext ein, indem er ihm eine individualisierte Referenz („einen kenn ich“) verschafft. „Wir satteln nur um Mitternacht“ stammt aus Gottfried August Bürgers Ballade Lenore (1773) und ist hier wortwörtlich zitiert, aber persiflierend auf eine wenig passende Situation angewendet. Geflügelte Worte - durchaus im Sinne von Büchmanns Sammlung - gehören ganz selbstverständlich zur Sprachpraxis des Kommerzienrates. Er geht mit ihnen keineswegs ehrfürchtig, sondern recht frei und zum Teil ironisch um. Sprichwörter, Idiome und Geflügelte Worte sind Teil einer umfassenderen Konversationskultur, wie sie im Bürgertum und Adel des 19. Jahrhunderts gängig war. Im alten Dubslav von Stechlin ist diese Konversationskultur in ihrer elegantesten Form und fast durchgehend ironisiert verwirklicht. Sein idiolektales Profil zeichnet sich durch eine beiläufige, oft leicht modifizierende oder nur anspielende Verwendung von Sprichwörtern und Geflügelten Worten aus. Dabei sind die Sprichwörter deutlich prominenter vertreten als die Idiome. Er wirft seinem Vater vor, dass man ihm, dem Sohn, den pommerschen Namen Dubslav gegeben hat. Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 69 Gewiß, meine Mutter war eine Pommersche, noch dazu von der Insel Usedom, und ihr Bruder, nun ja, der hieß Dubslav. Und so war denn gegen den Namen schon um des Onkels willen nicht viel einzuwenden, und um so weniger, als er ein Erbonkel war. (Daß er mich schließlich schändlich im Stich gelassen, ist eine Sache für sich.) Aber trotzdem bleib' ich dabei, solche Namensmanscherei verwirrt bloß. Was ein Märkischer ist, der muß Joachim heißen oder Woldemar. Bleib im Lande und taufe dich redlich. Wer aus Friesack is, darf nicht Raoul heißen. (Kap. 1, S. 11) [Nach Psalm 37,3: „Erzürne dich nicht über die Bösen; sei nicht neidisch auf die Übeltäter. Denn wie das Gras werden sie bald abgehauen, und wie das grüne Kraut werden sie verwelken. Hoffe auf den Herrn und tue Gutes; bleibe im Lande und nähre dich redlich.“] Das lässige Zitieren macht also auch vor biblischen Zitaten nicht Halt (taufe statt nähre). Mit Shakespeare geht er ebenfalls sehr locker um [mit Bezug auf eine Bocksbeutelflasche und deren Form]: „Sehen Sie, meine Herren, verhaßt sind mir alle langen Hälse; das hier aber, das nenn' ich eine gefällige Form. Heißt es nicht irgendwo: ‘Laßt mich dicke Leute sehn’, oder so ähnlich. Da stimm' ich zu; dicke Flaschen, die sind mein Fall.“ Und dabei stieß er wiederholt mit Czako an. (Kap. 6, S. 67f.) [Nach Shakespeare, Julius Cäsar, I 2: Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein, mit glatten Köpfen, die des Nachts gut schlafen.] Umso verdächtiger sind ihm Leute, die sich der Geflügelten Worte - besonders derjenigen aus religiösen Kontexten - in allem Ernst und ohne jede Distanz bedienen: Im übrigen, wir werden ihn, ich meine den Pastor, ja wohl noch beim zweiten Frühstück sehen, wo Sie dann Gelegenheit nehmen können, sich mit ihm persönlich darüber auseinanderzusetzen; er liebt solche Gespräche, wie Sie wohl schon gemerkt haben, und hat eine kleine Lutherneigung, sich immer auf das jetzt übliche: ‘Hier steh' ich, ich kann nicht anders’ auszuspielen. Mitunter sieht es wirklich so aus, als ob wieder eine gewisse Märtyrerlust in die Menschen gefahren wäre, bloß ich trau' dem Frieden noch nicht so recht. (Kap. 5, S. 53) [„Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“ So wurden Luthers Worte am Ende seiner Rede auf dem Reichstag 1521 in Worms überliefert.] Harald Burger 70 Fontanes Figuren und die dahinter stehende Konversationskultur demonstrieren augenfällig, dass sich Sprichwörter und Idiome im Gebrauch nicht einfach miteinander konfrontieren lassen, sondern dass sie in einen größeren Rahmen von idiolektalen und gesellschaftlichen Sprechstilen eingebettet werden müssen. In diesem Konversationsrahmen des 19. Jahrhunderts spielen Sprichwörter eine sichtlich größere Rolle als Idiome, weil sie in die Reihe der zitierbaren Spracheinheiten gehören. Wie die heutige Situation sich darstellt, müsste erst noch untersucht werden. Autoren wie Walter Kempowski, die die Phraseologie von Idiolekten und Familiensprachen darstellen, beziehen sich auf die Zeit der eigenen Jugend oder sogar der vorangehenden Generation. Untersuchungen zur Jugendsprache (seit Henne 1986, S. 115-129; einen neueren Überblick gibt Ehrhardt 2007) registrieren bei den ‘Sprüchen’ der Jugendlichen ebenso sehr sprichwortartige Gebilde wie Idiome. Auf zwei Aspekte wurde in der Forschung hingewiesen, die eine funktionale Differenz andeuten könnten. Sprichwortartige Formulierungen finden sich vor allem als Verfremdung politischer Parolen (Du hast keine Chance, aber nutze sie) oder von Werbesprüchen (Milde Sorte, denn das Leben ist schon hart genug), worin sich die Distanzierung von geltenden Normen manifestiert. Demgegenüber dienen idiomartige Formeln eher dem Ausdruck von Gefühlen, Einstellungen, Bewertungen. 2.6 Modifikationen Sprichwörter werden ebenso wie Idiome schon früh modifiziert. Strukturelle und lexikalische Festigkeit, die im Mittelalter und in der frühen Neuzeit noch keineswegs in dem Maße gegeben sind wie heute, sind keine Voraussetzung für das Funktionieren modifizierender Verfahren. 13 Ausschlaggebend ist die stabile Semantik der Phraseme durch alle formalen Variationen hindurch. Das 18. Kapitel des Dil Ulenspiegel (1515) führt eine solche Modifikation eines Sprichworts vor: Die 18. Histori sagt, wie Ulenspiegel Brot kouff nach dem Sprichwort, als man sagt: „Wer Brot hat, dem gibt man Brot.“ [nach Matth. 13,12 Wer hat, dem wird gegeben] [...] Da gedacht er: „Der Winter ist hart und wegt der Windt darzu saur. Du hast offt gehört, wer Brot hat, dem gibt man Brot! “ Und kofft für zwen Schilling 13 Modifikationen, die gerade auf diesen Typen von Festigkeit basieren, kommen dementsprechend erst in neuerer Zeit vor, vgl. dazu Burger (2008). Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 71 Brot und nam ein Disch unnd gienge für den Thum zu Sant Steffan zu ston und het feil. Und hielt sein Gaucklerei so lang, daz ein Hundt kam und nam ein Brot von dem Tisch und lieff damit den Thumhoff hinuff. [Dann kommt noch eine Sau mit 10 Ferkeln und klaut die übrigen.] Da ward Ulenspiegel lachen und sprach: „Nun sihe ich offenbar, das die Wort falsch seind, als man spricht: Wer Brot hab, dem gibt man Brot. Und das ward mir genummen.“ [...] (S. 55f.) Das Sprichwort wird nicht „falsifiziert“, sondern in grotesker Weise wörtlich genommen, also in seiner literalen Lesart auf eine konkrete Situation angewendet. 14 Eulenspiegel schafft Vexierbilder. Vexieren durch Sprache liegt in diesem Text auf einer Ebene mit dem Vexieren durch Handlungen, und es ist ebenso ein Vexierspiel mit den Figuren wie mit dem Leser. Das gleiche Spiel treibt Eulenspiegel mit dem Idiom den Pelz waschen, wie ich andernorts gezeigt habe (Burger 2012). Es geht bei diesen Modifikationen darum, die wörtliche Lesart aus dem Hintergrund, in dem sie sich in unauffälligem Sprachgebrauch befindet, in den Vordergrund zu rücken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Sprichwörter oder Idiome handelt. Im 20. Jahrhundert gibt es prominente Beispiele dafür, dass dieses Verfahren genutzt wird, um die Phrasenhaftigkeit der Sprache, genauer gesagt: der Sprecher und ihres Sprachgebrauchs zu entlarven. Z. B. hat Karl Kraus (vgl. Burger 2012) die Sprache der Nationalsozialisten immer wieder durch ihren Gebrauch von metaphorischen Idiomen (weniger von Sprichwörtern) gebrandmarkt. Er nennt seine Sprachkritik „Revindikation des Phraseninhalts“. 15 Mit Idiomen wie Salz in offene Wunden streuen, mit einem blauen Auge davonkommen, [dem Gegner] das Messer an die Kehle setzen, [jmdm.] den Mund stopfen, mit harter Faust durchgreifen verschleiern die Nazis ihre Handlungen. 16 Die sozusagen harmlose Lesart ist die metaphorische. Diese ist die von 14 Bässler (2003, S. 249) spricht von „Wahrheitsprobe“ und „Falsifizierung“ des Sprichwortes, was aber angesichts des spielerischen Charakters dieses und vergleichbarer Texte wohl übertrieben ist. 15 Revindikation (neulat.) ist ein Rechtsterminus und bedeutet ‘Zurückforderung einer Sache als Eigentum’. 16 „[...] diese Revidikation des Phraseninhalts geht durch alle Wendungen, in denen ein ursprünglich blutiger oder handgreiflicher Inhalt sich längst zum Sinn einer geistigen Offensive abgeklärt hat. Keine noch so raffinierte Spielart könnte sich dem Prozeß entziehen - selbst nicht das entsetzliche: „Salz in offene Wunden streuen“. Einmal muß es geschehen sein, aber man hatte es vergessen bis zum Verzicht auf jede Vorstellung eines Tätlichen, bis Harald Burger 72 den Nazis vorgespiegelte. Das was sie aber faktisch tun, ist die Realisierung der wörtlichen Lesart der Idiome. Zwar sind Sprichwörter wie Idiome modifizierbar, doch gibt es einen - noch nicht genauer untersuchten, aber untersuchenswerten - Unterschied zwischen den beiden Typen: In den Aphorismen, die Wolfgang Mieder gesammelt hat, kommen Modifikationen von Sprichwörtern genau so oft vor wie von Idiomen. In beiden Fällen ist Wörtlich-Nehmen die häufigste Methode. Doch ist bei Idiomen das Vorhandensein zweier potenzieller Lesarten in den meisten Fällen Bedingung für eine Modifikation, bei Sprichwörtern aber nicht unbedingt. Auch nicht-metaphorische Sprichwörter können zu ‘Antisprichwörtern’ werden, weil es um Aussagen geht, die in ihr Gegenteil verkehrt werden. Die Antisprichwörter in Wolfgang Mieders neuesten Aphorismen-Analysen (Mieder 2010) zeigen dies Phänomen auf Schritt und Tritt. Z. B. Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger, der im Hauptberuf Chemiker war, kreiert viele Aphorismen, die auf nicht-bildhaften Sprichwörtern basieren (natürlich neben solchen, die bildhafte Sprichwörter als Grundlage haben): Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wer viel zagt, der nicht beginnt. (Mieder 2010, S. 158) Einigkeit macht stark, besonders im Irrtum. (ebd., S. 159) Gegensätze ziehen sich an: Sündenbock sucht Opferlamm. (ebd., S. 159) Ordnung ist das halbe Leben, aber die andere Hälfte ist interessanter. (ebd., S. 159) Ein Unglück kommt selten, wenn man allein ist [allein]. (ebd., S. 160) Der Klügere denkt [gibt] nach. (ebd., S. 160) Ein interessanter Fall ist das Sprichwort Was lange währt, wird endlich gut. Mieder hat verschiedentlich gezeigt, dass die modifizierte Formulierung Was lange gärt, wird endlich Wut bei mehreren Autoren belegt ist und zu einem selbständigen Sprichwort wurde, das zu einem Teil der „Sprüche-Kultur“ geworden ist (hier: Mieder 2010, S. 115). Eine spezifische Form von Modifikation ist die Visualisierung der Bildhaftigkeit eines Phrasems durch ein materielles Bild. Durch ein solches „physisches“ Sichtbar-Machen wird die Aufmerksamkeit auf die literale Ebene, die konkrete Lesart des Phrasems gelenkt. Insofern sind die Holzschnitte im Narzur völligen Unmöglichkeit des Bewußtwerdens. Man wandte es an, um die grausame Erinnerung an einen Verlust, die Berührung eines Seelenleids zu bezeichnen: das gibt's immer; die Handlung, von der's bezogen war, blieb ungedacht.“ (Die Fackel 890, S. 95). Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 73 renschiff frühe Formen visueller Modifikationen und - wie gesagt - werden da sowohl Sprichwörter als Idiome visualisiert. Einerseits dient das der Didaxe, insofern die Phraseme in einen umfassenden Sinnrahmen eingebunden sind. Andererseits ist das Auffällige an dieser Art von Modifikationen, dass die Bilder eine Art Eigenleben gewinnen, dass man sie als solche betrachten und enträtseln kann und soll. Besonders deutlich wird das an den Sprichwortbildern, etwa dem berühmten von Bruegel, 17 wo die Sprichwörter ja sozusagen in den Bildern „versteckt“ sind. Der Barock-Autor Georg Philipp Harsdörffer nutzt in seinen Frauenzimmer Gesprächspielen (1644-1657) die Sprichwörter und Idiome zu vielfältigen erheiternden Zwecken (s. o. 2.4). Unter dem Aspekt der modifizierenden Visualisierung interessant sind die „gemahlden Sprichwörter“, bei denen die wörtliche Ebene visuell in den Vordergrund gerückt wird. Harsdörffer macht eine ganze Reihe von Vorschlägen für Sprichwörter, die sich ausmalen lassen (Bd. 4, S. 291): Disteln sind des Esels Salatkräuter Das Ey will klüger seyn als die Henne Die toden Hunde beissen nicht Die Ruth macht die Kinder gut Hier sind eigentliche Sprichwörter in der Mehrzahl, aber auch Idiome kommen vor, z. B. Füchs mit Füchsen fangen. Dabei kann ein Teil des Sprichworts gemalt, ein Teil geschrieben werden. Z. B. wird das Sprichwort Es gehört mehr zum Tanz als rote Schuh aufgelöst in den Textteil „Es gehört mehr zum Dantz“ und den Bildteil (zwei rote Schuhe) (Bd. 4, S. 289). Man könnte ein ganzes Buch, so sagt er, mit gemalten Sprichwörtern füllen, „unter welchen die artlichsten sind / die halb geschrieben / und halb gemahlet werden“ (S. 293). Voraussetzung für diese Technik ist natürlich, dass es sich um sprachliche Einheiten handelt, die außer dem Verb mindestens zwei nominale Valenzen haben, also Sprichwörter oder mindestens zweiwertige Idiome. Heute sind Visualisierungen von Phrasemen etwas ganz Gängiges und über verschiedenste Textsorten verbreitet. In Wolfgang Mieders Sammlungen (z. B. Mieder 2009) findet man Beispiele zuhauf. Ich habe in meiner Sammlung festgestellt, dass sowohl bei Zeitungsfotos als auch bei Werbeanzeigen, und erst recht im Fernsehen, solche Text-Bild-Relationen vorherrschen, bei denen eine eher willkürliche Beziehung zwischen dem Idiom, seiner wörtlichen Les- 17 Pieter Bruegel der Ältere, Die niederländischen Sprichwörter (1559). Ein Überblick über die linguistische Literatur dazu findet sich in Juska-Bacher (2009). Harald Burger 74 art (sofern vorhanden) und dem materiellen Bild etabliert wird, die wenig bis nichts mit dem Bild des Idioms zu tun hat (vgl. Burger 2007 und 2008). Z. B. wird in der folgenden Werbeanzeige (vgl. Burger 2012) nicht das Idiom bzw. sein ‘idiomatisches Bild’, also die zeichenhaft an das Idiom gebundene konkrete Lesart 18 visualisiert, sondern ein anderes, nicht an das Idiom gebundenes Bild - womit man einen Überraschungseffekt erzielen will. Im Bild geht es um das Speiseeis, das auf einer Party durch einen „Eiszerkleinerer“ zerteilt wird. Durch dieses praktische Gerät wird dann die Stimmung aufgeheitert. Das ist aber sicher nicht der normale Motivationsweg des idiomatischen Bildes. Abb. 3 18 Duden 11 (unter „Eis“): ‘die Stimmung lockern, [Anfangs]schwierigkeiten, Hemmungen beseitigen’. „Die Bildlichkeit der Wendung bezieht sich auf die Eisdecke eines zugefrorenen Gewässers, die für das Fischen oder die Schifffahrt aufgebrochen wird.“ Sprichwort und Redensart: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 75 Ich habe Beispiele dieser Art vor allem für Idiome gesammelt. Bei den Sprichwörtern scheint es sich ähnlich zu verhalten, wenn man sich Mieders Beispiele vor Augen führt. 3. Fazit Sprichwort und Idiom sind heutzutage im Gebrauch sehr nahe beieinander. Das Sprichwort hat weitgehend seine didaktische Funktion verloren. Behalten hat es seine generalisierende Funktion in der Argumentation und wird zu einem auffälligen Stilmittel wie ein Großteil der Idiome. Dabei spielt die Bildhaftigkeit, also das Vorhandensein einer literalen Lesart in beiden Fällen eine zentrale Rolle. Visualisierungen sind so beliebt wie in der frühen Neuzeit, aber sie haben einen ganz anderen Sinn. Im Vordergrund steht der Aspekt der Überraschung durch den unerwarteten Text-Bild-Bezug, und damit oft auch der Humoraspekt. Die Wörtlichkeit der Lesart kann sich dabei auf eine einzelne Komponente oder eine beliebige Bedeutung einer Komponente beschränken. Die Einbettung von Sprichwörtern und Idiomen in eine Zitatkultur wie im 19. Jahrhundert, bei der die Geflügelten Worte eine zentrale Rolle spielen, ist heute nur noch marginal zu beobachten bzw. das zitierbare Material ist von anderer Art. Es sind Werbesprüche, allenfalls politische Slogans, an die sich Verfremdungen von Sprichwörtern und Idiomen anschließen. Auch insofern sind Sprichwörter und Idiome enger zusammengerückt. Literatur Agricola, Johannes (1534 [1970]): Sybenhundert und fünfftzig teütscher Sprichwörter, verneüwert und gebessert. [Nachdruck Hildesheim. Mit einem Vorwort von Mathilde Hain]. Bässler, Andreas (2003): Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500. Berlin. Brant, Sebastian (2005): Das Narrenschiff. Studienausgabe. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494. Hrsg. von Joachim Knape. (= Reclam 18333). Stuttgart. Burger, Harald (1989): „Bildhaft, übertragen, metaphorisch.“ - zur Konfusion um die semantischen Merkmale von Phraseologismen. In: Gréciano, Gertrud (Hg.): Europhras 88. Phraséologie contrastive. (= Collection Recherches Germaniques 2). Strasbourg, S. 17-29. 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Die zunehmende Aufmerksamkeit, die die internationale Fachwelt der linguistischen Betrachtung von Sprichwörtern zukommen lässt, und die durch die immer stärkere Rolle der Parömien in den Massenmedien befördert wird, steht auch im Zentrum unserer Mannheimer Sprichwort-Tagung. Eine der theoretischen und zugleich praktischen Fragestellungen, die unsere Aufmerksamkeit erfordert, ist das ‘parömiologische Minimum’. Die Idee hierzu entwickelte im Jahre 1971 der bekannte Moskauer Sprichwortforscher L. Grigorij Permjakov (Пермяков 1971), und seine Vorstellungen riefen sofort großes Interesse in der Fachwelt und bei Unterrichtenden hervor. Schließlich war die Idee verlockend, mit einem wissenschaftlich begründeten Herangehen diejenigen Sprichwörter einer Sprache herauszufiltern, die am häufigsten gebraucht werden, und somit den eigentlichen Kern dieses unheimlich reichen Vorrats solcher Spracheinheiten zu bestimmen, die die „Weisheit des Volkes“ ausdrücken und die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das parömiologische Minimum wäre nicht nur „lebende Folklore“, sondern auch ein unumstößlicher Teil des bildhaften und expressiven nationalen Sprachfonds, der Fremdsprachenlernern unbedingt nahe gebracht werden muss, damit diese einen Zugang zum Geist des Volkes und seiner Kultur finden können. Das ist auch diejenige Gruppe von Sprichwörtern, die für Lehrbücher, Lehrmaterialien und Nachschlagewerke empfohlen und die Schülern, Studenten und erwachsenen Lernern nahegebracht werden sollen und die auf besondere Art und Weise in sprachkultureller Sicht und kulturologisch kommentiert werden müssen. Und zu welchen Resultaten sind wir Linguisten nach 40 Jahren Diskussion über das parömiologische Minimum verschiedener Sprachen nun gelangt? Die Idee eines solchen Minimums stützt sich auf drei Ausgangsthesen, die wir Sprachwissenschaftler von den Folkloristen und Ethnografen übernommen haben - angefangen von Erasmus von Rotterdam und Jan Amos Komenski bis zu den großen Sprichwortsammlern des 19. Jahrhunderts: 1) Die Parömiologie und die Idiomatik sind ein zutiefst nationaler Teil des sprachlichen und folkloristischen Systems. Valerij M. Mokienkо 80 2) Die Parömiologie ist der konservativste Teil der Sprache, ein Gefrierschrank der Kultur und der Geschichte. 3) Bei der Parömiologie handelt es sich um altertümliche sprachliche Relikte. Bis heute werden Sprichwörter und Redensarten häufig als Überbleibsel früherer Sprachzustände betrachtet. Sie werden sowohl von den jeweiligen Sprachträgern als auch von den Autoren großer Sprichwortsammlungen als konservativer und spezifischer Teil der modernen Sprachsysteme empfunden - und zwar geradezu axiomatisch. Dieses Axiom wurde auch zum Eckpfeiler der Untersuchungen Permjakovs. Das zweifellose Verdienst des Moskauer Forschers besteht nicht nur darin, dass er die anziehende Idee eines parömiologischen Minimums entwickelt, sondern auch konkrete Umsetzungen auf der Grundlage russischen Materials vorgelegt hat, und zwar in der Form des so genannten ‘parömiologischen Experiments’. Das Ziel dieses Experiments war die Herausarbeitung des ‘parömiologischen Fonds’ (d. h. der häufigsten Parömien) und des ‘parömiologischen Minimums’ (d. h. des minimalen Bestands an Parömien, die den Sprechern bekannt sind). Eine Gruppe von Probanden aus Moskau und dem Moskauer Gebiet wurde gebeten, aus einer Liste von 1 491 Sprichwörtern diejenigen zu bestimmen, die ihnen unbekannt waren. Nach der Auswertung von 300 Antworten aus einer anderen Befragtengruppe (etwa 100 Personen) kristallisierten sich 538 Parömien heraus, die einen Bekanntheitsgrad von mindestens 90% hatten. Diese stellte Permjakov in der ersten Etappe des Experiments zusammen. Als Ergebnis wurde dann der Maximalbestand der häufigsten Sprichwörter der russischen Sprache definiert mit der Obergrenze von 500 (Пермяков 1988, S. 154-166). Der Minimalbestand, den Permjakov bestimmte, hatte einen Umfang von 300 Einheiten und wurde zur Grundlage ihrer lexikografischen Bearbeitung in kleineren praktischen Wörterbüchern mit Äquivalenten im Bulgarischen und im Deutschen (Пермяков 1985, 1986). Der Enthusiasmus, mit dem Permjakovs Idee vom parömiologischen Minimum und seine russische Variante aufgenommen wurde, ist verständlich. Schließlich hofften wir alle auf die oben aufgezeigten verlockenden Perspektiven eines solchen Fundus, ebenso wie auf eine deutliche Verbesserung der Parömiologieforschung und der Parömiografie zum Ende der 1960er und dem Beginn der 1970er Jahre, die der Lexikologie und Lexikografie deutlich hinterherhinkte. Zu dieser Zeit, zu Beginn der 1970er Jahre, war die Lexik der meisten europäischen Sprachen bereits statistisch erfasst, klassifiziert und beschrieben. Ihr Kern und die Peripherie waren quantitativ bestimmt sowohl in synchronischer als auch in diachronischer Sicht und viele Sprachen (Russisch. Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? 81 Deutsch, Englisch, Französisch) verfügten bereits über einige lexikalische Häufigkeitswörterbücher verschiedenen Typs und verschiedenen Umfangs. Das Material der Sprichwörter und der Redensarten war jedoch in nicht einer einzigen Sprache quantitativ erfasst, nicht einmal näherungsweise. Und es ist so, dass wir bis heute nicht ein einziges Häufigkeitswörterbuch der Sprichwörter oder der Redensarten haben, weshalb die entsprechenden Korpora zwischen 300 und 50 000 Phraseologismen und Parömien schwanken. Es ist paradox, aber Tatsache: Das von uns allen ständig genutzte und häufig nachaufgelegte „allgemeine“ Phraseologische Wörterbuch der russischen Sprache unter der Redaktion von A. I. Molotkov aus dem Jahre 1967 (Фразеологический словарь русского языка» под ред. А. И. Молоткова = ФСРЯ 1967) umfasst mehr als 4 000 phraseologische Einheiten; das kürzlich erschienene Große phraseologische Wörterbuch der russischen Sprache. Bedeutung. Gebrauch. Kulturelle Kommentare unter der Redaktion von V. N. Telija (Большой фразеологический словарь русского языка. Значение. Употребление. Культурологический комментарий под редакцией В. Н. Телии = БФСРЯ 2006) lediglich anderthalb Tausend, das Große Wörterbuch russischer Redensarten (Большой словарь русских поговорок), das das Korpus unserer volkstümlichen Phraseologie maximal vollständig darstellt, umfasst mehr als 40 000 bildliche Ausdrücke (Мокиенко / Никитина 2008a). Wenn man ihm noch das Korpus des Großen Wörterbuches russischer volkstümlicher Vergleiche mit seinen 45 000 Einträgen hinzurechnet (Большой словарь русских сравнений, Мокиенко / Никитина 2008b) und das Korpus des Großen Wörterbuches russischer Sprichwörter (Большой словарь русских пословиц, Мокиенко / Никитина / Николаева 2010), in dem ca. 70 000 Sprichwörter angeführt werden, dann wächst dieses Maximum auf 155 000 Sprichwörter und Redensarten, also Phraseologismen im weiteren Sinne, an. So groß ist das „Gefälle“ der Lemmata in russischen Wörterbüchern des genannten Genres. Charakteristisch ist zudem, dass auch entsprechende Wörterbücher mit verhältnismäßig kleinem Umfang bei weitem nicht die am häufigsten verwendeten Parömien anführen und alleine deshalb nicht die Rolle von Frequenzwörterbüchern einnehmen können. Vor diesem Hintergrund konnte allein schon der Versuch, ein parömiologisches Minimum zu beschreiben, nicht ohne positiven Widerhall und ohne Unterstützung bleiben. Die Idee Permjakovs wurde nicht nur durch sowjetische Parömiologen aufgegriffen, sondern fand auch begeisterte Unterstützer in den anderen europäischen Staaten und in den USA. In Deutschland z. B. wurden Valerij M. Mokienkо 82 die Aufsätze des Moskauer Parömiologen ins Deutsche übersetzt (Chlosta / Grzybek 2000), und eine Arbeitsgruppe von Semiotikern und Parömiologen aus Bochum unter der Leitung von Peter Grzybek und Wolfgang Eismann befasste sich mit der Beschreibung deutscher Sprichwörter in statistischer Hinsicht und führte eine große Fragebogenaktion in mehreren Bundesländern Deutschlands durch (Grzybek 1991, Grzybek 1994, Eismann / Grzybek 1994). Eine analoge Arbeit leistete Peter Grzybek in Koautorenschaft mit seinen Kollegen zum Material des Kroatischen und anderer Sprachen und stellte eine vorläufige statistische Auswertung der Fragebogenaktion vor (Grzybek / Skara / Heyken et al. 1993). Sehr interessant ist auch der Versuch, ein parömiologisches Minimum für das Deutsche als Fremdsprache zu erstellen (Kim 1999). Das Problem der Beschreibung eines englischen parömiologischen Minimums, das seinerzeit im Zusammenhang mit der so genannten ‘Cultural Literacy’ von Wolfgang Mieder (Mieder 1992) aufgeworfen wurde, beschäftigte in letzter Zeit intensiv František Čermák (Čermák 2010a, b). Mit derselben empirischen Ausrichtung untersuchte Franz Schindler die moderne tschechische Parömiologie. Als Ergebnis ist nicht nur eine spezielle Monografie erschienen (Schindler 1993), sondern auch ein Wörterbuch tschechischer Sprichwörter, das auf der Grundlage einer direkten Befragung einer großen Zahl von Probanden erstellt wurde (Schindler / Bittnerová 1997). Peter Ďurčo bemerkt in seiner Arbeit Zur Untersuchung der modernen Parömiologie (K výskumu súčasnej živej slovenskej paremiológie), dass es in der Slowakei kein einziges Wörterbuch gibt, in dem die moderne und neue slowakische Parömiologie bearbeitet worden wäre, und unterstrich die Notwendigkeit einer soziolinguistischen Untersuchung, die den tatsächlichen Zustand und die Dynamik von Sprichwörtern und Redensarten bei den Slowaken aufzeigen solle (Ďurčo 2002a, S. 51). Dabei schlug der slowakische Parömiologe dreizehn befragten Landsleuten ein detailliertes System zur Bestimmung des Bekanntheitsgrades vor: 1. kenne ich, verwende ich; 2. kenne ich, verwende es aber nicht; 3. ich kenne es nicht, verstehe es aber; 4. ich kenne es nicht und verstehe es auch nicht; 5. ich kenne Varianten des Sprichwortes und führe sie an. Diese Befragung führte zur ersten Sondierung des Materials und schaffte die Grundlage für die nachfolgenden Etappen. Peter Ďurčo plante weitere und größere Untersuchungen der parömiologischen Kompetenz mit regionaler und altersmäßiger Differenzierung hinsichtlich des Ausgangskorpus slowakischer Parömien im Umfang von 2 834 Einheiten (ebd., S. 57). Die Erfahrungen solcher Untersuchungen verwendete er sowohl in seinen vergleichenden parömiologischen Studien (Ďurčo 2002b) als auch in Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? 83 seiner Arbeit an einem perspektivträchtigen europäischen parömiologischen Projekt mit didaktisch-methodischer Zielsetzung (siehe das EU-Projekt SprichWort). Mit anderer Zielsetzung werden Fragebogenaktionen unter einer großen Zahl tschechischer und slowakischer Muttersprachler von Josef Mlacek, Dana Baláková und Jaromira Sindlerazová durchgeführt (Mlacek / Baláková / Kováčová 2009). In der UdSSR und im heutigen Russland gab es bisher bedauerlicherweise keine breit angelegten Befragungen und auch keine statistische Bearbeitung zum diskutierten Material. Wir Russen sind leider - wie so oft - in der konkreten Realisierung einer perspektivreichen Idee, die bei uns entwickelt wurde, zurückgeblieben. Dafür finden sich jedoch massenweise Zitate und Verweise auf diese Idee und ihre Autoren in der russischen parömiologischen Literatur. Es gibt einige bescheidene Versuche, diese Idee in der Praxis anzuwenden. So wird im Unterricht des Russischen als Fremdsprache gelegentlich eine Auswahl einer beschränkten Zahl von Phraseologismen und Sprichwörtern für die aktive Verwendung in der Lehre auf verschiedenen Stufen der Kenntnis des Russischen vorgeschlagen (z. B. Казнышкина 1985; Якименко 1990). Berücksichtigt wird in einigen Arbeiten die implizite Häufigkeit auch in einigen speziellen Arbeiten zur Vermittlung der Phraseologie im fremdsprachlichen Auditorium (z. B. Мокиенко / Степанова / Малински 1995; Вальтер et al. 2005; Минакова 2005). Was brachten unsere eigenen Erfahrungen und die unserer Kollegen nun für die parömiologische Forschung und ihre Visionen? Man soll es nicht glauben: Bei aller Neuigkeit und allem scheinbaren Perspektivreichtum des „parömiologischen Experiments“ hat sich dieses nicht nur nicht bestätigt, sonders es hat sogar die Grundlagen der Idee eines parömiologischen Minimums, wie es L. G. Permjakov andachte, als unrealistisch erscheinen lassen. Ein allgemein gültiges Minimum, ein Minimum „für alle Sprachträger“ einer bestimmten Sprache, gibt es nicht. Es gibt lediglich eine „Kenntniszone“, die mehr oder weniger einen gewissen Kern der jeweiligen nationalen Parömiologie bildet. Dieser Kern jedoch schwankt im Sprachbewusstsein der konkreten Sprachträger in Abhängigkeit von der individuellen Aufnahme des Wortes, seinen bildhaften und expressiven Potenzen und der persönlichen Spracherfahrung. Es trifft jene Tatsache zu, die auch Peter Ďurčo aufzeigt; und zwar, dass die Häufigkeit der Verwendung von Sprichwörtern und ihre Ausdrucksfähigkeit bei Muttersprachlern in starkem Maße vom Alter Valerij M. Mokienkо 84 abhängt (Ďurčo 2002c). Unabhängig vom sozialen Status und vom Bildungsstand verwenden Personen mit einem entwickelten Sprachgefühl Sprichwörter und Redensarten, Personen mit stark rationalem, abwägendem Gemüt und ebensolcher Denkweise verwenden sie dagegen fast überhaupt nicht. Solche Schlussfolgerungen kann man nicht nur bei der Analyse der Verwendung von Phraseologismen und Parömien bei Schriftstellern, Poeten und Journalisten ziehen, sondern auch bei der Untersuchung der lebendigen Rede der Einwohner unserer Städte und Dörfer, großer und kleiner sozialer Gruppen. Die Verwendung von Parömien erfolgt punktuell, sie wird nicht durch eine allgemeine Häufigkeit im Sprachsystem bestimmt, sondern durch individuelle Vorlieben der Sprecher. Der Autor dieser Zeilen hat - begeistert von den Ideen L. G. Permjakovs - in den 1970er-Jahren eine frontale mündliche parömiologische Befragung tschechischer Touristen, die damals in die Sowjetunion gereist sind, durchgeführt. Mit Kärtchen, auf denen etwa 1 000 Sprichwörter aus verschiedenen parömiologischen Sammlungen verzeichnet waren, habe ich die Tschechen nach einem Drei-Punkte-System befragt. Sprichwörter, die aktiv verwendet werden, und die allen bekannt sind, wurden mit einem Plus gekennzeichnet (+), nicht sehr gebräuchliche, ‘neutrale’, einem Teil der Sprachträger nicht bekannte, die aber hinsichtlich ihres lexikalischen Bestandes und der Bildhaftigkeit verständlich waren, mit der Zahl Null (0). Schließlich bekamen die periphären, archaischen, längst aus dem aktiven Sprachgebrauch verschwundenen oder eng regionalen Sprichwörter mit nichttransparentem Bild ein Minus (-). Im Projekt eines Russisch-tschechischen und tschechisch-russischen Sprichwörter-Buches (Мокиенко 1979) wurde vorgeschlagen, diese Kennzeichnung bei der Gegenüberstellung zweisprachiger parömiologischer Einheiten im Wörterbuch zu verwenden. Jurjevna Kotova folgt diesem Vorschlag in ihrem Wörterbuch russisch-slawischer Sprichwörter mit englischen Entsprechungen (Русско-славянский словарь пословиц с английскими соответствиями) bei der Darstellung ihres Korpus in dem alphabetischen Anhang, dem Index, recht konsequent. Dieses Wörterbuch entstand ebenfalls auf der Grundlage einer breiten Befragung (Котова 2000, S. 273-357; 2003, S. 26-28). Leider hat diese aufwändige Arbeit der Petersburger Parömiologin in der Fachwelt nur sehr geringe Aufmerksamkeit gefunden - wahrscheinlich deshalb, weil solche ‘Vermerke’ keinen Niederschlag im Hauptteil des Wörterbuches gefunden haben, sondern lediglich im Index. Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? 85 Wenn man das russische parömiologische Minimum von Permjakov mit den Einträgen der größten Zahl der neu erschienenen Wörterbücher russischer Sprichwörter vergleicht (besonders mit denen, die die Klassik und moderne Texte berücksichtigen - Жуков 1966 [1967, 1991], ШСП 2002), dann ist eine deutliche Nicht-Übereinstimmung festzustellen. Eine sehr kritische Analyse des parömiologischen Minimums von Permjakov führte der weißrussische Linguist Jevgenij Jevgenevic Ivanov durch. In seinem Vortrag auf dem XI. Internationalen Kongress der MAPRJaL (Иванов 2007) zeigte er die Nicht-Übereinstimmung dieses Minimums mit den tatsächlich verwendeten Blöcken russischer Sprichwörter, die in modernen Wörterbüchern und parömiologischen Sammlungen aufgeführt werden. So gingen in das genannte Minimum solche sehr aktiven und gebräuchlichen Sprichwörter („bekannte“ nach der Terminologie Permjakovs) wie В чужой монастырь со своим уставом не ходят; Пар костей не ломит; Ворон ворону глаз не выклюет; По Сеньке и шапка oder Хороша Маша, да не наша nicht ein. Unter Bezug auf A. Krikman bemerkte J.J. Ivanov eine in quantitativer und qualitativer Hinsicht starke Unausgewogenheit der Informanten L.G. Permjakovs und die territoriale Begrenztheit des durchgeführten Experiments. Deshalb schlug der weißrussische Parömiologe vor, die Suche nach einem parömiologischen Minimum durch sorgfältige Arbeiten an einem „grundlegenden parömiologischen Fonds der slawischen Sprachen“ zu ersetzen. Letzteres kann man seiner Meinung nach durch genaues Auszählen der Auftretenshäufigkeit dieses oder jenen Sprichwortes in den entsprechenden Quellen erreichen. Die Diskussion seines Beitrages führte dazu, dass viele der Zuhörer seine Kritik am parömiologischen Minimum als Ganzes akzeptierten und seiner Idee eines grundlegenden parömiologischen Fonds zustimmten. Nicht wenige Zweifel an der Objektivität eines parömiologischen Minimums rufen auch vergleichende Untersuchungen und die lexikografische Behandlung der Sprichwörter und Redensarten hervor. Schließlich ist der fundamentale Gedanke der Grammatik der sprichwörtlichen Weisheit L. G. Permjakovs ( Пермяков 1979) die Feststellung, dass sich die Einheiten des nationalen Parömiotikons auf der „Ebene der sprachlichen Realisierung“ (als bildhafte Texte) konstituieren. Chlebda schätzt dagegen ein, dass sie aber hinsichtlich ihres logisch-semiotischen Planes über die Sprachgrenzen hinweg übereinstimmen, also unabhängig von den jeweils konkreten sprachlichen Verbalisierungen und dass sie als „invariante Beziehungsgrößen“ allgemeingültig für die verschiedenen Völker sind, und er merkt zu Recht an: Valerij M. Mokienkо 86 Wenn man von dieser Prämisse ausgeht, so hat theoretisch, zumindest potenziell, jedes Sprichwort jeder beliebigen Sprache ein Äquivalent - nicht unbedingt ein bildliches (obwohl auch dieses häufig vorkommt), aber ein Sinnäquivalent (ein logisches). (Хлебда 2008, S. 419, meine Übersetzung) Ein solches global-logisches Herangehen widerspricht dem Prinzip der Herausstellung der häufigsten Sprichwörter, das heißt, der Idee der Schaffung eines parömiologischen Minimums. Erst kürzlich brachte uns das moderne Leben selbst, wie mir scheint, ein sehr gewichtiges Argument für die Relativität der Idee Permjakovs vom parömiologischen Minimum. Ende Februar / Anfang März 2009 erblickte ich erfreut - wie auch Millionen anderer Passagiere - an den Rolltreppen der Sankt Petersburger Metrostationen große Reklameschilder, auf denen ausnahmsweise etwas anderes als Zahnpasta-Reklame stand - nämlich echte russische Sprichwörter, die kunstvoll auf leuchtendem Hintergrund prangten. Nach vielfachem Auf und Ab in unserer U-Bahn habe ich mit einem gewissen parömiologischen Masochismus alle diese Sprichwörter aufgeschrieben, die es geschafft haben, die Aufforderungen, ein neues Waschbecken oder irgendwelche modernen Maschinen zu kaufen, aus dem Felde zu schlagen. Natürlich habe ich als jemand, der nicht bei der Metro arbeitet, die Hoffnung gehabt, das Geheimnis der „wundersamen Erscheinung“ russischer Sprichwörter auf unseren Rolltreppen zu lüften. Als Parömiologe jedoch konnte ich nicht mehr von der Idee lassen, dieses neue Phänomen im öffentlichen Transportwesen rein linguistisch zu erklären, genauer - soziolinguistisch. Ich verzichte auf Antworten auf die Frage „Wer ist schuld? “ - oder, genauer - „Wer hat angewiesen, in der U-Bahn Sprichwörter aufzuhängen“ oder „Wer hat diese Sprichwörter ausgewählt“ und habe meine Aufmerksamkeit auf drei Fragestellungen konzentriert: 1) Zu welchen Konzeptosphären gehören die von den Mitarbeitern der Metro ausgesuchten Sprichwörter? 2) Warum werden gerade diese Konzeptosphären durch die modernen ‘Reklamemacher’ bevorzugt? 3) Wie verhält sich die Auswahl der Sprichwörter zum parömiologischen Minimum von L. G. Permjakov? Die Suche nach der Antwort auf diese Fragen zwang mich dazu, weit häufiger mit der Metro zu fahren als gewöhnlich, denn für eine objektive Analyse war es nötig, genau das Korpus dieser ‘parömiologischen Wundertüte’ selbst zu bestimmen und auch die Häufigkeit jedes einzelnen hier hinein geratenen Sprichwortes. Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? 87 Im Ergebnis meiner ‘U-Bahn-Forschungen’ ist es mir gelungen, die genaue Zahl russischer Sprichwörter zu finden, die auf den unterirdischen Reklametafeln unserer Stadt prangten. In zahlenmäßiger Hinsicht ist der Bestand nicht groß - lediglich 12 Sprichwörter. Ich nenne sie in der in unserem Petersburger Seminar üblichen Reihenfolge - nach dem ersten substantivischen Hauptwort: (1) Авось да как-нибудь до добра не доведут. wörtlich: ‘Auf gut Glück und irgendwie führen zu nichts Gutem.’ (2) Банька не нянька, а хоть кого ублажит. wörtlich: ‘Die Banja (Sauna) ist keine Amme, aber sie verwöhnt alle.’ (3) Едешь на день, хлеба бери на неделю. wörtlich: ‘Wenn du für einen Tag fährst, nimm Brot für eine Woche.’ (4) Легко добыто, легко и прожито. wörtlich: ‘Leicht gewonnen, leicht verloren (verronnen).’ (5) Обидеть легко, да душе каково. wörtlich: ‘Leicht ist es, jemanden zu beleidigen, und es bleibt auf der Seele.’ (6) И конь спотыкается, да поправляется. wörtlich: ‘Auch ein Pferd stolpert, es kommt aber wieder auf die Beine.’ (7) Где любовь да совет, там и горя нет. wörtlich: ‘Wo Liebe und guter Rat sind, da gibt es auch keinen Gram.’ (8) Птицы сильны крыльями, люди - дружбой. wörtlich: ‘Vögel sind durch ihre Flügel stark, die Menschen durch Freundschaft.’ (9) Умный не осудит, а глупый не рассудит. wörtlich: ‘Der Kluge verurteilt nicht, der Dumme denkt nicht nach.’ (10) Час упустишь, годом не наверстаешь. wörtlich: ‘Wenn du eine Stunde versäumst, holst du sie ein ganzes Jahr lang nicht auf.’ (11) Шутки любишь над Фомой, так люби и над собой. wörtlich: ‘Wenn du gerne über Foma scherzt, dann mach' es auch über dich selbst.’ (12) А где щи, там нас и ищи. wörtlich: ‘Wo es Kohlsuppe gibt, da suche uns.’ Valerij M. Mokienkо 88 Bemerkenswert ist, dass alle diese Sprichwörter nicht nur en gros unterschiedlich häufig auftreten - d. h. in der U-Bahn-Reklame -, sondern auch auf den Schildern ein und derselben Station. So ist das Sprichwort А где щи, там нас и ищи in manchen Stationen bis zu drei Mal vertreten, hingegen die Sprichwörter Легко добыто, легко и прожито und Обидеть легко, да душе каково zwei Mal, wohingegen Авось да как-нибудь до добра не доведут und Умный не осудит, а глупый не рассудит nur ein einziges Mal zu sehen sind. Dazu kommt, dass die Häufigkeit ihres Auftretens auf den Reklametafeln absolut nicht mit der Frequenz ihrer tatsächlichen Verwendung in der aktuellen gesprochenen Sprache zusammenfällt, ebensowenig mit der Häufigkeit ihrer Fixierung in russischen parömiologischen Sammlungen und Wörterbüchern. - Es scheint, dass solch eine ‘Statistik’ durch rein subjektive Vorlieben eines anonymen Autoren der Sprichwort-Reklame bedingt und somit von einer kognitiven Analyse dieses Materials abzusehen ist. - Fragen wir uns jedoch trotzdem: Welche Konzeptosphären unseres modernen Lebens spiegeln diese Sprichwörter wider? - Bereits auf den ersten Blick fällt auf, dass ihr kognitives Potenzial bestimmten Konzeptbereichen zuzuordnen ist, wie das russische Kognitologen in den letzten 20 Jahren nennen: 1) Dem Konzept ‘Schicksal’: Авось да как-нибудь до добра не доведут. 2) Den Konzepten ‘Liebe‘ und ‘Freundschaft’: Где любовь да совет, там и горя нет; Птицы сильны крыльями, люди - дружбой. 3) Dem Konzept ‘Zeit’: Едешь на день, хлеба бери на неделю; Час упустишь, годом не наверстаешь. 4) Dem Konzept ‘Gewissen’ und seinen semantischen „Verwandten“: Обидеть легко, да душе каково. 5) Den Konzepten ‘Klugheit’ und ‘Dummheit’: Умный не осудит, а глупый не рассудит. 6) Dem Konzept ‘Fehltritte des Menschen und die Möglichkeit, diese zu korrigieren’: И конь спотыкается, да поправляется. 7) Dem Konzept ‘Kritik und Selbstkritik’: Шутки любишь над Фомой, так люби и над собой. Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? 89 8) Dem Konzept ‘Reichtum, materieller Wohlstand und deren Kurzlebigkeit’: Легко добыто, легко и прожито. 9) Dem Konzept ‘nationale russische Küche’: А где щи, там нас и ищи. 10) Dem Konzept ‘nationales russisches Brauchtum’: Банька не нянька, а хоть кого ублажит. Über jedes dieser parömiologischen und lexikalisch-phraseologischen Konzepte wurde eine große Zahl von Büchern und Aufsätzen geschrieben, ja, und einige Sprichwörter, wie z. B. Авось да как-нибудь до добра не доведут, wurden zum Ausgangspunkt für weitreichende Schlussfolgerungen über die typisch russische Mentalität. So schreibt eine der Gründerinnen der kognitiven Richtung in der modernen Russistik, Anna Vežbickaja, dass das russische авось [‘gut Glück’, V. M.] eine Einstellung ist, die das Leben als unvorhersehbar versteht: Es hat keinen Sinn, irgendwelche Pläne zu machen und zu versuchen, diese dann umzusetzen; es ist unmöglich, sein eigenes Leben zu organisieren, da das Leben durch uns nicht kontrolliert werden kann; am besten ist es, wenn man auf ‘gut Glück’ handelt“. Und weiter: Auf diese Art und Weise zieht die russische Partikel авось ein knappes Fazit aus dem Thema, das die russische Sprache und Kultur durch und durch bestimmt - das Thema ‘Schicksal’, unkontrollierbare Ereignisse, das Leben in einer unerkennbaren und unkontrollierbaren Welt-Rationalität. Wenn bei uns alles gut ist, dann ist das nur deshalb so, weil wir einfach Glück gehabt haben und überhaupt nicht deshalb, weil wir über irgendwelches Wissen oder Fähigkeiten verfügen und uns die umgebende Welt selbst erobert haben. (Вежбицкая 1996, S. 78f., meine Übersetzung). Wir sehen, die konzeptuelle Aktivität und die Repräsentanz der ausgewählten Reihe von Sprichwörtern schon deshalb bestätigt, weil jedes von ihnen einer detaillierten Analyse im Sinne von Anna Vežbickaja würdig ist. Somit wird die Antwort auf die erste Frage auch zur Antwort auf die zweite: „Warum kommen gerade diese Themenbereiche auf die Reklametafeln? “ Schließlich sind die ‘Rolltreppen-Sprichwörter’ eine effektive Reaktion auf die brennendsten Probleme des modernen russischen Lebens, seine wunden Punkte und Ideale. Die Unsicherheit über das, was in der Zukunft wird, und der Glaube an glückliche Umstände - an das russische sprichwörtliche Авось, an Liebe und Freundschaft - sind ein ideales Allheilmittel gegen alle Kataklysmen, die Überzeugung von der Relativität möglichen schnellen Reichtums (Богатые тоже плачут - wörtl.: ‘Auch die Reichen weinen.’) - das ist Valerij M. Mokienkо 90 unser Trost in der Armut. Das Bild vom Pferd, das strauchelt, aber nicht fällt ist ein ebenso starkes tröstendes Motiv für unsere Verfehlungen; die russische Banja (liebevoll банька genannt) ist ein beliebter Ort der Erholung am Wochenende, und schließlich - das Armeleuteessen щи (eine dünne Kohlsuppe) symbolisiert die sattsam bekannte Hoffnung auf etwas Geschenktes, das in der heutigen Welt die Fleischtöpfe der Inhaber verschiedener Finanzpyramiden füllt. Welche Beziehung haben nun meine „kriminalistischen“ Untersuchungen in der Metro zu dem parömiologischen Minimum Permjakovs? Es scheint, dass diese Beziehungen sehr direkt sind, sowohl zum Minimum als auch zur Möglichkeit, dieses konstruktiv-kritisch zu hinterfragen. Wie sich zeigt, sind diese Sprichwörter, die völlig plötzlich und unerwartet auf den Reklametafeln der U-Bahn auftauchten, höchst aktuell hinsichtlich ihrer Konzeptosphäre, die sie widerspiegeln. Genau dies wurde wahrscheinlich auch zum Hauptkriterium ihrer Auswahl durch die anonymen (oder besser - uns unbekannten) Autoren der parömiologischen Rolltreppen-Sammlung. Ihr Vergleich mit dem parömiologischen Minimum Permjakovs, d. h. den 500 gebräuchlichsten russischen Sprichwörtern, die er zum aktiven Gebrauch und zur lexikografischen Bearbeitung empfiehlt (Пермяков 1988, S. 154-166), führt zu einem verdächtigen Ergebnis: Lediglich ein einziges (! ) der zwölf in der Metro verbreiteten Sprichwörter kommt in diesem Minimum vor, und zwar das über das „berühmte“ russische Авось: Авось да как-нибудь до добра не доведут (ebd., S. 157). Heißt das andererseits auch, dass alle zwölf Sprichwörter, die in der Metro großformatig vertreten waren, selten gebraucht werden und zur Peripherie des russischen parömiologischen Fonds gehören? Ja und nein. Ja, weil sie tatsächlich nicht zu der Reihe von Sprichwörtern gehören, die in der Mehrzahl parömiologischer Sammlungen fixiert sind - sie somit nicht dem Kriterium der Verwendungshäufigkeit nach Permjakov als der „Minimalskala“ entsprechen. Ebenso wenig entsprechen sie den anderen Kriterien der Frequenz, wie sie J. J. Ivanov vorschlägt. Die Datenbank russischer Parömien, die von den Mitgliedern des Phraseologischen Seminars der Universität Sankt Petersburg erstellt wurde und auf deren Grundlage das Große Wörterbuch russischer Sprichwörter erschien (Большой словарь русских пословиц, Мокиенко / Никитина / Николаева Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? 91 2010), liefert uns eine objektive Möglichkeit, die uns interessierenden zwölf „Rolltreppen-Sprichwörter“) in russischen parömiologischen Quellen genau zu identifizieren. Und so sieht eine solche Identifizierung aus: 1) Авось да как-нибудь до добра не доведут. - Раз. 1957, 51; Жук. 1966, 31; Танч. 1986, S. 15 2) Банька не нянька, а хоть кого ублажит. - Жук. 1991, S. 36 3) Едешь на день, хлеба бери на неделю. - Снег. 1848, S. 470; ДП 2, 3; Д 1, 427; Д 2, 376; Бир. 1960, S. 20; Рыбн. 1961, S. 42; Соб. 1956, S. 27; Жук. 1966, S. 144; ФСГ 1972, S. 69; Аникин 1988, S. 90; Ставшина 2008, S. 216 4) Легко добыто, легко и прожито. - Д 2, 19; Аникин 1988, S. 159 5) Обидеть легко, да душе каково. - Д 2, S. 76 6) И конь спотыкается, да поправляется. - Спир. 1985, S. 26 7) Где любовь да совет, там и горя нет. - Мих. 1, S. 222; Спир. 1985, S. 117; Жук. 1991, S. 82; ППЗК 2000, S. 18; Киселев 2004, S. 25 8) Птицы сильны крыльями, люди - дружбой. - отсутствует в базе данных. Есть вариант: Птица сильна крыльями, а человек - дружбой - Под., Зим. 1956, S. 65; Спир. 1985, S. 118 9) Умный не осудит, а глупый не рассудит. - Д 4, S. 50; Снег. 1848, S. 417; Аникин 1988, S. 313 10) Час упустишь, годом не наверстаешь. - Жук. 1991, S. 349. Ср. варианты: Часом опоздаешь - годом не наверстаешь - Раз. 1957, S. 208; ППЗК 2000, S. 59; Весной часом опоздаешь - в (за) год не наверстаешь - Спир. 1985, S. 31 11) Шутки любишь над Фомой, так люби и над собой. - Ср. варианты: Шутку любить над Фомой - так люби и над собой - Аникин 1988, S. 333; Шутку любишь над Фомой - так люби и над собой - ППЗК 2000, S. 72 12) А где щи, там нас и ищи. - ДП 1, 134; Раз. 1957, S. 47; Соб. 1956, S. 53; Аникин 1988, S. 13 Es zeigt sich, dass die Mehrzahl von ihnen, die plötzlich einen Bedarf in der modernen Reklame abdecken, nicht zum parömiologischen Minimum L. G. Permjakovs gehören und auch nicht zum „parömiologischen Fonds“ J. J. Iva- Valerij M. Mokienkо 92 novs. Für viele von ihnen kann man jedoch in den russischen Sammlungen eine nicht geringe Zahl von Varianten finden. Die Varianz ist überhaupt ein charakteristisches Merkmal der Sprichwortverwendung, und in den oben angeführten Quellen werden zudem zu den Ausgangsformen Varianten angeführt. Das Sprichwort mit der größten Variabilität (im weiten Sinne, d. h. einschließlich der Varianzreihen des Sprichwortes mit einer konnotativ markierten Komponente) ist ohne Zweifel das über das russische „auf gut Glück“ - Авось; vgl. lediglich einen kleinen Teil von derartigen Varianten: Русский человек любит авось, небось да как-нибудь. ДП 1, S. 257; Русский крепок на трех сваях: авось, небось да как-нибудь; Русский крепок на трёх сваях: авось, небось, да как-нибудь - ДП 1, S. 257; Танч. 1986, S. 132; Русский на авось и возрос - ДП 1, S. 257; Авось, да небось, да как-нибудь. ДП 1, S. 378; Кто авосьничает, тот и постничает. ДП 1, S. 378; С авосником нехотя согрешишь (или: попадешь в беду). ДП 1, S. 378; Авось да небось доводят до того, что хоть брось. ДП 1, S. 378; Авоськал, авоськал, да и доавоськался. ДП 1, S. 378; Авоська веревку вьет, небоська петлю накидывает. ДП 1, S. 378; Авось да небось доводят до того, что хоть брось. ДП 1, S. 378 u.a. Am häufigsten ist aus dieser Reihe die Variante Авось да как-нибудь до добра не доведут fixiert, eben genau das Sprichwort, auf das wir in der „Rolltreppen-Folklore“ treffen. Bemerkenswert ist auch, dass lediglich fünf der zwölf Sprichwörter in das angesehene Wörterbuch von Vlas Platoniovič Žukov eingegangen sind. Bemerkenswert ist dies deshalb, weil bei der großen Zahl literarischer Kontexte zu vielen anderen Sprichwörtern, die in diesem Wörterbuch beschrieben werden, diese uns interessierenden Einheiten lediglich durch einige wenige Zitate belegt werden, zudem aus der sowjetischen „mittleren“ Literatur. Z. B. das bereits mehrfach angeführte Sprichwort über das Авось aus dem Roman von V. Avdeev Гурты на дорогах und das Sprichwort über die Liebe (о Любви) aus dem Werk von V. Voronin В дальней стороне. Folglich sind sogar diese Sprichwörter - und da reden wir gar nicht über die verbleibenden sieben - nicht in das Wörterbuch von Žukov eingegangen, und „häufig“ und „sehr gebräuchlich“ kann man sie wahrlich nicht nennen. Andererseits kann man sie auch nicht „selten“ und „ungebräuchlich“ nennen, nachdem sie in die „Massenreklame“ eingegangen und von Millionen Passagieren der Metro über einen längeren Zeitraum Tag für Tag gelesen wurden. Alle diese noch vor kurzem peripheren Sprichwörter wurden über Nacht populär - und zwar in einem solchen Maße, wie die Wendung Богатые тоже плачут (wörtl.: „Auch die Reichen weinen“) aus einer mexikanischen ‘Sei- Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? 93 fenoper’, Коней на переправе не меняют (wörtl.: „Man wechselt die Pferde nicht mitten im Fluss [in der Furt]“) aus dem amerikanischen politischen Diskurs, das auf einen Ausspruch Abraham Lincolns im Jahre 1854 und auf ein altes deutsches Sprichwort zurück geht (Mieder 2010, S. 323-340) oder Кто не рискует, то не пьёт шампанского (wörtl.: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“) aus dem Habitus neureicher Russen. Worin liegt nun das Rätsel des Sprichwort-Dutzends in der U-Bahn und wie ist es mit dem parömiologischen Minimum verbunden? Die Lösung des Rätsels liegt eben im Wesen der Unvergleichbarkeit, in der Unmöglichkeit, die Lexik und die Parömiologie hinsichtlich ihrer Frequenz gegenüber zu stellen. Die Frequenz der Lexik kann man relativ objektiv bestimmen, dafür gibt es Daten über die Sprachträger oder über eine genremäßige Differenzierung von Texten. Die Parömien jedoch verweigern sich einer solchen zahlenmäßigen Auszählung. Der Grund dafür ist die individuelle Vorliebe bei der Verwendung von Sprichwörtern, die dadurch bedingt ist, dass Sprichwörter kreative Minitexte sind, lapidare literarische Werke. Ihre Form entspricht dem persönlichen Geschmack dieses oder jenes Anwenders, ihr Inhalt jedoch - ist meist universell. Dieser universelle Inhalt kann mit den Jahrhunderten seine parömiologische Form verändern - z. B. in weniger gebräuchliche, jedoch mit dem ursprünglichen Bild erkennbare Einheiten. Und die Originalität, Individualität, Anti-Klischeehaftigkeit führen nicht zu einem „Schaden“ dieses oder jenen Sprichworts, sondern ganz im Gegenteil - sie können zu einem beachtenswerten pragmatischen Gewinn führen. Genau so ist es auch mit dem Dutzend Sprichwörtern in der Petersburger Metro geschehen. Sie sind in ihrer Form nicht häufig anzutreffen und deshalb bei weitem nicht in allen parömiologischen Sammlungen verzeichnet. Als Varianten weit bekannter russischer Sprichwörter jedoch sind sie durch die Passagiere der Metro leicht zu erkennen, und ihre nicht ganz gewöhnliche und noch nicht „in Rente geschickte“ Form machen sie originell, machen sie zu jungem Wein in alten parömiologischen Schläuchen. Schlussfolgernd ist das parömiologische Minimum im Unterschied zum lexikalischen Minimum kein Kriterium der absoluten Häufigkeit dieses oder jenen Sprichwortes, sondern - ein dominierendes parömiologisches Modell, das über ein Zentrum verfügt und über eine Peripherie. Die Frequenz, die Produktivität eines solchen Modells ergibt sich nicht aus der Frequenz eines Valerij M. Mokienkо 94 einzelnen Sprichwortes, sondern aus der Notwendigkeit, der Aktualität derjenigen Konzeptosphären, die dieses Modell widerspiegelt. Im Wesen der Sprichwörter liegt der Grund ihrer Verwendung - das ist die grundlegende Schlussfolgerung aus einer sorgfältigen linguistischen Analyse der Metro-Sprichwörter auf den Petersburger Reklametafeln. Ja, das aufmerksame eigene Lesen solcher Plakate in jeder großen Stadt der Welt, die Verfolgung der Sprache der Massenmedien und - in besonderem Maße - die Vertiefung in die dynamische Welt „Seiner Exzellenz, dem Internet“ führt jeden objektiven Beobachter zu denselben Schlussfolgerungen. Das parömiologische Minimum bietet eine ausreichend große Ansammlung aktueller Konzeptosphären, die ihre parömiologische Verkörperung als hochfrequente Sprichwörter erhalten haben und auch in nicht ganz so bekannten, aber leicht zu aktualisierenden Varianten. Hierbei handelt es sich nicht um eine absolute und für alle Ewigkeit getroffene Auswahl, sondern um ein dynamisches strukturell-semantisches Modell, nach dem ständig neue Varianten gebildet werden können und andere wiederum an die Peripherie des Sprichworts gedrängt werden können. Dadurch, dass solch ein Modell die schnelle Bewegung einzelner Sprichwörter vom Rand in das Zentrum eines massenweisen Gebrauchs sichert, reagiert es auf aktuelle Erfordernisse und auf die für die jeweilige Sprache bekannte Sprachstruktur. Und genau deshalb haben alle Linguisten, die sich die Aufgabe gestellt haben, die Parömiologie einer Sprache lexikografisch zu beschreiben, auch das Recht, diese Einheiten aus einem recht breiten Bestand auszuwählen. Schließlich ist es in der Parömiologie wie in keiner anderen sprachwissenschaftlichen oder methodischen Disziplin ein altes und wenn auch nicht ganz eindeutiges Prinzip: „Der Zweck heiligt die Mittel“. Eben gerade didaktische Zielstellungen und eine lexikografische Beschreibung bestimmen in jedem einzelnen Falle das konkrete parömiologische Minimum für jeden einzelnen Adressaten oder eine Adressatengruppe. Ein absolutes parömiologisches Minimum, ein „Minimum für alle Sprachträger“ ist eine rein wissenschaftliche Abstraktion, um nicht zu sagen - Fiktion. Russisches parömiologisches Minimum: Theorie oder Praxis? 95 Literatur Čermák, František (2010a): Paremiological Minimum of English - For thy speech bewrayeth thee. In: Malá, Markéta / Šaldová, Pavlína (Hg.): Patterns. A Festschrift for Libuše Dušková. Prague, S. 57-71. Čermák, František (2010b): Frequent Proverbs and Their Meaning: A Proposal of a Linguistic Description (The Core and Paremiological Minima Described). In: Sores, Rui / Lauhakangas, Outi (Hg.): 3. Colóquio Interdisciplinar sobre Proverbios / 3rd Interdisciplinary Colloquium on Proverbs. Actas ICP Proceedings, International Association of Paremiology, S. 40-65. 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Dabei muss das, was ‘allgemein bekannt’ ist, keineswegs von ‘allen’ gekannt werden bzw. ausnahmslos ‘allen’ bekannt sein - wohl aber setzt ‘allgemeine Bekanntheit’ voraus, dass etwas von vielen, wenn nicht von ‘fast allen’ gekannt wird, das heißt, dass es mehr oder weniger ‘allen’ bekannt ist. 1 Eine solche Auslegung von (allgemeiner) Bekanntheit impliziert zwangsläufig auch eine spezifische Lesart dessen, was unter ‘Verwendung’ zu verstehen ist: Denn nur das, was man kennt, kann man auch verwenden. Und nur das, was allgemein - also nicht nur von einer einzelnen Person, sondern von mehreren bzw. vielen - wiederholt, mehrmals, oft oder immer wieder verwendet wird, erlangt eine bestimmte Vorkommenshäufigkeit, kommt somit auf eine bestimmte Frequenz. Allerdings muss nicht alles verwendet werden oder wird verwendet, was man kennt. In der Regel gibt es einen Kenntnisbzw. Bekanntheitsüberhang im Vergleich zur ‘Verwendung’, wie er im Bereich des individuellen Wortschatzes und seiner Erforschung etwa in Form der Gegenüberstellung von produktiver (aktiver) vs. rezeptiver (passiver) Kenntnis ausgedrückt wird. 1 An dieser Stelle sei Christoph Chlosta und Kathrin Steyer für zahlreiche Diskussionen, einschließlich einer früheren Version des vorliegenden Textes, bzw. für wertvolle redaktionelle Hinweise gedankt. Peter Grzybek 100 Der auf den ersten Blick vielleicht trivial anmutende Befund, dass ‘Kenntnis’ und ‘Bekanntheit’ keine ‘Verwendung’ voraussetzen und dass nur anders herum ein Schuh daraus wird, muss jedoch in einem wesentlichen Punkt spezifiziert werden: Individuelle Kenntnis - und damit, wie oben dargelegt, in weiterer Folge die allgemeine Bekanntheit - ist trotzdem an häufiges Vorkommen und damit an soziale Verwendung (zumindest durch andere) gebunden. Insofern steckt trotz der scheinbaren Einfachheit und vermeintlichen Klarheit der Verhältnisse auch der parömiologische Teufel im Detail. Dieser betrifft mitnichten etwa nur das terminologische Chaos bei der Verwendung von Begriffen wie ‘Bekanntheit’, ‘Kenntnis’, ‘Verwendung’, ‘Vorkommen’, ‘Frequenz’ u. a. m., sondern vielmehr den systematischen Zusammenhang zwischen diesen Kategorien, der in dem Moment verloren geht, in dem die Begriffe nicht bzw. nicht mehr stringent voneinander getrennt werden. Denn natürlich basiert ‘allgemeine Bekanntheit’ auf der Kenntnis durch mehr als eine Person, so dass die transindividuelle Kenntnis eine Voraussetzung für interindividuelle oder gar allgemeine Bekanntheit ist, die sich ihrerseits somit in gewissem Sinne als eine abgeleitete Kategorie erweist. So stellt sich dann in weiterer Folge die naheliegende Frage, ob nicht systematische Beziehungen zwischen individueller Kenntnis und Verwendung einerseits, und / oder zwischen (allgemeiner) Bekanntheit und Verwendungsbzw. Vorkommenshäufigkeit andererseits vorliegen. 2 Es ist daher nicht nur terminologisch zwischen ‘Kenntnis’ und ‘Bekanntheit’ zu differenzieren, sondern es erscheint auch die Frage nach dem Zusammenhang von ‘Kenntnis’ bzw. ‘Bekanntheit’ und ‘Verwendungs-’ bzw. ‘Vorkommenshäufigkeit’ in einem anderen Licht. Dennoch aber ist in der parömiologischen Forschung der letzten Jahre genau das mitunter passiert: Begriffe wie ‘Kenntnis’, ‘Bekanntheit’, ‘Verwendung’, ‘Vorkommen’, ‘Frequenz’ u. Ä. sind nicht nur terminologisch, sondern auch konzeptuell und damit auch methodologisch nicht immer konsequent differenziert und somit de facto vermischt worden - zum Teil implizit und / oder unreflektiert, zum Teil aber auch durchaus explizit unter der simplifizierenden Annahme, die Untersuchung des Einen sei im Prinzip äquivalent mit der Erhebung des Anderen. 2 Hierbei gilt es zu beachten, dass eine allfällige, introspektionsbasierte Absichtserklärung, man würde gegebenenfalls ein Sprichwort, das man kennt, unter bestimmten Bedingungen auch verwenden (oder aber nicht), noch lange nicht heißt, dass dies so auch zutrifft, so dass Fähigkeit und Bereitschaft zur Verwendung bei weitem nicht mit tatsächlicher Vorkommenshäufigkeit bzw. Frequenz gleichzusetzen sind. Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 101 Die Tendenz hin zu frequenzorientierten Verfahren hat sich natürlich in den letzten Jahren insbesondere aufgrund der technischen Entwicklungen verstärkt, was mitunter dazu geführt hat, diesen (in der Regel korpusbasierten) Verfahren den Vorzug vor informantenbasierten Erhebungen der Sprichwortkenntnis zu geben. Dass dabei der Begriff der ‘Frequenz’ zudem noch auf unterschiedliche Art und Weise verstanden wurde - angefangen von der Frequenz von Varianten in traditionellen Sprichwortsammlungen bis hin zur Vorkommenshäufigkeit in elektronischen Korpora jedweder Art - kompliziert die Sachlage natürlich zusätzlich. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass in jüngerer Vergangenheit die Zusammenhänge zwischen Kenntnis / Bekanntheit und Verwendung / Vorkommenshäufigkeit wiederholt vergleichenden Analysen unterzogen worden sind (Grzybek 2008a, b; Grzybek / Chlosta 2009, 2010). Dabei hat es sich schon in diesen ersten, z. T. noch eher exemplarischen Analysen gezeigt, dass sehr wohl systematische Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren vorzuliegen scheinen. Allerdings sind diese offenbar komplexerer Natur als vielfach angenommen, wobei eben gerade das jeweilige Verständnis von ‘Bekanntheit’ und ‘Frequenz’ und die Art und Weise, wie diese jeweils gemessen bzw. erhoben werden, eine wesentliche Rolle spielt. Es ist davon auszugehen, dass beide Faktoren nicht in Form einer simplen 1 : 1-Übersetzung abgebildet bzw. in-einander überführt werden können. Zudem stehen sowohl Frequenz als auch Bekanntheit offenbar jeweils auf spezifische Art und Weise mit einer Reihe linguistischer (darunter auch psycho- und soziolinguistischer) Faktoren in komplexen Wechselverhältnissen. Diese Erkenntnis hat in der jüngsten Zeit Anlass gegeben, das Konzept einer (strukturalistisch definierten) parömischen Ebene der Sprache aufzugeben und statt dessen als ein (Sub)-System innerhalb des dynamischen Systems der Sprache im Sinne einer parömiologischen Synergetik zu modellieren (Grzybek 2009, 2011). Die Hoffnung, die Erforschung des Einen (‘Frequenz’) könne die Erforschung des Anderen (‘Bekanntheit’) (mehr oder weniger, cum grano salis etc.) auf simple Art und Weise und vielleicht mit reduziertem Aufwand ersetzen, hat sich allerdings als illusorisch erwiesen. Faktoren wie Kenntnis, Gebrauch und Dokumentation von Sprichwörtern sind eben nicht einfach zwei Seiten ein und derselben Medaille, und auch nicht einfach verschiedene Seiten eines parömiologischen Würfels, deren Augenzahlen einander entsprechen. Vielmehr hat der parömiologische Würfel insgesamt ganz offenbar eher die Form eines komplexen Rubik-Würfels, bei dem die Zahlenwerte jeder einzelnen Seite einander so bedingen, dass auch die Zahlenrelationen der verschiedenen Peter Grzybek 102 anderen Seiten nicht durch simple Rechenschieber-Aktionen ineinander überführt werden können. Die Einsicht in die Komplexität der Sprichwortkenntnis hat dazu geführt, frühere Annahmen einer parömischen Ebene der Sprache im Sinne einer statischen Systemebene aufzugeben und diese statt dessen als ein dynamisches und selbstregulierendes, synergetisches (Sub-)System zu verstehen, in welchem sich verschiedene Faktoren und Systembedürfnisse einander bedingen und wechselseitig steuern. Erste Eckpfeiler eines solchen Systems wurden bereits identifiziert und zur Diskussion gestellt (Grzybek 2009, 2011). Damit jedoch innerhalb eines solchen komplexen Systems nicht Äpfel mit Birnen verglichen (bzw. verwechselt) werden, muss als Erstes geklärt werden, was man jeweils unter ‘Kenntnis’, ‘Bekanntheit’, ‘Frequenz’ u. a. m. versteht bzw. was in der Vergangenheit in verschiedenen Untersuchungen darunter verstanden wurde. Insbesondere ist es von Relevanz zu wissen, wie die Ausmaße der genannten Kategorien jeweils erhoben (gemessen) wurden. Dabei geht es nicht nur darum, die Probleme der einzelnen Verfahren allgemein und die Frage der Kompatibilität der Ergebnisse einschätzen zu können, sondern vor allem zu prüfen, ob die eingesetzten Verfahren überhaupt effektiv und angemessen zur Beantwortung der gestellten Fragen sind. Vor diesem Hintergrund sollen in der vorliegenden Darstellung einige Vorschläge zur terminologischen, konzeptuellen und methodologischen Präzisierung der Konzepte von ‘Kenntnis’ und ‘Bekanntheit’ vorgenommen werden, die letztendlich Aufschluss sowohl über mögliche Beschränkungen als auch über die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Ansätze geben sollen. Die verwendungs- und frequenzorientierter Analysen werden hier ausgeblendet. Ihnen wird an anderer Stelle in ähnlich differenzierter Manier nachzugehen sein. 2. Sprichwort: Kenntnis und / oder Bekanntheit In Hinblick auf die Frage der Kenntnis bzw. Bekanntheit von Sprichwörtern ergibt sich - wie oben dargestellt - ein weitaus komplexeres Bild, das in der Vergangenheit nicht immer in der notwendigen Differenziertheit berücksichtigt worden ist. De facto überlagern oder überkreuzen sich bei entsprechenden Untersuchungen verschiedene Perspektiven, die durch verschiedene Foci und damit letztendlich durch verschiedene Fragestellungen bedingt sind. Im Folgenden soll ein Vorschlag zur konzeptuellen Einordnung und terminologischen Unterscheidung verschiedener Ansätze unterbreitet werden. Dieser mag auf den ersten Blick hypertroph erscheinen; er erscheint jedoch angesichts der angesprochenen Desiderata als notwendig. Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 103 Natürlich muss jede Art von empirisch-parömiologischer Problemstellung zunächst von der Frage nach der Kenntnis eines spezifischen Sprichworts durch eine gegebene Person ausgehen bzw. darauf basieren. Allerdings wird in der Praxis üblicherweise des Weiteren auch nach der Kenntnis weiterer Sprichwörter durch diese Person und / oder durch weitere Personen gefragt. Insofern ergeben sich dann im Hinblick auf das jeweilige parömiologische Erkenntnisinteresse verschiedene Foci, deren Unterschiedlichkeit darin besteht, dass einerseits informantenbezogene vs. textbezogene Fragestellungen im Vordergrund stehen können, andererseits individuell-singuläre vs. kollektivsummarische Fragestellungen den jeweiligen Schwerpunkt bilden können. Dabei bezieht sich das, was hier mit Individualität / Singularität gemeint ist, entweder auf einzelne Personen oder aber auf einzelne Sprichwörter, und mit kollektiv-summarischer Ausrichtung ist entweder die (durchschnittliche) Kenntnis mehrerer Personen oder aber mehrerer Sprichwörter gemeint. Während die informantenbezogene Fragestellung somit auf die Untersuchung individueller vs. kollektiver Kenntnis eines Sprichworts bzw. mehrerer Sprichwörter zielt, 3 richtet sich die textbezogene Fragestellung auf die Art der Bekanntheit eines spezifischen Sprichworts oder aber einer bestimmten Menge von Sprichwörtern allgemein. In diesem Sinne erweist sich die Bekanntheit von Sprichwörtern folglich als eine abgeleitete Kategorie, insofern sie auf individueller oder kollektiver Kenntnis von Sprichwörtern basiert. Nimmt man deshalb die Sprichwortkenntnis als Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen und differenziert des Weiteren zwischen individueller und kollektiver Kenntnis einerseits, der Kenntnis spezifischer einzelner Sprichwörter oder aber jeweils spezifisch definierter Mengen von Sprichwörtern andererseits, dann lassen sich die entsprechenden Foci entsprechend den in Tabelle 1 angegebenen Leitfragen zusammenfassen: 3 Die Unterscheidung dieser Foci ist folglich nicht identisch mit der z. B. von Čermák (1998) im Rahmen der Parömiologie zur Diskussion gestellten Opposition von „knowledgeoriented vs. usage-oriented approaches“. Peter Grzybek 104 1 Spezifische Sprichwortkenntnis einer individuellen Person Kennt eine gegebene Person ein gegebenes Sprichwort, und wenn ja: in welcher sprachlichen Form? 2 Allgemeine Sprichwortkenntnis einer individuellen Person In welchem Ausmaß und jeweils in welcher sprachlichen Form kennt eine gegebene Person eine gegebene Menge von Sprichwörtern? 3 Kollektive Kenntnis eines spezifischen Sprichworts Kennt eine gegebene Gruppe von Personen ein gegebenes Sprichwort, und wenn ja: in welchem Ausmaß und in welcher Form bzw. in welchen Varianten? 4 Kollektive Sprichwortkenntnis Kennt eine gegebene Gruppe von Personen eine gegebene Menge von Sprichwörtern, und wenn ja: in welchem Ausmaß und in welcher Form bzw. in welchen Varianten? Tab. 1: Individuelle und kollektive, allgemeine und spezifische Sprichwortkenntnis Folgt man nun dem Vorschlag, in Hinblick auf informantenbezogene Fragestellungen von ‘Kenntnis’ (engl.: knowledge) und in Hinblick auf textbezogene Fragestellungen von ‘Bekanntheit’ (engl.: familiarity) zu sprechen, ergeben sich Differenzierungen, wie sie in Tabelle 2 angegeben sind. Die unterschiedlichen Formulierungen können dabei zum Teil auf ein und denselben Ergebnissen beruhen, diese aber auf unterschiedliche Art und Weise perspektivieren, sei dies bereits im Vorfeld durch die Ausrichtung der Fragestellung oder im Nachhinein durch die Art der Interpretation der Ergebnisse bedingt. 1 Person P kennt das Sprichwort S in der sprachlichen Variante V. Das Sprichwort S ist der Person P in der Variante V bekannt. 2 Person P kennt die Sprichwörter S 1..s in der jeweiligen sprachlichen Variante V 1..v , wobei Person P insgesamt X % der Sprichwörter bzw. ihrer jeweiligen Varianten V 1..v kennt. Die Sprichwörter S 1..s sind der Person P jeweils in der/ den sprachlichen Variante(n) V 1..v bekannt, wobei der Person P im Durchschnitt X % der Sprichwörter bzw. ihrer jeweiligen Varianten V 1..v bekannt sind. 3 Das aus den Personen P 1..p bestehende Kollektiv K kennt das Sprichwort S in den sprachlichen Varianten V 1..v , wobei die durchschnittliche Kenntnis des Sprichworts S bzw. seiner jeweiligen Varianten V 1..v durch das Kollektiv X % beträgt. Das Sprichwort S ist dem aus den Personen P 1..p bestehenden Kollektiv K in den Varianten V 1..v bekannt, wobei das Sprichwort S bzw. seine Varianten V 1..v dem Kollektiv K im Durchschnitt zu X % bekannt ist / sind. 4 Das aus den Personen P 1..p bestehende Kollektiv K kennt die Sprichwörter S 1..s in den sprachlichen Varianten V 1..v , wobei die durchschnittliche Kenntnis der Sprichwörter bzw. ihrer jeweiligen Varianten X % beträgt. Die Sprichwörter S 1..s sind dem aus den Personen P 1..p bestehenden Kollektiv K in den Varianten V 1..v bekannt, wobei die Sprichwörter S 1..s bzw. ihre Varianten V 1..v dem Kollektiv K im Durchschnitt zu X % bekannt ist / sind. Tab. 2: ‘Kenntnis’ und ‘Bekanntheit’ von Sprichwörtern Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 105 3. Methoden der Erhebung von Sprichwortkenntnis / -bekanntheit Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich primär auf die Methodologie der Untersuchung der Bekanntheit von Sprichwörtern. Dabei soll es vor allem auch um einen Vergleich verschiedener Verfahren gehen, die in der Vergangenheit überwiegend zur Erhebung bzw. Bestimmung von Bekanntheit entwickelt und angewendet wurden. Fragen der Frequenz und der Beziehung zwischen Bekanntheit und Frequenz werden dagegen ausgeblendet. Vorangestellt sei eine kurze Zusammenfassung der Grundtypen zentraler Verfahren: a) Spontanes Aufschreiben. In Versuchen, „allgemein bekannte“ Sprichwörter zu erheben, ist es mitunter als zweckmäßig und hinreichend angesehen worden, eine Reihe von Personen aufzufordern, diejenigen Sprichwörter, die ihnen spontan einfallen, innerhalb einer vorgegebenen Zeit aufzuschreiben. 4 b) Skalierungsverfahren. Beim Verfahren der Skalierung von Bekanntheit wird befragten Personen eine Liste von Sprichwörtern präsentiert, wobei die Aufgabe darin besteht, auf einer bestimmten Skala (z. B. von 1 bis 4 oder von 1 bis 7) die Sprichwörter nach dem vermeintlichen Grad der Bekanntheit einzuordnen bzw. einzuschätzen, d. h. anzugeben, für wie bekannt sie die jeweils dargebotenen Sprichwörter halten. Da es auch hier um vollständige Sprichworttexte und deren Skalierung geht, sei dieses Verfahren im Laufe der hiesigen Überlegungen als Ganztext-Skalierung (GTS) bezeichnet. c) Ganztext-Präsentation (GTP). Bei diesem vermutlich am meisten verbreiteten Verfahren werden befragten Personen mehr oder weniger umfassende Listen von (ausgewählten) Sprichwörtern präsentiert mit der Aufgabe, introspektiv zu urteilen, ob ihnen diese Sprichwörter bekannt sind oder nicht. Diese Methode verlangt von den Befragten somit eine JA-NEIN -Entscheidung („bekannt“ vs. „nicht bekannt“). 4 In einigen Untersuchungen ist ein scheinbar ähnliches Verfahren umgesetzt worden, das darin besteht, dass die Versuchspersonen einen bestimmten (begrenzten) Zeitraum (z. B. eine Woche) zur Verfügung hatten, um all diejenigen Sprichwörter zu notieren, die ihnen im Laufe des Alltags begegnen. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich jedoch hierbei eher um eine spezifische Art der Frequenzerhebung, nicht der (im Falle des spontanen Aufschreibens auf Introspektion basierenden) Explikation von Sprichwortkenntnis. Peter Grzybek 106 d) Das Verfahren der Teiltext-Präsentation (TTP) sieht die alleinige Darbietung des Textanfangs eines gegebenen Sprichworts vor. Die Aufgabe der Versuchspersonen besteht darin, den Text in der ihnen bekannten Form zu vervollständigen. Tabelle 3 fasst die verschiedenen Verfahren in anschaulicher Form zusammen: Methode Aufgabe „Spontanes“ Aufschreiben ð Schreiben Sie die Sprichwörter auf, die Ihnen im Laufe der folgenden ... Minuten spontan einfallen. Ganztext-Präsentation (GTP) ð Kennen Sie das folgende Sprichwort (JA / NEIN) : Morgenstund′ hat Gold im Mund. Skalierung (GTS) ð Markieren Sie auf einer Skala von 1-7, wie bekannt Ihnen das folgende Sprichwort ist: Morgenstund′ hat Gold im Mund. 1 - - 2 - - 3 - - 4 - - 5 - - 6 - - 7 Teiltext-Präsentation (TTP) ð Vervollständigen Sie den Anfang des folgenden Sprichworts: Morgenstund′ hat ... Tab. 3: Methoden der Erhebung von Sprichwortkenntnis Natürlich liegen den verschiedenen Verfahren unterschiedliche „Philosophien“ zugrunde. Vor allem aber zeitigen sie auch unterschiedliche Ergebnisse, was es bei jeglicher Art von Folgeuntersuchung in gebührendem Maße zu berücksichtigen gilt. Folgender Umstand ist dabei jedoch besonders zu beachten: Sollte sich herausstellen, dass es systematische Zusammenhänge bzw. Verschiebungen zwischen verschiedenen Methoden bzw. zwischen den mit diesen Methoden erzielten Ergebnissen gibt, so dass die Ergebnisse sich als im Prinzip ineinander überführbar erweisen, dann kann die Unterschiedlichkeit in der (absoluten) Ausprägung der Ergebnisse als prinzipielles Problem vernachlässigt werden. Zu dieser Frage gibt es jedoch bislang so gut wie keine Untersuchungen, und es liegt nahe, sich dieser Frage in angemessener Weise zu widmen. 3.1 Spontanes Nennen / Aufschreiben Das Verfahren des spontanen Aufschreibens von Sprichwörtern ist mit den Anfängen empirischer bzw. experimenteller Sprichwortforschungen schlechthin verbunden, die in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts liegen. Zu dieser Zeit wurden in der amerikanischen Soziologie erste Untersuchungen zur Kenntnis von Sprichwörtern, in weiterer Folge und darauf aufbauend dann Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 107 insbesondere zu Einstellungen gegenüber Sprichwörtern durchgeführt. Zu nennen sind hier in erster Linie die beiden älteren Studien von Albig (1931) und Bain (1939), doch auch neuere Arbeiten wie diejenigen von Arnaud (1992), Cox (1997) oder Haas (2008) gilt es in diesem Zusammenhang in Betracht zu ziehen. Albig (1931) führte zwei Teilstudien durch. In einem ersten Schritt forderte er 15 Studierende auf, alle Sprichwörter zu notieren, die diese im Laufe von zwei Tagen hörten. Aus heutiger Sicht würden wir sagen, dass es sich bei dieser Art von Fragestellung de facto nicht um die Erhebung der Sprichwortkenntnis der befragten Personen handelt, sondern eher um eine bestimmte Art der Vorkommenserhebung. Denn es wurde nicht nach der individuellen Kenntnis der Studierenden gefragt, sondern nach dem in ihrem Alltag beobachteten Sprichwortvorkommen. Das Ergebnis belief sich insgesamt auf eine Menge von nicht mehr als 19 Sprichwörtern. Im zweiten Schritt führte Albig, nicht zuletzt unter dem Eindruck des bescheidenen Ergebnisses im ersten Schritt, ein umfangreicheres Experiment durch, an dem 68 Studierende teilnahmen: Diesmal sollten die Studierenden innerhalb einer halben Stunde all diejenigen Sprichwörter aufschreiben, die ihnen spontan einfielen. Unter dieser Bedingung lagen als Ergebnis der Befragung immerhin 1 443 Sprichwortnennungen vor, d. h. Sprichwort-Tokens ohne Berücksichtigung von Mehrfachnennungen (also Sprichwort-Types). Das entspricht einer durchschnittlichen Anzahl von x = 21,22 Sprichwortnennungen pro befragter Person. Auch wenn dies in der Forschung nie explizit herausgestellt wurde, beinhalten die beiden Teilbefunde in der Zusammenschau die bis heute wichtige Beobachtung, dass der Umfang individueller Sprichwortkenntnis und die empirisch beobachtbare Vorkommenshäufigkeit von Sprichwörtern offensichtlich deutlich auseinander klaffen können, so dass beide nicht ohne Weiteres auf dieselbe Art und Weise zu messen sind. Doch bleiben wir bei den von den Befragten genannten Sprichwörtern: Insgesamt handelte es sich um 442 verschiedene Sprichwörter (also Sprichwort- Types). Von diesen 442 Sprichwörtern wurden 270 Sprichwörter (also ca. 60%) nur ein einziges Mal (d. h. von nur einer einzigen Person) angeführt; die übrigen 172 Sprichwörter wurden verschieden häufig, bis zu 47 mal als Maximum (also von ca. 69% der Befragten) genannt. Allerdings waren es insgesamt nur vier Sprichwörter, die von mehr als der Hälfte der Befragten angeführt wurden, nicht mehr als acht Sprichwörter wurden von mehr als einem Drittel der Befragten genannt. Anders gesagt: 98% der erhobenen Sprichwörter wurden von weniger als einem Drittel der Befragten angegeben. Peter Grzybek 108 Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist also, dass es einen klaren Unterschied zwischen dem Umfang individueller und kollektiver Nennungen gab, da nur wenige Sprichwörter von vielen Personen gemeinsam (kollektiv) genannt wurden. 5 Einige Jahre später führte Bain (1939) ein ähnliches Experiment durch, in welchem es in erster Linie um die Einstellung zu bestimmten sprichwörtlichen Inhalten ging. In diesem Zusammenhang forderte Bain als Erstes 133 Studierende auf, diejenigen Sprichwörter, die ihnen spontan einfielen, aufzuschreiben und jeweils mit +, - oder ± zu kennzeichnen, je nach Zustimmung (+), Ablehnung (-) oder neutraler Haltung (±) im Hinblick auf den Inhalt. Abgesehen von der Erhebung der Einstellung, die im hier gegebenen Kontext nicht zur Debatte steht, wurden von den Befragten im Ergebnis insgesamt 3 654 Sprichwörter, im Durchschnitt somit x = 27,47 Sprichwörter (Sprichwort-Tokens) pro Person genannt. Albig und Bain gelangten also insofern zu relativ übereinstimmenden Ergebnissen, als sich in beiden Fällen die durchschnittliche Menge spontan aufgeschriebener Sprichwörter auf ca. 20-30 Items belief. Zu einem vergleichbaren Ergebnis sollte fast 40 Jahre später auch der russische Folklorist G. L. Permjakov gelangen. Als er in den 70er Jahren eine Gruppe von ca. 300 Personen aus dem Moskauer Gebiet nach der introspektiven Einschätzung des Umfangs ihrer Sprichwortkenntnis fragte, wurden ihm seinen Angaben zufolge üblicherweise „zwischen zwanzig und fünfzig“ Sprichwörter pro Person genannt, und die überwältigende Mehrheit der Probanden gab Permjakov (1985, S. 5) zufolge „zwanzig bis dreißig“ Sprichwörter an. Auch jüngere Untersuchungen, wie diejenigen von Arnaud (1992) zur Kenntnis französischer, von Cox (1997) zur Kenntnis deutscher und von Haas (2008) zur Kenntnis amerikanischer Sprichwörter kommen zu vergleichbaren Zahlen. So führte Arnaud (1992) umfangreiche Untersuchungen zur Sprichwortkenntnis französischer Muttersprachler durch: Ausgewertet wurden dabei Sprichwortnennungen von 150 Studierenden; deren Aufgabe war es, im Laufe einer zeitlich nicht begrenzten Sitzung (unkontrolliert außerhalb der Universität), wohl aber ohne Unterbrechung und ohne Zuhilfenahme anderer Personen oder Einsichtnahme in Hilfsmaterialen, all diejenigen Sprichwörter zu notieren, die ihnen während dieser Sitzung einfielen. Arnaud (1992, S. 202) zufol- 5 Zu einer detaillierteren Darstellung inkl. eingehenderer Analysen der konkreten Sprichwörter siehe Grzybek / Chlosta / Grotjahn (i. Vorb.). Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 109 ge war die Anzahl der Nennung von Sprichwörtern interindividuell sehr heterogen und lag zwischen 3 und 43 Nennungen. Dabei betrug die durchschnittliche Anzahl von Nennungen x = 20 Sprichwörter bei einer Standardabweichung von s = 9,37; insgesamt wurden 274 verschiedene Sprichwort-Types genannt, von denen 61 nur ein einziges Mal genannt wurden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Cox (1997) im Rahmen seiner Untersuchung zur Sprichwortkenntnis deutschsprachiger Studierender. In dieser Studie wurde den Befragten allerdings mehr Zeit eingeräumt, nämlich eine ganze Woche, um alle Sprichwörter, die ihnen im Laufe dieser Zeit einfielen, zu notieren. Das auf der Auswertung der Antworten von 42 Personen beruhende Ergebnis belief sich unter diesen Umständen auf eine Summe von 728 Einzelbelegen (Sprichwort-Tokens) mit einem Maximum von 35 Nennungen (d. h., der am häufigsten genannte Sprichwort-Type wurde von 83,33% der Befragten angeführt). Ähnlich wie in den oben genannten Studien war die Menge der pro Person im Durchschnitt genannten Sprichwörter allerdings relativ gering, und zwar lag sie bei x = 17,33 Sprichwörtern pro Person. Insgesamt waren es überhaupt nur 22 Sprichwörter, die von mehr als einem Drittel der Befragten genannt wurden. Mit anderen Worten: Mehr als 95% der insgesamt erhobenen 728 Sprichwörter wurden von weniger als einem Drittel der Befragten angegeben. Auch dieses Ergebnis deckt sich weitgehend mit früheren Befunden zu kollektiven Sprichwortnennungen, denn auch in den Untersuchungen von Albig und Arnaud waren es jeweils nicht mehr als vier bzw. fünf Sprichwörter, die von ≥ 50% der Befragten gemeinsam angegeben wurden. Auch neuere Ergebnisse von Haas (2008) zur Kenntnis bzw. Nennung amerikanischer Sprichwörter konvergieren mit diesen Beobachtungen: In dieser Untersuchung hatten 156 Studierende aus verschiedenen geografischen Regionen der USA jeweils 20-25 Minuten Zeit, alle Sprichwörter, die ihnen in dieser Zeit einfielen, zu notieren. Die Gesamtzahl der Nennungen wird von Haas nicht angegeben, die Anzahl der von zumindest zwei Befragten genannten Sprichwörter belief sich Haas zufolge auf insgesamt 339 Items. Nicht ein einziges der Sprichwörter wurde von mehr als einem Viertel der Befragten genannt, nur drei von mehr als 20%, nur 20 von mehr als 10% der Befragten - Befunde, die sich hochgradig mit den oben berichteten decken. Aufgrund der geringen Anzahl kollektiv genannter Sprichwörter zog Cox (1997, S. 57) in seiner Studie die Schlussfolgerung, dass der den Befragten gemeinsame Thesaurus bekannter Sprichwörter - also die kollektive Sprichwortkenntnis - proportional klein, der individuelle Thesaurus der einzelnen Peter Grzybek 110 Befragten demgegenüber relativ groß sei. Diese Schlussfolgerung im Hinblick auf die Heterogenität zwischen individueller und kollektiver Sprichwortkenntnis - vgl. hierzu auch die früher schon von Chlosta / Grzybek / Roos (1994) - liegt in der Tat nahe. Sie ist aber im gegebenen Fall nicht die einzig mögliche und schließt eine komplementäre und/ oder alternative Erklärung nicht aus, da eine entscheidende Frage unbeantwortet bleibt, nämlich, ob eine Person ein Sprichwort gegebenenfalls durchaus kennt, auch wenn sie es „spontan“ nicht nennt. Die aktive Nennung eines Sprichworts ist jedoch nicht mit der Kenntnis eines Sprichworts und noch weniger mit seiner aktiven Verwendung zu verwechseln: Natürlich kann man ein Sprichwort nur nennen, wenn man es kennt, aber man kann durchaus (weitere) Sprichwörter kennen, ohne diese gewissermaßen „auf Bestellung“ oder „spontan“ und insofern ohne gegebenen Anlass bzw. Auslöser zu nennen. Diese Erklärung erscheint insofern auch plausibel, als die individuelle Sprichwortkenntnis bei aller inter-individuellen Heterogenität enorm hoch ist und nicht selten bei weit über 1 000 Sprichwörtern pro Person liegt. Neben dem Verhältnis von aktiver und passiver Sprichwortkenntnis ist aber auch folgendes Phänomen in die Erklärung einzubeziehen: Sprichwörter, die man kennt, fallen einem nicht ohne Weiteres kontextfrei ein, wenn sie nicht auf die eine oder andere Art und Weise elizitiert werden. Als „Trigger“ derartiger Elizitierungen dient natürlich primär ein entsprechender situativer („pragmatischer“) Kontext, verbundenen mit einer Referenzsituation, auf welche das konkrete Sprichwort bezogen wird. Freilich kann ein (bekanntes) Sprichwort durchaus auch verbal elizitiert werden, wenn man davon ausgeht, dass ein Sprichwort ein sprachliches Klischee ist, welches entweder als vollständiger Text oder gar nicht bekannt ist. Auf das entsprechende Verfahren der Teiltext-Präsentation wird unten noch detaillierter eingegangen (vgl. 3.3). Zusammenfassend lässt sich einstweilen festhalten, dass das schon in den 30er Jahren von Soziologen wie Albig und Bain angewandte und auch in jüngerer Zeit wiederholt zum Einsatz gebrachte Verfahren, die Nennung von Sprichwörtern „spontan“ zu evozieren, durchaus geeignet scheint, eine bestimmte (begrenzte) Menge bekannter Sprichwörter zu erhalten. Bei diesen könnte es sich durchaus um sprichwörtliche Prototypen handeln. Systematische Untersuchungen zur Bestätigung dieser Annahme incl. einer tragfähigen Definition von ‘Prototyp’ fehlen allerdings bislang vollständig, und sie können auch an dieser Stelle nicht en passant geleistet werden. Die Methode des spontanen Nennens (bzw. Aufschreibens) erlaubt aber keine Aussage über den Umfang der individuellen oder kollektiven Sprichwortkenntnis und ist deshalb prinzipiell nicht geeignet, den Bekanntheitsgrad von Sprichwörtern zu bestimmen. Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 111 3.2 Skalierung Das Verfahren der Skalierung ist insbesondere aus anglo-amerikanischen Untersuchungen bekannt, die in verschiedenen Bereichen der Sozio- und Psycholinguistik mit dem Ziel der Erhebung bekannter Sprichwörter bzw. der Bekanntheit spezifisch ausgewählter Sprichwörter durchgeführt wurden. Zu nennen sind hier in erster Linie Studien wie etwa diejenigen von Higbee / Millard (1983) oder von Haas (2008). Bei diesem Verfahren werden befragten Personen vollständige Sprichworttexte vorgegeben, 6 verbunden mit der Aufgabe, die vermeintliche Bekanntheit dieser Sprichwörter auf einer vorgegebenen Skala anzukreuzen; so verwenden Higbee / Millard (1983) z. B. eine Skala von 1 bis 7, Haas (2008) arbeitet mit einer Skala von 1 bis 4. Solche Skalen lassen sich auf einfache Art und Weise in Prozentwerte umrechnen (vgl. Grzybek / Chlosta / Grotjahn i. Vorb.), sodass im Prinzip eine rechnerische Vergleichbarkeit mit anderen Verfahren der Bekanntheitserhebung gegeben wäre. Allerdings weisen die mit diesem Verfahren arbeitenden Studien ein nicht unerhebliches methodologisches Problem auf, das gerade die Validität einer solchen Vergleichbarkeit in Frage stellt: sie differenzieren nämlich nicht zwischen ‘Bekanntheit’ und ‘Vorkommenshäufigkeit’ bzw. sie vermischen beide Faktoren oder setzen sie implizit miteinander gleich. So lautete die Aufgabenstellung etwa bei Higbee / Millard (1983): The purpose of this study is to rate a list of proverbs and sayings as to their familiarity. Any saying that you have heard many times should be given a high familiarity rating; any saying that you have never heard should be given a low familiarity rating [...]. The sayings that you have never heard should be rated 1; sayings that you have heard many times should be rated 7 [...]. Die Frage nach der ‘Bekanntheit’ (familiarity) wird bei dieser Form von Aufgabenstellung somit de facto mit der Einschätzung der Befragten gleichgesetzt, wie oft sie meinen, ein gegebenes Sprichwort in ihrer Alltagswelt gehört zu haben („heard many times“, „never heard“). Bei näherer Betrachtung geht es also nicht um die aus der Erhebung individueller und/ oder kollektiver Sprichwortkenntnis abgeleitete Bekanntheit im oben definierten Sinne. Vielmehr wird die Untersuchung der ‘Bekanntheit’ eines Sprichworts durch die Frage nach der (subjektiv und introspektiv) eingeschätzten Vorkommenshäufigkeit zu lösen versucht. Bei diesem Vorgehen handelt es sich aber weder um eine echte Frequenzerhebung noch um die introspektive Einschätzung der eigenen Verwendungshäufigkeit oder -bereitschaft, sondern um die Einschät- 6 Zu damit verbundenen methodologischen Problemen der Ganztext-Präsentation allgemein siehe unten. Peter Grzybek 112 zung der vermeintlichen Frequenz. Damit ist dieses Vorgehen eher mit demjenigen gleichzusetzen, bei welchem Personen danach gefragt werden, ob sie ein gegebenes Sprichwort (nicht nur kennen, sondern auch) verwenden (würden) - ein Vorgehen, welches u. a. Hattemer / Scheuch (1983) in ihren Befragungen zu deutschen Sprichwörtern umgesetzt haben. Doch auch hier gilt es den feinen Unterschied zu beachten: Während Skalierungsverfahren in der oben referierten Form auf eine kollektiv-bezogene Fremd-Einschätzung zielen, ist die Frage nach der Einschätzung der (jeweils eigenen) Verwendung individuell-introspektiv ausgerichtet. Und während die fremd-bezogene und kollektiv ausgerichtete Frage sich durchaus im Hinblick auf einen (vermeintlichen) Standard verstehen bzw. beantworten lässt, beschränkt sich die individuell-introspektive Fragestellung natürlich nur auf eine einzige (nämlich die jeweils eigene) Person, wobei es durchaus naheliegt, dass hier bislang eher mit JA - NEIN -Antworten denn mit Skalierungen gearbeitet wurde. Dasselbe gilt im Grunde genommen auch für die Untersuchung von Haas (2008), in welcher die 4er-Skala zur Einschätzung von ‘Bekanntheit’ wie folgt definiert wurde: 1) Not at all familiar I have never heard this phrase in this form before. 2) Slightly familiar I believe I have encountered this phrase in this form before, although not often. 3) Moderately familiar I encounter this phrase occasionally. I'm sure I've heard it several times before. 4) Very familiar I encounter this phrase frequently; I've heard it on numerous occasions. Das Vorgehen der Autorin ist aus parömiologischer Sicht insofern erheblich bedenklicher, als sie mit dem Hinweis auf ein parömisches Minimum des Amerikanischen wesentlich weiter reichende Ansprüche verbindet als etwa Higbee / Millard (1983), denen es lediglich um die Erhebung einer begrenzten Menge bekannter Sprichwörter ging. Denn um diesen Ansprüchen zu genügen, weist die Studie von Haas über die generellen Probleme des Skalierungsverfahrens hinaus - zu viele weitere methodologische Schwächen auf. Das Spektrum dieser Mängel reicht von der Selektion des zugrunde gelegten Sprichwortmaterials 7 bis hin zur Behandlung sprachlicher Varianten und 7 So begründet Haas (2008, S. 330) die Auswahl der von ihr untersuchten 315 Sprichwörter, „previous researchers […] had identified them as being relatively familiar or common“. Neben den Daten von Higbee und Millard nennt sie u. a. die frequenz-orientierten Korpusanalysen von Lau (1996) oder die für Fremdsprachenlerner gedachte Zusammenstellung 101 American English Proverbs von Collis (2009); von diesen 101 Sprichwörtern behauptet Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 113 Variationen, 8 deren Bedeutung gerade an anglo-amerikanischem Material wiederholt exemplarisch aufgezeigt worden ist (Chlosta / Grzybek 1995, 2004, 2005). Es wäre freilich falsch, aufgrund der oben vorgenommenen Analysen und Bewertungen von Skalierungsuntersuchungen das Verfahren der Skalierung an sich in Frage zu stellen. Es geht lediglich um eine realistische Einschätzung der Leistungsfähigkeit und Reichweite dieses Verfahrens in der Form, wie es bislang angewendet worden ist. Es muss schlicht und einfach festgehalten werden, dass die Untersuchung von ‘Bekanntheit’ bei den genannten Skalierungsverfahren de facto eher auf der Einschätzung von Vorkommenshäufigkeit und Frequenz basierten und nicht aus der Erhebung individueller und/ oder kollektiver Sprichwortkenntnis. Natürlich lässt sich an dieser Stelle die berechtigte Frage stellen, ob Probanden überhaupt in der Lage sind, die hier angesprochenen Differenzierungen nachzuvollziehen, sei es aufgrund unklar formulierter Befragungen oder allgemein. Gleichermaßen ließe sich dann aber auch fragen, ob Parömiologen ausreichend Interesse (gezeigt) haben, dem Unterschied zwischen Verwendung / Frequenz einerseits und Kenntnis / Bekanntheit andererseits angemessen Rechnung zu tragen. Schließlich darf man von den Befragten keine Differenzierungen erwarten, die die Fragenden nicht zuvor in ausreichendem Maße reflektiert haben. Im Hinblick auf unsere eingangs skizzierte Leitfrage nach methodologischen Grundlagen der Erhebung von Sprichwortkenntnis und -bekanntheit reduziert sich bei Zugrundelegung der oben dargelegten engeren Definition von ‘Bekanntheit’ als einer aus der ‘Kenntnis’ abgeleiteten Kategorie das Spektrum der bislang üblicherweise dazu eingesetzten Verfahren der Ganztext- und der Teiltext-Präsentation. Collis (ebd., S. ix) zwar, diese seien „among those that are most familiar to and most frequently used by [sic! ; PG] native speakers of English“. Eine empirische Grundlage dieser Annahme gibt es allerdings nicht. 8 Abgesehen davon, dass sich derartige Varianten und Variationen, die eine erhebliche Frequenz erreichen können, prinzipiell mit dieser Art der Untersuchung von Bekanntheit nicht erhoben werden können, sollte man konkret im Hinblick auf die Untersuchung von Haas (2008) nicht übersehen, dass bei den ersten beiden Stufen der vierstufigen Skala (also 1 und 2), nicht aber in den beiden letzten (also 3 und 4) explizit von der konkret vorgegebenen sprachlichen Form die Rede ist („in this form“) - was den Befragten bei der Behandlung von gegebenenfalls „bekannten“ Varianten und Variationen einen erheblichen inter-individuellen Spielraum lässt, der seinerseits womöglich weitere Folgen im Ergebnis nach sich zieht. Peter Grzybek 114 3.3 Ganztext - Teiltext: Empirische Befunde und methodologische Aspekte Beide Verfahren - sowohl Ganztextals auch Teiltext-Präsentation - sind in der Vergangenheit wiederholt und in ausreichendem Maße dargestellt worden, so dass dies hier nicht ein weiteres Mal detailliert geschehen muss. Dennoch scheinen eine Reihe methodologischer Kommentare durchaus angebracht. Beim Verfahren der Ganztext-Präsentation werden vollständige Sprichworttexte vorgegeben, die von den befragten Personen jeweils als ihnen ‘bekannt’ bzw. ‘unbekannt’ eingestuft werden sollen. Das Verfahren der Teiltext-Präsentation sieht im Vergleich dazu die Darbietung nur jeweils eines Teils des Sprichwort-Textes - in der Regel dessen Anfang - vor, den es für die Befragten in der ihnen jeweils bekannten Form zu vervollständigen gilt. Beide Verfahren haben gegenüber dem spontanen Aufschreiben bzw. Nennen den Vorteil, dass befragte Personen auch solche Sprichwörter (wieder)erkennen bzw. durch den dargebotenen Anfang an sie erinnert werden, die ihnen spontan und ohne kontextuellen Trigger gerade nicht einfallen. Dennoch aber gilt es im Hinblick auf beide Verfahren eine Reihe von Details zu berücksichtigen. So ist z. B. in verschiedenen Studien, in denen die Ganztext-Präsentation angewendet wurde, das ursprüngliche Schema einer Entscheidung durch zusätzliche Antwort-Optionen wie „kommt mir irgendwie bekannt vor“, „ich bin nicht sicher“, oder auch „ich kenne das Sprichwort, aber in einer anderen Form“ o. Ä. erweitert worden. Mit Optionen wie den ersten beiden soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Sprichwortkenntnis nicht unbedingt entlang einer eindeutig abfragbaren 0-1-Dimension verlaufen muss und ein binäres Antwort-Schema mit den Alternativen JA und NEIN seitens der Befragten zu falschen Entscheidungen führen kann. Diese zusätzlichen Optionen sind im Zusammenhang mit dem prinzipiellen Nachteil des Verfahrens der Ganztext- Präsentation zu sehen, der darin besteht, dass es auf Introspektion beruht. Die entsprechenden Ergebnisse können irreführend sein, wenn Versuchspersonen fälschlicherweise glauben, ein Sprichwort zu kennen, weil sie es z. B. vom Inhalt her für richtig oder plausibel halten. In diesem Fall haben wir es mit sog. ‘Fehlidentifikationen’ zu tun. Um die Gefahr solcher Fehlidentifikationen zu reduzieren, wurde in verschiedenen Studien, die das Verfahren der Ganztext-Präsentation angewendet haben (so z. B. Grzybek 1991), den befragten Personen bewusst nicht die Aufgabe gestellt, die ihnen jeweils bekannten Sprichwörter zu markieren, sondern die ihnen jeweils unbekannten. Die bei der Auswertung der Ergebnisse vorgenommene „Umrechnung“ der nicht als ‘unbekannt’ markierten Sprichwörter in ‘bekannte’ bzw. ‘potenziell bekannte’ Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 115 Sprichwörter ist insgesamt vom Prinzip und von der Zielstellung her als ein weniger restriktives Vorgehen anzusehen, insofern möglicherweise bekannte Sprichwörter nicht fälschlicherweise (bzw. vorzeitig) als unbekannt ausgeschlossen werden; wenn man so will, lässt sich dies in Analogie zur Sprache der Statistik als Reduktion des Fehlers 2. Art (β-Fehlers) ansehen. Ein weiteres Manko binärer Aufgabenstellung ist, dass Personen ein Sprichwort in einer mehr oder weniger von der vermuteten Standardvariante divergierenden verbalen Form, d. h. einer bestimmten Variation oder Variante, kennen. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte haben nämlich gezeigt, dass diese Form der Kenntnis der Realität viel mehr entspricht als bis dato angenommen. Dieser Umstand führt nun aber zu möglichen Unsicherheiten im Antwortverhalten von Befragten, wenn diese bei einer binären JA - NEIN -Entscheidung unsicher sind, ob sie in diesem Fall ein Sprichwort als ‘bekannt’ oder ‘unbekannt’ einstufen sollen. Zudem bedingt er auch möglicherweise individuell divergierende Maßstäbe, die Befragte bei ihren Einstufungen hinsichtlich der Bekanntheitsnähe zur jeweils vorgegebenen Form anlegen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Probleme hat sich in der Empirischen Parömiologie in den letzten Jahren zunehmend das Verfahren der Teiltext-Präsentation als sinnvoll erwiesen, das im Wesentlichen auf den russischen Parömiologen Grigorij L. Permjakov zurückgeht. Dieser führte ab den 70er Jahren Untersuchungen zu einem „parömischen Minimum“ 9 des Russischen durch (vgl. Permjakov 1971, 1973a, 1973b, 1975a, 1975b, 1982). Unter einem parömischen Minimum verstand er die Gesamtheit jener Sprichwörter und Parömien, die (zumindest fast) allen SprecherInnen einer gegebenen Sprache bzw. den Angehörigen einer gegebenen Kultur - im gegebenen Fall der russischen Sprache bzw. Kultur - bekannt sind. 10 Permjakovs diesbezügliche Forschungen beinhalteten zwar einen nicht unbedeutenden Verwertungsaspekt, insbesondere für den Fremdsprachenunterricht, grundsätzlich aber entstanden sie vor dem Hintergrund seiner Allgemeinen Theorie des Klischees 9 Streng genommen sprach Permjakov selbst dabei nicht von einem parömischen, sondern von einem parömiologischen Minimum („паремиологический мимимум“). 10 Im Anschluss an eine erste Darstellung von Begriff und Konzept des parömischen Minimums in einer westlichen Sprache Mitte der 1980er Jahre (Grzybek 1984) folgten zunächst methodologische Übertragungen in Form von Pilotstudien zum Deutschen (Grzybek 1991) und Kroatischen (Grzybek / Škara / Heyken 1993). Darauf aufbauende Untersuchungen zu einer Reihe weiterer Sprachen sind zum Teil sorgloser mit den Ansprüchen an die Erhebung eines parömischen Minimums umgegangen, als dies in der methodologischen Grundsatz- Darstellung von Grzybek / Baur / Chlosta (1996) dargelegt und gefordert wurde, sodass in der Folge mitunter recht (vor-)schnell von der erfolgreichen Erhebung solcher Minima für verschiedene Sprachen berichtet wurde - Details können hier ausgeblendet bleiben. Peter Grzybek 116 (Permjakov 1970): Ausgehend von einer Analogie mit dem Wort und unter Annahme der Existenz einer eigenen parömischen Ebene der Sprache ging es Permjakov einerseits um die Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Isomorphierelationen der verschiedenen sprachlichen Klischees, andererseits um die Erarbeitung von Kriterien zu deren gegenseitiger Abgrenzung. 11 Sprichwörter sah er dabei als vollständig klischierte sprachliche Einheiten an, die man als Angehöriger einer bestimmten Kultur bzw. als Sprecher einer gegebenen Sprache entweder als Ganzes kennt oder aber gar nicht. Diese theoretisch begründete Annahme hatte Permjakov in seinen empirischen Untersuchungen zur Erhebung der „allgemein bekannten“ Sprichwörter des Russischen praktisch umgesetzt und genutzt, indem er Versuchspersonen jeweils nur den Anfang eines Sprichworts präsentierte und die befragten Personen mit der Aufgabe konfrontierte, die dargebotenen Sprichwortanfänge zu vervollständigen. Seither ist das von Permjakov initiierte und in weiterer Folge als ‘Teiltext-Präsentation’ bezeichnete Verfahren zur Erhebung der Bekanntheit von Sprichwörtern fester Bestandteil parömiologischer Forschungen geworden. 12 Allerdings hat seit Ende der 1980er Jahre im Vergleich zu den Ausgangsannahmen Permjakovs ein nicht unwesentlicher Perspektiven- und damit auch Paradigmenwechsel stattgefunden. Dieser ist insbesondere darin zu sehen, dass die in der ursprünglichen Konzeption Permjakovs enthaltene Normativität 13 stark relativiert und überwunden wurde. Diese Normativität umfasste im Wesentlichen zwei Faktoren, einen soziologischen und einen linguistischen: 1) Zum einen bezog sich die Normativität auf die Annahme einer kulturell homogenen Sprichwortkenntnis ohne Berücksichtigung des Einflusses spezifischer (soziologischer, geschlechtsspezifischer, regionaler, altersabhängiger, bildungsbedingter usw.) Faktoren bzw. damit einhergehender spezifischer Teilmengen der Sprichwortkenntnis. Diese Annahme wurde grundlegend durch die detaillierten und fundierten Re-Analysen von Krikmann (1986) in Frage gestellt, in denen die Relevanz von Faktoren wie 11 Zu einer Einordnung von Permjakovs Theorie des Klischees in die Linguistik siehe Eismann (1984) 12 Auf eine Darstellung sowohl der empirischen Arbeiten Permjakovs als auch der sich daran anschließenden Arbeiten in den verschiedensten Sprachen kann an dieser Stelle verzichtet werden - siehe dazu die detaillierte Aufarbeitung in Grzybek / Chlosta / Grotjahn (i. Vorb.). 13 Nicht angebracht und unzutreffend ist in diesem Zusammenhang allerdings die von Haas (2008) aus der amerikanischen Diskussion um eine „cultural literacy“ abgeleitete Annahme, Permjakovs Interesse an einem parömischen Minimum sei insgesamt mit dem normativen Anspruch der Erhebung derjenigen Sprichwörter verbunden gewesen, die „man“ kennen müsse. Dieses Interesse war für Permjakov lediglich eine Folge für Fremdsprachenlerner, hervorgehend aus der Annahme einer parömischen Ebene der Sprache (s. o.). Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 117 Alter, Geschlecht, Bildung, regionale Herkunft u. a. nachgewiesen wurde. Auch die Pilotstudie zur Kenntnis deutscher Sprichwörter (Grzybek 1991) erbrachte ähnliche Resultate und wies die Richtung auf, faktorenspezifische Auswertungen einzuleiten, die in den folgenden Jahren unter Aufzeigen methodologischer Probleme ausgeweitet und verfeinert wurden (vgl. Grotjahn / Grzybek 2000). 2) Zum anderen bestand der Normativitätsanspruch der (nicht nur damaligen) Parömiologie in der überaus verbreiteten Annahme einer sprachlich klischierten Standardvariante von Sprichwörtern, die - aufgrund von subjektiven Setzungen oder lexikografischen bzw. parömiografischen Kodifizierungen - auch als apriorisch definierte Norm im Rahmen der empirischen Untersuchungen und Auswertungen als Maß der Dinge diente. Im Rahmen von Permjakovs Teiltext-Präsentation stellte diese gewissermaßen die verbindliche Basis für die Zuordnung mehr oder weniger variabler Vervollständigungen dar, wobei die verschiedenen Vervollständigungen nicht in ihrer jeweiligen Variabilität erfasst, sondern der zuvor definierten Ausgangsvariante entweder als ‘bekannt’ oder als ‘unbekannt’ zugeordnet wurden. Natürlich sind beide normativen Komponenten im Endeffekt nicht voneinander zu trennen, sondern müssen letztendlich als einander ergänzend angesehen werden. - Darauf im Detail einzugehen, würde jedoch über den hier gesteckten Rahmen hinausweisen. Ungeachtet dessen lässt sich im Hinblick auf das Verfahren der Teiltext-Präsentation festhalten, dass durch die reduzierende Binarität nicht nur der insgesamt hohe Variabilitätsgrad der individuellen Sprichwortkenntnis weitgehend unberücksichtigt blieb, sondern auch und gerade die Tatsache, dass alle Vervollständigungsvarianten ihre jeweils eigenen Häufigkeiten aufweisen. Diese sind aber u. U. höher als diejenigen der angenommenen Standardvarianten - weshalb ein wesentliches Potenzial des Verfahrens der Teiltext-Präsentation in einem essenziellen Punkt vollkommen ungenutzt blieb. Im Hinblick auf die Nutzung dieses Potenzials sowie den Nachweis und die Dokumentation der enormen sprachlichen Variabilität ist die Einführung des Konzepts der ‘Nullvariante’ in die empirische Parömiologie (vgl. Chlosta / Grzybek / Roos 1994; Chlosta / Grzybek 2005) ohne Frage von weitreichender Bedeutung gewesen. Diese ist Bestandteil eines Auswertungs- und Klassifikationssystems, mit dem alle bei einer Teiltext-Präsentation vorgenommenen Vervollständigungen akribisch genau in ihren jeweiligen sprachlichen Formen dokumentiert werden und dann insgesamt die Basis für weiterführende Analy- Peter Grzybek 118 sen (linguistischer und / oder soziologischer Ausrichtung) darstellen (zu weiteren Details siehe unten Kap. 3.3.3). Eine solche Nullvariante erfordert die tentative Setzung einer (mehr oder weniger) beliebigen Variante eines Sprichworts, also u. U. auch seiner parömiografisch kodifizierten Variante, ohne dass damit allerdings a priori normative Implikationen über Häufigkeiten der Varianten verbunden werden. Das heißt, dass sich jede Variante, die im Erhebungsergebnis häufiger als die Nullvariante war, a posteriori als Standardvariante erweisen kann. Vor diesem Hintergrund änderte sich somit auch das Konzept der Empirischen Parömiologie schlechthin. Es wurde nicht mehr einfach nur nach dem parömischen Minimum einer gegebenen Sprache gefragt, sondern differenziert nach unterschiedlichen Faktoren: Wer in einer gegebenen Kultur kennt welche Sprichwörter - in welcher (sprachlichen) Form, - wovon hängt diese Kenntnis ab, - und welche kollektiven Schnittmengen gibt es dabei? Eine detailliertere Behandlung dieser allgemeinen Fragen muss im gegebenen Kontext nicht vorgenommen werden. Stattdessen konzentrieren wir uns zum einen auf einen direkten Vergleich beider Verfahren bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit unter ausgewählten Aspekten, zum anderen auf empirische Befunde zu möglichen Einwänden, die dem Verfahren der Teiltext-Präsentation gegenüber vorgebracht werden könnten. Der folgende Vergleich beider Verfahren kann sich nicht spezifisch auf einzelne Sprichwörter ausrichten - wobei in bestimmten Fällen durchaus jeweils das eine oder andere Verfahren in unterschiedlichem Maße von Vorteil sein kann -, sondern ist in einer ersten Annäherung zunächst einmal „global“ auf die durchschnittliche Leistungsfähigkeit im Hinblick auf die Erfassung der Kenntnis bzw. Bekanntheit von Sprichwörtern zu beziehen. 3.3.1 Ganztext - Teiltext im Vergleich Das Verfahren der Teiltext-Präsentation hat im Vergleich zur Ganztext-Präsentation bekanntermaßen den Vorteil, auch Varianten und Variationen zu erheben. Ein globaler Vergleich von Resultaten beider Verfahren könnte im Detail zu den folgenden Optionen führen: a) Das Ergebnis der Ganztext-Präsentation könnte im Durchschnitt insgesamt signifikant höher sein als dasjenige der Teiltext-Präsentation (d. h. Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 119 GTP > TTP). Sollte es zu diesem Resultat kommen, könnte dies als ein Indiz dafür gewertet werden, dass das Verfahren der GTP insgesamt zuverlässiger Sprichwortkenntnis und -bekanntheit misst. Als Gründe dafür ließe sich u. a. anführen, dass das Verfahren der TTP mit der Aufgabe, ein Sprichwort zu vervollständigen, eben schwieriger ist als es nur zu „identifizieren“ und den Befragten insofern mehr abverlangt; auch könnte es sein, dass die auf Permjakov zurück gehende theoretische Annahme der vollständigen Klischiertheit von Sprichwörtern (s. o.) nicht zutrifft u. a. m. b) Das Ergebnis der Ganztext-Präsentation könnte im Durchschnitt insgesamt signifikant niedriger sein als das der Teiltext-Präsentation (d. h. GTP < TTP). Sollte es zu diesem Ergebnis kommen, wäre dies gegebenenfalls ein Hinweis darauf, dass es beim Verfahren der GTP zu sog. „Fehl-Identifikationen“ kommt, bedingt dadurch, dass Befragte aus welchen Gründen auch immer irrtümlicherweise meinen, ein Sprichwort zu kennen, ohne es tatsächlich zu kennen und deshalb als bekannt angeben, oder dass sie z. B. ein Sprichwort fälschlicherweise als ‘bekannt’ (bzw. ‘nicht unbekannt’) markieren, weil (obwohl) sie ein gegebenes Sprichwort z. B. einfach für „richtig“ oder plausibel halten u. a. m. c) Die Ergebnisse beider Präsentationsverfahren unterscheiden sich im Durchschnitt insgesamt nicht signifikant voneinander (d. h. GTP ≈ TTP), was sich im Sinne einer prinzipiell vergleichbaren Leistungsfähigkeit beider Verfahren verstehen ließe. Es liegt auf der Hand, dass insbesondere die zweite und dritte Option - also TTP > GTP und GTP ≈ TTP -, die im Hinblick auf die empirische Bestimmung der Sprichwortkenntnis bzw. -bekanntheit eine prinzipielle (globale) Gleichwertigkeit oder gar Überlegenheit des Verfahrens der TTP aufweisen, insofern besonders bedeutsam wären, als die TTP zusätzlich die Vorteile der Variantenerfassung bereitstellen würde, die im Falle der GTP so nicht gegeben sind. In allen drei Fällen ist allerdings (abgesehen von Gleichwertigkeiten) ungeachtet der „globalen“ Verhältnisse das Vorliegen „lokaler Unterschiede“ nicht ausgeschlossen, die ihrerseits wiederum Abweichungen in beide Richtungen enthalten können (d. h. GTP > TTP bzw. GTP < TTP): a) Es kann zu spezifischen individuellen Unterschieden bei einzelnen Personen bzw. bei bestimmten Gruppen von Befragten (z. B. in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter o. a.) kommen. Peter Grzybek 120 b) Es kann zu spezifischen Unterschieden bei einzelnen Sprichwörtern (gegebenenfalls in Abhängigkeit von besonderen sprachlichen Merkmalen wie z. B. Reim, Rhythmus, syntaktische Struktur, Länge o. a.) kommen. Alle diese Optionen bzw. deren mögliche Auswirkungen schließen einander nicht aus, sondern können sich gegebenenfalls überlagern. Allerdings fehlen derartige Vergleiche zwischen den Verfahren bislang nahezu vollständig. Eine Ausnahme stellt ein erster Versuch von Grzybek (2009) dar, das mögliche Vorliegen einer systematischen Beziehung zwischen Ganz- und Teiltext-Präsentation zu prüfen. Als Materialgrundlage dieses Vergleichs dienten einerseits Sprichwörter, die von Hattemer / Scheuch (1983) insgesamt 404 Personen mit der Frage präsentiert wurden, ob sie diese Sprichwörter kennen oder nicht, andererseits Sprichwörter aus der Sammlung von Frey et al. (1988), die Bestandteil der Teiltext-Studie von Grzybek (1991) mit insgesamt 125 Versuchspersonen waren. Im Ergebnis konnte Grzybek (2009, S. 226) eine hoch signifikante Korrelation (und damit einen linearen Zusammenhang) zwischen den Ergebnissen beider Präsentationsformen aufzeigen (r = 0,96, p < 0,001). Allerdings waren es insgesamt nicht mehr als zehn Sprichwörter, die in beiden Untersuchungen vorkamen, 14 so dass das Ergebnis nur mit der gebotenen Zurückhaltung und mit dem Hinweis auf entsprechende Vorsicht bei der Verallgemeinerung dargeboten wurde. Aus diesem Grund soll dieselbe Fragestellung hier auf einer wesentlich breiteren Materialbasis nochmals neu aufgegriffen werden. Grundlage des Vergleichs soll dieses Mal einerseits die Simrock-Studie von Chlosta / Grzybek / Roos (1994) sein, in welcher 20 Versuchspersonen die ca. 13 000 Sprichwörter aus der Sammlung Deutsche Sprichwörter von Simrock in Form einer Ganztext-Präsentation dargeboten wurden, andererseits die Frey-Studie von Grzybek (1991), in der die enthaltenen 275 Sprichwörter in Form einer Teiltext-Präsentation insgesamt 125 Versuchspersonen vorgelegt wurden. Die Schnittmenge derjenigen Sprichwörter, die in beiden Sammlungen und damit in beiden Studien vorkommt, beläuft sich auf insgesamt 134 Sprichwörter, so dass die Materialbasis als durchaus solide angesehen werden kann. Da die Simrock-Studie auf der Befragung von 20 Personen beruht, ergeben sich bei der Auswertung der relativen (d. h. in Prozente umgerechneten) Bekanntheit (F Am GTP ) 5er-Intervalle; berechnet man für jedes dieser Intervalle die durchschnittliche Bekanntheit (F Am TTP ) der entsprechenden Sprichwörter aus der TTP - wobei Intervalle, in denen weniger als fünf Vorkommnisse zu ver- 14 Die Studie von Hattemer / Scheuch (1983) umfasste überhaupt nur 20 Sprichwörter im Vergleich zu 275 Sprichwörtern der Studie von Grzybek (1991). Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 121 zeichnen sind, zusammengefasst (gepoolt) werden - ergeben sich die in Tabelle 4 dargestellten Werte (die Werte für relative Bekanntheit der GTP sind in den drei gepoolten Klassen entsprechend gewichtet). GTP TTP 100 95,77 95 80,09 90 81,17 85 69,88 80 60,00 75 57,20 70 45,12 61 48,96 50 27,52 28 9,44 Tab. 4: Vergleich der relativen Bekanntheit (GTP vs. TTP) von 134 Sprichwörtern Auch hier ist die Korrelation zwischen den GTP- und den TTP-Ergebnissen hoch signifikant (r = 0,98, p < 0,001); der Zusammenhang lässt sich mathematisch im gegebenen Fall mit der einfachen linearen Funktion FAM TTP = 1,16 · FAM GTP - 27,31 beschreiben. Der gegebene Zusammenhang ist grafisch in Abbildung 1 veranschaulicht. FAM (GTP) 0 20 40 60 80 100 FAM (TTP) 20 40 60 80 100 Abb. 1: Sprichwortkenntnis - Vergleich der Bekanntheit von 134 Sprichwörtern nach GTP- und TTP-Erhebung Peter Grzybek 122 Es scheint somit ein systematischer (linearer) Zusammenhang zwischen den Ergebnissen beider Präsentationsverfahren zu existieren, der jedoch mit insgesamt niedrigeren Werten für das Verfahren der TTP einherzugehen scheint. Dies würde auch eine statistische Analyse der durchschnittlichen Sprichwortkenntnis unter beiden Bedingungen bestätigen. So beträgt die in Prozentpunkte umgerechnete durchschnittliche Bekanntheit für die 134 genannten Sprichwörter unter der Bedingung der GTP bei x = 86,31 und einer Standardabweichung von s = 17,11; im Vergleich dazu ist die durchschnittliche Bekanntheit unter der Bedingung der TTP bei x = 74,32 (s = 27,27). Ein statistischer Test auf Vergleich der Mittelwerte weist den Unterschied in der Tat als hoch signifikant aus (p < 0,001). Allerdings stellen sich bei näherer Betrachtung die Verhältnisse zum Teil anders dar. Der Grund dafür ist vor allem darin zu sehen, dass sich das durchschnittliche Alter der beiden Befragten in den beiden Untersuchungen signifikant voneinander unterscheidet: Während die Befragten der GTP-Studie (N = 20) einen Altersdurchschnitt von x = 60,70 (s = 15,00) aufweisen, ist dieser bei den N = 125 Personen der TTP-Studie deutlich niedriger und beträgt x = 40,91 (s = 18,45) - und dieser Unterschied ist hoch signifikant (p < 0,001). Da ‘ ALTER ’ jedoch bekanntlich ein maßgeblicher, die Sprichwortkenntnis beeinflussender Faktor ist (vgl. Grzybek 1991, Grotjahn / Grzybek 2000), sollte ein solider Vergleich der beiden Präsentationsverfahren auf der Basis zumindest annähernd gleich alter Gruppen durchgeführt werden. Zu diesem Zweck lässt sich auf die im Rahmen der Frey-Studie durchgeführte Teilung der Gesamtgruppe in drei Tertile zurückgreifen; Tabelle 5 präsentiert die durchschnittliche Sprichwortkenntnis für die drei nach dem Alter aufgeteilten Tertile. < 28 28-50 > 50 x 63,02 73,75 86,22 s 33,62 30,03 22,58 Tab. 5: Durchschnittliche Sprichwortkenntnis in drei Altersgruppen Wie zu sehen ist, weist die dritte Gruppe der Befragten über 50 Jahre (N = 41) einen Altersdurchschnitt von x = 63,88 (s = 8,88) auf, der zwar geringfügig höher als der der Simrock-GTP-Studie ist. Doch ist dieser Unterschied, wie ein nicht-parametrischer Mann-Whitney-U-Test zeigt, nicht signifikant (z = -0,46, p = 0,64). Die durchschnittliche Sprichwortkenntnis dieser Teil- Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 123 gruppe erweist sich in der Tat mit x = 86,22 (s = 22,58) als praktisch identisch mit derjenigen der oben bereits dargestellten der GTP-Studie (x = 86,31). 15 Führt man nun analog zu der oben an der Gesamtgruppe durchgeführten Regressionsanalyse (vgl. Abb. 1) eine eben solche unter Beschränkung auf die Gruppe der über 50-Jährigen durch, so stellt sich zunächst heraus, dass GTP- und TTP-Ergebnisse auch unter dieser Bedingung hoch signifikant miteinander korrelieren (r = 0,97, p < 0,001). 16 Vor allem aber - und das ist von besonderer Bedeutung - lässt sich die entsprechende Regressionsgleichung unter dieser Bedingung auf die einfache, nur einen Verschiebungsparameter (b) aufweisende lineare Funktion y = b + x, in unserem Fall also TTP = b + GTP, reduzieren. Mit dem Parameterwert von a = 0,26 lautet die Regressionsgleichung konkret TTP = 0,26 + GTP, das heißt, es findet nur eine minimale Verschiebung zwischen den auf der GTP und der TTP basierenden Methoden statt. Darüber hinaus lässt sich auch noch zeigen, dass die Abweichung des Parameters b von 0, wie ein entsprechender Test zeigt, nicht signifikant ist (t = 0,17, p = 0,87). 17 15 Ein aufgrund der in beiden Fällen fehlenden Normalverteilung durchgeführter nicht-parametrischer Mann-Whitney-U-Test weist diesen Unterschied als statistisch signifikant aus (z = -2,10, p < 0,05). Mit den Teilgruppen durchgeführte post-hoc-Mittelwertvergleiche ordnen allerdings die Sprichwortkenntnis der GTP und die der älteren Personen (> 50 Jahre) der TTP in ein und dieselbe Gruppe ein. 16 Auch hier wurden bei der Auswertung Intervalle mit weniger als fünf Vorkommnissen gepoolt (s. o.). 17 Die erweiterten linearen Regressionsgleichungen y = a · x bzw. y = b + a · x weisen mit den Parameterwerten a = 1,01 bzw. a = 1,05 und b = -4,24 ein identisches Anpassungsergebnis (r = 0,97) auf und stellen sich insofern nicht als besser dar. Peter Grzybek 124 FAM (GTP) 0 20 40 60 80 100 FAM (TTP) 0 20 40 60 80 100 Abb. 2: Sprichwortkenntnis - Vergleich der Bekanntheit von 134 Sprichwörtern nach verschiedenen Methoden (GTP vs. TTP) in vergleichbaren Alterssegementen Damit kann - und das ist eine vielleicht ebenso unerwartete wie wichtige Einsicht - nicht nur ein systematischer Zusammenhang zwischen den beiden Erhebungsverfahren (GTP und TTP) von Sprichwortkenntnis als gegeben angesehen werden; beide Verfahren zeitigen offenbar vergleichbare und rechnerisch ineinander überführbare Ergebnisse, solange die ceteris-paribus-Bedingung (im gegebenen Fall die Vergleichbarkeit der befragten Personen zumindest im Hinblick auf das Alter der Befragten) gegeben ist. Mit den obigen Ergebnissen dürfte der möglicherweise gegen das Verfahren der TTP vorzubringende Einwand weitestgehend entkräftet sein, dass die Aufgabe der Vervollständigung die befragten Personen grundsätzlich überfordern und es aufgrund dessen zu unzuverlässigen Ergebnissen führen könnte. Allerdings fehlen entsprechende Detailuntersuchungen bislang. Sie stellen ein ebenso dringliches Desiderat dar. Ein anderer Einwand gegen das TTP-Verfahren könnte sein, dass TTP nur deshalb auf vergleichsweise hohe Bekanntheitsraten komme, weil die befragten Personen die dargebotenen Sprichwortanfänge nicht wirklich vervollständigen, sondern eher erraten würden oder dass sie im Verlaufe des Vervollständigens - zumindest bei der Bearbeitung einer größeren Menge von Sprichwörtern - in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen und insofern während des Prozesses „ermüden“. Alle diese möglichen Vorwürfe lassen sich wie im Folgenden zu zeigen sein wird - entkräften. Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 125 3.3.2 Werden die Befragten müde? Der eben erwähnte Einwand, das Vervollständigen der dargebotenen Teiltexte könnte den Befragten zu viel Mühe abverlangen, bedingt die weitere Vermutung, dass es im Verlaufe der Vervollständigung zu Motivationseinbußen und/ oder Ermüdungserscheinungen kommt. Dieser Einwand ist insbesondere in Hinsicht auf die (üblicherweise) schriftliche Bearbeitungsform der Aufgabenstellung zu bedenken; und das in besonderem Maße im Hinblick auf ältere Personen. Um diesen Einwand auf seine Berechtigung und Haltbarkeit zu prüfen, bietet sich ein relativ einfaches Verfahren an, und zwar unter Rückgriff auf die Ergebnisse der Frey-Studie (Grzybek 1991) mit 275 Sprichwörtern und 125 befragten Personen. Zur Überprüfung bedarf es lediglich einer Aufteilung der Gesamtmenge der 275 Sprichwörter in zwei gleich große Teilmengen, einer getrennten Berechnung der durchschnittlichen Kenntnis - nicht der Bekanntheit! - in jeder der beiden Teilmengen bzw. Blöcke, sowie eines anschließenden Vergleichs der Ergebnisse für beide Teilmengen. Sollte es nämlich in der Tat im Verlaufe der Bearbeitung zu Motivationseinbußen oder verringerter Aufmerksamkeit kommen, müsste eine signifikant niedrigere Sprichwortkenntnis im zweiten Teil des Fragebogens die logische Konsequenz sein. 18 In unserem Fall ergeben sich zwei Teilmengen, die auf den Sprichwörtern 1-137 bzw. 138-275 basieren. Mit einer getrennten Analyse der durchschnittlichen Kenntnis beider Teilmengen kann nun überprüft werden, ob ein Nachlassen der Aufmerksamkeit oder der Ernsthaftigkeit beim Ausfüllen der Fragebögen nach der Hälfte und damit gegen Ende der Aufgabenbewältigung zu beobachten ist. Die Berechnungen lassen sich so durchführen, dass zunächst für jede befragte Person - unter Berücksichtigung von allenfalls fehlenden Werten (‘missing values’) - die individuelle (relative bzw. prozentuale) Sprichwortkenntnis berechnet wird, und zwar getrennt für jede der beiden Teilmengen mit den daraus resultierenden relativen Prozentpunkten. 18 Die entsprechende Untersuchung der Frage, ob es im Laufe der Bearbeitung in der Tat zu Ermüdungserscheinungen kommt, setzt im Grunde genommen voraus, dass die Befragten Personen die Sprichwortlisten in einem Zug bzw. in einer ununterbrochenen Sitzung beantworten, was sich nur bei Bearbeitung unter Aufsicht kontrollieren ließe. Motivierungseinbußen hingegen könnten durchaus auch bei der Aufteilung der Bearbeitung in (individuell) verschiedene Zeitblöcke auftreten. All dies hängt nicht nur von individuellen Faktoren, sondern u. U. auch vom Umfang der Sprichwortlisten ab. Insofern können die im Folgenden dargestellten Analysen keine letztendlich gültigen Auskünfte geben, wohl aber einen Hinweis auf die Berechtigung der genannten Einwände geben. Peter Grzybek 126 Im Ergebnis stellt sich heraus, dass sich die Mittelwerte für die beiden Teilmengen mit x 1 =70,24 (s = 13,45) und x 2 = 70,02 (s = 11,75) praktisch nicht voneinander unterscheiden; der aufgrund der fehlenden Normalverteilung durchgeführte nicht-parametrische Wilcoxon-Test für zwei verbundene Stichproben bestätigt das und weist diesen Unterschied als nicht signifikant aus (z = -0,75; p = 0,46). Damit kann im Hinblick auf die Gesamtmenge der befragten Personen die Annahme einer reduzierten Motivation oder verminderter Aufmerksamkeit gegen Ende des Ausfüllens der Fragebögen zurückgewiesen werden. Wie oben allerdings bereits gesagt wurde, haben sich mögliche Bedenken und Einwände gegen das Verfahren der TTP insbesondere auf die Gruppe der Älteren bezogen. Daher bietet es sich an, nicht nur die Gesamtgruppe der 125 Befragten, sondern auch die drei unterschiedenen Altersgruppen in Hinsicht auf Unterschiede im ersten und zweiten Teil getrennt zu analysieren. Das Ergebnis zeigt, dass sich die Richtung der Unterschiede zwischen durchschnittlicher Sprichwortkenntnis im ersten und im zweiten Teil in der Gruppe der Jüngeren und der Gruppe der 39-50-Jährigen genau anders verhält als erwartet, insofern sie bei den beiden relativ jüngeren Gruppen im zweiten Teil sogar geringfügig höher ist als im ersten; allerdings ist der Unterschied in beiden Fällen nicht signifikant (z = -1,13; p = 0,26 bzw. z = -1,50; p = 0,13). Lediglich in der Gruppe der Älteren (> 50 Jahre) ist die durchschnittliche Sprichwortkenntnis im zweiten Teil niedriger als im ersten, und dieser Unterschied erweist sich auch als signifikant (z = -4,46; p < 0,001). Allerdings ist der Unterschied in dieser Altersgruppe, in der die durchschnittliche Sprichwortkenntnis ohnehin sehr hoch (> 80%) und von den drei unterschiedenen Gruppen am höchsten ist, vom Umfang her relativ gering und beträgt im Durchschnitt nicht mehr als ca. 2,5 Prozentpunkte. Die Ergebnisse für die Gesamtgruppe auf der Basis der Befragung aller 125 Personen sowie für die drei unterschiedenen Altersgruppen sind in Tabelle 6 zusammenfassend repräsentiert. N x 1 s 1 x 2 s 2 z p 1 41 58,77 9,81 59,53 8,95 -1,13 0,26 2 43 68,28 8,75 69,46 7,88 -1,50 0,13 3 41 83,76 7,59 81,09 6,64 -4,46 < 0,001 gesamt 125 70,24 13,45 70,02 11,75 -0,75 0,46 Tab. 6: Durchschnittliche Sprichwortkenntnis in drei Altersgruppen und zwei Untersuchungsblöcken Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 127 Obwohl es in der Tat in der Gruppe der Älteren zu einem geringfügigen Unterschied kommen kann, sollte der generelle Einwand gegen das Verfahren der TTP wegen eines möglichen Aufmerksamkeits- oder Motivationsverlusts nicht überbewertet werden - und zwar aus dreierlei Gründen: Untersucht man den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil nicht durchschnittlich auf die Gesamtgruppe, sondern auf die individuellen Personen bezogen, so stellt sich heraus, dass von den 125 befragten Personen in 68 Fällen (54,40%) die durchschnittliche Sprichwortkenntnis im ersten Teil größer ist als im zweiten (F Am T1 > F Am T2 ), in den anderen 57 Fällen (45,60%) trifft der umgekehrte Fall zu (F Am T1 < F Am T2 ). Vernachlässigt man des Weiteren die Richtung des Unterschieds und fragt nach dem Ausmaß des jeweiligen Unterschieds in der Kenntnis beider Teilmengen - als nach der jeweiligen Differenz in absoluten Werten, so stellt sich heraus, dass die individuelle Differenz zwischen Teil 1 und Teil 2 im Durchschnitt bei einem Wert von x = 3,61 (s = 3,09) liegt. Dieser Wert sagt an und für sich nichts aus, ist jedoch im Hinblick auf die folgende Überlegung von Interesse: Zieht man nämlich des weiteren zusätzlich das Vorzeichen der jeweiligen Differenzen in Betracht, d.h. differenziert man zwischen a) F Am T1 > F Am T2 b) F Am T1 < F Am T2 so beträgt der Mittelwert im Fall (a) x 1 = -3,53 (s = 3,22), im Fall (b) x 2 = 3,71 (s = 2,95). Es zeigt sich also eine deutliche Symmetrie im Ausmaß der Abweichungen nach oben und nach unten. Zum Zwecke der statistischen Absicherung dieses Befunds bietet es sich an, für die gesamte Stichprobe aller 125 Befragten einen Mittelwertvergleich in Form eines t-Tests für verbundene (abhängige) Stichproben durchzuführen. Die Voraussetzung dazu - nämlich Normalverteilung der Differenzen der Datenpaare - kann als hinreichend erfüllt angesehen werden, insofern ein entsprechender Kolmogorov-Smirnov-Test bei einem Wert von 0,07 einen Signifikanzwert von p = 0,20 (nach Lilliefors- Korrektur) aufweist. Als Ergebnis dieses Mittelwertvergleichs stellt sich der Unterschied in der Kenntnis zwischen der ersten und der zweiten Teilmenge bei einem Wert von t FG=124 = 0,53 als nicht signifikant heraus (p = 0,60). Weiterhin liegt es nahe, das soeben beschriebene Prüfverfahren getrennt für diejenigen 57 Befragten durchzuführen, deren durchschnittliche Sprichwortkenntnis im ersten Teil höher als im zweiten (Gruppe A) sowie für diejenigen 68 Befragten, deren Kenntnis im zweiten Teil höher als im ersten war (Gruppe B). Aufgrund der veränderten Gruppengröße und Gruppenzusam- Peter Grzybek 128 mensetzung sind vor einem Mittelwertvergleich der beiden Gruppen Tests auf Normalverteilung der Differenzen zwischen Datenpaaren neu durchzuführen. Hierbei stellt sich in beiden Fällen eine signifikante Abweichung von der Normalverteilung heraus: Der Kolmogorov-Smirnov-Test weist für die Gruppe (A) einen Wert von p < 0,001, für die Gruppe (B) einen Wert von p = 0,001 auf. Aufgrund der damit nicht gegebenen Normalverteilung der Differenzen kommt deshalb für die beiden Teilstichproben nicht (wie für die Gesamtmenge der Befragten) der t-Test für abhängige Stichproben, sondern sein nicht-parametrisches Pendant, der Wilcoxon-Test in Frage. Im Ergebnis stellt sich heraus, dass sowohl für die Gruppe (A) als auch für die Gruppe (B) der Unterschied in der Kenntnis der ersten und zweiten Teilmenge der Sprichwörter hoch signifikant ist: Für die Gruppe (A) beträgt der Wert z = -6,57 ( p < 0,001), für die Gruppe (B) beträgt z = -7,17 ( p < 0,001). Die Tatsache, dass einerseits kein signifikanter Unterschied in der allgemeinen Kenntnis der Sprichwörter der ersten und zweiten Teilmenge besteht, dass andererseits aber der Unterschied zwischen den beiden (als A und B bezeichneten) Gruppen, die entweder im ersten oder aber im zweiten Teil auf eine höhere durchschnittliche Sprichwortkenntnis kommen, signifikant ist, weist auf die Notwendigkeit hin, sich die Ergebnisse für jede einzelne befragte Person im Detail anzuschauen. Zum Zwecke dieser Detailbetrachtung bietet sich somit an, für die beiden Werte jeder befragten Person (d. h. den Wert der ersten und zweiten Teilmenge) jeweils einen Vergleich zweier relativer Häufigkeiten (zweier Prozentsätze) durchzuführen; aufgrund des ausreichend großen Stichprobenumfangs beider Teilmengen (n 1 = 137, n 2 = 138) lässt sich dies in Form einer Approximation durch die Normalverteilung nach folgender Formel realisieren: ( ) ( ) 1 2 1 2 ˆ ˆ ˆ ˆ ˆ · (1 )· 1 / 1 / p p z p p n n − = − +     Hierbei ist 1 1 1 ˆ / p x n = , 2 2 2 ˆ / p x n = und 1 2 1 2 ˆ ( ) / ( ) p x x n n = + + . Schauen wir uns zunächst an einer ausgewählten Person das Vorgehen exemplarisch an, nämlich der befragten Person #1: Im ersten Teil hat diese Person von den insgesamt 137 Sprichwörtern 84 in einer als „bekannt“ zu wertenden Form vervollständigt, im zweiten Teil waren es 68 der 138 Sprichwörter. Somit betragen 1 ˆ 84 / 137 0.6131 p = = und 2 ˆ 68 / 138 0.4928 p = = - dies entspricht natürlich einem Prozentsatz von 61,31% bekannter Sprichwörter im ersten , , Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 129 und 49,28% bekannter Sprichwörter im zweiten Teil. Damit ergibt sich die folgende Berechnung: ( ) ( ) 0.6131 0.4928 ˆ 2.01 172 / 275· (1 172 / 275)· 1 / 137 1 / 138 z − = = − +     Der Wert von z = 2,01 ist - bei zweiseitiger Prüfung - auf dem 5%-Niveau signifikant (p < 0,05): Der Umfang der Sprichwortkenntnis im ersten und im zweiten Teil der Sprichwörter weichen damit signifikant voneinander ab. Insgesamt ist ein solcher Unterschied jedoch nur bei vier weiteren der insgesamt 125 befragten Personen signifikant: Außer der Person #1 sind dies noch die Befragten #16 (p < 0,01), #41 (p < 0,05), #85 (p < 0,05), sowie #108 (p < 0,05). In allen fünf Fällen handelt es sich um Befragte, bei denen der Prozentsatz bekannter Sprichwörter im zweiten Teil unter dem des ersten Teils liegt, auch wenn das Signifikanzniveau mit p < 0,05 in vier der fünf Fälle eher gering ausgeprägt ist. Abgesehen davon, dass es sich in vier der fünf Fälle um weibliche Befragte handelt, ergibt sich allerdings kein offensichtlich interpretierbares Profil der Befragten, wie auch die Angaben in der Tabelle 7 zeigen. # Alter Geschlecht F am T1 F am T2 1 24 w 61,31 49,28 16 23 w 73,04 54,35 41 53 w 89,78 79,71 85 60 w 89,05 78,99 108 66 m 91,24 83,33 Tab. 7: Befragte mit signifikant abweichender Sprichwortkenntnis in Block 1 und Block 2 Es lässt sich somit insgesamt festhalten, dass es im Grunde genommen keine grundsätzlichen Unterschiede in der Sprichwortkenntnis der ersten und zweiten Teilmenge der 275 Sprichwörter gibt: Die Vermutung, es könne im Verlaufe der Beantwortung von Fragebögen zu einem Nachlassen der Aufmerksamkeit oder der Motivation kommen, dürfte sich damit als nicht zutreffend erwiesen haben. Zwar ist der Unterschied in der durchschnittlichen Kenntnis der ersten und der zweiten Teilmenge sowohl bei den Personen, deren Kenntnis in der zweiten Teilmenge höher ist als in der ersten, als auch bei den Personen, deren Kenntnis in der erste Teilmenge höher ist als in der zweiten, signifikant - das Ausmaß der Abweichungen in beide Richtungen hält sich allerdings insgesamt die Waage. Bezogen auf die einzelnen Befragten, sind , , , Peter Grzybek 130 die Abweichungen nur bei fünf der 125 befragten Personen auf dem 5%-Niveau signifikant. Das Problem lässt sich in der Praxis ohnehin relativ leicht umgehen, indem man bei Fragebögen entweder eine Randomisierung der Abfolge vornimmt oder aber, und auch das sollte ausreichen, Blöcke unterscheidet und diese in verschiedenen Fragbögen in unterschiedlicher Abfolge präsentiert. Es verbleibt schließlich der mögliche Einwand, Versuchspersonen würden beim Vervollständigen der präsentierten Sprichwortanfänge Ratestrategien einsetzen, (auch und gerade) wenn sie ein Sprichwort nicht kennen. Doch auch dieser Einwand lässt sich entkräften. 3.3.3 Raten die befragten Personen ? Diese Frage lässt sich ebenso negativ beantworten, und zwar auf zweifacher Grundlage: einerseits aufgrund einer Analyse des Antwortverhaltens im Allgemeinen, andererseits aufgrund von systematischen Untersuchungen zu sogenannten Sprichwort-Dummies (Pseudo-Sprichwörtern). Gehen wir zunächst auf das Vervollständigungsverhalten allgemein ein. Dieses lässt sich vor dem Hintergrund der Klassifikation verschiedener Typen von ‘Vervollständigung’ einschätzen, wie es von Chlosta / Grzybek / Roos (1994) entwickelt und mehrfach angewendet wurde. Eine abermalige Detaildarstellung dieses Klassifikationssystems wäre hier redundant. Die Eckpfeiler dieses Systems sehen als Ausgangspunkt die tentativ vorgegebene Nullvariante eines Sprichworts vor, mit der keinerlei normative Implikation einer Standardvariante des gegebenen Sprichworts verbunden ist. Wortwörtliche Vervollständigungen ohne jegliche Abänderung der Nullvariante werden hierbei natürlich als ‘bekannt’ eingestuft. Doch auch bei verschiedenen Arten bzw. Graden von Abweichungen von der Nullvariante ist ein Sprichwort als ‘bekannt’ einzustufen, Dies gilt sowohl (1) für sprachliche Variationen, die als Veränderungen ersten Grades eingestuft werden, als auch (2) für verschiedene Veränderungen zweiten Grades, die als Varianten der vorgegebenen Nullvariante angesehen werden können: Bei allen Ergänzungen, die in die Kategorie 1 fallen, ist davon auszugehen, dass den Befragten das betreffende Sprichwort (auch) in der Form der Nullvariante bekannt ist; allfällige Abweichungen von dieser sind minimal. Bei einer Vervollständigung, die der Kategorie 2 zuzuordnen sind, ist die Abweichung von der Nullvariante größer - in diesem Fall ist davon Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 131 auszugehen, dass die befragte Person den jeweils durch die Nullvariante repräsentierten Sprichwort-Typ kennt. Im Detail wird jede Art von Vervollständigung in Form einer dreigliedrigen, hierarchischen Kodierung erfasst, die hier nicht im Detail dargestellt wird. Je nach Art der Abweichung (Kürzungen; Erweiterungen; orthografische, morphologische, lexikalische, syntaktische Variation u. a. m.) von der Nullvariante und in Abhängigkeit vom jeweiligen Typ der Variation an zweiter Stelle des Codes folgt eine Spezifikation der jeweiligen Hauptgruppe; innerhalb dieser Codierung wird jede einzelne Vervollständigungsversion akribisch erfasst, und zwar in Form einer fortlaufenden Nummer als drittem Element des Codes. Alle übrigen Vervollständigungen, die weder wortwörtlich der Nullvariante entsprechen noch Veränderungen 1. oder 2. Grades darstellen, werden der 3. Hauptkategorie zugeordnet; 19 auch in dieser wird jede einzelne Version exakt dokumentiert, wobei sich hier erfahrungsgemäß eine zweigliedrige Codierung als ausreichend erwiesen hat, bestehend aus der Hauptkategorie (3) und der fortlaufenden Nummer. Auf diese Art und Weise lassen sich alle Vervollständigungen erfassen, und in Kombination mit den jeweiligen Vorkommenshäufigkeiten lässt sich so auch die jeweilige Standardvariante eines Sprichworts bestimmen - wohlbemerkt a posteriori und frequenzbasiert, so dass sich durchaus auch Vervollständigungen als häufig(ste) herausstellen können, die nicht zu(ver)lässig auf Bekanntheit mit der Nullvariante schließen lassen. 1 1 XX Fortlaufende Nummerierung zur Differenzierung unterschiedlicher Belege eines Textvorkommens Spezifikation innerhalb der Hauptklasse Hauptklasse zum Ausdruck der Distanz zur Nullvariante im Sinne von ‘bekannt’ vs. ‘unbekannt’ Im Hinblick auf die Frage, ob Befragte bei der Vervollständigung Ratestrategien einsetzen, wird vor dem Hintergrund dieses Schemas folgende Überlegung plausibel: Wenn in der Tat (entgegen der expliziten Aufforderung an die befragten Personen, dies nicht zu tun) Ratestrategien bei der Vervollständigung eingesetzt werden sollten, so können diese erfolgreich sein (d. h. dem 19 Weitere Hauptkategorien sind z. B. vorgesehen für explizite Negationen von Sprichwörtern (z. B. Über den Geschmack lässt sich / nicht/ streiten u. a.), für unleserliche oder nicht zuverlässig dekodierbare Vervollständigungen u. a. m. Peter Grzybek 132 Sprichwort mehr oder weniger entsprechen) oder aber nicht. Im ersten Fall würde die Vervollständigung der Kategorie 1 oder 2 zugeordnet - in diesem Fall käme es zur Fehleinstufung eines de facto unbekannten Sprichworts in die Klasse der bekannten Sprichwörter. Im zweiten Fall würde die Rateversion der Kategorie 3 zugordnet, was nur dann eine gewisse Auswirkung nach sich ziehen würde, wenn genau diese Ratevariante aufgrund der identischen Formulierung durch mehrere Personen auf eine bestimmte Frequenz käme. 20 Sollten Ratestrategien also in der Tat eine Rolle spielen, dann wäre zu erwarten, dass zahlreiche (verschiedene) Lösungsversuche in der Kategorie 3 wiederzufinden wären. Genau dies aber ist nicht der Fall: Denn wie die Frey- Studie gezeigt hat, sind nicht mehr als gerade einmal 3,67% aller Vervollständigungen dieser Kategorie zuzuordnen. 21 Im Vergleich zu 28,67% nicht vervollständigten Einheiten kann demnach von einem ausgeprägten Einsatz von Ratestrategien also keinerlei Rede sein, es sei denn, man geht weiterhin davon aus, dass ratende Personen „zufällig“ in größerer Zahl auf wortwörtlich ein und dieselbe Lösung kommen. Doch sogar diese Vermutung lässt sich bei genauerer Betrachtung als unbegründet und entkräftet ansehen, wie entsprechende Untersuchungen mit sogenannten Dummy-Sprichwörtern (Pseudo-Sprichwörtern) gezeigt haben. Diese sind mittlerweile in einer Reihe von Untersuchungen zum Einsatz gekommen, allerdings mit zum Teil unterschiedlichem Hintergrund (Haas 2008; Gasteiner 2009; Grzybek / Chlosta 2010, i. Vorb.). So schlossen Haas (2008) und Gasteiner (2009) in Ganztext-Präsentationen amerikanischer bzw. kroatischer Sprichwörter jeweils 25 bzw. 24 Dummy-Sprichwörter ein, um so die Validität ihrer Untersuchungen sicherzustellen, während Grzybek / Chlosta (2010) sowie Chlosta / Grzybek (i. Vorb.) darüber hinaus die Präsentation von Dummy- Sprichwörtern selbst einer systematischen Validierung unterzogen. Da Haas mit einer 4er-Skala arbeitete (s. o.), wertete sie die Einstufung eines Pseudo-Sprichworts durch eine befragte Person als ‘unbekannt’ (not familiar) mit 25 Punkten, eine als ‘sehr bekannt’ (very familiar) mit 100 Punkten. Auch 20 Der Fall, dass eine der Kategorie 3 zugeordnete Version sich als die häufigste Variante erweist, kommt durchaus vor - doch ist dies mitnichten als Indiz für die Anwendung von Ratestrategien zu werten, sondern als Hinweis auf die Bekanntheit eines anderen als des durch die Nullvariante vorgegebenen Sprichworts. 21 Hierbei gilt zu bedenken, dass diese Kategorie nicht nur auch „andere“ Sprichwörter (z. B. Einmal ist | keinmal vs. Einmal ist | jeder dran), sondern auch Anti-Sprichwörter (Der Apfel fällt nicht | weit vom Stamm vs. Der Apfel fällt nicht | weit vom Ross) zugeordnet wurden. Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 133 wenn die Angaben von Haas einander teilweise im Detail widersprechen, 22 was im hier gegebenen Kontext nicht näher verfolgt werden muss, kamen bei dieser Skalierung die präsentierten Pseudo-Sprichwörter insgesamt im Durchschnitt auf einen Wert von 29, das heißt, sie wurden von den Befragten insgesamt als hochgradig unbekannt eingestuft. Haas selbst (2008, S. 345) weist auf einen möglichen Grund für diesen relativ niedrigen Wert hin, der ihrer Ansicht nach darin besteht, dass sie explizit danach fragte, wie oft die Befragten die gegebenen Einheiten gehört hätten - das heißt, de facto wurde wiederum nach der vermeintlichen Frequenz, nicht nach der subjektiven Kenntnis gefragt. Dieser Umstand könnte auch erklären, warum Gasteiner (2009) in ihrer Untersuchung auf einen wesentlich höheren Grad an vermeintlicher Bekanntheit kam. Sie fügte ihrer Ganztext-Präsentation von 872 kroatischen Sprichwörtern 24 Dummy-Sprichwörter hinzu; die von ihr befragten 31 Personen mit einem Altersdurchschnitt von x = 58,42 Jahren (s = 9,13) hatten die Aufgabe, die ihnen unbekannten Parömien anzustreichen bzw. durchzustreichen. Im Durchschnitt wurde lediglich ca. ein Drittel der Dummy-Sprichwörter (32,39%) als ‘unbekannt’ markiert, d. h., mehr als zwei Drittel (67,61%) wären demnach als potenziell bekannt anzusehen. Während dieses Ergebnis auf der einen Seite im Gegensatz zu den Resultaten von Haas (2008) steht und damit die enorme Bedeutung einer exakten Formulierung bei Aufgabenstellung unterstreicht, weist es auf der anderen Seite ein weiteres Mal unmissverständlich auf die Probleme einer Ganztext- Präsentation hin. Um das Ausmaß dieser Probleme abschätzen zu können, zu Zwecken der Validierung des Teiltext-Verfahrens im Allgemeinen sowie im Hinblick auf die Frage, ob und inwiefern bei diesem in der Tat Ratestrategien zum Einsatz kommen oder womöglich sogar effektiv sind, haben Chlosta / Grzybek (i. Vorb.) eine systematische Analyse mit Dummy-Sprichwörtern durchgeführt. Dabei wurden 15 Dummy-Sprichwörter in eine Ganztext-Präsentation entlang mit authentischen Sprichwörtern eingebunden, sowie einhergehend mit authentischen Sprichwörtern in Form einer Teiltext-Präsentation präsentiert. Bei der Ganztext-Präsentation handelte es sich um die 2 032 Sprichwörter des deutschen E-Korpus (Chlosta i. Vorb.), das von 102 Personen mit 22 Während Haas (2008, S. 331) auf der einen Seite angibt, 23% der Befragten hätten ausnahmslos alle inkludierten Pseudo-Sprichwörter als völlig unbekannt eingestuft, berichtet sie an anderer Stelle, dass alle Pseudo-Sprichwörter von jeweils mindestens mehr als einer Person als (mehr oder weniger) bekannt eingestuft wurden (ebd., S. 345). Peter Grzybek 134 einem Durchschnittsalter von x = 61,83 Jahren (s = 13,22) bearbeitet wurde; bei der Teiltext-Präsentation wurden eben diese 15 Dummy-Sprichwörter zusammen mit 22 authentischen Sprichwörtern 51 Personen (mit einem Durchschnittsalter von x = 41,92 Jahren, s = 16,65) in Form einer Teiltext- Präsentation dargeboten. Bei der Ganztext-Präsentation kamen diese 15 Dummy-Sprichwörter auf eine durchschnittliche Bekanntheit von 34,79%, keines von ihnen wurde von allen Befragten als unbekannt eingestuft. Die beiden am wenigsten bekannten Dummy-Sprichwörter (Ein Freund schärft dir das Beil, der Bruder fällt dir den Baum; Für den Bäcker ist es gestern, für den Studenten morgen) wurden beide von nicht weniger als 15 der 102 Befragten als ‘bekannt’ gewertet und kamen so im Durchschnitt auf 14,71%. Das durchschnittlich bekannteste (Der Mensch hat zwei Arme, aber nur einen Kopf) wurde von 58 der 102 Befragten als bekannt eingestuft und kam so auf einen Prozentwert von nicht weniger als 56,86% vermeintlicher Bekanntheit. Im Vergleich dazu kamen dieselben Dummy-Sprichwörter bei einer Teiltext- Präsentation insgesamt lediglich auf eine durchschnittliche Bekanntheit von 1,43% - im Vergleich dazu kamen die authentischen Sprichwörter auf eine durchschnittliche Bekanntheit von 95,80%. Interessant ist jedoch das allgemeine Verhalten der Befragten im Umgang mit den Vervollständigungen: Während, wie gesagt, der Anteil der „Treffer“ etwas mehr als ein Prozent ausmachte, wurden nur bei vier der 15 Dummy-Sprichwörter überhaupt Versuche der Vervollständigung unternommen, in 91,63% der Fälle unternahmen die befragten Personen bei den Dummy-Sprichwörtern erst gar keinen Versuch der Vervollständigung. Das Maximum erreichte auch unter dieser Bedingung eine Vervollständigung des Pseudo-Sprichworts Der Mensch hat zwei Arme | aber nur einen Kopf - doch wurde es in dieser Form von keinem der Befragten vervollständigt. Statt dessen war die häufigste Ergänzung „… |und zwei Beine“, doch auch diese kam nur auf den überaus geringen Prozentsatz von 13,73%. Aufgrund der dargestellten Befunde lässt sich somit in der Zusammenschau weitestgehend ausschließen, dass Ratestrategien im Rahmen des Verfahrens der Teiltext-Präsentation eine wesentliche Rolle spielen, so dass dieses Verfahren sich auch aus dieser Perspektive als geeignet erweist. Facetten des parömiologischen Rubik-Würfels 135 4. Fazit Sinn und Zweck der obigen Darstellungen und Analysen war es zum einen, parömiologisch dafür zu sensibilisieren, allgemein verbreitete Begriffe wie individuelle vs. kollektive Kenntnis und/ oder Bekanntheit von Sprichwörtern im Hinblick auf informantenbezogene Untersuchungen differenzierter als bislang in der Regel üblich zu verwenden. Zum anderen sollten auch Querbeziehungen zu und Vergleiche mit textbasierten und verwendungs-, vorkommens- oder frequenzorientierten Fragestellungen der Parömiologie mit der notwendigen Differenziertheit der entsprechenden Termini und Konzepte vorgenommen werden. Spezifisch im Hinblick auf die Untersuchung der individuellen und in weiterer Folge daraus hervorgehenden kollektiven Sprichwortkenntnis stellt sich heraus, dass das Verfahren der Teiltext-Präsentation im Vergleich zu anderen Verfahren aus globaler Sicht keine erkennbaren Informationseinbußen mit sich bringt, wohl aber wesentliche Vorteile im Hinblick auf die Gefahr der Reduktion von Fehl-Identifikationen einerseits und die Erhebung usueller Varianten und Variationen andererseits. Dies schließt die partielle („lokale“) Überlegenheit oder Unterlegenheit des Verfahrens der Teiltext-Präsentation gegenüber anderen Verfahren nicht aus. Eine detaillierte Untersuchung dieser Frage würde aber weit über den Rahmen des im hier gegebenen Zusammenhang Möglichen hinausweisen. Natürlich bedeutet die Durchführung von Untersuchungen in Form von Teiltext-Studien unter Umständen einen erheblichen (Mehr)-Aufwand für die konkrete parömiologische Forschung, da bei der Auswertung jede einzelne Vervollständigung akribisch erfasst, dokumentiert und schließlich ausgewertet werden muss. Doch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Erhebung der Kenntnis bzw. Bekanntheit von Sprichwörtern nicht einfach durch vorkommens-, verwendungs- oder frequenzbasierte Verfahren ersetzt werden kann, ist dies eine probate, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit, die usuellen Varianten eines Sprichworts verlässlich zu erheben und sich nicht auf autoritativ festgelegte, parömiografisch kodifizierte und möglicherweise obsolete Varianten zu beziehen. Peter Grzybek 136 Literatur Albig, William (1931): Proverbs and Social Control. In: Sociology and Social Research 15, S. 527-535. 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Verschiedene Projekte arbeiten erfolgreich mit korpuslinguistischen Methoden, sowohl um Phrasemkandidaten zu extrahieren (Analyseparadigma, Begriff nach Steyer 2004, S. 93), als auch um die Verwendung vorgegebener Phraseme zu prüfen (Konsultationsparadigma, ebd.) und ihre Häufigkeit zu bestimmen. Beispielhaft seien hier aus dem deutschen Sprachraum die bereits abgeschlossenen Projekte Kollokationen im Wörterbuch 2 in Berlin und das internationale Projekt SprichWort 3 sowie die gegenwärtig laufenden Projekte Kollokationenwörterbuch 4 und OLdPhras 5 in Basel genannt. Auch die Herausgabe eines gesonderten Themenbandes Korpora, Web und Datenbanken. Computergestützte Methoden in der modernen Phraseologie und Lexikographie (Ptashnyk / Hallsteinsdóttir / Bubenhofer (Hg.) 2010) im Anschluss an die Europhras-Tagung 2008 zeugt von der zentralen Stellung, die korpuslinguistische Methoden gegenwärtig in der Phraseologie haben. Die rasanten Entwicklungen im Computer- und Internetbereich, begleitet von Entwicklungen der korpuslinguistischen Methodik, haben sowohl den Umfang der Korpora als auch ihre Qualität in den letzten Jahren entscheidend verbessert und auf diese Weise überaus wertvolles Datenmaterial geliefert. Diese Entwicklungen haben aber auch für eine althergebrachte Methode, nämlich die Befra- 1 ‘Phraseologie’ sei in diesem Text im weiten Sinne verstanden (vgl. Burger 2010) und enthält sowohl satzteilals auch satzwertige Einheiten. Die Parömiologie stellt also einen Teilbereich der Phraseologie dar. 2 Unter der Leitung von Dr. Christiane Fellbaum, Berlin: http: / / kollokationen.bbaw.de/ bib/ index _de.html. 3 Projektkoordinatorin: Prof. Dr. Vida Jesenšek, Maribor; für den deutschen Teil: Dr. Kathrin Steyer, Mannheim: http: / / www.ids-mannheim.de/ lexik/ SprichWort/ . 4 Kollokationenwörterbuch. Typische und gebräuchliche Wortverbindungen des Deutschen, unter der Leitung von Prof. Dr. Annelies Häcki Buhofer, Basel: http: / / colloc.germa.unibas.ch/ web/ projekt/ . 5 OLdPhras: Sprichwörter und Redewendungen im Wandel. Online-Lexikon zur diachronen Phraseologie im Neuhochdeutschen, ebenfalls unter der Leitung von Prof. Dr. Annelies Häcki Buhofer, Basel: http: / / www.oldphras.net . Britta Juska-Bacher 140 gung, die gegenüber korpuslinguistischen Methoden deutlich an Stellenwert verloren hat, wichtige Konsequenzen. Wird eine solche nämlich online durchgeführt, können die Erhebungen vereinfacht und beschleunigt und die Informantenzahl kann deutlich erhöht werden, so dass sich neue Möglichkeiten der statistischen Auswertung ergeben. Auf den folgenden Seiten werden zunächst einmal die Möglichkeiten und Begrenzungen der Methode Informantenbefragung im Vergleich zur Korpusanalyse - insbesondere auch beim kontrastiven Ansatz - angesprochen. Im Anschluss wird am Beispiel eines Datensatzes von 2 000 Informanten aus drei Sprachräumen exemplarisch vorgeführt, welche neuen Möglichkeiten der statistischen intrawie interlingualen Auswertung sich aus einer großen Stichprobe ergeben. In den folgenden Ausführungen wird nicht streng zwischen Parömien und Phrasemen getrennt, da davon ausgegangen wird, dass die Bedingungen für die Untersuchung von Sprichwörtern und zumindest den so genannten ‘Redewendungen’, d. h. satzteilwertigen Idiomen, im Bereich der Befragung methodisch sehr ähnlich sind. 1. Empirische Methoden in der Parömiologie: ‘Befragung’ vs. ‘Korpusanalyse’ Von den vier klassischen empirischen Methoden, die die Sozialforschung zur Verfügung stellt, nehmen zwei in der parömiologischen Forschung lediglich eine Randstellung ein. Die Beobachtung 6 eignet sich aufgrund des mit ihr verbundenen hohen Zeitaufwands im Erhebungsprozess in Kombination mit dem seltenen Vorkommen von Sprichwörtern nur für allgemeine Aussagen, beispielsweise zur Dichte bei Individuen bzw. in Gruppen. Untersuchungen zu bestimmten Sprichwörtern sind mit Hilfe einer Beobachtung fast unmöglich. Die zweite Methode, die bisher wenig zur Anwendung kam, ist das Experiment. Dieses eignet sich insbesondere für die Untersuchung individueller Sprecher, beispielsweise im Bereich der Psycholinguistik, die sich mit dem Erwerb oder Verständnis von Sprichwörtern beschäftigt. Deutlich größere Bedeutung haben in der Parömiologie wie der Phraseologie im Allgemeinen die Korpusanalyse und - mit rückläufiger Bedeutung - die Befragung. 6 Eine Beobachtung wird hier nach Atteslander (2003, S. 78) im Sinne des „systematische[n] Erfassen[s], Festhalten[s] und Deuten[s] sinnlich wahrnehmbaren Verhaltens zum Zeitpunkt seines Geschehens“ verstanden. Die Korpusanalyse entspricht daher nicht einer Beobachtung. Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 141 1.1 Korpusanalyse Unter einem Korpus wird im allgemeinen Sinne eine für Forschungszwecke zusammengestellte Sammlung von schriftlichen und/ oder mündlichen Texten verstanden. In der modernen Linguistik ist dieser Begriff mit einer Reihe weiterer Kriterien belegt (Lüdeling / Kytö 2008, S. V), nämlich „machine-readable form, sampling and representativeness, finite size, and the idea that a corpus constitutes a standard reference for the language variety it represents“. 7 Die Korpuslinguistik arbeitet mit konkreten schriftlichen und/ oder mündlichen Äußerungen der Sprecher, also sprachgebrauchs- oder produktorientiert, und kommt damit für Fragestellungen, die auf diese sprachlichen Äußerungen zielen, zum Einsatz. In der Parömiologie lässt sich bei korpuslinguistischen Ansätzen ein anwendungsorientierter Schwerpunkt in den Bereichen Phraseografie und Fremdsprachdidaktik feststellen, zu denen seit einigen Jahren mehrere große Projekte durchgeführt worden sind (siehe z. B. Einleitung). Die Leistung und die Aussagekraft der Analysen hängen eng mit Quantität und Qualität des Korpus zusammen, d. h. seinem Umfang und seiner Zusammensetzung, den Annotationen und Abfragetools. Eine Verallgemeinerung der Aussagen zum untersuchten Korpus auf den allgemeinen Sprachgebrauch ist nur zulässig, wenn das Korpus ausgewogen und in seiner Zusammensetzung repräsentativ für den allgemeinen Sprachgebrauch ist (im Anteil von geschriebener und gesprochener Sprache, in der Zusammenstellung der Textsorten, im Hintergrund der Autoren etc.). Oft enthalten gerade die umfangreicheren Korpora, die wegen des seltenen Vorkommens besonders von Sprichwörtern (siehe Colson 2007, S. 1072) notwendig sind, keine umfassenden Informationen zu den Textproduzenten. Eine Beeinflussung des Forschungsprozesses durch die Forschenden (Beobachterparadox) findet im Rahmen der Korpuslinguistik in der Regel nicht statt, da die Textproduzenten oft gar nicht wissen, dass ihre sprachlichen Äußerungen in Korpora aufgenommen werden. Insofern kann der Inhalt der Korpora als „natürlicher“ Sprachgebrauch charakterisiert werden. Eine Beeinflussung erfolgt nur von Seiten der Forschenden durch die Auswahl bzw. Zusammenstellung des Korpus und seiner Analyse. Diese Methode eignet sich besonders für die Arbeit mit frequenten Sprichwörtern und einer großen Sprichwörterzahl (wie dies in der Parömiografie und Fremdsprachdidaktik wichtig ist, siehe oben). Im Bereich der diachronen For- 7 Diesen Anforderungen entspricht das World Wide Web, das derzeit wegen der verlockend großen Datenmenge oft wie ein Korpus genutzt wird, ganz offensichtlich nicht. Zur Diskussion um die Zulässigkeit seiner Nutzung sowie zu den Vor- und Nachteilen siehe Colson (2007, S. 1072, 1077). Britta Juska-Bacher 142 schung, in der keine sprachproduzentenorientierten Erhebungen (Befragung, Beobachtung oder Experiment) möglich sind, ist die Korpusanalyse die einzige Möglichkeit, empirisch zu arbeiten. Trotz der Schwierigkeiten der spärlichen und zufälligen Textüberlieferung, die noch durch eine vergleichsweise größere Variantenzahl und die fehlende orthografische Normierung vergrößert werden, welche die Anwendung statistischer Verfahren erschweren, erfreut sich auch dieser Bereich in der Phraseologie wachsenden Interesses (siehe die Projekte HiFoS 8 und OLdPhras, siehe oben Fußnote 5). Ein zentrales Problem der Korpuslinguistik stellt immer noch das seltene Vorkommen besonders parömiologischer Einheiten in Korpora dar (Colson 2007, S. 1072; 2003, S. 80) bzw. sind die Korpora oft immer noch zu klein, um seltener verwendete Sprichwörter in genügender Zahl zu enthalten. Sprachproduzentenbezogene Auswertungen sind wegen der in größeren Korpora fehlenden Angaben oft nicht möglich (siehe oben). 1.2 Befragung 9 Befragungen hingegen sind produzentenorientiert und bitten in der Regel den Informanten auf der Grundlage einer Präsentation isolierter Sprichwörter um dessen Selbsteinschätzung seiner Sprachkenntnis oder -verwendung (bzw. testen seine Kenntnis, siehe Kapitel 1.2.1). Diese Methode eignet sich neben der Erfassung von strukturellen, semantischen wie pragmatischen Aspekten, die prinzipiell auch in Form einer Korpusanalyse erhoben werden können, auch für die Berücksichtigung von produzentenorientierten Fragestellungen. In der Parömiologie wie in der übrigen Phraseologie wurden mit Hilfe der Befragung häufig soziolinguistische (z. B. zum Einfluss von Alter, Geschlecht und Ausbildung, siehe die Arbeiten von Ďurčo 2003, Grzybek 1991, Häcki Buhofer / Burger 1994) und areallinguistische (siehe verschiedene Arbeiten von Piirainen, z. B. 2006, 2007) Fragen untersucht. Diese Methode hat aber in den letzten Jahren gegenüber der Korpuslinguistik deutlich an Gewicht verloren. 10 Bei dieser Erhebungsform stellt nicht wie bei der Korpusanalyse „natürliches“ Sprachmaterial, sondern stellen metasprachliche Aussagen der Informanten 8 HiFoS: Historische Formelhafte Sprache und Traditionen des Formulierens, unter der Leitung von Dr. Natalia Filatkina: http: / / www.hifos.uni-trier.de/ index.html. 9 Hier als indirekte, d. h. schriftliche Befragung verstanden. 10 Siehe allerdings beispielsweise das Projekt Widespread idioms in Europe and beyond von Elisabeth Piirainen: http: / / www.widespread-idioms.uni-trier.de/ ? p=projektziele&lang=de . Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 143 die Datengrundlage dar. Diese können durch verschiedene Faktoren der Forschungssituation (z. B. Formulierung, Art und Reihenfolge der Fragen, Art der Fragebogengestaltung), besonders auch im Rahmen sozialer Erwünschtheit, beeinflusst werden. Die Begrenzung dieser Methode liegt aber besonders in der Kapazität der Informanten. Der Umfang der abfragbaren Informationen ist relativ klein und es besteht ein Trade-off zwischen der Zahl der berücksichtigten Einheiten und den zu ihnen abgefragten Informationen. Die Aussagekraft oder der Grad der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse steht in engem Zusammenhang mit der Repräsentativität der Informanten. Prinzipiell sollten sie so akquiriert sein, dass jedes Mitglied der Grundgesamtheit, auf die verallgemeinert werden soll, die gleiche Chance hat, in die Stichprobe zu gelangen. Nur wenn die Stichprobe repräsentativ ist (d. h., wenn die Verhältnisse der Stichprobe derjenigen der Grundgesamtheit entsprechen, also vergleichbare Alters-, Geschlechts-, Ausbildungs-, Herkunftsverteilung etc. aufweisen), dürfen Rückschlüsse auf die Sprachgemeinschaft gezogen werden. Wenn beispielsweise nur Studierende befragt wurden, ist eine Verallgemeinerung höchstens auf die Grundgemeinschaft der Studierenden gestattet. Diese Anforderung der Repräsentativität lässt sich in der Praxis für eine Befragung ebenso schwierig realisieren wie bei der Erstellung eines Korpus. Neben der Einbeziehung sprechergebundener Daten kann die Befragung auch für die Erfassung von dialektaler Phraseologie (Piirainen 2000), für die meist keine Korpora bestehen, und bei der Untersuchung seltenerer Sprichwörter eingesetzt werden, in deren Fall eine Korpusanalyse nicht weiterhelfen kann (siehe z. B. Juska-Bacher 2009). Bei einem Vergleich der Frequenz von idiomatischen Phrasemen in Korpora und dem in einer Befragung ermittelten Grad ihrer Bekanntheit wurde eine enorme Diskrepanz festgestellt (Cowie 2003, S. 74). Quasthoff / Schmidt / Hallsteinsdóttir (2010, S. 37) spezifizieren diese Diskrepanz, indem sie eine Korrelation von Frequenz und Geläufigkeit feststellen, aber zugleich betonen, dass zwar hoch- und mittelfrequente Phraseme auch vielen Informanten geläufig sind, dass aber andererseits nicht alle Phraseme mit hohem Geläufigkeitsgrad eine entsprechende Korpusfrequenz aufweisen. Dies sollte bei der Methodenwahl berücksichtigt werden. 1.2.1 Befragung: Abfrageformen 11 Die Abfrage der Bekanntheit von Sprichwörtern kann in verschiedenen Formen erfolgen, die sich hinsichtlich des Zeitaufwands der Informanten und da- 11 Vergleiche hierzu auch den Beitrag von Peter Grzybek in diesem Band. Britta Juska-Bacher 144 mit der Menge der abfragbaren Einheiten sowie hinsichtlich der Zuverlässigkeit oder Objektivität der Einstufung der Einheiten als bekannt unterscheiden. Die offenste Möglichkeit ist die freie Abfrage der Einheiten, bei der die Informanten gebeten werden, alle ihnen spontan einfallenden Sprichwörter zu notieren. Vorteil dieser Methode ist, dass die Teilnehmenden (wenn sie sich an die Spielregeln halten und nicht nachschlagen oder -fragen) wirklich nur bekannte Parömien angeben und sich nicht - wie bei einer Präsentation des Gesamttextes möglich (siehe unten) - überschätzen können. Nachteil ist einerseits die geringe Zahl der Sprichwörter, die in der Regel spontan genannt werden kann und daraus resultierend die geringe Vergleichbarkeit der von verschiedenen Informanten genannten Einheiten. Diese Methode wird daher relativ selten angewandt (z. B. Cox 1997). Eine zweite Möglichkeit der Abfrage ist die Vorgabe eines Teiltextes (ohne oder mit Bedeutungsangabe möglich), zu dem die Informanten den fehlenden Text angeben sollen. Dabei kann ohne Vorgaben gearbeitet werden, so dass die Informanten den fehlenden Teil frei ergänzen müssen (z. B. Grzybek 1991). Da die Informanten bei diesem Verfahren nicht um eine Selbsteinschätzung gebeten werden, sondern ihr Wissen vielmehr getestet wird, sind die erhaltenen Daten als zuverlässiger oder objektiver einzustufen als bei einer Präsentation des Gesamttextes. Die Antworten sind vergleichbar und der/ die Forschende kann auf diese Weise entscheiden, welche Antwort als „bekannt“ gewertet wird und dabei systematisch die Varianz (des nicht vorgegebenen Teils) der Sprichwörter erfassen. Nachteilig ist auf der anderen Seite, dass bei vorgegebenem, d. h. zumutbarem Zeitaufwand weniger Einheiten abzufragen sind als beispielsweise bei einer Präsentation des Gesamttextes. Statt ohne Vorgabe kann bei einer Teiltextpräsentation auch mit einer Reihe von Antwortmöglichkeiten im Multiple-Choice-Verfahren gearbeitet werden (z. B. Juska-Bacher 2011), so dass die Informanten unter den Vorgaben die ihrer Meinung nach richtige Antwort auswählen können. Dabei sollte der/ die Informant(in) auch die Möglichkeit haben, von den Vorgaben abweichenden Text anzugeben. Dieses reduziert tendenziell den Zeitaufwand, aber gleichzeitig auch die Zuverlässigkeit der Angaben, denn es besteht die Möglichkeit, dass die richtige Antwort nicht gewusst, sondern geraten wird. Teiltextpräsentationen eignen sich für Sprichwörter, weniger aber für kürzere, nicht-satzwertige phraseologische Einheiten, da die Textvorgabe oft zu kurz ist, um Rückschlüsse auf die Gesamteinheit zuzulassen. Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 145 Eine dritte Möglichkeit ist, den Gesamttext des Sprichwortes (wiederum ohne oder mit Bedeutung) vorzugeben und die Informanten zu bitten, bekannte Einheiten zu markieren (z. B. Ďurčo 2003). Dies ist die Variante mit dem geringsten Zeitaufwand pro Einheit, so dass bei vorgegebener Zeit die größte Zahl von Sprichwörtern bearbeitet werden kann. Zugleich liefert sie aber die am wenigsten zuverlässigen Daten, denn die Informanten geben eine Selbsteinschätzung zur Kenntnis der Parömien ab, die sowohl für Effekte der sozialen Erwünschtheit (Überschätzen der eigenen Kenntnis) als auch für eine Verwechslung zwischen Kennen und Verstehen anfällig ist. Und schließlich kann bei der Vorgabe des Gesamttextes von den Informanten auch die Bedeutung der Einheit erfragt werden (z. B. Juska-Bacher 2011). Hier gilt wie bei der Teiltextvorgabe, dass ohne Vorgabe (dank des Testens zuverlässigere Daten, aber größerer Zeitaufwand) oder mit einer Auswahl von möglichen Bedeutungen im Multiple-Choice-Verfahren (zeitsparend, aber weniger zuverlässig) gearbeitet werden kann. Diese Abfragemöglichkeiten sind noch einmal in Tabelle 1 zusammengefasst. Abfrageform Anweisung für Informanten Beispielstudie 1. Bitte um freie Nennung von Sprichwörtern, ohne Vorgabe Notieren Sie bitte alle Sprichwörter, die Ihnen einfallen. Cox (1997) 2. Vorgabe eines Textes (ohne oder mit Bedeutung): a) ohne Vorgaben b) Multiple-Choice a) Vervollständigen Sie bitte Früh übt sich... b) Vervollständigen Sie bitte Was man nicht im Kopf hat... □ ..., sollte man aufschreiben. □ ..., das ist verloren. □ ..., muss man in den Beinen haben. □ Die Wendung ist vollständig so. □ Weiß nicht. □ Sonstiges, nämlich _________________ Grzybek (1991) Juska-Bacher (2011) 3. Vorgabe des Gesamttextes (ohne oder mit Bedeutung) a) bekannt? b) Abfrage der Bedeutung (ohne oder mit Vorgabe, Multiple-Choice) a) Kennen Sie das Sprichwort Morgenstund hat Gold im Mund ? b) Nennen Sie bitte die Bedeutung von Der Fisch stinkt vom Kopf her. Ďurčo (2003) Juska-Bacher (2011) Tab. 1: Mögliche Abfrageformen im Fragebogen Britta Juska-Bacher 146 2. Die Methoden ‘Befragung’ vs. ‘Korpusanalyse’ in der kontrastiven Parömiologie Nachdem im ersten Kapitel die Möglichkeiten und Begrenzungen der zwei Erhebungsmethoden gegenübergestellt wurden, soll in diesem Kapitel die Komponente des interlingualen Sprachkontrasts einbezogen werden, die besonders in den Bereichen mehrsprachige Parömiografie und Phraseografie, Phraseodidaktik und Übersetzungen relevant ist. Voraussetzung für eine Kontrastierbarkeit empirischen phraseologischen Materials sind ganz allgemein gesprochen vergleichbares Material und vergleichbare Erhebungs- und Auswertungsmethoden in zwei oder mehr Sprachen. Was so selbstverständlich klingt, ist in der Umsetzung in der Forschungspraxis sehr anspruchsvoll. 2.1 Korpusanalyse Die oben genannten Korpuskriterien wie Maschinenlesbarkeit, Sampling, Repräsentativität etc. (Lüdeling / Kytö 2008, S. V, siehe Kap. 1.1) haben selbstverständlich für die verschiedenen beteiligten Sprachen zu gelten. Qualität und Quantität der Korpora sollten möglichst ähnlich sein. Für den Sprachvergleich können entweder Parallel- oder Vergleichskorpora verwendet werden. Parallelkorpora 12 enthalten Texte in einer Sprache und deren Übersetzungen in (eine) andere Sprache(n) (Lemnitzer / Zinsmeister 2006, S. 104). Diese Art von mehrsprachigen Korpora ist mit Problemen hinsichtlich falscher oder nicht präziser Übersetzungen behaftet (Lubenska / McShane 2007, S. 920). Vergleichskorpora hingegen enthalten Texte aus verschiedenen Sprachen, die aus vergleichbaren Diskursbereichen stammen, bei denen es sich aber nicht um Übersetzungen handelt (Lemnitzer / Zinsmeister 2006, S. 104). Die Erstellung solcher hinsichtlich der Quantität wie Qualität vergleichbaren Korpora ist ausgesprochen schwierig. 13 Hier bietet es sich wegen des Umfangs und der bei der Erstellung in der Regel angestrebten Repräsentativität der Texte an, soweit (vergleichbar) vorhanden, Nationalkorpora zu verwenden. 12 Z. B. das Europarl Parallel Corpus ( http: / / www.statmt.org/ europarl/ ), das Opus Korpus ( http: / / logos.uio.no/ opus/ ) oder das Oslo Multilingual Corpus ( http: / / www.hf.uio.no/ ilos/ english/ services/ omc/ ). 13 Einen Versuch stellen die PAROLE-Korpora ( http: / / www.elda.org/ catalogue/ en/ text/ doc/ parole. html ) dar. Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 147 2.2 Befragung Auch bei einer Informantenbefragung in verschiedenen Sprachen gelten die in Kapitel 1.2 genannten Kriterien für die beteiligten Sprachen gleichermaßen. Das bedeutet, dass der Fragebogen formal wie inhaltlich (sowohl in Bezug auf die abgefragten parömiologischen als auch die weiteren erhobenen Daten) möglichst gleich gestaltet wird, dass die Informantenauswahl oder -gewinnung entsprechend erfolgt und dass die Auswertung, wenn sie innerhalb der Einzelsprachen vorgenommen wird, mit vergleichbaren Methoden arbeiten muss. Abfrageform Sprache der Sprichwörter 1. Bitte um freie Nennung von Sprichwörtern, ohne Vorgabe 2. Vorgabe eines Textes (ohne oder mit Bedeutung): a) ohne Vorgaben b) Multiple-Choice in einer (Dritt-)Sprache oder in mehreren (d. h. den beteiligten) Sprachen 3. Vorgabe des Gesamttextes (ohne oder mit Bedeutung) a) bekannt? b) Abfrage der Bedeutung (ohne oder mit Vorgabe, Multiple-Choice) in einer (Dritt-)Sprache oder in mehreren (d. h. den beteiligten) Sprachen Tab. 2: Abfrageform und Sprache der Sprichwörter-Vorgaben Bei der Fragebogengestaltung stellt sich bei der Vorgabe eines Teiltextes oder des Gesamttextes die Frage, in welcher Sprache die Sprichwörter angegeben werden sollen (siehe Tab. 2). 14 Dies kann entweder in einer Sprache (entweder in einer der beteiligten Sprachen oder auch in einer Drittsprache) geschehen oder aber in mehreren Sprachen (in der Regel den jeweils beteiligten Sprachen, siehe Tab. 2). 15 Werden den Informanten die Sprichwörter in einer Fremdsprache präsentiert, sind die Ergebnisse stark abhängig von den Fremdsprachenkenntnissen der Teilnehmenden und dem parömiologischen Bestand ihrer Muttersprache. 16 Erhalten hingegen die Informanten die 14 Die Bitte um eine freie Nennung aller bekannten Phraseme eignet sich für einen Sprachvergleich kaum, da kaum vergleichbare Daten zu äquivalenten Phrasemen erhoben werden. 15 Im Projekt Widespread idioms in Europe and beyond ( http: / / www.widespread-idioms.uni-trier. de/ ? p=projektziele&lang=de ), in dem es um die Erfassung von zahlreichen Sprachen geht, gibt Elisabeth Piirainen die Phraseme in vier Sprachen vor, nämlich auf Englisch, Französisch, Deutsch und Russisch, von denen die Informanten zumindest eine beherrschen müssen. 16 U. a. Erla Hallsteinsdóttirs (2003, S. 358) Daten belegen, dass die Muttersprache der Informanten einen starken Einfluss auf das Verstehen fremdsprachiger Phraseme hat, da die muttersprachliche phraseologische Kompetenz auf die Fremdsprache übertragen wird. Britta Juska-Bacher 148 Sprichwörter in ihrer jeweiligen Muttersprache, so werden die Ergebnisse von der parömiologischen Kompetenz der Forschenden bzw. von den Wörterbüchern, die der Übertragung zugrunde gelegt wurden, beeinflusst. Die einheitliche formale Gestaltung des Fragebogens stellt zumindest in Sprachen aus demselben Kulturkreis keine besonderen Anforderungen. Die Informantengewinnung sollte im Falle einer aktiven Stichprobenziehung aus einem entsprechenden Personenkreis und auf den gleichen Grundlagen (z. B. einem Einwohnerverzeichnis) erfolgen. Im Falle einer passiven Akquirierung, bei der innerhalb eines möglichst breiten Informantenkreises zur Teilnahme aufgerufen wird (wie z. B. bei der Online-Befragung, siehe Kap. 3), sollte über vergleichbare Kanäle für eine Teilnahme geworben werden. Intrasprachliche Datenauswertungen haben nach denselben Prinzipien und anhand derselben Tests zu erfolgen. In Kapitel 4 wird anhand einer Beispielstudie eine Möglichkeit der Realisierung der Vergleichbarkeit von Material und Methoden bei der Befragung in drei Sprachen vorgeführt. Die Auswertung erfolgt sowohl intraals auch interlingual. Da die Daten dieser Studie online erhoben wurden, soll zunächst die Online-Befragung näher vorgestellt werden. 3. Online-Befragung Die Online-Befragung, hier im Sinne einer Erhebung, bei der die Informanten den auf einem Server abgelegten Fragebogen im Internet-Browser ausfüllen, bietet gegenüber dem Ausfüllen eines Papierfragebogens eine Reihe von Vorteilen. Die Erhebung ist zeit- und kostenökonomischer, da Fragebogenversand und Dateneingabe 17 entfallen, der Online-Fragebogen lässt sich attraktiver gestalten (z. B. durch audiovisuelle Unterstützung, aber auch durch Filterführung, Fragenrotation, Ausfüllkontrolle) und - für eine komplexere statistische Auswertbarkeit besonders relevant - es können über Aufrufe im Internet große Teilnehmendenzahlen realisiert werden. Mit der Informantengewinnung in Zusammenhang steht der zentrale Kritikpunkt dieser Methode, nämlich die bezweifelte Repräsentativität der Informanten. Die Informantenrekrutierung wird nicht von den Forschenden kontrolliert gesteuert, sondern die Teilnehmenden selbst ergreifen die Initiative (Selbstselektion). 18 Sie wer- 17 Die Daten der Informanten werden elektronisch zum Server übermittelt, dort abgespeichert und können jederzeit vom Forschenden abgerufen werden beziehungsweise sofort statistisch weiterverarbeitet oder ausgewertet werden. 18 Die Informantenrekrutierung kann selbstverständlich wie bei der Arbeit mit Papierfragebögen auch aktiv vom Untersuchenden gesteuert werden (z. B. durch postalische, telefonische oder persönliche Aufforderung zur Teilnahme). In diesem Fall sind aber vergleichbare Teilnehmendenzahlen nur unter größtem Aufwand zu erreichen. Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 149 den daher als nicht repräsentativ für die (unbekannte) Grundgesamtheit der Internetnutzenden und erst recht nicht für die Grundgesamtheit der Sprachgemeinschaft angesehen. 19 Mit dem Unterschied zwischen den Populationen Internetnutzende und Gesamtbevölkerung hat sich beispielsweise Wolfgang Bandilla (1999, S. 15) beschäftigt. Er stellt drei Kriterien heraus, die die Gruppe der Online-Teilnehmenden charakterisieren: Erstens sind Online- Teilnehmende im Durchschnitt deutlich jünger als die Gesamtbevölkerung, zweitens sind sie besser ausgebildet (Akademiker sind überrepräsentiert) und drittens sind Teilnehmerinnen mit lediglich 30% deutlich untervertreten. Diese Tendenzen ließen sich in verschiedenen neueren linguistischen Online- Befragungen nur noch hinsichtlich des Alters und der Ausbildung, nicht aber des Geschlechts der Informanten bestätigen (in verschiedenen Untersuchungen z. B. von Elspaß / Möller (2006, S. 146f.), Juska-Bacher (2011; 2010; 2009, S. 85), konnte ein gleiches Verhältnis bzw. sogar ein (leichtes) Übergewicht von Teilnehmerinnen festgestellt werden). Das bedeutet, die Teilnehmenden linguistischer Online-Befragungen sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung jünger und besser ausgebildet. Im Vergleich zur Internetpopulation haben sie vermutlich ein überdurchschnittliches Interesse an linguistischen Fragestellungen (ansonsten hätten sie sich nicht an der Umfrage beteiligt). Die in der Online-Befragung ermittelten Kenntniswerte, in unserem Fall von Sprichwörtern, sollten damit tendenziell höher liegen als das tatsächliche Bevölkerungsmittel. Online-Befragungen erfreuen sich in der Linguistik wachsender Beliebtheit (z. B. im Bereich der Dialektologie, hier wiederum bevorzugt im Wortschatzbereich, z. B. Elspaß / Möller 2006, Juska-Bacher 2010), in der Phraseologie ist man beim Einsatz dieser Methode noch zurückhaltend (vgl. Juska-Bacher 2011, 2009). Die Möglichkeit der Online-Befragung, im Vergleich zur Befragung über herkömmliche Papierfragebögen große Informantenzahlen zu realisieren, bietet verschiedene Vorteile. Einerseits erlaubt sie es, eine zentrale Begrenzung die- 19 Diese Bedenken hinsichtlich der Repräsentativität, die sich bei der Online-Befragung auf die Gewährsleute beziehen, gelten vergleichbar auch bei einer Nutzung des World Wide Web als Korpus. Hier ist die Grundgesamtheit der Texte nicht bestimmbar und die Texte sind, weil nicht vom Untersuchenden kontrolliert zusammengestellt, nicht repräsentativ für die Gesamtheit der geschriebenen Texte einer Sprache. Zudem - und dies ist ein weiterer Sorgenpunkt - ist nicht kontrollierbar, ob die Äußerungen von Muttersprachlern stammen. Dennoch werden all diese Bedenken auch beim World Wide Web als Korpus durch die unvergleichlichen Möglichkeiten aufgrund des gigantischen Textumfangs relativiert (z. B. Colson 2007, S. 1072, 1077). Britta Juska-Bacher 150 ser Methode, nämlich die beschränkte Kapazität der Informanten, zu erhöhen, indem sie die Möglichkeit bietet, mehrere Erhebungswellen mit je anderen Teilnehmenden durchzuführen, so dass der Umfang der zu erhebenden parömiologischen Information steigt (Berücksichtigung einer größeren Zahl von Sprichwörtern oder von mehr Angaben pro Sprichwort, z. B. pragmatischer Art). Andererseits erlaubt die große Zahl der Informanten eine Verwendung komplexerer uniwie multivariater statistischer Tests, die mehrere Faktoren und ihre Interaktionen berücksichtigen können. 4. Neue Perspektiven für die Auswertung: ein Forschungsbeispiel In diesem Kapitel wird am Beispiel einer Studie zur Untersuchung der Bekanntheit von 150 tradierten Phrasemen in drei germanischen Sprachen eine spezielle Möglichkeit der statistischen Auswertung größerer Datenmengen vorgeführt. 4.1 Material und Erhebungsmethode Das Ausgangsmaterial für die im Folgenden beschriebene Untersuchung bestand aus gut 150 Phrasemen, die Pieter Bruegel d. Ä. auf seinem Gemälde Die niederländischen Sprichwörter (1559) piktualisert hat. Die aktuelle Bekanntheit der Phraseme im Niederländischen, Deutschen und Schwedischen wurde in einer Online-Fragebogenaktion ermittelt (detaillierte Angaben zum Material und zur Erhebungsmethode siehe Juska-Bacher 2009, S. 57- 94). Als Resultat aus dieser Befragung liegen Daten von rund 2 000 Informanten aus den drei Sprachräumen zur Kenntnis der Phraseme sowie soziodemographischer Art (Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnsitzland) vor. Von diesen Phrasemen lassen sich ca. 30 in mindestens einer Sprache und Variante als Sprichwörter einstufen. 20 Zu den im deutschen Sprachraum bekanntesten Sprichwörtern gehören die in Tabelle 3 aufgeführten Einheiten (inkl. Bekanntheitsgrad). Da es sich bei dem abgefragten phraseologischen Material teilweise um Einheiten mit geringem Bekanntheits- und noch geringerem Verwendungsgrad handelte 21 und da zudem Informantendaten zu Alter, Geschlecht, Ausbildung und Wohnort erhoben werden sollten, war methodisch nur eine Befragung 20 Das Material enthält neben Sprichwörtern auch Verbalphraseme, feste Phrasen, Nominalphraseme sowie einige Einworteinheiten (Auflistung sämtlicher Einheiten und ihre Klassifizierung siehe Juska-Bacher 2009, S. 297-349). 21 Es wurde aus zwei Gründen nach der Kenntnis und nicht nach der Verwendung gefragt. Die Kenntnis ist konservativer, so dass sie auch bei den seltenen Phrasemen noch Resultate liefert, und ihre Einschätzung scheint objektiver möglich als diejenige der Verwendung. Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 151 sinnvoll. Damit die Daten mit multivariaten statistischen Verfahren ausgewertet werden konnten, wurde eine vergleichsweise große Informantenzahl benötigt. Aus diesem Grunde erfolgte die Befragung online. Bei dieser mehrsprachigen Erhebung wurde mit vergleichbarem Material (d. h. den von Bruegel bildlich dargestellten Phrasemen in drei Sprachen) und mit identischer Fragebogengestaltung gearbeitet. Es wurde versucht, in den drei Sprachen in vergleichbaren Medien zur Teilnahme an der Befragung aufzurufen (in Internetmedien für Sprachinteressierte sowie in Tageszeitungen und Zeitschriften), um eine ähnliche Informantenzusammensetzung zu erhalten. Auch wenn die Teilnehmenden im strengen Sinne immer noch nicht als repräsentativ für die Sprachgemeinschaften gelten können, stellen sie aber in den beteiligten Sprachen ein vergleichbares Segment der Sprechenden dar und sind interlingual vergleichbar. Sprache Sprichwort bekannt Dt. Jeder hat sein Päckchen Last zu tragen. 93% Ndl. Ieder moet zijn eigen last dragen. 34% Schwed. Var och en måste bära sitt eget lass. 62% Dt. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. 87% Ndl. De kruik gaat zo lang te water, tot zij breekt. 85% Schwed. Krukan går så länge till vattnet tills hon brister. 17% Dt. Große Fische fressen die kleinen. 77% Ndl. Grote fissen eten de kleine. 53% Schwed. Stora fiskar äter upp de små. 33% Dt. An den Federn erkennt man den Vogel. 32% Ndl. Aan de pluimen kent men de vogel. 71% Schwed. På fjädrarna känner man fågeln. 43% Tab. 3: Die im Deutschen bekanntesten Bruegel-Sprichwörter und ihre Äquivalente im Niederländischen und Schwedischen inkl. Bekanntheitsgrad Hinsichtlich der Abfrageform wurde mit der Vorgabe der vollständigen Phrasemtexte gearbeitet (zu den verschiedenen Abfragemöglichkeiten siehe Tab. 1) und nach der Bekanntheit der Phraseme gefragt. Diese Entscheidung war einerseits im Anliegen begründet, die zeitliche Belastung der Informanten bei der Abfrage von immerhin 150 Phrasemen möglichst gering zu halten, um möglichst viele Informanten zum vollständigen Ausfüllen des Fragebogens zu motivieren. Andererseits war eine Teiltextvorgabe gar nicht möglich, weil der Fragebogen nicht nur Sprichwörter, sondern auch kürzere satzteilwertige Phraseme und sogar einige wenige Einwortphraseme enthielt. Bei diesen Ein- Britta Juska-Bacher 152 heiten wäre teilweise bei Kürzung eine Wiedererkennbarkeit nicht mehr gegeben gewesen. Hinsichtlich der Sprache der Phraseme wurde mit einer Mischform der in Tabelle 2 genannten Möglichkeiten gearbeitet, indem die historischen Phraseme (aus dem Übergang zum Neuniederländischen) möglichst wortgetreu ins gegenwärtige Niederländische, 22 Deutsche und Schwedische übertragen wurden. Damit war einerseits den deutsch- und schwedischsprachigen Informanten die Aufgabe der Übersetzung aus dem Niederländischen in die Muttersprache abgenommen, andererseits wurden mit den möglichst wortgetreuen Übersetzungen relativ offene Vorgaben gemacht, um die Informanten bei der Suche eines muttersprachlichen Äquivalents nicht zu sehr zu beeinflussen (sie wurden informiert, dass es sich um Übersetzungen handelte, und gebeten, die Phraseme anzupassen). Da auch die niederländische Liste Phraseme enthielt, die dem gegenwärtigen Sprachgebrauch nicht mehr entsprechen und angepasst werden mussten, galten für die niederländischen Informanten ähnliche Bedingungen. Die Entscheidung für diese Vorgabe ist u. a. auch darauf zurückzuführen, dass die aus dem Gemälde zusammengestellte Liste eine ganze Reihe von Phrasemen enthält, die in modernen Wörterbüchern nicht aufgeführt sind, deren Form also phraseografisch auch nicht rücküberprüfbar gewesen wäre. Auf der Grundlage dieser Daten wurden verschiedene Fragestellungen untersucht, u. a. wurde auf deskriptiver Ebene nach dem Erhalt der Phraseme im Niederländischen, ihrer Verbreitung im Deutschen und Schwedischen (sowie in ausgewählten Fällen auch in den übrigen germanischen Sprachen) gefragt. Statistisch getestet wurde der Zusammenhang von phrasemorientierten Faktoren (wie ihrer Länge) und ihrer Bekanntheit sowie der Zusammenhang zwischen informantenorientierten Faktoren (wie Alter, Wohnland) und der Phrasemkenntnis. Diese Faktoren, die zu einem großen Teil - wenn auch mit deutlich geringeren Informantenzahlen (weshalb beispielsweise Interaktionen zwischen den Faktoren oft nicht berücksichtigt werden konnten) - bereits in anderen Studien zum Deutschen getestet wurden, wurden hier erstmals auch zum Niederländischen und Schwedischen erhoben und im interlingualen Vergleich gegenübergestellt. Aufgrund der großen Informantenzahlen bot diese Untersuchung aber darüber hinaus auch die Möglichkeit, die phraseologischen Systeme der beteiligten Sprachen auf der Grundlage von Informantendaten zu kontrastieren. Dieser Aspekt soll im Folgenden vorgestellt werden. 22 Im Niederländischen wurden Anpassungen an den modernen niederländischen Sprachgebrauch in der Rechtschreibung und Morphosyntax, nicht aber in der lexikalischen Besetzung vorgenommen. Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 153 4.2 Auswertungsmethode Um die Geläufigkeit der einzelnen Phraseme bei den Sprechenden der verschiedenen Sprachräume gegenüberstellen zu können, wurde eine Redundanzanalyse (ein multivariates Ordinationsverfahren) eingesetzt. Diese ordnet jedem der 2 000 Informanten anhand von dessen Phrasemkenntnis einen Punkt in einem multidimensionalen Koordinatensystem zu (für jedes Phrasem eine eigene Achse, d. h. in diesem Fall 150 Achsen oder Dimensionen). Informanten, die eine ähnliche Kombination von Phrasemen kennen, erhalten bei diesem Verfahren eine ähnliche Position im Koordinatensystem und sind daher durch ihre räumliche Nähe erkennbar. Anschließend kann anhand der soziodemografischen Angaben der Informanten (hier berücksichtigt der Sprachraum und das Wohnsitzland) getestet werden, ob Informanten aus verschiedenen Sprachräumen bzw. Ländern eine andere Kombination von Phrasemen kennen. Getestet wird dabei, ob die Distanz im Koordinatensystem zwischen zwei zufällig ausgewählten Informanten desselben Sprachraums kleiner ist als zwischen zwei Informanten aus verschiedenen Sprachräumen. Was diese Tests anschaulich macht, ist, dass die Ergebnisse mit Hilfe von Punkten (1 Punkt pro Informant(in) mit seiner/ ihrer individuellen Kenntnis der 150 abgefragten Phraseme) im Koordinatensystem der ersten zwei Dimensionen, die den Hauptanteil der Variabilität der Phrasemkenntnis abbildet, dargestellt werden können. Anhand der Gruppierung der n Punkte lässt sich visualisieren, inwieweit die berücksichtigten Faktoren mit unterschiedlicher Kenntnis der Informanten korrelieren. Faktoren, die einen großen Anteil der Variabilität erklären, liegen räumlich nahe beieinander und führen in der Darstellung zu Punktwolken. Wenn beispielsweise der Sprachraum einen großen Einfluss auf die Phrasemkenntnis hat, dann bilden Informanten aus den verschiedenen Sprachräumen Punktwolken an verschiedenen Stellen des Koordinatensystems. Bei dieser Methode wird nicht die Bekanntheit eines einzelnen Phrasems in verschiedenen Sprachen verglichen, sondern die individuelle Kenntniskombination der (einzelnen) Informanten. Sie stellt daher einen direkten Vergleich der Systeme dar. 4.3 Vergleich phraseologischer Systeme Ein Vergleich der phraseologischen Systeme verschiedener Sprachen ist in der westlichen Phraseologieforschung vergleichsweise selten versucht worden. Von osteuropäischer Seite seien hier exemplarisch zwei Arbeiten von Alexander D. Reichstein (1980, 1981) und Dmitrij Dobrovol‘skij (1988) genannt, die das Russische und Deutsche bzw. das Deutsche, Niederländische und Engli- Britta Juska-Bacher 154 sche kontrastiert haben. Auf der Grundlage umfangreichen Wörterbuchmaterials wurde Nähe anhand von phrasemorientierten Daten, d. h. von semantischen Kategorien, Komponentenbestand, formaler Gebundenheit der Komponenten, syntaktischer Struktur, Modellen der Phrasembildung und ihrer Variabilität auf vergleichbare Muster untersucht und quantifiziert. In der Analyse des phraseologischen Inventars wurde „Nähe“ ausschließlich anhand der Übereinstimmung struktureller und semantischer Kriterien definiert. Gänzlich unberücksichtigt blieben produzentenorientierte Daten, die Aufschluss über die Geläufigkeit von Phrasemen in der Sprachgemeinschaft geben. Wird eine Analyse aber ausschließlich aufgrund von Wörterbuchdaten durchgeführt, besteht die Gefahr, dass in der einen Sprache hochgradig bekannte und frequente Phraseme mit ihren im Wörterbuch aufgeführten, vermeintlichen Äquivalenten verglichen werden, die aber in der Sprachgemeinschaft dieser anderen Sprache im äußersten Fall gar nicht (mehr) oder wenig bekannt sind. 23 Die Gefahr dieses drastischen Gegensatzes von bekannt vs. unbekannt ist bei der Arbeit mit modernen Wörterbüchern, die auf der Grundlage empirischer Daten entstanden sind, natürlich gering. Aber auch geringere Unterschiede wie im Falle des in Tabelle 3 angegebenen Sprichworts Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht mit ca. 85% Bekanntheit im Deutschen und Niederländischen gegenüber 17% im Schwedischen sollten bei einer Kontrastierung berücksichtigt werden. Im Folgenden wird die Bekanntheit der Phraseme (und damit die Ähnlichkeit des phraseologischen Inventars der Sprachgemeinschaften) 24 als Kriterium der Bestimmung der Nähe phraseologischer Systeme zugrunde gelegt, um einen Eindruck zu vermitteln, was eine derartige Methode an neuen Ergebnissen im Sprachvergleich zu liefern vermag. Am konkreten Beispiel einer Gegenüberstellung der Homogenität verschiedener Sprachräume wird außerdem gezeigt, wie auch intralinguale Ansätze weitere für einen Systemvergleich relevante Daten liefern. Durch die Anwendung des hier vorgeführten Modells auf eine repräsentative, d. h. zufällige Auswahl aus dem phraseologischen Gesamtinventar, eine Kombination von Kriterien (aus den bereits in Arbeiten von Reichstein und Dobrovol‘skij untersuchten strukturellen und semantischen Faktoren) sowie des hier vorgestellten Geläufigkeitsgrads wird eine objektive Bestimmung der relativen Nähe der phraseologischen Systeme verschiedener Sprachen möglich. 23 Beispielsweise weil sie aus bereits bestehenden Wörterbüchern ungeprüft übernommen wurden. 24 Dabei werden geringere Abweichungen in Form oder Bedeutung in Kauf genommen, d. h., Grundlage ist nicht Voll-, sondern Teiläquivalenz. Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 155 4.3.1 Bekanntheit von Phrasemen als Kriterium für den Systemvergleich Die auf der Grundlage der Daten von knapp 2 000 Informanten durchgeführte Redundanzanalyse zeigt sehr deutlich, dass die Sprache der Informanten die Kenntniskombination der abgefragten Phraseme beeinflusst (p < 0,001, d. h. der Faktor Sprache ist hochsignifikant; siehe Abb. 1). Abb. 1: Ergebnis der Redundanzanalyse zur Phrasemkenntnis von 1 962 Informanten. Deutschsprachige Informanten: schwarze Quadrate, niederländischsprachige Informanten: Kreise, schwedischsprachige Informanten: Dreiecke. Die Zentroide der Sprachräume sind jeweils mit „X“ markiert. Die Grafik zeigt für die Sprecher der drei Sprachen deutlich voneinander getrennte Punktwolken mit nur wenigen Überlappungen. Die Informanten haben sich bezüglich ihrer Kenntnis der Bruegel-Phraseme also klar anhand ihrer Sprachzugehörigkeit gruppiert. Damit gibt es für die drei Sprachen charakteristische Kenntniskombinationen, die es erlauben, Informanten anhand ihrer Angaben so gut wie eindeutig der betreffenden Sprachgemeinschaft zuzuordnen. Die Entfernung der Zentroiden der Sprachen (gekennzeichnet mit „X“) vom Ursprung des Koordinatensystems unterstreicht den starken Einfluss der Sprache auf die Phrasemkenntnis der Informanten. Hätte die Sprache keinen Einfluss, würden die Informanten einer bestimmten Sprache zufällig auf die Punkte fallen und damit läge ihr Zentroid im Ursprung des Koordinatenkreuzes. Nachdem eine deutliche Unterscheidbarkeit der phraseologischen Systeme aufgrund der Kombination der Geläufigkeit ihrer Einheiten festgestellt wurde, soll eine Quantifizierung der relativen Nähe der drei Sprachen hinsichtlich der Britta Juska-Bacher 156 Ähnlichkeit ihres phraseologischen Inventars erfolgen. Prinzipiell ist aufgrund der sprachlichen wie kulturellen Verwandtschaft der drei Sprachen zu erwarten, dass sie relativ nah beieinander liegen. Genetisch stehen sich das Deutsche und das Niederländische als westgermanische Sprachen näher. Einen intensiven kulturellen Austausch hat es sowohl zwischen dem Deutschen und Niederländischen (siehe z. B. De Smet 1984) als auch zwischen dem Deutschen und Schwedischen (siehe Panzer 2000, Wande 1997, Naumann 1984) gegeben. Da ein vergleichbarer Austausch zwischen dem Niederländischen und Schwedischen nicht stattgefunden hat, ist zu erwarten, dass der Abstand zwischen diesen Sprachen am größten sein sollte. Diese These wurde mit Hilfe der Redundanzanalyse überprüft, indem anhand der Koordinaten der Abstand der Sprachraum-Zentroiden zueinander berechnet wurde (Tab. 4). Da die Rohdaten bei der Redundanzanalyse zentriert und die Achsen neu geordnet werden, liegen keine absoluten, sondern nur relative Werte vor. Sprachenkombination Abstand der Punktwolkenzentroiden Niederländisch - Deutsch 0,73 Deutsch - Schwedisch 0,77 Schwedisch - Niederländisch 0,82 Tab. 4: Abstand der Punktwolken-Zentroiden hinsichtlich ihrer ersten zwei Dimensionen in der Redundanzanalyse Diese relativen Werte zeigen, dass die drei Sprachen hinsichtlich der Bekanntheit der Bruegel-Phraseme etwa gleich nah beieinander liegen, wobei der niederländische und deutsche Zentroid am nächsten, der deutsche und schwedische etwas weniger nah und der schwedische und niederländische am weitesten entfernt voneinander liegen. Die These der größten Nähe des deutschen und niederländischen Systems wurde damit nur tendenziell, nicht auffallend deutlich bestätigt. Das wird besonders offensichtlich, wenn man die relativen Abstände der Zentroide in Prozentzahlen ausdrückt. Setzt man den kleinsten Abstand, nämlich den zwischen dem Niederländischen und Deutschen (0,73) gleich 100%, so ist der Abstand zwischen dem Deutschen und dem Schwedischen (0,77) nur um 5% und derjenige zwischen dem Schwedischen und dem Niederländischen (0,82) nur um 12% größer. Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 157 4.3.2 Homogenität der Sprachräume Neben der Einbeziehung der Geläufigkeitsdaten für die Bestimmung der relativen Nähe der phraseologischen Systeme wird in diesem Abschnitt gezeigt, dass anhand der empirischen Daten und der Redundanzanalyse weitere Parameter der Sprachbenutzer für einen Systemvergleich herangezogen werden können. Innerhalb der Sprachräume soll anhand der Wohnsitzländer der Informanten über eventuelle Kenntnisunterschiede zwischen den jeweiligen nationalsprachlichen Varietäten die Homogenität des niederländischen, deutschen und schwedischen Systems kontrastiert werden. Wie verschiedene intralinguale Untersuchungen zum Deutschen, bei denen bisher nur einzelne Phraseme berücksichtigt wurden, gezeigt haben (siehe z. B. Burger 1998; Häcki Buhofer 1998; Földes 1992, 1998), gibt es zwischen Informanten aus der Schweiz, Österreich und Deutschland durchaus Unterschiede in Gebrauch und Kenntnis von Phrasemen. Ähnliches kann für den niederländischen (Niederlande und Belgien) und den schwedischen Sprachraum (Schweden und Finnland) vermutet werden. Entsprechende Untersuchungen fehlen bisher. Diese Hypothese wird anhand von Redundanzanalysen in den jeweiligen Sprachräumen getestet (Ergebnisse vgl. Tab. 5). Sprache p-Wert Niederländisch (Belgien, Niederlande) < 0,001 Deutsch (Deutschland, Österreich, Schweiz) 0,035 Schwedisch (Schweden, Finnland) 0,478 Tab. 5: Signifikanzwerte für den Faktor Land innerhalb der drei Sprachräume (Redundanzanalysen) Die Ergebnisse zeigen deutliche Unterschiede in der Homogenität zwischen den drei Sprachräumen. Im niederländischsprachigen Raum hat das Wohnsitzland der Informanten (d. h. die nationalsprachliche Varietät) einen hochsignifikanten Einfluss auf die Zusammensetzung der Phrasemkenntnis, was aus Abbildung 2 deutlich hervorgeht. Ebenfalls signifikant, aber weniger deutlich, ist der Einfluss im deutschsprachigen Raum (Abb. 3), während es im Schwedischen keinen signifikanten Unterschied zwischen den Varietäten gibt (Abb. 4). Britta Juska-Bacher 158 Abb. 2: Ergebnis der Redundanzanalyse zur Phrasemkenntnis von 606 niederländischsprachigen Informanten (Niederlande: schwarze Quadrate, Belgien: Kreise). Abbildung 2 zeigt, dass der niederländischsprachige Raum durch eine deutliche Trennung mit nur leichten Überlappungen in der Zusammensetzung der bekannten Phraseme zwischen den Niederlanden und Belgien charakterisiert ist. Niederländer haben also deutlich andere Phraseme als bekannt angegeben als Belgier. Abb. 3: Ergebnis der Redundanzanalyse zur Phrasemkenntnis von 834 deutschsprachigen Informanten (Deutschland: Kreise, Österreich: graue Dreiecke, Schweiz: schwarze Quadrate) Weniger deutlich als im Niederländischen fiel der Unterschied im deutschsprachigen Raum aus. Hier ist zwischen Informanten mit Wohnsitz in Deutschenland und der Schweiz keine klare Trennung möglich, während Österreicher tendenziell eher den unteren Bereich der Grafik belegen (Abb. 3). Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 159 Abb. 4: Ergebnis der Redundanzanalyse zur Phrasemkenntnis von 522 schwedischsprachigen Informanten (Schweden: Kreise, Finnland: schwarze Quadrate) Im schwedischen Sprachraum war keine eindeutige Gliederung der Punktwolke auszumachen. Die finnischen Informanten (schwarze Quadrate) bilden keine von den schwedischen Informanten (Kreise) getrennte Gruppe. Ein Vergleich der nationalen Varietäten dieser drei Sprachräume im Hinblick auf die Kenntniskombination der Bruegel-Phraseme belegt die deutlich unterschiedliche Homogenität des Niederländischen, Deutschen und Schwedischen. 5. Möglichkeiten der Informantenbefragung In diesem Artikel wurden zunächst die relativ neue Erhebungsmethode Korpusanalyse und die eher traditionelle, gegenwärtig in der Parömiologie wie Phraseologie insgesamt ins Hintertreffen geratene Methode Befragung gegenübergestellt. Besondere Berücksichtigung fand dabei die ebenfalls relativ neue Online-Befragung. Im Vergleich der Methoden wurden die speziellen Möglichkeiten und Begrenzungen der produktorientierten Korpusanalyse und der produzentenorientierten Befragung herausgestellt. Es wurde deutlich, dass beide elektronischen Erhebungsmethoden mit Repräsentativitätsproblemen (bei der Auswahl der Texte bzw. der Informanten) zu kämpfen haben. Das spezielle Potenzial der Befragung gegenüber anderen Methoden liegt u. a. in der Möglichkeit, Daten zu gegenwärtig wenig bekannten (veralteten oder ganz neuen) Parömien zu erheben, sowie in der Bearbeitung soziolinguistischer wie arealer Forschungsansätze. Dank der Möglichkeit, viele Informanten zu gewinnen, lässt sich, beispielsweise durch mehrere Erhebungswellen, der Umfang der erhobenen parömiologischen Information im Gegensatz zu Papierfragebögen deutlich leichter erhöhen. Die hohen Teilnehmendenzahlen Britta Juska-Bacher 160 erlauben zudem die Verwendung komplexerer statistischer Tests, die beispielsweise nicht nur den Zusammenhang zwischen Sprichwortkenntnis und Alter oder Geschlecht oder Ausbildung der Informanten testen, sondern die eine ganze Reihe von Faktoren in ein Modell einbeziehen und auch die Interaktionen zwischen diesen berücksichtigen können. Auf der Ebene des Sprachvergleichs bietet die Online-Befragung dem Untersuchenden die Möglichkeit, standortunabhängig eine attraktive Beteiligung unter Sprechern verschiedener Varietäten oder Sprachen zu realisieren. Damit eröffnen sich auch im interlingualen Vergleich ganz neue statistische Möglichkeiten wie beispielsweise der Vergleich des Zusammenhangs zwischen Alter, Geschlecht, Ausbildung und Sprichwortkenntnis in den verschiedenen Sprachen. Anhand von Daten zur Bekanntheit von 150 tradierten Phrasemen in drei Sprachen, die mit Hilfe einer Online-Befragung parallel erhoben wurden, wurde exemplarisch ein möglicher neuer Ansatz vorgeführt. Dem Vergleich phraseologischer Systeme, der bisher ausschließlich phrasemorientiert auf der Basis semantischer und struktureller Kriterien erfolgte, wurden erstmals sprachproduzentenorientierte Daten (d. h. die Phrasemkenntnis) zugrunde gelegt. Mit Hilfe multivariater Tests wurde erstens nachgewiesen, dass sich die Kenntniskombination in den drei Sprachen deutlich voneinander unterscheidet. Zweitens, dass die relative Nähe der phraseologischen Systeme des Deutschen, Niederländischen und Schwedischen bezüglich der Bekanntheit der Testgruppe etwa gleich groß ist (wobei sich das Deutsche und Niederländische tendenziell am nächsten standen). Als letzter Punkt wurde anhand der nationalsprachlichen Varietäten die Homogenität der drei Sprachräume kontrastiert. Während der niederländischsprachige Raum eine klare Zweiteilung zwischen Niederländern und Belgiern zeigte, die deutlich verschiedene Phrasemkombinationen kannten, 25 und auch der deutschsprachige Raum eine, wenn auch weniger auffällige, Strukturierung dahingehend aufwies, dass Schweizer und Deutsche sich von Österreichern unterschieden, zeigte einzig der schwedischsprachige Raum Homogenität, d. h. zwischen Schweden und schwedischsprachigen Finnen war kein deutlicher Unterschied auszumachen. Diese Einbeziehung des Faktors Bekanntheitsgrad der Phraseme liefert eine Reihe neuer und relevanter Aspekte für einen Systemvergleich. Durch eine Anwendung des hier vorgeführten Modells auf eine repräsentative, d. h. zufällige Auswahl aus dem phraseologischen Gesamtinventar einer Sprache und durch eine Kriterienkombination aus den bereits in früheren Arbeiten untersuchten strukturellen und semantischen Faktoren und dem hier vorge- 25 Auffällige Unterschiede in der Bekanntheit einzelner Phraseme in den beiden Ländern wurde auch anhand von χ²-Tests nachgewiesen (Juska-Bacher 2009, S. 190-193). Empirische Methoden in der kontrastiven Sprichwortforschung 161 stellten Geläufigkeitsgrad rückt eine objektive 26 Bestimmung der relativen Nähe der phraseologischen Systeme verschiedener Sprachen auf Systemebene in greifbare Nähe. Die Wahl der geeigneten Methode ist selbstverständlich abhängig von der Forschungsfrage. Es sollte in diesem Artikel aber darauf hingewiesen werden, dass neben der Korpusanalyse auch die Befragung Potenzial für neue Forschungsansätze bietet. Eine Kombination beider Methoden kann auch im angewandten Bereich einen deutlichen Mehrwert erbringen. Als ein Beispiel einer solchen Kombination sei das Vorgehen bei der Erstellung eines „phraseologischen Optimums“ für die Fremdsprachendidaktik genannt (siehe Hallsteinsdóttir / Šanjáková / Quasthoff 2006, Ďurčo 2006). In der Parömiografie und Phraseografie können z. B. auf der Grundlage einer Korpusanalyse formulierte Bedeutungsparaphrasen mit Hilfe einer Befragung bezüglich ihrer aktuellen Gültigkeit bestätigt, differenziert, gewichtet oder auch korrigiert werden. Ebenso können ergänzende Informationen zu Varianten, Restriktionen und zur Pragmatik geliefert werden. Die Vorteile einer - wenn auch aufwändigeren - Methodenkombination stellt bereits Anthony P. Cowie (2003, S. 81) heraus, wenn er als Traum des Lexikografen die Kombination von Korpusanalyse und Informantenbefragung formuliert: Though the permanent availability to dictionary editors of teams of informants is probably an unrealizable dream, it should be possible to call on such help from time to time, to scrutinize problem combinations whose currency, and exact form or forms, need to be clearly established, and - more generally - to extend and diversify the data yielded by corpus searches. Literatur Atteslander, Peter (2003): Methoden der empirischen Sozialforschung. Berlin / New York. Bandilla, Wolfgang (1999): WWW-Umfragen - Eine alternative Datenerhebungstechnik für die empirische Sozialforschung? In: Batinic, Bernad / Werner, Andreas / Gräf, Lorenz / Bandilla, Wolfgang (Hg.): Online research. Methoden, Anwendungen und Ergebnisse. Göttingen u. a., S. 9-19. 26 Bisher basieren Aussagen zur Nähe der phraseologischen Systeme verschiedener Sprachen oft auf Eindrücken, die bei der Wörterbucharbeit gewonnen wurden (z. B. Schottmann 1998, S. 267 zur Nähe des Deutschen und Schwedischen) oder auf Studien, die bei der Untersuchung von Äquivalenzbeziehungen Ähnlichkeiten verschiedener phraseologischer Gruppen festgestellt haben (Krohn 1994, S. 113 spricht aufgrund der Ergebnisse einer kontrastiven Untersuchung von Somatismen im Deutschen und Schwedischen von einem „recht hohen Verwandtschaftsgrad der beiden Sprachen“). Britta Juska-Bacher 162 Besch, Werner / Reichmann, Oskar / Sonderegger, Stefan (Hg.) (1984): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin / New York, S. 923-930. Burger, Harald (1998): Helvetismen in der Phraseologie - Vorkommen und stilistische Funktionen. In: Hartmann (Hg.), S. 49-80. Burger, Harald (2010): Phraseologie. 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Ein weiser Mann schweigt, bis er seine Zeit gekommen sieht; aber ein Prahler und Narr achtet nicht auf die rechte Zeit. Wer viele Worte macht, wird verabscheut; und wer sich zu viel anmaßt, macht sich verhasst. (Altes Testament, Jesus Sirach 20: 5-8) 0. Zusammenfassung Anhand des onomasiologisch angeordneten deutsch-spanischen SCHWEI- GEN / CALLAR -Korpus aus dem Forschungsprojekt FRASESPAL 1 wird im ersten Teil des Aufsatzes auf die Konzeptualisierung des Schweigens mittels Phraseologismen und Sprichwörtern und deren Unterschiede auf denotativer und nichtdenotativer Ebene eingegangen. Die Notwendigkeit der pragmatischen Analyse in der kontrastiven Parömiologie soll im zweiten Teil der Arbeit gezeigt werden. Untersuchungsgegenstand sind die Sprichwörter Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und En boca cerrada no entran moscas, die als interlinguale funktionale Äquivalente im Deutschen und Spanischen gelten. Durch die Analyse werden für die kontrastive Parömiologie zu beachtende Unterschiede im textuellen Verhalten, in der Art der illokutiven Funktionen, in der sozialen Funktion, in den kognitiven Konzepten und in der Typologie der Modifikationen beider Sprichwörter aufgedeckt. Darüber hinaus werden die argumentativen und kommunikativen Funktionen beider Sprichwörter vor dem Hintergrund einer Differenzierung zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit anhand einer Vielzahl von Beispielen näher bestimmt. 1 Dieser Beitrag ist im Rahmen des interuniversitären Forschungsprojekts FRASESPAL zu deutsch-spanischer Phraseografie (Referenznummer HUM2007-62198/ FILO ) entstanden, das vom spanischen Kultusministerium finanziert und unter meiner Leitung an der Universität Santiago de Compostela durchgeführt wird. Carmen Mellado Blanco 166 1. Phraseologie und Parömiologie aus dem semantischen Feld SCHWEIGEN 1.1 Konzeptualisierung des Schweigens in der Phraseologie Schweigen ist ein kommunikativer Akt, bei dem nicht gesprochen wird und bei dem auch keine Laute erzeugt werden. Schweigen ist multifunktionell. Eine Schweigepause kann dazu dienen, sich eine Antwort zu überlegen. Man kann auch schweigen, um zuzuhören, und man schweigt ebenfalls, um das Ende eines Sprechaktes zu markieren (vgl. zur Definition http: / / www.woxikon. de/ wort/ schweigen.php ). Obwohl das Schweigen im täglichen Leben von außerordentlicher Bedeutung ist, wurde ihm bis jetzt von den Kommunikationswissenschaften kaum Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Bazil / Piwinger 2009, Mellado Blanco 2011). Interessant aus phraseologischer und parömiologischer Perspektive ist die Annäherung an das Phänomen des Schweigens auf der Grundlage seiner semantischen Vielfältigkeit, wozu ich mir folgende Fragen gestellt habe: Welche Aspekte des Schweigens werden in der Phraseologie und Parömiologie konzeptualisiert? Werden in diesen Wortschatzbereichen eher die positiven oder die negativen Aspekte des Schweigens erfasst? Phraseologismen und Sprichwörter aus dem kognitiven Feld SCHWEIGEN zeichnen sich durch ihren metasprachlichen Charakter aus, denn sie spiegeln eine Reflexion über einen Aspekt der sprachlichen Kommunikation wider. Wie Jakobson / Halle (1956) bemerkten, erlauben uns Spracheinheiten mit metasprachlicher Funktion, die Intuitionen und die oft nicht reflektierten Urteile der Sprecher über den Gebrauch ihres linguistischen Codes zu erfahren. Dieses Material vermittelt uns reichlich Information über die menschlichen Beziehungen und Erfahrungen der Sprecher im Kommunikationsakt (vgl. Robles i Sabater 2005). Die phraseologische und parömiologische Perspektive stellt eine jeweils teils unterschiedliche Annährung an das Phänomen des Schweigens von seiner subjektiven und soziokulturellen Seite dar. Dienen Idiome dem Menschen zum Ausdruck seiner Emotionalität, so überliefern Sprichwörter in erster Linie Urteile, Vorurteile, Stereotype und Denkweisen von unseren Vorfahren und umfassen damit die konventionellen Aspekte des Schweigens. Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 167 Die starke idiomatische und parömiologische Produktivität des kognitiven Feldes SCHWEIGEN ist ein Indiz für seine große Bedeutung im menschlichen Leben, denn mit Schweigen wird oft mehr als mit Worten kommuniziert (Schweigen sagt oft mehr als lange Rede; Hay quien callando habla y quien hablando calla). In der Phraseologie werden nicht alle Seiten des Schweigens thematisiert. Rekurrent erscheinen bei den SCHWEIGEN -Idiomen folgende Merkmale: 1. Lautlosigkeit (wie intensiv die Stille oder das Schweigen ist), 2. Abschluss der eigenen Rede oder des Sprechaktes des Gesprächspartners, 3. das lange Schweigen, 4. die Geheimhaltung, 5. die Sprachlosigkeit aus emotionalen Gründen, 6. das Redeverbot, 7. die Unterbrechung beim Sprechen, 8. die Ungeduld des Angeschwiegenen. Andere Aspekte des Schweigens wie die Redepausen oder bestimmte gesellschaftliche Normen werden in der Phraseologie bisher ausgeblendet. Unser Korpus aus dem semantischen Feld SCHWEIGEN besteht aus 170 deutschen und 155 spanischen Phraseologismen, die nach einer von uns erstellten onomasiologischen Taxonomie angeordnet sind. 2 Nach der Korpusanalyse stellte sich heraus, dass das Schweigen in der Phraseologie hauptsächlich von seiner negativen Seite her behandelt wird, wie folgende onomasiologische Untergruppen belegen: 3 I. Phraseologismen, die eine Situation kennzeichnen, in der Schweigen herrscht. In Mittel- und Südeuropa werden lange Schweigephasen während der Rede oder das Schweigen auf eine Frage als etwas Negatives betrachtet und aus Höflichkeitsgründen vermieden (vgl. Poyatos 1994, S. 180). Kollokationen wie erdrückendes Schweigen, eisiges Schweigen, schwangeres Schweigen, trächtiges Schweigen, unerträgliches Schweigen zeugen von der negativen Wahrnehmung des Schweigens in unseren Sprachgemeinschaften. II. Phraseologismen, die Redeunterbrechung oder das Nichtausprechenlassen thematisieren. Es handelt sich um die Untergruppe ‘jmdn. unterbrechen’: jmdn. nicht zu Wort kommen lassen; jmdm. das Wort nehmen; jmdm. über den Mund fahren; jmdm. ins Wort fallen; jmdm. in die Rede fallen; jmdn. nicht ausreden lassen; jmdm. die Rede abschneiden; dazwischen reden; jmds. Redefluss unterbrechen. 2 Bei der textuellen Analyse des Korpus zeigte sich das semantische Merkmal [+ Schweigen] indirekt auch in einigen kognitiven Unterfeldern des REDEN -Korpus, wie in der Untergruppe ‘viel reden’, z. B. bei den Idiomen wie ein Papagei reden, wie ein Wasserfall reden, die in bestimmten Kommunikationssituationen, besonders in der 2. Person, die direktive Implikatur AUFFORDERUNG ZU SCHWEIGEN aufweisen können. 3 Aus Platzgründen werden nur die deutschen Phraseologismen angeführt. Carmen Mellado Blanco 168 Im Rahmen der Sprechakttheorie (Haverkate 1994, S. 55) lässt sich die negative Einstellung des Sprechers zu solchen Diskurssituationen mit dem Prinzip der Höflichkeit in Zusammenhang bringen: In unserer europäischen Gesellschaft soll man sich an den Höflichkeitsmaximen Hör deinem Gesprächspartner genau zu und Unterbrich den Sprecher nicht halten, um die sozialen Normen des „höflichen Schweigens“ nicht zu überschreiten. 4 Dieses Merkmal ist ebenso in der Parömiologie anzutreffen, und das genaue Zuhören und das Schweigen während der Rede des Gesprächspartners erscheinen in zahlreichen Sprichwörtern als zu verfolgende Tugend: Lern schweigen, so kannst du am besten reden / Aprended a bien callar para que sepáis bien hablar; Wer nicht schweigen kann, kann nicht reden. III. Phraseologismen aus der Untergruppe ‘jmdm. die Rede verbieten, jmdn. zum Schweigen auffordern’, wie z. B. jmdm. den Mund verbieten; jmdm. das Wort entziehen; jmdm. das Wort nehmen; jmdm. Redeverbot erteilen. 5 IV. Somatismen aus der Untergruppe ‘jmdn. durch Gewalt zum Schweigen bringen’, wie z. B. jmdm. den Mund stopfen; jmdm. den Mund versiegeln; jmdm. den Mund zuhalten; jmdn. mundtot machen; jmdm. einen Maulkorb verpassen; jmdm. einen Riegel vor den Mund schieben. Ein positiverAspekt des Schweigens in der Phraseologie ist die Geheimhaltung, 6 wie z. B. dicht halten; wie ein Grab schweigen; die Dinge für sich behalten können; jmdm. kein Sterbenswörtchen von etw. erzählen; sich lieber auf die Zunge beißen, als ... 4 Diese der Sprechakttheorie und den Konversationsmaximen von Grice zugrunde liegenden Normen wurden schon in der Antike und im Alten und Neuen Testament formuliert und in der didaktischen Spruchdichtung Facetus (13. Jh.) mit großem Echo aufgenommen. Nach der Studie von Schmölders (1986, S. 21f.) hängen die Gesprächsnormen „zuhören, niemanden unterbrechen, nicht schwatzen, erhlich sein“ mit der christlichen Grundhaltung der Anstandslehren zusammen, „die ja gerade das Wertmosaik von Demut, Bescheidenheit, Zurückhaltung, Ehrerbietung als gleichsam weltlichen Widerschein religiöser Demut zusammensetzen“. 5 Diese Idiome werden nach meiner textuellen Untersuchung oft in der Verneinungsform und mit dem passivierenden Verb lassen benutzt. 6 Die Phraseologismen aus dieser Gruppe werden mit einer FESTSTELLUNG -Implikatur (assertiv) in der 1. Person und direktiv als AUFFORDERUNG / EMPFEHLUNG / RAT in der 2. und 3. Person verwendet. Demgegenüber erfassen die denotativ ähnlichen Phraseologismen die Katze nicht aus dem Sack lassen, mit der Sprache nicht hinausrücken wollen (‘etwas nicht verraten wollen’) eine negative Seite des Phänomens des Schweigens, weshalb sie nach unserer textuellen Untersuchung vorwiegend in zweiter und besonders in dritter Person in der Rede vorkommen (vgl. Mellado Blanco 2011, S. 199). Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 169 Andere Idiome aus dem Korpus thematisieren weder einen positiven noch einen negativen Aspekt des Schweigens, wie z. B. die festen Vergleiche, die die Intensität eines schweigsamen Verhaltens kennzeichnen, wie z. B. still wie in der Kirche; stumm wie ein Stockfisch (als Zusammensetzung mucksmäuschenstill). Im Rahmen der Sprechakttheorie (Coulmas 1981, Searle 1982) sollen im Weiteren die pragmatischen Aspekte der Sprechereinstellung und der Implikaturen einiger Schweigen-Phraseologismen empirisch untersucht werden. 7 Bei nicht wenigen Phraseologismen der untersuchten semantischen Unterfelder hat sich in den Textbelegen eine auffällige rekurrente KRITIK -Implikatur herausgestellt. Die negative Seite des Schweigens tritt dabei nicht auf der denotativen Ebene wie in den oben angeführten Untergruppen, sondern auch auf der Ebene der pragmatischen Bedeutung in Erscheinung. So zeigen Idiome mit der denotativen neutralen Bedeutung ‘nichts sagen’ häufig eine KRITIK - Implikatur, besonders wenn der Sprecher der Diskurssituation mit dem Sprecher der Rekurssituation nicht übereinstimmt. 8 Es handelt sich dabei um Phraseologismen, die im Diskurs den durativen Aspekt 9 der verbalen Handlung fokussieren, wie den Mund nicht aufmachen; den Mund nicht auftun; die Klappe nicht aufmachen; die Fresse nicht aufmachen; den Schnabel nicht aufmachen; nichts sagen; keinen Ton sagen; kein Wort sagen; keine / nicht eine Silbe sprechen; keinen Piep (mehr) sagen; keinen Mucks machen; weder gick(s) noch gack(s) sagen; weder gicks noch gecks sagen; weder muh noch mah sagen; keinen Laut von sich geben; keinen Ton herausbringen; nichts verlauten lassen; nicht mucken / ohne zu mucken; nicht mucksen; nicht einen / keinen Deut von sich geben. Bei solchen Idiomen gibt der Sprecher mit seiner Aussage zu verstehen, dass er mit dem Schweigen des Agens (Subjekt) nicht einverstanden ist. Kritisiert und vorgeworfen wird da- 7 Nach Grzybek (2007, S. 201) lassen sich die illokutiven Funktionen der Phraseologismen im Prinzip nicht systematisieren: „[...] Und auch wenn es bei einzelnen Phraseologismen nahe liegt, ihre Verwendung in mehr oder weniger enger Anbindung an spezifische Situationen zu sehen, können Phraseologismen dennoch im Prinzip allen Sprachfunktionen dienen.“ Ich bin der Meinung, dass sich durch die empirische Textanalyse zwar keine festen Regeln, aber dennoch Gebrauchstendenzen bei der positiven oder negativen Sprechereinstellung und bei Implikaturen beobachten lassen. 8 Harras (2006, S. 96) benutzt bei ihrer Erforschung der Bewertungen der Sprechaktverben die Termini „Sprecher der Diskurssituation“ und „Sprecher der Rekurssituation“, um jeweils den Sprecher in der Rede und das syntaktische Subjekt des Verbs zu bezeichnen. 9 Laut Verschueren (1985, S. 95) liegt für das Englische und Niederländische bei idiomatischen Ausdrücken des Typs not utter a word und not open one's mouth der durative Aspekt der verbalen Handlung auf der Hand, weil solche Idiome mit Zeitadverbien, die eine kurze Zeitdauer kennzeichnen, unverträglich sind. Carmen Mellado Blanco 170 bei in erster Linie das Verharren im Schweigen in Situationen, in denen Rede erwartet wird. In zahlreichen Kontexten wird das schweigsame Verhalten einer Person mit Teilnahmelosigkeit, Gleichgültigkeit oder Passivität assoziiert. 10 Die KRITIK -Implikatur des Sprechers lässt sich in den in der 2. und 3. Person benutzten Idiomen feststellen, was durch die Kommunikationstheorie von Brown / Levinson (1987) (dem „positive image“) erklärt werden kann. Nach dieser Theorie versucht der Sprecher, immer das „positive Gesicht“ zu bewahren, indem er das eigene positive Selbstbild pflegt und dadurch die Anerkennung der anderen anstrebt. Es folgt ein Beispiel für eine KRITIK -Implikatur. Der Phraseologismus keinen Mucks sagen erscheint in der 3. Person und die Sprechereinstellung ist in diesem Fall negativ: Es ist ja auch schöner so, als wenn der Zahnarzt seine Arbeit macht, ohne einen Mucks zu sagen und man eigentlich auch nicht weiß, was er gerade macht. ( http: / / www.talkteria.de/ forum/ topic-81231.html , 12.08.2009) Im Gegensatz dazu zeigt der Phraseologismus keinen Mucks sagen im folgenden Textbeleg in der 1. Person keine KRITIK -Implikatur. Die Sprechereinstellung ist dabei positiv: Sorry, aber ich werde keinen Mucks sagen. Steuerberater beraten lieber und holen nicht so gern die Kuh vom Eis. ( http: / / www.gutefrage.net/ frage/ umsatzsteuer-pfaendung , 08.02.2009) Wie unterschiedlich die Bewertung des Schweigens je nach der syntaktischen Aussageform sein kann, beweisen folgende Beispiele aus der Untergruppe ‘jmdn. durch Gewalt zum Schweigen bringen’, wie z. B. jmdm. den Mund stopfen; jmdm. den Mund versiegeln; jmdm. den Mund zuhalten; jmdn. mundtot machen; jmdm. einen Maulkorb verpassen; jmdm. einen Riegel vor den Mund schieben. So wird das Schweigen z. B. beim Idiom jmdm. den Mund stopfen (‘jmdn. durch ein effektives Mittel wie Geld u. Ä. zum Schweigen bringen’) in affirmativer Form vom Sprecher positiv bewertet. Der Sprecher 10 In einigen Kontexten erscheint bei solchen Phraseologismen, wie ohne zu mucksen, die negative Einstellung des Sprechers und die SELBSTKRITIK -Implikatur in Aussagen in der 1. Person Plural, wie im folgenden Textbeleg: Dies ist es, was wir in Europa zu erwarten haben. Weil wir die Scharia unter uns ohne zu mucksen tolerieren, sind wir mitschuldig daran, [...]. ( http: / / derhonigmannsagt.wordpress.com/ 2010/ 10/ 11/ christen-in-muslimischen-landern-aufwachen-imwesten-dies-ist-ihr-erbe-an-ihre-kinder, 11.10.2010). Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 171 gibt mit dem Phraseologismus zu verstehen, dass das Patiens (jmdm.) die durch das Idiom ausgedrückte Handlung aufgrund seines Fehlverhaltens verdient. Das Schweigen wirkt sich auf den Sprecher positiv aus. Die untersuchten Belege enthalten das Modalverb müssen: „Wir müssen gewinnen und unseren Kritikern den Mund stopfen“, ergänzte Vieira. (Nürnberger Nachrichten, 05.06.2002) Dies müßte allen den Mund stopfen, die jetzt noch klagen. (Oberösterreichische Nachrichten, 23.01.1997) Denn wer am lautesten schreit, dem muß man „den Mund stopfen“. (Nürnberger Nachrichten, 11.02.1994) Mit Negation und dem passivierenden Verb lassen erscheint in den untersuchten Belegen eine SELBSTBEHAUPTUNG -Implikatur. Der Sprecher deutet mit dem Idiom an, dass das Patiens (jmdm.) sich die Meinungsfreiheit nicht nehmen lassen wird. Die Bedeutung von sich den Mund nicht stopfen lassen ist ‘sich (durch Erpressung) die Meinungsfreiheit nicht nehmen lassen’. Das Schweigen wirkt sich auf den Sprecher negativ aus. Hoffentlich glauben die Herren in der Bundeshauptstadt nicht, daß sich die Steirer mit diesen Milliarden den Mund stopfen lassen. (Kleine Zeitung, 16.05.1998) 1.2 Die Konzeptualisierung des Schweigens in der Parömiologie Den Sprichwörtern liegen bestimmte Denkmuster zugrunde, die das kollektive Bewusstsein einer Sprachgemeinschaft widerspiegeln. Lewandowska (2008, S. 123 ) behauptet in diesem Zusammenhang, dass das Verständnis von Sprichwörtern auf bestimmten kognitiven Konzepten basiert, 11 „die den metaphorischen Konzepten ( MK ) vergleichbar sind“. Kognitive Konzepte müssen nach Lewandowska prägnant, strukturell einfach und ganzheitlich sein. Bei der Bildung von Bedeutungen beleuchten metaphorische Konzepte durch ihre Projektionsfähigkeit einerseits etwas ganz scharf, andererseits verstecken bzw. „verbergen“ sie dafür Aspekte derselben Realität. Bei der Untersuchung der kognitiven Konzepte von deutschen und spanischen Sprichwörtern, die 11 Bei Permjakov werden sie „Invarianten“ genannt (siehe Hrisztova-Gotthardt 2010, S. 693). Für die Bestimmung der Thematik eines Sprichworts schlägt Hrisztova-Gotthardt (2010) drei Termini vor: „idea“, „formel“ und „image“. Carmen Mellado Blanco 172 das Schweigen zum Inhalt haben, stellte sich eine positive Konzeptualisierung und kollektive Bewertung des Schweigens heraus. Einige der aufgefundenen Denkmuster sind folgende: 12 A. Sprichwörter, die nach dem kognitiven Oberkonzept ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN die Vorteile des Schweigens fokussieren: 1) Wer schweigt, irrt nicht: 13 Viel reden, viel irren; Besser schweigen als das Maul verbrannt. Auf Spanisch: Quien mucho habla, mucho yerra; Quien no habla, no yerra; Más vale callar que errar; Quien mucho habla, mucho yerra; Quien mucho dice, mucho se desdice. 2) Wer schweigt, beleidigt nicht, denn die Wahrheit kann verletzen: Mit Schweigen beleidigt man keinen. Auf Spanisch: No todas las verdades son para dichas; Quien dice lo que no debe, escucha lo que no quiere; No todo lo vero es decidero; En diciendo las verdades, se pierden las amistades. 3) Wer schweigt, lügt nicht: Wer viel redet und selten schweigt, lügt offen. Auf Spanisch: Mejor callar que hablar y mentir; Quién no dice nada, ni peca ni miente; De persona palabrera, nunca te creas. 4) Wer schweigt, fügt sich keinen Schaden zu: 14 Was der Mund redet, muss der Hals bezahlen; Von Schweigen tut die Zunge nicht weh; Mit Schweigen verrät man sich nicht; Schweigen schadet selten. Auf Spanisch: Si la boca guardaras, no te sangraras; En boca cerrada no entran moscas; Por la boca muere el pez; Por su pico se pierde el pajarico; Cierra la boca, que te entran moscas. 5) Wer nicht schweigt, wird es bereuen: 15 Einmal gesprochenes Wort kehrt nicht mehr zurück; Einen geworfenen Stein kann man nicht mehr zurechtrufen. Auf Spanisch: Palabra y piedra suelta no tienen vuelta. 12 Quellen der Untersuchung: Wander (Hg.) (1867-80 [2004]) und Mieder (1979) für das Deutsche. Für das Spanische: Martínez Kleiser (1953 [1989]), Slabý / Grossmann / Illig (2008) und Sevilla Muñoz / Cantera Ortiz (Hg.) (2008). 13 Bei Singer (2002, S. 253) erscheint die thematische Gruppe „Viel reden lässt oft irren“. 14 Dieses kognitive Konzept steht im Zusammenhang mit der thematischen Gruppe von Singer (2002, S. 258): „(Viel) Reden bringt Schaden und Leid“. Im Alten Testament (Jesus Sirach, 22: 33) steht: „Könnte doch ein Schloss an meinen Mund gelegt und ein Siegel fest auf meine Lippen gedrückt werden, damit ich nicht zu Fall komme und meine Zunge mich nicht verdirbt! “ 15 Bei Singer (2002, S. 258) erscheint die thematische Gruppe „(Viel) Reden bringt Reue“. Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 173 6) Wer schweigt, ist weise: 16 Wer klug ist, schweigt; Schweigen ist ein Zaun um die Weisheit; Dem Weisen sind wenig Worte genug; Dem klugen Kopf genügt ein Wort. Auf Spanisch: Hable poco el hombre, y su saber asombre; Hablar, poquito, y mear, clarito; El discreto habla poco, y mucho el loco; De sabios es hablar poco y bien; En el callar se conoce el sabio; Charlar es licencia, callar es prudencia. 7) Wer nicht schweigen kann, ist dumm: Könnte der Narr schweigen, so wär′ er weis. Auf Spanisch: Bellaco, nunca callado; Todo bellaco es hablador. 8) Wer schweigt und zuhört, lernt reden: Wer nicht schweigen kann, kann nicht reden; Lern schweigen, so kannst du am besten reden. Auf Spanisch: Aprended a bien callar para que sepáis bien hablar; Callar y oír para aprender: Mientras uno calla, aprende de que hablan; Oír sabe quien callar sabe; No oye quien no calla; El necio a nadie escucha, el sabio a todos; Oye primero y habla postrero; Más aprende quien calla que quien habla. 9) Wer schweigt, bekommt keine Probleme. Dulden, Schweigen, Lachen, hilft viel bösen Sachen; Wer schweigt, wird Frieden haben; Harren, sehn und schweigen verhütet manchen Krieg; Hören, Sehen und Schweigen ist ein guter Reigen. Auf Spanisch: Callar para estar en paz; 17 En callando, hay paz; Oír, ver y callar, para vivir en paz; Oyendo, viendo y callando, con todos en paz me ando; Quien callando vive, tranquilo muere; Quien su vida ha de salvar, ha de ver, oír y callar; Oye, ve y calla, y vivirás vida holgada; Oír, ver y callar, para vivir en paz; Oyendo, viendo y callando, con todos en paz me ando; Habla siempre que debas, y calla siempre que puedas; Escucha, mira y cállate, si quieres vivir. Wie aus den oben dargestellten kognitiven Konzepten oder Invarianten hervorgeht, wird in den Sprichwörtern die Idee des Schweigen-Müssens als Garant für das Glücklichsein vermittelt. Der Zweck dieser Vorschrift war es - wohl in Übereinstimmung mit der christlichen Erziehung 18 -, die soziopoliti- 16 Diese Grundidee erscheint bereits im Alten Testament (Jesus Sirach 21: 27-28): „Die Schwätzer reden, wovon sie nichts verstehen; die Weisen aber wägen ihre Worte mit der Goldwaage. Die Narren tragen ihr Herz auf der Zunge; aber die Weisen haben ihren Mund im Herzen.“ 17 Martí Sánchez (2004, S. 1893) bezieht sich in seiner Studie auf diese Art von Schweigen: „Man hütet sich davor, persönliche Angelegenheiten zu erzählen, um einen möglichen Angriff durch Dritte zu vermeiden.“ 18 Die positive Bewertung des Schweigens als soziales Verhalten ist durch das Alte Testament von Generation zu Generation überliefert worden (siehe Casado Velarde / Varo Pineda 2010, S. 95f.). Carmen Mellado Blanco 174 sche Unterwerfung und Kontrolle über die Bürger der alten vordemokratischen Völker fortzusetzen. Der Linguist und Philosoph Ramírez González (1992, S. 17) behauptet, dass wir jedes Mal, wenn wir das Wort ergreifen oder uns zu schweigen entscheiden, in einem Machtspiel verwickelt sind. 19 Die soziale Macht ist nach wie vor mit dem Besitz des Sprachrechtes eng verbunden. Macht hat heutzutage noch derjenige in unserer Gesellschaft, der bestimmt, wer reden darf und wer schweigen soll. Einige Autoren haben sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts über die unterdrückende Wirkung der Parömien beklagt, wie folgender aus dem Jahr 1932 stammender Text des Journalisten Herbert Ihering veranschaulicht: Die kleinen Redensarten: [...] Wenn man einmal nachdenken wollte, könnte man wahrscheinlich feststellen, daß es für nichts so viel Sprichwörter und Phrasen gibt wie dafür, das Beharren, die träge Ruhe, die Teilnahmslosigkeit zu erklären und liebenswert zu machen. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, damit kann man jede subalterne Ergebenheit, jede Untertanengeste entschuldigen. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ — Jahrhunderte von verpaßten Gelegenheiten, Jahrzehnte politischer Tatenlosigkeit und geistiger Genügsamkeit erhalten hiermit ihre Legitimation. Es ist erstaunlich, wie viele Sprichwörter es in Deutschland gibt, die den Willen lähmen, Zufriedenheit markieren. „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“, der Sinn liegt zu nah, als daß man ihn besonders erwähnen müßte. 20 Aber selbst ein Wort wie „Morgenstunde hat Gold im Munde“, ein scheinbar tätiges, anstachelndes, anfeuerndes Wort, ist im Grunde eine idyllische, behagliche, „philisterhafte“ Redensart. „Morgenstunde hat Gold im Munde“: Steh nur früh auf, dann wird alles schon werden, erhebe dich rechtzeitig, dann kann es nicht fehlen, sei pünktlich, dann befriedigst du deinen Vorgesetzten, und der Lohn wird nicht ausbleiben. [...]. 10) Wer schweigt, handelt: Calla y haz, y con la tuya te saldrás; Calla y haz, y triunfarás; Lo que hayas de hacer, callado lo has de tener; Primero harás, y después, dirás; Obrar mucho, y hablar poco, que lo demás es de loco. Umgekehrt wird viel Reden mit Tatlosigkeit assoziiert: Viel Lärm um nichts; Bellende Hunde beißen nicht. Auf Spanisch: Perro ladrador, poco mordedor; Mucho ruido y pocas nueces; Cacarear, y no poner huevo. 11) Wer schweigt, wird reich: Un candado para la bolsa, y dos para la boca; Quien quiera ser rico, ahorre del pico; Cierra tu bolsa y no abras tu boca. 19 Das spanische Sprichwort Hacer callar es saber mandar (wörtlich ‘Jemanden zum Schweigen bringen können, bedeutet befehlen können’) zeugt von der Macht des Wortes. 20 Hervorhebung durch Fettdruck von mir. Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 175 12) Der Schweigsame kann sich als Weiser herausstellen: Ein Narr, welcher schweigt, gleicht einem Klugen. Auf Spanisch: Asno callado, por sabio es contado; El bobo si es callado, por sesudo es reputado; El ignorante que es callado, por sabio es respetado. In zahlreichen Sprichwörtern kommt die kollektive Denkweise durch, dass Frauen schweigen sollen oder dass sie nicht schweigen können. Traditionellerweise wurde die Frau in diesen Parömien für ihre Geschwätzigkeit und ihre unkontrollierte Zunge kritisiert. Beleidigende Parömien dieser Art sind heute durch die Aufwertung der Frau innerhalb der Familie und Gesellschaft und die moderne Frauenemanzipation außer Gebrauch geraten: Schweigen ist den Weibern härter als Säugen; Schweigen ist der Frauen schönstes Kleid; Schweigen ist ein Schmuck der Frauen; Kein Kleid steht einer Frau besser denn Schweigen; Für die Weiber ist Schweigen härter als Säugen; Männer sollen reden, Frauen schweigen; Schweigen steht den Weibern wohl. Mujer y perra, la que calla es buena; La mujer y el niño solo callan lo que no han sabido; Mujer callada ‘avis rara’; La mujer y la mentira nacieron el mismo día; A quien Dios le ayuda, la mujer se le queda muda. Bei all diesen alten Sprichwörtern kann die Verachtung der Frauenrede als ein Stereotyp aufgefasst werden, der seine Wurzeln bereits im Alten und Neuen Testament hat. In den Sprüchen, 21, 23 oder Jesus Sirach 21: 31-22, und im 1. Korintherbrief 14: 34-35 verbietet man der Frau die Rede in der Öffentlichkeit ausdrücklich: Wie in allen Gemeinden der Heiligen sollen die Frauen schweigen in der Gemeindeversammlung; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so sollen sie daheim ihre Männer fragen. Es steht der Frau schlecht an, in der Gemeinde zu reden. (Korintherbrief 14: 34-35). Gleichzeitig wird auch im Ephesierbrief 17: 29, im 1. Korintherbrief 11: 3, sowie im Jesus Sirach 21: 31 a 22: 1 die Unterwerfung der Frau in der Ehe angepriesen. Im Neuen Testament (1. Timotheus 2: 11-12) steht ausdrücklich: „Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still.“ B. Wenngleich die meisten Schweigen-Sprichwörter die Vorteile des Schweigens hervorheben, ist in einigen eine negative Bewertung des Schweigens dennoch festzustellen. In unserer Untersuchung wurden folgende kognitive Konzepte konstatiert: Carmen Mellado Blanco 176 1) Wer schweigt, handelt heimlich oder plant eine Rache. Nur in spanischen Sprichwörtern aufgefunden: 21 Yo que me callo, piedras apaño; Quien lo ha de hacer, no lo dice. 22 Der heimtückische Aspekt des Schweigens wird auch in der spanischen Phraseologie betont: matarlas callando, callandito, callado como una puta, callado como un zorro. In einigen spanischen Sprichwörtern wird Vorsicht vor stillen Männern empfohlen: Con el hombre (siempre) callado, ¡mucho cuidado! ; De hombre muy callado, apártate priado; Mastín que no muerde ni ladra, no le tengas en tu casa; Hay que tener cuidado del varón callado: Ni a pícaro descalzo, ni a hombre callado, ni a mujer barbada, no les des posada; Guárdate de hombre que no habla y de can que no ladra; La olla en el sonar, y el hombre en el hablar. Sánchez Sánchez (1996, S. 150) greift auf diesen Aspekt zurück und bemerkt, dass der schweigsame Mann in den spanischen Parömien entweder für verräterisch oder für dumm gehalten wird. 2) Wer schweigt, billigt etwas (Negatives): Wer schweigt, stimmt zu; 23 Wer schweigt, scheint zuzustimmen. Auf Spanisch: Quien oye y calla, consiente; Quien calla, otorga. 3) Wer schweigt und sich nicht meldet, erreicht nichts: Wer nicht schreit, geht leer aus. Auf Spanisch: Quien no llora no mama; Boca que no hablar, Dios no la oye; Quien calla, ni concede ni pide. Zum Schluss möchte ich auf eine gut vertretene Untergruppe von deutschen und spanischen Sprichwörtern hinweisen, die die Notwendigkeit des Erkennens der richtigen Zeit zu reden oder zu schweigen thematisieren, wie z. B. Es 21 Ein ähnlicher negativer Wert der schweigenden Menschen erscheint in einigen der untersuchten Textbelege mit dem deutschen Sprichwort Stille Wasser sind tief, das je nach Kontext entweder positiv oder negativ interpretiert werden kann. 22 García Yelo (2008, S. 118) behandelt in ihrem Artikel über das Schweigen in französischen und spanischen Sprichwörtern den Aspekt der Angst nach dem Motto „Man soll sich vor dem Schweigsamen fürchten“. Das spanische Sprichwort El que anda en silencio, cazar espera versprachlicht die Heimtücke des Schweigsamen, der dadurch etwas „jagen will“. Ramírez González (1992, S. 30) bemerkt in dieser Hinsicht in seinem philosophischen Essay über das Schweigen, dass der Mensch in der Regel mehr Angst vor dem Schweigsamen als vor dem Sprechenden hat, weil der erste etwas im Schilde führen kann. 23 Nach der Datenbank des EU-Projekts SprichWort wird das Sprichwort Wer schweigt, stimmt zu in Situationen gebraucht, in denen Zivilcourage oder eine bestimmte Meinungsäußerung erforderlich ist. In unserer textuellen Recherche wurden relativ viele Fälle im Zusammenhang mit dem Naziregime oder mit ausländerfeindlichen Situationen aufgedeckt, bei denen der Sprecher an die aktive Teilnahme am gegebenen Konflikt durch Handlung oder Rede appelliert. Ein anschauliches Beispiel aus dem Internet ist: „Radikalismus, ganz gleich aus Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 177 ist Zeit zu reden, Zeit zu schweigen; Schweigen tut nicht allweg gut. Auf Spanisch: Mal(o) es callar cuando conviene hablar; Vicio es callar cuando se debe hablar; No todo callar es de alabar; A veces daña el callar. 24 Fazit: Aus dem Vergleich der denotativen Bedeutung und pragmatischen Merkmale (Bewertung des Sprechers, Implikaturen) der Schweigen-Idiome mit den kognitiven Konzepten der alten Schweigen-Sprichwörter geht hervor, dass in der Parömiologie überwiegend die positive und in der Phraseologie häufiger die negative Seite des Schweigens fokussiert wird. 2. Zur pragmatischen Beschreibung von Idiomen und Sprichwörtern Die Beschreibung der pragmatischen Merkmale von Phraseologismen und Sprichwörtern anhand von Korpora stellt sowohl in den Lexika 25 (vgl. Filatkina 2007) 26 als auch in den kontrastiven Studien (vgl. Jesenšek 2010, S. 126) nach wie vor ein Desideratum dar (vgl. Mellado Blanco 2009, S. 13, 19). Die Relevanz der nichtdenotativen Bedeutung der Phraseologismen wurde bereits vor 27 Jahren von Kühn (1984, S. 45) vor Augen geführt: welcher Ecke er nun kommt, ist nicht zu dulden. Wir bewerten in unserer Redaktion jeden Tag aufs Neue, ob wir mit unserer Berichterstattung den dummen radikalen Gruppen in dieser Stadt nicht ein zu großes Forum geben. Wir haben Experten befragt, und sie alle kommen zu dem Schluss: Wer schweigt, stimmt zu.“ ( http: / / www.derwesten.de/ staedte/ unna/ kommentar/ wer-schweigt-stimmt-zu-id2342375.html , 04.01.2010). Aus kontrastiver Perspektive erweist sich der Vergleich mit den Gebrauchskontexten des spanischen äquivalenten Sprichworts Quien calla otorga als recht interessant, zudem im Spanischen den soziopolitischen Aspekten in den Kommunikationssituationen keine besondere Bedeutung zukommt. 24 Folgende spanische Sprichwörter fordern in dieser Hinsicht zum Nichtschweigen auf, besonders wenn man weise ist oder gute Ideen hat: Pensar y no decir es concebir y no parir; Quien mucho sabe, no se lo calle; Hablando se saben las cosas, y callando se ignoran; Quien calla, o ha vergüenza, o no tiene respuesta; Quien calla, no dice nada; Lo que se sabe sentir, se sabe decir. Man soll auch sprechen, um einen Glücksfall mit den anderen zu genießen: Ventura callada, de nadie envidiada; pero mal disfrutada. 25 Einige Autoren wie Hallsteinsdóttir (2006) und Hyvärinen (2004) plädieren für eine Erweiterung der kontrastiven Phraseologie in Richtung Sprachverwendung, womit die traditionelle Einschränkung der kontrastiven Linguistik auf den Vergleich von isolierten Phraseologismen aufgehoben wird: „Zweisprachige Idiomlexika sollen von Einzelkontexten abstrahierte Systemäquivalente enthalten, die […] in prototypischen neutralen Beispielen einsetzbar sind.“ (Hyvärinen 2004, S. 208). Dabei sollte man m. E. allerdings auf die Kasuistik von konkreten Übersetzungsfällen verzichten und sich auf prototypische Verwendungsweisen (vgl. Steyer 2010, S. 257) beschränken, damit die pragmatische Information nicht an Repräsentativität und Überschaubarkeit einbüßt. 26 „Pragmatische Erkentnisse haben breiten Eingang in die kontrastive Phraseologieforschung und die Theorie der Phraseographie gefunden. Es mangelt jedoch an der konsequenten praktischen Umsetzung der gewonnenen Postulate in den allgemeinen und phraseologischen Wörterbüchern.“ (Filatkina 2007, S. 152). Carmen Mellado Blanco 178 In einer konsequent handlungstheoretischen Beschreibung müsste für jeden Phraseologismus angegeben werden, welche Einstellungen mit seinem Gebrauch transportiert werden. [...] Die semantische Beschreibung von Phraseologismen gehört deshalb zu den vernachlässigten Gebieten der Phraseologie. Der damals von Kühn (1984, S. 43) konstatierte Mangel in der pragmatischen Beschreibung des sogenannten semantischen „Mehrwerts“ der Phraseologismen lässt sich auf die Parömiologie übertragen, denn Sprichwörter teilen auch Bewertungen und Implikaturen des Sprechers zum Sachverhalt mit, die im Rahmen der Sprechakttheorie näher zu beschreiben sind. 27 Aus kontrastiver deutsch-spanischer Sicht sind nur wenige Arbeiten zu erwähnen - wenn man von den Routineformeln (z. B. Sosa Mayor 2006) absieht -, die explizit auf die pragmatischen Bedeutungskomponenten der Phraseologismen oder Sprichwörter eingehen. Weitere pragmatische Angaben wie Frequenz, Stilebene oder kulturelle Konnotationen (vgl. Mellado Blanco 2007, 2010), die in der Phraseologie bei der Bestimmung von funktionaler Äquivalenz von Relevanz sind (vgl. Dobrovol’skij / Piirainen 2005, S. 75 und 77), sollten ebenso in die zweisprachige Sprichwörterforschung Eingang finden. Betrachtet man die in den aktuellen zweisprachigen Lexika als interlinguale Äquivalente dargebotenen Parömien näher, stellt man nicht selten starke interlinguale Divergenzen in der Pragmatik fest. In der digitalen Sprichwörtersammlung Refranero Multilingüe ( http: / / www cvc.cervantes.es/ lengua/ refranero ) vom Instituto Cervantes erscheinen zum Beispiel als deutsch-spanisches Äquivalenzpaar die Sprichwörter Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und La palabra es plata y el silencio es oro. Das deutsche Sprichwort gilt als sehr bekannt und geläufig und gehört somit zum parömiologischen Minimum (siehe Mieder 1998, S. X; Burger 2010, S. 121), während das spanische Sprichwort Hablar es plata, callar es oro zwar eine totale Entsprechung auf der denotativen, morphosyntaktischen und bildlichen Ebene, dennoch keine pragmatische Äquivalenz in der Frequenz aufweist. In der spanischen Sprachgemeinschaft wird das Sprichwort weder aktiv verwendet noch passiv beherrscht, was meiner Ansicht nach daran hindert, es in einem Wörterbuch als funktionales Äquivalent vom deutschen Reden ist Silber, Schweigen ist Gold zu präsentieren. 27 Zur Darstellung der illokutiven Funktionen der Phraseologismen siehe Dobos (2009), zu der von Sprichwörtern siehe Kindt (2002). Röhrich / Mieder (1977) waren einige der ersten Autoren, die sich mit den kommunikativen Funktionen der Sprichwörter beschäftigten. Kommunikative Funktionen sind ihrer Ansicht nach primär nicht argumentativ. Sie geben als kommunikative Funktionen WARNUNG , TROST , BESÄNFTIGUNG , MAHNUNG und ZU- RECHTWEISUNG an. Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 179 Demgegenüber erscheinen im allgemeinen Wörterbuch der spanischen und deutschen Sprache von Slabý et al. (2008) als spanische Entsprechungen von Reden ist Silber, Schweigen ist Gold die spanischen Parömien En boca cerrada no entran moscas, Por la boca muere el pez und Por su pico se pierde el pajarico, die auf jeden Fall einen höheren Bekanntheits- und Geläufigkeitsgrad als das weiter oben erwähnte Hablar es plata, callar es oro aufweisen, wenngleich deren morphosyntaktische Struktur und Bildlichkeit nicht miteinander übereinstimmen. 28 Als besonders interessant erweist sich in diesem Zusammenhang der kontrastive Vergleich der Implikaturen der Sprichwörter in prototypischen Kontexten und Gebrauchssituationen der zu analysierenden Sprachen. Für einen potenziellen Benutzer der Parömien in der fremden Sprache ist diese Information von großem Nutzen, denn sie erlaubt die korrekte Einbettung der Sprichwörter in die Rede. Fragen des Typs - Ist die Sprechereinstellung zu einem gegebenen Sprichwort überwiegend positiv oder negativ? - Welche illokutiven Funktionen werden von einem Sprichwort primär ausgeübt? sind für den Fremdsprachler von Relevanz, wenn er die Parömie aktiv benutzen will. Obwohl solche Aspekte stark kontextabhängig sind, kann man dennoch generalisierende Gebrauchstendenzen aus einer Reihe von Textbelegen abstrahieren und systematisieren, wie durch folgende empirische Studie bewiesen wird. 3. Empirische Studie. Pragmatische Funktionen der interlingualen Äquivalente Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und En boca cerrada no entran moscas Anhand eines aus Textbelegen zusammengestellten Korpus sollen im Folgenden das textuelle Verhalten und die pragmatischen Funktionen der interlingual äquivalenten Sprichwörter Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und En boca cerrada no entran moscas ausführlich dargestellt werden. Für das Deutsche wurden die Textbelege folgenden Quellen entnommen: - DeReKo (327 Belege) - Süddeutsche Zeitung vom 10.10.2000 bis 10.09.2010 (inkl. SZ-Magazin) ( http: / / suche.sueddeutsche.de ) (49 Belege) 28 Solche Aspekte sind für die Bestimmung der funktionalen Äquivalenz nicht entscheidend, sie können dennoch Folgen für den Typ der Modifikationen in der jeweiligen Sprache mit sich bringen. Carmen Mellado Blanco 180 - ZEIT -Korpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache ( DWGS ) ( http: / / www.dwds.de ) (22 Belege) - Google (auch Stern, Spiegel, Wirtschaftszeitungen) ( http: / / www.google.de ) (43 Belege) - Internetforum ( http: / / www.netzwelt.de.Forum ) (44 Belege) Textquellen für das Spanische: - CREA ( http: / / www.corpus.rae.es/ creanet.html ) (7 Belege) - El País ( http: / / www.elpais.com ) vom 10.10.1990 bis 10.10.2010 (7 Belege) - ABC ( http: / / www.hemeroteca.abc.es ) vom 10.10.1990 bis 10.10.2010 (45 Belege) - Google ( http: / / www.google.es ) (323 Belege) - Internetforen (verschiedene) (44 Belege) Grundfragen, die meiner Ansicht nach in die Untersuchung der pragmatischen Funktionen der Parömien gehören, sind folgende: - Üben die gegebenen Sprichwörter in den untersuchten Texten eine argumentative oder eher eine kommunikative Funktion aus? - Neigen sie in der konzeptionellen Schriftlichkeit und Mündlichkeit zu Modifikationen oder nicht? Um diese Fragen angemessen beantworten zu können, sollte man sein Augenmerk auf Ausdifferenzierung zwischen „konzeptioneller Mündlichkeit“ und „konzeptioneller Schriftlichkeit“ (Stein 2007) legen. Die konzeptionelle Mündlichkeit ist nicht unbedingt an das orale Medium gebunden, denn man kann sich schriftlich, z. B. in Internetforen oder Privatbriefen, ähnlich wie in der mündlichen Rede ausdrücken, und die konzeptionelle Schriftlichkeit kann auch in mündlicher Form, wie z. B. in Fachvorträgen, erscheinen. Beiden medialen Ausprägungen kann man typische Funktionen zuschreiben, denn die konzeptionelle Schriftlichkeit dient vorwiegend monologisch der Vermittlung objektiver Erkenntnisse, während bei der konzeptionellen Mündlichkeit eher dialogische, interaktive Kommunikationsbedingungen, Vertrautheit mit dem Gesprächspartner und Affektivität üblich sind. Bei den Versprachlichungsstrategien sind beispielsweise Vorläufigkeit, einfache Lexik und die Verwendung von Partikeln und Parataxen typisch. Entsprechend der in der schriftlichen Gegenwartssprache zu konstatierenden Vermündlichungstendenzen (Stein 2007, S. 234) weisen einige schriftliche Textsorten wie Internetforen oder bestimmte Zeitungstexte typische Merkmale und Funktionen Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 181 der Mündlichkeit auf, was durch die vorliegende Untersuchung erhärtet werden konnte (siehe Kap. 3.1.3). Da Sprichwörter als Vertreter der kommunikativen Phraseme aufgefasst werden (vgl. Stein 2007, S. 226), werden sie traditionellerweise mit der Oralität verbunden. Bis Mitte des 20. Jhs. übten Sprichwörter in der mündlichen Rede eine lehrhaft-moralische oder eine wissensstrukturierend-argumentative Funktion aus (vgl. Burger 2010, S. 118). Demgegenüber werden Sprichwörter in der mündlichen Rede gegenwärtig nicht mehr zu einem lehrhaft-moralischen Zweck, sondern eher argumentativ gebraucht, um beispielsweise eine Äußerung oder Meinung zu stützen oder zu rechtfertigen. Das konnte in meiner Analyse in erster Linie anhand der Internetforen festgestellt werden, deren Sprachmerkmale sich der Eigenschaften der mündlichen Rede stark annähern (dazu auch Nahberger 2004). 29 Hält man sich die unterschiedlichen funktionellen Eigenschaften der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit vor Augen, gilt folgendes Zitat Burgers (2010, S. 118) eher für die Domäne der Schriftlichkeit. Wie oben gesagt, werden Sprichwörter in der konzeptionellen Mündlichkeit weiterhin argumentativ, um die eigene Meinung zu verstärken, 30 benutzt: Dass Sprichwörter argumentativ verwendet werden, indem sie als Stütze für Argumente oder Begründung für Handlungen dienen, steht beim heutigen Sprichwort-Gebrauch sicherlich nicht mehr im Vordergrund. In älteren Texten jedoch ist gerade dies ein zentraler Funktionsbereich des Sprichwortes. Nach Lewandowska / Antos (2004, S. 171f.) ist der Domänenwechsel der Sprichwörter durch deren Benutzung in den Massenmedien bedingt: Stand in mündlichen Gesellschaften die wissensorganisierende Funktion im Vordergrund, wandelten sich Sprichwörter in literalen Kulturen u. a. zu Mitteln 29 In der Arbeit Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer ‒ eine empirische Untersuchung zur Bedeutungsgenerierung und illokutionären Schlagkraft von Sprichwörtern untersucht Nahberger den Sprichwortgebrauch von 16-23-jährigen Gymnasialschülerinnen anhand von schriftlichen Tests. Der Autor kommt dabei zu dem Schluss, dass Sprichwörter dazu dienen, „Innovationen sprachlich zu bewältigen durch Einsortieren und Einordnen des Neuen in den konventionalisierten Wertevorrat einer Gesellschaft“ (Nahberger 2004, S. 230). 30 In einigen Textbelegen von konzeptioneller Mündlichkeit wie Erzählungsdialogen konnte zwar eine argumentative Funktion des Sprichworts Reden ist Silber, Schweigen ist Gold konstatiert werden, aber der Sprecher animiert dabei nicht zum Schweigen (wie das übliche kognitive Konzept des Sprichworts lautet), sondern zum Reden auf, wie im folgenden Beispiel für fingierte Mündlichkeit in einem Dialog ersichtlich wird: Reden ist Silber, ist klar, aber du redest zu wenig, sagt Paola, warum redest du so wenig? , sagt sie, rede mit mir, du musst mehr mit mir reden. Jawohl, sage ich. Aber ich habe Tage, da kann ich nicht reden, da ist mein Mund wie zugenäht, verflixt! , und es kann nichts heraus“. (SZ-Magazin, 02.02.2001, Das Beste aus meinem Leben, von Axel Hacke). Carmen Mellado Blanco 182 der moralischen Erziehung und - seit der Romantik - zu bevorzugten Mitteln der Verdeutlichung von nationaler Identität. Heutzutage sind Sprichwörter zu Mitteln der „Alltagsrhetorik“ u. a. in der Werbung, in der Politik, und vor allem, in den Massenmedien geworden. Dass Sprichwörter in der Gegenwart die argumentative Funktion in der konzeptionellen Schriftlichkeit stark eingebüßt haben, hängt tatsächlich eng damit zusammen, dass deutsche Parömien heute schriftlich eher in modifizierter Form benutzt und damit mit einer stark kommunikativen Funktion in Form von Implikaturen versehen werden. Bei diesem Usus werden der Autoritätswert und die wahrhafte Botschaft der Sprichwörter oft in Frage gestellt und relativiert, wobei sich der Textverfasser mit der aktuellen Allgemeingültigkeit der parömiologischen Wahrheiten auseinandersetzt und dabei eine gewisse Rebellion gegen die altüberlieferten Denkweisen ausdrückt. Obwohl diese Einstellung nicht neu ist, 31 ist die Infragestellung der in den Sprichwörtern kondensierten moralischen Botschaft ein Phänomen, das heutzutage ein starkes Ausmaß angenommen hat und mit der Demokratisierung der europäischen Bevölkerung und der neuen Einstellung zur Autorität seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einhergeht. Nach Mieder (1998, S. VIII-IX) zeigt sich hier „die offensichtliche Befreiung von allzu einseitiger Tugend- und Morallehre, die dem traditionellen Sprichwort anhängt“. Die kritische Auseinandersetzung mit Sprichwörtern aufgrund ihrer moralischen Funktion hat also soziopolitische und -kulturelle Gründe (vgl. Burger 2010, S. 117). Andererseits entspricht der Inhalt einiger Sprichwörter dem Wertesystem der aktuellen Gesellschaft nicht mehr, wie es bei vielen Parömien über die Frauenrolle geschieht, was dazu führt, dass der moderne Mensch sich der in den Sprichwörtern enthaltenen Handlungsanweisungen nicht mehr bedient, weil er sie für obsolet hält. In solchen Fällen ist die altüberlieferte „soziale Funktion“ 32 (Grzybek 1984, S. 225) der Sprichwörter nicht mehr aktuell und deren Eigenwert sehr gering, wie Umurova (2005, S. 141) anmerkt: Sprichwörter gelten als kontextfrei als allgemein gültige und praktische Lebensweisheiten, die vernünftige Handlungsanweisungen widerspiegeln. Ihr Eigenwert ist jedoch sehr gering, da der moderne Mensch Handlungsanweisungen oder Lebensweisheiten kaum mehr aus dem überlieferten Sprichwortschatz schöpft. 31 Der spielerische Umgang mit den Sprichwörtern wurde schon von Georg Christoph Lichtenberg in der Aufklärungszeit (siehe Mieder 1998, S. V) und von Johann Peter Hebel am Anfang des 19. Jhs. (siehe Burger 2010, S. 114) praktiziert. Sowohl Philosophen als auch Schriftsteller haben früh „die Einseitigkeit und Beschränktheit vieler Sprichwörter“ erkannt (Mieder 1998, S. V) und sie in deren Form und Inhalt manipuliert. 32 Sprichwörter können als „Formulierungen von Überzeugungen, Werten und Normen gelten, die in einer bestimmten Kultur und Zeit soziale Geltung beanspruchen“ (Burger 2010, S. 107). Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 183 3.1 Textuelles Verhalten des Sprichworts Reden ist Silber, Schweigen ist Gold 3.1.1 Textuelle Funktionen Die Parömie Reden ist Silber, Schweigen ist Gold ist in das kognitive Oberkonzept ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN einzuordnen, das metaphorisch durch folgende Inferenzkette entstanden ist: Gold ist weniger kostbar als Silber → Reden ist weniger gut als Schweigen → ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN . Nach unserer empirischen Untersuchung lassen sich in der Gegenwartssprache folgende gebrauchsspezifische Merkmale des Sprichworts beobachten: A. Sowohl die moralische Botschaft ( ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN ) als auch die lehrhafte Funktion des Sprichworts werden ausdrücklich durch metasprachliche Kommentare in Frage gestellt. Der Sprichwortinhalt wird als Diskussionsthema unter die Lupe genommen und hinterfragt: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, heißt ein bekanntes Sprichwort. In der Arbeitswelt müsste man es umdrehen. Wenn Mitarbeiter Ideen für sich behalten und nur Dienst nach Vorschrift machen, weil die Kommunikation nicht stimmt, ist es das Schweigen, das teuer ist. Wenn es einmal so weit ist, hilft nur noch ein Rat, den auch Paar-Therapeuten in Krisen geben: Trennt euch oder redet miteinander! (Süddeutsche Zeitung, 07.05.2007) „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, sagt das Sprichwörterbuch, aber wie alle Wörterbücher drückt es nur die Weisheit aus, und die Weisheit ist nicht die öffentliche Meinung. Die Unterhaltung ist deshalb einer der wichtigsten Punkte der französischen Erziehung. (Die ZEIT online, 20.05.1966) In der Werbung ist die Verneinung der Sprichwort-Botschaft ein recht produktives Mittel mit Appellfunktion: Durch die Bezweiflung des Autoritätswertes der Parömie wird die Aufmerksamkeit auf das geworbene Marktprodukt erfolgreich gelenkt. Bei unserem Sprichwort büßt durch diese Technik das kognitive Konzept ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN seine Allgemeingültigkeit ein: Reiseknigge Hotel - Beehren Sie uns bald wieder! Ein anderes Sprichwort taugt jedoch überhaupt nichts für den Hotelaufenthalt: Reden ist Carmen Mellado Blanco 184 Silber, Schweigen ist Gold. Wenn Sie ein Problem haben oder sich ärgern, wenden Sie sich bestimmt, aber höflich, an uns. (Süddeutsche Zeitung, 26.02.2009) Ein Sprichwort behauptet: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Wir beweisen Ihnen diese Woche das Gegenteil: Telefonieren ist auch Gold. (Süddeutsche Zeitung, 13.04.2006) B. Bei einigen Textbelegen erscheint eine Implikatur KRITIK seitens des Sprechers, wobei er sich vom in der Äußerung ausgedrückten Sachverhalt distanziert. Der Sprecher kritisiert, dass jemand sich irrtümlicherweise an das Sprichwort gehalten und deshalb falsch gehandelt hat. Statt zu schweigen sollte also der Agens der Handlung - nach der Meinung des Sprechers - lieber sprechen. In dieser Hinsicht könnte man behaupten, dass sich die soziale Funktion des Sprichworts in seinem aktuellen Gebrauch zu seinem Gegenteil umgewandelt hat. Die Aldi-Gründer Karl und Theo Albrecht stehen in dem Ruf, die „Geheimniskrämer der Nation“ zu sein. Jetzt zerrt eine neue Offenlegungspflicht den Albrecht-Brüdern den „Mantel des Schweigens“ ein Stück von den Schultern. Während andere Konzerne mit dicken Gewinnen protzen, hielten sich die erfolgreichen Unternehmer aus dem Ruhrgebiet an das Sprichwort „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Mehr als vier Jahrzehnte sickerte keine einzige Unternehmenszahl aus dem Aldi- Imperium durch. Jetzt zerrt eine neue Offenlegungspflicht den Albrecht-Brüdern den „Mantel des Schweigens“ ein Stück von den Schultern. Rund drei Viertel der insgesamt mehr als 60 selbstständigen Aldi-Regionalgesellschaften in Deutschland mussten inzwischen im Bundesanzeiger ihren Jahresabschluss veröffentlichen. ( http: / / www.manager-magazin.de , 24.01.2002) Wie immer bei Gewerkschaften, wenn es um das Kehren vor der eigenen Haustür geht, besinnt man sich im DGB-Haus auf die Devise „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Den souveränen Umgang mit eigenen Problemen haben deutsche Gewerkschaften nie gelernt. So ist es kein Wunder, daß auch in diesem Fall die zuständigen Stellen unerreichbar in Sitzungen, auf Dienstreisen oder einfach nicht am Schreibtisch sind. (Die Zeit, 1979) Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 185 In den oben angeführten Ausschnitten bleibt die Sprichwortform zwar unverändert, seine Bedeutung aber hängt vom konkreten Gebrauch im situativen Kontext ab. Das Sprichwort ist kontextuell - unter Bewahrung der morphosyntaktischen Form - zu seinem logisch-semantischen Gegenstück geworden. Nach Umurova (2005, S. 14) ist gerade die textuell-semantische Anpassungsfähigkeit der Parömien unter Bewahrung ihres tradierten Wortlauts eine ihrer wichtigsten Eigenschaften in der Gegenwartssprache. Die im Text ausgedrückten illokutiven Funktionen der Parömie Reden ist Silber, Schweigen ist Gold sind außer KRITIK : AUFFORDERUNG , WAR- NUNG , RATSCHLAG , BELEHRUNG , RECHTFERTIGUNG und ZURECHT- WEISUNG . C. Das kanonische Sprichwortkonzept von Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, nämlich ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN wird in ungefähr der Hälfte der formell nicht modifizierten Fälle nicht hinterfragt. Die Allgemeingültigkeit des Sprichworts spiegelt sich im Text durch Verstärkungssätze wie da trifft dieser Spruch zu u. Ä. wider: Allianz-Dresdner-Gruppe und die HypoVereinsbank legten sich bei Holzmann quer. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, heißt es oft. Es gibt Situationen wie bei Holzmann, da trifft dieser Spruch zu. (Süddeutsche Zeitung, 16.03.2002) Reden ist Silber... - Die Deutsche Bank soll schweigen - Vergangene Woche haben in der Welt nebeneinander ein Werbeberater und ein Volkswirt an die Adresse der Europäischen Zentralbank den gleichen Rat gerichtet, nämlich: weniger zu reden oder gar „notorisch zu schweigen“. So weit, so gut. Noch besser wäre es gewesen, die beiden Autoren hätten auch geschwiegen. (Die Zeit, 25.02.2000) 3.1.2 Formale Modifikation der Parömie Reden ist Silber, Schweigen ist Gold Die konzeptionelle Schriftlichkeit zeichnet sich im Gegensatz zur konzeptionellen Mündlichkeit durch Planungsaufwand und Komplexität aus (vgl. Koch / Österreicher 1985, S. 21-24), weshalb sie einen reicheren Nährboden für den kreativen Umgang mit Sprichwörtern und metasprachlichen Reflexionen des Sprechers als die konzeptionelle Mündlichkeit darstellt. Die Tendenz zum modifizierten Gebrauch wird auch in meiner Untersuchung deutlich. Es lässt sich ein häufigerer Gebrauch der Parömie in modifizierter als in origineller Form beobachten. Modifikationen tragen in starkem Maße zur Vitalität der Carmen Mellado Blanco 186 Sprichwörter in der Schriftlichkeit bei. Die Vitalität des Sprichwortgebrauchs zeigt sich wesentlich „in einem Struktur- und Funktionswandel des Phänomens“ (Lewandowska / Antos 2004, S. 171), das dadurch bedingt ist, dass kanonische Sprichwörter - besonders in den Massenmedien - heute zunehmend „modifiziert, variiert, karikiert oder teilweise neue bzw. andere Spruchformen erweitert“ (ebd.) werden. In den Massenmedien spielen Sprichwörter eine besondere Rolle, indem sie dort in salienten textuellen Positionen wie Titel oder Schluss erscheinen. Sowohl formale als auch inhaltliche Abwandlungen zeugen also von einer noch starken Präsenz der Sprichwörter im kollektiven Bewusstsein der deutschen Sprachgemeinschaft. Dieses Faktum wurde in der Untersuchung von Grzybek (1991) nachgewiesen, nach der Sprichwörter aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades in der gesamten Bevölkerung keineswegs ein „sinkendes Kulturgut“ darstellen. Nach der Ansicht Mieders (1997, S. 162) greifen moderne Menschen noch zu Sprichwörtern, weil sie unverändert „als symbolische Zeichen wahr und sinnvoll sind, da sie alltägliche Gewohnheiten und Erfahrungen beinhalten“. Außer der Kontinuität der Sprichwörter dienen Modifikationen ebenso zur Darstellung der Kreativität und individuellen Originalität des Textverfassers: „Entgegen ihrem Ruf als typische ‘kollektivische’ Sprachformen werden Sprichwörter zunehmend auch zur Selbstdarstellung, zur Unterhaltung, ja zur Erzeugung von Originalität verwendet“ (Lewandowska / Antos 2004, S. 174). Lüger (1999, S. 161ff.) spricht in diesem Zusammenhang von der „Funktion der Aufmerksamkeitssteuerung“ der Sprichwörter, da sie als Appell an den Rezipienten fungieren und der Funktion der „Selbstdarstellung“ dienen, weil der Autor sich durch die Modifikationen als Schöpfer profilieren will. Die pragmatische Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Sprichworts Reden ist Silber, Schweigen ist Gold lässt sich durch seine formalen Modifikationen durch Substitution oder Erweiterung nachweisen: 33 A. Formales Schema: Reden ist Silber, X ist Gold (X = Handeln, Debattieren, Fasten, SMSen, Wissen, Zeigen, Zuhören, …) Sprichwortkonzept: REDEN IST GUT, X IST BESSER nach dem Modell des kanonischen Sprichwortkonzepts ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN . 33 Die im Werk Mieders (1998, S. 232-239) angeführten 61 „Antisprichwörter“ von Reden ist Silber, Schweigen ist Gold veranschaulichen ähnliche Modifikationen wie die Textbelege aus unserem Korpus. Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 187 Durch die Modifikation wird der Rezipient des Textes zu einer bestimmten Handlung (X) animiert. In der Aussage besteht in Wirklichkeit keine Anspielung auf das Schweigen. Das Sprichwort fungiert eher als produktives Argumentationsschema, durch das die Modifikation als neuer Slogan entsteht. Interessant bei den Implikaturen der modifizierten Sprichwörter ist die Tatsache, dass die Abweichung das gleiche zweigliedrige Strukturmodell wie das kanonische Sprichwort aufweist und dass das neu zu erschließende Konzept durch die Botschaft des kanonischen Konzepts bedingt ist (vgl. Lewandowska 2008, S. 137). Das neue Sprichwortkonzept steht hierbei in einem partiellen Gegensatz zum Wortlaut des Slogans und hat einen dynamischen Charakter, weil es in jedem konkreten Fall neu durch das zu substituierende Wort definiert wird. Wahl der Miss Universe in Las Vegas. Reden ist Silber, Winken Gold. (Süddeutsche Zeitung, 17.08.2010) [...] Festtag ist für den politischen Hahnenkampf, und weil hier die eiserne Spielregel gilt: Reden ist Silber, Schreien ist Gold. Das ist in diesem Jahr von besonderem Reiz. (Süddeutsche Zeitung, 02.03.2006) Reden ist Silber, Handeln ist Gold. 34 Die Nato-Verbündeten sprechen wieder miteinander, doch damit ist die Allianz noch nicht gerettet. (Süddeutsche Zeitung, 22.04.2005) Merci Cherie - Deutscher Fernsehpreis: Es war kein sehr gutes Filmjahr - aber Udo Jürgens spielt auf [...] Sport siegte Carsten Sostmeier ( ARD ), weil er so schön über Dressurreiten sprechen kann. „Reden ist Silber“, sprach er, „Reiten ist Gold“. (Süddeutsche Zeitung, 11.10.2004) Reden ist Silber, Zeigen ist Gold. In Cannes konkurrieren gerade die besten Werbespots der Welt. (Süddeutsche Zeitung, 21.06.2004) Reden ist Silber, Zuhören ist Gold. Führungskräfte und Angestellte sollen heute vor allem kommunizieren können - doch die Flut von Informationen 34 Das modifizierte Sprichwort Reden ist Silber, Handeln ist Gold erreicht in unserem Korpus eine bedeutende Frequenz, was es nicht mehr als reinen Okkasionalismus betrachten lässt. Vor diesem Hintergrund sollte man sich fragen, ob diese modifizierte Variante durch den rekurrenten Usus zu einem selbständigen Sprichwort werden kann oder vielleicht schon geworden ist: Am 31.01.2011 wurden in Google 11 300 Treffer dieser Variante aufgefunden. Die Modifikation Reden ist Silber, Handeln ist Gold basiert auf der Idee der Gegenüberstellung von Worten und Taten, die sowohl in der Parömiologie als auch in der Phraseologie hoch produktiv ist (vgl. Mellado Blanco i. Dr.). Carmen Mellado Blanco 188 in Mails und Meetings verdrängt eine Tugend, die wesentlich mehr bewirkt: das Zuhören. ( http: / / www.wiwo.de , 05.04.2010) SEXGEFLÜSTER : Reden ist Silber - machen ist Gold! Forum: Diskutieren Sie mit Kolumnistin Hannah Garbaty und plaudern Sie mit anderen. ( http: / / www.stern.de/ lifestyle/ liebesleben/ sexgefluester-reden-ist-silber-machen -ist-gold-72371.html , 13.08.2001) Das nach dem formalen Schema Reden ist Silber, X ist Gold modifizierte Sprichwort dient zur Aufwertung von X, weshalb es oft in der Werbung als Reklame herangezogen wird: Immer mehr Jugendliche erliegen dem Lockruf der Mobiltelefone: „Ohne mein Handy fühle ich mich nackt“. Die alltägliche Verführung. Jeder redet überall und jederzeit mit jedem, die Kosten sind gewaltig - Warum junge Menschen zunehmend über ihre finanziellen Verhältnisse leben [...] Doch Reden ist Silber, Smsen ist Gold. SMS-Nachrichten begeistern die Mädchen am meisten, als geniale Kombination von Brief und Telefonat. (Süddeutsche Zeitung, 11.12.2003) Der Titel lautete Big Diet, das Versprechen hieß „Reden ist Silber, Fasten ist Gold“, und der hoffnungsvolle Sender war Sat 1. (Süddeutsche Zeitung, 22.08.2001) Debatte „Reden ist Silber - Debattieren ist Gold“ - unter diesem Motto wird vom 14. bis 16. November 2003 in München die 3. Turnierserie der „ZEIT Debatten“ unter der Schirmherrschaft von Dr. Hans-Jochen Vogel eingeleitet. ( http: / www.zeit.de/ medica , 30.10.2003) Die oben zitierten Textbelege zeigen die direktiven illokutiven Funktionen EMPFEHLUNG , RATSCHLAG oder AUFFORDERUNG . Unsere Ergebnisse bestätigen die Untersuchung Umurovas (2005, S. 142), nach der bei den traditionellen Sprichwörtern die direktive illokutive Funktion am häufigsten vorkommt. Sprichwörter in dieser Funktion sind darauf ausgerichtet, die Leser zu beeinflussen und sie aufzufordern, etwas zu tun, sich zu etwas zu entscheiden oder eine Meinung zu vertreten. Es sind gerade die kollektive Erfahrung und die Autorität, die im Sprichwort schweben, die vom Textverfasser als Kaufanreiz und Garant aufgerufen werden. Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 189 B. Formales Schema: Reden ist Silber, Schweigen ist X. (X = etwas Schlechtes) Sprichwortkonzept: REDEN IST GUT, SCHWEIGEN IST X Bei dieser Modifikation wird der Wert des Schweigens bei einem bestimmten Sachverhalt kritisiert. Bei der Substitution der Sprichwort-Konstituente Gold durch ein anderes Lexem wird meistens eine implizite KRITIK am Schweigen von jemandem ausgeübt, z. B. Schweigen kostet Geld, Schweigen ist Dummheit, wodurch ein „Anti-Sprichwort“ im Sinne Mieders 35 (1985, S. X) entsteht. Reden ist Silber, Schweigen kostet Geld: Das Amtsgericht München hat die Inhaberin eines Wellness- und Beauty-Centers zu Schadenersatz verurteilt, weil sie eine Kundin nicht richtig aufgeklärt hat. „Auch das Verschweigen von Tatsachen kann die Aufklärungspflicht verletzen“, sagte die Amtsrichterin. (Süddeutsche Zeitung, 17.04.2007) Wer schweigt, verliert. Zivilprozess um eine kaputte Jacke: Der Beklagte ignoriert ein Schreiben des Gerichts und muss zahlen. Reden ist Silber, Schweigen ist Dummheit: Wer in einen Zivilprozess verwickelt wird und nach der Devise „Mund halten und nicht auffallen“ verfährt, hat schon verloren. [...] Diese Erfahrung musste der frühere Besitzer einer Wäschereinigung machen, der für einen Fehler seines Nachfolgers 230,72 Euro Schadenersatz bezahlen muss. (Süddeutsche Zeitung, 06.09.2005) Ein besonderer Modifikationsfall ist im nächsten Textbeleg vertreten, in dem die Substitutionskonstituente X eine zu bewerbende Marke ist und infolgedessen einen positiven Wert hat. Durch das Schweigen wird auf den Umgang mit dem Computer ohne Vorwissen hingedeutet. Reden ist Silber, Schweigen ist Apple. Wie Konzerne im Informationszeitalter mit der Verknappung von Wissen ihren Wert steigern. (Süddeutsche Zeitung, 05.04.2008) 35 Das „Antisprichwort“ ist ein von Mieder geprägter Terminus, der sich auf Abwandlungen und Erweiterungen von bekannten Sprichwörtern bezieht, die gegen diese formuliert sind (siehe Mieder 1985, S. X). Carmen Mellado Blanco 190 C. Formale Modifikationen durch Erweiterung Im folgenden Beispiel wird durch die adverbiale Erweiterung die Reliteralisierung des Satzgliedes Reden ist Silber erreicht, denn durch den Lippenstift wird eine silbernde Lippenfarbe erzeugt: Schaufenster. Reden ist Silber mit dem neuesten Lippenstift von Dianne Brill. (Süddeutsche Zeitung, 14.07.2004) Die formale und logisch-semantische Struktur des Sprichworts Reden ist Silber, Schweigen ist Gold entspricht dem „Topos des Mehr oder Minder“ als Aspekttopos (Wirrer 2007; 1999, S. 424), oder dem sogenannten „Konsequenztopos“ (siehe Kap. 3.2.2). Der Konsequenztopos dient als Argumentationsmodell für Antisprichwörter zu Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, bei denen die Qualität des bezeichneten Metalls den Wert der durch das Verb ausgedrückten Alternativhandlungen bestimmt. So tritt z. B. Blech Oppositionsglied zu Gold und Silber in folgenden Textbelegen ein: Außenansicht. Vorrang der Arbeit vor dem Kapital. Die Rosinenpickerei klappt nicht. Löhne wie in Kasachstan und Kaufkraft wie in Düsseldorf funktioniert nicht. Besinnung auf allen Seiten ist angesagt! Für die SPD jedoch gilt „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Reden ist Silber, Handeln ist Gold. Hartz IV ist Blech. (Süddeutsche Zeitung, 02.05.2005) Reden ist Silber, Handeln ist Blech. Münteferings Kapitalismuskritik hat berauschende Wirkung - und was kommt nach dem Rausch? (Süddeutsche Zeitung, 28.04.2005) 3.1.3 Das Sprichwort Reden ist Silber, Schweigen ist Gold in Internetforen Für die Untersuchung des textuellen Verhaltens und der Funktionen des Sprichworts Reden ist Silber, Schweigen ist Gold in der konzeptionellen Mündlichkeit wurde davon ausgegangen, dass die Textsorte ‘Internetforen’ aufgrund ihres spontanen, direkten und dialogischen Sprachstils als guter Vertreter der Nahsprache und der konzeptionellen Mündlichkeit gilt. 36 Vor diesem Hintergrund 36 Parallelen zwischen den Chats und mündlichen Gesprächen werden von Beißwenger (2003) festgestellt. Wenngleich die Dialoge in den Foren - anders als in den Chats - nicht hundertprozentig synchron verlaufen, sind viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Internettextsorten zu konstatieren. Nach Kleinberger Günther (2006, S. 229) bestehen Chats mehrheitlich „aus spontan verfassten kurzen schriftlichen Texteinheiten, die in einem meist öffentlich zugänglichen Format erfasst dargestellt sind“; die „konsequente schriftliche Darstellung“, Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 191 wurde zur Analyse der Sprichwortfunktionen in der Mündlichkeit auf geschriebene Texte aus Internetforen - hauptsächlich aus der Webseite http: / / www. netzwelt.de.Forum - zurückgegriffen, zumal die Aufnahme und Bewertung von mündlichen Gesprächen mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden ist. Im Web ist der Gebrauch von Phraseologismen relativ hoch, was durch die Untersuchung von Kleinberger Günther (2006, S. 237) bei Idiomen und Parömien in Chats nachgewiesen wird: „Sie sind (häufig) als Allgemeinplätze allen verständlich, aufschlüsselbar und von einer überindividuellen Wertigkeit umgeben, die nicht hinterfragt werden muss.“ Der typisch expressive Charakter der Phraseologismen und Sprichwörter entspricht dem Bedürfnis nach Verringerung der Distanz in der konzeptionellen Mündlichkeit. Aus der Analyse der Textbelege aus Internetforen lassen sich gewisse Gebrauchstendenzen des deutschen Sprichworts Reden ist Silber, Schweigen ist Gold in der konzeptionellen Mündlichkeit systematisieren: 1) In der Sprache der untersuchten Internetforen wird von formalen oder semantischen Modifikationen kaum Gebrauch gemacht, wodurch die kommunikative Funktion längst nicht so ausgeprägt wie in der konzeptionellen Schriftlichkeit zur Erscheinung kommt. Die konzeptionelle Mündlichkeit zeichnet sich im Gegensatz zur konzeptionellen Schriftlichkeit durch weniger Planungsaufwand und Komplexität aus (vgl. Koch / Österreicher 1985, S. 21-24), weshalb sie einen nicht so reichen Nährboden für den kreativen Umgang mit Sprichwörtern und metasprachlichen Reflexionen des Sprechers wie die konzeptionelle Schriftlichkeit darstellt. Das wird in meiner empirischen Analyse bestätigt. 2) Der Textverfasser hinterfragt die Wahrheit des Sprichworts nicht. 3) Die pragmatische Hauptfunktion des Sprichworts in den Internetforen ist argumentativ: Der Sender verwendet das Sprichwort, um seine eigene Meinung zu verstärken oder eine Äußerung argumentativ abzurunden. „das zugrunde liegende dialogische Prinzip“ und die „annährende Gleichzeitigkeitsprinzip bei der Produktion und Rezeption“ seien weitere relevante Merkmale dieses modernen Kommunikationsmittels. Darüber hinaus darf man nicht pauschal behaupten, dass in Webtexten nur Phraseologismen auftreten, die an die mündliche Kommunikation angelehnt sind. Nach der Untersuchung von Quasthoff / Schmidt / Hallsteinsdóttir (2010, S. 47) erweisen sich lediglich 54% der im Web erscheinenden Phraseologismen als typisch mündlich, was darauf zurückzuführen sei, dass in dieser Textsorte auch zahlreiche juristische Wendungen und Phraseologismen aus ernsthafter Korrespondenz auftauchen. Nach der empirischen Analyse dieser Autoren unterscheiden sich Zeitungs- und Webtexte bezüglich der Frequenz von mündlich geläufigen Phraseologismen kaum voneinander (ebd.). Carmen Mellado Blanco 192 Die argumentative Funktion wird durch den Gebrauch von Konnektoren bestätigt. Die parömiologischen Konnektoren der Internetforen dienen dazu, die Sprichwörter in den Text reibungslos einzuführen und sie dann mit dem Textinhalt zusammenhängend zu verknüpfen. Im gewissen Sinne ersetzen sie die außersprachlichen Steuerungssignale der mündlichen Kommunikation wie Mimik, Intonation oder Körpersprache, die bei der Verwendung von Sprichwörtern sonst unbewusst eingesetzt werden. 37 Als Konnektoren erscheinen Lexeme wie schließlich, doch, denn, feste Phrasen des Typs nach dem Motto und feste Sätze wie sagt eine Volksweisheit, heißt ein Sprichwort, das Sprichwort hat sich wieder einmal bewahrheitet, usw. 38 Die feste Phrase ich sag nur weist als Konnektor eine auffällige Frequenz in der konzeptionellen Mündlichkeit auf. Einige Beispiele mit parömiologischen Konnektoren aus der Internetseite http: / / www.netzwelt.de.Forum sind folgende: Ich sag nur, Reden ist Silber... Oder was glaubst Du, wie viele Briefe mit dem Inhalt UE er OHNE Poststempel bekommt. ( http: / / www.netzwelt.de.Forum , 27.08.2010) Meiner Meinung nach ist Ignorieren noch die beste Reaktion, denn: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. ( http: / / www.netzwelt.de.Forum , 16.07.2009) - Also auf deutsch gesagt, ich soll einfach nichts tun? - Die Antwort darauf wäre unerlaubte Rechtsberatung, also sag ich es mal so. Noch nie hat jemand in vier Jahren Nutzlosabzocke zahlen müssen, der den Spruch beherzigt hat: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. ( http: / / www.netzwelt.de.Forum , 14.12.2009) „Reden ist Silber ... Schweigen ist Gold“ Also lasst den Kopf nicht hängen. Ich grüße euch alle. ( http: / / www.netzwelt.de.Forum , 12.09.2010) 37 Das Thema der außersprachlichen Signale bei der Verwendung von Parömien in der mündlichen Kommunikation wurde meines Wissens bis jetzt noch nicht untersucht. Sowohl auf Deutsch als auch auf Spanisch werden Sprichwörter durch Intonationsvariation im Redefluss signalisiert. 38 Zu Sprichwortkonnektoren vgl. die Arbeiten von Dobrovol’skij / Lûbimovâ (1993); Durčo (2002) und Umurova (2005, S. 133). Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 193 3.2 Textuelles Verhalten des Sprichworts En boca cerrada no entran moscas 3.2.1 Textuelle Funktionen Von den spanischen Äquivalenzmöglichkeiten zu Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, die in den deutsch-spanischen Lexika vorgeschlagen werden (siehe u. a. Schemann / Mellado et al. 2012), ist die Parömie En boca cerrada no entran moscas (wörtl.: ‘In einen zugehaltenen Mund gelangen keine Fliegen’) in Bezug auf die funktionelle Äquivalenz die angemessenste Entsprechung. Bei En boca cerrada no entran moscas handelt es sich um eine assertive Aussage, durch die eine Erfahrung mit dem eigenen Körper mitgeteilt wird. Die figurative Bedeutung geht allerdings über diese literale Basis hinaus. Das Sprichwort erhält durch die Metaphorisierung eine direktive illokutive Funktion, die zum Bestandteil seiner Bedeutung wird: ‘Man soll schweigen, um Schaden zu vermeiden’. Im Rahmen der Sprechakttheorie könnte man behaupten, dass die direktive Inferenz des Aufforderns, die vor dem Lexikalisierungsprozess konkret kontextbezogen war, mit dem Usus generalisiert und somit konventionalisiert wurde, bis sie ein Teil der aktuellen Bedeutung des Sprichworts geworden ist. In diesem Zusammenhang behauptet Filatkina (2007, S. 136), dass die figurative Bedeutung der metaphorischen Ausdrücke durch den Sprachgebrauch lexikalisiert wird. Die konventionelle konversationelle Implikatur soll das Verständnis des Ausdrucks sichern, denn das Gesagte stimmt mit dem Gemeinten nicht überein, was sonst gegen die Grice'sche Konversationsmaxime der Modalität verstoßen würde. Das direktive Merkmal ( ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN ) kann kontextbedingt in unterschiedlich starkem Maße zustande kommen, und zwar als WUNSCH , BITTE , RATSCHLAG oder BEFEHL . Das Sprichwortkonzept ( ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN ) dient im Spanischen auch als Invariante oder als kognitives Konzept für weitere Sprichwörter mit Tiernamen und ähnlicher Bedeutung: Por la boca muere el pez (wörtl.: ‘Durch den Mund stirbt der Fisch’), Por el pico se pierde el pajarico (wörtl.: ‘Durch den Schnabel ruiniert sich das Vöglein’). Die empirische Untersuchung des spanischen Sprichworts En boca cerrada no entran moscas hat hinsichtlich seiner illokutiven und textuellen Funktionen zu folgenden Ergebnissen geführt: Carmen Mellado Blanco 194 A. Die prototypische textuelle Funktion des Sprichworts En boca cerrada no entran moscas ist in der Mehrheit der angesammelten Belege argumentativ und wissensstrukturierend. Das Sprichwort wird zur Verstärkung der Ansicht des Textverfassers eingesetzt, wie folgendes Beispiel veranschaulicht: Estas joyas sobre las campañas de la DGT son obra del ex presidente español José María Aznar, que de vez en cuando nos alegra las mañanas con sus geniales ocurrencias. Quizás nadie le dijo de pequeño que en boca cerrada no entran moscas. ( http: / / lacomunidad.elpais.com/ dicenporahi/ 2007/ 5/ 24/ en-boca-cerrada -entran-moscas , 04.05.2007) Burger (2010, S. 112) bemerkt hinsichtlich der textuellen Funktionen von Sprichwörtern, dass in älteren deutschen Texten Sprichwörter argumentativ als „gültige Deutung von Situationen und Handlungen“ eingesetzt wurden. Dabei wurde die Wahrheit der Parömie oft metakommunikativ beschworen. Diese Merkmale sind beim spanischen Sprichwort En boca cerrada no entran moscas sowohl in der konzeptionellen Mündlichkeit als auch in der konzeptionellen Schriftlichkeit noch stark ausgeprägt, wobei metasprachliche Kommentare in der Regel durch parömiologische Konnektoren wiedergegeben werden: En boca cerrada, no entran moscas, reza uno de los refranes más populares de nuestro país. Y eso es lo que debe estar pensando Marion Cotillard. La flamante ganadora del Oscar a la Mejor Actriz por su interpretación de Edith Piaff en La vida en Rosa, puede que pague caro por unas declaraciones vertidas en un programa francés en 2007 acerca de los atentados del World Trade Center. ( http: / / www.notasdecine.es/ 486/ actrices/ marion-cotillard-en-boca-cerrada , 03.03.2008) B. In den zusammengestellten Textbelegen mit argumentativer Funktion wird in der Mehrheit der Fälle eine direktive illokutive Funktion als AUFFOR- DERUNG oder EMPFEHLUNG deutlich bestätigt. Y cuando alguno habla, sería mejor que no lo hiciera, porque en boca cerrada no entran moscas. (ABC, 23.08.2007) En boca cerrada no entran moscas. Lamentablemente la verborrea que posee el Presidente Chávez y sus malos asesores lo llevan a decir cosas que no son verdad. ( http: / / www.globedia.com/ boca-cerrada-moscas , 22.04.2010) Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 195 Gelegentlich erscheint in den untersuchten Textbelegen keine direktive , sondern eine assertive illokutive FESTSTELLUNG -Funktion: En boca cerrada no entran moscas: por eso el Marrullero Rajoy selló la suya. ( http: / / www.diariocritico.com/ lineacritica/ index.php? topic=21465 , 04.07.2010) 3.2.2 Modifikationen des Sprichworts En boca cerrada no entran moscas Der spielerische Umgang mit dem Sprichwort En boca cerrada no entran moscas kommt in der Regel als externe semantische Modifikation vor, wobei die externe Remotivierung des Lexems mosca oder boca die (wörtliche und metaphorische) Doppellektüre des Sprichworts aktiviert. Im Gegensatz zum äquivalenten deutschen Sprichwort sind die Modifikationen der spanischen Parömie also fast ausschließlich extern-semantischer und nicht intern-formaler Natur, was sehr wahrscheinlich mit der unterschiedlichen Struktur der Sprichwörter in beiden Sprachen zusammenhängt. Anhand der vorliegenden Untersuchung hat sich die Annahme Ruefs (1995, S. 32) bestätigt, dass die Art der Modifikationen nicht auf Zufall beruht, sondern sie Ausdruck spezifischer Möglichkeiten sind, die mit dem betreffenden Beispiel vorgegeben sind. Beim deutschen Sprichwort bestimmt die zweigliedrige, aus zwei Hauptsätzen bestehende Struktur den Charakter einiger seiner möglichen Modifikationen der Musterformen Reden ist Silber, X ist Gold und Reden ist Silber, Schweigen ist X, die dem spanischen Sprichwort fremd sind. Darüber hinaus hat das Sprichwort Reden ist Silber, Schweigen ist Gold die Struktur eines Konsequenztopos, „der eine Abwägung positiver und negativer Handlungen unter dem Aspekt von Wahrscheinlichkeit und Relevanz vorsieht“ (Kindt 2002, S. 281). Nach diesem Autor ließen sich „Regularitäten über positive oder negative Konsequenzen bestimmter Handlungen“ immer in Argumentationen nach dem Muster des Konsequenztopos einbauen, wie es auch beim deutschen Sprichwort der Fall ist. Bei Reden ist Silber, Schweigen ist Gold wird der Abwägungsprozess bei den Alternativhandlungen (Reden und Schweigen) explizit thematisiert und Präferenzaussagen über zugehörige Konsequenzen gemacht. Die Äußerung ist assertiv, wie bei den meisten Konsequenztopoi. Drohungen und Erpressungen als direktive Sprechakttypen machen oft Gebrauch vom Konsequenztopos, „indem einer Person X von einer Person Y gravierende ne- Carmen Mellado Blanco 196 gative Konsequenzen für den Fall angekündigt werden, dass X eine bestimmte Handlung H durchführt bzw. unterlässt“ (Kindt 2002, S. 284). Dem spanischen Sprichwort liegen ebenso ein Konsequenztopos und eine assertive Äußerung zugrunde, die Doppelhauptsatz-Struktur und die semantische Beziehung zwischen den Substantiven (Silber und Gold) fehlen ihm allerdings, was sich auf die Andersartigkeit der Modifikationen auswirkt. Nichtsdestoweniger ist die Modifikation durch Elision des verbalen Satzgliedes no entran moscas relativ oft anzutreffen. Es handelt sich um eine Reduktion, die auch das deutsche Sprichwort mit der einfachen Form Reden ist Silber häufig zeigt, wenngleich die vereinfachte Version aufgrund seines Satzgliedcharakters nicht so autonom wie im Deutschen wirkt. Auslassungspunkte ersetzen oft den elidierten Bestandteil des Sprichworts in beiden Sprachen. Bei den in den Textbelegen aufgefundenen semantischen Modifikationen der spanischen Parömie En boca cerrada no entran moscas lässt sich entweder eine expressive Implikatur KRITIK an geschwätzigen Menschen und/ oder eine direktive Implikatur RATSCHLAG / AUFFORDERUNG ZU SCHWEIGEN erkennen, wie im folgenden Beispiel der Fall ist: Algunos opinan que la engañaron, que es la tonta útil de toda la trama. Otros son más sutiles y recuerdan que en boca cerrada no entran moscas, lo cual no obsta para que tenga que tragarse sapos y culebras cada vez que aparece por el Parlamento regional. (El País, 29.06.2003) Gelegentlich sind formale Modifikationen durch Erweiterung anzutreffen: Decididamente, ahora más que nunca, „en boca cerrada... no entran moscas [ni mosquitos]“. ( http: / / www.elatleta.com/ foro/ archive/ index.php/ t-93785.html , 28.04.2006) Anders als bei den deutschen Textbelegen mit Modifikationen durch lexikalische Substitution wird bei den Wortspielen der spanischen Parömie keine Tendenz zum Antisprichwort-Gebrauch nach dem Motto ES IST BESSER, ZU REDEN ALS ZU SCHWEIGEN beobachtet. Im Spanischen konnte bei fast 80% der semantisch modifizierten Parömien die originelle Invariante ES IST BES- SER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN weiterhin konstatiert werden. In sehr wenigen Fällen (dreimal in Google) erscheint die interne formale Modifikation mit dem Bejahungsadverb sí (En boca cerrada, sí entran moscas) als Anti-Sprichwort mit der direktiven Implikatur AUFFORDERUNG ZU REDEN : Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 197 Sobre boquitas cerradas. Tanto González como Aznar se confirmaron en los últimos meses en callar y cerrar la boca. Como ahora está de moda cultural editar nuevos diccionarios, quizá no fuera inoportuno confeccionar uno de refranes corregidos en que tendría buen lugar uno que dijera En boca cerrada sí entran moscas y comenzar a cerrar menos la mui y contarle al país o países lo que había que hacer y está, por fin empezando a hacerse. ( http: / / hemeroteca.abc.es/ nav/ Navigate.exe/ hemeroteca/ madrid/ abc/ 1996/ 12/ 27/ 020.html , 27.12.1996) 3.2.3 Das Sprichwort En boca cerrada no entran moscas in den Internetforen In der konzeptionellen Mündlichkeit wird das kanonische kognitive Konzept ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN bestätigt. Nur ganz peripher konnte in einigen Internetforen und Meinungsartikeln eine kritische Auseinandersetzung mit der Sprichwort-Wahrheit seitens des Textverfassers festgestellt werden, wobei die Wahrheitsbotschaft des kognitiven Konzepts ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN hinterfragt wird: Si, como bien dices Heavy Water „en boca cerrada no entran moscas“, eso es lo que siempre han pretendido los que solo buscan su interés y no el de la población. Se hace un articulito con una buena ración de cachondeo, algo de cinismo y sin olvidar los principales ingredientes, palabritas tipo „marcianitos verdes“, se hace un ataque ad hominem tachándolo de friky y así cualquiera se atreve a hablar, todo el mundo con la boca cerrada, vaya que nos ridiculicen. ( http: / / www.mundoparapsicologico.com/ Foros/ Ufologia/ Mensaje-1849 , 28.10.2009) Auffällig ist in den Internetforen die Modifikation durch die spielerische Erweiterung En boca cerrada no entran moscas pero pollas como roscas. Diese obszöne Erweiterung des Sprichworts hat sich in letzter Zeit durch ihre Rekurrenz als lexikalisierte Variante bestätigt (1 800 Treffer in Google). 39 Der Konsolidierungsprozess wurde durch den Endreim von den Lexemen moscas und roscas und durch den gleichnamigen Titel eines Pornofilms aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts begünstigt. 39 Mieder (1998, S. IX) weist auf die große Menge von Antisprichwörtern mit obszönem Inhalt hin: „Und es gibt erwartungsgemäß eine Menge Texte, die sich in erotische und skatologische Sphären begeben.“ Carmen Mellado Blanco 198 In den Internetforen kristallisiert sich eine überwiegend argumentative Funktion des Sprichworts En boca cerrada no entran moscas heraus, zu der parömiologische Konnektoren substanziell beitragen (vgl. de Oliveira 2006). Sie unterstreichen die Weisheit und Autorität des Sprichworts, auf die sich der Sprecher zur Rechtfertigung oder Begründung seiner Aussage beruft. Como bien dice el refrán, en boca cerrada no entran moscas, y si te lo hubieras pensado un poco, te habrías evitado el problema que te vino encima por hablar de más. ( http: / / www.los40.com.mx/ actualidad/ blogs/ hable-mas-de-la-cuenta-y/ blog/ 1542920.aspx , 06.09.2011) 3.3 Fazit: zu den Modifikationen und textuellen Funktionen der Sprichwörter Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und En boca cerrada no entran moscas in Zeitungstexten Aus der durchgeführten vergleichenden Untersuchung zwischen dem deutschen und spanischen Sprichwort konnten folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: - Modifikationen zeugen von einem wichtigen Funktionswandel des Sprichworts, das heutzutage in der konzeptionellen Schriftlichkeit im starken Maße als rhetorisches Stilmittel eingesetzt wird. - Der kreative Umgang mit dem Sprichwort ist ein Garant für seine Überlebensfähigkeit und Regenerationskraft. - Die genaue illokutive Funktion des Sprichworts ist in jedem einzelnen Fall vom Text, in dem es eingebettet ist, abhängig. Die Absicht des Senders in seiner Aussage lässt sich implizit aus dem Kontext herauslesen. - Sowohl die formelle Doppelstruktur des deutschen Sprichworts als auch dessen Topos des Mehr oder Minder werden als produktives Argumentationsschema ausgenutzt, wobei im deutschen Sprichwort eine stärkere Präferenz zu formalen Modifikationen durch lexematische Substitution zu konstatieren ist als im spanischen Sprichwort. - Durch die einfache Satzstruktur des Sprichworts bedingt, werden beim spanischen Sprichwort bedeutend weniger formale Modifikationen durch lexematische Substitution als im Deutschen registriert. - Das deutsche Sprichwort wird in den modifizierten Belegen nicht mehr primär argumentativ in seinem kanonischen Sinne ES IST BESSER, ZU SCHWEIGEN ALS ZU REDEN benutzt. Pragmatische Aspekte der Bedeutung von Sprichwörtern 199 - Das deutsche Sprichwort weist eine vorwiegend argumentative Funktion als BEGRÜNDUNG , FOLGERUNG , FESTSTELLUNG auf. Die direktive AUFFORDERUNG -Funktion kommt nicht so oft vor wie beim spanischen Sprichwort. - Das spanische Sprichwort hat neben der Argumentationsfunktion eine deutliche kommunikative AUFFORDERUNG -Funktion. - Beim deutschen Sprichwort besteht die Tendenz zu einer argumentativen expressiven Funktion mit impliziter KRITIK an schweigsamen Menschen nach dem Motto ES IST BESSER, ZU REDEN ALS ZU SCHWEIGEN , was auf einen Wandel in der sozialen Funktion des Sprichworts hindeutet. - Im Spanischen wird keine signifikante kritische Auseinandersetzung mit der kanonischen Botschaft des Sprichworts ES IST BESSER SCHWEIGEN ALS REDEN festgestellt (weder explizit noch implizit). - Im Großen und Ganzen lassen sich erhebliche Abweichungen im textuellen Verhalten beider Sprichwörter beobachten, die in kontrastiven Studien und spezifischen Wörterbüchern angegeben werden sollten. So Mellado Blanco (2009, S. 19): „Die empirischen Untersuchungen sollten das Ziel einer besseren Repräsentation sowohl der phraseologischen Semantik als auch der pragmatisch-kommunikativen Markierungen verfolgen, damit die von allen gewünschte Weiterentwicklung der Lexikografie und der Phraseografie in Erfüllung gehen kann.“ Literatur Wörterbücher Martínez Kleiser, Luis (1953 [1989]): Refranero general ideológico español. Madrid. Mieder, Wolfgang (1979): Deutsche Sprichwörter und Redensarten. Stuttgart. Schemann, Hans / Mellado, Carmen / Buján, Patricia / Iglesias, Nely / Larreta, J. Pablo / Mansilla, Ana (2012): Idiomatik Deutsch-Spanisch. Diccionario Idiomático Alemán-Español. Hamburg. Sevilla Muñoz, Julia / Cantera Ortiz, Jesús (Hg.) (2008): 1 001 refranes españoles con su correspondencia en ocho lenguas. Madrid. Singer, Samuel (2002): Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Berlin. 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Erinnert sei lediglich an den großen Erfolg Erasmus' von Rotterdam, der zunächst für seine begüterten Schüler lateinische Zitate aufschrieb, mit denen diese dann ihre Rede schmücken konnten (eine Vorstufe der heutigen Eptonymik, von denen viele Einheiten zu Sprichwörtern wurden) (Mokienko 2004, S. 208). Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten interessieren die Menschheit als Schatzkiste der Volksweisheit, die von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Generation zu Generation weitergegeben wird, jedoch weit länger. Dass das mit den in ihnen wiedergegebenen Weisheiten jedoch sehr relativ ist, hat Wolfgang Mieder schon vor langer Zeit beschrieben: „Every proverb is truth.“; „Proverbs are the children of experience“; „Common proverb seldom lies“ (Mieder 1996, S. 597), denn es ist kein Zufall, dass es in vielen Fällen zu einem Sprichwort ein Gegensprichwort gibt, also eines, das eine gegensätzliche Aussage trifft. Kuusi meint bereits 1972 völlig zu Recht, dass jedes Sprichwort gleichzeitig die Auswahl unter zwei Alternativen darstellt. Solche Sprichwortreihen wären z. B. Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute - Eile mit Weile - Wer langsam geht, kommt auch ans Ziel - Nimm dir Zeit und nicht das Leben. Oder: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr - Es ist allezeit gut lernen - Lernen kann man alle Tage - Zum Lernen ist es nie zu spät - Kannst alt werd'n wie 'ne Kuh und lernst immer noch dazu. Die Popularität unseres kleinen Genres der Folklore ist nicht zufällig: Mit einem Sprichwort kann man auf sehr gute Art und Weise den Sinn seiner eigenen Rede bekräftigen (Wie schon ein altes Sprichwort sagt ... , Wie es im Volke so schön heißt ... , Wie meine Großmutter schon immer sagte ...). Dem Sprichwort wird dabei geradezu axiomatische Beweiskraft zugeschrieben, und es bringt den Zuhörer (oder Leser) dazu, auf diesen Gedanken sein besonderes Augenmerk zu legen. Manche Schriftsteller, Philologen, Redenschreiber, Folkloristen, Redner oder auch Politiker sind wahre Sprachkünstler in der Anwendung von Sprichwörtern (siehe bei Mieder 2004, S. 33ff.). Harry Walter 206 Sowohl in der russischen als auch in der deutschen, spanischen und französischen literarischen Tradition wird Sprichwörtern eine ganz besondere Autorität zugesprochen. Sie werden durch den legendären russischen Nestor, den Autor der bekannten Nestor-Chronik vom Anfang des 12. Jahrhunderts am Anfang der russischen Schriftlichkeit in diesem bedeutendsten kulturhistorischen Denkmals der Kiewer Periode verwendet. Die anonymen Autoren des „Igorliedes“ (ebenfalls 12. Jahrhundert) zitieren Parömien ebenso wie viele Schriftsteller weltlicher und religiöser Schriften des Alten Russlands. Russische Sprichwortsammler waren u. a. Peter der Große, der Historiker Vasilij N. Tatiščev und viele, viele bekannte Schriftsteller, z. B. Alexandr S. Puschkin, Alexandr M. Gogol, Nikolaj V. Dobroljubov, Anton P. Čechov, Maxim Gorkij oder Michail A. Šolochov. In Deutschland sind viele Sprichwörter neben der klassischen Literatur direkt in das Buch der Bücher eingegangen oder dort erst zu solchen geworden, was in nicht geringem Maße Martin Luther zu verdanken ist, der für seine Bibelübersetzung speziell volkstümliche deutsche Wendungen gesammelt hat (Mieder (Hg.) 2006, S. 50ff.). Nicht alle diese Einheiten sind jedoch originär biblischer Prägung, manche gehen auf hebräische bzw. altgriechische feststehende Ausdrücke zurück. Älteren Ursprungs ist z. B. die phraseologische Wendung Arzt, hilf dir selber, russisch: Врачу, исцелися сам, die schon bei Euripides und Plutarch belegt ist. Im Evangelium (Luk. 4, 23) werden diese Worte direkt als Sprichwort bezeichnet: „Und er sprach zu ihnen: Ihr werdet freilich zu mir sagen dies Sprichwort: Arzt, hilf dir selber! “ - „Он сказал им: конечно, вы скажете Мне присловие: врач! исцели Самого Себя“. Dabei können die Biblismen in drei Gruppen eingeteilt werden: a) Wendungen, die sich schon in der Bibel durch idiomatische Bedeutung und expressive Ausdruckskraft auszeichnen; b) Wendungen, die auf Bibeltexte zurückgehen, in denen sie als freie Wortverbindungen nachgewiesen sind; c) Wendungen, die ihre idiomatische Bedeutung zwar durch Bibeltexte entwickelt haben, denen sie jedoch nicht originalgetreu entnommen wurden. 1 Das Spanische schöpft aus dem „Don Quichotte“, vor allem aus der Rede Sancho Pansas, der ständig Sprichwörter anführt, um mit diesen Weisheiten seinen Herrn von aberwitzigen Vorhaben abzubringen. Es ist nicht zufällig, dass gerade diese Figur häufig als die Personifizierung des spanischen Volkes bezeichnet wird. 1 Ausführlich hierzu siehe bei Bierich (2005, S. 155f.); Мокиенко / Лилич / Трофимкина (2010, S. 12f.) und bei Walter / Mokienko (2011, S. 9). Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 207 In Russland begann die Tradition, Sprichwörter zu fixieren, ebenfalls sehr früh, bereits in der Alten Rus. In den ersten altrussischen Wörterbüchern - den Azbukovniki - wird die Bedeutung eines Wortes in nicht wenigen Fällen mit Sprichwörtern oder sprichwörtlichen Sentenzen illustriert. In einigen Bibliotheken gibt es Sprichwortsammlungen aus dem 17. Jahrhundert. Die erste thematische Sammlung war die Arbeit von Ippolit Bogdanovič (1744-1803), dem Autoren des Poems „Dušenka“. Nach heutigen Auffassungen hat er die theoretische Durchdringung von Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten vorweg genommen und geradezu Bahnbrechendes in der Parömiografie „angedacht, das erst viel später auch außerhalb Russlands realisiert wurde“ (Viellard 2005, S. 308f.). Zu einem monumentalen Werk, das bereits im zaristischen Russland dreimal herausgegeben wurde und das auch heute immer wieder nachgedruckt wird, wurde die Sammlung „Пословицы русского народа“ (Sprichwörter des russischen Volkes) von Vladimir I. Dal’ (Даль 1862), der in Anlage und Beschreibung der Sammlung Karl Friedrich Wilhelm Wanders sehr ähnlich ist. Bemerkenswert ist das Wörterbuch von Pavel K. Simoni, das Sprichwörter vom 16.-18. Jahrhundert fixiert (Симонии 1899). Bei Dal’ wie auch bei Simoni wird das ‘Sprichwort’ sehr weit verstanden. Der eifrige Sammler russischer Sprichwörter Dal’ verzeichnet auch solche Einheiten, die wir heute als ‘Redewendungen’, ‘Bauernregeln’, ‘Phraseologismen’ oder auch als ‘Lexeme’ u. Ä. bezeichnen. Er hat das Material aller seiner Vorgänger einbezogen und sie mit seinem Umfang weit überboten (mehr als 30 000 Sprichwörter, Redewendungen, Wetterregeln usw.) - geordnet nach thematischen Gruppen. Die Zahl dieser Rubriken ist durchaus beeindruckend - es sind 179 (ausführlich siehe Занглигер 2007, S. 9). Aus diesem Fundus schöpfen faktisch alle diejenigen, die heute Sprichwortsammlungen erstellen, auch Valerij Michajlovič Mokienko, der es zusammen mit Tat’jana Nikitina und Jelena Nikolaevna erst kürzlich als Erster geschafft hat, den berühmten Dal’ nach mehr als 100 Jahren im Umfang zu übertreffen (Мокиенко / Никит ина / Николаева 2010). Einen Überblick über Arbeiten zur russischen Parömiografie vor 1917 findet man bei Ivan P. Iljustratov (1915) und bei Alexandr M. Žigulev (Жигулев 1969). Weitere solide russische Sprichwortsammlungen sind die „Russischen Sprichwörter und Redensarten“ des Folkloristen Vladimir P. Anikin (Аникин 1988) und die zweifellos sehr solide Sammlung des Laien Alexej S. Spirin „Sammlung russische volkstümlicher Sprichwörter und Redensarten, Sagworte und geflügelter Worte literarischen Ursprungs“ (Спирин 1985), die Harry Walter 208 durch den bekannten Moskauer Phraseologen und Parömiologen Valentin I. Zimin ergänzt und mit historisch-etymologischen Kommentaren versehen wurde (Зимин / Спирин 1996). Mit unserem Gegenstand beschäftigten und beschäftigen sich intensiv Folkloristen, Ethnografen, Literaturwissenschaftler und eben auch wir Linguisten. Während das grundlegende Ziel in vergangener Zeit die Erforschung von Sprichwörtern und Redensarten und die Erforschung des „Volksgeistes“ war, so interessiert sich die Wissenschaft heute zunehmend auch für die linguistischen Fragestellungen dieser Einheiten, ihre Verwendung in der Belletristik, ihre Wechselwirkung mit dem folkloristischen Hintergrund anderer Völker, Fragen der Übersetzung - oder besser - Äquivalentierung in anderen Sprachen. Aus der Erkenntnis, dass die heutigen zwei- und mehrsprachigen Sammlungen viel zu oft 1: 1-Entsprechungen anbieten, die den Bedeutungsumfang eines Sprichwortes in den meisten Fällen nicht ausschöpfen können, haben wir uns entschlossen, ein experimentelles Wörterbuch vorzulegen (RDSW 2009) - das wir dem wohl aktivsten Parömiologen der Welt, unserem Patriarchen Wolfgang Mieder, widmen. In ihm sind drei Sprachen bearbeitet, die zu unterschiedlichen Sprachgruppen gehören: Russisch (slawisch), Deutsch (germanisch) und Spanisch (romanisch). Die konfrontative Untersuchung dieser drei Sprachen gestattet es uns einerseits, die Gesetzmäßigkeiten des sprachlichen Systems der jeweiligen Einzelsprache zu verdeutlichen, andererseits auch, die allgemeinen Mechanismen der Entwicklung der europäischen Parömiologie zu untersuchen. Die Konfrontation von Parömien verschiedener Sprachen bringt jedoch auch eine große Zahl von Fragen und Problemen mit sich. Eine der auf den ersten Blick banale Fragestellung ist bei uns bis zuletzt selbst unter uns nicht endgültig geklärt: Was ist eigentlich ein Sprichwort? Wie ist es linguistisch zu definieren? Die Diskussion ist in der Slawistik im Fluss, es existieren unterschiedliche Auffassungen dazu, was ein Sprichwort ist und was eine Redensart. Und die Zahl der verwendeten diesbezüglichen Termini betrug bereits zum Ende des 17. Jahrhunderts / zu Beginn des 18. Jahrhunderts einige Dutzend. Gerade im Russischen gab und gibt es eine große terminologische Instabilität, und es existierten in dieser Zeit nach Beobachtung von Jelena und Sergej Nikolaev folgende Benennungen: ‘присловие’, ‘пословица’, ‘притча’, ‘пословие’, ‘басенка’, ‘прибаснь’, ‘приповесть’, ‘мирская погудка’, ‘присловица’, ‘фразес’, ‘поговорка’, ‘пословка’ u. a. Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 209 Bei der Vielzahl von volkstümlichen Benennungen und linguistischer Termini erwiesen sich für Parömien trotzdem ‘пословица’ (Sprichwort) und ‘поговорка’ (Redensart) als die stabilsten. Die vorherrschende terminologische Unsicherheit führte zu einer weiten Vermischung von ‘Sprichwort’ und ‘Redensart’. In den allermeisten Fällen wurden sie nicht unterschieden und synonym gebraucht - und das ist häufig bis heute so. Eine recht gute Darstellung der Auseinandersetzungen zu diesem Thema bietet die „Русская речь“ (Nr. 4, 1985) in einem Artikel, der überschrieben ist Поговорка - цветочек, пословица - ягодка. Mittlerweile setzt sich in der Slawistik und darüber hinaus in der slawischen Folkloristik eine relativ genaue Differenzierung durch (ausführlich bei Занглигер 2007). Vladimir I. Dal’ schlägt eine lapidare Lösung vor: Ein Sprichwort ist ein kurzer Apolog, eine Fabel, ein Spruch (‘коротенькая притча’), ein Urteil, eine Belehrung, eine wertende Aussage, die sich verbreitet hat, eine einfache Umschreibung, gekennzeichnet durch Volkstümlichkeit. Diese Definition weist große Ähnlichkeiten mit der von Wander (1836) auf. Demgegenüber ist eine Redensart nach Dal’ ein „splitterhafter“ Ausdruck, eine einfache Umschreibung, eine Art des Ausdrucks, ohne ein Apolog zu sein, ohne Urteil, ohne Ende. Es ist, wie er meint, „der erste Teil eines Sprichwortes“ (Даль 1862 [1984], S. 12f.). Zu Sprichwörtern gehören folglich solche volkstümlichen Wendungen, wie Без труда не вынешь рыбку из пруда (wörtl.: ‘Ohne Arbeit zieht man nicht einmal ein Fischlein aus dem Teich’ - eine sprichwörtliche deutsche Entsprechung wäre: Ohne Fleiß kein Preis) oder Любишь кататься, люби и саночки возить (wörtl.: ‘Wenn du gerne rodelst, dann zieh auch gerne den Schlitten’ - eine sprichwörtliche deutsche Entsprechung wäre: Wer das Eine will, muss das Andere mögen) oder Ласковый телёнок две матки сосет (Bedeutung: pejorativ über jemanden, der überall seinen Vorteil sucht) (wörtl.: ‘Das anschmiegsame Kalb saugt zwei Mütter’). In zweisprachigen Wörterbüchern wird letzteres Sprichwort häufig wiedergegeben mit Freundliche Worte vermögen viel und kosten wenig, was den Sinn des russischen Sprichwortes nur sehr bedingt trifft, denn die Bedeutung des Sprichwortes ist ‘Mit Schmeicheleien und Anbiederung lässt sich viel Gunst erwerben’. Zudem stimmt die wertende Bedeutungskomponente nicht überein, denn das so genannte „deutsche Äquivalent“ hat andere Konnotationen. Zu den Redensarten zählt Dal’ solche Einheiten, die die meisten Linguisten zu den Phraseologismen zählen, wie z. B. сваливать с больной головы на здоровую (wörtl.: ‘etw. von einem kranken Kopf auf einen gesunden abwälzen’), чужими руками жар загребать (wörtl.: ‘mit fremden Händen in der Hitze Harry Walter 210 graben’). Besonderen Wert legt Dal’ auf die Feststellung, dass Sprichwort und Redensart immer zusammen leben und findet einen sehr blumigen Vergleich für ihre Unterscheidung: Поговорка - цветочек, пословица - ягодка (‘Die Redensart ist die Blüte, das Sprichwort die Beere’). Dal’ selbst unterscheidet jedoch in all seinen Sammlungen die Blüte und die Frucht nicht voneinander, und wir finden neben den genannten Einheiten auch Wunschformeln, Wetterregeln, Weissagungen, Aberglaube, Spitznamen und (wie auch bei Wander) Antisprichwörter. Auch heute verwenden bei weitem nicht alle Linguisten und Sprichwortsammler die Termini in ihrer traditionellen Form (siehe Ďurčo 2005, S. 22ff.; Занглигер 2007, S. 14ff.). Einer der bekanntesten Linguisten und Lexikografen Russlands, Vlas Platonovič Žukov, schlägt in seinem seit 1966 viele Male nachaufgelegten Wörterbuch eine ziemlich originelle Lösung vor (Жуков 2002, S. 11-15). Unter ‘Sprichwörtern’ versteht er kurze volkstümliche Wendungen mit abgeschlossener syntaktischer Struktur, die gleichzeitig eine direkte und eine übertragene bildliche Bedeutung haben. ‘Redensarten’ (поговорки) sind für ihn solche abgeschlossenen Wendungen, die wörtl. zu verstehen sind, d. h. die nur eine wörtliche Bedeutung haben und in thematischer Hinsicht Sätze sind. Zu Ersteren zählt er Einheiten des Typs Чем бы дитя ни тешилось, лишь бы не плакало (wörtl.: ‘Womit sich das Kind auch beschäftigt, Hauptsache es weint nicht’), deutsche sprichwörtliche Entsprechungen wären etwa: Lass dem Narren seine Kappe. Klein Ding freut Kind. Zur zweiten Gruppe zählt er Wendungen des Typs Деньги - дело наживное (wörtl.: ‘Geld ist eine Erwerbenssache’) mit der Bedeutung: ‘Geld kann man immer wieder neu verdienen. Man soll Geldverluste nicht allzu ernst nehmen’ - die deutsche sprichwörtliche Entsprechung wäre etwa: Geld ist nicht alles in dieser Welt oder die Wendung Коса - девичья краса (wörtl.: ‘Der Zopf - des Mädchens Zierde’). Der Zopf ist in der Slavia das Sinnbild der jungfräulichen Tugend. Und hier haben wir es mit einem ernsthaften Problem zu tun: Worin unterscheiden sich diese Wendungen, die zwar alle die Dal’'schen Kriterien erfüllen, aber eine unterschiedliche ausgeprägte Bildhaftigkeit aufweisen? Wie kann man sie lexikografisch erfassen und bearbeiten? Wir können diese Frage bisher nicht endgültig klären. In unseren lexikografischen Überlegungen waren somit folgende Punkte einzubeziehen: Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 211 1) Welche Sprichwörter werden überhaupt aufgenommen? 2) Welche Anordnungsprinzipien und Zugriffstruktur sollen angelegt werden? 3) Wie sind die Äquivalente in den anderen Sprachen anzuordnen? 4) Wie kann der typische Gebrauch dieser Einheiten deutlich gemacht werden? 1. Was ist ein Sprichwort und welche Einheiten haben wir aufgenommen? Wir verstehen in unserer Arbeit den Terminus ‘Sprichwort’ traditionell - nämlich als syntaktisch abgeschlossene bildhafte oder nicht bildhafte Äußerung, die einen belehrenden Sinn hat und rhythmisch und phonetisch geformt ist (Розенталь / Теленкова 1985, S. 211, 222; СЛТ 1974, S. 272f., 276f.; Mieder (Hg.) 2006, S. 17). ‘Redensarten’ hingegen verstehen wir als Phraseologismen im engen Sinne (die durchaus syntaktisch auch Satzcharakter haben können, in ihrer Bedeutung jedoch Lexemen entsprechen - etwa Кот наплакал (wörtl. ‘Der Kater hat es zusammengeweint’) - deutsche sprichwörtliche Entsprechung: Das trägt die Katze auf dem Schwanze fort in der Bedeutung ‘sehr wenig’. In der achtsprachigen Sprichwortsammlung von Dobrosława Świerczyńska und Andrzej Świerczyńsky (Сверчиньская / Сверчиньский 2008) finden wir Много воды утекло с тех пор - Viel Wasser ist seitdem vom Berge geflossen - Much water has run under the bridge since then. Diese schließen wir aus dem Korpus aus. Wir fixieren sowohl bildhafte als auch nicht bildhafte prädikative Wendungen und bezeichnen alle - im Unterschied zu Žukov und seinen Anhängern - als ‘Sprichwörter’ und nicht als ‘Redewendungen’. Diese Entscheidung sehen wir durch die didaktische Ausrichtung gerechtfertigt, die diese Einheiten schon immer haben - und zwar unabhängig vom Grad ihrer Bildlichkeit. So drücken auch bildfreie Sprichwörter wie die folgenden moralische Werte bzw. Empfehlungen aus: Учиться - всегда пригодиться (wörtl.: ‘Lernen ist immer nützlich’ - eine deutsche sprichwörtliche Entsprechung ist Zum Lernen ist es nie zu spät); Труд кормит, а лень портит (wörtl.: ‘Arbeit nährt, Faulheit verdirbt’) - deutsche sprichwörtliche Entsprechungen wären Arbeit nährt, und Faulheit verdirbt oder Arbeit erhält jung und gibt Kraft, Faulheit macht alt, und erschlafft oder Arbeit gibt Brot, Faulheit gibt Not oder Arbeit verwarmt, Faulheit verarmt. (Wander 1867, S. 117; verwarmen - niederdt., niederl. ‘heizen, wärmen’). Harry Walter 212 Ungeachtet dessen, das hier keine oder nur schwach bildhaften Einheiten vorliegen, sind sie wegen ihrer Aphoristik, Rhythmik und ihr Inhalt den bildlichen Einheiten adäquat, denen vom Typ Ученья корень горек, да плод сладок (wörtl.: ‘Beim Lernen ist die Wurzel bitter, aber die Frucht ist süß’); Без труда не вынешь и рыбку из пруда oder Ученье - свет, а неученье тьма (wörtl.: ‘Lernen ist Licht, und Nichtwissen ist Finsternis’). Neben Befragungen von Probanden nutzten wir für unsere Zusammenstellung die Materialien der Sprichwort-Kartei des Lehrstuhls für Lexikografie (Slovarjnyj Kabinet) der Universität Sankt-Petersburg, einer Einrichtung, die sich voll und ganz der Lexikografie widmet. Insgesamt haben wir in unser Verzeichnis etwa 650 russische Sprichwörter aufgenommen, denen ca. 1 500 deutsche und 1 100 spanische als Äquivalente zugeordnet sind. Wie kommt es zu diesem asymmetrischen Verhältnis? Es gibt häufig keine 1: 1-Entsprechung in den verschiedenen Sprachen. Sie können in der Regel nicht die Varianz, die territoriale, dialektale oder Anpassung der Parömien zeigen. In den allermeisten Fällen steht einer Einheit in der einen Sprache demzufolge eine ganze Reihe von Entsprechungen mit unterschiedlicher Äquivalenzqualität gegenüber. Diese führen wir (bis zu einem vertretbaren Maße) auch auf. Der Nutzer, der ja in aller Regel Muttersprachler der Zielsprache ist, hat dann die Möglichkeit, das für seinen „Geschmack“ oder das in der jeweiligen Situation am besten passende Äquivalent auszuwählen. Es bleibt jedoch die Ausgangsfrage jeglicher lexikografischer Arbeit: Für wen ist das Produkt gedacht? Machen wir sie für Linguisten, für Folkloristen, für Studenten und Schüler, für den Manager, für den Politiker, der seine Rede schmücken will, oder für die vielzitierte Hausfrau Lieschen Müller? Es ist verständlich, dass ein in der vergleichenden Sprachforschung tätiger Linguist andere Interessen hat als ein Gymnasiast. Allein aus der Beantwortung dieser Frage ergeben sich grundlegende Parameter des Umfangs, der Zahl der Einträge und der Art der Bearbeitung dieser Einträge. In unserem Falle hat sich gezeigt, dass wir zunächst etwas übertrieben hatten. Neben fast euphorischer Zustimmung gab es doch eine ganze Reihe von kritischen Stimmen, die uns auf die komplizierte Lesbarkeit des Materials hingewiesen haben. Ja, sogar solche Auffassungen, die meinten: Wozu sollen diese Vergleiche mit anderen Sprachen (vor allem mit dem Lateinischen) nutzen - die stören doch nur die Rezeption. Und: Wen interessieren schon diese vielen slawischen Parallelen? Gebt lieber Definitionen der Sprichwörter vs. sind solche Definitionen wirklich nötig? Erklären sich Sprichwör- Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 213 ter nicht von selbst? Phraseologismen muss man natürlich erklären, aber Parömien? Auch hier sind wir nicht ganz konsequent vorgegangen. Das kann man kritisieren, muss aber nicht. Kritisieren deshalb, weil es in gewisser Weise die Einheitlichkeit der Darstellung verletzt. Und man muss es nicht, weil Erklärungen oder Definitionen nicht immer nötig sind, zumal wenn die Äquivalente dies übernehmen können. Wir brauchen aber Erklärungen und Definitionen der Ausgangssprichwörter (die in den allermeisten Sammlungen fehlen), - wenn es kein direktes Äquivalent in der Zielsprache gibt und die Bedeutung umschrieben werden muss, so wie beim oben erwähnten russischen langen Zopf. Hier hilft eine Bedeutungserklärung dem Nutzer, optimale Wiedergabemöglichkeiten in der Zielsprache zu finden - und wenn keine Sprichwörter, dann eben mit den Dal’'schen Blüten - den Phraseologismen. Und wenn auch das nicht klappt, eben durch Umschreibung. Dabei ist jedoch - zumindest bei Übersetzungen - das Prinzip der funktionalen Übersetzung zu wahren, um den Charakter des Zieltextes nicht zu sehr zu verändern und ihn dem Original möglichst weit anzugleichen; - wenn sich die Stilistik der Einheiten in Ausgangs- und Zielsprache unterscheidet. Kommen wir auf das oben erwähnte Beispiel zurück: Ласковый телёнок две матки сосет (wörtl.: ‘Das anschmiegsame Kalb saugt zwei Mütter’). Entspricht das nun dem deutschen Sprichwort Freundliche Worte vermögen viel und kosten wenig? Im weiten Sinne ja. Die unterschiedlichen Konnotationen jedoch verbieten uns, sie als vollständige Äquivalente anzusehen, denn das russische Sprichwort ist abwertend, missbilligend, rügend - eine Bedeutungsschattierung, die das Deutsche nicht aufweist. Wir brauchen diesen Hinweis, damit man nicht ins „parömiologische Fettnäpfchen“ tritt, wenn man z. B. jemandem eigentlich Gutes will und dann dieses Sprichwort verwendet; - wenn sich der Aktualitätsgrad zwischen Ausgangs- und Zielsprache deutlich unterscheidet. Denn es ist gar nicht selten, dass ein strukturell und inhaltlich gleiches Sprichwort in der einen Sprache sehr aktuell und gebräuchlich, jedoch in der anderen fast oder ganz vergessen ist und nur in älteren Sammlungen auftaucht. Dies ist meines Erachtens auch der größte Schwachpunkt fast aller mehrsprachigen parömiologischen Sammlungen: Man bekommt als Leser den Eindruck, die Sprichwörter würden überall gleich gebraucht. Was jedoch eben häufig gerade nicht der Fall ist; Harry Walter 214 - wenn wir „falsche Freunde des Übersetzers“ vor uns haben. Um es sprichwörtlich zu sagen: Falsche Freunde sind wie Katzen, vorne lecken und hinten kratzen. Klingt lustig, hat aber durchaus seinen Sinn. Das Korpus unseres Wörterbuches hat sich schrittweise entwickelt und orientiert sich an den Bedürfnissen in der Ausbildung deutsch- und spanischsprachiger Studenten, Gymnasiasten, Russischlehrer und Übersetzer. Auf die besonderen didaktische Bedeutung von Sprichwörtern weist auch Wolfgang Mieder hin, wenn er feststellt, „[...] dass es sehr angebracht ist, dem Sprichwortgut [...] einige Unterrichtsstunden zu widmen“ (Mieder (Hg.) 2006, S. 11). Zum grundlegenden Kriterium unserer Auswahl beim Studium des Russischen wurde die Verwendung der Sprichwörter in den Werken russischer Schriftsteller vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, woraus wir mit aller Vorsicht auf eine gewisse Gebrauchshäufigkeit in der Belletristik und in der Publizistik schließen (nicht im Sinne von Permjakovs „Parömiologischen Minimum“, siehe den Beitrag von Valerij M. Mokienko in diesem Band). Deshalb ist das neue russische Кто опаздывает, того наказывает жизнь - Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (noch) nicht eingegangen. Bei dem Gorbatschow zugeschriebenen Sprichwort handelt es sich eher um eine bewusste Anpassung an bestehende strukturell-semantische Modelle und an eine in der Presse vorgenommene rhythmische Formung als um eine klare Absicht, das ursprüngliche Politikerzitat abzuändern. Davon zeugen in der deutschen und in anderen Sprachen fixierte Sprichwörter nach ähnlichem Modell: Wer hintennach kommt, hat nichts davon. Karl Friedrich Wander kommentiert: „Wer zu spät kommt; findet nichts mehr; im besondern in Bezug auf herrschende Jagdfreiheit, wo der, welcher erst kommt, wenn das Wild erlegt und die Vögel weggefangen sind, leer ausgeht.“ (Wander 1870, S. 671). Vgl. auch Dänisch: Bag efter kommer tyedt øll - Graabeen, du kom alt for silde til St. Bentes Gilde. Oder: Wer zu spät kommt, hat das Nachsehen (Wander 1870, S. 1473). Wer spät kommt, der wohnt schlecht. Italienisch: Chi tardi arriva, mal alloggia - Wer spät kommt, der sitze hinter der Tür. Italienisch: Chi tarde arriva, male alloggia. Schwedisch: Den sist kommer, får sämsta säte. Lateinisch: Sero venientes male sedentes (Deutsch: Wer zu spät kommt, sitzt schlecht). Vgl. Die (den) Letzten beißen die Hunde bzw. Wer nicht kommt zur rechten Zeit, muss nehmen, was noch übrig bleibt. Deutlich bringt auch folgendes Sprichwort den Grundgedanken zum Ausdruck: Wer zu spät kommt, schadet sich selbst (Wander 1876, S. 668). Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 215 Wir sehen, dass die „neue“ deutsche Form den rhythmischen, strukturellen und semantischen „Vorbildern“ folgt. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass in vielen modernen Sammlungen geflügelter Worte und Aphorismen Gorbatschows Ausspruch als Sprichwort bezeichnet wird - eine Einschätzung, die Wolfgang Mieder bereits in den 1990er-Jahren traf und der aus linguistischer Sicht vollständig zuzustimmen ist. Bemerkenswert ist, dass das Sprichwort im Russischen fast unbekannt ist, und wenn es zitiert wird, dann als Entlehnung aus dem Deutschen. Die „ersten Schwalben“ sind jedoch bereits in der russischen Presse aufgetaucht, ohne als „deutsche Bildung“ beschrieben zu werden (Gläser-Kurze et al. 2011, S. 86f.). Das wird uns wahrscheinlich dazu bringen, dieses Sprichwort in späteren Ausgaben aufzunehmen. Eine Besonderheit unseres Wörterbuches ist der konsequente Versuch, das russische Material komplex mit den Mitteln der deutschen und der spanischen Sprache vor ihrem parömiologischen europäischen Hintergrund zu beschreiben. Das scheint vor allem deshalb angezeigt zu sein, weil viele Russisten die Theorie vom sprachlichen Weltbild völlig überbewerten und daraus u. E. eine viel zu starke Betonung der nationalen Spezifik der russischen Parömiologie und Idiomatik ableiten. Leider beobachten wir das besonders auch bei Vertretern der in der Slavia im Moment besonders modernen „kognitiven Welle“. Hier wird nach der „geheimnisvollen russischen Seele“ gesucht oder nach dem bei Valerij M. Mokienko in diesem Band erwähnten russischen Авось - und zwar häufig ausschließlich an russischem Material, ohne Betrachtung anderer Sprachen mit ihren Parallelen und der parömiologischen Universalien (Mokienko 2005, S. 280ff.). Wir schlagen deshalb vor, sich konsequent den europäischen und darüber hinausgehenden Hintergrund der Parömien anzusehen. Man entdeckt dann erstaunlich viele universelle Dinge. Dabei negieren wir selbstverständlich nicht das Vorhandensein nationaler Spezifika, besonders dann, wenn die formale Füllung parömiologischer Konzepte mit Komponenten erfolgt, die durch russische Realia gekennzeichnet sind (На воре шапка горит. - Getroffene Hunde bellen. Das Gesicht verrät den Wicht.). Aber wie soll man es bewerten, wenn in einem anerkannten russischen Wörterbuch Москва не сразу строилась. (wörtl.: ‘Moskau wurde nicht auf einmal erbaut’) - Rom wurde (auch) nicht an einem Tag erbaut als ursprünglich russisches Sprichwort bezeichnet wird? Eine solche Einschätzung kann nur dann erfolgen, wenn man ausschließlich einzelsprachig arbeitet. Das diesem Sprichwort zugrundeliegende Modell ist vielmehr universell, lediglich der Städtenamen bringt eine gewisse nationale Färbung ein. Ebenso verhält es sich bei В Тулу со своим самоваром не ездят (wörtl.: ‘Man fährt nicht nach Tula mit Harry Walter 216 seinem eigenen Samowar’), das von vielen russischen Autoren als „typisch russisch“ angesehen wird, weil in denen gleich zwei russische Realien vorkommen: Tula (die Stadt der Samoware) und der Samowar. Auch hier liegt jedoch ein allgemeines Modell zugrunde (etwas dorthin bringen, wo es davon im Überfluss gibt), und entsprechende Sprichwörter gibt es in vielen Sprachen: Eulen nach Athen tragen - Holz in den Wald schaffen - Honig zum Imker bringen - To carry coal to Newcastle u. v. m. Ich möchte dieses Phänomen der Überbetonung des Nationalen an einer kürzlichen Begebenheit illustrieren. Während eines nicht allzu lange zurückliegenden MAPRJaL-Kongresses (Kongress der Russisch-Lehrkräfte) trat eine bekannte und geschätzte russische Kollegin auf und sprach über das sprachliche Weltbild, besser: über die nationale Prägung des sprachlichen Weltbildes. Und ihr Hauptbeispiel war das russische У бабы волос долог, да (а) ум короток. Устар. (Жуков 1966, S. 458). См. Волос долог, да ум короток. (wörtl.: ‘Weiber haben die Haare lang und den Verstand kurz’). Sie meinte hier ein Beispiel typisch nationaler russischer Verhaltensweisen der Männer gegenüber ihren Frauen zu erkennen: Chauvinismus, Abwertung, die Frau als Dummchen am Herd, als Objekt. Selbst als in der Diskussion klar wurde, dass dieses bei Weitem nichts Nationales ist, dass dieses Sprichwort im Gegenteil weit verbreitet ist, ließ sie sich nicht überzeugen: Das sei „typisch Russisch“, in Europa gäbe es das nicht. Hier sehen wir leider die erwähnte Tendenz nicht nur russischer oder slawischer Kollegen: eine Überbetonung des Nationalen. Und wie kommt es zu solchen vorschnellen Schlussfolgerungen? Weil die Situation in anderen Sprachen nicht beachtet wird, weil der Sprachvergleich fehlt. Deshalb versuchen wir, dem entgegenzuwirken: ═ « J Lange Haare, kurzer Verstand. Kožemjako 2003, S. 6. ═  Langes Haar - kurzer Verstand. Angriff auf das Fassungsvermögen der Töchter Eva's. Die Nasiräer trugen aber gewiss nicht langes Haar, um ihren kurzen Verstand anzuzeigen. Döllinger (Heidenthum und Judenthum, Regensburg 1857) bemerkt vielmehr, dass ihnen das Tragen des langen Haares deshalb geboten worden sei, „weil es in der heissen Jahreszeit besonders lästig wurde“. Wander 2, S. 221. ═ & Lange Haare, kurzer Sinn. Engl.: Long hair and short wit. Boecklen 1938, S. 65. ═ & Die Frauen haben langes Haar und kurzen Verstand. Die Italiener behaupten: Die Frauen sind gedankenlos wie ein Huhn. In Venetien heißt es: Die Frau hat mehr Haare als Gehirn. In Hindostan sagt man, um die Beschränktheit des weiblichen Verstandes zu bezeichnen: Die Frau nennt Brot Krume, Wasser Blasen und den Ehemann Großvater. Mhd.: Dô hiet Mäczel langes hâr und churtzen muot, jâ daz ist wâr. (Ring.) Wander 1, S. 1109. Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 217 ═ & Frauenköpfe haben langes Haar und Band und nur kurzen Verstand. (Poln.) Wander 1, S. 1142. ═ & Kurzen Mut und langes Haar haben die Weiber, das ist wahr. Lat.: Mens non inest comis. (Aristophanes.) / / Mulieres longam habent caesariem, brevem autem sensum. Wander 3, S. 799. ═ & Weiber haben langes Haar, aber kurzen Sinn. Simrock, S. 11359. »Ein kurtzen sinn die weiber haben, ob sie schon lang kleider tragen.« (Sutor, S. 125). »So schnell umlaufft des Töpffers Scheib, verändert ihren Sinn ein Weib.« Engl.: A woman's mind and winter-wind change oft. / / Winter-weather and women's thougt's often change. Lat.: Sub longis tunicis, breuis est animus muliebris. Wander 5, S. 45. ≈ & Lange Röcke, kurzer Verstand (Sinn). Behaupten die Walachen von den Frauen. Holl.: Lange kleêren, korte zinnen. Wander 3, S. 1702. ≈ & Lange Röcke, kurze Gedanken. In der Niederlausitz gegen vergessliche Dienstboten. Holl.: Lange rokken, korte memorie. Lat.: Mulieres sunt fere ut pueri, levi sententia. (Terenz.). Wander 3, S. 1702. ≈ & Lange Kleider, kurzen Verstand haben die Weiber bei uns zu Land. Lat.: Foemina praelongis amicit sua corpora pannis, sub quibus assuevit mens latitare brevis. / / Sub longis tunicis brevis est animus mulieris. Lit.: Moterisskês ilgas Rubas, trumpas Umas. Wander 2, S. 1378. ≈ & Lange Kleider, kurzer Sinn. Fink-Henseler 1996, S. 329. ≈ & Langer Zopf, kurzer Verstand. (Wander 5, S. 599) ≈ & Eine Frau hat kurzen Mut und lange Kleider. Wander 1, S. 1114. И сп . ═ & Cabello luengo y corto el seso. Arthaber 1981, S. 226. ≠ & Tanta suele ser la necedad, cuanta fuere la hermosura. Strauss 1994, S. 545. Wie viele Sprachen sollten optimal in einem solchen Wörterbuch vertreten sein? Wir haben ein solches Experiment mit einem kleinen Russisch-Deutschen Wörterbüchlein begonnen, das - auf den Erfahrungen Permjakovs beruhend - knapp 400 Einheiten in der Ausgangssprache umfasste (zur Auffassung Permjakovs über ein parömiologisches Minimum siehe den Beitrag von Valerij M. Mokienko in diesem Band). In den einzelnen Einträgen haben wir ca. 20 weitere Sprachen herangezogen, was die vielen Lemmata sehr „aufgebläht“ hat. Es ist kein Geheimnis, dass wir selbst unter den Autoren unseres Wörterbuchs keine endgültigen Konsens gefunden haben, denn die Einen wollten möglichst viele Parallelen aus verschiedenen Sprachen, andere deutlich weniger, etwa fünf bis sechs. Was spricht für Parallelen aus einer großen Sprachenzahl? Sie bieten die einmalige Chance, Eigenes und Fremdes, Spezielles und Allgemeines in direkter Konfrontation zu betrachten zu betrachten. Gerade der Sprachvergleich zeigt, dass wir viel mehr Gemeinsames als Trennendes haben. Viele russische Parömien sind direkt mit dem europäischen Erbe ver- Harry Walter 218 bunden, die Gründe dafür sind allgemein bekannt. Auf diesen Aspekt legen wir in unserer Zusammenstellung ein besonderes Gewicht. Selbst an den Stellen, an denen wir auf einen historisch-etymologischen Kommentar verzichten, finden wir für die Mehrzahl russischer Sprichwörter fremdsprachige Parallelen, die die gemeinsame Basis und intersprachliche Universalien der parömiologischen Bilder und Strukturen aufzeigen können, vgl. die slawischen und nichtslawischen Parallelen des Sprichwortes Лучше синица в руках, чем журавль в небе (wörtl.: ‘Besser ein Spatz in der Hand als ein Kranich am Himmel’): « Лучше синица в руках, чем журавль в небе. Жуков 1966, S. 214, 301-303; Мелерович, Мокиенко 1997, S. 653-656; ШСП 2002, S. 222-224. (букв.: ... als ein Kranich am Himmel) ═ « J Lieber (besser) ein Spatz (den Sperling) in der Hand als die Taube auf dem Dach. Frey 1988, S. 13; Fritz 2003, S. 39. Engl.: A bird in [the] hand is worth two in the bush. Lat.: Plus valet in manibus passer quam sub dubio grus. Poln.: Lepszy wróbel v ręku niź sokół (cietrzew, bażant) na sęku. / / Lepszy grosz dany niż złoty obiecany. Tschech.: Lepší vrabec v hrsti, nežli holub na střeše. Schmelz 1990, S. 55. In einer Berliner Zeitung las man 1864: Besser ein Commissionsrath in der Hand, als ein rother Adler auf dem Dache. Frz.: Il ne faut jamais quitter le certain pour l'incertain. It.: E meglio un fanello in gabbia che un falcone in campagna. Lat.: Capta avis est melior, quam mille in gramine ruris. / / Ignotum tibi tu noli praeponere notis. (Cato.) / / Impraesens ova cras modo pullis sunt meliora. / / Incerta pro spe non munera certa relinque. / / Praesens est certior hora. / / Praevalet in manibus sexcentis una volucris. / / Pro incerta spe certa praemia. / / Stultum est in certa procertis sumere. Ung.: Jobb ma egy veréb mint sem holnap egy túzok. Wander 4, S. 669. ═ & Besser ein Spatz in der Hand, als ein Kranich, der fliegt, über Land. Wander 1, S. 330. ═ & Besser ein Sperling in der Hand, als ein Rebhuhn im Strauche. Wander 1, S. 330. ≈ & Besser ein Vogel im Bauer als [denn] Tausend in der Luft. Kožemjako 1997, S. 19. ≈  Ein Vogel in der Schüssel ist besser als zehn in der Luft. Fink-Henseler 1996, S. 576. ≈ & Besser eine Grundel auf dem Tisch als im Teich ein großer Fisch. Fink- Henseler 1996, S. 262. ≈ & Lieber eine Laus im Kraut als gar kein Fleisch. Kožemjako 1997, S. 19. ≈ & Haben ist gewiss, Kriegen ist miss. Kožemjako 1997, S. 19. ≈ « J Más vale pájaro en mano que ciento/ buitre volando. Sevilla 2001, S. 194; GDR 2001, S. 259. ≈ « J Más vale pájaro en mano que cien(to) volando DPR 2002, S. 354. Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 219 ≈ & Más vale pájaro en mano que buitre volando. Arthaber 1981, S. 794; GDR 2001, S. 259. ≠ & No dejes lo ganado por lo que has de ganar. Sevilla 2001, S. 212. ≠ & Más vale vaca en paz que pollos con agraz. Arthaber 1981, S. 582. ≠ & Más amo asno que me lleve, que caballo que me derueque. Arthaber 1981, S. 797. 2. Wie sollen die Einheiten im Wörterbuch angeordnet sein? Die Information, die in Sprichwörtern enthalten ist, hat eine zweifache Ausrichtung. Einerseits geben sie Belehrungen, Erfahrungen, kurze Empfehlungen für faktisch alle Situationen im Leben. Und genau deshalb sind viele Sprichwortsammlungen thematisch aufgebaut, die das „Sujet“ der Themenkreise umreißen: ‘Arbeit’, ‘Faulheit’, ‘Lernen’, ‘Mut’, ‘Feigheit’ usw. Andererseits sind Sprichwörter das „Schatzkästchen vergangener Zeiten“, der Geschichte, Kultur. Sie zeugen von - heute bereits untergegangenen - Bildern und Vorstellungen. Für unsere oben genannte Zielsetzung scheint eine thematische Zuordnung jedoch nicht sinnvoll, denn diese zielt auf eine aktive Verwendung, auf eine Nutzung als Unterstützung des Gesagten. Da wir es mit Studierenden fremdsprachlicher Philologien außerhalb Russlands zu tun haben, sind vor allem das Verständnis der Einheiten und die Übertragbarkeit (Äquivalentierung) in die Muttersprache relevant. Ähnlich sieht es mit der häufig praktizierten Methode aus, Sprichwörter - das gilt auch für Phraseologismen - in rein alphabetischer Reihenfolge nach der ersten Komponente anzuführen. Hier liegt das Problem darin, dass ein Nutzer, der kein Muttersprachler ist oder die Fremdsprache auf muttersprachlichem Niveau beherrscht, die ihn interessierenden Einheiten oft nur zufällig findet. Dies ist z. B. bei dem als Klassiker gehandelten, eigentlich guten und in wirklich beeindruckenden Auflagen gedruckten Wörterbuch von Michail J. Zwilling (Zwilling 2001) der Fall. Etwas entschärft wird diese Situation durch einen relativ ausführlichen Index. Trotzdem „findet“ der Lerner die ihn interessierende Einheit erst nach langem Suchen - oder eben gar nicht. Wir haben uns deshalb entschieden, das Prinzip der ersten nominalen (resp. substantivischen) Komponente zu wählen. Hier findet der Nutzer dann Einheiten mit derselben Grundlexik unter einem Stichwort. Der Nachteil eines solchen Herangehens besteht darin, dass man ein ziemlich komplexes Verweissystem entwickeln muss, d. h. möglichst nicht nur einen Index, sondern zumindest zwei - oder gar drei anzulegen hat. Dies macht aber den Anhang unübersichtlicher, das Buch dicker und teurer. Es sichert jedoch auch die Nutzung in mehrere Sprachrichtungen - wenn solche Indizes für die aufgeführten Harry Walter 220 Einheiten in jeder der beteiligten Sprachen existiert. Wir haben dieses Experiment durchgeführt und somit „drei Wörterbücher in einem“ erhalten. 3. Zur Angabe der Äquivalenz Die Differenzierung nach dem Äquivalenzgrad erfolgt in drei Gruppen: = - Übereinstimmung, ≈ - Äquivalenz mit ähnlichem Bild und ähnlicher Stilistik, ≠ - Äquivalente mit anderem Bild. Frage: Ist eine feinere Differenzierung sinnvoll? Ein Wörterbucheintrag sieht somit etwa so aus: БЕРЕЖЁНЫЙ « Бережёного [и] Бог бережёт. Жуков 1966, S. 43-44. С ≈ « J Vorsicht ist besser als Nachsicht. Kožemjako 2003, S. 3; Zwilling 2001, S. 20; Anutei 1978, S. 164. ≈ « Vorsicht ist die Mutter der Weisheit (scherzh. der Porzellankiste). Frey 1988, S. 67; Zwilling 2001, S. 20; Anutei 1978, S. 164. ≈  Vorsorge verhütet Nachsorge. Anutei 1978, S. 164; Simrock, 11064. ≈ & Wenig Vorsorge, viel Nachsorge. Mhd.: Je minner sorge, ie groezer vâr. Wander 4, 1703. ≈ & Besser Vorsorge als Nachsorge. Wander 4, S. 1702. ≈  Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht. Zitate 2003, S. 463. ≈ « J Hombre prevenido vale por dos. Arthaber 1981, S. 143. ≈ & Ayúdate, y el Cielo te ayudará. Arthaber 1981, S. 12. ≈ & Viene ventura a quien la procura. Arthaber 1981, S. 1294. ≠ & Ayúdate, y te ayudaré. Sevilla 2001, S. 68. ≠ & En la calle de Meca, quien no entra no peca. GDR 2001, S. 177. ≠ & Quien quita la ocasión, quita el pecado. GDR 2001, S. 177. ≠ & Hombre atrevido, cada día en peligro. GDR 2001, S. 203 ≠ & Hombre atrevido, dura como un vago de vidrio. GDR 2001, S. 203 ≠ & Hombre atrevido, odre de buen vino, y vago de vidrio, duran poquito. GDR 2001, S. 203 ≠ & Los valientes y un buen vino duran poco. GDR 2001, S. 203 ≠ & La gala del nadador es saber guardar la ropa. GDR 2001, S. 217. Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 221 In den Fällen, in denen wir kein direktes Äquivalent im Deutschen oder Spanischen finden konnten, führen wir eine wörtliche Übersetzung an und kennzeichnen diese mit einem Sternchen (*). ГУСЬ « Гусь свинье не товарищ. Жуков 1966, S. 114-115; ШСП 2002, S. 77. ≈  J Der Ochse und die Nachtigall hаben beid' ungleichen Schall. ≠  Die Gesunden und die Kranken haben ungleiche Gedanken. Kožem-jakov 1977, S. 10. ≠ & Ungleich trennt die Freundschaft. Kožemjakov 1997, S. 10. * El ganso no es compañero del cerdo. 4. Zur Beschreibung des typischen Gebrauchs der Parömien Leider fehlt in fast allen uns bekannten Darstellungen eine funktionale Charakteristik des beschriebenen oder angeführten Materials. Dies versuchen wir zu überwinden und differenzieren unser Sprachmaterial nach der Verwendungshäufigkeit (resp. Bekanntheit) in Ausgangs- (in unserem Fall der russischen) und der Zielsprache. Dies kennzeichnen wir ebenfalls in drei Gruppen, und zwar durch folgende Symbole: « - aktuell,  - verständlich, jedoch nicht sehr gebräuchlich, & - verständlich, aber nur in der (älteren) Literatur anzutreffen. Eine solche Differenzierung erscheint uns notwendig und nützlich, denn Sprichwörter können selbst bei gleicher Form und gleichem Bild in den Sprachen eine sehr unterschiedlichen Bekanntheitsgrad und somit auch eine unterschiedliche Gebrauchshäufigkeit aufweisen. Es kann also durchaus der Fall eintreten, dass eine hochfrequente Einheit der einen Sprache nicht der mit gleichem Bild und gleicher Struktur am besten entspricht, sondern ein Sprichwort mit anderem Bild und anderer Struktur. Dies wird in der Reihe unserer zielsprachiger Entsprechungen an erster Stelle angeführt. Als zusätzliches (zugegebenermaßen subjektives) Charakteristikum stellen wir heraus, welches der angeführten Äquivalente in der Mehrzahl der Fälle dem Ausgangssprichwort am besten entspricht und kennzeichnen dies durch J . Strittig ist, ob eine solche Kennzeichnung überhaupt „erlaubt“ ist. Muss ein Wörterbuch nicht möglichst frei sein von subjektiven Meinungen, Empfindungen, Vorlieben? Oder ist es legitim, dass man die Autoren spürt? Unsere Erfahrung zeigt, dass die Nutzer dies akzeptieren und selbst aus kritischen Kollegenkreisen kamen bisher keine ablehnenden Meinungen. Harry Walter 222 Es sei noch angemerkt, dass für uns die genaue Angabe der Quellen (die „Passportisierung“ - eine Überprüfung, ob dieser Terminus „funktioniert“ ergab bei Google knapp 1 000 Verwendungen - nicht viel), äußerst wichtig ist. Auch hieran lässt sich manches über die Sprichwörter ablesen. Sind es neuere Sammlungen oder ältere, wann war die vermutlich älteste Fixierung, sind es wissenschaftliche Aufarbeitungen oder populäre Sammlungen u.A. Dadurch ist es möglich, den chronologischen Rahmen dieses oder jenes Sprichworts abzustecken, seine geografische und internationale Verbreitung des Funktionierens und in nicht seltenen Fällen - Korrekturen in unseren eigenen Materialien vorzunehmen. An einigen wenigen Stellen haben wir Antisprichwörter im Mieder'schen Sinne (Mieder 1998) aufgenommen. Auch hier steht die berechtigte Frage: Gehören sie in ein solches Material hinein? Wir haben uns in geringem Umfange deshalb dafür entschieden, weil hierdurch die Bekanntheit der Ausgangswendung unterstrichen wird: АППЕТИТ « Аппетит приходит во время еды. Интерес к делу появляется по мере его успешного продвижения. < Пословица - калька с французского L'appetit vient en mangeant, которая заимствована из романа Франсуа Рабле «Гаргантюа и Пантагрюэль» (ч. 1, гл. 5 - 1532). Автором пословицы был епископ города Ле Ман Жером де Анже (умер в 1538 г.), употребивший её в сочинении «О причинах» (1515). БМШ 2000, S. 30; Жуков 1966, S. 31. ═ « J (Der) Appetit kommt beim (im) Essen. Wander 1, S. 112; Kožemjako 2003, S. 3; Weidenfeld 2000, S. 20; Адамия 2005, S. 11. Poln. Apetyt rośne (wzrasta) w miarę jedzenia. Stypuła 2003, S. 10, 455. ═ & Im Essen kommt der Appetit. Dän.: Bid byder aanden og drik ligesom. Wander 1, S. 887 ... ® Ich habe gar keinen Appetit, sagt Herr von Köppern, und aß die Speisekarte durch, um Appetit zu kriegen. (Pommern.). < Herr von Köppern lebte noch in den vierziger Jahren (d. 19. Jh - H.W.), und galt als Merk- und Sehenswürdigkeit. Das Sprichwort wird mit Weglassung des Schlusssatzes: „und aß“ usw. oft ironisch von Sprechenden auf sich selbst angewandt. Wander 5, S. 787. Ein Antisprichwort ist die Transformation einer stereotypen Wortsequenz wie etwa eines Sprichworts, eines „geflügelten Wortes“ oder einer Redewendung mit dem Zweck einer humoristischen Wirkung, beispielsweise das Sprichwort Viele Köche verderben den Brei. Wird diese Sequenz mitsamt ihrer Bedeutung verändert (beispielsweise zu Viele Köche verderben die Köchin), so liegt eine solche Transformation vor. Gerade Antisprichwörter können uns zeigen, ob ein Ausgangs-Sprichwort aktiv ist, ob es verwendet wird, denn nur das, was bekannt ist, wird auch transformiert. Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 223 Die gesamte Struktur unseres experimentellen Wörterbuches ist dem Streben nach einer komplexen Beschreibung des russischen Materials im Spiegel deutscher und spanischer Parallelen untergeordnet. Der Nutzer kann auf diese Weise nicht nur besser seine eigene Muttersprache kennen lernen, er kann sich auch davon überzeugen, dass die in der Russistik viel beschriebene „geheimnisvolle russische Seele“ (загадочная русская душа) sehr offen ist gegenüber den nicht weniger „geheimnisvollen Seelen“ der anderen europäischen Völker. Deshalb haben wir auch die Absicht, ähnliche Arbeiten für weitere Sprachen durchzuführen, z. B. für das Polnische, Tschechische und Ukrainische. Literatur Bierich, Alexander (2005): Russische Phraseologie des 18. Jahrhunderts. Entstehung, Semantik, Entwicklung. (= Heidelberger Publikationen zur Slavistik: A, Linguistische Reihe 16). Heidelberg. 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In: Földes, Csaba (Hg.): Res humanae proverbiorum et sententiarum. Ad honorem Wolfgangi Mieder. Tübingen, S. 205-218. Mokienko, Valerij M. (2005): La parémiologie russe: une partie de l'espace linguistigue et culturel européen. In: Revue des études slaves 76, 2-3: Les proverbes en Russie. Trois siècles de parémiographie, S. 279-291. RDSW (2009) = Walter, Harry / Mokienko, Valerij / Ruiz-Zorilla Cruzate, Marc / Zainouldinov, Andrei (2009): Russisch-Deutsch-Spanisches Wörterbuch aktueller Sprichwörter. Mit europäischen Parallelen und Zeichnungen von Regina Walter. Greifswald. Harry Walter 224 Viellard, Stéphane (2005): Ippolit Bogdanovič ou l'avènement de la raison parémiographique. In: Revue des études slaves 76, 2-3: Les proverbes en Russie. Trois siècles de parémiographie, S. 307-323. Walter, Harry / Mokienko, Valerij M. (2011): (K)Ein Buch mit sieben Siegeln. Historisch-etymologische Skizzen zur deutschen Phraseologie. Greifswald. Wander, Karl Friedrich Wilhelm (1867-1889 [1964/ 1987]): Deutsches Sprichwörterlexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. 5 Bde. Leipzig. [Nachdr. Darmstadt 1964, Kettwig 1987]. Zwilling, Michail J. (2001): Sprichwörter. Sprichwörtliche Redensarten. Russisch- Deutsches Wörterbuch. Über 700 Einheiten. 2. unveränd. Aufl. Moskau. Богданович, Ипполит Федорович (1785): Руския пословицы, собраные Ипполитом Богдановичем. В Санктпетербурге, иждивением Императорской Академии наук. [части I-III, с раздельной пагинацией]. [Zit. nach: Viellard 2005, S. 319]. Даль, Владимир Иванович (1862 [1984]): Пословицы русского народа. Москва [Т. I-II. Москва 1984]. Жигулев, Александр Макарович (1969): Русские пословицы и поговорки. Москва. Жуков, Влас Платонович (2002): Предисловие к «Словарю русских пословиц и поговорок». 9-е изд. Москва. Занглигер, Валерий Францевич (2007): Определение пословицы как паремиологическая проблема. In: Болгарская русистика 1-2, S. 5-30. Зимин, Валентин Ильич / Спирин, Алексей Семенович (1996): Пословицы и поговорки русского народа. Москва. Илюстратов, Иван Павлович (1915): Жизнь русского народа в его пословицах и поговорках. Санкт-Петербург. Мокиенко, Валерий Михайлович / Лилич, Галина Алексеевна / Трофимкина, Ольга Ивановна (2010): Толковый словарь библейских выражений и слов. Более 2000 единиц. Москва. Мокиенко, Валерий Михайлович / Никитина, Татьяна Геннадьевна / Николаева, Елена Каировна (2010): Большой словарь русских пословиц. Москва. Розенталь, Дитмар Эльяшевич / Теленкова, Маргарита Алексеевна (1985): Словарь-справочник лингвистических терминов. Москва. Сверчиньская, Доброслава / Сверчиньский, Анджей (2008): Словарь пословиц на восьми языках. Москва. [Auch: Świerczyńska, Dobrosława / Świerczyńsky, Andrzej: Słownik przysłów w ośmi językach. Warszawa 2001]. СЛТ (1974): Словарь литературоведческих терминов. Ред.-сост. Л. И. Тимофеев, С. В. Тураев. Москва, S. 272f., 276f. Probleme der Erstellung von zwei- und mehrsprachigen Sprichwörterbüchern 225 Симони, Павел Константинович (1899): Старинные сборники русских пословиц, поговорок, загадок и пр. XVI-XVIII ст.ст. Санкт-Петербург. Спирин, Алексей Семенович (1985): Русские пословицы. Сборник русских народных пословиц и поговорок, присловиц, молвушек, приговорок, присказок, крылатых выражений литературного происхождения. Ростов-на-Дону. Željka Matulina Die Verwendung von Sprichwörtern in kroatischen, bosnischen, serbischen und deutschen Printmedien 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag präsentiert die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von Sprichwörtern (weiter im Text auch abgekürzt SW) 1 in einigen kroatischen, bosnischen, serbischen und deutschsprachigen Zeitungen. Zeitungen stellen eine sehr geeignete Materialgrundlage für eine parömiologische Untersuchung dar, zum einen, weil es sich um weit verbreitete Texte mit thematisch sehr unterschiedlichen Sparten handelt, und zum anderen, weil in Zeitungen viele verschiedene Textproduzenten (Journalisten, Kolumnisten, Leser, bekannte Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben u. a.) miteinbezogen sind. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die typische Verwendung von Sprichwörtern in ausgewählten südslawischen und deutschsprachigen Zeitungstexten zu beschreiben und miteinander zu vergleichen. Im Vordergrund steht die Frage, ob man anhand von den Pressetexten verschiedener Sprachgemeinschaften eventuelle Gemeinsamkeiten oder spezifische Züge im Gebrauch von Sprichwörtern feststellen kann. An parömiologischen Arbeiten über die Verwendung des SW in der Zeitung hat es in den letzten drei Jahrzehnten nicht gefehlt. Die Anfänge der parömiologischen Analysen der deutschen Printmedien liegen in den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Anregung für die gesamte spätere Beschäftigung mit dem Sprichwort in der Zeitung gaben hervorragende Studien von Max Lüthi (1970) und Wolfgang Mieder (1973, 1978). Deutsche Zeitungen sind bis jetzt relativ viel untersucht worden. 2 Was den südslawischen Raum anbetrifft, 1 Unter Sprichwort wird eine „knapp und treffend formulierte Lebensweisheit verstanden, die bestimmte gesellschaftliche Erfahrungen in hohem Grade verallgemeinert“ (Conrad 1975, S. 251). Der Wahrheitsanspruch der Inhalte von Sprichwörtern wird im modernen Sprachgebrauch allerdings oft in Frage gestellt (Forgács 1997, S. 74). Vor allem gilt dies für die geschriebenen Medien, wo die Sprichwörter formal und inhaltlich modifiziert werden und ihre Bedeutung sogar ins Gegenteil verwandelt wird (ebd., S. 75). Das spaßige Spiel mit Sprichwörtern sei nichts Neues, stellte Mieder in seiner Sammlung Verdrehte Weisheiten (1998, S. VI) fest und betonte, dass die kritische Auseinandersetzung mit der alten Volksweisheit in der Literatur und den Massenmedien besonders auffällige Ausmaße angenommen habe. 2 Auskunft über die zahlreichen parömiologischen Publikationen zum Thema Sprichwort in der Presse geben die von Wolfgang Mieder zyklisch herausgegebenen Bände International Proverb Scholarship: Annotated Bibliographies. Željka Matulina 228 scheint die Situation ganz anders zu sein: Es fehlen noch systematische Untersuchungen der Printmedien, um die Fragen nach der Frequenz, nach der Bekanntheit und nach den Verwendungsmodalitäten der SW zu beantworten. Der Gebrauch von SW in kroatischen Zeitungen ist von einigen (wenigen) Autorinnen und Autoren behandelt worden (Bošković-Stulli 1980; Endstrasser 1990, 1995; Matulina 1994, 1995, 1998, 2005), ebensowenig wurden bosnische Zeitungen untersucht (Matulina / Ćoralić 2008, 2010). Parömische Untersuchungen serbischer Zeitungen fehlen noch ganz. 3 Von diesem Hintergrund aus fand ich es ausschlaggebend, eine Untersuchung von SW in den Printmedien verschiedener angrenzender südslawischer Areale und Länder des deutschsprachigen Gebiets zu machen, um die bisherigen Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand zu erweitern. 2. Die Zielsetzung Um den heutigen Gebrauch von SW in den südslawischen Printmedien wenigstens annähernd beschreiben zu können, wurde ein Korpus mit drei Wochenzeitungen aus geografisch differenzierten Regionen (Ländern) des südslawischen Sprachareals (Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien) ausgewählt. Grundlage der Untersuchung bilden Sprichwortbelege aus fünf inhaltlich, politisch und in Bezug auf das Leserpublikum vergleichbaren Zeitungen: aus der kroatischen Wochenzeitung „Globus“ (GL), aus der bosnischen Wochenzeitung „Slobodna Bosna“ (BO), aus der serbischen Wochenzeitung „Nedeljne informativne novine“ (NIN), aus der österreichischen Wochenzeitung „Die Wochenpresse“ (WP) und aus der deutschen regionalen Tageszeitung „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ), die in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellt. Das Untersuchungsmaterial enthält insgesamt 382 Token-Belege, 4 also 382 okkasionell modifizierte Varianten der SW, von denen 235 (77+60+98) Belege in südslawischen und 147 (114+33) in deutschsprachigen Zeitungen vorgefunden wurden. 3 Unter den bibliografischen Angaben zu den erschienenen wissenschaftlichen Publikationen in den von Mieder herausgegebenen International Proverb Scholarship: Annotated Bibliography 1990-2000 und International Proverb Scholarship: An Updated Bibliography (in: Proverbium 27, 2010, S. 463-533) gibt es keine Angabe zu den parömiologischen Untersuchungen der serbischen Printmedien. 4 Unter den SW-Belegen wird hier zwischen den Type-Belegen (abgekürzt Ty-B) und den Token-Belegen (abgekürzt To-B) unterschieden. Die Type-Belege sind unterschiedliche Kernsprichwörter, während die Token-Belege einzelne okkasionelle Varianten der Type-SW darstellen. Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 229 Zuerst wurde die Verwendung von SW in den ausgewählten südslawischen Zeitungen analysiert und dann wurden die Ergebnisse mit zwei entsprechenden deutschsprachigen Zeitungen verglichen. Bei der Analyse wurde von folgenden Fragestellungen ausgegangen: a) Welche Sprichwörter werden in den ausgewählten südslawischen und deutschsprachigen Printmedien verwendet? b) Wie häufig kommen die Sprichwörter vor? c) Wo im Text werden die Sprichwörter platziert? d) Welche Form haben die verwendeten Sprichwörter? e) Gibt es irgendwelche Besonderheiten im Gebrauch der SW? 3. Das Korpus und die Methode Alle Zeitungen wurden sorgfältig durchgelesen und alle von mir erkannten SW markiert. Jedes SW habe ich in den Spezialwörterbüchern (siehe Wörterbücher und Lexika im Literaturverzeichnis) nachgeschlagen, um es zu belegen. Die wenigen SW, die in keinem der benutzten Wörterbücher registriert wurden, habe ich trotzdem berücksichtigt und mich im Internet über die Existenz und über die Verwendung der betreffenden SW vergewissert. In einigen Fällen, vor allem wenn ich im Internet keine Belege finden konnte, wurden Informanten zu Rate gezogen: Sie sollten sagen, ob sie das betreffende SW bzw. dessen Bedeutung kennen. Anschließend habe ich die in jeder Zeitung gefundenen SW in Listen zusammengestellt. Die SW in verschiedenen Zeitungen wurden nach bestimmten Kriterien wie Fundus, Herkunft, Häufigkeit, Anwendung in verschiedenen Zeitungssparten, Stelle im Text und Modifikationen analysiert. Insgesamt wurden 382 Token-Sprichwörter auf 28 888 Seiten gefunden. In den Listen sind die SW in der Kernform (Type-Form des SW) verzeichnet, im metasprachlichen Text des Beitrags sind auch die okkasionell modifizierten Token-Formen der Kernsprichwörter angegeben. Um den Umfang des Aufsatzes in Grenzen zu halten, wird darauf verzichtet, die Bedeutungen aller SW zu erklären. Nur in einigen Fällen wurden die SW in den Fußnoten übersetzt. Das kroatische Korpus umfasst 70 Ausgaben der in Zagreb erscheinenden Wochenzeitung GL aus einem Zeitraum von sechs Jahren 5 (2005-2011). Eine Zeitungsausgabe enthält 120 Seiten. Das Korpus umfasst insgesamt 8 400 Seiten. Die Zahl der parömischen Token-Belege ist 77 und die Zahl der Type- Belege ist 49, was eine Frequenz von einem Sprichwort je 109 Seiten oder 5 Sowohl in der kroatischen Zeitung GL als auch in den übrigen vier Zeitungen aus dem Korpus wurden nicht die ganzen Jahrgänge berücksichtigt, sondern nur einzelne, zur Verfügung stehende Ausgaben. Die Zahl der Ausgaben ist der Tabelle 1 zu entnehmen. Željka Matulina 230 0,91% ergibt. Die meisten SW sind nur auf einige der insgesamt 13 Sparten distribuiert. Die meisten davon sind im Rahmen der Werbung, in der Rubrik „Izlog“ („Schaufenster“) und in den innenpolitischen Kolumnen anzutreffen. Das bosnische Korpus umfasst 43 Ausgaben der in Sarajevo erscheinenden Wochenzeitung BO aus einem Zeitraum von vier Jahren (2005-2008). Eine Zeitungsausgabe enthält 80 Seiten. Das Korpus umfasst insgesamt 3 440 Seiten. Die Zahl der parömischen Token-Belege ist 60 und die Zahl der Type-Belege ist 55. Die Frequenz ist ein Sprichwort je 57 Seiten oder 1,74%. Die SW sind nur auf einige der insgesamt 10 Sparten verteilt: die meisten sind in der Sparte „Kultur“ anzutreffen und etwas weniger im Kontext der Sparte „Politik“. Das serbische Korpus umfasst 86 Ausgaben der in Belgrad erscheinenden Wochenzeitung NIN aus einem Zeitraum von drei Jahren (2005-2007). Jede Ausgabe enthält 80 Seiten. Das Korpus umfasst insgesamt 6 880 Seiten. Insgesamt wurden auf diesen 6 880 Seiten 98 parömische Token-Belege und 74 Type- Belege gefunden. Das macht eine Frequenz von einem Sprichwort je 70 Seiten oder 1,40% aus. SW sind in jeder der insgesamt 30 unterschiedlichen Sparten wenigstens einmal vorhanden. Die meisten Belege sind in den Kolumnen „Tir(n)anija“ („Tyr/ n/ annei“) und „Štap i šargarepa“ („Der Prügelstock und die Mohrrübe“), in der Sparte „Odjeci“ („Das Echo“ 6 ), in der Sparte „Društvo“ („Gesellschaft“) und in der Sparte „Politika“ („Politik“) zu finden. Das österreichische Korpus umfasst 119 Ausgaben der in Wien publizierten Wochenzeitung WP aus dem Zeitraum von vier Jahren (1987-1990). Jede Zeitungsausgabe enthält 72 Seiten. Das Korpus umfasst insgesamt 8 568 Seiten. Auf den 8 568 Seiten wurden 114 parömische Token-Einheiten und 74 Type-Einheiten gefunden. Das macht eine Frequenz von einem Sprichwort je 74 Seiten oder 1,33% aus. SW sind in jeder der insgesamt 30 unterschiedlichen Rubriken wenigstens einmal nachweisbar. Die meisten SW sind im Kontext der Werbung anzutreffen, etwas weniger in der Rubrik „Inland“ und in der Rubrik „Tips“. Das deutsche Korpus umfasst 25 Ausgaben der in Essen erscheinenden Tageszeitung WAZ und bezieht sich auf einen Monat (November 1991). 7 Jede Zeitungsausgabe enthält 64 Seiten. Das Korpus umfasst insgesamt 1 600 Seiten 6 In dieser Sparte werden Leserbriefe an die Redaktion veröffentlicht; inhaltlich beziehen sich die Briefe auf die in früheren Ausgaben der Zeitung angesprochenen Themen. 7 Bei der Zusammenstellung eines Korpus von Pressetexten hält Lewandowska (2008, S. 190) folgende Faktoren für wichtig: 1. Vergleichbarkeit der Presseorgane (Auflage, Zielpublikum, politischer Standpunkt), 2. Vergleichbarkeit der Zeiträume, aus denen die Korpora stammen, 3. Streuung der Fundorte und 4. Vergleichbarkeit der Größenordnung von Belegen. Eine genaue Statistik in Bezug auf unser Belegmaterial kann leider nicht durchgeführt werden, da unser Korpus nicht vollständig ist und die berücksichtigten Zeitungen in ver- Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 231 mit 33 parömischen Token-Einheiten und 23 Type-Einheiten. Die Frequenz, die sich daraus ergibt, ist ein Sprichwort je 48 Seiten oder 2,06%. Die SW sind in 9 der insgesamt 16 unterschiedlichen Sparten nachweisbar. Die meisten SW erscheinen im Rahmen der Werbung, in den „Anzeigen“ und in der Sparte „Sport“. Mit einer solchen Auswahl von Zeitungen aus verschiedenen Regionen bzw. Ländern sollte hier geprüft werden, ob sich beim Gebrauch von SW eventuelle Gemeinsamkeiten und diatopisch spezifische Merkmale bestätigen lassen. Zeitung Zeitraum Zahl der Ausgaben Zahl der Seiten pro Ausgabe Gesamtzahl der Seiten (GdS) Frequenz der Token- Belege (To-B) in Bezug auf GdS Zahl der Type- Belege (Ty-B) Zahl der Token- Belege (To-B) GL 2005-2011 70 120 8 400 0,91% 1 SW je 109 Seiten 49 77 BO 2005-2008 43 80 3 440 1,74% 1 SW je 57 Seiten 55 60 NIN 2005-2007 86 80 6 880 1,40% 1 SW je 70 Seiten 74 98 WP 1987-1990 119 72 8 568 1,33% 1 SW je 74 Seiten 74 114 WAZ Nov. 1991 25 64 1 600 2,06% 1 SW je 48 Seiten 23 33 total 343 28 888 275 382 Tab. 1: Korpusangaben 4. Frequente SW im Korpus An den Listen von festgestellten Sprichwörtern können wir beobachten, welche Sprichwörter in der jeweiligen Zeitung überhaupt verwendet werden und welche darunter frequent vorkommen. schiedenen Zeiträumen erschienen sind. Trotz dieser Einschränkung lässt sich eine gewisse Häufigkeitstendenz und Varietät des parömiologischen Materials sowie die typische Verwendung von Sprichwörtern im Pressetext erkennen. Željka Matulina 232 Unter den 178 Type-Belegen (Ty-B) im südslawischen Korpus treten 33 (18,53%) SW zwei- oder mehrmals auf und unter den 97 Type-Belegen im deutschsprachigen Korpus treten 33 (34,02%) SW zwei- oder mehrmals auf. Die Sprichwörter, die zweimal oder mehrmals im Korpus auftreten, werden mit dem Sammelbegriff ‘frequent’ bezeichnet, und diejenigen SW, die nur mit einem Beleg im Korpus vertreten sind, gehören in die Gruppe der ‘nicht frequenten’ SW. Die Zahl der Belege aus den beiden Gruppen ist der Tabelle 2 zu entnehmen. Zeitung mehrmals vorkommende SW einmal vorkommende SW GL (49 Ty-B) 17 32 BO (55 Ty-B) 5 50 NIN (74 Ty-B) 11 63 WP (74 Ty-B) 27 47 WAZ (23 Ty-B) 6 17 Tab. 2: Frequente SW im Korpus Um welche SW es sich in der jeweiligen Zeitung handelt, zeigen die im Anhang unten gegebenen Listen. Die Listen der nicht frequenten SW sind als Anhang beigelegt. Die SW, die in keinem der benutzten Wörterbücher/ Lexika inventarisiert sind, werden mit ‘nicht belegt’ markiert. Die Untersuchung des Belegmaterials ergab, dass die lateinischen und biblischen SW, in dieser Arbeit noch in Anlehnung an Ďurčo (2005, S. 10) ‘künstlich’ genannt, in allen fünf Zeitungen unter die frequentesten gehören. Die SW dieser Gruppe zeichnen sich durch die größte interlinguale Äquivalenz aus. 8 In den meisten Fällen sind diese SW an auffälligen Stellen im Pressetext platziert, vor allem als Titel eines Zeitungsartikels (so in GL, NIN, WP und WAZ) oder Titel eines Textabschnitts (so in BO). Es ergab sich aus der Analyse, dass die SW lateinischer Herkunft am wenigsten formal modifiziert werden und vorwiegend in lateinischer Sprache als Titel der Zeitungsartikel eingesetzt werden. Von den 77 SW ohne Modifikation (siehe Tab. 8) entfallen auf lateinische Sentenzen 29 (37,66%) Belege. Das Auftreten der Parömie in der fremden Sprache übt einen viel stärkeren psychologischen Eindruck auf den Rezipienten des Pressetextes aus als die parömische Entsprechung in der Sprache der Zeitung. Die Journalisten spielen absichtlich mit dem Kontrast „unbekannt“ -„bekannt“ 8 „It is well known that the common proverb tradition in Europe is based on the Mediterranean cultures, Greco-Roman classics, the Bible and Medieval Latin. The Hebrew and Greek Bible, first in the Latin translation (Vulgate), then in various vernaculars, has been the most important source of proverbs in Europe and on other continents too, where Europeans have settled.“ (Paczolay 1993, S. 265) Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 233 und „fremdsprachlich“ - „eigensprachlich“, sie verwenden bewusst Parömien mit „exotischen“ Komponenten, 9 weil sie ihre Texte möglichst effektvoll und für den Leser anziehend machen wollen. folkloristisch lateinisch biblisch GL (77 To-B) 57 (74,02%) 14 (18,18%) 6 (7,79%) BO (60 To-B) 48 (80,00%) 11 (18,33%) 2 (3,33%) NIN (98 To-B) 70 (71,42%) 11 (11,22%) 17 (17,34%) WP (114 To-B) 89 (78,07%) 17 (14,91%) 8 (7,01%) WAZ (33 To-B) 31 (93,93%) 0 (-) 2 (6,06%) total (382 To-B) 295 (77,22%) 53 (13,87%) 35 (9,16%) Tab. 3: Entstehungsquellen der SW aus dem Korpus Basiskomponenten Zeitung Zahl der To-B 1. MENS - CORPORE GL, GL, GL, GL, GL, GL, GL 7 2. NOMEN - OMEN GL, WP 2 3. VINO - VERITAS GL, WP 2 4. ALEA IACTA EST GL 1 5. PANTA RHEI GL 1 6. REPETITIO - MATER GL, BO 2 7. RISKIEREN - PROFITIEREN GL 1 8. ASPERA-ASTRA GL, BO 2 9. WEGE - ROM BO 1 10. COGITO - ERGO SUM BO, NIN, NIN 3 11. AUT CAESAR -AUT NIHIL BO, NIN, WP, WP 4 12. VENI VIDI VICI BO, WP, WP, WP, WP 5 13. DIVIDE ET IMPERA BO, BO 2 14. PARTECIPARE BO 1 15. AVE CAESAR NIN 1 16. HOMO - LUPUS NIN 1 17. CONCORDIA NIN 1 18. EXITUS ACTA PROBAT NIN 1 19. DIE MASKE ABWERFEN NIN 1 20. ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE NIN 1 9 Die bosnischen Sprichwörter aus dem vorliegenden Korpus sind in dieser Hinsicht am interessantesten; wegen ihrer orientalischen lexikalischen Komponenten enthalten diese eine zusätzliche stilistische Markiertheit. Željka Matulina 234 Basiskomponenten Zeitung Zahl der To-B 21. DER BALL IST RUND NIN 1 22. HANNIBAL ANTE PORTAS NIN 1 23. PANEM ET CIRCENSES WP 1 24. MODO FINIS BONUS WP 1 25. MANUS MANUM LAVAT WP 1 26. ULULA CUM LUPIS WP 1 27. POTIUS SERO QUAM NUMQUAM WP, WP 2 28. SERO VENIENTIBUS OSSA WP 1 29. NON PLUS ULTRA WP 1 30. URBI ET ORBI WP 1 31. CLAVUS CLAVO EXTRUDITUR BO 1 32. SVAKOM PREMA ZASLUGAMA BO 1 total 53 Tab. 4: Lateinische Quellen der SW aus dem Korpus Basiskomponenten Zeitung Zahl der To-B 1. MESSEN - GEMESSEN GL 1 2. SUCHEN - FINDEN GL, GL, WP, WP, WAZ, WAZ 6 3. WENIGER - MEHR GL, GL, GL 3 4. DER NÄCHSTE BO, WAZ 2 5. DIE LINKE - DIE RECHTE BO 1 6. WEIN - SCHLÄUCHE NIN, WP 2 7. AUGE - ZAHN NIN, NIN, NIN, NIN, WP 5 8. DIE BACKE NIN 1 9. GOTT - VERZEIHEN NIN 1 10. RÄCHEN SICH NIN 1 11. STAUB - STAUB NIN 1 12. FISCH - STINKEN NIN 1 13. SPLITTER - BALKEN NIN, NIN, NIN, NIN, NIN, NIN, NIN 7 14. GRUBE - FALLEN WP 1 15. HERR - DIENER WP 1 16. WIND - STURM WP 1 17. SÄEN - ERNTEN WP 1 total 35 Tab. 5: Biblische Quellen der SW aus dem Korpus Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 235 Hier einige Beispiele der künstlichen SW aus verschiedenen Zeitungen: Aut Caesar aut nihil! (NIN, 2006; Feuilleton; Politik; Thema: Slobodan Milošević); Ustav 10 ante portas (NIN, 2006; Politik; Thema: Die Verfassung des heutigen souveränen Serbiens); Važno je učestvovati 11 (BO, 2010; Sport; Thema: Olympiade in Vancouver); In Helnwein veritas (WP, 1987; Wochenpresse- Leserclub); Non plus ultra (WP, 1988; Daten und Taten); Nomen est omen (WP, 1989; Tips); Ime sve govori 12 (GL, 2007; Izlog/ „Schaufenster“/ ; Kosmetik: Ein neues Parfum von Dior); Urbi et Gorbi 13 (WP, 1989; Politik: Bericht aus Russland). Die SW biblischer Herkunft werden im Vergleich mit den lateinischen Sentenzen viel häufiger wortspielerisch verändert und an den jeweiligen Kontext angepasst (siehe unten die Token-Belege mit der Basiskomponente TRUN / „Splitter“). An den Sprichwortlisten kann man beobachten, welche SW in den untersuchten Printmedien mehrmals eingesetzt wurden. Im GL sind folgende 17 SW frequent: U zdravom tijelu zdrav duh 14 (Mens sana in corpore sano) (7-mal); Sutra je novi dan (4-mal); Manje je više (3-mal); Kud roditelji okom, tud dijete skokom (3-mal); Ne može se imati i ovce i novce (3-mal); Ljubav ide kroz želudac (3-mal); Bez treće nema sreće (3-mal); Bolje živjeti jedan dan kao beg nego sto dana kao siromah/ sluga (3-mal); Mala bara, puno krokodila (2-mal); Ljepota je prolazna (2-mal); Dome, slatki dome (2-mal); U radu je spas (2-mal); Tko traži, taj i nađe (2-mal); Dobar i glup - to su braća (2-mal); Žena drži tri kantuna kuće, a muž samo jedan (2-mal); Ako želiš gladnome pomoći, ne trebaš mu dati ribu, nego ga trebaš naučiti kako da ju lovi (2-mal). Das meist gebrauchte SW im Korpus des GL ist der lateinische Internationalismus Mens sana in corpore sano: 15 U zdravom tijelu zdrav duh. Das SW tritt in sieben verschiedenen, jeweils modifizierten Token-Realisationen auf: 10 Wörtl.: ‘Staatsverfassung ante portas.’ 11 Wörtl.: ‘Wichtig ist, teilzunehmen (Partecipare importante est).’ 12 Wörtl.: ‘Der Name besagt alles (Nomen est omen).’ 13 Abkürzung und Kosename für „Gorbatschow“. 14 Die SW sind fertige Sätze, deshalb werden sie in den Zitaten und in Sprichwortsammlungen normalerweise mit einem Großbuchstaben am Anfang und einem Punktzeichen am Ende markiert. In dieser Arbeit haben wir wegen metasprachlicher Textteile in der unmittelbaren Umgebung der Parömien auf das Punktzeichen am Ende verzichtet. 15 Sowohl das lateinische Original als auch das kroatische Äquivalent sind im Korpus vorhanden. Die beiden Sprichwortformen sind inhaltlich identisch, doch gibt es einen formalen Unterschied zwischen ihnen, der in der Reihenfolge der beiden syntaktischen Konstituen- Željka Matulina 236 a) Za tijelo i dobri duh. (1.6. 2007; Werbung für das Mineralwasser „Studena“; Überschrift; SW begleitet ein Foto; auf dem Foto ist eine Flasche Mineralwasser und im Hintergrund eine lachende, anscheinend sehr glückliche vierköpfige Familie dargestellt); b) Duh i tijelo. (31.8.2007; Interview; Titel neben einem Foto; auf dem Foto ist eine sehr attraktive Frau, die Witwe des bekannten Bankiers Andrija Kovačević, dargestellt); c) U zdravom tijelu zdrav Ego! (30.11.2007; Werbung für den Fruchtjoghurt „Ego“; das SW begleitet ein Foto, auf dem ein vor Zufriedenheit strahlender Vater und sein Sohn dargestellt sind); d) Person A: Mislite, mens sana IN corpore sana? - e) Person B: Ne, ne, baš mens SANA DER corpore sana odgovorio doktor Hebrang (...) (14.1.2011; Kolumne „Ugovor s đavlom“; Politik; im Text des Artikels integriert; in diesem fiktiven Dialog wird wortspielerisch auf die Verhaftung des ehemaligen kroatischen Regierungschefs Ivo Sanader verwiesen). In der BO haben sich folgende fünf Type-SW als frequent gezeigt: Podijeli pa vladaj (Divide et impera) (2-mal); Kome rat, kome brat / Rat nikom nije brat (2-mal); 16 Ko će kome, ako neće svoj svome / Ko će kome, nego svoj svome (2mal); 17 Red, rad i disciplina (2-mal); Ja tebi vojvodo, ti meni serdare (2-mal). Als Beispiel kann zuerst das SW Podijeli pa vladaj in seinen zwei Token- Formen angeführt werden: a) Zavadi pa vladaj: 18 Faris Gavrankapitanović, direktor Kliničkog centra u Sarajevu, imenovao je Sebija Izetbegovića na poziciju za koju se vjerovalo da će pripasti Senki Dinarević (12.2.2009, S. 18; Kolumne „Hitna služba“; im obigen Beispiel gilt dieses SW als Motto und Einleitung in den Text; der Satz, der mit dem SW beginnt, begleitet ein Foto, auf dem der Direktor des Klinischen Zentrums in Sarajevo, von dem im Artikel die Rede ist, dargestellt wird); ten des SW liegt: Im lateinischen SW ist mens sana die erste Konstituente, während in der kroatischen Entsprechung u zdravom tijelu d. h. in corpore sano als erste Konstituente fungiert. 16 Es handelt sich um SW-Varianten mit denselben lexikalischen Komponenten, aber mit verschiedener syntaktischer Struktur und mit teilweise unterschiedlicher Bedeutung. 17 Diese beiden SW-Varianten unterscheiden sich nur teilweise im lexikalischen Bestand (unterschiedliche Konjunktionen ako/ nego), der die semantische Ebene beeinflusst und eine teilweise unterschiedliche Bedeutung hervorruft. 18 Wörtl.: ‘Verzanke und herrsche.’ Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 237 b) Zavadi pa hladuj 19 (12.2.2009, S. 20; Kolumne „Hitna služba“; Titel eines Textabschnitts). In der NIN gibt es eine erheblich größere Anzahl von frequenten SW, insgesamt 11: U oku brata svojega vidiš trun, a u svome oku ne vidiš brvno (7-mal); Oko za oko, zub za zub (4-mal); Nije sve u novcu 20 (4-mal); Čija sila, njegova i pravda (4-mal); Terali lisicu, a isterali vuka (3-mal); Čizma glavu čuva, a šubara ju kvari (2-mal); Pomozi si sam, pa će ti i Bog pomoći (2-mal); Tuk na utuk (2-mal); Mislim, dakle postojim (lat. Cogito, ergo sum) (2-mal); Sve ili ništa (lat. Aut Caesar aut nihil) (2-mal); Daleko ti (lepa) kuća bila (2-mal). Das biblische SW U oku brata svojega vidiš trun, a u svome oku ne vidiš brvno 21 tritt in der NIN in sieben verschiedenen Token-Realisationen in demselben Zeitungsartikel auf: a) Brvno u oku srpskom je zaista veliko; i mi sve od sebe dajemo da ga izvadimo (28.7.2005, S. 4; Odjeci/ Leserbriefe/ ; Überschrift über dem Titel; In diesem Leserbrief wird dasselbe biblische SW an verschiedenen Stellen im Text aufgenommen und wortspielerisch umgeformt; damit wird an die aktuellen politischen Beziehungen Serbiens zu den benachbarten Staaten angespielt, die einst zusammen mit Serbien zum gemeinsamen jugoslawischen Völker- und Republikenbund gehörten, jetzt aber eigene politische Wege gehen); b) Balvan u oku (Titel des Artikels); c) Kao ljudi pokušavaju da izvade brvno iz oka svoga prvo - Matej 7; 4 (im Text integriert); d) Kako ćeš reći bratu svome: „Stani da ti izvadim trun iz oka tvoga; a eto brvna u oku tvome? “ (im Text integriert); e) Brvno u oku srpskom zaista je veliko; i mi sve od sebe dajemo da ga izvadimo (im Text integriert); f) I izvadićemo to brvno (im Text integriert); 19 Die Bedeutung könnte ungefähr so umschrieben werden: ‘Wenn du bewirkt/ erreicht hast, dass alle miteinander verfeindet sind, dann kannst du lange Zeit ruhig im Schatten liegen und faulenzen.’ 20 Belegt ist dieses SW nur in Lukićs Bosanska sehara (2006, S. 254), jedoch in einer welleristischen Erweiterung: Nije sve u parama, nešto je i u zlatu, wörtl.: ‘Es ist nicht alles im Geld, etwas ist auch im Gold.’ 21 Wörtl.: ‘Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber übersiehst den Balken im eigenen Auge.’ Željka Matulina 238 g) No, muke tek nastaju; u oku hrvatskom, albanskom, bošnjačkom (sada i crnogorskom i makedonskom) ne nalazi se trun, čak ni brvno, već đungla (im Text integriert). In der österreichischen WP gehören folgende 27 Type-SW in die Klasse der frequenten SW: Kein Geld, keine Musik (5-mal); Dabeisein ist alles (5-mal); Veni, vidi, vici (4-mal); Wer die Wahl hat, hat die Qual (4-mal); Ohne Fleiß kein Preis (3-mal); Kleinvieh macht auch Mist (3-mal); Wie du mir, so ich dir (3-mal); Ein Unglück kommt selten allein (2-mal); Probieren geht über Studieren (2-mal); Guter Rat ist teuer (2-mal); Alles oder nichts (2-mal); Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen (2-mal); Einer für alle, alle für einen (2-mal); Man lebt nur einmal (2-mal); Wer sucht, der findet (2-mal); Besser spät als nie (2-mal); Reden ist Silber, Schweigen ist Gold (2-mal); Lügen haben kurze Beine (2-mal); Eine Hand wäscht die andere (2-mal); Doppelt gibt, wer schnell gibt (2-mal); Je mehr Feinde, je mehr Ehre (2-mal); Unkraut vergeht nicht (2-mal); Geld oder Leben (2-mal); Geld allein macht nicht glücklich (2-mal); Liebe geht durch den Magen (2-mal); Gnade geht vor Recht (2-mal); Recht muß doch Recht bleiben (2-mal). Als Beispiele können zwei SW herangezogen werden. Das erste frequente SW ist Dabeisein ist alles: a) Beherrschung ist alles (1987; Wochenpresse-Leserclub; Titel); b) Strategie ist alles (1988; Service; Titel); c) Dabeisein ist nicht alles (1990; Kolumne „Was mich ärgert“; Titel); d) Eine starke Führung ist nicht alles (1990; Interview; Titel). Das zweite SW ist Kein Geld, keine Musik, das in folgenden Token-Realisierungen auftritt: a) Kein Wasser, keine Rechnung (1988; Inland; Titel); b) Kein Bild, kein Ton, keine Rechnung (1987; Werbung; Titel); c) Ohne Geld ka Musi (1988; Inland; Titel) und d) Ka Geld, ka Musi (1990; Weltwoche; Titel). Im Korpus der WAZ erscheinen die frequenten SW autonom, meist als Überschrift in der Werbung. Es handelt sich um folgende sechs Type-Einheiten: Aus den Augen, aus dem Sinn (6-mal); Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer (2-mal); Wer sucht, der findet (2-mal); Geld ist nicht alles im Leben (2-mal); Müßiggang ist aller Laster Anfang (2-mal); Früh übt sich, wer ein Meister werden will (2mal). Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 239 Das SW Aus den Augen, aus dem Sinn erscheint in sechs Ausgaben der WAZ in unmodifizierter Form als Titel der Werbeanzeigen. Zwei weitere SW Eine Papierschwalbe macht noch keinen Sommer und Möbel sind nicht alles im Leben werden an den Kontext der Werbung lexikalisch angepasst. Ebenso als Überschrift im Kontext der Werbung tritt zweimal die elliptische SW-Form Früh übt sich. Eine Ausnahme in Bezug auf die Platzierung stellt das SW Müßiggang ist aller Laster Anfang dar, das zweimal im Text desselben Zeitungsartikels auftritt: a) Andere sind der Meinung, daß Müßiggang aller Laster Anfang sei, oder daß die Ursache für Drogensucht in der Kindheit zu suchen seien (1991; WAZ-Wochenende) und b) Denken wir an das alte Sprichwort: Müßiggang ist aller Laster Anfang (1991; WAZ-Wochenende). Als die frequentesten SW im ganzen Korpus können folgende fünf SW gelten: - GL: U zdravom tijelu zdrav duh (Wörtl.: ‘In einem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist’), - BO: Podijeli pa vladaj (Wörtl.: ‘Teile und herrsche’), - NIN: U oku brata svojega vidiš trun, a u svome oku ne vidiš brvno (Wörtl.: ‘Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber übersiehst den Balken im eigenen Auge’), - WP: Kein Geld, keine Musik und - WAZ: Aus den Augen, aus dem Sinn. Bei der Analyse des parömiologischen Materials waren wir auch an der Frage interessiert, ob sich im Gebrauch der SW in den Zeitungen aus dem berücksichtigten geografischen und sprachlichen Areal eventuelle diatopisch spezifische Merkmale einzelner Regionen 22 und mögliche Spuren der parömiologischen Entlehnungen nachweisen lassen. 22 In Anlehnung an Ďurčo (2005, S. 10) werden diese SW auch ‘folkloristisch’ genannt. Unter der Bezeichnung „Region“ verstehen wir in erster Linie ein sprachlich ausdifferenziertes Gebiet, das sich mit den politischen Grenzen des jeweiligen Landes deckt. In unserer Untersuchung bezeichnen wir als Regionen des südslawischen Areals Kroatien mit der kroatischen Sprache, Serbien mit der serbischen Sprache und Bosnien-Herzegowina mit der bosnischen Sprache. Laut der Staatsverfassung Bosniens-Herzegowina sind in Bosnien-Herzegowina alle drei Sprachen (Bosnisch, Kroatisch und Serbisch) gleichberechtigt und offiziell im Gebrauch. Bosnien-Herzegowina ist eine sehr interessante und wichtige sprachliche und kulturelle Zone im südslawischen Areal: „In Bosnien-Herzegowina als einem Teil Südosteuropas waren Sprachkontakte durch die Jahrhunderte intensiv, was sich sowohl in der Toponymik als auch im alltäglichen Sprachgebrauch abzeichnet. So macht sich neben dem Einfluß der klassischen Sprachen Latein und Griechisch, die vorwiegend in der Bildungssprache eine Rolle spielen, Željka Matulina 240 Mehrere SW aus dem Korpus kann man als typisch regional bezeichnen, zum einen, weil sie in anderen Regionen des untersuchten Areals nicht als typisch angenommen werden, 23 und zum anderen, weil sie in ihrer mundartlichen oder lexikalisch markierten Form verwendet werden. Im GL kommt das in Dalmatien populäre SW Žena drži tri kantuna kuće, a muž samo jedan 24 in mehreren okkasionellen Modifikationen im Rahmen der innenpolitischen Kolumne der Journalistin Tanja Torbarina vor: a) Taj / Ozren Matijašević/ kaže da njegova žena drži četiri kantuna od kuće (27.8.2010, S. 4; In den Text integriert); b) Očekuje od premijerke da ode pomoć njegovoj ženi pridržavat kuću, barem dva kantuna (27.8.2010, S. 4; In den Text integriert); c) Pa na Golom Otoku [...] kažnjenici su podržavali kamen po kamen, a ne cijele kuće (27.8.2010, S. 4; In den Text integriert). In der BO trifft man mehrere regional typische Parömien an, auch hier meistens okkasionell an den Kontext angepasst: Ni po babu ni po stričevima već po supruzi 25 (17.12.2009, S. 62; Kultur „Jezik mrtvog zajedništva“; Titel eines Textabschnitts); Bolje umrijeti sit nego živjeti gladan 26 (18.3.2010, S. 33; Aktuelles „Bosanski rulet“; Titel des Artikels); I mirna Bosna! (18.3.2010, S. 68; Innenpolitik; Titel des Artikels); Lako je Zulfikarpašićevim parama orahe mlatiti! 27 (25.2.2010, S. 6; Kolumne, Aktuelles; Untertitel des Artikels); U šali pa privali 28 (28.1.2010, S. 72; Kult Market / Filmkritik „The men who stare at goats“; Untertitel des Artikels); Rugala se ruga 29 (27.5.2010, S. 10; Mini Market; Innenpolitik; Überschrift über dem Titel des Artikels); Plaha die starke Präsenz orientalischer Sprachen (besonders Türkisch) vor allem in der Lexik, aber auch in der Wortbildung besonders bemerkbar“ (Memić 2006, S. 15). 23 Im Rahmen der Untersuchung haben wir eine Befragung mit verschiedenen Informantengruppen durchgeführt. Die Befragten aus verschiedenen Regionen des südostslawischen Areals sollten auf die Frage, ob sie das betreffende SW für typisch für die bestimmte Region halten, nur eine Entscheidungsantwort geben: nämlich „ja“ oder „nein“. 24 Wörtl.: ‘Die Frau trägt drei Ecken des Hauses, und der Mann nur eine.’ 25 Wörtl.: ‘Weder mit Hilfe des Vaters noch der Onkel (eigentlich: noch der Brüder des Vaters), sondern dank der eigenen Frau.’ 26 Wörtl.: ‘Besser satt sterben als hungrig leben.’ Es handelt sich hier um eine Variation des SW Bolje jedan dan kao beg nego sto dana kao siromah/ sluga (Wörtl.: ‘Besser ein Tag als ein Beg/ reicher Herr leben, als hundert Tage als ein armer Mann/ Diener.’). 27 Wörtl.: ‘Es ist leicht, mit Zulfikpašićs Geld Nüsse zu knacken.’ Diese okkasionelle Variante beruht auf dem Kernsprichwort ‘Es ist leicht, mit des andern *** [vulg., männlicher Körperteil] gegen die Stacheln/ Dornen zu schlagen’. 28 Wörtl.: ‘Im Scherz zu Boden umdrehen.’ Das originale SW lautet U šali - uvali! 29 Wörtl.: ‘Eine Spötterin verspottete.’ Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 241 vakta, ko obraza nema 30 (8.4.2010, S. 69; Kolumne; Aktuelles; Titel eines Textabschnitts); Ja tebi vojvodo, ti meni serdare 31 (13.5.2010, S. 31; Innenpolitik; Titel des Artikels). In der NIN sind ebenfalls regional spezifische, zum Teil okkasionell modifizierte Parömien vorhanden: Skûp je grad za dinar, ako dinara nema 32 (20.10.2005, S. 7; Kolumne „Reč nedelje“; Vorletzter Satz des Artikels); Skűp više plaća, a lijen dalje ide 33 (20.10.2005, S. 7; Kolumne „Reč nedelje“; Letzter Satz des Artikels); Plašim se da ćemo ostaviti kozi da čuva kupus 34 (12.10.2006; S. 8; Zitate; Der einzige Satz im Text); Mala bara, mnogo krokodila 35 (29.6.2006, S. 41; Kolumne „Tir/ n/ anija“; Thema: Fußballmeisterschaft); Autonomija? Daleko bilo! 36 (12.10.2006, S. 12; Politik; Titel des Artikels); Opet vi, ko baba o uštipcima! 37 (3.11.2005, S. 78; NIN-Interview; in den Artikel integriert); Teramo vuka, a lisica nosi meso 38 (22.9.2005, S. 15; Interview mit General Kosovac; Titel des Artikels); Nekad bilo 39 (24.3.2005, S. 4; Odjeci / Leserbriefe/ ; Titel); Što na umu, to na drumu 40 (11.5.2006, S. 78; NIN-Interview; In den Artikel integriert); Kako kaže stara poslovica, sve je moguće osim drvene peći 41 (18.1.2007, S. 39; Društvo, „Vučja privatizacija“; Der letzte Satz des Artikels); Zvao bi se simbolično „nema leba bez motike“ 42 (3.11.2005, S. 78; NIN-Interview; In den Text integriert). Was die deutschsprachigen Zeitungen angeht, gibt es nur in der österreichischen WP eine mundartlich markierte Parömie: Ka Geld, ka Musi (1990; Titel). In der WAZ ist kein regional spezifisches SW belegt. 30 Wörtl.: ‘Eine milde Zeit für den, der keine Rücksicht kennt.’ 31 Wörtl.: ‘Ich benenne dich Woiwode und du benennst mich Serdar.’ Die Parömie hat eine negative Konnotation und wird dem Konzept „Lobhudelei“ zugeordnet. 32 Wörtl.: ‘Eine Stadt, die nur einen Dinar kostet, ist teuer für denjenigen, der keinen einzigen Dinar hat.’ 33 Wörtl.: ‘Der Geizige bezahlt mehr/ doppelt, und der Faule macht mehr Schritte.’ 34 Wörtl.: ‘Ich befürchte, dass wir der Ziege überlassen, das Kraut zu bewachen’ (den Bock zum Gärtner machen lassen). 35 Wörtl.: ‘Ein kleiner Teich, viele Krokodile.’ 36 Wörtl.: ‘Autonomie? Ihr schönes Haus soll möglichst weit weg von mir sein! ’ 37 Wörtl.: ‘Wieder Sie [sprechen davon], wie das alte Weib von den Krapfen.’ 38 Wörtl.: ‘Wir wollen den Wolf jagen, aber der Fuchs bringt das Fleisch / den Fang weg.’ 39 Wörtl.: ‘Das ist einmal geschehen.’ (Ellipse zu: ‘Das ist einmal geschehen, und jetzt erinnern wir uns sehr oft daran’.) 40 Wörtl.: ‘Was einer in den Gedanken hat, das hat er auf der Straße.’ 41 Wörtl.: ‘Wie das alte SW besagt, ist alles möglich, nur nicht ein Ofen aus Holz.’ 42 Wörtl.: ‘Es würde symbolisch bedeuten „Es gibt kein Brot ohne Hacke.“.’ Željka Matulina 242 5. Interlinguale parömiologische Entlehnungen Innerhalb der parömiologischen Tradition wurde immer wieder nachgewiesen, dass zahlreiche Sprichwörter Lehnübersetzungen aus der Antike sind, die in viele europäische Sprachen weiter übersetzt und an die Nehmersprache angepasst wurden (vgl. Röhrich / Mieder 1977, S. 29). Im vorliegenden Korpus lassen sich verschiedene parömiologische Entlehnungsklassen feststellen. In die erste Klasse gehören die impliziten, aus anderen Sprachen direkt übernommenen und in originaler Fremdsprache verwendeten SW, wie z. B. bei Veni, vidi, vici (WP); Aut Caesar, aut nihil (NIN); Homo homini lupus (NIN); Mens sana in corpore sano (GL) usw. Eine weitere Klasse der parömiologischen Entlehnungen wird durch eine metasprachliche Einleitung in den Text eingeführt; die Einleitung enthält eine explizite Angabe über die Herkunft des SW (z. B. „ono Mojsijevo“ und „Sveto pismo“), wie in Jer, vidite li, Srbi moji, da i danas od Vašingtona do Libana važi ono Mojsijevo: oko za oko, zub za zub (NIN, 17.8.2006, S. 76, Kolumne: Postekologija); Bez sahrane, baš onako kako uči Sveto pismo: prah prahu (NIN, 18.1.2007, S. 94, NIN-Interview). In einer dritten Klasse befinden sich die entlehnten, aber in die Zielsprache (Nehmersprache) übersetzten SW, es handelt sich also um die zielsprachigen Übersetzungsäquivalente. Eine große Anzahl von Parömien europäischer Sprachen ist auf diese Weise entstanden, und dies gilt auch für alle hier behandelten Sprachen. Solche SW können mit dem Terminus ‘parömiologische Internationalismen’ bezeichnet werden, weil die meisten unter ihnen lateinischen Quellen und der Bibel entstammen, wie z. B. Mit den Wölfen heulen (WP) von Ulula cum lupis, cum quibus esse cupis; Pojedi bližnjega svoga 43 (BO); Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (WAZ); Klin se klinom izbija (BO); Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil von Clavus clavo extruditur; Dogovor kuću gradi (NIN); Složna braća kuću grade (GL) von Concordia parvae res crescunt, discordia et maximae dilabuntur; Gde ima vatre, ima i dima (NIN); Wo Rauch aufgeht, muss Feuer sein von Semper flamma, fumo est proxima; Ime sve govori (GL) von Nomen est omen usw. Neben den alten Internationalismen lassen sich im vorliegenden Korpus auch einige parömiologische Entlehnungen neueren Datums nachweisen. 44 Bei einigen weit verbreiteten parömiologischen Entlehnungen ist die (sprachliche) 43 Wörtl.: ‘Iss deinen Nächsten auf.’ (Es handelt sich um eine okkasionelle Modifikation des biblischen SW im Rahmen eines Artikels über den Kannibalismus.) 44 Man kann annehmen, dass bei der Übernahme und Verbreitung dieser jüngeren Schicht des parömiologischen Lehnguts die neuen Medien, das Fernsehen und der Film, aber auch die Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 243 Herkunft nachweisbar: Gušće od krvi (GL) ist vom deutschen SW Blut ist dicker als Wasser übernommen, Rad, red i disciplina 45 (BO) vom dt. SW Ordnung muß sein und Ordnung ist das halbe Leben; Gost je uvijek u pravu (BO) vom dt. SW Der Gast ist König; Jedna lasta ne čini proljeće (GL) vom dt. SW Eine Schwalbe macht keinen Sommer und Puno muzike za mići šoldi (GL) vom österreichischen SW Kein Geld, keine Musik. Das im kroatischen Korpus mehrmals auftretende SW Dome, slatki dome (GL) entstammt dem engl. SW Home, sweet home, das okkasionelle bosnische SW Za osmijeh je potrebno najmanje dvoje (BO) ist vom engl. SW To tango it takes two entlehnt und das dt. okkasionelle SW Zeit ist Geld geworden, kostbares Gut (WAZ) beruht auf dem engl. Kernsprichwort Time is money. Das im südslawischen Areal sehr populäre SW Kadija te tuži, kadija ti sudi (NIN) entstammt der bosnischen Sprache, ebenso wie die weit verbreiteten gesprächssteuernden Parömien I mirna Bosna (NIN) und Ni po babu, ni po stričevima (NIN). Es gibt im Korpus auch eine Klasse von entlehnten Sprichwörtern, die durch „explizite“ metasprachliche Mittel in den Text eingeführt sind. Im metasprachlichen Teil ist ein deutlicher Hinweis auf den Ursprung des entlehnten Sprichworts enthalten. Dieser Hinweis gibt Auskunft über die (vermutete) Herkunft (Land, Sprache, Persönlichkeit, Ort) des betreffenden SW. Hier einige Beispiele: „Đavo uvek nađe posao za zaludne ruke“, setio se komentator „Špigla“ stare izreke 46 (in der serbischen NIN wird ein deutsches SW verwendet); Francuzi su se pokazali kao loši Dekartovi potomci: „kalkulišem, dakle ne postojim! “ 47 (in der serbischen NIN wird ein ursprünglich lateinisches künstliches SW gebraucht); Stara dalmatinska poslovica kaže: „hvali more, drži se obale“ 48 (in der serbischen NIN wird ein kroatisches SW verwendet). Printmedien eine wichtige Rolle spielen, weil sie jetzt in verschiedenen Ländern im Osten und Westen, im Norden und Süden, in schriftlicher wie auch in einer Online-Version leicht zugänglich sind. Beachtliche demografische Veränderungen auf dem südostslawischen Territorium in den letzten 20 Jahren und menschliche Kontakte in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens spielen meines Erachtens auch eine sehr wichtige Rolle bei der Vermittlung und Übertragung des parömiologischen Gutes von Person zu Person, aus einer Region in eine andere, von einem geografischen Punkt zu einem anderen. 45 Wörtl.: ‘Arbeit, Ordnung und Disziplin.’ Obwohl in keinem Wörterbuch inventarisiert, wird dieser Spruch in allen hier behandelten südslawischen Sprachen häufig verwendet. Damit wird - oft mit ironischer Konnotation - auf die „typisch deutsche“ Mentalität hingewiesen. 46 Wörtl.: ‘„Der Teufel findet immer eine Arbeit für die untätigen Hände“, erinnerte sich der Kommentator des „Spiegels“ an ein altes Sprichwort.’ 47 Wörtl.: ‘Die Franzosen haben sich als schlechte Nachfahren von Descartes gezeigt: „Ich kalkuliere, also bin ich nicht! “.’ 48 Wörtl.: ‘Das alte dalmatinische Sprichwort sagt: „Lobe das Meer, aber bleibe auf dem Festland.“.’ Željka Matulina 244 Und schließlich hat sich im vorliegenden Korpus eine weitere Gruppe von Parömien herausgebildet, die in keinem Wörterbuch inventarisiert sind, obwohl sie in der gesprochenen Sprache und in den Printmedien sehr frequent auftreten. Interessant ist bei diesen SW, dass sie von einem regionalen Printmedium in andere regionale Printmedien entlehnt werden. Hier führen wir einige Beispiele an: Mala bara, puno/ mnogo krokodila (im kroatischen GL wird das SW übernommen, das in serbischen Printmedien weit verbreitet ist); Bolje jedan dan kao beg nego sto dana kao siromah/ sluga (im kroatischen GL wird das typisch bosnische SW verwendet); Sve je moguće osim drvene peći (in der serbischen NIN wird das SW verwendet, das sowohl in der bosnischen als auch in der kroatischen Alltagssprache häufig gebraucht wird); 49 Der Teufel schläft nicht! (dieses in der österreichischen WP auftretende SW ist auch im Kroatischen bekannt und in der Alltagssprache sehr häufig verwendet; im Lexikon von Lukić ist die kroatische Entsprechung Vrag ne spava inventarisiert). 6. Verwendung der SW in den Zeitungssparten Die Sparten, in denen Sprichwörter belegt sind, lassen sich folgenden Rubriken zuordnen: Innenpolitik, Außenpolitik, Kultur, Sport, Reportagen, Interview, Leserbriefe und Werbung. Die Untersuchung hat ergeben, dass die Distribution der SW sehr ungleich ist. Die meisten deutschen SW aus dem vorliegenden Korpus sind in den Kontext der Werbung integriert: in der WP zu 29% und im WAZ zu 55%. Auch in der kroatischen Zeitung GL steht der Kontext der Werbung an erster Stelle, dort sind bis zu 30% der Sprichwörter Teil der Werbung. In der Werbung wirkt der anonyme Textproduzent auf den Rezipienten mit dem kreativ umformulierten Sprichwort gezielt ein, z. B. beim Kauf eines neuen Wagens (WAZ: Besser den Finger am Knopf, als das Dach in der Hand; Verändern ist Silber; verbessern ist Golf ), beim Kauf eines Computers (WP: Einer für alle), beim Kauf von Nahrungsmitteln (GL: U zdravom tijelu zdrav „Ego“), beim Kauf von Kaffee (WP: Liebe geht durch den Meinl ) und Bier (WP: Es gibt Momente, die sind Gold wert 50 ), bei der Werbung für das Bankwesen (WP: Veni vidi visa) usw. In der NIN sind die meisten Sprichwörter im thematischen Bereich der Politik zu finden, vor allem in den Kolumnen, in denen Sprichwörter in Bezugnahme auf politische 49 Dieses SW scheint offensichtlich im gesamten südostslawischen Sprachareal sehr beliebt zu sein, so z. B. in einem Fernsehinterview mit dem kroatischen Sportler Mirko Filipović, der auf die Frage des Journalisten, ob er mit einem Sieg rechnet, antwortete: „Alles ist möglich, alles ist möglich! Nur nicht ein Ofen aus Holz und ein Schürhaken aus Gummi! “ (Nova-tv, Sport-Nachrichten, 11.03.2011). 50 Mit diesem okkasionell modifizierten SW wird für das Bier der Marke „Gösser-Gold“ geworben. Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 245 Autoritäten oder aktuelle, vorwiegend innenpolitische und gesellschaftliche Ereignisse verwendet werden (zu 42,26%). In der NIN kann eine frequentere wortspielerische Verwendung der biblischen SW im Kontext der Politik beobachtet werden. Die meisten Belege in der BO finden sich im thematischen Bereich der Kultur (zu 45%). Innenpolitik nimmt in der BO in quantitativer Hinsicht den zweiten Platz ein, wo SW mit einer Häufigkeit von 18,33% vorkommen. GL BO NIN WP WAZ total To-B Werbung 20 0 2 21 14 57 Innenpolitik/ Inland 3 11 9 21 0 44 Außenpolitik/ Ausland 0 0 9 4 2 15 International 0 0 0 4 0 4 Gesellschaft 0 13 8 0 0 21 Wirtschaft 0 0 4 5 0 9 Reportage 6 1 3 0 0 10 Kolumne 19 4 24 12 0 59 Kultur 1 19 2 4 2 28 Musik 0 8 4 5 0 17 Film/ Fernsehen 10 0 0 2 2 14 Leserbriefe 0 1 14 12 0 27 Interview 2 0 11 3 0 16 Sport 0 2 0 0 5 7 Unterhaltung und Wissenschaft 0 1 0 0 2 3 Tips 0 0 0 12 0 12 Anzeigen 11 0 0 0 4 15 übrige Sparten 5 0 8 9 2 24 total To-B 77 60 98 114 33 382 Tab. 6: Verteilung der SW auf die Zeitungssparten 7. Stellung der SW in den Zeitungstexten Es hat sich gezeigt, dass Sprichwörter in Pressetexten eine wichtige textstrukturierende und textorganisierende Funktion haben. Die meisten SW aus dem Korpus sind in den Titeln der Zeitungsartikel zu finden (zu 58,13%); dort hat das SW die Funktion des „Blickfangs“ und des „Aufmerksamkeitserregers“ Željka Matulina 246 für den Leser, worauf Mieder in seinen bereits in den 1970er Jahren durchgeführten Untersuchungen der deutschen Wochenzeitung Die Zeit hingewiesen hat (vgl. Mieder 1973, S. 90; 1978, S. 94). Die meisten SW in der österreichischen Zeitung WP treten in den Titeln auf (zu 95,61%). In NIN haben die Parömien meistens eine texteröffnende Funktion (zu 35,05%). Dort sind viele SW auch im Endteil des Zeitungsartikels zu finden, wo sie eine resümierende, textabschließende Rolle haben (zu 29,89%). In den übrigen Zeitungen aus dem Korpus sind SW auf verschiedene Stellen im Text verteilt. Die Stellung der Sprichwörter in den Zeitungstexten zeigt die Tabelle 7. GL BO NIN WP WAZ total To-B Titelseite 0 1 0 0 0 1 (0,26%) Titel des Artikels 39 18 34 109 18 218 (57,06%) Überschrift 0 9 1 0 0 10 (2,61%) Untertitel 2 5 4 0 0 11 (2,87%) Titel eines Textabschnitts 4 20 3 0 0 27 (7,06%) Anfang des Artikels 3 1 7 2 3 16 (4,18%) Der erste Satz des Artikels 1 1 1 1 4 8 (2,09%) Endteil des Artikels 0 0 10 1 2 13 (3,40%) Der letzte Satz des Artikels 2 0 19 1 2 25 (6,54%) Im Text des Artikels integriert 11 4 16 0 2 39 (10,20%) SW begleitet ein Foto/ Bild 9 1 3 0 1 14 (3,66%) total To-B 77 60 98 114 33 382 Tab. 7: Stellung der SW in den Zeitungstexten Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 247 8. Modifikationen von SW Die Analyse des Korpus ergab, dass die meisten SW in den untersuchten Pressetexten in modifizierter Form (zu 80%) gebraucht werden. Die meisten der modifizierten SW werden an den Kontext lexikalisch (zu 30,32%) oder/ und syntaktisch (zu 41,59%) angepasst (vgl. Tab. 9). Bei der Modifizierung von SW lassen sich bestimmte Regularitäten beobachten: Im Rahmen des untersuchten Korpus geht es um neun Typen okkasioneller Modifikationen. Der erste Modifikationstyp (I. Typ) bedeutet das Auftreten des Kernsprichworts in seiner originalen, nicht modifizierten Form, z. B. Dogovor kuću gradi 51 (NIN, 2005) und Kommt Zeit, kommt Rat (WP, 1988). Beim zweiten Modifikationstyp (II. Typ) beginnt die eigentliche okkasionelle Veränderung des Sprichworts. Dieser Typ bedeutet, dass die syntaktische Struktur des Kernsprichworts unverändert bleibt, während die Lexik mit neuen, externen Elementen vollkommen substituiert wird. Die okkasionellen Varianten Pišem, dakle grešim 52 (NIN, 2005) nach der Quelle Mislim, dakle postojim (Cogito, ergo sum) und Kein Wasser, keine Rechnung (WP, 1987) nach der Quelle Kein Geld, keine Musik können hier als Beispiele herangezogen werden. Im dritten Modifikationstyp (III. Typ) bleibt die syntaktische Struktur des Kernsprichworts unverändert, aber die Lexik wird teilweise geändert. Belege dafür sind: U kreditu je spas 53 (GL, 2007) nach der Quelle U radu je spas 54 und Wie du mir, so diktier (WP, 1987) nach der Quelle Wie du mir, so ich dir. Im vierten Modifikationstyp (IV. Typ) werden die Konstituenten des Kernsprichworts umgestellt (permutiert), zum Beispiel Gde ima vatre, ima i dima 55 (NIN, 2005) nach der Quelle Gde ima dima, ima i vatre 56 und Ohne Preis kein Fleiß (WP, 1987) nach der Quelle Ohne Fleiß kein Preis. Beim fünften Modifikationstyp (V. Typ) ist die ursprüngliche syntaktische Struktur des Kernsprichworts geändert, aber die Lexik ist größtenteils erhal- 51 Wörtl.: ‘Eintracht baut das Haus.’ 52 Wörtl.: ‘Ich schreibe, also mache ich Fehler.’ 53 Wörtl.: ‘Im Kredit liegt die Rettung.’ 54 Wörtl.: ‘In der Arbeit liegt die Rettung.’ 55 Wörtl.: ‘Wo es Feuer gibt, da gibt es auch Rauch.’ 56 Wörtl.: ‘Wo es Rauch gibt, da gibt es auch Feuer.’ Željka Matulina 248 ten, z. B. Vuković 57 i ovce 58 (BO, 2010) nach der Quelle Ne daje se vuku da čuva ovce 59 und Gewagt und gewonnen (WP, 1987) nach der Quelle Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Im Rahmen des sechsten Modifikationstyps (VI. Typ) werden sowohl die syntaktische Struktur des Kernsprichworts als auch die Lexik stark geändert. Wenigstens ein Element des Kernsprichworts bleibt erhalten, um das ursprüngliche Sprichwort zu assoziieren. Folgende Beispiele gehören zu diesem Typ: Gušće od krvi 60 (GL, 2007) nach der Quelle Krv nije voda und Lieber eine Taube im Strafraum als der Ball im Tor (WAZ, 1991) nach der Quelle Lieber ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach. Die einzigen Elemente, die an die ursprünglichen Sprichwörter erinnern, sind im kroatischen Beleg das Lexem krv (‘Blut’) und im deutschen Beleg eine Taube. Der siebte Modifikationstyp (VII. Typ) ist Kombination (Kontamination) zweier Sprichwörter oder eines Sprichworts mit einer anderen verwandten Art (einer Redewendung, einer kommunikativen Formel usw.). Das Verständnis einer auf diese Weise entstandenen Sprichwortstruktur setzt eine sehr hohe parömiologische Kompetenz des Rezipienten (des Lesers der Zeitung) voraus. Die Struktur Daleko od mirne Bosne 61 (NIN, 2005) beruht auf zwei satzwertigen kommunikativen Phraseologismen: a) Daleko ti lepa kuća bila! und b) I mirna Bosna! 62 Aus dem deutschen Korpus kann folgendes Beispiel angeführt werden: Es ist viel einträglicher, anderen Bären aufzubinden als sie selbst zu fangen (WP, 1989). Es handelt sich um eine Kontamination eines Sprichworts und einer Redewendung: a) Es ist besser einen Bären loszulassen als einen Bären anzubinden und b) jemandem einen Bären aufbinden. 57 „Vuković“ ist ein Familienname, der auf dem lexikalischen Morphem „vuk“, d. h. „Wolf“ basiert. 58 Wörtl.: ‘Wolf/ gang/ und die Schafe.’ 59 Wörtl.: ‘Dem Wolf soll man nicht erlauben, die Schafe zu hüten.’ 60 Wörtl.: ‘Dicker als Blut.’ 61 Wörtl.: ‘Weit weg vom ruhigen Bosnien.’ 62 Es ist eine Kombination aus: a) „Weit weg von mir soll dein (schönes) Haus sein! “ b) „Und Bosnien ruhig! “. Während der erste Phraseologismus eher zu den Schimpfwörtern gerechnet wird, hat der zweite eine ausschließlich textabschließende Funktion, wobei die ursprüngliche Bedeutung „Nun sind wir quitt! “ oder „Nun haben wir einander nichts mehr zu sagen“ in der heutigen Alltagssprache verblasst ist. Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 249 Der achte Modifikationstyp (VIII. Typ) stellt stark verkürzte SW dar. 63 Mehrere Teile des ursprünglichen SW werden eliminiert. Dieser Modifikationstyp ist typisch für Schlagzeilen, Überschriften oder Titel und ist in allen Zeitungen aus dem Korpus vertreten. Folgende Belege aus dem Korpus können hierfür herangezogen werden: General poslije bitke 64 (BO, 2010) nach der Quelle Lahko je biti general poslije bitke und Kurze Beine (WP, 1987) nach der Quelle Lügen haben kurze Beine. Unter dem neunten Modifikationstyp (IX. Typ) sind verschiedene Erweiterungen des Sprichworts subsumiert: vorgestellte oder nachgestellte Erweiterungen des Sprichworts, metakommunikative Einleiteformeln, Wellerismen, Einschübe usw. Hier einige Beispiele: I kako narod kaže - i nad popom ima pop 65 (NIN, 2005) nach der Quelle I nad popom ima pop; Eine Hand wäscht die andere - manchmal tut es auch ein Finger 66 (WP, 1987) nach der Quelle Eine Hand wäscht die andere. Struktur Zeitung I. Typ II. Typ III. Typ IV. Typ V. Typ VI. Typ VII. Typ VIII. Typ IX. Typ total To-B GL 15 9 9 0 18 7 1 6 12 77 BO 17 4 20 1 6 2 1 3 6 60 NIN 16 8 10 2 19 8 2 4 29 98 WP 20 7 32 5 12 9 4 17 12 118 WAZ 9 1 8 0 2 0 0 2 11 33 total To-B 77 19,94% 29 7,49% 79 20,41% 8 2,06% 57 14,72% 26 6,71% 8 2,06% 32 8,26% 70 18,08% 386 Tab. 8: Okkasionelle Modifikationen der SW 63 Mieder (1978, S. 96) meint, Platzmangel in der Zeitung dürfte der Hauptgrund für diese reduzierten Sprichwortformen in den Schlagzeilen sein, aber nicht auszuschließen sei auch noch der Spaß am Spiel mit der Sprache. 64 Wörtl.: ‘Der General nach dem Kampf.’ 65 Wörtl.: ‘Das Volk pflegt zu sagen: Über dem Pfarrer gibt es auch einen Pfarrer.’ 66 Finger ist ein Familienname. Željka Matulina 250 Zeitung Sprachliche Mittel GL BO NIN WP WAZ total To-B SW ohne Modifikation 15 17 16 20 9 77 (16,55%) Verdoppelung des Kernsprichworts 0 0 1 0 0 1 (0,21%) Lexikalische Modifikation 33 31 25 44 8 141 (30,32%) Syntaktische Modifikation 44 21 59 57 17 198 (41,59%) Morphologische Modifikation 1 6 3 4 1 15 (3,22%) Phonologische Modifikation 0 1 0 3 0 4 (0,86%) Textuelle Modifikation 10 0 24 6 0 40 (8,40%) total To-B 103 76 128 134 35 476 Tab. 9: Art der Modifikation 9. Schlusswort Auf Grund der Analyse des zur Verfügung stehenden Belegmaterials können die am Anfang gestellten Fragen auf folgende Art und Weise beantwortet werden. Das Untersuchungsmaterial wurde fünf Zeitungen, darunter vier überregionalen Wochenzeitungen (die kroatische GL, die bosnische BO, die serbische NIN, die österreichische WP) und einer regionalen Tageszeitung (die deutsche WAZ) entnommen. Auf insgesamt 28 888 Seiten wurden 275 Type- SW (südsl. 178 + dt. 97) und 382 Token-SW (südsl. 235 + dt. 147) festgestellt. In allen fünf Zeitungen bedienen sich die Textproduzenten derselben Methoden bei der Integrierung der SW in die Pressetexte und die SW werden auf dieselbe Art und Weise modifiziert. Man kann von sprachenübergreifenden Charakteristika beim Gebrauch von SW in den Printmedien sprechen. Es haben sich aber auch bestimmte Unterschiede und Besonderheiten im Gebrauch von SW ergeben, die wir im Folgenden zusammenfassend darstellen. Was den Fundus von SW anbetrifft, lässt sich feststellen, dass in allen fünf Zeitungen folkloristische SW überwiegen (zu 77,22%). Etwas weniger sind künstliche (lateinische und biblische) SW vertreten (lateinische SW zu 13,87% und biblische SW zu 9,16%). Die Vorliebe für das Traditionelle, das Folkloristische ist viel stärker im südslawischen Osten (in der BO sind die folkloristischen SW zu 80,00% vertreten) als im Nordwesten des südslawischen Areals (z. B. im GL sind die folkloristischen SW zu 74,02% vertreten). Der südslawische Nordwesten dagegen tendiert zur frequenteren Übernahme von fremden, meist lateini- Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 251 schen Quellen: im GL zu 18,18% gegenüber 16,66% in der BO und 11,22% in der NIN (siehe Tab. 3: Entstehungsquellen der SW aus dem Korpus). Unter den folkloristischen SW haben sich in jeder Zeitung einige spezifisch regionale SW ausgesondert, 67 z. B. im GL Žena drži tri kantuna kuće, a muž samo jedan; Zrno po zrno pogača, kamen na kamen palača; Dobar budali brat; in der BO U šali - uvali; Lako je tuđim ... orahe mlatiti; I mirna Bosna; Bolje jedan dan ko beg, nego sto dana ko siromah/ sluga; Plaha vakta, ko obraza nema; Ja tebi vojvodo, ti meni serdare; Rugala se rûga, pa joj postala drûga; Ni po babu ni po stričevima; Ja tebi - ti meni ; in der NIN Niko ne popi čašu meda a da je čašom žuči ne zagrči; Mala bara, mnogo krokodila; Sve je moguće osim drvene peći; Skûp je grad za dinar, ako dinara nema; Skűp (škrtac) više plaća, a lijen dalje ide; Nema leba bez motike; Ne ostavlja se kozi da čuva kupus; Daleko ti lepa kuća bila; Dva dobra nikad zajedno; Dom je tamo gde su ti prijatelji; Tko u dvadesetoj ne zna, u tridesetoj nema; Teramo vuka, a lisica nosi meso. In der WP kann nur das SW Kein Geld, keine Musik als spezifisch regional angesehen werden. In der WAZ wurden keine regional spezifischen SW festgestellt. Was die Quantität, die Varietät und die Frequenz des parömiologischen Materials anbetrifft, ist eine steigende Tendenz in Richtung des südslawischen Ostens bemerkbar. Auf der anderen Seite hat sich der Nordwesten des deutschsprachigen Gebiets (WAZ) als parömiologisch produktiver im Vergleich mit dem Südosten (WP) ergeben. Die Frequenz des Sprichwortgebrauchs ist in den Zeitungen unterschiedlich. Die höchste SW-Frequenz hat sich im Korpus der WAZ ergeben (1 SW je 48 Seiten) und im Korpus der BO (1 SW je 57 Seiten). Darauf folgt die NIN (mit einer Frequenz von 1 SW je 70 Seiten), dann die WP (mit 1 SW je 74 Seiten) und die niedrigste Frequenz hat sich im GL herausgestellt (1 SW je 109 Seiten). Dass die Parömie eine ausgeprägte textorganisierende sprachliche Einheit ist, bestätigt auch unsere Untersuchung. In Pressetexten aus dem Korpus ist das SW meist in Titeln der Zeitungsartikel (zu 57,06%) oder in Titeln der Textab- 67 Die Kriterien zur Aussonderung und Gruppierung dieser SW sind vor allem die charakteristischen lexikalischen Komponenten der SW, dann die charakteristischen metasprachlichen Einleiteformeln mit expliziten lexikalischen Hinweisen über die Herkunft des jeweiligen SW (z. B. Vuk Karadžić je zabeležio dve poslovice..., in: NIN, 20.10.2005, S. 7, Kolumne; Vuk Karadžić ist der bekannteste Sammler serbischer Sprichwörter), die Inventarisierung in Wörterbüchern und die Befragung der Informanten. Željka Matulina 252 schnitte (zu 7,06%) platziert. Dies bestätigt die Rolle des SW als eines wichtigen textstrukturierenden Mittels. In jeder Zeitung werden SW in vielen Rubriken und von vielen verschiedenen Autoren verwendet. Am häufigsten werden SW im Bereich der Werbung und der Politik, vorwiegend in den Kolumnen und im Interview, gebraucht. Es handelt sich aber um unterschiedliche SW in jeder Zeitung. Unsere Analyse hat des Weiteren bestätigt, dass das SW in der Zeitung am meisten als ein beliebtes Mittel der Manipulation mit alten Weisheiten und den Autoritäten verwendet wird. Die Tendenz zum Sprachspiel und zur Umformulierung des SW lässt sich in allen Zeitungen aus dem Korpus nachweisen. Insgesamt 80,05% der SW sind modifiziert, am meisten in den Zeitungen WP (31,71%) und NIN (26,53%) und am wenigsten in der BO (13,91%) und WAZ (7,76%). Dass sich die Anpassung des SW an den umgebenden Kontext von der Integration der Phraseologismen in die Kontexte wenig unterscheidet, kann eine hohe Zahl von syntaktischen Modifikationen bestätigen: insgesamt 41,59% der SW aus dem Korpus sind an den umgebenden Kontext syntaktisch angepasst. Wenn man die Komponenten der SW aus dem Korpus beobachtet und aus einer kultursemiotischen Perspektive (im Sinne von Grzybek 1991) miteinander vergleicht, kommt man zu folgenden Schlüssen. Die SW im GL referieren mit ihren lexikalischen Komponenten vor allem auf Verwandtschaftsverhältnisse, den Heim und die Emotionen ( RODITELJI / Eltern 2-mal; DIJETE / Kind 2-mal; BRAĆA / Brüder 5-mal; ŽENA / Ehefrau 2-mal; MUŽ / Ehemann 2-mal; OTAC / Vater 1-mal; SIN / Sohn 1-mal; SVOJ / der nächste Verwandte 2-mal; DOM / Heim 2-mal; KUĆA / Haus 1-mal; KUĆICA / Kosename für „Haus“ 1-mal; PALAČA / Palast 1-mal; LJUBAV / Liebe 5-mal; SREĆA / Glück 4-mal; SRCE / Herz als Synonym für „Liebe“ 1-mal) (insgesamt 32 To-B oder 41,55%). An zweiter Stelle stehen die SW mit Bezug auf ab-strakte Relationen und Situationen und an dritter Stelle die SW, die auf zwischenmenschliche Verhältnisse und gesellschaftliche Hierarchie referieren. Die SW in der BO referieren vorwiegend auf zwischenmenschliche Relationen und gesellschaftliche Hierarchie ( PODIJELITI / teilen 2-mal; VLADATI / herrschen 2-mal; RAT / Krieg 2-mal; RED / Ordnung 2-mal; RAD / Arbeit 2-mal; VOJVODA / Woiwode 2-mal; SERDAR / Serdar 2-mal; BEG / Beg, Adliger 2-mal; SLUGA , SIROMAH / Diener, Armer 2-mal; GENERAL / General 1-mal; GAST / Gast 1-mal; TEBI / dir 2-mal; MENI / mir 2-mal; SMRKNUTI / es geht einem schlecht 2-mal; SVANUTI / es geht einem gut 2-mal; SVOJE / das Eigene 1-mal; Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 253 TUĐE / das Fremde 1-mal; TANGO / Tango 1-mal; UČESTVOVATI / teilnehmen 1-mal; NAROD / Volk 1-mal; VLAST / Regierung 1-mal; ZASLUGE / Verdienste 1-mal) (insgesamt 35 To-B oder 58,33%), an zweiter Stelle stehen SW mit Bezug auf familiäre Verhältnisse ( BRAT / Bruder 2-mal; SVOJ / der nächste Verwandte 2-mal; BABO / Vater 1-mal; OTAC / Vater 1-mal; SIN / Sohn 1-mal; STRIČEVI / Vaters Brüder, Onkel väterlicherseits 1-mal; BLIŽNJI / der nächste Verwandte 1-mal) (insgesamt 9 To-B oder 15,00%), und an dritter Stelle stehen SW, die abstrakte Relationen und Situationen zum Ausdruck bringen. In der NIN referieren die meisten SW auf zwischenmenschliche und gesellschaftliche Relationen ( OKO / Auge 10-mal; ZUB / Zahn 4-mal; OSVETITI SE / sich rächen 1-mal; POSVETITI SE / selig werden 1-mal; OBRAZ / Backe 1-mal; SILA / Gewalt 5-mal; PRAVDA / Gerechtigkeit 4-mal; ZAKON / Gesetz 2-mal; KADIJA / Kadi 1-mal; BARA / Teich 1-mal; KROKODIL / Krokodil 1-mal; NUŽDA / Not 1-mal; BOG / Gott 3-mal; ĐAVO / Teufel 2-mal; VUK / Wolf 3-mal; ČOVJEK / Mensch 2-mal; MUŠKO / männlich 1-mal; PRIJATELJI / Freunde 1-mal; DOGOVOR / Eintracht 1-mal; SIT / der Satte 1-mal; GLADAN / der Hungrige 1-mal; ODIJELO / Kleidung 1-mal; SAM / allein 3-mal; LOŠE DRUŠTVO / schlechte Gesellschaft 1-mal; OVCE / Schafe 1-mal; MAČKA / Katze 1-mal; MIŠEVI / Mäuse 1-mal; KRPA / Lappen 1-mal; ZAKRPA / Flicken 1-mal) (insgesamt 58 To-B oder 59,18%), an zweiter Stelle stehen SW mit Bezug auf familiäre Verhältnisse ( BRAT / Bruder 7-mal; BABO / Vater 1-mal; STRIČEVI / Vaters Brüder, Onkel väterlicherseits 1-mal; KUĆA / Haus 3-mal; DOM/ Heim 1-mal) (insgesamt 13 To-B oder 13,26%). Die dritte Stelle nehmen verschiedene abstrakte Relationen und Situationen ein. Die SW in der WP beziehen sich in erster Linie auf gesellschaftliche Relationen ( DABEISEIN 5-mal; VICI / SIEGTE 4-mal; MIR 3-mal; DIR 3-mal; EINER 2-mal; ALLE 2-mal; LÜGEN 2-mal; HAND 2-mal; FEINDE 2-mal; EHRE 2-mal; GNADE 2-mal; RECHT 4-mal; AUGE 1-mal; ZAHN 1-mal; HERR 1-mal; DIENEN 1-mal; BLINDER 1-mal; DER EINÄUGIGE 1-mal; MACHT 1-mal; GRUBE 1-mal; WÖLFE 1-mal; KRIEG 1-mal; SICH STREITEN 1-mal) (insgesamt 44 To-B oder 38,59%), an zweiter Stelle stehen SW mit ratschlaggebender Funktion, und an dritter Stelle stehen SW, bei denen das Geld im Mittelpunkt steht. In der WAZ sind am meisten jene SW vertreten, die auf abstrakte Relationen und Situationen referieren ( SINN 6-mal; MÜSSIGGANG 2-mal; ANGRIFF 1-mal; VERTEIDIGUNG 1-mal; AUFGESCHOBEN 1-mal; AUFGEHOBEN 1-mal; GEWAGT 2-mal; GEWONNEN 2-mal; GEWISSEN 1-mal; GLÜCK 1-mal; GLÜCKLICH 1-mal; HOCHMUT 1-mal) (insgesamt 20 To-B oder Željka Matulina 254 60,60%), an zweiter Stelle stehen, ebenso wie in der österreichischen WP, SW mit ratschlaggebender Funktion, und die dritte Stelle nehmen SW ein, die sich auf materielle Werte und das Geld beziehen. Die Untersuchung der drei südslawischen und zwei deutschsprachigen Zeitungen zeugt von vielen Berührungspunkten im Gebrauch des parömiologischen Materials. Vor allem kommen diese gemeinsamen Tendenzen im Bereich der okkasionellen formalen Veränderungen der SW zum Vorschein und in kreativem Umgang mit SW bei der Gestaltung der Pressetexte. Man kann also von einer globalisierenden, sprachenübergreifenden Tendenz im Gebrauch von Parömien in den Printmedien sprechen. Literatur Wörterbücher und Lexika Beyer, Horst / Beyer, Annelies (1987): Sprichwörterlexikon. München. Bogetić, Boško (Hg.) (1976): Narodne poslovice. Beograd. Bonifačić-Rožin, Nikola (1963): Narodne drame, poslovice i zagonetke. Zagreb. Botica, Stipe (Hg.) (2007): Kad ti kuća gori, a ti se ogrij. Zbirka poslovica Bartula Matijace. Zagreb. Conrad, Rudi (1975): Kleines Wörterbuch sprachwissenschaftlicher Termini. Leipzig. Duden (1992): Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. (= Duden 11). Mannheim u.a. Duden (2002): Das große Buch der Zitate und Redewendungen. Mannheim u.a. Lukić, Zlatko (2006): Bosanska sehara. Poslovice, izreke i fraze u BIH. Sarajevo. Mudrić, Saša (Hg.) (1994): Latinske izreke. Rijeka. Simrock, Karl (1988): Die deutschen Sprichwörter. Stuttgart. Skarpa, Vicko (1909): Hrvatske narodne poslovice. Šibenik. 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DOGOVOR KUĆU gradi. 69 Daleko od OČIJU , daleko od SRCA . Tko će kome, nego SVOJ SVOME . Ne treba dolijevati ULJE na VATRU . ZATIŠJE pred BURU . ŠUTNJA je ZLATO . ZRNO po zrno POGAČA , KAMEN na kamen PALAČA . Po TRNJU do ZVIJEZDA . ŽIVOT ide dalje. BO (insgesamt 50 Type-Belege) Ni po BABU ni po STRIČEVIMA . Bolje jedan dan kao BEG , nego sto dana kao SIRO- MAH / SLUGA . Ljubi BLIŽNJEGA svoga kao samoga sebe. I mirna BOSNA . BRIGO moja, prijeđi na drugoga. Lahko je biti GENERAL poslije BITKE . DOBAR GLAS daleko se čuje, a ZAO još i dalje. GOST je uvijek u pravu. Čovjek se UČI na GREŠKAMA . Sve se MOŽE , kad se HOĆE . ISTINA boli. Bolje IŠTA nego NIŠTA . JEDAN za sve, SVI za jednoga. Za LJUBAV nikad nije KASNO . KLIN se klinom izbija. U LAŽI su kratke NOGE . Kada daješ milostinju, neka ti ne zna LJEVICA što daje DESNICA . LJUBAV je slijepa. MLAĐE je slađe. Ja TEBI - ti MENI . Vrati MILO za DRAGO. 70 MISLIM , dakle postojim. Tresla se BRDA , rodio se MIŠ . OPREZ je majka MUDROSTI . NADA umire posljednja. Nekad BILO , sad se SPOMINJALO . SVE ili NIŠTA . Lahko je tuđim ... ORA- HE mlatiti. Dok jednom ne SMRKNE , drugome ne SVANE . Kakav OTAC , takav SIN . VENI , vidi, VICI . PRAVDA je za sve ista. Prvo, pa MUŠKO . Svi putovi vode u RIM . RUGALA se rûga, pa joj postala drûga. Jedna SLIKA vrijedi više od hiljadu RIJEČI (nicht belegt). SMIJEH je lijek. SVOJE ne damo - TUĐE nećemo (nicht belegt). U ŠALI - uvali. Za TANGO je potrebno dvoje (nicht belegt). Važno je UČESTVOVATI . UM caruje, SNAGA klade valja. Plaha VAKTA , ko obraza nema! (nicht belegt). Mnogo VIKE ni za što. Svaki NAROD zaslužuje VLAST koju je izabrao (nicht belegt). Dao VUKU OVCE da čuva. Svakome prema ZASLUGAMA . Od dva ZLA biraj manje. ZNANJE je imanje. Po TRNJU do ZVIJEZDA . 68 Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, werden in den Listen nur die Kernsprichwörter angegeben. 69 Formal unterschiedlich aber inhaltlich identisch ist das in Matijacas Sprichwortsammlung (Botica (Hg.) 2007, S. 246) vorgefundene Kernsprichwort: Slogom rastu i male stvari, a nesloga sve pokvari. 70 Es gibt verschiedene formale Varianten ein und desselben Kernsprichworts, z. B. in Matijacas Sprichwortsammlung (Botica (Hg.) 2007, S. 160): Milo za drago und Milo se daje za drago. Die Verwendung von Sprichwörtern in Printmedien 257 NIN (insgesamt 63 Type-Belege) Ave CAESAR , MORITURI te salutant! Ni po BABU ni po STRIČEVIMA . Triput BOG pomaže. I mirna BOSNA ! BRIGO moja, prijeđi na drugoga! BURA u ČAŠI vode. ČOVJEK je čovjeku VUK . ČUDA se ipak događaju! Neka se čuje i druga STRANA ! Sutra je novi DAN . Gde ima DIMA , ima i VATRE . Skûp je GRAD za DINAR , ako dinara nema. SKŰP (škrtac) više PLAĆA , a LIJEN DALJE ide. Nikad dva DOBRA zajedno. (nicht belegt) DOGOVOR kuću gradi. DOM je tamo gde su ti PRIJATELJI (nicht belegt). Vojska ŠUMOM , a baba DRUMOM . ĐAVO uvek nađe posao za ZALUDNE ruke. ĐAVO je u DETALJU . KADIJA te tuži, kadija ti sudi. KONAC delo krasi. Ostavio KOZI da čuva KUPUS . Mala BARA , mnogo KROKODILA (nicht belegt). Našla KRPA zakrpu. Kad MAČKE nema, MIŠEVI kolo vode. MASKE su pale. Niko čašu MEDA ne popi da je čašom ŽUČI ne zagrči. Dvije STRANE iste MEDALJE . 71 Ne stavlja se novo VINO u MEHOVE stare. Hvali MORE , drž se OBALE ! Nema LEBA bez MOTIKE . Ko o čemu, a BABA o UŠTIPCIMA . O MRTVIMA sve najbolje. Nekad BILO , sad se SPOMINJALO . Ko nema u GLAVI , ima u NOGAMA . NUŽDA ZAKON menja. OBEĆANJE - ludom RADOVANJE . Ako te neko udari po desnom OBRAZU tvom, ti mu okreni i drugi. ODI- JELO čini čovjeka. LOPTA je okrugla (nicht belegt). OPREZ je majka MUDROSTI . OPROSTI im BOŽE , ne znaju šta čine! Onaj ko pravi ORUŽJE , mora pušku i da ISPRO- BA (nicht belegt). Ko se ne OSVETI , taj se ne POSVETI . VUK sit i OVCE na broju to ne može bit. Sve je MOGUĆE osim drvene PEĆI (nicht belegt). Nije umetnik onaj koji dobro POČNE , već onaj koji na vreme ZAVRŠI (nicht belegt). PRAH prahu (nicht belegt). Prvo, pa MUŠKO . RIBA od glave SMRDI . SADA ili NIKADA ! Bolje SAM nego u lošem DRUŠTVU . SILA je iznad ZAKONA . SIT GLADNOM ne vjeruje. VREME je najbolji SUDIJA . Što na UMU , to na DRUMU . Od VIŠKA glava ne boli. HANNIBAL ante PORTAS . VREME je NOVAC . Od dva ZLA biraj MANJE . Ko u DVADESETOJ ne zna, u TRIDESETOJ nema. Videla ŽABA da se KONJ podkiva, pa i ona digla nogu. ŽIVI bili pa VIDELI ! WP (insgesamt 47 Type-Belege) Aller ANFANG ist schwer. AUGE um Auge, ZAHN um Zahn. Es ist besser, einen BÄ- REN loslassen, als einen Bären anbinden. Wer ZAHLT , der BEFIEHLT (nicht belegt). BROT und SPIELE . Niemand kann zwei HERREN DIENEN . Unter BLINDEN ist der EINÄUGIGE König. EINS und eins macht zwei. ENDE gut, alles gut. Wer nicht WAGT , der nicht GEWINNT . Der GLAUBE macht SELIG . Wer die MACHT hat, hat das RECHT . Wer andern eine GRUBE gräbt, FÄLLT selbst hinein. HILF dir selbst, dann hilft dir GOTT ! Wer mit WÖLFEN essen will, muss mit den Wölfen HEULEN . Es ist noch kein MEISTER vom HIMMEL gefallen. HOCHMUT kommt vor dem FALL . HUNGER ist der beste KOCH . In der LIEBE und im KRIEG sind alle Mittel erlaubt (nicht belegt). In der KÜRZE liegt die WÜRZE . LEBEN und leben lassen. Gottes MÜHLEN mahlen LANG- SAM aber sicher. NOMEN est omen. NOT macht ERFINDERISCH . KLEIN aber oho. Alte LIEBE rostet nicht. Durch SCHADEN wird man KLUG . Alter SCHLAUCH hält neuen MOST nicht. Jedem das SEINE . SICHER ist sicher. Wo GEHOBELT wird, da 71 Auch hier gibt es andere formale Varianten, z. B. Medalja ima dvije strane (vgl. Lukić S. 197), dt.: ‘Jede Medaille hat zwei Seiten’. Željka Matulina 258 fallen SPÄNE . Wer zu SPÄT kommt, isst mit den GEMALTEN an der Wand. Besser ein SPATZ in der Hand als eine TAUBE auf dem Dach. Wie viele SPRACHEN du sprichst, so viele MENSCHEN du giltst. GELD STINKT nicht. Wenn zwei sich STREITEN , FREUT sich der DRITTE . Wer zuletzt LACHT , lacht am BESTEN . Mit RAT und TAT . Der TEUFEL SCHLÄFT nicht. Non plus ULTRA . URBI et orbi. Was nicht VERBOTEN ist, das ist ERLAUBT . Gut DING will WEILE . In VINO veritas. Wo ein WILLE ist, ist auch ein WEG . Wer WIND sät, wird STURM ernten. Kommt ZEIT , kommt RAT . WAZ (insgesamt 17 Type-Belege) ANGRIFF ist die beste VERTEIDIGUNG . AUFGESCHOBEN ist nicht AUFGEHOBEN . Frisch GEWAGT ist halb GEWONNEN . Ein gut GEWISSEN ist ein sanftes RUHEKIS- SEN . GLÜCK und GLAS , wie bald bricht das! GELD allein macht nicht GLÜCKLICH . HOCHMUT tut nimmer gut. KURZ und GUT ist angenehm. LIEBE kennt keine Grenzen. LIEBE deinen NÄCHSTEN wie dich selbst. Guter RAT ist GOLDES wert. Guter RAT ist TEUER . Wie die SAAT , so die ERNTE . Lieber ein SPATZ in der Hand als eine TAUBE auf dem Dach. ÜBUNG macht den MEISTER . Wer nicht WAGT , der nicht GE- WINNT . ZEIT ist GELD . Mona Noueshi Wie das Land, so das Sprichwort Interkulturelle und sprachlich-stilistische Aspekte in deutschen und arabischen Sprichwörtern. Eine kontrastive Untersuchung Sprichwort bezeichnet Nationen; Mußt aber erst unter ihnen wohnen. (Johann Wolfgang von Goethe) Mit der kontrastiven Untersuchung von Phraseologismen, bzw. Sprichwörtern, greift die Untersuchung eine Thematik auf, die in der neueren Linguistik große Beachtung gefunden hat. Die Übersetzbarkeit der Sprichwörter ist ein in der Translationswissenschaft viel diskutiertes Problem. Eigentlich ist die Übersetzung selbst als wissenschaftliches Problem bisher nicht umfassend und befriedigend gelöst. In der Untersuchung geht es um die kontrastive Phraseologie und dabei im Besonderen um das Problem und die Schwierigkeiten der Übersetzbarkeit von arabischen Sprichwörtern ins Deutsche. Ziel ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprichwörtern in den konfrontierten Sprachen - anhand von Beispielen aus ägyptisch-arabischen Texten der Prosaliteratur der Gegenwart und deren Übersetzungen ins Deutsche - sichtbar zu machen. Die arabischen Werke stammen von verschiedenen zeitgenössischen Autoren. Es wird versucht, die Frage zu beantworten, bis zu welchem Grad die verschiedenartigen Sprichwörter der arabischen Originale in ihrem kommunikativen Wert in der deutschen Zielsprache äquivalent wiedergegeben werden können und dabei ihre Funktionen in der Zielsprache wahren können. Im Vordergrund steht auch die Frage, inwiefern Kultur, Sitten und Gebräuche einen Einfluss auf die Sprichwörter ausüben und inwieweit das Eigene und das Fremde miteinander übereinstimmen. Somit werden die wesentlichen sprachlichen Charakteristika der Sprichwörter betont. Sprichwörter sind Erscheinungsformen der Phraseologismen, die in der Untersuchung - in Anlehnung an Černyševas Klassifikation (vgl. Černyševa 1979, S. 73ff.; 1981, S. 424ff.) - zu jener Gruppe der phraseologischen Ausdrücke gehören, die als phraseologische Fügungen in Form eines Satzes verstanden werden. Mona Noueshi 260 Zu unterscheiden ist hier zwischen Phraseologismen, die zumeist erst durch ihre Verwendung in einem Satz, d. h. in Verbindung mit einem Subjekt, wie z. B. jdn. links liegen lassen etwas aussagen und dann zu formal und inhaltlich abgeschlossenen Sätzen werden, und jenen phraseologischen Ausdrücken, die bereits an sich eine Satzform aufweisen. Da die Sprichwörter in der Regel von Mund zu Mund übertragen werden, sind die meisten kurz und knapp, wie Eile mit Weile; oder (wörtl.: Das Beste einer Wohltat ist ihre baldige Erledigung), was bedeutet ‘Man muss zu einer Wohltat eilen’. (wörtlich: Der Vogel ist ausgeflogen) bedeutet ‘der Gesuchte ist nicht da’. Unter ‘Sprichwort’ ist - sowohl in der deutschen als auch in der arabischen Sprachwissenschaft - eine kurze, leicht verständliche und volkstümliche Aussage zu verstehen, die meistens eine allgemeingültige Lebenserfahrung formuliert und eine feste und unveränderliche Formulierung hat. 1 Den Sprichwörtern liegt oft eine belehrende und moralisierende Absicht zugrunde und sie enthalten eine Lebensweisheit, wie: Gleich und gleich gesellt sich gern 2 und im Arabischen (wörtl.: Ähnliche Vögel fallen zusammen). Dieses Sprichwort hat die Bedeutung ‘Menschen, die die gleiche Lebensauffassung haben, finden sich schnell zusammen’. Neben diesen Sprichwörtern in einfachen Sätzen gibt es eine größere Anzahl in metrisch geformter Sprache. Durch ihre äußeren Kunstmittel, u. a. Rhythmus und Endreim, wie z. B. In der Kürze liegt die Würze, sind sie wie ein „Stück Kleinpoesie“. 3 Ein umfangreiches Beispiel dafür ist folgendes Zitat (Seiler 1967, S. 4): Alte soll man ehren, Junge soll man lehren, Weise soll man fragen, Narren ertragen. Hinsichtlich der Erfassung und der stilistischen Einordnung der arabischen Sprichwörter erweist sich die arabische Lexikografie als lückenhaft und unzureichend, deshalb bin ich dazu gezwungen, die gültigen Kriterien der deutschen Sprichwörter auf dem Gebiet der arabischen Sprichwörter zu übernehmen. 1 Vgl. hierzu Noueshi (1984, S. 30f.). 2 Vgl. hierzu Seiler (1918, S. 2), Burger (1973, S. 54), Röhrich / Mieder (1977, S. 2), Röhrich (1977, S. 9). 3 Vgl. Seiler (1967, S. 4). Wie das Land, so das Sprichwort 261 Die meisten Sprichwörter sind ein Reflex der Lebensform der betreffenden Sprachgemeinschaft. Aufgrund der vielfältigen Assoziationen, die sie beim Muttersprachler wecken, stellen sie für den Übersetzer ein Problem dar, da sich nur in seltenen Fällen zwischen zwei Sprachen äquivalente Sprichwörter finden lassen. Zumeist hängt es vom Sprichwortangebot der Zielsprache und von der Kunstfertigkeit des Übersetzers ab, in welchem Maße die Vielschichtigkeit des Originals rekonstruiert werden kann. Sprichwörter haben innerhalb des Textes über die denotativ-referenzielle Bedeutung hinaus bestimmte stilistisch-pragmatische Funktionen, wie vor allem die Konkretisierung der Aussage, und konnotative Merkmale, wie Expressivitätssteigerung, Erhöhung der Überzeugungskraft und Widerspiegelung der emotional betonten Einstellung des Sprechers zu einem bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt. Sprichwörter erfüllen ebenso in literarischen Texten bestimmte Funktionen, sowohl in der Autorenals auch in der Figurenrede. In der Autorenrede helfen sie dem Textproduzenten Handlungen, Atmosphäre, Milieu und Umgebung, in denen seine Gestalten leben, zu beschreiben. Auch dienen sie zur Widerspiegelung bestimmter Verhältnisse zwischen den Kommunikationspartnern, also zwischenmenschlicher Beziehungen. In der Figurenrede werden Sprichwörter als „Sprachporträt“ zur Personalcharakterisierung benutzt: Es werden z. B. bestimmte Besonderheiten der Personencharaktere geschildert, beispielsweise ob sie als negativ oder positiv bewertet werden. Sie können auch die emotional betonte Einstellung des Sprechers zu einem bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt widerspiegeln oder die Art und Weise, wie die Figur redet und sich äußert (erstaunt, erregt, usw.) beschreiben bzw. ausdrücken. Sprichwörter werden auch benutzt, um die Figuren in ihrem sozialen Stand zu charakterisieren. Der Autor legt einer Figur ein Sprichwort „auf die Zunge“, um ihr entsprechendes Milieu und das geistige Niveau plastisch werden zu lassen. Um eine möglichst gute Übersetzung zu erhalten, muss angestrebt werden, neben der Semantik auch alle anderen Aspekte (Motiviertheit, Stilschicht, Expressivität, Stilfärbung, Bildhaftigkeit) zu bewahren. Welche Probleme und Schwierigkeiten begegnen dem Übersetzer bei der Übertragung der Sprichwörter in literarischen Texten? Mona Noueshi 262 Sprichwörter sind sprachliche Universalien, das heißt, sie sind sprachliche Erscheinungen, die es in jeder Sprache dieser Welt gibt. In den verschiedenen Sprachen existieren zwar bedeutungsgleiche (bzw. ähnliche) Sprichwörter mit einer völlig genauen (bzw. partiellen) lexikalischen Besetzung und dementsprechend der gleichen Expressivität und Bildhaftigkeit. Solche Sprichwörter sind vor allem auf Grund von Entlehnungsvorgängen aus dem religiösen Bereich entstanden, z. B.: - Im Arabischen: (wörtl.: Das Auge um das Auge, der Zahn um den Zahn). - Im Deutschen: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es bedeutet: ‘Jede Untat findet ihre Vergeltung’. Oder sie sind auf Grund gleicher (bzw. ähnlicher) Motivation entstanden, z. B.: - Im Arabischen: (Das Entenjunge ist ein Schwimmer). - Im Deutschen: Das Entenjunge ist ein Schwimmer, was internationalen Charakter trägt. - Im Arabischen: (Die Wände haben Ohren). - im Deutschen: Die Wände haben Ohren. Die Anzahl solcher wortwörtlichen Parallelen ist aber gering in Bezug auf bedeutungsgleiche Sprichwörter in beiden Sprachen. Auch die deutsche Sprache bietet nicht wenige Sprichwörter ohne Äquivalent im Arabischen. Das Problem des Übersetzens besteht also darin, dass die Zielsprache zumeist keine usuellen Sprichwörter mit der gleichen Bildhaftigkeit und Expressivität aufweist. Eine völlige 1: 1-Entsprechung kann demzufolge häufig nicht ermittelt werden. Der Übersetzer steht also vor dem Problem: Nicht jeder Ausdruck in der arabischen Sprache findet eine Parallele oder Entsprechung im Deutschen, was besonders für Sprichwörter zutrifft. Diese Tatsache hängt damit zusammen, dass die Sprache auch ein Spiegelbild bestimmter geschichtlich, kulturell, geografisch, klimatisch, landschaftlich usw. bedingter Gegebenheiten des jeweiligen Landes bzw. der Sprachgemeinschaft ist. Wie das Land, so das Sprichwort 263 Das bedeutet, dass die Sprache des Volkes einem langen Entwicklungsprozess unterworfen ist; diese je spezifische sprachliche Entwicklung ist mit der gesellschaftlichen Entwicklung des jeweiligen Volkes verbunden. Gesellschaftliche Entwicklung heißt hier das Einschließen der ökonomischen, sozialen, kulturellen, religiösen, geografischen und klimatischen Faktoren. Im Falle des Sprachenpaares Arabisch-Deutsch lassen sich infolge der Zugehörigkeit Ägyptens und Deutschlands zu unterschiedlichen Kulturkreisen und geografischen Milieus in besonders ausgeprägter Weise kultur- und landesspezifische Differenzen erschließen Viele Sprichwörter mit solch unterschiedlichen kulturspezifischen und semantischen Merkmalen haben demzufolge in der jeweils anderen keine Entsprechung. Es handelt sich hier z. B. um Vokabular mit einer fremdkulturellen Markierung oder gar um äquivalentlose Lexik, meist Realienwörter - allgemein formuliert: um kulturbezogene Wörter. Ebenso trifft dies auf Sprichwörter zu, in denen sich z. B. Sitten und Traditionen des Volkes, Ess- und Trinkgewohnheiten, Glauben, Aberglauben, Eigennamen, Klima usw. zeigen. Gerade diese Sprichwörter, die in ihrem Bestand kulturspezifische Elemente besitzen, und kultur- und landesspezifische Sachverhalte widerspiegeln oder landeskundliche Relevanz aufweisen, die weder im Sprachsystem noch in der Kultur der anderen Sprachgemeinschaft ein Äquivalent besitzen (d. h., auch das Denotat fehlt), verursachen große Schwierigkeiten bei der Übersetzung. Es werden nun einige Beispiele aufgeführt, bei denen in der arabischen Kulturwelt Denotate vorhanden sind, die im Deutschen aber nicht existieren und für die in der deutschen Sprache folgerichtig auch keine entsprechenden Bezeichnungen bestehen. Hier wird von einer 1: 0-Entsprechung gesprochen. So hat beispielsweise das arabische Wort (khol) im deutschen Sprachsystem keine Entsprechung für dieses Denotat. Khol ist eine aus pulverisiertem Antimon bereitete Salbe zum Schwarzfärben der Augenlider. Da diese Bezeichnung im Deutschen fehlt, fehlt auch die deutsche Entsprechung zu den Sprichwörtern mit diesem Wort, wie: (wörtl.: Ich lege dich in mein Auge und bestreiche es mit khol). Das Sprichwort hat die Bedeutung ‘jemanden mit großer Sorgfalt pflegen, schützen’. Das arabische Wort (hinnā) hat im deutschen Sprachsystem ebenfalls keine Entsprechung. Hinnā ist ein kosmetisches Mittel, das von den ägyptischen Frauen insbesondere bei freudigen Ereignissen, z. B. am Vorabend der Hochzeit (in Ägypten „die Nacht des Henna“ genannt) benutzt wird. Mona Noueshi 264 Da diese Bedeutung im Deutschen fehlt, fehlt auch die deutsche Entsprechung zu den Sprichwörtern mit diesem Wort, wie (wörtl.: Als er anfing mit hinnā Handel zu treiben, vermehrten sich die Trauerfälle). Das Sprichwort hat die Bedeutung ‘Wenn der Pechvogel eine bestimmte (auf Erfolg abzielende) Absicht hat, treten oft Umstände ein, die dieser Absicht entgegenstehen’. Genauso fehlen die Denotate (ta‘mīya sind Bohnenpastetchen mit Zwiebeln, Knoblauch und Petersilie) und (tāqīya ist eine weiße Mütze aus Baumwolle) im deutschen Sprachsystem. Und demzufolge gibt es auch das Sprichwort nicht: (wörtl.: Er hat die ta‘mīya gekostet und die tāqīya verkauft) mit der Bedeutung ‘etwas um jeden Preis haben, erreichen wollen’. Ein anderes Beispiel ist (mulūchīya). Mulūchīya ist eine als Gemüse verwendete Speisepappel, die als dickflüssige Suppe mit Reis, Huhn oder Hammelfleisch zubereitet wird. Das entsprechende Sprichwort sucht man im Deutschen natürlich auch vergebens: (wörtl.: Die ungerade, krumme Schüssel gießt die mulūchīya aus). Es bedeutet: ‘Die Person, die vom Rechten abweicht, verursacht Schaden’. Ein weiteres Beispiel: القبقا (qabqāb - ‘hölzerner Stelzschuh’). Das dazugehörige Sprichwort heißt (wörtl.: Der Besen und der hölzerne Stelzschuh haben sich befreundet). Es bedeutet ‘Sie planen zusammen etwas Böses’. Andere Schwierigkeiten beim Suchen von Entsprechungen treten in den Fällen auf, in denen in beiden Sprachen zwar dieselben Denotate vorhanden sind, aber die begriffliche Aufgliederung der Denotatswelt nicht völlig identisch ist. Es liegt eine Inkongruenz der Zeichen in semantischer Hinsicht vor. Im Deutschen ist z. B. für ‘Onkel’ nur eine Bezeichnung vorhanden, während die arabische Sprache zwei Bezeichnungen besitzt, und zwar (chāl - ‘Muttersbruder’), (amm - ‘Vatersbruder’). Somit fehlen auch die entsprechenden Sprichwörter in der deutschen Sprache, wie: (wörtl.: Der Onkel - also der Muttersbruder - sei ein Vater). Es hat die Bedeutung ‘Der Onkel ist genauso lieb wie der Vater’. In einigen Sprichwörtern wird spezifisches Kolorit vermittelt, z. B. Sozialkolorit, wie: (wörtl.: Er ermordet ihn und marschiert in seiner Beerdigung). Wie das Land, so das Sprichwort 265 Damit ist gemeint: Er nimmt an der Beerdigung des von ihm Ermordeten teil, und es wird ausgedrückt, dass jemand ‘sehr listig und zu jeder Schandtat fähig’ ist. Das Marschieren hinter dem Sarg ist eine religiöse Sitte, die in der deutschen Gesellschaft weniger üblich ist, deshalb fehlt im Deutschen ein entsprechendes Sprichwort. Da Sprichwörter jahrhundertelang in der Sprache leben, können sie alte Sitten und Bräuche des Volkes widerspiegeln. Sie sind sprachliche Denkmäler der Kultur des Volkes und könnten auch dem heutigen Zeitgenossen selbst des eigenen Volkes unverständlich sein. Besonders interessant sind in dieser Hinsicht z. B. Sprichwörter mit historischem Kolorit, wie: (wörtl.: Du sitzt auf dem Teppich und wählst die beste Jungfrau). Die Bedeutung ist: ‘sich nicht um eine Braut zu kümmern brauchen, ein Wink von jdm. genügt; jd. hat Vorzüge, die jedes Mädchen locken’. Auch dieses arabische Sprichwort hat keine Entsprechung in der deutschen Sprache, denn ihm liegt ein historischer Brauch im Orient zugrunde, aus dem es sich erklären lässt, und zwar aus der vorislamischen Zeit: Die Edlen und die Reichen gingen auf den Markt der Sklavinnen, saßen auf Teppichen, und ihnen wurde eine Auswahl von Sklavinnen angeboten. Die Bildhaftigkeit und die Semantik sind aus bestimmten kulturgeschichtlichen Gegebenheiten zu verstehen. Der Übersetzer steht hier vor dem Problem, wie er mit ähnlichen alltäglichen Sprichwörtern in der Zielsprache die heutige Wiklichkeit adäquat wiedergeben kann. Auch Sprichwörter mit religiösem Kolorit können keine Entsprechungen in der deutschen Sprache haben, wie: (wörtl.: Aber die Taten sind an ihren Absichten zu messen). Dies ist ein Sprichwort in Anlehnung an das Wort des Propheten (wörtl.: Aber die Taten sind durch ihre Absichten zu messen, und für jeden Menschen, was er beabsichtigt). Ein weiteres Beispiel aus dem religiösen Bereich ist folgendes: (wörtl.: Das Geld der Waisen essen) in Anlehnung an den Heiligen Koran (Sure: Die Weiber, Aya 85; wörtl.: Siehe, wer der Waisen Gut ungereicht isst, der frisst sich Feuer in seinen Bauch und wird in der Flamme brennen). Mona Noueshi 266 Die in einigen Sprichwörtern verwendeten Namen, wie Namen aus Märchen oder Anekdoten, können ebenso keine Entsprechungen in der deutschen Sprache oder umgekehrt haben und zu Schwierigkeiten des Verstehens des Sprichwortes im Original und somit auch der Übersetzung in die Zielsprache führen, wie der Name (Ğohā - die Schalkfigur und eine Hauptfigur von Schwanksammlungen und Sprichwörtern). In der arabischen bzw. ägyptischen Literatur haben wir eine ähnliche Figur wie Till Eulenspiegel, die ähnliche Motive und Aufgaben hinsichtlich der Gesellschaft zu erfüllen hatte. Diese ist unter dem Namen Ğohā bekannt. Somit ist immer eine 1: 0-Entsprechng der Sprichwörter mit diesem Namen im Deutschen zu erwarten, wie z. B. das Sprichwort: زى بوابة جحا واسعة على (wörtl.: Es ist wie Ğohās Tor, zu weit und sinnlos), das ironisch den Nutzlosen kritisiert. Für den Deutschen sind solche Sprichwörter undurchsichtig, und es bedarf für ihr Verständnis bestimmter kulturgeschichtlicher Erläuterungen. Die okkasionell variierten Sprichwörter, die besonders in den literarischen Texten erscheinen und deren Variabilitätspotenz von Autoren ausgenutzt wird, um eine bestimmte künstlerische Wirkung zu erreichen, bereiten dem Übersetzer eine noch erheblichere Mühe als die Übersetzung der usuellen Sprichwörter. Es kann durchaus möglich sein, dass der Übersetzer den begrifflich-semantischen Sinn des variierten arabischen Sprichworts nicht genau erfasst hat und demzufolge ein nicht äquivalentes Sprichwort in der Zielsprache wählt. In höherem Maße werden Sprichwörter in okkasionell modifizierter als in tradierter Form verwendet, um einen einmaligen, situationsabhängigen, komischen, parodistischen und ironischen Effekt zu erzielen und dadurch die Leser aufmerksam zu machen, was das Verstehen und die Schwierigkeit der Übersetzung verursachen können. Die Umwandlung der Sprichwörter wird durch eine der folgenden Möglichkeiten erreicht: - Ersetzen (lexikalische Substitution), - Erweiterung (Hinzufügen eines Ausdrucks), - Abkürzung, - Kombination von zwei Sprichwörtern oder Weglassen eines Ausdrucks. Ein noch größeres Problem verursachen die Sprichwörter in den literarischen Texten, die über eine Mittlersprache übertragen wurden. Die Mittlersprache kann Einfluss auf den übersetzten Text ausüben: Es kann zu Fehl- Wie das Land, so das Sprichwort 267 leistungen kommen, z. B. Verzicht auf eine Wiedergabe des Sprichworts, oder zu einer Abweichung der Semantik des Originals, z. T. aus einem Missverständnis. Damit tritt ein Verlust an Anschaulichkeit des Originals auf, die ästhetische Funktion des ausdrucksvollen arabischen Sprichworts geht verloren. Der Übersetzer soll sich die Fragen stellen: - Wie sollen die modifizierten, die okkasionellen Sprichwörter in die Zielsprache übertragen werden? - Welche Möglichkeit der Übersetzung soll er beim Fehlen eines adäquaten - im Original benutzten okkasionellen - Sprichworts wählen? Soll er diese Sprichwörter wörtlich übersetzen oder soll er einfach auf eine Übersetzung verzichten? In beiden Fällen geht die Funktion wie auch die Expressivität und Anschaulichkeit dieser Sprichwörter verloren. - Inwiefern stimmt das Eigene und das Fremde miteinander überein? Als Ergebnis dieser Untersuchung ergeben sich sechs von mir festgestellte Übersetzungsmöglichkeiten von Sprichwörtern: Die erste Äquivalenzgruppe ist dadurch charakterisiert, dass dem arabischen Sprichwort ein wortwörtlich gleiches (Gruppe 1a) bzw. nahezu wortwörtlich gleiches (Gruppe 1b) Sprichwort des deutschen Sprachsystems entspricht. Diese Gruppe enthält Sprichwörter mit dem höchsten Äquivalenzgrad. Es sind Sprichwörter, die in der äußeren Form, in der lexikalischen Besetzung, in der Bildlichkeit und der Motivierung identisch, bzw. nahezu identisch sind. Beispiele für 1a): - Im Arabischen: (wörtl.: Kein Rauch ohne Feuer). Das deutsche Sprichwort lautet genauso: Kein Rauch ohne Feuer. - Im Arabischen: (wörtl.: Gott gibt, Gott nimmt). Im Deutschen: Gott gibt, Gott nimmt. Es bedeutet: ‘Alles ist von Gott geschaffen und kehrt wieder zu Gott zurück’. Beispiele für 1b): - Im Arabischen: (wörtl.: Aus den Augen, aus dem Herzen). - Im Deutschen: Aus den Augen, aus dem Sinn. Es bedeutet: ‘Menschen, die man nicht sieht, vergisst man leicht’. Mona Noueshi 268 Hier haben wir eine abweichende Lexik: im Arabischen steht ‘Herz’, während im Deutschen das Wort Sinn steht. Ein weiteres Beispiel: - Im Arabischen: (wörtl.: Der Mensch denkt und Gott lenkt). - Im Deutschen: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Die Konjunktion ‘und’ fehlt im deutschen Sprichwort. Für die zweite Gruppe ist bezeichnend, dass bei gleicher bzw. ähnlicher Bedeutung mehr oder weniger starke Unterschiede in der lexikalischen Zusammensetzung sowie Bildlichkeit vorhanden sind, wobei die Bildlichkeit beider Entsprechungen zumeist ähnlichen Wirklichkeitsbereichen entstammt und in beiden Sprachen semantisch durchschaubar (motiviert) ist. Beispiel: - Im Arabischen: (wörtl.: Zwei Vögel mit einem Stein schlagen). - Im Deutschen: Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Während im Arabischen die Wörter ‘Vögel’ und ‘Stein’ benutzt werden, stehen im Deutschen Fliegen und Klappe. Hier liegt auch eine Abweichung der lexikalischen Besetzung vor. Ein weiteres Beispiel: - Im Arabischen: (wörtl.: Frag' einen Erfahrenen und frag' nicht einen Arzt). - Im Deutschen: Ein Erfahrener ist besser als zehn Gelehrte. Die dritte Gruppe umfasst Sprichwortäquivalente beider Sprachen, die einander semantisch entsprechen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die parallelen Entsprechungen sich hinsichtlich ihrer lexikalischen Besetzung und in ihrer Bildlichkeit erheblich unterscheiden. Beispiel: - Im Arabischen: (wörtl.: Wir schwiegen, so kam er mit seinem Esel herein). Es bedeutet: ‘Wenn man jemandem ein bisschen hilft, erwartet er noch mehr’. Wie das Land, so das Sprichwort 269 - Im Deutschen: Wenn man dem Teufel den kleinen Finger gibt, so nimmt er die ganze Hand. Ein weiteres Beispiel: - Im Arabischen: (wörtl.: Das Schiff, das zwei Kapitäne hat, versinkt). - Im Deutschen: Viele Köche verderben den Brei. Es bedeutet: ‘Eine Sache misslingt, wenn zu viele mitwirken’. Diese Anordnung der Sprichwortentsprechungen gibt bereits einen ersten Anhaltspunkt bezüglich des erreichten Äquivalenzgrads. Durch die sich von Gruppe 1 bis 3 verstärkende Unterschiedlichkeit in der lexikalischen Besetzung und Bildlichkeit kommt es - bei aller grundsätzlichen Identität bzw. Ähnlichkeit in begrifflich-semantischer Hinsicht - zu einer mehr oder weniger starken Differenzierung im Hinblick auf den Stilwert, den Expressivitätsgrad bzw. die Anschaulichkeit. In die Äquivalenzgruppen 4 und 5 werden solche Sprichwörter eingeordnet, deren begrifflich-semantische Bedeutung - in Ermangelung einer Äquivalenz der Gruppen 1-3 - durch ein bzw. mehrere Lexeme oder eine freie Umschreibung in den deutschen Translaten adäquat wiedergegeben wird. Dabei geht die Expressivität verloren. Beispiel für Gruppe 4: - Im Arabischen: (wörtl.: Der Kern stützt den zir - ein in kleineren Dörfern oft vorhandenes großes Fass aus porösem Ton zur Aufbewahrung von Wasser). - Im Deutschen: Das hilft. - Im Arabischen: (wörtl.: er hat weder mit dem Ochsen noch mit dem Mehl zu tun). Das Sprichwort hat die Bedeutung ‘nichts von einer Sache wissen oder nichts damit zu tun haben’ und entstammt dem Lebensbereich der Bauern. - Im Deutschen: Er versteht nicht oder Er versteht davon nichts. Beispiel für Gruppe 5 : - Im Arabischen: (wörtl.: Brotessen erfordert die Geschicklichkeit der Hand). Es bedeutet: ‘Man muss geschickt sein, um etwas zu verdienen’. Mona Noueshi 270 Das deutsche Sprichwort lautet: Rühr dich, damit du ein anständiges Leben führen kannst. In allen fünf Äquivalenzgruppen sind sowohl Abweichungen in semantischer oder stilistischer Hinsicht als auch hinsichtlich struktureller und morphologisch-syntaktischer Unterschiede zu vermerken. Bei der 6. Äquivalenzgruppe handelt es sich um solche Sprichwörter, für die in der Zielsprache eine sprichwortartige bildhafte Wendung okkasionell geschaffen wird, vermutlich ebenfalls in (subjektiv oder objektiv bedingter) Ermangelung eines äquivalenten usuellen Sprichworts. Die Sprichwörter der Ausgangssprache werden mehr oder weniger wortwörtlich übersetzt. Dabei werden die Bildhaftigkeit und die Anschaulichkeit des Sprichworts im Original in der Zielsprache beibehalten. Beispiel: - Im Arabischen: (wörtl.: Nimm von dem Hügel, so wird er geschädigt). - Im Deutschen: Trag immer vom Berg ab, und du wirst ihn sich neigen sehen. Gegenüber dem usuellen - d. h. im Sprachsystem verankerten - Sprichwort der arabischen Sprache steht im deutschen Text eine okkasionell gebildete metaphorische Wortverbindung. Das ist dann bei Sprichwörtern möglich, wenn die Motivation klar durchsichtig ist. Das bedeutet, wenn der Leser der Zielsprache aus dem Bild des wörtlich übersetzten Sprichworts, mit Hilfe des Kontextes, den gemeinten Sinn mühelos erschließen kann. Beide Sprichwörter, die usuellen und die okkasionellen, stimmen (prinzipiell) überein. Aufgrund des Moments und des Ungewöhnlichen bleibt die Expressivität des Originals erhalten und wird sogar verstärkt. Schlussbemerkung Die Untersuchung macht deutlich, dass es in der Gegenüberstellung Arabisch- Deutsch noch eine Menge Fragen und Probleme gibt, die gelöst werden müssten. Das liegt einmal im Interesse einer Germanistik-Ausbildung im arabischsprachigen Raum, sowie allgemein im Interesse einer Völkerverbindung, zu der eine sprachliche Verständigung viel beitragen kann. Wie das Land, so das Sprichwort 271 Durch eine Zusammenarbeit von Germanisten und Arabisten können die noch bestehenden Probleme überwunden werden und damit den Übersetzern die Möglichkeit gegeben werden, in ihrer Arbeit klar und genau zu verfahren. Mit den Ergebnissen dieser Untersuchung möchte ich der Hoffnung Ausdruck geben, einen bescheidenen Beitrag auf dem Feld der Übersetzung und der internationalen Parömiologie - besonders der arabischen und deutschen - geleistet zu haben. Literatur Burger, Harald (1973): Idiomatik des Deutschen. Tübingen. Černyševa, Irina (1979): Feste Wortkomplexe des Deutschen unter dem Aspekt ‘Struktur - Semantik - Funktion’. In: Fleischer, Wolfgang (Hg.): Wort, Satz und Text. Aktuelle Probleme der grammatischen und lexikologischen Beschreibung der deutschen Sprache der Gegenwart. (= Linguistische Studien des Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR, Reihe A, 63). Berlin, S. 73-86. Černyševa, Irina (1981); Zum Problem der phraseologischen Semantik. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 30, S. 424-429. Noueshi, Mona (1984): Das Problem der Translatierbarkeit von Phraseologismen im Text. Diss. Universität Kairo. Röhrich, Lutz (1976): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Bd. 1. Freiburg / Basel / Wien. Röhrich, Lutz / Mieder, Wolfgang (1977): Sprichwort. (= Sammlung Metzler: Realien zur Literatur 154). Tübingen. Seiler, Friedrich (1918): Das deutsche Sprichwort. (= Grundriß der deutschen Volkskunde 2; Trübners Bibliothek 10). Straßburg, S. 1-5. Seiler, Friedrich (1967): Deutsche Sprichwörterkunde. Unveränd. Nachdr. der 1922 ersch. Ausg. München. Teil II: Das EU-Projekt SprichWort - Methoden, Komponenten, Ergebnisse Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 Vida Jesenšek Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und didaktischer Sicht Zum Projekt SprichWort 1 1. Einleitung Dieser Text ist eine Kurzbeschreibung der grundlegenden Idee und der Inhalte des internationalen Projekts SprichWort (Referenznummer 143376-LLP-1- 2008-1-SI-KA2-KA2MP), welches die Europäische Kommission im Rahmen der Aktion Lebenslanges Lernen zwischen 2008 und 2010 mitfinanziert hat. Das Projekt koordinierte die Abteilung der Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Maribor (Projektkoordinatorin: Vida Jesenšek), mitbeteiligt waren Partner-Universitäten aus Graz (TU Graz, IICM, Leiter: Denis Helić), Trnava (Universität des hlg. Cyrill und Methodius, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Germanistik, Leiter: Peter Ďurčo), Szeged (Universität Szeged, Philosophische Fakultät, Institut für Ungarische Sprache und Literatur, Institut für Deutsche Sprache und Literatur, Leiter: Tamás Forgács), Zlín (Tomas-Bata-Universität in Zlín, Humanwissenschaftliche Fakultät, Institut für Sprachen, Leiter: Libor Marek) sowie das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (Leiterin: Kathrin Steyer). Die teilnehmenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus sechs Ländern haben in dieses interdisziplinär angelegte Projekt exzellente Kenntnisse und reiche Forschungserfahrungen in allen projektrelevanten Bereichen komplementär eingebracht (linguistische Phraseologie- und Parömiologieforschung, Metalexikografie, Korpuslinguistik, Fremdsprachendidaktik, Informationstechnologie). Im Beitrag werden fachliche Hintergründe, Projektziele und Hauptergebnisse des Projekts in einem kurzen Überblick dargestellt: eine mehrsprachige Datenbank mit ausgewählten Sprichwörtern in fünf Sprachen (Deutsch, Slowenisch, Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch), die einheitlich und mehrdimensional linguistisch beschrieben sind, didaktische Inhalte mit speziellen parömiologischen Lern- und Lehrmaterialien und die Sprichwortcommunity, wodurch allen Interessierten die Möglichkeit gegeben wurde, sich an einigen Projektaktivitäten selbst zu beteiligen. Somit versteht sich der Text als Einleitung in die vertiefte Diskussion ausgewählter projektbezogener Problemberei- 1 http: / / www.sprichwort-plattform.org Vida Jesenšek 276 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 che, die auch auf der projekteigenen internationalen Tagung (am 27. und 28. September 2010 am IDS in Mannheim) eine zentrale Rolle einnahmen und deren Ergebnisse in diesem Sammelband präsentiert werden. 2. Zum Hintergrund und zu den Zielen des Projekts Die Projektidee entstand hauptsächlich aufgrund einiger Untersuchungsergebnisse, die die Phraseologie- und Parömiologieforschung in jüngster Zeit hervorgebracht haben (vgl. u. a. Ďurčo 2005). Durch die Beobachtung des Status und Usus von Sprichwörtern im gegenwärtigen Sprachgebrauch und beim Sprachenlernen ist deutlich zu Tage getreten, dass sie sowohl in der (kontrastiv)linguistischen und didaktischen Forschung als auch im praktischen Fremdsprachenlernen bisher relativ schwach vertreten sind, obgleich sie als bedeutende und traditionsreiche Träger kultureller Werte und Vermittler interkultureller Kompetenzen anzusehen sind. Es ist auch evident geworden, dass das Sprichwort „im Laufe der Jahrhunderte einen deutlichen Wandel seiner Funktionen“ erlebt hat (Burger 2010, S. 127). Historisch wichtige didaktische Sprichwortinhalte treten heutzutage in den Hintergrund, denn was in der Flut der modernen (vor allem medialen) Kommunikation offensichtlich dominant ist, ist ihr kreativer und spielerischer textueller Einsatz, was folgerichtig auch zum Wandel ihres Lehr- und Lernpotenzials führen sollte. Es ist zunächst festzuhalten, dass zu allen im Projekt beteiligten Sprachen bereits zahlreiche Sprichwortsammlungen vorliegen. Das Sammeln von Sprichwörtern und sprichwortartigen Sprachstrukturen ist eine seit Jahrhunderten beliebte Tätigkeit jener gewesen, die sich mit dem Phänomen der Sprichwörter aus fachlichen (primär volkskundlichen) oder einfach aus sprachliebhaberischen Interessen auseinander gesetzt haben. Die vorhandenen Sammlungen beruhen allerdings zum größten Teil auf überholtem Quellenmaterial und verfügen zudem über keine oder nur schwer nachvollziehbare methodologisch-theoretische Grundlagen. Keine der bekannten Ressourcen ist anhand der aktuellen Sprachkorpora überprüft worden, und didaktische Aufbereitungen und entsprechende Lern- und Lehrinhalte fehlen vollkommen. Das Hauptziel des Projekts war es nun, diese Lücken zu schließen und eine Onlinelernplattform mit den Sprach- und Lerninhalten zu den ausgewählten Sprichwörtern der Sprachen Deutsch, Slowenisch, Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch zu entwickeln und zu erstellen. Dadurch wollte das Projekt den gegenwärtig evidenten Mangel an aktuellen und empirisch geprüften Sprach- Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und didaktischer Sicht 277 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 daten zu den Sprichwörtern einzelner Sprachen beheben und Materialien erstellen, die vor allem in der kontrastiven Parömiologieforschung, Metalexikografie und ebenso in der lexikografischen Praxis einsetzbar wären. Zugleich wurde das Ziel verfolgt, kreative und lerntechnisch interessante spezielle Lernmaterialien mit Sprichwörtern der beteiligten Sprachen vorzulegen, um das nachweisbar bescheidene Angebot an vergleichbaren parömiologischen Lern- und Lehrressourcen zu erweitern. Die projekteigene korpusbasierte Inventarisierung und mehrdimensionale linguistische Beschreibung der ausgewählten Sprichwörter samt interaktiven und multimedialen didaktischen Inhalten können somit zur bedeutenden Referenz in mehreren Bereichen und für mehrere Nutzergruppen werden. Die Inhalte der Lernplattform (Sprichwortdatenbank und Sprichwortübungen) liefern der Nutzergruppe der Lerner Daten zu ausgewählten Sprichwörtern der beteiligten Sprachen, anhand derer die Aneignung jener Kenntnisse ermöglicht wird, die für eine korrekte und kommunikativ gerechte Verwendung notwendig sind. Im Projekt wurde die Auffassung vertreten, dass Sprichwörter reguläre Bestandteile des Wortschatzes einzelner Sprachen sind, weshalb beim Fremdsprachenlernen nicht nur entsprechende passive, d. h. rezeptiv orientierte Kenntnisse, sondern ebenso Wissen zu ihrer aktiven Verwendung gefördert werden sollen (vgl. u. a. Bergerova 2005, Hallsteinsdóttir 2009, Jesenšek 2007, Kacjan / Jesenšek 2010, Kispál 1999). Ebenso gründete das Projekt auf der Annahme, dass die Vermittlung von Sprichwörtern in Sprachlernprozessen zur Verbesserung der sprachlichen und interkulturellen Kompetenz bei Lernern entscheidend beitragen kann und Sprichwörter somit ein kreativ-innovatives und motivierendes Lernmaterial darstellen. Die Plattforminhalte sind so aufbereitet, dass die Anwendung gleichermaßen im Präsenzunterricht und beim autonomen Sprachenlernen denkbar ist. Das Datenangebot zu einzelnen Sprichwörtern ist aktuell, multimedial unterstützt, die didaktischen Inhalte sind hochgradig interaktiv und online zugänglich, weshalb sie im Vergleich mit herkömmlichen klassischen Lernmaterialien bedeutende Vorteile für die Lerner haben. Die Lerner wurden während der Projektzeit in die Projektarbeit auch einbezogen, zum einen durch die aktive Teilnahme an den Erprobungs- und Evaluationsaktivitäten, zum anderen durch die Mitwirkung an der Sprichwortcommunity und den projekteigenen My- Space-, Facebook- und Twitterprofilen. Durch die Community-Aktivitäten wurde eine offene Kommunikation gefördert und Platz für den Austausch von sprichwortbezogenen Ideen, Konzepten, Informationen u. Ä. geschaffen. Vida Jesenšek 278 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 Für die Nutzergruppe der Vermittler der beteiligten Sprachen (Lehrer, Lehrerfortbilder, angehende Sprachenlehrer) stellen die Inhalte der Lernplattform ein bedeutendes IKT 2 -gestütztes Lehrmaterial dar, mit Hilfe dessen die Qualität des Unterrichts erhöht und die Motivation bei den Lernern gesteigert werden können. Die Vermittler wurden in allen beteiligten Ländern in die Projektaktivitäten systematisch einbezogen, vorrangig in den Phasen der Erprobung und Evaluation der linguistischen und didaktischen Inhalte und ebenso durch Workshops, die landesspezifisch und unter Mitwirkung der regionalen und nationalen Bildungsinstitutionen, Schulämtern und Lehrerverbänden organisiert und durchgeführt worden sind. Für die Nutzergruppe der Entwickler stellen die Ergebnisse der Projektaktivitäten eine Basis für weiterführende Arbeiten im Bereich der Lernmaterialentwicklung, der korpusbasierten Sprachdatenerhebung und Sprachbeschreibung sowie im Bereich der Lehrplanentwicklung dar, zumal projekteigene Methoden zur didaktischen Aufbereitung und linguistischen Bearbeitung von Sprichwörtern sich auf weitere Sprachen übertragen lassen. Dies gilt insbesondere, wenn sie zur Grundlage, Inspiration und Motivation für kreative und innovative Neuentwicklungen im Bereich des Fremdsprachenlernens und der vergleichenden Sprichwortforschung werden. Um die Projektziele zu erreichen, wurden hauptsächlich empirische Methoden angewendet - dies sowohl bei der Bedarfsanalyse zu speziellen sprichwortbezogenen Lernmaterialien als auch bei der Entwicklung und Erarbeitung der Datenbank und der didaktischen Inhalte. Besonders wichtig ist, dass die Sprachdaten auf der Plattform prinzipiell aus den Sprachkorpora der beteiligten Sprachen ermittelt wurden und somit den realen und aktuellen Sprachgebrauch widerspiegeln. Durch die Bereitstellung der Plattforminhalte und durch verschiedene Verbreitungsaktivitäten wurden in den beteiligten Ländern und international alle Nutzergruppen systematisch angesprochen. Planmäßig soll die Plattform nachhaltig ausgeweitet und gepflegt werden. 3. Zu den Projektprodukten und -ergebnissen Das Hauptprodukt des Projekts ist eine Internet-Lernplattform für das Sprachenlernen, bestehend aus drei integrierten und sich gegenseitig ergänzenden Komponenten: Sprichwortdatenbank, Sprichwortübungen und Sprichwortcommunity. Die Lernplattform ist unter der Adresse http: / / www.sprichwort 2 IKT steht für Informations- und Kommunikationstechnologie bzw. -technik. Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und didaktischer Sicht 279 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 -plattform.org abrufbar. Sie enthält zugleich Inhalte, die die Entwicklung der Methoden, Modelle und Muster, auf denen die Erstellung der Plattformkomponenten basierte, betreffen. Im Folgenden werden die Hauptprodukte und -ergebnisse des Projektes in ihren Wesenszügen dargestellt. 3.1 Sprichwortdatenbank Die fünfsprachige Sprichwortdatenbank enthält eine Auswahl von 300 aktuellen Sprichwörtern der deutschen Ausgangssprache mit parömiologischen Systemäquivalenten in den beteiligten Sprachen. Alle Sprichwörter sind nach einer einheitlichen Methodologie ausführlich linguistisch beschrieben. Zur Beschreibung einzelner Sprichwörter wurde im Projekt ein mehrdimensionales Modell entwickelt, welches als Grundlage für die Entwicklung der Software, für die Erarbeitung der Datenbank und teilweise auch für die Erstellung der didaktischen Inhalte diente. Das Modell gründet auf Ergebnissen einiger früherer Untersuchungen zur lexikografisch-linguistischen Beschreibung von phraseologischen (und parömiologischen) Strukturen, die Bestandteil des Lexikons einer jeden natürlichen Sprache sind (vgl. u. a. Ďurčo 1992, 2005 und 2010). Es hat die Form einer hypertextuell verlinkten Matrix, die zwei wesentliche Merkmale der Sprichwortdatenbank ermöglicht: einfache, flexible und damit benutzerfreundliche Zugriffsstrukturen und die Verlinkung mit anderssprachigen Sprichwortressourcen, was zu synergetischen Effekten beim Sprichworterwerb in Sprachlernprozessen und/ oder in der Sprichwortforschung führen kann. Das Modell ermöglicht eine einheitliche Erfassung von Daten zu Form und Bedeutung von Sprichwörtern, zu ihrem aktuellen Vorkommen im Text, zu gegenseitigen Bedeutungsrelationen, zur Erfassung und Präsentation der textuellen Belege, zur Festlegung des Zugriffs auf didaktische Inhalte und zur gegenseitigen Verlinkung einzelner Daten. Dazu gehören auch ausführliche und illustrative Richtlinien für die Erarbeitung einer Datenbank, was die nachhaltige Anwendung des Modells bei der Entwicklung und Erstellung vergleichbarer Sprachressourcen sicherstellt. Die Beschreibungsparameter folgen zum Teil auch den projekteigenen didaktischen Zielen. Wie oben angedeutet, wird im Projekt die Ansicht vertreten, dass in Sprachlernprozessen neben den passiven Sprichwortkenntnissen auch Kompetenzen zu ihrer aktiven Verwendung angestrebt werden sollten. Somit muss jemand, der ein fremdsprachliches Sprichwort systemkorrekt und situationsangemessen verwenden will, dieses nicht nur verstehen, sondern auch wissen, wie seine formale Struktur ist, ob es usuelle Varianten kennt, wie es in die Satzstruktur integriert werden kann u. Ä. Folgerichtig sind einzelne Sprich- Vida Jesenšek 280 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 wörter in der Datenbank mit ausführlichen Angaben zur Semantik, Pragmatik und Grammatik ausgestattet und mit korpusermittelten Textbelegen illustriert (vgl. Ďurčo / Jesenšek 2009, Jesenšek 2011). 3.2 Methodologie zur Festlegung des aktuellen Sprichwortinventars Das entscheidende Kriterium für die Aufnahme eines Sprichworts in die Plattform war seine Aktualität im heutigen Sprachgebrauch, die vorrangig mit dem Grad der Vorkommenshäufigkeit in den Textkorpora gemessen wurde. Bei der Auswahl der Sprichwörter, die in die Plattform eingenommen wurden, ging das Projekt von der deutschen Sprache aus. Vom deutschen Partner (IDS) wurde eine Liste von aktuellen deutschen Sprichwörtern auf der Basis von Korpusvalidierungen bereits kodifizierter Sprichwörter erstellt, 3 die die Partner auf die vorhandene Systemäquivalenz in den weiteren beteiligten Sprachen überprüft haben. So wurde schrittweise eine Einigung über die geplanten 300 ausgangssprachlichen Sprichwörter erzielt. Eine bedeutende Rolle bei der endgültigen Auswahl der aufzunehmenden Sprichwörter spielten das Bestehen der anderssprachigen Systemäquivalenz sowie die Relevanz in Bezug auf die thematische Gliederung des didaktisch relevanten Wortschatzes nach dem Europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Das so gewonnene Sprichwortinventar war die Grundlage für die Erarbeitung konkreter Datenbankeinträge und gleichermaßen die Grundlage für die Erstellung thematisch bezogener Lerninhalte (vgl. Steyer 2010). 3.3 Sprichwortübungen Die Plattform enthält eine umfangreiche Sammlung von Aufgaben, Übungen, Tests und Selbstevaluationsbögen für Lerner sowie eine Sammlung von Übungsmaterialien für Lehrer. Didaktische Materialien gründen auf der speziellen sprichwortbezogenen Übungstypologie, die im Projekt entwickelt und erstellt wurde und niveaudifferenzierte rezeptive wie produktive Typen von Musteraufgaben und -übungen festlegt. Sie ist erweiterbar und auf weitere Sprachen übertragbar. Das zugrunde liegende didaktische Konzept basiert auf vier Phasen, in denen einzelne Teilkompetenzen so gefördert werden, dass eine Lernprogression sichergestellt ist: (1) Erkennen der Sprichwörter im Text/ Kontext, (2) Verstehen der Sprichwörter, (3) Festigen der Sprichwortkenntnisse und (4) korrektes und angemessenes Verwenden der Sprichwörter im Text/ Kontext (vgl. Kacjan 3 Zum konkreten Vorgehen vgl. Steyer (in diesem Band). Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und didaktischer Sicht 281 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 et al. 2010, Kacjan / Jesenšek 2010, Kozáková 2010). Die Übungstypologie war die Grundlage für die Erarbeitung konkreter Übungen, Aufgaben, Tests und Selbstevaluierungsbögen zur Vermittlung und/ oder zum Erlernen der fremdsprachlichen parömiologischen Inhalte. Die Übungen zum (Selbst-) Testen und (Selbst-)Prüfen der Sprichwortkenntnisse sollten insbesondere das autonome Lernen fördern. Sie helfen den Nutzern bei der Orientierung in der Auswahl der Übungen und ermöglichen eine Einsicht in den Lernfortschritt. Alle Übungsmaterialien, die hochgradig strukturiert und multimedial ausgerichtet sind, basieren auf authentischem Sprachmaterial und setzen auf Niveaudifferenziertheit (B1 bis C2) und Interaktivität. Dadurch werden sowohl die kommunikative parömiologische Kompetenz bei den Nutzern als auch ihre Fähigkeit, mit modernen IKT-gestützten E-Lernmaterialien autonom und effektiv umzugehen, gefördert. 3.4 Sprichwortcommunity Die Sprichwortcommunity ist die interaktivste Komponente der SprichWort- Internet-Lernplattform. Sie ist als eine Lern- und Expertencommunity gedacht, die sowohl Laien bzw. Lernern als auch Experten aus dem Bereich der Linguistik, Sprichwort-Forschung und Fremdsprachendidaktik eine Kommentier-, Äußerungs- und Evaluationsmöglichkeit gibt. Die Community funktioniert nicht in Form eines klassischen Forums, sondern eher als ein Blog mit angeschlossenem Forum. Die Projektpartner posten ausgewählte Inhalte aus der Sprichwortdatenbank sowie aus dem Übungsteil in Verbindung mit attraktiven Tasks. Die Tasks reichen von landesspezifischen Wettbewerben für die Lerner (z. B. für die beste Illustration oder beste Visualisierung eines Sprichworts) über die fachspezifischen Diskussionen für die Vermittler und Entwickler bis hin zum besten Blog zum Thema Mein eigenes Antisprichwort. Die Podcasts als Übungsformen enthalten ausgewählte Übungssegmente und kurze Texte der Lerner zu ausgewählten Sprichwörtern. All das erhöht die Interaktivität der Internet-Lernplattform bedeutend und bietet die Möglichkeit, alle angesprochenen Nutzergruppen zur aktiven Teilnahme an Projektaktivitäten zu gewinnen. Zum Projekt existieren zudem Projektprofile in den sozialen Netzwerken Facebook, MySpace und Twitter. Dies unterstützt die Interaktivität und ermöglicht vielfache Verlinkungen mit vergleichbaren Webinhalten. Die Profile funktionieren mehrsprachig, das heißt, es werden in allen beteiligten Sprachen und in Englisch möglichst breite Nutzerkreise angesprochen und so Networ- Vida Jesenšek 282 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 king unterstützt. Betreut und moderiert werden sie von Sprachenstudierenden aus den universitären Partnerinstitutionen. In mehreren Rubriken werden der Inhalt, die Ziele und Zwecke des Projekts auf eine populärwissenschaftliche Art und Weise beschrieben und Blogs, Kommentare und aktuelle Informationen von der Plattform gegeben. 4. Kreativ-innovative Dimensionen des Projekts Das Projekt zeichnet sich durch mehrere kreativ-innovative Züge aus. Diese betreffen zum einen die Herangehensweise in der linguistisch-lexikografischen und didaktischen Aufbereitung der parömiologischen Inhalte und zum anderen die Förderung des Sprachenlernens und der sprachlichen Vielfalt bzw. die Förderung der Entwicklung von innovativen IKT-gestützten Lern- und Lehrmaterialien. 4.1 Ein neues Konzept zur Erfassung und linguistisch-didaktischen Beschreibung von Sprichwörtern mehrerer Sprachen Das Wesentliche dabei ist eine konsequente empirisch gesicherte und korpusbasierte Erhebung sprachlicher Daten zu parömiologischen Inhalten. Angewendet wurden drei empirische Methoden der Datengewinnung: (1) Befragung zum Grad der Bekanntheit von Sprichwörtern im gesprochenen Usus bei Muttersprachlern der Ausgangssprache Deutsch, (2) korpusbasierte Analysen zur Häufigkeit und zum typischen Gebrauch von Sprichwörtern in allen beteiligten Sprachen und (3) kontrastive Äquivalenzanalysen (vgl. Ďurčo / Jesenšek 2009). Durch detaillierte empirische Untersuchungen kamen wir zu neuen Einsichten über das Funktionieren von Sprichwörtern in der alltäglichen Kommunikation. Die Ergebnisse stellen eine notwendige Basis für eine glaubwürdige lexikografische Sprichwortbearbeitung und gleichermaßen auch für die Erstellung von didaktischen Sprichwortminima bzw. Sprichwortoptima dar. Es hat sich deutlich gezeigt, dass repräsentative und umfangreiche Textkorpora, die gegenwärtig für viele Sprachen zur Verfügung stehen, samt entsprechenden Analysetools eine Erfassung, Verifizierung und qualitätsvolle lexikografische Beschreibung parömiologischer Strukturen ermöglichen. Dies ist insofern als innovativ und relevant zu verstehen, als die bisherige lexikografische Präsentation von Sprichwörtern überwiegend oder sogar in der Regel allein auf Grund der Kompetenz des Lexikografen und/ oder des Forschers gründet. Demzufolge weist die herkömmliche ein- und mehrsprachige Lexikografie mehrere Defizite hinsichtlich der formalen, semantischen und Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und didaktischer Sicht 283 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 kommunikativ-pragmatischen Daten zu Sprichwörtern auf. Diese können durch die Anwendung der korpusbezogenen Methoden der Datengewinnung künftig besser und schneller beseitigt werden. Als innovativ versteht sich das Projekt auch im Hinblick auf das mehrdimensionale Beschreibungsmodell für Sprichwörter, welches bei der Erarbeitung der fünfsprachigen Sprichwortdatenbank angewendet wurde. Parallel dazu wurde eine andere, eher nutzerorientierte lexikografische Metasprache angestrebt, die sich von den bisher dominierenden formalisierten und verdichteten Metasprachen relativ stark unterscheidet. 4.2 Eine lernprogressiv angelegte Konzeption des Übungsteils Diese ermöglicht dem Nutzer einen hohen Grad der autonomen Arbeit mit den Plattforminhalten. Das vierstufige Lernkonzept dient einer systematischen Förderung einzelner Teilkompetenzen, die den Lerner schrittweise zu aktiven Sprichwortkenntnissen führen (vgl. Kap. 3.3). Didaktische Inhalte der Plattform dienen zwar primär der Förderung der kommunikativen parömiologischen Kompetenz bei den Nutzern, wohl wird dadurch aber auch ihre Fähigkeit gefördert, mit modernen IKT-gestützten E-Lernmaterialien autonom und effektiv umzugehen. 4.3 Eine webbasierte modulare und multifunktionale Plattform zur Unterstützung der Verwaltung von sprachlichen Daten Entwickelt und erstellt wurde eine Anforderungsspezifikation, die als wichtige Voraussetzung für Qualität und Produktivität der Softwareentwicklung verstanden wird. Sie deckt alle Aspekte der Verwaltung von Inhalten auf der Lernplattform ab: die Verwaltung von Sprichwörtern in der Datenbank, von interaktiven Übungsmaterialien sowie der Community-Komponente der Plattform. Das Systemdesign und die Systemarchitektur gründen auf der modernen Webtechnologie (Web 2.0 und Web Service Technologie) und sind modular angelegt. Das erste Modul unterstützt die Verwaltung von Sprichwörtern und deren Beschreibung in verschiedenen Sprachen und stützt sich auf das vorher festgelegte Modell zur linguistisch-lexikografischen Sprichwortbeschreibung. Das zweite Modul dient der Verwaltung von interaktiven und adaptiven didaktischen Inhalten. Die adaptive Komponente garantiert, dass die Lerner immer auf ihr Wissensniveau und ihren Lernstil abgestimmte Übungen auswählen können. Das dritte Modul verbindet die ersten zwei Module und bietet die Funktionen zur Förderung der Sprichwortcommunity an. Die Soft- Vida Jesenšek 284 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 warelösungen bieten besonders der Nutzergruppe der Entwickler die Möglichkeit, sie bei der weiteren Erarbeitung von vergleichbaren Lernmaterialien im Bereich Fremdsprachenlernen anzuwenden. 4.4 Die Förderung des Sprachenlernens und der sprachlichen Vielfalt bzw. die Förderung der Entwicklung von innovativen IKTgestützten Lern- und Lehrmaterialien Das Projekt SprichWort leistet in mehrerer Hinsicht einen Beitrag zu der europäischen Sprachen- und Bildungspolitik: (1) es fördert das Sprachenlernen und die sprachliche Vielfalt, indem eine motivierende Lernplattform für das Sprachenlernen der fünf europäischen Sprachen entwickelt und online bereitgestellt wird; (2) es trägt zur Stärkung des Erwerbs von Kenntnissen in wenig verbreiteten und gelernten europäischen Sprachen sowie zur Sensibilisierung für diese Sprachen bei. Vier der im Projekt beteiligten Sprachen (Slowenisch, Slowakisch, Tschechisch, Ungarisch) gehören in die Gruppe dieser Sprachen; (3) es fördert die aktive Teilnahme der anvisierten Nutzergruppen am Fremdsprachenlernen, zumal eine offene EE-Lernumgebung mit attraktiven Lerninhalten entwickelt und erstellt wurde, die sowohl beim Präsenzunterricht als auch beim autonomen Lernen anwendbar ist; (4) es unterstützt die Förderung von Schlüsselkompetenzen, zumal die Lernplattform ein Beispiel guter Praxis des IKT-Einsatzes im Fremdsprachenlernen darstellt. 5. Schluss Es ist zu wünschen, dass die Projektergebnisse auch nachhaltig und langfristig positive Auswirkungen haben und dass dadurch weitere Aktivitäten im Bereich der linguistischen, lexikografischen und didaktischen Sprichwortforschung einzelner Sprachen europaweit (oder weltweit) angeregt werden. Vorteile, die eine Umsetzung des Projekts auf europäischer Ebene aussichtsreicher erscheinen lassen als auf einzelstaatlicher oder regionaler Ebene, sind in mehreren Bereichen angesiedelt: - im Bereich der kontrastiven linguistischen Beschreibung von parömiologischen Strukturen, da auf einzelstaatlicher und/ oder regionaler Ebene entsprechende muttersprachliche Kompetenzen fehlen und einzelne Staaten bzw. Regionen über begrenzte Kompetenzen und Ressourcen verfügen. Daher ist eine kontrastive Bearbeitung mehrerer Sprachen notwendigerweise transnational geprägt; Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und didaktischer Sicht 285 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 - im Bereich der Entwicklung von speziellen Lernmaterialien: auch hier ist die Fachkompetenz eines Muttersprachlers unabdingbar, insbesondere, wenn kontrastive bzw. mehrsprachige Übungsmaterialien entwickelt werden; - im Bereich der webbasierten Kommunikation, die prinzipiell offen ist und einzelstaatliche oder regionale Rahmen an sich überschreitet; - im Bereich der Entwicklung von E-Lernmaterialien bzw. EE-Lernumgebungen: eine offene Mitwirkung bringt starke synergetische Effekte, was zu übereinzelsprachlich bedeutenden Ergebnissen führt; - gewünschte und geplante multiplikatorische und Mainstreaming-Effekte lassen sich ausschließlich durch eine positiv ausgerichtete transnationale Zusammenarbeit und geteilte Verantwortung erzielen, insbesondere, weil das gesamte Projektvorhaben zur notwendigen Erhöhung der Qualität des Fremdsprachenlernens im Bereich Parömiologie und zur fachgerechten Änderung des bisher unterrepräsentierten Status der betreffenden Lerninhalte im Fremdsprachenlernen europaweit beitragen will (vgl. Ďurčo / Jesenšek 2009, Jesenšek 2011). Literatur Bergerová, Hana (2005): Phraseologievermittlung im DaF-Unterricht? - Auf jeden Fall! Aber wie? In: Festschrift zum 15. Gründungsjubiläum des Lehrstuhls für Germanistik der PF UJEP in Ústí nad Labem. Ústí nad Labem, S. 56-70. Burger, Harald (2010): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 4., neu bearbeitete Aufl. Berlin. Ďurčo, Peter (1992): Ein Matrixmodell für ein- und zweisprachige Wörterbücher. In: Mair, Christian / Markus, Manfred / Wallmansberger, Josef (Hg.): New Departures in Contrastive Linguistics. Proceedings of the Conference held at the Leopold-Franzens-University of Innsbruck, Austria, 10-12 May 1991. Innsbruck, S. 261-269. Ďurčo, Peter (2005): Sprichwörter in der Gegenwartssprache. Trnava. Ďurčo, Peter (2010): Mehrsprachige und korpusbasierte Beschreibung von Sprichwörtern in einer multidimensionalen hypertextuellen Datenbank. In: Baláková, Dana / Walter, Harry (Hg.): Phraseologische Studien. Dynamische Tendenzen in der slawischen Phraseologie. Greifswald, S. 121-132. Ďurčo, Peter/ Jesenšek, Vida (2009): Sprichwörter mehrsprachig und korpusbasiert in einem multilateralen EU-Projekt. In: Slowakische Zeitschrift für Germanistik 1, 1, S. 63-73. Vida Jesenšek 286 Jesensek_Aut-Korr_09-07-12 Hallsteinsdóttir, Erla (2009): Zweisprachige Lernerphraseografie aus funktionaler Sicht. In: Mellado Blanco, Carmen (Hg.): Theorie und Praxis der idiomatischen Wörterbücher. (= Lexicographica. Series Maior 135). Tübingen, S. 209-231. Jesenšek, Vida (2007): Lehr- und Lerngegenstand Phraseologie. In: Jesenšek, Vida / Fabčič, Melanija (Hg.): Phraseologie kontrastiv und didaktisch. Neue Ansätze in der Fremdsprachenvermittlung. Maribor, S. 17-26. Jesenšek, Vida (2010): Sprichwörter im Netz. Eine Internet-Lernplattform für das Sprachenlernen. In: Mellado Blanco et al. (Hg.), S. 125-148. Jesenšek, Vida (2011): Sprichwörter im Wörterbuch. In: Linguistik online, 47, 3, S. 67-78. Jesenšek, Vida et al. (2011): SprichWort. Eine Internet-Lernplattform für das Sprachenlernen. Abschlussbericht. Maribor. Kacjan, Brigita et al. (2010): Interaktives Lernangebot auf der SprichWort-Plattform. 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(Hg.), S. 249-278. steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Kathrin Steyer Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung Parömiologische Fragen im Lichte korpusmethodischer Empirie 1. Einleitung Nähert man sich dem Phänomenbereich ‘Sprichwort’ (SW) korpusempirisch, so tut man dies manchmal aus einem anderen Blickwinkel als der klassische Parömiologe. Dieser interessiert sich in der Regel für das Sprichwort als außergewöhnliches, unikales, einzigartiges sprachliches Exemplar in seiner ganzen kulturellen Vielfalt. Er kommt seiner Herkunft auf die Spur, forscht nach den ihm zugrunde liegenden Konzepten, Symbolen oder auch logischen Strukturen. Bezüglich all dieser Aspekte gibt es eine traditionsreiche Forschung. Auch korpusbasierte Untersuchungen können hierzu Aufschlussreiches beitragen. Aber ein Korpuslinguist erweitert zumeist seine Perspektive: Da er in der Regel von sprachlichen Daten in großer quantitativer Dimension ausgeht, die zunächst automatisch vorstrukturiert und dann qualitativ interpretiert werden, hat er vor allem die Regularitäten vieler ähnlicher Verwendungsfälle im Blick, um usualisierten, d. h. überindividuellen Gebrauch rekonstruieren zu können. Die neue empirische Qualität wird nicht allein durch ein Mehr an Daten erreicht, sondern dadurch, dass verdeckte Strukturen identifizierbar sind, die sich dem individuellen Wahrnehmungshorizont bis dato verschlossen haben. Denn es bietet sich die Chance, andere Vernetzungen, ungewöhnliche Querverbindungen, überraschende Zusammenhänge zu erkennen. Vor diesem Hintergrund kann man auch Sprichwörter in größeren Wortschatzzusammenhängen - im Netz der Polylexeme - betrachten, als normale sprachliche Einheiten also, die ihre holistische Qualität, sei es in Hinblick auf ihre Bedeutungen und Funktionen, ihre textuellen Einbettungen oder die Regularitäten ihrer Musterbildung mit anderen mehrgliedrigen Einheiten teilen. Alltagssprecher verwenden sie „demokratisch“ wie andere Wortverbindungen auch, weil sie als feste Bausteine effizient beim Lösen kommunikativer Aufgaben helfen. Und Sprecher unterscheiden in der Regel nicht spezifisch kategorial. Sie machen sich nicht bewusst, ob sie ein ‘Sprichwort’, eine ‘sprichwörtliche Redensart’, einen ‘Slogan’ oder auch ein normales ‘Phrasem’ benutzen. Sie verwenden alle diese Wortverbindungen gleichermaßen, um bestimmte Effekte zu erzielen, z. B. zur Textstrukturierung, als Sprechaktrealisierungen oder für konnotative Zuschreibungen. Kathrin Steyer 288 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Unsere empirischen Befunde haben aber auch gezeigt, dass es durchaus ein stark ausgeprägtes konzeptuelles Bewusstsein von festen Sätzen, von Satzwertigkeit gibt. Hier scheint sich wirklich die Spreu vom Weizen zu trennen (siehe Kap. 2). Korpuslinguistische Methoden haben bis vor nicht allzu langer Zeit wenig Widerhall in der so traditionsreichen parömiologischen Forschung gefunden. 1 Empirische Untersuchungen bezogen sich vorrangig auf die Ermittlung und Validierung von Bekanntheit und Geläufigkeit von Sprichwörtern, z. B. durch Probandenbefragungen. 2 Wir verstehen beide Ansätze - ‘Erhebung von Geläufigkeit / Bekanntheit’ und ‘Korpusvalidierung’ - als komplementär, und es wird künftigen Forschungen vorbehalten sein, die jeweiligen Resultate miteinander zu vergleichen. Wenn parömiologische Untersuchungen früher auf der Auswertung von Korpora basierten, handelte es sich in der Regel um Sprichwort-Spezialkorpora. Unter ‘Sprichwort-Spezialkorpus’ verstehen wir eine für Analysezwecke zusammengestellte Sammlung von Textbelegen, in denen Sprichwörter vorkommen. In unserem Verständnis ist korpuslinguistische Empirie jedoch die exhaustive quantitative und qualitative Auswertung sehr großer allgemeinsprachiger elektronischer Korpora, wie beispielsweise das Deutsche Referenzkorpus (vgl. DeReKo) oder die Korpora des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (vgl. K-DWDS). Wir werden uns im Folgenden auf drei Aspekte konzentrieren, die in der empirischen Arbeit für die Sprichwortdatenbank einen zentralen Platz eingenommen haben und die für die Parömiologie besonders fruchtbar zu sein scheinen: die korpusbasierte Validierung des Sprichwortstatus, die Sprichwortfrequenz und die korpusbasierte Rekonstruktion von Sprichwortmustern und Strukturformeln. 3 2. Sprichwortstatus Eine korpusbasierte Bestimmung des Sprichwortstatus kann zum einen durch die Validierung bereits bekannter und kodifizierter Sprichwörter, zum anderen durch die Ermittlung von noch nicht als fest oder usuell angesehenen Sprich- 1 Eine Ausnahme bilden die korpusbasierten Arbeiten von Peter Ďurčo (vgl. v. a. 2005). 2 Für das Deutsche vgl. z. B. Grzybek (1991), Chlosta / Grzybek / Roos (1994), Ďurčo (u. a. 2005), Piirainen (u. a. 2007), Juska-Bacher (2009). Zu diesbezüglichen Ansätzen und Vorgehensweisen vgl. die Beiträge von Grzybek und Juska-Bacher in diesem Band. 3 Auf Aspekte der korpusbasierten Sprichwortbeschreibung in Bezug auf Semantik und Pragmatik geht Katrin Hein in diesem Band ausführlich ein. Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 289 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 wörtern erfolgen. Im ersten Fall der Validierung hat man eine Vorannahme zur Festigkeit und Gebräuchlichkeit eines Sprichworts - weil man es kennt oder weil es kodifiziert ist (z. B. in Wörterbüchern oder Sammlungen) - und man sucht nach diesem Sprichwort im Korpus. Im zweiten Fall versucht man, Sprichwörter im Korpus erst zu identifizieren, in der Regel unter Einsatz automatischer Verfahren. So können Kookkurrenzprofile von Sprichwortmarkern wie bekanntlich oder wie man so sagt, aber auch von parömiologischen Schlüsselwörtern, die beispielsweise auf typische Realia oder auf kulturelle Symbole (vgl. Dobrovol’skij / Piirainen 2009) referieren, wertvolle Hinweise zu usualisierten Sprichwörtern liefern. Das EU-Projekt bot nun die einmalige Chance, die Validierung eines Kernbestands von Sprichwörtern anhand des größten Korpus der geschriebenen deutschen Gegenwartssprache (DeReKo) 4 systematisch und umfassend durchzuführen. Als Ausgangsliste diente eine von Peter Ďurčo und Vida Jesenšek kompetenzbasiert zusammengestellte Liste von knapp 2 000 Sprichwörtern. Diese Auswahl wurde auf der Basis von 3 229 Sprichwörtern aus verschiedenen Quellen (Wörterbücher, Sammlungen und Internetportale) getroffen. Die „2 000er Liste“ hat die IDS-Projektgruppe dann unter Einsatz des Korpusrecherche- und -analysesystems COSMAS (vgl. COSMAS II) mit dem Vorkommen in DeReKo abgeglichen. 5 Immerhin knapp 900 SW-Kandidaten konnten auch im Korpus nachgewiesen werden, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Frequenzen. Die letztendliche Entscheidung für die Sprichwortliste unserer Datenbank wurde in der EU-Projektgruppe nach folgenden zwei inhaltlichen Kriterien getroffen: das Vorhandensein von Äquivalenten in möglichst vielen der beteiligten Sprachen und die didaktische Relevanz. Mit der Sprichwortplattform (vgl. SWP) liegt nun erstmals eine umfassende Dokumentation des aktuellen Gebrauchs von Sprichwörtern auf der Basis systematischer Korpusanalysen vor. 4 Das am IDS beheimatete Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) ist „mit über 5,4 Milliarden Wörtern (Stand 29.02.2012) die weltweit größte linguistisch motivierte Sammlung elektronischer Korpora mit geschriebenen deutschsprachigen Texten aus der Gegenwart und der neueren Vergangenheit“ (vgl. DeReKo). Alle KWIC- und Volltextstellen stammen aus De- ReKo. Die Kookkurrenzberechnungen erfolgen auf der Basis der statistischen Kookkurrenzanalyse in COSMAS II (vgl. Belica 1995). 5 Ich bedanke mich bei unserer studentischen Hilfskraft Christian Zimmermann für die wertvolle und engagierte Mitarbeit an diesem mehrmonatigen Vorhaben. Kathrin Steyer 290 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 2.1 Iterative Suchstrategien: Satzwertigkeit und Autonomie Ein Korpusabgleich von Sprichwörtern ist keineswegs trivial. Denn er ist nicht rein automatisch, sondern nur in einem iterativen Zusammenspiel von quantitativen Berechnungen und qualitativer Interpretation durchführbar. Es lassen sich nämlich a priori kaum oder gar keine Hypothesen über das „Verhalten“ des jeweiligen Sprichworts aufstellen. Daher muss jeder potenzielle Sprichwortkandidat mittels einer umfangreichen Suchprozedur gesondert analysiert und auf der Basis der ermittelten Verwendungen qualitativ bewertet werden. Die entsprechende Heuristik haben wir neu entwickelt, da bis dato keine Vorbilder oder Erfahrungen für solch exhaustive Analysen existierten. Mit welcher Komplexität wir im Verlauf der Validierung konfrontiert waren, soll an einigen ausgewählten Punkten illustriert werden. Zunächst haben wir in einem ersten Ausschlussverfahren all jene potenziellen SW-Kandidaten aus der Ursprungliste herausgefiltert, bei denen die lexikalischen Komponenten des angesetzten Kandidaten überhaupt nicht innerhalb eines Satzes miteinander vorkamen. Auf diese Weise reduzierte sich die Ausgangsliste schon um etwas mehr als 50%. Bei nachgewiesenem Kovorkommen lexikalischer Komponenten in einem Satz dienten dann v. a. folgende - in der Parömiologie allgemein anerkannte - Merkmale als Kriterien für die Bewertung eines SW-Status: a) Satzwertigkeit (vgl. u. a. Lüger 1999), b) Autonomie als Mikrotext und kontextfreies Verstehen (vgl. u. a. Burger 2010), c) Kürze, Prägnanz (vgl. u. a. Röhrich / Mieder 1977), d) Übergang vom Ursprung zu anonymen, fest geprägten Erfahrungssätzen (vgl. u. a. Röhrich / Mieder 1977). Besonders das Kriterium der ‘Satzwertigkeit’ hat sich als sehr praktikabel herausgestellt, da es formal gut anwendbar ist. In Abgrenzung zu satzgliedwertigen Gebilden stellen ‘satzwertige Einheiten’ laut Lüger „abgeschlossene Sinneinheiten“ dar, „die unter Umständen auch allein stehen können. Dabei braucht es sich nicht immer um eine syntaktisch vollständige Einheit [...] zu handeln.“ (Lüger 1999, S. 54f.). Als Illustration für syntaktisch vollständige Sprichwörter seien ausgewählte Lemmata der Buchstabenstrecke B der Sprichwortplattform angeführt: Beharrlichkeit führt zum Ziel; Beim Geld hört die Freundschaft auf; Bescheidenheit ist eine Zier; Blinder Eifer schadet nur; Blut ist dicker als Wasser; Borgen macht Sorgen Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 291 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 In die Sprichwortliste haben wir darüber hinaus auch etliche syntaktisch nicht vollständige bzw. elliptische, aber satzwertige Einheiten aufgenommen, z. B.: Außen hui, innen pfui; Besser spät als nie; Eile mit Weile; Ende gut, alles gut; Harte Schale, weicher Kern; Jedem Tierchen sein Pläsierchen; Jedem nach seinem Geschmack; Keine Regel ohne Ausnahme; Keine Rose ohne Dornen; Kein Nachteil ohne Vorteil; Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen; Ohne Fleiß kein Preis; Pech im Spiel, Glück in der Liebe; Trau, schau, wem; Trautes Heim, Glück allein; Wie der Herr, so's Gescherr; Wie der Vater, so der Sohn; Wie du mir, so ich dir; Wo kein Kläger, da kein Richter Entscheidend in Bezug auf das Kriterium der ‘Satzwertigkeit’ war die Vorkommenshäufigkeit ein- und derselben satzwertigen Form. Es reichte nicht aus, wenn nur ein oder ganz wenige Belege für die Satzform eines SW-Kandidaten zu finden waren. Es musste eine rekurrente Satzwertigkeit vorliegen. Unsere anfängliche Vermutung, dass wir es hinsichtlich der sprachlichen Formen von Sprichwörtern mit einem fast unüberschaubaren und heterogenen Vorkommen zu tun bekommen, hat sich dann nur z. T. bewahrheitet. Unerwartet häufig erwiesen sich Sprichwortkandidaten tatsächlich als satzwertig und fest, und das auch schon bei sehr weit gefassten Suchanfragen, mit denen wir zunächst nur das Kovorkommen der lexikalischen Komponenten an sich abgefragt hatten. So ergab die Suche nach den beiden Komponenten Not und erfinderisch in einem Satz bereits eine hundertprozentige Trefferquote für das Sprichwort Not macht erfinderisch: 6 (1) SW-Kandidat Not macht erfinderisch A10 Die Not macht Neuenburgs Regierung erfinderisch. BVZ10 Not macht erfinderisch. Das trifft auch in Bad Sau- erbrunn zu. DPA10 Blick über verrottete Häuser inklusive. Not macht erfinderisch Während bei diesem Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass die Basiskomponenten Not und erfinderisch fast ausschließlich oder zumindest sehr häufig in der sprichwörtlichen Verwendung gemeinsam vorkommen, relativ groß war, konnte man dies beim Sprichwortkandidaten Viel Lärm um nichts (2) nicht unbedingt vorhersehen. Nicht-sprichwörtliche Verwendungskontexte für Lärm und nichts kommen denn auch - bei einer Gesamttrefferzahl von 6 Die Ergebnisse aller folgenden Korpusabfragen wurden auf dem Stand von DeReKo vom 29.02.2012 noch einmal überprüft (vgl. DeReKo). Kathrin Steyer 292 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 3 117 - ca. 600-mal vor, z. B. Die Fahrer hören nichts vom Lärm oder Lärm ist nichts Absolutes. Aber trotzdem ergab bereits die sehr allgemeine Suchanfrage „Suche nach Lärm und nichts in einem Satz“ einen prozentualen Mehranteil satzwertiger Vorkommen in der Form Viel Lärm um nichts von über 70%: (2) SW-Kandidat Viel Lärm um nichts I99 Also viel Lärm um nichts ? Im Grunde ja. I99 Alles nur Schall und Rauch oder: Viel Lärm um (fast) nichts . N92 im „Sturm״, den „Peer Gynt״, den Benedikt in Shake speares „Viel Lärm um nichts ״ (damals auch in einem Gastspiel am Burgtheater zu sehen) R97 im speziellen Falle von Kenneth Brannaghs „Viel Lärm um nichts ״ sogar auch von der Quantität des Gespro- chenen Wie die wenigen Kontextzeilen bei Viel Lärm um nichts zeigen, mussten auch solche satzwertigen Vorkommen weiter qualitativ bewertet werden, um „saubere“ Sprichworttreffer zu erhalten (hier der Ausschluss von Vorkommen, die sich nicht auf die Komödie von William Shakespeare beziehen bzw. den gesamten diesbezüglichen Kontext wie Hinweise auf Theateraufführungen, Rezensionen und dergleichen thematisieren). Auf dieses Beispiel kommen wir gleich zurück. Bei einigen Fällen existierte eine solch fixierte Satzwertigkeit jedoch überhaupt nicht - und das trotz eines oft hohen Kovorkommens der SW-Komponenten selbst. So weisen die Komponenten Fehl und Tadel des SW-Kandidaten Niemand ist ohne Fehl und Tadel mit 1 128 Treffern zwar eine hohe Frequenz auf, aber nur als satzgliedwertige Paarformel Fehl und Tadel, zumeist mit der Präposition ohne im Vorfeld. (3) SW-Kandidat Niemand ist ohne Fehl und Tadel F95 Wer ohne Fehl und Tadel ist, der werfe den ersten Stein. N92 löste diese Aufgabe ohne Fehl und Tadel. Mehr noch: O94 die Musik ist ohne Fehl und Tadel; M98 selbst Heilige sind nicht frei von Fehl und Tadel. Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 293 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Unsere Analysen haben bei nachgewiesener Satzwertigkeit wiederum sehr unterschiedliche Qualitäten in Bezug auf die Syntax und die lexikalischen Kotextpartner des Sprichwortkandidaten ergeben. In vielen Fällen konnte man tatsächlich von einer lexikalisierten Satzwertigkeit sprechen, das heißt, es kamen sehr häufig auch dieselben lexikalischen Einbettungen im Vorfeld bzw. Nachfeld des SW in derselben syntaktischen Struktur vor. So kommt der autosemantische SW-Kern Wahl - Qual - haben häufig in der Form Wer die Wahl hat, hat die Qual im Korpus vor; der autosemantische SW-Kern Tag - Abend - loben häufig in der Form Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. In anderen Fällen dagegen war der Satzstatus an sich zwar rekurrent, die Syntax und die Kotextpartner des SW-Kerns waren jedoch teils sehr heterogen, wie im folgenden Beispiel des SW-Kandidaten Wer sich die Suppe eingebrockt hat, muss sie auch auslöffeln. Hier gibt es für den autosemantischen SW-Kern Suppe - einbrocken - auslöffeln ein großes Spektrum syntaktischer und lexikalischer Einbettungen, die aber den Satzstatus und damit den SW-Charakter an sich nicht antasten: (4) SW-Kandidat Wer sich die Suppe eingebrockt hat, muss sie auch auslöffeln RHZ05 Wer sich die Suppe einbrockt, muss sie auch aus- löffeln. BRZ09 Wir haben uns die Suppe selbst eingebrockt und wer- den sie nun auch zusammen auslöffeln. ״ HAZ08 Jene, die die Suppe eingebrockt haben, sollen sie auslöffeln. N95 „Klestil hat uns die Suppe eingebrockt, jetzt soll er sie wieder auslöffeln ״ M95 „Du hast dir die Suppe eingebrockt, nun sieh zu, wie du sie wieder auslöffelst. ״ P98 „Die Kinder müssen in der dritten Generation die Sup- pe auslöffeln, die sie sich nicht eingebrockt ha- ben.״ K97 Jetzt darf er die Suppe, die er sich eingebrockt hat, allerdings selbst auslöffeln: RHZ10 Man müsse gemeinsam die Suppe auslöffeln, die man sich nicht eingebrockt habe. HZ04 Sollen doch die, die uns diese Suppe eingebrockt ha- ben, sie auch auslöffeln. Kathrin Steyer 294 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Dieses Beispiel zeigt im Übrigen auch, dass eine lexikalische und syntaktische Varianz bei gleichzeitiger fixer Satzwertigkeit und unter Beibehaltung der Kernbedeutung (hier ‘jmd. muss die negativen Folgen seines Handelns auch selbst beseitigen’) bereits Unterschiede im Referenzbereich und pragmatische Verschiebungen zur Folge haben kann, z. B. folgende: WER ... eingebrockt hat - DER muss ... auslöffeln = allgemeiner Weisheitssatz ohne Explizierung des Adressaten Funktion: Kommentar WIR haben uns ... eingebrockt - WIR müssen ... auslöffeln = Selbstreferenz Funktion: Selbstkritik (es wird die Einsicht ausgedrückt, dass man es selbst tun muss) DIEJENIGEN, die sich ... eingebrockt haben - müssen ... auslöffeln / Sollen doch DIE ... die sich ... eingebrockt haben - ... auslöffeln = vage Referenz Funktion: Aufforderung an Dritte bzw. Zurückweisung KLESTIL hat sich ... eingebrockt - soll ER ... auslöffeln / Du hast dir ... eingebrockt - nun sieh zu, wie ... auslöffelst = konkrete Explizierung eines Adressaten Funktion: konkrete Schuldzuweisung verbunden mit einer Aufforderung Bei einer solch ausgeprägten syntaktischen und kotextuellenVarianz ist es natürlich schwer, überhaupt eine Grundform zu bestimmen. In der Sprichwortdatenbank haben wir in solchen Fällen entweder eine mehrfach vorkommende Form als Stichwort ausgewählt oder uns einer bereits kodifizierten Grundform bedient (hier: Die Suppe, die man sich eingebrockt hat, muss man auch auslöffeln) und die anderen als Varianten angegeben - wohl wissend, dass sie keine echten Varianten einer klar bestimmbaren Grundform darstellen. Alle Angaben haben wir entsprechend kommentiert, um kein hierarchisches Verhältnis zu suggerieren. Eine weitere Schwierigkeit bestand in einigen Fällen in der Abgrenzung des tatsächlichen Sprichwortgebrauchs zu Titeln, zitathaften Verwendungen und bei der Bestimmung eines übersituativ-kontextfreien Gebrauchs. Beim bereits erwähnten SW-Kandidaten Viel Lärm um nichts mussten wir den Suchfokus dahingehend einschränken, dass möglichst viele Wörter ausgeschlossen werden, die in irgendeiner Form den Shakespeare-Kontext indizieren. Die sehr komplexe Suchanfrage lautete schließlich: „Suche nach Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 295 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 viel und Lärm und nichts in einem Satz aber ohne Shakespeare oder Komödie oder Uhr oder Kino oder Film oder Regie oder Branagh 7 oder Branaghs oder Schauspieler oder Hollywood sowie alle Wortzusammensetzungen mit Theater. Sie erbrachte immerhin noch eine Treffermenge von 1 886 überwiegend sprichwörtlichen Verwendungen. 8 Das Beispiel Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben verdeutlicht die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Zitat und Sprichwort. Das vermeintliche Zitat von Gorbatschow Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (vgl. Steyer 1997, Mieder 2006) führt beispielsweise auch 2010 noch ein fast gleichwertiges Doppelleben: (5) SW-Kandidat Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben „ Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben .״ Michail Gorbatschow hat diesen berühmt gewordenen Satz 1989, kurz vor der Wende, an die Adresse Erich Honeckers, des damaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, gerichtet. (A10/ JAN.05425 St. Galler Tagblatt, 23.01.2010, S. 47) Wenn der Ausspruch des einstigen Kreml-Chefs Michail Gorbatschow „ Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben ״ zutrifft, dann kommen auf Grossrat Josias F. Gasser noch schwere Zeiten zu. Ob seine notorischen Verspätungen etwas mit mangelnder Muskelkraft zur Fortbewegung seines «Twike» zu tun hat, konnte bisher noch nicht schlüssig geklärt werden. (SOZ10/ OKT.00286 Südostschweiz, 02.10.2010) Für die Pendler heißt das nur eines: Wer am Friedhofsweg zu spät kommt , den bestraft das Leben mit einem Dauerparkplatz. (BVZ10/ DEZ.01824 NÖN, 16.12.2010) Im Bemühen, die Bäckerei Görtz doch noch im Ort zu halten, hat sich die Gemeindeverwaltung Neuhofen naiv angestellt . Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben . Der Satz muss Gerhard Frey im Kopf rumgehen. (RHP10/ FEB.01369 Rheinpfalz, 11.02.2010, S. 21) 7 Kenneth Branagh ist der Regisseur einer der erfolgreichsten Verfilmungen des Shakespeare- Stücks aus dem Jahre 1993 (Much Ado About Nothing). 8 Dieses Ergebnis beruht auf folgender Suchanfrage: (&Lärm / s0 nichts) %s1 (&Shakespeare oder &Komödie oder Theater* oder &Uhr oder &Kino oder &Film oder &Regie oder Branagh oder Branaghs oder &Schauspieler oder Kino* oder Hollywood oder Hollywood*) Kathrin Steyer 296 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Auf eine solche Parallelexistenz als Zitat und als Sprichwort sind wir bei der Auswertung der Korpusbelege immer wieder gestoßen. Sie wurde dadurch erkennbar, dass der Ursprung (oder auch nur der vermeintliche) auffällig häufig in der textuellen Umgebung des Sprichworts genannt wurde, und zwar in verschiedenen Quellen durch verschiedene Sprecher/ Schreiber. Dies betrifft zum einen die biblische oder lateinische Herkunft etlicher Sprichwörter, zum anderen Personen, denen die Schöpfung dieses Sprichworts zugeschrieben wird. Es sei noch einmal betont, dass es sich hierbei nicht um die tatsächliche Autorschaft handeln muss, sondern um die im Bewusstsein der Sprecher/ Schreiber verankerte Wahrnehmung dieses Ursprungskontextes. Folgende drei Korpusbelege des Sprichworts Zeit ist Geld sollen dies illustrieren: (6) SW-Kandidat: Zeit ist Geld Handel und Wandel nahmen neue Formen an, sodass der amerikanische Staatsmann Benjamin Franklin den stehenden Begriff „ Zeit ist Geld ״ prägte. Ein Geist der Unrast begann um sich zu greifen. (A99/ OKT.75472 St. Galler Tagblatt, 28.10.1999) „ Zeit ist Geld ״, hat Benjamin Franklin gesagt und damit den Glaubenssatz des Kapitalismus formuliert. (RHZ06/ OKT.09357 Rhein-Zeitung, 11.10.2006) Wobei Wachstum bedeutet, in gleicher Zeit mehr zu tun als bisher oder bisher ungenutzte Zeit künftig ökonomisch nutzbar zu machen, entsprechend dem in kapitalistischen Gesellschaften herrschenden Grundsatz „ Zeit ist Geld ״ , den Benjamin Franklin, Freimaurer, Verleger und Gründungsvater der USA, im 18. Jahrhundert ausgegeben hat. (Z07/ JAN.00146 Zeit, 04.01.2007, S. 13) Andere Beispiele für die rekurrente Zuschreibung der Autorschaft in den Korpusbelegen sind: Wissen ist Macht→ Francis Bacon; Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige → Ludwig XVIII.; Es ist etwas faul im Staate Dänemark / Viel Lärm um nichts →William Shakespeare; Mit der Dummheit kämpfen selbst die Götter vergebens → Friedrich Schiller. Schließlich wiesen manche Kandidaten alle relevanten Merkmale eines Sprichworts auf und schienen daher geradezu prädestiniert, als solches auch verwendet zu werden. Es gab im Korpus aber keine Verwendungen mit einer abstrakteren Bedeutung in unterschiedlichen Kontexten. So wird der SW-Kandidat Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung (ca. 450 Treffer) ausschließlich im ‘Wetter’-Kontext verwendet mit der Aussage, dass bei ange- Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 297 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 messener Kleidung jedes Wetter zu ertragen ist und man sich daher nicht von seinen Aktivitäten im Freien abhalten lässt. Auch im Internet finden sich fast ausschließlich solche Belege, häufig z. B. in Werbeanzeigen für Outdoor-Aktivitäten, Textilien oder Urlaubsorte. (7) SW-Kandidat Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung Unsere Freunde daheim baden im See. Aber für uns gilt: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung . Wir haben Fleecejacke und Fellkragenjacke dabei.״(HMP07/ AUG.02938 Hamburger Morgenpost, 30.08.2007, S. 8-9) Frei nach dem schlauen Spruch „ Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung ״ halten sich die Jungen und Mädchen in der Betreuungszeit ausschließlich im Wald auf, auch bei Regen und Schnee. Da leistet die mitwachsende Kinderlederhose gute Dienste(RHZ08/ OKT.21101 Rhein-Zeitung, 29.10.2008) Eine kontextfreie Bedeutung ist jedoch durchaus paraphrasierbar: ‘Wenn man sich auf etwas angemessen einstellt, kann man jede Situation meistern bzw. an ihr Freude haben’. Folgender Beleg deutet bereits die Entwicklung zu einem allgemeinen Weisheitssatz an: Wenn man glaubt, das Glück geschenkt zu bekommen, liegt man falsch. Wenn mich einer fragt: Wie war im Urlaub das Wetter? , antworte ich stets: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung. So ist es nämlich auch mit dem Glücklichsein . (T97/ JUL.28421 die tageszeitung, 01.07.1997, S. 22) Dieser Satz ist ein potenzieller SW-Kandidat, dessen Gebrauchsentwicklung weiter zu beobachten sein wird. 3. Sprichwortfrequenz Die eben beschriebenen Probleme bei der korpusbasierten Validierung des satzwertigen Status und der divergierenden kontextuellen Faktoren relativieren auch Konzepte wie das der ‘Sprichwortfrequenz’. 9 Es stellt sich ganz prinzipiell die Frage, was wir denn überhaupt zählen können. Wählt man für die 9 In diesem Zusammenhang sei auf eine weitere relativ umfangreiche Korpusvalidierung von Phraseologismen verwiesen, die allerdings sehr viel automatischer vorgeht und auf ein sukzessives Tunen von Suchanfragen auf der Basis qualitativer Hypothesen verzichtet (vgl. Quasthoff / Schmidt / Hallsteinsdóttir 2010). Kathrin Steyer 298 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Suchanfrage die enge Sprichwortform, z. B. beim SW Not macht erfinderisch die Suchanfrage „Not / +w1 macht / +w1 erfinderisch“ (Übersetzt: Suche nach der Wortform Not unmittelbar gefolgt von macht unmittelbar gefolgt von erfinderisch), sagt das Ergebnis aber auch nur aus, wie häufig diese eine konkrete morphologische und syntaktische Form vorkommt (902). Wählt man einen anderen Suchmodus, z. B. mit allen flektierten Formen, erfahren wir immerhin, inwieweit das SW hinsichtlich seiner grammatischen Formen fixiert oder flexibel ist. Lassen wir darüber hinaus etwas größere Abstände zwischen den Komponenten zu, erhalten wir auch alle Belege, in denen Sprichwortmarker (Not macht bekanntlich/ bekanntermaßen erfinderisch) oder minimale lexikalische Ergänzungen (z. B. Partikelhäufungen wie Not macht eben / immer noch / nun mal / schließlich erfinderisch) zusätzlich vorkommen. Die Frequenz kann sich dadurch erheblich verändern, in unserem Beispiel Not macht erfinderisch ergibt die weitere Suchanfrage fast 500 Treffer mehr. Eine weitere Frage ist die folgende: Haben lexikalische Varianten auch einen Aussagewert für den usuellen Gebrauch des SW und sind sie deshalb bei der Häufigkeitszählung mit zu berücksichtigen (also z. B. Not/ Liebe/ Finanznot macht erfinderisch)? Oder: Wie geht man mit im Korpus sehr häufig nachzuweisenden „Doppelexistenzen“ als satzwertiges Sprichwort und als nichtsatzwertige Wortverbindung um, also Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen vs. Wer im Glashaus sitzt? Usw. usw. In manchen Fällen ist ein weiter Suchfokus, der viel Spielraum zulässt, aussagekräftig für die Häufigkeit, z. B. wenn die Komponenten fast immer als Sprichwort miteinander vorkommen, aber ein großes internes Variationsspektrum aufweisen, wie bei Not macht erfinderisch. In anderen Fällen dagegen kann die Häufigkeit nur mit Hilfe einer sehr eng formulierten Suchanfrage ermittelt werden wie beim SW-Kandidaten Zeit ist Geld. Die Suche nach dem reinen Kovorkommen von Zeit und Geld in einem Satz erbringt eine Treffermenge, bei der die nicht-sprichwörtlichen Verwendungen den sprichwörtlichen Gebrauch völlig überlagern. Selbst die Eingrenzung auf die unmittelbare Nachbarschaft (nur zwei Wörter dazwischen und Festlegung der Reihenfolge) hat noch keine aussagekräftigen Ergebnisse zur Folge, da sehr viele Vorkommen Realisierungen der Paarformel Zeit und Geld sind. Erst durch die Einbeziehung der Wortform ist in die Suchanfrage und durch die genaue Festlegung der Reihenfolge der Komponenten erhält man eine auch hinsichtlich der SW-Häufigkeit aussagekräftige Treffermenge (immerhin noch 1 338). Es kann also keine einheitliche Basis für Frequenzzählungen und damit auch keine unumstößlichen Häufigkeitsmaße geben. Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 299 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Nutzt man das Frequenzkriterium als Grundlage für Interpretationen und für generalisierende Argumentationen, müsste man also eigentlich immer angeben, auf der Basis welcher Suchanfragen dies geschieht. Wir sind deshalb sehr zurückhaltend und sprechen lieber von Vorkommensproportionen und Häufigkeitstrends. Diese sind insofern dann aber doch aussagekräftig, als es ein starkes Gefälle zwischen jenen SW gibt, die im Bereich bis zu 200 Treffern liegen und jenen, die 1 000, 2 000 und mehr Vorkommen aufweisen. Unsere Erhebungen haben für den oberen Frequenzbereich u. a. folgende 20 SW ermittelt: 10 1) Weniger ist mehr 2 529 (weniger oder Weniger) / +w1 ist / +w3 (mehr oder Mehr) 2) Der Schein trügt 2 436 Schein / +w3 trügt 3) Ende gut, alles gut 2 296 Ende / +w3 gut / +w3 alles 4) Aller guten Dinge sind drei 2 174 (aller oder Aller) / +w3 guten / +w3 Dinge / +w5 (drei oder Drei oder 3) 5) Viel Lärm um nichts 1 886 (&Lärm / s0 nichts) %s1 (&Shakespeare oder & Komödie oder Theater* oder & Uhr oder & Kino oder & Film oder & Regie oder Branagh oder Branaghs oder & Schauspieler oder Kino* oder Hollywood oder Hollywood*) 6) Die Hoffnung stirbt zuletzt 1 795 Hoffnung / +w3 stirbt / +w5 zuletzt 7) Aller Anfang ist schwer 1 688 (aller oder Aller) / +w3 Anfang / +w5 schwer 8) Was lange währt, wird 1 659 &was / +w3 lange / +w3 währt / +w5 gut endlich gut 9) Der Weg ist das Ziel 1 555 Weg / +w1 ist / +w3 Ziel 10) Totgesagte leben länger 1 427 Totgesagte / +w3 leben / +w5 länger 11) Zeit ist Geld 1 338 Zeit / +w1 ist / +w5 Geld 12) Aufgeschoben ist nicht 1 342 (aufgeschoben oder Aufgeschoben) aufgehoben / +w3 „nicht“/ +w5 aufgehoben 13) Alles hat seine Zeit 1 335 (alles oder Alles) / +w3 hat / +w5 seine / +w5 Zeit 14) Not macht erfinderisch 1 204 „Not“ / +w3 macht / +w5 erfinderisch 10 Die Suchanfragen sind relativ eng formuliert, umfassen in der Regel nur die im Stichwort angeführten Wortformen des Sprichworts und einen geringen Wortabstand. Sie sind an der Form des Stichworts orientiert, die wir in der Datenbank angesetzt haben. Würde man jeweils das ganze Flexionsparadigma einbeziehen und/ oder den Suchabstand erweitern, ergäben sich in vielen Fällen noch weitaus höhere Frequenzen. Kathrin Steyer 300 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 15) Die Konkurrenz schläft nicht. 1 156 Konkurrenz / +w3 schläft / +w5 „nicht“ 16) Ausnahmen bestätigen 1 103 &Ausnahme / +w5 &bestätigen / +w5 die Regel &Regel 17) Ehre wem Ehre gebührt 1 048 (Ehre / +w2: 2 Ehre) / +w5 gebührt 18) Kleider machen Leute 1 009 Kleider / +w3 machen / +w5 Leute 19) Wer rastet, der rostet 883 &wer / +w3 rastet / +w5 rostet 20) Vertrauen ist gut, Kontrolle 867 Vertrauen / +w3 gut / +w5 Kontrolle ist besser / +w5 besser Tab. 1: Sprichwörter der SW-Datenbank im oberen Frequenzbereich Darüber hinaus gibt es natürlich weitere Sprichwörter, die zu diesem Frequenzbereich gehören, aber nicht die Kriterien für die Aufnahme in die 300er- Liste der SW-Plattform erfüllten (in den meisten Fällen wegen fehlender Äquivalente in den meisten der anderen Sprachen), z. B. Außer Spesen nichts gewesen; Doppelt hält besser; Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus; Leben und leben lassen; Einer für alle, alle für einen; In der Kürze liegt die Würze; Frechheit siegt oder Ohne Moos nix los. 4. Sprichwortmuster und Strukturformeln Die Idee der Modellhaftigkeit von SW zieht sich wie ein roter Faden durch die Parömiologie. So beschäftigen sich schon Röhrich / Mieder mit solchen Schablonen, u. a. Bezug nehmend auf Matti Kuusi (1974): Bei kaum einem anderen Genre der Folklore sind strukturalistische Forschungen so erfolgreich gewesen wie beim Sprichwort, denn es lassen sich bestimmte Bautypen (Formulae, frames, Strukturmodelle etc.) klar erkennen. (Röhrich / Mieder 1977, S. 60) Bauformen und Denkschablonen sind für Röhrich / Mieder z. B. Konstruktionen wie A ist A, Ohne A kein B oder Wo ein A, dort auch ein B. Sie beschreiben das Prinzip so: „In sich ständig wiederholende Strukturmodelle und Satzmuster sind immer wieder neue Inhalte gegossen und damit sprichwörtlich geworden.“ (ebd.) Neben dieser Oberflächenstruktur nehmen sie eine Tiefenstruktur an, die im Grunde bereits vor mittlerweile über 30 Jahren die heute so aktuelle Idee von Einheiten verkörpert, die sowohl fixe Elemente enthalten als auch variabel gefüllt werden können (z. B. X hat/ haben Ohren → Wände/ Mauern/ Nacht ... hat/ haben Ohren; ebd., S. 62). Solche Modelle wurden in der Phraseologie immer wieder aufgegriffen und diskutiert, z. B. als ‘Modellbildungen’ (vgl. Häusermann 1977), als ‘Phraseoschablonen’ (vgl. Fleischer 1997)‘ als ‘sprachliche Schematismen’ (vgl. Sabban 1998) oder als ‘logische Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 301 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Modelle’ (vgl. Permjakov 2000). In jüngster Zeit erfährt dieses Thema im Lichte neuer Ansätze zur Fixiertheit natürlicher Sprachen u. a. an der Schnittstelle zu konstruktionistischen Modellen 11 und zu Konzepten wie ‘Ausdrucksmodell’ und ‘idiomatische Prägung’ (vgl. Feilke 1996) eine Renaissance. Mit Hilfe der Korpusanalyse ist es nun möglich, anhand empirischer Massendaten zu rekonstruieren, welche Inhalte prototypisch in bestimmte Muster und Modelle gegossen werden und welche nur okkasionelle Bildungen sind. Wir werden im Folgenden zum einen - in Anlehnung an den Terminus ‘Wortverbindungsmuster’ (vgl. Steyer 2009, Steyer / Brunner 2009) - von Sprichwortmustern (SW-Muster) sprechen; zum anderen den Terminus ‘Stukturformel’ für abstraktere Bauformen verwenden. Unter SW-Mustern verstehen wir Einheiten, die aus festen lexikalischen SW-Komponenten und variablen Slots bestehen. Unabhängig von der Natur der Slotbesetzungen und dem Grad der Polysemie bleibt die Sprichwörtlichkeit erhalten. SW-Muster können darüber hinaus Teilrealisierungen abstrakterer Strukturformeln sein, die sich ihrerseits sowohl über sprichwörtliche als auch nicht-sprichwörtliche Realisierungen konstituieren. Diesen Strukturformeln können ebenso Bedeutungen und/ oder Funktionen zugeschrieben werden (siehe dazu Kap. 4.1 und 4.2). Nicht jedem Sprichwort liegt jedoch eine solche Strukturformel zugrunde (z. B. Stille Wasser sind tief oder Eigenlob stinkt). 12 Die Korpusanalyse hilft, die Logik dieser Muster- und Formelbildungen empirisch gesichert zu rekonstruieren. Dafür sind eine Vielzahl methodischer Wege nutzbar, insbesondere induktive statistische Clusteringverfahren, z. B. folgende: - iterative Suchen (z. B. Ausschließen von Teilkomponenten), - Reziprokanalysen (Kookkurrenzanalysen von Teilkomponenten), - KWIC-Systematisierung und Füllerzählungen. 13 11 Für die deutschsprachige Forschung sei vor allem auf den ersten Band zur Konstruktionsgrammatik von Kerstin Fischer und Anatol Stefanowitsch (vgl. Fischer / Stefanowitsch (Hg.) 2006), Lasch / Ziem (2011) und das IDS-Jahrbuch 2010 (vgl. Engelberg / Holler / Proost (Hg.) 2011) verwiesen. Zur Schnittstelle von phraseologischen und konstruktionistischen Ansätzen vgl. Feilke (2007). 12 Eine Strukturformel ist nicht mit einem morpho-syntaktischen Strukturtyp gleichzusetzen, den natürlich jedes SW aufweist (z. B. Eigenlob stinkt→ SUB+VERB). 13 Informationen zur statistischen Kookkurrenzanalyse findet man u. a. in Perkuhn / Belica (2004). . Auf das linguistische Erklärungspotenzial statistischer Berechnungen von Kookkurrenzen und syntagmatischen Profilen gehen wir hier nicht mehr ein. Umfangreiche Ausführungen dazu findet man in unseren Publikationen der letzten Jahre (z. B. Steyer 2004, 2009). Die zentralen Aussagen lassen sich auch für die Mehrwortklasse der Sprichwörter adaptieren. Kathrin Steyer 302 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Gerade der dritte methodische Weg der heuristischen Systematisierung von Konkordanzen und der automatischen Erfassung lexikalischer Füller einer Leerstelle eröffnet neue Perspektiven für die Beschreibung von Sprichwortvarianz und -invarianz. Wir haben in einem anderen Forschungskontext (Wortverbindungen in Feldern) ein entsprechendes heuristisches Vorgehensmodell, das ‘UWV-Analysemodell’ (vgl. Steyer / Brunner 2009) entwickelt, das auf der qualitativen Auswertung statistisch berechneter syntagmatischer Kookkurrenzprofile beruht. Dieses korpusgesteuerte Vorgehensmodell lässt sich gewinnbringend auch für parömiologische Untersuchungen einsetzen. Es ermöglicht iterative Systematisierungen von Kontextzeilen eines verfestigten Syntagmas (KWIC) und die stufenweise Verallgemeinerung über viele lexikalische Realisierungen ähnlicher Art. Die folgende Tabelle illustriert eine nach bestimmten Suchmustern systematisierte KWIC-Menge des SW Der Schein trügt, die uns bereits erste Indikatoren für strukturelle und lexikalische Festigkeit bzw. Varianz und auch für pragmatische Besonderheiten liefert: 585 Treffer für „Der Schein trügt״ (von 2 467; 23,71%) 14 als hätte er sich massiv in Ihre Arbeit eingemischt. Der Schein trügt : Da habe ich mir einen kleinen Scherz erlaubt. Ich Gebirgsseen ist das Ergebnis einer Studie der Umweltorganisation Greenpeace: Der Schein trügt die Gewässer in den Alpen sind mit Umweltgiften bescheiden daher; zu seinen Bildungsurlauben zählen anglizismusfreie Veranstaltungen wie „ Der Schein trügt - Bewußt-Sein und Bewußt-Werden gesellschaftlicher Entwicklungen״. Und ganz schnörkellos Berliner Höfe und Fassaden alt und neu Der Schein trügt auf Barbara Tucholkes Bildern von Berlin, die sie in Westernmythen. Harte Männer, den Colt griffbereit, lungern im Schatten. Der Schein trügt nicht. Die Cowboys sind Schauspieler: Staffage für zahlungswillige Touristen. Tab. 2: Ausschnitt aus der KWIC-Systematisierung mit der Suchanfrage „Der Schein trügt“ (Großschreibung; ohne interne Leerstelle) 14 Die Prozentangabe bezieht sich auf das anteilige Vorkommen dieser KWIC-Menge am Gesamtvorkommen aller KWIC zum SW Der Schein trügt. Die im Vergleich zur Frequenz des SW in Tabelle 1 (Suchanfrage: Schein / +w3 trügt) etwas höhere Gesamttrefferzahl von 2 467 resultiert aus der hier zugrunde gelegten Suchanfrage, die alle Flexionsformen des Verbs trügen berücksichtigt. Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 303 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 1 055 Treffer für „# der Schein trügt״ (von 2 467; 42,76%) # der Schein trügt Micici, einem kleinen Dorf am Rande der Demarkationslinie. Doch der Schein trügt . Die Frontlinie zerschneidet die Felder, die zum Dorf gehören. anderer. „Der Hang ist jetzt a bisserl flacher.״ Doch der Schein trügt . Manfred Pitracher, Experte des Wildbach- und Lawinenverbaus Das Wasser ist blau, die Bänke sind bunt, doch der Schein trügt ״, merkte Edith Stoffel in der Jahreshauptversammlung des Schwimmbad-Fördervereins. Kugeln scheinen mit einer Schablone gefertigt zu sein, doch der Schein trügt . Allein mit Hilfe ihres Augenmaßes und nach Pi mal grinsenden Köpfe als Amalgam von Totenkopf und Snoopy. Aber der Schein trügt . Basquiat ist natürlich selbst ein Musterknabe des gierigen New Tab. 3: Ausschnitt aus der KWIC-Systematisierung mit der Suchanfrage „ der Schein trügt“ (mit einer Leerstelle vor dem SW und Kleinschreibung des Artikels der) 155 Treffer für „# Der|der # Schein trügt|trog“ (von 2 467; 6,28%) # Der| der # Schein trügt| trog Wie oft der erste Schein trügt , erlebte ich jüngst bei einem gemütlichen Spaziergang in der die barocke Frauenkirche, Ständehaus, Schlossturm und Hofkirche. Doch der idyllische Schein trügt . Gespiegelt wird die Stadt-Silhouette in Uferseen, die durch Niedrigwasser Vormittag in Kreuzberg mit der deutschen Grammatik. Doch der chaotische Schein trügt . Die Schüler hier wissen, was sie wollen. Kathrin Steyer 304 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 155 Treffer für „# Der|der # Schein trügt|trog“ (von 2 467; 6,28%) # Der| der # Schein trügt| trog herausgegeben. Die Informationen sind optisch ansprechend aufbereitet, aber der schöne Schein trügt . Die Texte sind nämlich offenbar „mit heißer Nadel gestrickt״. als Versöhner der Rassen, als sanfter Visionär. Doch der äußere Schein trog : Zwar war Mugabe anfangs ein Garant für ein versöhnliches Tab. 4: Ausschnitt aus der KWIC-Systematisierung mit einer Leerstelle zwischen der/ Der und Schein. 55 Treffer für „# Der|der Schein # # trügt|trog“ (von 2467; 2,23%) # Der| der Schein # # trügt| trog am Beginn. Zusammengesetzt ist sie aus tagebuchartigen Aufzeichnungen. Doch der Schein von Ordnung trügt Hessens Wähler beim Vertrauten bleiben. Die aber haben, wenn der Schein nicht gänzlich trügt sieben Zählern aus drei Partien. Dennoch, Huhn weiß, dass der Schein des Tabellenplatzes trügt Dorf Rauringen an den Ort ihrer Kindheit zurück. Doch der Schein ländicher Idylle trügt So tragen viele Figuren das Schild „Echt geschnitzt״. Doch der Schein von Handarbeit trügt Tab. 5: Ausschnitt aus der KWIC-Systematisierung mit zwei Leerstellen zwischen Schein und trügt/ trog Aus Tabelle 2 und 3 wird erkennbar, dass es in über 65 % aller Vorkommen keinerlei interne Ergänzungen gibt. Allein die kleingeschriebene Form der Schein trügt ohne jegliche interne Ergänzung deckt knapp die Hälfte aller Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 305 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Vorkommen ab. Die Tabellen 3, 4 und 5 zeigen darüber hinaus zum einen typische kausale Vorfeldergänzungen (doch, aber ... ), die hochgradig frequent vorkommen. Zum anderen treten interne Ergänzungen hervor, die zwar seltener, aber eben auch nachzuweisen sind (z. B. der schöne/ äußere Schein trügt/ trog; der Schein von Ordnung / ländlicher Idylle trügt). Ein weiterer heuristischer Zugang ist die automatische Zählung der lexikalischen Füller einer Leerstelle, die eine zentrale Komponente des UWV-Analysemodells darstellt (siehe dazu Kap. 4.2). Solche Vorstrukturierungen und Zählungen sind natürlich umso sinnvoller, je größer die zu untersuchende Datenmenge ist. Beim hochfrequenten SW Der Scheint trügt (über 2 400 Treffer) ist z. B. eine Analyse jedes einzelnen Vorkommens mit „bloßem Auge“ zwecks Erkennung von rekurrenten Mustern nicht mehr möglich. Wir zeigen nun, wie eine solche induktive Vorgehensweise neue Erkenntnisse über Muster- und Formelbildung erbringen kann. Unsere Beispielsprichwörter sind: Der Ton macht die Musik; Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen; Alter schützt vor Torheit nicht und Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. 4.1 Sprichwortmuster Sprichwortmuster zeichnen sich - wie gesagt - dadurch aus, dass sie zwar variable Slots enthalten, die SW-Bedeutung aber im Prinzip immer erhalten bleibt. Allerdings sind nur wenige SW-Muster in einem strengen Sinne monosem wie das beim SW-Muster <SUB macht die Musik> der Fall ist. Die prototypische Realisierung ist das SW Der Ton macht die Musik. Typischerweise wird das SW durch Wortbildungsreihen variiert: 15 Der Unterton/ Zwischenton/ Tonfall macht die Musik. Es handelt sich um das SW-Muster <SUB Ton_KOMPOSITA macht die Musik>. Die Ersetzungen der lexikalischen Komponente Ton durch Ton-Komposita hat keinerlei Folgen für die SW-Bedeutung: ‘Für das Erreichen eines Ziels kommt es nicht allein darauf an, was jemand äußert, sondern vor allem, auf welche Art und Weise er es tut’. Eine Umdeutung erfährt das Sprichwort, wenn Ton durch andere Substantive ersetzt wird, z. B. Der Preis / Markt / das Geld macht die Musik. Hier liegt eine assoziative Verknüpfung des Sprichworts Der Ton macht die Musik mit dem satzwertigen Wortverbindungsmuster <Hier / Dort / in X (Brüssel/ Mannheim) spielt die Musik> (‘An diesem Ort wird der entscheidende Einfluss ausgeübt; werden die Maßstäbe gesetzt’). Den Varianten Der Preis / Markt / das Geld macht die Musik liegt die verwandte Bedeutung ‘etw. übt den entscheidenden Einfluss aus; setzt die Maßstäbe’ zugrunde. 15 Alle Bedeutungsbeschreibungen der folgenden Beispiele basieren auf Steyer / Hein (2010). Kathrin Steyer 306 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Auch beim SW Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen tasten die lexikalischen Ersetzungen der Komponente Meister (z. B. Großmeister/ Star/ Redner) die SW-Bedeutung als solche nicht an: ‘Am Anfang sind viel Übung und Mühen nötig, um schließlich etwas sehr gut oder gar perfekt zu beherrschen bzw. um letztlich erfolgreich zu sein’. Allerdings bringt jede Ersetzung auch eine konkrete Teilbedeutung mit sich, da nicht mehr nur das allgemeine Streben nach Perfektion explizit benannt wird (‘Meister werden’ im Sinne des Besten auf einem bestimmten Gebiet), sondern der Bereich selbst (Großmeister → ‘perfekt Schach spielen können und den entsprechenden Titel errin-gen’, Star →‘extrem populär und bekannt sein’ oder Redner ‘perfekt Reden halten können’). 4.2 Strukturformeln Nun interessieren uns Fälle, bei denen SW-Muster gleichzeitig Konstituenten abstrakterer Formeln sind. Dem Sprichwort Alter schützt vor Torheit nicht liegt die Strukturformel [X schützt vor Y nicht] zugrunde. Fix ist hier allein die Verbalphrase vor etw. nicht schützen. Ein weiteres allgemein bekanntes Sprichwort, das zu dieser Strukturformel gehört, ist: Dummheit schützt vor Strafe nicht. Beide haben eine je spezifische Bedeutung: Alter schützt vor Torheit nicht ‘Auch fortgeschrittenes Alter und die damit verbundene Lebenserfahrung bewahrt denjenigen nicht zwingend vor unbedachten Handlungen oder unvernünftigen Einstellungen’ Dummheit schützt vor Strafe nicht ‘Fehlendes Wissen oder Irrtümer, die zu einem Fehlverhalten führen, bewahren denjenigen nicht vor den entsprechenden Sanktionen’ Gleichzeitig weisen sie eine gemeinsame abstrakte Bedeutung auf: ‘Obwohl ein Sachverhalt gegeben ist / als gegeben scheint, verhindert dies nicht einen anderen (Folge)-Sachverhalt’. Die automatische Auswertung der Leerstellen der Strukturformel [X schützt vor Y nicht] im Korpus ergibt eine sehr produktive Besetzung der X- und Y- Slots mit einer graduellen Typikalität. Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 307 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 X-Slot Y-Slot Alter 699 Unwissenheit 134 Dummheit 71 Jugend 22 Arbeit 14 Unkenntnis 12 [...] Salsa 1 Rausch 1 Privatheit 1 Einparkhilfe 1 Notenkenntnis 1 Strafe 243 Torheit 161 Liebe 102 Leistung 50 Toren 34 Klasse 33 Dummheit 24 Reichtum 20 Armut 18 Arbeit 17 Siegen 13 Ehrgeiz 10 Tempo 10 Erfolgen 10 [...] Bestrafung 1 Turniererfolgen 1 Selbsttoren 1 Tönen 1 Tab. 7 Die häufigsten Lückenfüller (bis 10 Vorkommen) und ausgewählte Einmalfüller der Strukturformel [X schützt vor Y nicht] 16 Die häufigste X-Slot-Besetzung ist in der Tat Alter. Analysiert man die jeweiligen Y-Slot-Besetzungen für Alter schützt vor Y nicht und die dazu gehörigen KWIC, hat sich das SW Alter schützt vor Torheit nicht als stabil und prototypisch erwiesen, da Torheit im Vergleich zu den anderen substantivischen Y- Ergänzungen eine überproportionale Häufigkeit aufweist. Allerdings ist die Gesamtheit der anderen Y-Ergänzungen wie Alter schützt vor Leistung/ Liebe/ Toren/ Klasse ... nicht zusammengenommen um das Dreifache häufiger als die Realisierungen mit Torheit. Das bedeutet, dass der Teilbereich lexikalischer Realisierungen, bei denen die lexikalische Komponente Alter fix ist, sehr produktiv und modifikationsaffin ist. Es gibt einen prototypischen Vertreter (SW Alter schützt vor Torheit nicht) und viele andere nicht-sprichwörtliche, aber trotzdem formelhafte Realisierungen [Alter schützt vor SUB nicht]. 16 Die X- und Y-Füller sind nicht als wechselseitige Entsprechung zu lesen. Die Tabelle zeigt nur die Ränge nach Häufigkeit im jeweiligen Slot. Kathrin Steyer 308 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 Im Gegensatz dazu unterliegt eine weitere Gruppe von Realisierungen der Strukturformel [X schützt vor Y nicht] stärkeren Einschränkungen in der lexikalischen Kombinatorik: Das Syntagma Dummheit schützt vor ... nicht wird nämlich fast ausschließlich durch Strafe ergänzt. 17 Die Lückenfüllertabelle zeigt aber auch, dass das Substantiv Unwissenheit eine größere Häufigkeit aufweist als Dummheit. Beiden Füllern liegt dasselbe semantische Konzept ‘Nicht-Wissen’ zugrunde, wenn auch unterschiedlich konnotiert. 18 Die Realisierungen des Typs [SUB NICHT-WISSEN schützt vor Strafe nicht] sind also in höherem Maße lexikalisiert und können daher als SW-Muster angesehen werden. 19 Der Füller Jugend (rekurrentes Syntagma: Jugend schützt vor ... nicht) könnte auf ein weiteres SW in umgekehrter Analogie zur Komponente Alter hindeuten. Allerdings müsste die Bedingung erfüllt sein, dass auch hier ein lexikalischer Füller im Y-Slot besonders rekurrent und prototypisch ist (Jugend schützt vor Y nicht). Die Y-Füller weisen aber eine große Streuung auf: Klasse/ Versagen/ Torheit/ Strafe/ Blödheit/ ... (z. B. Jugend schützt vor Klasse nicht; Jugend schützt vor Versagen nicht). Daher handelt es sich bei diesen Syntagmen nicht um Sprichwörter im herkömmlichen Sinne, aber durchaus um typische Realisierungen der Strukturformel [X schützt vor Y nicht]. Auch die zahlreichen „Einmalfüller“ wie Notenkenntnis schützt vor falschen Tönen sind insofern regulär, als dass sie zwar nur okkasionelle Ad-Hoc-Bildungen darstellen, aber ebenso zur Formelbildung beitragen. In welchem Maße ein unterschiedlicher Grad an lexikalischer Spezifiziertheit unterschiedliche Formen von Slotbesetzungen und Prototypikalität mit sich bringt, zeigen wir abschließend am Beispiel Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Diesem SW liegt die relativ abstrakte Strukturformel [Wo X ist, ist Y] zugrunde. Wenn man nun unterschiedliche Komponenten als obligatorisch ansetzt (das heißt, sie müssen in die Suchanfrage integriert werden, damit sie immer vorkommen), erhält man sehr unterschiedliche lexikalische Füller für die vordefinierten Leerstellen. Für die Strukturformel [Wo X ist, ist Y] kann man eine dreistufige Abstraktion ansetzen, die sich mit folgenden Suchanfragen abbilden lässt: 17 Den ebenfalls häufigen Füller Liebe kann man vernachlässigen, da er auf den Schauspieltitel Dummheit schützt vor Liebe nicht zurückzuführen ist. 18 In der SW-Datenbank haben wir Unwissenheit schützt vor Strafe nicht als Stichwort und die Ersetzung mit Dummheit als eine eigenständige, lexikalische Variante angesetzt. 19 Interessant ist nun, dass die anderen Vorkommen überhaupt keine Musterrealisierungen sind, z. B. Aber: Unwissenheit schützt nicht vor dem Gesetz oder Unwissenheit oder schlechte Vorbilder jedoch schützen nicht vor Bestrafung. Diese regulären Realisierungen scheinen durch die umgekehrte syntaktische Abfolge X schützt nicht vor Y (vs. X schützt vor Y nicht) verursacht zu sein. Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 309 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 1) Suche nach: „Wo ein ... ist ist auch ein ... “ 2) Suche nach: „Wo ... ist ist auch ... “ 3) Suche nach: „Wo ... ist ist ... “ Im Fall 1) werden neben dem immer obligatorischen Pronomen Wo und der flektierten Form ist auch der unbestimmte Artikel ein und die Partikel auch einbezogen. Als Resultat erhält man eine fast hundertprozentige Besetzung der Slots durch Wille (X-Füller) und Weg (Y-Füller), also die SW-Realisierung Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Im Fall 2) wird der unbestimmte Artikel ein nicht in die Suchanfrage integriert, das heißt, er kann als fakultatives Element vorkommen, muss aber nicht. Als Ergebnis erhält man nun schon mehrere rekurrente lexikalische Füller, die verschiedene SW indizieren: - Prototypische X-Füller: Licht/ Wille/ Kläger/ Rauch - Prototypische Y-Füller: Schatten/ Weg/ Richter/ Feuer - Sprichwörter: Wo Licht ist, ist auch Schatten; Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg; Wo kein Kläger, da kein Richter; Wo Rauch ist, ist auch Feuer Darüber hinaus kommen aber auch einige nicht-sprichwörtliche Realisierungen vor wie: Wo ein Minarett ist, ist auch ein Muezzin oder ein Lautsprecher oder Wo ein Wald ist, ist auch ein Reh. Sie sind zwar keine Sprichwörter, konstituieren aber gemeinsam mit den sprichwörtlichen Verwendungen eine abstrakte Strukturformel mit der Bedeutung „Wenn es die eine Sache gibt, dann gibt es unabdingbar auch die andere Sache“ (Permjakov 2000, S. 52). Unabhängig von ihren jeweils konkreten Bedeutungen liegt allen Konstituenten dieser Strukturformel die folgende kausale Relation zugrunde: in der affirmativen Form [WENN etw. ist/ geschieht, DANN ist/ geschieht auch etw. Weiteres] (Wo Rauch ist, ist auch Feuer: WENN es Gerüchte/ Vermutungen gibt, DANN ist meistens etwas davon wahr; Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg: WENN jemand etwas wirklich will, DANN schafft er es auch; Wo Licht ist, ist auch Schatten: WENN es Positives gibt, DANN gibt es auch Negatives) bzw. negiert [WENN etw. nicht ist/ geschieht, DANN ist/ geschieht auch nichts Weiteres] (Wo kein Kläger, da kein Richter: WENN etwas nicht kritisiert wird, DANN kann darüber auch nicht geurteilt werden). Im Fall 3) lässt die Suchanfrage den größten Spielraum an varianten Füllungen zu und bildet so die abstrakteste Form oder das größtmögliche Kondensat Wo ... ist ... ist ... ab. Erwartungsgemäß fällt das Resultat nun sehr viel hetero- Kathrin Steyer 310 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 gener aus. Natürlich finden sich auch hier beide Füllergruppen von 1) und 2), also eindeutige SW-Realisierungen und nicht-sprichwörtliche Realisierungen, die aber ebenso zur Strukturformel gehören. Der Anteil der okkasionellen Modifikationen ist nun aber überproportional hoch, auch das überrascht nicht wirklich. Hinzu kommen zahlreiche Vorkommen, die überhaupt keine Musterhaftigkeit aufweisen bzw. denen kein gemeinsames Modell zugrunde liegt. Es handelt sich um reguläre lokale bzw. temporale Verwendungen wie Die Firma, wo das Forum registriert ist, ist aber schon einmal durch eine Fälschung aufgefallen oder In dem Augenblick, wo man am Gipfel ist, ist der Wind normalerweise viel stärker. Diese Vorkommen sind für unsere Zwecke eigentlich zu vernachlässigen. Sie haben nur insofern einen distinktiven Aussagewert, als durch den Kontrast mit ihnen die Musterhaftigkeit der oben besprochenen Realisierungstypen augenfällig wird. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: 1) Nur wenige lexikalisch verwandte SW-Muster sind im klassischen Sinne monosem wie <Der Ton/ Unterton/ ... macht die Musik>. In diesen Fällen erfolgen die lexikalischen Ersetzungen tatsächlich innerhalb eines engen semantischen Paradigmas oder Wortfelds (z. B. Ton/ Unterton/ Zwischenton). 2) Die meisten lexikalischen Ersetzungen bringen trotz invarianter Gesamtbedeutung neue Teilbedeutungen ein (Es ist noch kein Meister/ Großmeister/ Star/ Redner vom Himmel gefallen) oder konstituieren vollkommen andere Bedeutungen (Der Markt/ das Geld macht die Musik) und damit andere Muster. 3) Abstraktere Strukturformeln können einen unterschiedlichen Grad an „sprichwörtlicher Ausfüllung haben“ wie beim Beispiel [X schützt vor Y nicht]: a) „Echte“ Sprichwortrealisierung Alter schützt vor Torheit nicht ; b) SW-Muster-Realisierungen [SUB NICHT-WISSEN schützt vor Strafe nicht] (Füller: Dummheit/ Unkenntnis/ Unwissenheit) und c) nicht-sprichwörtliche, aber formelhafte Realisierungen, z. B. Jugend schützt vor Klasse/ Versagen/ Torheit/ Strafe/ Blödheit ... nicht. Häufig gibt es bei SW-Mustern und Strukturformeln ein starkes Gefälle zwischen prototypischen lexikalischen Füllern einerseits und seltenen andererseits. Alle tragen aber gleichermaßen zur Musterbzw. Modellbildung bei. Die prototypischen Füller in unseren Beispielen zeigen eindeutig die Tendenz, sprichwörtlich verwendet zu werden, z. B. Ton → Der Ton macht die Musik; Alter - Torheit → Alter schützt vor Torheit nicht. Sprichwortstatus, Frequenz, Musterbildung 311 steyer_Aut-Korr_03-07-2012 5. Schlussbemerkung Die Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Sprichwörter durchaus als syntaktisch (satzwertig), lexikalisch und symbolisch fixierte Einheit aufzufassen sind, denen ein Sonderstatus als eigenständige Wortschatzeinheit - oder besser feste textuelle Einheit - zuzuschreiben ist. Indizien dafür liefern auch erste Pilotuntersuchungen, bei denen wir Kookkurrenzprofile von SW-Markern erheben und auswerten. Während Sprecher mit ‘Slogan’, ‘Motto’ oder ‘Spruch’ ein weit gefasstes Inventar an satzwertigen Einheiten markieren (u. a. auch Sprichwörter), werden mit Markern wie ‘Sprichwort’ oder ‘bekanntlich’ sehr viel stärker wirkliche Sprichwörter fokussiert. Der Frage, wie Sprecher/ Schreiber solche Spruchtextsorten (vgl. Fix 2007) konzeptualisieren, werden wir weiter nachgehen. Sprichwörter sind aber eben auch Teilrealisierungen, die gemeinsam mit anderen nicht-sprichwörtlichen sprachlichen Einheiten dieselben abstrakten Modelle konstituieren können. Unter diesem Gesichtspunkt sind sie Konstituenten eines Wortschatznetzes, denen gemeinsam bestimmte Merkmale zugeschrieben werden können und die entsprechend als Bausteine der Kommunikation fungieren. Die Erhellung der Zusammenhänge zwischen unikalem Gebrauch spezifischer sprachlicher Einheiten einerseits und Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Versprachlichungen in Bezug auf abstraktere Strukturformeln ist ohne korpusanalytisches Instrumentarium nicht möglich. Die Beantwortung der Frage, welche Bedingungen dazu führen, dass die einen Sprichwörter eher varianzresistent, die anderen dagegen ausgeprägt varianzanfällig sind, ist ein spannendes Untersuchungsziel. Auch das beobachtete Phänomen, dass manche Sprichwörter bevorzugt auch als Teilrealisierungen abstrakter Modelle fungieren, während dies bei anderen überhaupt nicht nachzuweisen ist, sollte weiter verfolgt werden. In dieser Hinsicht können von strikt korpusbasierten parömiologischen Untersuchungen auch innovative Impulse für sprachtheoretische Fragestellungen ausgehen. Literatur Belica, Cyril (1995): Statistische Kollokationsanalyse und -Clustering. Korpuslinguistische Analysemethode. Institut für Deutsche Sprache. Mannheim. Internet: http: / / corpora.ids-mannheim.de/ (Stand: 02/ 2012). Burger, Harald (2010): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 4., neu bearb. Aufl. (= Grundlagen der Germanistik 36). Berlin. Burger, Harald / Dobrovol’skij, Dmitrij / Kühn, Peter / Norrick, Neal R. (Hg.) (2007): Phraseologie/ Phraseology. 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(Röhrich / Mieder 1977, S. 52) In der Tat können Sprichwörter - trotz ihrer Kürze - dazu dienen, die komplexesten und vielfältigsten Botschaften auf dennoch prägnante Art und Weise zu transportieren. In dieser Eigenschaft scheint einer der Gründe für die nicht nachlassende Faszination zu liegen, die vom Phänomen ‘Sprichwort’ ausgeht. Die hier geschilderte Kombination aus Prägnanz und Komplexität wird besonders dann evident, wenn man ein Sprichwort nicht in Isolation von seinem Kontext betrachtet - „in der Sammlung ist das Sprichwort tot“ (Röhrich / Mieder 1977, S. 81) -, sondern tatsächliche Verwendungssituationen berücksichtigt. Eine solche Erfassung von „Sprichwörter[n] in ihrer Gebrauchssituation“ (Röhrich / Mieder 1977, S. 80) ist das zentrale Anliegen des vorliegenden Beitrags, in dem der Fokus auf der Erfassung der Bedeutung und des Gebrauchs deutscher Sprichwörter liegt. Es wird gezeigt, inwiefern man auf der Basis von Korpora, d. h. durch den Rückgriff auf „geronnenes sprachliches Wissen“ (Steyer 2004, S. 92) zu einer auch im Hinblick auf den aktuellen Sprachgebrauch adäquaten lexikografischen Beschreibung von Sprichwörtern gelangen kann. 1.1 Ausgangspunkte: SprichWort-Datenbank, Lemmaliste und Sprichwortkonzept Die Inhalte, die diesem Beitrag zugrunde liegen, wurden im Rahmen des EU- Projekts „SprichWort - Eine Internet-Lernplattform für das Sprachenlernen“ erarbeitet. Die mehrsprachige Sprichwortdatenbank, 1 die zu den zentralen Er- 1 Alle nachfolgenden Erläuterungen und Beispiele basieren auf dem deutschsprachigen Teil dieser Datenbank, der von Kathrin Steyer (Leitung) und mir im Rahmen des EU-Projekts am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim erarbeitet wurde (vgl. Steyer / Hein 2010). Die gesamte Datenbank sowie weitere Informationen zum Projekt sind auf der Webseite des Projekts verfügbar (vgl. Projekt SprichWort). Katrin Hein 316 gebnissen des Projekts zählt, gibt nicht nur einen Einblick in den „tiefe[n] gedanklichen Reichtum“ (Umurova 2005, S. 66) von Sprichwörtern, sondern bietet auch eine ergiebige Datengrundlage für tiefergehende Untersuchungen zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch: Sie enthält umfassende lexikografische Artikel zu 300 deutschen Sprichwörtern, die auf der Basis eines von Kathrin Steyer und Peter Ďurčo entwickelten Beschreibungsmodells (vgl. Steyer / Ďurčo 2009) erarbeitet wurden. Aufgrund der thematischen Ausrichtung dieses Beitrags werden im Folgenden aber nur die Artikelangaben ‘Bedeutung(en)’ und ‘Gebrauchsbesonderheit(en)’ eine Rolle spielen. 2 Auf das genaue Vorgehen bei der Auswahl der 300 Lemmata kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Es sei aber darauf verwiesen, dass es dabei nicht zuletzt um die Vermeidung „einer Tradierung bestimmter phraseologischer Kernbestände“ ging, „die nicht immer dem aktuellen Usus entsprechen“ (Steyer / Lauer / Brunner 2008, S. 108). 3 Eine weitere wichtige Rolle bei der Erstellung der Lemmaliste spielte außerdem das von uns verfolgte Sprichwortkonzept, das sich vor allem über den Begriff der Satzwertigkeit (vgl. Lüger 1999) definiert und im Folgenden kurz erläutert wird. Sprichwörter werden in der Sekundärliteratur zu Recht als „in sich geschlossene Sätze“ (Burger 2010, S. 106) bezeichnet. Gerade wenn es um die Abgrenzung von anderen Phraseologismen wie z. B. der Redewendung geht, erweist sich die Arbeit mit dem Begriff der Satzwertigkeit u. E. jedoch als deutlich fruchtbarer. Daher sprechen wir - in formaler Hinsicht - nur dann von einem Sprichwort, wenn wir es mit einer satzwertigen Wortverbindung zu tun haben. Ausschlaggebend dabei ist nach Lüger die funktionale Vollständigkeit, das heißt, Sprichwörter sind dadurch gekennzeichnet, „daß sie abgeschlossene Aussagen über bestimmte Sachverhalte darstellen“ und somit „in der Kommunikation als selbstständige Beiträge verwendet werden [können]“ (Lüger 1999, S. 55). Dies setzt aber nicht zwingend eine syntaktische Vollständigkeit voraus, da auch elliptische Formen wie z. B. Aus den Augen, aus dem Sinn in funktionaler Hinsicht als vollständig zu bewerten sind. Redewendungen wie blinder Passagier hingegen bilden als „satzgliedwertige Phraseologismen“ lediglich „Teile von Aussagen“ (Lüger 1999, S. 54) oder ‘lückenhafte Aussagen’, bei denen noch eine Leerstelle konkretisiert werden 2 Für ausführlichere Informationen zur Artikelstruktur und zu den hier nicht erläuterten lexikografischen Angaben vgl. Steyer / Durčo (2009). 3 Für ausführlichere Informationen zur Erarbeitung der Lemmaliste vgl. Steyer (in diesem Band). Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 317 muss (z. B. ‘jemandem platzt der Kragen’) und sind somit nicht Teil unseres Sprichwortkonzepts. 1.2 Korpusmethodik Die lexikografischen Artikel der Datenbank - und somit auch die nachstehenden Ausführungen zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch - basieren auf der Auswertung von Belegen aus dem Deutschen Referenzkorpus (De- ReKo). Letzteres enthält insgesamt über 4,1 Milliarden Wörter 4 und wurde mit Hilfe komplexer Suchanfragen systematisch nach den ausgewählten 300 Sprichwortlemmata durchsucht. 5 Die Anzahl der Korpusbelege, die durch diese Suchanfragen ermittelt wird, kann von Sprichwort zu Sprichwort jedoch sehr unterschiedlich sein. Dementsprechend enthält unsere Lemmaliste sowohl Sprichwörter, für die Korpusbelege im vierstelligen Bereich vorliegen, als auch solche Sprichwörter, für die eine vergleichsweise geringe Anzahl von Belegen zur Verfügung steht. Alle 300 Lemmata sind aber im Korpus nachweisbar - dies war eine zentrale Bedingung bei der Erstellung der Liste. Unabhängig davon, ob es sich um hochfrequente oder weniger frequente Sprichwörter handelt, haben aber jeweils nur solche Aspekte Eingang in die lexikografische Beschreibung gefunden, die im Korpus mit einer gewissen Rekurrenz auftreten. Durch die geschilderte Vorgehensweise wurde die Idee verwirklicht, „eine große Auswahl von deutschen Sprichwörtern, die in Wörterbüchern und Lehrwerken verzeichnet sind, auf ihren aktuellen Korpusgebrauch hin zu überprüfen“ (Steyer 2010, S. 256). Inwiefern somit „vor allem auch ein Fortschritt in der Beschreibung situativer und pragmatischer Gebrauchsbedingungen“ (ebd., S. 257) erzielt werden konnte, wird anhand der nachstehenden Ausführungen zu den Artikelangaben ‘Bedeutung(en)’ und ‘Gebrauchsbesonderheit(en)’ ersichtlich werden. 6 4 DeReKo bildet damit „die weltweit größte linguistisch motivierte Sammlung elektronischer Korpora mit geschriebenen deutschsprachigen Texten aus der Gegenwart und der neueren Vergangenheit“ (Programmbereich Korpuslinguistik). 5 Die Korpora wurden mit Hilfe des am IDS Mannheim entwickelten Korpusrecherche- und -analysesystems COSMAS II (vgl. Projekt ‘COSMAS II’) durchsucht. Für nähere Informationen zu den verwendeten Suchanfragen vgl. Steyer (2010, S. 256f.; und in diesem Band). 6 Die korpusbasierte Untersuchung von Sprichwörtern ist auch in anderen Zusammenhängen durchaus vielversprechend. Vgl. z. B. Durčo (2005, S. 60f.). Katrin Hein 318 2. Sprichwortbedeutung und -gebrauch - korpusbasiert Für jedes Sprichwort im Kontext gilt es drei Aspekte zu beachten: seine Heterosituativität, seine Polyfunktionalität und seine Polysemantizität (Mieder 2006, S. 18). Ohne diese von Mieder formulierten Sprichwortcharakteristika außer Acht zu lassen - sie werden in Kapitel 2.2 eine entscheidende Rolle spielen -, hat sich im Rahmen unserer lexikografischen Praxis die Grundidee bestätigt, dass für jedes Sprichwort ein allgemeiner, fester Bedeutungskern auszumachen ist, der in allen Verwendungen eines Sprichworts zugegen ist. Dieser ist unabhängig von situativen, funktionalen oder semantischen Besonderheiten, die in bestimmten Gebrauchssituationen auftreten können und wird in der Artikelstruktur durch die Angabe ‘Bedeutung(en)’ erfasst (siehe Kapitel 2.1). Dies bedeutet aber nicht, dass die grundsätzliche Variabilität der Sprichwortbedeutung, d. h. ihre mögliche Abhängigkeit von der konkreten Gebrauchssituation, in unserer Konzeption verkannt wird. „Die sich abwechselnden Funktionen bzw. Deutungen von Sprichwörtern im jeweiligen Zusammenhang“ (Umurova 2005, S. 35) subsumieren wir - im Gegensatz zu Umurova - hingegen nicht unter dem Begriff der Bedeutung, sondern grenzen sie als gebrauchsspezifische Aspekte der Sprichwortverwendung von der eigentlichen Kernbedeutung ab. Die Artikelstruktur wird dieser Unterscheidung durch die Ansetzung einer separaten Angabe ‘Gebrauchsbesonderheit(en)’ gerecht (siehe Kapitel 2.2). 7 Die folgenden Ausführungen werden zum einen zeigen, inwiefern anhand der Korpusbelege für bestimmte Aspekte darüber entschieden werden kann, ob sie unmittelbar zur Kernbedeutung eines Sprichworts gehören oder als Gebrauchsbesonderheit aufzufassen sind. In diesem Zusammenhang wird deutlich werden, dass eine solche Unterscheidung in manchen Fällen alles andere als trivial ist. Zum anderen wird darauf abgezielt, das breite Spektrum von Bedeutungen und Gebrauchsbesonderheiten, über das Sprichwörter potenziell verfügen können, zu illustrieren. 7 Im Verlauf wird aber noch deutlich werden, dass die Verwendung einiger Sprichwörter untrennbar mit einer bestimmten Funktion oder Konnotation verbunden ist. In diesen Fällen sind die entsprechenden funktionalen oder konnotativen Aspekte Teil der Bedeutungsbeschreibung und fallen nicht unter die Gebrauchsbesonderheiten. Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 319 2.1 Bedeutung Zur Erfassung ihres inhärenten semantischen Kerns werden die Sprichwörter bewusst von „ihrer unmittelbaren Zweckhaftigkeit […] entbunden“ (Umurova 2005, S. 35), was jedoch keineswegs einer Betrachtung losgelöst vom jeweiligen Kontext gleichkommt. Vielmehr erfolgt die Formulierung einer allgemeinen Bedeutungsparaphrase auf der Basis der Korpusbelege: Nach der Durchsicht der relevanten Textstellen wird versucht, einen verallgemeinerbaren Bedeutungskern zu erfassen, der sich in allen Belegen (wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung) manifestiert. Die Bedeutungserklärungen wurden, wie im Beschreibungsmodell gefordert, also „primär nicht aus den Wörterbüchern übernommen, sondern - da wo möglich - auf der Grundlage der Korpusbelege oder anderer Quellen erarbeitet […]“ (Steyer / Durčo 2009, S. 5). Ein Rückgriff auf ‘andere Quellen’ oder Wörterbücher erfolgte allerdings nur in Ausnahmefällen, z. B. wenn die Beleglage insofern schwierig war, als eine extrem inkonsistente Verwendung des Sprichworts im Korpus, meist einhergehend mit einer geringen Frequenz, die Formulierung eines allgemeinen semantischen Kerns unmöglich machte. 8 Anhand ausgewählter Beispiele aus unserer Datenbank soll nun illustriert werden, welche Aspekte und Probleme im Rahmen einer korpusbasierten Erfassung der Sprichwortbedeutung eine Rolle spielen können. 2.1.1 Lexikografische Beispiele (1): Klar erfassbarer semantischer Kern Unsere Lemmaliste enthält eine Vielzahl von Wortverbindungen, deren semantischer Kern sich nach der Sichtung der Korpusbelege relativ klar erfassen lässt. Dies trifft z. B. auf das Sprichwort Die Zeit heilt alle Wunden zu, für das die folgende Bedeutungsparaphrase formuliert wurde: Sagt man dafür, dass schmerzhafte Gefühle oder die Erinnerung an negativ Erlebtes mit wachsendem zeitlichem Abstand in der Regel nachlassen. 9 Verwendungen wie im folgenden Beispielbeleg sind im Korpus gang und gäbe und bilden die Basis für die oben angeführte Paraphrase: 8 Auf einige kompliziertere Fälle wird im Verlauf dieses Unterkapitels noch eingegangen. Für den Großteil der Sprichwörter unserer Lemmaliste war es jedoch möglich, die Kernbedeutung auf der Basis der Korpusbelege zu formulieren. 9 Die in diesem Beitrag verwendeten Bedeutungsparaphrasen sind Teil der Deutschen Sprichwortdatenbank (vgl. Steyer / Hein 2010) und werden hier zum Teil in ihrer Originalformulierung wiedergegeben, die vor allem auf die Bedürfnisse von Deutschlernern abgestimmt wurde. Katrin Hein 320 (1) In der Ausbildung ist Walter ein Lebensmüder vor den Zug gesprungen. Er hat ihn wegen des breiten Vorbaus der Lok kaum gesehen, aber das Erlebnis saß tief. „Irgendwann ging es, die Zeit heilt alle Wunden, 10 wie man so schön sagt.“ Es bleibt das Hoffen, dass es nie wieder passiert. (B07/ AUG.55608 Berliner Zeitung, 11.08.2007; Martin Walter fährt - morgens, mittags, abends, nachts) 11 Zugleich ist (1) beispielhaft für eine Gebrauchssituation, in der mit der Verwendung von Die Zeit heilt alle Wunden kein konkretes kommunikatives Ziel verfolgt wird. Demgegenüber zeigt (2), dass mit dem Sprichwort auch bestimmte pragmatische Aspekte verknüpft sein können, die in Kapitel 2.2 noch ausführlicher thematisiert werden: (2) Einfach nicht daran denken. Das hatte ihr über die letzten Monate hinweggeholfen, als sie sich so wund fühlte, als hätte man sie mit dem Henkersgaul durch die Stadt geschleift. [...] Die Zeit heilt alle Wunden, hatte Stefana, ihre Zofe und Vertraute in dieser schwierigen Zeit, immer gesagt. (QRHZ08/ JAN.11249 Rhein-Zeitung, 15.01.2008; Kaum allein, warf sie die Gazette ...) In diesem Fall wird mit der Äußerung des Sprichworts ein konkretes kommunikatives Ziel, genauer gesagt der Ausdruck einer Ermutigung, verfolgt. Solche pragmatischen Aspekte sind aber nicht unlösbar mit diesem Sprichwort verbunden. Mit anderen Worten: Sie spielen nicht bei jeder Verwendung eine Rolle. Da der Großteil der Korpusbelege vielmehr keine derartigen pragmatischen Aspekte aufweist, wird die kommunikative Funktion der Ermutigung im lexikografischen Artikel als ‘Gebrauchsbesonderheit’ aufgeführt, findet aber keinen Eingang in die Formulierung des Bedeutungskerns. Zudem zeigt (2), dass durch die formulierte Bedeutungsparaphrase tatsächlich der semantische Kern des Sprichworts erfasst wird. Schließlich ist die Kernbedeutung auch in dieser Verwendung zugegen, hier ist mit der Äußerung des Sprichworts nur zusätzlich eine bestimmte kommunikative Absicht verknüpft. Es ist jedoch nicht zwangsläufig der Fall, dass pragmatische Aspekte nicht fest in der Kernbedeutung verankert sind. Vielmehr muss mit Steyer / Lauer / Brunner (2008) zwischen „verwendungsspezifische[n] Komponenten, die konstitutiv für die Bedeutung einer Wortverbindung sind“, und solchen, „die 10 Hervorhebung hier und im Folgenden durch mich (K.H.). 11 Zitiert nach COSMAS II (vgl. Projekt ‘COSMAS II’) und DeReKo (vgl. Programmbereich Korpuslinguistik). Dies gilt für alle im Rahmen dieses Beitrags verwendeten Korpusbelege. Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 321 eine Wortverbindung kontextuell und situativ spezifizieren bzw. ausdifferenzieren“ (ebd., S. 113), unterschieden werden. Während es sich bei dem Ermutigungsaspekt im Fall von Die Zeit heilt alle Wunden um eine „situative Gebrauchsspezifik“ handelt, die zum Bedeutungskern hinzutreten kann, lässt sich anhand der Korpusbelege für das Sprichwort Die Ratten verlassen das sinkende Schiff eine „bedeutungsinhärente Gebrauchsspezifik“ (ebd.) konstatieren. Letztere ist direkt mit der Bedeutung verknüpft und wird in unserer Datenbank mit Hilfe eines Kommentars erfasst, der als Erweiterung zur Bedeutungsparaphrase hinzutritt: Sagt man, wenn sich Verantwortliche bei von ihnen mitverschuldeten negativen Entwicklungen oder Schwierigkeiten zurückziehen und sich damit aus der Verantwortung stehlen. Kommentar: Mit diesem Sprichwort wird immer eine Kritik am Verhalten der Verantwortlichen ausgedrückt. Die Bedeutung kann also nicht adäquat wiedergegeben werden, ohne auf die Kritik Bezug zu nehmen, die in jeder Äußerungssituation mit dem Sprichwort ausgedrückt wird. (3) illustriert diese spezifische Eigenschaft: (3) [...] dem Klub droht der Zerfall. Die Spieler haben sich aufgegeben, obwohl noch neun Spiele zu absolvieren sind. […] Goalie Robert Enke und Stürmer Markus Feldhoff haben schon ihren Abschied verkündet, die Fans dankten es ihnen mit dem Spruchband: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff “. (K99/ APR.25022 Kleine Zeitung, 14.04.1999, Ressort: Sport; Die Ratten verlassen das sinkende Gladbach-Schiff) Die feste Verankerung dieser pragmatischen Gebrauchsbeschränkung in der Kernbedeutung wird noch offensichtlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass man mit dem Sprichwort wohl kaum eine Situation beschreiben würde, in der sich jemand von einer Sache zurückzieht, an deren negativem Verlauf er überhaupt nicht beteiligt war. Vielmehr scheint die Verwendung an die Bedingung geknüpft zu sein, dass der sich Zurückziehende als mitverantwortlich für die negative Entwicklung bestimmter Dinge betrachtet wird. Eine ähnlich abwertende Komponente als inhärenter Bedeutungsbestandteil lässt sich anhand der Korpusbelege auch für Außen hui, innen pfui feststellen. Letzteres gehört zu der - wenn auch kleinen - Gruppe unserer Lemmata, die im Korpus ausschließlich mit einer negativen Konnotation, d. h. einhergehend mit einer negativen Kritik, verwendet werden. Dies schlägt sich in der lexikografischen Beschreibung der Bedeutung wie folgt nieder: Sagt man leicht abwertend, wenn etwas oder jemand an der Oberfläche gut oder vielversprechend erscheint, bei genauerer Betrachtung aber nicht ist. Katrin Hein 322 Kommentar: Das Sprichwort wird in den Korpusbelegen nie wertfrei, sondern immer leicht abwertend gebraucht: Mit dieser Verwendungsweise ist die Kritik verbunden, dass sich jemand häufig nur darum kümmert, wie etwas an der Oberfläche aussieht und dabei andere zentrale Dinge vernachlässigt. Dieser Bedeutungsbeschreibung liegt die Beobachtung zugrunde, dass das Korpus keine Belege für einen neutralen oder gar positiven Gebrauch des Sprichworts enthält, sondern nur negativ konnotierte Verwendungen wie die folgende: (4) Der Schulwart [...] weiß ein Lied von den Zuständen in seiner Schule zu singen. Die Fassade wurde bereits renoviert. Aber außen hui, innen pfui: Die Duschen mußten vor etwa neun Monaten gesperrt werden, Fliesen fielen von den Wänden, [...] Wasserabflüsse waren verstopft - 1 000 Schüler können sich nach dem Turnunterricht nicht duschen. (P91/ SEP.02018 Die Presse, 21.09.1991; 30 Gymnasien harren der Sanierung) Die Kommentare innerhalb der Angabe ‘Bedeutung’ fungieren jedoch nicht nur zur Formulierung von pragmatischen Besonderheiten. Sie werden beispielsweise auch genutzt, um auf Phänomene (z. B. Naturphänomene) zu verweisen, die einem Sprichwort zugrunde liegen. 12 Solche Hinweise liefern die Korpora beispielsweise für Stille Wasser sind tief, das in seiner Kernaussage darauf anspielt, dass schüchtern und zurückhaltend wirkende Personen mitunter Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen zeigen, die man ihnen aufgrund ihrer Unscheinbarkeit nicht zugetraut hätte. Das Naturphänomen, auf das hier angespielt wird, wurde auf der Basis entsprechender Korpusbelege wie folgt kommentiert und somit in die lexikografische Beschreibung integriert: Das Sprichwort spielt auf das folgende Phänomen an: „Ein Fluss ist an den oberflächlich ruhigsten Stellen am tiefsten - dort wenig erforscht, vielleicht gefährlich. Dagegen verrät eine unruhige Wasseroberfläche, dass direkt darunter relativ sicherer Grund liegt.“ (Rhein-Zeitung, 18.02.2008; Nachgedacht von Beate Heinen) 12 Die häufige Erwähnung solcher Phänomene in den Korpusbelegen ist Bedingung für deren Aufnahme in den lexikografischen Artikel. Die Etymologie von Sprichwörtern spielt in unserer synchronen, korpusbasierten Untersuchung keine Rolle. Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 323 2.1.2 Lexikografische Beispiele (2): Schwierigkeiten bei der Erfassung des semantischen Kerns Im Vorhergegangenen wurde anhand einiger relativ unproblematischer Fälle ein Einblick in die Bedeutungsnuancen von Sprichwörtern gegeben. Allerdings ist die Erfassung des semantischen Kerns - und dies gilt nicht nur für wenige Einzelfälle - teilweise alles andere als trivial. Vielmehr hat die lexikografische Praxis gezeigt, dass sich die Bedeutungsbeschreibung in den meisten Fällen deutlich anspruchsvoller und komplizierter gestaltet als die Erfassung von Gebrauchsbesonderheiten, auf die im nächsten Unterkapitel genauer eingegangen wird. Im Folgenden wird am Beispiel von Lege nicht alle Eier in einen Korb und Nachts sind alle Katzen grau veranschaulicht, mit welchen Problemen und mitunter schwierigen Entscheidungen man im Rahmen einer korpusbasierten Bedeutungsbeschreibung konfrontiert sein kann. Lege nicht alle Eier in einen Korb wird in der Datenbank wie folgt umschrieben: Sagt man dafür, dass man bestimmte Risiken oder Möglichkeiten immer auf mehrere Instanzen verteilen sollte, um sich sicherheitshalber mehrere Alternativen offenzuhalten. Die Bedeutung konnte aber nur in dieser allgemeinen Form wiedergegeben werden, indem von den tatsächlichen Verwendungen im Korpus abstrahiert wurde. Eine Verallgemeinerung war insofern notwendig, als die Korpusrecherche fast ausschließlich Verwendungen des Sprichworts in der Domäne ‘Finanzen’ lieferte (siehe (5)) und somit keine Belege für seinen allgemeineren Gebrauch zur Verfügung standen. (5) Ein amerikanisches Sprichwort sagt: ‘Lege nicht alle Eier in einen Korb.’ Wer sein Vermögen auf ein Pferd setzt, verspielt schnell Haus und Hof. Das gilt nicht nur beim Eierkauf oder Pferderennen, sondern auch an der Börse. In Aktienfonds versuchen die Anleger daher das Risiko auf verschiedene Wertpapiere zu verteilen. (SPK/ J99.00454 spektrumdirekt, 23.08.1999; Aktienkurse im Eiertanz) Einerseits ist dieser Korpusausschnitt beispielhaft für die spezifische Beleglage, mit der man bei der Beschreibung von Lege nicht alle Eier in einen Korb konfrontiert ist. Andererseits zeigt er aber auch, dass die formulierte allgemeine Bedeutung auch auf die im Korpus dominante domänengebundene Verwendung des Sprichworts zutrifft. Katrin Hein 324 Wie schlägt sich eine derartige Belegsituation im lexikografischen Artikel nieder? Erstens werden wir dem geschilderten Problem, wie bereits erwähnt, dadurch gerecht, dass bei der Formulierung der Bedeutungsparaphrase von der sehr speziellen Beleglage abstrahiert wird. Diese Vorgehensweise darf natürlich nicht unkommentiert bleiben, sondern wird durch einen entsprechenden Kommentar kenntlich gemacht, in dem darauf hingewiesen wird, dass das Sprichwort in den Korpusbelegen so gut wie nie in allgemeineren Kontexten, sondern fast ausschließlich in der Domäne ‘Finanzen’ verwendet wird. Zugleich wird diese auffällige Domänengebundenheit des Sprichworts als Gebrauchsbesonderheit in die lexikografische Beschreibung integriert. 13 Auch für Nachts sind alle Katzen grau kann anhand der Korpusbelege nicht ohne Schwierigkeiten auf den semantischen Kern geschlossen werden. Da das Sprichwort im Korpus relativ heterogen verwendet wird, die Komponente nachts häufig wörtlich verstanden und das Sprichwort somit häufig auf Dunkelheit oder eine bestimmte Tageszeit bezogen wird, musste auch hier abstrahiert werden, um zu dieser allgemeinen Bedeutungsbeschreibung zu gelangen: Sagt man dafür, dass eigentlich unterschiedliche Dinge oder Menschen unter bestimmten Bedingungen gleich erscheinen. Im Gegensatz zu Lege nicht alle Eier in einen Korb führen die Suchanfragen hier aber immerhin zu vereinzelten Belegen, in denen das Sprichwort in einem allgemeineren Sinne verwendet und nicht nur auf das Gleich-Erscheinen bei Dunkelheit bezogen wird: (6) Der Volksmund sagt: [...] „Bei Nacht sind alle Katzen grau.“ Liest man die Nachrichten über den SPD-Parteispenden-Skandal in Köln, könnte man in diesen Äußerungen des althergebrachten Volksmundes glatt den aktuellsten Kommentar sehen: Die Parteien können es einfach nicht lassen - und sie sind alle gleich. Gleich schlecht. (Z02/ 202.01301 Die Zeit (Online-Ausgabe), 28.02.2002; Geld stinkt nicht) 13 Natürlich stellt sich an dieser Stelle die sicherlich nicht unberechtigte Frage, wieso die auf die Domäne ‘Finanzen’ beschränkte Verwendung des Sprichworts nicht als Kernbedeutung, sondern als Gebrauchsbesonderheit aufgefasst wird. Diese Entscheidung resultiert aus dem Bestreben, in der Bedeutungsparaphrase einen verallgemeinerbaren semantischen Kern zu erfassen und basiert nicht zuletzt auf der eigenen Sprachintuition. Dieses Beispiel zeigt, dass auch die Korpusbelege - zumindest für sich genommen - nicht in allen Fällen ausreichen, um ein Sprichwort adäquat zu beschreiben, sondern dass „die deutende und interpretierende Hand des Linguisten [...] für viele Zwecke letztlich immer unabdingbar [bleibt]“ (Steyer 2004, S. 90). Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 325 Dennoch darf die frequente Verwendung des Sprichworts in Bezug auf Dunkelheit oder eine bestimmte Tageszeit natürlich nicht ignoriert werden; sie wird als Gebrauchsbesonderheit in den lexikografischen Artikel integriert. Insgesamt handelt es sich hier, genau wie bei Lege nicht alle Eier in einen Korb, um ein gutes Beispiel dafür, dass die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Gebrauchsbesonderheit mitunter keine triviale Angelegenheit ist. 2.1.3 Lexikografische Beispiele (3): Semantische Heterogenität des Sprichwortinventars Abschließend sei noch auf zwei Beobachtungen verwiesen, die die Vermutung nahelegen, dass innerhalb der von uns untersuchten Lemmata verschiedene Großgruppen von ‘Bedeutungstypen’ existieren. 14 Schließlich enthält unsere Lemmaliste neben den bisher betrachteten Fällen auch einige Sprichwörter, für die keine generelle Aussage oder abstrakte Moral formuliert werden kann. Es handelt sich dabei um Wortverbindungen wie Totgesagte leben länger, die sich vor allem durch ihre Kommentarhaftigkeit auszeichnen: Sagt man, wenn Menschen oder Dinge, die man für gescheitert oder für wenig Erfolg versprechend hielt, dennoch erfolgreich sind. (7) Totgesagte leben länger: Das gilt auch für Mountainbikes. Mehrmals wurde den [...]rädern ein sanftes Hinscheiden prophezeit. Doch die Branche ist quicklebendig. (I98/ MAR.09144 Tiroler Tageszeitung, 06.03.1998, Ressort: Tourentips; Cross Country, Downhill oder Freeride? Die Qual der Wahl) Daher kann die Bedeutung in diesen Fällen nicht beschrieben werden, ohne den Kommentarcharakter sowie die Bezogenheit auf bestimmte Situationen zu erwähnen. Dieser Beobachtung werden wir in unseren Artikeln durch die bewusste Verwendung der Formulierung ‘Sagt man wenn’ gerecht (im Gegensatz zu dem überwiegend verwendeten ‘Sagt man dafür’). Die Formulierung einer allgemeingültigen Aussage, die die Situationsbezogenheit außer Acht lässt, wäre im Fall von Totgesagte leben länger hingegen nicht zutreffend: *Sagt man dafür, dass Dinge oder Menschen, die man für gescheitert oder für wenig Erfolg versprechend hielt, (in der Regel) dennoch erfolgreich sein werden. 14 Vielleicht könnte man sogar so weit gehen, allgemein zu postulieren, dass das deutsche Sprichwortrepertoire in semantischer Hinsicht keine völlig homogene Gruppe bildet, sondern dass Sprichwörter in Abhängigkeit ihres ‘Aussagetyps’ in verschiedene Gruppen eingeteilt werden können. Katrin Hein 326 Vielmehr scheint der Geltungsbereich dieses Sprichworts (und anderer Vertreter dieser Gruppe) deutlich eingeschränkter zu sein als bei Sprichwörtern vom Typ Die Zeit heilt alle Wunden. Dies ist die erste aus der korpusbasierten Bedeutungsbeschreibung hervorgegangene Feststellung, die auf eine möglicherweise ‘grobsemantische Heterogenität’ des Sprichwortinventars hindeutet. Auch eine zweite Beobachtung deutet in diese Richtung: Auf der einen Seite gibt es Sprichwörter mit inhärenter lehrhafter Tendenz, die in Bezug auf das eigene Handeln konkrete Ratschläge oder Hinweise geben, z. B. In der Ruhe liegt die Kraft: Sagt man dafür, dass man mit Gelassenheit und bedachtem Vorgehen oft mehr erreichen kann als mit überstürztem Handeln oder hektischer Betriebsamkeit. Andere Sprichwörter - auf der anderen Seite - enthalten keine derartigen Ratschläge, sondern haben eher den Charakter einer Beobachtung und dienen vor allem dazu, bestimmte Sachverhalte oder das Verhalten anderer Personen einzuordnen, z. B. Getroffene Hunde bellen: Sagt man dafür, dass die heftige Reaktion auf eine Kritik zeigt, dass diese nicht ganz unberechtigt ist und der Angesprochene durch die entsprechende Gegenwehr unfreiwillig deutlich macht, dass er dies auch so verstanden hat. Während Sprichwörter des Typs In der Ruhe liegt die Kraft im Sinne Burgers also „Anweisungen für das Handeln“ sind, haben wir es bei Sprichwörtern vom Typ Getroffene Hunde bellen eher mit Anweisungen für „Deutungen des Handelns in den von ihnen modellierten Situationen“ (Burger 2010, S. 107) zu tun. Nach diesen Ausführungen zur lexikografischen Angabe ‘Bedeutung’ wird im Folgenden auf sogenannte Gebrauchsbesonderheiten von Sprichwörtern eingegangen. Im Mittelpunkt wird auch hier die Frage stehen, wie solche Aspekte mit Hilfe von Korpora erfasst werden können. 2.2 Gebrauchsbesonderheiten Die lexikografische Angabe ‘Gebrauchsbesonderheit(en)’ informiert über die „kontextuell situative Gebrauchsspezifik“ eines Sprichworts, die - wie in Kapitel 2.1.1 bereits erwähnt - von seiner „bedeutungsinhärente[n] Gebrauchsspezifik“ (Steyer / Lauer / Brunner 2008, S. 114) zu trennen ist. Die Untersuchung „kontextabhängige[r] Bedeutungsanteile“ (Bußmann (Hg.) 2008, S. 550) fällt in den Gegenstandsbereich der Pragmatik. Daher werden wir durch die Erfassung von Gebrauchsbesonderheiten der besonders im Hin- Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 327 blick auf die Zielgruppe ‘Fremdsprachenlerner’ zentralen Forderung gerecht, dass „bei der Erläuterung von Sprichwörtern [...] in vielen Fällen [...] pragmatische Hinweise nötig [sind]“ (Kispál 1999, S. 243). Mit einer pragmatischen Perspektive auf Wortverbindungen sind u. a. die folgenden Fragen verknüpft: „Wer verwendet eine Wortverbindung wem gegenüber in welcher Situation mit welcher Intention? “ „Welche Verwendungsbedingungen und -beschränkungen gibt es für den Gebrauch einer Wortverbindung? “ „Worin besteht [...] der kommunikative Sinn einer Wortverbindung? “ (Steyer / Lauer / Brunner 2008, S. 111f.). Große Textkorpora eignen sich in besonderem Maße zur Erfassung solcher „konnotativen und pragmatischen Aspekte, die in den Korpusbelegen häufig zu beobachten sind, aber nicht auf alle Vorkommen des Sprichworts verallgemeinerbar sind“ (Steyer / Durčo 2009, S. 7). Indem hinsichtlich der Beschreibungssprache unserer Artikel gezielt zwischen den Formulierungen ‘häufig’ und ‘in bestimmten Korpusbelegen’ unterschieden wird, kann dem Benutzer der Datenbank zudem ein ungefährer Eindruck davon vermittelt werden, ob ein Gebrauchsaspekt ausgesprochen häufig im Korpus auftritt oder in den Korpusbelegen zwar rekurrent, aber vergleichsweise selten ist. Anhand der nachstehenden lexikografischen Beispiele wird ein Überblick über das Spektrum möglicher Gebrauchsbesonderheiten gegeben, mit dem man konfrontiert ist, wenn man „Sprichwörter in ihrer Gebrauchssituation“ (Röhrich / Mieder 1977, S. 80) untersucht. 2.2.1 Lexikografische Beispiele (1) : Kommunikative Funktion Da in Sprichwörtern Lehre, Tradition, Weisheit, Schärfe, Metaphorizität, praktische Lebenserfahrung, Indirektheit und Handlungsanweisung miteinander effizient korrelieren, eignen sie sich ohne Zweifel in besonderer Weise, um in Gebrauchskontexten die illokutive Funktion wahrzunehmen. Sprichwörter gelten deswegen auch als indirekte Sprechhandlungen (Umurova 2005, S. 167). Das illokutive Potenzial des Phänomens ‘Sprichwort’ wird im Folgenden illustriert, indem gezeigt wird, welche kommunikativen Funktionen es in der konkreten Kommunikationssituation übernehmen kann. Dem liegt die Annahme zugrunde, „daß ein Sprecher oder Schreiber mit der Produktion sprachlicher Äußerungen bestimmte Handlungen vollziehen und auf diese Weise ver- Katrin Hein 328 suchen kann, seine kommunikativen Ziele oder Bedürfnisse zu verwirklichen“ (Lüger 1999, S. 144). Da „ein und dasselbe Sprichwort [...] sehr verschiedene Funktionen übernehmen [kann], zum Beispiel als Lehre, Argument, Rechtfertigung, Vorschlag, Beweis usw.“ (Mieder 2006, S. 18), wird in der Sekundärliteratur auch von der Polyfunktionalität des Sprichworts gesprochen. Diese Eigenschaft wird auch anhand unserer korpusbasierten Untersuchung evident, da mit bestimmten Sprichwörtern im Korpus, je nach Gebrauchssituation, mehrere unterschiedliche kommunikative Ziele verfolgt werden können. Beispielsweise zeigen die Korpusbelege, dass mit Wir sitzen alle in einem Boot sowohl eine Mahnung als auch eine Ermutigung transportiert werden kann. Eine (er)mahnende Funktion (wie in (8)) übernimmt das Sprichwort immer dann, wenn zur Zusammenarbeit oder zum Zusammenhalt mit Menschen aufgefordert wird, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie der Adressat selbst: (8) Vor den zahlreichen Kommunalpolitikern und Abgeordneten [...] plädierte Beth für ein Raumnutzungskonzept, das Verbandsgemeinden und der Kreis gemeinsam erarbeiten müssten. „Wir sitzen alle in einem Boot “, mahnte der Landrat. (RHZ99/ OKT.15408 Rhein-Zeitung, 20.10.1999; Leere Kassen schmieden zusammen) Hier wird außerdem ersichtlich, dass die Korpusbelege auch ‘greifbare Indizien’ enthalten können, die unmittelbar auf die Realisierung einer bestimmten kommunikativen Funktion hindeuten. Besonders illokutive Verwendungen von Sprichwörtern gehen in den Korpusbelegen häufig mit der Verwendung bestimmter Schlüsselverben wie mahnen, ermutigen‚ auffordern usw. einher (siehe „mahnte der Landrat“ in (8)). In anderen Kontexten hingegen fungiert Wir sitzen alle in einem Boot als Ermutigung. In solchen Verwendungen wird mit dem Sprichwort darauf hingewiesen, dass jemand eine bestimmte Situation nicht alleine meistern muss, sondern sich auf den Rückhalt einer bestimmten Gruppe verlassen kann: (9) Ein vierzehnjähriger Hauptschüler aus Salzburg berichtet: „Dragan ist mein bester Freund; schade, daß ich ihn nie mit nach Hause nehmen darf, das wollen meine Eltern nicht! “ In dieser Schule sind sich die Kinder einig: „Wir sitzen alle in einem Boot “ - „Wir sind eine Gemeinschaft“ - „Zusammen sind wir stark und wir wollen von Mensch zu Mensch eine Brücke bauen! “ (N91/ NOV.22418 Salzburger Nachrichten, 30.11.1991; Ausländerkinder und die Schule) Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 329 Eine ganz ähnliche Doppelfunktionalität lässt sich anhand der Korpusbelege auch für Niemand ist unersetzlich beobachten. Hier wird im Kern ausgesagt, dass Aufgaben, die jemand lange Zeit oder mit Erfolg ausgeführt hat, auch erfolgreich von anderen Personen übernommen werden können. Zum einen kann mit dieser Kernaussage in bestimmten Verwendungen eine Drohung verbunden werden: (10) Edmund Stoiber [...] bezeichnete Merz zwar am Morgen noch hoch-freundlich als „Eckpfeiler [...]“, der nicht ersetzbar wäre, doch aus Merkel-nahen Kreisen kamen schon ganz andere Töne: „Niemand ist unersetzlich.“ Noch eine solche Nummer, so sollte wohl die Botschaft lauten, und für Merz ist es aus. (B03/ SEP.65811 Berliner Zeitung, 24.09.2003; Der Unruhestifter) Während dieses illokutive Potenzial relativ eng an die Kernbedeutung angelehnt ist, geht die ebenfalls beobachtbare Verwendung des Sprichworts als Ermutigung mit einer deutlich größeren Entfernung vom semantischen Kern einher. In solchen, der Ermutigung dienenden Gebrauchssituationen (siehe (11)) wird mit dem Sprichwort ausgedrückt, dass sich jemand trotz des Fehlens einer wichtigen Person keine Sorgen machen muss: (11) Gegen Jugoslawien war man [...] unterlegen - im Spiel eins nach dem Ausfall des Welthandballers Daniel Stephan [...]. „Niemand ist unersetzbar“, hatte Bundestrainer Heiner Brand versucht, die Mannschaft nach dem ersten Schock wieder aufzumuntern. (B99/ JUN.50873 Berliner Zeitung, 01.06.1999; Vulkanausbruch des Schweigsamen [S. 36]) Unsere Lemmaliste enthält jedoch auch Sprichwörter, die funktional deutlich weniger wandelbar sind. Beispielsweise wird anhand der Korpusbelege ersichtlich, dass Die Zeit heilt alle Wunden nur eine kommunikative Funktion übernehmen kann, nämlich die der Ermutigung (siehe Kapitel 2.1.1). Daher stimmen wir mit Umurova (2005) dahingehend überein, dass sich nicht alle Sprichwörter in gleicher Weise für die verschiedenen pragmatischen Funktionen eignen. Bestimmte Sprichwörter umfassen eine ganze Reihe von Funktionsmöglichkeiten und lassen sich demnach öfter einsetzen, während [...] andere nur eingeschränkte Funktionen wahrnehmen können (Umurova 2005, S. 166). Insgesamt ist anzunehmen, dass Sprichwörter zum Erreichen eines kommunikativen Ziels vom Sprecher ganz bewusst - oder zumindest nicht völlig unbewusst - eingesetzt werden. Katrin Hein 330 2.2.2 Lexikografische Beispiele (2): Verwendung als Titel Ebenso bewusst wird die Verbindung von sprachlicher Prägnanz und inhaltlicher Komplexität genutzt, wenn Sprichwörter als Titel verwendet werden, das heißt, wenn zur Betitelung von geistigen oder materiellen Produkten auf Sprichwörter zurückgegriffen wird. Diese Verwendungsweisen sind im Korpus durchaus frequent und können anhand der Belege (12), (13) und (14) beispielhaft illustriert werden: (12) „Rache ist süß“, findet Boulevardautor Donald Churchill und sorgt in seiner gleichnamigen Komödie für Turbulenzen, die das Liebes- und Eheleben ganz schön durcheinanderbringen. (O97/ APR.44309 Neue Kronen-Zeitung, 28.04.1997, S. 20 (13) Regisseur Sebastian Kautz [...] hat Shakespeares „Ende gut, alles gut“ neu übersetzt und in eine temporeiche Spielfassung gebracht. (T07/ NOV.03829 die tageszeitung, 24.11.2007, S. 31; Ende gut, alles gut) (14) Agnes Müller lebt seit dreissig Jahren im evangelischen [...]. Am liebsten spielt sie [...] Brettspiele, vor allem einer Partie „Eile mit Weile“ ist sie nie abgeneigt. (A07/ DEZ.07493 St. Galler Tagblatt, 17.12.2007, S. 33; Brettspiele und Wäscherei) Aufgrund ihrer bereits thematisierten sprachlichen Prägnanz ist der bewusste Einsatz von Sprichwörtern als Titel sicherlich nicht verwunderlich. 2.2.3 Lexikografische Beispiele (3): Bedeutungsaspekte Für bestimmte Lemmata lässt sich anhand der Korpusbelege die Realisierung von Bedeutungsaspekten beobachten, die nur in bestimmten Verwendungen des Sprichworts zugegen und dementsprechend von der Kernbedeutung abzugrenzen sind. Eine solche Gebrauchsbesonderheit liegt u. a. dann vor, wenn ein eigentlich metaphorisch gebrauchtes Sprichwort in seiner wörtlichen Bedeutung verwendet wird. Während Stille Wasser sind tief in seiner Kernbedeutung auf überraschende Verhaltensweisen schüchtern wirkender Personen anspielt (siehe Kapitel 2.1.1), wird das Sprichwort in bestimmten Korpusbelegen auf die messbare Tiefe von stillen Gewässern bezogen: (15) „Der einzige Nachteil an Schottland“, sagt Stefan Klos und schaut hinaus über den Loch Lomond: „Man kriegt hier nicht viel mit.“ Stille Wasser sind tief, an Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 331 diesem hier, dem tiefsten Großbritanniens, hat Klos sich niedergelassen. Mehr als 600 Meter, tiefer als die Nordsee. (F99/ 903.21357 Frankfurter Allgemeine, 27.03.1999; Stefan Klos und sein „bißchen Abenteuer für die ganze Familie“ Loch Lomond) Solche Sprachspiele, die aufgrund ihrer Vorhersehbarkeit sicherlich nicht überraschen, treten auch in den Korpusbelegen zu Nachts sind alle Katzen grau mit einer gewissen Rekurrenz auf. Die Sprichwortaussage, die sich hier im Kern auf das Gleich-Erscheinen bestimmter Dinge bzw. Menschen unter bestimmten Umständen bezieht (siehe Kapitel 2.1.2), wird in diesen Verwendungen, wie in (16), auf das Erscheinungsbild von Katzen bezogen: (16) „Nachts sind alle Katzen grau“, sagt ein altes Sprichwort. Für Laien mag das stimmen. Wer Katzen liebt, wer Katzen pflegt und hegt, weiß es besser. Ob bei Tag, ob bei der Nacht; jede Katze ist ein unverwechselbares Individuum, keine gleicht der anderen [...]. (RHZ97/ MAI.06161 Rhein-Zeitung, 12.05.1997; Schnurrende Schönheiten - auf dem Laufsteg) Neben solchen Wortspielen werden im Korpus auch weitere Aspekte von Bedeutung realisiert, die von Sprichwort zu Sprichwort allerdings sehr unterschiedlich sind. Sie sind aber insofern vergleichbar, als sie im weitesten Sinne als Spielarten, Verengungen, Erweiterungen oder Umdeutungen eines bestehenden Bedeutungskerns gelten können. Für Gleich und gleich gesellt sich gern wurde der folgende Bedeutungskern erfasst: Sagt man dafür, dass Menschen sich aufgrund von Gemeinsamkeiten zu Gruppen verschiedenster Art zusammenschließen oder gegenseitige Sympathie empfinden. Darüber hinaus finden sich im Korpus jedoch auch Verwendungen, in denen die Bedeutung wesentlich enger gefasst wird, indem das Sprichwort auf das Thema ‘Partnerschaft’ bezogen wird. Diese in der Datenbank als häufig ausgewiesene Gebrauchsbesonderheit kann durch (17) illustriert werden: (17) Allein in Deutschland sollen rund 9,8 Millionen Menschen das Internet nutzen, um Kontakte zu knüpfen. [...] Dabei gilt: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Ähnliche Persönlichkeiten seien ein Fundament für eine glückliche Beziehung, bestätigen US-Forscher. Unfundiert und schlicht falsch sei hingegen die Volksweisheit, wonach sich Gegensätze - auf Dauer - anziehen. (M05/ MAR.16529 Mannheimer Morgen, 01.03.2005; Frauen sind glücklichere Singles) Katrin Hein 332 Außerdem zeigt sich anhand der Korpusbelege, dass in anderen Gebrauchssituationen ein zweiter Bedeutungsaspekt realisiert wird, der insofern als Erweiterung bzw. Spielart des Bedeutungskerns zu verbuchen ist, als das Sprichwort hier auf das Gruppenbildungsverhalten von Tieren bezogen wird: (18) Balzen ist in der Tierwelt zwar selten, tritt aber in vielen verschiedenen systematischen Gruppen auf. [...] gleich und gleich gesellt sich gern - viele Männchen stellen sich gleichzeitig auf demselben Balzplatz zur Schau. (SPK/ J99.00492 spektrumdirekt, 09.09.1999; Einer für alle, alle für einen) Im Korpus realisierte Gebrauchsbesonderheiten können sich aber auch wesentlich stärker als in den bisher betrachteten Beispielen von der Kernbedeutung eines Sprichworts unterscheiden. Dies lässt sich z. B. für Der frühe Vogel fängt den Wurm beobachten. Wie durch (19) illustriert wird, spielt die „dominierende Lesart“ (Steyer 2010, S. 260) darauf an, dass man sich durch besonders schnelles Handeln einen Vorteil gegenüber anderen verschaffen kann: (19) Der frühe Vogel fängt den Wurm. (Das bedeutet: Wer als Erster da ist, bekommt das Beste.) (B05/ APR.34053 Berliner Zeitung, 30.04.2005) In bestimmten Korpusbelegen wird das Sprichwort in einer Bedeutung gebraucht, die synonym zu Morgenstund hat Gold im Mund ist. In solchen Gebrauchssituationen (siehe (20)) wird ausgedrückt, dass etwas am Morgen einfacher und besser zu schaffen ist oder jemand etwas in der Frühe intensiver erleben bzw. genießen kann. (20) Morgenstund hat Gold im Mund, oder der frühe Vogel fängt den Wurm: Gemäß dieser unbestätigten Erkenntnisse stehen 29 Prozent der Bundesbürger vor 6 Uhr auf. Im EU-Durchschnitt sind es nur 15 Prozent. (T05/ MAR.04433 die tageszeitung, 23.03.2005, S. 7; Nicht genug Würmer) Insgesamt kann hier nur durch eine sehr sorgfältige Sichtung der Korpusbelege eine Entscheidung darüber getroffen werden, welcher der beiden Bedeutungsaspekte als Kern, und welcher als Gebrauchsbesonderheit zu verzeichnen ist. In diesem Zusammenhang muss vor allem abgewogen werden, welche Spielart der Bedeutung in den Korpusbelegen quantitativ dominiert. Das Spektrum möglicher gebrauchsgebundener Bedeutungsaspekte konnte an dieser Stelle nur beispielhaft illustriert werden. Dennoch sollte aber deutlich geworden sein, dass die Erfassung solcher Facetten ohne den Zugang zu einer großen Sammlung authentischer Sprachdaten in dieser Form kaum denkbar wäre. Allerdings gibt es für diese Fälle kaum verallgemeinerbare Indizien, die im Korpus automatisch auf die Realisierung bestimmter Bedeutungsaspekte Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 333 hindeuten. Ausschlaggebend ist hier vor allem das genaue Studium der Volltextbelege. Lediglich bestimmte Bedeutungsverengungen wie z. B. die häufige Verwendung von Gleich und gleich gesellt sich gern in Verbindung mit dem Thema ‘Partnerschaft’ können gegebenenfalls unmittelbar durch die Häufigkeit bestimmter Signalwörter erschlossen werden. 2.2.4 Lexikografische Beispiele (4): Sprichwortbewertungen Es wird freilich wohl immer schon so gewesen sein, dass die Wahrheit von Sprichwörtern nicht als eine absolute, sondern mindestens teilweise als eine relative aufgefasst wurde, relativ zu bestimmten Situationen, Lebensumständen usw. (Burger 2010, S. 113). Eine solche Einstellung gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Sprichwörtern manifestiert sich insofern auch in den von uns untersuchten Korpusbelegen, als die negative Bewertung oder das Anzweifeln der Sprichwortaussage zu den Gebrauchsbesonderheiten einiger Lemmata gehört. Die Belege (21) und (22) illustrieren, dass dies z. B. für Jeder ist seines Glückes Schmied gilt: (21) Jeder ist seines Glückes Schmied. Das Sprichwort stimmt nicht immer. Manche sind einfach zu schwach, um das Eisen im Feuer zu halten. (RHZ96/ DEZ.14277 Rhein-Zeitung, 23.12.1996; Nächstenliebe) (22) Jeder ist seines Glückes Schmied? Vielleicht, wenn dieser „Jeder“ weiß, männlich und gesund ist, die Staatsbürgerschaft hat, aus guten Verhältnissen stammt. Und nicht einmal das garantiert ein materiell sorgenfreies Leben. (NON08/ NOV.04785 Niederösterreichische Nachrichten, 10.11.2008, NÖN Großformat, S. 4; Zum Thema Sozialstaat) Diese Gebrauchsbesonderheit des Anzweifelns bzw. der negativen Beurteilung wird durch eine Beobachtung zur typischen textuellen Verwendung 15 der Wortverbindung untermauert, die auch in (22) vorliegt: Das Sprichwort wird in den Korpusbelegen häufig als Fragesatz verwendet, d. h. mit einem Fragezeichen markiert. Hier liegt also eine Entsprechung zwischen einer inhaltlichen Gebrauchsbesonderheit auf der einen und einer textuellen Verwendung, d. h. einer formalen Eigenschaft, auf der anderen Seite vor. Es handelt sich dabei um ein sehr gutes Beispiel dafür, dass die konkrete textuelle Einbettung des Sprichworts auch ein Indiz für das Vorliegen von Gebrauchsbesonderheiten sein kann. 15 Solche Aspekte des Sprichwortgebrauchs werden in unserer Artikelstruktur durch die Angabe ‘Typische Verwendung im Text’ erfasst. Für nähere Informationen zu dieser Angabe vgl. Steyer / Durčo (2009). Katrin Hein 334 Auch die Korpusbelege zu Eigenlob stinkt zeigen eine derartige Entsprechung zwischen inhaltlicher und textueller Verwendung. In inhaltlicher Hinsicht lässt sich beobachten, dass die Aussage des Sprichworts in den Korpusbelegen häufig angezweifelt wird: In Verwendungen wie in (23) wird darauf hingewiesen, dass es durchaus angebracht sein kann, sich selbst und seine Leistungen als positiv hervorzuheben oder sich selbst zu vermarkten: (23) Wenn wir gute Ergebnisse nicht beachten, sondern sie eher dem Zufall oder dem Entgegenkommen und der Rücksichtnahme anderer zuschreiben und sie dabei sogar abwerten, bringen wir uns um das Erfolgserlebnis. Wir sollten lernen, uns bei jedem Erfolg ausdrücklich leise oder still in Gedanken zu loben: „Das hast du wirklich gut gemacht.“ Solches Eigenlob stinkt nicht, es ist vielmehr unserem Verhalten förderlich. (FSP/ ANG.00000 Lückert, Heinz-Rolf: Angst und Panik, [Ratgeber]. - Niedernhausen/ Ts., 1993) Die feststellbare formale Entsprechung ist die häufige Verneinung des Sprichworts durch den Einschub von nicht (Eigenlob stinkt nicht), die ebenfalls durch den vorstehenden Beleg illustriert wird. Auch hier deutet die textuelle Verwendung des Sprichworts also auf das Vorliegen einer Gebrauchsbesonderheit hin. Darüber hinaus liefert unsere Untersuchung auch Evidenz für die im Eingangszitat konstatierte Relativität von Sprichwortaussagen zu bestimmten Situationen oder Lebensumständen. Im Fall von Die Zeit heilt alle Wunden zeigen die Korpusbelege beispielsweise deutlich, dass der Wahrheitsgehalt des Sprichworts besonders in einem bestimmten Kontext häufig angezweifelt wird, nämlich dann, wenn das Sprichwort in Verbindung mit gravierenden Erfahrungen wie z. B. dem Tod eines nahestehenden Menschen verwendet wird: (24) Die Trauerpädagogin [...] leitet seit Jahren die [...] Arbeitsgruppe „Trauerbegleitung“ [...]. Sie trägt Fragen zusammen, die an sie gestellt wurden und versucht, eine Antwort zu geben, weg von den Stereotypen „es tut mir leid“ oder „die Zeit heilt alle Wunden.“ (RHZ99/ NOV.22247 Rhein-Zeitung, 29.11.1999; Begleitung durch die Trauer) (25) Ein Seminar zur Begleitung trauernder Angehöriger beginnt am Dienstag [...] Warum ein solches Seminar? Es heißt doch, die Zeit heilt alle Wunden. Nur zu oft stimmt dieses nicht. (RHZ02/ MAI.15638 Rhein-Zeitung, 23.05.2002; Trauern bringt - Lebendigkeit) Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 335 2.2.5 Lexikografische Aspekte (5): Domänengebundenheit und Textspezifik Abschließend soll eine Facette der Gebrauchsbesonderheiten betrachtet werden, für die im Gegensatz zu den funktional motivierten Verwendungen von Sprichwörtern nicht anzunehmen ist, dass sie dem Sprecher bzw. dem Schreiber bei der Verwendung bewusst ist. Es handelt sich bei der Domänengebundenheit oder Textspezifik von Sprichwörtern eher um Phänomene, die man im Nachhinein auf der Basis großer Textkorpora beobachten kann - auch wenn bestimmte ‘Verwendungspräferenzen’ natürlich nicht völlig zufällig oder willkürlich, sondern vielmehr auf das semantische Potenzial des jeweiligen Sprichworts zurückzuführen sind. Von Interesse sind hier„auffällige Gebundenheiten im Gebrauch der Wortverbindung in Bezug auf die kommunikative Situation im weitesten Sinne“ (Steyer / Lauer / Brunner 2008, S. 115), wie z. B. das häufige Vorkommen mancher Sprichwörter in bestimmten Domänen. Unsere DeReKo-Analysen haben in diesem Zusammenhang gezeigt, dass sich besonders die Sachgebiete ‘Politik’ und ‘Sport’ durch eine hohe Sprichwortdichte auszeichnen. Zu den Sprichwörtern, die in den Korpusbelegen häufig in der Domäne ‘Politik’ verwendet werden, gehören z. B. Der Fisch stinkt vom Kopf her oder Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Letzteres weist in seiner Kernaussage darauf hin, dass bestimmte Beobachtungen, Gerüchte oder Vermutungen nicht ohne Grund entstehen und sich daher oft als wahr erweisen oder zumindest einen wahren Kern haben: (26) Die Ökosteuereinnahmen dürften nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern genutzt werden, bekräftigte er. Das Bundesfinanzministerium verweist Fragen nach aufkommender Begehrlichkeit ins Reich der Phantasie. Doch wo Rauch ist, ist auch Feuer. Im Kanzleramt, so ist zu hören, werde darüber nachgedacht, ob sich über die Ökosteuer nicht die Mittel zur Finanzierung eines Niedriglohnsektors beschaffen ließen. (R99/ MAI.37195 Frankfurter Rundschau, 12.05.1999, S. 4, Ressort: Nachrichten; Grüne Ökosteuer-Pläne) Zu den Sprichwörtern, die in den Korpusbelegen durch ein auffälliges Vorkommen in der Domäne ‘Sport’ gekennzeichnet sind, gehören z. B. Knapp daneben ist auch vorbei oder Alte Liebe rostet nicht. Letzteres ist noch dahingehend zu spezifizieren, dass sein Vorkommen in der Domäne ‘Sport’ meist an das Thema ‘Comebacks’ gekoppelt ist: Katrin Hein 336 (27) Alte Liebe rostet nicht. Martina Navratilova kehrte nach fünfeinhalb Jahren Turnierpause wieder in den Tenniszirkus zurück. (P00/ MAI.19803 Die Presse, 25.05.2000, Ressort: Sport; Smash-Hit) (28) Alte Liebe rostet nicht - schon gar nicht im Automobilrennsport! Der lebende Beweis: Rallye-Evergreen Sepp Haider. Nach einem Jahr Pause feiert der 43jährige [...] morgen [...] die Rückkehr in die Staatsmeisterschaft. (O97/ APR.37178 Neue Kronen-Zeitung, 11.04.1997, S. 52) Die Kernaussage des Sprichworts - die Zuneigung oder Begeisterung für geliebte Dinge oder Menschen versiegt oft auch dann nicht, wenn jemand eigentlich nichts mehr mit diesen Dingen oder Menschen zu tun hat - wird also interessanterweise häufig auf das Sachgebiet ‘Sport’ bezogen. Solche Gebrauchsaspekte könnten ohne die Korpusabfragen nicht erfasst werden, auch wenn im Korpus meist keine direkten Indizien dafür enthalten sind. Die Domänengebundenheit eines Sprichworts muss daher größtenteils durch die Sichtung der Volltextbelege erfasst werden. Für manche Zeitungstexte liefert der Quellennachweis, der bei der COSMAS-Recherche zusammen mit dem Beleg exportiert wird, entsprechende Indizien, sofern hier das Ressort angegeben wird, aus dem der jeweilige Beleg stammt. Ähnliches gilt für die Anhaltspunkte, die auf die Affinität eines Sprichworts zu einer bestimmten Textsorte hindeuten können. Da DeReKo hauptsächlich aus „massenmedial verbreitete[n] Texte[n]“ (Steyer / Lauer / Brunner 2008, S. 115) besteht, können hier allerdings kaum Aussagen über präferierte Textsorten im üblichen Sinne - z. B. Roman, Gedicht, Zeitungsartikel - getroffen werden. Vielmehr wird aufgrund der Korpuszusammensetzung vor allem erfasst, in welchen Teilen von Zeitungen (z. B. Textart, Rubrik) bestimmte Sprichwörter rekurrent auftreten. Insgesamt ist dieses Phänomen in unserer Untersuchung, zumindest im Vergleich zu anderen Gebrauchsbesonderheiten wie der Übernahme von kommunikativen Funktionen, dem Auftreten bestimmter Bedeutungsaspekte oder der Domänengebundenheit, allerdings eher selten. 16 Auf einige Beobachtungen zur Textsortenspezifik wird an dieser Stelle aber dennoch verwiesen. Beispielsweise treten folgende Sprichwörter mit einer auffallenden Häufigkeit in Horoskopen auf: In der Ruhe liegt die Kraft Wer wagt, gewinnt 16 Dies könnte aber auch damit zusammenhängen, dass die Korpuszusammensetzung kaum Einblicke in die Verwendung von Sprichwörtern in einem unterschiedlichen Textsortenspektrum liefert. Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 337 Eile mit Weile (siehe (29)) Der Klügere gibt nach (siehe (30)) (29) Löwe 23.7.-23.8. „ Eile mit Weile“, lautet heute die Devise, denn es besteht aus kosmischer Sicht absolut kein Grund, sich zu überschlagen. Niemand hetzt Sie. (RHZ06/ JUN.22788 Rhein-Zeitung, 26.06.2006; Löwe 23) (30) Stier: Liebe: Gebundene sollten ein spezielles Angebot dankend ablehnen. Gesundheit: Geben Sie einer Sommererkältung keine Chance. Beruf / Finanzen: Der Klügere gibt nach. (I00/ MAI.29888 Tiroler Tageszeitung, 23.05.2000, Ressort: Allgemein; Horoskop Dienstag, 23. Mai) Über die Frage, warum ausgerechnet diese Lemmata in Horoskopen verwendet werden, kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden. Es könnte hier von Bedeutung sein, dass es sich um recht verbreitete, allgemein geläufige Sprichwörter handelt. Gemeinsam ist diesen vier Wortverbindungen in jedem Fall eine Kombination aus lehrhafter Tendenz und relativ konkreter Handlungsanweisung. 17 Ein weiteres Beispiel für eine auffällige Textsortenpräferenz ist das häufige Vorkommen von Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen im Rahmen von Leserbriefen. Da die Korpusbelege zeigen, dass mit diesem Sprichwort immer eine negative Wertung verbunden ist, und Leserbriefe ja häufig der Äußerung von Kritik dienen, ist diese Gebrauchsbesonderheit nicht überraschend. Dennoch hätte man aufgrund der Sprachintuition allein nicht unbedingt erahnen können, dass das Sprichwort häufig in textuellen Kontexten wie dem folgenden Verwendung findet: (31) Der überaus geschätzte Kollege Krause schreibt, daß man „im Tudelfunk gerade noch dazu bereit ist, auf die Werbeeinschaltungen zu verzichten“ - am Karfreitag nämlich. Auf Seite 1 der Karfreitagsausgabe Ihrer Zeitung fand ich jedoch unter dem Haupt des Gekreuzigten in Farbe abgedruckte Reklame. Bitte berücksichtigen Sie in Zukunft das Sprichwort: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Horst Ogris, Radio Kärnten (K97/ APR.25245 Kleine Zeitung, 05.04.1997, Ressort: Leserbriefe) In diesem Fall wird anhand der Quellenangabe ersichtlich, dass der Text aus einem Leserbrief stammt. Indizien dafür - wenn auch weniger direkte - sind zudem die Namens- und Ortsnennung am Ende des Belegs. 17 Wie in Kapitel 2.1.3 ausgeführt, trifft dies nicht auf alle Sprichwörter zu. Katrin Hein 338 Für das Sprichwort Alles hat seine Zeit zeigt sich anhand der Korpora ein auffallend frequentes Vorkommen in der Textsorte ‘Todesanzeigen’. Allerdings lässt sich dieser Aspekt des Gebrauchs ausschließlich in den IDS-Korpora aus Österreich und der Schweiz beobachten: (32) Alles hat seine Zeit: Jahrgang 1928 völlig überraschend, nach einem Herzversagen, zu sich in den ewigen Frieden heimgenommen. (V97/ JAN.02122 Vorarlberger Nachrichten, 09.09.1997, S. B4, Ressort: Familiennachricht/ Todesanzeige; Alles hat seine Zeit) 3. Schlussbetrachtung In der Sammlung ist das Sprichwort tot, und erst in der Gebrauchssituation zeigt es sich als äußerst anpassungsfähiges Sprechbild, dem keine definitiven Funktionswerte zugeschrieben werden können. In diesen immer wieder neuen Verwendungsmöglichkeiten liegt der Reiz des Sprichwortgebrauchs und seiner Erforschung. (Röhrich / Mieder 1977, S. 81) Da die hier konstatierte Vielfalt auch im Rahmen dieses Beitrags deutlich geworden ist, sind Sprichwörter „keineswegs“ als „ein zum Aussterben verdammtes Sprachphänomen“ (Burger 2010, S. 120) zu betrachten. Vielmehr unterstreicht unsere korpusbasierte Untersuchung, dass Sprichwörter „auch in der heutigen Sprachverwendung eine [...] wichtige Rolle [spielen]“ (ebd., S. 120). Schließlich konnten die 300 bearbeiteten Lemmata in der „weltweit größte[n] [...] Sammlung elektronischer Korpora mit geschriebenen deutschsprachigen Texten aus der Gegenwart und der neueren Vergangenheit“ (Programmbereich Korpuslinguistik) nachgewiesen werden - viele davon hochfrequent und mit einer Vielzahl formaler und funktionaler Varianten. Der vorliegende Beitrag hat jedoch nicht nur die Lebendigkeit und Vielseitigkeit des Phänomens ‘Sprichwort’ vor Augen geführt. Darüber hinaus wurde auch ersichtlich, wie bedeutsam die Heranziehung systematisch erhobener Korpusbelege für eine adäquate Beschreibung des Untersuchungsgegenstands ist. Schließlich wird somit nicht nur einer Übernahme veralteter, nicht mehr gebräuchlicher Sprichwortlemmata entgegen gewirkt, sondern auch die Tradierung von Bedeutungsparaphrasen vermieden, die im aktuellen Sprachgebrauch keine Gültigkeit mehr besitzen. Die Beschäftigung mit den sogenannten Gebrauchsbesonderheiten hat außerdem deutlich vor Augen geführt, dass die systematische Analyse von Korpusbelegen besonders dann von großer Zugang zu Sprichwortbedeutung und -gebrauch mit Hilfe von Korpora 339 Bedeutung ist, wenn es um die Erfassung von bedeutungsinhärenten oder situativen Gebrauchsspezifika geht: Gerade in Bezug auf den pragmatischen Mehrwert, der mit einer sprachlichen Äußerung verbunden sein kann, ermöglicht die Korpusanalyse gesicherte Aussagen, die über die individuelle Einzelwahrnehmung eines Sprechers hinausgehen. (Steyer / Lauer / Brunner 2008, S. 113). Aufgrund der ‘Einzelwahrnehmung eines Sprechers’ könnte beispielsweise nicht darüber entschieden werden, ob eine bestimmte Konnotation untrennbar an die Kernbedeutung eines Sprichworts gebunden oder nur in bestimmten Verwendungen des Sprichworts zugegen ist. Der korpusbasierte Zugang hingegen bietet diesbezüglich völlig andere Möglichkeiten, zumal die Gefahr, Überinterpretationen oder Übergeneralisierungen zu verfallen, durch die Auswertung großer Mengen authentischer Sprachdaten hier vergleichsweise gering ist. Zum Teil führte die systematische Auswertung von Korpusbelegen auch zu Ergebnissen, die gegenläufig zur eigenen Sprachintuition sind. Letzterer muss man als Linguist bei der Auswertung von Korpusbelegen mitunter „misstrauen“ (Steyer 2004, S. 90), um durch eine möglichst unvoreingenommene Betrachtungsweise zu einem semantischen sowie pragmatischen Mehrwert zu gelangen. Dies scheint umso bedeutsamer, wenn man sich vor Augen führt, dass ein angemessener Sprichwortgebrauch nur durch die Kenntnis entsprechender Verwendungsbeschränkungen, -bedingungen oder sonstiger Spezifika möglich ist. Literatur Burger, Harald (2010): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 4., neu bearb. Aufl. (= Grundlagen der Germanistik 36). Berlin. Bußmann, Hadumod (Hg.) (2008): Lexikon der Sprachwissenschaft. 4. Aufl. Stuttgart. Ďurčo, Peter (2005): Sprichwörter in der Gegenwartssprache. Trnava. Kispál, Tamás (1999): Sprichwörter unter dem Aspekt des Fremdsprachenlerners. In: Baur, Rupprecht S. / Chlosta, Christoph / Piirainen, Elisabeth (Hg.): Wörter in Bildern. Bilder in Wörtern. Beiträge zur Phraseologie und Sprichwortforschung aus dem Westfälischen Arbeitskreis. (= Phraseologie und Parömiologie 1). Hohengehren, S. 239-248. Lüger, Heinz-Helmut (1999): Satzwertige Phraseologismen. Eine pragmalinguistische Untersuchung. Wien. Katrin Hein 340 Mieder, Wolfgang (2006): „Andere Zeiten, andere Lehren“. Sprichwörter zwischen Tradition und Innovation. (= Phraseologie und Parömiologie 18). Baltmannsweiler. Projekt ‘COSMAS II’. Korpusrecherche- und -analysesystem. Institut für Deutsche Sprache, Mannheim. Internet: http: / / www.ids-mannheim.de/ cosmas2/ (Stand: 04/ 2011). Programmbereich Korpuslinguistik. Ausbau und Pflege der Korpora geschriebener Gegenwartssprache. Das Deutsche Referenzkorpus - DeReKo. Institut für Deutsche Sprache, Mannheim. Internet: http: / / www.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ korpora (Stand: 04/ 2011). Projekt ‘SprichWort. Eine Internet-Lernplattform für das Sprachenlernen’. EU-Projekt. Internet: http: / / www.sprichwort-plattform.org/ (Stand: 04/ 2011). Röhrich, Lutz / Mieder, Wolfgang (1977): Sprichwort. (= Sammlung Metzler 154). Stuttgart. Steyer, Kathrin (2004): Kookkurrenz. Korpusmethodik, linguistisches Modell, lexikografische Perspektiven. In: Steyer, Kathrin (Hg.): Wortverbindungen - mehr oder weniger fest. Jahrbuch 2003 des Instituts für Deutsche Sprache. Mannheim, S. 87-116. Steyer, Kathrin (2010): Korpusbasierte Phraseographie. Neue Methoden und Beschreibungsformen. In: Mellado, Carmen / Buján, Patricia / Herrero, Claudia / Iglesias, Nely / Mansilla, Ana (Hg): La fraseografía del S. XXI. Nuevas propuestas para el español y el alemán. Berlin. 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Melanija Fabčič Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente in der Sprichwortdatenbank Eine Untersuchung basierend auf den Unterschieden in der Konzeptualisierung 1. Einleitung Die Sprichwortdatenbank enthält 300 deutsche Sprichwörter, zu denen Äquivalente in jeweils vier Sprachen gesucht wurden: in slowenischer, ungarischer, tschechischer und slowakischer Sprache. Es handelt sich um 300 im Korpus belegte und aus der DaF-Perspektive für das Erlernen der deutschen Sprache besonders wichtige Sprichwörter, die zum so genannten phraseologischen Minimum oder auch Optimum gehören. Es war von Anfang an klar, dass es nicht in allen der kontrastierten Sprachen für alle 300 deutschen Sprichwörter Äquivalente geben wird, aber wir haben angenommen, dass das bei mindestens drei Viertel der deutschen Sprichwörter der Fall sein wird. Und das hat sich auch bestätigt. Im Slowenischen gibt es für 49 der in der deutschen Datenbank enthaltenen Sprichwörter kein Äquivalent. Für 40 der deutschen Sprichwörter existieren volläquivalente slowenische Sprichwörter und die restlichen 211 Sprichwörter kann man als teilbzw. partiell äquivalent einordnen und zwar entweder im formalen Sinne teiläquivalent (Komponentenaustausch) oder aber funktionalsemantisch äquivalent. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, eine Typologie der Äquivalenzbeziehungen zu konzipieren, die auf unterschiedlichen Konzeptualisierungen im Deutschen und Slowenischen und den sich daraus ergebenden Differenzen zwischen den Sprichwörtern beider Sprachen basiert. Diese werden teilweise mithilfe der konzeptuellen Metapher-Theorie erklärt und zusätzlich in Bezug auf kommunikative, insbesondere auf argumentative Funktionen untersucht. Insbesondere wird dabei auf die Topos-Theorie rekurriert. Diese kombinierte Methode verspricht einen interessanten interkulturellen Einblick in die Äquivalenzbeziehungen zwischen dem Sprichwortbestand des Deutschen und des Slowenischen und kann als Ansatz für die Entstehung vergleichbarer Typologien für andere Sprachenpaare dienen. Melanija Fabčič 342 2. Die theoretischen Prämissen der Untersuchung Für den Anfang wollen wir als Referenz die Subklassifizierung der Sprichwörter nach Simpson / Speake (1998), die unter anderem auch die argumentative Funktion von Sprichwörtern berücksichtigt, einführen. Sie unterscheiden zwischen drei Subklassen. Die erste umfasst Sprichwörter, die die Form einer abstrakten Aussage, die eine allgemeine Wahrheit ausdrückt, haben (Aus den Augen, aus dem Sinn); im Sinne der Argumentationstheorie könnte man diese als deduktive Sprichwörter einordnen, da ihre Denkweise der deduktiven Argumentation (vgl. Bayer 1999, S. 99-108) entspricht. Die zweite Gruppe bilden Sprichwörter, die ausgehend von einer spezifischen Betrachtung von Alltagssituationen eine allgemeine Schlussfolgerung ziehen (Man kann die Pferde zur Tränke führen, saufen müssen sie selbst); diese Gruppe könnte man induktive Sprichwörter nennen (im Sinne einer zugrunde liegenden induktiven Argumentation) (Bayer 1999, S. 125-135) . Zur dritten Subklasse gehören Sprichwörter, die Erfahrung aus spezifischen Bereichen der Folklore und Volksweisheit komprimieren (Wettersprüche). In der Sprichwortdatenbank haben wir es vor allem mit den ersten zwei Subklassen zu tun, da in diesem Bereich ein höherer Äquivalenzgrad zwischen den verglichenen Sprachen herrscht und Wetter- und Bauernsprüche doch relativ veraltet bzw. weniger frequent sind. Die Sprichwortdatenbank enthält jedoch vorrangig frequent belegte Sprichwörter der deutschen Sprache mitsamt ihrer Äquivalente in den vier kontrastierten Sprachen. Alle analysierten Sprichwortpaare werden auch im Sinne dieser Klassifikation bestimmt, weil sie als Ausgangspunkt für die Interpretation ihrer konzeptuellen Grundlage sowie ihrer kommunikativen Funktion dienen wird. Unter Äquivalenz verstehen wir in erster Linie die Äquivalenz der denotativen Bedeutung. Mit absoluter oder Voll-Äquivalenz meinen wir solche Sprichwörter, die in den zu vergleichenden Sprachen die gleiche Bedeutung, den prinzipiell gleichen Konstituentenbestand und eine isomorphe morphologisch-syntaktische Struktur aufweisen. Unter partieller Äquivalenz verstehen wir die zwischensprachlichen parömiologischen Varianten und Synonyme, 1 die sich entweder durch eine strukturell-semantische Teilidentität oder nur durch die funktional-semantische Äquivalenz auszeichnen - diese beiden Subklassen repräsentieren Fälle von Konvergenz zwischen den verglichenen Sprachen. 1 In Anlehnung an Dobrovol’skij (2002, S. 446). Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente 343 Vollbzw. Total-Äquivalenz liegt vor bei semantischer Äquivalenz und weitgehender formaler Kongruenz zweier Sprichwörter (Irren ist menschlich / / Motiti se, je človeško). Von partieller Äquivalenz sprechen wir dann, wenn eine weitgehende semantische Äquivalenz und eine formale Teilkongruenz vorliegen (Hunger ist der beste Koch / / Lakota je najboljša kuharica). Die funktionalsemantische Äquivalenz ist ein Fall der weitgehenden semantischen Äquivalenz bei formaler Inkongruenz (Allzuviel ist ungesund / / Preveč še s kruhom ni dobro). Für die Bewältigung wiederkehrender kommunikativer Aufgaben gibt es häufig bestimmte stereotype sprachliche Realisierungen, zu denen man auch Sprichwörter zählen kann, weil sie sehr häufig bei der Realisierung bestimmter, vor allem argumentativer Sprechhandlungen vorkommen (Kindt 2002, S. 275). Die kommunikative Funktion der Sprichwörter wird uns dahingehend interessieren, dass wir sie mit der konzeptuellen Grundlage des jeweiligen Sprichworts in Verbindung bringen wollen, um diese mit ihrer Hilfe besser zu erklären. Die meisten Theoretiker aus dem Bereich der Rhetorik schreiben den Sprichwörtern vor allem eine argumentative Funktion zu, was in vielen Fällen auch stimmt. Aber trotzdem wird dabei die Tatsache übersehen, dass Sprichwörter durchaus auch bei der Realisierung anderer Sprechakttypen (also nicht nur der argumentativen bzw. assertiven Sprechakte) gebraucht werden, z. B. für expressive, komissive und auch direktive Sprechakte. Als ein Beispiel aus der Sprichwortdatenbank können wir das Sprichwort Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert / / Kdor z malim ni zadovoljen, velikega vreden ni nennen, das neben der argumentativen Funktion auch eine expressive realisiert (Missbilligung). Assertive Sprechakte thematisieren die Geltung einer Aussage; dazu gehören in erster Linie Rechtfertigungs- und Problematisierungshandlungen. Rechtfertigen und Problematisieren sind auch Sprechhandlungen, bei deren Realisierung häufig Sprichwörter des Typs ‘Wenn man A macht, dann passiert B‘ verwendet werden. Als kontextabstrakte, inhaltlich noch freie universelle Muster von Argumenten (Kindt 1999, S. 26) sind Topoi besonders interessant für die Analyse von Sprichwörtern und ihrer jeweiligen argumentativen Funktion, die häufig auch die Bedeutung des Sprichworts klarer hervortreten lässt. Zu den klassischen formalen Topoi nach Aristoteles zählen der Ursachentopos, der Konsequenztopos, der Autoritätstopos, der Definitionstopos, der Topos von Mehr und Minder und der Teil-Ganzes-Topos. Bei den formalen Topoi muss man noch zwischen Schlusstopoi und Aspekttopoi unterscheiden. Schlusstopoi bilden Melanija Fabčič 344 die Organisationsform für die Anwendung einer Schlussregel und Aspekttopoi (Topos der Zeit, der Art und Weise, der Ortes, des Mittels) nur einen Anhaltspunkt für die Suche nach Argumenten (Kindt 1992, S. 105f.). Die Schlusstopoi lassen sich als zugrunde liegende argumentative Muster z. B. bei Sprichwörtern wie Einmal ist keinmal / / Enkrat ni nobenkrat (Teil-Ganzes-Topos, unter negativem Aspekt), Morgenstund hat Gold im Mund / / Rana ura, zlata ura (Gelegenheittopos - die positive Variante: kann verwendet werden um eine besonders günstige Konsequenzkonstellation hervorzuheben) erkennen, die auch in der Sprichwortdatenbank zu finden sind. Wir wollen die ausgewählten Sprichwortpaare mithilfe der kognitiven Metapherntheorie interpretieren und zwar im Sinne der konzeptuellen Metapher nach Lakoff / Johnson (2008). Die konzeptuelle Metapherntheorie geht davon aus, dass „unser alltäglich wirksames Konzeptsystem im Kern metaphorisch angelegt ist“ (ebd., S. 12) und dass unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln durch (bestimmte) Metaphern strukturiert sind. Da Sprichwörter „[...] als allgemein oder zumindest weithin bekannte, feste und dauerhaft geprägte Sätze, die eine prägnant formulierte Lebensregel bzw. verallgemeinerte Lebenserfahrung enthalten“ angesehen werden, deren „[...] Prägnanz und Volkstümlichkeit nach Inhalt und Form unerlässliche Voraussetzungen für die Geläufigkeit des Sprichworts und für eine weitgehend mündliche oft über die Jahrhunderte reichende Überlieferung [...]“ (Beyer / Beyer 1985, S. 7) sind, scheint es sich anzubieten, diese aus der Perspektive der ihnen zugrunde liegenden konzeptuellen Metaphern zu untersuchen. Besonders vielversprechend für die Analyse der ausgewählten Sprichwörter ist die Gruppe der sog. „Orientierungsmetaphern“ (Lakoff / Johnson 2008, S. 22), die ein ganzes System von Konzepten umfassen, die sich wechselseitig organisieren. Sie beziehen sich auf die Orientierung im Raum (oben-unten, vorne-hinten, innenaußen, ...) und haben ihre Grundlage in unserer physischen und kulturellen Erfahrung. Neben dieser Gruppe von konzeptuellen Metaphern können wir in der Sprichwortdatenbank noch Beispiele für Sprichwörter finden, die ontologische Metaphern (z.B. SEELE / PSYCHE ist ein ZERBRECHLICHES OBJEKT : Glück und Glas, wie leicht bricht das) als zugrunde liegende Konzepte haben, sowie Realisierungen der ZEIT -Metaphern (z. B. ZEIT ist ein BEWEGLICHES Objekt: Kommt Zeit, kommt Rat) und natürlich diverse Varianten von Metonymien und Personifikationen (Morgenstund hat Gold im Mund). Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente 345 3. Analyse ausgewählter Beispiele für die funktional-semantisch äquivalenten Sprichwortpaare Am interessantesten scheint die Gruppe der slowenischen Sprichwörter zu sein, die eine funktionalsemantische Äquivalenz mit den deutschen Sprichwörtern aufweist. Die vorliegende Untersuchung widmet sich deswegen in erster Linie ausgewählten Beispielen aus dieser Gruppe, die zwölf Sprichwörter zählt. In dieser Gruppe sind Sprichwörter, die in engerem Sinne funktionalsemantisch äquivalent sind, das heißt, dass sie in den beiden Sprachen keine gemeinsamen Komponenten 2 aufweisen und auf ein jeweils anderes zugrunde liegendes Bild zurückführbar sind. Neben den funktionalsemantisch äquivalenten Sprichwörtern werden wir uns (im Groben) noch die Gruppe der partiell äquivalenten Sprichwörter ansehen, zu der Sprichwörter, die im unterschiedlichen Maße äquivalent sind, gehören. Es gibt solche, bei denen nur eine Komponente gemeinsam ist, die anderen lexikalischen Komponenten sich jedoch ebenso wie das zugrunde liegende Bild unterscheiden. Als eine Variation dieser Option kann man Sprichwortpaare ansehen, die unterschiedliche (kulturspezifische) Realienbezeichnungen aufweisen, jedoch einen vergleichbaren Wert in den beiden Kulturgemeinschaften tragen, z. B. Allzuviel ist UNGESUND / / Preveč še S KRUHOM ni dobro (ungesund → ‘Brot’). Brot (kruh) ist die kulturspezifische Komponente im Slowenischen. Beim Sprichwortpaar UNKRAUT vergeht nicht / / KOPRIVA ne pozebe ist es die Realienbezeichnung kopriva (‘Brennnessel’), die die kulturspezifische Besonderheit ausmacht. Die zweite Gruppe umfasst solche Sprichwörter, bei denen mehrere Komponenten und auch das zugrunde liegende Bild übereinstimmen. In beiden Gruppen können wir zusätzlich zwischen solchen Sprichwortpaaren unterscheiden, bei denen der gleiche Aspekt des im Sprichwort versprachlichten Konzepts profiliert wird und zwischen solchen, bei denen unterschiedliche Aspekte des (gleichen) Konzepts profiliert werden. Sowohl die funktionalsemantisch äquivalenten Sprichwortpaare wie auch die partiell äquivalenten weisen Beispiele von deduktiven und induktiven Sprichwörtern auf. Bei manchen Sprichwortpaaren gehören sowohl das deutsche wie auch das slowenische Sprichwort der deduktiven Subklasse an, bei manchen kommt es diesbezüglich zu einer Diskrepanz. Und das sind auch diejenigen Beispiele, bei denen es Unterschiede in Bezug auf den profilierten Aspekt oder auch auf das zugrunde liegende Bild gibt. 2 Unter gemeinsamen Komponenten werden nur die autosemantischen Wörter verstanden. Melanija Fabčič 346 3.1 Funktionalsemantisch äquivalente Sprichwörter Die erste Subklasse der funktionalsemantisch äquivalenten Sprichwörter umfasst folgende Sprichwortpaare, die den gleichen Aspekt des versprachlichten Konzepts profilieren. 3 1) Hochmut kommt vor dem Fall (deduktiv) Kdor visoko leta, nizko pade (deduktiv) 2) Allzuviel ist ungesund (deduktiv) Preveč še s kruhom ni dobro (induktiv) 3) Die Katze lässt das Mausen nicht (induktiv) Volk dlako menja, nravi pa ne (induktiv) 4) Kein Nachteil ohne Vorteil (deduktiv) Vsaka slaba stvar je za nekaj dobra (deduktiv) 5) Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen (induktiv). Na dveh stolih se ne da sedeti (induktiv) 6) Viele Köche verderben den Brei (induktiv). Mnogo babic, kilav otrok (induktiv) 7) Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert (induktiv) Kdor z malim ni zadovoljen, velikega vreden ni (deduktiv) Bei vielen dieser Sprichwortpaare geht es um unterschiedliche Bilder, aber sie profilieren jeweils den gleichen oder einen sehr ähnlichen Aspekt des ihnen zugrunde liegenden Konzepts, z. B.: 1) Die Sonne bringt es an den Tag (deduktiv) Nič ni tako skrito, da ne bi bilo odkrito (deduktiv) 2) Gebranntes Kind scheut das Feuer (induktiv) Kogar je kača pičila, se boji zvite vrvi (induktiv) 3) Gleich und gleich gesellt sich gern (deduktiv) Gliha vkup štriha (deduktiv) 4) Was lange währt, wird endlich gut (deduktiv) Kdor čaka, dočaka (deduktiv) 5) Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen (induktiv) Vsak naj pometa pred svojim pragom (induktiv) 3 Die Beispiele stützen sich auf die Datenbankeinträge aus folgenden Quellen: http: / / www. sprichwort-plattform.org ; für das Deutsche vgl. dort Steyer / Hein (2010); für das Slowenische vgl. Jesenšek / Fabčič / Bernjak (2010). Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente 347 Die Unterschiede sind verschiedener Art. Bei einigen Sprichwortpaaren geht es nur um einen Unterschied im Grad der Explizitheit: Die Sonne bringt es an den Tag / / Nič ni tako skrito, da ne bi bilo odkrit, bei anderen dagegen um erheblichere Unterschiede in der Aspekt-Profilierung: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen / / Vsak naj pometa pred svojim pragom. Hier handelt es sich nicht nur um unterschiedliche Bilder, sondern es geht darum, dass das im deutschen Sprichwort verwendete Bild als metaphorische Darstellung der vollständigen assertiven Sprechhandlung der Problematisierung dient (mit Steinen werfen = ‘beschuldigen, kritisieren’; wenn man im Glashaus sitzt = ‘wenn man selbst angreifbar, kritisierbar ist’). Das dem slowenischen Sprichwort zugrunde liegende Bild enthält dagegen nur eine Schlussfolgerung, ohne die Ausgangsprämissen zu nennen, und deswegen kann es als eine unvollständige Argumentation angesehen werden. Eine normative Konklusion wird angeboten, ohne eine Begründung dafür anzubieten. Beide Sprichwörter realisieren neben dem assertiven Sprechakt der Problematisierung auch noch den direktiven Akt der Aufforderung: Das deutsche Sprichwort fordert zum Nicht-Handeln auf (unter den beschriebenen Umständen) und das slowenische fordert auf zur Handlung (ohne die Umstände näher zu spezifizieren). 3.2 Partiell äquivalente Sprichwörter (mit einer oder mehreren gemeinsamen Komponenten) Zu dieser Gruppe gehören folgende Sprichwortpaare (die großgeschriebenen Wörter markieren die unterschiedlichen Komponenten), die meist verschiedene Aspekte des gleichen versprachlichten Konzepts profilieren. Wir präsentieren hier eine Auswahl, da es in dieser Gruppe sehr viele Sprichwörter gibt, die wir aus Platzgründen nicht alle auflisten wollen. 1) ADEL verpflichtet (deduktiv) ODLIČNOST zavezuje (deduktiv) 2) AUS den Augen, aus dem SINN (deduktiv) DALEČ od oči, daleč od SRCA 3) Aus SCHADEN wird man klug (deduktiv) Na NAPAKAH se učimo (deduktiv) 4) Blut ist DICKER ALS Wasser (deduktiv) Kri NI Voda (deduktiv) 5) Der Krug geht so lange ZUM BRUNNEN , bis er bricht (induktiv) Vrč hodi PO VODO , dokler se ne razbije (induktiv) Melanija Fabčič 348 6) Erfahrung ist der beste LEHRMEISTER (deduktiv) Izkušnje so najboljša ŠOLA (deduktiv) 7) ERST denken, DANN handeln DVAKRAT premisli, ENKRAT stori 8) Es ist noch kein MEISTER vom Himmel gefallen Nihče ne pade UČEN z neba 9) Frisch GEWAGT , ist halb gewonnen (deduktiv) Kdor RISKIRA , profitira (deduktiv) 10) Geben ist SELIGER denn nehmen Dati je LEPŠE kot jemati 11) Gegen Dummheit ist kein KRAUT GEWACHSEN Proti neumnosti NI ZDRAVILA 12) Geld REGIERT die Welt Denar je sveta VLADAR 13) Geld verdirbt den CHARAKTER Denar kvari LJUDI 14) Glück und GLAS , wie leicht BRICHT das (induktiv) Sreča je OPOTEČA (deduktiv) 15) GUT DING braucht Weile (deduktiv) VSE potrebuje svoj čas (deduktiv) 16) Guter Rat ist TEUER (deduktiv) Dober nasvet je ZLATA VREDEN (deduktiv) 17) Jedem TIERCHEN sein PLÄSIERCHEN (deduktiv) Vsako TELE ima svoje VESELJE (deduktiv) 18) Jeder NACH SEINEM Geschmack (deduktiv) Okusi so rAzLIČNI (deduktiv) 19) Jeder hat sein PÄCKCHEN zu tragen (deduktiv) Vsak nosi svoj KrIŽ (deduktiv) 20) Jedes DING hat zwei Seiten (deduktiv) Vsaka MEDALJA ima dve plati (induktiv) 21) Liebe MACHT blind (deduktiv) Ljubezen JE slepa (induktiv) 22) Kommt zeit kommt RAT (deduktiv) PUSTIMO času čas (deduktiv) 23) Man soll das Fell des Bären nicht VERTEILEN , bevor er ERLEGT ist (induktiv) Ne PRODAJAJ kože, dokler JE medved še V BRLOGU (induktiv) Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente 349 24) Mit SPECK fängt man MÄUSE (induktiv) Na MED se muhe love, na SLADKE BESEDE ljudje (induktiv) 25) MORGENSTUND hat GOLD im Mund (deduktiv) RANA URA , ZLATA ura (deduktiv) 26) Nachts sind alle KATZEN GRAU (induktiv) Ponoči so vse KrAVE ČrNE (induktiv) 27) Not kennt KEIN GEBOT (deduktiv) Sila KOLA LOMI (deduktiv) 28) Ohne FLEISS kein PREIS (deduktiv) Brez DELA ni JELA (deduktiv) 29) Schuster BLEIB bei deinen LEISTEN (induktiv) Le ČEVLJE SODI naj kopitar (induktiv) 30) Stille Wasser sind TIEF (deduktiv) Tiha voda BREGOVE DERE (deduktiv) 31) TOTGESAGTE leben länger POKOPANI živijo dlje 32) UNKRAUT vergeht nicht (induktiv) KOPRIVA ne pozebe (induktiv) 33) Über Geschmack LÄSST SICH STREITEN (deduktiv) KOLIKOR LJUDI, TOLIKO okusov (deduktiv) 34) Versprochen ist versprochen (deduktiv) Obljuba DELA DOLG (deduktiv) 35) Viele Hände, SCHNELLES ENDE (induktiv) Več rok VEČ NArEDI (induktiv) 36) VIER Augen sehen mehr als ZWEI (induktiv) VEČ oči VEČ vidi (induktiv) 37) Was Hänschen NICHT LERNT , LERNT Hans NIMMERMEHR (induktiv) Kar se Janezek NAUČI , to Janez ZNA (induktiv) 38) Wenn die Waffen sprechen, schweigen die MUSEN (induktiv) Ko orožje govori, UMETNOST molči (induktiv) 39) Wenn zwei sich streiten, FREUT SICH der dritte (induktiv) Kjer se prepirata dva, tretji DObIČEK IMA (induktiv) 40) Wer billig kauft, KAUFT teuer (induktiv) Kdor poceni kupuje, drago PLAČA (induktiv) 41) Wer hoch STEIGT , fällt tief (deduktiv) Kdor visoko LETA , nizko pade (deduktiv) Melanija Fabčič 350 42) Wer nichts macht, MACHT NICHTS FALSCH (deduktiv) Kdor ne dela, NE GREŠI (deduktiv) 43) Wer SCHöN SEIN will, muss leiden (deduktiv) ZA LEPOTO je treba potrpeti (deduktiv) 44) Wer zuletzt lacht, lacht AM BESTEN (induktiv) Kdor se zadnji smeje, se NAJSLAJŠE smeje (induktiv) 45) Wes das Herz voll ist, des GEHT der Mund ÜBER (deduktiv) Česar polno je srce, usta rada GOVORE (deduktiv) 46) Wie gewonnen, so ZERRONNEN (deduktiv) Kakor dobljeno, TAKO IZGUBLJENO (deduktiv) 47) Wir SITZEN alle in einem Boot (induktiv) Vsi SMO v istem čolnu (induktiv) 48) Wo GEHOBELT wird, fallen Späne (induktiv) Kjer SE SEKA , letijo trske (induktiv) 49) Wo LICHT ist, ist auch Schatten (deduktiv) Kjer je SONCE , je tudi senca (deduktiv) 50) Wo nichts ist, hat der Kaiser SEIN RECHT VERLOREN (induktiv) Kjer nič ni, še cesar NE MORE VZETI (induktiv) 51) ZEIG mir DEINE FREUNDE und ich sag dir, wer du bist (induktiv) POVEJ mi, S KOM SE DrUŽIš in povem ti, kdo si (induktiv) Mit unterschiedlichen Aspekten des gleichen versprachlichten Konzepts meinen wir entweder, dass zusätzliche Aspekte in einer der Sprachen mitprofiliert werden, wie z. B. beim Sprichwortpaar Frisch GEWAGT , ist halb gewonnen / / Kdor RISKIRA , profitira, bei dem das deutsche Sprichwort zusätzlich zu der im Slowenischen ausgedrückten Bedeutung noch den Aspekt des schnellen Reagierens hervorhebt. Oder es werden andere Aspekte profiliert, wie z. B. bei Viele Hände, SCHNELLES ENDE / / Več rok VEČ NArEDI , wo im deutschen Sprichwort die Schnelligkeit einer Handlung hervorgehoben wird und im Slowenischen die Menge der erledigten Arbeit. Häufig verschiebt sich der Aspekt nur ein wenig, wie z. B. bei Divergenzen, die mithilfe der Relation der Hyperonymie-Hyponymie erklärbar sind: Geld verdirbt den CHARAKTER / / Denar kvari LJUDI (Charakter - ljudi (‘Menschen’) → Hyponym - Hyperonym). Oder aber es geht um den Unterschied in der Erklärung des Herbeiführens eines Zustands bzw. in der Perspektive auf den eingetretenen Zustand (kausatives Verb - Kopulaverb; dynamisch - passiv): Liebe MACHT blind / / Ljubezen JE slepa. Als einen größeren Unterschied kann man den Unterschied zwischen den folgenden partiell äquivalenten Sprichwörtern ansehen: Wenn zwei Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente 351 sich streiten, freuT Sich der dritte / / Kjer se prepirata dva, tretji dobiček ima (Freude vs. Profit → geistiges Gut - materielles Gut); hier wird der eingetretene Zustand unterschiedlich bewertet. 4. Analyse ausgewählter Beispiele funktionalsemantisch äquivalenter und partiell äquivalenter Sprichwortpaare in Bezug auf die Unterschiede in der Konzeptualisierung Bei der folgenden Analyse werden wir uns auf eine kleine Gruppe von Sprichwörtern konzentrieren, die alle die konzeptuelle Metapher OBEN IST GUT - UNTEN IST SCHLECHT 4 versprachlichen, indem sie einem Konzept eine räumliche Beziehung geben und die ihre Grundlage in unserer physischen Erfahrung haben. Das erste Beispiel bildet das Sprichwortpaar hochmut kommt vor dem fall / / Kdor visoko leta, nizko pade. Beide Sprichwörter können im Sinne der Argumentationstheorie als deduktiv eingestuft werden. Die sprachliche Realisierung des deutschen Sprichworts ist zwar abstrakter und nicht metaphorisch, die slowenische hingegen konkreter, aber metaphorisch motiviert: hochmut / / kdor visoko leta (wörtl.: ‘wer hoch fliegt’). ‘Hochmut’ ist ein abstrakter Begriff, der unterschiedliche Assoziationen hervorrufen kann, die jedoch allesamt mit dem Konzept OBEN verbunden sind und der slowenische Teilsatz kdor visoko leta referiert auf das gleiche Konzept. Wenn wir uns auf die konzeptuelle Metapherntheorie beziehen, können wir beide Sprichwörter im Sinne der Orientierungsmetapher OBEN IST GUT - UNTEN IST SCHLECHT interpretieren, d. h. als sprachliche Realisierung einer ihrer Varianten: TUGEND IST OBEN - LASTER IST UNTEN (Lakoff / Johnson 2008, S. 25). Diese wird im Falle unseres Sprichwortpaares jedoch verneint. Das macht die beiden Sprichwörter auf den ersten Blick nicht vereinbar mit den elementarsten Konzepten unserer Kultur (gemeint ist die christlich-abendländische) bzw. „mit unseren Metaphern der Oben-unten-Raumorientierung“ (ebd., S. 31). Hochmut ist ein Laster und gehört nicht nach oben, da es schlecht ist und Schlechtes gehört im Sinne der besagten konzeptuellen Metapher nach unten. Deswegen ist es sozusagen zum Fall verdammt. Auch im Slowenischen wird UNTEN mit SCHLECHT gleichgesetzt, aber nicht in Verbindung mit Laster, sondern mit Zu-viel-Wollen, denn anstelle des abstrakten Nomens hochmut wird hier der Teilsatz kdor visoko leta (wörtl.: ‘wer hoch fliegt’) eingesetzt. Und in Bezug auf Menschen ist Hoch-Fliegen etwas Unnatürliches und daher schlecht. Man kann das auch aus der Perspektive der christlichen Ideologie als 4 Diese zählt man zu den Orientierungsmetaphern (Lakoff / Johnson 2008, S. 22). Melanija Fabčič 352 etwas für den Menschen Unpassendes, Unziemliches ansehen, da der Raum OBEN (also der Himmel) für Gott und die Engel bestimmt ist und der Mensch, der sich dorthin traut, sowieso ein Laster hat, nämlich das Fehlen von Bescheidenheit und Gottesfurcht. Im Slowenischen handelt es sich zwar um eine explizitere (Teilsatz vs. abstraktes Nomen), auch konkretere Ausdrucksweise (das Bild des Hoch-Fliegens), trotzdem erfordert die Interpretation einen größeren kognitiven Aufwand, weil das mitgemeinte zu vermeidende Laster (Hochmut) erst rekonstruiert werden muss (metaphorische Entschlüsselung) und nicht direkt benannt wird. Zusammenfassend kann man behaupten, dass in den beiden Sprichwörtern die mit den Werten unserer Kultur scheinbar nicht kompatible Variante der konzeptuellen Metapher MEHR IST OBEN und OBEN IST GUT realisiert wird, nämlich: Weniger ist besser. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass MEHR hier eigentlich als ZU VIEL zu verstehen ist, und wir können diese Variante als eine zusätzliche „Regelung“ der konzeptuellen Metapher MEHR IST BESSER verstehen, die eine weitere (von Lakoff und Johnson zwar nicht explizit thematisierte) konzeptuelle Metapher, die in unserer Kultur maßgeblich zu sein scheint, suggeriert: MITTE IST GUT . Obwohl beide Sprichwörter oberflächlich gesehen assertive Sprechakte realisieren, geht es bei beiden indirekt auch um einen direktiven Aspekt: Es wird impliziert, dass man die Eigenschaft „meiden“ sollte bzw. - wenn man sie hat - daran arbeiten sollte, dieses Merkmal an sich zu verändern. Dieser direktive Aspekt wird jedoch nicht in allen Kontexten realisiert. Das zweite Sprichwortpaar Allzuviel ist ungesund / / Preveč še s kruhom ni dobro weist einen Unterschied bezüglich der referenziellen Typologie auf: Das deutsche Sprichwort ist deduktiv und das slowenische induktiv; die Charakterisierung - wörtl.: ‘auch mit Brot nicht gut’ (še s kruhom ni dobro) - ist darüber hinaus kulturspezifisch, denn Brot gilt in Slowenien traditionell als das Nahrungsmittel, mit dem auch schwer genießbares bzw. nicht schmackhaftes Essen genießbar wird (Brot war traditionell - neben der Kartoffel - ein Arme-Leute-Essen, ein Sattmacher). Die konzeptuellen Metaphern der OBEN-UNTEN -Raumorientierung MEHR IST OBEN und GUT IST OBEN sind kohärent mit der daraus ausgeführten Metapher MEHR IST BESSER , aber in unseren drei Beispielen wird diese Metapher eigentlich verneint: durch die Potenzierung von MEHR zu allzuviel wird die Relation quasi umgekehrt und wir bekommen die Formel MEHR (bzw. ZU VIEL ) IST SCHLECHT . Beteiligt an der Sinnkonstruktion ist noch die Variante der Orientierungsmetapher GESUND SEIN UND LEBEN SIND OBEN - KRANKHEIT UND TOD SIND UNTEN . Das Lexem ungesund versprachlicht Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente 353 hier die Krankheit - die indirekte Ausdrucksweise (durch Verneinung des positiven Zustands) mildert teilweise die Aussage, genauso wie der Quantor all sie relativiert (also nicht ( ZU ) VIEL sondern ALLZUVIEL ist schlecht - die Vorsicht lässt sich dadurch erklären, dass die Metapher MEHR IST BESSER doch sehr wichtig und prägend für die westliche Kultur ist). Auch hier können wir von einer assertiven bzw. argumentativen Funktion sprechen, die jedoch wiederum (häufiger als beim ersten Sprichwortpaar) um eine direktive Dimension erweitert wird (im Sinne eines kommentierenden Ratschlags). Beim dritten Sprichwortpaar Viele Köche verderben den Brei / / Mnogo babic, kilav otrok (wörtl.: ‘Viele Hebammen, missratenes Kind’) handelt es sich auch um die negierte konzeptuelle Metapher MEHR IST BESSER , die jedoch im slowenischen Äquivalent expliziter zum Vorschein kommt, weil die asyndetische Nebeneinanderstellung von MEHR und SCHLECHT (kilav otrok bedeutet ‘missratenes Kind’; diese Kollokation kann auch als Synonym von KRANK verstanden werden) eigentlich die vollständige Formel realisiert: VIELE Hebammen ( MEHR IST OBEN ), missratenes Kind ( KRANK IST UNTEN ). Dieses Sprichwort bezieht sich auf den Mittel-Zweck-Topos und zwar aus der negativen Perspektive. Wenn eine Hebamme das ‘Mittel’ darstellt für die Erfüllung des Zwecks, dass ein Kind gesund auf die Welt kommt, dann können wir dieses Sprichwort als Umkehrung dieser Behauptung interpretieren, nämlich in dem Sinne, dass die ‘Vermehrung’ des Mittels in diesem Falle bewirkt, dass der Zweck nicht erfüllt wird, bzw. das Gegenteil erreicht wird. Zusätzlich zu dem Mittel-Zweck-Topos kommt hier noch der Mehr-und-Minder-Topos zum Tragen, weil die Hebamme (Mittel) und das Kind (Zweck) in einem Verhältnis von je- MEHR -des-einen, desto- WENIGER (im Sinne von SCHLECHT )-desanderen zueinander stehen. Das deutsche Sprichwort drückt diese Verbindung impliziter aus, da sie durch das Verb verderben realisiert wird, an das sich Brei als affiziertes Objekt anschließt. Letzeres wird nicht direkt mit dem negativen Aspekt belegt, sondern nur über die Handlung des Verderbens seitens der Köche. Beim Beispiel STILLE WASSER sind tief / / TIHA VODA bregove dere, das ein partiell äquivalentes Sprichwortpaar darstellt, werden wir uns hauptsächlich auf die Topos-Theorie beziehen. Das Sprichwortpaar ist deswegen partiell äquivalent, weil es die Komponente stille Wasser / / tiha voda gemeinsam hat, wobei im deutschen Sprichwort die Wortgruppe im Plural steht und im Slowenischen nicht. Das zugrunde liegende Bild scheint ähnlich zu sein, aber die beiden Sprichwörter unterscheiden sich darin, was über das Argument (stille Wasser) prädiziert wird; im deutschen Sprichwort werden stille Wasser mit Melanija Fabčič 354 der Eigenschaft der Tiefe verbunden bzw. charakterisiert, und im slowenischen Sprichwort wird der Vorgang des Niederreißens der Ufer prädiziert, wobei durch die Personifikation des Wassers dieses Niederreißen zu einer Handlung umqualifiziert wird. Tiefe ist eine Eigenschaft, etwas, das das Wasser hat - passiv. Und Kraft ist etwas Dynamisches, das sich nur in bzw. durch die Aktion zeigt. Das deutsche Sprichwort profiliert den Aspekt der Unbekanntheit, der Unergründlichkeit (die mit der Eigenschaft der Stille verbunden wird; wegen ihrer Unergründlichkeit wird Tiefe auch mit Unheimlichkeit, mit etwas Furcht Einflößendem assoziiert) und das slowenische Sprichwort den Kontrast zwischen dem stillen Wasser (das scheinbar ruhig ist) und seiner zerstörerischen Kraft (die auch unheimlich, bzw. erschreckend sein kann). Das slowenische Sprichwort kann man deswegen im Sinne des Schein-Sein-Topos interpretieren, der eine Spezialisierung des Unterschied-Topos darstellt (Kindt 2002, S. 282): Stille Wasser scheinen nur ruhig zu sein, sie haben jedoch eine Kraft, die durchaus als das Gegenteil von ruhig, nämlich wild, genannt werden kann - der Schein des Ruhigen und die zerstörerische Wirkung (die zwar nicht auf den ersten Blick erkennbar ist) stehen im Kontrast. Zusätzlich dazu kann man aber auch den Ursache-Wirkung-Topos implementieren, der die Ursache-Wirkungs-Regularitäten bezüglich eines unerwarteten Einflusses bzw. einer unerkannten Macht, der man eine bestimmte Wirkung nicht zuschreiben würde (vor allem der Grad dieses Einflusses wird als unerwartet und nicht auf den ersten Blick erkennbar charakterisiert), umfasst. 5. Fazit Der vorliegende Artikel präsentiert einen Ausschnitt aus der umfangreichen Untersuchung des gesamten Sprichwortbestandes des deutsch-slowenischen Teils der Sprichwortdatenbank, die darauf ausgerichtet ist, eine Typologie der Sprichwort-Äquivalente bzw. der deutsch-slowenischen Sprichwortpaare unter Berücksichtigung der Unterschiede in der Konzeptualisierung, zu entwickeln. Fokussiert wurden vor allem die funktionalsemantisch äquivalenten Sprichwortpaare, sowie einige partiell äquivalente Sprichwörter. Die verwendete Methode (kognitive, insbesondere die konzeptuelle Metapherntheorie, kombiniert mit dem pragmatischen Zugang - Bestimmung der argumentativen Funktion mithilfe der Topos-Theorie) erwies sich als besonders geeignet für die Identifizierung und Erklärung der Unterschiede bei der Gruppe der teil-äquivalenten Sprichwörter, die die größte Herausforderung bei dem Erwerb der parömiologischen Kompetenz darstellen. Die Typologie kann noch weiter ausgebaut werden und ist übertragbar auf andere Sprachenpaare. Typologie der deutsch-slowenischen Sprichwortäquivalente 355 Literatur Bayer, Klaus (1999): Argument und Argumentation. Logische Grundlagen der Argumentationsanalyse. Opladen / Wiesbaden. Beyer, Horst/ Beyer, Annelies (1985): Sprichwörterlexikon. Sprichwörter und sprichwörtliche Ausdrücke aus deutschen Sammlungen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München. Dobrovol’skij, Dmitrij (2002) Phraseologismen in kontrastiver Sicht. In: Cruse, D. 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Einleitung Zu den Desiderata der allgemeinen und kontrastiven Sprichwortforschung und -lexikografie gehören neue parömiologische Lexika, erarbeitet mit modernen lexikografischen Methoden und auf der Grundlage von systematischen empirischen Untersuchungen zum gegenwärtigen gesprochenen und geschriebenen Usus der Sprichwörter. Empirische Untersuchungen sind zum einen Probandenbefragungen, die sich auf die „durchschnittliche“ Kenntnis bei Sprachbenutzern beziehen, mit relevanten soziolinguistischen Informationen zum territorialen, altersspezifischen und synchronen Status der Sprichwörter. Zum anderen sind es korpusbasierte Untersuchungen zum Variabilitäts- und Transformationspotenzial und zur realen Präsenz von Sprichwörtern in der Gegenwartssprache. Die aus diesen empirischen Zugängen gewonnenen Informationen sollten die Grundlage für die Erstellung von Sprichwörterbüchern bilden, was letztendlich auch die Basis für die Erarbeitung von Sprichwörterminima bzw. -optima für Didaktik, Sprach- und Fremdsprachenunterricht schaffen könnte. Sprichwörter sind als sprachliche Zeichen keine konkreten Denotate im lexikalisch-begrifflichen Sinne, sondern verallgemeinerte prototypische Modelle von rekurrenten usuellen Lebenssituationen, für die sie als komplexe Zeichen stehen. Primär treten hier symbolische Elemente auf, jedoch können auch ikonische und indexalische Elemente als potenzielle Merkmale der ganzheitlichen semiotischen Struktur der Sprichwörter identifiziert werden. Demzufolge wird auch bei der kontrastiven Analyse von Sprichwörtern primär diese Modellhaftigkeit untersucht, d. h., es wird der Frage nachgegangen, welche Art der sprachlichen Motivation für die jeweilige rekurrente Situation zugrunde liegt. Die Wahrnehmung dessen, was als adäquates Äquivalent empfunden wird, lässt sich in einem ersten Schritt am Vergleich identischer bildlicher Parallelen festmachen; im Falle fehlender bildlicher Motivation werden sprachliche Modelle mit parallelen Inhalten verglichen. Bei den sprichwörtlichen Parallelen unterscheiden wir die Mono-, Poly- und Semiäquivalenz. ‘Monoäquivalenz’ bedeutet, dass einem Sprichwort genau eine äquivalente Form entspricht. Hier kann man drei formal-strukturelle Un- Peter Ďurčo 358 tertypen unterscheiden: die ‘symmetrische Äquivalenz’ mit Identität der Form und Bedeutung der verglichenen Einheiten, die ‘symmetrisch-asymmetrische Äquivalenz’ mit Unterschieden im Komponentenbestand bzw. in der formalen Struktur der verglichenen Einheiten und die ‘asymmetrische Äquivalenz’ der verglichenen Einheiten mit völlig unterschiedlichem Komponentenbestand. Bei der ‘Polyäquivalenz’ entsprechen einem Sprichwort zwei oder mehrere äquivalente Sprichwörter in der anderen Sprache. ‘Semiäquivalenz’ heißt, dass mehreren Sprichwortvarianten auch mehrere äquivalente Sprichwortvarianten bzw. sprichwörtliche Synonyme zuzuordnen sind, die sich jedoch nicht vollständig decken, sondern sich formal und inhaltlich nur teilweise überschneiden. ‘Nulläquivalenz’ bedeutet schließlich, dass ein Sprichwort kein sprichwörtliches Äquivalent in der Zielsprache hat (vgl. Ďurčo 2005a). Selbstverständlich kann aber erst die Analyse der extensionalen und intensionalen Bedeutung die tatsächliche inhaltliche Identität zeigen. 2. Diasystematische Unterschiede Jede Lexikoneinheit - so auch das Sprichwort - ist neben ihren systemlinguistischen Eigenschaften (gegeben durch die paradigmatischen und syntagmatischen Relationen) auch durch ihre diasystematischen Charakteristiken determiniert. Die Lexikoneinheiten stehen hinsichtlich der Temporalität, Arealität, Nationalität, Medialität, Soziokulturalität, Formalität, Textualität, Technizität, Quantität, Evaluativität und Normativität in multivergent verflochtenen Relationen, die auch für die kontrastive Analyse relevant sind. In der Parömiologie sind diese suprasemantischen Eigenschaften noch stärker präsent als in der Lexikologie oder Phraseologie. Für den Vergleich von Sprichwörtern ist also ihre Verortung im Diasystem der Sprache, die sich auf die äußeren Umstände ihres Funktionierens bezieht, von besonderer Relevanz. Daher besteht die Forderung, solche diasystematischen Charakteristiken von Sprichwörtern viel stärker als bisher zu untersuchen und in die kontrastive Beschreibung zu integrieren. Es kann so die Frage beantwortet werden, inwieweit die konfrontierten Sprichwörter im Lexikon und auch im aktuellen Sprachgebrauch identisch sind. Die verglichenen Sprichwörter, die auf der Systemebene als Äquivalente erscheinen, können jedoch völlig unterschiedliche Charakteristiken hinsichtlich ihrer diasystematischen Markierungen aufweisen: 1 1) diachronisch (Differenz abhängig von der Präsenz in der Gegenwartssprache); 1 Zu dem diasystematischen Makromodell der Markierungen von Lexikoneinheiten vgl. Wiegand (1981), Hausmann (1989). Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 359 2) diatopisch (Differenz in Bezug auf die territoriale Verbreitung); 3) diaintegrativ (Differenz in Bezug auf die heimische vs. entlehnte/ fremde Herkunft); 4) diamedial (Differenz in Bezug auf das bevorzugte Vorkommen im gesprochenen vs. geschriebenen Usus); 5) diastratisch (sozial- und schichtabhängige Differenz); 6) diatextuell (Differenz abhängig von der Präsenz in Texten und in verschiedenen Textsorten); 7) diafrequent (Differenz abhängig von der Häufigkeit im Sprachgebrauch); 8) diaphasisch, d. h. diaevaluativ (Differenz in Bezug auf die neutrale vs. konnotierte Stilfärbung) oder diasituativ (Differenz in Bezug auf die situationsabhängige und funktionale Stilschichtung); 9) dianormativ (Differenz in Bezug auf die Sprachnorm); 10) diatechnisch (Differenz in Bezug auf die gemeinsprachliche vs. fachsprachliche Bindung des Sprichworts). Generell geht es hier also um die zwischensprachliche Differenz zwischen einem diasystematisch unmarkierten bzw. anders markierten und einem sich in der markierten Peripherie befindlichen Sprichwort. In der Phraseologie wurden bereits die diamedialen, diaphasischen, diastratischen und die diatopischen Aspekte teilweise untersucht (vgl. Burger / Dobrovoľskij / Kühn / Norrick 2007). Wenig Beachtung fand jedoch die Untersuchung der diasystematischen Eigenschaften bei Sprichwörtern und fast unbeachtet blieb diese Problematik in der kontrastiven Parömiologie und Parömiografie. 2.1 Diachrone Differenz - der zeitliche Aspekt Nicht selten besteht die Differenz bei den verglichenen Sprichwörtern in ihrem unterschiedlichen Status in der Gegenwartssprache. Einem gebräuchlichen Sprichwort in der Gegenwartssprache können nur veraltete, archaische oder sogar nur historische Äquivalente in der anderen Sprache entsprechen, z. B. entspricht dem deutschen Sprichwort Müßiggang ist aller Laster Anfang das veraltete slowakische Sprichwort Lenivá ruka, hotová muka (wörtl.: ‘Faule Hand, reine Qual’). Dem deutschen Sprichwort Morgenstunde hat Gold im Munde entsprechen im Slowakischen zwar inhaltlich vollständig mehrere Äquivalente, allerdings handelt es sich um veraltete bzw. archaische Formen, die nur noch in der älteren Literatur bzw. in alten Sammlungen vorkommen. Sie werden nicht mehr gebraucht, und außer diachronen Sprachforschern kennt sie praktisch niemand, vgl.: Peter Ďurčo 360 Ranná hodina, zlatá hodina (wörtl.: ‘Morgenstunde, goldene Stunde’) Hodina ranná zlato doháňa (wörtl.: ‘Stunde am Morgen jagt Gold nach’) Hodina ranná dáva požehnania (wörtl.: ‘Stunde am Morgen gibt Segen’) Kto včas ráno vstáva, plné truhly máva (wörtl.: ‘Wer früh aufsteht, hat volle Truhen’) Kto včas ráno vstáva, pánboh ho požehnáva (wörtl.: ‘Wer früh aufsteht, den segnet Gott’) Lepšie ráno hodina, ako na večer tri (wörtl.: ‘Besser eine Stunde am Morgen als drei am Abend’). Die diachrone Differenz ist oft auch mit der diastratischen Differenz verbunden. Die slowakischen Äquivalente zum deutschen Sprichwort Man schlägt den Sack und meint den Esel in der Form Na nevinnom sa zomlelo / Na nevinnom sa sprášilo oder Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert / / Kto si groš neváži, na zlatku sa nezváži sind veraltete Sprichwörter, deren Kenntnis nur bei der älteren Generation vorauszusetzen ist (vgl. 2.5). 2.2 Diatopische Differenz - der territoriale Aspekt Geografische Differenzierung spielt im Deutschen auch in Bezug auf die Parömiologie eine wichtige Rolle. Die Streuung und die territoriale Verteilung der deutschen Sprichwörter sind kompliziert und die dialektalen Formen oder Varianten überlappen sich mit den überregionalen und grenzüberschreitenden Varianten bzw. Varietäten. Das Problem beim Vergleich der Sprichwörter entsteht dann, wenn einem gesamtterritorialen Sprichwort in einer Sprache nur ein diatopisch markiertes Sprichwort entspricht. Die Gültigkeit des Äquivalents ist also geografisch begrenzt. Einige diatopisch markierte Sprichwörter haben dabei auch ihre allgemeinsprachlichen Parallelen (z. B. die österreichischen Sprichwörter Die Technik ist ein Hund / / Der Teufel steckt im Detail; Gehüpft wie gegangen / / Gehüpft wie gesprungen), andere dagegen nicht (z. B. die sprichwörtlichen Austriazismen Nicht geschimpft ist genug gelobt; Das Glück ist ein Vogerl; Kein Geld - keine Musik; Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht; Aufgewärmt ist nur ein Gulasch gut; Nur die Ruhe putzt die Schuhe; Wie man es macht, ist es falsch). Beim Vergleich muss man diese Tatsache berücksichtigen und entsprechend markieren. Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 361 2.3 Diaintegrative Differenz - der (inter-)nationale Aspekt Gegenüber einem heimischen bzw. einem quasiheimischen Element, das aufgrund einer sehr frühen Integration und langer Existenz in der Sprache nicht mehr als fremd empfunden wird, kann ein Äquivalent stehen, das fremd bzw. entlehnt ist. Es hat sich in beiden Sprachen teilweise anders entwickelt und ist in die jeweilige Sprache anders integriert, wie z. B. das Äquivalent zu Jeder Topf findet seinen Deckel und die slowakische Entsprechung Na každý hrniec sa pokrievka nájde (wörtl.: ‘Auf jeden Topf findet man Deckel’). Das deutsche Sprichwort kommt in den Korpusbelegen entweder in Verbindung mit dem Thema ‘Partnerschaft’ vor, vgl.: 2 Ganz wichtig bei Vermittlungen ist der persönliche Kontakt. Computervermittlung ist „out“. Unvermittelbar sind nach Aussagen der Fachleute nur sehr wenige, „jeder Topf findet irgendwann einmal den passenden Deckel.“ Menschen, die sich bloß ein sexuelles Abenteuer erhoffen oder die nur auf Geld aus sind, haben es schwer. Durch den persönlichen Kontakt zu den Kunden können die Vermittler meist schnell erkennen, wer unlautere Absichten hat. (Rhein- Zeitung, 23.10.1996: Jung, ledig, sucht ... sein „Deckelchen“), oder in bestimmten Korpusbelegen wird mit dem Sprichwort ausgedrückt, dass sich für jeden Gegenstand oder für jede Sache irgendwann ein passender Besitzer oder Betreiber findet: Es ist zwar eins der schönsten und besterhaltensten [sic! ] Adelsschlösser Brandenburgs, doch weil es sehr groß und nicht leicht zu erreichen ist, ist es nur schwer an den Mann zu bringen. „Es ist ein Wahnsinnsaufwand“, so Uwe Stemmler von der TGL, „den passenden Deckel zum Topf“, sprich den passenden Herrn oder Herrin zum Schloß, zu finden. (Die Tageszeitung, 27.07.1996, S. 27, Ressort: Berliner Thema: Ein Traum von einem Schloß). Das slowakische Sprichwort bezieht sich nur auf die Domäne ‘Partnerschaft’. Es kommt in authentischen slowakischen Texten nicht vor, sondern nur in Übersetzungen. Das Häufigkeitsvorkommen in Texten ist sehr niedrig, vgl. die Belege: Na každý hrniec je iná pokrievka, a keby som si nevedel osedlať ženy ako pani Kishocková, spreneveril by som sa svojmu celoživotnému poslaniu. Mužov z hĺbky duše nenávidí, pokračoval, čo znamená, že sa jej páči, ak jej chlapi ležia vždy pri nohách, a presne to som robil. (Keane, John B. (2000): Írska láska. Bratislava: Slovenský spisovatel’). 2 In diesem Beitrag verwende ich Bedeutungs- und Gebrauchsbeschreibungen sowie Korpusbelege aus folgenden Quellen: http: / / www.sprichwort-plattform.org für das Deutsche (vgl. dort Steyer / Hein 2010); für das Slowakische vgl. dort Ďurčo (2010). Peter Ďurčo 362 Ján Hlaváč Z frazeológie 1. Na každý hrniec nepristane každá pokrievka 2. Trel mu chren popod nos 3. Kde sa najedia dvaja, tam sa naje aj tretí 4. Akú kašu si si navaril, takú budeš jesť. (Nový Sad: Novinovo-vydavateľská ustanovizeň Hlas ľudu, 2004, No. 4) Ähnliche diaintegrative Differenz beobachten wir auch bei dem ursprünglich englischen Sprichwort Man kann die Pferde zur Tränke führen, saufen müssen sie selbst (vgl. You can lead/ take/ bring a horse to water, but you can't make it drink) und die slowakische Variante Môžeš priviesť koňa k vode, ale nemôžeš ho prinútiť piť (wörtl.: ‘Du kannst das Pferd zu Tränke bringen, aber du kannst es nicht zwingen zu trinken’). In slowakischen Texten kommt dieses Sprichwort nur sehr selten vor und auch das nur in Übersetzungen, vgl. die deutschen und die slowakischen Belege: Man kann ein Pferd zur Tränke führen, aber man kann es nicht zwingen zu saufen. Dieses englische Sprichwort trifft ganz besonders auf die Völker im ehemaligen Jugoslawien zu. Was versuchen die Amerikaner mit Assistenz der Europäer nicht alles, um in Bosnien-Herzegowina die Voraussetzungen für den friedlichen Wiederaufbau zu schaffen. Doch weder die Serben noch die Kroaten oder Moslems ergreifen die ihnen gebotene Gelegenheit, die Wunden des unseligen Bruderkriegs zu heilen, sondern widersetzen sich störrisch wie kranke Pferde allem guten Zureden. (Rhein-Zeitung, 15.6.1996: Störrisch wie kranke Pferde) Niedrige Zinsen begünstigen aber das Investitionsklima. FRANZ : Kurzfristig erreicht man mit geldpolitischen Maßnahmen nicht viel. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller hat das mal sehr plastisch ausgedrückt, indem er sagte: „Man kann die Pferde zur Tränke führen, aber saufen müssen sie selbst.“ Letztendlich müssen die Unternehmer investieren. Die Banken können nur Liquidität zur Verfügung stellen, aber sie sind keine Investoren. (Mannheimer Morgen, 11.4.2001: Rot-Grün darf die Lohnkosten jetzt nicht mit falschen Maßnahmen erhöhen) Die Fremdheit dieses Sprichworts ist in slowakischen Texten oft noch durch den Verweis auf die fremde Herkunft betont, vgl.: V jednej zo svojich posledných kníh O zmysle života/ 1933/ A.Adler prezentoval v systematickej podobe svoje teoretické názory a praktické skúsenosti, získané celoživotnou vedeckou, terapeuticko-klinickou a výchovnou prácou. V pätnástich kapitolách vyložil podstatu svojho učenia, jeho základné kategórie a praktické konzekvencie. Svoj výklad uzavrel striktným sformulovaním úlohy a funkcie psychologického poradcu: „Poradca sa musí od samého začiatku snažiť objasniť klientovi, že zodpovednosť za vyliečenie nesie on sám ako pacient, pretože, ako správne hovorí anglické príslovie [wörtl: ‘wie richtig das englische Sprichwort sagt’, P. Ď.] „Môžeš priviesť koňa k vode, ale nedonútiš ho, aby sa napil.“ Na pochopenie a liečenie detí s rozličnými Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 363 výchovnými ťažkosťami Adler spolu so svojimi spolupracovníkmi zostavil Individuálnopsychologický dotazník, ktorý je uvedený v závere tejto knihy. (Adler, Alfred (1998): O zmysle života. Übersetzt ins Slowakische von M. Krankus. Bratislava: IRIS) Môžeš koňa priviesť k vode, ale ho neprinútiš napiť sa z nej! (dänisches Sprichwort („dánske príslovie“); Príslovia a porekadlá podľa národnosti. http: / / www.juko56.dobrosoft.sk/ prislovia2d.htm ) 2.4 Diamediale Differenz - der mediale Aspekt Es handelt sich um die Differenz in der Bevorzugung oder Vermeidung der Sprichwörter in der schriftlichen bzw. mündlichen Kommunikation. Die mediale Differenzierung gilt für viele Sprichwörter. Auch unsere Experimente (vgl. Ďurčo 2001, 2005a) haben bestätigt, dass es in jeder Sprache Sprichwörter gibt, die vorwiegend im gesprochenen Usus vorkommen, während andere häufiger in geschriebenen Texten auftreten. Die diamediale Differenz im Kontrast kommt zum Ausdruck dann, wenn diese Differenz nur in einer der verglichenen Sprachen vorkommt, z. B. wenn gegenüber einem medial markierten Sprichwort eines steht, das in Bezug auf diese Markierung neutral ist. Der Vergleich der ermittelten Sprichwörteroptima (textuell hochfrequente Sprichwörter mit hohem Bekanntheitsgrad unter den Sprechern) zeigten in beiden Sprachen markante diamediale Unterschiede (vgl. Ďurčo 2005, S. 45- 113). Zu den Sprichwörtern ohne diamediale Differenz gehören z. B. folgende Einheiten: Ende gut, alles gut / / Koniec dobrý, všetko dobré Guter Rat ist teuer / / Dobrá rada nad zlato Aller Anfang ist schwer / / Každý začiatok býva ťažký Der Zweck heiligt die Mittel / / Účel svätí prostriedky Ausnahmen bestätigen die Regel / / Výnimka potvrdzuje pravidlo Es ist nicht alles Gold, was glänzt / / Nie je všetko zlato, čo sa blyští Zeit ist Geld / / Čas sú peniaze Alte Liebe rostet nicht / / Stará láska nehrdzavie Die Zeit heilt alle Wunden / / Čas všetko zahojí/ vylieči Gelegenheit macht Diebe / / Príležitosť robí zlodeja Andere Länder, andere Sitten / / Iný kraj, iný mrav Wer zuerst kommt, mahlt zuerst / / Kto prv (skôr) príde, ten prv (skôr) melie Peter Ďurčo 364 Lügen haben kurze Beine / / Lož má krátke nohy Reden ist Silber und Schweigen ist Gold / / Hovoriť striebro, mlčať zlato Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm / / Jablko nepadá ďaleko od stromu Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen / / Nikto múdry (učený) z neba nespadol Auge um Auge, Zahn um Zahn / / Oko za oko, zub za zub Der Klügere gibt nach / / Múdrejší ustúpi Wer zuletzt lacht, lacht am besten / / Kto sa smeje naposledy, ten sa smeje najlepšie Erst die Arbeit, dann das Vergnügen / / Najprv práca, potom pláca Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul / / Darovanému koňovi nepozeraj na zuby Wer suchet, der findet / / Kto hľadá, nájde Hunde, die bellen, beißen nicht / / Pes, ktorý breše, nehryzie Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus / / Ako sa do hory volá, tak sa z hory ozýva Alle Wege führen nach Rom / / Všetky cesty vedú do Ríma Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein / / Kto druhému jamu kope, sám do nej (s)padne Eigenlob stinkt / / Samochvála smrdí Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen / / Čo môžeš urobiť dnes, neodkladaj na zajtra! Unkraut vergeht nicht / / Zlá zelina nevyhynie Der Appetit kommt mit dem Essen / / S jedlom rastie chuť Die Wände haben Ohren / / Aj steny majú uši Morgen ist auch ein Tag / / Aj zajtra je deň Freunde erkennt man in der Not / / V núdzi spoznáš priateľa Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben / / Kto nemá v hlave, má v pätách. Dagegen weisen die folgenden Sprichwörter markante diamediale Differenzen auf. Es handelt sich um Sprichwörter, die im slowakischen Sprichwörteroptimum zu den exponiertesten 150 Einheiten gehören, während die deutschen äquivalenten Sprichwörter weit außerhalb der analogischen Taxonomie im Deutschen stehen, vgl.: Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 365 Ako ty mne, tak ja tebe / / Wie du mir, so ich dir Bližšia košeľa ako kabát / / Das Hemd ist näher als der Rock Božie mlyny melú pomaly, ale isto / / Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sicher Čas je najlepší lekár / / Die Zeit heilt alle Wunden Človek mieni, Pán Boh mení / / Der Mensch denkt, Gott lenkt Čo je veľa, to je veľa / / Was zu viel ist, ist zu viel Čo oči nevidia, to srdce nebolí / / Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß Dovtedy sa chodí s krčahom po vodu, kým sa nerozbije / / Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht Hlad je najlepší kuchár / / Hunger ist der beste Koch Istota je istota / / Sicher ist sicher Jedna lastovička nerobí leto / / Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer Kam vietor, tam plášť / / Wohin der Wind, dorthin der Mantel Komu niet rady, tomu niet pomoci / / Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen Kôň má štyri nohy, a predsa sa potkne / / Das Pferd hat vier Beine und stolpert doch Kto chce psa biť, palicu nájde / / Man findet bald einen Stecken, wenn man einen Hund schlagen will Kto neskoro chodí, sám sebe škodí / / Wer zu spät kommt, schadet sich selbst Kto rýchlo dáva, dvakrát dáva / / Bald geben, ist doppelt geben Lepší vrabec v hrsti ako holub na streche / / Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach Niet ruže bez tŕňa / / Keine Rose ohne Dornen Odvážnemu šťastie praje / / Dem Mutigen gönnt das Glück Palica má dva konce / / Ein Stock hat zwei Enden Ráno je múdrejšie ako večer / / Der Morgen ist klüger als der Abend Remeslo má zlaté dno / / Handwerk hat goldenen Boden Strach má veľké oči / / Die Angst hat große Augen Šťastie v hre, nešťastie v láske / / Glück im Spiel, Pech in der Liebe Trpezlivosť ruže prináša / / Geduld bringt Rosen Vajce chce byť múdrejšie ako sliepka / / Das Ei will klüger sein als die Henne Peter Ďurčo 366 Vrana vrane oko nevykole / / Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus Zakázané ovocie najlepšie (najviac) chutí / / Verbotene Früchte schmecken am besten. 2.5 Diastratische Differenz - der soziolinguistische Aspekt Hier geht es um die Unterscheidung nach der sozialen Beschränkung als Gruppen- oder Sonderwortschatz, z. B. Szene- oder Jugendsprache, Soldaten-/ Studenten-/ Gaunersprache, Fachsprache, Berufsjargon, ideologiegebundene Sprache usw. Diese Differenz ist oft mit der diasituativen Markierung verknüpft, also mit Stilschichtzuweisungen wie gehoben, bildungssprachlich, salopp, derb etc. Für die Ermittlung und Erforschung dieser Differenz sind empirische Untersuchungen notwendig. Heute fehlen uns umfangreichere Untersuchungen zum soziolinguistischen Status der Sprichwörter in beiden Sprachen. Unsere Experimente zur Bekanntheit und zur Kenntnis der traditionellen deutschen und slowakischen Parömiologie (vgl. Ďurčo 2002; 2005a, b) haben für die untersuchten Sprachen jedoch ganz klar die diastratischen Differenzen in einzelnen Altersgruppen, also die Veränderungen des Sprichwortgebrauchs in verschiedenen Lebensaltern gezeigt. Beim Vergleich der jeweiligen Angaben stellen wir zudem fest, dass es in Bezug auf die diastratische Differenz auch zwischensprachliche Unterschiede gibt. Zu den deutschen Sprichwörtern, die die größte altersspezifische Differenz in ihrer Bekanntheit unter den Versuchspersonen zeigten (diese lag zwischen 50 % bis 80 % beim Vergleich der Kenntnis der Sprichwörter in der Sprechergruppe unter 20 Jahre mit der Sprechergruppe über 50 Jahre), gehörten die in der Fußnote angegebenen Sprichwörter, 3 die vorwiegend die älteren Probanden kannten. 3 Bei folgenden Sprichwörtern war der Unterschied im Bekanntheitsgrad zwischen den jungen (bis 20 Jahre) und den älteren (über 50 Jahre) Sprechern am größten: Mai kühl und naß, füllt dem Bauern Scheune und Faß; Das Hemd ist näher als der Rock; Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil; Wer gut schmiert, der gut fährt; Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz; Man muss sich nach der Decke strecken; Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen; Das letzte Hemd hat keine Taschen; Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen; Langes Haar, kurzer Sinn; Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um; Am Abend werden die Faulen fleißig; Nichts ist so fein gesponnen, es kommt doch (alles) an die Sonnen; Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht dasselbe; Jeder Krämer lobt seine Ware; Der Fisch fängt am Kopf zu stinken an; Salz und Brot macht Wangen rot; Wie einer isst, so arbeitet er auch; Andere Städtchen, andere Mädchen; Handwerk hat goldenen Boden; Jung gefreit hat nie gereut; Was ich selber denk und tu, trau ich auch den anderen zu; Viele Hände Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 367 Mehrere dieser Sprichwörter haben in Bezug auf die Altersgruppen im Slowakischen keine solche Markierung gezeigt. Sprichwörter wie Das Hemd ist näher als der Rock (slow.: Košeľa je bližšia ako kabát), Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen (slow.: Komu niet rady, tomu niet pomoci), Langes Haar, kurzer Sinn (slow.: Dlhé vlasy, krátky rozum), Der Fisch fängt am Kopf zu stinken an (slow.: Ryba smrdí od hlavy), Soviel Köpfe, soviel Sinne (slow.: Koľko hláv, toľko rozumu) haben im Slowakischen in Bezug auf die Verteilung nach Altersgruppen keine markante Differenz aufgewiesen. 2.6 Diatextuelle Differenz - der (kon-)textuelle Aspekt Die diatextuelle Differenz hat mehrere Dimensionen in Hinblick auf die Bevorzugung bzw. Vermeidung von Sprichwörtern in bestimmten Kommunikationsbereichen und Textsorten. Diese Differenz kann sich auf verschiedene Eigenschaften des Textes beziehen. Primär ist das die Differenz in Bezug auf das Vorkommen des Sprichworts in verschiedenen Textsorten, des Weiteren auf die Thematisierung, d. h. die kontextuelle Thematik des Sprichworts, und nicht zuletzt auf die textbildenden Potenzen des Sprichworts, vor allem auf sein Potenzial als textbildendes Element zur Gestaltung des Textes beizutragen. Beim Sprichwort Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders und den Balken im eigenen nimmst du nicht wahr wird in den Korpusbelegen häufig auf den biblischen Ursprung des Sprichworts verwiesen, und es wird in den Korpusbelegen fast ausschließlich als Bibelzitat markiert. Das slowakische Sprichwort V cudzom oku vidí smietku, a vo svojom brvno nevidí hat diese textuelle Bindung fast vollständig verloren, und Verweise auf den biblischen Ursprung fehlen folgerichtig auch in den Korpusbelegen. Ein Beispiel, das mehrere solche diatextuellen Differenzen dokumentiert, ist das Sprichwort Adel verpflichtet, bei dem es sich um die wörtliche Übersetzung der französischen Maxime „noblesse oblige“ aus Pierre Marc Gaston Duc de Lévis' 1808 erschienenen Maximes et réflexions sur différentes sujets de morale et de politique handelt. machen der Arbeit schnell ein Ende; Not lehrt beten; Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen; Wem die Jacke passt, der zieht sie sich an; Heute rot, morgen tot; Wes Brot ich ess, des Lied ich sing; Allen Leuten recht getan ist eine Kunst, die niemand kann; Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot; Dem Glücklichen schlägt keine Stunde; Der Hehler ist schlimmer als der Stehler; Armut schändet nicht; Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über; Unrecht Gut gedeiht nicht; Klappern gehört zum Handwerk; Man kann nicht gleichzeitig zwei Herren dienen; Wer sich entschuldigt, klagt sich an; Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen; Soviel Köpfe, soviel Sinne; Wer lügt, der stiehlt. Peter Ďurčo 368 Dieses Sprichwort kommt in slowakischen Texten in verschiedenen Varianten vor, wie z. B. urodzenosť (‘Noblesse’), stav (‘Stand’), šľachtický pôvod (‘adlige Herkunft’), šľachtictvo (‘Adelstand’) u. Ä. zaväzuje (‘verpflichtet’), vgl. das Beispiel: Zavádzanie slovenskej ortografie do priezvisk všetkých uhorských rodov nepovažujme za niečo násilné alebo vykonštruované, či za snahu poslovenčiť aj to, čo slovenské nikdy nebolo. Vychádza zo skutočnosti, že máme svoj vlastný jazyk s diakritickým pravopisom a tento pravopis je pre náš písomný prejav záväzný. Na úvodnej strane publikácie nás autor zoznamuje s „krédom správania každého šľachtica, zásadou ‘šľachetnosť zaväzuje’“. K tomu jedna poznámka: francúzska frazéma „noblesse oblige“ znamená „noblesa“, t. j. urodzenosť (stav, šľachtický pôvod) zaväzuje. (Michaela Geisbacherová: Šľachtické rody - Drahoslav Machala. http: / / www.litcentrum.sk/ 42246 ) Mit dem slowakischen Äquivalent pôvod zaväzuje (wörtl.: ‘Herkunft verpflichtet’) wird in den Texten ausschließlich auf tatsächliche Adlige Bezug genommen. Hier wird ausgedrückt, dass von einem Mitglied dieser Gesellschaftsschicht ein bestimmter Lebensstil oder gewisse Verhaltenskonventionen erwartet werden, vgl. das Beispiel: P. Máriássy je niekoľko mesiacov na dôchodku v Košiciach a trápi ho hrad v Markušovciach. Chcel by ho zrekonštruovať. Má stavebné povolenie, chýba však zo desať miliónov. Vyhrať v lote? Pousmeje sa: „Odkiaľ peniaze vziať, vie len pán Boh a ja som veriaci, nuž verím, že sa všeličo môže stať.“ Úvery však nechce, lebo si prerátal možnosti splácania a načo ťahať rodinu do rizika. Prišiel však na to, že rekonštruovať možno aj po častiach. Svojho času prišli chytráci, že získajú peniaze a hrad prerobia na domov dôchodcov. Na päť rokov. Potom by starčekov vyšupovali inde a hrad by výhodne predali. „Na také kšefty Máriássyho nedostanú,“ vyhlasuje a neľutuje, čo mohol zarobiť. „Môj pôvod zaväzuje a isté veci sa šľachtickým zásadám priečia.“ Stal sa členom maltézskych rytierov, ktorých poslaním je aj starostlivosť o starých a chorých. (Ján Blažej: Štvrť milióna s modrou krvou. Ako na Slovensku žije súčasná šľachta. http: / / profit.etrend.sk/ ludia-a-udalosti/ stvrt-miliona-s-modrou-krvou-3.html ) Das deutsche Sprichwort weist ein viel breiteres (kon-)textuelles Potenzial auf als die slowakischen Äquivalente. Der erste markante Unterschied liegt im großen Aktualisierungspotenzial der Komponente Adel. Im Deutschen sind Varianten mit solchen Komposita, hier mit dem Grundwort Adel, möglich. Die jeweiligen Bestimmungswörter drücken aus, worauf ein bestimmter Ruf oder eine bestimmte gesellschaftliche Stellung, die Erwartungshaltungen zur Folge haben, zurückzuführen sind. Vgl. die Belege: Manfred und Inge Schmider gaben gerne Geld aus, sie aßen gut und tranken noch besser [...]. Und sie fühlten sich genau richtig aufgehoben in den „guten Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 369 Kreisen“ [...]. Aber Geldadel verpflichtet. Haben alle eine Wohnung in St. Moritz, braucht man auch eine, ebenso wie eine Yacht, einen Klimt oder Picasso. (NUZ08/ DEZ.01357 Nürnberger Zeitung, 12.12.2008, S. 21: Wie Insolvenzverwalter Wirtschaftskriminellen auf die Pelle rücken: Die Suche nach den verlorenen Millionen) Ein erfüllter Traum, der Doris Neuner aber erst recht motiviert, „mit dem gleichen Biß wie voriges Jahr in die Saison zu gehen. Eine Goldene hab' ich schon. Aber es gibt ja noch eine Weltmeisterschaft. Und den Weltcup. Da möcht' ich unter die ersten Drei kommen! “ [...] Rodel-Adel verpflichtet. (P92/ OKT.30048 Die Presse, 06.10.1992: Goldadel verpflichtet) Partei-Adel verpflichtet: Da hat es schon eine innere Logik, dass die engagierte Ärztin und SPÖ -Gesundheitssprecherin Elisabeth Pittermann, Tochter des ehemaligen SPÖ -Vorsitzenden und Vizekanzlers Bruno Pittermann, zur neuen Gesundheitsstadträtin berufen wird. (N00/ DEZ.57609 Salzburger Nachrichten, 12.12.2000: Ressort: Österreich; Der Standpunkt) Der zweite markante diatextuelle Unterschied liegt in einer viel breiteren textuellen Thematisierung des Sprichworts in deutschen Texten. Der Bezug auf Adlige spielt hier eher eine untergeordnete Rolle. Wir finden zwar Belege mit dem usuellen Gebrauch des Sprichworts, jedoch überwiegen Kontexte aus Bereichen der Film- oder Sportstars, vgl.: Die Rangelei zwischen Ernst August Prinz von Hannover und einem deutschen Hotelier in Kenia habe dem gesamten „Stand“ einen schweren Image-Schaden zugefügt. „Die Formel ‘Adel verpflichtet’ hat immer noch Gültigkeit“, sagt die Prinzessin. (RHZ00/ JAN.10281 Rhein-Zeitung, 20.01.2000: Adel rügt den Prügel-Prinzen) Dann will auch Monaco in der ersten Liga der großen Kreuzfahrthäfen mitspielen und schwimmende Paläste bis zu 210 Meter Länge anlegen lassen. Doch das Fürstentum will - Adel verpflichtet - seinem exklusiven Ruf treu bleiben will. „Wir zielen auf Luxus-Kreuzfahrer, nicht auf die breite Masse“, sagt Monaco-Sprecher Daniel Realini. (M02/ AUG.63527 Mannheimer Morgen, 27.08.2002: Monacos neuer Hafen zielt auf Luxus-Liner, nicht auf die breite Masse) Früher hieß es „Adel verpflichtet“, heute stehen höchstens noch die wenigen Weltstars unter dem Druck, täglich ihrem Ruf gerecht zu werden. Das heißt dann für jemanden wie Popstar Jennifer Lopez, dass es völlig egal ist, ob sie mit Sonnenbrille in der letzten Stunde vor Mitternacht blind wie ein Maulwurf durch Berlin irrt. (B07/ FEB.11774 Berliner Zeitung, 15.02.2007: Wie ein Staatsgast, S. 28) Als erstes Team nahmen die schwedischen und spanischen Kicker [...] ihre Zimmerschlüssel in Empfang. Und es folgen von Tag zu Tag weitere Mannschaften [...]. Ein Trend ist unverkennbar: Adel verpflichtet. Jugendherbergen Peter Ďurčo 370 sind out, Schlösser in. Bei der Wahl der Quartiere wurde auf Komfort, Sicherheit und Ruhe geachtet und wohl erst beim zweiten Blick auf die Preistafel an der Rezeption geschaut. (M00/ JUN.27580 Mannheimer Morgen, 07.06.2000: Jugendherbergen sind out) Adel verpflichtet. Deswegen stehen die Hockey-Frauen der Frankfurter Eintracht derzeit auch ein wenig unter Zugzwang. Nachdem sie nämlich in der vergangenen Saison mit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft [...] Einzug in die höhere Gesellschaft hielten, stehen sie in der Pflicht, diesen Erfolg zu bestätigen. (R98/ JAN.02700 Frankfurter Rundschau, 13.01.1998, S. 20: Ressort: Sport; Hockey-Frauen der Eintracht rechnen sich noch kleine Chance auf [sic! ]) Das unterschiedliche diatextuelle Potenzial der kontextuellen Thematisierung der Sprichwörter liegt hauptsächlich in ihrer unterschiedlichen Motivation und im symbolischen Wert der einzelnen Konstituenten begründet. Dem deutschen Sprichwort Der frühe Vogel fängt den Wurm z. B. entspricht das slowakische Sprichwort Kto prv príde, ten prv melie (wörtl.: ‘Wer früher kommt, der mahlt zuerst’). In beiden Sprachen kommen die Sprichwörter primär in Kontexten vor, in denen thematisiert wird, dass sich jemand durch besonders schnelles Handeln einen Vorteil gegenüber anderen verschafft, vgl. die Belege: Der frühe Vogel fängt den Wurm, scheint Deutschlands Ausnahmegolfer Bernhard Langer wohl zu denken und hat sich schon mal als Ryder-Cup-Kapitän ins Gespräch gebracht. Einen Tag vor dem Start des „Linde German Masters“ bei Köln meldete der 45-jährige Schwabe seine Ambitionen für den traditionellen Mannschaftswettbewerb der besten Golfprofis von Europa gegen die USA 2004 [...] an. (RHZ02/ SEP.08979 Rhein-Zeitung, 12.09.2002) Budú ich predávať za nižšiu cenu tzv. podnikateľom, ktorí týmito dlhopismi vyplatia svoje dlhy vo FNM. Ponuka dlhopisov na trhu je však trojnásobne vyššia oproti dopytu. Teda reálna cena dlhopisov na trhu bude oproti ich nominálnej cene presne toľkokrát nižšia. Je možné, že ministerstvo financií v panike vydá vyhlášku, aby cena dlhopisu neklesla pod istú hodnotu. Ale potom kde sme? Potom nie všetci budeme môcť realizovať svoje dlhopisy. Bude to podľa hesla - kto prv príde, ten prv melie. Prípadne nebude o takéto dlhopisy záujem. Takže dlhopisová privatizácia je oklamaný občan na slepej koľaji. (SME95, S. 12) In den deutschen Korpusbelegen wird jedoch oft das bildhafte Potenzial ausgenutzt. Das Sprichwort drückt aus, dass ‘etwas am Morgen einfacher und besser zu schaffen ist oder jemand in der Frühe etwas intensiver erleben bzw. genießen kann’. In dieser Bedeutung ist das Sprichwort synonym zu Morgenstund hat Gold im Mund, vgl.: Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 371 Morgenstund hat Gold im Mund, oder der frühe Vogel fängt den Wurm: Gemäß dieser unbestätigten Erkenntnisse stehen 29 Prozent der Bundesbürger vor 6 Uhr auf. Im EU-Durchschnitt sind es nur 15 Prozent. (T05/ MAR.04433 die tageszeitung, 23.03.2005, S. 7: Nicht genug Würmer) Dieses textbildende Potenzial fehlt dem slowakischen Sprichwort. Die Sprichwörter Man kann die Pferde zur Tränke führen, saufen müssen sie selbst / / Môžeš priviesť koňa k vode, ale nedonútiš ho, aby sa napil benutzt man in beiden Sprache dafür, ‘dass man jemandem gewisse Hilfestellungen geben kann, derjenige letztlich aber selbst darüber entscheidet, ob und wie er diese Chance nutzt’. Interessant ist hier eine andere Art der diatextuellen Differenz. Neben identischer kontextueller Verwendung wird in den deutschen Korpusbelegen das Sprichwort häufig in der Domäne ‘Wirtschaft’ verwendet oder sogar als Ausspruch des Ökonomen Karl Schiller gekennzeichnet, vgl.: Niedrige Zinsen begünstigen aber das Investitionsklima. FRANZ : Kurzfristig erreicht man mit geldpolitischen Maßnahmen nicht viel. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller hat das mal sehr plastisch ausgedrückt, indem er sagte: „Man kann die Pferde zur Tränke führen, aber saufen müssen sie selbst.“ Letztendlich müssen die Unternehmer investieren. Die Banken können nur Liquidität zur Verfügung stellen, aber sie sind keine Investoren. (Mannheimer Morgen, 11.04.2001: „Rot-Grün darf die Lohnkosten jetzt nicht mit falschen Maßnahmen erhöhen“) „Man kann die Pferde zur Tränke führen, saufen müssen sie selbst.“ So lautete ein berühmter Satz aus des Ökonomen Karl Schillers Spruchschatztruhe, mit dem er versuchte, die Wähler für etwas zu gewinnen, woran er selbst fest glaubte: den „Tisch der kollektiven Vernunft“. Es war Karl Schiller, der Gewerkschafter, Unternehmer und Sachverständige in seine „Konzertierte Aktion“ einband, Orientierungshilfen [...] vorgab und schließlich ein Stabilitätsgesetz durchsetzte, das einer staunenden Bundesrepublik verhieß: Die Zeiten ökonomischer Krisen sind für immer vorüber, stetiges Wachstum, Vollbeschäftigung und Preisstabilität sind machbar, wenn die Politik nur rechtzeitig entweder Konjunkturspritzen gibt oder auf die Bremse tritt und die Arbeitnehmer in schwierigen Zeiten Lohnzurückhaltung üben, um in guten Zeiten durch üppige Lohnzuwächse dafür entschädigt zu werden. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 03.01.2008, S. 57: Die Callas der Sozialdemokratie) Dagegen wird mit diesem Sprichwort in den Belegen im Slowakischen auch noch auf die Fähigkeit bzw. auf die mangelnde Intelligenz der Person hingewiesen, die das, was man ihr anbietet, nicht zu schätzen bzw. zu nutzen weiß. Hodnejšou nasledovania je jednoznačne cesta k maximalizácii rastu ekonomiky, pretože tak prirodzene rastie životná úroveň i v menej rozvinutých regiónoch rýchlejšie. V regionálnom rozvoji by, rovnako ako v spoločnosti Peter Ďurčo 372 všeobecne, mali mať kľúčový význam názorová pluralita, lokálne iniciatívy a čo najširšia sloboda rozhodovania ľudí. Problémy treba riešiť tam, kde vznikajú, teda v miestnych komunitách, so znalosťou miestnych pomerov. Anglické príslovie, že môžeš priviesť koňa k vode, ale nemôžeš ho prinútiť, aby sa napil, platí aj o ťahúňovi HZDS . Jeho kolegovia ho síce priviedli k Ivanovi Gašparovičovi, ale Vladimír Mečiar im ukázal, že ho nemôžu prinútiť, aby sa k nemu správal ako k prezidentovi. Po najhoršej politickej prehre, akú vo svojom politickom živote utrpel, predseda HZDS vyhlasoval, že sa s novou hlavou štátu stretávať nebude, lebo „nemáme témy, o ktorých by sme rokovali“. A ako dodal, ani nepredpokladá, že by sa mohli objaviť. (Sme, 15.7.2004) 2.7 Diafrequente Differenz - der quantitative Aspekt Es gibt viele Sprichwörter, die in einer Sprache im sprachlichen Usus gut bekannt sind und auch intensiv gebraucht werden, oder in Texten sehr häufig vorkommen, wogegen die äquivalenten Sprichwörter in der anderen Sprache sich im sprachlichen Usus bzw. in geschriebenen Texten an der Peripherie befinden, ungebräuchlich oder sogar unbekannt sind. Bei den empirischen Untersuchungen zur Bekanntheit der Sprichwörter (vgl. Ďurčo 2001, 2002) konnten wir diese Differenz bei vielen Sprichwörtern beobachten. Zu den deutschen Sprichwörtern, die von den Versuchspersonen als wenig bekannt bzw. ungebräuchlich bewertet wurden, zählen z. B. folgende im Slowakischen als bekannt und gebräuchlich bewertete Sprichwörter: Kleine Kinder treten der Mutter auf die Schürze, große aufs Herz (slowak.: Malé deti - malé starosti, veľké deti veľké starosti); Man muss dreimal messen, ehe man einmal schneidet (slowak.: Dvakrát meraj, raz strihaj); Der Fisch fängt am Kopf zu stinken an (slowak.: Ryba smrdí od hlavy) etc. Dagegen wurden von slowakischen Versuchspersonen mehrere Sprichwörter als unbekannt und sogar unverständlich bezeichnet, die umgekehrt von den deutschen Versuchpersonen als bekannt bewertet wurden, wie z. B. Man soll das Fell des Bären nicht verkaufen, bevor er erlegt ist (slowak.: Ešte vlka nezabili, už na jeho kožu pili); Man soll nicht auf einmal zwei Hasen jagen (slow.: Kto dvoch zajacov naháňa, ani jedného nechytí); Lehrjahre sind keine Herrenjahre (slowak.: Učeň - mučeň); Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil (slowak.: Na hrubé vrece hrubá záplata) u. v. a. m. Das Sprichwort Adel verpflichtet ist auch für die diafrequente Differenz in Bezug auf das textuelle Vorkommen ein aussagekräftiges Beispiel. Im Unterschied zum häufigen textuellen Vorkommen in deutschen Texten kommt dieses Sprichwort in den slowakischen Texten sehr selten vor. Im Slowakischen Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 373 Nationalkorpus ( SNK ) 4 ist dieses Sprichwort nur viermal belegt und zwar in der Variante šľachtictvo zaväzuje (wörtl.: ‘Adelstand verpflichtet’); im Internet finden sich nur zwei Belege für die Variante pôvod zaväzuje (wörtl.: ‘Herkunft verpflichtet’) und nur zwei Belege šľachtictvo zaväzuje. Dagegen gab es im SNK elf Belege für die französische Zitatform, vorwiegend in übersetzten Texten, vgl.: Vrhol som jediný pohľad na ich portfólio a bolo mi jasné, že tie chatrné výsledky dokonca nezavinil ani nejaký kretén ako Pete Mclntyre. Bola to ukážka jasného a obyčajného lajdáctva. Kým v ostatnom svete sa základná sadzba pohybovala okolo dvadsiatich percent, oni ešte vždy držali vládne úpisy z čias druhej svetovej vojny, ktoré im vynášali iba tri-štyri percentá . Keď sme sa dali do obeda, načrtol som predbežný plán reštrukturácie a Tim prekypoval vďačnosťou. Našťastie Mclntyre & comp. Alleyn sa riadili heslom noblesse oblige a robili Timovi spoločnosť. Neosameli sme teda, keď sme jedli sendviče, a otec Hogan rozprával celkom nezáväzne, napríklad sa ma opýtal, ako je to možné, že hľadám hodnoty v komoditách, ktoré prídu na trh v budúcnosti, hoci kedysi som sa rozhodol pre kariéru zasvätenú pestovaniu hodnôt minulosti. (Segal, Erich (1998): Viera a láska. Bratislava: Media klub). Eine markante diafrequente Differenz weist z. B. das textuell häufig vorkommende Sprichwort Jeder Topf findet seinen Deckel im Vergleich zum sehr selten vorkommenden Sprichwort Na každý hrniec sa pokrievka nájde auf, das im Slowakischen eher als ein fremdes, entlehntes Element empfunden und somit als diaintegrativ markiert wird. Ebenso kommen die Sprichwörter Borgen macht Sorgen / / Dlh je zlý druh, oder Einmal ist keinmal / / Len raz je ako nikdy im SNK und auch im Internet gar nicht bzw. nur vereinzelt vor (mit der Ausnahme der Zitate aus alten Sprichwortsammlungen), wobei hinsichtlich der Normativität oder auch in Bezug auf ihre Verständlichkeit überhaupt kein Hindernis für die Integration dieser Sprichwörter in den aktuellen Sprachgebrauch existiert. Die diafrequente Differenz ist immer als Folge von anderen diasystematischen Unterschieden, vor allem in Temporalität, Arealität, Nationalität, Medialität von Sprichwörtern, zu sehen. 2.8 Diaphasische Differenz - der soziale und funktional-stilistische Aspekt Bei der diaphasischen Differenz unterscheidet man zwei Arten - die diaevaluative und diasituative Differenz. Bei der diaevaluativen Markierung geht es um den wertenden Aspekt hinsichtlich der Stilfärbung. Gegenüber einem neu- 4 http: / / korpus.juls.savba.sk: 8080/ manatee.ks/ index Peter Ďurčo 374 tralen Sprichwort kann ein konnotiertes, emotional bewertendes (‘abwertend’, ‘pejorativ’, ‘emotional positiv/ negativ’) Sprichwort stehen, oder aber es geht um Differenzen in der Stilfärbung wie ‘neutral’ gegenüber ‘scherzhaft’, ‘ironisch’, ‘spöttisch’, ‘euphemistisch’, ‘verhüllend’ etc. Beispiele für diaevaluative Differenzen sind folgende: Gleich und Gleich gesellt sich gern (emotional positiv/ negativ) / / Vrana k vrane sadá, rovný rovného si hľadá (emotional negativ) Jeder ist sich selbst der Nächste (abwertend, euphemistisch) / / Každé hrable k sebe hrabú (abwertend, pejorativ). Die diasituative Differenz betrifft den funktional-stilistischen Aspekt. Sie entsteht dann, wenn an sich äquivalente Sprichwörter sich in ihren situationsabhängigen oder funktional-stilistischen Werten unterscheiden. Als Beispiel dafür kann das deutsche Sprichwort Früh übt sich, wer ein Meister werden will dienen, das keine auffällige funktional-stilistische Markierung aufweist. Diesem Sprichwort entsprechen die slowakischen sprichwörtlichen Äquivalente Za mladi sa tŕnik ostrí, aby bol na starosť bystrý oder Za mladi nabývaj, na starosť užívaj, die ausschließlich zur literarisch-poetischen Stilschicht gehören. Eine neutrale Verwendung in der Alltagssprache ist ausgeschlossen. Zusätzlich kann man hier auch noch eine diachrone und diaphasische Differenz konstatieren, da diese slowakischen Sprichwort nicht einmal in der ältesten Generation bekannt sind und ihre Kenntnis in den jüngeren Generationen nicht einmal in der passiven Form zu erwarten ist. Bei der diasituativen Differenz sind die Unterschiede nicht so häufig und auch nicht immer so ausgeprägt. Trotzdem kann man Sprichwörter in beiden Sprachen finden, zwischen denen der stilistische Unterschied ziemlich deutlich zu Tage tritt, vgl.: Gebranntes Kind scheut das Feuer (neutral) / / Kto sa popáli, aj huspeninu dúcha (umg.; wörtl.: ‘Wer sich verbrennt, der bläst auch die Sülze’) Gut Ding will Weile haben (umg.) / / Všetko chce svoj čas (neutral; wörtl.: ‘Alles will seine Zeit’) Jedem Tierchen sein Pläsierchen (umg.) / / Každému podľa jeho chuti (neutral; wörtl.: ‘Jedem nach seinem Geschmack’) Kommt Zeit, kommt Rat (neutral) / / Dočkaj času ako hus klasu (umg.; wörtl.: ‘Warte die Zeit ab, wie die Gans die Getreideähre’) Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 375 Lehrjahre sind keine Herrenjahre (neutral) / / Učeň - mučeň (umg., veralt.; wörtl.: ‘der Lehrling - der Gefolterte’) Steter Tropfen höhlt den Stein (neutral) / / Častá kropaj i kameň porazí (gehob., pathetisch; wörtl.: ‘Häufiges Tropfen besiegt den Stein’). 2.9 Dianormative Differenz - der sprachnormative Aspekt Bezüglich der Sprachnorm und hinsichtlich des durchschnittlichen sprachlichen Usus lassen sich mehrere Unterschiede feststellen (dianormative Identität vs. dianormative Differenz). Diese Differenz hinsichtlich der Sprachnorm entsteht dann, wenn die Einheiten der verglichenen Sprachen einen unterschiedlichen Status im lexikalischen System haben. Dieser Aspekt ist vielseitig und bezieht sich auf verschiedene Ebenen der Sprache und der Sprachverwendung. Die Frage nach der Sprichwortdivergenz zielt aber nicht nur auf die Dichotomie ‘richtige - falsche Sprachnorm’ in Bezug auf die Standardsprache, sondern vor allem auf die sog. soziale Norm. Es wird also viel differenzierter gefragt, welche Sprichwörter in welcher Situation angemessen sind, z. B. im Verhältnis eines schriftsprachlichen Sprichwort zu einem nichtschriftsprachlichen Äquivalent. Eine interessante Entwicklung hinsichtlich der Sprachnorm beobachten wir im Slowakischen beim Sprichwort My o vlku a vlk za humny (wörtl.: ‘Wir über den Wolf, und er (ist) hinter den Scheunen’), das als Äquivalent zum deutschen Sprichwort Wenn man vom Teufel spricht, dann kommt er steht. Das slowakische Sprichwort mit den archaischen Komponenten vlku und humny wird heute kaum noch gebraucht. Allmählich setzt sich eine neue Variante durch: My o vlkovi a vlk za humnami (vgl. Mlacek 2007, S. 226), die schon der heutigen Sprachnorm entspricht. Eine Parallele zu diesem Phänomen kann man beim slowakischen dianormativ und diatextuell unmarkierten Sprichwort Čo na srdci, to na jazyku (wörtl: ‘Was am Herzen, das auf der Zunge’) und dem deutschen Sprichwort Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über (mit dem häufigen Verweis auf die diatextuelle Markierung als Biblismus) beobachten. In diesem Fall konkurriert die ältere Norm mit archaischen Komponenten mit neueren Varianten, vgl.: Wessen Herz voll ist, dessen Mund geht über; Wessen Herz voll ist, dem geht der Mund über. Peter Ďurčo 376 2.10 Diatechnische Differenz Hypothetisch kann man auch die Differenz in Bezug auf den gemeinsprachlichen und fachsprachlichen Status von Sprichwörtern in zwei Sprachen voraussetzen. Die Existenz der fachsprachlichen Sprichwörter ist jedoch nicht erforscht. Unzweifelhaft gibt es in den Fachsprachen festgeprägte Sätze, die auch verschiedene Grade der Idiomatizität aufweisen, jedoch fehlen uns heute monolinguale und vergleichende Untersuchungen in diesem Bereich. 3. Zusammenfassung Bezüglich ihrer diasystematischen Charakteristiken weisen Sprichwörter im deutsch-slowakischen Kontrast vor allem Unterschiede in ihren diachronen, diamedialen, diatextuellen, und diafrequenten Werten auf. Weniger markant und weniger häufig sind die Unterschiede in den dianormativen, diaintegrativen, diaevaluativen und diasituativen Werten. Eine besondere Problematik beim Vergleich des Deutschen mit anderen Sprachen stellt die spezifische diatopische Differenz dar, die aus dem plurizentrischen Charakter des Deutschen resultiert. Die Untersuchungen der diastratischen und der diatechnischen Charakteristiken im Bereich der satzwertigen Phraseme und besonders der Sprichwörter stellen ein noch zu bearbeitendes Feld für die wissenschaftliche Erforschung und Beschreibung dar. Diasystematische Differenzen von Sprichwörtern 377 Literatur Burger, Harald / Dobrovoľskij, Dmitrij / Kühn, Peter / Norrick, Neal R. (Hg.) (2007): Phraseologie / Phraseology. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung / An International Handbook of Contemporary Research. Phraseology. An International Handbook of Contemporary Research. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 28). Berlin / New York. Ďurčo, Peter (2001): Bekanntheit, Häufigkeit und lexikograpische Erfassung von Sprichwörtern. Zu parömiologischen Minima für DaF. In: Häcki Buhofer, Annelies / Burger, Harald / Gautier, Laurent (Hg.): Phraseologiae Amor: Aspekte europäischer Phraseologie. (= Phraseologie und Parömiologie 8). Hohengehren, S. 99-106. Ďurčo, Peter (2002): Unterschiede in der (Un)kenntnis von Sprichwörtern in verschiedenen Lebensaltern. In: Häcki Buhofer, Annelies (Hg.): Spracherwerb und Lebensalter. (= Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 83). Tübingen u. a., S. 293-304. Ďurčo, Peter (2005a): Sprichwörter in der Gegenwartssprache. Trnava. Ďurčo, Peter (2005b): Paremiologické minimum slovenčiny. Výsledky a porovnania. In: Blatná, Renáta / Petkevič, Vladimír (Hg.): Jazyky a jazykověda. Sborník k 65. narozeninám prof. PhDr. Františka Čermáka, DrSc. Praha, S. 45-61. Ďurčo, Peter (2010). Slowakische Sprichwortartikel. In: Datenbank des EU-Projekts SprichWort. Internet: http: / / www.sprichwort-plattform.org/ sp/ Sprichwort_sk . Hausmann, Franz Josef (1989): Die Markierungen im allgemeinen, einsprachigen Wörterbuch: eine Übersicht. In: Hausmann, Franz Josef / Reichmann, Oskar / Wiegand, Herbert Ernst / Zgusta, Ladislav (Hg.): Wörterbücher/ Dictionaries/ Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie / An International Encyclopedia of Lexicography / Encyclopédie internationale de lexicographie. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5). Berlin / New York, S. 649-657. Mlacek, Jozef (2007): Štúdie a state o frazeológii. Ružomberok. Steyer, Kathrin / Hein, Katrin (2010): Deutsche Sprichwortartikel. In: Datenbank des EU-Projekts SprichWort. Internet: http: / / www.sprichwort-plattform.org/ sp/ Sprichwort . Wiegand, Herbert Ernst (1988): Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern. In: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie I. 2. Aufl. (= Germanistische Linguistik 3-4/ 98). Hildesheim / Zürich / New York, S. 139-271. Tamás Forgács Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform - unter besonderer Berücksichtigung der Relation Deutsch - Ungarisch 1. Vorbemerkung In der kontrastiven Phraseologie unterscheidet man mehrere Äquivalenztypen. Diese sind auch in unserer Datenbank ( www.sprichwort-plattform.org ) dokumentiert. In meinem Beitrag gehe ich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den untersuchten Sprachen ein, wobei der Akzent vor allem auf Äquivalenzerscheinungen zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen liegen wird. In der Literatur gibt es bekanntermaßen unterschiedliche Auffassungen von phraseologischer Äquivalenz (vgl. z. B. Hessky 1987, S. 57-60; Forgács 2007, S. 247f.). Wie in den meisten Arbeiten wird den Sprichwortäquivalenten auch in unserer Datenbank die Bedeutungsidentität auf denotativer Ebene zugrunde gelegt. Die interlinguale Äquivalenz der Sprichwörter der Datenbank kann sowohl unter quantitativem als auch unter qualitativem Gesichtspunkt erforscht werden. In meiner Arbeit werde ich den Akzent auf die qualitative Äquivalenz legen, aber zunächst gehe ich kurz auf Fragen der quantitativen Äquivalenz (vgl. Korhonen 2007, S. 577) ein. Betrachten wir als erstes diesen Aspekt. 1 2. Monoäquivalenz Die meisten Sprichwörter unserer Datenbank weisen eine Monoäquivalenz auf, d. h., einem Sprichwort von L1 entspricht nur ein Sprichwort in L2 (= 1: 1-Entsprechung). Hier einige Beispiele aus der Relation Deutsch-Ungarisch: Aller Anfang ist schwer. - Minden kezdet nehéz Keine Rose ohne Dornen. - Nincsen rózsa tövis nélkül. 1 Die deutschen Beispiele, Belege und Bedeutungsbeschreibungen sind der Sprichwortdatenbank entnommen; vgl. Steyer / Hein (2010). Für die ungarischen Angaben vgl. Forgács (2003 bzw. 2010), für die slowakischen vgl. Ďurčo (2010); für die slowenischen vgl. Jesenšek (2010); für die tschechischen vgl. Marek (2010). Tamás Forgács 380 Geld stinkt nicht. - A pénznek nincs szaga. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. - Akinek vaj van a fején, ne menjen a napra. Wie man an den Beispielen sieht, können Fälle für Monoäquivalenz in Hinblick auf die qualitativen Entsprechungen recht unterschiedlich sein: Unsere ersten beiden Beispiele (Aller Anfang ist schwer und Keine Rose ohne Dornen) sind vollständig äquivalent, der dritte Beleg Geld stinkt nicht ist aber schon ein Beispiel für partielle Äquivalenz (das ungarische Sprichwort heißt übersetzt: ‘Geld hat keinen Geruch’). Der vierte Beleg Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen stellt bereits ein Beispiel für bloße Bedeutungsäquivalenz (funktionale Äquivalenz) dar. In diesem Fall lautet die wörtliche Übersetzung des ungarischen Sprichworts: ‘Wer Butter auf dem Kopf hat, soll nicht in die Sonne gehen’. Sowohl in L 1 als auch in L 2 drücken also Phraseme folgende intendierte Bedeutung aus: ‘Man sollte an anderen Menschen keine Dinge kritisieren, die bei einem selbst genau so wenig in Ordnung sind oder waren’, obwohl das jeweilige sprachliche Bild unterschiedlich ist. Der Gedankenrahmen (‘Frame’) ist gleich: ‘Wer in einer speziellen, etwas prekären Situation ist, sollte nicht solche Dinge tun, die die Lage noch verschlechtern.’ Außerdem hat das ungarische Sprichwort außer der oben angegebenen noch eine weitere Bedeutung: ‘Wenn jemand an etwas schuld ist, ist es besser, still und inaktiv zu bleiben.’ Somit sind die Sprichwörter der beiden Sprachen in einem Verhältnis der Hypero-Hyponymie (vgl. Földes / Kühnert 1990, S. 43), da beim ungarischen Äquivalent im Vergleich zum Deutschen noch zusätzliche Seme vorhanden sind. Es gibt aber auch einige Beispiele für Polyäquivalenz. Das bedeutet, dass a) ein L 1-Sprichwort in L 2 mehrere Äquivalente hat oder auch umgekehrt: b) mehreren Sprichwörtern in L 1 kann ein Sprichwort in L 2 entsprechen, wie folgende Beispiele zeigen: a) Wo Rauch ist, ist auch Feuer. - Nincsen füst tűz nélkül. - Nem zörög a haraszt, ha a szél nem fújja. (wörtl.: ‘Dürres Laub raschelt nicht, wenn es nicht vom Wind geweht wird.’) Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 381 b) Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. - Amilyen az adjonisten, olyan a fogadjisten. (wörtl.: ‘Wie das Grüßgott, so der Gegengruß.’) Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Wie du mir, so ich dir. Es kann auch vorkommen, dass die Polyäquivalenz beidseitig vorhanden ist, das heißt, einem Sprichwort in L 1 entsprechen zwar zwei Sprichwörter in L 2. Aber auch die Ausgangsform in L 1 hat ein Synonym, somit entsprechen eigentlich in den beiden kontrastierten Sprachen je zwei Sprichwörter einander, aber nicht als 1: 1-Paare, sondern als synonyme Gruppen: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Szemesnek áll a világ. (wörtl: ‘Einem Aufgeweckten gehört die Welt.’) Morgenstunde hat Gold im Munde. Ki korán kel, aranyat lel. (wörtl.: ‘Wer früh aufsteht, findet Gold.’) 3. Typen qualitativer Äquivalenz Was die unterschiedlichen Typen der ‘qualitativen Äquivalenz’ betrifft, so sind in unserem Material beide vertreten: ‘Volläquivalenz’ und vor allem aber ‘Teiläquivalenz’. In der Datenbank nicht enthalten sind Typen lexikalischer Entsprechungen, die zur Gruppe der ‘Ersatzäquivalenz’ (nichtphraseologischen Äquivalenz) gehören. Das ist auch verständlich, da Sprichwörter in der Regel auch mit Sprichwörtern in der anderen Sprache übersetzt werden können, während solche nichtphraseologischen lexikalischen Entsprechungen eher bei Wortgruppenlexemen zu erwarten sind (vgl. z. B. dt. schwarz fahren ~ ung. bliccel; dt. etw. liegt (klar) auf der Hand ~ ung. kézenfekvő; dt. ein Stein des Anstoßes ~ ung. botránykő usw.). Fälle von ‘Nulläquivalenz’ gibt es im Material mehrfach. Man erkennt diese daran, dass bei der jeweiligen Projektsprache kein Äquivalent angegeben ist. So haben z. B. folgende deutsche Sprichwörter keine Entsprechungen im Ungarischen: Das letzte Hemd hat keine Taschen (‘Reichtum oder materieller Besitz nützen einem Menschen nach seinem Tod nichts mehr und sollten daher auch nicht überbewertet werden’); Tamás Forgács 382 Pack schlägt sich, Pack verträgt sich (‘Auseinandersetzungen zwischen bestimmten Menschen sollten nicht allzu ernst genommen werden, weil diese sich letzten Endes doch immer wieder zusammenraufen’); Knapp daneben ist auch vorbei (‘Haarscharfes Verfehlen eines Ziels ändert nichts daran, dass jemand letzten Endes nicht erfolgreich war’) usw. Diese Fälle werde ich hier jedoch - verständlicherweise - nicht weiter erwähnen, da sie für uns weniger interessant sind. Somit sind für unsere Untersuchung nur zwei Typen der phraseologischen Äquivalenz relevant: die Volläquivalenz und die Teiläquivalenz. Diese werden wir jetzt näher betrachten. 3.1 Volläquivalenz 3.1.1 Auge um Auge, Zahn um Zahn Bekanntermaßen ist eine absolute Äquivalenz fast unmöglich, da die unterschiedlichen typologischen Besonderheiten der Sprachen dies kaum erlauben. Unser erstes Beispiel zeigt dennoch einen ganz klaren Fall von vollständiger Äquivalenz: Auge um Auge, Zahn um Zahn. - Szemet szemért, fogat fogért. Die totale Äquivalenz ist hier z. T. dadurch gegeben, dass es sich um ein Zitat aus der Bibel handelt. Bibelzitate gelten gemeinhin als prädestiniert für volläquivalente Entsprechungen in verschiedenen Sprachen. Aber selbst biblischer Ursprung ist kein Garant für vollständige Äquivalenz, da das unterschiedliche System der Sprachen oft auch in solchen Fällen die totale Übereinstimmung unmöglich macht. In unserem Beispiel Auge um Auge, Zahn um Zahn bzw. Szemet szemért, fogat fogért ist eine völlige Entsprechung jedoch möglich, da es in beiden Fällen um elliptische (Neben-)Sätze geht: Den Sätzen in beiden Sprachen fehlt das Prädikat. Wir haben es im Grunde nur mit zwei adverbialen Konstruktionen zu tun, weshalb ein beträchtlicherer Unterschied auch nicht zu erwarten ist. 3.1.2 Aller Anfang ist schwer / Rache ist süß Unsere nächsten Beispiele sind nur scheinbar völlig identisch: Der Unterschied liegt darin, dass im Ungarischen ein sog. ‘nominales Prädikat’ existiert, d. h. in der 3. Person Singular das Kopulaverb fehlt: Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 383 Aller Anfang ist schwer. - Minden kezdet nehéz. Rache ist süß. - Édes a bosszú. Die ungarischen Äquivalente weisen folgende wörtliche Struktur auf: ‘Aller Anfang schwer’ bzw. ‘Süß die Rache’. Von diesen systembedingten Unterschieden kann man aber absehen. Daher sind diese Beispiele auf jeden Fall als vollständige Äquivalenz zu betrachten. 3.1.3 Der Fisch stinkt vom Kopf her Auch im nächsten Beispiel rührt der Unterschied von der unterschiedlichen Struktur der beiden Sprachen her: Der Fisch stinkt vom Kopf her. - Fejétől bűzlik a hal. Die Divergenz liegt darin begründet, dass die ungarische Form fejétől eine ‘possessivische Konstruktion’ mit dem sog. Besitzerzeichen (in der 3. Person Singular: -e, vgl. Forgács 2004, S. 139ff.) ist. Die synthetische Wortform bedeutet eigentlich ‘von seinem Kopf’. Körperteile und Verwandtschaftsbezeichnungen werden im Ungarischen, aber auch in anderen finnisch-ugrischen Sprachen oft durch Possessivkonstruktionen ausgedrückt. Somit kann man dieses Beispiel auch als vollständig äquivalent betrachten. 3.1.4 Ende gut, alles gut Einen ähnlichen Fall haben wir auch im folgenden Sprichwort: Ende gut, alles gut. - Minden jó, ha jó a vége. Auch hier liegt der Unterschied in der jeweils umgekehrten Satzfolge in den beiden Sprachen. Das ungarische Sprichwort ist folgendermaßen aufgebaut: ‘Alles (ist) gut, wenn sein Ende gut (ist)’. Außer der Satzfolge unterscheiden sich die beiden Sprichwörter nur noch darin, dass im Ungarischen das Wort vég (‘Ende’) in einer mit dem Besitzerzeichen -e versehenen Form steht. Die elliptische Form weisen dagegen beide Sprichwortäquivalente auf. 3.1.5 Die Augen sind der Spiegel der Seele Genauso systembedingt ist der folgende Unterschied: Die Augen sind der Spiegel der Seele. - A szem a lélek tükre. Tamás Forgács 384 Hier wird das Substantiv szem (‘Auge’) im Singular gebraucht, da im Ungarischen - wie in den meisten finnisch-ugrischen Sprachen - paarweise vorkommende Körperteile in der Einzahl stehen. Deshalb gebraucht man z. B. in Komposita, in denen es nur um ein solches Körperteil geht, das Vorderglied fél- (‘halb’), z. B. einarmig → félkarú, einäugig → félszemű. 3.1.6 Alle Wege führen nach Rom Im folgenden Beispiel besteht der Unterschied wieder im Numerusgebrauch, der erneut auf sprachtypologische Ursachen zurückzuführen ist. Im Ungarischen stehen die Bezugswörter nach den meisten quantitativen Attributen im Singular und nicht - wie im Deutschen - im Plural, z. B.: Alle Wege führen nach Rom. - Minden út Rómába vezet. In diesem Beispiel haben wir es zwar nicht mit einem echten Zahladjektiv, sondern mit einer pronominalen Form als Attribut zu tun, aber auf jeden Fall findet man im Ungarischen eine singularische Formulierung: ‘Jeder (aller) Weg führt nach Rom’. Da aber dem ungarischen Indefinitpronomen minden im Deutschen nicht nur das Pronomen all(e), sondern auch jeder / jede / jedes entspricht, ist in diesem Fall der Unterschied sehr gering und im Grunde zu vernachlässigen. Auch hier kann man also von einer vollständigen Äquivalenz sprechen. 3.1.7 Viele Hände, schnelles Ende / Vier Augen sehen mehr als zwei In unserer Datenbank gibt es jedoch auch Belege, in denen echte Zahlwörter als Attribut vorkommen. Die entsprechenden Sprichwörter zeigen ebenso den oben beschriebenen systembedingten Unterschied, sie sind jedoch nicht vollkommen äquivalent. Man kann sie eher als partielle Äquivalenz behandeln: Viele Hände, schnelles Ende. - Sok kéz hamar kész. Das ungarische Sprichwort heißt wortwörtlich: ‘Viel Hand bald fertig’. Vier Augen sehen mehr als zwei. - Több szem többet lát. In diesem Fall heißt das ungarische Sprichwort: ‘Mehr(ere) Augen sehen mehr’. Der Unterschied im Numerusgebrauch ist also vorhanden, aber die beiden Formen sind auch sonst nicht völlig identisch, da im Deutschen eine Ergänzung desselben Bildes (und dadurch ein Unterschied in der Komponentenzahl) vorliegt. Interessant ist aber, dass im Slowenischen eine mit dem ungarischen Beispiel völlig identische Form vorkommt: Več oči več vidi, wäh- Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 385 rend das slowakische und tschechische Sprichwort völlig dem deutschen entsprechen: Štyri oči vidia viac ako dve (wörtl.: ‘Vier Augen sehen mehr als zwei’) bzw. Čtyři oči vidí víc než dvě. 3.1.8 Neue Besen kehren gut Auch in den nächsten Beispielen hängt der Unterschied mit dem Numerusgebrauch in den beiden Sprachen zusammen, hier gibt es aber keine sprachtypologischen Besonderheiten, die den Unterschied verursachen. Es geht einfach darum, dass im Deutschen - bei gleicher syntaktischer Grundstruktur und lexikalischer Ausfüllung - Pluralformen gebraucht werden, im Ungarischen jedoch Singular: Neue Besen kehren gut. - Új seprű jól söpör. Im Ungarischen wörtlich eigentlich: ‘(Ein) neuer Besen kehrt gut’. Die drei untersuchten slawischen Sprachen verwenden hier auch Singular: vgl. slowenisch Nova metla dobro pometa; slowakisch Nová metla dobre metie; tschechisch Nové koště dobře mete (wörtl: ‘Neuer Besen kehrt gut’). 3.1.9 Ausnahmen bestätigen die Regel Unser nächstes Beispiel zeigt das gleiche Bild, auch hier haben wir es im Deutschen mit einem Subjekt im Plural, im Ungarischen jedoch mit einem Subjekt im Singular zu tun. (Die) Ausnahmen bestätigen die Regel. - (A) kivétel erősíti a szabályt. Eigentlich wäre in diesem Fall auch im Ungarischen eine Pluralform - mit einem kongruenten Prädikat im Plural - möglich: A kivételek erősítik a szabályt. Trotzdem steht im Ungarischen der Singular. Somit liegt - wie im vorigen Beispiel - auch hier eigentlich keine völlige Äquivalenz vor. Der Unterschied ist jedoch sehr geringfügig, deshalb kann man die beiden Pendants noch als einen Fall von vollständiger Äquivalenz behandeln. (Es ist übrigens interessant, dass die Singularform - wie auch vorhin - nicht nur im Ungarischen erscheint: Auch in den untersuchten slawischen Sprachen findet man überall Singularformen, vgl. slowenisch Izjema potrjuje pravilo; slowakisch Výnimka potvrdzuje pravidlo; tschechisch Výjimka potvrzuje pravidlo. Anscheinend haben wir es in diesem Fall, so wie auch beim vorigen Sprichwort Neue Besen kehren gut, mit einer „mitteleuropäischen“ Strukturvariante zu tun, die sich vor allem auf die kleineren Sprachen der österreichisch-ungarischen Monarchie bezieht. Tamás Forgács 386 3.2 Teiläquivalenz (partielle Äquivalenz) Fälle der Teiläquivalenz sind in unserem Material erwartungsgemäß die häufigsten, wobei wir es mit sehr unterschiedlichen Typen zu tun haben. 3.2.1 Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse Der erste Typ zeichnet sich dadurch aus, dass die Entsprechungen eine zwar vergleichbare oder sogar identische syntaktische Grundstruktur aufweisen, diese aber eine - zumindest teilweise - unterschiedliche lexikalische Ausfüllung haben. Dabei können sich die Unterschiede nur in einer Komponente des Sprichwortes manifestieren, oder aber auch in mehreren Komponenten sichtbar werden. Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse (auf dem Tisch). - Nincs otthon a macska, cincognak az egerek. Der ungarische Beleg heißt wörtlich: ‘Ist die Katze nicht zu Hause (aus dem Haus), piepsen die Mäuse’. Da im Deutschen die Lokalbestimmung (auf dem Tisch) nicht immer vorkommt, ist hier der Unterschied vor allem in der Auswahl des verbalen Prädikats zu sehen. Von der Bedeutung her geht es aber um dasselbe Bild: Wenn sie ohne Aufsicht bleiben, werden die Mäuse agiler: sie piepsen bzw. tanzen. Auch in den untersuchten slawischen Sprachen handelt es sich bei einigen der Sprichwortpaare um partielle Äquivalenz. Das slowenische Beispiel ist ein Fall für vollständige Äquivalenz mit einer Teilverwendung im Deutschen: Kadar mačke ni doma, miši plešejo (wörtl.: ‘Ist die Katze nicht zu Hause, tanzen die Mäuse’). Im Slowakischen gibt es aber schon zwei Abweichungen vom Deutschen: Keď kocúr nie je doma, myši majú bál (wörtl.: ‘Ist der Kater aus dem Haus, haben die Mäuse Ball’). Statt Katze steht also im äquivalenten slawischen Sprichwort Kater, außerdem „feiern“ die Mäuse anders: sie tanzen nicht nur, sondern sie haben einen Ball. Noch interessanter ist das tschechische Beispiel: Da haben die Mäuse nicht Ball, sondern Brei: Když kocour není doma, myši mají pré (wörtl.: ‘Ist der Kater nicht zu Hause, haben die Mäuse Brei’). Ob diese Form durch die Klangähnlichkeit von bál und pré entstanden ist oder ob es um eine andere Semantik geht (‘Wenn der Kater nicht zu Hause ist, können die Mäuse in Ruhe eine ihrer Lieblingsspeisen (Brei) konsumieren’) ist schwer zu entscheiden. Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 387 3.2.2 Aus Schaden wird man klug In dem folgenden Beispiel gibt es - bei annähernd gleicher Struktur und lexikalischer Ausfüllung trotzdem minimale Unterschiede, die diese Belege ebenfalls als partielle Äquivalente qualifizieren Aus Schaden wird man klug. - Más kárán tanul az okos. Das ungarische Sprichwort bedeutet wörtlich: ‘Aus Schaden von anderen lernt der Kluge’. Abweichungen gibt es auf unterschiedlichen Ebenen. Zum einen wird auf grammatischer Ebene aus dem prädikativen Adjektiv klug im Ungarischen ein Subjekt der / die Kluge (‘lernt aus Schaden’). Zudem wird ein zum Subjekt gehörendes verbales Prädikat lernt „eingeschoben“. Der dritte Unterschied ist schon eindeutig semantischer Natur: der / die Kluge lernt aus dem Schaden anderer. Durch diese Ergänzung kommt sogar noch eine grammatische Differenz zustande: Das Genitivattribut más (‘anderer / andere’) erfordert eine Besitzkonstruktion, bei der das Bezugswort kár (‘Schaden’) mit dem Besitzerzeichen der 3. Person Singular kár-á-n versehen wird. 3.2.3 Aller guten Dinge sind drei Das nächste Beispiel ist bereits ein Grenzfall zwischen struktureller und funktionaler Äquivalenz, da selbst bei so einem kurzen Sprichwort weniger als die Hälfte in den beiden Sprachen übereinstimmt: Aller guten Dinge sind drei. - Három a magyar igazság. Die Struktur der beiden Sätze ist in beiden Sprachen identisch: Das Prädikat wird durch das Zahladjektiv drei ausgedrückt, mit dem kleinen Unterschied, dass im Ungarischen das Kopulaverb fehlt, was bei einem Subjekt der 3. Person im Präsens ganz regulär ist (nominales Prädikat, siehe auch oben). Die Topik-Comment-Relation ist zwar umgekehrt, aber das ändert an der Satzstruktur nichts. Während aber im Deutschen die Konstruktion aller guten Dinge (mit einer etwas veralteten Deklination) als Subjekt steht, wird im Ungarischen die Konstruktion magyar igazság (wörtl.: ‘ungarische Wahrheiten’) gebraucht (eigentlich Plural, nur wegen des Zahladjektivs drei Singular, wie auch neben den quantitativen Attributen, siehe auch oben). Somit ist die lexikalische Ausfüllung anders als im Deutschen (Dinge → Wahrheiten), zudem wird dem Satz eine etwas eigenartige „nationale Prägung“ gegeben. (Es soll noch erwähnt werden, dass im Ungarischen als Variante auch eine längere Form existiert: Manchmal wird noch ein viertes Ereignis herbeigewünscht durch die folgende Ergänzung: Három a magyar igazság, meg egy a ráadás, Tamás Forgács 388 wörtl.: ‘Die ungarischen Wahrheiten sind zu dritt, und dazu kommt noch die Zugabe’.) Trotzdem kann man die beiden Sprichwörter eher noch als einen Fall für lexikalische Variabilität betrachten und nicht als einen Fall für bloße funktionale Äquivalenz. Interessant ist übrigens, dass in den untersuchten Sprachen nur im Ungarischen auf das Konzept ‘Wahrheit’ referiert wird (siehe das Wort igazság). In den slawischen Sprachen geht es um ‘Gutes’ - ohne die „nationale Färbung“, vgl. slowenisch Vse dobre stvari so tri; slowakisch Do tretice všetko dobré; tschechisch Do třetice všeho dobrého. 3.2.4 Blut ist dicker als Wasser Ein weiterer Fall für partielle Äquivalenz auf der lexikalischen Ebene ist folgendes Beispiel: Blut ist dicker als Wasser. - (A) vér nem válik vízzé. Der Grundgedanke ist in beiden Sprachen ungefähr gleich: ‘Eine Familie oder die Verwandtschaft halten in schwierigen Situationen zusammen und die Angehörigen unterstützen einander’. Was die lexikalische Ausfüllung betrifft, liegt der Unterschied vor allem im Prädikatgebrauch. Im Deutschen wird die Komparativform des Adjektivs dick als Prädikat eingesetzt, während im Ungarischen das Verb válik (vmivé) ‘(zu etw.) werden’ steht. Somit ist die wörtliche Bedeutung des ungarischen Sprichwortes etwa die folgende: ‘Blut wird nicht zu Wasser’. Was die weiteren Sprachen unserer Datenbank betrifft, sieht man, dass in allen drei slawischen Sprachen folgende wörtlichen Entsprechungen angegeben werden: ‘Blut ist kein Wasser’ (vgl. slowenisch: Kri ni voda; slowakisch: Krv nie je voda und tschechisch Krev není voda). Man muss aber erwähnen, dass wir bei diesem Sprichwort in der Relation Deutsch - Ungarisch auch einen Fall für eine Hypero-Hyponymie-Relation (Földes / Kühnert 1990, S. 43) vorfinden. Im Ungarischen hat das Sprichwort nämlich noch eine weitere Bedeutung, die im Deutschen nicht zu finden ist: ‘Niemand kann seine Natur, seine Grundeinstellung bzw. alte Gewohnheiten leugnen’, siehe z. B. folgendes Korpusbeispiel: Az egykori olajbárók felhagytak hát a szénhidrogén-származékok pancsolásával, de a vér nem válik vízzé. A víz viszont könnyen borrá változhat: az egykori titkos olajtárolókban mostanság jóféle cukros lé érlelődik, ami majd a keresztségben a bor nevet kapja. [Magyar Hírlap, 30. Juli 1998, S. 14] Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 389 (‘Die früheren „Ölbarone“ haben mit dem Panschen der Kohlenwasserstoffderivate aufgehört, aber Blut wird nicht zu Wasser. Wasser kann dagegen leicht zu Wein werden: in den ehemaligen heimlichen Ölbehältern reifen neuerdings gute gezuckerte Säfte, die in der Taufe dann den Namen Wein bekommen.’) Im Ungarischen ist diese Bedeutung sogar wesentlich frequenter, während die andere mit dem Deutschen vergleichbare relativ selten vorzufinden ist. 3.2.5 Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen Unser nächstes Beispiel für Teiläquivalenz ist folgendes: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. - A kutya is a dombra szarik. Die beiden Sprichwörter werden in Situationen gebraucht, wenn ausgedrückt werden soll, dass ‘häufig nicht diejenigen Glück oder Erfolg haben, die es wirklich gebrauchen könnten, sondern diejenigen, die von bestimmten Dingen ohnehin schon genug besitzen oder bereits erfolgreich sind’. Es geht meistens um den Besitz von Geld. Das Sprichwort hat in diesem Kontext vor allem die Bedeutung ‘Wo Geld ist, kommt immer noch mehr dazu’; vgl. auch noch das Sprichwort Geld will zu Geld (Röhrich 1991/ 1992, S. 1312). In den drei slawischen Sprachen erscheint auch der Teufel als Subjekt des Satzes, so „tanzt“ nur das Ungarische „aus der Reihe“. Im Sprichwort A kutya is a dombra szarik (wörtl.: ‘Auch der Hund scheißt auf den Haufen’) tritt anstelle des Teufels der Hund. Es gibt zwar zwischen dem deutschen Beleg und dem ungarischen Äquivalent auch noch zwei kleinere Unterschiede, da im Deutschen zusätzlich noch das Adverb immer, außerdem als „Lokalbezeichnung“ das Substantiv Haufen - ergänzt mit dem Attribut größter - steht, während im Ungarischen das Substantiv domb (‘Hügel, Buckel‘) gebraucht wird. Der wichtigste Unterschied ist jedoch im Subjektgebrauch (Teufel → Hund). Woher dieser Unterschied kommt, ist schwer zu entscheiden: Er könnte darin begründet liegen, dass Hunde tatsächlich oft einen früheren Hundehaufen „aufsuchen“, wenn sie ihre Sache verrichten. Eine andere Begründung könnte darin zu suchen sein, dass der Hund in der Mythologie oft als Symbol für den Teufel erscheint, man denke nur an den schwarzen Hund des Doktor Faustus. Trotz dieser Unterschiede ist diese Entsprechung zur partiellen Äquivalenz zu rechnen, da beide Sprichwörter das gleiche sprachliche Bild ausdrücken und eine vergleichbare syntaktische Struktur aufweisen. Tamás Forgács 390 3.2.6 Nachts sind alle Katzen grau Auch in dem folgenden Beispiel gibt es trotz des gleichen Bildes und der absolut identischen syntaktischen Struktur schon zwei, ja sogar drei Unterschiede: Nachts sind alle Katzen grau. - Sötétben minden tehén fekete. Im Ungarischen heißt es wörtlich: ‘Im Dunkeln (sind) alle Kühe schwarz’. Wenn man jetzt von dem oben schon erwähnten Unterschied des ungarischen nominalen Prädikats absieht (Kopulaverb fehlt in der 3. Person), und auch die Ausdrücke im Dunklen bzw. nachts als praktisch bedeutungsgleich auffasst, sind hier zwei weitere Komponenten unterschiedlich: Kühe vs. Katzen bzw. schwarz vs. grau. Damit gleicht das deutsche Sprichwort seinen „westeuropäischen“ Pendants (vgl. engl. All cats are grey in the dark/ night bzw. fr. La nuit tous les chats sont gris), während das Ungarische anscheinend wieder einem „mitteleuropäischen“ Muster mit dem Lexem Kuh folgt (vgl. slowenisch Ponoči so vse krave črne, slowakisch V noci je každá krava čierna und tschechisch Potmě je každá kráva černá). 3.2.7 Man soll das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt ist Unser nächstes Beispiel zeigt eine ganz andere Form der Äquivalenz, zumindest, was die Entsprechung zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen betrifft: Man soll das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt ist. - Ne igyunk előre a medve bőrére. Der ungarische Ausdruck bedeutet wörtlich: ‘Man trinke nicht im Voraus auf das Fell des Bären’. Im Ungarischen fehlt also einerseits der zweite Teil des Ausdrucks, außerdem verteilt man nicht das Bärenfell, sondern trinkt darauf. Der Unterschied ist zum Teil durch die Anekdote, die dem Ausdruck zu Grunde liegt, zu erklären. In dem Schwank geht es - wie bekannt - um zwei reisende Jägerburschen, die in der Kneipe dem Wirt versprechen, mit dem Fell des noch unerlegten Bären zu bezahlen (vgl. Röhrich 1991/ 1992, S. 149). Der ungarische Ausdruck ist knapper bemessen, man versteht eigentlich den Ausdruck nur dann, wenn man diese Geschichte kennt, während die deutsche Wendung durch den Nebensatz auch ohne diese Vorkenntnisse völlig verständlich ist. Die slowenischen und tschechischen Äquivalente sind mit dem deutschen Ausdruck fast identisch, wobei sich das tschechische Sprichwort minimal in der Aussage des Nebensatzes unterscheidet (wörtl.: ‘Man soll das Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 391 Fell des Bären nicht verteilen, der noch im Wald herumläuft’). Die slowakische Form ist wiederum mit dem ungarischen Muster vergleichbar - mit dem Unterschied, dass statt der Komponente Bär das Substantiv Wolf steht: Ešte vlka nechytili, už na jeho kožu pili (wörtl.: ‘Der Wolf noch nicht gefangen und man trinkt schon auf sein Fell’). Der Ausdruck ist aber auch deswegen sehr interessant, weil das dem Sprichwort zu Grunde liegende Denkmuster (‘Frame’) außer den in unserer Datenbank angegebenen Formen noch weitere, recht unterschiedliche Ausdrucksformen hat. So findet man bei Röhrich weitere Ausdrücke, die diese Bedeutung wiedergeben: In anderen Sprachen sagt man statt dessen: ‘Die Haut verkaufen, ehe man die Kuh hat’ - ‘über das Fell streiten, ehe man das Lamm hat’ - ‘einen Fisch verkaufen, bevor er gefangen ist’ - ‘die Eier verkaufen, bevor die Küken ausgebrütet sind’ - ‘für die Wiege sorgen, bevor man das Kind hat’ - ‘das Messer schleifen, noch ehe das Kalb geworfen ist’ - ‘Stoff weben, während das Schaf noch die Wolle trägt’ etc. (Röhrich 1991/ 1992, S. 149). In älteren ungarischen Sammlungen findet man noch zusätzliche Erscheinungsformen dieses Frames: meg sem fogta a madarat, máris melleszti/ kopasztja (wörtl.: ‘den Vogel noch nicht gefangen, schon rupft er ihn’) oder háló előtt fog halat (wörtl.: ‘Fische fangen schon vor dem Netzwerfen’) usw. 3.2.8 Viele Köche verderben den Brei Das nächste Beispiel ist auf den ersten Blick ein typischer Fall für partielle Äquivalenz auf der lexikalischen Ebene: Viele Köche verderben den Brei. - Sok szakács elrontja az ételt. Die wörtliche Entsprechung des ungarischen Sprichworts stimmt mit der des deutschen fast überein: ‘Viele Köche verderben das Essen’. Und beide haben folgende gemeinsame Bedeutung: ‘Nichts Positives kommt dabei heraus, wenn bei einer Sache zu viele Personen mitmischen und mitentscheiden wollen’. Auch in Hinblick auf die syntaktische und lexikologische Struktur sind sie quasi äquivalent. Der einzige Unterschied ist, dass im Ungarischen statt Brei das Substantiv Essen steht. Das Slowakische (Veľa kuchárov presolí polievku) und das Tschechische (Mnoho kuchařů přesolilo polévku) folgen der gleichen syntaktischen Struktur mit einem kleinen Bedeutungsunterschied: Dort wird nämlich die Suppe versalzen (wörtl.: ‘Viele Köche versalzen die Suppe’). Tamás Forgács 392 Trotzdem ist die Äquivalenz zwischen dem Ungarischen und dem Deutschen (sowie den beiden slawischen Sprachen) nur zum Teil so stark wie es auf den ersten Blick scheint. Das ungarische Sprichwort ist nämlich nur sporadisch zu belegen. Wesentlich häufiger gebraucht man in dieser Bedeutung im Ungarischen das Sprichwort Sok bába közt elvész a gyerek (wörtl.: ‘Unter vielen Hebammen geht das Kind verloren’). Bei diesem Beispiel liegt nun ein klarer Fall für funktionale Äquivalenz vor; genauso wie das zwischen dem Deutschen und dem Slowenischen ist, wo eine dem zweiten ungarischen Äquivalent ähnliche Form verwendet wird: Mnogo / veliko babic, kilav otrok / kilavo dete (wörtl.: ‘Viele Hebammen, schwächliches Kind’). 3.2.9 Wo Rauch ist, ist auch Feuer Es gibt auch Fälle, bei denen es im Ungarischen einen dem Deutschen sehr nahestehenden Ausdruck gibt, wie das folgende Beispiel zeigt, bei dem ich folgendes Äquivalent an erster Stelle in der Datenbank angegeben habe: Wo Rauch ist, ist auch Feuer. - Nincsen füst tűz nélkül. Eigentlich könnte man im Ungarischen eine Form gebrauchen, die mit dem Deutschen vollständig identisch ist: Ahol füst van, (ott) tűz is van. Für diese gab es aber kaum Korpusbelege, nur für die oben angegebene Form, die wortwörtlich bedeutet: ‘Es gibt keinen Rauch ohne Feuer’. Die beiden Ausdrücke stehen also eindeutig im Verhältnis der partiellen Äquivalenz zueinander. Die Datenbank zeigt, dass diese Formulierung auch im Slowenischen vorkommt: Ni dima brez ognja. Wie aber im Zusammenhang mit der Polyäquivalenz des vorangegangenen Beispiels schon erwähnt wurde, gibt es im Ungarischen auch hier eine andere, aber wesentlich häufiger gebrauchte Wendung, die dem deutschen Sprichwort von der Bedeutung her völlig entspricht: Nem zörög a haraszt, ha a szél nem fújja (wörtl.: ‘Dürres Laub raschelt nicht, wenn es nicht vom Wind geweht wird’). Ich habe diese Form auch als Äquivalent angegeben, da diese ebenso zur Teiläquivalenz gehört, nur zu deren speziellerer Form, der Bedeutungsäquivalenz (funktionalen Äquivalenz). Aus der Datenbank ist es aber auch ersichtlich, dass im Slowakischen eine Form existiert, die dem Ungarischen sehr nahe kommt: Bez vetra sa ani lístok (na strome) nepohne (wörtl.: ‘Ohne Wind bewegt sich kein Blatt am Baum’). Wie man sieht, gibt es hier trotz des fast gleichen Bildes aber auch Unterschiede: im Slowakischen geht es um Blätter am Baum, im Ungarischen um schon heruntergefallene Blätter, d. h. dürres Laub. Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 393 Mit diesem Beispiel sind wir bei der wohl interessantesten Gruppe der phraseologischen Äquivalenz angekommen: der Bedeutungsäquivalenz (funktionalen Äquivalenz). 3.3 Bedeutungsäquivalenz (funktionale Äquivalenz) Bedeutungsäquivalenz ist eigentlich auch ein Typ der partiellen Äquivalenz, da Phraseologismen (wie auch einfache Lexeme) neben der Lautform eine Bedeutung haben und wenn allein diese Seite in den beiden Sprachen identisch ist, sind solche Phraseme schon (teil)äquivalent. Da aber diese Fälle doch eine markante spezielle Gruppe darstellen, ist es besser, sie gesondert zu behandeln. 3.3.1 Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren Ein interessanter Fall dieses Äquivalenztyps ist am deutschen Sprichwort Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren zu beobachten. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. - Ahol nincs, ott ne keress. (‘Wo nichts ist, sollst du auch nicht suchen.’) Wie aus unserer Datenbank ersichtlich wird, ist die slowenische Form im Großen und Ganzen mit der deutschen identisch (Kjer nič ni, še cesar ne more vzeti). Ähnlich sind auch die slowakischen und die tschechischen Entsprechungen; vgl. slowak. Kde nič nie je, tam ani čert neberie (wörtl.: ‘Wo nichts ist, dort nimmt selbst der Teufel nichts’) und tschech. Kde nic není, ani smrt nebere (wörtl.: ‘Wo nichts ist, kann nicht einmal der Tod etwas nehmen’), aber an Stelle der Komponente Kaiser treten der Teufel bzw. der Tod. Im Ungarischen wird dagegen der ganze Hauptsatz durch einen anderen Nebensatz mit einer verallgemeinernden Form (‘da sollst du auch nicht suchen’) formuliert. Somit ist unser Beispiel im Ungarischen eher ein Fall von Bedeutungsäquivalenz, im Slowakischen und Tschechischen ein Fall von lexikalischer Variabilität. 3.3.2 Jeder Topf findet seinen Deckel Ein Fall der sog. ‘stilistischen Synonymie’ (vgl. Földes / Kühnert 1990, S. 43) ist das nächste Sprichwort, zumindest, was das Ungarische betrifft: Jeder Topf findet seinen Deckel / sein Deckelchen. - (A) zsák megtalálja a foltját. Tamás Forgács 394 Hier haben die Äquivalente aus den drei slawischen Sprachen eine mit dem Deutschen vergleichbare Struktur und Bedeutung: slowenisch Vsak lonec najde svoj pokrov; slowakisch Na každý hrniec sa pokrievka nájde; tschechisch Na každý hrnec se najde poklička. (Abweichungen gibt es im Slowakischen und Tschechischen bezüglich des Satzstatus, der hier im Gegensatz zum Deutschen elliptisch, aber genauso satzwertig ist, wörtl.: ‘Auf jeden Topf seinen eigenen Deckel’.) Das ungarische Äquivalent ist - was die Komponenten betrifft - völlig anders, wörtl.: ‘(Je)der Sack findet seinen Fleck’. Es hat aber dieselbe Bedeutung wie die Sprichwörter der anderen Sprachen. In älteren ungarischen Sammlungen gibt es zwar eine Variante, die den Äquivalenten in den untersuchten Sprachen etwas näher kommt, diese ist aber heute nicht mehr gebräuchlich: Ecetes korsó / kanta megtalálja dugóját (wörtl.: ‘Ein Essigkrug findet seinen Stöpsel’). Ein wesentlicher Unterschied zum deutschen Sprichwort liegt im Bewertungspotenzial. Während das deutsche Sprichwort Jeder Topf findet seinen Deckel in der Regel sowohl neutral als auch positiv / negativ wertend gebraucht werden kann, wird die im Ungarischen als Äquivalent angegebene Form (A) zsák megtalálja a foltját) eher nur pejorativ gebraucht. Die pejorative Bedeutung drückt in erster Linie aus, dass ‘schlechte Leute bald ihren entsprechenden Partner finden’ (vgl. noch Gleich und Gleich gesellt sich gern). Eine weitere Bedeutung ist: ‘Auch eine hässliche Frau kann einen Partner finden’. 3.3.3 Gebranntes Kind scheut das Feuer Ein ähnliches Beispiel haben wir im Falle des nächsten Sprichworts vor Augen: Gebranntes Kind scheut das Feuer. - Akit a kígyó megmart, (az) a gyíktól is fél. Die Äquivalente aus dem Slowakischen und dem Tschechischen haben nur bezüglich der lexikalischen Komponente brennen und des damit verbundenen Konzepts des ‘Erleidens durch Verbrennen’ eine Übereinstimmung mit dem Deutschen. Strukturell unterscheiden sie sich folgendermaßen: Das deutsche Sprichwort ist ein einfacher Satz, während die Äquivalente in den beiden slawischen Sprachen zusammengesetzte Sätze sind, die mit einem Wer-Nebensatz ‘Wer sich einmal verbrennt’ eingeleitet werden. In dem darauffolgenden Hauptsatz steht im Tschechischen die Behauptung, dass derjenige, der sich einmal verbrannt hat, das nächste Mal aufpasst (Kdo se jednou spálil, podruhé Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 395 si dá pozor), während im Slowakischen - etwas karikiert - behauptet wird, dass er das nächste Mal auch die Sülze anblasen wird (Kto sa raz popáli, aj huspeninu dúcha). In älteren ungarischen Sammlungen kommt übrigens ein dem Bild des Slowakischen sehr nahe kommendes Äquivalent vor: Kinek a meleg tej megégette a száját, a tarhót is fújja (wörtl.: ‘Wer sich den Mund mit warmer Milch angebrannt hat, bläst auch die Dickmilch an’). Diese Wendung ist aber heute ungebräuchlich, vielleicht auch deswegen, weil das Wort tarhó (‘Dickmilch’) eine mundartliche Form und somit heute fast unbekannt ist. Daher habe ich in der Datenbank das Sprichwort Akit a kígyó megmart, (az) a gyíktól is fél (wörtl.: ‘Wer von einer Schlange gebissen wurde, scheut sich vor einer Eidechse’) als Äquivalent angegeben. Diese Form ist mit dem Deutschen und den bisherigen Beispielen nur auf dem Niveau der allgemeinen Bedeutung identisch: ‘Wem einmal ein negatives Ereignis zugestoßen ist, der hat Angst vor anderen ähnlichen Situationen’, der Komponentenbestand ist jedoch ganz anders. Im Slowakischen und Ungarischen wird das Bild ironisch verstärkt, indem behauptet wird, dass der einmal Verunglückte auch vor ähnlichen, aber eigentlich völlig ungefährlichen Situationen Angst hat. Ich selber habe im Ungarischen in diesem Zusammenhang auch schon die Form Leforrázott macska az esőtől is fél (wörtl.: ‘Eine verbrühte Katze hat auch vor dem Regen Angst’) gehört. Diese ist möglicherweise eine nach englischem Muster gebildete Konstruktion (vgl. A scalded dog fears cold water; wörtl: ‘Ein verbrühter Hund hat auch vor dem kalten Wasser Angst’). Diese Variante war aber im Nationalen Textkorpus des Ungarischen nicht zu belegen. Man muss noch erwähnen, dass das Slowenische neben der mit dem Deutschen fast völlig äquivalenten Form auch noch eine andere Entsprechung besitzt: Kogar je kača pičila, se boji zvite vrvi (wörtl.: ‘Wen eine Schlange gebissen hat, der hat Angst vor dem zusammengerollten Strick’), die dem ungarischen Sprichwort Akit a kígyó megmart, (az) a gyíktól is fél sehr nahe kommt. 3.3.4 Außen hui, innen pfui Ein nächstes interessantes Beispiel für Bedeutungsäquivalenz liefert uns das deutsche Sprichwort Außen hui, innen pfui. Außen hui, innen pfui. - Kívül szép az alma, de belül férges. Im Slowenischen und im Tschechischen haben wir es mit Äquivalenten zu tun, die bis auf die alternativen Präpositionen bzw. andere ‘lokale’ Sichtweise (oben - unten) voll äquivalent sind: slowen. (Od) zunaj huj, (od) znotraj fuj Tamás Forgács 396 (wörtl.: ‘(Von) außen hui, (von) innen pfui’), tschech. Navrch huj, vespod fuj (wörtl.: ‘Oben hui, unten pfui’). Dagegen sind im Slowakischen und im Ungarischen nur bedeutungsäquivalente Formen zu finden: slowakisch: Brada ako u proroka, cnosť ako u drába (wörtl.: ‘Bart wie ein Prophet, Ehre wie ein Büttel / Scherge’; ‘Apostels Vollbart, Teufels Schnurrbart’), ungar. Kívül szép az alma, de belül férges (wörtl.: ‘Der Apfel ist von außen schön, innen sind aber Würmer drin’). Man muss aber anhand des ungarischen Sprichworts anmerken, dass diese Wendung im heutigen Ungarischen ziemlich selten ist und eher in älteren Sammlungen vorkommt. So habe ich diesen Fall zuerst als ein Beispiel der Nulläquivalenz angesehen und erst später ist mir diese ältere Form eingefallen, für die ich dann doch zwei Beispiele im ungarischen Nationalen Textkorpus gefunden habe. 3.3.5 Jeder ist sich selbst der Nächste Ein weiteres interessantes Beispiel für phraseologische Äquivalenz bietet für uns das deutsche Sprichwort Jeder ist sich selbst der Nächste. Jeder ist sich selbst der Nächste. - Minden szentnek maga felé hajlik a keze. Das Slowenische gebraucht eine mit dem Deutschen voll äquivalente Form: Vsak je sebi najbližji. 2 Ganz anders aber drücken das Slowakische und das Tschechische den Grundgedanken des Sprichworts (‘Jeder denkt zuerst an sich selbst’) aus: slowakisch: Bližšia košeľa ako kabát, tschechisch: Bližší košile než kabát (beide wörtl.: ‘Näher ist das Hemd als der Mantel’). In älteren ungarischen Sammlungen (vgl. z. B. Margalits 1896, S. 475) sind auch Belege zu finden, die diesem Muster folgen: Közelebb az ing a csuhánál / gubánál, Közelebb az ing, mint a mente / suba. Diese sind aber veraltet, das zeigt sich auch daran, dass die darin genannten Oberkleider (csuha, guba, mente) heute nicht mehr getragen werden. 3 Somit sind diese Formen ein klarer Fall für Bedeutungsäquivalenz, genauso wie das 2 In einer älteren ungarischen Sammlung von Andor Sirisaka (1891, S. 149) ist die mit dem Deutschen fast gleiche Form (Mindenki legközelebb áll önmagához; wörtl.: ‘Jeder steht zu sich am nächsten’) zu finden. Diese ist aber wahrscheinlich eine Spiegelübersetzung aus dem Deutschen, da Belege dafür nicht zu finden sind. 3 Die gleiche Bedeutung hat auch die bei Margalits (1896, S. 523) vorkommende Redensart Mindenki a maga fazeka mellé szít (‘Ein jeder schürt das Feuer unter / neben seinem eigenen Kochtopf an’), aber auch sie ist veraltet.. Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 397 auch heute gebrauchte ungarische Sprichwort, das jedoch eine von allen anderen untersuchten Sprachen abweichende Lösung verwendet: Minden szentnek maga felé hajlik a keze (wörtl.: ‘Die Hände aller Heiligen neigen sich zu sich (zum eigenen Körper)’). Es gibt Auffassungen, wonach das Sprichwort dadurch entstanden ist, dass Heilige auf Bildern, vor allem aber als Holzfigur, oft so dargestellt werden, dass ihre Hand zum eigenen Körper zeigt (siehe Abb. 1). Bei Skulpturen oder Holzfiguren war das deswegen praktisch, damit man ihnen Blumensträuße in die Hand stecken konnte. Diese empirische Tatsache kam aber wie gerufen für einen, der bildlich umschreiben wollte, dass jeder zuerst an sich denkt. 4 Abb. 1: Die heilige Katharina von Alexandrien 3.3.6 Man schlägt den Sack und meint den Esel Interessant sind auch die Äquivalente des deutschen Sprichworts Man schlägt den Sack und meint den Esel. Man schlägt den Sack und meint den Esel. - Lányomnak mondom, menyem is értsen belőle. Dieses Sprichwort wird gebraucht, wenn jemand getadelt, beschuldigt oder beschimpft wird, in Wirklichkeit aber ein anderer gemeint ist. Im Slowenischen und Tschechischen haben wir keine Entsprechungen für diese Redens- 4 Als Äquivalent für dieses Sprichwort gibt das Großwörterbuch Halász / Földes / Uzonyi (1998, S. 1343) auch zwei deutsche Formen an, die ihm von der Bedeutung her ziemlich nahe kommen: Wer das Kreuz hat, segnet sich selbst zuerst und Jeder Müller leitet das Wasser auf seine Mühle. Das erste habe ich weder im Duden, noch bei Wander gefunden, das zweite ist aber bei Wander belegt (Wander 1867-1880, Bd. 3, S. 761), obwohl mit einer anderen Präposition: in seine Mühle. Dort wird auch noch ein englisches Äquivalent angegeben: Every miller draws water to his own mill, ja sogar ein französisches, das aber kein Sprichwort, sondern eine verbale Redewendung ist: Tirer eau en son moulin. Tamás Forgács 398 art, es liegt hier also eine Nulläquivalenz vor. Das Slowakische drückt diese Bedeutung mit dem einfachen Satz Na nevinnom sa zomlelo (wörtl.: ‘Der Unschuldige wurde gemahlen’) aus. Das Ungarische verwendet dagegen eine dem deutschen Sprichwort nahe kommende, zweigliedrige Struktur, die sich aber von den Komponenten und der wörtlichen Bedeutung her völlig vom Deutschen unterscheidet: Lányomnak mondom, menyem is értsen belőle (wörtl.: ‘Ich sage es meiner Tochter, meine Schwiegertochter soll davon auch verstehen’). 3.3.7 Steter Tropfen höhlt den Stein Die nächsten beiden Sprichwörter und ihre Äquivalente behandle ich zusammen, da eine gewisse Überlappung bei den Äquivalenten zu beobachten ist. Steter Tropfen höhlt den Stein. - Lassú víz partot mos. Wenn wir das deutsche Sprichwort Steter Tropfen höhlt den Stein betrachten, sehen wir, dass seine Äquivalente in den untersuchten slawischen Sprachen auch von der Konstruktion her sehr ähnlich sind und einen Fall der ‘strukturellen Synonymie’ darstellen: slowenisch: Kaplja za kapljo kamen izdolbe (wörtl.: ‘Tropfen nach Tropfen höhlt den Stein’), slowakisch: Častá kropaj i kameň porazí (wörtl.: ‘Häufiger Tropfen überwindet den Stein’), tschechisch: Častá krůpěj kámen proráží (wörtl.: ‘Häufiger Tropfen kann den Stein durchschlagen’). Im Ungarischen wird die Bedeutung ‘Trotz einer zunächst aussichtslos erscheinenden Situation soll man nicht resignieren, weil langfristig auch viele kleine Schritte zum Erfolg führen können’ aber mit einer ganz anderen Konstruktion ausgedrückt: Lassú víz partot mos (wörtl.: ‘Wasser spült das Flussbecken aus’). In diesem Falle ist es besonders auffallend, dass ein dem Ungarischen sehr ähnliches Sprichwort in allen drei slawischen Sprachen vorkommt, jedoch als Äquivalent der deutschen Redewendung Stille Wasser sind tief. Slowenisch: Tiha voda bregove dere (wörtl: ‘Stilles Wasser reißt das Ufer’), slowakisch: Tichá voda brehy myje (wörtl.: ‘Stilles Wasser spült die Ufer’), tschechisch: Tichá voda břehy mele (wörtl.: ‘Stilles Wasser spült die Ufer aus’). Wenn diese Angaben korrekt sind, d. h. die drei slawischen Sprachen dieses Sprichwort wirklich dann gebrauchen, wenn es darum geht, dass ‘eine schüchtern und zurückhaltend wirkende Person Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen zeigt, die man ihr aufgrund ihrer Unscheinbarkeit nicht zugetraut hätte’, dann haben wir hier in Anbetracht der slawischen Beispiele und der ungarischen Wendung Lassú víz partot mos eindeutig einen Fall der Pseudo- Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 399 Äquivalenz (‘faux amis’), da das ungarische Sprichwort nicht diese Bedeutung hat, sondern der vorherigen deutschen Wendung Steter Tropfen höhlt den Stein entspricht. Man hat zwar im Ungarischen eine Redensart, die von der Bedeutung her völlig mit der deutschen Wendung Stille Wasser sind tief korreliert. Diese das hat jedoch eine völlig andere wörtliche Entsprechung, ganz andere Komponenten und eine völlig andere syntaktische Struktur: Alamuszi macska nagyot ugrik (wörtl.: ‘Eine heimtückische Katze springt hoch’). 3.3.8 In der Not frisst der Teufel Fliegen Unser nächster Beleg ist wieder ein aussagekräftiges Beispiel für funktionale Äquivalenz: In der Not frisst der Teufel Fliegen. - Ha ló nincs, a szamár is jó. Die Bedeutung der beiden Sprichwörter ist gleich: ‘Man muss in wenig erfolgversprechenden Situationen auch Kompromiss- oder Notlösungen akzeptieren’. Das Bild jedoch, wodurch diese Bedeutung ausgedrückt wird, ist in den beiden Sprachen völlig anders, da die ungarische Wendung wortwörtlich Folgendes bedeutet: ‘Wenn kein Pferd da ist, ist auch der Esel gut’. Im Slowenischen finden wir eine mit dem Deutschen völlig übereinstimmende Struktur (V sili hudič še muhe žre), im Tschechischen eine Form, in der nur das verbale Prädikat vom Deutschen abweicht: V nouzi čert i mouchy lapá (wörtl.: ‘In der Not fängt der Teufel Fliegen’). Das Denkmuster des ungarischen Sprichworts ist in vielen Sprachen der Welt vorhanden, es hat jedoch eine mannigfaltige lexikalische Ausfüllung. Bei Szemerkényi (1994, S. 49) findet man - in Anlehnung an Permjakov (zit. ebd.) - einige Beispiele dazu. So soll es in dem in Ghana gesprochenen Ashanti- Dialekt heißen: ‘Wenn kein Fleisch da ist, kommen Pilze in die Suppe’. In China wird dagegen in solchen Situationen gesagt: ‘Wenn der Zinnober nicht ausreicht, tut es die rote Erde auch’. In Vietnam dagegen gebraucht man folgende Form: ‘Wenn kein Fisch da ist, sind auch Meereskrabben gut’. Im Persischen soll es dagegen heißen: ‘Wo es an Obst mangelt, da zählen auch rote Rüben als Orangen’. In all diesen Sprichwörtern ist es offensichtlich, dass der gleiche Grundgedanke je nach den Naturverhältnissen und Gegebenheiten in mannigfacher lexikalischer Ausfüllung ausgedrückt wird. Somit kommt Permjakov (zit. ebd.) zu der Feststellung, dass Sprichwörter eigentlich Zeichen für bestimmte Verhältnisse zwischen gewissen Situationen oder Sachen sind. Diese Situationen gehören zu den einzelnen Sprichwörtern wie die Invarianten zu ihren Varianten. Somit kann man alle Sprichwörter, die zu einer Tamás Forgács 400 Situation gehören, als Varianten betrachten, während die Situationen selbst als deren Invarianten aufgefasst werden können. 3.3.9 Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen Einen interessanten Fall für funktionale Äquivalenz bietet uns auch folgendes Beispiel: Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen. - Nem lehet egy fenékkel két lovat megülni. Der wortwörtliche Sinn des ungarischen Sprichworts ist: ‘Man kann nicht mit einem Gesäß zwei Pferde reiten’. Bei gleicher Bedeutung verwenden also die beiden Sprachen eigentlich das gleiche Denkmuster (man kann nicht gleichzeitig mehrere Tätigkeiten ausüben, die einander ausschließen) bei einem völlig unterschiedlichen sprachlichen Bild: im Deutschen sollte man auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen, im Ungarischen mit einem Gesäß zwei Pferde auf einmal reiten. Das Tschechische baut auf dem gleichen Bild auf wie das Deutsche (Na dvou svatbách současně tancovat nelze), die beiden anderen slawischen Sprachen verwenden jedoch eine dritte Form, mit der wortwörtlichen Bedeutung ‘Man kann nicht zugleich auf zwei Stühlen sitzen’ (vgl. slowenisch Sedeti na dveh stolih se ne da bzw. slowakisch Nemožno sedieť naraz na dvoch stoličkách). Somit sind diese Belege ein klarer Fall für funktionale Äquivalenz. Sowohl das deutsche als auch das ungarische Sprichwort sind übrigens in dem Teilaspekt, dass man nicht gleichzeitig mehreren Dingen oder Menschen angemessen gerecht werden kann, ein Synonym zu dt. Man kann nicht zwei Herren dienen und ungar. Nem lehet egyszerre két urat szolgálni. 3.3.10 Morgenstund hat Gold im Mund Das nächste Beispiel ist ein weiterer eindeutiger Fall für funktionale Äquivalenz: Morgenstund hat Gold im Mund. - Ki korán kel, aranyat lel. Der wörtliche Sinn des ungarischen Sprichwortes ist: ‘Wer früh aufsteht, findet Gold / ein Goldstück’. Wie man sieht, gibt es zwar im Gedankenkern der beiden Sprichwörter einige Berührungspunkte (‘frühe Zeit’, ‘Gold’), trotzdem sind sie sowohl vom sprachlichen Bild als auch von der syntaktischen Struktur her so unterschiedlich, dass sie doch nur zur funktionalen Äquivalenz gerechnet werden können. Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 401 Das deutsche Sprichwort beruht laut Röhrich (1991/ 1992, S. 1051) auf der Vorstellung der personifizierten Morgenröte (Aurora), die Gold in Haar und Mund trägt. Diese Vorstellung ist bei den nordeuropäischen Völkern schon seit langer Zeit bezeugt, so sagt man z. B. in Schweden, dass Aurora ein goldener Ring aus dem Munde fällt, wenn sie lacht; in Norwegen fallen Goldstücke aus ihrem Munde, wenn sie spricht und aus den Haaren, wenn sie sich kämmt. Auf Grund der nordischen Muster ist die deutsche Form eigentlich nicht überraschend. Etwas weniger verständlich ist, wieso ein im Grunde sehr ähnliches Sprachbild auch im Ungarischen vorkommt (sogar das meistbekannte Sprichwort ist). Laut Röhrich (ebd.) sind aber die sinngemäßen Äquivalente in anderen Sprachen alle auf das alte lateinische Sprichwort Aurora musis amica (wörtl.: ‘Die Morgenröte ist der Freund der Musen’) zurückzuführen, somit ist diese Übereinstimmung doch nicht so überraschend. Auch die in unserer Datenbank belegten slawischen Sprachen bedienen sich - auf einer abstrakteren Ebene - dieses Bildes: slowenisch Rana ura, zlata ura; slowakisch Ranná hodina, zlatá hodina (wörtl.: ‘Morgenstunde, Goldenstunde’). Das tschechische Äquivalent ist jedoch anders: Ranní ptáče dál doskáče (wörtl.: ‘Der Morgenvogel springt weiter’). Dieses Sprichwort ist tatsächlich nur noch von der Bedeutung her mit dem deutschen äquivalent, es zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem englischen Pendant des deutschen Sprichworts: The early bird catches the worm (wörtl.: ‘Der frühe Vogel fängt den Wurm’). 3.3.11 Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis Einen weiteren Fall für funktionale Äquivalenz bietet uns das folgende Sprichwortpaar: Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. - A kutya is jó dolgában veszik meg. Das deutsche Sprichwort wird in unserer Datenbank - auf Grund der Korpusverwendung - in dieser Stichwortform angegeben. Die in früheren phraseologischen Sammlungen verzeichnete längere Form Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen wird in der Datenbank als eine Formvariante angegeben. Die wortwörtliche Bedeutung des ungarischen Sprichworts ist: ‘Auch der Hund wird dann tollwütig, wenn ihm zu wohl wird’. Die übertragene Bedeutung beider Sprichwörter ist die gleiche: ‘Erfolge oder anhaltende positive Situationen können häufig zu Übermut oder Selbstüberschätzung führen und Tamás Forgács 402 jemanden somit zu dummen und unüberlegten Handlungen verleiten’. Auch der Gedankenkern ist eigentlich gleich: ‘X macht dann Dummheiten, wenn es ihm zu gut geht’. Was aber die verbleibende lexikalische Ausfüllung betrifft, sind in den beiden Sprachen das Subjekt und die von ihm nicht zu erwartende Handlung aber recht unterschiedlich. Im Deutschen ist das Subjekt der Esel, der aufs Eis (tanzen) geht (was wegen seiner Hufe nicht das geeignete Parkett ist). Im Ungarischen ist das Subjekt dagegen der Hund, der tollwütig wird. Man weiß, dass tollwütige Hunde meistens lustlos und traurig sind. Sie können aber ganz unerwartet beißen (was wegen dieser Krankheit auch noch gefährlich ist). Neben der unterschiedlichen lexikalischen Ausfüllung ist auch die syntaktische Struktur der beiden Sprichwörter anders: Das Deutsche gebraucht zum Ausdruck der Zeitbestimmung einen Konditionalsatz (wenn es ihm zu wohl wird), während das Ungarische eine adverbiale Konstruktion jó dolgában als Teil eines einfachen Satzes verwendet. Wegen der proportional ziemlich unterschiedlichen lexikalischen Ausfüllung und der abweichenden syntaktischen Struktur können wir also dieses Beispiel - trotz des zum Teil identischen Gedankenkerns - wohl eher zur funktionalen Äquivalenz rechnen. (In den untersuchten slawischen Sprachen gibt es im Slowenischen kein entsprechendes Pendant, im Slowakischen und Tschechischen steht eine mit der längeren Sprichwortvariante des Deutschen (die die Finalbestimmung tanzen enthält) völlig übereinstimmende Form (Keď je somárovi dobre, ide tancovať na ľad bzw. Oslu když se dobře vede, jde na led tancovat)). 3.3.12 Vorbeugen ist besser als heilen Ein interessanter Fall für funktionale Äquivalenz ist auch folgendes Beispiel: Vorbeugen ist besser als heilen. - Jobb félni, mint megijedni. Die Bedeutung beider Sprichwörter ist die gleiche: ‘Es ist besser, mögliche negative Folgen einer Sache zu erkennen und entsprechend bedacht zu handeln, als sie im Nachhinein mühsam beseitigen zu müssen’. Was aber ihre wortwörtliche Ausprägung betrifft, sind sie recht divergent. Das ungarische Sprichwort heißt übersetzt: ‘Angst haben ist besser, als sich erschrecken’. Der Gedankenkern (‘Frame’) ist jedoch - wie auch die syntaktische Struktur - in etwa identisch: ‘X ist besser als Y’, wobei X und Y eine Tätigkeit sind, ausgedrückt durch einen Infinitiv. Dabei ist X immer eine vorsorgliche, absichernde Tätigkeit, durch die Y abzuwehren ist. Wegen dieser Parallelität der beiden Sprichwörter auf der syntaktischen und semantischen Ebene könnten die Aus- Äquivalenzerscheinungen in der Datenbank der Sprichwortplattform 403 drücke auch als partiell äquivalent, und zwar als ein Fall für strukturelle Synonymie aufgefasst werden. (Der ungarische Ausdruck entspricht übrigens auch dem deutschen Sprichwort Vorsicht ist besser als Nachsicht). 4. Fazit Das waren die vielleicht interessantesten Beispiele der phraseologischen Äquivalenz in der Relation Deutsch - Ungarisch (zum Teil ergänzt mit Beispielen aus den anderen Sprachen) aus der Datenbank des SprichWort-Projekts. Ich hoffe, dass ich auch mit diesen wenigen Beispielen zeigen konnte, wie schwer es manchmal ist, das wirklich treffende Äquivalent für ein Sprichwort in einer anderen Sprache zu finden bzw. diese Äquivalente in Untergruppen (Voll- und Teiläquivalenz usw.) zu kategorisieren. Andererseits kann man aus unseren Beispielen auch ersehen, wie bunt und abwechslungsreich die einzelnen Sprachen die gleichen kognitiven Modelle (‘Frames’) in sprachliche Bilder und somit in phraseologische Konstruktionen umsetzen können. Literatur Ďurčo, Peter (2010). Slowakische Sprichwortartikel. In: Datenbank des EU-Projekts SprichWort. Internet: http: / / www.sprichwort-plattform.org/ sp/ Sprichwort_sk . Földes, Csaba / Kühnert, Helmut (1990): Hand- und Übungsbuch zur deutschen Phraseologie. Budapest. Forgács, Tamás (2003): Magyar szólások és közmondások szótára. Mai nyelvünk állandósult szókapcsolatai példákkal szemléltetve [Wörterbuch der ungarischen Redensarten und Sprichwörter. Phraseologismen des heutigen Ungarischen mit Anwendungsbeispielen]. Budapest. Forgács, Tamás (2004): Ungarische Grammatik. 2., verbesserte Auflage. Wien. Forgács, Tamás (2007): Bevezetés a frazeológiába. A szólásés közmondáskutatás alapjai. 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Alphabetische Sammlung ausgewählter ungarischer Sprichwörter, Formeln und Redensarten]. Pécs. Steyer, Kathrin / Hein, Katrin (2010): Deutsche Sprichwortartikel. In: Datenbank des EU-Projekts SprichWort. Internet: http: / / www.sprichwort-plattform.org/ sp/ Sprichwort . Wander, Karl Friedrich Wilhelm (1867-1880): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Leipzig. Elizabeta Bernjak Slowenische und ungarische Sprichwörter kontrastiv 1. Definition der Sprichwörter Unter diachronem Aspekt betrachtet, wurden in der Geschichte der Sprachforschung zahlreiche Versuche unternommen, das Sprichwort zu definieren. Dabei handelt es sich nach Mieder (1999) um das Definieren der Sprichwörter vom Standpunkt des Lesers, Hörers, Rezipienten etc. - oder so wie er es nennt „des Publikums“ - auf der einen Seite. Auf der anderen Seite bemühen sich die Folkloristen bzw. Sprachwissenschaftler und insbesondere die Parömiologen um das Formulieren einer „wissenschaftlichen Definition“. Die für das breite Publikum bestimmte und in vielen Bedeutungswörterbüchern vorkommende Definition, nach der ein Sprichwort - kurz gesagt - „ein von Weisheit geprägter Satz“ ist, erweist sich als zu generalisierend und demzufolge für eine wissenschaftliche Analyse unzugänglich. In der Literatur wird darauf verwiesen, dass satzwertige Phraseme, insbesondere Sprichwörter, in der Regel als All-Aussagen zu interpretieren sind (vgl. z. B. Burger 2003). Für die Zwecke eines Forschungsprojektes sollte jedoch eine Arbeitsdefinition erarbeitet werden, die klare Kriterien für die Auswahl formuliert. 1.1 Herkunft und Anwendungsbereich der Sprichwörter Laut Röhrich / Mieder (1977, S. 26) ist die Frage nach dem Ursprung der meisten Sprichwörter bis heute nicht befriedigend geklärt worden. Als Entstehungszeit eines beachtlichen Teiles der Sprichwörter wird meist die Antike, also eine vorliterarische Zeit genannt. Jedoch ist ihr erstes Auftauchen in antiken literarischen Quellen eher ein Zitat aus der mündlichen Überlieferung und daher kein Beleg für den Ursprung eines Sprichwortes. Für manche Sprichwörter aus der neueren Zeit, die entweder bei Erasmus von Rotterdam zu finden sind oder aus der Bibel stammen, lässt sich der Ursprung leichter nachweisen. Dieser wird aber in späteren Sammelbänden kaum explizit angegeben, wie die große Zahl an Sprichwörtersammlungen und -lexika zeigt, die nur wenige Angaben über Herkunft und erste schriftliche Belege enthalten. Vielmehr werden Sprichwörter als im Volksmund verwendete und überlieferte Sprüche lehrhaften Charakters wahrgenommen und bezeichnet. Sie werden von Sprechern auf Grund ihrer Funktion eines sich im Laufe der Zeit als (fast) Elizabeta Bernjak 406 unbestreitbar erwiesenen Wahrheitsanspruchs benutzt. Die Sprichwörter beruhen auf allgemeinen Erfahrungen und haben sich daher als „allgemeingültige Volksweisheiten“ behauptet. 1.2 Förmlicher und sachlich-bildhafter Aspekt Die Sprichwörter haben die Form eines relativ kurzen, formal und inhaltlich abgeschlossenen Satzes. Das unterscheidet sie von den Phrasemen, die erst in einen Satz eingefügt werden müssen, um eine feste Aussage zu ergeben und einen konkreten Inhalt zu erhalten (vgl. Röhrich 2001, S. 23). Einmal formuliert, bleiben hingegen die Sprichwörter fest und unveränderlich. Natürlich darf beim Versuch einer Abgrenzung der Sprichwörter gegenüber den Phrasemen nicht von der Tatsache abgesehen werden, dass es auch Übergänge zwischen den beiden Formen gibt, die nur schwer einer der beiden Kategorien zuzuordnen sind. Außer an ihrer äußeren Form sind die Sprichwörter oft auch an ihrer Bildhaftigkeit zu erkennen. Das sprichwörtliche Bild ist ausdrucksvoller und prägnanter als eine umständliche Beschreibung der Situation und der daraus gezogenen Lehre. Obwohl eine bedeutende Anzahl von Sprichwörtern eine direkte Aussage (Lachen ist gesund) enthält, überwiegt eher die Tendenz zu einer indirekten, verhüllten Aussage (vgl. Röhrich / Mieder 1977, S. 54). Der Realbereich der Sprichwörter ist selten der eigentlich gemeinte, viel häufiger ist es die übertragene Bedeutung (Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Hier geht es nicht wortwörtlich um ‘Gold’, sondern im Allgemeinen um das Verhältnis zwischen Anschein und dem sich dahinter verbergenden Wesen). 1.3 Logisch-semantischer Aspekt der Sprichwörter Sprichwörter sind populäre und sehr prägnante Sprüche von lehrhafter Tendenz und sprechen Erfahrungssätze, (Lebens-)Regeln, allgemeine Aussagen, Anschauungen, Meinungen, Urteile, Warnungen oder gut gemeinte Ratschläge aus, die auf eine konkrete Situation angewandt werden und mit deren Hilfe die entsprechende Situation erklärt, eingeordnet oder beurteilt wird (Burger 1973, S. 54). Dazu ist allerdings hinzuzufügen, dass Sprichwörter zwar als „allgemeine“ Aussagen und Urteile aufgefasst werden, sie sind aber keine Träger einer absoluten und unbestrittenen Wahrheit. Um das Gesagte zu illustrieren, soll ein Beispiel aus dem slowenischen Sprichwortgut angeführt werden. Im Slowenischen existieren folgende zwei Formen gleichberechtigt nebeneinander: Obleka dela človeka (wörtl.: Kleider machen Leute) und Obleka ne naredi človeka (wörtl.: Es sind nicht die Kleider, die Leute machen). Ob Slowenische und ungarische Sprichwörter kontrastiv 407 der Sprecher sich der einen oder der anderen Parömie bedient, entscheiden die jeweilige Sprechsituation und seine Sprechabsicht. In diesem Sinne verfügen die Sprichwörter über einen pragmatischen Wert und demzufolge über eine ausgeprägte kommunikative Funktion. Auf Grund der oben angeführten Aspekte und Überlegungen zum Wesen, zur Form und Funktion der Sprichwörter, lässt sich eine vorläufige Arbeitsdefinition wie folgt formulieren: Sprichwörter sind allgemeingültige Volksweisheiten, die in erster Linie durch mündliche Überlieferungen populär geworden sind. Viele stammen aus vorliterarischer Zeit, manche sind erst im Mittelalter oder sogar in der Neuzeit entstanden. Ihren sprichwörtlichen, formelhaften Charakter verdanken sie der Tatsache, dass bei ihrem Gebrauch kaum noch jemand an ihren Ursprung denkt. Sprachlich gesehen haben die Sprichwörter die Form eines relativ kurzen, formal und inhaltlich abgeschlossenen Satzes. Die Mehrzahl der Parömien formuliert ihre oft verhüllte, indirekte Aussage mit Hilfe von zahlreichen sprachlichen und poetischen Ausdrucksmitteln, z. B. Metaphern. Logisch-semiotisch gesehen sind die Sprichwörter lehrhafte Sprüche, die Erfahrungssätze, Lebensregeln, Meinungen, Urteile, Warnungen, Ratschläge etc. ausdrücken und immer auf eine konkrete Situation angewandt werden, in der sie verschiedene Funktionen übernehmen: Erziehung, Warnung, Erregen von Aufmerskamkeit, Überredung, Zusammenfassung usw. 2. Sprichwörter und Kultur Die Sprichwörter verfügen „neben ihrer kommunikativen Funktion auch über eine kumulative Funktion, die sich in der Widerspiegelung und Fixierung von Erfahrungen der sozialen Praxis in der Sprache manifestiert“ (Földes 2005, S. 324). Sprichwörter sind „als prototypischer Hort des ‘kulturellen Gedächtnisses’ einer Diskursgemeinschaft zu betrachten; in ihnen manifestiert sich das versprachlichte kollektive Wissen und damit das ‘sprachliche Weltbild’ in anschaulicher und aufschlussreicher Weise. Dementsprechend greifen viele [Sprichwörter] dezidiert kulturspezifische Begebenheiten auf. [...] [Die] Bildspender [...] [entstammen] in der Regel den direkten sozialen Praxis-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsbereichen der jeweiligen Diskursgemeinschaft [...].“ (ebd.). Außerdem sind Sprichwörter verbale Manifestationen von „Kulturemen“ (Oskaar 1988, S. 27), das heißt, sie gelten als Ausdrucksmittel, durch die abstrakte Kultureme konkret realisiert werden. „In diesem Kontext sind [...] die Beziehungen zwischen [...] [Parömiologie], Weltbild und Interbzw. Trans- Elizabeta Bernjak 408 kulturalität besonders [...] [wichtig].“ (Földes 2005, S. 324). Einem kognitiven Betrachtunsschema gemäß ausgedrückt: Parömien gelten als ein kulturell verankertes Modell zur erkenntnisleitenden Strukturierung der Welt (Lakoff- Johnson 1980a, Grzybek 2000). „Metaphern [...]“ - die auch bei der Parömie als Grundkonzept fungieren - „können nämlich als kognitive Modelle expliziert werden, weil sie auf bestimmte idealisierte ‘kognitive Konzepte’ zurückgehen“ (Földes 2005, S. 325). Zwischen solchen mitteleuropäischen Sprachen wie Deutsch, Slowenisch und Ungarisch sind die kultur- und landspezifischen Unterschiede nicht so ausgeprägt wie beispielsweise im Hinblick auf manche außereuropäischen Kulturen. „Obwohl [...] [im Falle der genannten Sprachen] - infolge der Zugehörigkeit zum selben Kulturkreis und des viele Jahrhunderte währenden Mit- und Nebeneinanderlebens der Slowenen und Ungarn mit deutschsprachigen Nachbarn - die [...] [parömiologischen Systeme] einander typologisch nicht unähnlich sind, lassen sich diesbezüglich doch auch aufschlussreiche kulturspezifische Differenzen erkennen.“ (Földes 2005, S. 326). Es gibt Sprichwörter, deren logisch-thematisches Modell für verschiedene Kulturen typologisch isomorph ist, aber in der konkreten Realisierung kommen jeweils unterschiedliche Kulturkomponenten zum Tragen. Hier liegt gleichzeitig sowohl Universelles als auch Kulturspezifisches vor. „Die konzeptuelle Grundlage der Sprichwörter der verschiedenen Sprachen stimmt typologisch im Wesentlichen überein, wobei die [...] lexikalische Füllung etwas Spezifisches darstellt“ (Földes 2005, S. 326) (Wir sitzen alle in einem Boot / / slowen.: Vsi smo v istem čolnu - wörtl.: Wir sind alle in einem Boot / / ungar.: Mind egy hajóban evezünk - wörtl.: Wir rudern in einem Schiff). „Es fällt mithin auf, dass es [...] [zwischen den deutschen, slowenischen und ungarischen Sprichwörtern] viele punktuelle wie auch konzeptuelle Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten gibt.“ (ebd., S. 328). Die beeinflussende Sprache war in der Regel Deutsch, denn sie hatte aus politisch-wirtschaftlichen Gründen auf dem slowenischen und ungarischen Gebiet sehr lange und in fast allen Bereichen eine Prestige-Position des öffentlichen Lebens. Dies führte zu intensiven Entlehnungs- und Calquierungsprozessen. Die Gründe und Ursachen für relativ viele Übereinstimmungen in deutscher, slowenischer und ungarischer Parömiologie sind auf den ersten Blick außersprachlich bedingt. Soziale, politische und wirtschaftliche Kontakte benachbarter Sprachräume hatten eine rege und intensive sprachliche Dynamik zur Folge, wodurch der relativ hohe Grad der parömiologischen Konvergenz kontaktlinguistisch erklärbar ist. Unmittelbare Berührungen der Sprachen sind aber immer auch kulturelle Kontakte, Slowenische und ungarische Sprichwörter kontrastiv 409 wobei der kulturelle Rahmen der benachbarten Sprachen allerdings oft ein gemeinsamer ist. Es ist der auf der antiken und christlichen Tradition basierende mitteleuropäische Kulturraum, welcher alle drei Sprachen wesentlich geprägt hat. Vor diesem Hintergrund war das Deutsche geschichtlich gesehen eben nicht einfach nur die beeinflussende Sprache, es war in der Regel auch die Vermittlungssprache mitteleuropäischer Kultur. Übereinstimmungen in den drei genannten Sprachen finden wir bei den Sprichwörtern, die der Bibel, Mythologie und der klassischen Literatur entstammen (z. B. Alle Wege führen nach Rom / / slowen.: Vse poti vodijo v Rim / / ungar.: Minden út Rómába vezet; Aller Anfang ist schwer. / / slowen.: Vsak začetek je težak / / ungar.: Minden kezdet nehéz). Übereinzelsprachlich präsent sind weitere Parömien, die alltägliche Lebenserfahrungen kollektiver Natur widerspiegeln bzw. auf übereinstimmenden Beobachtungen oder Erfahrungen, auf der gleichen Lebens-, Assoziations- und Denkweise fußen. Zu dieser Gruppe können mannigfaltige zwischensprachliche Entsprechungen gezählt werden, die sich in vielen genetisch nicht verwandten und typologisch verschiedenen Sprachen unabhängig voneinander konstruierten (Weniger ist mehr / / slowen.: Manj je več / / ungar.: A kevesebb több; Liebe kann man nicht erzwingen / / slowen.: Ljubezni ni mogoče izsiliti / / ungar.: A szerelmet nem lehet kikényszeríteni). Diese parömiologischen Parallelen „beruhen auf den universellen Gesetzen des menschlichen Denkens, die zur Gewährleistung der emotionalen Funktion der Sprache dieselben Mechanismen nutzen und gleiche oder ähnliche komplexe Spracheinheiten entstehen lassen“ (Černyševa 1984, S. 20). 3. Kontrastive Untersuchung der Parömien Kontrastive Untersuchungen von Sprichwörtern können im Fall von nicht verwandten Sprachen wie Slowenisch, Ungarisch und Deutsch auf die im Entstehungsprozess aufgetretenen gemeinsamen, identischen, ähnlichen bzw. unterschiedlichen Eigenschaften bzw. auf die universellen und gemeinsamen Züge des sprachlichen Weltbildes verweisen, was sich auch in der morphosyntaktischen Struktur und im Konstituentenbestand bemerkbar macht. Eine mögliche Vergleichsmethode ist die ideografische Beschreibug der Sprichwörter bzw. Konfrontation der Parömien aufgrund ihrer Bedeutung und Struktur. Der Vergleich von zwei oder drei Sprachen bedeutet vor diesem Hintergrund auch immer einen Vergleich von zwei oder mehreren Kulturen. Es geht also auch um den soziokulturellen Hintergrund, die konzeptuelle Basis der Sprichwörter und um die idioethnischen Besonderheiten der vergleichenden Sprachen. All diese Faktoren beinflussen die zwischensprachlichen Äqui- Elizabeta Bernjak 410 valenz- und Kongruenzerscheinungen in hohem Maße. Sprachspezifische Unterschiede können wir mit der genetischen und typologischen Nicht-Verwandschaft der Kontaktsprachen begründen: die slowenische und deutsche Sprache sind indoeuropäische, flektierende Sprachen; Ungarisch gehört zur ugro-finnischen Sprachfamilie, deren Sprachen - sprachtypologisch gesehen - als agglutinierende Sprachen verstanden werden. Der interlinguale Vergleich der Parömien bedeutet einen Vergleich auf der inhaltlichen Ebene (‘Bedeutung’) und auf der Ausdrucksebene. Dabei sind die Begriffe ‘Äquivalenz’ und ‘Kongruenz’ relevant. ‘Äquivalenz’ bezeichnet die Übereinstimmung der Spracheinheiten in der Bedeutung, ‘Kongruenz’ hingegen die Übereinstimmung der Spracheinheiten im Konstituentenbestand und in der morphosyntaktischen Struktur. Unter dem Aspekt der Äquivalenz ist es wichtig, auch die konzeptuelle Basis (Bild) der Parömien, die in den meisten Fällen eine konzeptuelle (kognitive) Metapher ist, in die Betrachtung einzubeziehen. Nach Auffassung der kognitiven Linguistik (Lakoff / Johnson 1980a, 1980b) ist unser konzeptuelles System, innerhalb dessen wir denken und handeln, seinem Wesen nach metaphorisch. Diese Feststellung ist auch aus der Perspektive jener Auffassung relevant, die Sprichwörter als sprachliche Ausdrücke für konzeptuelle Metaphern sieht: die Metapher ermöglicht das Verständnis eines Erfahrungsbereichs durch bzw. über einen anderen Erfahrungsbereich. Viele für uns wichtige Konzepte sind abstrakt oder sind in unserer Erfahrung nicht deutlich abgrenzbar (z. B. Gefühle). Deshalb müssen wir sie mit Hilfe anderer Kon-zepte (z. B. Gegenstände) begreifen. Die Tatsache, dass die konzeptuelle Metapher auf der Sprachebene nur teilweise realisiert wird und dass der realisierte Teil konventionalisiert ist, also für die gegebene Sprache obligatorisch, erlaubt, dass die kontrastive Sprachwissenschaft genau diesen Teil entdeckt und so auch die Differenzen zwischen den Sprachen ermittelt. Gemäß der Typologie der interlingualen Äquivalenz (Földes 2000, S. 13) ist es möglich, folgende Äquivalenztypen zu unterscheiden: parömiologische Volläquivalenz und Teiläquivalenz, Nulläquivalenz, Quasi-Äquivalenz und funktional-semantische Äquivalenz. Von völliger struktursemantischer interlingualer Äquivalenz der Sprichwörter ist dann die Rede, wenn sich die Sprichwörter bezüglich ihres Bedeutungs- und Strukturmodells decken, das heißt, sie haben die gleiche denotative und konnotative Bedeutung, den gleichen emotional-expressiven und stilistischen Wert. Charakteristisch für diesen Typ sind eine völlige Kongruenz der Konstituenten und ein identisches Bild bzw. eine identische konzeptuelle Metapher als Basis. Gründe für völlige Übereinstimmungen können die folgenden sein: Slowenische und ungarische Sprichwörter kontrastiv 411 gemeinsame sozialgeschichtliche Entwicklung, gleiche ethisch-moralische Werte, direkte Übernahme der Parömien aus anderen Sprachen, eine dritte Sprache als gemeinsame Quelle des Übernehmens (z. B. Kulturgüter aus der Bibel, der Antike und der Weltliteratur), z. B. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert / / slowen.: Pot v pekel je tlakovana z dobrimi nameni / / ungar.: A pokolhoz vezető út is jó szándékkal van kikövezve. Für einen großen Teil der Parömien im Vergleich gilt die Teiläquivalenz, d.h. neben dem identischen/ ähnlichen semantischen und syntaktischen Modell kommt es zum Komponentenaustausch. Manchmal verändert sich der Bildcharakter bzw. die Sprichwörter der verschiedenen Sprachen bieten nur ähnliche Bilder an. Es kann sich aber auch um einen völlig unterschiedlichen Komponentenbestand handeln, der jedoch dem gleichen Begriffsfeld entstammt. Damit sind zugleich semantische, funktionelle und strukturelle Modifikationen verbunden. Es ist möglich mehrere Untergruppen zu unterscheiden: lexikalische Variabilität bzw. strukturelle Synonymie, ideografische Synonymie, Hyper-Hyponymie und stilistische Synonymie. Für die meisten in die Konfrontation eingeschlossenen Parömien ist die interlinguale Teiläquivalenz charakteristisch, die durch lexikalische Variabilität bedingt ist: Bei gleichem syntaktischen Modell und gleicher Gesamtbedeutung der Sprichwörter liegen partielle Divergenzen der Konstituenten vor, d.h. lexikalische Differenzen bzw. nicht vollständige Übereinstimmung bezüglich der Konstituenten. Dies kann morphologische Modifikationen betreffen wie unterschiedlichen Numerus oder unterschiedlichen Genus in der slowenischen und ungarischen Sprache: Ausnahmen bestätigen die Regel / / slowen.: Izjema potrjuje pravilo / / ungar.: A kivétel erősíti a szabályt; Die Augen sind die Spiegel der Seele / / slowen.: Oči so ogledalo duše, aber im Ungarischen, das eine singulare Sprache ist: A szem a lélek tükre - wörtl.: Das Auge ist der Spiegel der Seele. Die Divergenzen können aber auch den Lexembestand betreffen, indem jeweils unterschiedliche Lexeme am Sprichwort beteiligt sind: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm / / slowen.: Jabolko ne pade daleč od drevesa (‘vom Baum’) / / ungar.: Az alma nem esik messze a fájától (‘von seinem Baum’); Gut Ding braucht Weile / / slowen.: Vse potrebuje svoj čas - wörtl.: Alles braucht seine Zeit / / ungar. : A jó munkához idő kell - wörtl.: Zur guten Arbeit braucht man Zeit). Aus vergleichender Sicht kann auch ein anderes Bild als konzeptuelle Basis dienen: Im Deutschen und Slowenischen zum Beispiel wird die Bedeutung ‘in wenig Erfolg versprechenden Situationen müssen wir auch Notlösungen akzeptieren’, folgendermaßen ausgedrückt: In der Not frisst der Teufel Fliegen / / slowen.: V sili hudič še muhe žre; im Ungarischen Elizabeta Bernjak 412 geht es dagegen eher um das Hinnehmen der schlechten Variante, wenn die bessere nicht zur Verfügung steht: Ha ló nincs, jó a szamár is - wörtl.: Wenn kein Pferd da ist, ist auch der Esel gut. Nulläquivalenz bedeutet, dass die interlinguale Entsprechung der ausgangssprachlichen Parömie kein Sprichwort, sondern eine Paraphrase ist. Damit geht aber die pragmatische Bedeutung verloren. Der Begriff der ‘Quasiäquivalenz’ bezeichnet eine interlinguale Entsprechung der Sprichwörter, bei der die Sprichwörter mehr oder weniger formale Kongruenz zeigen, aber ihre Bedeutung teilweise verschieden ist (Vorbeugen ist besser als heilen / / Bolje je preprečiti kot zdraviti / / Jobb félni, mint megijedni). Funktionale semantische Äquivalenz (interlinguale Synonymie, vgl. Földes 2000, S. 14) bezeichnet jenen Äquivalenztyp, bei dem die logisch-semantische Form der Parömien übereinstimmt, die konzeptuelle Basis aber verschieden ist (z. B. Jeder Topf findet seinen Deckel / / Vack Lone Najade so pokre / / A zack megtalálja a foltját). 4. Kontrastive Analyse der Parömien im Bedeutungsbereich GESUNDHEIT Der Ausgangpunkt der Kontrastierung ist die semantische Äquivalenz der verglichenen Parömien, die sich durch die semantische Paraphrase der Parömien in den verglichenen Sprachen zeigt und als „tertium comparationis“ für die Feststellung der interlingualen Bedeutungsübereinstimmung, der Ähnlichkeiten und der Differenzen gilt. Im gegebenen Fall gründet die kontrastive Analyse auf der Methode der ideografischen Beschreibung der Parömien, d.h. auf dem Vergleich der Bedeutung und der Struktur der Sprichwörter, aufgrund derer die Sprichwörter dann in verschiedene Bedeutungsbereiche eingeordnet werden (z. B Gemeinsamkeiten, Gesundheit, Glück usw.). Parallel mit dem Gruppieren der Parömien in thematische Gruppen verläuft auch der Vergleich der struktursemantischen Modellierung. Letzere präsupponiert die Existenz der prinzipiellen Modellierung der Phraseologie aufgrund der Form und Bedeutung und ermöglicht die Feststellung verschiedener Arten von Übereinstimmung auf der Ebene der Bedeutungsäquivalenz und der formalen Kongruenz. Die kontrastive Analyse der Sprichwörter aus dem Bedeutungsbereich GE- SUNDHEIT wird in den Korpora der drei verglichenen Sprachen, besonders der slowenischen und der ungarischen Sprache dokumentiert. Die Analyse stützt sich auf Daten, die in der Datenbank des SprichWort-Projekts ( http: / / Slowenische und ungarische Sprichwörter kontrastiv 413 www.sprichwort-plattform.org/ sp/ Sprichwort-Plattform ) erfasst sind. 1 Es geht um sechs ausgewählte Sprichwörter aus dem genannten Bedeutungsbereich. Die deutschen Parömien (Lachen ist die beste Medizin; Weniger ist mehr; In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist; Vorbeugen ist besser als heilen; Allzuviel ist ungesund; Lachen ist gesund) dienen als Ausgangspunkt für den Vergleich der Äquivalente in slowenischer und ungarischer Sprache, bei denen alle Fälle der oben genannten Äquivalenztypen repräsentiert sind. 4.1 Volläquivalenz Sie bedeutet eine semantische, strukturelle und lexikalische Entsprechung in allen drei Sprachen sowie das gleiche zugrunde liegende Bild bzw. die gleiche Bedeutungsparaphrase als tertium comparationis: Die Paraphrase ‘Humor oder das Lachen über bestimmte Dinge können helfen, schwierige Situationen zu meistern oder sich besser zu fühlen’ umschreibt die SW-Bedeutungen in den drei Sprachen: Lachen ist die beste Medizin / / slowen.: Smeh je najboljše zdravilo / / ungar.: A nevetés a legjobb orvosság. Die Bedeutungsbeschreibung ‘eine gewisse Zurückhaltung in Bezug auf die Menge von Dingen oder Handlungen führt oft zu einer besseren Qualität’ erfasst als Tertium Comparationis die Bedeutungen folgender Sprichwörter: Weniger ist mehr / / slowen.: Manj je več / / ungar.: A kevesebb több. Dabei geht es um eine Variation der konzeptuellen Metapher WENIGER IST MEHR im Sinne Lakoffs als Grundbasis des Sprichworts. 4.2 Teiläquivalenz Bei Teiläquivalenz liegt die gleiche semantische Entsprechung in den kontrastierten Sprachen vor, aber es gibt Unterschiede im Komponentenbestand, in der morphosyntaktischen Struktur und in der konzeptuellen Basis. Im ersten Fall der Teiläquivalenz liegt jeweils ein anderes syntaktisches Modell zugrunde: Hinsichtlich des Sprichworts in der Ausgangssprache geht es um ein anderes, elliptisches syntaktisches Modell im Slowenischen und Ungarischen, nämlich um das Modell ohne ein explizites Prädikat und mit einem unbestimmten Artikel, im Slowenischen ist auch die Wortfolge umgekehrt. Bedeutungsbeschreibung: ‘gute körperliche Verfassung bildet die Voraussetzung für mentale Leistungsfähigkeit oder seelische Stärke’: In einem gesunder Körper wohnt ein gesunder Geist / / slowen.: Zdrav duh v zdravem telesu / / ungar.: Ép testben ép lélek. 1 Die Bedeutungsbeschreibungen wurden aus den deutschen Datenbankeinträgen übernommen (vgl. Steyer / Hein 2010). Elizabeta Bernjak 414 Im zweiten Fall gibt es ein anderes Bildmodell in ungarischer Sprache, das nicht direkt mit der Gesundheit verbunden ist: Vorbeugen ist besser als heilen / / slowen.: Bolje je preprečiti kot zdraviti / / ungar.: Jobb félni, mint megijedni - wörtl.: Besser Angst haben, als sich erschrecken. Im dritten Fall unterscheidet sich der Komponentenbestand in den beiden kontrastierten Sprachen: Allzu viel ist ungesund / / slowen.: Preveč še s kruhom ni dobro - wörtl.: Zu viel ist auch mit Brot nicht gut / / ungar.: Jóból is megárt a sok - wörtl.: Auch vom Guten ist zu viel schädlich. Im vierten Fall existiert im Ungarischen überhaupt kein Äquivalent, in diesem Fall geht es um Nulläquivalenz, im Slowenischen kommt eine andere Komponente vor, die das Bedeutungsfeld beschränkt. Die Bedeutungsbeschreibung ‘das Lachen ermöglicht es, dass wir uns auch in schwierigen Situationen besser fühlen’: Lachen ist gesund / / Smeh je pol zdravja - wörtl.: Lachen ist die halbe Gesundheit. 5. Schlussfolgerung Aufgrund der Tatsache, dass Sprichwörter so alt sind wie der Mensch selbst und seine Gedankenwelt und dass sie wahrscheinlich in allen Sprachen und Kulturen der Welt präsent sind, ist es möglich zu behaupten, dass die sprichwörtliche Ausdrucksweise ein immanentes Bedürfnis des Menschen ist und die Art und Weise, wie sich die innere Form seines Denkens äußert, beeinflusst. Die slowenische und die ungarische Parömiologie haben wegen gegenseitiger historischer und arealer Enflüsse viele Berührungspunkte. Die direkten geografischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kontakte des slowenischen und ungarischen Kulturraums mit dem grenznahen deutschen Raum bedingten jahrhundertlang auch die interlingualen Einflüsse. In diesem Zusammenhang kam der deutschen Sprache über Jahrhunderte eine Prestigefunktion zu. Die interlinguale Beeinflussung, d. h. die Übernahme und Lehnprägung von Sprichwörtern, vor allem in Richtung von der deutschen zur slowenischen und ungarischen Sprache, ist daher vordergründig durch den Sprachkontakt bedingt. Die Konvergenzstufe ist zwischen den erörterten Sprichwörtern ziemlich hoch, auch aufgrund der gemeinsamen Mittlersprache Deutsch, weshalb diese als dritte Sprache für diesen Vergleich ausgewählt wurde. Das kulturelle Erbe sowie die Tradition der Antike und des Christentums, die allen Sprachen im europäischen Kulturraum gemeinsam ist, beeinflussten mit Sicherheit die Übernahme; ins Slowenische und Ungarische gelangten diese Güter hauptsächlich durch die Vermittlung über das Deutsche. Slowenische und ungarische Sprichwörter kontrastiv 415 Eine hohe Konvergenzstufe zeigen gerade jene Sprichwörter, die kulturspezifische Visionen und Interpretationen der Welt bezeichnen: Parömien biblischen, mythologischen und klassisch-literarischen Ursprungs, weitere Parömien, die sich auf menschliche Erfahrungen und das alltägliche Lebensumfeld beziehen. Die Parömien stimmen häufig vollkommen in semantischer Hinsicht überein, zeigen aber stärkere oder schwächere Abweichungen in der morphosyntaktischen Formstruktur. Die Gemeinsamkeiten der Parömien in Hinblick auf die Bedeutung und Struktur lassen sich aber auch mit dem Prozess der Phraseologisierung sowie der Konzeptualisierung erklären. Differenzen auf der Strukturebene sind sprachsystematisch bedingt, da die verglichenen Sprachen unterschiedlichen genetischen Ursprungs und unterschiedlicher typologischer Zugehörigkeit sind. Die höchste Stufe der Konvergenz zeigt jene Gruppe der Parömien, die allgemeine moralische Lehren ausdrücken. Eine hohe Übereinstimmung ist auch in den Parömiegruppen zu finden, die auf gleicher oder ähnlicher konzeptueller Struktur bei der Bennenung des Weltbildes und der Interpretation menschlicher Tätigkeiten und Eigenschaften basieren und mit gleichen oder ähnlichen menschlichen Erfahrungen oder Weltbildern verbunden sind. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass die Parömiologie die Weltperzeption und -erfahrung sowie die Geschichte einer Nation widerspiegelt und daher als Sprache der Kultur angesehen werden kann. Das entspricht auch der Grundprämisse der kognitiv-linguistischen Sprachauffassung. Literatur Bernjak, Elizabeta (2004): Frazemi s sestavino drevo v slovenskem, madžarskem in nemškem jeziku. In: Jesenšek, Marko (Hg.): Knjižno in narečno besedoslovje slovenskega jezika. (= ZORA 32). Maribor, S. 173-193. Burger, Harald (2003): Phraseologie. 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Die didaktischen Aufgaben wurden zunächst in zwei Hauptgruppen, B1-B2 bzw. C1-C2, verteilt. Die Aufgaben, die nach den Lernphasen der Sprichwörter, dem sogenannten phraseologischen Dreibzw. Vierschritt (Erkennen, Verstehen, Festigen, Verwenden), auf der Sprichwortplattform angeordnet wurden, betreffen die Form, den Inhalt und die Verwendung der Sprichwörter. Die Aufgaben in diesen vier Gruppen umfassen damit die wichtigsten Aspekte, die beim Sprichwortlernen in einer Fremdsprache gewöhnlich auftauchen. Für Alltagsnutzer einer Fremdsprache ist es nicht notwendig zu wissen, was der Unterschied zwischen einer satzgliedwertigen und einer satzwertigen festen Wortverbindung ist, welche Sprichwörter idiomatisch sind oder wie Sprichwörter metasprachlich im Kontext kommentiert werden. Es gibt jedoch eine klar abgrenzbare Gruppe von Nutzern, die Interesse an solchen linguistischen Informationen haben: Studierende von Fremd- oder Muttersprachen, Linguisten, Lehrer sowie eventuell an der Sprache und Sprachwissenschaft interessierte Laien. Für diese Nutzergruppen sind die parömiologischen Aufgaben auf der Sprichwortplattform entstanden. 2. Ziel der parömiologischen Aufgaben Die anvisierte Zielgruppe im parömiologischen Teil der Sprichwortplattform bilden fortgeschrittene Lerner ab Niveau B2, aber insbesondere Lerner ab Niveau C1. Des Weiteren wenden sich diese Aufgaben an Studierende der beteiligten Sprachen, an Lehrer sowie an Linguisten. Das Ziel der parömiologischen Aufgaben ist es, interessierte Nutzer der Plattform auf linguistische Sprichwortmerkmale und einige sprichwortbezogene sprachwissenschaftliche Phänomene aufmerksam zu machen und die diesbezüglichen Kenntnisse zu üben. Tamás Kispál 418 3. Vorbereitung der parömiologischen Aufgaben Bei der Vorbereitung der parömiologischen Aufgaben mussten zunächst die aus parömiologischer Sicht nötigen Informationen gesammelt werden. Die Beschäftigung mit Sprichwörtern wurde von einem interdisziplinären Wissenschaftszweig, der Parömiologie, zum Gegenstand gemacht. Die Parömiologie bekam ihren Namen vom griechischen Wort „paroimia“ für Sprichwort. Innerhalb dieser Disziplin werden linguistische, kultur-, literatur- und kunstgeschichtliche sowie volkskundliche und soziologische Aspekte der Sprichwörter untersucht. Wie auch Mieder (1999, S. 15) hervorhebt, haben besonders kulturgeschichtlich interessierte Sprachwissenschaftler und Volkskundler „dem Ursprung, der Überlieferung und der Bedeutung einzelner Sprichwörter und Redensarten viel Aufmerksamkeit geschenkt“. In diesem Sinne behandeln die auch parömiologischen Aufgaben unserer Plattform Themen, die bei der linguistischen Erforschung und Beschreibung der Sprichwörter generell relevant sind. 3.1 Sprichwortmerkmale Bei der Definition des Sprichwortes wurde bereits des Öfteren das Problem aufgeworfen, dass spezifische Merkmale der Sprichwörter zu ihrer Definition nicht eigentlich notwendig sind und diese auch nicht hinreichend beschreiben. Norrick (2007, S. 382) weist auf die unscharfen Grenzen bei der Kategorie ‘Sprichwort’ hin: „the fuzziness of the category and the scalar application of features“. Eine Definition der Sprichwörtlichkeit auf der Basis der Prototypentheorie scheint daher angemessener zu sein, wie auch Norrick (ebd.) meint: „The attempt to discover a definition of proverbiality based on specific properties is probably just as fruitless as a definition of the proverb itself in such terms. The notion of proverbiality is itself even more clearly a matter of prototypicality“. Auch Ruef (1995, S. 28ff.) hält die Prototypentheorie in Bezug auf Sprichwörter für geeigneter als starre Merkmalskonzepte. Unter Hinweis auf Rosch unterscheidet er beim Sprichwort zwischen besseren und schlechteren Beispielen. Dementsprechend wird die Kategorie ‘Sprichwort’ laut Ruef durch Feststellen von Ähnlichkeiten im Hinblick auf beste Beispiele prototypisch konstituiert. Trotz der Prototypikalität kann jedoch auf Sprichwortmerkmale kaum verzichtet werden. Sie können uns nicht nur helfen, das Wesen der Sprichwörter zu verstehen, sondern sie auch von ähnlichen sprachlichen Einheiten abzugrenzen. Die Möglichkeit der Aneignung dieser Kenntnisse wird wohl auch von denjenigen Nutzern der Sprichwortplattform erwartet, die sich für die parömiologischen Aufgaben interessieren. Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform 419 Einen relativ klar definierten Kriterienkatalog zur Sprichwortdefinition gibt Lüger (1999, S. 129) an. Demnach sind Sprichwörter nicht belegbare (also auf einen nachweisbaren Ursprung zurückführbare, T. K.), bildhafte, nicht situationsgebundene satzwertige Phraseologismen. Durch die Nichtbelegbarkeit können Sprichwörter z. B. von den geflügelten Worten, durch die Bildhaftigkeit von den Gemeinplätzen, durch die fehlende Situationsgebundenheit von den Routineformeln und durch die Satzwertigkeit von den satzgliedwertigen Phraseologismen abgegrenzt werden. Diese Merkmale sind jedoch nicht absolut und können unter Umständen umstritten sein. Die Abgrenzung von Sprichwörter zu geflügelten Worten durch ‘Nichtbelegbarkeit’ ist theoretisch schon möglich. Aber es gibt zahlreiche Sätze, deren Ursprung bekannt ist und die wegen ihrer Geläufigkeit häufig doch Sprichwörter genannt werden. Man kann sie auch ‘zu Sprichwörtern gewordene geflügelte Worte’ nennen. In diesem Sinne können Früh übt sich, was ein Meister werden will (Schiller: Wilhelm Tell), Grau ist alle Theorie (Goethe: Faust) oder Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (vermeintliches Zitat von Michail Gorbatschow) zu den Sprichwörtern gerechnet werden, weil sie außer der Belegbarkeit oft auch andere Sprichwortmerkmale (satzwertig, bildhaft, nicht situationsgebunden) aufweisen. Eine nachweisbare Quelle haben des Weiteren typischerweise die durch die Bibel bekannt gewordenen geläufigen satzwertigen festen Wortverbindungen, die zumeist auch biblische Sprichwörter genannt werden, z.B. Hochmut kommt vor dem Fall (Spr 16,18), Wer Wind sät, wird Sturm ernten (Hosea 8,7), Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über (Matthäus 12,34) (vgl. Kispál 1998). All die oben erwähnten Sprichwörter wurden auch in die Datenbank der Sprichwortplattform aufgenommen. Das Merkmal der Nicht-Belegbarkeit ist bei den Sprichwörtern zwar relativ, aber für sie doch charakteristisch. Die meisten Sprichwörter der Sprichwortplattform lassen sich nicht auf eine nachweisbare Quelle zurückführen (z. B. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm; Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht; Lügen haben kurze Beine). Aus diesem Grund wurde die Nichtbelegbarkeit bei den parömiologischen Aufgaben als ein mögliches Merkmal der Sprichwörter mit berücksichtigt. Die ‘Bildhaftigkeit’ macht die Abgrenzung zwischen Sprichwörtern und Gemeinplätzen auf den ersten Blick zwar relativ einfach. Demnach sind die Sätze Aller Anfang ist schwer oder Was sein muss, muss sein keine Sprichwörter, sondern Gemeinplätze. Demgegenüber sind die bildhaften Sätze Morgenstund hat Gold im Mund oder Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn Sprichwörter. Diese Unterscheidung ist jedoch in vielen Fällen nicht sinnvoll. Auch Tamás Kispál 420 nichtbildhafte satzwertige feste Wortverbindungen, die die sonstigen Sprichwortmerkmale aufweisen, werden häufig Sprichwörter genannt. Diesem Ansatz schließt sich auch die Sprichwortplattform an, auf der sowohl bildhafte als auch nichtbildhafte Sprichwörter zu finden sind, wie auch die obigen. Die parömiologischen Aufgaben behandeln die Bildhaftigkeit in Form der Idiomatizität (vgl. Kap. 5.6). Durch die Situationsgebundenheit lassen sich Sprichwörter von den Routineformeln abgrenzen. Während Routineformeln an eine spezielle Situation gebunden sind (Grüß Gott! Hals- und Beinbruch! ), gilt das Kriterium der Situationsgebundenheit für Sprichwörter nicht. Ebenso können diejenigen satzwertigen festen Wortverbindungen, die ein verweisendes, deiktisches Element enthalten (z. B. Da liegt der Hund begraben! Das kommt nicht in die Tüte! ), von den Sprichwörtern abgegrenzt werden. Für diese Sätze gibt es auch die Termini ‘festgeprägte Sätze’ oder ‘feste Phrasen’. Der parömiologische Teil der Aufgaben auf der Plattform berücksichtigt diese Unterscheidung nach ‘Situationsgebundenheit’ ebenso (vgl. Kap. 5.3). Die Satzwertigkeit ist ein wichtiges Kriterium von Sprichwörtern. Sie hilft, die Sprichwörter auf der syntaktischen Ebene als satzwertige Phraseologismen von satzgliedwertigen Phraseologismen abzugrenzen. Die Redewendung auf den Hund kommen ist ein verbaler Phraseologismus, der als ein Satzglied, als Prädikat in einem Satz fungiert. Die verbale Komponente muss nach den entsprechenden grammatischen Kategorien konjugiert werden, um in einem Satz ihre Funktion zu erfüllen. Der Satz Hunde, die bellen, beißen nicht ist jedoch ein satzwertiger Phraseologismus, ein Sprichwort. Der Übergang zwischen Redewendungen und Sprichwörtern ist fließend. Sprichwörter können aus Redewendungen entstehen oder umgekehrt (stilles Wasser - Stille Wasser sind tief; jmdm. eine Grube graben - Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein). Auf die Möglichkeit dieses Übergangs zwischen Redewendungen und Sprichwörtern wird auch in den parömiologischen Aufgaben aufmerksam gemacht (vgl. Kap. 5.1, 5.8). Sprichwörter sind häufig keine vollständigen Sätze. Neben Formen wie Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, oder Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen gibt es auch elliptische Sprichwörter wie Auge um Auge, Zahn um Zahn; Ende gut, alles gut oder Keine Rose ohne Dornen (vgl. Lenz 1993). Letztere, sowie andere elliptische Sprichwörter, wurden auch in die Datenbank der Sprichwortplattform aufgenommen. Die parömiologischen Aufgaben behandeln dieses Phänomen ebenso (vgl. Kap. 5.2). Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform 421 Ob Sprichwörter überhaupt zu der Kategorie der Phraseologismen gerechnet werden sollten, wurde u. a. von Fleischer (1994) thematisiert. Er argumentiert vor allem mit der Zitiertheit der Sprichwörter (vs. Reproduziertheit der Phraseologismen), ihrem Textcharakter (vs. Phraseologismen als Wortschatzeinheiten) und ihrem Wesen als Propositionen (vs. Phraseologismen als Nominationseinheiten). Die Ablehnung des phraseologischen Status von Sprichwörtern ist jedoch durch diese Eigenschaften nicht zwingend. Gegen einige angeführte Sprichworteigenschaften gibt es Argumente. Zitiertheit und Reproduziertheit müssen nicht unbedingt im Gegensatz stehen (vgl. Schindler 1996, S. 119; Stein 1995, S. 37). Sprichwörter können ebenfalls als Wortschatzeinheiten und damit als ganze sprachliche Einheiten des Lexikons gelten (vgl. Ruef 1995, S. 17). 1 Auch laut Burger (2010, S. 108) gehören Sprichwörter zur Phraseologie, und zwar aufgrund ihrer phraseologischen Grundmerkmale Polylexikalität, Festigkeit und Idiomatizität. In der semiotischen Sprichwortforschung wird die Modellierbarkeit der Sprichwörter hervorgehoben. Sprichwörter modellieren Situationen (vgl. Eismann / Grzybek 1994, S. 98). Sprichwortmodelle beruhen auf der Analogie, die auch zum analogischen Charakter der Metaphern und ihrem möglichen Vorhandensein bei Sprichwörtern führt. Das Instrumentarium der kognitiven Metapherntheorie wurde in der letzten Zeit auch bei deutschsprachigen sprichwortbezogenen Untersuchungen häufiger angewandt (vgl. Kispál 2004, Lewandowska 2008). Diese Eigenschaften von Sprichwörtern sind auch mögliche Kandidaten für Themen bei parömiologischen Aufgaben. Sie wurden bisher noch nicht im Aufgabenteil auf der Sprichwortplattform berücksichtigt, können aber noch in einer nächsten Phase eingearbeitet werden. Welche Merkmale der Sprichwörter wesentlich und welche fakultativ sind, wird sehr unterschiedlich beurteilt. Zu den von Lüger (1999) thematisierten und teilweise auch kritisch (vgl. oben) zu behandelnden vier Sprichwortdefinitionsmerkmalen [ + satzw.], [ sit.geb.], [ belegbar], [ + bildh.] können auch andere Wesensmerkmale der Sprichwörter hinzukommen. Zu den sprachlichen Besonderheiten der satzwertigen phraseologischen Ausdrücke, darunter der Sprichwörter, rechnet Lüger (1999) Bildhaftigkeit, Generizität, syntaktische Bildungsmuster und Zitatcharakter. Matta (1988) sieht in Geschlossenheit, Allgemeingültigkeitsanspruch und Einfachheit die wichtigsten 1 Neben der Möglichkeit der Abgrenzung der Sprichwörter aus der Phraseologie plädieren heute die meisten Forscher für die Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Phraseologie, indem auch Kollokationen und Sprichwörter mit in die Phraseologie einbezogen werden sollten. Vor allem in pragmatischen Ansätzen werden Sprichwörter mit anderen Phraseologismen zusammen untersucht (Feilke 1996, Stein 1995). Tamás Kispál 422 Merkmale. Hofmeister (1995) gibt fünf essentielle Merkmale der Sprichwortartigkeit an: Erfahrungsbasis, geschlossene Aussage, geschlossene Satzstruktur, Kürze und Prägnanz, lexikalische Publikumsläufigkeit. Auch der Reim ist ein mögliches Merkmal von Sprichwörtern (vgl. Kap. 5.4). Er wird allerdings mitunter auf Kosten der sprachlichen Richtigkeit (als eine Normverletzung) realisiert (z. B. Morgenstund hat Gold im Mund ) (vgl. Kap. 5.5). Für unsere Zwecke ist es deshalb auch sinnvoll, auf diese Normverletzungen hinzuzuweisen, weil Sprichwörter nicht selten, teilweise zu Recht, als Beispielsätze für bestimmte grammatische Phänomene angeben werden (z. B. Hennig 1996). 2 Aus didaktischer Sicht ist in dieser Hinsicht jedoch Vorsicht geboten, weil für die Fremdsprachenlernenden die Gefahr besteht, dass sie sich „falsche Modelle für die Sprachproduktion einprägen“ (Baur / Chlosta 1996a, S. 20). Baur / Chlosta (1996b, S. 94) warnen vor „dem (beliebten) Einsatz von Sprichwörtern als Merksatz und Anwendungsbeispiel für bestimmte grammatische Phänomene in der deutschen Sprache“. Logisch-semantische Untersuchungen zum Sprichwort haben ergeben, dass Sprichwörter einen All-Satz mit einem Allquantor darstellen, was die Allgemeinheit ihrer Aussage unterstützt. Damit hängt auch die Implikationsstruktur der Sprichwörter zusammen (Kanyó 1981, S. 113; Krikmann 1984, S. 389; Eismann / Grzybek 1994, S. 112). Ihre tiefensemantische Struktur lässt sich folglich, vereinfacht ausgedrückt, auf ein Wenn-Dann-Verhältnis zurückführen, was auch in den parömiologischen Aufgaben der Sprichwortplattform berücksichtigt wird (vgl. Kap. 5.7). 3.2 Metasprachliche Kommentierung Katz / Ferretti (2003) haben in einer psycholinguistischen Untersuchung nachgewiesen, dass die metasprachlichen Kommentare das Verstehen von englischen Sprichwörtern im Kontext im großen Maße beeinträchtigen. Man kann annehmen, dass dies auch beim Verstehen von deutschen und anderssprachigen Sprichwörtern der Fall ist. Sprichwörter werden tatsächlich im Kontext sehr oft metasprachlich kommentiert (es gilt; nach dem Motto; wie es so schön heißt), wie dies auch den Belegen des IDS-Korpus zu entnehmen ist, die auch die einschlägigen parömiologischen Aufgaben der Sprichwortplattform unterstützen (vgl. Kap. 5.9). 2 Zur Syntax des Sprichworts vgl. auch Peukes (1977). Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform 423 3.3 Modifizierte Sprichwörter Beim Gebrauch der Sprichwörter stehen zwar Abwandlungen in den letzten Jahrzehnten vermehrt im Vordergrund, aber auch traditionelle Sprichwortformen sind immer noch bekannt und werden auch nach wie vor verwendet, wie das auch die empirische Sprichwortforschung der 1990er-Jahre nachgewiesen hat (Baur / Chlosta / Grzybek 1996). Man kann Hose (1997, S. 282) zustimmen, dass das „Zusammentragen von Sprichwörtern bzw. ihren Parodien [...] auch heute noch erfolgversprechend [erscheint], auch wenn allgemein angenommen wird, die Generation der sprichwortgewaltigen Männer und Frauen sei ausgestorben“. Dass Sprichwörter auch noch im 21. Jahrhundert oft verwendet werden, davon zeugen auch die in die Datenbank der Sprichwortplattform aufgenommenen zahlreichen Korpusbelege aus dem Deutschen Referenzkorpus (vgl. DeReKo). Okkasionelle Sprichwortmodifikationen (z. B. Wenn zwei sich streiten, leidet (statt: freut sich) der Dritte; Rache ist sauer (statt: süß)) sollten von ihren usuellen Varianten unterschieden werden. Auch die Sprichwortvariabilität weist unterschiedliche Formen auf: quantitative Variabilität (Alles hat (einmal ) ein Ende), alternierende Variabilität (Besser/ Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach), strukturelle Variabilität (Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut / Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden) (vgl. Ďurčo 2003). Modifizierte Sprichwörter bilden auch den Gegenstand von parömiologischen Aufgaben auf der Sprichwortplattform (vgl. Kap. 5.10). 4. Parömiologische Aufgaben Zum Ansetzen der parömiologischen Aufgaben standen die gleichen Mittel zur Verfügung wie bei den sonstigen didaktischen Aufgaben auf der Plattform: 1) Übungstypologie für Parömiodidaktik: Anhand der parömiodidaktischen Theorie und Praxis wurde eine Übungstypologie für die Sprichwortplattform erstellt. In dieser Übungstypologie wurden drei verschiedene Zielgruppen festgelegt: Fremdsprachenlerner auf den Niveaustufen B1 und B2, Fremdsprachenlerner auf den Niveaustufen C1 und C2 und die Gruppe der Studierenden der beteiligten Sprachen. Die letzte Zielgruppe hat nicht nur Interessen bezüglich des reinen Fremdsprachenlernens, sondern weist auch sprachliche und linguistische Interessen auf. Aus diesem Grund hat sich die didaktische Projektgruppe für spezielle parömiologische Aufgaben entschieden, die in der Übungstypologie gesondert behandelt wurden. Tamás Kispál 424 2) Werkzeugleiste zum Erzeugen von Aufgaben auf der Plattform: Um das Erzeugen von Aufgaben für die in Informatik weniger kundigen Projektmitarbeiter zu erleichtern, wurde eine speziell für diese Plattform entwickelte Werkzeugleiste auf der Grundlage des Wiki-Systems erstellt. In dieser Werkzeugleiste sind alle Plugins und Elemente enthalten, die das Erzeugen der verschiedenen, auf der Plattform geplanten Aufgabentypen ermöglichen, ohne die Technik der Wiki-Syntax zu beherrschen. Durch diese Werkzeugleiste ist es folglich relativ einfach, Hotspot-, Drag-and- Drop- oder eben Zuordnungsaufgaben zu erzeugen. Da sich die parömiologischen Aufgabentypen in technischer Hinsicht nicht von den übrigen Aufgabentypen unterscheiden, ist die Werkzeugleiste auch zum Erzeugen von parömiologischen Aufgaben auf der Plattform geeignet. 5. Inhalt der parömiologischen Aufgaben Im Folgenden werden die parömiologischen Aufgaben der Sprichwortplattform anhand je eines anschaulichen Beispiels gemäß der oben beschriebenen Merkmale dargestellt. Die Reihenfolge der Darstellung folgt der Reihenfolge der einzelnen Aspekte bei den parömiologischen Aufgaben auf der Plattform. 5.1 Satzwertigkeit Die Satzwertigkeit der Sprichwörter wird in der Aufgabenstellung bei den parömiologischen Aufgaben der Sprichwortplattform folgendermaßen formuliert: „Ein typisches Merkmal der Sprichwörter ist ihre Satzwertigkeit. Welche Wortverbindung ist demnach ein Sprichwort? Klicken Sie die richtige Antwort an.“ In der Multiple-Choice-Aufgabe muss die richtige Antwort aus vier Alternativen gewählt werden. Die Sprichwörter (Jeder ist seines Glückes Schmied; Der frühe Vogel fängt den Wurm; Wer A sagt, muss auch B sagen) unterscheiden sich von den anderen aufgeführten Phraseologismen in dieser Aufgabe durch die Satzwertigkeit. Die Redewendungen mit einem blauen Auge davonkommen, den Vogel abschießen, etwas durch die Blume sagen sind verbale Phraseologismen. Von früh bis spät ist ein adverbialer Phraseologismus, das A und O ein nominaler Phraseologismus. Letztere sind folglich keine Sprichwörter. Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform 425 Abb. 1: Aufgabe zur Satzwertigkeit 5.2 Ellipse Auf die Möglichkeit von elliptischen Sätzen wird auf der Sprichwortplattform mithilfe folgender Aufgabenstellung aufmerksam gemacht: „Sprichwörter müssen keinen grammatisch vollständigen Satz bilden. Sie können die Form eines sog. elliptischen Satzes haben, in dem Wörter oder Satzteile weggelassen werden.“ Auch dafür eignen sich Multiple-Choice-Aufgaben mit der Aufforderung „Welches Sprichwort ist eine Satzellipse? Klicken Sie die richtige Antwort an.“ Abb. 2: Aufgabe zur Ellipse Tamás Kispál 426 Von den fünf angegeben Sprichwörtern der obigen Aufgabe gibt es nur ein elliptisches Sprichwort: Ende gut, alles gut. In den anderen Sprichwörtern (Alles hat (einmal) ein Ende; Gut Ding braucht Weile; Morgenstund hat Gold im Mund; Die Zeit heilt alle Wunden) ist auch das Prädikat enthalten. 5.3 Abgrenzung der Sprichwörter Zur Abgrenzung der Sprichwörter von anderen satzwertigen Phraseologismen wurden ebenfalls Aufgaben auf der Sprichwortplattform erstellt. Die Aufgabenstellung dazu wurde etwas umfangreicher formuliert: „Es gibt feste Wortverbindungen, die sog. Redensarten (auch Routineformeln, kommunikative Formeln oder feste Phrasen genannt), die meistens auch die Form eines Satzes haben. Diese Formeln enthalten jedoch häufig - im Gegensatz zu den Sprichwörtern - ein verweisendes Element, durch das sie an die Textumgebung angeschlossen sind (z. B. „da“). Diese Routineformeln sind folglich - im Gegensatz zu den Sprichwörtern - situationsgebunden. Welcher Satz ist ein Sprichwort? Klicken Sie die richtige Antwort an.“ Abb. 3: Aufgabe zur Abgrenzung der Sprichwörter Das Sprichwort Hunde, die bellen, beißen nicht hebt sich in der obigen Aufgabe von den anderen satzwertigen Einheiten (Das ist ja ein dicker Hund! Da wird der Hund in der Pfanne verrückt! Da liegt der Hund begraben.) sprachlich dadurch ab, dass es kein deiktisches Element enthält, das auf eine Situationsgebundenheit hindeutet (z. B. kein Ausrufezeichen). Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform 427 5.4 Reim Die Aufgabenstellung zur Thematisierung des Sprichwortmerkmals Reim ist kurz: „Eines der Merkmale von Sprichwörtern ist der Reim. Welches Sprichwort enthält einen Reim? Klicken Sie die richtige Antwort an.“ Abb. 4: Aufgabe zum Reim Im Sprichwort Wie du mir, so ich dir ist im Gegensatz zu den anderen drei Sprichwörtern (Noch ist nicht aller Tage Abend; Man sollte sich nicht zu früh freuen; Rache ist süß) ein Reim enthalten. 5.5 Normverletzung bei Sprichwörtern Auf veraltete Wortformen oder nicht normgerechte Sprachverwendung wird in einigen Aufgaben der Sprichwortplattform folgendermaßen aufmerksam gemacht: „Der Sprichwortreim wird gelegentlich durch alte oder nicht normgerechte Formen unterstützt.“ In einer Multiple-Choice-Aufgabe muss die so markierte Sprichwortform gefunden werden: „In welchem Sprichwort geht der Reim auf Kosten der normgerechten Sprachbenutzung? Klicken Sie die richtige Antwort an.“ Von den drei angeführten Sprichwörtern enthält das Sprichwort Morgenstund hat Gold im Mund eine Komponente (Morgenstund ), die der normgerechten Schreibung nicht entspricht. Tamás Kispál 428 Abb. 5: Aufgabe zur Normverletzung 5.6 Idiomatizität Die Idiomatizität der Sprichwörter wird in der Aufgabenstellung bei den parömiologischen Aufgaben der Sprichwortplattform folgendermaßen formuliert: „Ein mögliches Merkmal der Sprichwörter ist die Idiomatizität. Die wörtliche Bedeutung der idiomatischen Sprichwörter entspricht in diesem Fall nicht ihrer Gesamtbedeutung.“ Bei den dazugehörigen Multiple-Choice- Aufgaben muss man entweder das einzige idiomatische (Abb. 6) oder das einzige nichtidiomatische Sprichwort (Abb. 7) finden. Abb. 6: Aufgabe zur Idiomatizität 1 Drei Sprichwörter der Aufgabe (Jeder ist sich selbst der Nächste; Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu; Niemand ist unersetzlich) sind nichtidiomatisch, während Jeder ist seines Glückes Schmied ein idiomatisches Sprichwort ist. Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform 429 Abb. 7: Aufgabe zur Idiomatizität 2 Das einzige nichtidiomatische Sprichwort der obigen Aufgabe ist Der Schein trügt. Die anderen Sprichwörter (Wo Rauch ist, ist auch Feuer; Hunde, die bellen, beißen nicht; Es ist nicht alles Gold, was glänzt) sind idiomatisch. 5.7 Implikation Die Implikation als ein typisches Merkmal der Sprichwörter wird in den Aufgaben der Sprichwortplattform mit folgendem Kommentar thematisiert: „Die Bedeutungsstruktur der Sprichwörter ist häufig auf eine sog. Implikation (Wenn-Dann-Verhältnis) zurückzuführen. Mal ist das auf der Oberfläche sichtbar, mal nur in der Tiefenstruktur.“ Dazu wurden Zuordnungsaufgaben erstellt. Dementsprechend lautet die Aufgabenstellung: „Ordnen Sie die Sprichwörter durch Mausziehen den richtigen Bedeutungserklärungen zu.“ Das Sprichwort Wer A sagt, muss auch B sagen kann mit der implikativen Struktur ‘Wenn man etwas begonnen hat, muss man es auch weiterführen’ erklärt werden, das Sprichwort Jeder ist seines Glückes Schmied mit dem Satz ‘Wenn man sein Glück finden will, muss man selbst etwas tun’ usw. Tamás Kispál 430 Abb. 8: Aufgabe zur Implikation bei Sprichwörtern 5.8 Sprichwörter und Redewendungen Dem Zusammenhang zwischen Redewendungen und Sprichwörtern widmet sich die Aufgabe, bei der auf die Herausbildung von Sprichwörtern aus Redewendungen oder auf den umgekehrten Vorgang hingewiesen wird, und zwar mit folgender Aufgabenstellung: „Aus Redewendungen können im Laufe der Zeit Sprichwörter entstehen. Genauso haben sich einige Redewendungen aus Sprichwörtern herausgebildet. Die Richtung ist nicht immer eindeutig festzustellen. Ordnen Sie die Redewendungen durch Mausziehen den dazugehörigen Sprichwörtern zu.“ Dazu passen Zuordnungsaufgaben wie: Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform 431 Abb. 9: Aufgabe zum Zusammenhang zwischen Sprichwörtern und Redewendungen Die Redewendungen stilles Wasser und geschenkter Gaul haben sich wahrscheinlich als verkürzte Sprichwortformen herausgebildet. Man assoziiert mit diesen Wendungen auch die Sprichwörter. 5.9 Metasprachliche Kommentierung Auf die metasprachliche Kommentierung der Sprichwörter wird in den parömiologischen Aufgaben folgendermaßen aufmerksam gemacht: „Sprichwörter erhalten im Kontext häufig eine metasprachliche Kommentierung, mit der auf das Sprichwort selbst hingewiesen wird. In den Texten erscheint jeweils ein Sprichwort, das kursiv gedruckt ist. Lesen Sie den Text und markieren Sie die metasprachlichen Kommentierungen.“ Dies ist eine Hotspotaufgabe, bei der die Lernenden einige Textstellen mit der Maus markieren können, unter ihnen die richtigen Lösungen, d. h. die metasprachlichen Kommentare zu den Sprichwörtern. Die Sprichwörter der Aufgabe in Abbildung 10 wurden mit folgenden Wortverbindungen metasprachlich kommentiert: „diese Weisheit“; „getreu dem Motto“; „heißt es“. In Abbildung 10 wurden diese Lösungen zur Veranschaulichung bereits eingeblendet. Tamás Kispál 432 Abb. 10: Aufgabe zur metasprachlichen Kommentierung 5.10 Modifizierte Sprichwörter Parömiologische Aufgaben zu modifizierten Sprichwörtern werden folgendermaßen eingeleitet: „Sprichwörter werden häufig abgewandelt. Sie kommen häufig in einer modifizierten Form vor. Schreiben Sie die Grundform der folgenden modifizierten Sprichwörter in das Schreibfeld auf.“ Durch diese Schreibaufgabe kann auch die Rechtschreibung bzw. die richtige Schreibung der Standard-Sprichwortformen geübt werden. Abb. 11: Aufgabe zu modifizierten Sprichwörtern Parömiologische Aufgaben auf der Sprichwortplattform 433 In der obigen Aufgabe sind Sprichwörter enthalten, bei denen die Modifikation auf der Substitution basiert. Wörter wurden ausgetauscht, um die Sprichwörter dem entsprechenden Kontext anzupassen. Es ist kein Künstler (statt: Meister) vom Himmel gefallen; Schuster, bleib bei deinen Autos (statt: Leisten); Steter Tropfen höhlt die EU (statt: den Stein); Was Hündchen (statt: Hänschen) nicht lernt, lernt Hund (statt: Hans) nimmermehr. Die jeweiligen Belege, in denen diese modifizierten Sprichwörter auftauchen, findet man in der Sprichwortdatenbank auf der Plattform. 6. Zusammenfassung und Ausblick Die parömiologischen Aufgaben der Sprichwortplattform wurden für Nutzer erstellt, die Interesse an sprichwortbezogenen sprachlichen und linguistischen Informationen, vor allem an Sprichwortmerkmalen haben. Bei der Vorbereitung dieser Aufgaben wurden die einschlägige Fachliteratur sowie neuere Erkenntnisse aus der Forschung berücksichtigt. Die verschiedenen Aufgabentypen machen diese Aufgaben abwechslungsreich. Die multimediale Verknüpfung der Komponenten der Plattform macht es möglich, dass weitere Informationen zu den in den parömiologischen Aufgaben enthaltenen Sprichwörtern in der Sprichwortdatenbank sowie in anderen SprichWort-Aufgaben mühelos überprüft werden können. Die parömiologischen Aufgaben behandeln nur eine Auswahl von sprichwortbezogenen Aspekten. Weitere Aspekte können zukünftig unproblematisch hinzugefügt werden. Literatur Baur, Rupprecht S. / Chlosta, Christoph (1996a): Welche Übung macht den Meister? 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Tamás Kispál 434 Eismann, Wolfgang / Grzybek, Peter (1994): Sprichwort, sprichwörtliche Redensart, Phraseologismus: Vom Mythos der Nicht-Trennbarkeit. In: Chlosta, Christoph / Grzybek, Peter / Piirainen, Elisabeth (Hg.): Sprachbilder zwischen Theorie und Praxis. (= Studien zur Phraseologie und Parömiologie 2). Bochum. S. 89-132. Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a. M. Fleischer, Wolfgang (1994): Phraseologismus und Sprichwort: Lexikalische Einheit und Text. In: Sandig, Barbara (Hg.): Europhras 92. Tendenzen der Phraseologieforschung. (= Studien zur Phraseologie und Parömiologie 1). Bochum. S. 155-172. Hennig, Mathilde (1996): Redewendungen und Sprichwörter als Merkhilfen beim Grammatiklernen? In: Fremdsprache Deutsch 15, S. 41. Hofmeister, Wernfried (1995): Sprichwortartige Mikrotexte als literarische Medien. Dargestellt an der hochdeutschen politischen Lyrik des Mittelalters. 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Damit diese und andere Ziele erreicht werden können, bietet die Lernplattform nicht nur die Möglichkeit, sich mit den Informationen über die Bedeutung, das Vorkommen, die Verwendung oder die Besonderheiten der in den Datenbanken vorgestellten Sprichwörter bekannt zu machen, sondern sich die Sprichwörter im Prozess des gesteuerten Lernens auch aktiv anzueignen. Dementsprechend steht im didaktischen Teil der Sprichwortplattform für Lernende, Lehrende und Interessierte ein abwechslungsreiches Angebot von interaktiven Aufgaben und Übungen, Tests und Selbstevaluationsbögen zur Verfügung. In diesem Beitrag soll dem Konzept der Aufgaben und Übungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. 1. Übungsteil der Plattform Das Konzept der interaktiven Aufgaben und Übungen 1 basiert auf folgenden fünf Kriterien: 1) Zielsprache: Die Übungen sind einsprachig (deutsch, slowakisch, slowenisch, tschechisch und ungarisch), zweisprachig (z. B. deutsch-slowakisch) oder mehrsprachig (z. B. tschechisch-slowenisch-ungarisch). 2) Schwierigkeitsgrad: In Anlehnung an den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Council of Europe 2001) sind die Übungen für die Sprachniveaus B1-B2, C1-C2 und Sprachinteressierte (parömiologische Übungen) bestimmt. 1 Obwohl es zwischen den Termini ‘Aufgabe’ und ‘Übung’ wesentliche Differenzen gibt (siehe http: / / www.sprichwort-plattform.org/ sp/ %C3%9Cbungen , Stand: 05/ 2012), wird aus Platz- und Übersichtlichkeitsgründen im Folgenden der Oberbegriff ‘Übung’ verwendet. Dieser fasst die Termini ‘Aufgabe’ und ‘Übung’ zusammen. Darina Víteková 438 3) Bedeutungsbereich: Die Übungen gruppieren sich derzeit um 17 Bereiche (Zeit, Glück, Gesundheit etc.), die vier bis sechs Sprichwörter mit gemeinsamen thematischen Eigenschaften enthalten (siehe Kacjan et al. 2009a). 4) Lernphase: In Bezug auf den Vierschritt des Lernprozesses von Lüger (1997) sind die Übungen einer der vier Phasen des Sprichworterwerbs (Sprichwörter erkennen, Sprichwörter verstehen, Sprichwörter festigen, Sprichwörter anwenden) zugeordnet. 5) Übungstyp: Die Übungen kommen in verschiedenen Variationen vor. So finden sich darunter Übungen mit offenen oder geschlossenen Antworten, Zuordnungsübungen, Multiple-Choice-Übungen, Hotspot-Übungen usw. (siehe Kacjan et al. 2009b). Nur ein solch umfangreiches und strukturell differenziertes Konzept der Übungen ermöglicht es, dass die Sprichwortplattform zum effektiven und flexiblen Sprichworterwerb bei einem breiten (internationalen) Publikum beiträgt. Darüber hinaus wecken die auf die gerade vorgestellte Art und Weise didaktisch konzipierten Übungen Interesse, fördern die Autonomie und Aktivität des Lernenden, entwickeln ein selbstständiges und kritisches Denken und unterstützen nicht zuletzt die Fantasie und Kreativität. Was sind nun interaktive Übungen bzw. aus welchen Komponenten bestehen sie? Um diese Frage zu beantworten, wird folgendes Beispiel zur Illustration angeführt: Bedeutungsbereich: Zwei Seiten - SW (Sprichwörter) festigen 1 Niveau: B1-2 Aufgabe: Ergänzen Sie die fehlenden Buchstaben. Klicken Sie die Lücke an und schreiben Sie das Fehlende in das Schreibfeld. 1. Kein N_______ohne Vorteil. 2. Die Letzten werden die E_____sein. 3. Wenn die Waffen s_______, schweigen die Musen. 4. Wo Licht ist, ist auch Sch_____. 5. G_________ziehen sich an. 6. Jedes Ding hat z___Seiten.  Auswerten  Zurücksetzen  Lösen Quelle: http: / / www.sprichwort-plattform.org/ sp/ Zwei Seiten Übungen Autonomes Lernen von Sprichwörtern 439 Wie aus dem Angeführten ersichtlich wird, sind bei jeder Übung allgemeine Informationen zu finden und zwar über den Bedeutungsbereich, dessen Sprichwörter in der Übung didaktisch thematisiert sind, und über die Lernphase, der die Übung angehört. Die Zahlenangabe 1 bezeichnet die Position der Übung in der Übungsliste, die für diese Phase vorgesehen ist. Einige Übungen kommen in zwei Varianten - in einer einfacheren und in einer schwierigen - vor. In solchen Fällen steht hinter der Zahlenangabe ein Buchstabe, z. B. „SW festigen 2a“ oder „SW festigen 2b“. Zu den allgemeinen Angaben gehört auch das oben im Beispiel „Zwei Seiten - SW festigen 1“ angeführte Sprachniveau, für das die Übung bestimmt ist. Dann folgt die Aufgabenstellung, wonach die korrekte Antwort markiert, zugeordnet oder eingetippt werden soll. Wenn der Lernende auf „Auswerten“ klickt, erscheint eine prozentuale Rückmeldung, inwieweit er bei der Lösung erfolgreich war. Falls der Lernende die Übung nochmals lösen möchte, muss er „Zurücksetzen“ anklicken. Nach dem Anklicken von „Lösen“ erhält er die korrekte Antwort. In Bezug auf die jeweilige Lernphase erscheinen die Übungen mit einem farbigen Hintergrund. Somit wird nicht nur die Attraktivität des Lernprozesses gestärkt, sondern auch visuell zwischen den einzelnen Lernphasen differenziert. 2. Übungstypologie Im Folgenden wird näher auf die auf der Plattform am häufigsten vorkommenden Übungstypen zu deutschen Sprichwörtern eingegangen, die für die einzelnen Lernphasen als repräsentativ angesehen werden können. Die Übungen thematisieren unterschiedliche Bedeutungsbereiche, die meisten von ihnen sind an den Sprachniveaus B1-B2 orientiert. Dabei ist anzumerken, dass auch Lernende mit den Sprachniveaus C1-C2 die Übungen für B1-B2 lösen können und sollten. Bei der Vorstellung der Übungstypologie erweist sich das Kriterium der Lernphasen als das bedeutendste. Wie bereits erwähnt, erfolgt das gesteuerte Lernen von Sprichwörtern in vier Phasen, damit Lernende auf ihrem Weg vom Bekannten zum Unbekannten und vom Einfachen zum Komplizierten planmäßig und konsequent geführt werden. Bei jeder Lernphase werden ihre Ziele erläutert und anhand der konkreten Beispiele die einzelnen Übungstypen vorgestellt. Darina Víteková 440 2.1 Sprichwörter erkennen Die Lernenden treffen in den Hotspotübungen zum ersten Mal auf die Sprichwörter. Diese enthalten kurze, authentische, kommunikations- oder situationsgebundene Textabschnitte, die meistens den nationalen Sprachkorpora (z. B. DeReKo) entstammen und verschiedenen Textsorten (Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, belletristische Texte etc.) angehören. Beim Lesen der Textabschnitte wird „eine Vielzahl abgestufter Teilkompetenzen“ (Ehlers 2003, S. 287) aktiviert: Die morphosyntaktische Struktur, der stilistische und pragmatische Gebrauch des Sprichwortes im Text wird beobachtet, aufgrund des weiteren oder engeren Kontextes werden erste Vermutungen über die lexikalische Bedeutung des Sprichwortes und dessen Komponenten formuliert, und die Lernenden setzen sich mit unterschiedlichen Themen, Denkmodellen und interkulturellen Kontrasten auseinander (Häussermann / Piepho 1996). Das primäre Ziel besteht aber darin, Sprichwörter im Text zu identifizieren bzw. Sprichwörter von anderen sprachlichen Einheiten zu unterscheiden. Dabei können den Internetbenutzern entweder metasprachliche Kommentare, die auf die Sprichwörter verweisende Elemente enthalten, z. B. „das bewahrheitet sich“, „nach dem Motto“, „sagt man gemeinhin“ oder Textbelege aus der Datenbank, die das Vorkommen der Sprichwörter aufgrund mehrerer Textausschnitte dokumentieren, behilflich sein. In Bezug auf die formale und inhaltliche Seite der interaktiven Übungen werden in den Textabschnitten drei bis fünf Satzsegmente markiert, wobei eines von ihnen die korrekte Antwort darstellt. Aus Verständnisgründen wurden einige Texte leicht adaptiert, 2 ohne dass die textrelevanten Informationen verloren gingen. Übungsbeispiel 1 3 Im folgenden Text 4 erscheint ein Sprichwort. Lesen Sie den Text und markieren Sie den Satz oder den Satzteil, in dem das Sprichwort vorkommt. 2 Z. B. wurden komplizierte Ausdrücke oder Wortverbindungen durch leichter verständliche ersetzt. 3 Aus Platzgründen werden beim Übungsbeispiel 1 und den nächsten Übungsbeispielen keine Informationen über den Bedeutungsbereich, die Lernphase und das Sprachniveau sowie die Angaben „Auswerten“, „Zurücksetzen“ und „Lösen“ angeführt. 4 Obwohl diese Übung zwei Textabschnitte enthält, wird aus Platzgründen auf den zweiten Text verzichtet. Bei den folgenden Übungsbeispielen wird jeweils nur das erste Item angeführt. Dementsprechend wurde auch die Formulierung der Aufgabenstellung leicht angepasst. Autonomes Lernen von Sprichwörtern 441 1. Noch wirkt sie vielfältig, 5 die Blumenpracht auf unseren Wiesen. Doch der Schein trügt. Die inländische Flora ist über viele Jahre hinweg schleichend verarmt. Verschiedene heimische Blumenarten wurden durch die landwirtschaftliche Nutzung verdrängt, weil man in großem Maß ausländisches Saatgut einsetzte, wirkt sie vielfältig. Denn Schweizer Samen gab es langer Zeit nicht. (A97/ MAI.04632 St. Galler Tagblatt, 22.05.1997, Ressort: TB-LBN (Abk.); Vielfältige Blumenwiesen - der Schein trügt) Darüber hinaus können die Lernenden die Sprichwörter in kurzen authentischen Hörtexten oder in den für didaktische Zwecke zusammengestellten Audiodateien identifizieren. Durch den zusätzlichen Einsatz von Hörübungen werden die Sprachkompetenzen Lesen und Hören abwechselnd trainiert, was die Attraktivität des Erlernens von Sprichwörtern steigert. Die Hörtexte erscheinen entweder als Teil einer Zuordnungsübung (dem Sprichwort soll der entsprechende Hörtext zugeordnet werden) oder als Teil einer Multiple-Choice- Übung (aus mehreren Sprichwörtern soll nur ein einziges gewählt werden, das in der Autodatei vorkommt). Übungsbeispiel 2 Hören Sie sich den Text an und ziehen Sie die Audiodatei zum passenden Sprichwort. Hörtext 1 Nachts sind alle Katzen grau. Hörtext 2 An der Frucht erkennt man den Baum. Hörtext 3 Wie der Vater, so der Sohn. Hörtext 4 Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Übungsbeispiel 3 Welches Sprichwort hören Sie im Text? Hörtext 1 mit Sprichwort  Geld allein macht nicht glücklich.  Scherben bringen Glück.  Jeder ist seines Glückes Schmied. 5 Die kursiv gedruckten Satzsegmente stellen die Antwortmöglichkeiten dar, die in der interaktiven Übung durch einen Mausklick markiert werden können. Darina Víteková 442 2.2 Sprichwörter verstehen In der zweiten Phase wird das Lernziel verfolgt, die Bedeutungen der Sprichwörter und deren eventuelle Bedeutungsbesonderheiten in verschiedenen Kommunikationssituationen kennen zu lernen und sich anzueignen. Zu diesem Zweck dienen vorwiegend folgende zwei Übungstypen: a) Multiple-Choice-Übungen - sie bieten eine korrekte und mehrere inkorrekte Antwortmöglichkeiten an. Hier soll der Lernende entscheiden, welche der vorgestellten Bedeutungsumschreibungen auf das jeweilige Sprichwort zutrifft oder zu welchem der angeführten Sprichwörter die skizzierte Situation am besten passt. b) Zuordnungsübungen - den Sprichwörtern werden entsprechende Bedeutungserklärungen zugeteilt. Übungsbeispiel 4 Was bedeutet folgendes Sprichwort? Klicken Sie die richtige Antwort an. 1. Der Schein trügt.  Man soll nicht daran glauben, was man hört.  Die innere Stimme trügt nie.  Jemand hat etwas Dummes gesagt.  Der erste Eindruck kann falsch sein. Übungsbeispiel 5 Welches Sprichwort passt zu folgender Situation? Klicken Sie die richtige Antwort an. 1. Ich habe heute eine Fünf in Mathe bekommen. Ich habe Angst, dass mein Vater mit mir schimpft.  Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.  Der Ton macht die Musik.  Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.  Stille Wasser sind tief. Autonomes Lernen von Sprichwörtern 443 Übungsbeispiel 6 Ordnen Sie den Sprichwörtern durch Mausziehen die passenden Bedeutungsumschreibungen zu. Manche Krankheiten können durch Heiterkeit geheilt werden. In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist. Fehler im Voraus zu verhindern ist besser als sie später zu korrigieren. Vorbeugen ist besser als heilen. Übertreibung ist nie gut. Lachen ist die beste Medizin. Ein gesunder Lebensstil dient nicht nur dem Geist. Allzu viel ist ungesund. Eine didaktisch effektive Entschlüsselungstechnik bei fremdsprachlichen, sprichwörtlichen Volläquivalenten ist die Zuhilfenahme von muttersprachlichen Sprichwortkenntnissen. Sie kann aber auch zu inkorrekten Interpretationen führen. In einem solchen Fall ist es sinnvoll, andere Lernstrategien einzusetzen. Lernende können z. B.: a) die Informationen zu den Bedeutungen der Sprichwörter und deren Spezifika aus der Datenbank recherchieren, b) aufgrund der relevanten Sprichwortkomponenten nach den Bedeutungen der Sprichwörter in einsprachigen oder zweisprachigen Wörterbüchern forschen, c) mit anderen Personen (Lehrern, Lernenden, Muttersprachlern) über die Entschlüsselung von Bedeutungen der Sprichwörter diskutieren etc. 2.3 Sprichwörter festigen Erst, wenn die Sprichwörter im Text erkannt und deren Bedeutungen näher erläutert wurden, kann die formale und lexikalische Struktur von Sprichwörtern gefestigt werden. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass nur diejenigen Sprichwörter schnell aus dem Gedächtnis abgerufen werden, die durch ein intensives und effektives Trainieren automatisiert und gespeichert wurden (Funk / Koenig 1995). Diesem Ziel entsprechend soll ein möglichst abwechslungsreiches Angebot von Übungstypen vorhanden sein, damit der Sprichworterwerb permanent Neugierde weckt sowie Aufmerksamkeit und Interesse am Lernen fördert. Zu den häufigsten Übungstypen gehören folgende: Darina Víteková 444 a) Ergänzungsübungen - fehlende Buchstaben, Wörter oder Satzsegmente werden eingetippt. Übungsbeispiel 7 Ergänzen Sie die fehlenden Buchstaben. Klicken Sie die Lücke an und schreiben Sie das Fehlende in das Schreibfeld. 1. Die Zeit heilt alle W_____. 2. M__________hat Gold im Mund. 3. Gut Ding b______Weile. 4. Alles h__(einmal) ein Ende. 5. Ende g__, alles gut. Übungsbeispiel 8 Ergänzen Sie die fehlenden Satzteile folgender Sprichwörter. Klicken Sie die Lücke an und schreiben Sie das Fehlende in das Schreibfeld. 1. Früh übt sich, wer ein _____________________. 2. Was Hänschen nicht lernt, ___________________. 3. ____________________ es nie zu spät. 4. ____________________ ist schwer. b) Drag-and-drop-Übungen - die Sprichwortkomponenten werden gesucht und in die korrekte Reihenfolge gesetzt, damit sie grammatisch und lexikalisch komplette Sätze bilden. Übungsbeispiel 9 Bilden Sie durch Mausziehen aus dem vorgegebenen Wortmaterial 5 Sprichwörter. Ende alles Gold heilt hat braucht Gut Wunden. Alles hat gut, Die Zeit im Mund. (einmal) Weile Morgenstund gut. alle Ding ein Ende. 1 ……………………………………… 2 ………………………………………. 3 ……………………………………… 4 ………………………………………. 5 ……………………………………… Autonomes Lernen von Sprichwörtern 445 c) Korrekturübungen - die in den Sprichwörtern vorkommenden grammatischen oder lexikalischen Fehler werden markiert bzw. korrigiert. Zu diesem Subtyp werden auch solche Übungen gezählt, bei denen die Originalform ergänzt wird. Übungsbeispiel 10 In welchem Wort kommt ein Fehler vor? Klicken Sie das Wort an und schreiben Sie es richtig auf. 6 1. Jeder ist sein Glückes Schmied. 2. Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln. 3. Geld allein macht nicht glücklich. 4. Scherben holen Glück. Übungsbeispiel 11 Welches Wort steht nicht in der Grundform des Sprichwortes? Markieren Sie es in jedem Sprichwort. 1. Der Rhythmus macht die Musik. 2. Stille Wasser sind teuer. 3. Etwas wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. 4. Einem neuen Gaul schaut man nicht ins Maul. 5. Der Schein lügt. Übungsbeispiel 12 Markieren Sie den jeweiligen Fehler, der in dem Sprichwort im Text vorkommt. 1. Manchmal braucht gut Ding eben seinen Weile. So kann man wohl die Tätigkeit der Arbeitsgruppe „Salzburger Bezügegesetz“ beurteilen. Denn immerhin hat es das siebenköpfige Politikergremium geschafft, ein geschlagenes Jahr lang nicht ein einziges Mal zu tagen. (N96/ SEP.38243 Salzburger Nachrichten, 14.09.1996; Politikergagen) 6 In den Übungsbeispielen 10, 11 und 12 können die Lernenden jede Sprichwortkomponente markieren. Darina Víteková 446 Übungsbeispiel 13 Schreiben Sie die Originalform der Sprichwörter auf, die verändert wurden. Verändertes Sprichwort Originalform Wenn die Waffen sprechen, sind die Opfer auf allen Seiten. ________________________________________. Jeder Mensch hat zwei Seiten. __________________________. Gegensätze ziehen uns an. _________________________. Wo Licht ist, ist auch Sonne. _______________________________. Die Neugierigen werden die Ersten sein. __________________________________. Keine Arbeit ohne Vorteil. __________________________. d) Zuordnungsübungen - den Sprichwortteilen werden die fehlenden Satzsegmente zugeordnet. Übungsbeispiel 14 Bilden Sie Sprichwörter, indem Sie durch Mausziehen die richtigen Satzteile verbinden. braucht Weile. alle Wunden. (einmal) ein Ende. Gold im Mund. alles gut. 1. Ende gut, ………………….. . 2. Gut Ding …………………. . 3. Morgenstund hat ………………….. . 4. Alles hat ………………………….. . 5. Die Zeit heilt ……………………… . Autonomes Lernen von Sprichwörtern 447 e) Multiple-Choice-Übungen - aus mehreren Antwortmöglichkeiten wird eine korrekte Antwort ausgewählt. Konkret: Einem der angeführten Sprichwörter wird ein Bild zugeteilt oder eine der vorgeschlagenen Sprachkomponenten wird ergänzt. Übungsbeispiel 15 Zu welchem Sprichwort passt folgendes Bild? 7 Klicken Sie die richtige Antwort an.  Kein Nachteil ohne Vorteil.  Die Letzten werden die Ersten sein.  Wo Licht ist, ist auch Schatten.  Gegensätze ziehen sich an. Übungsbeispiel 16 Wie heißt folgendes Sprichwort in der Grundform? Klicken Sie die richtige Antwort an. 1. ... fällt nicht weit vom Stamm.  Die Birne  Die Orange  Der Apfel  Die Zitrone 7 Alle in diesem Beitrag eingefügten Zeichnungen wurden von den Studierenden der Universität der Heiligen Kyrill und Methodius in Trnava (Slowakei) während eines sprachwissenschaftlichen Seminars erstellt. Die Studierenden haben erklärt, dass sie mit der Veröffentlichung ihrer Bilder einverstanden sind. Darina Víteková 448 2.4 Sprichwörter anwenden Der letzte Schritt des Sprichworterwerbs besteht darin, Sprichwörter sinnvoll in verschiedenen Kommunikationssituationen einzusetzen, was als Höhepunkt des ganzen Lernprozesses betrachtet werden kann. Zum Erreichen dieses Ziels dienen folgende Übungstypen: A. Übungen mit geschlossenen Antworten - sie enthalten vorgegebene Antwortmöglichkeiten. a) Lückentexte - im Textabschnitt wird das entsprechende Sprichwort ergänzt. Übungsbeispiel 17 Welches Sprichwort passt zu folgendem Textabschnitt? Ergänzen Sie durch Mausziehen das passende Sprichwort. jeder ist seines Glückes Schmied geld allein macht nicht glücklich scherben bringen Glück 1. Reich sein, wer möchte das nicht. Doch ……………………… . Eine Binsenweisheit. Geschichten von reichen, deshalb aber keineswegs auch glücklichen Menschen kommen in den Medien immer gut an. Selten aber werden sie so kunstvoll leidenschaftslos dargestellt, wie dies Peter Resetarits und Ludwig Gantner in „Am Schauplatz Gericht“ getan haben. (X99/ SEP.41691 Oberösterreichische Nachrichten, 27.09.1999; Reich sein) b) Zuordnungsübungen - einer skizzierten Situation wird das passende Sprichwort zugeordnet. Übungsbeispiel 18 Mit welchem Sprichwort kann man folgende Situation sinnvoll verbinden? Klicken Sie die richtige Antwort an. 1. Obwohl er offen und lustig und sie melancholisch und ruhig ist, passen sie gut zueinander. Zum Beispiel hört sie gerne zu, wenn er Witze erzählt, um andere zu unterhalten.  Kein Nachteil ohne Vorteil.  Gegensätze ziehen sich an.  Jedes Ding hat zwei Seiten.  Wo Licht ist, ist auch Schatten. Geld allein macht nicht glücklich Scherben bringen Glück Autonomes Lernen von Sprichwörtern 449 B. Übungen mit offenen Antworten - die Antworten werden frei formuliert und somit ist es nicht möglich, die Lösungen als korrekt oder inkorrekt auszuwerten. Die Lernenden werden animiert, ihre Ansichten, Einstellungen, Argumentationen, Erfahrungen und Erlebnisse zum Ausdruck zu bringen, indem sie in den kurzen selbst verfassten Texten die in den vorangehenden Übungen trainierten Sprichwörter verwenden. Als effektiver Anstoß zum kreativen Schreiben erweist es sich, in dieser Phase Bilder einzusetzen. Einerseits fördern sie die Fantasie und Kreativität, andererseits dienen sie als nützliche Semantisierungshilfen. Übungsbeispiel 19 Schreiben Sie eine kurze Geschichte (5-10 Sätze) und benutzen Sie dabei das Sprichwort „Kein Nachteil ohne Vorteil“. ………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………… …………………………………………… Übungsbeispiel 20 Was verstehen Sie unter dem Sprichwort „Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen“? Schreiben Sie in 2 bis 4 Sätzen ein konkretes Beispiel. ………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………… …………………………………………… Übungsbeispiel 21 Sind Sie Frühaufsteher? Wenn ja, was machen Sie am liebsten morgens und was abends? Schreiben Sie einen Text mit bis zu 70 Wörtern. ………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………… …………………………………………… Übungsbeispiel 22 Sind Sie mit der Meinung einverstanden, dass die Zeit alle Wunden heilt? Begründen Sie kurz Ihre Behauptung. Ja, ich bin damit einverstanden, weil ………………………………………………… Nein, ich bin nicht damit einverstanden, weil ………………………………………… Darina Víteková 450 Übungsbeispiel 23 Schreiben Sie in ein paar Sätzen, warum das Sprichwort „Gut Ding braucht Weile“ auf das folgende Bild zutrifft. ………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………… …………………………………………… Schließlich sind noch folgende zwei Aspekte anzumerken: 1) Neben den vorgestellten Übungstypen zu deutschen Sprichwörtern bietet die Sprichwortplattform auch eine ganze Skala von einsprachigen (slowakischen, slowenischen, tschechischen und ungarischen), zweisprachigen und mehrsprachigen Übungen für die Sprachniveaus B1-B2, C1-C2 und Sprachinteressierte (parömiologische Übungen) an. Auf diese Übungstypen wurde in diesem Beitrag aber nicht näher eingegangen. 2) Wenn die Lernenden die im Übungsteil didaktisch thematisierten Sprichwörter ausreichend trainiert bzw. sich diese durch den Lernphasenprozess angeeignet haben, können sie die gewonnenen Sprichwortkompetenzen in interaktiven Tests überprüfen und ihre Lernfortschritte in Selbstevaluationsbögen bewerten. Autonomes Lernen von Sprichwörtern 451 Literatur Council of Europe (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin. Ehlers, Svantje (2003): Übungen zum Leseverstehen. In: Bausch, Karl-Richard / Christ, Herbert / Krumm Hans-Jürgen (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen / Basel, S. 287-292. Funk, Hermann / Koenig, Michael (1995): Grammatik lehren und lernen. München. Häussermann, Ulrich / Piepho, Hans-Eberhard (1996): Aufgabenhandbuch. Deutsch als Fremdsprache. Abriß einer Aufgaben- und Übungstypologie. München. Kacjan, Brigita / Chovaniaková, Darina / Kozáková, Věra / Kispál, Tamás (2009a): Bedeutungsbereiche und Sprichwortgruppen. Maribor. Internet: www.sprichwort -plattform.org/ sp/ Ergebnisse (Stand: 01/ 2011). Kacjan, Brigita / Chovaniaková, Darina / Kozáková, Věra / Kispál, Tamás (2009b): Übungstypologie. Maribor. Internet: www.sprichwort-plattform.org/ sp/ Ergebnisse (Stand: 01/ 2011). Lüger, Heinz-Helmut (1997): Anregungen zur Phraseodidaktik. In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 32, S. 69-120. Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Brigita Kacjan Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen Bedeutung, Funktionen und Umsetzung 1. Einleitung Ausschnitt aus einem privaten Gespräch mit einem Slowenen: „Sag mal, wie kann ich eigentlich deutsche Sprichwörter lernen? Neulich habe ich mich mit einem Bekannten aus Deutschland über übertriebenes Fitnesstraining unterhalten. In dieser Unterhaltung sagte er plötzlich, dass ein steter Tropfen zwar den Stein höhle, aber allzu viel dennoch ungesund sei. Ich stimmte ihm zwar zu, aber ich verstand nicht ganz, was denn der Tropfen und der Stein mit Fitnesstraining zu tun hatten. Später hat mir dann jemand erklärt, dass Steter Tropfen höhlt den Stein und Allzu viel ist ungesund Sprichwörter sind, und was sie bedeuten. Kannst du mir da vielleicht ein paar Tipps geben, wie man Sprichwörter am besten lernt? “ Der Erwerb von Sprichwörtern verläuft je nach situativem Kontext als bewusstes Lernen oder intuitiver Erwerb. Während der intuitive Erwerb von Sprichwörtern als Idealfall angesehen werden muss, ist das bewusste Lernen von Sprichwörtern den Einschränkungen und Möglichkeiten des institutionellen Lernens unterworfen. Der vorliegende Beitrag geht gezielt auf einen wichtigen, aber oft vernachlässigten Aspekt des Lernens ein, nämlich die Möglichkeiten, die didaktische Lerntipps für den Erwerb von fremdsprachlichen Sprichwörtern bieten können. Dabei werden eine Reihe von bedeutenden Aspekten angesprochen, wie autonomes Lernen als genereller Bezugsrahmen, die Präsenz und das Erlernen von Sprichwörtern, die Verflechtung von Sprichwortlernen und autonomem Lernen und nicht zuletzt konkrete didaktische Tipps zum Sprichwortlernen sowie deren Umsetzung auf der Sprichwortplattform ( www.sprichwort-plattform.org ). 2. Autonomes Lernen Interkultureller, kommunikativer Fremdsprachenunterricht, der auf der Mehrsprachigkeitsdidaktik basiert, fordert, wie die aktuell gültigen DaF-Lehrpläne in Slowenien (vgl. Kondrič Horvat et al. 1998, 2000; Kosevski / Koltak 2001 u. a.) und der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (vgl. Council of Europe 2001; im Folgenden kurz Referenzrahmen) eine intensivere Brigita Kacjan 454 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Einbindung des so genannten ‘autonomen Lernens’ oder der ‘Lernerautonomie’ in den fremdsprachlichen Unterricht. Lernerautonomie und die damit verbundene bewusste Zurücknahme der Lehrperson wurde oft als negativ für den Lernenden betrachtet, da diese angeblich sowohl einen Richtungsaber auch Qualitätsverlust beim fremdsprachlichen Lernen verursachen solle. Sercu (2002, S. 7) führt diesbezüglich aber treffend an: Wie die erziehungswissenschaftliche Forschung jedoch gezeigt hat, erwirkt der autonomiefördernde Unterrichtsansatz nicht nur Qualitätserhalt, sondern sogar Qualitätsgewinn. Lerner lernen die Verantwortlichkeit für das eigene Lernen zu übernehmen. Sie sind motivierter durch spannenderes effizienteres Lernen. Wolff (2003, S. 321) verweist darauf, dass sich autonomes Lernen aus zwei wichtigen Aspekten zusammensetzt: Zum einen handele es sich um die „Lernerautonomie“ und zum anderen um „selbst gesteuertes Lernen“ (ebd.). Die Lernerautonomie betone die persönliche Entscheidung des Individuums, ob und was es lernen wolle, während das selbst gesteuerte Lernen darauf hinweise, dass das Individuum auch individuelle Entscheidungen darüber treffen müsse oder treffen können sollte, womit, wie und wann es das Gewünschte lernen wolle (vgl. Bachel 2005, S. 3). Ganz konkret bedeutet dies, dass jeder Lernende die Verantwortung für sein eigenes Lernen übernehmen, sich Ziele setzen, situationsadäquate Sprachlernstrategien wählen, seinen Lernfortschritt selber kontrollieren und evaluieren und damit seinen eigenen Spracherwerb zumindest teilweise bewerten muss. Auf diese zahlreichen Forderungen stößt ein Lernender beim Erlernen fremdsprachlicher Sprichwörter. Ein großes Anliegen der Sprichwortplattform - während deren Entstehung auch die in Kapitel 4 wiedergegebenen Lerntipps formuliert wurden - ist die Unterstützung des autonomen Lernens mithilfe von modernen, interaktiven Lernmaterialien (vgl. Council of Europe 2001). Der Referenzrahmen spricht im Kontext des autonomen Lernens u .a. von „Beurteilung und Bewertung“ (Council of Europe 2001, S. 172). Auf der Grundlage der hierzu gehörenden Selbstevaluation wurden dann Lerntipps entwickelt, die das Lernen einer Fremdsprache, und speziell der Sprichwörter, erleichtern. Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen 455 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Zur Evaluation gehören neben der Beurteilung und Bewertung im Sinne von Leistungsmessung durch Testverfahren auch andere Beurteilungsverfahren wie formelle und informelle Beobachtung durch Lehrende oder andere Beobachter, aber auch Checklisten im Sinne von Selbstevaluationsbögen, wie sie in den etablierten Sprachenportfolios üblich sind. Das Konzept des autonomen Lernens fordert, dass der Lernende unter anderem seinen Lernfortschritt selbst beurteilen muss. Aufgrund dieser Selbstbeurteilung und aufgrund von Lernzielkontrollen (Leistungsbewertungen durch andere) sollte er die richtigen Schlüsse für seinen weiteren Lernweg ziehen. Auf der Sprichwortplattform gibt es solche Leistungsbewertungen z. B. in Form von Tests. Zu den Bedeutungsgruppen der Sprichwörter stehen darüber hinaus auch Selbstevaluationsbögen zur Verfügung. Deren Hauptfunktion ist insbesondere die Beurteilung der eigenen Leistung, wobei hier eine nur wenig differenzierte Bewertung anhand einer dreiteiligen Skala vollzogen wird: Die Benutzer geben an, ob sie gewisse Kompetenzen ‘sehr gut’ bzw. ‘gut’, ‘einigermaßen’ oder ‘noch nicht so richtig’ beherrschen. Allerdings sind die Funktionen der Selbstevaluationsbögen damit noch keineswegs ausgeschöpft. Jedem Aspekt, der im Selbstevaluationsbogen bewertet wird, ist ein praktischer Lerntipp zugeordnet. Dieser bezieht sich ausschließlich auf die Nutzung der Lernplattform, da die Lernenden im Moment des Ausfüllens der Selbstevaluationsbögen auf die Aufgaben und Übungen sowie die Tests auf der Lernplattform konzentriert sind. Diese auf die spezielle Nutzungssituation der Plattform hin formulierten Lerntipps reichen jedoch nicht aus, um das sehr komplexe Problem des Sprichwortlernens auch allgemein lösen zu helfen. Daher wurden darüber hinaus „plattformunabhängige“ detailliertere Lerntipps entwickelt, die in Kapitel 4 präsentiert werden und die den Lernenden auch eine weitergehende Hilfestellung beim Sprichwortlernen geben. Sie sind auf der Lernplattform unter dem Titel „Lerntipps“ auf der Seite für Lerner abrufbar. Wie aus dem vorangegangenen Absatz bereits hervorgeht, gehören Lerntipps nicht zur Bewertung und Beurteilung von neu erworbenem Wissen, sondern nehmen eine an das Beurteilen anschließende Position im autonomen Lernen ein. Sie sind einerseits Folge einer Beurteilung oder Selbstbeurteilung, andererseits aber auch Ausgangspunkt, um den weiteren autonomen Lernprozess zu planen, und interagieren stark mit den in erster Linie autonomen Lerntechniken, die im fremdsprachlichen Lernprozess eine wichtige Rolle spielen. Brigita Kacjan 456 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Die Lerntechniken sind ein konstitutiver Teil der menschlichen Lernfähigkeit („savoire-apprendre“, vgl. Council of Europe 2001, S. 108), zu der auch das Sprech- und Kommunikationsbewusstsein, allgemeine phonetische Fertigkeiten und heuristische Fertigkeiten gezählt werden. Die Lerntechniken selbst (vgl. Council of Europe 2001, S. 109) sind weit gefächert und je nach Einsatzgebiet sehr spezifisch. So unterscheiden sich die Lerntechniken beim Wortschatzerwerb von denen beim Grammatikerwerb oder beim Erwerb kommunikativer oder anderer Fertigkeiten. Das Sprichwortlernen ist am ehesten mit dem Wortschatzlernen vergleichbar. Deshalb kommen auch zahlreiche Lerntechniken zum Wortschatzlernen in analoger Weise beim Sprichwortlernen zum Tragen. Allerdings werden diese durch solche Lerntechniken ergänzt, die ganz spezifisch für das Sprichwortlernen sind und auch die Satzebene betreffen. Dieser Spezifik der Lerntechniken entsprechend, sind auch die didaktischen Lerntipps, die dem Sprichwortlernen dienen, teilweise sehr allgemein, teilweise aber auch sehr spezifisch. Da im autonomen Lernen nicht ständig eine Lehrkraft zur Verfügung steht, die eventuelle Hilfestellung geben könnte, sind konkrete und verständliche Lerntipps von größter Wichtigkeit. 3. Sprichwörter in Wissenschaft, Alltag und Schule 3.1 Wissenschaftlicher Blickwinkel Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Begriffsbestimmung für Sprichwörter aus mehreren Gründen schwierig. Je nach Blickwinkel rücken andere Charakteristika der Sprichwörter in den Vordergrund. Problematisch ist allein schon die Formulierung einer Definition für Sprichwörter. Ein weiteres Problemfeld ist die Abgrenzung der Sprichwörter gegenüber ähnlichen Erscheinungsformen usw. Sprichwörter können, um mit Fleischer (1997, S. 76) zu sprechen, als „feste Satzkonstruktionen ‘mit lehrhafter Tendenz’ (Seiler 1922, S. 2), die sich ‘auf das praktische Leben’ (Peukes 1977, S. 11) beziehen“, bezeichnet werden. Sprichwörter werden in der Phraseologie fast ausschließlich zu den ‘referenziellen satzwertigen Phraseologismen’ gerechnet (vgl. Burger 2003, S. 37), ein kleiner Teil der umfangreicheren Mehrworteinheiten, also längere Sprichwörter, werden vereinzelt auch als textwertig interpretiert (ebd.). Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen 457 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Ďurčo (2005, S. 32) definiert Sprichwörter beispielsweise als „satzwertige, idiomatische, sprechaktunspezifische Mehrworteinheiten“ und schlägt als Bezeichnung dieser sehr heterogenen Gruppe von Mehrworteinheiten die Bezeichnung „sprichwörtliche Phraseologismen“ (ebd., S. 31) vor. Allerdings verwendet er dann im weiteren Verlauf seiner Abhandlungen zumeist den kürzeren Begriff ‘Sprichwörter’. Der Begriff ‘sprichwörtliche Phraseologismen’ ist wohl die passendste Bezeichnung, wenn man z. B. aus didaktischen Gründen auf eine weitere wissenschaftlich relevante Differenzierung zwischen ‘Sprichwörtern’, ‘Lehnsprichwörtern’, ‘sprichwörtlichen Redensarten’, ‘Sagwörtern’, ‘geflügelten Worten’ verzichtet. In diesem Beitrag wird aber aus sprachökonomischen und didaktischen Gründen fast ausschließlich der Begriff ‘Sprichwort’ verwendet, der - trotz durchaus relevanter linguistischen Festlegungen in dieser Abhandlung - alle unterschiedlichen Subtypen umfasst. Eine ähnlich großzügige Zusammenfassung fester Wendungen nimmt auch der Referenzrahmen (Council of Europe 2001, S. 120) vor, worin Redewendungen, Aussprüche, Zitate und sprichwörtliche Redensarten in einem kurzen Absatz als „bedeutsame Komponente des sprachlichen Aspekts der soziokulturellen Kompetenz“ bezeichnet und darüber hinaus auch Graffitis, T-Shirt- oder Fernsehslogans, Sprüchen am Arbeitsplatz und Postern die gleichen Funktionen zugesprochen werden wie den erwähnten satzwertigen Phraseologismen. Der Referenzrahmen führt grundsätzlich zu jedem dargestellten Aspekt des Fremdsprachenlernens Fragen an, die für den Fremdsprachenunterricht von Bedeutung sind, und die daher aufgrund ihrer Wichtigkeit sowohl von Lehrern als auch von Lehrplan- und Lehrwerkentwicklern in angemessener Weise berücksichtigt werden sollten. Im Zusammenhang mit Sprichwörtern fordert der Referenzrahmen Folgendes: „Die Benutzer des Referenzrahmens sollten bedenken und, soweit sinnvoll, angeben, [...] welche Sprichwörter, Klischees und volkstümliche Redensarten der Lernende a) erkennen und verstehen, b) selbst verwenden müssen [sic! ], auf welche sie vorbereitet werden sollen und was von ihnen in dieser Hinsicht erwartet wird“ (Council of Europe 2001, S. 122). Diese Forderung ist im Grunde genommen vollkommen ausreichend, um eine begründete, intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Sprichwort (einschließlich aller ähnlichen Erscheinungen) zu ermöglichen, eine konkrete Umsetzung ist allerdings kaum/ nicht nachweisbar. In diesem Kontext kann die Sprichwortplattform als wissenschaftlich begründete Grundlage zur Bestimmung von relevanten deutschsprachigen Sprichwörtern u. Ä. die- Brigita Kacjan 458 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 nen, da die dort angeführten 300 deutschen Sprichwörter aufgrund von Korpusanalysen ausgewählt wurden. 3.2 Sprichwörter im Alltag In der Alltagskommunikation wird kaum auf eine korrekte Unterscheidung der verschiedenen sprichwörtlichen Phraseologismen geachtet und undifferenziert von Sprichwörtern, Redensarten oder Redewendungen u. Ä. gesprochen. Die Gründe dafür sind vielfältig und können daher im vorliegenden Beitrag nicht näher ausgeführt werden. Sprichwörter kommen in allen Lebensbereichen und entsprechend in (fast) allen Textsorten vor. So sind sie häufig in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und ihren Überschriften, auch in Horoskopen (vgl. Jesenšek 2000) und in allen Arten von Werbung zu finden (Burger 2003, S. 161f.). Selbst Fachtexte, speziell im Bereich der Ökonomie, sind nicht immun gegen Sprichwörter, wie dies Burger (ebd., S. 165) anführt, und sogar in Kinderbüchern sind sie nachweisbar. Interessant ist, dass sie schon in Kinderbüchern für Vorschul- und Grundschulkinder vorkommen, wobei die sprachbewussten Autoren dort allerdings sehr darauf achten, dass die Sprichwörter kindgerecht in den Kontext eingebettet sind. Burger (ebd., S. 167) verweist diesbezüglich ebenso auf die Bemühungen der Kinderbuchautoren, Sprichwörter und andere Phraseologismen einzuführen, in den Kontext einzubetten und zu erläutern. Sie scheuen sich, seiner Meinung nach, aber auch nicht vor dem etwas schwierigeren Verfahren, Sprichwörter in die kindliche Lebenswelt einzufügen, dabei auch bewusst mit der Unterstützung der Eltern zu rechnen und an diese entsprechend zu appellieren (ebd., S. 167f.). 3.3 Sprichwörter im DaF-Unterricht Wenn Sprichwörter im muttersprachlichen Alltag allgegenwärtig sind - und zwar von Kindheit an, wie dies von Experten postuliert wird -, dann stellt sich die Frage, warum sie im DaF-Unterricht so stiefmütterlich behandelt werden. Die slowenischen Lehrpläne für DaF sprechen, ungeachtet der Zielgruppe, höchstens von Liedern, Reimen, Rätseln, Witzen und Gedichten (vgl. Kondrič Horvat et al. 1998, 2000; Kosevski / Koltak 2001 u. a.). Auch die Lehrwerke, die für den DaF-Unterricht konzipiert wurden und auch jene, die sich der interkulturellen, kommunikativen Didaktik verschrieben haben, machen immer noch einen großen Bogen um Sprichwörter. Jesenšek (2007, S. 20f.) zeigt dieses Manko für die Phraseologismen auf. Das gleiche Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen 459 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Problem - wahrscheinlich in einem noch größeren Ausmaße, wie eine laufende Untersuchung andeutet - kann m. E. auch auf die Sprichwörter übertragen werden. In diesem Kontext muss auch erwähnt werden, dass der Referenzrahmen Sprichwörter im Rahmen der lexikalischen Kompetenz unter festen Wendungen (Satzformeln → idiomatische Wendungen → feststehende Muster → andere feststehende Phrasen → feste Kollokationen) und in diesem Rahmen unter Satzformeln einordnet (Council of Europe 2001, S. 111). Bei den Beschreibungen des Wortschatzspektrums, das die Sprachverwender auf einem bestimmten Niveau beherrschen sollten, werden lediglich idiomatische Wendungen angesprochen und diese nur auf den Stufen C1 und C2. Die entsprechenden sog. Kann-Beschreibungen lauten folgendermaßen: C2 - Beherrscht einen sehr reichen Wortschatz einschließlich umgangssprachlicher und idiomatischer Wendungen und ist sich der jeweiligen Konnotationen bewusst. C1 - Beherrscht einen großen Wortschatz und kann bei Wortschatzlücken problemlos Umschreibungen gebrauchen; offensichtliches Suchen nach Worten oder der Rückgriff auf Vermeidungsstrategien sind selten. Gute Beherrschung idiomatischer Ausdrücke und umgangssprachlicher Wendungen. (ebd., S. 112). Auch in Profile deutsch (Glaboniat et al. 2004) kann man Aussagen zu idiomatischen Wendungen sowohl bei den globalen als auch bei den detaillierten Kann-Beschreibungen nur auf den Niveaus C1 und C2 finden. Dabei sind die Bereiche ‘Interaktion mündlich und schriftlich’, ‘Rezeption mündlich und schriftlich’ sowie ‚Produktion mündlich und schriftlich‘ gleichermaßen vertreten. Zur schriftlichen Rezeption auf dem Niveau C1 und C2 heißt es beispielsweise: „Kann in privater Korrespondenz auch saloppe Umgangssprache, idiomatische Wendungen und Scherze verstehen“ (ebd., Detaillierte Kann- Beschreibungen, Stichwort idiomatisch). Interessanterweise wird in Profile deutsch der Eintrag Sprichwort als Textsorte aus kommunikationstheoretischer Sicht beschrieben und das Wort selbst im Rahmen des thematischen Wortschatzes dem Niveau B1 rezeptiv und dem Niveau B2 produktiv zugeordnet (ebd., Thematischer Wortschatz): „Kennst du das Sprichwort: Wer zuletzt lacht, lacht am besten? “ Es ist m. E. nicht gerechtfertigt, Sprichwörter erst auf dem Niveau C1 oder C2 zu thematisieren. Ergebnisse der Spracherwerbsforschung zeigen deutlich, dass Sprichwörter bereits viel früher verstanden werden. Aus diesem Grunde sollte die rezeptive Komponente bewusst auf dem Niveau B1 und die repro- Brigita Kacjan 460 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 duktive Komponente auf dem Niveau B2 angesiedelt werden, da Sprichwörter - wie bereits festgestellt wurde - im authentischen Sprachgebrauch allgegenwärtig sind. Auf dem Niveau B1 und B2 müssen die Lernenden einzelne wichtige oder in ihrem Umfeld häufiger verwendete Sprichwörter identifizieren und verstehen können, die muttersprachlichen Äquivalente kennen und die Sprichwörter inhaltlich korrekt ergänzen können. Erst auf dem Niveau C1 bzw. C2 wird von den Lernenden gefordert, dass sie die Bedeutung von Sprichwörtern erklären, Bedeutungsabweichungen in den verschiedenen Sprachen (Muttersprache und Fremdsprache) eruieren und erkennen, Sprichwortvarianten und -komponenten verwenden und Sprichwörter sinnvoll in umfangreichere Texte unterschiedlichster Art einbetten können. Auch parömiologisch bedeutendes Wissen über die Sprichwörter wird erst auf der Stufe C1 bzw. C2 gefordert und das auch nur von Sprachenstudenten, anderen Experten und Interessierten. 4. Lerntipps für das Sprichwortlernen 4.1 Elementare Aspekte des Sprichwortlernens Das Lernen von Sprichwörtern in fremden Sprachen sollte trotz der Tatsache, dass sie keine „Lexikoneinheit“ bilden wie die Phraseme, sondern als Texte zitiert werden (vgl. Fleischer 1997, S. 255), ähnlich verlaufen wie das Lernen von fremdsprachigem Wortschatz (vgl. Kacjan 2007, 2008) allgemein. Sprichwörter unterliegen - wie bereits erwähnt- grundsätzlich den gleichen Gesetzmäßigkeiten des Wortschatzerwerbs wie feste Phrasen. Der Lerner muss Sprichwörter zunächst überhaupt als solche identifizieren können und sie nicht etwa ausschließlich als eine Aneinanderreihung von einzelnen Wörtern interpretieren. Das Sprichwortlernen wird grundsätzlich von zwei dominanten Phänomengruppen beeinflusst: sprichwortimmanente und lernprozessbezogene Aspekte. Beim Erwerb fremdsprachlicher Sprichwörter müssen mehrere verschiedene sprichwortimmanente Aspekte erlernt werden. Dabei handelt es sich um: a) das korrekte Schriftbild, b) mögliche Variationen der Grundform, c) ein angemessenes Lautbild, d) die semantischen Charakteristika der Einzelwörter und des gesamten Sprichwortes einschließlich einer eventuellen idiomatischen Bedeutung, Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen 461 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 e) mögliche interkonzeptuelle Beziehungen, f) (inter-)kulturelle Informationen, g) strukturelle und grammatische Gegebenheiten und h) das muttersprachliche Äquivalent (vgl. Kacjan 2007, S. 49ff.). Als ‘korrektes Schriftbild’ wird die orthografisch und grammatisch korrekte Schreibung der Grundform der Sprichwörter verstanden, wobei auch mögliche Variationen berücksichtigt werden müssen. ‘Angemessenes Lautbild’ bezeichnet die anzustrebende phonetische und phonologische Korrektheit. Ebenso bedeutsam sind die ‘semantischen Charakteristika’ der Sprichwörter als ganze Einheit, aber auch die semantischen Merkmale der in den Sprichwörtern enthaltenen Einzelwortkomponenten sowie eventuell vorhandene idiomatische Lesarten. Überschneidungen mit anderen Sprichwörtern sowie Differenzen und antonymische Beziehungen sind Informationen, die hier, in Anlehnung an die Schritte des Wortschatzlernens, ‘interkonzeptuelle Beziehungen’ genannt werden. Beim Lernen von fremdsprachlichen Sprichwörtern haben kulturelle und interkulturelle Eigenheiten beider Sprachen eine große Bedeutung, da es bei einer Vernachlässigung dieses Aspekts zu schwerwiegenden Missverständnissen kommen kann. Die ‘strukturellen und grammatischen Charakteristika’ von Sprichwörtern sind aufgrund ihrer Satzwertigkeit nicht besonders hervorstechend und eher im Bereich der Textgrammatik und Satzgrammatik angesiedelt. Der letzte wichtige Aspekt beim Lernen fremdsprachlicher Sprichwörter bezieht sich auf die ‘muttersprachlichen Äquivalente’. Hier muss betont werden, dass Übersetzungen der tatsächlichen Aussage eines Sprichworts - vor allem, wenn es sich um ein idiomatisches oder teilidiomatisches Sprichwort handelt - in den meisten Fällen nicht gerecht werden, weswegen es sinnvoller ist, im Lernprozess die entsprechenden anderssprachigen Äquivalente zu verwenden. Neben den erwähnten Aspekten des Sprichwortlernens muss die im Rahmen des Projekts SprichWort entwickelte Übungstypologie zum Sprichwortlernen (vgl. Kacjan et al. 2009) berücksichtigt werden, die vier Erwerbsphasen im Sprichwortlernen postuliert: Phase 1: Sprichwörter erkennen, Phase 2: Sprichwörter verstehen, Phase 3: Sprichwörter festigen und Phase 4: Sprichwörter anwenden. Brigita Kacjan 462 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Die Phase 1 (Sprichwörter erkennen) ist nicht nur für Fremdsprachenlernende der schwierigste Teil des fremdsprachlichen Sprichwortlernens, sondern auch Muttersprachler müssen dies im Laufe ihres Lebens erlernen. Dabei wenden beide prinzipiell die gleichen Lernstrategien an, d. h., sie müssen die Sprichwörter aus dem textuellen und weiteren Kontext heraus erarbeiten, wozu sie kontextuelle und andere Hinweise nutzen: Wie schon die Alten sagten, ...; nach dem Motto ...; gemeinhin sagt man ...; ... gilt doch ... usw. Auch aus dem Kontext hervorstechende Bilder u. Ä. können solche Hinweise sein. Der Vorteil, den die Muttersprachler gegenüber den Fremdsprachenlernenden allerdings haben, ist, dass sie den Sprichwörtern viel intensiver ausgesetzt sind und sich daher weniger bewusst mit ihnen auseinandersetzen müssen. Das zeigt sich darin, dass Muttersprachler oft gar nicht erklären können, woran sie erkennen, dass eine Aussage oder ein Satz ein Sprichwort ist. Die Phase 2 (Sprichwörter verstehen) bezieht kulturelles und interkulturelles Wissen mit ein, das aber häufig - insbesondere im Fremdsprachenlernen - erst erworben werden muss. Lerntipps, die hier hilfreich sein sollen, konzentrieren sich vor allem auf den kulturellen und/ oder interkulturellen Rahmen. In der Phase 3 (Sprichwörter festigen) stehen vor allem unterschiedliche Teilaspekte der Sprichwörter im Vordergrund des Lernens. Dementsprechend vielfältig und zahlreich sind auch die Lerntipps, die in dieser Phase zum Tragen kommen. Die Phase 4 (Sprichwörter anwenden) ist eine produktive Phase, zu der nur sehr allgemeine Lerntipps formuliert werden können und deren Funktion vor allem darin liegt, die tatsächliche Verwendung von Sprichwörtern zu stimulieren. Es wurden verschiedene Aspekte angesprochen, die beim Erlernen von Sprichwörtern eine wichtige Rolle spielen. Wie bereits erwähnt wurde, handelt es sich dabei einerseits um sprichwortimmanente (in der folgenden Tabelle vertikal angeführt) und andererseits um lernprozessbezogene Aspekte (horizontal), die im Lernprozess sehr stark miteinander verflochten sind. Allerdings sind die sprichwortimmanenten Aspekte nicht in allen Lernphasen gleich bedeutsam, weswegen hier zunächst eine grobe Übersicht darüber gegeben wird, in welchen Lernphasen welche Aspekte des Sprichwortlernens in den Vordergrund treten. Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen 463 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Aspekt des Sprichwortlernens / Lernphasen Phase 1: SW erkennen Phase 2: SW verstehen Phase 3: SW festigen Phase 4: SW anwenden A) Erscheinungsform 1) Schriftbild × × × × 2) Variationen der Grundform × × 3) Lautbild × × × × B) Semantik 1) Semantik der Einzelwörter × 2) Semantik des Sprichwortes × × × × 3) eventuelle idiomatische Bedeutung × × × × 4) Verknüpfung mit anderen Sprichwörtern × × × 5) (inter-)kulturelle Informationen × × × C) Struktur 1) strukturelle und grammatische Aspekte × 2) Texteinbindung × × × D) Interlingualität 1) muttersprachliche / anderssprachliche Äquivalente × × × × Tab. 1: Verknüpfung von sprichwortimmanenten und lernprozessbezogenen Aspekten des Sprichwortlernens 4.2 Konkrete Lerntipps Da die grobe Zuordnung von sprichwortimmanenten und lernprozessbezogenen Aspekten keine konkreten Lernhilfen sind, werden im Folgenden ganz konkrete Lerntipps zum Sprichwortlernen formuliert. Als Ordnungskriterium dient die lernprozessbezogene Aufteilung in die Lernphasen 1 bis 4. Zusätzlich werden noch einige Lerntipps gegeben, die im Falle von zwei- oder mehrsprachigen Aufgaben und Übungen zu Sprichwörtern relevant sind. Brigita Kacjan 464 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 4.2.1 Lerntipps zur Phase 1 - Sprichwörter erkennen Lerntipp 1: Überprüfen Sie, ob es im Text auf Sprichwörter verweisende Elemente gibt wie „früher hieß es (SW (Sprichwort))“, „… wie ein altes Sprichwort besagt“, „(SW) hat immer noch Gültigkeit“, „(SW), sagt man gemeinhin …“, „(SW), das bewahrheitet sich …“, „(SW), dieser Spruch …“, „nach dem Motto (SW)“, „(SW), deswegen …“, „…, schließlich (SW)“ usw. Meist kommt kurz nach oder kurz vor diesem Element ein Sprichwort (SW). Lerntipp 2: Sprichwörter verwenden oft Bilder, die häufig nicht zur Aussage des restlichen Textes passen, aber einen wichtigen Gedanken betonen bzw. verdeutlichen. Lerntipp 3: Überlegen Sie nach dem Lesen des Textes, ob Ihnen Ihre muttersprachlichen Sprichwortkenntnisse eventuell Hinweise auf eventuell im Text vorhandene fremdsprachliche Sprichwörter geben. Lerntipp 4: Lösen Sie die entsprechenden Aufgaben und Übungen zur Phase 1 - Sprichwörter erkennen auf der Sprichwortplattform. 4.2.2 Lerntipps zur Phase 2 - Sprichwörter verstehen Lerntipp 5: Was will das Sprichwort sagen? Versuchen Sie die Bedeutung aus dem Kontext abzulesen. Lerntipp 6: Lesen Sie noch ein paar weitere Texte, die das gleiche Sprichwort beinhalten. Vergleichen Sie die Bedeutungen und versuchen Sie Gemeinsamkeiten und eventuelle Besonderheiten bei der Bedeutung festzustellen. Lerntipp 7: Nehmen Sie ein gutes, umfangreiches, einsprachiges Wörterbuch und versuchen Sie mithilfe der wichtigsten Wörter des Sprichworts dieses Sprichwort im Wörterbuch zu finden. Manchmal müssen Sie bei der Suche verschiedene Wörter verwenden, um das Sprichwort zu finden. Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen 465 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Lerntipp 8: Schauen Sie in einem zweisprachigen Wörterbuch nach. Auch hier müssen Sie manchmal verschiedene Wörter aus dem Sprichwort verwenden, um es zu finden. Oft können Sie sie aber leider trotzdem nicht finden. Lerntipp 9: Im Internet gibt es verschiedene Möglichkeiten, um die Bedeutung eines Sprichworts herauszufinden. Öffnen Sie eine Suchmaschine, schreiben Sie das Sprichwort ein und sehen Sie sich dann die verschiedenen Treffer an. Es kann allerdings ein Weilchen dauern, bis Sie eine genaue und verlässliche Erklärung finden. Lerntipp 10: Sehen Sie auf der Seite Redensartenindex ( http: / / www.redensarten-index.de ) nach. Dort gibt es auch zahlreiche Sprichwörter mit kurzen Erläuterungen. Lerntipp 11: Lösen Sie die entsprechenden Aufgaben und Übungen zur Phase 2 - Sprichwörter verstehen auf der Sprichwortplattform. 4.2.3 Lerntipps zur Phase 3 - Sprichwörter festigen Lerntipp 12: Nehmen Sie ein paar Sprichwörter, zerschneiden Sie diese und setzen Sie die Sprichwörter wieder richtig zusammen. Lerntipp 13: Üben Sie zu zweit: Machen Sie in ein paar Sprichwörtern - am besten zu einem Bedeutungsbereich - einige Buchstaben oder Wörter unleserlich. Lassen Sie dann Ihren Lernpartner die fehlenden Buchstaben oder Wörter korrekt ergänzen. Lerntipp 14: Üben Sie zu zweit: Schreiben Sie einige Sprichwörter mit einem Fehler auf und lassen Sie Ihren Lernpartner die Fehler suchen und korrigieren. Lerntipp 15: Üben Sie zu zweit: Machen Sie Multiple-Choice-Aufgaben, bei denen nur eine der angebotenen Antworten korrekt ist. Lassen Sie Ihren Lernpartner die Aufgaben lösen. Brigita Kacjan 466 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Lerntipp 16: Lösen Sie die entsprechenden Aufgaben und Übungen zur Phase 3 - Sprichwörter festigen auf der Sprichwortplattform. 4.2.4 Lerntipps zur Phase 4 - Sprichwörter anwenden Lerntipp 17: Schreiben Sie eine Geschichte, in die Sie ein Sprichwort sinnvoll integrieren. Lerntipp 18: Üben Sie zu zweit: Erklären Sie einem Lernpartner, was ein Sprichwort bedeutet. Lerntipp 19: Üben Sie zu zweit: Sprechen Sie mit Muttersprachlern über verschiedene Sprichwörter, was sie bedeuten und wie bzw. wann man sie einsetzen kann. Lerntipp 20: Nehmen Sie an spezialisierten Chats und Foren teil, wo sie sich über Sprichwörter austauschen können (z. B. auf der Sprichwortplattform unter http: / / www.sprichwort-plattform.com/ Lerner ). Lerntipp 21: Wenn Sie bestimmte Sprichwörter gut beherrschen, können Sie diese auch in Ihre alltägliche Kommunikation einfließen lassen. Lerntipp 22: Lösen Sie die entsprechenden Aufgaben und Übungen zur Phase 4 - Sprichwörter anwenden auf der Sprichwortplattform. 4.2.5 Lerntipps für zwei- und mehrsprachige Aufgaben und Übungen Lerntipp 23: Nehmen Sie verschiedene Wörterbücher zur Hilfe und vergleichen Sie das Sprichwort in zwei oder mehreren Sprachen. Lerntipp 24: Vergleichen Sie verschiedene Aspekte eines Sprichworts mithilfe der Datenbank der Sprichwortplattform. Dort können Sie zahlreiche Informationen zu den unterschiedlichen Aspekten finden. Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen 467 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Lerntipp 25: Lösen Sie die entsprechenden Aufgaben und Übungen auf der Sprichwortplattform. 4.3 Anwendungsbereiche der Lerntipps bei den Aufgaben und Übungen auf der Sprichwortplattform Die in Kapitel 4.2 angeführten Lerntipps können auch direkt auf das Sprichwortlernen mithilfe der Sprichwortplattform appliziert werden. Welche Aspekte des Sprichwortlernens in welchen Phasen durch die einzelnen Lerntipps tangiert werden, kann der nachfolgenden Tabelle entnommen werden. Die Festlegung ist nicht als exklusiv zu verstehen, sondern deutet in den meisten Fällen lediglich die dominanten Einsatzbereiche an. Aspekt des Sprichwortlernens / Lernphasen Phase 1: SW erkennen Phase 2: SW verstehen Phase 3: SW festigen Phase 4: SW anwenden A) Erscheinungsform 1) Schriftbild 4*, 23 11 13, 14, 15, 25 17, 21, 22 2) Variationen der Grundform 13, 14 17, 21, 22 3) Lautbild 4 11 13, 14, 15, 25 17, 21, 22 B) Semantik 1) Semantik der Einzelwörter 12, 15, 25 2) Semantik des Sprichwortes 23 6, 7, 9, 10 13, 14, 15, 24, 25 18, 22 3) eventuelle idiomatische Bedeutung 23 6, 7, 9, 10 13, 14, 15, 24 18, 22 4) Verknüpfung mit anderen Sprichwörtern 6, 10 15, 24, 25 19, 21, 22 5) (inter-)kulturelle Informationen 2 24, 25 18, 19, 20, 22 C) Struktur 1) strukturelle und grammatische Aspekte 13, 15, 25 2) Texteinbindung 1 5 19, 21, 22 D) Interlingualität 1) muttersprachliche / anderssprachliche Äquivalente 3 8, 9 15, 24, 25 21, 25 * = Nummer des Lerntipps aus Abschnitt 4.3 Tab. 2: Zuordnung der Lerntipps zu den Lernphasen und sprichwortimmanenten Aspekten Brigita Kacjan 468 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 5. Zusammenfassung Das autonome Sprichwortlernen, das beispielsweise mithilfe der Sprichwortplattform stattfinden kann, postuliert die Übernahme von Verantwortung für den eigenen Lernprozess durch den Lernenden. Wenn die Präsenz einer Lehrkraft verringert wird, steigt der Bedarf nach und die Bedeutung von schriftlichen Lernhilfen. Diese Lernhilfen sind im vorliegenden Fall die didaktischen Lerntipps. Sie erfüllen verschiedene Funktionen. Drei für den vorliegenden Kontext bedeutende sind die Folgenden: Didaktische Lerntipps ersetzen bis zu einem gewissen Grad eine Lehrkraft, bieten konkrete Anweisungen zum Planen und Durchführen des eigenen Lernprozesses und sind somit das strukturelle Rückgrat des autonomen Lernens von Sprichwörtern. Eine nicht zu vernachlässigende Funktion ist aber auch, dass sie nach Abschluss einer Selbstevaluation (oder auch einer Fremdevaluation) als Ausgangspunkte für das weitere Lernen dienen. Sie sind somit sowohl Ausgangspunkte als auch strukturierende Elemente des gesamten Lernprozesses. Was die Umsetzung der Lerntipps betrifft, kann festgehalten werden, dass die formulierten Lerntipps effektiv auch im klassischen Sprichwortlernen eingesetzt werden können, das ja leider nur sehr eingeschränkt stattfindet. Das Manko des klassischen Fremdsprachenunterrichts kann so zumindest abgemildert, wenn schon nicht ganz beseitigt werden. Das gezielt aufgebaute autonome Sprichwortlernen mithilfe der Sprichwortplattform zeigte aber trotzdem auch den Bedarf nach einer schriftlichen Hilfestellung für die sehr selbstständig lernenden Benutzer der Plattform. Mit der Formulierung der didaktischen Lerntipps wurde versucht, dieses Desiderat zu beheben. Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen 469 Kacjan_Aut-korr_09-07-12 Literatur Bachel, Danielle (2005): Autonomes Lernen - in Theorie und Praxis. g-daf-es. 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Und es sind gerade sprachtechnologische Erfindungen der Neuzeit, wie große elektronische Textkorpora, die eindrucksvoll von der Häufigkeit und Festigkeit, aber ebenso von der Wandlungsfähigkeit solcher fest geprägten Sätze im aktuellen Sprachgebrauch zeugen. Sprichwörter sind tradiertes Kulturgut und Weisheitssätze, die universale Bilder und kulturspezifische Symbole erschließbar und verstehbar machen. Man lernt durch sie auch einiges über die Sprache selbst: über Invarianz und Varianz, über Musterhaftigkeit und Produktivität, über sprachliche Oberflächen und pragmatischen Mehrwert. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes sind renommierte Forscher auf dem Gebiet der Parömiologie und Phraseologie. Die Beiträge wurden auf der internationalen Tagung „Sprichwörter multilingual. Sprachliche Muster - kommunikative Einheiten - kulturelle Symbole“ vorgestellt, die vom 27. bis 28. September 2010 am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim stattfand. Der erste Teil des Bandes widmet sich theoretischen, empirischen und sprachvergleichenden Aspekten moderner Sprichwortforschung. Der zweite Teil dokumentiert die Ergebnisse des EU-Projekts „SprichWort. Eine Internetplattform für das Sprachenlernen“. Dabei werden Konzepte, Vorgehensweisen und praktische Erkenntnisse des Projekts präsentiert sowie innovative Fragestellungen für die Parömiologie diskutiert. ISBN 978-3-8233-6704-8