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Mehrsprachige Lebenswelten

2012
978-3-8233-7707-8
Gunter Narr Verlag 
Inken Keim

In vielen Großstädten Deutschlands haben sich in den letzten Jahrzehnten Migrantenwohngebiete entwickelt, in denen ethnische Gemeinschaften in engen Netzwerken leben. Die Kinder wachsen in mehrkulturellen Lebenswelten auf und bilden im Alltag, in den Familien und Peergroups mehrsprachige Kommunikationspraktiken aus. In den deutschen Bildungsinstitutionen treffen sie auf deutschsprachige Anforderungen, auf die sie schlecht vorbereitet sind mit der Konsequenz, dass viele bisher schulisch gescheitert sind. Das Buch, das auf ethnografisch-soziolinguistischen Untersuchungen basiert, liefert Einblick in die Lebenswelt türkischstämmiger MigrantInnen und in die Vielfalt der sprachlich-kommunikativen Praktiken, die in mehrsprachigen Lebenswelten entstehen. Es stellt das ungesteuert erworbene Deutsch der Elterngeneration vor und zeigt auf der Basis von authentischen Gesprächsbeispielen die kommunikativen Praktiken der Kinder und Jugendlichen und ihre Virtuosität im Umgang mit sprachlichen Ressourcen, die in der Schule nicht berücksichtigt werden. Vor allem aber macht das Buch deutlich, dass die Kinder und Jugendlichen durchaus über mündliche und schriftsprachliche Deutschkompetenzen verfügen, und es zeigt, in welchen Bereichen sie Unterstützung brauchen, damit sie in Schule und Beruf erfolgreich werden.

Mehrsprachige Lebenswelten Sprechen und Schreiben der türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen Inken Keim Mehrsprachige Lebenswelten Inken Keim Mehrsprachige Lebenswelten Sprechen und Schreiben der türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen Prof. Dr. Inken Keim ist apl. Professorin am Lehrstuhl für Germanistische Linguistik der Universität Mannheim. Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in the EU ISBN 978-3-8233-6707-9 Inhalt Einleitung und Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Migration und Mehrsprachigkeit in Deutschland - ein kurzer Abriss . . . . . 1 Ziel, Aufbau und Adressaten des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Kapitel 1 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der Migration . . . 11 1.1 Zwei- und Mehrsprachigkeit in Bildung und Öffentlichkeit. . . . . . . . 11 1.2 Zwei- und Mehrsprachigkeit: Blick in die Forschung . . . . . . . . . . . . . 15 1.2.1 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.2.2 Individuelle Mehrsprachigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.3 Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitspracherwerb: ein kritischer Blick auf die „Interdependenz-Hypothese“ . . . . . . . . . 24 Kapitel 2 Türkische MigrantInnen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.1 Die Anwerbung von „Gastarbeitern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2 Geschichte der türkischen Zuwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.3 Zur gegenwärtigen Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.3.1 Ethnische Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.3.2 Soziale Situation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.3.3 Bildungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.4 Was bedeutet „Integration“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.5 Vom Selbstverständnis als „Gastarbeiter“ zum Selbstverständnis als „Migrant“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Kapitel 3 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen der zweiten und dritten Generation . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.1 Leben in ethnischen Kolonien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.1.1 Familien- und Sozialstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.1.2 Verfestigung binnenethnischer Beziehungen durch Heiratsmigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.2 Schul- und Ausbildungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Keim_sV-264End.indd V 10.02.12 16: 57 VI Inhalt 3.2.1 Die Perspektive der Schulen auf Migranteneltern und -kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.2.2 Die Perspektive der Migranteneltern und -kinder auf die Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.3 Der Zusammenhang zwischen Schulkarriere und sprachlicher und sozialer Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Kapitel 4 Das Deutsch der ersten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.1 Charakteristika des „Gastarbeiterdeutsch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.2 Theoretische Ansätze zur Erklärung des „Gastarbeiterdeutsch“ . . . . 89 4.2.1 Typologische Unterschiede zwischen Deutsch und Türkisch 90 4.2.2 Transfers aus dem Türkischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.3 Weitere Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.3.1 Pidgin- und foreigner-talk-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.3.2 Theorie zum Zweitspracherwerb Erwachsener . . . . . . . . . . . . 101 4.3.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.4 Das fossilisierte Deutsch vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen: Fulya und Ahmet im Jahr 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.4.1 Ahmets Migrationserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.4.2 Das fossilisierte Deutsch Fulyas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Kapitel 5 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt . . 115 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.1 Das Deutsch der zweiten und dritten Migrantengeneration. . . . . . . . 117 5.2 Ein Blick in die Forschung zu (Multi)Ethnolekten . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.2.1 Bezeichnungen und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.2.2 Eigenschaften von Ethnolekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5.2.3 Zur Entstehung von Ethnolekten und ihren Funktionen . . . . 126 5.3 Ethnolekt in Migrantenkinder- und Jugendgruppen . . . . . . . . . . . . . 127 5.3.1 Ethnolekt in Kindergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.3.2 Ethnolekt in Jugendgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.4 Wechsel zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch: diskursive und sozial symbolische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5.4.1 Fallstudie: Hauptschülerinnen einer 8. Klasse. . . . . . . . . . . . . . 133 5.4.2 Fallstudie: Murat und seine Freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.4.3 Mediale Stilisierungen von Ethnolekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Keim_sV-264End.indd VI 10.02.12 16: 57 Inhalt VII Kapitel 6 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 6.1 Das Türkische der jungen Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6.2 Blick in die Forschung zu Code-switching und Code-mixing . . . . . . 147 6.3 Die Entstehung von Sprachmischungen im Kindergarten . . . . . . . . . 149 6.4 Die Sprachmischungen der Jugendlichen: strukturelle Aspekte . . . . 152 6.5 Diskursiv-rhetorische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6.6 Sprachwechselmuster in Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.7 Sprachwechselmuster bei Aushandlungen und Streit . . . . . . . . . . . . . 167 6.8 Soziale Bedeutung der Mischungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 6.8.1 Mischsprache als Sprache der männlichen Jugendlichen . . . . 171 6.8.2 Mischsprache als Sprache der weiblichen Jugendlichen . . . . . 173 6.9 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Kapitel 7 Deutsch in multilingualen Kindergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 7.1 Blick in die Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb . . . . . . . . 177 7.1.1 Der Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 7.1.2 Der frühe Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 7.1.3 Ältere Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 7.1.4 Der Erwerb narrativer Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 7.2 Fallstudie: Kommunikation in multilingualen Spielgruppen . . . . . . . 187 7.2.1 Funktionierende Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 7.2.2 Verstehensprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7.3 Intervention: eine Sprachförderinitiative für Erstklässler . . . . . . . . . . 193 7.4 Die Entwicklung der Kinder nach neun Monaten Schule und sieben Monaten Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 7.4.1 Scherzhafte Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 7.4.2 Gemeinsames Erzählen: Burcu und die Kursleitern . . . . . . . . 198 7.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Kapitel 8 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 8.1 Blick in die Forschung zu Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Keim_sV-264End.indd VII 10.02.12 16: 57 VIII Inhalt 8.1.1 Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 8.1.2 Textkompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 8.1.3 Entwicklung von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz bei Kindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 8.1.4 Erwerb von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz in der-Zweitsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 8.1.5 Herstellen von Textverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 8.2 Fallstudie: Der Weg von Peergroup-Sprechweisen zu Schriftsprachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8.3 Mündliche Erzählformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 8.4 Der Prozess von mündlichen zu schriftlichen Erzählformen . . . . . . . 227 8.4.1 Beteiligungsrolle der Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 8.4.2 Peergroup-Sprechweisen vs. schriftsprachliche Formen . . . . . 229 8.4.3 Interaktive Bearbeitung eines Formulierungsproblems . . . . . 230 8.4.4 Selbständige Produktion schriftsprachlicher Formen: Fatih . 233 8.4.5 Selbständige Produktion schriftsprachlicher Formen: Betül. . 235 8.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Kapitel 9 Was ist zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Verzeichnis der Transkriptionszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Keim_sV-264End.indd VIII 10.02.12 16: 57 Einleitung und Überblick Migration und Mehrsprachigkeit in Deutschland - ein kurzer Abriss 1 Migration, Integration und interkulturelle Begegnungen sind zentrale Elemente der deutschen und der europäischen Sozial- und Kulturgeschichte. Wie in den meisten Staaten Europas gab es in Deutschland seit jeher Zu- und Abwanderung, meist bedingt durch Krieg, Verfolgung und Vertreibung. In Deutschland kam es immer wieder zu erheblichen Grenzveränderungen und zu einem Austausch von z. T. großen Bevölkerungsgruppen. 2 Oft war Deutschland auch Durchgangsstation für Weiterwandernde. Grenzveränderungen, Durchgangswanderung und Zuwanderung sind immer mit Mehrsprachigkeit und mit Kontakten zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen verbunden und führen zu all den aus der Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeitsforschung bekannten Konsequenzen wie Sprachveränderung, Sprachmischung und Entstehung neuer Kontaktsprachen. Dass Deutschland begehrtes Zuwanderungsland war, ist im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft weit besser verankert als die Tatsache, dass Deutschland immer auch Auswanderungsland war. Zu- und Auswanderung waren vor allem religiös und ökonomisch motiviert. Attraktive Auswanderungsziele waren neben einer Reihe europäischer Staaten auch Russland, Polen und andere östliche Gebiete, außerdem Amerika, Kanada und Australien. 3 Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts fanden z. B. wegen Überbevölkerung Abwanderungen aus dem süddeutschen Raum in bevölkerungsarme Regionen des damaligen Zarenreichs statt, nach Siebenbürgen, in die Wolga-Region und nach Neurussland. Die damaligen Zaren warben mit Steuer- und Landprivilegien, um neu erworbene Gebiete erschließen zu lassen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es viele Auswanderer aus dem süd- und südwestlichem Raum (Baden, Württemberg und Pfalz), die aus religiösen Gründen, aber auch wegen Hungersnöten aufgrund von Missernten nach Amerika emigrierten (z. B. Pennsylvania). 1 Zum Folgenden vgl. u. a. Bade/ Oltmer (2008), Gogolin/ Krüger-Potratz (2010), Meinhardt (2006) und Meier-Braun (2007). Wie vielgestaltig die deutsche und europäische Migrationsgeschichte ist, haben Bade et al. (2008) in der Enzyklopädie „Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ dokumentiert. 2 Vgl. dazu Bade/ Oltmer (2008), S.-141ff. 3 Zu Deutschland als Auswanderungsland, vgl. Bade/ Oltmer (2008), S.- 146ff. und Meinhardt (2006), S.-26ff. Keim_sV-264End.indd 1 10.02.12 16: 57 2 Einleitung und Überblick Über Jahrhunderte fand in Deutschland Zuwanderung statt. Flüchtlinge, deren Religion zu der des aufnehmenden Herrscherhauses passte und die gute handwerkliche und ökonomische Voraussetzungen mitbrachten, waren in der Regel willkommen; andere mussten mit Repressalien und Ausgrenzung rechnen. Ein bekanntes Beispiel für religiös motivierte Zuwanderung sind die hugenottischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, die ab 1685 u. a. auch in Brandenburg-Preußen einwanderten. Sie waren willkommen und ihnen wurden Sonderrechte eingeräumt, weil sie gute handwerkliche und kunsthandwerkliche Qualifikationen mitbrachten. Im gleichen Zeitraum wanderten auch aus anderen Ländern Europas (Frankreich, Schweiz, Österreich) verfolgte Protestanten in brandenburgisch-preußische Gebiete. Im 19. und Anfang des 20.- Jahrhunderts kamen vor allem jüdische Flüchtlinge aus Spanien und Portugal ebenso wie aus einigen östlichen Gebieten (Russland, Polen); die Wohlhabenden unter ihnen waren meist willkommen. Die Arbeitsmigration nach Deutschland hat ebenfalls eine lange Tradition. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden aus verschiedenen Ländern Europas (Frankreich, Niederlande, Belgien) Fachkräfte für die Bau-, Textil- und Waffenwirtschaft angeworben, im 19. Jahrhundert polnisch-, russisch- und serbischbzw. kroatischsprachige Arbeitskräfte für den Berg-, Eisenbahn- und Straßenbau ebenso wie für die Landwirtschaft. Die Geschichte der Arbeitsmigration in Deutschland zeigt sehr deutlich, dass sie ökonomisch immer gewollt, aber gesellschaftspolitisch meist unerwünscht war. Vor allem gegen Ende des 19.- Jahrhunderts war die Ausländerpolitik (vor allem in Preußen) rassistisch und antisemitisch; 4 sie tat alles, um eine dauerhafte Ansiedlung der Fremden zu verhindern, z. B. durch Zuweisung mangelhaften Wohnraums, durch befristete Aufenthaltsgenehmigungen und durch Verhinderung von Familiennachzug. Eine dramatische Phase deutscher Migrationsgeschichte fand vor, im und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg statt. 5 Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gab es durch Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlung, Zwangsarbeit, Kriegsgefangenschaft und Saisonarbeit enorme Bevölkerungsbewegungen. Durch sogenannte „Heimschaffungsaktionen“ wurden Deutsche aus dem Ausland „zurück ins Reich geholt“, und Arbeitskräfte wurden aus Österreich und den besetzen Gebieten rekrutiert (aus dem Sudentenland, aus Böhmen, Mähren, Frankreich, Polen und Russland). Volksdeutsche wurden aus den baltischen Staaten, aus Bessarabien und der Bukowina zur „Festigung des deutschen Volkstums“ nach Deutschland oder ins besetzte Polen zwangsumgesiedelt. Am Kriegsende befanden sich (einschließlich der Kriegsgefangenen) etwa 14 Mio. Personen aus ca. 20 Ländern mit über 35 Sprachen in Deutschland (Krüger-Potratz 4 Dazu führen Gogolin/ Krüger-Potratz (2010), S.-35 eine Reihe von Beispielen an. Rassistische Argumentationen gegen eine Zuwanderung aus dem Osten waren z. B. auch in Baden verbreitet, (a. a. O.), S.-36. 5 Vgl. dazu ausführlich Bade/ Oltmer (2008), S.-152ff.; vgl. auch Meinhardt (2006). Keim_sV-264End.indd 2 10.02.12 16: 57 Einleitung und Überblick 3 2010, S.-38ff.). Ein Teil wurde nach dem Krieg repatriiert, viele aber blieben und bekamen auf Druck der Alliierten ein besonderes Aufenthalts- und Niederlassungsrecht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten ca. 11 Mio. Vertriebene aus den ehemals deutschen Ostgebieten zu; und nach der Teilung Deutschlands kamen viele Personen aus der DDR in den Westen. Wie dieser knappe Einblick zeigt, war und ist die Geschichte Deutschlands immer auch Migrationsgeschichte. Das bedeutet, dass Multiethnizität, Multikulturalität und Mehrsprachigkeit immer ein konstitutives Element der deutschen Gesellschaft waren. 6 Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität spielten jedoch Migration, Multikulturalität und Mehrsprachigkeit im politischen Denken und Handeln in der Geschichte Deutschlands kaum eine Rolle. Vor allem mit der Herausbildung des Nationalstaates im 19. Jahrhundert als neuer politischer und gesellschaftlicher Ordnungsform bestimmte die Idee „ein Volk, ein Staat, eine Sprache“ bis zum Ende des 20. Jahrhunderts das offizielle politische Handeln. Mit der Definition des deutschen Reiches als Nationalstaat und der Vorstellung von sprachlicher, kultureller und ethnischer Homogenität spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und Minderheiten zu. Das machte sich auf sprachlicher Ebene in der Abwertung von Regionalsprachen und Dialekten ebenso wie in der Diskriminierung und Bekämpfung von Minderheitensprachen bemerkbar. Während vor der Reichsgründung Minderheitensprachen nicht grundsätzlich abgelehnt wurden, und Deutsch nicht als die einzig gültige Sprache betrachtet wurde, 7 veränderte sich gegen Ende des 19.-Jahrhunderts die öffentliche Bewertung von Minderheitensprachen. Nach der Reichsgründung 1871 wurde eine äußerst repressive Sprachenpolitik verfolgt und der Gebrauch der Minderheitensprachen im öffentlichen Bereich, in Institutionen, Vereinen und Schulen stark eingeschränkt oder verboten. Nach dem Ersten Weltkrieg musste sich das deutsche Reich verpflichten, einen Minderheitenschutz in die Reichsverfassung aufzunehmen (1919). Doch die Umsetzung scheiterte im Wesentlichen an der Idee, dass „sprachlich-kulturelle und ethnische Homogenität (…) der Normalfall zu sein habe“ (Gogolin/ Krüger-Potratz, S.- 58). Auch während der Zeit der Nationalsozialisten gab es keine Anerkennung sprachlicher Pluralität, Anderssprachige wurden aus dem „Deutschtum“ ausgeschlossen, Minderheitsvereine und eine anderssprachige Presse verboten und politisch aktive Minderheitsvertreter wurden verhaftet. Vor allem auf die als „minderwertig“ definierte slawische Bevölkerung war der politische Druck sehr hoch. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Deutschlands setzten die beiden deutschen Staaten die Tradition fort, Deutschland als ethnisch, kulturell-und sprachlich homogen und als „Nicht-Einwanderungsland“ zu definieren. Auto- 6 Angesichts dieser Fakten ist - um mit Enzensberger zu sprechen - die „Vorstellung, es gebe ein kompaktes deutsches Volk höchst abwegig“; vgl. Hans Magnus Enzensberger (1992): Die große Wanderung: dreiunddreißig Markierungen. Frankfurt: Suhrkamp, S.-48. 7 Vgl. Gogolin/ Krüger-Potratz (2010), S.-56. Keim_sV-264End.indd 3 10.02.12 16: 57 4 Einleitung und Überblick chthone Minderheiten wie die Dänen, Sorben und Friesen erhielten rechtlichen Minderheitenschutz. Die Arbeitmigration jedoch wurde als vorübergehende Erscheinung betrachtet und zeitlich begrenzt; die Niederlassung der angeworbenen Ausländer und der Familiennachzug waren unerwünscht. Die Idee, dass die deutsche Geschichte immer auch Migrationsgeschichte ist, hat sich in jüngster Zeit in Wissenschaft und Öffentlichkeit etabliert, 8 und der Mythos, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, wurde seit 1999 durch die Diskussion um das Zuwanderungsgesetz endlich auch politisch in Frage gestellt. In einer Feststellung der „Unabhängigen Kommission Zuwanderung“ heißt es: 9 „Die Kommission stellt fest, dass Deutschland - übrigens nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte - ein Einwanderungsland geworden ist. Damit erkennt sie die historische Tatsache an, dass Wanderungsbewegungen die Entwicklung der deutschen Gesellschaft und ihre heutige Zusammensetzung tiefgehend und nachhaltig beeinflusst haben“. 10 Wie schwierig ein Umdenken ist, zeigen die langwierigen und konfliktreichen Verhandlungen zu diesem Gesetz; sie machen deutlich, dass die „migrationsabwehrenden Traditionen“ in Gesellschaft und Politik nach wie vor vorhanden sind. 11 Der Umgang mit Sprachen, ihre Förderung oder Unterdrückung, ebenso wie ihre Bewertung wird in der Sprachenpolitik eines Staates geregelt. Die seit der Reichgründung auf Homogenität ausgerichtete deutsche Politik betrachte sprachliche und kulturelle Vielfalt als Störfaktor bei der angestrebten nationalen Einheitlichkeit. Die Institution Schule als staatliche Erziehungs- und Sozialisationsinstanz spielte bei der Durchsetzung der Homogenitätsidee eine zentrale Rolle. Sie sollte die jungen Generationen zu Staatsbürgern machen und dazu bringen, dass sie sich mit der staatlichen Idee von sprachlich-kultureller und nationaler Homogenität identifizierten. 12 Dazu dienten u. a. die national-kulturelle Ausrichtung der Unterrichtsinhalte und die Durchsetzung des Deutschen 8 Vgl. die historischen und migrationsoziologischen Publikationen des IMIS, verschiedene Fernsehdokumentationen und Ausstellungen zu Migration, Vertreibung und Rassismus. 9 Die Kommission wurde 1999 von der Regierungskoalition aus SPD und Grünen eingesetzt. 10 Vgl. Zuwanderung gestalten. Integration fördern. Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, 4. Juli 2001. Berlin. URL: http: / / www.bmi.bund.de (Stand: 19.04.2005), S.-12f. 11 Vgl. Bade/ Oltmer (2008); S.- 168ff., Gogolin/ Krüger-Potratz (2010), S.- 30 und Meier- Braun (2007), der die z. T. heftigen Diskussionen um das Zuwanderergesetz und den langwierigen Prozess zum „Einwanderungsland“ beschreibt. 12 Nach einem Dokument von 1930, das Gogolin/ Krüger-Potratz zitieren, war die Schule ausgerichtet auf eine Erziehung, die „die Liebe zu Vaterland und Volkstum entwickelt“ und die „Liebe zum Eigenen“ bei gleichzeitiger Ausgrenzung des „Fremden“. Als „fremd“ galten die auf dem Staatsterritorium ansässigen sprachlichen und ethnischen Minderheiten, obwohl sie Staatsbürger waren, ebenso wie in Deutschland lebende Personen fremder Staatsangehörigkeit; vgl. a. a. O., S.-70f. Keim_sV-264End.indd 4 10.02.12 16: 57 Einleitung und Überblick 5 als einziger Unterrichtssprache. Bereits in den 1870er Jahren wurde Druck auf Kinder aus östlichen Minderheitengruppen gemacht: Das Erziehungsziel war die sprachlich-kulturelle Assimilation polnischer, litauischer, kaschubischer, tschechischer und sorbischer Kinder, der Gebrauch der Minderheitensprachen in der Schule wurde verboten. Die Kinder sollten „eingedeutscht“ werden, Lehrer, die im Unterricht z. B. die polnische Sprache benutzten, wurden bestraft. Die Begründung dafür war rassistisch; sie lautete, dass „nur so den kulturell rückständigen sprachlichen Minderheiten mehr Bildung zuteil werden könne“ (Gogolin/ Krüger-Potratz 2010, S.-87). Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die in vielen Minderheitengruppen beobachtete alltägliche Zweisprachigkeit generell als schädlich erachtet und das Aufwachsen mit nur einer Sprache absolut gesetzt. Wie negativ das Aufwachsen in zwei Sprachen in der pädagogischen Ideologie betrachtet wurde, zeigt ein Beitrag aus dem „Encyklopädischen Handbuch der Pädagogik“ von 1910, der die Nachteile der Zweisprachigkeit dramatisch schildert. 13 Dort heißt es, Zweisprachigkeit bedeute einen „große[n] Aufwand von Zeit und Kraft auf Kosten andrer Arbeit, Schwächung des Sprachgefühls durch gegenseitige Beeinflussung der beiden Sprachen, Unsicherheit des Ausdrucks, Sprachmengerei, Armut des lebendigen Wortschatzes, Lockerung der geistigen Gemeinschaft mit den Einsprachigen, d. h. mit der großen Mehrzahl der Volksgenossen“. Der Zweisprachige leide an Selbstüberschätzung, spiele zwei Rollen und lebe ein Doppelleben. Bei ihm seien das Heimatgefühl, die Vaterlandsliebe und die Freude am „angestammten Volkstum“ geschwächt, er „verhalte sich neutral gegen das, was andern ein hohes sittliches Gut“ bedeutet; durch die Zweisprachigkeit würde der Boden „internationale(r) Gesinnungslosigkeit“ bereitet. Der Beitrag ist eine eindeutige Warnung vor der kognitiven, charakterlichen und ideologischen Schädigung durch ein Aufwachsen mit zwei Sprachen. Das Erlernen einer zweiten Sprache hält der Autor nur dann für weniger schädlich, wenn es spät geschehe, „nach einem gewissen Abschluss der Schulbildung“, also etwa nach dem 15. Lebensjahr. Der zitierte Beitrag belegt eindrucksvoll die in der deutschen Pädagogik tief verankerte Ideologie der Einsprachigkeit und die Angst vor Mehrsprachigkeit, die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fortwirkten. Ein ebenfalls eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Beitrag von Leo Weisgerber, eines einflussreichen Sprachwissenschaftlers und Deutschdidaktikers der Nachkriegszeit, 14 der 1966 in der von ihm gegründeten Zeitschrift „Wirkendes Wort“ schrieb: 13 Der Beitrag stammt von Edward Blocher, einem in seiner Zeit einflussreichen Pädagogen, zit. nach Gogolin/ Krüger-Potratz, a. a. O., S.-88ff. 14 Weisgerber, geboren 1899, war Sprachwissenschaftler und Begründer der „Inhaltsbezogenen Grammatik“. Von 1926 bis 1927 war er Dozent für Deutschunterricht und Volkskunde an der Pädagogischen Akademie in Bonn. Weisgerbers Thesen über die Bedeutung der Muttersprache für eine Sprachgemeinschaft waren in den 50er und 60er Jahren weit verbreitet und er hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des Sprachunterrichts im Fach Deutsch. Keim_sV-264End.indd 5 10.02.12 16: 57 6 Einleitung und Überblick „Für die große Menge [der Menschen] behält es Geltung, dass der Mensch im Grunde einsprachig ist. (…) Vor allem aber gehen corruption du language und corruption des moeurs Hand in Hand (…). Das geht von der Störung der geistigen Entfaltung zu einer Einbuße der Geistesschärfe selbst; geistige Mittelmäßigkeit ist die Folge, erschwert dadurch, dass zugleich die Kräfte des Charakters leiden: man lässt sich gehen, unscharfer, grober, fahrlässiger Sprachgebrauch, das ist gleichbedeutend mit wachsender Trägheit des Geistes und sich lockernder Selbstzucht, einem Abgewöhnen des Drängens nach sprachlicher Vervollkommnung. Die Trübung des sprachlichen Gewissens führt nur zu leicht zum Erschlaffen des Gewissens insgesamt“. (Wirkendes Wort, 1966, Nr. 2, S.-73) Die Ähnlichkeiten der beiden Textzitate sind verblüffend; in beiden wird die Einsprachigkeit als Normalfall dargestellt, als unbedenklich für die Gesundheit und (vor allem im ersten Text) als politisch erwünscht, Zweisprachigkeit dagegen als in hohem Maße schädlich für die kognitive und charakterliche Entwicklung eines Menschen. Die negative Bewertung von Zweisprachigkeit und die Verknüpfung von kognitiven und charakterlichen Schädigungen infolge von Zweisprachigkeit finden sich auch heute noch in Diskussionen in Bildung und Öffentlichkeit (allerdings in anderer Diktion). Nach Lüdi (1996a) gründet die Angst vor Mehrsprachigkeit in tief verwurzelten Traditionen des westlichen Denkens: im christlichen Mythos vom Turmbau zu Babel; in der mit der Bildung europäischer Nationalstaaten verbundenen Idee „eine Nation eine Sprache“; in der hohen Bedeutung der „Muttersprache“ und der Vorstellung, dass bei Mehrsprachigkeit Semilingualismus (doppelte Halbsprachigkeit) entstehen könne. Diese Denktraditionen führten auch dazu, dass bis vor einigen Jahren in der Schule eine Zweitsprache erst dann eingeführt wurde (ab Sekundarstufe I), wenn die „Muttersprache“ als Basis gesichert war. Auf dieses ideologische Klima, das in Deutschland in Bezug auf Mehrsprachigkeit herrschte und z. T. auch heute noch herrscht, trafen ab Mitte der 1950er Jahre die Familien der Arbeitsmigranten aus den südeuropäischen Anwerbeländern. Ihre Kinder waren in Deutschland schulpflichtig, und die Schulen mussten innerhalb kürzester Zeit auf die neue Situation reagieren. Dass die Eingliederung von Migrantenkindern in das deutsche Schulsystem in weiten Bereichen gescheitert ist, zeigen die international vergleichenden Studien (PISA- und IGLU-Studien), die seit 2001 veröffentlicht werden. Erst nach dem sogenannten „PISA-Schock“ findet in Bildung, Politik und Öffentlichkeit allmählich ein Umdenken statt, das bisher jedoch meist nur lokal begrenzte Auswirkungen auf den schulischen Alltag hat. Ziel, Aufbau und Adressaten des Buches Das vorliegende Buch hat Mehrsprachigkeit und Migration zum Thema. Es geht um die Migration aus der Türkei, die Anfang der 60er des letzten Jahrhunderts als Arbeitsmigration begann, und dazu führte, dass türkischstämmige Zuwan- Keim_sV-264End.indd 6 10.02.12 16: 57 Einleitung und Überblick 7 derer derzeit die größte Minderheitengruppe in Deutschland bilden. Und es geht um die politischen, sozialen und sprachlichen Konsequenzen der Migration in Bezug auf das Einwanderungsland Deutschland und die Zuwanderer selbst. Ziel des Buches Ziel des Buches ist es, einen Einblick in das Leben der türkischstämmigen Bevölkerung zu geben und in die Vielgestaltigkeit sozial-kultureller und sprachlicher Ausdrucksformen. Es beginnt mit der ersten Generation, ihren Erfahrungen und den Sprachformen, die sie unter den spezifischen Lebens- und Arbeitbedingungen ausgebildet haben. Im Zentrum des Buches stehen die zweite und dritte Generation, die Kinder und Enkel der ehemaligen „Gastarbeiter“. Das Buch ist ein Plädoyer für die Anerkennung und Wertschätzung ihrer mehrsprachigen Fähigkeiten und es zeigt ihre hohe sprachliche Flexibilität und Ausdruckskraft. Es zeigt aber gleichzeitig, dass die im Alltag erfolgreichen Sprachpraktiken, die im Bereich des Mündlichen liegen, in den Bildungsinstitutionen nicht oder nur am Rande gebraucht werden. Um die Anforderungen dort erfüllen zu können, sind schriftsprachliche Fähigkeiten und Textkompetenz unerlässlich, über die die Kinder oft nur unzureichend verfügen. Das Buch basiert auf langjährigen soziolinguistischen Forschungsarbeiten im Kontext der Migration, die ich am Institut für Deutsche Sprache zusammen mit Sema Aslan, Necmiye Ceylan, Ibrahim Cindark, Emran Sirim und Werner Kallmeyer in Mannheim durchgeführt habe. 15 Die angeführten Beispiele stammen aus unseren Forschungsarbeiten. Es handelt sich um Gesprächsmaterial, das aus biografischen Interviews, aus Gruppengesprächen, aus Familiengesprächen und aus Aufzeichnungen in Kindertagesstätten, in Grund- und Sekundarschulen stammt. Die einzelnen Kapitel sind ähnlich aufgebaut. Sie enthalten einen kurzen Forschungsüberblick und Exkurse mit Begriffsklärungen und Forschungsdiskussionen. Im Zentrum der Kapitel stehen Befunde aus unseren Forschungsarbeiten, die an authentischen Gesprächsausschnitten belegt werden. Da gesprochene Sprache nach besonderen Konventionen verschriftlicht wird (vgl. Anhang), gebe ich einige Hinweise, die das Lesen der Gesprächsbeispiele erleichtern. Um den Unterschied zur geschriebenen Sprache zu verdeutlichen, wird das Gesprochene durch Kleinbuchstaben wiedergegeben, und zwar so, wie 15 Ziel unserer Arbeiten war es, die sprachlichen Repertoires und kommunikativen Stile von türkischstämmigen Migrantengruppen der 2. und 3. Generation zu beschreiben, Unterschiede herauszuarbeiten und sie zu dem sozial-kulturellen Selbstbild in Beziehung zu setzten, das die Gruppen in Auseinandersetzung mit der Migrantengemeinschaft und der Aufnahmegesellschaft entwickelt haben. Die Untersuchungen sind abgeschlossen; zu den Publikationen vgl. www.ids-mannheim.de/ prag/ soziostilistik/ tuerkisch. Keim_sV-264End.indd 7 10.02.12 16: 57 8 Einleitung und Überblick der Sprecher gesprochen hat. Pausen, Abbrüche, Verzögerungspartikel wie ehm etc. werden markiert, ebenso wie lauteres, leiseres, langsameres oder schnelleres Sprechen. Dialektale Besonderheiten werden wiedergegeben, z. B. ich als isch, kein als kä verschriftlicht, wenn der Sprecher es so ausgesprochen hat. Verschleifungen, die charakteristisch für gesprochene Sprache sind, werden durch das Zeichen = verdeutlicht, z. B. sa=ma für sag mal oder ham=ma für haben wir. Endsilbenabschwächung wird durch Auslassung des unbetonten / e/ markiert, wie in gebn, nehmn oder den leutn. Um die Gesprächsstruktur abzubilden, werden die Beiträge der Sprecher in Partiturschreibweise angeordnet, also z. B.: AA: ich kann heut net kommn ok * in ordnung BB: ich au=net * abba morgen Das Beispiel ist folgendermaßen zu lesen: Zuerst sagt Sprecher AA ich kann heut net kommn, darauf folgt Sprecher BB mit ich au=net * abba morgen und darauf reagiert Sprecher AA mit ok * in ordnung. Wenn Sprecher zur gleichen Zeit sprechen, wird das folgendermaßen abgebildet: AA: ich kann heut net kommn |ja ok | BB: ich au=net * <geht=s morgen |besser >| Die über einander geschriebenen und durch | geklammerten Segmente werden simultan gesprochen. Der Pfeil bedeutet steigende, der Pfeil fallende Stimmführung; lauteres Sprechen wird durch <…> angezeigt. Weitere Details zur Verschriftlichung gibt es im Anhang. Aufbau und Adressaten des Buches Das Buch stellt vor allem die Perspektive von MigrantInnen dar, sie kommen zu Wort, beschreiben ihre Erfahrungen, zeigen ihr sprachliches Können und machen deutlich, wo sie Unterstützung brauchen. Kapitel 1 beginnt mit einer Einführung in die Besonderheiten von Mehrsprachigkeit unter Migrationsbedingungen und führt Stellungnahmen aus der öffentlichen Diskussion in Deutschland an, die zeigen, dass immer noch ähnliche Positionen vorherrschen, wie ich sie oben (Abschnitt 1) angeführt habe. Dann folgt ein Überblick über einige Befunde aus der Mehrsprachigkeitsforschung, die als Grundlage für das in den Folgekapiteln Dargestellte dienen. Den Abschluss bildet eine kritische Diskussion der so genannten „Interdependenz-Hypothese“, die einen inneren Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitspracherwerb in dem Sinne behauptet, dass eine bestimmte „Schwelle“ in der Erstsprache überwunden sein muss, bevor eine zweite Sprache gelernt werden kann. Kapitel 2 widmet sich der türkischen Migration in Deutschland, ihrer Geschichte und Gegenwart. Nach einem Überblick über die ethnische Zusam- Keim_sV-264End.indd 8 10.02.12 16: 57 Einleitung und Überblick 9 mensetzung der Zuwanderer aus der Türkei erfolgt die Darstellung ihrer gegenwärtigen sozialen Situation. Dann wird die Veränderung im Selbstverständnis der Zuwanderer beschrieben, die im Laufe von 50 Jahren in Kunst, Literatur, Film und öffentlichen Selbstdarstellungen sichtbar wird. Eine Diskussion über den Begriff „Integration“ aus gesellschaftspolitischer und wissenschaftlicher Perspektive schließt die Darstellung ab. In Kapitel 3 liegt der Fokus auf der jungen Generation, den Kindern und Enkeln der ehemaligen „Gastarbeiter“. Beschrieben wird ihr Leben in ethnischen Gemeinschaften mit den Werten und Normen, an denen sich die Familien orientieren, und ihre Bildungssituation. Dabei kommen vor allem die strukturellen Voraussetzungen der Schulen in den Blick und die oft von Stereotypen und Vorurteilen geprägten Einstellungen von Lehrkräften und Migranteneltern, die die Erfahrungen der Kinder prägen und ihre Leistungen beeinflussen. Im Zentrum der Kapitel 4-8 stehen die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten und Praktiken, die verschiedene Migrantengruppen unter den in Kapitel 1-3 beschriebenen sozialen Bedingungen ausgebildet haben. Kapitel 4 behandelt das Deutsch der ersten Generation, das sogenannte „Gastarbeiterdeutsch“, und diskutiert die Ansätze, die es zu erklären versuchen. Angehörige der ersten Generation kommen zu Wort und sprechen über ihr Leben in der Migration. Ihr Deutsch lässt sich in direkten Bezug zu ihren Erfahrungen in Deutschland bringen; es ist ein Spiegelbild ihres Lebens in der Migration. In Kapitel 5 und 6 stehen die sprachlichen und kommunikativen Praktiken der zweiten und dritten Migrantengeneration im Zentrum. Anhand vieler Gesprächsbeispiele zeige ich, wie selbstverständlich die Jugendlichen mit mehreren Sprachen und Varietäten umgehen, wie strukturiert sie diese verknüpfen, zu welchen Zwecken sie welche Form wählen und mit welchen Bedeutungen sie diese verbinden. Beide Kapitel zeigen die Kreativität und Virtuosität der Jugendlichen im Gebrauch der vielen Sprachformen, die ihre Lebenswelt bietet. In Kapitel 5 wird das deutschsprachige Repertoire dargestellt, das umgangssprachliche, dialektale, jugendsprachliche und ethnolektale Formen umfasst. Im Repertoire der Jugendlichen ist Ethnolekt eine Varietät, die sie zu rhetorischen Zwecken verwenden oder zum Ausdruck sozialer Identität. In Kapitel 6 geht es um den virtuosen Umgang mit Deutsch und Türkisch. Sprachwechsel und Sprachmischungen beginnen bereits im Kindergarten und stabilisieren sich in der Schulzeit. Auf der Basis von Gesprächsausschnitten zeige ich, dass für die Jugendlichen deutsch-türkische Mischungen normales Kommunikationsmittel sind, und dass sie bestimmte Wechselmuster für Erzählungen und Auseinandersetzungen ausgebildet haben. Außerdem sind deutsch-türkische Mischungen Symbol für ihre sozial-kulturelle Identität als „weder Deutsch noch Türkisch“. Was die Gesprächsbeispiele darüber hinaus zeigen ist, dass die Jugendlichen auch Umgangsdeutsch bzw. Standarddeutsch sprechen. In Kapitel 7 und 8 erfolgt ein Wechsel der analytischen Perspektive hin zu Prozessen des Erwerbs von Deutschkompetenzen und ihrer Relation zu stan- Keim_sV-264End.indd 9 10.02.12 16: 57 10 Einleitung und Überblick dardsprachlichen und schriftsprachlichen Anforderungen in den Bildungsinstitutionen. Kapitel 7 zeigt, wie Kita-Kinder mit Mehrsprachigkeit umgehen, wie sie sich in multilingualen Kindergruppen verständigen und wann Verständigung scheitert. Das unter den gegebenen Bedingungen der Kita erworbene Deutsch reicht nicht aus, um die Anforderungen in der Grundschule zu erfüllen. Mithilfe sprachlicher Förderung kann es jedoch gelingen, dass die Kinder nach relativ kurzer Zeit wesentliche grammatische Strukturen des Deutschen beherrschen; sie spielen, frotzeln und erzählen in Deutsch. Kapitel 8 thematisiert den Erwerb von Schriftsprachlichkeit, zeigt die Unterschiede zwischen Alltags- und Schriftsprache, und stellt auf der Basis einer mündlichen Erzählung und ihrer schrittweisen Umsetzung in Schriftsprache den Weg zu ihrem Erwerb dar. Die Analyse des Umsetzungsprozesses zeigt, welche Anstrengungen dazu notwendig sind; und sie macht deutlich, dass Migrantenkinder den Weg zur Schriftsprachlichkeit nicht ohne kompetente Unterstützung schaffen können. Das Buch richtet sich an KollegInnen, Studierende und Lehrende in Bildungseinrichtungen und an alle, die an Fragen von Migration und Integration interessiert sind und etwas über die Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten von Migranten erfahren wollen. Es richtet sich vor allem an diejenigen, die fähig und bereit sind, sich jenseits von gängigen Stereotypen und Vorurteilen auf die Situation von Migranten einzulassen, ihre Leistungen wertzuschätzen und ihnen dort beizustehen, wo sie Unterstützung brauchen. Ich danke Sema Aslan, Necmiye Ceylan, Ibrahim Cindark und Emran Sirim, ohne deren sprachliche und kulturelle Kompetenz mir vieles unzugänglich geblieben wäre; und ich danke ihnen für die gemischtsprachlichen Transkriptionen. Der Redaktion des Narr Verlags, besonders Bernd Villhauer, danke ich für die Unterstützung bei der Endredaktion des Manuskripts. Mannheim, Januar 2012 Keim_sV-264End.indd 10 10.02.12 16: 57 Kapitel 1 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der Migration 1.1 Zwei- und Mehrsprachigkeit in Bildung und Öffentlichkeit Seit Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts gibt es in Deutschland Diskussionen zu Schul- und Sprachproblemen von Migrantenkindern und Jugendlichen. In Schule und Öffentlichkeit, in offiziellen Verlautbarungen von Schulleitungen und von Bildungspolitikern, wird immer wieder über die mangelnden Deutschfähigkeiten der Kinder geklagt und dabei ist auch zu hören, dass viele Kinder eine sogenannte „doppelte Halbsprachigkeit“ entwickelt hätten, also weder die „Muttersprache“ noch Deutsch „richtig“ sprechen könnten. Diese Einschätzung wird vor allem bei der Schilderung von Problemen in sogenannten „Brennpunktschulen“ angeführt, aber auch in Äußerungen von „Experten“, die auf die gegenwärtige Veränderung der deutschen Standardsprache hinweisen. In einem Spiegel-Artikel vom Januar 2006 wird die Rektorin einer Realschule in Berlin-Wedding zitiert, 1 die von der „doppelten Halbsprachigkeit“ ihrer türkischen, arabischen, russischen und albanischen Schüler berichtet, die die Erstsprache einigermaßen, Deutsch aber nur wenig könnten. Deshalb habe das Lehrerkollegium beschlossen, dass in der Schule nur Deutsch gesprochen werden darf, um die Deutschkompetenz zu erhöhen. In einem Artikel der ZEIT vom Juni 2007 wird von einer Brennpunkt- Grundschule in Berlin-Wedding berichtet, die erfolgreichen Unterricht macht, obwohl die Schülerschaft aus einer „ethnisch eingefärbten Unterschicht von Bildungsverlierern“ besteht. 2 Die Sprachfähigkeiten der Schüler charakterisiert die Rektorin folgendermaßen: „Unsere Kinder kommen an die Schule mit einer doppelten Halbsprachigkeit. Die können weder genug Türkisch oder Arabisch oder Deutsch“. Durch intensive Förderung in Deutsch mithilfe von Theaterprojekten sei es gelungen, die Sprachdefizite in Deutsch ausgleichen. Auch einige Sprachwissenschaftler sprechen über die doppelte Halbsprachigkeit von Zuwandererkindern. In einem Artikel in der ZEIT von 2006, in 1 Vgl. den Artikel von Ralf Hoppe „Deutsch gut bei Pause“ 30.01.2006, Spiegel-online, http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-45624797.html, Stand November 2011. 2 Vgl. den Artikel von Jörg Lau, „Die neuen Klassenunterschiede“ vom 03.02.2007, Zeitonline, http: / / www.zeit.de/ 2007/ 06/ Schule-Berlin, Stand November 2011. Keim_sV-264End.indd 11 10.02.12 16: 57 12 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration dem der Sprachwissenschaftler Uwe Hinrichs die massiven Veränderungen im gegenwärtigen Deutsch hervorhebt, heißt es: „Die wesentliche Triebkraft für die rapide Abschleifung der grammatischen Formen sieht Hinrichs - neben dem Einfluss des Englischen - in den vielfältigen Sprachmischungen, die das Einwandererland Deutschland prägen. Viele Einwanderer springen zwischen einem nur bruchstückhaft gelernten Deutsch und ihrer türkischen, arabischen oder russischen Muttersprache hin und her.“ Und in demselben Artikel wird der Bamberger Germanist Helmut Glück zitiert, der „die doppelte Halbsprachigkeit von Jugendlichen aus Migrantenfamilien, die weder Deutsch noch die Sprache ihrer Eltern richtig beherrschen“ als ernstes Problem bezeichnet. Interessant ist, dass die Vorstellung von „doppelter Halbsprachigkeit“ auch bei Prominenten mit türkischem Migrationshintergrund verbreitet ist. In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom Juli 2009 spricht das Vorstandsmitglied eines deutsch-türkischen Unternehmerverbandes über die Azubis in seinem Betrieb: 3 „Es gibt oft das Problem einer doppelten Halbsprachigkeit. Gemeint ist: schlechtes Deutsch und schlechtes Türkisch.“ Auch türkischstämmige Politiker sprechen von „doppelter Halbsprachigkeit“. In einer Pressemitteilung zum Internationalen Tag der Muttersprache am 21. Februar 2010 geben Bilkay Öney, die Baden-Württembergische Ministerin für Integration, und Özcan Mutlu, der bildungspolitische Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, folgende Erklärung ab: 4 „Immer mehr MigrantInnenkinder haben das Problem der ‚doppelten Halbsprachigkeit‘. Diese Entwicklung ist dramatisch. Die Kinder können sich weder in der Muttersprache, noch in der hiesigen Landessprache artikulieren. Zum Lernen der Landessprache brauchen die Kinder eine Sprache, auf der sie aufbauen können. Hier spielt die Muttersprache eine große Rolle.“ Und in dem Internet Forum für Lehrende findet sich ein Artikel von Prof. Ali Ucar, 5 der die „doppelte Halbsprachigkeit“ von Migrantenkindern beklagt und Sprachmischungen als Ausdruck dafür betrachtet: „Doppelte Halbsprachigkeit ist eine sehr verbreitete Sprachauffälligkeit bei Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache.“ Wesentliche Ursache dafür sei ein „Bruch im Erwerb der Muttersprache“, der sich in der Entwicklung beider Sprachen auswirke. Die Schüler seien sprachgehemmt und „meist nicht in der Lage, zeitliche Abläufe und Sinnzusammenhänge richtig wiederzugeben. Die doppelte Halbsprachigkeit ist 3 Vgl. den Artikel „Schule und Integration. Die Muttersprache ist ein Schatz“ vom 27.07.2009, SZ-online, http: / / www.sueddeutsche.de/ karriere/ schule-und-integration-kreuzberger-dialoge-1.159763-2. 4 Vgl. die Pressemitteilung „Doppelte Halbsprachigkeit bei MigrantInnenkindern aufhalten“, unter http: / / www.mutlu.de/ presse/ 2391009.html, Stand November 2011. 5 Vgl. den Artikel von Ali Ucar „Der Zweitspracherwerb als Bereicherung oder Überforderung? “, in Lehrer-info.net, von 25. November 2011, http: / / www.lehrer-info.net/ kompetenz-portal.php/ cat/ 14/ aid/ 125/ title/ Sprachliche_Entwicklung_von_deutschen_und_nichtdeutschen_Schulanfaengern, Stand November 2011. Keim_sV-264End.indd 12 10.02.12 16: 57 Zwei- und Mehrsprachigkeit in Bildung und Öffentlichkeit 13 vor allem durch eine fehlende Trennungsfähigkeit gekennzeichnet. Die Kinder mischen die beiden Sprachen.“ Diese wenigen Beispiele aus Bildungsinstitutionen, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zeigen die weite Verbreitung des Konzepts „doppelte Halbsprachigkeit“ und die Gewissheit, mit der es geäußert und als „common sense“ in Argumentationen unterstellt wird. Das Konzept hat eine zweifelhafte historische Tradition, basiert auf einem ideologischen Konzept von Einsprachigkeit und ist empirisch nicht überprüfbar. Was bedeutet „doppelte Halbsprachigkeit“? Von zwei Sprachen je die Hälfte? Und welche Hälfte? Um eine Hälfte zu bestimmen, müsste man das Ganze bestimmen können. Aber wie will man das Ganze einer Sprache messen, anhand welcher Kriterien? Und was gilt als Vergleichsstandard, wenn man „Sprachbeherrschung“ messen will? Wären z. B. Millionen deutsche „Muttersprachler“, die täglich die Bildzeitung lesen, ein möglicher Maßstab? Oder doch lieber ein Universitätsprofessor, der ein großes Wissen und einen reichen (Fach)Wortschatz hat und komplexe Texte verfassen kann? Keiner käme auf die Idee, Bildzeitungsleser nicht als „Deutschsprecher“ anzuerkennen, obwohl sie sprachlich komplexe und inhaltlich anspruchsvolle Texte ganz offensichtlich meiden. Und keiner käme auf die Idee, das Sprachwissen hoch gebildeter Personen als Maßstab für die gesamte Bevölkerung zu wählen. Allein diese wenigen Überlegungen zeigen die Unbrauchbarkeit des Konzepts „doppelte Halbsprachigkeit“, wenn über den Sprachgebrauch von Bilingualen gesprochen und geurteilt wird. Aus der Perspektive von Mehrsprachigkeitsforschern ist Mehrsprachigkeit weltweit die Regel und Einsprachigkeit die Ausnahme. Die meisten Menschen leben in sozialen Welten, in denen mehr als eine Sprache gesprochen wird. Mehrsprachigkeit bedeutet jedoch keineswegs das gleichwertige Nebeneinander von zwei oder mehr Sprachen in einer Person, also keine doppelte Einsprachigkeit. Mehrsprachige Personen bestehen also nicht aus zwei oder mehreren Einsprachigen, sondern bei ihnen ist meist eine Sprache dominant, die andere(n) untergeordnet. Welche Sprache dominant ist, kann sich im Laufe des Lebens eines Mehrsprachigen mehrfach ändern; das hängt von sozialen und beruflichen Anforderungen ebenso wie von motivationalen und emotionalen Faktoren ab. Im Alltag mehrsprachiger Menschen hängt die Verwendung der einen oder anderen Sprache von vielen Faktoren ab, von der sozialen Situation, den Gesprächspartnern und der Beziehung zwischen ihnen, dem beruflichen bzw. fachlichen Kontext oder dem verwendeten Medium (gesprochen oder geschrieben). Kinder und Jugendliche sprechen untereinander anders als gegenüber Erwachsenen oder im Unterricht. Erwachsene verwenden verschiedene Sprachformen, je nachdem ob sie eine Liebeserklärung machen, ein Streitgespräch führen, einen Vortrag halten oder mit einem Behördenangestellten sprechen. Die sprachliche Vielfalt, die bei einheimischen Sprechern als selbstverständlich gilt, wird Migrantenkindern und Jugendlichen meist nicht zugebilligt. Dass viele von ihnen Umgangs- und Standarddeutsch sprechen, wird kaum regist- Keim_sV-264End.indd 13 10.02.12 16: 57 14 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration riert; es fallen nur die Formen auf, die bei Einheimischen nicht vorkommen: Sprachmischungen und ethnisch geprägtes Deutsch. Da sie „anders“ sind, werden sie als defizitär bewertet und durch Konzepte wie „doppelte Halbsprachigkeit“ zu erklären versucht. Aus dieser Perspektive erscheint eine im Kontext der Migration entstandene Mehrsprachigkeit als Belastung und Überforderung der Kinder und als Hindernis auf dem Weg in die Aufnahmegesellschaft. Seit Jahren wird von Seiten der Wissenschaft, der Mehrsprachigkeitsforschung, der Spracherwerbsforschung und der Soziolinguistik versucht, gegen solche Vorstellungen in Vorträgen, Interviews, Veröffentlichungen und bei der Präsentation von Modellprojekten vorzugehen. Eine Tagung an der Universität Mannheim 2006 z. B. widmete sich dem Thema Mehrsprachigkeit, und vom Forschungszentrum für Mehrsprachigkeit in Mannheim werden seit Jahren Sprachförderprojekte im Vor- und Grundschulalter und in der Sekundarstufe I mit Erfolg durchgeführt. 6 In Hamburg gibt es seit 2004 das Modellprogramm der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung FÖRMIG mit dem Ziel, Migrantenkindern und -jugendlichen eine bessere sprachliche Förderung zu bieten. 7 Seit einiger Zeit gibt es an der Universität Potsdam das „Zentrum für Sprache, Variation und Migration“, das Sprache und Sprachvariation im Kontext von Migration interdisziplinär erforscht und sich für die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse an die Praxis engagiert. Die vielen Aktivitäten von wissenschaftlicher Seite haben in Bildungsinstitutionen einiges bewirkt und es gibt in einzelnen Gemeinden und Schulen Fortschritte. Doch nach wie vor halten sich in öffentlichen Diskussionen, auch auf Seiten der Bildungspolitiker, vorurteilsbehaftete Einstellungen und Überzeugungen, die einer angemessenen Beurteilung der sprachlichen Fähigkeiten von Migrantenkindern im Wege stehen. Zu diesen festen Überzeugungen gehören: 8 • Kinder müssen zuerst die „Muttersprache“ beherrschen, bevor sie eine zweite Sprache lernen; • ein „Muttersprachler“ spricht seine Sprache „perfekt“; • man ist nur dann wirklich mehrsprachig, wenn man alle Sprachen gleichermaßen beherrscht; • Mischungen sind Anzeichen für einen defizitären Spracherwerb; • eine gesunde Identitätsentwicklung ist an eine einzige Sprache gebunden. Auf der Basis neuerer Forschungen bezeichnen Keim/ Tracy (2007) solche Einstellungen als „Fiktion“ und „Missverständnis“ und betonen, dass Kinder von Beginn an mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen können, ohne dabei überfordert zu sein. Und sie plädieren für einen grundlegenden Perspektivenwechsel 6 Zu den Angeboten und Aktivitäten des Zentrums vgl. http: / / www.mazem.de. 7 Zu Anlage und Ergebnissen des Modellprojekts vgl. http: / / www.hamburg.de/ contentblob/ 2512362/ data/ foermig-expertise-handreichung.pdf, 2010 herausgegeben. 8 Vgl. dazu Keim/ Tracy (2007), S.-136ff. Keim_sV-264End.indd 14 10.02.12 16: 57 Zwei- und Mehrsprachigkeit: Blick in die Forschung 15 in der Beurteilung der Zwei- und Mehrsprachigkeit „weg von der Defizitorientierung und hin zur Würdigung dessen, was die Kinder unter den gegebenen Lern- und Lebensbedingungen bereits erreicht haben“ (S.-140). Eine Stellungnahme der Potsdamer WissenschaftlerInnen führt ähnliche Argumente gegen die genannten Vorurteile an: 9 • Mehrsprachige Kinder verhalten sich nicht wie „doppelt einsprachige“ Kinder. Sie haben ein besonderes Sprachprofil, bei dem die beiden Sprachen unterschiedliche Spezialisierungen haben können. • Sie zeigen oft einen innovativen Umgang mit Sprache, z. B. durch Sprachspiele, den Wechsel von einer Sprache in die andere und lexikalische oder grammatische Neuerungen. • Die mehrsprachige Situation macht Kinder kommunikativ versierter und flexibler und kann ihnen das Lernen von weiteren Sprachen erleichtern. Grammatische Eigenheiten von Dialekten, Jugendsprachen oder von ethnisch geprägtem Deutsch werden oft als „Fehler“ bewertet, da sie von der Standardsprache abweichen. Standarddeutsch ist aber nur eine von vielen Formen des Deutschen. Es hat ein besonderes soziales Prestige, ist aber grammatisch nicht „besser“ als Dialekte oder Gruppensprachen. 10 Wenn Migrantenkinder Deutsch (noch) nicht in der Standardform sprechen, bedeutet das nicht, dass sie „halbsprachig“ sind, sondern nur, dass sie in der Standardsprache nicht genügend gefördert wurden. 1.2 Zwei- und Mehrsprachigkeit: Blick in die Forschung Gesellschaften werden als mehrsprachig bezeichnet, wenn mehrere Sprachen oder Varietäten auf demselben Territorium gesprochen werden. „Varietät“ ist der linguistische Fachbegriff für reale Vorkommen unterschiedlicher Formen einer Sprache, die nach historischen, regionalen (Dialekte), sozialen und ethnischen (Soziolekte, Ethnolekte), funktionalen (Fachsprachen) und altersgebundenen (z. B. Jugendgruppensprachen) Varietäten differenziert wird. Mehrsprachige Gesellschaften sind durch politische Umbrüche, durch Kriege und Grenzverschiebungen, durch starkes Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum und durch Binnenwanderungen entstanden, z. B. in Indien, China, Zentral- 9 Zum Folgenden vgl. den Artikel „Die sogenannte „Doppelte Halbsprachigkeit“: eine sprachwissenschaftliche Stellungnahme, verfasst von Schröder, Wiese, Zimmermann, Krifka, Gabriel, Gogolin, Klein, Comrie, Tomasello, vgl. http: / / www.uni-potsdam.de/ fileadmin/ projects/ svm/ pdf/ DoppelteHalbsprachigkeit_Stellungnahme.pdf (Stand, November 2011). 10 Das Land Baden-Württemberg z. B., in dem badische und schwäbische Dialekte weit verbreitet und geschätzt sind, wirbt damit, dass die Einheimischen „alles außer Hochdeutsch“ können. Keim_sV-264End.indd 15 10.02.12 16: 57 16 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration asien, Afrika, Südamerika und Europa. Von einer mehrsprachigen Gesellschaft spricht man auch, wenn auf einem Territorium verschiedene Dialekte und fachspezifische Sprachen gesprochen werden. Fasst man Mehrsprachigkeit so weit, wie die Linguistik das tut, sind fast alle Gesellschaften mehrsprachig; dann ist Mehrsprachigkeit der Normalfall und Einsprachigkeit die Ausnahme. Lüdi z. B. (1996a, S.- 234) sieht Einsprachigkeit als einen „kulturbedingten Grenzfall von Mehrsprachigkeit“, und aus seiner Perspektive ist die Mehrheit der Menschen mehrsprachig oder lebt zumindest in mehrsprachigen Gesellschaften. In der Linguistik unterscheidet man verschiedene Typen von „Mehrsprachigkeit“. Individuelle Mehrsprachigkeit bezieht sich auf Menschen, die mehr als eine Sprache oder eine Varietät sprechen. Von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit spricht man, wenn auf einem Territorium mehrere Sprachen oder Varietäten gesprochen werden, die regional verteilt sein können z. B. Dialekte neben der Standardsprache oder eine Sprache in einem Landesteil, die andere in einem anderen, wie z. B. in Kanada oder der Schweiz. Es können aber auch Minderheitensprachen neben der nationalen Standardsprache existieren wie in vielen europäischen Ländern, oder mehrere Sprachen werden gleichberechtigt gesprochen, wie z. B. in Brüssel die Sprachen Französisch und Niederländisch. Von institutioneller Mehrsprachigkeit spricht man, wenn in einem Bezirk oder einer Organisation die Dienste in mehreren Sprachen angeboten werden, wie z. B. in den EU-Institutionen. 1.2.1 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit In Bezug auf die in diesem Buch dargestellten Zusammenhänge ist vor allem die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit von Interesse. In der Forschung werden folgende Typen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit unterschieden: a) Mehrsprachige Staaten mit Territorialprinzip: Das sind Staaten, in denen in verschiedenen Landesteilen jeweils eine Sprache gesprochen wird, wie in der Schweiz oder in Belgien. In der Schweiz gibt es die deutschsprachigen, französisch- und italienischsprachigen Landesteile, außerdem wird Rätoromanisch im Schweitzer Kanton Graubünden gesprochen. 11 Territoriale Mehrsprachigkeit erfordert nicht unbedingt die Mehrsprachigkeit der Menschen, die in dem jeweiligen Landesteil leben. So müssen z. B. die Deutschschweizer nicht unbedingt auch Französisch und Italienisch können, wenn sie in der Deutschschweiz leben und arbeiten. 11 Das im Schweizer Kanton Graubünden gesprochene Rätoromanisch wird auch als Bündnerromanisch bezeichnet und gehört zusammen mit dem Dolomitenladinischen (Norditalien) und dem Friaulischen (Nordostitalien) zu den rätoromanischen Sprachen, einer Untergruppe des Romanischen. Keim_sV-264End.indd 16 10.02.12 16: 57 Zwei- und Mehrsprachigkeit: Blick in die Forschung 17 b) Mehrsprachige Staaten mit individueller Mehrsprachigkeit: In vielen mehrsprachigen Gesellschaften der Welt sind die Sprachen nicht auf bestimmte Territorien verteilt, sondern werden je nach Situation verwendet. Das ist in vielen afrikanischen Staaten der Fall, deren Grenzen von den Kolonialmächten gezogen wurden. Dort werden auf einem Territorium mehrere Sprachen gesprochen, und die meisten Menschen sprechen mehrere Sprachen, wobei die Sprache der eigenen Ethnie (Volksgruppe) oft die Hauptsprache ist. c) Einsprachige Staaten mit Minderheitsregionen: In den meisten europäischen Ländern gibt es eine offizielle Sprache, die Landessprache, wie beispielsweise Französisch, Schwedisch oder Deutsch. In diesen Staaten leben aber auch anderssprachige Minderheiten, die aufgrund historischer Gegebenheiten schon lange auf dem Staatsgebiet leben, sogenannte autochthone Gruppen. Seit 1998 gibt es für solche Minderheiten und ihre Sprachen völkerrechtlichen Schutz durch die „Charta der Regional- und Minderheitensprachen“; das bedeutet, dass sie schulisch und kulturell gefördert werden. In Deutschland gibt es die folgenden anerkannten Minderheitensprachen: Sorbisch, Dänisch, Friesisch, Niederdeutsch und Romanes. 12 d) Städtische Migrantengruppen: Die Sprachen der Migranten, die im Zuge der Arbeitsmigration in westeuropäische Staaten zugewandert sind, werden nicht durch die europäische Charta erfasst. Ihr Schutz kann jedoch nach der UN-Menschenrechtsakte geregelt werden, die ein Verbot der sprachlichen Diskriminierung vorsieht, ebenso wie durch die UN-Konvention über Kinderrechte, die die Pflege der kulturellen und sprachlichen Identität von Kindern regelt. Außerdem hat der Europarat 2006 eine Empfehlung über die Rolle von Muttersprachen im Schulwesen verabschiedet, die für Zuwandererkinder, die eine Minderheitensprache sprechen, Unterrichtung in dieser Sprache vorsieht. (Barkowski/ Krumm, 2010, S.-215). Die unter b)-d) angeführten Typen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit führen meist auch zur individuellen Mehrsprachigkeit der Menschen, die unter den genannten politischen und sozialen Bedingungen leben. Das gilt für die Mehrheit der nach Deutschland zugewanderten Arbeitsmigranten. Oft sind die Sprachen auf verschiedene Lebensbereiche verteilt, so dass die eine Sprache in Schule, Beruf und Öffentlichkeit verwendet wird, die andere in der Familie und unter Freunden. Bei autochthonen Minderheitengruppen verlieren die Sprachen im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung, da für sie die Mehrheitssprache dominant ist. Um die Minderheitensprachen vor dem Aussterben 12 In Schleswig-Holstein ist z. B. Dänisch neben Deutsch, Niederdeutsch und Friesisch offizielle Landessprache, in Niedersachsen und Schleswig-Holstein ist Friesisch als Unterrichtssprache und vor Gericht zugelassen. In Sachsen und Brandenburg sprechen ca. 60.000 Menschen Sorbisch, das zu den westslawischen Sprachen gehört. Keim_sV-264End.indd 17 10.02.12 16: 57 18 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration zu bewahren, werden sie mit staatlichen Maßnahmen gefördert. Doch die im Zuge der Arbeitsmigration zugewanderten Gruppen erhielten die mitgebrachten Sprachen, da die spätere Rückkehr in die Heimatländer vorgesehen war. Sie entwickelten eine lebensweltliche Zweisprachigkeit, in der die Herkunftssprache eine große Rolle spielt, und die Sprache des Aufnahmelandes im Bildungs- und Arbeitsbereich verwendet wird. Diese arbeitsteilige Sprachverwendung kann man auch bei den Kindern und Enkeln der ehemaligen „Gastarbeiter“ beobachten. Vor allem für die Enkel gilt nicht die „Drei-Generationenregel“ (Riehl 2009, S.-63ff.), die für Einwanderer in die traditionellen Einwandererländer USA und Australien beschrieben wurde. Nach dieser Regel beherrscht die erste Generation die Sprache des Einwandererlandes nur unvollständig, die zweite Generation wird zweisprachig (Sprache der Eltern und Sprache des Einwandererlandes) und die dritte Generation verliert die Herkunftssprache der Großeltern und spricht nur noch die Sprache des Aufnahmelandes. Viele türkischstämmige MigrantInnen der dritten Generation haben eine hohe umgangssprachliche Kompetenz im Türkischen erreicht, auch wenn ihr Türkisch nicht dem Standardtürkischen in der Türkei entspricht (Cindark/ Aslan 2004, ŞimŞek/ Schroeder 2011); es ist beeinflusst durch andere Minderheitensprachen und durch das Deutsche. Von besonderer Bedeutung ist jedoch, dass Türkisch für viele Kinder und Jugendliche nur gesprochene Alltagssprache ist. Der Einfluss der türkischen Schriftsprache ist in Deutschland gering, und die wenigsten Kinder erwerben schriftsprachliche Kompetenzen im Türkischen. Ausschlaggebend für den Verlust oder den Erhalt von Minderheitensprachen sind rechtliche, gesellschaftspolitische, soziale und motivationale Faktoren. Für die ehemaligen „Gastarbeiter“ aus der Türkei spielten die rechtliche Unsicherheit bezüglich des Aufenthaltsstatus, die Unsicherheit in Bezug auf die Arbeitsmarktlage und der Plan zur Rückkehr eine entscheidende Rolle für den Erhalt der Herkunftssprache. Außerdem sorgten der starke Zusammenhalt der ethnischen Gemeinschaft, die weit ausdifferenzierte Infrastruktur, die Heirat innerhalb der ethnischen Gruppe und die gut etablierte ethnische Medienlandschaft (Radio, Fernsehen, Videofilme) für eine starke Präsenz des Türkischen. Diese Bedingungen führten dazu, dass in den Lebenswelten der Migranten das Türkische dominant blieb, und Deutsch im Alltag nur eine geringe Rolle spielte bzw. immer noch spielt (vgl. Kap.-2). Exkurs Die Forschung zu Mehrsprachigkeit entwickelte sich vor allem in den 60er und 70er- Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Forschungsinteresse richtet sich auf die Veränderung etablierter Sprachen, auf die Ausbildung neuer Kommunikationsformen unter Mehrsprachigkeitsbedingungen, auf den Gebrauch von Sprachen in bestimmten Funktionen und auf ihre Bewertung. Dabei wird Sprache bzw. Sprachgebrauch als Widerspiegelung sozialer Prozesse und Hierarchien aufgefasst, und sprachliche Ausdifferenzierung als Funktion gesellschaftlich-historischer Verhält- Keim_sV-264End.indd 18 10.02.12 16: 57 Zwei- und Mehrsprachigkeit: Blick in die Forschung 19 nisse beschrieben und erklärt. 13 Fishman hat die Interessen der Mehrsprachigkeitsforschung folgendermaßen formuliert: „Wer spricht oder schreibt welche Sprache oder Varietät mit wem, wann und zu welchem Zweck? Sie [die Mehrsprachigkeitsforschung, m. A.] versucht die Sprachgebrauchsnormen, d. h. die allgemein akzeptierten Muster von Sprachverhalten und von Spracheinstellungen in sozialen Netzwerken und sozialen Gemeinschaften aufzudecken.“ 14 Ziel der Forschung ist die strukturelle und funktionale Beschreibung und Erklärung sprachlicher Variabilität in mehrsprachigen Gemeinschaften. Ein Schwerpunkt der funktionalen Betrachtungsweise basiert auf der Beobachtung, dass in vielen Gesellschaften soziale und ethnische Segregation, d. h. die räumliche Trennung von Wohngebieten sozialer Gruppen, über Sprachverwendung hergestellt wird. Sprache kann zum Stigma werden, wenn Menschen durch die Sprache, die sie verwenden, von anderen negativ beurteilt und ausgegrenzt werden. Vor allem spielen die in einer Gesellschaft institutionell verbreiteten Einstellungen gegenüber Sprachen und Sprechweisen bei der Diskriminierung ihrer Sprecher eine wichtige Rolle. Im Folgenden gebe ich einen Überblick darüber, was in mehrsprachigen Gesellschaften „passieren“ kann, und welche Wirkung die mehrsprachige Situation auf die beteiligten Sprachen haben kann. Die angeführten Phänomene und Prozesse werden in den folgenden Kapiteln dieses Buches ausführlicher behandelt: 1. Eine Sprache verändert sich unter dem Einfluss einer anderen. In der Sprachkontaktforschung werden vor allem folgende Phänomene und Prozesse beschrieben: • Transferenz: Eigenschaften einer Sprache werden auf die andere Sprache übertragen. Die Übertragungen können auf allen sprachlichen Ebenen stattfinden, auf der lautlichen, grammatischen und lexikalischen, und positive oder negative Effekte auf den Gebrauch der anderen Sprache haben. Bei negativen Übertragungen hat ein Sprecher einen „fremden“ Akzent in der Zweitsprache oder er bildet Äußerungen nach den Regeln der Erstsprache und produziert ungrammatische Formen, wenn diese in der Zweitsprache nicht gelten. Wenn die Regeln in beiden Sprachen übereinstimmen, hat die Übertragung einen positiven Effekt. 13 Die ersten systematischen Untersuchungen zum Zusammenhang von Sprache/ n und sozialem Kontext bzw. Sprache und Kultur stammen von Ferguson/ Gumperz (1959); vgl. auch Ferguson (1964), Gumperz/ Hymes (eds.) (1964) und (1972). 14 „Who speaks or writes what language or language variety to whom and when and to what end? It (die Mehrsprachigkeitsforschung, m. A.) tries to disclose the norms of language usage - that is the general accepted patterns of language use and of behavior and attitude towards languages - for particular social networks and communities“. (zit. aus Coupland/ Jaworski (eds.) (1997): Sociolinguistics. A reader and coursebook. New York, S.-26.) Keim_sV-264End.indd 19 10.02.12 16: 57 20 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration • Entlehnungen: Wörter aus einer Sprache können in die andere entlehnt werden, entweder spontan in einer bestimmten Situation oder dauerhaft durch die gesamte Sprachgemeinschaft. Spontane Entlehnungen kommen sehr häufig vor. Ein Sprecher entlehnt, weil ihm das Wort gerade nicht einfällt oder weil das entlehnte Wort besser zum Inhalt seiner Äußerung passt. Ein Beispiel dafür ist die gemischte Äußerung einer türkischstämmigen Jugendlichen: Haltestellede duryom (ich warte an der Haltestelle). Hier ist das deutsche Wort Haltestelle in die türkische Struktur eingebettet. Die Sprecherin kennt das türkische Äquivalent für Haltestelle (durak). In ihrer Schilderung referiert sie jedoch auf ein Ereignis, das an einer Straßenbahnhaltestelle in Mannheim stattfand, und in diesem Kontext erscheint ihr das deutsche Wort geeigneter als das türkische. Zu den dauerhaften Entlehnungen gehören Lehnwörter und kulturelle Entlehnungen. Von kulturellen Entlehnungen spricht man, wenn es für ein Wort aus der einen Sprache in der anderen kein Äquivalent gibt, das genau die Bedeutung trägt. Ein Beispiel ist das deutsche Wort Gemütlichkeit, für das es im Englischen keine direkte Entsprechung gibt; deswegen wird das Wort Gemütlichkeit übernommen, oft auch als German Gemütlichkeit. Ein anderes Beispiel ist die Übernahme des deutschen Wortes Weihnachtsmann in die Äußerung eines türkischstämmigen Kindes: Weihnachtsmann gelmişti (der Weihnachtsmann ist gekommen). Im Türkischen gibt es keine direkte Entsprechung für Weihnachtsmann, und das Kind referiert auf ein Erlebnis im deutschen Kindergarten. • Überblendungen: Strukturen einer Sprache werden mit lexikalischen Elementen der anderen aufgefüllt. Ein Beispiel dafür ist die deutsch-englische Mischäußerung für eine car zu parken (Tracy 2001, S.- 13). Die englische Entsprechung ist: for a car to park (wörtlich: für ein Auto zu parken). In der Mischäußerung werden fast alle lexikalischen Einheiten aus dem Deutschen genommen (mit Ausnahme von car), die Struktur der Äußerung ist jedoch Englisch, wie die wörtliche Übersetzung zeigt. Das nächste Beispiel für heaven’s Willen (Tracy 2001, S.12) zeigt, wie sich Redewendungen aus zwei Sprachen in einer Äußerung überlagern können. Der Mischäußerung liegen die englischsprachige Redewendung for heaven’s sake und die deutschsprachige um Himmels Willen zugrunde; sie werden in der Mischäußerung überblendet. Solche Phänomene kommen auch im Deutsch der türkischen MigrantInnen vor; sie werden in Kap.-4-8 beschrieben. 2. Es bilden sich neue Verkehrssprachen. Wenn Sprecher unterschiedlicher Sprachen aufeinander treffen und miteinander kommunizieren wollen oder müssen, sie aber die Sprache der anderen nicht können, bilden sie neue, für ihre Zwecke geeignete Verkehrssprachen aus. Diesen Prozess kann man sich folgendermaßen vorstellen: Die Sprecher machen die Sprache einer Gruppe zu ihrer Verkehrssprache (lingua franca). Sie wird laut- Keim_sV-264End.indd 20 10.02.12 16: 57 Zwei- und Mehrsprachigkeit: Blick in die Forschung 21 lich an die Lautsysteme der Sprachen der Sprecher angepasst, mit Wörtern aus deren Sprachen gemischt und grammatisch reduziert; alle komplizierten Regeln werden weggelassen. Die so entstehenden Verkehrssprachen sind vereinfachte, an die Voraussetzungen der Sprecher angepasste Versionen, durchsetzt mit Wörtern aus deren Sprachen. Sie werden als „Pidgins“ bezeichnet. Sie entstehen in Handels- und Arbeitskontakten und bilden eine Art Behelfssprache in sozial eingeschränkten Kontakten zwischen Sprechern verschiedener Sprachen. 15 Pidgins sind keine „Muttersprachen“, die Sprecher der Pidgins verfügen über eine voll ausgebaute Erstsprache. Moderne Formen von Pidgin ähnlichen Verkehrsprachen sind im Zusammenhang mit Arbeitsmigration entstanden. In Deutschland wurden sie als „Gastarbeiterdeutsch“ bezeichnet (vgl. Kap.-4). 3. Es bilden sich (Multi)Ethnolekte aus. Das sind Varietäten, die sowohl von den Sprechern als auch von Außenstehenden einer ethnischen Gruppe zugeschrieben werden. In diesem Fall spricht man von Ethnolekt; werden sie mehreren Gruppen zugeschrieben, spricht man von Multiethnolekt. (Multi)Ethnolekte sind keine homogenen Sprechweisen, sondern es gibt verschiedene Realisierungsformen. Die Entwicklung von (Multi) Ethnolekten ist in den letzten Jahren in vielen Großstädten Europas beobachtet worden, in denen Angehörige der zweiten und dritten Zuwanderergenerationen in multiethnischen Wohngebieten leben. Die Basis der (Multi)Ethnolekte bilden die regionalen Varietäten (Dialekte, Stadtsprachen) des Landes, in das die Migranten zugewandert sind. (Multi)Ethnolekte haben große Überschneidungsbereiche mit den regionalen Varietäten, unterscheiden sich aber durch eine Reihe lautlicher, lexikalischer und grammatischer Merkmale. Sie sind charakteristisch für Migrantenjugendgruppen in multiethnischen städtischen Wohngebieten, und sie werden auch von einheimischen Jugendlichen gesprochen, die enge Kontakte zu Migrantenjugendlichen haben (vgl. Kap.-5). Die Forschung zu Ethnolekten hat in den letzten Jahren in Schweden, England, Holland, Dänemark, Finnland und Deutschland begonnen, und (Multi) Ethnolekte sind für Berlin, Hamburg, München, Mannheim, Stockholm, London, Kopenhagen und Amsterdam beschrieben. Interessant ist, dass die für 15 Pidgins sind bereits im 15./ 16. Jahrhundert für den Mittelmeerraum belegt. Pidgins sind infolge des Kontakts zwischen europäischen, afrikanischen und asiatischen Sprachen im Kontext der Kolonialisierung und des intensiven Handels auch in Übersee entstanden. Die Lexik stammt häufig aus der dominanten Sprache, durchmischt mit Wörtern aus anderen Sprachen, die Grammatik aus einer oder mehreren untergeordneten Sprachen. Inzwischen sind Pidgins weltweit für viele Kontaktsituationen beschrieben. Wenn Pidgins aufgrund der Stabilisierung der Kontaktsituation bei nachwachsenden Generationen zur Erstsprache werden, werden sie zu voll funktionsfähigen Sprachen ausgebaut. Sie werden dann als Kreolsprachen bezeichnet; vgl. dazu Barkowski/ Krumm (2010), S.-251/ 252. Kreolsprachen sind „Muttersprachen“ der Sprecher und sie können sich auch zu nationalen Sprachen weiter entwickeln. Keim_sV-264End.indd 21 10.02.12 16: 57 22 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration Stockholm, Kopenhagen und London beschriebenen Merkmale denen ähnlich sind, die auch für deutsche Städte beschrieben wurden. 4. Sprecher werden zwei- und mehrsprachig, sie lernen also zumindest bis zu einem gewissen Grad die Sprache/ n der anderen Gruppe/ n. In der Spracherwerbsforschung werden folgende Faktoren als relevant für den Erwerb einer zweiten (oder dritten) Sprache betrachtet: • Das Alter des Erwerbs: Im Alter bis zu etwa 7 Jahren eignen sich Kinder die zweite Sprache vor allem intuitiv an, ähnlich wie die Erstsprache. Unter günstigen Erwerbsbedingungen gelingt der „muttersprachenähnliche“ Erwerb der Zweitsprache mühelos (vgl. Kap.- 7). In späteren Lebensphasen werden andere Erwerbstrategien eingesetzt und die grammatischen Regeln der Zweitsprache werden gezielt gelernt. Die Spracherwerbsforschung hat gezeigt, dass es in einem höheren Lernalter schwerer ist und großer Motivation bedarf, um „muttersprachliche“ Kompetenz in einer Zweitsprache zu erwerben. • Die Art und Weise des Erwerbs: Die zweite Sprache kann im Alltag ungesteuert oder in der Schule gesteuert erworben werden. Die Art des Erwerbs hat Einfluss auf das Erwerbsergebnis. Bei Migranten der ersten Generation spielt vor allem der ungesteuerte Erwerb eine Rolle, bei den Kindern spielen beide Aspekte eine Rolle. • Die Erwerbsreihenfolge: Wenn Kinder von Beginn an zwei oder mehr Sprachen gleichzeitig erwerben, spricht man vom doppelten (dreifachen) Ersterwerb. Wenn sie die zweite oder dritte Sprache im Kindergartenalter erwerben, spricht man vom frühen Zweit-/ Drittspracherwerb. Für alle Spracherwerbsprozesse gilt, dass Sprecher aufhören können eine Sprache weiter auszubauen; sie bleiben dann auf einer bestimmten Stufe im Erwerbsprozess stehen. In diesem Fall spricht man von Fossilisierung (Einfrierung). Fossilisierungen können entstehen, wenn Sprecher für ihren Kommunikationsbedarf genügend gelernt haben und sich ausreichend verständlich machen können; oder wenn sie keine Gelegenheit zum weiteren Ausbau haben. 1.2.2 Individuelle Mehrsprachigkeit Es gibt keine einheitliche Definition dafür, ab welchem Grad der Beherrschung einer Sprache man von Zwei- oder Mehrsprachigkeit spricht. Nach einer besonders engen Definition ist ein Sprecher dann zwei- oder mehrsprachig, wenn er die Sprachen von frühester Kindheit an erworben hat und sie gleich gut beherrscht. Der Linguist Bloomfield (1933, S.- 56) nennt das „native-like control of two languages“ (die Sprachen werden wie Erstsprachen beherrscht). Weinreich (1953) spricht vom „idealen Zweisprachigen“, der jederzeit in der Lage ist, von einer Sprache in die andere zu wechseln, wenn es die Gesprächs- Keim_sV-264End.indd 22 10.02.12 16: 57 Zwei- und Mehrsprachigkeit: Blick in die Forschung 23 situation erfordert. 16 Mit solchen Definitionen werden Formen von Zwei- oder Mehrsprachigkeit erfasst, die in mehrsprachigen Gesellschaften eher selten vorkommen. In der Realität sind viel eher die Formen von Zwei- und Mehrsprachigkeit anzutreffen, die unter einer weiten Definition gefasst werden. Personen werden dann als bi- oder multilingual bezeichnet, wenn sie irgendwann in ihrem Leben regelmäßig zwei oder mehr Sprachen bzw. Varietäten benutzen, unabhängig von den Erwerbsmodalitäten und von der Symmetrie in der Beherrschung der Sprachen. Die Sprachen können auf unterschiedliche Lebensbereiche verteilt sein, im Privatbereich die eine, im Beruf die andere Sprache. Durch die unterschiedlichen Verwendungskontexte sind der Wortschatz und die Fähigkeit angemessen zu handeln in den beiden Sprachen nicht gleichermaßen ausgebildet. Unter der weiten Definition von Zwei- oder Mehrsprachigkeit werden auch Personen gefasst, die innerhalb von Gesprächen die Sprachen wechseln. Die Wechsel werden als Code-switching (Sprachwechsel) oder Code-mixing (Sprachmischung) bezeichnet; sie sind seit Mitte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts Gegenstand der Forschung. Die Wechsel können zwischen Sprachen stattfinden, beispielsweise von Französisch zu Deutsch, oder zwischen Varietäten, also z. B. von Schwäbisch zu Standarddeutsch. Die Forschung spricht in beiden Fällen von Code-switching oder Code-mixing, zwischen den beiden Bezeichnungen gibt es keine klare Trennung. In neueren Arbeiten (z. B. Auer 1999) versucht man eine Trennungslinie derart zu ziehen, dass der Wechsel von einer Sprache in die andere, die dann über einen längeren Zeitraum beibehalten wird, als Code-Switching bezeichnet wird. Code-mixing umfasst alle anderen Fälle, wenn also innerhalb eines Gesprächs oder innerhalb von Äußerungen in schneller Folge gewechselt wird, oder wenn sich Strukturen aus beiden Sprachen überlagern. Bei der Untersuchung von Wechselphänomenen interessieren einerseits strukturelle Aspekte. Hier wird nach Antworten auf Fragen gesucht wie: An welchen Stellen in einer Äußerung wird gewechselt? Gibt es grammatische Beschränkungen für die Wechsel, kann also nur an bestimmten Stellen, oder kann an jeder beliebigen Stelle gewechselt werden? Andererseits interessieren funktionale Aspekte. Hier wird nach Antworten auf Fragen gesucht wie: Was bewirken die Wechsel in der Interaktion? Wird mit einer bestimmten Sprache oder Varietät auf bestimmte Personen oder Gruppen verwiesen? Wird mit der Sprachwahl soziale Zugehörigkeit oder Abgrenzung ausgedrückt? 16 Vgl. Weinreich (1953, S.-73): „The ideal bilingual switches from one language to the other according to appropriate changes in the speech situation interlocutors, topics etc. - but not in an unchanged speech situation, and certainly not within a single sentence.“ (Der ideale Bilinguale wechselt von einer Sprache in die andere, wenn eine Veränderung der Gesprächssituation (Teilnehmer, Themen etc.) das erfordert; aber er wechselt nicht ohne Veränderung der Gesprächssituation und mit Sicherheit nicht innerhalb eines Satzes). Keim_sV-264End.indd 23 10.02.12 16: 57 24 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration Alle bisher angeführten Erscheinungen von Zwei- oder Mehrsprachigkeit sind charakteristisch für Länder, in denen mehrere Sprachen gesprochen werden. Sie sind auch charakteristisch für Länder mit hoher Arbeitsmigration. Sie sind alle in Deutschland anzutreffen, allerdings verteilt auf die verschiedenen Zuwanderergenerationen. Bei Angehörigen der ersten Zuwanderergeneration, den ehemaligen „Gastarbeitern“, haben sich im ungesteuerten Spracherwerbsprozess vereinfachte Formen des Deutschen ausgebildet, das sog. „Gastarbeiterdeutsch“, das viele Menschen aus dieser Generation heute noch sprechen (vgl. Kap.-4). Angehörige der zweiten und dritten Generation sind in der Regel mehr oder weniger bilingual; sie verwenden ihre Sprachen arbeitsteilig und wechseln je nach Kommunikationssituation. Sie praktizieren sowohl Code-switching als auch Code-mixing (vgl. Kap.- 6). Außerdem haben sich in Migrantenkinder- und Jugendgruppen (Multi)Ethnolekte ausgebildet, also (multi)ethnisch geprägte Versionen der deutschen Umgangssprache oder Regionalsprache (vgl. Kap.-5). Es gibt viele Angehörige der zweiten und dritten Generation, die in der Erstsprache und im Deutschen eine hohe mündliche und schriftliche Kompetenz erworben haben und die ihre Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten je nach Situation flexibel einsetzen. Es gibt aber auch viele, die zwar eine hohe mündliche Kompetenz in der Erstsprache und im Deutschen erreicht, aber nur geringe schriftsprachliche Fähigkeiten erworben haben (vgl. Kap.- 8). Welche lebensweltlichen und institutionellen Voraussetzungen und Bedingungen zu dem einen oder anderen Ergebnis führen können, wird in den folgenden Kapiteln immer wieder thematisiert und diskutiert. 1.3 Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitspracherwerb: ein kritischer Blick auf die „Interdependenz-Hypothese“ Wie oben (1.1) beschrieben, wird in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit von Migrantenkindern und -jugendlichen immer wieder auf deren sogenannte „Halbsprachigkeit“ bzw. „doppelte Halbsprachigkeit“ hingewiesen. Dabei spielt die Vorstellung eine Rolle, dass zuerst die „Muttersprache“ entwickelt sein muss, bevor eine zweite Sprache erfolgreich aufgebaut werden kann. Im „völkischen Muttersprachendiskurs“ in Deutschland war der Begriff „Halbsprachigkeit“ eine feste Größe und hat sich vor allem über die Arbeiten Weisgerbers bruchlos in die Nachkriegsvergangenheit fortgesetzt. Zweisprachigkeit wurde nur in Ausnahmefällen als geglückt dargestellt und oft durch den Begriff „doppelte Halbsprachigkeit“ in die Nähe der kognitiven und moralischen Deformation gebracht. In die neuere Migrationsforschung wurde der Begriff „Semilingualismus“ (doppelte Halbsprachigkeit) von Skutnabb-Kangas (1983) eingeführt, die zeigte, dass Kinder, die bereits eine Grundschulbildung in der Erstsprache absolviert hatten, in der Zweitsprache eine gute Kompetenz erreichten. Kinder jedoch, die zum Zeit- Keim_sV-264End.indd 24 10.02.12 16: 57 Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitspracherwerb 25 punkt, als sie mit der Zweitsprache konfrontiert wurden, in der Erstsprache (noch) nicht weit entwickelt waren, konnten in beiden Sprachen keine hohe Kompetenz erreichen; sie waren semilingual (doppelt halbsprachig). 17 Ausgehend von dieser Beobachtung entwickelte der kanadische Psychologe und Pädagoge Cummins eine anspruchsvolle Theorie, die sozio-ökonomische Faktoren, Sprache, kognitive Entwicklung und Schulerfolg in Zusammenhang bringen und den schulischen Misserfolg von Minderheitenkindern erklären sollte. Seine „Interdependenzhypothese“ (1979, 1984) besagt, dass die Entwicklung in der einen Sprache die in der anderen bedingt, und dass ein bilingual aufwachsendes Kind zuerst in einer Sprache eine bestimmte Schwelle erreicht haben muss, damit es auch in der anderen Sprache entsprechende Fortschritte machen kann. Wird ein Kind einer zweiten Sprache ausgesetzt, bevor es sich die Erstsprache angeeignet hat, kann es „semilingual“ werden. 18 Semilingualismus wirkt sich negativ auf die kognitive Entwicklung aus, während eine hohe Kompetenz in beiden Sprachen sich positiv auf die Kognition auswirkt. In die deutsche Migrationsforschung hat Stölting den Begriff 1980 eingeführt, sich aber inzwischen deutlich davon distanziert. Die wenigen empirischen Studien zum schulischen Misserfolg von Minderheitenkindern galten als Beleg für Cummins’ „Interdependenz-Hypothese“. Seine Vorstellungen fanden weite Verbreitung und spielten (bzw. spielen immer noch) in Deutschland eine große Rolle in bildungspolitischen Diskussionen über mangelnde Deutschkenntnisse von Migrantenkindern: Einige Verfechter der These forderten eine frühe Förderung in den Erstsprachen der Kinder; andere begründeten den mangelnden schulischen Erfolg der Kinder damit, dass sie, da sie ja die Erstsprache nur unzureichend beherrschten, ohnehin in Deutsch keine guten Ergebnisse erzielen könnten. Praktiken des Code-switching und Code-mixing wurden häufig als Ausdruck von Semilingualismus gewertet (vgl. 1.1 und Keim 2008, Teil 1). Außerdem unterscheidet Cummins zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen sprachlicher Kompetenz: kommunikative Fähigkeiten für die Alltagskommunikation („basic interpersonal communicative skills“, BICS) und Fähigkeiten, die in der Schule gefordert werden, wie abstraktes Denken und Schriftkulturalität („cognitive-academic language proficiency“, CALP). Auch in Bezug auf den Erwerb dieser Kompetenzen nimmt Cummins einen bestimmten Schwellenwert an, bis zu dem die Entwicklung im Bereich der BICS fortgeschritten sein muss, um darauf schriftkulturelle Fähigkeiten aufbauen zu können. Auch hier spielt die Möglichkeit des Transfers von in einer Sprache 17 Bei der Formulierung dieses Zusammenhangs berücksichtigte Skutnabb-Kangas weder die soziale Herkunft der Kinder noch ihre Schul- und Lebenssituation, so dass vermutlich intervenierende Faktoren zu dem beobachteten Zusammenhang führten. Skutnabb-Kangas hat selbst auf die ungeklärten Prämissen des Konzepts Semilingualismus hingewiesen. 18 In späteren Arbeiten benutzt Cummins den Ausdruck „semilingual“ nicht mehr. Keim_sV-264End.indd 25 10.02.12 16: 57 26 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration erworbenen Fähigkeiten auf die andere eine wichtige Rolle; wer in einer Sprache schriftkulturelle Fähigkeiten erworben hat, kann diese Fähigkeiten auf die andere Sprache übertragen. Die linguistische Kritik an Cummins’ Theorie bezieht sich vor allem auf sein Konzept von Bilingualität. Lüdi (1996a und b) hebt hervor, dass Cummins Bilingualität als die Addition zweier monolingualer Kompetenzen sehe, was aus Lüdis Perspektive eine unangemessene Betrachtungsweise ist. Bilinguale entwickeln andere Kompetenzen als Monolinguale; sie haben die Fähigkeit zu wechseln und eine bilinguale Sprach- und Kommunikationskompetenz aufzubauen. Aus Lüdis Perspektive spielen das soziale Umfeld und die gesellschaftliche Bewertung von Zweisprachigkeit die zentrale Rolle bei der mehr oder weniger symmetrischen Entwicklung zweier oder mehrerer Sprachen. Deshalb spricht er von „lebensweltlicher“ und nicht von „idealer“ Zweibzw. Mehrsprachigkeit. 19 Joergensen/ Quist (2007) stellen fest, dass es bisher keine empirische Evidenz für die Interdependenz-Hypothese gibt. 20 Außerdem formuliere Cummins eine Defizittheorie, die auf einem unzureichenden Konzept von „kommunikativer Kompetenz“ basiert. Seine Unterscheidung zwischen Alltags- und akademischen Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten sei empirisch nicht haltbar, und letztere nichts anderes als „test-wiseness“. Die von Esser (2006) vorgelegte Forschungsbilanz zum Zusammenhang von Bilingualität und schulischem bzw. beruflichem Erfolg zeigt, dass eine Reihe von Studien, die in der Nachfolge von Cummins die positive Wirkung erstsprachlicher Kompetenzen auf die Kompetenz in der Zweitsprache zu zeigen versuchten, erhebliche methodische Schwächen haben. 21 Esser sieht bisher keine „konsistenten Belege für die Interdependenzhypothese“ (2006, S.-63) und kritisiert bilinguale Unterrichtsmodelle, die auf der Interdependenz-Hypothese basieren. Der Erfolg solcher Modelle sei ebenfalls nicht nachgewiesen, und es gebe „bisher nicht eine, den methodischen Regeln der Kunst entsprechende empirische Untersuchung, die es erlauben würde, die Frage nach der Wirksam- 19 Dass bilinguale Kompetenzen nicht als „zweimal monolinguale Kompetenzen“ aufgefasst werden können, heben auch andere Linguisten hervor; vgl. Dirim (2005), Hinnenkamp (2005) und Tracy (2008), die ebenfalls von „lebensweltlicher“ und nicht von „idealer Zweisprachigkeit“ sprechen. 20 Norman Joergensen (Kopenhagen) beschäftigt sich seit über 10 Jahren mit bilingualen türkisch-dänischen Kindern und monolingualen türkischen Kindern und vergleicht ihre sprachliche und schulische Entwicklung. 21 Esser bezog alle relevanten theoretischen und empirischen Studien ein, die die sozialen Bedingungen des Zweitspracherwerbs bzw. der Entstehung von kompetenter Bilingualität und deren Effekte auf den Bildungs- und Arbeitsmarkterfolg in statistisch abgesicherter Weise untersuchen. Berücksichtigt wurden repräsentative Daten aus wissenschaftlichen Umfragen und amtlichen Erhebungen aus verschiedenen Einwanderungsländern, den USA, Kanada, Australien, Großbritannien, Israel und Deutschland; zu Essers Bericht vgl. http: / / edoc.vifapol.de/ opus/ volltexte/ 2009/ 1560/ pdf/ iv06_akibilanz4a.pdf (Stand September 2011). Keim_sV-264End.indd 26 10.02.12 16: 57 Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitspracherwerb 27 keit der bilingualen Maßnahmen in verlässlicher Weise zu beurteilen“ (a. a. O. 79). In unserem Zusammenhang sind vor allem folgende Ergebnisse aus Essers Forschungsbilanz interessant: • Eine hohe Kompetenz in beiden Sprachen (mündlich und schriftlich) ist die Ausnahme. • Für den Erfolg in Schule und Beruf im Aufnahmeland ist vor allem die Kompetenz in der Landessprache zentral. • Ethnische Konzentrationen in Wohngebieten, Schulklassen und im Alltagsleben der Kinder und Jugendlichen haben einen negativen Einfluss auf die Entwicklung der Zweitsprache Deutsch. • In Schulen mit hoher ethnischer Konzentration spielen folgende Faktoren eine wichtige Rolle: die Qualität der Lehrer und ihre Ausbildung für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen; ihre möglicherweise stereotypen Einstellungen und Erwartungen in Bezug auf die Schülerschaft; das schlechte „Lernklima“ in Klassen mit einer Konzentration von „statusniedrigen Kindern“, die Deutsch nicht kompetent sprechen. Über den Einfluss solcher Faktoren auf den Erwerb schulisch geforderter Schrift- und Textkompetenzen von Migrantenkindern gibt es derzeit kaum Forschungen (a. a. O., S.-68). Essers Feststellung, dass sich bilinguale Kompetenzen schulisch und beruflich im Aufnahmeland kaum auszahlen, kann ich allerdings nicht bestätigen. Aus meiner Sicht gibt es eine Reihe von Arbeitsmöglichkeiten in ethnischen oder transnationalen Wirtschaftszweigen, die in den türkischstämmigen Gemeinden eine bedeutende Rolle spielen. Hier ist Bilingualität oft eine wichtige Voraussetzung. 22 Auch die neueren Forschungsergebnisse zum doppelten Erstsprach- und frühen Zweitspracherwerb sind unvereinbar mit Cummins Theorie. 23 Sie zeigen, dass die Erstsprache kein bestimmtes Stadium erreicht haben muss, bevor eine Zweitsprache hinzukommen kann. Kinder können von Beginn an mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen und sind dabei weder kognitiv noch sozial überfordert. Für eine erfolgreiche Aneignung beider Sprachen ist folgendes notwendig: Kinder müssen emotionale Zuwendung und ausreichende sprachliche und kognitive Anregungen durch sprachkompetente Vorbilder erhalten; 22 Vgl. z. B. den Bericht im MM (Mannheimer Morgen), vom 01.02.2011, S.- 18 über eine Veranstaltung des Verbandes türkischer Unternehmer. Der Verband zeichnete drei erfolgreiche, in Deutschland sozialisierte türkische Unternehmer der Region Mannheim aus, die erfolgreiche mittelständische Unternehmen führen. Genannt werden eine Märkte-Kette mit 62 Mitarbeitern, eine Bekleidungsfirma mit einem Umsatz im zweistelligen Millionenbereich und eine große Arztpraxis, die auch einen Pflegedienst für türkisch sprechende Bürger initiiert hat. In der Mannheimer Region gibt es ca. 1000 von Türkischstämmigen gegründete und geleitete Unternehmen, viele davon im Lebensmittelbereich. 23 Stellvertretend für andere vgl. die Arbeiten zum doppelten Erst- und frühen Zweitsprachenerwerb von Tracy (2005) und (2008). Keim_sV-264End.indd 27 10.02.12 16: 57 28 Zwei- und Mehrsprachigkeit unter Bedingungen der-Migration sie müssen Spaß am Sprechen entwickeln können und Erfolgserlebnisse in beiden Sprachen haben. Der bilinguale Erwerbsverlauf erfolgt entsprechend den Phasen des jeweiligen monolingualen Verlaufs, und die Erwerbsphasen können unterschiedlich schnell durchlaufen werden. Insgesamt aber dauert der Erwerb zweier Sprachen nicht länger als der Erwerb nur einer Sprache. Kinder „wissen“ bereits früh über die unterschiedlichen Strukturen der beiden Sprachen, und im Alter von zwei bis drei Jahren können sie die beiden Sprachen bereits dem jeweiligen Kontext entsprechend einsetzen. Trotz altersgemäßer Entwicklung können sich die beiden Sprachsysteme jedoch asynchron entwickeln; eine Sprache kann stärker sein als die andere, weil das Kind sie häufiger benutzt oder dafür häufiger Anerkennung findet. Welche Sprache stärker ist, kann sich im Laufe der Entwicklung mehrfach ändern. Wie weit ein Kind seine Sprachen ausbaut, hängt von äußeren Faktoren (Gelegenheit, Notwendigkeit, Qualität des Inputs) und von inneren Faktoren ab (Motivation, Bewertung der Sprachen, Lerndruck, Beziehung zu den Sprechern). Zwischen der Entwicklung der einen und der anderen Sprache gibt es bisher keine nachgewiesene Interdependenz, solange der Erwerb in der frühen Kindheit (bis zum Alter von ca. 7 Jahren) stattfindet. Das bedeutet auch, dass Kinder sich die zweite Sprache kompetent aneignen können, ohne dass die erste entsprechend entwickelt sein muss. Für diese Zusammenhänge gibt es an deutschen Gymnasien und Universitäten vielfache „Belege“: Studierende mit Migrationshintergrund haben in Deutsch eine hohe mündliche und schriftliche Kompetenz erworben, während sie ihre Erstsprache den innerfamiliären Kommunikationsbedürfnissen entsprechend (nur) als „Familiensprache“ ausgebaut haben. Sie haben eine lebensweltliche Zweisprachigkeit entwickelt. Die Forderung nach einer bilingualen Unterrichtung von Migrantenkindern lässt sich nach dem derzeitigen Forschungsstand nicht mit der Interdependenz- Hypothese begründen. Bei der Diskussion über die Frage, ob und in welchem Umfang die Erstsprache von Migrantenkindern gefördert werden sollte, sind m. E. jedoch andere Aspekte von entscheidender Bedeutung. Auf der Basis der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (Art. 2) gehört die Wahrung der eigenen Kultur und Sprache zu den Menschenrechten. Daraus lässt sich, analog zu dem Recht von autochthonen Minderheiten auf Schutz von Sprache und Kultur, auch für Migrantenkinder ein Recht auf Pflege und Förderung ihrer Erstsprache und Kultur ableiten. Außerdem haben Migrantenkinder auf der Basis von EU-Konventionen und EU-Empfehlungen einen Anspruch auf die Förderung ihrer Erstsprache. Dies sind Aufgaben, die unter Beteiligung aller Betroffenen diskutiert und nach Maßgabe des finanziell und organisatorisch Machbaren entschieden werden sollten. 24 Was Migrantenkinder und Jugendli- 24 In Mannheim z. B. werden derzeit 170 Sprachen gesprochen. Dazu gehören große Sprachgruppen wie Türkisch-, Russisch- und Italienischsprachige, aber auch sehr kleine Gruppen wie Litauisch- oder Armenischsprachige. Wie die Pflege und Förderung aller Spra- Keim_sV-264End.indd 28 10.02.12 16: 57 Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitspracherwerb 29 che in deutschen Bildungsinstitutionen auf jeden Fall erwarten können sollten, ist, dass ihre Erstsprache respektiert und als wichtiges Kommunikationsmittel in Familie und Freundeskreis akzeptiert wird. Für viele von ihnen ist sie ein zentraler Bestandteil ihres sozial-kulturellen Selbstbildes. Dass die bilinguale Unterrichtung von Migrantenkindern problemlos funktioniert, ist in dem Modellversuchsprogramm FÖRMIG gezeigt worden, in dem einsprachig deutsche ebenso wie zwei- oder mehrsprachige Fördermaßnahmen erprobt wurden. Das Projekt betrachtet die Förderung von Zweisprachigkeit an sich als Gewinn, Ziel ist eine „ganzheitliche Sprachbildung“. 25 Das bedeutet, dass auf jeden Fall gute Ergebnisse in der Zweitsprache Deutsch erzielt werden müssen und die Kinder gleichzeitig auch Lesen und Schreiben in den Familiensprachen lernen. Das Projekt sieht in der Förderung der Zweitsprache und der Förderung von Zweisprachigkeit keinen Gegensatz, sondern einen Gewinn sowohl für die zweisprachigen Menschen in Deutschland als auch für die deutsche Gesellschaft. Von erziehungswissenschaftlicher Seite gibt es seit einiger Zeit die Forderung, in Schulen Mehrsprachigkeit als Bildungsziel zu etablieren und einen entsprechenden schulischen Wandel einzuleiten. 26 chen gleichermaßen organisiert und finanziert werden könnte, sollte unter Beteiligung aller Betroffenen beraten und entschieden werden. 25 Vgl. die Stellungnahme des FÖRMIG-Programmträgers zur aktuellen Zweisprachigkeitsdebatte, verfasst von Gogolin/ Neumann/ Reich/ Roth/ Schwippert im Mai 2006; vgl. auch die Foermig-Expertise 2010 unter http: / / www.hamburg.de/ contentblob/ 2512362/ data/ foermig-expertise-handreichung.pdf. (Stand November 2011). 26 Vgl. die seit 2009 im VS Verlag erscheinende Reihe „Migration und schulischer Wandel“, hrsg. von Fürstenau, Sara/ Gomolla, Mechtild; interessant ist vor allem der Band: „Mehrsprachigkeit“ (2011). Keim_sV-264End.indd 29 10.02.12 16: 57 Kapitel 2 Türkische MigrantInnen in Deutschland 2.1 Die Anwerbung von „Gastarbeitern“ Die Bundesrepublik Deutschland erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg eine starke Wirtschaftsexpansion, so dass Mitte der 50er Jahre der Arbeitskräftebedarf durch Einheimische und durch die seit 1945 zuwandernden Vertriebenen nicht mehr gedeckt werden konnte. 1 Deshalb beschloss die damalige CDU-geführte Bundesregierung ausländische Arbeitskräfte in den südeuropäischen Ländern anzuwerben, die sogenannten „Gastarbeiter“, die vorübergehend den Arbeitskräftebedarf decken sollten. 2 Es wurden zunächst Anwerbevereinbarungen mit Italien (1955), dann mit Griechenland und mit Spanien (1960) abgeschlossen. Als durch den Mauerbau 1961 auch die Zuwanderung von Arbeitskräften aus der DDR gestoppt wurde, wuchs der Arbeitskräftemangel in der Bundesrepublik erneut. Es folgten Anwerbeverträge mit der Türkei (1961), mit Portugal (1964) und mit Jugoslawien (1968). Von Mitte der 50er Jahre bis zum Anwerbstopp 1973 kamen rund 14 Mio. ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, rund 11 Mio. kehrten wieder zurück, „die anderen blieben und holten ihre Familien nach“ (Bade/ Oltmer 2008, S.- 159). Die in der öffentlichen Diskussion verwendete Bezeichnung „Gastarbeiter“ beinhaltete eine beruflich-soziale Klassifizierung: Darunter wurden ungelernte bzw. angelernte Arbeitskräfte verstanden, die in der industriellen Produktion, im Bergbau oder im Dienstleistungsgewerbe beschäftigt wurden. 1 Die Zuwanderung von Flüchtlingen, Vertriebenen und „Spätaussiedlern“ wurde nicht als Migration betrachtet, da sie aufgrund des damals geltenden und aus dem Jahre 1913 stammenden Staatsbürgerschaftsrechts, das auf dem Prinzip des „jus sanguinis“, des Abstammungsprinzips, basierte, als „deutsch“ galten. Ihre Zuwanderung wurde als Rückwanderung bezeichnet. 2 Die Situation der ehemaligen „Gastarbeiter“ wird hier nur in einigen Aspekten beschrieben. Zur ökonomischen, politischen, sozialen und rechtlichen Situation gibt es eine reichhaltige Forschungsliteratur aus der Migrationssoziologie, der Sozialpsychologie und den Erziehungswissenschaften. Einen guten Einblick in die Thematik vermitteln die Publikationen des Instituts für Migration und interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück und das Institut für Türkeistudien in Essen, dessen Name 2010 geändert wurde zu „Stiftung für Türkeistudien und Integrationsforschung“. Keim_sV-264End.indd 30 10.02.12 16: 57 Die Anwerbung von „Gastarbeitern“ 31 Von der deutschen Politik, von Arbeitgeberseite und auch von den Angeworbenen selbst war der Aufenthalt in Deutschland nicht auf Dauer geplant. Wegen der hohen Kosten für die Entwicklung einer geeigneten Infrastruktur war eine Ansiedlungspolitik von der deutschen Politik nicht erwünscht. Für die deutsche Wirtschaft stellten die ausländischen Arbeiter ein mobiles Arbeitskräftepotential dar, das bei Konjunkturschwankungen problemlos „freigesetzt“ werden konnte. Das formulierte ein Mitglied des Arbeitgeberverbandes 1966 folgendermaßen: „Der große Wert der Ausländerbeschäftigung liegt darin, dass wir hiermit über ein mobiles Arbeitskräftepotential verfügen. Es wäre gefährlich, diese Mobilität durch eine Ansiedlungspolitik einzuschränken“ (zitiert aus Klee 1972, S.- 26). Es wurden kurzfristige Arbeitsverträge abgeschlossen bzw. die „Rotation“ empfohlen, d. h. der Austausch von Arbeitskräften nach kurzer Zeit, um ein Sesshaftwerden zu erschweren. Die Angeworbenen aus Nicht EWG-Ländern (damals war nur Italien in der EWG) erhielten nur für ein Jahr Aufenthaltsrecht und waren während dieser Zeit an den Arbeitgeber gebunden (vgl. Cindark 2010, S.56); eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer stand im Ermessen der Behörden. Von den Gerichten wurde eine ständige Niederlassung nach dem Ausländergesetz 1965 als Verstoß gegen „die Belange der Bundesrepublik“ gewertet (Herbert 2003, zit. aus Cindark a. a. O.). Auch auf Seiten der ausländischen Arbeiter wurde der Aufenthalt in Deutschland zunächst als Provisorium gesehen; die Rückkehr war fest eingeplant. Doch der Aufenthalt der Zuwanderer verlängerte sich immer mehr. In den meisten Betrieben wurden die Arbeiter länger als geplant gebraucht, und die Ziele der ehemaligen „Gastarbeiter“ hatten sich verändert. Viele wollten auf Dauer in Deutschland bleiben, nachdem sich im Laufe der Zeit herausgestellt hatte, dass die finanziellen Mittel nicht ausreichten, um in der Heimat eine Existenz aufzubauen. Bis 1966 war die Anwesenheit der „Gastarbeiter“ erwünscht. Die erste große öffentliche Diskussion über ihre Anwesenheit fand 1966/ 1967 statt, als die Hochkonjunktur des „Wirtschaftswunders“ nachließ. 3 Damals verließen viele „Gastarbeiter“ Deutschland und kehrten in die Heimatländer zurück. Die in Deutschland vertretene Idee, Menschen nach den Bedürfnissen der Wirtschaft anzuwerben und wieder wegzuschicken, schien zu funktionieren. Als nach 1967 die Konjunktur wieder anzog, wurden erneut Arbeitskräfte angeworben, jetzt vor allem aus der Türkei. Doch Anfang der 70er Jahre änderte sich die Situation dramatisch. Durch die sogenannte Ölkrise 3 Zum Folgenden vgl. Ulrich Herbert (2011): Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland“. Interview in der ZEIT vom 10.02.2011, S.-19. Die offensive „Gastarbeiter“-Politik hatte dazu geführt, dass, so Herbert, „überfällige Rationalisierungsmaßnahmen in der Industrie ausblieben. Es war billiger, ungelernte Türken zu holen, als etwa in den Autowerken die Produktion zu modernisieren. Dank ‚billiger Ausländer‘ konnten die Unternehmen hohe Gewinne erwirtschaften. Die sozialen Kosten aber wurden langfristig auf die Allgemeinheit abgewälzt.“ Keim_sV-264End.indd 31 10.02.12 16: 57 32 Türkische MigrantInnen in Deutschland verursacht, 4 rutschte die deutsche Wirtschaft in die Rezession und die Regierung Brandt verhängte 1973 den Anwerbestopp, der die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften aus Nicht-EWG-Staaten abrupt unterband. 5 Der Anwerbestopp begrenzte zwar die transnationalen Fluktuationen, erhöhte jedoch den Ausländeranteil in Deutschland und stabilisierte die Dauerniederlassung, weil viele ausländische ArbeiterInnen aus Nicht-EWG-Staaten ihre Familien nachholten. Aus „Gastarbeitern“ wurden faktische Einwanderer, nach Herbert ein typischer Prozess, der in fast allen europäischen Einwanderungsländern stattfand. Bereits Ende der 70er Jahre lebte ein Großteil der ausländischen Familien in einer Einwanderungssituation, allerdings in einem Land, das sich nicht als Einwanderungsland verstand. Dieses Paradox wurde jahrelang in den politischen Entscheidungsprozessen verdrängt und im alltäglichen Handeln der staatlichen Institutionen tabuisiert. Die Bundesregierung vertrat offiziell weiterhin das Ziel, die „Gastarbeiter“ zur Rückkehr zu bewegen. Alles was der Integration diente, sollte unterbleiben; die Kinder sollten die Sprache der Eltern beherrschen lernen, der Familiennachzug sollte eingeschränkt werden. Doch mit zunehmender Aufenthaltsdauer wuchsen die arbeits- und sozialrechtlichen Ansprüche der Zuwanderer an den Wohlfahrtsstaat und führten gegen Ende der 70er Jahre zu Diskussionen über die sogenannte „Ausnutzung“ der Sozialsysteme und zu „Ausländer-raus“-Parolen. In den 80er Jahren gab es Vorschläge, die Einwanderung aktiv zu steuern. Sie scheiterten jedoch, da mit dem Ausländer-Thema starke Emotionen verbunden waren und sich damit Wahlen gewinnen ließen. Durch den Strom von Asylanten vor allem aus Balkanländern erlebte die deutsche Innenpolitik kurz vor und nach der Wiedervereinigung eine ihrer schärfsten Krisen. Und damit begannen die Übergriffe auf Ausländer, die Anfang der 90er Jahre zu „Pogromen, Brandanschlägen, Mordtaten in Hoyerswerda, Mölln, Solingen und anderen Orten“ führten (Herbert 2011). In gewissen Medien wurde dabei der Unterschied zwischen den frühen Einwanderern und den späteren Asylanten eher verwischt. 4 Die Ölkrise wurde durch den Jom-Kippur-Krieg (den 4. israelisch-arabischen Krieg) im Herbst 1973 ausgelöst. Die Öl exportierenden Länder drosselten ihre Fördermengen, um die westlichen Länder wegen der Unterstützung Israels unter Druck zu setzen. Der Ölpreis stieg um ca. 70 %. Das hatte gravierende wirtschaftliche Auswirkungen und löste eine starke Rezession aus. Die Ölverknappung und die erheblichen Preissteigerungen führten zu Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Insolvenzen. 5 Von den Staaten, mit denen die Bundesrepublik Anwerbeverträge abgeschlossen hatte, gehörte nur Italien zur EWG; für italienische „Gastarbeiter“ galt der Anwerbestopp also nicht, aber für die übrigen Anwerbestaaten. Keim_sV-264End.indd 32 10.02.12 16: 57 Die Anwerbung von „Gastarbeitern“ 33 Exkurs 1 6 Den Anschlägen von Mölln und Solingen gingen Anschläge auf Ausländer in den neuen Bundesländern voraus: die rechtsextremistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991, die sich unter Applaus von Anwohnern gegen vietnamesische Straßenhändler, Arbeiter aus Mosambik und Asylbewerber richteten; und der Brandanschlag im August 1992 in Rostock, der massivste ausländerfeindliche Anschlag der Nachkriegszeit, der gegen über 100 vietnamesische Asylbewerber gerichtet war, deren Wohnheim verriegelt und unter Applaus von Schaulustigen angezündet wurde. Die Eingeschlossenen konnten sich glücklicherweise über das Dach des Nachbarhauses retten. Solche Anschläge blieben zunächst auf die neuen Bundesländer beschränkt. Doch extremistische Gewalt erfasste auch bald Westdeutschland und richtete sich gegen türkische Bewohner. Der rechtsextremistische Brandanschlag von Mölln erfolgte in der Nacht auf den 23. November 1992 auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln. In dem einen Haus gab es kein Todesopfer, jedoch neun zum Teil schwer Verletzte. Im anderen Haus kamen zwei Mädchen und ihre Großmutter ums Leben. In den Wochen nach dem Vorfall fanden überall in Deutschland spontane Großdemonstrationen (mit Lichterketten) gegen Fremdenfeindlichkeit statt. In Reaktion auf die Anschläge in Hoyerswerda, Rostock und Mölln verschärfte der Bundestag am 26. Mai 1993 das Recht auf Asyl. Drei Tage später erfolgte der Mordanschlag in Solingen (NRW), dem fünf Menschen türkischer Herkunft zum Opfer fielen und 17 Menschen z. T. lebensgefährlich verletzt wurden. Der Solinger Anschlag war der Höhepunkt rassistischer Anschläge auf Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland. Er löste heftige Reaktionen aus: Die Demonstrationen in Solingen führten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, an denen auch radikale türkische Organisationen beteiligt waren. 2011 wurden die Morde an acht türkischstämmigen Kleinunternehmern und einem Griechischstämmigen bekannt, die nach 2001 stattfanden und für die eine rechtsterroristische Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ verantwortlich gemacht wird. Dass diese Gruppe zehn Jahre lang unerkannt ausländerfeindliche Verbrechen begehen, und sich auf ein zuverlässiges Netzwerk stützen konnte, wird in der öffentlichen Diskussion u. a. auch mit dem „alltäglichen Rassismus“ erklärt, der in Deutschland weit verbreitet ist. 7 Die aktuellen Ermittlungen werden auf Helferkreise ausgedehnt. 6 Zum Folgenden vgl. z. B. den Artikel in DIE ZEIT von Martin Klingst: Die Qual mit dem Rechtsstaat. Sprachlose Erinnerung an die Brandopfer in Solingen, vom 03.12.1993, unter http: / / www.zeit.de/ 1993/ 49/ die-qual-mit-dem-rechtsstaat/ komplettansicht (Stand Januar 2012); vgl. auch den Artikel von Günther Lachmann: „Solingen, Türken und ein ewig brennendes Feuer“ in DIE WELT, vom 20.12.2009, http: / / www.welt.de/ politik/ lachmann/ article5581089/ Solingen-Tuerken-und-ein-ewig-brennendes-Feuer.html? print=true#reqdrucken (Januar 2012); vgl. auch die entsprechenden Einträge in Wikipedia. 7 In der Boulevard-Presse wurden die Morde als sogenannte „Döner-Morde“ bezeichnet. Diese Bezeichnung wurde von der Gesellschaft für Deutsche Sprache (Wiesbaden) 2012 Keim_sV-264End.indd 33 10.02.12 16: 57 34 Türkische MigrantInnen in Deutschland Ende der 80er Jahre machten Ausländer 7,7 % der Gesamtbevölkerung aus, Ende der 90er Jahre 9 %. Heute haben ca. 7,2 Millionen, also fast 9 % der Gesamtbevölkerung, eine nicht-deutsche Nationalität. Der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund liegt mit 15,5 Millionen Einwohnern doppelt so hoch und macht derzeit fast 19 % der Gesamtbevölkerung aus. 8 Die längst fällige politische Auseinandersetzung mit Einwanderungs- und Eingliederungsfragen erfolgte erst im Zusammenhang mit der Abfassung des Zuwanderungsgesetzes (2002/ 2003), das am 01.01.2005 in Kraft trat. Da waren bereits mehr als 40 Jahre vergangen, in denen man die Zuwanderung politisch und rechtlich hätte gestalten können, und die politisch-rechtliche Anerkennung der Realität kam mit 30bis 40-jähriger Verspätung. Bade/ Oltmer (2008, S.- 169) heben in diesem Zusammenhang kritisch hervor, dass genau „jene politischen Kräfte“, die eine gesetzliche Beschäftigung mit Migration und Integration jahrzehntelang blockiert hatten, besonders jetzt über eine misslungene Integrationspolitik und „über die Zuwanderung in die Sozialsysteme“ klagen, „zu deren Begrenzung ein rechtzeitig verabschiedetes Gesetz mit klaren Perspektiven und Maßgaben für Zuwanderungssteuerung und Integrationsförderung entscheidend hätte beitragen können“ (a. a. O.). Ein informelles Zuwanderungsland war die Bundesrepublik bereits Ende der 60er Jahre; anerkannt und geregelt wurde die Zuwanderung jedoch erst 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz. Das Gesetz regelt allerdings nur die neue Zuwanderung; an der politischen, rechtlichen und sozialen Situation der seit Jahrzehnten ansässigen Zuwanderer hat sich kaum etwas geändert. Viele von ihnen leben weiterhin als „Ausländer“ in Deutschland. als „Unwort des Jahres 2011“ gewählt. Der Ausdruck mache deutlich, dass die politische Dimension der Mordserie der Zwickauer Neonazi-Zelle jahrelang verkannt oder wissentlich ignoriert worden sei, begründete die Jury am 17.01.2012 ihre Entscheidung. „Mit der sachlich unangemessenen, folkloristisch-stereotypen Etikettierung einer rechtsterroristischen Mordserie werden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden“, hieß es in der Erklärung. Die (jahrelang vorherrschende) Vermutung, die Motive der Morde seien bei Schutzgeld- oder Drogengeschäften zu suchen, sei mit der Bezeichnung „Döner-Morde“ gestützt worden. Der Begriff habe die Wahrnehmung vieler Menschen über Jahre beeinflusst, so ein Artikel im FOCUS, vgl. http: / / www.focus.de/ panorama/ vermischtes/ unwort-des-jahres-2011-doener-morde-zum-schlimmsten-begriff-gewaehlt-_aid_703250. html (Stand Januar 2012). Der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Prof. Dr. Ludwig Eichinger, bewertete „Döner-Morde“ als Ausdruck eines in Deutschland verbreiteten „alltäglichen Rassismus“, vgl. SWR 3, Landesschau vom 17.01.2012. Vgl. auch die ARD-Doku über die Neonazi-Morde vom 12.12.2011, 17.57, mit dem Titel „Die Schande“. 8 Die Daten stammen vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden. Mikrozensus 2007. Quelle: Statistisches Bundesamt. Dabei sind Spätaussiedler eingeschlossen. Die Gesamtbevölkerung in Deutschland wird mit 82.257.000 abgegeben, davon haben 15.411.000 Einwohner einen Migrationshintergrund; das sind 18,7 %. Keim_sV-264End.indd 34 10.02.12 16: 57 Geschichte der türkischen Zuwanderung 35 2.2 Geschichte der türkischen Zuwanderung Ende der 1950er Jahre setzte die türkische Migration in viele Länder Europas ein und führte zur Bildung großer Minderheitengruppen in Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Holland, Schweden und Dänemark. In den späten 50er Jahren wurden in Norddeutschland gezielt qualifizierte Arbeitskräfte aus der Türkei angeworben mit dem Ziel sie weiter zu qualifizieren. 9 Mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei vom 31. Oktober 1961 war es möglich, gezielt Arbeitskräfte anzuwerben, junge, gesunde und körperlich kräftige Männer und Frauen. Der soziale Hintergrund der Angeworbenen und ihre Ausreisemotive waren heterogen; es gab arbeitslos gewordene Landarbeiter, die in Deutschland ihre Existenz sichern wollten, aber auch Lehrer, Akademiker oder Kleingewerbetreibende, die genügend Geld verdienen wollten, um ihre Lebensbedingungen in der Türkei zu verbessern (Immobilienerwerb, Schuldenabbau, Aufbau von Selbständigkeit). In den Jahren zwischen 1966 und 1973 waren ca. 30 % der Angeworbenen qualifizierte Arbeitskräfte (Karakaşoğlu 2008, S.- 1055). Die Angeworbenen wurden bestimmten Industrien und Dienstleistungsgewerben zugeordnet, dem Bergbau, der Stahl- und Autoindustrie und den Abfall- und Reinigungsdiensten, die oft auch für ihre Unterkunft in nach Geschlechtern getrennten Wohnheimen sorgten. Der türkische Staat unterstützte die Arbeitskräfteentsendung, da er einen Devisentransfer und vor allem eine Entlastung des heimischen Arbeitsmarktes mit seiner hohen Arbeitslosenquote erhoffte. 10 Die türkischen „Gastarbeiter“ blieben sowohl im Arbeitsals auch im Wohnbereich im Wesentlichen unter sich; sie lebten und arbeiteten mit Landsleuten zusammen oder mit „Gastarbeitern“ aus anderen Ländern. Ihr Leben war geprägt von äußerster Sparsamkeit, ärmlichen Lebensbedingungen, hohen Devisenüberweisungen in die Türkei und vom Traum der baldigen Rückkehr. Der Anwerbestopp 1973 löste unter den türkischen „Gastarbeitern“ Angst vor noch strengeren Maßnahmen aus, und sie entschieden sich in Deutschland zu bleiben. Diese Tendenz wurde verstärkt durch ein Gesetz, das die Kürzung des Kindergeldes für Kinder in der Türkei vorsah. Da die türkischen „Gastarbei- 9 Das wurde auch als Entwicklungshilfe für die im Aufbau befindliche türkische Industrie gesehen. 10 Durch die Mechanisierung der türkischen Landwirtschaft waren in den 50er Jahren viele Landarbeiter in Zentral- und Ostanatolien arbeitslos geworden, wanderten in die Wirtschaftszentren im Norden und Westen der Türkei aus und bildeten vor allem in den Großstädten große Gruppen arbeitsloser, verarmter Binnenmigranten, die neue regional oder ethnisch geprägte Viertel am Rande der Großstädte oder in verarmten Innenstadtbereichen bildeten. Im Norden von Istanbul z. B. gibt es Stadtgebiete, die von Binnenwanderern aus den östlichen Schwarzmeergebieten besiedelt sind; in einige verlassene Innenstadtbezirke, die durch die Vertreibung von Griechen in der 50er Jahren entvölkert worden waren, zogen Zuwanderer aus Zentralanatolien. Keim_sV-264End.indd 35 10.02.12 16: 57 36 Türkische MigrantInnen in Deutschland ter“ aufgrund dieses Gesetzes finanzielle Einbußen befürchteten, holten sie ihre Familien nach Deutschland. Der Migrationswissenschaftler K.-H. Meier-Braun formulierte das 1995 folgendermaßen: 11 „Der Anwerbestopp forderte den Familiennachzug (...) geradezu heraus. Das gilt auch für eine Maßnahme aus dem Jahre 1975, als die Kindergeldsätze für ausländische Kinder, die im Heimatland geblieben waren, gekürzt wurden. Die Statistik zeigt deutlich, wie die Zahl der Zuzüge durch diese beiden Maßnahmen angestiegen ist.“ Bereits Mitte der 70er Jahre gab es durch den Nachzug von Familienangehörigen in deutschen Großstädten ethnische Wohngebiete mit türkischen (Groß)Familienverbänden und engen türkischen Nachbarschaften. Da nach dem Anwerbestopp die Familienzusammenführung die einzige legale Möglichkeit der Zuwanderung war, wuchs von da an auch die Migration durch Heirat an. Ab Ende der 60er Jahre schufen türkische „Gastarbeiter“ eine ethnische Infrastruktur mit politischen und religiösen Vereinen, die bis in die 80er Jahre vor allem auf die Türkei ausgerichtet waren. Mit dem vermehrten Zuzug von Frauen und Kindern veränderten sich auch die Strukturen in den türkischen Gemeinschaften; es entwickelte sich eine ethnische (Nischen)Ökonomie mit Geschäften und Dienstleistungen, die den täglichen Bedarf der Familien sicherten: Lebensmittel-, Kleider- und Einrichtungsgeschäfte wurden eröffnet, Friseure, Banken, Ärzte und Apotheken siedelten sich an. Auch die Wertorientierungen in den Familien änderten sich. Durch die Lohnarbeit wurden die Frauen selbstbewusster und selbständiger, die innerfamiliären Beziehungen veränderten sich, Scheidungen nahmen zu. Die Familien orientierten sich zunehmend auf das Aufnahmeland hin, 12 setzten sich damit auseinander und planten hier eine dauerhafte Existenz. Seit Beginn der 90er Jahre gaben etwa zwei Drittel der Türken bei Repräsentativumfragen an, auf Dauer in Deutschland leben und arbeiten zu wollen. Eine Konsequenz der Stabilisierung der türkischen Migrantengemeinschaften war, dass die Differenzen zwischen Zuwanderern und Einheimischen verstärkt in den Blick kamen und von Einheimischen als Anpassungsbzw. Integrationsprobleme thematisiert wurden. Auffallend waren vor allem die ethnische Konzentration, die hohe Arbeitslosigkeit, die Schulprobleme der Kinder und die (gemessen an der Mehrheitsgesellschaft) überdurchschnittliche Familiengröße (Karakaşoğlu 2008, S.- 1056ff.). Auf diese Diskussionen reagierte die 11 Vgl. Karl-Heinz Meier-Braun: „40 Jahre „Gastarbeiter“ und Ausländerpolitik in Deutschland“. „40 Jahre ‚Gastarbeiter‘ und Ausländerpolitik in Deutschland“. In: Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament), 25. August 1995, S.-14-22. 12 Die sukzessive Orientierung der Familien auf das Aufnahmeland sieht Karakaşoğlu (2008, S.- 1056) auch im Zusammenhang mit den negativen Erfahrungen, die eine Reihe von Rückkehrern 1983/ 1984 mit der sozialen und kulturellen Reintegration in die türkische Gesellschaft machten. Sie nahmen das Rückkehrförderungsgesetz in Anspruch, ließen sich Versicherungen und Renten auszahlen und planten mit dem Geld eine Existenzgründung in der Türkei. Viele scheiterten jedoch und mussten erneut auswandern. Keim_sV-264End.indd 36 10.02.12 16: 57 Zur gegenwärtigen Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in Deutschland 37 deutsche Politik durch die Verschärfung des Ausländerrechts; für Türken wurde der Visumszwang eingeführt, der die Einreise nach Deutschland erheblich erschwerte. Die Ausländer- und Türkenfeindlichkeit erreichte kurz nach der Wiedervereinigung ihren Höhepunkt in den Anschlägen von Mölln und Solingen. Diese Erfahrungen prägten das Leben in der Bundesrepublik auf Jahre und führten auf Seiten der türkischen Zuwanderer zur Abwendung von den Deutschen und zum Rückzug in die eigene Ethnie (Keim 2008, Teil 1). Viele ehemalige „Gastarbeiter“ sind heute seit 40 bis 50 Jahren in Deutschland, ihre Kinder sind hier geboren, aufgewachsen und haben jetzt selbst Familien. Während dieser Zeit lebten sie mehr oder weniger in einem rechtlichen, sozialen und schulischen Provisorium. Erst seit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes erkennt die Bundesrepublik offiziell an, dass sie zum Einwandererland geworden ist. Doch die „nachholende Integration“ von Zuwanderern und ihren Familien, die seit Jahrzehnten in rechtlicher Unsicherheit, abgeschottet und sozial, schulisch und beruflich benachteiligt gelebt hatten, ist politisch immer noch ein Randthema, und die institutionellen und organisatorischen Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lebens-, Ausbildungs- und Berufssituation greifen nur langsam. In der Öffentlichkeit jedoch werden die Versäumnisse auf deutscher Seite kaum diskutiert. Für Erregung sorgt nur die sogenannte „Integrationsunwilligkeit“ von Zuwanderergruppen, und vor allem türkischstämmige Zuwanderer finden sich mit dem Vorwurf der „Integrationsverweigerung“ konfrontiert. 13 2.3 Zur gegenwärtigen Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in Deutschland In offiziellen Statistiken ist „Türken in Deutschland“ die Bezeichnung für Staatsbürger der Türkei, die in Deutschland leben. Umgangssprachlich werden auch solche Menschen als „Türken“ bezeichnet, die ihre türkische Staatsbürgerschaft aufgegeben und die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben; offiziell werden sie als „Deutschtürken“ bezeichnet. Die Bezeichnung „Türkeistämmige“ ist ein Neologismus, der sich gegen die im allgemeinen Sprachgebrauch verbreitete Bezeichnung „Türkischstämmige“ abgrenzt; sie umfasst nicht nur Angehörige der ethnischen Gruppe der Türken, sondern alle ethnischen und sprachlichen Gruppen auf dem heutigen Staatsgebiet der Republik Türkei. 14 13 Vgl. die Debatten im Anschluss an Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ in den Medien 2010 und 2011. 14 Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat und verfolgt u. a. auch aus Angst vor Spaltung eine restriktive Minderheitenpolitik. In der heutigen Türkei gibt es über 40 Bevölkerungsgruppen (Karakaşoğlu 2008, S.-1054). Im Prozess der Annäherung an die EU erfolgt unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan derzeit eine vorsichtige Liberalisierung der Minderheiten- Keim_sV-264End.indd 37 10.02.12 16: 57 38 Türkische MigrantInnen in Deutschland 2.3.1 Ethnische Zusammensetzung Die türkischen Staatsbürger in Deutschland setzen sich aus etwa 25 verschiedenen auf dem Staatsgebiet der Türkei lebenden Ethnien und Sprachgruppen zusammen. Den größten Anteil bilden die nicht klar abgrenzbaren ethnischen Türken, gefolgt von Kurden, Zaza, Lasen, Tscherkessen und vielen kleineren Ethnien, wie zum Beispiel den christlichen Aramäern. Exkurs 2: Kurden 15 Ca. 16 Millionen Kurden leben in der Türkei, 4 Millionen im Irak, 6 Millionen im Iran und ca. 500.000 in Syrien. Die Anzahl der in Deutschland lebenden Kurden ist nicht amtlich erfasst, weil Kurden unter ihrer Nationalität als Türken, Iraner etc. kategorisiert werden. Amtlich erfasst wird die kurdische Identität nur, wenn jemand in seinem Asylantrag angibt, als Kurde im Herkunftsland politisch verfolgt zu werden. Kurdische Migranten, fast ausschließlich Männer, kamen zunächst als Arbeitsmigranten in die Bundesrepublik; bis zum Anwerbestopp 1973 war ein Drittel der angeworbenen türkischen Gastarbeiter kurdisch. In den 90er Jahren kamen besonders viele Asylbewerber. Es fand Kettenmigration statt, d. h. die Flüchtlinge wählten die Regionen in Deutschland, in denen bereits Verwandte lebten. Soziale Bindungen in Deutschland sind vor allem auf regionale und verwandtschaftliche kurdische Netzwerke bezogen; Mischehen zwischen verschiedenen kurdischen Gruppen sind nicht üblich. Unter Kurden sind verschiedene Religionen und Glaubensrichtungen vertreten. Zwei Drittel der Kurden in Deutschland sind schafitische Sunniten; sie unterscheiden sich von den hanafitischen Sunniten, einer Rechtsschule, der die meisten ethnischen Türken angehören. Außerdem gibt es unter der türkischen und kurdischen Bevölkerung ca. 20 bis 30 % Aleviten, die zu einer anatolischen Variante des schiitischen Islam gehören. Kurdisch ist eine indogermanische Sprache im Unterschied zum Türkischen, das zu den Turksprachen gehört. Es gibt drei kurdische Sprachen bzw. Hauptdialektgruppen: Das Nordkurdische (Kurmandschi), das vor allem von den Kurden in der Türkei gesprochen wird; das Zentralkurdische, vor allem in der Region Kurdistan und im Westiran gesprochen, und das Südkurdische im Westiran und Nordirak. Wegen des jahrzehntelangen Sprachverbots von Kurdisch in der Türkei hat sich die Kurdischkompetenz unter den türkischen Kurden erheblich verringert. Außerdem wird in der gebildeten Öffentlichkeit der Türkei Kurdisch mit geringer Bildung und ländlicher Herkunft assoziiert, und die Verwendung von Kurdisch als Hervorhepolitik, z. B. durch die Zulassung der kurdischen Sprache und kurdischsprachiger Medien, die Normalisierung der Beziehungen zu den Griechen und eine vorsichtige Annäherung an die Armenier. 15 Die folgende Darstellung basiert auf dem Beitrag von Ammann (2008). Informationen zur kurdischen Kultur und zu kurdischen Dialekten kann man über NAVEND - Zentrum für Kurdische Studien e.V. in Bonn erhalten, unter www.navend.de. Keim_sV-264End.indd 38 10.02.12 16: 57 Zur gegenwärtigen Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in Deutschland 39 bung ethnischer Differenz verstanden. Türkische Kurden in Deutschland werden von der deutschen Gesellschaft den „Türken“ zugerechnet, während viele Türken sich scharf von den Kurden abgrenzen. Exkurs 3: Lasen 16 Die Lasen sind ein südkaukasisches Volk, das in der Türkei an der südöstlichen Schwarzmeerküste lebt. Die Lasen sprechen Lasisch und sind sunnitische Muslime hanafitischer Rechtsschule. Die Zahl der in der Europäischen Union lebenden Lasen wird auf 5000 bis 50.000 geschätzt; die meisten leben in Deutschland. Sie kamen als Gastarbeiter in den 1970er Jahren und leben bereits in der dritten Generation hier. Lasisch gehört zur südkaukasischen Sprachenfamilie. Obwohl die Lasen mit den Türken ethnisch nicht verwandt sind, werden sie in der heutigen Türkei nicht als ethnische Minderheit anerkannt. Daher ist über die Lasen und ihre Sprache innerhalb und außerhalb der Türkei nur wenig bekannt. Dies führt z. B. auch zu der falschen Annahme, dass Lasisch ein türkischer Dialekt sei. Exkurs 4: Zaza, Tscherkessen und Abchasen 17 Die Zaza sind eine Volksgruppe in Ostanatolien. Ihre Zahl wird auf 3-4 Millionen geschätzt, ihre Sprache ist Zazaki. Sie gehören sunnitischen und alevitischen Religionsgruppen an. In Deutschland leben schätzungsweise 150.000-200.000 Zaza. Zazaki wird oft aus politischen und kulturellen Gründen als eine kurdische Sprache, sogar als ein „kurdischer Dialekt“ betrachtet. Dagegen gilt in der Iranistik als sicher, dass Zazaki eine eigenständige Sprache innerhalb der iranischen Sprachenfamilie ist; d. h. sie gehört zum iranischen Zweig der indogermanischen Sprachen. In der Türkei wurden die Zaza aufgrund der offiziellen Assimilationspolitik lange Zeit als Türken bezeichnet, heute werden sie den Kurden zugerechnet. Auch Kurden halten die Zaza ethnisch, kulturell und sprachlich für Kurden. Die Tscherkessen stellen mit ca. 2,8 % der türkischen Gesamtbevölkerung neben den Kurden eine der größten ethnischen Minderheiten in der Türkei dar. Die Tscherkessen sind nahezu ausschließlich sunnitische Muslime. Sie leben verstreut in der gesamten Türkei. Zu den Tscherkessen werden in der Türkei auch die eng verwandten Ethnien Abasinen (ca. 10.000) und Abchasen (ca. 39.000) gezählt. Die Tscherkessen sind ein eingewandertes Kaukasusvolk, die große Mehrheit von ihnen 16 Zur Gruppe der Lasen und ihrer Sprache vgl. Feurstein, Wolfgang N. (2007): Der sprachliche Reichtum der Kolchis: Untersuchungen zur südkaukasischen Sprache und Kultur der Mingrelier und Lasen. Freudenstadt: Kaukasus-Verl. 17 Zu Zaza vgl. den Aufsatz von Zilfi Selcan (1998): Die Entwicklung der Zazasprache. In: Zeitschrift für Sprache und Kultur der Zaza. Baiersbronn, Nr. 12, Nov. 1998, S.-152-163 und http: / / www.zazaki.de/ deutsch/ aufsaezte/ EntwicklungZSpr_A5.pdf (Stand Januar 2012); vgl. auch Jost Gippert: Zur dialektalen Stellung des Zazaki. In: Die Sprache 47 (2009), S.-77-107. Wien: Wiener Sprachgesellschaft, http: / / titus.fkidg1.uni-frankfurt.de/ personal/ jg/ pdf/ jg2008e.pdf (Stand Januar 2012). Keim_sV-264End.indd 39 10.02.12 16: 57 40 Türkische MigrantInnen in Deutschland wurde assimiliert und nur ein kleiner Teil beherrscht noch eine der tscherkessischen Sprachen, überwiegend Ost-Tscherkessisch. Tscherkessisch und Abchasisch sind nordkaukasische Sprachen. Die Sprachen der größten Minderheitengruppen in Deutschland, der Kurden, Lasen, Zaza und Tscherkessen, gehören also nicht zu den Turksprachen, d. h. sie sind anders strukturiert als die Nationalsprache Türkisch. Nordkurdisch und Zazaki gehören zu den indogermanischen Sprachen, die anderen sind kaukasische Sprachen, die eine eigene Sprachengruppe bilden. Tscherkessisch und Abchasisch gehören zur nordkaukasischen Sprachengruppe, Lasisch und Georgisch, das ebenfalls in der Osttürkei gesprochen wird, zur südkaukasischen Sprachgruppe. Die meisten Minderheitenangehörigen sprechen neben Türkisch auch ihre Minderheitensprache, d. h. sie sind mehr oder weniger zweisprachig. 2.3.2 Soziale Situation Ende 2008 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 1.688.370 türkische Staatsbürger in Deutschland; das sind ca. 25 % der Ausländer in Deutschland. 18 Die Zahl von Menschen mit türkischen Hintergrund ist jedoch viel größer; sie betrug 2007 ca. 2,5-Mio. 19 In der türkischstämmigen Bevölkerung hat sich in den letzten 30 Jahren ein tief greifender Wandel vollzogen von den ehemaligen „Gastarbeitern“ hin zu einer dauerhaft ansässigen Einwandererminderheit. Der Erwerb von Immobilien bestätigt den Bleibewunsch; so kauften z. B. (Groß)Familien oder ganze Nachbarschaften in preislich günstigen Wohngebieten Wohnungen und Häuser und sanierten sie gemeinsam (Karakaşoğlu 2008, S.- 1058). Waren zu Beginn der Anwerbung vor allem türkische Männer in Deutschland, ist der Anteil der Geschlechter derzeit relativ ausgeglichen. 20 Über 80 % der heutigen türkischstämmigen jungen Menschen sind in Deutschland geboren und leben hier, und die als „Gastarbeiter“ Zugewanderten sind heute bereits im Rentenalter. Eine Reihe von ihnen pendelt zwischen den Verwandten in der Türkei und den Kindern und Enkeln in Deutschland. Da viele aufgrund niedriger Löhne und kurzer Rentenanwartschaften im Alter von Armut betroffen sind, spielt, neben dem Wunsch bei Kindern und Enkeln zu sein, auch die soziale und gesundheitliche 18 Die nächstgrößte Gruppe bilden die Italiener mit 523 162 Personen; sie machen ca. 7,8 % der Ausländer in Deutschland aus. 19 Vgl. Statistisches Bundesamt. Wiesbaden. Mikrozensus 2007; danach haben 2.527.000 Personen einen türkischen Migrationshintergrund. 20 Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes, Mikrozensus 2007, liegt der Frauenanteil in der türkischstämmigen Bevölkerung bei 47,6 %. Keim_sV-264End.indd 40 10.02.12 16: 57 Zur gegenwärtigen Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in Deutschland 41 Versorgung in Deutschland (ebenso wie in den anderen europäischen Ländern) bei ihrem Bleibewunsch eine wichtige Rolle. Die Berufs- und Beschäftigungsstruktur hat sich erheblich ausdifferenziert. In der zweiten Generation fand eine allmähliche Verschiebung von ungelernten oder angelernten Arbeiten statt hin zu qualifizierten Tätigkeiten im Produktions- und Dienstleistungsbereich, in Medien und Politik und zur Gründung von Geschäften und mittelständischen Unternehmungen. 21 Es gibt heute viele hoch qualifizierte türkischstämmige MigrantInnen in Technik, Wissenschaft, Bildung, Medizin und Politik; und viele Kulturschaffende, Schauspieler, Schriftsteller, Regisseure, Musiker und Kabarettisten sind türkischer Herkunft (vgl. Abschnitt 2.3.3). Die türkischstämmige Bevölkerung hat sich vor allem in Großstädten zu einer deutlich sichtbaren Minderheitengruppe entwickelt, die sie von anderen Minderheitengruppen und von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet (vgl. Kap.-3). Türken bilden die größte Gruppe islamischen Glaubens; sie haben ethnischkulturelle und religiöse Eigenschaften in deutlich wahrnehmbarer Weise bewahrt und weiter entwickelt. Sie haben enge soziale Netzwerke ausgebildet, in denen „jeder jeden kennt“; sie konzentrieren sich in ethnisch bestimmten Wohngebieten, in denen Großfamilien und Nachbarschaften eng zusammen leben; sie haben eine gute Infrastruktur entwickelt, in der alles im Alltag Notwendige in „Türkisch“ erledigt werden kann. Es gibt türkischsprachige Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) und ein weit ausdifferenziertes Vereinswesen, das von religiösen, säkularen, politischen, sportlichen, akademischen bis zu künstlerischen Vereinen reicht (Karakaşoğlu 2008, S.-1058). Die türkischstämmige Population zeigt häufig ein endogames Heiratsverhalten (Heirat innerhalb der eigenen Gruppe), das die Bildung einer ethnisch geschlossenen Gemeinschaft zusätzlich begünstigt. Die Konzentration in bestimmten Wohnvierteln, der Erwerb von Immobilien, der Alltag in der ethnisch geprägten Lebenswelt, das ausgeprägte Vereinswesen ebenso wie die Unternehmensgründungen zeigen einerseits die dauerhafte Bleibeabsicht und die Anpassung an Vergesellschaftungsformen, wie sie in der Mehrheitsgesellschaft gelten. Sie schaffen andererseits aber auch ethnische Enklaven, in denen die Akteure das Meiste in 21 Während unter türkischen Zuwanderern der ersten Generation nur ca. 3 % einen höheren Bildungsabschluss hatten, haben nach dem Mikrozensus 2009 des Statistischen Bundesamtes (Wiesbaden) 22,4 % der türkischstämmigen Bildungsinländer Abitur oder Fachabitur abgeschlossen; außerdem lag der Anteil unqualifizierter Beschäftigter in der ersten Generation bei 68 %, in der zweiten Generation dagegen nur noch bei 27 %. Das ist zwar immer noch hoch. Die Zahl macht jedoch die Bildungsdynamik von der ersten zur zweiten Generation überaus deutlich. Zit. aus Foroutan, Naika/ Canan, Coskun/ Schäfer, Corinna/ Schwarze, Benjamin (Hrsg.) (2010): Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand. Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland. http: / / www.heymat.hu-berlin.de/ sarrazin2010 (Stand 15.11.2011), S.-30ff. Keim_sV-264End.indd 41 10.02.12 16: 57 42 Türkische MigrantInnen in Deutschland der Herkunftssprache erledigen können. Das durch das Zusammenleben und Zusammenarbeiten verstärkte „Wir-Gefühl“ der Akteure erhöht gleichzeitig auch die Differenz zur Außenwelt und führt auf Seiten der Einheimischen wie der Zugewanderten zur fortwährenden Wahrnehmung von „Fremdheit“. Aufseiten der Einheimischen zeigt sich das vor allem daran, dass in der öffentlichen Diskussion immer wieder „die Türken“ bei der Auseinandersetzung mit Migration und Integration thematisiert werden; andere Gruppen erscheinen wesentlich weniger problematisch. 22 Dass bestimmte Wohngebiete in Großstädten aus der Außenperspektive als ethnische Viertel wahrgenommen werden, zeigen Bezeichnungen wie Türkeviertel oder Klein Istanbul, die z. B. für Stadtgebiete in Mannheim mit einem hohen Migrantenanteil verwendet werden (Keim 2008, S.-38ff.). Von Türkischstämmigen der zweiten Generation, die in einem dieser Stadtgebiete aufgewachsen sind, wird es als Ghetto bezeichnet. 23 Eine 20-jährige Abiturientin charakterisiert den Mannheimer Stadtteil „Jungbusch“, in dem sie aufgewachsen ist, von dem sie sich aber als junge Erwachsene distanziert, folgendermaßen: 24 der Jungbusch * der is schrecklich ne * des is en ghetto * jeder nennt des ghetto hier jeder * die türken auch und die deutschen sowieso * weil da würd kein deutscher leben der normal is * wenn er geld verdient. (Keim 2008, S.-39) Ethnische Wohngebiete werden von Türkischstämmigen sowohl negativ als auch positiv beurteilt; das kann wieder am Beispiel von Mannheim gezeigt werden. BewohnerInnen, die aus dem Stadtgebiet streben, erleben die Strukturen und die normativen Orientierungen und Überzeugungen der türkischen Gemeinschaft als Hindernis auf dem schulischen und beruflichen Weg in die Mehrheitsgesellschaft. Ein türkischstämmiger Student spricht von den Ghettomenschen mit ihrer Ghettokultur, die abgeschottet in einer Subkultur leben. Eine Herkunft aus dem Ghetto betrachtet er als wesentliche Ursache für die geringe Akzeptanz, die türkische Jugendliche in der Mehrheitsgesellschaft erleben. Migranten, die sich in der ethnischen Gemeinschaft wohl fühlen, betrachten das Wohngebiet als Schutz- und Unterstützungsraum. Für sie ist das Eintauchen ins Ghetto entspannend, da sie hier weder als fremd abgelehnt noch als hilfsbedürftig betrachtet werden. Im Ghetto muss man nicht erklären, warum man fastet oder warum man jung heiratet. Man muss die sozialen Regeln und Konventionen der türkischen Gemeinschaft nicht rechtfertigen und man muss nicht beweisen, dass man normal ist. Diesen Beweis müsse man außerhalb des 22 Interessant ist z. B., dass, obwohl italienischstämmige Kinder und Jugendliche in Schule und Ausbildung in Deutschland schlechter abschneiden als türkischstämmige, das in der öffentlichen Diskussion kaum Erwähnung findet. Nur die türkischstämmigen Kinder werden in den Mittelpunkt gestellt. 23 Zum Folgenden vgl. Keim (2008), S.-34-58. 24 Zu den Transkriptionskonventionen vgl. den Anhang. Keim_sV-264End.indd 42 10.02.12 16: 57 Zur gegenwärtigen Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in Deutschland 43 Stadtgebiets immer wieder erbringen, da dort jede unbedachte Äußerung dazu führen könne, dass man von deutschen Gesprächspartnern in ne bestimmte Ecke gebracht wird, dass bestimmte Vorurteile auf Seiten der Deutschen aktiviert werden. Eine Studentin berichtet von ihren Erfahrungen an der Universität. Auch wenn sie dort nicht abgelehnt wird, fühlt sie sich doch ständig in eine Sonderrolle gedrängt. Bei jedem Thema, das mit Ausländern, Türken oder Migration zu tun hat, wird sie als Expertin oder als Betroffene zu Erklärungen und zur Stellungnahme aufgefordert, und nicht als normale Gesprächsteilnehmerin akzeptiert. Auch bei privaten Dingen, wenn sie z. B. deutschen Kommilitoninnen Fotos von ihrer Hochzeit zeigt, muss sie erklären, warum die eine Frau Kopftuch trägt, die andere nicht, die eine geschlossene, die andere ausgeschnittene Kleidung usw. Das ständige Erklären und Rechtfertigen verleidet ihr den Kontakt mit Deutschen. Das Gefühl, draußen auffällig zu werden, bringt auch MigrantInnen, die den Weg aus dem Ghetto geschafft haben, immer wieder dahin zurück, weil sie hier nicht auffällig sind. Eine Studentin berichtet von Erfahrungen positiver Diskriminierung: In der Oberstufe des Gymnasiums war sie eine der wenigen AusländerInnen. Obwohl sie mündlich und schriftlich ausgezeichnet Deutsch konnte, wurde sie immer gefragt, ob sie auch alles verstanden hätte, ob man für sie nicht alles noch einmal erklären sollte. Durch diese unbegründete Sonderfürsorge fühlte sie sich wie schwachsinnig behandelt, und das war für sie ähnlich schlimm wie offene Ablehnung. Exkurs 5 In der neueren Migrationsforschung werden die Räume ethnischer Segregation, die im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen und der dauerhaften Niederlassung von Migrantenfamilien in bestimmten Wohngebieten des Aufnahmelandes entstehen, als „ethnische Kolonien“ bezeichnet (vgl. Esser 1986, Nauck 2004, S.-83). In Bezug auf den Eingliederungsprozess von Migranten werden in der Migrationssoziologie ethnischen Kolonien sowohl negative als auch positive Aspekte zugeschrieben, die Nauck (2004, S.- 84) folgendermaßen formuliert: Enge Beziehungen verhindern die individuelle Motivation zur Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft, da „extensive familiale Kontakte eine Vielzahl sozialer Bedürfnisse absorbieren und ein in Konkurrenz zur Aufnahmegesellschaft stehendes Institutionensystem zur Bewältigung alltäglicher Probleme darstellen.“ Familiale Bindungen und ethnische Kolonien „vermindern die Statusmobilität von Minoritäten durch die kurzfristige Anspruchserfüllung in selbstgenügsamen (…) Kongregationen.“ Dieser Aspekt spielt eine große Rolle in Bezug auf die wenig erfolgreichen Schul- und Bildungskarrieren der Kinder aus solchen Wohnvierteln. Andererseits, so Nauck, fördern ethnische Kolonien die Eingliederung, da Familie, Verwandtschaft und enge Netzwerke ein Unterstützungssystem darstellen, in dem „für den Eingliederungsprozess notwendige Bestände an Alltagswissen (…) kumulieren und jedem Mitglied Keim_sV-264End.indd 43 10.02.12 16: 57 44 Türkische MigrantInnen in Deutschland zur Verfügung gestellt werden“ (a. a. O.). Auch in anderen Arbeiten wird die Rolle, die ethnische Gemeinschaften bei der gesellschaftlichen Integration von Migranten spielen, unter zwei Aspekten bewertet: einerseits fördern sie die „Akkulturation und die Partizipation an Institutionen der Aufnahmegesellschaft, in dem sie a) Leistungen der sozialen Sicherung und der kognitiven Orientierung erbringen, b) Kontinuität zwischen Sinndeutungen vor und nach der Migration gewährleisten, c) den mit der Migration verbundenen Statusverlust (...) kompensieren und d) die moralische Marginalisierung der Migranten verhindern, indem sie soziale Kontrolle ausüben“ (Park und Miller, zit. nach Salentin 2004, 98). Andererseits jedoch können sie auch zur Falle werden, da sie Migranten von der Mehrheitsgesellschaft abschotten und verhindern, dass sie die Fähigkeiten entwickeln, die zur erfolgreichen Integration in die Mehrheitsgesellschaft erforderlich sind. Diese Position vertritt auch Esser (1986). Nach Karakaşoğlu (2008, S.- 1060) gehören türkische Zuwanderer in allen europäischen Einwanderungsländern zu den am meisten von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen. Eine Studie des Instituts für Bevölkerung und Entwicklung in Berlin (2009) unterstreicht diese Sicht: 25 Unter den Migranten im Erwerbsleben haben die türkischstämmigen mit 30 % den geringsten Erfolg; sie sind häufig arbeitslos und abhängig von Sozialleistungen. Faruk Şen, ehemaliger Leiter des Instituts für Türkeistudien (Essen), 26 sieht die Situation der Türkeistämmigen in Deutschland jedoch etwas anders. Bereits 2002 stellte er eine weite Ausdifferenzierung der türkischstämmigen Bevölkerung fest und hebt die Integrationserfolge im Bildungsbereich und im Erwerbsleben hervor. Doch auch er sieht, dass es in der zweiten und dritten Generation „nach wie vor Probleme (gibt), denen sich Gesellschaft und Politik stärker zuwenden müssen“. Es gibt eine Reihe junger Menschen, deren Teilhabechancen in der deutschen Gesellschaft nach wie vor sehr gering sind, und die verstärkt auf eigenethnische Strukturen zurückgreifen, die die Abschottung verstärken. 25 Die Studie wird in Spiegel Online, Politik, 24. Januar 2009 zitiert: „Türken sind mit Abstand am schlechtesten integriert“. Die Studie vergleicht die Integrationserfolge einzelner Migrantengruppen, inklusive der Zuwanderer mit deutschem Pass, und erstellt ein Ranking der einzelnen Bundesländer nach ihrem Integrationserfolg, der über die Bereiche Bildung, Erwerbssituation und Abhängigkeit von Sozialleistungen erfasst wird. 26 Vgl. Faruk Şen: Türkische Minderheit in Deutschland, Heft 277 (2002), Reihe Informationen zur politischen Bildung. Bundeszentrale für politische Bildung. Das Institut für Türkeistudien wurde 1985 als Modellprojekt gegründet; es hat seit 2001 Beraterstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen. Seit der Gründung bis 2008 war Faruk Şen der Direktor. Keim_sV-264End.indd 44 10.02.12 16: 57 Zur gegenwärtigen Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in Deutschland 45 2.3.3 Bildungssituation Die deutsche Bildungspolitik und die Bildungsinstitutionen haben sich seit dem Familienzuzug der ehemaligen „Gastarbeiter“ kaum um die Bildung der Kinder in Deutschland gekümmert, da Deutschland in offizieller Version „kein Einwanderungsland“ war. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Bildungssituation der Nachkommen ehemaliger „Gastarbeiter“ heute als Problem betrachtet wird. Doch es ist ein Problem, „das wir uns selber geschaffen haben“, so der Kulturwissenschaftler Hofmann (2011); „das hat Max Frisch zusammengefasst mit dem berühmten Zitat: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ 27 Eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erarbeitete Studie führt an, 28 dass die meisten in Deutschland lebenden Zuwanderer gut integriert sind, mit Ausnahme der Türken. Im Bereich der Bildung schneiden sie am schlechtesten ab: 13 % sind ohne Schulabschluss, 61 % haben eine eher geringe Schulbildung, 26 % eine mittlere bis höhere Schulbildung. Diese Bildungssituation hat Konsequenzen für die Beschäftigung. Nur 41 % der Türken leben in einer guten beruflichen Situation; bei anderen Zuwanderergruppen liegt die Quote deutlich höher. Türkinnen sind unter den Analphabeten mit 7 % stark überrepräsentiert. Die in der Studie festgestellte mangelnde Integration der türkischen Gruppe aufgrund der geringeren Bildung und schlechteren Arbeitssituation hält der Migrationsforscher Bade jedoch für einen Trugschluss: „Die Türken sind in Deutschland weit besser integriert als angenommen, da häufig lediglich die Teilhabe am Arbeitsmarkt als Maßstab gilt.“ Das geringe Bildungsniveau der Türken im Vergleich zu anderen Migrantengruppen der Studie (beispielsweise der Polen) erklärt der Wissenschaftler mit der unterschiedlichen sozialen Ausgangssituation: Viele türkische Einwanderer stammen aus ländlichen Gegenden mit erheblichem Entwicklungsrückstand; außerdem spielte bei der Anwerbung türkischer „Gastarbeiter“ Bildung keine Rolle. „Deutschland suchte Arbeitnehmer für sehr gering qualifizierte Arbeiten. Die Bewerber wurden in Istanbul medizinisch untersucht, auch die Zähne. Ob sie lesen und schreiben können, war überhaupt nicht wichtig. Man dachte ja damals, dass sie nach zwei Jahren wieder gehen“, so der Kulturwissenschaftler Hofmann. Doch auch wenn die Migranten der ersten Generation nur geringe Bildungsabschlüsse mitgebracht haben, haben sie für ihre Kinder und Enkel eine hohe 27 Der Paderborner Kulturwissenschaftler Michael Hofmann leitet auf deutscher Seite das bilaterale Forschungsprojekt „Turkish-German Relations and Cultural Transfer“. Die Zitate stammen aus einem Interview vom 26.10.2011; vgl. http: / / www.morgenweb.de/ nachrichten/ dritte_seite/ Anwerbeabkommen/ 20111026_Interview.html. (Stand Oktober 2011). 28 WELT-online, Migrantenstudie, 17.04.2010, http: / / www.welt.de/ politik/ deutschland/ article7222075/ Tuerken-sind-die-Sorgenkinder-der-Integration.html. (Stand Oktober 2011). Für die Analyse befragte das Institut 4576 Personen zwischen 15 und 79 Jahren, die eine Mindestaufenthaltsdauer von zwölf Monaten hatten. Keim_sV-264End.indd 45 10.02.12 16: 57 46 Türkische MigrantInnen in Deutschland Bildungsmotivation entwickelt, das belegt eine Studie der Universität Mannheim. 29 Sie zeigt, dass türkischstämmige Kinder bei gleichen schulischen Leistungen und vergleichbarem sozialen Hintergrund häufiger auf anspruchsvollere weiterführende Schularten wechseln als einheimische Kinder. Dieser positive Effekt der ethnischen Herkunft ist auf die hohe Bildungsmotivation in türkischen Migrantenfamilien zurückzuführen. Leider jedoch reichen die hohen Bildungsaspirationen nicht aus, um die Unterschiede im sprachlichen Bereich, die zu schlechteren schulischen Leistungen führen, zu kompensieren. Hohe Bildungsmotivation attestiert auch eine Bamberger Studie den türkischstämmigen Eltern. 30 Obwohl sie im Vergleich zu Einheimischen und zu anderen Zuwanderergruppen selbst über niedrigere Bildungsabschlüsse verfügen, steht bei ihnen das soziale Aufstiegsmotiv über Bildung im Vordergrund. Für die Realisierung dieser Ziele setzen die Migranten große Hoffnung in das deutsche Bildungssystem. In der Türkei war ihnen der Aufstieg über Bildung verwehrt, nun sollen ihre Nachkommen von den besseren Möglichkeiten in der neuen Heimat profitieren. Auch nach einer kürzlich veröffentlichten Umfrage der Bertelsmann-Stiftung ist die Aufstiegsorientierung bei Berufstätigen mit türkischem Migrationshintergrund stärker ausgeprägt als bei den Einheimischen. Insgesamt 89 % der befragten MigrantInnen sagen „Ich möchte beruflich weiterkommen“, 57 %stimmen dem sogar „stark“ zu. Von den Berufstätigen ohne Migrationshintergrund sind es lediglich 45 %. 31 Heute ist die türkischstämmige Population sehr vielfältig. Etwa ein Drittel bekennt sich mit einem deutschen Pass zur neuen Heimat. Die Entwicklung der türkischstämmigen MigrantInnen sieht der Kulturwissenschaftler Hofmann insgesamt als „eine Erfolgsgeschichte“. Es gibt immer mehr Studierende mit türkischem Hintergrund und es kommen auch die ersten in Deutschland geborenen LehrerInnen mit türkischem Hintergrund in die Schulen. Und Hofmann sieht trotz allen Nachholbedarfs, dass „die soziale Schichtung der Menschen mit Migrationshintergrund sich der der Deutschen annähert“. Das lässt sich am Beispiel einer türkischen Zuwandererfamilie über drei Gene- 29 Hartmut Esser (Projektleiter) „Bildungsentscheidungen in Migrantenfamilien“, 2010. 1400 türkischstämmige und einheimische Drittklässler und ihre Eltern wurden nach ihrer Bildungsentscheidung für weiterführende Schulen befragt. Daten: Umfrage, Leistungstests; vgl. http: / / www.mzes.uni-mannheim.de/ projekte/ pro_zeig_d.php? Recno=14. (Stand November 2011). 30 Vgl. Blossfeld, Hans-Peter/ Relikowski, Ilona/ Yilmaz, Erbil (2011). Warum haben Eltern mit Migrationshintergrund höhere Bildungsaspirationen als Einheimische? Quantitative und qualitative Analysen vor dem Übergang in die Sekundarstufe. Presentation at the section conference „Empirische Bildungsforschung“ (AEPF, KBBB), Bamberg, 28. Februar-02. März. 31 http: / / www.rp-online.de/ panorama/ deutschland/ Viele-tuerkische-Migranten-ueberschaetzen-ihren-Nachwuchs_aid_947195.html, Nachricht vom 29. Dez. 2010, zuletzt besucht am 26.10.2011. Keim_sV-264End.indd 46 10.02.12 16: 57 Zur gegenwärtigen Situation der türkeistämmigen Zuwanderer in Deutschland 47 rationen verdeutlichen: 32 Der Großvater Ali kam Ende der 60er Jahre nach Köln, wollte nur ein paar Jahre bleiben. Heute lebt er als Rentner immer noch in Köln, und seine Familie arbeitet inzwischen in dritter Generation bei Ford. 1972 waren bei den Kölner Ford-Werken mehr als 12.000 Türken beschäftigt. Er holte 1980 seine Ehefrau und die fünf Kinder nach Köln. „Für uns begann ein völlig neues Leben“, erinnert sich sein 47-jähriger Sohn Mustafa. Alles war anders: Sprache, Schule, die ganze Umgebung. „Das war anfangs sehr schwierig für uns.“ Nach und nach fand er türkische und deutsche Freunde. Sein Traum war es Medizin zu studieren, doch statt dessen, machte er eine Schlosserlehre und ging als Produktionsarbeiter zu Ford. Seit 1997 ist er dort freigestellter Betriebsrat und sitzt für die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat des Unternehmens. Er hat einen deutschen Pass, „aber seine Identität muss man behalten“, meint er. „Ich denke Deutsch, ich schreibe Deutsch, ich lebe Deutsch-Türkisch.“ Seine Ehefrau stammt aus seinem Heimatdorf, er holte sie 1989 nach Köln. Für seinen Sohn Ahmet, der eine Lehre als Kfz-Mechatroniker bei Ford begonnen hat, ist Deutsch die erste Sprache. „Türkisch ist schwer, aber mein Vater legt Wert darauf, dass ich es flüssig spreche.“ Alle zwei Jahre fährt Ahmet mit seinen Eltern zum Verwandtenbesuch in die Türkei. „Ein Leben dort kann ich mir nicht vorstellen“, sagt er. „Ich fühle mich als Deutscher.“ Sein Großvater jedoch empfindet ganz anders. „Ich bleibe Türke“, betont der 68Jährige. „Das Heimatland ist wie eine Mutter. Die Türkei mein erstes Land und Deutschland mein zweites. Behalten will ich beide.“ Auch andere Kinder und Enkel sind längst in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. Dazu zählen die rund 80.000 deutsch-türkischen Unternehmer mit etwa 400.000 Arbeitskräften, die jährlich etwa 35 Milliarden Euro umsetzen. Sie sind nicht mehr nur Besitzer von Dönerbuden und Gemüseläden, Friseure oder Schneider, sondern auch Ärzte, Anwälte und Großhändler. Zu den Vorzeigeunternehmern zählt der frühere Reiseveranstalter Vural Öger. Genaue Zahlen zum Anteil von MigrantInnen türkischer Herkunft an deutschen Hochschulen gibt es derzeit nicht. Unter den Bildungsinländern bilden die türkischen Studierenden die größte Gruppe. 33 Da Türkeistämmige mit deutschem Pass nicht gesondert erfasst werden, also als „Deutsche“ gelten, dürfte der Anteil von Studierenden mit türkischem Migrationshintergrund derzeit wesentlich höher liegen. Auch die Lage der Frauen unter den Türkeistämmi- 32 http: / / www.morgenweb.de/ nachrichten/ dritte_seite/ Anwerbeabkommen/ 20111026_ Interview.html, Beispiel einer Familie aus Köln. (Stand Oktober 2011). 33 Unter „Bildungsinländern“ werden ausländische Studierende gefasst, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland oder an einer deutschen Auslandsschule erworben haben. Dazu gehören auch die in Deutschland sozialisierten MigrantInnen der zweiten und dritten Generation, die noch die ausländische Staatsangehörigkeit haben. 2007 bildeten die Türken unter den Bildungsinländern die weitaus größte Gruppe mit 14.910 Studierenden, gefolgt von Kroaten (3500), Griechen (3190) und Italienern (3140), vgl. Wikipedia http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Bildungsinl %C3 %A4nder. Keim_sV-264End.indd 47 10.02.12 16: 57 48 Türkische MigrantInnen in Deutschland gen weicht von gängigen Klischees ab: In der ersten Generation der Frauen (35-64- Jahre alt) haben zwar nur 35 % sehr gute Deutschkenntnisse, aber in der zweiten Generation der Frauen (15-34 Jahre) ist diese Quote bereits auf 70 % angestiegen. 34 Die türkischstämmigen Frauen sprechen heute in der Regel besser Deutsch und machen häufiger Abitur als die türkischstämmigen Männer. Die derzeit wichtigste bildungspolitische Aufgabe ist es, an die hohe Bildungsmotivation der türkischen Zuwanderer anzuknüpfen und ihren Nachkommen den erwünschten Bildungsaufstieg zu ermöglichen. Das fängt bei der frühen Sprachförderung an, die erst in den letzten Jahren in den Fokus bildungspolitischer Diskussionen gekommen ist. Am mangelnden (Deutsch) Sprachstand vieler Erstklässler „werden die Versäumnisse der Vergangenheit deutlich“, so Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Armin Laschet (CDU). 35 Um die Sprachkenntnisse zu verbessern, müsse frühzeitig gefördert werden. Deshalb habe Nordrhein-Westfalen im Jahr 2007 den verpflichtenden Sprachtest für Vierjährige eingeführt. Allerdings benötigten auch junge Zuwanderer, die nicht mehr in die Schule gehen, eine individuelle Förderung, da vor allem „in diesem Bereich viel nachgeholt werden (muss).“ Die Integrationsbeauftragte des Bundes, Maria Böhmer, sieht es grundsätzlich: „Nicht nur für die türkischen, sondern auch für alle Migranten in unserem Land gilt: Nur gute Deutschkenntnisse, ein Schulabschluss sowie eine fundierte Ausbildung eröffnen die Chancen für eine erfolgreiche Zukunft“ (a. a. O.) Weil diese Voraussetzungen vielen fehlten, sei eine „nationale Kraftanstrengung“ für bessere Bildung erforderlich. Böhmer ruft die Bundesländer auf, ihre Zusagen aus dem Nationalen Integrationsplan einzuhalten. Es gelte vor allem Schulen mit hohem Migrantenanteil stärker zu unterstützen. 36 34 Vgl. dazu den Bericht von Foroutan, Naika/ Canan, Coskun/ Schäfer, Corinna/ Schwarze, Benjamin (Hrsg.) (2010): Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand. Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland. http: / / www.heymat.hu-berlin. de/ sarrazin2010 (Stand 15.11.2011), S.-39ff. 35 Vgl. zum Folgenden: WELT-online, Migrantenstudie, 17.04.2010, http: / / www.welt.de/ politik/ deutschland/ article7222075/ Tuerken-sind-die-Sorgenkinder-der-Integration.html. (Stand Oktober 2011). 36 Eine im Januar 2012 vorgestellte Studie, die Maria Böhmer in Auftrag gegeben hat, stellt fest, dass sich Migranten im Bereich Arbeit und Bildiung zwar besser in die deutsche Gesellschaft eingliedern, dass es jedoch weiterhin „gravierende Unterschiede zu den einheimischen Deutschen gebe“. Migranten sind immer noch doppelt so häufig wie Einheimische ohne Schulabschluss, und auch bei den Langzeitarbeitslosen liegt die Quote doppelt so hoch. Der Bericht zeigt außerdem, dass Erfolge bzw. Misserfolge von Migraten von der sozialen Sitution abhängen, „also ob die Eltern eine Arbeit haben, einen Hochschulabschluss oder an der Armutsgrenze- leben“. Vgl. den Artikel in der SZ vom 12.01.2012 von Roland Preuß: „Integrationsbericht der Bundesregierung. Erfolg in Trippelschritten“, unter http: / / www. sueddeutsche.de/ bildung/ integrationsbericht-der-bundesregierung-erfolg-in-trippelschritten-1.1256156. (Stand Januar 2012). Keim_sV-264End.indd 48 10.02.12 16: 57 Was bedeutet „Integration“? 49 2.4 Was bedeutet „Integration“? Migration und Integration sind emotional stark besetzte Themen, über die in Deutschland oft vereinfachend und unter Verwendung ethnisch-religiöser Stereotypen diskutiert wird. Das hat auch damit zu tun, dass über Jahrzehnte die Zuwanderung nach dem „Gastarbeitermodell“ gestaltet wurde und Debatten über Einwanderung und Integration Tabuthemen waren. Die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl beschloss 1983 das „Rückkehrhilfegesetz“, das für Migranten finanzielle Anreize schaffte, damit sie Deutschland verlassen. Die Idee zu diesem Gesetz stammte von der sozial-liberalen Vorgängerregierung unter Helmut Schmitt, für die die Bundesrepublik „weder ein Einwanderungsland sein noch ein solches werden (sollte). Ein weiterer Zuzug sollte mit allen Mitteln verhindert und die Bereitschaft zur Rückkehr auch mit finanziellen Mitteln verstärkt werden“ (zit. nach Cindark, 2010, Anmerkung 78). Die Vorstellung „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ beherrschte die bundesdeutsche Politik bis 1998, als die rot-grüne Koalition die Regierung übernahm. In öffentlichen Diskussionen wurde immer wieder deutlich, dass es kein einheitliches Verständnis von „Integration“ gab und mit dem Wort auch heute noch sehr unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen verbunden werden. Ein relativ breiter gesellschaftspolitischer Konsens besteht in Bezug auf Bildung und Arbeit, die „besonders relevant für Integration sind. Ziel ist die Verwirklichung von möglichst guten und breiten Beteiligungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen“, so Süssmuth (2006, S.- 138). 37 Erhebliche gesellschaftspolitische Unterschiede jedoch gibt es bei den Vorstellungen und Erwartungen, die mit der Anpassung an sozial-kulturelle Werte und Normen des Aufnahmelandes verbunden sind. Konservative Kreise vertreten eher die Auffassung, dass Integration in der weitgehenden Übernahme von Kultur und Lebensformen das Aufnahmelandes besteht, 38 während die Gegenposition für kulturell-religiöse Vielfalt plädiert bei gleichzeitiger Forderung, dass Verfassung und Gesetze des 37 Prof. Dr. Rita Süssmuth (CDU), Ministerin und Bundestagspräsidentin unter der Kohl- Regierung, wurde 2000 von dem damaligen Innenminister Otto Schily zur Vorsitzenden einer unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ berufen, der 21 Mitglieder angehörten. Ministerieller Auftrag der Kommission war, ein Gesamtkonzept für ein neues Ausländerrecht zu erarbeiten. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden im Juli 2001 in Form eines Berichtes vorgelegt, der den Titel Zuwanderung gestalten - Integration fördern trug. Die Kommission erarbeitete Vorschläge für eine sozialverträglich gestaltete Einwanderung nach dem Muster der kanadischen Einwanderungspolitik. Doch viele Vorschläge wurden im Parteienstreit verworfen. Das neue Gesetz von 2005 ist ein „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“; zum Entstehungsprozess des Gesetzes und zur Kritik am Gesetz vgl. Oberndörfer (2007), S.-64ff. 38 Vgl. die Diskussion um die „deutsche Leitkultur“, die von führenden CDU-Politkern angestoßen wurde; danach müssten Zuwanderer die „deutsche Leitkultur“ anerkennen und übernehmen. Keim_sV-264End.indd 49 10.02.12 16: 57 50 Türkische MigrantInnen in Deutschland Aufnahmelandes anerkannt werden. Im Folgenden stelle ich einige Autoren vor, die „Integration“ in Bezug auf Zuwanderung differenziert zu fassen versuchen. In der soziologischen Migrationsforschung in Deutschland setzte sich in Anknüpfung an die amerikanische Migrationsforschung der umstrittene Assimilationsbegriff durch. 39 Assimilation wird definiert als „die Ausrichtung des Verhaltens von Individuen und Kollektiven an institutionalisierten sozialen Erwartungen“ der Aufnahmegesellschaften (Bade/ Bommes 2004, S.-9). Assimilation gilt als Voraussetzung für den Zugang zu Bildung, Arbeit, Einkommen, Gesundheit und Prestige. In einem Beitrag diskutiert Esser (2004) die theoretisch möglichen Alternativen zur Assimilation, die Zuwanderer in modernen Gesellschaften haben. Dabei unterscheidet er vier Aspekte von Assimilation: die kulturelle (z. B. Spracherwerb), die strukturelle (Erwerb von Bildungsqualifikationen, Platzierung auf dem Arbeitsmarkt), die soziale (Kontakte zu und Heirat mit Einheimischen) und die emotionale Assimilation (Identifikation mit den Verhältnissen der Aufnahmegesellschaft) und kommt zu dem Ergebnis, dass es für Zuwanderer „zur strukturellen Assimilation [d. h. im Bereich von Bildung und Arbeit, m. A.] keine vernünftige Alternative“ geben kann (a. a. O., S.- 58). In den Bereichen Bildung und Arbeit müssen Zuwanderer sich anpassen und eingliedern, wenn sie im Aufnahmeland die Chance auf ein ökonomisch ausreichend gesichertes Leben haben wollen. Auch für die Aspekte der sozialen und kulturellen Integration in die Aufnahmegesellschaft sieht Esser keine passende Alternative, wenn diese latent oder direkt mit der strukturellen Assimilation in Verbindung stehen. Die strukturelle Assimilation ist somit als zentral anzusehen. Während Esser vor allem eine Anpassungsleistung von Zuwanderern fordert, verstehen die Migrationssoziologen Bade/ Bommes (2004, S.-25) Integration bzw. Assimilation als vielgestaltige Prozesse, in deren Verlauf den Individuen die Teilnahme an den für ihre Lebensführung bedeutsamen Bereichen der Gesellschaft mehr oder weniger gut gelingt. Das Gelingen hängt einerseits von ideellen Ressourcen, von materiellen Mitteln und von sozialen Beziehungen der Zuwanderer ab und andererseits von den sozialen Bedingungen, die in den verschiedenen Bereichen gelten, zu denen Migranten Zugang suchen. Die Autoren heben hervor, dass Eingliederungsprozesse vor allem durch die Aufnahmebereitschaft des Aufnahmelandes und durch entsprechende Eingliederungshilfen in den Bereichen Bildung und Arbeit mitbestimmt werden. Und hier setzen sie mit ihrer Kritik an: In Deutschland wurden sowohl im Arbeitsals auch im Bildungsbereich kaum oder wenig effektive Eingliederungshilfen gegeben, so dass 39 Die Diskussion begann in Deutschland seit dem Anwerbstopp für „Gastarbeiter“ 1973. In der Migrationsforschung wurde die Frage diskutiert, unter welchen Bedingungen Migranten dauerhaft in die deutsche Gesellschaft integriert werden können; vgl. Pries 2000, Esser 2004, Bade/ Bommes 2004, vgl. vor allem auch die Publikationen des Instituts für Migration und Integrationsforschung, unter www.imis.uni-osnabrueck.de. Keim_sV-264End.indd 50 10.02.12 16: 57 Was bedeutet „Integration“? 51 vor allem im Bildungsbereich, den die Autoren als eine Art „Grundpfeiler“ für die Reproduktion sozialer Ungleichheitsverhältnisse sehen, die Mehrheit der Migrantenkinder stark benachteiligt ist. (Bade/ Bommes a. a. O., S.-26). Ähnlich wie Bade/ Bommes sieht auch Lucassen (2004) das Problem von mangelnder Integration weniger in dem fehlenden Integrationswillen der Zuwanderer begründet als in der Unfähigkeit der Aufnahmegesellschaften, Migranten strukturell zu integrieren und ihre Diskriminierung zu bekämpfen. Anhand der zweiten Generation der Algerier in Frankreich („Beurs“) zeigt er, dass sich die soziale Situation der Jugendlichen weder aus ihrer religiös-kulturellen Verschiedenheit (viele distanzieren sich von der islamischen Kultur ihrer Herkunftsgemeinschaften), noch aus ihren mangelnden Sprachkenntnissen (die Jugendlichen sprechen gut Französisch) erklären lässt, sondern aus ihrer Exklusion und Isolation innerhalb der französischen Gesellschaft. Diesen Aspekt fokussiert Oberndörfer (2007) in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff „Integration“ bzw. „Assimilation“ im Sinne Essers (2004). 40 Oberndörfer sieht folgende Bezugsfelder für „Integration“: Zum einen das politische Bezugsfeld, d. h. die Identifikation mit dem Verfassungsstaat und seiner Rechtsprechung; und zum anderen das kulturelle, d. h. die Akzeptanz von kultureller Vielfalt innerhalb der Grenzen der Rechtsprechung. Leistungen in beiden Bezugsfeldern müssen Einheimische und Zuwanderer erbringen. Ein weiteres Bezugsfeld ist der soziale Bereich, der die migrationspolitischen Debatten in Deutschland seit den 70er Jahren beherrscht. Darin werden Themen behandelt wie die geringe Schulbildung der Zuwanderer, die hohe Arbeitslosigkeit, die unzureichende Beherrschung des Deutschen und die Benachteiligung von Frauen. Die genannten Defizite sieht Oberndörfer auch bei der einheimischen Bevölkerung. Doch während sie bei Deutschen als soziale Probleme definiert und durch soziale Institutionen behandelt werden, gelten sie bei Migranten als Integrationsdefizit und als schuldhafte Versäumnisse. Aus der Perspektive des Autors wird in der deutschen Politik und Öffentlichkeit Integration vor allem als Programm für Zuwanderer verstanden, während er Integration als eine von allen Bürgern zu bewältigende soziale, kulturelle und politische Aufgabe versteht. Eine von konservativen Politikern geforderte „Leitkultur“, an die sich Zuwanderer anpassen sollten, kann es aus seiner Sicht in einer pluralistischen Gesellschaft nicht geben. Die Verbindlichkeit nur einer Kultur für alle darf staatlich nicht eingefordert werden, da nach dem Grundgesetz die Freiheit des Kultus, der Weltanschauung und des religiösen Bekenntnisses das Fundament des demokratischen Verfassungsstaates sind. Deswegen sieht Oberndörfer die Kultur Deutschlands als die Kultur seiner BürgerInnen unabhängig von Glaubensbekenntnissen. 40 Dieter Oberndörfer ist u. a. auch stellvertretender Vorsitzender des Rats für Migration, einem bundesweiten Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die sich mit Fragen der Migration, Integration und interkulturellen Begegnung beschäftigen. Keim_sV-264End.indd 51 10.02.12 16: 57 52 Türkische MigrantInnen in Deutschland Als Ergebnis kann man fest halten: Die Eingliederung von Zuwanderern muss als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Von den Zuwanderern können Anerkennung des Grundgesetzes und der Rechtsprechung gefordert werden, ebenso wie Bemühungen, sich die notwendigen Bildungsvoraussetzungen zu erarbeiten, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Von der Aufnahmegesellschaft muss alles getan werden, um Zuwanderern Bildungschancen zu eröffnen und ihnen Zugang zum Arbeitsmarkt und gesellschaftspolitische Teilhabe zu ermöglichen. Für Einheimische und Zuwanderer gilt die Orientierung an der Verfassung, wonach kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt zu akzeptieren ist. Auch die Grenzen der kulturellen Wahl sind für Einheimische und Zuwanderer gleich; sie werden durch Rechtsprechung, Verfassung und deren Werte bestimmt. 2.5 Vom Selbstverständnis als „Gastarbeiter“ zum Selbstverständnis als „Migrant“ Die Zuwanderer der ersten Generation entwickelten, so Karkaşoğlu (2008, S.-1059), häufig eine „Gastarbeitermentalität“, die die Autorin folgendermaßen charakterisiert: unauffälliges Verhalten in der Öffentlichkeit, Stillhalten bei ausländerfeindlichen Übergriffen, eine möglichst geringe Kontaktaufnahme mit Einheimischen, Festhalten an traditionellen Werten, Bescheidung mit niedrigen Funktionen am Arbeitplatz, politische Orientierung an der Türkei, ein äußerst bescheidenes Leben in Deutschland und Sparen für die Rückkehr. Viele litten unter dem Leben in der Fremde und unter dem Zwang Deutsch zu lernen. Sie hatten Angst vor Überfremdung und dem Verlust ihrer mitgebrachten Identität. Diese Grundhaltung der ersten Generation findet z. B. Ausdruck in den literarischen Zeugnissen von Aras Ören, der auch als „Stimme der türkischen Gastarbeiter in Deutschland“ bekannt und mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde. Aras Ören ist in der Türkei geboren, aufgewachsen und ausgebildet. Seit 1969 lebt er in West-Berlin. Seit 1974 arbeitet er als Redakteur beim Sender Freies Berlin (SFB, heute RBB) und ist Mitgründer der türkischen Redaktion. Aras Ören befasst sich vor allem mit Themen der Migration, mit Fremdheit, Identität, Sprachlosigkeit und erzählt von Menschen, „die mit nichts anderem als einem Plastikkoffer in der Hand in einem fremden Land ankommen“. Er schreibt in Türkisch, bevor seine Werke ins Deutsche übersetzt werden. Zu seinen eindrucksvollsten Werken zählen einige, deren Titel auch in „Gastarbeiterdeutsch“ verfasst ist: der Kriminalroman „Bitte nix Polizei“ von 1981, die Erzählungen „Ich anders sprechen lernen“ von 1983 und „Paradies kaputt“ von 1986. Diese „Gastarbeiterhaltung“ findet sich auch in Filmen wie „Angst fressen Seele auf “ von Rainer Werner Fassbinder, aber auch in Filmen, die in Deutschland lebende Migranten in den 1970er und 1980er Jahren produzierten. Es sind vor allem problemorientierte Filme, in denen der düstere, traurige Blick auf die Keim_sV-264End.indd 52 10.02.12 16: 57 Vom Selbstverständnis als „Gastarbeiter“ zum Selbstverständnis als „Migrant“ 53 fremde Welt dominiert, so beispielweise der Film „Shirins Hochzeit“, zu dem Aras Ören das Drehbuch mitgestaltete, ebenso wie die 1976 entstandene Fernsehfassung von „Was will Niyzi in der Naunynstraße“. Der Jugendfilm „Yasemin“ von Hark Bohms (1988) zeigt die fast unüberwindbaren Schwierigkeiten zwischen Deutschen und Türken am Beispiel eines jungen Liebespaares: Der Vater des in Deutschland sozialisierten türkischen Mädchens kann deren Liebe zu einem deutschen Studenten nicht mit seinen Normvorstellungen vereinbaren. Er plant, seine Tochter in die Türkei zu schaffen, um die Beziehung mit dem Deutschen endgültig zu beenden. Der Film lässt die Zukunft der beiden offen. Interessanterweise trifft die in den künstlerischen Produkten der ersten Generation ausgedrückte Angst vor dem Fremden, vor Sprachlosigkeit und vor dem Verlust von Identität in der Migration auf eine in Deutschland damals und auch heute noch weit verbreitete Vorstellung zum Zusammenhang von Sprache und Identität, die auf der Ideologie „eine Nation eine Sprache“ gründet. Aus dieser Ideologie erwächst die Angst vor Mehrsprachigkeit; sie wird mit dem Verlust der nationalen oder ethnisch-kulturellen Identität verbunden (vgl. Einleitung). In literarischen Zeugnissen ehemaliger „Gastarbeiter“ in Deutschland findet sich eine ähnliche Sicht auf Zwei- und Mehrsprachigkeit. Die in einem Sammelband von Ackermann (1983) publizierten Berichte, Erzählungen und Gedichte von „Gastarbeitern“ beschreiben keine positiven Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit, sondern nur das Gefühl der Zerrissenheit, der Bedrohung der eigenen Identität und des Wanderns zwischen den Welten, ohne zu wissen wohin man gehört. Dafür folgendes Beispiel (a. a. O., S.-14): Manchmal frage ich mich, wer ich eigentlich bin und wozu ich lebe. Ich gehöre einer Generation an, die zwischen traditionsgebundenen Familien und der Hektik einer Konsum bedachten Leistungsgesellschaft hin und her geschoben wird. In keiner Gesellschaft sind wir akzeptiert. In der BRD sind wir Gastarbeiter, Ausländer, noch schlimmer: die Türken. In den Heimatländern sind wir Deutschländer, die Alamannen, noch schlimmer: die Kapitalisten. Unsere Sprachen setzen sich aus mehreren Sprachen zusammen. Wir reden gemischt. Weder richtig Deutsch noch richtig Türkisch oder Griechisch. Wir sind in keiner Sprache zuhaus. Wir sind auf der vergeblichen Suche nach der Frage, wer wir eigentlich sind. Dabei ist unsere Angst, die eigene Sprache zu verlieren, genauso groß wie die Angst, eingedeutscht zu werden. Wir müssen mit einer inneren Spannung zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen leben und kämpfen. Andere Beiträge heben hervor, dass der Erwerb der zweiten Sprache (Deutsch) gezwungenermaßen geschieht, um das Überleben zu sichern. Und sie drücken die Befürchtung aus, dass der Zwang zur sprachlichen Anpassung zum Verlust der eigentlichen, mitgebrachten Identität führen werde. Im Kontrast zu diesem negativen Blick auf Bilingualität und Bikulturalität haben Angehörige der zweiten und dritten Generation ein ganz anderes Selbstverständnis entwickelt. Ihre Sozialisation erfolgte in zwei Sprachen und Kulturen (auf jeden Fall vom Kindergarten- oder Schulalter an) und sie vereinen Elemente beider Kulturen in ihrem Denken, Sprechen und Handeln. Sie haben Keim_sV-264End.indd 53 10.02.12 16: 57 54 Türkische MigrantInnen in Deutschland eine positive Sicht auf Zwei- und Mehrsprachigkeit, da sie sie als Erweiterung und Bereicherung ihres Denk- und Handlungsraumes erleben. Sie sehen sich als Teil der Gesellschaft des Einwandererlandes, ohne dass sie auf Anteile aus den Herkunftskulturen ihrer Familien verzichten. Auch wenn sie sich nicht mit „den Deutschen“ (was immer man darunter versteht) identifizieren wollen oder können (Karakaşoğlu 2008, S.-1059), so sehen sie sich doch als „Berliner“, „Hamburger“ oder „Mannheimer“ bzw. noch spezifischer als Bewohner ihrer Stadtteile, als „Kreuzberger“, „Neuköllner“ oder „Neckarstädter“ (Stadtteil in Mannheim). Ihr Selbstbild umfasst Eigenschaften der Herkunftskultur der Eltern ebenso wie der Einwanderergesellschaft, ohne dass sie sich mit der einen oder anderen Gesellschaft (voll) identifizieren. Dazu ein Beispiel aus der von mir untersuchten Gruppe der „türkischen Powergirls“: Befragt, als was sie sich selbst sehen, antwortet eine der jungen Frauen stellvertretend für die Gruppe: ich gehör auf keinen fall zu den türken in der türkei * ich gehör aber auch nicht zu den deutschen in deutschland * ich denke wir sind weder die türken in der türkei noch die deutschen in deutschland * wir sind glaub ich irgendetwas <neues * was ganz anderes> (Keim 2008, S.-204) Das zeigt, dass die jungen Frauen ein ethnisch definiertes Selbstbild überwunden und sich von ihren Bezugsgesellschaften, die jeweils die volle Loyalität von ihnen fordern, distanziert haben. Ethnische Loyalitätskonflikte, mit denen sie in ihrer Entwicklung zu kämpfen hatten, da sie sich immer wieder zwischen „deutsch-sein“ oder „türkisch-sein“ entscheiden sollten, lösen sie durch eine Selbstdefinition jenseits ethnischer Kategorien: Sie verstehen sich als etwas „Neues“ , etwas „ganz Anderes“, ein Selbstverständnis, das ihnen neue individuelle Orientierungs- und Handlungsräume eröffnet. Auch andere Migranten der zweiten und dritten Generation drücken aus, dass sie sich weder zu den Türken noch zu den Deutschen zugehörig fühlen, sondern als Deutsch-Türken mit spezifischen Erfahrungen eine eigene Identität ausgebildet haben. 41 Ähnlich scharf wie die Ablehnung ethnischer Zuschreibungen ist auch die Zurückweisung der Ausländerkategorie. Wenn Mitglieder der „türkischen Powergirls“ von Deutschen als „Ausländer“ adressiert werden, weisen sie das als diskriminierend und diffamierend zurück: weißt du mittlerweile empfinde ich das wort ausländer als ein <schimpfwort> * wenn da jemand redet und sagt ausländer ja * dann sag ich immer <migrant> und ganz aggressiv * und die Julia [deutsche Studentin] hat sich total gewundert dass ich da so ausraste * so sensibel bin (Keim 2008, S.-197) 41 Vgl. die Presseberichte zu 50 Jahre Zuwanderung aus der Türkei, in DIE ZEIT vom 20.10.2011, S.-3-6 und im MM vom 27.10.2011, S.-3. Wie schwer der Kampf gegen den Loyalitätsdruck von beiden Seiten ist, zeigen vor allem die biografischen Schilderungen in dem ZEIT-Artikel, S.-5 und 6. Keim_sV-264End.indd 54 10.02.12 16: 57 Vom Selbstverständnis als „Gastarbeiter“ zum Selbstverständnis als „Migrant“ 55 Die immer noch gängige Bezeichnung „Ausländer“ zur Referenz auf MigrantInnen, die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland leben und arbeiten, und die hier bleiben und akzeptiert werden wollen, empfinden die so Bezeichneten als Herabsetzung und Ausgrenzung; sie fühlen sich als Menschen von minderem rechtlichen und sozialen Status behandelt und wehren sich dagegen. Einheimische verwenden die „Ausländer“-Kategorie auch gegenüber MigrantInnen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben. Sie werden aufgrund ihres Aussehens, ihrer Namen, ihrer Sprechweisen, unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit, als „fremd“ und nicht dazugehörig behandelt (Keim 2008, Teil II). Die von uns untersuchten Jugendlichen und Jungakademiker sind stolz, mehrere Sprachen und Dialekte zu können, und sie betrachten sich monolingualen Sprechern gegenüber als überlegen. Sie spielen mit ihren Sprachen, wechseln virtuos zwischen den Sprachen, mischen oder trennen sie und nutzen ihr gesamtes Sprachrepertoire zu kommunikativen Zwecken, zum Ausdruck von Spiel, Ironie und Karikatur ebenso wie zum Ausdruck von sozialer Zugehörigkeit oder Distanzierung. Je nach Situation betreiben sie durch Sprachwahl den interaktiven Ausschluss von monolingualen Deutschen und Türken. Das hier ausgedrückte neue Selbstverständnis der zweiten Generation kommt auch in der Literatur- und Filmproduktion zum Ausdruck. Die Autoren publizieren in Deutsch oder in beiden Sprachen, 42 Migrationserfahrungen werden in lyrischer, komödiantischer, witziger oder aggressiv-fordernder Weise verarbeitet. Im Bereich der Theaterliteratur erregte Emine Sevgi Özdamar mit ihrer Komödie „Karagöz in Alamania“ (1986 in Frankfurt uraufgeführt) zum ersten Mal Aufsehen. In ihrem Roman „Das Leben ist eine Karawanserei“ (1992) verarbeitet sie ihr Leben als junges Mädchen in der Türkei und in „Die Brücke vom Goldenen Horn“ (1998) die Migration von Istanbul nach Deutschland. 43 Von den in Deutschland aufgewachsenen Literaten hat vor allem Feridun Zaimoğlu mit seinen literarischen Protokollen „Kanaksprak. 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft“ (1995), „Abschaum“ (1997) und „Kopfstoff “ (1998) Aufmerksamkeit erreicht. „Kanaksprak“ und „Abschaum“ wurden als Theaterstücke, „Abschaum“ auch für den Film („Kanak Attack“) adaptiert. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die Deutsch-TürkInnen in 42 Einige der jüngeren, nach Deutschland migrierten AutorInnen, z. B. der Lyriker Pazarkaya oder der Essayist Kurt publizieren in beiden Sprachen; sie beherrschen Türkisch und Deutsch als Literatursprache. Sie publizierten im seit 1980 etablierten ausländischen Ararat Verlag. Die Reihe „Texte in zwei Sprachen“, in der neben Pazarkaya auch Aras Ören publizierte, wurde preisgekrönt, vgl. Şölçün (2000, S.-141). Autoren wie Pazarkaya und Kurt sehen in ihrer Zweisprachigkeit keine Gefährdung der Muttersprache; sie wechseln meisterhaft von der einen in die andere. 43 Şölçün (2000, S.- 152) bezeichnet beide Romane als „ein umfangreiches sprachliches Experiment, durchgeführt von einer Autorin, die das Denken im Türkischen ins Schreiben auf Deutsch transformiert“. Özdamar gelingt es, „die deutsche Sprache mit Bruchstücken aus dem Türkischen zu verfremden“. Keim_sV-264End.indd 55 10.02.12 16: 57 56 Türkische MigrantInnen in Deutschland Deutsch verfassten: Geschichten (z. B. Lale Akgün), Kriminalromane (z. B. Akif Pirinçi), biografische Darstellungen (z. B. Inci Y.), Reportagen (Adak/ Altınay/ Bayraktar/ Düzel), Sachbücher (z. B. Seyran Ateş), satirische (Sedat Pamuk) und witzige Unterhaltungsliteratur (z. B. Hatice Akyün) und Kinderbücher (Kemal Kurt). Dabei bildet die Bikulturalität der AutorInnen den Hintergrund für ihren ironischen, witzigen oder ernst-kritischen Blick auf die eigene Lebenswelt, auf die Erfahrungen in der Migration und die Ausbildung einer eigenständigen Identität, die in Interaktionen mit Minder- und Mehrheitsangehörigen entwickelt wird. Ende der 90er Jahre begann auch eine rege Produktion von Filmemachern aus der zweiten Generation; zu ihnen gehören u. a. Thomas Arslan, Ayşe Polat und vor allem Fatih Akın, der mit einem Kurzfilm „Sensin - du bist es“ 1995 debütierte. Die Filme der türkisch-deutschen Regisseure haben die Schwere der „Gastarbeiterzeit“ überwunden; sie entstanden aus der bikulturellen Lebenssituation und zeichneten alltägliche Lebenserfahrungen nach. Mit den Filmen von Fatih Akin ist ein transnationales Kino entstanden, sein Film „Gegen die Wand“ brachte ihm höchste Anerkennung ein. In milieuorientierten Darstellungen wie in Zaimoğlus „Kanaksprak“ (1995) und „Abschaum“ (1997) oder in Fatih Akins Filmen werden die sozialen Voraussetzungen und Bedingungen der Handelnden im Migrationskontext reflektiert und ihre Aktivitäten in transnationale soziale Netze eingebettet. Eine fröhlich-witzige Filmkomödie ist den Schwestern Yasemin und Nesrin Şamdereli mit „Almanya -Willkommen in Deutschland“ gelungen, die die Frage von Heimat und Identität türkischer Zuwanderer über mehrere Generationen hinweg behandelt. Der Film wurde 2011 mehrfach ausgezeichnet. In der deutsch-türkischen Comedy sind die Namen Django Asül und Bülent Ceylan fester Bestandteil, und Schauspieler wie Mehmet Kurtulus und Sibel Kekilli haben Ermittlerrollen in den urdeutschen TV-Kriminalfilmen „Tatort“. Doch wie die neusten Zu- und Abwandererzahlen zeigen, haben es gut gebildete MirgantInnen türkischer Herkunft schwer, in der deutschen Gesellschaft und auf dem deutschen Arbeitsmarkt akzeptiert zu werden und Fuß zu fassen. Nach den aktuellen Zahlen des Migrantionsberichts des BAMF (2009) wanderten mehr Deutsch-Türken in die Türkei aus als Türken zuwanderten; 44 das waren in der Regel gut ausgebildete junge Menschen im besten Erwerbsalter. In einem Artikel des Stern im Oktober 2011 wird eine Betroffene folgendermaßen zitiert: 45 „Mit einem türkischen Namen hat man kaum Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“. Während die jungen Deutsch-Türken in Deutschland mit 44 Vgl. http: / / www.bpb.de/ themen/ QP88RT,0,0,Kabinett_legt_Migrationsbericht_vor. html. (Stand Oktober 2011). 45 Vgl. den Artikel im Stern vom 29. Oktober 2011, http: / / www.stern.de/ politik/ deutschland/ 50-jahre-tuerkische-einwanderung-lieber-istanbul-als-frankfurt-1744607.html (Stand November 2011) Keim_sV-264End.indd 56 10.02.12 16: 57 Vom Selbstverständnis als „Gastarbeiter“ zum Selbstverständnis als „Migrant“ 57 Ressentiments zu kämpfen haben, erwarten sie in der Heimat ihrer Eltern gute Aufstiegschancen, da die türkische Wirtschaft stark wächst und qualifizierte, mehrsprachige Kräfte braucht. Durch die langjährigen Integrationsdebatten in Deutschland, die oft voller Vorurteile waren, wurde das wirtschaftliche Potential gut gebildeter Migranten offensichtlich zu wenig erkannt. 46 Doch auch in der Türkei stoßen gut gebildete Deutsch-Türken auf erhebliche Probleme; das kann man beim „Rückkehrer-Stammtisch“ in Istanbul erfahren. 47 Dort sind weit über 1000 Mitglieder gemeldet, die sich immer wieder zu einem Erfahrungsaustausch treffen. Die meisten sind beruflich erfolgreich, erleben aber in der Türkei ähnliche Integrationsprobleme wie in Deutschland. Sie fühlen von Türken als untürkisch oder als zu sehr deutsch abgelehnt und fühlen sich am wohlsten unter „Rückkehrern“. 46 Ein aktueller Artikel im Berliner Tagesspiegel stellt fest, dass vor allem die gut gebildeten Deutsch-Türken in Deutschland eine Willkommenskultur vermissen und deshalb in die Türkei auswandern. Der Autor (Gerd Nowakowski) berichtet folgenden Fall: Ein erfahrener deutsch-türkischer Anwalt musste sich vom Richter, dem er seine Klageschrift vorlegte, fragen lassen: „Sprechen Sie Deutsch? “ Das will er, ebenso wie viele Mediziner, Unternehmer, Handwerker und Studentinnen, deren Heimat Deutschland ist, „nie wieder hören“. Deshalb sucht er, wie viel andere, nach einer Anstellung in der Türkei. „Besonders die hier geborenen Leistungswilligen leiden unter den subtilen Zurückweisungen des Alltags.“ Während Deutschland über notwendige Zuwanderung diskutiert, ist es „längst ein Auswanderungsland“ geworden; vgl. http: / / www.tagesspiegel.de/ meinung/ auswanderer-sind-ein-warnzeichen/ 5786538.html (Stand Oktober 2011). 47 Mündliche Mitteilung eines Mitgliedes, Oktober 2010 in Istanbul. Die Informantin nannte weit über 1000 Mitglieder, in dem Stern-Artikel werden 1500 genannt. Keim_sV-264End.indd 57 10.02.12 16: 57 Kapitel 3 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen der zweiten und dritten Generation 3.1 Leben in ethnischen Kolonien Vor allem in städtischen Gebieten haben türkischstämmige MigrantInnen Wohn- und Lebensformen ausgebildet, die Ähnlichkeit mit ethnischen Kolonien haben (vgl. Kap.-2). Ihre Entstehung ist durch soziale, religiöse und emotionale Bedürfnisse der Migranten zu erklären, aber auch durch soziale und ökonomische Strukturen und Prozesse der Mehrheitsgesellschaft. Das lässt sich am Beispiel von Mannheim sehr gut zeigen, einer mittleren Großstadt in Baden-Württemberg mit einem hohen Migrantenanteil. Nach dem Bildungsbericht der Stadt Mannheim 2010 hängt der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen stark vom Stadtgebiet und von der wirtschaftlichen und sozialen Position der Eltern ab. 1 In Mannheim gibt es wie in anderen Großstädten Deutschlands auch „Segregationstendenzen, also das Auseinandertriften ganzer Stadtteile (…) Dies bedeutet, dass arme und reiche Familien sowie Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in verschiedenen Vierteln wohnen, und das hat Auswirkungen auf den Bildungsbereich“, so Wolfgang Weiß, Mitglied im Bildungsausschuss des Deutschen Städtetages (2010). Ende 2008 hat Mannheim eine Wohnbevölkerung von insgesamt 326.899 Einwohnern. Davon haben 99.500 Einwohner aus 169 Herkunftsländern einen Migrationshintergrund, was einem Bevölkerungsanteil von 30,4 % entspricht. Von den Einwohnern mit Migrationshintergrund haben 64.667 Einwohner eine ausländische Staatsangehörigkeit, 34.833 Einwohner mit Migrationshintergrund (35 %) haben einen deutschen Pass. Türkischstämmige Einwohner bilden in Mannheim mit 24,2 % unter den Migranten die größte Gruppe. Ihr Gesamtanteil an der Wohnbevölkerung liegt bei 7,4 %. Danach folgen Italiener, Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Russland, Polen, Griechenland, Spanien und anderen Ländern. Eine deutliche Konzentration von 1 Der festgestellte Zusammenhang zwischen der sozialen Situation der Eltern und dem Bildungserfolg der Kinder stimmt im Wesentlichen mit den PISA-Ergebnissen der letzten Jahre überein. Zum Bildungsbericht der Stadt Mannheim 2010, vgl. http: / / www.mannheim.de/ sites/ default/ files/ page/ 7130/ 1._bildungsbericht_mannheim_2010_einzelseiten.pdf, (Stand 31.10.2011). Keim_sV-264End.indd 58 10.02.12 16: 57 Leben in ethnischen Kolonien 59 sozio-ökonomischen Problemen gibt es in Stadtteilen, in denen ein hoher Migrantenanteil, schlechte Wohnverhältnisse, ein hoher Anteil an Sozialhilfeempfängern und eine hohe Zahl von Kindern, die von Hartz IV leben, aufeinander treffen. Vergleicht man diese Stadtgebiete mit anderen, lässt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen sozial-ökonomischer Ungleichheit und Bildungsungleichheit feststellen: in Problemgebieten liegt die Übergangsquote zur Hauptschule bei ca. 65 %, die zum Gymnasium bei 16-21 %, während in den besseren Wohngebieten der Übergang zum Gymnasium bei 70-85 % liegt. Die von mir (2000-2006) untersuchten Stadtgebiete der Mannheimer Innenstadt gehören zu den Problemgebieten, die aus der Perspektive der Sozial- und Schulbehörde als sozialer Brennpunkt bezeichnet werden. Die Stadtgebiete gehören zum alten Kern der Mannheimer Innenstadt, haben einen hohen Migrantenanteil (bis zu 65 %), in der Mehrheit türkischer Herkunft. Die ethnografische Studie hat gezeigt (vgl. Keim 2008, Teil I), dass sie in einer weit ausdifferenzierten sozialen Gemeinschaft leben, in einer Art ethnischer Kolonie. 2 Das Gebiet wird von Deutschen als des Türkeviertel bezeichnet, von den jüngeren Bewohnern, die sich davon distanzieren als Ghetto. Kinder, die den Übergang zu Schulen außerhalb des Wohngebiets schaffen, erleben, dass es viel bessere soziale Milieus gibt und dass sie aus einer Scheißgegend kommen. Sie schämen sich ihre Adresse anzugeben und nehmen beim Heimweg von der Schule Umwege in Kauf, nur um vor den MitschülerInnen ihre Herkunft zu verbergen. Zuwanderer der ersten Generation fühlen sich in diesem Stadtgebiet wohl, hier kennen sie sich aus und haben ihren Freundeskreis. Eine Frau, die mit ihrer Familie in einem Wohnkomplex mit fast ausschließlich türkischen Familien wohnt, charakterisiert das Leben im Block so eng wie in einer Familie. Die Befragten möchten nirgendwo anders wohnen, und sie wünschen sich, dass die Kinder ebenfalls in der Nähe bleiben. Der Lebensraum der Kinder und Jugendlichen beschränkt sich auf Schule, Familie und die türkische Gemeinschaft, und diese Begrenzung setzt sich nach Verlassen der Schule fort. Nach Auskunft der Hauptschulen suchen viele Abgänger im Stadtteil oder in den angrenzenden Stadtteilen eine Lehrstelle. Die Jugendlichen sagen selbst, dass sie am liebsten mit ihren bisherigen Freunden zusammenbleiben und dort arbeiten, wo sie sich auskennen. Sie haben Angst vor einer neuen Umgebung, in der sie sich alleine zurechtfinden müssten. Die räumliche und soziale Geschlossenheit des Ghettos bietet ihnen einerseits Geborgenheit, andererseits wird sie in Bezug auf die sprachliche, schulische und berufliche Entwicklung zur Falle. Die Jugendlichen sind nicht genügend auf ein Leben außerhalb vorbereitet, haben 2 Auch wenn die in Mannheim in den letzten Jahrzehnten entstandenen Migrantenwohngebiete nicht alle Merkmale einer ethnischen Kolonie im soziologischen Sinne erfüllen, erscheinen sie in der Wahrnehmung und Bezeichnung von Bewohnern und Außenstehenden doch als türkisch geprägt. Keim_sV-264End.indd 59 10.02.12 16: 57 60 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen Angst abgelehnt zu werden und zu scheitern. Diese Erfahrungen stimmen mit dem überein, was in der Soziologie als mangelnde „Statusmobilität von Minoritäten“ beschrieben wird, die in ethnischen Kolonien leben (Nauck 2004, S.-84). In Erzählungen der Jugendlichen kommt die Angst vor Ablehnung deutlich zum Ausdruck, wenn Gegenmaßnahmen gegen unterstellte Vorurteile beschrieben werden. Als eine junge Frau mit ihren Eltern in der Deutschen Bank am Schalter anstand, sprach sie mit den Eltern Türkisch. Doch als ein Kunde in die Nähe kam, wechselte sie ins Deutsche, da sie nicht den Eindruck vermitteln wollte, dass sie zu den ungebildeten Türken gehört. Eine andere Informantin, die mit ihren Freundinnen in ein Schicki-Micki-Kaufhaus ging, schämte sich, als die Freundinnen deutsch-türkische Mischsprache sprechend Kleider anprobierten und Aufmerksamkeit erregten; sie wandte sich ab, sprach in gutem Deutsch mit einer Verkäuferin und demonstrierte, dass sie nicht dazu gehörte. Es gibt zwei Entwicklungstendenzen, die auf eine längerfristige Stabilisierung der sozialen Dichte und Geschlossenheit des Stadtgebiets hindeuten: • Eine sozial-ökonomische Aufwärtsbewegung: Für viele arbeitlose Migranten ist der Weg in die Selbständigkeit notwendig und sie gründen Geschäfte des täglichen Bedarfs, Cafes und Restaurants. Da sich der Lebensplan vieler ehemaliger „Gastarbeiter“ geändert hat und sie langfristig in Deutschland bleiben wollen, ist eine Käuferschicht entstanden, die den Erfolg der Geschäftsneugründungen garantiert. • Eine Zunahme der türkischen Population: In türkischen Familien hat sich nach den Anschlägen von Mölln und Solingen und den ausländerfeindlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Diskussion um den Doppelpass (Anfang 2000) das Gefühl verstärkt, die Deutschen wollen uns nicht; und das hat zu einer deutlichen Hinwendung zur eigenen Gruppe geführt. Außerdem spielt die hohe Heiratsmigration eine große Rolle: Wenn man einen Partner aus der Türkei heiratet, bleibt man im Stadtgebiet, so eine junge Ehefrau, da sich der Neuankömmling hier aufgehoben fühlen kann. Beide Tendenzen machen das Stadtgebiet für die türkischstämmige Bevölkerung attraktiv, fördern den Zuzug und stärken Investitions- und Bleibeabsichten. 3.1.1 Familien- und Sozialstrukturen Zwei Familienkategorien sind als Orientierungsmodelle fest in der türkischen Migrantengemeinschaft verankert, die „traditionelle“ und die „offene, moderne Familie“. In der Lebenswirklichkeit gibt es jedoch vor allem Misch- und Übergangsformen. In vielen Familien ändert sich die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie im Laufe des Eingliederungsprozesses und ist oft das Keim_sV-264End.indd 60 10.02.12 16: 57 Leben in ethnischen Kolonien 61 Ergebnis langer, schmerzlicher Auseinandersetzungen zwischen der ersten und zweiten Generation. a) „Traditionelle Familien“ 3 In solchen Familien ist der Mann dominant, Frau und Kinder richten sich nach seinen Wünschen und Entscheidungen. Charakteristisch für diese Familien ist, dass die Eltern auf der Respektierung traditioneller Werte und Normen und auf der strikten Einhaltung einer traditionell-patriarchalischen Rollen- und Aufgabenverteilung bestehen. Nach Aussage von Kindern aus „traditionellen Familien“ werden Verhaltensgebote durch Maximen wie das ist Tradition, das wird so gemacht begründet oder religiös überhöht durch wir sind Muslime, unsere Sitten erlauben das nicht. Exkurs 1 Für türkische Familien in ländlichen Regionen Anatoliens sind Ehen in erster Linie Wirtschafts- und Überlebensgemeinschaften, auf Lebenszeit geschlossen und mit fester Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau. 4 Sie werden in der Regel von den Eltern angebahnt und sind an die Zustimmung der Eltern gebunden. Ohne Zustimmung zu heiraten ist für junge Leute undenkbar und mit harten Sanktionen (z. B. Familienausschluss) verbunden. Die zentrale Aufgabe der jungen Familie ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Sicherung der Kinder, deren Erfolg den Eltern einen geordneten Lebensabend garantieren soll. Solche Familienmodelle sind typisch für Gesellschaften, in denen es keine ausgebauten sozialstaatlichen Systeme für die soziale Sicherung gibt. Deshalb werden alle Absicherungen gegen die Risiken des Lebens, wie Krankheit und Alter, zwischen den Generationen erbracht. Die Eltern sorgen für die Kinder und erwarten im Gegenzug die Fürsorge der Kinder, wenn sie nicht mehr arbeitsfähig sind. Zum gesellschaftlichen Erfolg der Familie gehört neben der wirtschaftlichen Absicherung vor allem ein ehrbares Leben (namus), ein Leben nach den sozialen und moralischen Regeln der Gemeinschaft. Durch ein ehrbares Leben erreicht die Familie in ihrem sozialen Umfeld Ansehen (saygı). Diesen zentralen Anforderungen werden alle individuellen Anliegen (auch die Liebe zu einem Partner, den die Eltern nicht akzeptieren) und (Ehe)Probleme untergeordnet. Leitbild ist die iyi aile, die ‚gute und saubere Familie‘, in der Eltern und Schwiegereltern mit Respekt begegnet wird. Die Familien achten bei der Tochter auf Jungfräulichkeit und den guten Ruf, denn nur so hat sie die Chance von einer Schwiegerfamilie akzeptiert zu werden. Das bedeutet, dass die Tochter sich ganz den Regeln und Anweisungen ihrer Familie unterordnet, nicht ohne Begleitung eines Familienmitgliedes aus dem 3 Das Folgende basiert auf Informationen guter Kenner der türkischen Familien in Mannheim, vgl. Keim (2008), Teil I, Kap.-2.3. 4 Die folgende Darstellung traditioneller türkischer Familien charakterisiert die Sozialisationserfahrungen vieler türkischer Migranten der ersten Generation; vgl. auch Keim (2008), Teil II. Keim_sV-264End.indd 61 10.02.12 16: 57 62 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen Haus geht und sich in der Öffentlichkeit erst dann mit einem jungen Mann zeigt, wenn sie mit ihm verlobt ist. Enge Kontakte mit jungen Männern vor der Ehe sind strikt verboten, die junge Frau und ihre Familie würden ihren guten Ruf verlieren. Nach der Heirat zieht die junge Frau in die Familie des Mannes und ordnet sich dort den Regeln der Schwiegermutter unter. Ehemänner gelten als „gut“, wenn sie, neben der wirtschaftlichen Sicherung der Familie, folgende Dinge nicht tun: trinken, dem Glücksspiel nachgehen und fremdgehen. Frauen sind gute Ehefrauen, wenn sie die Haushaltspflichten erfüllen, die Kinder versorgen, ehrbar leben, das heißt: nicht fremdgehen, den Töchtern keine Kontakte mit Männern erlauben, ihrem Mann und ihrer Schwiegerfamilie mit Respekt begegnen und für den Zusammenhalt der Familie sorgen. Erfüllen Ehemänner und -frauen diese Kriterien, gilt die Ehe als gut und sauber. Diese Familienstruktur ist auch für „traditionelle Familien“ der Migrantengemeinschaft charakteristisch. Die Sorge um den Ruf und die Heiratsfähigkeit der Tochter führt dazu, dass Mädchen mit Beginn der Pubertät stark eingeschränkt werden. Sie müssen nach der Schule sofort nach Hause, dürfen an vielen Schulveranstaltungen nicht teilnehmen, z. B. bei Klassenfahrten, Schultheater und Schuldisco. Die einschränkende Haltung traditioneller Familien hat sich in Deutschland oftmals verschärft, so eine türkische Mutter, weil die Eltern die deutsche Lebenswelt nicht durchschauen. In der Türkei gewähren vergleichbare Familien den Töchtern größeren Freiraum, weil die Eltern die Umgebung abschätzen und darauf vertrauen können, dass das soziale Umfeld die Töchter im Sinne der Eltern mitkontrolliert. In Deutschland haben die Eltern Angst, dass die Töchter an falsche Freunde geraten. Die Verhärtung mitgebrachter Strukturen und sozialer Orientierungen, von der die Informantin berichtet, lässt sich zum einen mit Prozessen erklären, die in der Migrationssoziologie mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus beschrieben werden (vgl. Nauck 2004, 98ff.): „Eine gewünschte oder erzwungene Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft bedeutet zugleich, wieder auf die sozialen Sicherungssysteme zurückgreifen zu müssen, die (…) auf Generationenbeziehungen basieren.“ Aus diesem Grund wird in solchen Fällen verstärkt Wert auf mitgebrachte Traditionen, auf die Aufrechterhaltung mitgebrachter Familienstrukturen und mitgebrachter Normen und Wertorientierungen gelegt. Neben dieser ökonomischen Erklärung ist auch die Angst, die Kinder an einen Fremden zu verlieren, die Angst vor der Entfremdung der Kinder und vor dem Verlust der sozial-kulturellen Identität eine motivierende Kraft (Keim 2008, Teil II). Aus dieser Angst erwächst oft ein starres Festhalten an tradierten Orientierungen auch dann noch, wenn sie sich als nicht mehr zweckmäßig erweisen und eine Verschlechterung der Lebenschancen der Kinder bedeuten. Die Angst vor der Entfremdung der Kinder hat Schiffauer (1991, 241ff.) ausführlich dargestellt. Bereits mit dem Eintritt des Kindes in den deutschen Keim_sV-264End.indd 62 10.02.12 16: 57 Leben in ethnischen Kolonien 63 Kindergarten befürchten Familien, dass die Kinder „sich zu entfremden“ beginnen und dass sie ihr „Türkisch-Sein“ verlieren. Die Eltern befürchten vor allem den Verlust der Sprache (Türkisch) und dass ein Kind, das mit „Türkisch“ bricht, auch mit den Eltern bricht. Die Eltern sehen den Zielkonflikt zwischen der Notwendigkeit, die Kinder auf die neue Gesellschaft vorzubereiten, d. h. zuzulassen, dass sie die deutschen Bildungsinstitutionen erfolgreich durchlaufen, und der Notwendigkeit, sie vor der neuen Umwelt zu beschützen, damit sie ihre türkische Identität bewahren können. Vor diesem Zielkonflikt stehen alle Migranteneltern; doch sie unterscheiden sich darin, wie sie ihn zu lösen versuchen. In „traditionellen“ Familien wird das Interesse der Familie immer über das des Einzelnen gestellt; die Kinder haben sich dem unterzuordnen, was für das Ansehen der Familie von Vorteil ist. Da es eine Schande für die ganze Familie ist, wenn eine Tochter auszieht (außer wenn sie heiratet), wagen viele Töchter auch bei schwierigen Familienverhältnissen die Trennung von der Familie nicht. Sie verschweigen innerfamiliäre Probleme aus Angst, dass dann die Familie ins Gerede kommt. Eine junge Informantin beschreibt diese Erfahrungen folgendermaßen: viele jugendliche sagen sie hätten keine probleme in ihrer familie und erziehung * sie unterdrücken ihre probleme indem sie schweigen und sich selber anlügen * sie schämen sich für ihre eltern und dafür was sich zuhause abspielt * sie fangen an in zwei welten zu leben * die welt außerhalb des hauses * und auf der anderen seite die welt hinter den geschlossenen türen * die welt der geheimnisse innerhalb der familie * man sagt nix von der familie * weil man angst hat * man schämt sich eigentlich dafür (Keim 2008, S.-72) Die Töchter wissen, dass die Eltern von ihnen erwarten, dass sie das Ansehen der Familie schützen. Wenn sie versuchen, sich die Lebensart der umgebenden deutschen Gesellschaft anzueignen, können sie das nur heimlich machen und müssen es vor der Familie verstecken. Sie verhalten sich nach außen wie wohlerzogene junge Türkinnen, sind jedoch innerlich zerrissen. Dieses Doppelleben kostet sehr viel Energie und Kraft. b) „Offene, moderne Familien“. Charakteristisch für diese Familien ist eine Offenheit in Bezug auf die Entwicklung und Ausbildung der Töchter. Moderne Eltern heben ihre Liberalität im Umgang mit traditionellen Ge- und Verboten hervor: wir sind keine Türken die immer nur auf die Tradition pochen, die Kinder leben hier und müssen sich hier zurechtfinden. Oft haben sich aus „traditionellen Familien“ im Laufe der Zeit „offene Familien“ entwickelt. Dabei ist die Entwicklungslinie nicht immer gradlinig verlaufen: Auf großzügige Elternentscheidungen konnten, wenn die Eltern den sozialen Druck aus der Migrantengemeinschaft zu spüren bekamen, wieder Einschränkungen für die Kinder folgen. Mit der Charakterisierung „offen und modern“ wird vor allem die Öffnung der Eltern gegenüber der neuen Umwelt verbunden, die ihren Töchtern eine gute Schul- und Berufsausbildung Keim_sV-264End.indd 63 10.02.12 16: 57 64 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen ermöglichen, ihnen Entwicklungsfreiräume geben und sie auf die Übernahme sozialer Verantwortung vorbereiten wollen. Ein Vater, den die Töchter als ziemlich liberal und modern charakterisieren, antwortet auf die Frage, was er sich für die Zukunft der Töchter wünscht, folgendes: BI: ya hep sinin de iyi bi okulun bitirmelerini * iyi bi Ü also dass alle eine gute schule abschließen * ich will dass sie BI: okulun bitirmelerini istiyom * yani sosyal faaliyetlerde Ü eine gute schule abschließen * ich will also dass sie sich BI: bulunmalar n istiyom * insanlara faydal olmas n istiyom Ü sozial engagieren * ich will dass sie den Menschen von Nutzen sind In „modernen Familien“ spielen die Mütter eine zentrale Rolle. Sie unterstützen die Töchter in ihrem Drang nach draußen und nach Freizügigkeit. Sie wünschen sich für die Töchter ein besseres und selbständigeres Leben, als sie es selbst führen konnten. Familien mit starken Müttern fallen auch deutschen Lehrkräften auf, die Töchter aus solchen Familien bilden die Elite im Migrantenwohngebiet: Sie besuchen höhere Schulen, kleiden sich modern und auffallend und verhalten sich sehr selbstbewusst. Bei den Müttern, so vermutet eine Lehrerin, gehöre sehr viel Mut dazu, den Töchtern solche Freiräume einzuräumen, denn die anderen reden ja darüber. Diese Vermutung wird von einer Betroffenen bestätigt: Sie fühlt sich ständig der Kritik von Nachbarn ausgesetzt, wird immer wieder gefragt, ob sie den Töchtern nicht zu viel erlaubt, und sie wird für das Verhalten der Töchter verantwortlich gemacht. Die sozialen Netzwerke in der türkischen Migrantenpopulation sind sehr eng. Familien, die aus derselben Herkunftsregion oder aus demselben Dorf in der Türkei kommen, wohnen oft in unmittelbarer Nachbarschaft. Regelmäßige Besuche zwischen Frauen sind selbstverständlich. Eng gekoppelt an die dichte Netzwerkstruktur ist die soziale Kontrolle. In der Dorfstruktur des Stadtteils, so eine Pädagogin, ist die Klatschkultur so stark ausgeprägt, dass innerhalb der türkischen Population beinahe jeder alles über jeden weiß. Die soziale Kontrolle bezieht sich vor allem auf junge Frauen, die von Nachbarn, Brüdern und Freunden ständig beobachtet werden. Wenn sie gegen traditionelle Strukturen aufbegehren und ein freieres Leben führen wollen, ist die dichte Kontrolle unerträglich: wirklisch alle türken die in deutschland leben * haben en großes problem mit ihrer umgebung * weil die türken die mischen sich in alles ein * <alles * einfach alles> * obwohl sie keine verwandten sind * das leben der familien geht nur darum <was werden die leute denken> * das is so schlimm und wirklich ekelhaft (Keim 2008, S.-83) Aus Furcht vor der sozialen Kontrolle werden in vielen Familien innerfamiliäre Probleme geheim gehalten, denn, würden sie bekannt, würde das Leben zum Spießrutenlaufen. Die Betroffenen würden von Verwandten und Nachbarn Keim_sV-264End.indd 64 10.02.12 16: 57 Leben in ethnischen Kolonien 65 ständig auf die Abweichungen hin angesprochen, müssten erklären und sich rechtfertigen. So stellen Ehefrauen, deren Männer die Kriterien eines guten Mannes nicht mehr erfüllen, ihn nach außen weiterhin als gut und zuverlässig dar, selbst dann noch, wenn das Problem bereits nach draußen gedrungen ist. Solange die Betroffene nicht offen darüber spricht, spielen freundliche Nachbarinnen das Spiel mit. Obwohl das Doppelspiel von den betroffenen Frauen große Selbstdisziplin erfordert, ist es für sie leichter und hat nicht die sozialen Konsequenzen, die die Offenlegung des Problems hätte. Der größte Wunsch junger Frauen, die nach Selbständigkeit drängen, ist es aus dieser Umgebung raus zu kommen. Für die Zukunft wünschen sie sich auf keinen Fall in einer Umgebung zu leben, wo so viele Hetztürken sind, weil sie sich verfolgt fühlen und jeden Schritt genau überlegen müssen. Sie wissen, dass es nicht primär die Eltern sind, die ihrem Freiheitsdrang entgegenstehen, sondern die türkische Umgebung, die alles kaputt macht. Die Eltern haben Angst vor den Hetztürken und wollen dafür sorgen, dass das Verhalten der Familienmitglieder keinen Anlass zum bösen Klatsch gibt. 3.1.2 Verfestigung binnenethnischer Beziehungen durch Heiratsmigration 5 Angehörige der zweiten und dritten Generation heiraten vor allem innerethnisch, Ehen mit deutschstämmigen Partnern oder Partnern aus anderen ethnischen Gruppen sind eher selten. Die Ehepartner stammen entweder aus der türkischstämmigen Migrantenpopulation oder aus der Türkei, bevorzugt aus den Herkunftsregionen der Eltern. Da die Netzwerke zur Herkunftsregion meist sehr intensiv sind, werden die Partner in der Türkei im Freundskreis der Eltern, in der Nachbarschaft und im sozialen Umfeld gefunden. Die meisten transnationalen Eheschließungen (zwischen Deutsch-Türken und Türkei-Türken) sind keine Verwandtschaftsehen; ein Teil der Ehen ist selbst organisiert, andere sind so genannte „arrangierte“ Ehen. Exkurs 2 Mehrere Untersuchungen zeigen, dass türkischstämmige MigrantInnen der zweiten und dritten Generation die innerethnische und transnationale Heirat bevorzugen (Straßburger 2003, Boos-Nünning/ Karakaşoğlu 2005, Kizilocak/ Sauer 2006). Nach Straßburger (2003, S.-99ff.) wurden über 80 % der Ehen innerethnisch geschlossen und davon drei Viertel mit PartnerInnen aus der Türkei. Straßburger führt folgende Kriterien an, die bei der Entscheidung für eine transnationale Eheschließung eine Rolle spielen: zum einen die Kompatibilität der Partner in Bezug auf Lebensstil und Lebensweise und zum anderen der soziale Druck innerhalb transnationaler Netzwerke, da die zurückgebliebenen Angehörigen hoffen oder erwarten, dass ihnen eine Migration durch Heirat ermöglicht wird. Die von mir untersuchten „tür- 5 Das Folgende basiert auf Keim et al. (2012) und Keim (2012). Keim_sV-264End.indd 65 10.02.12 16: 57 66 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen kischen Powergirls“ (Keim 2008) nannten folgende Gründe für die innerethnische Heirat: a) religiöse Gründe; es sei einer Muslima verboten einen Andersgläubigen zu heiraten; b) familiäre Gründe; die Eltern lehnten einen „kulturell Fremden“ als Schwiegersohn ab, und die Töchter befürchteten den Verlust der Familiensolidarität, wenn sie einen „Fremden“ heirateten. Im Fall des Scheiterns der Ehe könnten sie nicht mit der Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie rechnen. Dass transnationale Ehen für türkischstämmige MigrantInnen eine große Rolle spielen, zeigt auch der Migrationsbericht 2009 (S.-127ff.): Häufigstes Herkunftsland des Ehegattennachzugs ist nach wie vor die Türkei. 30 % der Ehefrauen ziehen zu einem ausländischen Mann, 16 % zu einem eingebürgerten, während 13 % der Ehemänner zu ausländischen und 26 % zu eingebürgerten Frauen ziehen. Viele transnationale Ehen sind „arrangierte Ehen“, sie kommen durch Vermittlung Dritter zustande. Arrangierte Ehen sind weltweit verbreitet und haben die soziale Verträglichkeit und ökonomische Absicherung der Ehepartner und der beteiligten Familien zum Ziel. Bei den Ehepartnern handelt es sich um Freunde, Bekannte oder Cousin/ Cousine zweiten/ dritten Grades, manchmal auch um Unbekannte, die sich erst nach der Heirat kennen lernen. Arrangierte Ehen kommen vor allem in traditionellen Gesellschaften (z. B. in Indian, Pakistan, Usbekistan, Bangladesch, Sri Lanka und Japan) vor, in denen die Familie als wirtschaftliche Produktionseinheit und Ort sozialer Nähe und Sicherheit grundlegend für die Existenz jedes Einzelnen ist, und der Staat keine oder nur wenig soziale Unterstützung und Absicherung bietet. Auch in den ländlichen Gebieten der Türkei sind sie weit verbreitet. Sie folgen bestimmten Regeln, deren Einhaltung gewährleisten soll, dass Selbstbestimmung und Familienorientierung ausbalanciert werden, und kein allzu großer Heiratsdruck auf die potentiellen KandidatInnen ausgeübt wird. Die Anbahnung einer arrangierten Ehe basiert auf vier Vorstufen, die grundsätzlich ergebnisoffen sind; der Prozess kann an jeder Stelle abgebrochen werden. Allerdings gibt es, so Straßburger (2003) auch Fälle, in denen ein Arrangement zur Zwangsehe führt. In meiner Untersuchung zur Situation in Mannheim lehnen Töchter aus „modernen Familien“ mit guter Schul- und Berufsausbildung eine Heirat mit einem Mann aus der Herkunftsregion der Eltern ab. Solche Männer bezeichnen sie als ungebildete Dorftrottel, mit denen sie nichts verbindet. Eine junge Frau meint, zwischen uns und diesen Typen liegen 100 Jahre, und auch die Mutter würde eine solche Verbindung nie zulassen: sie sagt immer * ich habe meine töchter gut erzogen * sie auf eine gute schule geschickt * sie alles lernen lassen * dann soll ich sie diesen hungrigen wölfen aus dem dorf vorwerfen Doch in eher „traditionellen Familien“ in Mannheim wird eine Verbindung mit einem Bekannten oder (entfernten) Verwandten aus der Türkei sowohl wirtschaftlich als auch kulturell unterstützt. Sie ermöglicht den Verwandten die Keim_sV-264End.indd 66 10.02.12 16: 57 Leben in ethnischen Kolonien 67 Migration und sie schützt das eigene Kind vor weiterer Entfremdung von Herkunftskultur und -tradition. In Mannheim gibt es viele transnationale Ehen. 6 Sie haben die Konsequenz, dass die Herkunftssprache weiterhin die dominante Familiensprache bleibt. Nach Hauck (2004, S.103) gehören Partnerwahl und Eheschließungen „zu den strategischen Entscheidungen“ von Migranten, da sich daraus „weit reichende Folgen für den eigenen Eingliederungsprozess“ und den der Kinder ergeben. Ein Partner aus der eigenen Gruppe macht eine Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft wesentlich unproblematischer als ein Partner aus der Mehrheitsgesellschaft oder aus einer anderen ethnischen Gruppe. Solche Überlegungen können vor allem bei Migranten eine entscheidende Rolle spielen, deren Aufenthaltsstatus ungesichert ist bzw. die ihn als ungesichert erleben. Dieses Argument spielte bei den von mir befragten Familien eine Rolle, ebenso wie der Wunsch einem weiteren Mitglied aus der Herkunftsregion die Migration zu ermöglichen. 7 Aus der Sicht türkischstämmiger PädagogInnen scheinen viele HeiratsmigrantInnen in Mannheim zufrieden mit ihrer Situation zu sein. Es sei beeindruckend, wie die Frauen die einschneidenden und oft auch krisenhaften Erfahrungen der Migration bewältigten; das ermöglichten Eigenschaften wie Ausdauer, Ehrgeiz, Gewissenhaftigkeit, Wissbegierde und Zuverlässigkeit. Ein Pädagoge erklärt die Einpassungsleistung der jungen Frauen mit ihrer kulturellen Herkunft: Da in orientalischen Gesellschaften der Lebensentwurf des einzelnen auf das Kollektiv bezogen ist, und Ehre und Ansehen der Familie eine wichtige Rolle spielen, wüssten die Frauen sehr genau, welche Rolle sie in der Schwiegerfamilie in Deutschland zu erfüllen haben. Das schafft für sie Klarheit und Überschaubarkeit. Aus seiner Perspektive ist die Festgefügtheit der Familienrolle, die aus deutscher Perspektive einengend und unterdrückend erscheinen mag, für die Frauen eine wichtige Orientierung in der krisenhaften Umbruchsituation. Ehen, die nach traditionellen Mustern aufgebaut sind, sind sehr gut organisiert; und ein Leben in der Großfamilie ist für viele Heiratsmigrantinnen ausgesprochen attraktiv. Für die jungen Frauen aus der Türkei ist das Leben in Deutschland zunächst gleichbedeutend mit dem Leben in der Schwiegerfamilie, das sie entweder als angenehm oder als Ursache allen Unglücks betrachten. Wenn die Schwiegermutter gleichzeitig die (entfernte) Tante ist, geht es der Schwiegertochter meistens gut. Aus der Sicht einer Kursleiterin machen junge Frauen aus solchen Ehen einen zufriedenen und glücklichen Eindruck. Der Mann und seine Familie 6 Das belegen die Ausführungen des Ausländerbeauftragten in Mannheim, ebenso wie eine Diplomarbeit, die an einer Grundschule des Migrantenwohngebiets entstanden ist, vgl. Hoffman, Anna (2000): Familienstrukturen von Kindern der Jungbuschschule. MS, Mannheim. 7 Zum Folgenden vgl. Keim 2012. Keim_sV-264End.indd 67 10.02.12 16: 57 68 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen (die Verwandten) kümmern sich um alles; die junge Frau wird in das türkische Netzwerk in Mannheim aufgenommen und richtet sich darin ein. Eine Konsequenz dieser Form von Integration in die neue Lebenswelt ist, dass das Interesse an Deutsch und den Deutschen gering ist; diese jungen Frauen sind - so die Leiterin eines Integrationskurses - wenig motiviert Deutsch zu lernen, da sie es im Alltag nicht brauchen. Ist das Verhältnis zur Schwiegermutter dagegen schlecht, sieht der Alltag einer jungen Frau z. B. so aus (vgl. Sirim 2012): Frühstück zubereiten, putzen, kochen, waschen, einkaufen für alle Mitglieder der (Groß)Familie, und wenn Besuch da ist, Tee kochen und bedienen. Die Schwiegermutter delegiert alle Aufgaben im Haushalt an die Schwiegertochter und kontrolliert sie mit dem Ziel, sie abhängig und unselbständig zu halten. Für eine unglückliche Informantin ist das Leben in der Schwiegerfamilie wie eine Gefangenschaft (burada hapis hayat yaşayıyoruz), man ist immer unter Kontrolle, kann die Sprache nicht, die Hände sind einem gebunden. Sie ist rechtlich und sozial von ihrem Mann abhängig, und Kontakte nach draußen werden streng kontrolliert aus Angst, dass sie Menschen trifft, die ihr Mut machen sich der Kontrolle der Schwiegerfamilie zu widersetzen. Informantinnen beklagen die soziale Isolation, die durch fehlende Deutschkenntnisse noch verstärkt wird. 8 Bei einer Diskussion über das Leben in Deutschland ergab sich die einhellige Meinung: şimdiki aklım olsa, evlenip Almanya’ya gelmedim (‚wenn man mich heute fragen würde, würde ich nicht mehr nach Deutschland heiraten‘). Da die meisten Frauen jedoch aus finanziellen oder „Ehre“ bezogenen Gründen nicht in die Herkunftsfamilie zurückkehren können, versuchen sie das Beste aus ihrem Leben hier zu machen. Bei ihnen ist die Motivation Deutsch zu lernen sehr hoch; sie wollen möglichst schnell Arbeit finden, um für die Zukunft der Kinder zu sorgen. Während also die glücklichen Heiratsmigrantinnen ein eher geringes Interesse an Deutsch haben, sind die unglücklichen stark an Deutsch interessiert, weil sie unabhängig und selbständig werden wollen. Ganz anderes sieht die Situation junger Deutsch-Türkinnen aus, die einen Mann aus der Türkei, einen Importmann, geheiratet haben. Die meisten bezeichnen sich als zufrieden oder glücklich. Sie haben den geachteten Status einer verheirateten Frau und leben in einer Ehe-Konstellation, in der sie die Frauen- und Männerrolle im Vergleich zum traditionellen Muster erheblich 8 In Bezug auf die soziale Isolation solcher Frauen haben die Integrationskurse positive Aspekte: In den Kursen können die Frauen neue Beziehungen knüpfen und außerhalb der Familie über ihr Leben und ihre Probleme reden. Oft betrachten sie die deutsch-türkische Kursleiterin als Freundin und Beraterin. Wenn z. B. der Mann sie schlägt, suchen sie Hilfe und bitten die Kursleiterin, sie aus ihrer Ehe zu retten. Wenn die Kursleiterin dann den Kontakt zur Sozialeinrichtung herstellt, schrecken die Frauen jedoch meist zurück aus Scheu sich Außenstehenden gegenüber zu öffnen, da sie Gewalt in der Familie als Tabu-Thema behandeln; vgl. Keim 2012. Keim_sV-264End.indd 68 10.02.12 16: 57 Schul- und Ausbildungssituation 69 verändert haben. Auch wenn sich nach der Eheschließung herausstellt, dass der Mann nicht ihren Vorstellungen entspricht, hat die Eheschließung für die Frau wesentliche Vorteile: Der Status einer verheirateten Frau ermöglicht ihr viele Freiheiten, und im Falle des Scheiterns der Ehe hat sie als geschiedene Frau eine wesentlich bessere soziale Position, als eine unverheiratete Frau. Die anhaltende Heiratsmigration weicht eine Einteilung der Migrantengemeinschaft in erste, zweite und dritte Generation auf, da sie für ständig neue erste Generationen sorgt. Die ZuwandererInnen verfügen trotz der Verpflichtung zu Integrationskursen in der Türkei (die die A1- Prüfung des Europäischen Sprachrahmens vorsehen) meist nur über geringe Deutschkenntnisse. Auch wenn sie die Integrationskurse erfolgreich abgeschlossen haben, verlieren sie wegen des fehlenden Kontakts zu Deutschen bald die im Kurs erworbenen Kenntnisse. Das große Angebot an türkischsprachigen Medien verstärkt diese Tendenz. 3.2 Schul- und Ausbildungssituation Als in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Familien der ehemaligen „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, waren die Schulen auf den Ansturm von Kindern aus anderen Kulturen und Sprachen völlig unvorbereitet. Bereits damals machten wissenschaftliche Untersuchungen und Medienberichte auf die Misere im Schul- und Ausbildungsbereich der ausländischen Familien aufmerksam. Es war eine Situation entstanden „wie sie in kaum einem vergleichbaren Industrieland herrschte“. 9 Einige Kultusminister sprachen den Schulen die Empfehlung aus, dass der Anteil ausländischer Kinder in einer Klasse 20 % nicht überschreiten sollte, da das den Unterricht für deutsche und ausländische Kinder erheblich erschwere, und die Ausbildung beider Gruppen darunter leide. Schon damals klafften Anspruch und Realität weit auseinander: In den Innenbezirken einiger Großstädte, z. B. in Berlin, Hamburg und München waren Ausländer-Wohngebiete entstanden, es gab Schulen mit über 50 % Ausländeranteil, und 50-60 % der ausländischen Schüler schafften damals den Hauptschulabschluss nicht (Keim1974, S.- 172ff.). Die politische Antwort auf diese Situation war, dass man das Problem den ausländischen Familien aufbürdete. Offiziell ging man davon aus, dass „ausländische Arbeiter für ihre Kinder vorübergehend oder auf Dauer eine schlechtere schulische Versorgung in Kauf nehmen“ würden (Klee, 1972, S.-70), und man hoffte, dass die meisten Kinder und Jugendlichen Deutschland wieder verlassen würden. Das geschah jedoch nicht in dem erwarteten Ausmaß. 9 Vgl. die Anfrage im Bundestag zur „Schul- und Berufsausbildung der Kinder ausländischer Arbeiter in der BRD“ vom 30.03.1971, zitiert nach Klee (1972), S.-68. Keim_sV-264End.indd 69 10.02.12 16: 57 70 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen In Cindark (2010) findet sich eine Stellungnahme aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung von 1976 über die Perspektiven der ausländischen Jugendlichen in Deutschland, die zeigt, dass das Problem damals erkannt wurde: „Die zweite Ausländergeneration wird ihre eigenen sozialen und wirtschaftlichen Chancen mit denen der deutschen Bevölkerung vergleichen und eine misslungene soziale und berufliche Integration als das empfinden, was sie in Wirklichkeit ist: Als eine unerträgliche Diskriminierung“. In Bezug auf die Kinder der ehemaligen Gastarbeiter sieht der Sprecher des Ministeriums ein neues „Subproletariat ohne Berufsbildung“ entstehen, das sich als „sozialer Zündstoff mit Zeitzünder“ entwickeln werde. 10 Die damaligen Befürchtungen traten ein, kamen jedoch erst Jahrzehnte später durch die als PISA 11 und IGLU 12 bekannt gewordenen Untersuchungen ins öffentliche Bewusstsein. Neben der geringen Leistungsfähigkeit der deutschen Schule wurde erstmals die eklatante Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem dokumentiert. Exkurs 3 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen korrespondierten mit den Befunden aus (migrations)soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Arbeiten, die an Fallbeispielen zeigten, wie soziale Ungleichheit im normalen Schulalltag aufgrund von organisatorischen Strukturen, von Schulregeln und -programmen, von Habitualisierungen und Alltagsroutinen der Pädagogen hergestellt wird (vgl. z. B. Bommes/ Radtke 1993, Gogolin/ Neumann 1997, Weber 2003). Die PISA- und IGLU- Untersuchungen zeigten die Auswirkung des sozialen und familiären Hintergrunds der Kinder auf Testergebnisse und Lehrerbewertungen. Kinder mit gleichen oder ähnlichen Testleistungen erhielten völlig unterschiedliche Lehrerbewertungen und dementsprechend auch unterschiedliche Schullaufbahnempfehlungen in der 4.-Klasse. Für die Unterschiedlichkeit der Empfehlungen bei ähnlichen Leistungen waren vor allem soziale Merkmale relevant: Kinder ohne Migrationshintergrund hatten eine viermal höhere Chance eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als Kinder mit Migrationshintergrund. Selbst bei vergleichbaren kognitiven Fähigkeiten und vergleichbarer Lesekompetenz erhielten Kinder aus oberen Sozialschichten immer noch wesentlich häufiger eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus unteren Sozialschichten. 10 Das Zitat stammt von dem damaligen Ministerialrat Bodenbender aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, zitiert nach Cindark (2010), S.- 59. Cindark führt außerdem einen deutschen Botschaftsangehörigen in Ankara an, der 1977 den ausländischen Arbeitern in Deutschland dringend riet, „ihre Kinder während der Dauer der Schul- und Berufsausbildung in der Türkei zu lassen“, da Deutschland kein Einwanderungsland sei (a. a. O.). 11 Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (2001). 12 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU, vgl. Bos et al. (2003) und (2004). Keim_sV-264End.indd 70 10.02.12 16: 57 Schul- und Ausbildungssituation 71 Unter den Migrantenkindern schnitten türkische Kinder besonders schlecht ab. In einem Artikel in DIE ZEIT wurden sie als „Spitzenreiter im (schulischen) Scheitern“ bezeichnet, 13 und in dem Bildungsbericht von Baden-Württemberg (2004) wurde ihnen ein „erheblicher Bildungsrückstand“ attestiert. 14 Als Ursache für die schlechten Ergebnisse wurden zwei Faktoren genannt: die geringe Förderung durch die Schule und das geringe Bildungsinteresse türkischer Eltern. Interessanterweise zeigt jedoch ein Blick in die PISA-Untersuchung, dass türkische Migrantenkinder in anderen Ländern erheblich bessere Ergebnisse erzielten. 15 Nach der neuesten PISA- Studie (2009) gibt es in Deutschland zwar erhebliche Verbesserungen , 16 auch bei Migrantenkindern. Doch die soziale Herkunft spielt nach wie vor eine große Rolle beim Bildungserfolg der Kinder. 17 Der Frage, wie die schulische Benachteilung von Migrantenkindern hat entstehen können und über Jahre stabil geblieben ist, gehen Gomolla/ Radtke (2002) 13 Vgl. den Artikel in DIE ZEIT, Nr. 10, 27.02.2003, S.-16. 14 Zitiert in dem Artikel im MM vom 09.11.2004, S.-5. 15 Vgl. den Artikel in DIE ZEIT, Nr. 10, 27.02.2003, S.- 16 heißt es: „ob in Schweden oder Norwegen, in Österreich oder der Schweiz: Überall können Kinder türkischer Einwanderer besser lesen als hierzulande“. 16 In der ersten PISA-Studie 2001 lag Deutschland im unteren Drittel; 2009 liegen deutsche SchülerInnen in allen gemessenen Leistungen im internationalen Vergleich im oder über dem OECD-Durchschnittt; zu den neuesten PISA-Ergebnissen vgl. die Beiträge und Tabellen in DIE ZEIT, Nr. 51, vom 09.12.2010, S.-71-74. In dem Interview mit den an den deutschen PISA-Untersuchungen beteiligten Forschern, Prof. Dr. Klieme (Leiter der Studie 2009) und Prof. Dr. Prenzel (Leiter der Studie 2006), stellen beide fest, dass es deutliche Leistungsverbesserungen der Migrantenkinder im Lesen gibt. „Hier bewegt sich also etwas, wenn auch bei Kindern mit türkischen Wurzeln nicht ganz so stark. Wir müssen jetzt herausfinden, welche Art von Deutschförderung wirklich Ergebnisse zeitigt. Da wird noch oft zu planlos herumprobiert“, S.-72. 17 Ch. Pfeiffer (2010) sieht das „Geheimnis einer in ihrem Innersten befriedeten Gesellschaft“ im gleich berechtigen Zugang zu Bildung, vom Kindergarten bis zur Universität. Unter den von ihm befragten 14bis 16-jährigen türkischstämmigen Jugendlichen sind nur 16 % schulisch „in Richtung Abitur“ unterwegs, aber 38 % bereits mehrfach wegen Gewaltdelikten aufgefallen. Bei den deutschen Jugendlichen dieser Altersgruppe fallen nur etwa über 3 % als Gewalttäter auf, 37 % streben das Abitur an. Daraus folgt der Schluss: Schulisch gut integrierte Jugendliche haben eine geringere Kriminalitätsrate. Doch es gibt Städte wie z. B. Hannover, in denen 70 % der jugendlichen Türken auf dem Weg zum Abitur sind. Die Gründe dafür sind nach Meinung Pfeiffers, dass es in Niedersachsen keine bindende Schulempfehlung in der 4. Klasse gibt, und engagierte Bürger über eine Stiftung ehrenamtlichen Nachhilfeunterricht für Migrantenjugendliche organisiert haben. Die bindende Schulempfehlung betrachtet er als eine „Integrationsblockade ersten Ranges“, eine unüberwindliche Hürde und „ein „bildungspolitischer Grundfehler“. Zitat aus der Rede Pfeiffers zum Neujahrsempfang der Stadt Mannheim, zitiert im MM vom 07.01.2011, S.-18, Titel des Beitrags: „Engagiert für ein sicheres Gemeinwesen“ von Thorsten Langscheid. Keim_sV-264End.indd 71 10.02.12 16: 57 72 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen und Radtke (2004) nach. Sie suchen nach den Mechanismen, die Schulen mit hohem neben Schulen mit sehr niedrigem Migrantenanteil entstehen lassen, und damit die soziale und sprachliche Integration von Migranten entweder verschlechtern oder verbessern. An der Herstellung spezifischer sozialräumlicher Strukturen sind „eine Vielzahl staatlicher Organisationen und privater Akteure beteiligt, die ihr Verhalten nicht oder nur schwach koordinieren. Ihre Entscheidungen haben aber in der Summe Effekte, die keiner der beteiligten Entscheider geplant oder vorausgesehen hat“ (Radtke 2004, S.163). Zu diesen Mechanismen gehören Faktoren wie Stadtentwicklung, Wohnraumbewirtschaftung, Schulentwicklungsplanung, Schulprofilbildung, Übergangsempfehlungen der Schulen und das Wahlverhalten der Eltern. Radtke führt die ethnische Konzentration in Schulen auf das Zusammenwirken der genannten Faktoren und als Ergebnis eines komplexen sozialen Geschehens zurück. Doch da diese Faktoren in der Beurteilung der schulischen Situation kaum berücksichtigt werden, wird der (nach jahrelangen schulischen Anstrengungen) nur mangelhafte Schulerfolg von Migrantenkindern „den Eltern und den Merkmalen der Kinder zugerechnet“, und die pädagogische Integrationsarbeit [wird] den Lehrer(innen) der Grundschule des selbst geschaffenen ‚sozialen Brennpunktes‘ [überlassen]“ (a. a. O., S.- 168). Der Prozess der ethnischen Trennung verfestigt sich: Eltern meiden Schulen, die als problematisch gelten und bringen ihre Kinder auf Schulen mit einem geringen Migrantenanteil; und Schulen mit einem geringen Migrantenanteil weisen problematische Schüler ab bzw. bevorzugen Schüler, die Erfolg versprechend sind, d. h. „leistungsfähige und -bereite Schüler, die eine wirksame Unterstützung aus dem Elternhaus mitbringen. Beide Kalküle greifen ineinander und verstärken sich gegenseitig“. So entstehen Schulen mit einem hohen Anteil „problematischer Schüler“ (a. a. O., S.-171-172). Exkurs 4 Dass eine große Zahl von Migrantenkindern für den Leistungsstand in Schulklassen äußerst problematisch ist, hat Kristen (2002) gezeigt. In solchen Klassen setzen die Lehrkräfte die Leistungsstandards niedriger an. Das kann zu einem negativen Lernklima führen, das sich in schlechten Schulleistungen am Ende der 4. Klasse niederschlägt. Die meisten von der Autorin untersuchten Kinder werden an die Hauptschule abgegeben. Den Zusammenhang zwischen schlechtem Schulabschluss und Klassen mit hohem Anteil von Migrantenkindern bestätigt auch die Untersuchung von Boos-Nünning/ Karakaşoğlu (2005): Schülerinnen der 9. Klasse mit niedrigem Bildungsabschluss hatten Klassen mit einem hohen Migrantenanteil besucht, während Schülerinnen, die ein hohes Bildungsniveau erreicht haben, Klassen mit einem geringen Anteil von Migrantenkindern besucht hatten. Beide Untersuchungen zeigen, dass hohe Migrantenzahlen in der Klasse sehr eng mit einem potentiell niedrigen Leistungsniveau der SchülerInnen und mit einem niedrigen Bildungsabschluss korrelieren. Keim_sV-264End.indd 72 10.02.12 16: 57 Schul- und Ausbildungssituation 73 Die genannten Faktoren zur Produktion von Ungleichheit im Erziehungssystem treffen auch auf das Migrantenwohngebiet in Mannheim zu. In den 70er Jahren zogen viele Migrantenfamilien in das Gebiet, weil sie in den vielen Altbauten und Sozialwohnungen preisgünstigen Wohnraum finden konnten. Das führte zu erheblichen ethnischen Konzentrationen in bestimmten Straßen und Wohnblöcken ebenso wie in den zuständigen Grundschulen. Deutsche Familien wanderten ab, da sie ihre Kinder nicht in die Schulen mit hoher Migrantenkonzentration schicken wollten. Der folgende Leerstand preisgünstiger Wohnungen führte zum weiteren Zuzug ausländischer Familien mit Kindern, und so wurden die Schulen im Migrantenwohngebiet zu Brennpunkt- und Problemschulen, in denen der Anteil von Migrantenkindern mit 77 bis 90 % sehr hoch ist. Kinder türkischer Herkunft bilden die weitaus größte Gruppe, in einigen Klassen ist Türkisch die am meisten gesprochene Sprache. Die nationale Mischung in den Klassen und die damit zusammenhängenden Anforderungen an den Unterricht werden von den Schulen als Überforderung für Lehrer und Schüler gesehen. Die schulischen Ergebnisse der Kinder sind im Vergleich zu Schülern aus anderen Schulen Mannheims die schlechtesten. Als Ursache dafür nennen die Brennpunktschulen, dass sie sich auf den geringen Kenntnisstand ihrer Schüler einlassen und Abstriche vom Unterrichtsstoff machen. Auch in Mannheim hängt der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen stark von der wirtschaftlichen und sozialen Position der Eltern ab. Die meisten Kinder des Stadtgebiets gehen nach der Grundschule auf die Hauptschule, nur 15 bis 30 % schaffen den Übergang in höhere Schulen, obwohl nach Aussagen der Lehrenden viele ausgesprochen intelligent sind. Solche Ergebnisse sind für die Lehrenden frustrierend und demotivierend, für die betroffenen Kinder katastrophal. Die von der Schulsituation direkt Betroffenen, Lehrende, SchülerInnen und Eltern, sehen ihre alltäglichen Probleme nicht in Kategorien einer mangelnden Stadt- und Schulentwicklungsplanung und einer mangelnden Anpassung des Lehrangebots an multiethnische und multilinguale Schülerpopulationen, sondern in anderen Kategorien. Die Schulen weisen den Migrantenfamilien die „Schuld“ an dem geringen Schulerfolg der Kinder zu; die Eltern und Kinder dagegen sehen die Ursachen in der abweisenden und ausländerfeindlichen Haltung von Lehrkräften. 3.2.1 Die Perspektive der Schulen auf Migranteneltern und -kinder Die Schulen führen zur Erklärung des schulischen Misserfolgs von Migrantenkindern bevorzugt folgende Argumente an: a) Es gibt starke Diskrepanzen zwischen der Welt der Migrantenfamilien und der Welt der Schule. b) Die Kinder haben mangelnde Deutschkenntnisse und eine geringe Lernfähigkeit. Keim_sV-264End.indd 73 10.02.12 16: 57 74 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen Zu a) Diskrepanzen zwischen der Welt der Migrantenfamilien und der Welt der Schule: Die Schulen beklagen, dass Kinder aus „bildungsfernen Familien“ Probleme bereiten, da vieles, was in der Schule vorausgesetzt wird, bei ihnen nicht vorhanden ist; und sie schreiben ihnen deshalb schlechte Lernvoraussetzungen zu. Doch zu diesem Argument, gibt es viele Gegenbelege. In der Studie von Boos- Nünning/ Karakaşoğlu (2005) brachten 36 % der befragten Familien mit niedrigem Bildungsniveau ihre Töchter zu mittleren und höheren Schulabschlüssen; das waren vor allem türkische Familien (vgl. auch Baumert et al. 2000, S.-288). Die von mir untersuchten „Powergirls“ stammen aus ehemaligen „Gastarbeiterfamilien“. Die Eltern konnten die Kinder schulisch nicht direkt unterstützen, aber sie waren sehr bildungsorientiert und sorgten dafür, dass die Kinder Unterstützung bei schulischen Angelegenheiten erhielten (Hausaufgabenhilfe in Jugendzentren). Alle „Powergirls“ erreichten mittlere und höhere Bildungsabschlüsse. Auch die weit verbreitete Annahme, dass muslimische Eltern nur geringen Wert auf die Bildung ihrer Töchter legen, wurde in einigen Untersuchungen widerlegt (Boos-Nünning/ Karakaşoğlu 2005, Gültekin 2003, Ofner 2003). Sie zeigen, dass gerade muslimische Mädchen die Migration als Chance nutzen und schulisch erfolgreich sind. Auch nach Lucassen (2004) sind muslimische Frauen der zweiten Generation in England, Frankreich und Deutschland sozial und beruflich erfolgreicher als Männer. Sie schließen die Schule mit höherem Abschluss ab und sind weniger als Männer von den negativen Aspekten der zweiten Generation (Kriminalität, abweichendes Verhalten) betroffen (a. a. O., S.- 54). Dass junge Migrantinnen schulisch und beruflich erfolgreich sind, belegt auch eine vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlichte Studie, die feststellt, dass es ihnen viel eher gelingt als ihren Brüdern, Cousins und Männern, die typischen (einfachen) Zuwanderer-Berufe zu verlassen und Arbeitplätze mit höher qualifizierten Tätigkeiten zu bekommen. 18 Nach dem neuesten Bildungsbericht der Stadt Mannheim (2010) wird die Hauptschule überproportional oft von Migrantenjungen besucht, das Gymnasien überproportional oft von Migrantenmädchen, die es auch abschließen. Für Mannheim insgesamt sehen die Schulabschlüsse von Migrantenkindern folgendermaßen aus: Fast 50 % beenden ihre Schullaufbahn mit einem Hauptschulabschluss, ca. 28 % mit Mittlerer Reife, ca. 10 % mit Fachhochschulreife/ Abitur. Der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss liegt bei fast 13 %. Exkurs 5 Wie die Untersuchungen von Gomolla/ Radtke (2002), Gomolla (2005) und Radtke (2004) zeigen, sind nicht kulturelle und sprachliche Hintergründe die eigentlichen Ursachen für den geringen schulischen Erfolg von Migrantenkindern, sondern ins- 18 Zitiert aus DIE ZEIT, Nr. 10, 26. Feb. 2004, S. 32. Keim_sV-264End.indd 74 10.02.12 16: 57 Schul- und Ausbildungssituation 75 titutionelle Voraussetzungen und Bedingungen. Weiterführende Schulen haben in Bezug auf die aufzunehmenden SchülerInnen Normalitätserwartungen, zu denen gehört, dass die Schüler die Unterrichtssprache Deutsch beherrschen, ein unterstützendes Elternhaus haben und sozial gut integriert sind (Gomolla/ Radtke 2002, S.- 259ff.). Aus der Sicht der Schulen können Migrantenkinder diese Erwartungen häufig nicht erfüllen. Die Schule bevorzugt homogene Lernergruppen, „darauf ist die Gestaltung des Unterrichts in Didaktik und Methodik eingestellt“ (Radtke 2004, S.-158). Da die Schule sicher gehen will, dass sie mit den Schülern erfolgreich arbeiten kann, versucht sie problematische Schüler zu vermeiden. Diejenigen werden aussortiert, die von den Normalitätserwartungen abweichen, da ihre Betreuung und Förderung zusätzlichen Aufwand erfordern würde. Und das trifft sehr häufig auf Migrantenkinder zu. Außerdem spielen für Übergangsempfehlungen die an den weiterführenden Schulen herrschenden Bedingungen eine Rolle. Wenn es an einer Hauptschule noch freie Plätze gibt, werden sie, so eine Mannheimer Lehrkraft, mit Migrantenkindern besetzt, um eine Verkleinerung oder Schließung der Schulen zu vermeiden. Wie entscheidend die Struktur des lokalen Angebots auf die Übergangsentscheidungen der Schulen durchschlägt, zeigen die Befunde der IGLU-Studien, die von großen „Diskrepanzen zwischen gemessenen Leistungen, dafür gegebenen Noten und Übergangsempfehlungen berichten“ (zitiert in Radtke 2004, S.-158ff.). Da jede Schule zunächst versucht ihr eigenes Problem möglichst einfach zu lösen, werden die aus ihrer Sicht problematischen Kinder „an die nächst niedere Schulform (delegiert) im Interesse ihrer Förderung“. Aus Radtkes Sicht werden Migrantenkinder nicht direkt diskriminiert, sondern „indirekt institutionell“, was sich „unter bestimmten demographischen, bildungspolitischen oder lokalen Umständen (…) als Aussonderung, Zuordnung zur Hauptschule oder Abgang ohne Schulabschluss zeigt“ (a. a. O.). Wenn jedoch die schulischen Entscheidungen nach außen dargestellt werden müssen, werden ethnische Merkmale „als Ressource für eine nachträgliche Begründung“ benutzt. Entscheidungen werden durch kulturspezifische Merkmale der Migranten plausibel gemacht, z. B. durch unterschiedliche „Sozialisations- und Erziehungsstile, Mentalitätsunterschiede, Identitätsprobleme“. Solche kulturdeterministischen Argumentationen sieht Radtke tief im „common sense verankert“ und „medial und wissenschaftlich unterstützt“ (a. a. O., S.-159). Dass aus der Sicht der Schule die Übereinstimmung zwischen den schulischen Bildungs- und Erziehungsvorstellungen und denen der Eltern ganz entscheidend für die Schulkarriere des Kindes sind, wird in den folgenden Äußerungen aus Interviews mit Lehrkräften deutlich. Allgemein geht die Schule davon aus, dass die Kinder dann gute Aussichten auf schulischen Erfolg haben, wenn die Erziehungsprinzipien ihrer Eltern nahe an den Vorstellungen der Schule liegen und die Eltern den schulischen Vorstellungen zur Mitarbeit entsprechen. Eine Lehrerin formuliert das folgendermaßen: Keim_sV-264End.indd 75 10.02.12 16: 57 76 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen wenn eltern mit der schule zusammenarbeiten * wird man jedes kind mit erfolg durch die schule führen * wenn sich eltern sperren * dann haben wir verloren * mit den ausländischen eltern ist es <sehr schwierig> kontakt zu bekommen * es klappt meistens nicht Da die Schule so stark auf die innere Übereinstimmung und enge Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus setzt, haben Migrantenkinder schlechte Chancen. Die zitierten Lehreräußerungen korrespondieren mit den von Gomolla/ Radtke (2002) und Radtke (2004) angeführten Erkenntnissen, dass die Schulen auf die Unterstützung durch das Elternhaus setzen und Eltern, die das nicht zu leisten imstande sind, als problematisch bewerten, zum Nachteil der Kinder. Dass türkische Eltern kaum Kontakt zur Schule halten, liegt vor allem daran, dass sie ein anderes Verständnis vom schulischen Bildungsauftrag haben. Sie gehen davon aus, dass mit Eintritt des Kindes in die Schule die Lehrenden für Erziehung und Bildung verantwortlich sind. Da sie wissen, dass sie beim Schulstoff wenig helfen können, delegieren sie die Förderung der Kinder an die Schule und vertrauen darauf, dass sie aus den Kindern etwas macht, was wir nicht können, so eine türkische Mutter. Die Eltern schätzen die Schule sehr hoch ein und können sich nicht vorstellen, dass mit ihnen eine Zusammenarbeit gewünscht wird. Zudem gelten Lehrer, die die Unterstützung der Eltern suchen, als „schwach“. Diesen Unterschied zwischen den Erwartungen der türkischen Eltern und der deutschen Schule in Bezug auf die Beteiligung von Eltern sieht eine türkischstämmige Mutter der zweiten Generation sehr klar. Sie stellte sich auf die deutsche Perspektive ein, hielt Kontakt zur Schule, engagierte sich im Elternbeirat und beriet sich bei schulischen Problemen mit den Lehrern. Ihre drei Töchter haben das Abitur bestanden. Zu b) Mangelnde Deutschkenntnisse und geringe Lernfähigkeit der Kinder: Bei einigen Lehrkräften hat sich in Reaktion auf die geringen Lehrerfolge die Überzeugung gebildet, dass Migrantenkinder wenig lernfähig sind. Das wird mit dem Gemischtsprechen in Zusammenhang gebracht, das als Indikator für mangelnde Kompetenz in beiden Sprachen gilt. Diese Auffassung verstärken die türkischen Lehrkräfte, die bei den Kindern mangelnde Kompetenz im Standardtürkischen feststellen. Da die meisten Eltern aus Dialektregionen der Türkei kommen, sprechen die Kinder dialektales Türkisch. Außerdem gibt es eine Reihe von Familien, in denen Türkisch als Zweitsprache gesprochen wird (vgl. Kap.- 2). Das bedeutet, dass viele Kinder kaum sprachliche Vorbilder für Standardtürkisch haben, also auch kaum eine Chance hatten es zu erwerben, zumal Türkisch in der deutschen Schule kein Pflichtfach ist. Das Deutsch der Kinder bezeichnen die Lehrenden als komisches Deutsch oder als typische Stadtteilsprache, in dem es keine Artikel und keine Präpositionen gibt, das nur einfache Strukturen und einen begrenzten Wortschatz hat. Die Kinder sprechen so=n Mischmasch aus allen möglichen Sprachen und ihnen fehle die Fähigkeit, Sachverhalte oder Ereignisse im Zusammenhang darzustellen. Keim_sV-264End.indd 76 10.02.12 16: 57 Schul- und Ausbildungssituation 77 Die meisten Lehrkräfte stellen sich auf die Kenntnisse ihrer SchülerInnen ein und richten ihren Unterricht an deren Sprachfähigkeiten aus; das bedeutet, dass sie Abstriche vom Lehrplan machen. Das drückt eine Lehrerin folgendermaßen aus: also in deutsch mach ich natürlich abstriche * muss ich machen * ich such mir halt texte aus * wo ich weiß die sprache is relativ einfach * also dicht darf die sprache net sein * so kleine überschaubare texte * und der inhalt muss leicht nachvollziehbar sein * aber ich muss sagen * <es is net des deutschpensum des ich eigentlich durchmachen müsste> Da wundert es nicht, dass Migrantenkinder, die auf höhere Schulen außerhalb ihres Wohngebiets wechseln wollen, schlechte Voraussetzungen mitbringen und ihre Leistungen dort nicht ausreichen. Sie kommen aus Grundschulen, die ihrem gesetzlichen Bildungsauftrag nicht oder nur unzureichend nachkommen, da sie weder die notwendige Ausstattung noch das entsprechend ausgebildete Lehrpersonal haben, um mehrsprachige Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend zu fördern. 3.2.2 Die Perspektive der Migranteneltern und -kinder auf die Schulen Die meisten der von uns befragten Migranteneltern wollen, dass ihre Kinder in der Schule erfolgreich sind und höhere Bildungsabschlüsse erreichen, vor allem die Mädchen. Die Studentin Yildiz z. B. schildert die hohe Lernorientierung ihrer Mutter: meine mutter hatte immer gemeint * weil wir (=Frauen der ersten Generation) nicht zur schule gegangen sind * möchten wir/ um so größer ham wir den wunsch * dass unsere kinder studieren auch die mädchen Und die Studentin Aynur beschreibt die eindringlichen Ermahnungen der Mutter folgendermaßen: meine mutter hat immer wieder gesagt * du musst abitur machen und * studieren * dass du geld verdienen kannst * wenn dein mann schlecht ist * kannst du ihn wegschicken * du musst nicht bei ihm bleiben * weil du ähm * du hast selber geld Doch aus der Sicht von Eltern und Kindern steht dem hohen Bildungswunsch vor allem die lernhemmende Haltung der Lehrkräfte entgegen. Was die Kinder kränkt und demotiviert, sind die Diskriminierungen, Herabsetzungen und Ausgrenzungen, die sie durch explizite oder implizite Lehrerurteile tagtäglich erfahren. Wie auch ich beobachten konnte, drücken einige Lehrkräfte, die wegen der Situation in den Schulen überfordert und frustriert sind, ihre negative Haltung explizit aus. Schüler, die erleben, dass Lehrer sie für dumm halten, können kein Interesse am Unterricht entwickeln. Wenn sie außerdem erleben, dass Deutsch das zentrale Hindernis ist, und ihnen keiner zeigt, wie sie es über- Keim_sV-264End.indd 77 10.02.12 16: 57 78 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen winden können, ist es verständlich, dass sie Deutsch und die Schule ablehnen und sich anderen Bereichen zuwenden, in denen sie Anerkennung finden. Sie verweigern sich, weil sie als Ausländerkinder kaum eine Chance bekommen; und sie treffen auf resignierte Lehrer, die sie als wenig lernfähig abgeschrieben haben. Daraus kann eine Spirale wechselseitiger negativer Haltungen mit katastrophalen Folgen für die Kinder entstehen. Die meisten Migrantenkinder und -jugendlichen, mit denen ich gesprochen habe, berichten, dass sie in der Schule wenig Ermutigung, sondern aufgrund ihrer Herkunft immer wieder Entmutigung erlebten (Keim 2008, Teil II, Kap.-3-5). Eine Informantin berichtet, dass, wenn sie sich besonders anstrengte, ihre Lehrerin meinte: auch wenn du dich anstrengst * du kannst nie so reden wie ne deutsche * du fällst immer auf * und auch wenn du versuchst hier so zu reden * sonst redet ihr doch immer in eurem jargon * da weiß man doch gleich wo ihr herkommt Diese Bemerkungen fand sie so ätzend, dass sie überhaupt nichts mehr sagte und sich vom Unterricht zurückzog. Dadurch verschlechterte sich die Deutschnote, und die Lehrerin konnte zufrieden sein, dass sie recht behalten hat. Eine andere Informantin erfuhr bereits in der Grundschule, dass die LehrerInnen sie nicht für lernfähig halten. Sie bekam, obwohl ihre Noten das erlaubt hätten, keine Gymnasialempfehlung mit der Begründung, dass sie Ausländerin sei und nicht gut Deutsch könne: von meinen noten her hätte ich gleich ins gymnasium gehen können * ich wollte das auch * aber der lehrer meinte zu meinen eltern * sie ist ausländerin * ihr deutsch ist noch nicht so gut * dabei hatte ich ne <zwei in deutsch> * ich sollte erst mal in die realschule Als sie später im Gymnasium Deutsch als Leistungskurs wählte und Germanistik studieren wollte, hielt ihr der Lehrer vor: du bist türkin * wieso willst du deutsch machen * wieso willst du später deutsch unterrichten * du bist doch keine deutsche * das schaffst du doch nie * wie willst du kindern deutsch beibringen Die ständigen Herabsetzungen hatten Konsequenzen; als Türkin fühlte sie sich schlecht und minderwertig und glaubte schließlich selbst, dass sie nicht fähig ist zu lernen und zu studieren. Mutlosigkeit und Selbstzweifel waren lange Zeit vorherrschend. Für das Mädchen war die Schule eine schlimme Zeit: ich hab mich geschämt fehler zu machen und ich hab nicht zugegeben * dass ich etwas nicht weiß * weil ich angst gehabt hab * dass ich schikaniert werde und dass gesagt wird * <das is die türkin * die schafft das doch net> Erst mit bestandenem Abitur wuchs ihr Selbstvertrauen, und sie entschied sich zum Germanistikstudium, weil ihr klar war, dass sie alles schaffen würde, wenn sie es will. Keim_sV-264End.indd 78 10.02.12 16: 57 Zusammenhang zwischen Schulkarriere und sprachlicher und sozialer Entwicklung 79 Einige Grundschullehrerinnen plädieren bei Ausländerkindern, auch wenn sie gute Leistungen erbringen, für den langsamen Schulweg. D. h. sie empfehlen zunächst nicht das Gymnasium oder die Realschule, sondern die Hauptschule, da sie überzeugt sind, dass der direkte Übergang in eine höhere Schule für Kinder aus bildungsfernen Familien zu schwierig sei. Die Argumente, die Migranteneltern bei Übergangsempfehlungen hören und die Erfahrungen, die die Kinder mit Lehrerbewertungen machen, ähneln den folgenden Ergebnissen von Gomolla/ Radtke (2002): Als eine wesentliche Barriere erweist sich die Einschätzung, dass perfekte Deutschkenntnisse für den Übergang auf ein Gymnasium unabdingbar sind. Migrantenkinder werden in den Elternberatungen und der Übergangsempfehlung in ihrer Leistungsfähigkeit herabgestuft, selbst wenn sie sonst gute Noten haben, mit dem Argument, dass sie immer noch „latente Sprachdefizite“ (a. a. O. S.- 234) hätten, die sich im Gymnasium lernhindernd auswirken könnten. Nach Auffassung der Autoren werden in solchen Lehreräußerungen „sprachliche Mängel mit Begabungsdefiziten gleich gesetzt“ (a. a. O., S.- 235). Zur Begründung für eine niedrigere Schulempfehlung wird auch das Argument, dass man die Schüler vor Frustration und Enttäuschung bewahren müsse, herangezogen. Kinder werden also aufgrund von Sprach- und Wissensdefiziten von einer höheren Schulbildung ausgeschlossen, anstatt dass man dafür sorgt, dass diese Defizite durch besondere Fördermaßnahmen möglichst effektiv abgebaut werden. 3.3 Der Zusammenhang zwischen Schulkarriere und sprachlicher und sozialer Entwicklung Aus der Forschung zur sozialen Selbst- und Fremdkategorisierung (z. B. Barth 1969, Sacks 1979), aus der ethnographischen Forschung (z. B. Heath 1983, Bommes 1993, Tertilt 1996) und aus der Forschung zur interkulturellen Kommunikation (z. B. Hinnenkamp 1989, Czyzewski et al. 1995) ist sehr gut belegt, wie sich in Reaktion auf negative Fremdbeurteilungen Prozesse der sozialen Abgrenzung, Verweigerung und Hervorhebung der ethnischen Herkunft in Gang setzen und stabilisieren, und welche Konsequenzen das für die soziale und sprachliche Entwicklung der Betroffenen haben kann. Bommes (1993) zeigt, dass Migrantenjugendliche auf Institutionen, die sie als „Problemjugendliche“ definieren, mit Selbstethnisierung reagieren und damit die institutionelle Definition verstärken. Keim (2008) stellt dar, wie Misserfolge in der Schule zur trotzigen Selbstausgrenzung führen und sich daraus eine Spirale von Selbst- und Fremdausgrenzung in Gang setzen kann mit der Konsequenz, dass sich die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bildungsbeteiligung der Jugendlichen noch weiter verschlechtern und die Bildungseinrichtungen eine Bestätigung ihrer Beurteilungs- und Entscheidungspraxis erhalten. Verweigerung in den Bildungsinstitutionen korrespondiert sehr oft mit außerschulischen Aktivitäten Keim_sV-264End.indd 79 10.02.12 16: 57 80 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen (Sport, Musik, Theater, Entwicklung neuer Ausdrucksformen), in denen die Jugendlichen sehr kreativ und leistungsstark sein können. Bereits 1972 zeigte Labov in seiner Studie über farbige Jugendliche in New York, dass diejenigen sprachlich besonders kreativ waren, die in der Schule schlechte Schüler waren; sprachliche Kompetenz und Kreativität kamen in außerschulischen Aktivitäten zum Ausdruck. Neue soziolinguistisch orientierte Arbeiten (Bierbach/ Birken- Silverman 2002, Cindark 2010, Hinnenkamp 2005, Keim 2008) beschreiben die in Migrantenjugendgruppen ausgebildeten Kommunikationspraktiken und den virtuosen Umgang mit verschiedenen Sprachen und Sprechweisen. Die jungen MigrantInnen verbinden in ihren hybriden Selbstkonzepten Elemente der Herkunftskulturen und des Aufnahmelandes und transformieren sie zu etwas „Eigenem und Neuem“ (Keim 2008, S.-204). Exkurs 6 Die Beobachtung, dass in der Migration neue, hybride Selbstbilder entwickelt werden, wird auch im Transmigrationsansatz beschrieben. Dieser Ansatz geht von neuen Formen der Grenzziehung aus, die durch transnationale Bindungen und Netzwerke entstehen. In Deutschland vertritt vor allem Pries (2000) diesen Ansatz. Aus seiner Perspektive hat sich in jüngster Zeit ein neuer Typ von Migrant gebildet, der durch die bisher fokussierten Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen Herkunftsregion und Ankunftsland nicht erfasst wird, der Transmigrant. Hier wird das Verhältnis zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion durch die Ausbildung eines auf Dauer angelegten transnationalen Raumes gestaltet, der aus identifikativen und sozialstrukturellen Elementen der Ankunfts- und der Herkunftsregion gebildet wird. Durch transnationale Migration entstehen neue, dauerhafte Formen und Inhalte von Selbstvergewisserungen und sozialen Positionierungen, die hybrid sind (a. a. O., S.- 418). Die Entwicklung hybrider Selbstkonzepte zusammen mit neu ausgebildeten Sprach- und Kommunikationsformen wird in einer Reihe von Untersuchung zu Migrantenjugendgruppen in verschiedenen europäischen Ländern beschrieben, in Schweden (Kotsinas 1998), den Niederlanden (Backus 1996, Hinskens/ Muysken 2007), in Dänemark (Joergensen 1998, Quist 2008), in England (Rampton 1995, Fox et al. 2011) und in Deutschland (Bierbach/ Birken-Silverman 2002, Cindark 2010, Dirim/ Auer 2004, Hinnenkamp 2005, Keim 2008). Nur einem relativ kleinen Teil der Kinder mit Migrationshintergrund gelingt nach der Grundschule der Übergang in höhere Schulen, was eine dramatische Minderung ihrer Chancen auf einen guten Bildungs- und Berufsabschluss nach sich zieht. Aktuelle Beobachtungen aus einem Sprachförderprojekt, 19 in dem Migrantenkinder vom Ende der 4. bis zur 7. Klasse begleitet werden, zeigen folgendes: In der 4. Klasse Grundschule waren die meisten Kinder neugierig, motiviert, leistungsorientiert und strebten nach einer höheren Schulbildung. 19 Eine ausführliche Beschreibung des Projektes erfolgt in Kap.-8. Keim_sV-264End.indd 80 10.02.12 16: 57 Zusammenhang zwischen Schulkarriere und sprachlicher und sozialer Entwicklung 81 Dieser Wunsch stand in deutlichem Kontrast zu den Grundschulempfehlungen (2005): nur ca. 35 % der Kinder erhielten die Empfehlung für eine höhere Schule, fast 65 % werden auf die Hauptschule verwiesen. Auf das Urteil „Hauptschule“ reagierten die Kinder mit tiefer Enttäuschung und mit Motivationsverlust. Nach fünfmonatigem Besuch in der 5. Klasse machte ein Vergleich der Hauptschulkinder mit den Kindern an den höheren Schulen folgendes deutlich: die Hauptschüler waren deutlich in ihren Leistungen abgefallen und verweigerten vor allem schriftliche Anforderungen. Die Entwicklung bei den Realschülern und den Gymnasiasten ging in der bisher beobachteten Weise weiter, sie waren aktiv und leistungsbereit. Unsere Beobachtung wird gestützt durch die IGLU-Studie (2004, S.-113), die feststellte, dass sich beim Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe ein deutlicher Leistungsabfall entwickelt und das (relativ) gute wissenschaftliche Potential und die Aufgeschlossenheit der Kinder in der Sekundarstufe wenig genutzt und ausgebaut wird. Das gilt für Migrantenkinder in verschärftem Maße. Das Urteil „Hauptschule“ scheint ein früher biographischer Wendepunkt im Leben der Kinder zu sein: Als wir unser Sprachförderprojekt in der 5. Hauptschulklasse vorstellten, meldete sich ein Junge und fragte, wieso wir in die Hauptschule kämen, hier seien doch nur dumme Kinder. Auf meine Frage, wer das sagt, meinte er: das sagen alle hier, die Lehrer auch. Mit dem Übergang zur Hauptschule bilden der Motivationsverlust, der Mangel an bildungsförderlichen Lernbedingungen, die aktive Verweigerung und die Kultivierung eines selbstethnisierenden Habitus einander wechselseitig verstärkende Faktoren, die eine oft irreversible Karriere von Bildungsverlierern vorzeichnen. Da vor allem türkischstämmige männliche Jugendliche in den Hauptschulen sind, werden sie in Schulen und pädagogischen Einrichtungen als besondere „Risikogruppe“ betrachtet und als die Verlierer der Migration, so ein Mannheimer Sozialpädagoge. Für die Situation in Mannheim können wir folgenden Zusammenhang zwischen der Schulempfehlung in der 4. Klasse und der weiteren sozialen und sprachlichen Entwicklung der Kinder formulieren: a) Mit der Empfehlung für die Hauptschule, die auf dem Territorium des Ghettos liegt und einen sehr hohen Anteil Migrantenkinder hat, verläuft die weitere Entwicklung des Kindes im Lebensraum des Ghettos. Die Kinder sind weiterhin in Klassen und Peergroups, in denen sprachliche Mischungen (vgl. Kap.- 6) oder ethnolektale Sprechweisen (vgl. Kap.- 5) die vorrangigen Kommunikationsmittel sind. Die Chancen auf eine schulische und soziale Entwicklung, die einen erfolgreichen Berufsstart erwarten lässt, sind nach bisheriger Erfahrung nicht gut: Nach Aussagen der Ghetto-Hauptschulen erreichen ca. 30 % der Jugendlichen den Abschluss nicht, bis zu 40 % machen keinen guten Abschluss, der Rest geht auf weiterführende Schulen oder macht eine Lehre. Da der Bildungsdruck in türkischen Familien oft hoch ist, Keim_sV-264End.indd 81 10.02.12 16: 57 82 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen ist für die Kinder mit der Hauptschulempfehlung ein Imageverlust verbunden; sie werden von ihren Familien als Versager gesehen und sehen sich auch selbst so. Eine Informantin beschreibt das folgendermaßen: In der Familie und bei den Nachbarn war sie überall nur die Blöde, die nichts versteht, die es nicht geschafft hat, während ihre Geschwister höhere Schulen besuchten und bewundert wurden. Solche Erfahrungen treiben die Betroffenen dazu, sich von der Schule abzuwenden und sich in Aktivitäten außerhalb der Schule zu engagieren (Keim 2008, Teil I, Kap.-4). Doch der Hauptschulabschluss determiniert die weitere Schul- und Berufskarriere nicht, zumindest nicht in den Bundesländern, die gut ausgebaute Zweite Bildungswege anbieten. In Baden-Württemberg gibt es ein breites Netz von Einrichtungen des Zweiten Bildungsweges, Abendschulen und Berufskollegs, und hier sind vor allem MigrantInnen sehr erfolgreich. Nach einem Bericht im Mannheimer Morgen vom 02.11.2011 (S.- 5) waren von den landesweit 3000 SchülerInnen an Abendgymnasien 22 % Ausländer, bei den Abendrealschulen lag der Anteil bei 30 %. Obwohl der Erwerb eines höheren Schulabschlusses über den Zweiten Bildungsweg große Anstrengungen und großes Durchhaltvermögen erfordert, liegt der Anteil ausländischer TeilnehmerInnen hier wesentlich höher als an den Einrichtungen des Ersten Bildungsweges. Die Biografien junger Migrantinnen zeigen oft ganz erstaunliche Bildungskarrieren (vgl. Keim 2008, Teil II): Wenn nach der Hauptschule mit Durchschnittsnote „Drei“ der Übergang zur Realschule gelingt, eröffnen sich Möglichkeiten zur Fachoberschule oder zum Berufskolleg; nach erfolgreichem Abschluss dort ist auch ein Hochschulstudium möglich. b) Mit der Grundschulempfehlung für höhere Schulen erwarten die Kinder ganz andere Probleme. Dort werden sie mit sprachlichen, schulischen und sozialen Anforderungen konfrontiert, bei deren Bewältigung sie meistens keine Hilfe erhalten. Versagens- und Fremdheitserfahrungen können ernste Krisen auslösen und bis zum schulischen Scheitern führen. In dieser Phase brauchen die Kinder Unterstützung und positive Leitbilder, um den schwierigen Weg zu meistern. Wie problemhaltig dieser Weg ist und mit welchen unterstützenden Maßnahmen er bewältigt werden kann, zeigen die Biografien der „türkischen Powergirls“ (Keim 2008, Teil II). Alle Mitglieder der „türkischen Powergirls“ sind Kinder ehemaliger „Gastarbeiter“, die meisten in Mannheim geboren und alle in dem Migrantenwohngebiet aufgewachsen. Die Familien der „Powergirls“, die aus Dörfern und Kleinstädten Mittel- und Ostanatoliens kommen, streben für die Töchter eine höhere Schul- und eine gute Berufsausbildung an mit dem Ziel der finanziellen Eigenständigkeit. Die Mädchen folgen dem Wunsch der Eltern; sie sind gute Grundschülerinnen und die meisten schaffen den Übergang zur Realschule und zum Gymnasium. Das sind Schulen, in denen die Mädchen zum ersten Mal in einer dominant deutschen Umwelt sprachliche Keim_sV-264End.indd 82 10.02.12 16: 57 Zusammenhang zwischen Schulkarriere und sprachlicher und sozialer Entwicklung 83 und soziale Anforderungen erfahren, die sie nicht erfüllen können. 20 Den Übergang in diese Schulen erleben sie als Schock des Lebens; sie fühlen sich fremd, ausgelacht, ausgegrenzt und allein gelassen. Esra und Yasemin schildern ihre Erfahrungen folgendermaßen: Esra: in der klasse war ich die einzige ausländerin * im gymnasium * da hab ich mich wirklich <ausgegrenzt und fremd gefühlt> * es war ein unangenehmes gefühl * noch nie hab ich mich so gefühlt Yasemin: des macht ja auch unsicher * wenn man etwas grammatikalisch falsches gesagt hat und ähm * des is schon von klein an irgendwie * mit diesen problemen wächst du von klein an auf * dass sie dich auslachen * dass der gedanke da is ich kann nich so gut sprechen * des is einfach * von früher so angelegt Die hier beschriebenen Erfahrungen, Gefühle von Fremdheit und Unzulänglichkeit, haben auch andere InformantInnen gemacht. Es sind typische Erfahrungen Bilingualer in der monolingualen Schule. Da den Mädchen niemand bei der Deutung und Bewältigung ihrer Probleme helfen kann, greifen sie auf die in ihren Familien vorherrschenden ethnischen Deutungsmuster zurück und sehen die Ursache für Schulprobleme in ihrer ethnischen Herkunft: Sie fühlen sich ausgegrenzt, weil sie Türkinnen sind. Sie sehen also nicht mangelnde schulische Leistungen, die sie hätten ausgleichen können, als Ursache, sondern ihre ethnische Herkunft: ich bin davon überzeugt dass viele ähm / also die lehrer geben den ausländern hier das gefühl * so in der art * ihr taugt nix * ihr gehört nicht hierher * auch wenn sie des unbewusst machen * mit irgendwelchen dummen bemerkungen wo sie eigentlich gar nicht wissen was sie damit anstellen Fast zeitgleich mit den schulischen Problemen beginnen auch innerfamiliäre Auseinandersetzungen. In vielen Migrantenfamilien ist das Leitbild für die Erziehung von Mädchen die „traditionelle junge Türkin“ mit den Eigenschaften jungfräulich, bescheiden, zurückhaltend und sich ganz den Wünschen der Familie unterordnend. Da die Mädchen in der deutschen Lebenswelt neue, selbstbestimmte Lebensentwürfe für junge Frauen kennen gelernt haben, rebellieren sie gegen das Leitbild der „traditionellen jungen Türkin“ und wollen die Freiheiten durchsetzen, die sie bei anderen Jugendlichen sehen. Die Eltern regieren mit Strenge, und es setzt sich eine Spirale von zunehmender Gewalt und wachsendem Widerstand in Gang bis hin zu körperlichen Strafen. Den Konflikt mit den 20 In der Zwischenzeit hat ein Gymnasium in Mannheim, das in der Nähe des Migrantenwohngebiets liegt, einen hohen Migrantenanteil. Nach einem Bericht vom Mannheimer Morgen vom 08.12.2011, S.- 19 haben derzeit fast 70 % der SchülerInnen einen Migrationshintergrund. In einer solchen Umgebung werden die SchülerInnen keine Gefühle von Fremdheit etc. mehr erleben. In Gymnasien mit einem geringen Migrantenanteil werden Bilinguale jedoch immer wieder solche Erfahrungen machen. Keim_sV-264End.indd 83 10.02.12 16: 57 84 Die soziale und sprachliche Situation türkischstämmiger MigrantInnen Eltern deuten die Mädchen als Konflikt mit den Traditionen und Leitbildern der türkischen Gemeinschaft, die sie auch als Ursache für die in der Schule erlebte Ausgrenzung sehen. In Reaktion auf die Probleme in der Schule und in der Familie, die sich wechselseitig verstärken, schließen sich die Mädchen zu einer ethnisch definierten Schicksalsgemeinschaft zusammen, den „türkischen Powergirls“. Sie grenzen sich scharf gegen die Welt der deutschen Schule ebenso wie gegen die türkische Migrantengemeinschaft ab und konstruieren ein Selbstbild, mit dem es gelingt, die Ausgrenzungen in der Schule und die Anforderungen aus der türkischen Gemeinschaft zu verarbeiten und ihnen zu widerstehen. Sie definieren sich jenseits ethnischer Grenzen und wählen Ausdrucksformen, die weder zum türkischen Leitbild noch zum erwarteten Schülerverhalten passen: sie geben sich flippig, offen und offensiv, gehen in Discos und haben feste Freunde. Sie pflegen ein ungezügeltes, aufbegehrendes Verhalten und greifen auf Verhaltensweisen zurück, die sie mit Stärke und Aggressivität verbinden, derb-drastische Beschimpfungen und Übertrumpfungsrituale. Mit einem solchen Verhalten scheitern sie im Gymnasium, einige werden von der Schule verwiesen. Erst der Leiterin einer Jugendeinrichtung, einer gut gebildeten Deutsch-Türkin, gelingt es, die Mädchen schulisch zu resozialisieren: Sie organisiert Nachhilfe und lebt ihnen vor, dass man sich gegen türkische und deutsche Vorurteile wehren und ein eigenständiges Selbstbild entwickeln und durchsetzen kann. Sie wird für die Mädchen zum neuen sozialen Leitbild. Mit ihrer Unterstützung schaffen alle einen guten Schulabschluss; vielen gelingt auch ein akademischer Abschluss. Die ehemaligen „Powergirls“ sehen sich heute als taffe, gut gebildete Deutsch-Türkinnen, die sich gegen soziale Diskriminierung wehren und sich über ethnische Vereinnahmung selbstbewusst hinwegsetzen. Ihre Biografien zeigen einerseits, dass der Weg aus der Migrantengemeinschaft über positive soziale Vorbilder und über eine erfolgreiche Bildungskarriere führen kann. Andererseits zeigen sie auch, dass Bildungsinstitutionen für Migrantenkinder in besonderer Weise als „Türhüter“ zum gesellschaftlichen Erfolg fungieren, da die jungen Zuwanderer nur über eine erfolgreiche Bildungskarriere Erfolg und Anerkennung in der Aufnahmegesellschaft erreichen können. An der „Türhüter-Funktion“ der höheren Bildungsinstitutionen scheitern immer noch viel zu viele Migrantenkinder; sie müssen „draußen“ bleiben, weil ihnen die notwendige Unterstützung fehlt. Keim_sV-264End.indd 84 10.02.12 16: 57 Kapitel 4 Das Deutsch der ersten Generation Das Deutsch der Zuwanderer aus den 60er und 70er Jahren wird in der Zweitspracherwerbsforschung als „Gastarbeiterdeutsch“ bezeichnet. Das ist das Deutsch, das die Zuwanderer am Arbeitsplatz und im Alltag ungesteuert, also ohne formalen Unterricht, erworben haben. Es reichte in der Regel aus, um sich in der Arbeitswelt und im Alltag zurechtzufinden. Die Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch“ ist keine Bezeichnung der Sprecher selbst, sondern eine Bezeichnung aus der Perspektive von Deutschen. Das „Gastarbeiterdeutsch“ wurde zum ersten Mal von Clyne (1968) in einer kleinen Pilotstudie beschrieben. Mitte der 70er Jahre begann in der Bundesrepublik eine intensive Erforschung des Deutsch einzelner Sprachgruppen: italienische und spanische Arbeitsmigranten wurden von der Heidelberger Projektgruppe „Pidgin Deutsch“ (1975) untersucht; eine Wuppertaler Projektgruppe beschäftigte sich mit dem Deutsch italienischer, spanischer und portugiesischer Arbeitsmigranten und ihrer Kinder (Meisel 1975, Clahsen et al. 1983), Orlović- Schwarzwald (1978) mit dem Deutsch serbokroatischer und Keim (1978, 1984) mit dem Deutsch türkischer ArbeitsmigrantInnen. Die meisten Untersuchungen beschreiben grammatische und lexikalische Eigenschaften und erklären die besondere Ausprägung durch sprachinterne (z. B. Einfluss der Erstsprache) und sprachexterne Faktoren (Alter, Motivation, Einstellung zur neuen Lebenswelt etc.). 4.1 Charakteristika des „Gastarbeiterdeutsch“ „Gastarbeiterdeutsch“ kann folgendermaßen charakterisiert werden: Es ist keine stabile Sprachform, sondern besteht sowohl aus rudimentären als auch aus ausgebauten Deutschvarietäten. Die ausgebauten Varietäten nähern sich dem regionalen Deutsch an, die rudimentären unterscheiden sich in Bezug auf grammatische Komplexität, Formenvarianz und Ausdifferenzierung des Wortschatzes. Sie haben vor allem folgende Eigenschaften: 1 1 Zum „Gastarbeiterdeutsch türkischer SprecherInnen, vgl. Keim (1978) und (1984). Die angeführten Beispiele türkischer SprecherInnen stammen aus den beiden Publikationen. Keim_sV-264End.indd 85 10.02.12 16: 57 86 Das Deutsch der ersten Generation a) Im Bereich des Wortschatzes: • Generalisierung von Verben, z. B. machen, gehen und müssen • Dekomposition (Aufspaltung) von Verben, z. B. kontroll machen anstatt kontrollieren, telefon machen anstatt telefonieren • Verwendung von nix anstelle der Negationspartikel nicht oder des Pronomens kein, z. B. ich nix arbeit (ich arbeite nicht, ich habe keine Arbeit) • Verwendung des Zahladjektivs viel anstelle der Gradpartikel sehr, z. B. aber des viel schwer (aber das ist sehr schwer). Auch im Umgangsdeutsch kommt gelegentlich die Dekomposition von Verben vor, z. B. er kann morgen die Kontrolle machen. Doch es werden vor allem komplexe Verben verwendet (z. B. kontrollieren), während in rudimentären Lernervarietäten die analytischen Bildungen vorherrschen. b) Im Bereich von Grammatik und Wortstellung: • Ausfall des Artikels: z. B. ich chef rufen (ich rufe den Chef); • Ausfalls der Präposition: z. B. meine baustelle ich allein türke (auf meiner Baustelle bin ich der einzige Türke); • Ausfall bzw. Vereinfachung von Genus, Numerus und Kasus: z. B. ich des sage meine kind (ich sage das meinen Kindern); • Ausfall von Pronomina: z. B. nix komme (ich/ er komme/ kommt nicht); • Ausfall von Verben: aber meine firma alles frau (aber in meiner Firma arbeiten nur Frauen bzw. sind nur Frauen); • Ausfall des Verbs sein: z. B. des alles schwer (das ist alles schwer); • Ausfall oder Vereinfachung der Verbflexion: z. B. gestern ich schule gehen (ich bin gestern zur Schule gegangen); • Verbendstellung: ich viel denken (statt: ich denke viel nach); • Partikel „nix“ vor dem Verb: heute ich nix arbeiten (ich arbeite heute nicht). In rudimentären Varietäten werden nur einfache Satzstrukturen gebildet, Zeitbezüge werden durch Adverbien ausgedrückt, und es gibt nur wenige Verknüpfungen zwischen Äußerungen. Im Folgenden gebe ich anhand von Ausschnitten aus Gesprächen mit türkischen ArbeitsmigrantInnen, die ich Ende der 70er geführt habe, eine kurzen Einblick in das weite Spektrum von Varietäten (Keim 1984). Der erste Gesprächsausschnitt zeigt ein weit entwickeltes Deutsch. Er stammt aus einem Gespräch mit dem türkischen Kfz-Mechaniker Zafer (ZA), der aus der Nordosttürkei (Nähe von Rize) kommt, zur Zeit des Gesprächs 15 Jahre in Deutschland lebt und Deutsch ungesteuert erworben hat. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat zwei Kinder. Im Beispiel erzählt er, wie ein Freund und dessen Familie ihm, nachdem er arbeitslos geworden war, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche geholfen haben: Keim_sV-264End.indd 86 10.02.12 16: 57 Charakteristika des „Gastarbeiterdeutsch“ 87 da haben sie meine papiere fertig gemacht * hab ich meine papiere bekommen * dann hab ich eh * eine deutsche freund kennen gelernt in X.dorf * der hat mir geholfen der hat zu mir gesagt * du kannst zu mir * du kannst bei uns schlafen * paar tage später meine mutter findet dir eine wohnung * dann eh mit der zeit * wirst du bestimmt arbeit finden hier in Y. und der umgebung * un dann * tatsächlich * hab ich arbeit gesucht * durch arbeitsamt hab ich in H. arbeit gefunden * da hab ich angefangen wieder zu arbeiten Zafers Ausführungen bilden eine kohärente Ereignisdarstellung, die aus den folgenden Strukturteilen bestehen: Einleitend wird die Kündigung durch den Arbeitgeber dargestellt. Im Hauptteil schildert er die Begegnung und Unterstützung durch einen deutschen Freund, der ihn bei sich zuhause aufnimmt und ihm in Aussicht stellt, dass seine Familie ihn bei der Wohnungssuche unterstützt. 2 Dieses Ereignis wird durch die Redewiedergabe des Freundes szenisch dargestellt und in seiner Bedeutung hervorgehoben. Die Darstellung endet mit der Information, dass Zafer durch Vermittlung des Arbeitsamtes wieder Arbeit gefunden hat. Zafers Äußerungen bestehen aus vollständigen Satzstrukturen, die im Wesentlichen den Regeln des gesprochenen Deutsch entsprechen. Exkurs 1 Um diese Feststellung nachvollziehbar zu machen, ist ein Blick in die deutsche Grammatik nötig. Für die deutsche Satzstruktur sind V2-Stellung und Verbklammer charakteristisch. Das bedeutet, dass das finite Verb immer an zweiter Position im Satz steht, die infiniten Verbteile stehen am Ende. Im Aussagesatz steht das Subjekt vor dem finiten Verb an erster Stelle, zwischen den finiten und infiniten Verbteilen stehen die übrigen Satzglieder. Die Verbklammer ist stabil, die Anordnung der Satzglieder relativ flexibel; sie können im Mittelfeld variieren und ins Vorfeld oder Nachfeld (die Position nach dem infiniten Verbteil) rücken. So hat beispielsweise der Satz Mein Vater hat gestern spät am Abend das Holz für Amalie gehackt folgende Struktur: Subjekt Vfinit Adverb Akk.objekt Präp.attribut infinit Mein Vater hat gestern spät am Abend das Holz für Amalie gehackt, Vorfeld Satzklammer Innerhalb des Mittelfeldes gibt es Umstellungsmöglichkeiten, z. B.: Mein Vater hat für Tante Amalie gestern spät am Abend das Holz gehackt 2 Der Zusammenhang zwischen der Kündigung durch den Arbeitgeber und dem gleichzeitigem Verlust der Unterkunft wird nicht explizit gemacht, sondern wird nur durch das Angebot des deutschen Freundes, Zafer bei sich zuhause aufzunehmen, deutlich. Vermutlich hat Zafer in einer Betriebsunterkunft des Arbeitgebers gewohnt, der ihn kündigte. Mit der Kündigung der Arbeit erfolgte auch die Kündigung der Unterkunft. Keim_sV-264End.indd 87 10.02.12 16: 57 88 Das Deutsch der ersten Generation Es können auch Elemente ins Nachfeld rücken, z. B.: Mein Vater hat das Holz für Tante Amalie gehackt, gestern spät am Abend Steht im Vorfeld nicht das Subjekt, sondern ein anderes Element (Adverb, Objekt, Fragepronomen etc.) rückt das Subjekt an die Stelle direkt nach dem finiten Verb. Die Umstellung des Subjekts nennt man Inversion. Sie ist im Deutschen obligatorisch: Gestern hat mein Vater das Holz für Tante Amalie gehackt Vorfeld Satzklammer Setzt man Zafers Äußerungen in Bezug dazu, sind folgende grammatische Strukturen realisiert: Satzklammer, Inversion, Wortstellungsregeln des Mittelfeldes; außerdem verschiedene Tempora (Präsens, Perfekt, Futur) und Personalpronomina im Dativ. Darüber hinaus gibt es typische gesprochensprachliche Merkmale wie Pausen, 3 Verzögerungspartikel (eh), Verbspitzenstellung (hab ich meine papiere bekommen), Modaladverb (tatsächlich) und die Ausklammerung von Satzteilen. In der Äußerung dann eh mit der zeit wirst du bestimmt arbeit finden hier in Y. und der umgebung ist die Lokalangabe hier in Y. und der umgebung hinter den zweiten Prädikatsteil wirst… finden gerückt, also hinter die Satzklammer. In Zafers Deutsch gibt es auch Abweichungen vom Umgangsdeutsch: anderes Genus (eine deutsche freund), keine Inversion (später meine mutter findet dir eine wohnung), anderer Kasus (findet dir statt findet für dich) und die Zeitangabe paar tage später statt in ein paar Tagen. Diese Besonderheiten beeinträchtigen jedoch das Verständnis in keiner Weise. Im Vergleich zu Zafers weit entwickeltem Deutsch zeigt der folgende Gesprächsausschnitt ein nur wenig entwickeltes Deutsch. Der Ausschnitt stammt aus einem Gespräch mit Fatma, die aus der Zentraltürkei kommt, und zur Zeit der Gesprächsaufnahme 7 Jahre mit ihrem Mann und zwei Kindern in Deutschland lebt; die übrigen Kinder leben bei den Großeltern in der Türkei. Fatma arbeitet in einem Schnellrestaurant mit anderen ausländischen Arbeiterinnen zusammen und hat Deutsch ungesteuert am Arbeitplatz erworben. Sie hat kaum Kontakte zu Deutschen (nur ihr Chef ist Deutscher) und lebt eng eingebunden in ihren türkischen Verwandten- und Freundeskreis. Im Beispiel beschreibt sie die Schwierigkeiten, die sie mit Deutsch hat: mich sehr schwer * aber nix verstehen schwer * bissele verstehn nix schwer machen * ich auch erste kommen ganz schwer machen * deutsch schwer gut sprechen * mich schwer * armer kopf * ich viel denken * kinderler denken * Türkei denken * mutter papa alles denken * und dann nix deutsch machen * verstehn 3 Eine sehr gute Einführung in die Besonderheiten des gesprochenen Deutsch gibt Schwitalla (2006). Keim_sV-264End.indd 88 10.02.12 16: 57 Theoretische Ansätze zur Erklärung des „Gastarbeiterdeutsch“ 89 Fatmas Darstellung ist ohne situative, gestische und mimische Informationen, die die sprachlichen Äußerungen begleiten, schwer verständlich. In der damaligen Gesprächssituation habe ich Fatmas Äußerungen folgendermaßen verstanden: für mich ist es sehr schwer * wenn man nichts versteht ist es schwer * wenn man ein bisschen versteht ist es nicht so schwer * als ich kam war es sehr sehr schwer * Deutsch gut zu sprechen ist schwer * für mich ist es schwer * mein armer Kopf * ich denke viel nach * ich denke an die Kinder * ich denke an die Türkei * an meine Mutter meinen Vater an alles * und dann habe ich keinen Platz für Deutsch * verstehst du So wie ich Fatma verstanden habe, schildert sie im ersten Teil ihre Überforderung mit der neuen sprachlichen Umwelt. Als sie nach Deutschland kam, konnte sie kein Deutsch, verstand nichts, fühlte sich hilflos und ohnmächtig. Jetzt versteht und spricht sie ein bisschen Deutsch, das hat es für sie erträglicher gemacht. Im zweiten Teil der Darstellung begründet Fatma aufwändig, warum die Beschäftigung mit Deutsch ihr so schwer fällt: Ihre Gedanken sind ständig bei den Eltern und den Kindern, die sie in der Türkei zurückgelassen hat. Die ständige Beschäftigung damit, die Angst um die Kinder und die Sehnsucht nach ihnen, nimmt soviel Platz in ihrem Denken ein, dass für Deutschlernen kein Raum mehr frei ist, so beschreibt sie ihr Problem metaphorisch. Fatma leidet unter der Trennung, und der Wunsch nach einer baldigen Rückkehr ist bei ihr besonders stark ausgeprägt. Fatmas Deutsch ist rudimentär. Es besteht aus einfachen Satzstrukturen (2-4-Wortäußerungen) und viele grammatische Regeln sind nicht ausgebildet: Artikel und Präpositionen fallen aus, ebenso das Verb sein, Verben sind nicht flektiert und stehen am Satzende, es gibt keine Kasusausbildung und die Negationspartikel nix steht vor dem Verb. Fatma ist, obwohl sie seit sieben Jahren in Deutschland lebt, auf einem rudimentären Sprachstand stehen geblieben. Dass sie nicht mehr gelernt hat, zeigt, dass ihr Deutsch für die alltäglichen Anforderungen am Arbeitsplatz und für den Umgang mit Arbeitskolleginnen und Vorgesetztem ausreicht. Sie selbst begründet ihre geringen Deutschkenntnisse damit, dass sie nichts sehnlicher wünscht als die Rückkehr, und dass sie für Deutsch und ein Leben in Deutschland kein Interesse hat. 4.2 Theoretische Ansätze zur Erklärung des „Gastarbeiterdeutsch“ Für die besondere Ausprägung des „Gastarbeiterdeutsch“ gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Ein in der Sprachkontakt- und Zweitspracherwerbsforschung weit verbreiteter Ansatz ist die These von der Übertragung erstsprachlicher Strukturen auf die Zweitsprache. Dass das sprachliche Wissen aus der Erstsprache bei Erwachsenen, wenn sie weitere Sprachen lernen, eine Rolle spielt, Keim_sV-264End.indd 89 10.02.12 16: 57 90 Das Deutsch der ersten Generation ist in der linguistischen Forschung beschrieben. Der Einfluss der Erstsprache kann sich dann positiv auswirken, wenn es zwischen Erst- und Zweitsprache übereinstimmende Strukturen gibt und der Lerner die erstsprachlichen auf die zweitsprachlichen Strukturen übertragen kann. In diesem Fall spricht man von positivem Transfer. Der Einfluss der Erstsprache auf die Zweitsprache kann sich aber auch negativ auswirken, dann, wenn die übertragenen Strukturen in der Zweitsprache nicht existieren, d. h. die Übertragung zu Abweichungen in der Zweitsprache führt. In diesen Fällen spricht man von negativem Transfer. Zur Klärung der Frage, ob es sich bei den Besonderheiten im Deutsch der türkischen MigrantInnen um negative Transfers aus dem Türkischen handeln könnte, werde ich zunächst einige grundlegende Unterschiede in der Grammatik des Deutschen und Türkischen skizzieren und dann die Frage diskutieren, ob und wenn welche Auffälligkeiten im „Gastarbeiterdeutsch“ als negative Transfers aus dem Türkischen erklärt werden können. 4.2.1 Typologische Unterschiede zwischen Deutsch und Türkisch 4 Ich gebe einen knappen Überblick über einige charakteristische Strukturen des Türkischen unter dem Aspekt ihrer Differenz zum Deutschen. Deutsch und Türkisch sind strukturell sehr verschieden. Sie gehören zu unterschiedlichen Sprachenfamilien: Deutsch ist eine indogermanische Sprache, Türkisch eine Turksprache. 1. Vokalharmonie und lautliche Besonderheiten: Im Türkischen ist die Vokalharmonie ein durchgängiges Prinzip; dabei werden vier helle und vier dunkle Vokale unterschieden. In einem türkischen Wort können nur Vokale einer Gruppe vorkommen, also entweder nur helle oder nur dunkle Vokale. Zu den hellen Vokalen gehören e, i, ö, ü, zu den dunklen a, ı, o, u. Hat ein Wort oder ein Wortstamm einen hellen Vokal, erhalten die Suffixe (Endungen) ebenfalls einen hellen Vokal, dasselbe gilt bei einem Wort oder Wortstamm mit dunklem Vokal. Bei der Vokalharmonie wird zwischen großer und kleiner Vokalharmonie unterschieden. Bei der kleinen Vokalharmonie gibt es für helle Vokale das e, für dunkle das a. Die Vokalqualität der Suffixe richtet sich nach dem letzen Vokal des Grundwortes. Hat das Grundwort einen hellen Vokal, erhalten alle Suffixe den hellen Vokal e, z. B.: 4 Zu den Ausführungen zur türkischen Grammatik vgl. Moser-Weithmann (2001). Die Autorin gibt eine sehr übersichtliche und gut verständlich geschriebene Einführung in die türkische Grammatik. Meine Darstellung basiert im Wesentlichen auf dieser Grammatikdarstellung, auch viele Beispiele stammen daraus. Keim_sV-264End.indd 90 10.02.12 16: 57 Theoretische Ansätze zur Erklärung des „Gastarbeiterdeutsch“ 91 Tk.: ev (das Haus), ev-ler (die Häuser), ev-ler-de (in den Häusern) iş (die Arbeit), iş-ler (die Arbeiten); iş-ler-e (zu den Arbeiten) Hat das Grundwort einen dunklen Vokal, erhalten die Suffixe den dunklen Vokal a, z. B.: Tk.: oda (das Zimmer), oda-lar (die Zimmer), oda-lar-dan (aus den Zimmern). çocuk (das Kind), çocuk-lar (die Kinder), çocuk-lar-a (zu den Kindern) Die kleine Vokalharmonie wird bei den Plural- und einigen Kasussuffixen (Dativ, Lokativ, Ablativ) verwendet. Bei der großen Vokalharmonie unterscheidet man vier Vokale: e und i i a und ı ı ö und ü ü o und u u Die große Vokalharmonie tritt bei den übrigen Kasussuffixen (Genitiv, Akkusativ) und bei den Suffixen für Personal- und Possessivpronomina auf. In den folgenden Beispielen handelt es sich um die Vokale des Possessivsuffixes ı, i, u und ü: Tk.: baba-sı (sein Vater) anne-si (seine Mutter) doktor-u (sein Arzt) köy-ü (sein Dorf) Außerdem tritt die große Vokalharmonie bei der Verbflexion auf. Das zeige ich am Beispiel des Perfekts, das durch Anhängen des Perfektsuffixes -di, dı, dü, du an den Verbstamm gebildet wird: Tk.: gel-di (er ist gekommen) yap-tı (er hat gemacht) oko-du (er hat gelesen) Der Verbstamm gel- (komm-) hat einen hellen Vokal, also wird an den Stamm das Perfektsuffix -di angehängt: gel-di (er ist gekommen). Bei einem Verbstamm mit dunklem Vokal, wie in yap- (mach-) oder oku- (les-), wird das Perfektsuffix -dı oder -du angehängt, also: yaptı 5 (er hat gemacht) bzw. okudu (er hat gelesen). Ein entscheidender Unterschied zwischen Türkisch und Deutsch ist die Kombinationsmöglichkeit von Konsonanten und Vokalen. Im Deutschen gibt es in Silben und Wörtern Doppelkonsonanz, z. B. in Mutter, und Konsonantenhäufungen. In Straße z. B. treffen die Konsonanten [sch], [t] und [r] aufeinander, in Sprung die Konsonanten [sch], [p] und [r]. Im Türkischen gibt es 5 Nach stimmlosen Konsonanten wird das d in dem Suffix -dı zu t verhärtet. Keim_sV-264End.indd 91 10.02.12 16: 57 92 Das Deutsch der ersten Generation Doppelkonsonanz in Grundwörtern nur bei wenigen Ausnahmen, und Konsonantenverbindungen sind eher selten. 6 2. Agglutination Türkisch ist eine agglutinierende Sprache. Das bedeutet, dass Deklination, Konjugation und Wortbildung durch Anfügen von Suffixen an den jeweiligen Wortstamm realisiert werden. An den Stamm können viele Suffixe angehängt werden, ihre Reihenfolge ist genau geregelt. Das Prinzip der Agglutination werde ich an einfachen Beispielen aus der Verbflexion demonstrieren. An einen Verbstamm kommt zuerst das Tempussuffix, dann das Personen- und Numerussuffix (Singular, Plural). Verschiedene Modi (Passiv, Reflexiv, Kausativ etc.) und die Negation werden durch Erweiterungen des Verbstamms durch entsprechende Suffixe ausgedrückt; an diese kommen dann die Flexionssuffixe. Für das deutsche ich komme z. B. sieht die Entsprechung im Türkischen folgendermaßen aus: An den Verbstamm geltritt das Tempussuffix -yor und dann das Suffix für 1. Pers. Sg. -um. Zwischen Stamm und Tempussuffix tritt in diesem Fall der Verbindungsvokal -i: a) tk.: gel i yor um (ich komme) dt.: komm + Präs. + 1. Pers. Sg. Bei der Negation tritt an den Stamm das Negationssuffix -me/ ma, danach folgen die Flexionssuffixe. In unserem Beispiel wird wegen des Verbindungsvokals -i, der erhalten bleibt, die Negation nur durch -m ausgedrückt: b) tk.: gel m iyor um (ich komme nicht) dt.: komm + Neg. + Präs. + 1. Pers. Sg. Im Perfekt tritt an den Verbstamm das Tempussuffix -di, dessen Vokal nach der großen Vokalharmonie verändert wird: c) tk.: gel di m (ich bin gekommen) dt.: komm + Perf. + 1. Pers. Sg. tk.: yap tı m (ich habe gemacht) dt.: mach + Perf. + 1. Pers. Sg. Wird das Verb verneint, tritt das Negationssuffix direkt an den Stamm, danach folgen die anderen Suffixe: d) tk.: gel me di m (ich bin nicht gekommen) dt.: komm + Neg. + Perf. + 1. Pers. Sg. 6 Sie kommen entweder bei arabischen Wörtern vor oder durch das Anfügen von Suffixen. Auch bei Lehnwörtern aus dem Französischen, wie z. B. tren (der Zug) können Konsonanten aufeinander treffen; meist wird jedoch zwischen die Konsonanten ein Sproßvokal eingesetzt wie in istasyon (Lehnwort aus dem Französischen: station). Keim_sV-264End.indd 92 10.02.12 16: 57 Theoretische Ansätze zur Erklärung des „Gastarbeiterdeutsch“ 93 Normalerweise werden Personalpronomina nicht verwendet. In unserem Beispiel steckt die grammatische Information (1. Pers. Sg.) in dem Personalsuffix -um oder -im. Das Personalpronomen wird jedoch realisiert, wenn es betont ist, z. B. bei Kontrastierung: ben geliyorum ama sen gidiyorsun (ich komme, aber du gehst). Im Türkischen gibt es kein eigenes Wort für das Verb sein, das in deutschen Gleichsetzungssätzen obligatorisch ist. Gleichsetzungssätze sind Sätze vom Typ x ist y, wobei y durch ein Nomen oder ein Adjektiv realisiert sein kann, wie z. B. er ist groß, sie sind schön, ich bin Meister. Das Verb sein wird im Türkischen durch Personalsuffixe realisiert, die in der 3. Person Singular und Plural jedoch weggelassen werden, z. B.: Singular: Tk.: bu adam büyük (dieser Mann ist groß) wörtl.: dieser Mann groß Plural: Tk.: çocuk lar çalışkan (die Kinder sind fleißig) wörtl.: Kind + Pl. fleißig 3. Numerus und Kasus, kein grammatisches Geschlecht und keine Präpositionen Anders als im Deutschen hat das türkische Nomen kein Genus und keinen Artikel. Als unbestimmter Artikel wird das Zahlwort bir (ein) verwendet. Der Plural wird durch das Suffix -ler/ -lar gebildet, das an die Grundform des Nomens angehängt wird, z. B.: ev das Haus, oda das Zimmer bir ev ein Haus bir oda ein Zimmer ev-ler die Häuser oda-lar die Zimmer Während das Deutsche vier Kasus hat, hat das Türkische sechs Kasus. Neben den auch im Deutschen vorhandenen Nominativ (wer/ was? ), Genetiv (wessen? ), Dativ (wem? ) und Akkusativ (wen/ was? ) gibt es den Lokativ (wo? ) und den Ablativ (von wo? ). Der Dativ dient auch zur Richtungsangabe (wohin? ). Die Deklination der Nomina erfolgt durch Suffixe, die an die Grundform angehängt werden. Die Suffixe folgen der kleinen und großen Vokalharmonie; sie sehen folgendermaßen aus: Nominativ: Grundform z. B. ev (das Haus) Genitiv: -in (-ün, -un, ın) z. B. ev-in (des Hauses) Dativ: -e (-a) z. B. ev-e (dem Haus/ nach Hause) Akkusativ: -i (-ü,-u,-ı) z. B. ev-i (das Haus) Lokativ: -de (-da) z. B. ev-de (in dem Haus) Ablativ: -den (-dan) z. B. ev-den (von/ aus dem Haus) Im Plural tritt das Pluralsuffix an die Grundform, dann folgt das Kasussuffix, also z. B. ev-ler-den (aus den Häusern) Keim_sV-264End.indd 93 10.02.12 16: 57 94 Das Deutsch der ersten Generation Was im Deutschen durch Präpositionen ausgedrückt wird, wird im Türkischen durch Postpositionen (nachgestellte Partikelwörter) oder durch Kasussuffixe ausgedrückt, z. B.: dt.: für meinen Vater = tk.: baba-m için (Vater-mein für) dt.: in meinem Haus = tk.: ev-im-de (Haus-mein-in) D. h. die „präpositionale Bedeutung“ wird im Türkischen realisiert, wenn auch mit anderen Mitteln als im Deutschen. 4. Satzbau und Wortstellung Der türkische Satzbau unterscheidet sich grundsätzlich vom Deutschen, ebenso die Wortfolge, die im Standardtürkischen relativ festgelegt ist. Das flektierte Verb steht am Satzende, davor kommen die Verbobjekte und davor steht das Subjekt. Das unbestimmte Akkusativobjekt steht direkt vor dem Verb, Lokal- oder Temporalangaben stehen vor dem Subjekt am Satzanfang. Ein einfacher türkischer Satz sieht also folgendermaßen aus: Tk.: dün baba-m abla-m-a bir kitab getir-di wörtl.: gestern Vater-mein Schwester-mein-Dat. ein Buch gebracht hat Dt.: gestern hat mein Vater meiner Schwester ein Buch gebracht Possessivpronomina werden an das Nomen angehängt, wie in baba-m (mein Vater) und abla-m (meine Schwester); Adjektive stehen vor dem Nomen, z. B. büyük çocuk (das große Kind). Kommt ein unbestimmter Artikel dazu, steht er direkt vor dem Nomen, also: Tk.: büyük bir çocuk (ein großes Kind) wörtl.: groß ein Kind In einem durch Attribute und Adverbiale erweiterten Satz sieht die Wortstellung in etwa folgendermaßen aus: • Adverb der Zeit • Attribute des Subjekts (Adjektiv, Genitivattribut etc.) • Subjekt • Adverbien des Ortes • Adverbien der Art und Weise • Dativobjekt mit seinen Attributen • Akkusativobjekt mit seinen Attributen • finites Verb Im Gegensatz zum Deutschen gibt es im Türkischen keine Nebensätze. Was im Deutschen als Nebensatz realisiert ist, wird im Türkischen durch Verbalsubstantive, Verbaladverbien und durch Partizipien realisiert. Ein weil-Satz z. B. wird folgendermaßen realisiert: Keim_sV-264End.indd 94 10.02.12 16: 57 Theoretische Ansätze zur Erklärung des „Gastarbeiterdeutsch“ 95 Tk.: akşam eve geç gittiğim için babam kızdı wörtl.: am Abend nach Hause spät gegangen-sein-ich wegen Vater-mein böse-war Dt.: Weil ich am Abend spät nach Hause ging, war mein Vater böse An diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass die Satzstruktur im Türkischen ganz anderes aussieht als im Deutschen. Ein Türkischsprecher, der Deutsch lernen will, muss völlig umdenken. Will er z. B. einen einfachen deutschen Satz bilden, muss er die für die deutsche Satzstruktur charakteristische Verbstellung (V2-Stellung und Satzklammer), die Inversion des Subjekts und die andere Anordnung der Satzglieder im Mittelfeld kennen. 7 Wie die knappe Übersicht zeigt, gibt es zwischen Deutsch und Türkisch sehr viele strukturelle Unterschiede. Auch im Bereich des Wortschatzes gibt es außer einigen Lehnwörtern aus dem Französischen oder Englischen nur wenige Übereinstimmungen. Das lässt vermuten, dass strukturelle Transfers aus dem Türkischen im Deutschen vor allem zu Abweichungen führen. 4.2.2 Transfers aus dem Türkischen Die Transfer-Hypothese besagt, dass bei der Verwendung der Zweitsprache Elemente aus der Erstsprache eine Rolle spielen. Außerdem kann die Bedeutung von Wörtern der zweiten Sprache durch die der ersten Sprache verändert, verengt oder erweitert werden. Es gibt eine Reihe von Auffälligkeiten im ungesteuert erworbenen Deutsch der türkischen ArbeitsmigrantInnen, die Transfers aus dem Türkischen sind bzw. sein könnten. Dazu gehören die folgenden: a) Phonologische Besonderheiten: In folgenden Äußerungen in „Gastarbeiterdeutsch“ spielen die Vokalharmonie und das Vermeiden von Konsonantenverbindungen in Grundwörtern eine Rolle: • des filim nix gut (der Film ist nicht gut) • meine schewester und meine buruder nix hier (meine Schwester und mein Bruder sind nicht hier) • unsere schıtıraße (unsere Straße) 7 Ein Deutschsprecher, der Türkisch lernen will, muss den Satz vom Verb her aufbauen, also vom Ende her. Vor dem Verb stehen das unbestimmte Akkusativobjekt, davor die anderen Satzglieder und das Subjekt. Die Verbalsubstantive, -adverbien und Partizipien, die einem deutschen Nebensatz entsprechen, stehen vor dem Satzglied, das sie näher bestimmen. Keim_sV-264End.indd 95 10.02.12 16: 57 96 Das Deutsch der ersten Generation Die Konsonantenverbindung / lm/ in dem deutschen Wort „Film“ entspricht nicht den phonologischen Regeln des Türkischen. Deshalb fügt der Sprecher zwischen die Konsonanten / l/ und / m/ einen Vokal ein. Die Qualität des Vokals richtet sich, den Prinzipien der Vokalharmonie folgend, nach dem vorangehenden hellen Vokal / i/ ; folglich wird ein (kurz gesprochenes) / i/ zwischen die beiden Konsonanten eingefügt: fil-i-m. Derselbe Prozess liegt auch den anderen Fällen zugrunde: Zwischen die Konsonanten / sch/ und / w/ in „Schwester“ wird ein dem Stammvokal / e/ entsprechender heller Vokal gefügt: 8 sch-e-wester, und zwischen die Konsonanten / b/ und / r/ in „Bruder“ wird ein dem Stammvokal / u/ entsprechender Vokal eingefügt: b-u-ruder. In solchen Fällen werden die Prinzipien der Vokalharmonie und der Vermeidung von Konsonantenverbindungen auf die deutschen Wörter übertragen. Das ist auch im letzten Beispiel schıtıraße der Fall, das eine Häufung von drei Konsonanten enthält. Hier wird zwischen die Konsonanten / sch/ , / t/ und / r/ jeweils der dem Stammvokal / a/ entsprechende dunkle Vokal [ı] eingefügt, also sch-ı-t-ı-raße. Der [ı]-Laut, ein zentraler Vokal, wird sehr kurz gesprochen, vergleichbar dem schwa-Laut [ә], wie er im Deutschen in ge-Vorsilben oder -en Endungen vorkommt. 9 b) Übernahme von Plural- und Kasussuffixen: Pluralsuffix -ler/ -lar: In der Äußerung kinderler schule kommen (die Kinder kommen aus der Schule) wird das tk. Pluralsuffix an das dt. Wort Kinder im Plural angehängt, so dass ein doppelter Plural entsteht: kind er ler dt. kind + dt. Pl. + tk. Pl. Lokativsuffix -de/ -da: In der Äußerung Mannheimda ich bleiben (ich blieb in Mannheim) wird das tk. Lokativsuffix -da an den Städtenamen Mannheim angehängt. Das Lokativsuffix entspricht der dt. Präposition in: Mannheim da (in Mannheim) Name + tk. Lokativsuf. Ein weiteres Beispiel ist essen kochen küchede (ich koche in der Küche Essen). Hier wird an das dt. Nomen Küche das tk. Lokativsuffix -de in der Bedeutung der dt. Präposition in angehängt: 8 Phonologisch gilt / sch/ , das durch 3 Buchstaben wiedergegeben wird, als ein Laut [S]. 9 Der Schwa-Laut ist ein zentraler Vokal, der im Deutschen orthografisch nicht abgebildet wird. Er wird als / e/ geschrieben; ausgesprochen wird er wie in gegangen oder Hütte, also zentralisiert, kurz, kaum hörbar. Keim_sV-264End.indd 96 10.02.12 16: 57 Theoretische Ansätze zur Erklärung des „Gastarbeiterdeutsch“ 97 küche de (in der Küche) dt. Nomen + tk. Lokativsuf. Richtungssuffix -e/ -a: In der Äußerung hausa gehen (ich gehe nach Hause) wird an das dt. Wort Haus das tk. Richtungssuffix -a angehängt in der Bedeutung der dt. Präposition nach: haus a (nach Hause) dt. Nomen + tk. Dativsuf. c) lexikalische Besonderheiten: Hier fällt z. B. die Verwendung des indefiniten Zahladjektivs viel anstelle der Gradpartikel sehr auf, z. B.: aber des viel schwer (aber das ist sehr schwer) Im Türkischen gibt es das Wort çok, das im Sinne von viel und sehr verwendet werden kann, z. B. çok güzel (sehr schön) und çok selamlar (viele Grüße). Bei der Verwendung von viel anstelle von sehr im Deutschen kann es sich um eine Übertragung aus dem Türkischen handeln. Außerdem können analytische Verbbildungen im Deutsch der ArbeitsmigrantInnen wie z. B. kontroll machen und telefon machen als Übertragungen aus dem Türkischen erklärt werden: telefon machen entspricht der türkischen Konstruktion telefon etmek (wörtlich: Telefon machen) und kontrol machen der türkischen Konstruktion kontrol etmek (wörtlich: Kontrolle machen). d) Nichtanwendung der V2-Regel bzw. abweichende Verbendstellung: In der Äußerung ich dir helfen (ich helfe dir) oder in kinder immer schule gehen (die Kinder gehen immer zur Schule) steht das Verb am Ende. Im Standardtürkischen ist Verbendstellung obligatorisch, d. h. die deutschen Äußerungen mit Endstellung des Verbs könnten nach den syntaktischen Regeln des Türkischen gebildet sein, wie die Übersetzungen dieser Äußerungen ins Türkische zeigen: Tk.: ben sana gösterim wörtl.: ich dir helfe Tk.: her zaman çoçuklar okula gidiyorlar wörtl.: immer die Kinder zur Schule gehen e) Ausfall des bestimmten Artikels in Nominal- und Präpositionalphrasen: In Kinder immer alleine * Kinder denken * Mann denken (die Kinder sind immer alleine, ich denke an die/ meine Kinder, an den/ meinen Mann) fallen die Artikel bzw. Possessivpronomina aus. Im Türkischen gibt es kein Artikelsystem, Nomina werden artikellos verwendet. Possessivpronomina gibt es, sie werden als Suffix an das Nomen gehängt; z. B. wird mein Mann im Türkischen realisiert als eş-im (Ehemann-mein) und meine Kinder als çoçuk-lar-ım (Kind + Pl.suffix -lar + Possessivsuffix -ım). Bei artikellosen Phrasen im Deutschen kann man Keim_sV-264End.indd 97 10.02.12 16: 57 98 Das Deutsch der ersten Generation nur dann einen Transfer aus dem Türkischen annehmen, wenn man von einem Nomen mit bestimmtem Artikel ausgeht. Geht man von einer Possessivrelation aus, liegt kein Transfer vor. f) Ausfall des Verbs sein: In des normal (das ist normal) oder aber Restaurant sehr schmutzig (aber das Restaurant ist sehr schmutzig) werden die im Deutschen notwendigen Formen des Verbs sein nicht realisiert. In beiden Fällen handelt es sich um die 3. Pers. Sg., die im Türkischen nicht realisiert wird. Die Äußerung des normal wird im Türkischen als bunlar normal (wörtl. das normal) realisiert, die Äußerung aber Restaurant sehr schmutzig als ama restauran çok pis (wörtl. aber Restaurant sehr schmutzig). In beiden Fällen gibt es also direkte Entsprechungen im Türkischen, d. h. die deutschen Äußerungen können durch Transfer erklärt werden. Das gilt auch für alle Gleichsetzungssätze, deren Subjekt in der 3. Pers. Sg. bzw. Pl. steht. g) Ausfall des Subjektpronomens: In ja muss immer Deutsch sprechen (ja, ich muss immer Deutsch sprechen) oder jetz Altersheim arbeit (jetzt arbeite ich im Altersheim) wird das Subjektpronomen ich nicht realisiert. Da im Türkischen das Subjektpronomen als eigenständiges Wort nur bei Hervorhebung realisiert wird und in den anderen Fällen die Markierung von Person und Numerus durch Suffix erfolgt, können die Äußerungen ohne pronominales Subjekt als Übertragungen aus dem Türkischen gedeutet werden. Diskussion der Transfer-Hypothese: In den Fällen, in denen ein türkisches Element in die deutsche Äußerung eingebaut wird, oder ein lautliches Prinzip bei der Bildung von Wörtern eine Rolle spielt, ist die Transfer-Erklärung plausibel, also bei den unter a)-c) angeführten Fällen. Die unter d)-g) angeführten Fälle sind jedoch anders; hier fehlen in der deutschen Äußerung notwendige Elemente, oder Satzglieder stehen in Positionen, die nicht den deutschen Wortstellungsregeln entsprechen. Zur Frage, ob diese Besonderheiten nur durch den Einfluss des Türkischen zu erklären sind, ist ein Blick in das „Gastarbeiterdeutsch“ von SprecherInnen interessant, deren Erstsprache nicht Türkisch ist, sondern Spanisch, Italienisch oder Griechisch (Heidelberger Projekt 1975, Keim et al. 1982). Und hier zeigt ein Vergleich, dass die unter d)-g) angeführten Merkmale auch bei diesen SprecherInnen vorkommen. Bei ihnen können sie allerdings keine Übertragungen aus den Erstsprachen sein: Im Italienischen, Spanischen und Griechischen wird das Verb sein in Gleichsetzungssätzen realisiert, das finite Verb steht im Aussagesatz nicht am Satzende, und in den drei Sprachen treten Nomina mit Artikel auf. Im ungesteuert erworbenen Deutsch dieser SprecherInnen kommen also dieselben Strukturen vor, doch bei ihnen kann kein Einfluss aus den Erstsprachen vorliegen. Das schwächt die Plausibilität der Transferhypothese in Bezug auf die türkischen SprecherInnen erheblich. Die Frage muss jetzt lauten: Keim_sV-264End.indd 98 10.02.12 16: 57 Weitere Erklärungsansätze 99 Wieso haben SprecherInnen unterschiedlicher Herkunftssprachen (indogermanische Sprachen, Turksprache) ähnliche Strukturen im „Gastarbeiterdeutsch“ entwickelt, die im Fall des Türkischen als Tranfers erklärt werden könnten, in den anderen Fällen jedoch nicht? Will man Antworten auf diese Frage finden, muss man erklärungsstärkere Ansätze als die Transferhypothese heranziehen, Ansätze, wie sie in der Pidgin- und der Zweitspracherwerbsforschung entwickelt wurden. 4.3 Weitere Erklärungsansätze 4.3.1 Pidgin- und foreigner-talk-These Pidgins sind Kontaktsprachen, die in Situationen entstehen, in denen ein einfaches und begrenztes Kommunikationsmittel notwendig ist. 10 Sie sind charakteristisch für Kommunikationsanforderungen in den klassischen Kolonialländern und zwar in Situationen, in denen Sprecher verschiedener Sprachen aufeinander trafen und miteinander agieren mussten. Typische Kontexte waren Arbeitssituationen in Handel, Landwirtschaft und Produktion. Da die Sprecher die Sprache des Partners nicht konnten, entwickelten sie ein einfaches, auf den jeweiligen Arbeitskontext bezogenes Kommunikationsmittel, bestehend aus Wörtern und grammatischen Strukturen der Sprachen, die die am Kontakt beteiligten Sprecher konnten. In den klassischen Kolonialländern bildete die Sprache der sozial dominanten Gruppe, der Kolonialmacht, oft die Basis für das Pidgin, zumindest im Bereich des Wortschatzes. Im Bereich der Grammatik wurden die Strukturen aus den Sprachen übernommen, die für die beteiligten Sprecher einfach zu erlernen waren. Wenn z. B. eine Sprache ein komplexes morphologisches System hatte (Genus, Numerus, Kasus, Verbflexion etc.), die andere aber nicht, wurden die komplexen Formen vereinfacht oder weggelassen, z. B. Tempusformen auf Grundformen reduziert und Vor- und Nachzeitigkeit durch Zeitadverbien ausgedrückt. 11 Pidgins sind stark situationsgebunden, werden nur in eingeschränkten Funktionen verwendet, und die Informationsübermittlung ist an begleitende Gestik und Mimik gebunden. 10 Es ist unklar, woher die Bezeichnung „Pidgin“ kommt. Eine Erklärung ist, dass es eine Verballhornung des englischen business durch Chinesischsprecher ist. Viele Pidgins entwickelten sich in Handelskontakten zwischen Englischsprechern und Sprechern der verschiedenen chinesischen Varietäten. Pidgins entwickelten sich aber auch im Kontakt von europäischen, afrikanischen, indonesischen und polynesischen Sprechern. 11 Wenn die Sprachen der beteiligten Sprecher jedoch große Überschneidungsbereiche in komplexen und markierten Strukturen hatten, konnten auch im Pidgin komplexe und markierte Strukturen erscheinen. Wenn die Ausgangssprachen typologisch verwandt waren, traten z. B. in Pidgins auch morphologisch komplexe Strukturen auf. Pidgins kommen zwar weltweit vor, sie haben jedoch keine einheitliche Erscheinung, vgl. dazu Riehl (2009), S.-120-121. Keim_sV-264End.indd 99 10.02.12 16: 57 100 Das Deutsch der ersten Generation Pidgins sind Mischsprachen. Außerdem sind sie relativ stabil, d. h. sie können als Verkehrssprache erlernt werden. Pidgins sind keine Erstsprachen einer Sprechergemeinschaft, und sie verschwinden, wenn der Kommunikationsanlass wegfällt. Doch in über längere Zeiträume stabilen Kontaktsituationen können Pidgins zu voll ausgebauten Sprachen weiter entwickelt werden, zu Kreolsprachen, die dann auch zu Erstsprachen und zu Landessprachen werden können. 12 Die Ausbildung eines Pidgin anstelle des Erwerbs einer zweiten Sprache kann durch den sog. „foreigner talk“ unterstützt werden. Dabei handelt es sich um eine „spontane oder gewohnheitsmäßige Vereinfachung der eigenen Sprache in Anpassung an die (…) Erfordernisse der Kontaktsituation mit Anderssprachigen“. (Bechert/ Wildgen 1991, zitiert in Riehl 2009, S.- 121). Der „foreigner talk“ ist also eine stark vereinfachte Sprechweise, die kompetente Sprecher Gesprächspartnern gegenüber verwenden, von denen sie wissen oder annehmen, dass sie die verwendete Sprache nicht oder nur unzureichend beherrschen. Sie vermeiden morphologisch und syntaktisch komplexe Formen, vereinfachen den Wortschatz (nur Grundwortschatz), verwenden die Wörter, die in der Situation notwendig sind und deren Bedeutung durch Gestik, Mimik oder Inszenierung verdeutlicht werden kann. Der bisher beschriebene „foreigner talk“ des Deutschen hat ähnliche grammatische Merkmale wie sie im „Gastarbeiterdeutsch“ auftreten: 13 Das Verb sein kann ausfallen (du krank, des nix), Artikel und Flexion werden nicht realisiert (du lehrling sagen, bier holen, Meisel 1975, S.- 41). Wenn in Kontaktsituationen die dominante Gruppe den „foreigner talk“ sehr häufig einsetzt, kann das die Ausbildung eines Pidgin verstärken. Da nach Annahme verschiedener Autoren alle Menschen die Fähigkeit zum „foreigner talk“ haben, also die eigene Sprache in Gesprächen mit Personen, die sie nicht beherrschen (Kleinkinder, Ausländer), vereinfachen, 14 kann angenommen werden, dass diese Strategie den Gebrauch stark vereinfachter Zweitsprachenstrukturen verstärkt (hat). 12 Ein Beispiel ist Tok Pisin, ein ehemaliges Pidgin auf Papua - Neu Guinea, das zur Kreolsprache weiter entwickelt wurde, heute von den meisten Bewohnern des Nordens als „Muttersprache“ gesprochen wird und offiziell anerkannt ist. 13 Vgl. Meisel 1975 und Hinnenkamp (1982). Nach Hinnenkamp (1982, S.-155) werden die „verlorenen Funktionen“ der Flexionsendungen durch Substantive, Pronomina, Adjektive und Verben ersetzt. Die Wortstellung wird verändert, und Nebensätze kommen kaum vor bzw. nicht mit der fürs Deutsche typischen Endstellung des Finitums, wie z. B. wenn gehen Bürgermeister, dann sagen […]. 14 Von dieser Annahme geht Meisel (1975) aus. Der amerikanische Linguist Ferguson hat 1971 als erster die vereinfachten Sprechweisen beschrieben, die in vielen Kulturen Kleinkindern und Ausländern gegenüber eingesetzt werden. Die Kindern gegenüber verwendete vereinfachte Sprechweise nennt er „baby talk“, die den Ausländern gegenüber verwendete Sprechweise „foreigner talk“. Keim_sV-264End.indd 100 10.02.12 16: 57 Weitere Erklärungsansätze 101 Diskussion der Pidgin- und foreigner-talk-Hypothese: Die Annahme des Heidelberger Projekts (1975), dass es sich bei den ungesteuert erworbenen Formen des Deutschen um ein beginnendes Pidgin-Deutsch handeln könnte, kann als widerlegt gelten, und zwar aus folgenden Gründen: Pidgins sind relativ stabile Sprachformen. Im Gegensatz dazu konstituiert sich das ungesteuert erworbene Deutsch der ausländischen ArbeiterInnen aus einer Menge von Varietäten, die von sehr rudimentären Formen, die Pidgin- und „foreigner talk“- Eigenschaften haben, bis zu weit ausgebauten Formen reichen, die sich nahe an der gesprochenen Umgangssprache bewegen. Außerdem entsprechen die für die Entstehung von Pidgins typischen sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen nicht den Bedingungen der ehemaligen ArbeitsmigrantInnen in Deutschland: Sie leben und arbeiten seit Jahrzehnten in Deutschland; Deutsch ist im Alltag, am Arbeitplatz und in den Medien immer präsent; es gab und gibt die Möglichkeit, Deutsch gesteuert zu erwerben, am sozialen Leben der Deutschen teilzunehmen (Vereine, Sport, Schule, Weiterbildung) und Freundschaften und Ehen mit Deutschen einzugehen. Viele ehemalige „GastarbeiterInnen“ haben die Zweitsprache Deutsch weit entwickelt, d. h. sie haben anfängliche Erwerbsstadien überwunden und sich der Zweitsprache angenähert. Es gibt jedoch auch viele, die das in der Anfangszeit entwickelte „Gastarbeiterdeutsch“ bis heute im Wesentlichen beibehalten haben; ihr Deutsch hat Charakteristika, wie sie auch in Pidgins auftreten. Um zu erklären, wieso derart große Unterschiede beim ungesteuerten Zweitspracherwerbsprozess haben entstehen können, müssen weitere Ansätze herangezogen werden. 4.3.2 Theorie zum Zweitspracherwerb Erwachsener In der Forschung besteht Konsens darüber, dass auch bei Erwachsenen der Zweitspracherwerbsprozess systematisch verläuft; d. h. Lerner nähern sich in systematischer Weise der zu erwerbenden Zweitsprache an. Im Prozess der Aneignung entwickeln Lerner eigenständige Systeme, die Selinker (1974) als „Interlanguages“ bezeichnet. 15 Im Deutschen spricht man von Lernersprachen; Lernersprachen sind Übergangsstadien auf dem Weg zur Zweitsprache. Jede Lernersprache enthält Merkmale der Erstsprache und Merkmale der zu erlernenden Zweitsprache. Außerdem enthalten Lernersprachen auf allen sprachlichen Ebenen, der phonologischen, morphologischen, lexikalischen und syntaktischen Ebene, auch Merkmale, die weder zur Erstnoch zur Zweitsprache gehören. Bekommt ein Lerner neue Anregungen in der Zweitsprache, können Strukturen der Lernersprache sehr schnell geändert werden. Lernersprachen sind also dynamisch. Wichtig für den stufenweisen Fortschritt und damit für 15 Das Konzept der Interlanguage von Selinker wurde zunächst nur auf den ungesteuerten Zweitspracherwerb angewandt, später auch auf den gesteuerten Erwerb übertragen. Keim_sV-264End.indd 101 10.02.12 16: 57 102 Das Deutsch der ersten Generation den Aufbau einer komplexen Grammatik der Zweitsprache ist, dass der Lerner immer wieder ein verstehbares, inhaltlich interessantes und strukturell vielgestaltiges sprachliches Angebot erhält. Die Dynamik einer Lernersprache wird dadurch erklärt, dass Lerner sich die Zweitsprache schrittweise erschließen. Dabei bilden sie Hypothesen über Regeln der Zweitsprache, die sie in der Interaktion mit kompetenten Sprechern ausprobieren und je nach Reaktion bestätigt sehen oder revidieren. Interessant ist, dass in bestimmten grammatischen Teilbereichen der Erwerb der Strukturen in einer chronologischen Reihenfolge vonstatten geht, sowohl beim gesteuerten (schulisch vermittelten) als auch beim ungesteuerten Erwerb; das hat eine Längsschnittstudie gezeigt. Exkurs 2 Nach dieser Längsschnittstudie, die in Genf durchgeführt wurde und deren Ergebnisse Kniffka/ Siebert-Ott (2009) zitieren, 16 verläuft bei älteren bzw. erwachsenen Lernern der Erwerb der deutschen Satzstruktur, der Kasus, der Verbmorphologie und der Negation chronologisch. Die Autorinnen beschreiben folgende Erwerbsverläufe: Beim Erwerb der Verbmorphologie durchläuft der Lerner sechs Phasen: I. Infinitive; II. Präsensformen; III. unregelmäßige Verben im Präsenz/ Modalverb + Infinitiv; IV. Auxiliar + Partizip; V. und VI. Präteritum und übrige Formen. Die Satzmodelle des Deutschen werden in fünf Phasen erworben: I. Hauptsatz (Subjekt + Verb); II. koordinierte Hauptsätze, W-Fragen und Entscheidungsfragen; III. Verbklammer; IV. und V. Nebensätze und Inversion. Das Kasussystem wird in vier Phasen erworben: I. Ein-Kasus-System; II. Ein-Kasus-System und beliebig verteilte weitere Kasus; III. Zwei-Kasus-System (Nom. + Akk.), IV. Drei-Kasus-System (Nom., Akk., Dat.). 16 Die Autorinnen zitieren die umfangreiche Studie in Genfer Schulen, die Diehl et al. (2000) veröffentlichten. In dieser Studie wurde der Erwerb des Deutschen als Zweitsprache durch französischsprachige SchülerInnen dokumentiert und analysiert. Zur Erwerbsphasen- Abfolge vgl. Kniffka/ Siebert-Ott (2009), S.-47ff., an der sich meine Darstellung orientiert. Keim_sV-264End.indd 102 10.02.12 16: 57 Weitere Erklärungsansätze 103 In diesen Bereichen verlaufen die Phasen z. T. parallel, z. T. sind sie aufeinander bezogen. 17 Doch nicht jeder Teilbereich der Grammatik wird in chronologisch aufeinander folgenden Phasen erworben. Das gilt vor allem nicht für den Genuserwerb, denn auch bei sehr weit entwickelten Lernern können immer wieder Genusabweichungen vorkommen (a. a. O., S.-56). 18 Beim Erwerb von grammatischen Teilbereichen kommen regelmäßig Normverstöße vor, die vor allem durch zwei Lernerstrategien erklärt werden: Simplifizierung (Vereinfachung) und Übergeneralisierung, d. h. die Übertragung bereits gelernter Regeln auf einen Bereich, in dem sie nicht gelten. Diese Strategien gehören zu den Universalien im Spracherwerbsprozess. Ein Lerner, der z. B. die Regeln der regelmäßigen Verbflexion im Deutschen erworben hat, überträgt diese Regeln auch auf die Flexion der unregelmäßigen Verben und produziert so Formen wie sie schwimmten oder er hat gegeht. Die Strategien der Simplifizierung und Übergeneralisierung, die auf die Produktion einfacher und regelmäßiger Formen abzielen, 19 da wo die zu erlernende Sprache komplexe und unregelmäßige Formen hat, werden von Kindern ebenso wie von Erwachsenen angewandt. D. h. der Lerner konzentriert sich auf die für ihn einfach zu erwerbenden Strukturen und komplizierte morphologische und syntaktische Strukturen werden übergangen oder nicht erworben. Da in natürlichen Kommunikationssituationen der Austausch und die gemeinsame Herstellung von Bedeutung im Vordergrund stehen, und grammatisch korrekte Formulierungen dazu oft nicht notwendig sind, verstärkt das noch zusätzlich die Tendenz zur Simplifizierung. Aber nicht nur generelle Spracherwerbsstrategien steuern den Prozess des Zweitspracherwerbs, sondern auch die konkreten sozialen Bedingungen, unter denen der Erwerbsprozess stattfindet, und die Eigenschaften des Lerners selbst, sein Interesse an der Sprache und seine Motivation sie zu lernen. In Bezug auf der sozialen Bedingungen, unter denen der Erwerb der Zweitsprache verläuft, wurde in der Migrationsforschung der 70er und 80er Jahre beschrieben, dass die Größe der Einwanderergruppe, die Art und Weise des Wohnens (geschlossene ethnische vs. offene und gemischte Wohngebiete), die Art der Arbeit, der rechtliche und soziale Status der Einwanderer (im Vergleich zu Einheimischen), ihre beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten und vor allem ihr emotionaler Bezug 17 Ob die in der Studie festgestellten Verläufe beim Erwerb des Deutschen als Zweitsprache universell sind, ob also Lerner ganz unterschiedlicher Erstsprachen dieselben Erwerbsphasen durchlaufen, ist derzeit noch ungeklärt. 18 Dieses Ergebnis stimmt mit den Beobachtungen vieler DAF/ DAZ-Lehrkräfte überein. Auch Sprecher mit sehr hoher Kompetenz in der Zweitsprache Deutsch machen immer wieder Genusfehler. 19 Die Simplifizierungsstrategie beschreibt Selinker (1974, S.- 122) als „a tendency on the part of the learner to reduce the TL [target language] to a simple system“. Keim_sV-264End.indd 103 10.02.12 16: 57 104 Das Deutsch der ersten Generation zur einheimischen Bevölkerung eine wesentliche Rolle für Art und Ausmaß des kommunikativen Kontakts zwischen Zuwanderern und Einheimischen und für die Ausprägung der entstehenden Lernersprachen spielen. Schumann (1978) zeigte, dass Simplifizierungen beim ungesteuerten Zweitspracherwerb von Erwachsenen temporäre Erscheinungsformen sind, die überwunden werden können, wenn sich zwischen Zuwanderern und Einheimischen gesellschaftliche Kontakte entwickeln und emotionale Bindungen entstehen. Simplifizierte Formen können sich jedoch stabilisieren und auch fossilisieren, wenn die Zuwanderer in „großer sozialer und psychologischer Distanz“ zu den Einheimischen leben. Fossilisierung, d. h. das Stehenbleiben auf einem bestimmten Erwerbsniveau, kann eintreten, wenn der Lerner genügend gelernt hat, um die Anforderungen zu erfüllen, die in der Zweitsprache an ihn gestellt werden. Sind sie gering, kann der Erwerbsprozess frühzeitig gestoppt werden. Das Erwerbstadium, auf dem eine Lernersprache fossilisiert, kann so auch als Spiegelbild der sozialen, motivationalen und emotionalen Bedingungen verstanden werden, unter denen der Lerner die Zweitsprache erworben hat. 4.3.3 Zusammenfassung Die große Variabilität des „Gastarbeiterdeutsch“ kann also folgendermaßen erklärt werden: In dem Maße, wie es gelingt die Faktoren zu durchbrechen, die einen erfolgreichen Spracherwerb verhindern (emotionale Barrieren, große soziale Distanz zwischen Minderheit und Mehrheit, geringe sprachliche Anforderungen, geringe Lernmotivation und Lerngelegenheit) ist auch eine (mehr oder weniger erfolgreiche) Annäherung an die Zweitsprache Deutsch möglich. Bei MigrantInnen, die in einfachen Tätigkeiten beschäftigt waren, in denen nur wenig Deutsch notwendig war, die in rechtlich und sozial unsicheren Verhältnissen lebten, sich von der deutschen Gesellschaft abgelehnt fühlten und sich in ethnischen Gemeinden einrichteten, kann der Zweitspracherwerbsprozess früh zum Stillstand gekommen und die Lernersprache in den ersten Erwerbsstadien fossilisiert sein. Da es vielen jedoch trotz ungünstiger politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen gelungen ist, sich der Zweitsprache Deutsch anzunähern, kann man davon ausgehen, dass das aufgrund von guten Beziehungen zu deutschen Arbeitskollegen, Nachbarn und Freunden möglich war. 20 20 Diesen Zusammenhang zeigten die Untersuchungen in der 70er und 80er Jahren, vgl. Bodemann/ Ostow (1975), Heidelberger Projekt „Pidgindeutsch“ (1975), Keim (1978) und (1984). Keim_sV-264End.indd 104 10.02.12 16: 57 Das fossilisierte Deutsch vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen 105 4.4 Das fossilisierte Deutsch vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen: Fulya und Ahmet im Jahr 2002 Dass fossilisierte Lernersprachen über Jahre auf dem einmal erreichten Niveau eingefroren bleiben können, 21 wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht ändern, und Frustration und Enttäuschungen zu einem skeptischen Blick auf das Leben in Deutschland führen, möchte ich am Beispiel einer Migrantenfamilie zeigen. Anhand dieses Falles werde ich versuchen • die biografischen Erfahrungen von Vertretern der ersten Generation zu rekonstruieren, die den Erwerb der Zweitsprache Deutsch beeinflussten, • das gedankliche und gefühlsmäßige „Klima“ darzustellen, in dem die zweite Generation aufwuchs, und • die Spezifika herauszuarbeiten, die aus der Sicht der Kinder „typisch“ für türkische Migrantenfamilien sind. Das Ehepaar Fulya und Ahmet hat sieben Kinder, die alle in Mannheim geboren und im Migrantenwohngebiet aufgewachsen sind. Die Erfahrungen der Eltern in Deutschland, ihre Bewertungen, ihre Erziehungsmaximen und -maßnahmen werden von den Kindern ebenso wie von anderen, denen ich das Material vorstellte, als „typisch“ für die Elterngeneration charakterisiert, als das was wir immer wieder von unseren Eltern gehört haben. Zur Zeit des Gesprächs, das 2002 stattfand, ist Ahmet 53 Jahre alt. Er spricht mit seiner erwachsenen Tochter über sein Leben in Deutschland, über seine Erfahrungen und die Befürchtungen, die er in Bezug auf seine und seiner Kinder Zukunft hatte und immer noch hat. 22 4.4.1 Ahmets Migrationserfahrungen Ahmet stammt aus einem Ort in Zentralanatolien und kam Anfang der 70er- Jahre als „Gastarbeiter“ nach Mannheim. Er lebte zunächst im Arbeiterwohnheim, heiratete dann eine junge Frau aus dem Heimatort und holte sie nach Mannheim. Da die beiden auf dem Wohnungsmarkt keine Wohnung fanden, zogen sie zu türkischen Freunden im Migrantenwohngebiet. Ahmet, von Beruf Mechaniker, kam mit dem Ziel nach Deutschland, möglichst viel Geld zu verdienen, um davon in Istanbul ein Geschäft zu eröffnen. 21 Der Wortschatz wird oft erweitert, und formelhafte Formulierungen werden aufgenommen, die grammatischen Strukturen bleiben jedoch relativ stabil auf dem anfänglichen Erwerbniveau stehen. 22 Das Gespräch mit der Tochter fand in Türkisch statt. Gesprächsausschnitte werden in Türkisch zusammen mit der Übersetzung ins Deutsche angeführt. Keim_sV-264End.indd 105 10.02.12 16: 57 106 Das Deutsch der ersten Generation Doch dieser letzte Wunsch erfüllte sich nicht (malesef * öyle olmadı, ‚leider ist es nicht so gekommen‘). Als er am Flughafen in Frankfurt mit anderen Gastarbeitern landete, war sein erster Eindruck von Deutschland positiv: acayıp geldi (...) her tarafta arablar var * bizim oraya nazaran daha * güzel yani * lüks görünşü güzel (‚es kam uns eigenartig vor (...) überall gibt es Autos, mehr als bei uns, schön, luxuriös, schöner Anblick‘). Doch was er dann erlebte, beschreibt er folgendermaßen: yo"k cennete cehenneme düştüm (‚nicht in den Himmel, in die Hölle bin ich geraten‘). Er wurde mit vier Männern, die er nicht kannte, in ein kleines Zimmer im Arbeiterwohnheim der Firma gebracht, in dem die Männer kochen, essen und schlafen sollten. Da er kein Deutsch verstand, wurde er nicht in dem erlernten Beruf eingesetzt, sondern bekam einfache, harte und dreckige Arbeiten. Am Abend, nach 9-10 Stunden Arbeit, wollte er in einem Kurs Deutsch lernen; doch da er sehr müde war, fiel ihm das Lernen schwer. Vom ersten Arbeitstag an fühlte er sich fremd, hilflos und bedrückt: AH: yabanc s n * neler hisseden i te * yabanc s n her du bist fremd * was kannst du fühlen * du bist fremd jede AH: an her gün * her da"lda * dil yetersizli i var * i Minute jeden Tag * in jedem Bereich * du kannst die Sprache AH: * yerinde yabanc s n bi ey söylüyö anlam yom * nicht am Arbeitsplatz bist du fremd * er sagt etwas du AH: öyle bi üzüntü var * azarl yor bi üzüntü oluyo * verstehst nicht das bekümmert dich * du wirst angeschrieen und das bedrückt dich Er hatte nur Kontakt zu seinen Landsleuten. Alle machten sich Sorgen, was aus den Frauen und den Kindern in dieser fremden Umgebung werden sollte. Ahmets Erfahrungen am Arbeitsplatz ließen bei ihm die Meinung entstehen, dass Deutsche sich ganz anders verhalten als Türken, distanziert, kühl und abweisend: AH: almanlar fena insan de illerde böyle insana yak n die Deutschen sind zwar keine schlechten Menschen sie AH: de iller yani öyle bi: (...) lassen aber keine menschliche Nähe zu (...) AH: almanlar *i yerinde fena de il ama böyle die Deutschen * sind am Arbeitsplatz nicht schlecht AH: bizim gibi cana yakh n eh * çay içeh gave içeh aber so wie wir freundlich * lass uns Tee Kaffe trinken AH: gel gezekh falan bu türlü eyler dü ünmüyorlar * spazieren gehen und so * solche Dinge denken sie nicht AH: onlar n ey yap de i ik ihre Machart ist anders Keim_sV-264End.indd 106 10.02.12 16: 57 Das fossilisierte Deutsch vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen 107 Diese Meinung verfestigt sich durch ein einschneidendes Erlebnis mit deutschen Nachbarn, die Ahmet und Fulya regelmäßig zum Tee eingeladen hatten. Zu Weihnachten wollten Ahmet und Fulya den Deutschen eine Freude bereiten. Sie kauften kleine Geschenke, klingelten bei den Deutschen, überreichten die Geschenke und wünschten ein schönes Fest. Die Deutschen nahmen die Geschenke, schlossen die Tür und ließen die türkischen Nachbarn draußen stehen. Das war für Ahmet unfassbar: AH: zile bastih yani gratilieren yapmah için ** wir sind gegangen haben geklingelt um zu gratulieren AH: vard h eh- * içeri gelin demedi wir waren dort * er bat uns nicht reinzukommen AH: ben o: onu hiç unutam yom * her zaman gelip das vergesse ich nie * die sind immer gekommen und AH: gittiler bizde çay içtikleri halde gelin de obwohl sie bei uns Tee getrunken haben * haben sie nicht AH: oturun demediler bah hediylen vard m z halde (...) gesagt, kommt setzt euch, obwohl wir mit Geschenken hingegangen sind AH: nefret ettim diye bilirim yani (...) ich kann nur sagen dass ich Abscheu empfunden habe (...) AH: neye u rad m da bilemedim * ben ilk defa hayat mda- * ich konnte nicht verstehen was mir da passiert ist * AH: böyle bi oh oldum yani in meinem Leben war ich noch nie so schockiert Aus Ahmets Sicht verstoßen die Deutschen gegen zentrale Regeln der türkischen Gastfreundschaft, deren Einhaltung für ihn „heilig“ ist; sie erwidern die Gastfreundschaft der Türken nicht, weisen Geschenke und Freundlichkeit grob zurück, schließen die Türken aus und verletzen sie tief. 23 Dieses Erlebnis wird immer wieder in der Familie erzählt, und es dient als Beleg für die tief gegründete Überzeugung, dass der eigentliche Grund für fehlende Kontakte zu Deutschen nicht die schlechten Deutschkenntnisse der „Gastarbeiter“ seien, wie das von deutscher Seite immer wieder behauptet werde, sondern dass es die „Kälte der Deutschen“ ist: işte biraz almanların böyle- * hani böyle soğuk davranma şeyi var- * komşusuna" (‚weil die Deutschen so kalt zu ihrem Nachbarn sind‘). Das ist 23 Wenn Ahmet die Geschenke den deutschen Nachbarn an Heiligabend überreicht hat, war das vermutlich ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt für einen Besuch. Heiligabend ist für viele Deutsche ein Familienfest und ein spontaner Besuch könnte von den Nachbarn als ungelegen empfunden worden sein. Wenn das so war, wurde darüber aber nicht gesprochen. Ahmet erfuhr nichts über mögliche Hintergründe für die Zurückweisung, so dass er das Ereignis als groben Affront seiner Person gegenüber deutete. Keim_sV-264End.indd 107 10.02.12 16: 57 108 Das Deutsch der ersten Generation eine Eigenschaft, die den Deutschen in vielen Gesprächen mit InformantInnen der ersten und zweiten Generation zugeschrieben wird (Keim 2008, Teil I). Die negativen Erfahrungen in Deutschland verstärkten das anfängliche Ziel der Familie, alle finanziellen Anstrengungen ausschließlich auf ein besseres Leben in der Türkei zu richten und dorthin so schnell wie möglich zurückzukehren. Doch mit dem Heranwachsen der Kinder, die begonnen hatten sich auf ein Leben in Deutschland zu orientieren, änderte sich die Zukunftsplanung. Und wie viele ehemalige „Gastarbeiter“ investierte die Familie jetzt in Deutschland, kaufte eine Wohnung und förderte die Ausbildung der Kinder. Ahmets Verhältnis zu Deutschen hat sich im Laufe der Jahre kaum verändert. Außer am Arbeitsplatz hat er keine Kontakte, er strebt sie auch nicht an: die ablehnende Haltung der Deutschen den türkischen Zuwanderern gegenüber hindert ihn daran. Die Ablehnung sieht er auch auf der politischen Ebene: AH: ya hepsi de zaten- * yabanc - * dü manli i de ince wenn sie Ausländerfeindlichkeit sagen * meinen sie AH: hep türkleri gastediyorlar * * aç h aç h da söylüyorlar immer die Türken * die geben es auch offen zu * dass sie AH: bunlar i te=v/ * ba da m yorlar * bunlar islam nicht harmonieren * sie sind Islam, Moslem AH: müslüman türk ** o aç dan devaml politigaçilar Türke * in der Hinsicht hatten es die Politiker AH: da açih aç h net net söylüyolard auch immer offen und deutlich gesagt Auch die rechtsradikalen Anschläge auf Türken in den 90er Jahren sieht er als politisch geduldet; sie hatten das Ziel, die Ausländer zu verjagen: hani atma"kh istiyorlardı yabancıları işleri bittikten sonra (‚die wollten doch die Ausländer vertreiben, nachdem ihre Arbeit beendet ist‘). Es gab auch Parolen gegen moslemische Ausländer, die mit Hass erfüllt waren. 24 Da Ahmet immer nur Ablehnung spürte, vermittelte er auch seinen Kindern ein Gefühl von Wachsamkeit und Misstrauen gegenüber der deutschen Gesellschaft, das die Tochter folgendermaßen beschreibt: es war als ob er auf gepackten Koffern sitzt * er ermahnte uns immer dass wir als Türken besonders fleißig und beruflich gut sein müssten * wir könnten hier nicht sicher sein * müssten damit rechnen vertrieben zu werden und müssten überall überleben können 24 Ahmet formuliert das folgendermaßen: avrupalıla yani * bunları ** ta: eski tarihlerden (...) bunlar yani burda bi müslüman toplum * i"stemiyolar * istemezlerde yani ellerinde fırsat olsa * bir anda silecekler amma- ** (...) * düşünceleri o" adamlar açıh açıh da söylüyorlar (also die Europäer, sie wollen schon seit langem keine moslemische Gemeinschaft, sie werden sie auch nicht haben wollen, und wenn sie die Gelegenheit hätten, würden sie alles auslöschen, (...), das ist ihr Prinzip, das sagen sie auch ganz offen). Keim_sV-264End.indd 108 10.02.12 16: 57 Das fossilisierte Deutsch vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen 109 Und er warnte die Tochter vor der Vorstellung, dass mit der Einbürgerung das Problem gelöst werden könnte und sie von den Deutschen akzeptiert werden würde: AH: sen de istersen alman olsan * bile sen belli nerden auch wenn du Deutsche geworden bist * es ist klar woher AH: geldi in ne yapt n * öyle bir anda sen istersen du kommst und was du machst * denn egal wie sehr du AH: ne kadar almanla uyumsa larsan sa la * de i miyorlar dich an die Deutschen anpasst * sie ändern sich nicht Die Einstellung des Vaters, sein tiefes Misstrauen gegenüber den Deutschen, prägte auch seine Erziehungsmaximen. Bei jeder Gelegenheit hielt er die Kinder an zu sparen und sich einen finanziellen Rückhalt zu schaffen, für den Fall, dass bei einer politischen Veränderung oder einer wirtschaftlichen Rezession die Türken als erste aus Deutschland vertrieben würden. Er sieht für seine Kinder und ganz allgemein für die türkischen MigrantInnen in Deutschland keine Zukunft: AH: buran n sonu meçhul * bura diyom ha bura her das Ende hier ist ungewiss * ich sage hier kann AH: an için yani de i ebilir * imdi u anda es sich jeden Tag ändern * jetzt im Moment AH: böyle iyidir * denebilir amma * ilersi için * ist es gut * das kann man so sagen * aber für später * AH: yani i: ç aç c de il also es hat keine Zukunft hier Von seinen selbst gesetzten Zielen in Deutschland hat er die finanziellen erreicht. Auch seine ehrgeizigen Bildungswünsche für die Kinder haben sich erfüllt; alle haben eine mittlere oder höhere Schul- und Berufsausbildung erreicht. Doch sein größter Wunsch, die Rückkehr der Familie, ist nicht in Erfüllung gegangen. Ahmet und Fulya, inzwischen im Rentenalter, pendeln wie viele Migranten der ersten Generation zwischen den Verwandten in der Türkei und den Kindern und Freunden in Deutschland. Sie haben sich in einem transnationalen Raum eingerichtet. Ahmets Erfahrungen und seine Perspektive auf die Deutschen und auf ihre Haltung türkischen Zuwanderern gegenüber hat das Leben seiner Kinder, ihre Sicht auf die Deutschen und ihre Verarbeitung von Erfahrungen mit Deutschen ganz entscheidend geprägt. So reagiert z. B. eine Tochter überempfindlich auf Äußerungen von Deutschen, die vielleicht ganz harmlos gemeint sind, die sie aber aufgrund ihres in der Familie erworbenen Wissens und eingeprägter Verarbeitungsschemata als diskriminierend erlebt. Ahmet hat in den Anfangsjahren in Deutschland „Gastarbeiterdeutsch“ am Arbeitsplatz erworben. Grammatisch hat er sich nur wenig weiterentwickelt, Keim_sV-264End.indd 109 10.02.12 16: 57 110 Das Deutsch der ersten Generation doch sein Wortschatz ist groß, er spricht flüssig Deutsch und versteht sehr viel. Bei allen geschäftlichen Angelegenheiten unterstützen ihn die Kinder. Ahmets Frau Fulya versorgte in den Anfangsjahren den Haushalt und die Kinder; später arbeitete sie in Teilzeit als Putzfrau mit anderen MigrantInnen zusammen. Auch sie hat Deutsch ungesteuert am Arbeitsplatz erworben. Sie ist fest in ihrem türkischen Verwandten- und Freundeskreis eingebunden und hat- - außer zu ihrem Vorgesetzten - keinen Kontakt zu Deutschen. In der Familienkommunikation ist, wenn die Eltern beteiligt sind, im Wesentlichen Türkisch die Verkehrssprache. Untereinander sprechen die Kinder Umgangsdeutsch, Deutsch-Türkisch gemischt und Türkisch. 4.4.2 Das fossilisierte Deutsch Fulyas Im Folgenden stelle ich einen kurzen Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Fulya und der deutschsprachigen Interviewerin vor, das 2002 in der Wohnung Fulyas stattfand. Außer Fulya (FU) und der Interviewerin (IN) ist die älteste Tochter Hülya (HY) anwesend. Fulyas Deutsch ist rudimentär, sie hat es in der Anfangszeit ihres Aufenthalts erworben. Doch trotz der sprachlichen Einschränkung gelingt die Verständigung zwischen den beiden Frauen sehr gut. Im Gespräch kommt Hülyas bevorstehende Hochzeit zur Sprache, die für Fulya und Ahmet schmerzlich ist, da Hülya die Familie verlässt. Damit beginnt der Gesprächsausschnitt: 01 FU: SEUFZT des=s alles schwer ja muss jaja 02 IN: für sie auch 03 FU: muss gehen gell alle * mädchen odda sohn- 04 IN: ja hm ja klar 05 FU: muss heiraten un dann weg 06 IN: alle gehen weg gehen se weg 07 IN: aber sie geht nich weit weg * sie bleibt in Mannheim- 08 FU: ich sagn des bissele gleich da wohne * |komm | * nix 09 IN: |LACHT| 10 FU: will * des: eh Neckarau un Rheinau gehen 11 IN: +wo willstn/ 12 K ZU HY 13 FU: >schade * hexe is * 14 IN: da willste hin * weit weg LACHT 15 FU: kleine hexe LA|CHT | meine sieben kinder gell 16 IN: |LACHT| 17 HY: anne- 18 Ü mutter Keim_sV-264End.indd 110 10.02.12 16: 57 Das fossilisierte Deutsch vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen 111 19 FU: des i/ isch denken alle eh viele des: - * eh isch denkn 20 FU: alle klein so is vier drei jahre un des is LACHT 21 IN: jaja" 22 FU: so gro"ße 23 IN: jaja * des is aber bei müttern immer so * 24 FU: hm 25 IN: ma sieht die kinder immer klein und die bleibn 26 FU: jaja" 27 IN: immer kinder >ja < Fulyas Deutsch hat typische Merkmale einer rudimentären Lernersprache: Verben sind im Infinitiv ich sagn des bissele gleich da wohne (ich meine, die soll da in der Nähe wohnen, 08), und stehen am Satzende des: eh Neckarau gehen (sie geht nach Neckarau, 10); die Präposition fällt aus Neckarau gehen (sie geht nach Neckarau), ebenso wie das Personalpronomen nix will (sie will nicht, 10) und hexe is (sie ist eine Hexe); die Negation steht vor dem Verb nix will (sie will nicht, 08/ 10) und die Umschreibung der Lokalangabe „in der Nähe“ durch bissele gleich da (08) ist charakterisch für rudimentäre Formen. Außerdem gibt es regionale Einflüsse in dem Pronomen des (das) und beim Ausfall des Endnasals in wohne (wohnen). 25 Exkurs 3 Vergleicht man Fulyas Sprache mit den oben (Exkurs 2) angeführten Erwerbsphasen, die charakteristisch für den Erwerb des Deutschen durch erwachsene Lerner sind, kann ihr Sprachstand folgendermaßen charakterisiert werden: Da die meisten Verben im Infinitiv erscheinen, befindet sie sich im Bereich der Verbmorphologie in Stadium I. Die Modalverben will und muss in der 3. Pers. Sg. Präsens können als Beginn von Stadium II betrachtet werden; es kann sich aber auch um „chunks“ handeln, d. h. nicht analysierte und formelhaft verwendete Sprachformen. Im Bereich der Satzbildung bewegt sich Fulya zwischen Stadium I und II. Im Beispiel produziert sie einfache, meist unverbundene Hauptsätze, in anderen Ausschnitten treten auch W-Fragen auf, z. B. was machen . Im Bereich der Kasusmorphologie realisiert Fulya das Ein-Kasus-System (Nominativ); d. h. auch in diesem Bereich hat sie das Erwerbsstadium I erreicht. In den drei betrachteten Bereichen befindet sich Fulyas Deutsch in der Phase I und bewegt sich im Verbalbereich in Richtung Phase II. 25 Die Realisierung des neutralen Artikels bzw. Demonstrativpronomens das als des ist nicht nur auf die Mannheimer Region beschränkt, sondern gilt für ein größeres Sprachgebiet Südwestdeutschlands. Die Verwendung von des anstelle des femininen Demonstrativ- oder Personalpronomens sie oder die ist eine für Gastarbeiterdeutsch typische Übergeneralisierung. Keim_sV-264End.indd 111 10.02.12 16: 57 112 Das Deutsch der ersten Generation Die Lernersprache, die Fulya während ihrer Berufstätigkeit entwickelt hat, ist im grammatischen Bereich in dem anfänglichen Stadium fossilisiert, und hat sich über Jahre nicht weiter entwickelt. Die Fossilisierung konnte stattfinden, da Fulya keine höheren sprachlichen Anforderungen zu erfüllen hatte: die Art der beruflichen Tätigkeit blieb „spracharm“, im privaten Bereich hatte sie keine Kontakte zu Deutschen und sie teilte im Wesentlichen die Einstellung ihres Mannes gegenüber der deutschen Gesellschaft. Fulya und Ahmet lebten über Jahrzehnte in großer „sozialer und psychologischer Distanz“ zur deutschen Gesellschaft. Ihre Motivation Deutsch zu lernen war gering und der Wunsch zur Rückkehr lange Zeit groß. Erst in den letzten Jahren hat sich Fulyas Einstellung unter dem Einfluss ihrer Kinder verändert. Sie will bei den erwachsenen Kindern in Mannheim bleiben, hat sich hier eingerichtet, ein Auto gekauft und den Führerschein gemacht, damit sie zwischen den Familien der Kinder pendeln kann. Der Gesprächsausschnitt liefert aber noch eine weitere Erkenntnis: Er zeigt, dass Fulyas reduzierte Sprechweise an mündliche Kommunikation gebunden ist, in der prosodische, stimmliche, gestische und mimische Mittel die „Lücken“ füllen. Durch diese Sprechweise werden bei der Interviewerin die Kommunikationsmechanismen aktiviert, die im Kontakt mit nicht-kompetenten Sprechern eine besondere Rolle spielen und zur Verständigung führen können: • Größere Toleranz gegenüber Verletzungen der Konversationsmaxime „Klarheit“, die unter „normalen“ Kommunikationsbedingungen gilt und die besagt: Sprich so klar wie möglich. Die Einhaltung dieser Maxime spielt hier keine Rolle. Als FU auf die Nachfrage von IN für sie auch (02) im Sinne von ‚ist der Weggang der Tochter für Sie auch schwer‘ mit muss jaja (01) antwortet, fragt IN nicht nach dem Bezug zur vorangehenden Frage, sondern zeigt durch die Rückmeldung ja- (04), dass sie abwartet und der Sprecherin weiterhin Rederaum einräumt. • Erhöhte Bereitschaft zur Vervollständigung unvollständiger Äußerungen: IN ergänzt den Rhema-Teil in FUs Äußerung alle * mädchen odda sohn- (03) durch ja klar alle gehen weg (04/ 06). Daraufhin reformuliert FU zu muss heiraten un dann weg (05) und zeigt, dass IN die Äußerung in ihrem Sinne vervollständigt hat. Darauf vervollständigt IN nochmals FUs Äußerung: gehen se weg (06). • Erhöhte Bereitschaft zum Rückgriff auf geteiltes Wissen: Unklar formulierte Äußerungen werden versuchsweise normalisiert und der Partnerin zur Bestätigung angeboten. IN reformuliert die Darstellung von FU (15/ 22) und generalisiert deren Erfahrung als typische durch: jaja * des is aber bei müttern immer so * ma sieht die kinder immer klein und die bleiben immer kinder (23/ 27); FU bestätigt INs Klarstellung und drückt ihr volles Einverständnis aus: jaja" (25). Keim_sV-264End.indd 112 10.02.12 16: 57 Zusammenfassung und Ausblick 113 Der Austausch zwischen Fulya und der Interviewerin zeigt, dass die Verständigung zwischen beiden gelingt. Der Austausch zeigt auch, dass im Gespräch mit SprecherInnen, die nur über rudimentäre Formen der Zweitsprache verfügen, komplexe Sachverhalte verhandelt, emotionale Befindlichkeit ausgedrückt und perspektivische Übereinstimmung hergestellt werden kann. Eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen von Verständigung ist eine erhöhte Kooperations- und Kommunikationsbereitschaft, wie sie im vorliegenden Beispiel auf beiden Seiten mehrfach zum Ausdruck gebracht wird. 4.5 Zusammenfassung und Ausblick Nach mehrjähriger Erfahrung im Unterricht Deutsch als Zweitsprache für erwachsene MigrantInnen weiß ich, welche Anstrengungen es die Lernenden kostet, ein auf einem bestimmten Erwerbsniveau bereits fossilisiertes Deutsch aufzubrechen und grammatisch auszubauen. Die KursteilnehmerInnen können sich oft routiniert an Gesprächen in Deutsch beteiligen, doch die Anwendung neuer grammatischer Strukturen fällt schwer. Immer wieder setzen sich die jahrelang eingeübten und im Alltag ausreichenden Formen des reduzierten Deutsch durch. Meine Erfahrungen werden durch Kursleiterinnen von Integrationskursen in Mannheim bestätigt. Ihrer Erfahrung nach lernen TeilnehmerInnen, die in der Türkei (bei Goethe-Instituten) einen Integrationskurs auf dem Niveau A1 abgeschlossen haben, ohne Probleme weiter und erreichen den Abschluss B1. Doch TeilnehmerInnen, die seit Jahren in Deutschland leben, Deutsch bisher ungesteuert erworben haben und auf einem niedrigen Lernniveau stehen geblieben sind, machen, auch bei großer Anstrengung, kaum Fortschritte. Als Erschwernis kommt hinzu, dass KursteilnehmerInnen außerhalb des Unterrichts kaum Gelegenheiten zur Kommunikation mit Deutschen haben. Aus meiner Sicht sind Forderungen, die im Rahmen von Bildungsdiskussionen immer wieder zu hören sind, dass so genannte „Alt-Zuwanderer“ endlich richtig Deutsch lernen sollten wenig sinnvoll, wenn Fossilisierung bereits stattgefunden hat. Zuletzt habe ich solche Forderungen bei der Auftaktveranstaltung des „Bürgerforums“ in Mannheim am 12.03.2011 gehört. Dort nahm ich mit ca. 20 weiteren Mannheimer BürgerInnen an der Arbeitsgruppe „Integration“ teil. Bei der Diskussion darüber, wie die Integration von MigrantInnen in Mannheim verbessert werden könnte, kam zunächst der Vorwurf „wieso können die nach 30 oder 40 Jahren in Deutschland immer noch kein Deutsch? “. Dann wurden Forderungen laut, dass „Migranten zuerst mal Deutsch lernen sollten“ und „Eltern dafür sorgen müssten, dass ihre Kinder zuhause Deutsch sprechen“. Es kostete mich große Anstrengung, den TeilnehmerInnen klar zu machen, dass solche Forderungen nach über 40 Jahren, in denen von deutscher Seite Integration nicht erwünscht war, wenig sinnvoll sind; und dass der Keim_sV-264End.indd 113 10.02.12 16: 57 114 Das Deutsch der ersten Generation Versuch fossilisierte Strukturen abzubauen, große Anstrengungen erfordert und nur wenig Erfolg bringt, wenn sich die sozialen, emotionalen und motivationalen Voraussetzungen nicht maßgeblich verändern. Diese Veränderungen müssten von beiden Seiten, von Einheimischen und Zuwanderern, gewollt und gemeinsam in Angriff genommen werden. Keim_sV-264End.indd 114 10.02.12 16: 57 Kapitel 5 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt Einleitung Während für die erste Zuwanderergeneration Türkisch die dominante Sprache und Deutsch als Zweitsprache mehr oder weniger weit ausgebaut ist, konnten die Kinder und Enkel ein reiches Repertoire an Sprachformen entwickeln. In ihren multilingualen Lebenswelten treffen sie auf ein großes Angebot, aus dem sie Sprachen auswählen, modifizieren und neu kombinieren können. Die folgende Liste gibt dazu einen Überblick: • In den Familien erwerben sie die Sprachen und Dialekte der Regionen, aus denen die Eltern zugewandert sind. Das sind vor allem mündliche Versionen. Die türkische Schriftsprache, die nicht zu den Pflichtfächern in deutschen Bildungsinstitutionen gehört, beherrschen die meisten Kinder nicht. • In den Bildungsinstitutionen werden die Kinder mit der regionalen Umgangssprache und mit Standarddeutsch konfrontiert und haben unter günstigen Erwerbsbedingungen die Chance mündliches und schriftliches Standarddeutsch zu erwerben. • Im Alltag und im Kontakt mit deutschen Spiel- und SchulkameradInnen treffen sie auf dialektales Deutsch. Wachsen sie z. B. in Bayern oder Schwaben auf, erwerben sie Varietäten des Bayerischen oder des Schwäbischen. Prominente Beispiele dafür sind der Kabarettist Django Asül und der Politiker Cem Özdemir. Kinder und Jugendliche, die in Mannheim aufwachsen, erwerben „Mannheimerisch“ oder zumindest charakteristische Züge des „Mannheimerischen“. 1 • „Gastarbeiterdeutsch“ wird in der Regel nicht in der Familienkommunikation verwendet. Die Kinder hören es jedoch, wenn sie die Eltern oder Großeltern im Kontakt mit Deutschen erleben, z. B. beim Einkaufen oder im Gespräch mit dem Lehrer. Dabei erleben sie, dass das Deutsch der Eltern „kein richtiges Deutsch“ ist, und die Eltern deswegen von Deutschen negativ beurteilt werden. 2 1 „Mannheimerisch“ ist die Bezeichnung der Einheimischen für die Mannheimer Stadtsprache. 2 Von türkischstämmigen Jugendlichen erfuhr ich, dass sie sich schämten, weil ihre Eltern „kein richtiges Deutsch“ können. Einige haben jahrelang den Kontakt zwischen den Eltern Keim_sV-264End.indd 115 10.02.12 16: 57 116 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt Außerdem bietet das Aufwachsen in multiethnischen und multilingualen Lebenswelten die Voraussetzung für die Entwicklung neuer, interessanter Sprach- und Kommunikationsformen: Code-switching (Sprachwechsel), Codemixing (Sprachmischung) und ethnolektal geprägtes Deutsch. Code-switching und Code-mixing sind weit verbreitete Praktiken unter Zwei- und Mehrsprachigen, die über dieselben Sprachen verfügen; sie werden ausführlich in Kap.-6 dargestellt. Ethnolektales Deutsch entwickelt sich in multilingualen Gruppen (Schulklassen, Jugendzentren), wenn die Sprecher die Erstsprache(n) der anderen nicht verstehen und eine Verkehrssprache wählen müssen, die alle Beteiligten mehr oder weniger gut beherrschen. Zur Illustration zeige ich einen kleinen Gesprächausschnitt, in dem ein türkischstämmiger Junge (ZE) von seinem arabischen Freund (BE) eine Zigarette fordert: Beispiel 1 ZE: was has=du da lan * gib mir ma kippe BE: sch=hab kein ZE: schieb mi=ma kippe rüber dann kau"f eins * kio"sk BE: nein „Übersetzung“: ZE: was hast du da mann * gib mir ma ne kippe BE: isch hab keine ZE: schieb mir ma ne kippe rüber dann kau"f eine * am kio"sk BE: nein In diesem Ausschnitt sind charakteristische ethnolektale Eigenschaften realisiert: die türkische Anrede lan (‚Mann‘), der Artikelausfall in kippe (‚eine Kippe‘), das andere Genus in kein (kippe) und eins (‚keine Kippe‘, ‚eine‘) und der Ausfall von Präposition und Artikel in kiosk (‚am Kiosk‘). Die Verschleifungen in sch=hab (ich habe) oder mi=ma (mir mal) sind charakteristisch für gesprochenes Deutsch. Im Folgenden stelle ich zunächst einige charakteristische Eigenschaften des Deutsch von türkischstämmigen Migrantenjugendlichen dar, die sie als junge Mannheimer ausweisen, die in einer multiethnischen Lebenswelt aufgewachsen sind (5.1). Dann folgt ein kurzer Blick in die internationale Forschung (5.2), der zeigt, dass auch in anderen europäischen Ländern mit hoher Arbeitsmigration ethnolektale Sprachformen entstanden sind. Dass sie auch im Migrantenwohngebiet in Mannheim zu den Normalformen in multilingualen Kinder- und Jugendgruppen gehören, stelle ich in Kap.- 5.3 dar. Dann zeige ich, dass die Jugendlichen auch Umgangsdeutsch sprechen, zwischen Umgangsdeutsch und und der Schule verhindert, da sie nicht wollten, dass die Schule erfuhr, dass die Eltern „Gastarbeiterdeutsch“ sprechen, vgl. Keim (2008). Keim_sV-264End.indd 116 10.02.12 16: 57 Das Deutsch der zweiten und dritten Migrantengeneration 117 Ethnolekt wechseln und Ethnolekt zu diskursiv-rhetorischen und zu sozialen Zwecken einsetzen (Kap.-5.4). 5.1 Das Deutsch der zweiten und dritten Migrantengeneration In den Grundschulen lernen Kinder den Unterschied zwischen Umgangsbzw. Standarddeutsch und den Sprachformen kennen, die in den Kindergruppen verwendet werden (Erstsprachen, sprachliche Mischungen, Ethnolekt und Mannheimerisch); und sie erfahren deren unterschiedliche soziale Bedeutung. „Mannheimerisch“, die Mannheimer Stadtsprache, gehört zum rhein-fränkischen Dialekt. In den Stadtgebieten, in denen sich migrantische Lebenswelten entwickelt haben, wird das „breiteste Mannheimerisch“ gesprochen, und die Migrantenkinder sind von Beginn an damit konfrontiert. Viele von ihnen können „Mannheimerisch“, lehnen es jedoch ab, da sie es mit Deutschen aus ihrer Nachbarschaft verbinden, von denen sie ablehnende Haltungen erfahren haben. Trotzdem enthält ihr Deutsch eine Reihe typischer Merkmale des Mannheimerischen: • der Endnasal / n/ fällt in vielen Formen aus, z. B. im Infinitiv, der 1. und 3.-Pers. Pl. er will net kumme (‚er will nicht kommen‘) und die kenne heit net (‚die können heute nicht‘) oder in Plural- und Kasusendungen, z. B. bei de Kinner (‚bei den Kindern‘), in de erschde Reih (‚in der ersten Reihe‘); • der / st/ -Laut am Wortende wird zu / schd/ oder / sch/ : hasch=de (‚hast du‘), holsch=de (‚holst du‘), erschd (‚erst‘); • harte Konsonanten werden lenisiert (weich), z. B. in Mudda (‚Mutter‘), Vadda (‚Vater‘) und Diphthonge werden zu Monophthongen: / ei/ / ee/ oder / ä/ wie in nee, kä (‚nein, kein‘) oder weeschd (‚weißt du‘). Die für den kurpfälzischen Sprachraum typische Aussprache des / ch/ -Lautes als / sch/ wird verändert, nach vorne verlagert und verstärkt. Außerdem kommen typische Verschleifungen vor wie ham=ma (‚haben wir‘), sim=ma (‚sind wir‘), ku=ma (‚kuck mal‘), die Interjektionen alla, alla-hopp und die angehängten Fragen gell (‚nicht wahr‘) und weeschd (‚weißt du‘). Neben dialektalen Merkmalen gibt es viele gesprochensprachliche Merkmale, wie sie für einheimische Sprecher üblich sind: z. B. die Tilgung des Endkonsonants bei is (‚ist‘), sin (‚sind‘), jetz (‚jetzt‘), ma (‚mal‘) etc.; der e-Ausfall bei der 1. Pers. Sg. z. B. in hol=isch, mach=isch (‚hole ich‘ und ‚mache ich‘) und verkürzte Äußerungen. Im Deutsch der Kinder und Jugendlichen gibt es auch eine ganze Reihe jugendsprachlicher Elemente. Keim_sV-264End.indd 117 10.02.12 16: 57 118 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt Exkurs 1 Als charakteristische Merkmale des jugendlichen Sprachgebrauchs werden in der Forschung angeführt: 3 die häufige Verwendung von Rückversicherungsfragen wie gell und weißt du, von Vagheitspartikeln wie halt so, irgendwie, von Intensivierungspartikeln wie voll, super, die Bevorzugung von derb-drastischen Ausdrücken und Tabu-Wörtern, und die kreative Nutzung bestimmter Wortbildungsmuster. 4 Außerdem werden besondere Sprech- und Kommunikationsstile ausgebildet, in denen mit Texten gespielt wird, die aus anderen Lebensbereichen stammen; sie werden ironisch verfremdet, umgedeutet und in neue Zusammenhänge gebracht. Die Jugendlichen bevorzugen ein direktes, spontanes, expressives Sprechen mit kurzen, elliptischen Äußerungen; in szenischen Darstellungen gibt es schnelle Perspektivenwechsel. Zu den jugendsprachlichen Elementen in den Gesprächen der jungen MigrantInnen gehören die folgenden: • Zitateinleitungen: Personalpronomen + so, z. B.: isch so <cool> * un=dann er so <nisch cool nur doof>; • die Verwendung des Adjektivs voll zur Intensivierung: voll wenig, voll die härte; • häufige Rückversicherungsfragen: weiß=du, weeschd und oder was; • die häufige Verwendung von Vagheitspartikeln wie halt, so, un=so, irgendwie, z. B.: ich muss zehnmal überlegen was ich halt so sagen möchte * weil ich halt angst hab mich zu verbabbeln un so * weißt du • Neubildungen wie rumzacken; • lautmalerische Formen blablabla bzw. und bla; • Bewertungsausdrücke wie cool, geil, voll geil, scheiße, voll scheiße; • Beschimpfungsformeln wie halts maul, leck mich, verpiss dich Einige dieser Merkmale treten im folgenden Beispiel einer türkischstämmigen Sportstudentin auf: und dort warn wirklich sehr gute tänzer und <isch war die schle"chteste ich konnt gar" nix> weiß=te * des war voll schlimm für mich jeden tag dorthin zu gehn weiß=du * des war irgendwie <voll die qual> aber isch hab gedacht wenn isch schon da bin dann machst=e durch Zu den jugendsprachlichen Eigenschaften gehören die Rückversicherungsfragen weiß=te und weiß=du, die mehrfache Verwendung von voll in voll schlimm und voll die qual und der Vagheitsausdruck irgendwie. Ansonsten ist die Dar- 3 Vgl. dazu vor allem Androutsopoulos (1998) und die Beiträge in Neuland (Hrsg.) (2003). 4 Z. B. Präfixe wie an-, ab- und umin anlabern, abtanzen und rumhängen; bestimmte Suffixe wie -mäßig in partymäßig, gruftimäßig usw. Keim_sV-264End.indd 118 10.02.12 16: 57 Das Deutsch der zweiten und dritten Migrantengeneration 119 stellung charakterisiert durch Merkmale des Mündlichen, Verschleifungen in machst=e, regionale Eigenschaften in isch und nix, wertende Ausdrücke in voll die qual und die umgangssprachliche Formel dann machst=e durch (‚dann hältst du das durch‘). Zu Beginn von Redebeiträgen werden häufig die Aufmerksamkeitsmarker ey oder hey verwendet, die in der Forschung als typisch jugendsprachliche Interjektionen angeführt werden (Androutsopoulos 1998). Im folgenden Beispiel schildert Hatice (HA) ihren Freundinnen, dass sie in der Schule von der Klasse und vom Lehrer immer wieder fertig gemacht wird, und die Freundinnen nehmen dazu Stellung. Dabei werden derb-drastische Ausdrücke und die Interjektion ey mehrfach gebraucht: 01 HA: dann sagt mein lehrer-* Hatice benimm disch oder du 02 HA: fliegst gleisch raus * wenn=s dir nisch pa"sst geh 03 HA: raus * lieber halt=sch mein=kla"ppe bevor=sch von 04 HA: kla"ssenzimmer rausgeh- * aber irgendwie von einer 05 HA: seite werd=sch die ganze zeit fe"rtisch gemacht 06 HA: des=s |voll schei"ße | 07 HL: |e"y des sind | halt ki"nder leg disch 08 HA: + nein des hat eh"rlisch nix 09 HL: nisch mit je"dem an 10 HA: mit kindern zu tun jeden tag mit au"sländern zu tun 11 HA: des=s voll schei"ße |>also isch mein-<| 12 HL: <ey der |schei"ß des mit | 13 HL: den ty"pen da> des kann dir doch wohl am arsch 14 HL: vorbeigehn * wenn die so dumm sin dann lass sie 15 DI: |was misch am |<mei"sten> ankotzt 16 HL: doch einfach |denkn was die |wo"lln Hatice schließt ihre Klage über den Lehrer mit dem drastischen Kommentar des=s voll scheiße (11), und die Freundin Hülya (HL) verwendet in ihrem Rat an Hatice die drastischen Ausdrucksweisen ey der scheiß (12) und des kann dir doch wohl am arsch vorbei ge"hn (13/ 14). Der anschließende Beitrag von Didem (DI, 15) wird mit der derben Bewertungsformel was misch am <mei"sten> ankotzt eingeleitet. Die angeführten Merkmale sind typisch für einen vertrauten, lockeren Umgang unter Jugendlichen. Das angeführte Beispiel macht aber noch eine weitere Besonderheit deutlich: Hatice und Hülya sprechen unterschiedliches Deutsch. Hülyas Äußerungen sind umgangssprachlich formuliert mit gesprochensprachlichen und jugendsprachlichen Merkmalen. Keim_sV-264End.indd 119 10.02.12 16: 57 120 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt Hülya: (1) e"y des sind halt ki"nder * leg disch nisch mit je"dem an * (2) ey der schei"ßdes mit den ty"pen da des kann dir doch wohl am arsch vorbeige"hn * wenn die so dumm sin dann lass sie doch einfach denkn was die wo"lln Im Vergleich dazu haben Hatices Äußerungen auch ethnolektale Eigenschaften: Hatice: (1) dann sagt mein lehrer- * Hatice benimm disch oder du fliegst gleisch raus * wenn=s dir nisch pa"sst geh raus * lieber halt=sch mein kla"ppe bevor=sch von kla"ssenzimmer rausgeh- * aber irgendwie von einer seite werd=sch die ganze zeit fe"rtisch gemacht * des=s voll schei"ße (2) nein des hat eh"rlisch nix mit kindern zu tun jeden tag mit au"sländern zu tun * des=s voll schei"ße Zu den ethnolektalen Eigenschaften gehören: • anderes Genus in mein klappe (statt ‚meine Klappe‘) • Ausfall des Artikels in von klassenzimmer raus (statt ‚vom Klassenzimmer raus‘) • Verkürzung bzw. Fehlen der logisch-semantischen Verknüpfung zweier Teilsätze: des hat nix mit kindern zu tun und jeden tag mit ausländern zu tun (statt ‚des hat nix mit Kindern zu tun, sondern es hat jeden Tag mit Ausländern zu tun‘) Hülya ist zur Zeit des Gesprächs 17 Jahre alt und besucht die 10. Klasse des Gymnasiums. Hatice ist zwei Jahre jünger und besucht die letzte Klasse der Hauptschule. Die Gymnasiastin Hülya verwendet in dem emotional geprägten Gespräch keine ethnolektalen Formen, Hatice verwendet sie. Beide Mädchen haben denselben soziokulturellen Hintergrund, sind in demselben Stadtgebiet aufgewachsen, zur Grundschule gegangen, und die Familien sind befreundet. Der einzige Unterschied ist die schulische Umgebung: Hülya hat nach der 4. Klasse den Übergang ins Gymnasium geschafft, während Hatices weitere Schulkarriere in der Hauptschule des Migrantenwohngebiets verlief. Hülyas Sprachverhalten zeigt, dass der Einfluss des Deutschen in der neuen schulischen Lebenswelt so stark ist, dass auch in einer Diskussion mit der Freundin Ethnolekt nicht vorkommt. Hülya ist kein Einzelfall, auch andere Jugendliche zeigen eine ähnliche Entwicklung (Keim, 2008). Mit dem Übergang auf höhere Schulen kommen die Kinder in soziale Welten, in denen Standarddeutsch die dominante Sprache ist. Sie erleben, dass ethnolektale Formen, die für sie vorher „normal“ waren, von der deutschen Schüler- und Lehrergemeinschaft abgelehnt und karikiert werden; und sie versuchen sie zu vermeiden. Mit dem Übergang in die Haupt- Keim_sV-264End.indd 120 10.02.12 16: 57 Ein Blick in die Forschung zu (Multi)Ethnolekten 121 schulen jedoch, die auf dem Territorium des Migrantenwohngebiets liegen, sind die Kinder weiterhin in ihre multilinguale Lebenswelt eingebunden, in der ethnolektales Deutsch zu den normalen Ausdrucksformen in der Jugendgruppe gehört. 5.2 Ein Blick in die Forschung zu (Multi)Ethnolekten 5 Ein Blick in die Forschung zeigt, dass sich ethnolektale bzw. (multi)ethnolektale Sprachformen in vielen deutschen und europäischen Großstädten entwickelt haben, in denen im Zuge der Arbeitsmigration komplexe multilinguale Lebenswelten entstanden sind. Kinder und Jugendliche benutzen die regionale Umgangsprache als Verkehrsprache und passen sie den sprachlichen Voraussetzungen der Sprecher und den situativen Anforderungen entsprechend an. Ethnolekte sind Varietäten, die sowohl von den Sprechern als auch von Außenstehenden einer ethnischen Gruppe zugeschrieben werden. Werden sie mehreren ethnischen Gruppen zugeschrieben, spricht man von Multiethnolekt. (Multi)Ethnolekte haben große Überschneidungsbereiche mit den regionalen Umgangssprachen und zeigen gleichzeitig auf allen sprachlichen Ebenen Unterschiede. Interessant ist, dass es Ähnlichkeiten zwischen den in Deutschland, Holland, Dänemark, England und Schweden entstandenen Ethnolekten zu geben scheint, obwohl verschiedene Ausgangs- und Zielsprachen beteiligt sind. Übereinstimmung besteht in der noch jungen Forschung im Wesentlichen darüber, dass sie sehr variabel und dass sie keine Lernervarietäten sind, auch wenn einige Merkmale, z. B. Simplifizierungen und Übergeneralisierungen Ähnlichkeit mit Lernervarietäten haben; und dass sie auch von einheimischen Jugendlichen verwendet werden. Viele Sprecher können zwischen ethnolektalen Formen und zielsprachlichen Formen (Umgangs- und Standardsprachen) wechseln. 5.2.1 Bezeichnungen und Definitionen In Studien wird hervorgehoben, dass sowohl die Sprecher selbst als auch Außenstehende Bezeichnungen für die neuen Sprachformen haben. Dass es Bezeichnungen gibt, zeigt, dass es ein gesellschaftliches Wissen über die neuen Sprachformen gibt und dass sie mit bestimmten Sprechergruppen assoziiert werden. In Stockholm heißen sie „Rinkebysvenska“ (‚Rinkeby-Schwedisch‘) oder „invandrerska“ (‚Immigrantisch‘), in Malmö und Göteburg „kebebspråk“ (‚Kebab-Sprache‘) oder „spaggesvenska“ (‚Spaghetti-Sprache‘) (Kotsinas 1998). In Kopenhagen gibt es die Bezeichnungen „perker-stil“ (‚Niggerstil‘) oder „perker-sprog“ (‚Niggersprache‘) (Madsen 2011) und aus der Außenperspekti- 5 Vgl. zum Folgenden Keim 2010. Keim_sV-264End.indd 121 10.02.12 16: 57 122 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt ve abwertende Bezeichnungen wie „indvandrerdansk“ (‚Einwandererdänisch‘, Quist 2005). In den Niederlanden gibt es Sprecherbezeichnungen wie „Straattaal“ (‚Straßensprache‘, Nortier 2000) und in Norwegen „Byvankerspråk“ (‚Straßensprache‘, zitiert aus Quist 2005, 145). In Berlin gibt es die Bezeichnung „Kiezdeutsch“ (Wiese 2006). In Mannheim sprechen deutsche Jugendliche, die in multiethnischen Stadtgebieten leben, von „unser(em) Ghettoslang“ und drücken damit aus, dass er zu ihnen gehört. 6 Bezeichnungen aus der Außenperspektive sind in Mannheim „Stadtteilsprache“, „komisches Deutsch“ oder „Ghettodeutsch“ (Keim 2008). Die Definitionen aus der Perspektive von Wissenschaftlern unterscheiden sich je nach Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsperspektive. Die Bezeichnung „Kanak Sprak“ führt der türkischstämmige Schriftsteller Feridun Zaimoğlu mit seinem (1995) erschienenen Werk ein. Diese Bezeichnung übernimmt Füglein (2000) zur Beschreibung des Deutsch türkischstämmiger Jugendlicher, das aus ihrer Perspektive sozial negativ markiert ist. Der Terminus „Kanak Sprak“ wird gelegentlich auch in den Medien verwendet (vgl. unten Kap.- 5.4.3). Autoren, die nur eine ethnische Gruppe untersuchen, wählen ethnisch indizierende Bezeichnungen. Als erster spricht Androutsopoulos (2001a, 2001b) vom „Ethnolekt des Deutschen“, der sich in den „Ghettos“ deutscher Großstädte unter „männlichen türkischstämmigen Jugendlichen“ entwickelt hat. Auer (2003) bezeichnet das Deutsch türkischstämmiger Jugendlicher als „Türkenslang“. Kern und Selting (2006) sprechen von „Türkendeutsch“ und Keim und Knöbl (2007) sprechen vom „Ethnolekt türkischstämmiger Jugendlicher“. Autoren, die hervorheben, dass die neu entstehenden Sprechweisen nicht an eine bestimmte ethnische Gruppe gebunden sind, sondern von vielen Jugendlichen, auch einheimischen Jugendlichen, verwendet werden, sprechen von „Multiethnolekt“, „multicultural varieties“ oder „late modern urban youth style“. 7 Ausgehend von Androutsopoulos (2001b) entwirft Auer (2003) eine Typologie ethnolektaler Formen: Der „primäre Ethnolekt“ ist in den deutschen Großstadtghettos entstanden und wird vor allem von männlichen Jugendlichen mit türkischem Familienhintergrund verwendet. Er ist der Bezugspunkt für den „sekundären Ethnolekt“, eine mediale Verarbeitung und Stilisierung des primären Ethnolekts, die in Filmen, Comedies, Comics und Zeitungsartikeln 6 Den Hinweis verdanke ich Miriam Oberle (2006), die sie in ihrer Bachelor-Arbeit anführt: „Grammatische Analysen von SMS-Texten“. Universität Mannheim. 7 Der Terminus „multiethnolect“ geht auf Michael Clyne (2000, S. 87) zurück, der die neue Sprechweise so bezeichnet, „because several minority groups use it collectively to express their minority status and/ or as a reaction to that status to upgrade it“. Quist (2005) übernimmt den Terminus, und Fox et al. (2011) sprechen von „multicultural varieties“. Um keinen direkten Bezug zwischen Stil und Ethnizität zu suggerieren und auf die Jugend der Sprecher und ihre städtischen Lebenswelten zu verweisen, wählt Madsen (2011) die Bezeichnung „late modern urban youth style“. Keim_sV-264End.indd 122 10.02.12 16: 57 Ein Blick in die Forschung zu (Multi)Ethnolekten 123 eingesetzt und einer bestimmten Gruppe von männlichen türkischen und anderen nicht-deutschen Jugendlichen zugeschrieben wird. Der „sekundäre“ Ethnolekt kann von deutschen Jugendlichen in Versatzstücken zitiert und weiter entwickelt werden. Wenn dabei nur der mediale Input transportiert wird, spricht Auer von „tertiärem Ethnolekt“. Wenn nicht-türkische und deutsche Jugendliche, die in multiethnischen Stadtgebieten leben, Formen des primären Ethnolekt verwenden und sie nicht als Zitat markieren, sondern als ihre normale Ausdrucksweise übernehmen, versteht Auer das als De-Ethnisierung des Ethnolekts. Für diese Jugendlichen sind ethnolektale Formen zur „eigenen Stimme“ geworden. Exkurs 2 Charakteristisch für die gegenwärtige Forschung in Europa ist die Diskussion, ob es sich bei Ethnolekten um neu entstehende Varietäten von Standardsprachen handelt, oder um (soziale) Stile, die Sprecher zur Bewältigung interaktiver und sozialer Aufgaben einsetzen. Der jeweils gewählte Ansatz hat Implikationen für den Zugang zum Forschungsgegenstand, und es lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden: a) varietätenlinguistische und b) interaktionale und (sozio)stilistische Studien. Zu a) Varietätenlinguistische Studien Diese Studien versuchen eine formale Beschreibung der neuen (Jugend)Sprachformen im Vergleich zu den jeweiligen Standardsprachen. Kotsinas (1988, 1998) hat als erste die in Rinkeby, einem multiethnischen Stadtteil Stockholms, entstandene Varietät beschrieben. Im Anschluss an ihre Arbeiten wurde diskutiert, welchen Status die neuen Sprachformen haben und ob sie als Dialekt, Lernersprachen oder Jugendstil gefasst werden könnten. Kotsinas Beobachtungen, dass ethnische Varietäten nicht Ausdruck eines mangelnden Schwedischerwerbs sind, sondern als eigenständige (Jugend)Varietäten betrachtet werden können, da die Sprecher zwischen ethnolektalen und regionalen Varietäten wechseln, wurde in nachfolgenden Untersuchungen in Schweden und den Niederlanden, ebenso wie in Dänemark und England bestätigt: Hinskens und Muysken (2007) untersuchen in Amsterdam und Nijmegen die Prozesse, die bei der Entstehung von Ethnolekten eine Rolle spielen; Quist (2005 und 2008) beschreibt ethnische Varietäten in multiethnischen Einwanderergebieten in Kopenhagen; und in London und Birmingham untersucht eine Projektgruppe (Fox et al. 2011) die Verbreitung ethnolektaler Merkmale über ethnische Grenzen hinaus. In Deutschland begann die Forschung mit der kleinen Studie von Füglein (2000) zum ethnolektalen Deutsch türkischer Jugendlicher der zweiten/ dritten Generation in München, Böblingen und Nürnberg. Die darauf folgenden Arbeiten von Auer (2003) und Dirim/ Auer (2004) kommen zu dem Ergebnis, dass es sich bei den bisher beobachteten ethnolektalen Formen um eine potentiell neue „Varietät des Deutschen“ handelt (a. a. O., S. 207). Wiese (2006) und Freywald et al. (2011) finden im Deutsch von Berliner Migrantenjugendlichen ähnliche Charak- Keim_sV-264End.indd 123 10.02.12 16: 57 124 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt teristika wie die Vorgängerstudien. Auf der Basis von Befragungen zeigen auch sie, dass ethnolektale Formen als eigenständige Varietäten des Deutschen betrachtet werden. Sie bezeichnen sie als neue „Dialekte“, die sich in multiethnischen Lebenswelten ausgebildet haben. Zu b) Soziostilistische und interaktionale Studien Frühe Studien in England (Hewitt 1986, Sebba 1993, Rampton 1995) zeigen, dass Sprecher Sprachformen, die zu einer ethnischen Gruppe gehören, in einem Akt des „crossing“ zum Ausdruck von Zugehörigkeit zu dieser Gruppe oder zur Abgrenzung von ihr einsetzen. Auch neuere interaktional (sozio)linguistisch und ethnografisch ausgerichtete Studien in Dänemark und Deutschland fokussieren die funktionale Verwendung ethnolektaler Formen. Quist (2008) beschreibt die stilistischen Praktiken jugendlicher Sprecher in Kopenhagen und kommt zu dem Ergebnis, dass multiethnolektale Merkmale zusammen mit anderen Stilmerkmalen (wie Kleidung, Geschmack, Lernorientierung, Freizeitverhalten) zur sozialen Positionierung der Sprecher in Relation zu anderen Gruppen dienen. Kern/ Selting (2006) und Kern (i. Vorb.) machen deutlich, dass prosodische, phonetische und syntaktische Strukturen, die im Deutschen vorhanden sind, im „Türkendeutsch“ eine strukturelle und funktionale Veränderung erfahren und als stilistische Ressource dienen. Ausgehend von der Beschreibung des sprachlichen Repertoires von Migrantenjugendlichen zeigen Keim (2004b, 2007) und Keim/ Knöbl (2007), dass ethnolektale Formen nur einen Teilbereich des Sprachrepertoires ausmachen und dass sie zu diskursiv-rhetorischen Zwecken ebenso wie zum Ausdruck sozialer Identität eingesetzt werden. Madsen (2011), der einen ähnlichen Ansatz wählt, führt vor, wie die von ihm untersuchten jugendlichen Sprecher vom Standarddänischen abweichende Elemente zur interaktionalen Aushandlung einer „rough masculine identity“ verwenden. 5.2.2 Eigenschaften von Ethnolekten Die Basis der Ethnolekte ist die jeweilige Umgangsbzw. Regionalsprache. Die Unterschiede zwischen ethnolektalen Sprechweisen und der Regionalsprache bzw. Umgangssprache liegen auf folgenden sprachlichen Ebenen: a) Prosodie: 8 Als besonders auffällig gilt ein „silbenzählender Rhythmus“ mit der Hervorhebung von Nebensilben (Dirim/ Auer 2004) bzw. ein „staccato“artiges Sprechen (Quist 2005). Keim/ Knöbl (2007) beschreiben einen kurz getakteten Rhythmus und Akzentzuweisungen, die für die Informationsstruktur deutscher Äußerungen nicht passen. Eine sehr detaillierte Beschreibung liefert Kern (i. Vorb.): Anstatt die Akzente nach Aspekten der 8 Der Terminus „Prosodie“ umfasst die Gesamtheit von Eigenschaften des Sprechens wie Akzent, Tonhöhenverlauf, Rhythmus, Sprechpausen, Sprechgeschwindigkeit, Lautqualität etc. Keim_sV-264End.indd 124 10.02.12 16: 57 Ein Blick in die Forschung zu (Multi)Ethnolekten 125 Informationsstruktur zu platzieren (was inhaltlich wichtig ist, wird akzentuiert), werden sie so gesetzt, dass rhythmische Einheiten von fast gleicher zeitlicher Länge entstehen. Die rhythmische Struktur beeinflusst andere sprachliche Strukturen. b) Phonologie und Phonetik: In der Forschung werden vor allem folgende Merkmale genannt: 9 • / ch/ wird zu / sch/ z. B. in ich isch, nicht nischt; • / z/ wird zu stimmlosem oder stimmhaftem / s/ am Wortanfang, z. B. in zusammen susammen; • / r/ im Auslaut wird nicht vokalisiert; z. B. in Vater wird das auslautende / er/ nicht wie üblich als dunkles / a/ ausgesprochen, sondern / r/ wird artikuliert; • stimmlose Reibelaute werden stimmhaft und gelängt: so wird z. B. der / s/ -Laut in außerdem stimmhaft gesprochen, und / sch/ in isch: weiß wird gelängt; • die Differenz zwischen kurzen und langen Vokalen wird reduziert oder aufgehoben. c) Lexik: Am meisten fallen lexikalische Entlehnungen aus den Migrantensprachen auf, z. B. aus dem Arabischen, Kurdischen und Türkischen, wie kız (‚Mädchen‘), lan (‚Mann‘), moruk (‚Alter‘) oder wallah (‚wirklich‘) und Formeln wie hadi (‚los, auf geht’s‘), çüş (‚stopp, hör auf du Idiot‘). Diese Ausdrücke werden auch von Sprechern verwendet, die diese Sprachen nicht sprechen. Außerdem gibt es Regelerweiterungen und Bedeutungsveränderungen; das Verb machen erscheint in Kontexten wie isch mach disch krankenhaus (Keim 2007a) und isch mach disch messer (Wiese 2006). Beschimpfungsformeln werden vor allem aus dem Türkischen übernommen, z. B. siktir lan (verpiss dich). 10 d) Morphologische und syntaktische Merkmale: In den Untersuchungen werden ähnliche Merkmale angeführt, von denen einige häufig, andere eher selten vorkommen. Häufig kommen vor: • Ausfall der Präposition in Lokal- und Richtungsangaben oder die Verwendung einer anderen Präposition: z. B. isch muss toilette, isch geh schwimmbad, isch hab ihn gepackt nach hinten; 9 Ich fasse die Ergebnisse aus Dirim/ Auer (2004), Hinskens (2011), Keim (2011), Keim/ Knöbl (2007), Kern (i.Vorb.) und Wiese (2006) zusammen. 10 Siktir ist eine verkürzte Version der Formel siktitir git (‚lass dich ficken und hau ab‘). Die Bedeutung von siktir kann je nach Verwendungskontext mit ‚verpiss dich‘ oder ‚verfick dich‘ wiedergegeben werden. Keim_sV-264End.indd 125 10.02.12 16: 57 126 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt • Ausfall des Artikels in Nominal- und Präpositionalphrasen: z. B. gib mir kippe, isch war kleinste, bevor=sch von klassenzimmer rausgeh; • Bevorzugung eines anderen Genus, z. B. rischtiges tee, meine fuß; • Häufige Verwendung von Formeln wie isch schwör (zur Bestätigung), isch hass des (zur negativen Bewertung), weiß=du, verstehs=du, hey alder, hey lan etc. Eher selten kommen vor: • Ausfall von Pronomina: wann has=du (sie) fotografiert • Änderung des Valenzrahmens: wenn=sch mit ihm heirate oder er geht mir fremd • Andere Wortstellung: hauptsache lieb isch ihn Die Ähnlichkeit der beobachteten Phänomene lässt die Vermutung zu, dass es sich um generelle Prozesse handelt, die unter Migrations- und Mehrsprachigkeitsbedingungen zu ähnlichen Ergebnissen führen. Wiese (2006) und Wiese et al. (2009) sehen sie als den Beginn sprachlicher Innovationen; sie zeigen, dass im „Kiezdeutsch“ Strukturen, die es mit eingeschränkter Funktion auch im Standarddeutschen gibt, ausgeweitet und generalisiert werden. So kommen z. B. auch im Deutschen Präpositionalphrasen ohne Präposition und Artikel vor, z. B. ich steig Bismarckplatz aus. 5.2.3 Zur Entstehung von Ethnolekten und ihren Funktionen Einige Merkmale können als Transfers (Übertragungen) aus den Erstsprachen erklärt werden, wie z. B. die Veränderung des Valenzrahmens von heiraten in ich heirate mit dir bei türkischstämmigen Sprechern. Die türkische Struktur senimle evlenmek (‚heiraten mit dir‘) gleicht der ethnolektalen Struktur. Doch die meisten Merkmale können nicht aus den Erstsprachen erklärt werden, so z. B. der Ausfall von Präpositionen bei türkischstämmigen Sprechern. Das Türkische hat zwar keine Präpositionen, doch die türkische Entsprechung der deutschen Präposition wird als Postposition oder als Suffix realisiert (vgl. Kap.- 4). Auch die Erklärung, dass es sich bei ethnolektalen Merkmalen um lernersprachliche Phänomene handeln könnte, greift zu kurz. Einige Merkmale kommen zwar auch im fossilisierten Deutsch der Elterngeneration vor (vgl. Kap.- 4), und die im Ethnolekt sichtbaren Vereinfachungen stimmen mit den in Spracherwerbsprozessen beschriebenen Strategien überein. Doch gegen eine lernersprachliche Erklärung spricht die Tatsache, dass Sprecher zwischen ethnolektalen und umgangssprachlichen Strukturen wechseln können, dass sie also die grammatischen Regeln des Deutschen kennen. Für die Beschreibung und Erklärung ethnolektaler Formen erscheint eine Kombination aus linguistischen, soziolinguistischen und diskursanalytischen Ansätzen sinnvoll. Es gibt Gesprächskontexte, in denen Sprecher ethnolektale und umgangssprachliche Formen verwenden, ohne dass eine Funktion der Keim_sV-264End.indd 126 10.02.12 16: 57 Ethnolekt in Migrantenkinder- und Jugendgruppen 127 Wechsel erkennbar wäre. Doch es gibt auch Kontexte, in denen Sprecher sehr deutlich zwischen ethnolektalen und umgangssprachlichen Formen unterscheiden. Das zeigen die Studien, die die diskursiven und sozialen Funktionen rekonstruieren, die mit dem Wechsel erfüllt werden: Sprecher wechseln je nach Adressat und Handlung zwischen Ethnolekt und Umgangssprache; oder sie verwenden Ethnolekt, wenn sie tough und cool erscheinen wollen. Der kontextspezifische Einsatz von Ethnolekt wird als stilistisches Mittel genutzt (zusammen mit anderen Stilmitteln), um Zugehörigkeit zu oder Abgrenzung von anderen Jugendgruppen auszudrücken oder um sich Erwachsenen gegenüber als „anders“ darzustellen. Ethnolekte werden nicht nur von männlichen Jugendlichen verwendet, sondern auch von weiblichen (Quist 2008, Keim 2008). 5.3 Ethnolekt in Migrantenkinder- und Jugendgruppen 5.3.1 Ethnolekt in Kindergruppen Im Rahmen von Sprachförderprojekten, die wir in Mannheim in den 1. Klassen von Grundschulen mit einem hohen Migrantenanteil durchführten (vgl. Kap.- 7), konnten wir bei vielen Erstklässlern eine hohe Variabilität zwischen grammatischen und ungrammatischen Strukturen feststellen. Auffallend war auch, dass einige Kinder zwischen Äußerungen wie isch war Spielplatz und isch geh auf die Spielplatz Frau Meier wechselten. In der ersten Äußerung wird die Präpositionalphrase ohne Präposition und Artikel realisiert, in der zweiten sind beide vorhanden, auch wenn die Spielplatz ein anderes Genus hat. Eine lernersprachliche Erklärung für die Variabilität ist, dass das Kind die Struktur der deutschen Präpositionalphrase zu erwerben beginnt. Doch bei genauerer Beobachtung konnten wir feststellen, dass einige Kinder begonnen hatten, umgangssprachliche und andere Formen situativ zu unterscheiden. Mehler (2009) z. B. zeigt in ihrer kleinen Studie, dass bereits Erstklässler bestimmte Ausdrucksweisen zur Selbststilisierung verwenden. Auf die Rüge der Lehrerin du bist vielleicht ein Angeber reagiert ein türkischstämmiger Junge mit der stolz vorgebrachten Selbstbezeichnung abba coole Angeba * isch bin Gangsta (‚aber ich bin ein cooler Angeber, ich bin ein Gangster‘). Die Formulierung ist durch den Ausfall des Artikels und durch anderes Genus charakterisiert. Mit dieser Selbstcharakterisierung setzt sich der Junge in Kontrast zur negativen Charakterisierung der Lehrerin (Angeber) und verwendet dazu die in der Kindergruppe übliche Ausdrucksweise. Die von Mehler beobachteten türkischstämmigen Jungen sind in ihrem Äußeren (übergroße Jeans, gegelte, hochstehende Haare), in ihrem Verhalten (breitbeiniger, betont lässiger Gang, ausladende, aggressive Gestik) und in ihrer Sprache auf ihre medialen Vorbilder hin orientiert, wie z. B. auf den bekannten Rapper Bushido. Einer der Jungen droht anderen mit aggressiven Gesten (z. B. ‚Kehle durchschneiden‘) und provoziert Erwachsene mit der Keim_sV-264End.indd 127 10.02.12 16: 57 128 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt Anmach-Formel was wills=du lan. Sein Klassenkamerad, der ebenfalls Rapper als Vorbilder hat und durch Schimpfwörter wie Hurensohn, Arschwichser und Drohformeln wie isch fick deine Mutter auffällt, charakterisiert sich selbst durch isch bin voll die Gangsta. (a. a. O., S. 84). Wie die Autorin zeigt, verfügen diese Kinder in anderen Situationen über Sprachformen, die sich bereits in Richtung Umgangssprache bewegen. Im folgenden Beispiel erklärt einer der vorher zitierten Jungen seiner Lehrerin, warum sein Freund traurig ist: er hat geweint * weil sein=Mama nich gekommen is (a. a. O., S. 97). In dieser Äußerung ist die Struktur der Nominalphrase zielsprachlich realisiert (Poss.Pron. + Nomen). D. h. es gibt im untersuchten Material des Jungen einige Belege dafür, dass er situativ zwischen umgangssprachlichen und ethnolektalen Formen zu unterscheiden beginnt. Die Kinder erleben, dass die Lehrenden ethnolektale Formen korrigieren, und sie reagieren sehr unterschiedlich darauf. Im folgenden Beispiel (Keim 2004a) verwendet ein Erstklässler die Differenz zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch zu einem Spiel mit dem Lehrer. Er wendet sich laut und fordernd an den Lehrer mit isch muss Toilette. Als der ihn rügt und eine korrekte Formulierung einfordert, grinst der Junge und reformuliert sein Anliegen: darf ich bitte auf die Toilette gehen. Das zeigt, dass er die erwartete Form kennt, und es ihm offensichtlich Spaß macht (er grinst), vom Lehrer zur Korrektur aufgefordert zu werden. Ein ähnlicher Anlass führt in einer anderen Kindergruppe zu einem anderen Ergebnis. Mehler (2009) beschreibt folgenden Austausch zwischen einer Erstklässlerin Özlem (ÖZ) und der Lehrerin (LE): 01 ÖZ: ah * isch muss toilette 02 LE: wir sind doch fertig Özlem * 03 LE: du kannst auf die toilette gehen 04 ÖZ: kommst du mit mir 05 K ZUR FREUNDIN 06 ÖZ: auf die toilette Auf das ethnolekal formulierte Anliegen von Özlem (isch muss toilette, 01) reagiert die Lehrerin mit einer zielsprachlichen Formulierung (02/ 03). Daraufhin wendet sich Özlem an die Freundin, übernimmt die Formulierungsweise der Lehrerin und produziert eine höfliche Frage an die Freundin (kommst du mit mir auf die toilette, 04/ 06). Während der Junge im vorherigen Beispiel die Differenz zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch zum Spiel mit dem Lehrer verwendet, orientiert sich das Mädchen hier, als es mit der Freundin spricht, an der Ausdrucksweise der Lehrerin. Bei den Formulierungen der Erstklässler können viele Auffälligkeiten als systematische Zwischenstadien auf dem Weg zur Zweitsprache betrachtet werden, und das Alternieren zwischen zielsprachlichen und anderen Formen kann als Indiz dafür gesehen werden, dass die Struktur noch nicht sicher erworben ist. Doch das Alternieren kann auch situative und kontextuelle Bedeutung Keim_sV-264End.indd 128 10.02.12 16: 57 Ethnolekt in Migrantenkinder- und Jugendgruppen 129 haben. Wenn Kinder z. B. zur Selbstdarstellung als „coole“ und „taffe Jungen“ oder beim subversiven Spiel mit dem Lehrer Formen verwenden, die zu den Merkmalen des Ethnolekt gehören, kann das als Hinweis darauf betrachtet werden, dass sie die unterschiedliche soziale Bedeutung von Sprechweisen zu unterscheiden beginnen. D. h. zur Entscheidung, ob es sich um lernersprachliche oder ethnolektale Merkmale handelt, ist es notwendig verschiedene Gesprächssituationen und -kontexte zu erfassen und das aufgezeichnete Material linguistisch und interaktionanalytisch zu untersuchen. 5.3.2 Ethnolekt in Jugendgruppen In multilingualen Schulklassen, in Jugendzentren ebenso wie in Sport-, Theater- und Musikgruppen stabilisieren sich ethnolektale Formen. Als Beispiel dafür ein Ausschnitt aus einer Peergroup-Kommunikation, in der 17-jährige Jugendliche aus einer Berufsvorbereitungsklasse über eine feindliche Gang sprechen. 11 Beteiligt sind die türkischstämmigen Jungen Onur (ON) und Can (CA) und der arabische Rafi (RA). Gemeinsam überlegen die Jungen, wie sie der gegnerischen Gang aus dem Jugendzentrum „Erlenhof “ begegnen sollen. Der Ausschnitt beginnt mit der Information von Onur, dass die Jungen vom „Erlenhof “ sich zu einem (feindseligen) Besuch im eigenen Jugendzentrum angekündigt haben. Dieser Information folgt ein abschätziges Urteil über die Gegner: die sin voll die fische (‚das sind alles Idioten‘): 01 ON: die Erlenhof kommn * die sin voll die fische * also 02 ON: sch=schlag die irgenwann ma 03 RA: oh ma"nn was: * zu blöd mann 04 RA: has=du gehört was UR gesagt hat über uns gehetzt 05 CA: he wer 06 RA: weiß=u die sin fi/ die sin voll die fische un so 07 CA: warum 08 RA: dass uns schlagn wolln un so 09 CA: ja * komm wi"r schlagn die dann 10 CA: wir treffn uns Friesnheimer Insel12 11 RA: kä problem von mir aus ok 12 CA: ok * schicks=du kumpel von dem * soll zu Erlenhof gehn un 13 CA: sagn * wir treffn uns Friesenheimer Insel ok 14 RA: ok 11 Die Klassen im Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) bestehen zu über 90 % aus Migrantenjugendlichen. Die meisten haben keinen oder einen schlechten Hauptschulabschluss. Im BVJ haben sie die Möglichkeit den Hauptschulabschluss nachzumachen bzw. sich auf eine Anlerntätigkeit vorzubereiten. 12 Die Friesenheimer Insel liegt, von Rhein, Altrhein und Neckar umflossen, im Nordwesten Mannheims und ist stark von Industrie geprägt. Keim_sV-264End.indd 129 10.02.12 16: 57 130 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt Der sequenzielle Verlauf der Interaktion ist folgendermaßen: Nach Onurs Beschimpfung der Gegner die sin voll die fische folgt die Androhung von Gewalt: also sch=schlag die irgenwann ma (01/ 02). Darauf reagiert Rafi empört oh mann was: * zu blöd mann (03) und gibt die nächste Information: Er hat von seinem Kumpel UR gehört, dass (sie? ) über uns gehetzt haben (04). Da in der verkürzten Äußerung die Referenz auf die Personen, die gehetzt haben, unklar ist, fragt Can nach: wer (05). Rafi antwortet nicht direkt, sondern beschimpft jetzt die Gegner, wobei er die von Onur verwendete Formel übernimmt: weiß=u die sin fi/ die sin voll die fische un so (06). Diese Reaktion klärt offensichtlich für Can das Referenzproblem, denn er fragt nicht nach, sondern will das Motiv für die Beschimpfung wissen (warum , 07). Rafi liefert als Erklärung dass uns schlagn wolln un so (08), d. h. die Gegner haben mit einem Kampf gedroht. Jetzt reagiert Can routiniert: Er fordert die anderen auf, die Herausforderung zum Kampf anzunehmen (komm wir schlagn die dann, 09), setzt den Ort der Kampfhandlung fest (wir treffn uns Friesenheimer Insel, 10) und erhält Unterstützung von Rafi (kä problem von mir aus ok , 11). Dann bestimmt er die Person, die den Gegnern die Nachricht überbringen soll, dass die Jungen den Kampf annehmen und dass der Austragungsort die Friesenheimer Insel sein wird (12/ 13). Die Art und Weise, wie die Jungen mit der überbrachten Information umgehen, macht folgendes deutlich: Can ist der Anführer der Gruppe; er erfragt die Hintergründe, klärt die Bedeutung der Bedrohung, fordert zur adäquaten Reaktion auf, wartet nicht auf Einwände oder Widerspruch, sondern legt sofort den Schlachtplan fest. Onur und Rafi beantworten seine Fragen und sind ohne Zögern bereit, seinem Plan zu folgen. D. h. der sequenzielle Verlauf der Interaktion und die Beteiligungsformen der Jungen spiegeln die hierarchische Struktur der Gruppe und die Unterschiede in den Gruppenrollen. Doch auf der Ebene von Sprache und Sprechweise ist das Verhalten der Jungen einheitlich. Neben gesprochensprachlichen (Verkürzungen) und dialektalen Merkmalen (z. B. kä problem) fallen einige jugendsprachliche Merkmale auf, die Beschimpfungsformel voll die fische (totale Idioten), die Interjektionen oh mann und zu blöd mann, die elliptische Formulierung über uns gehetzt, wobei hetzen die Bedeutung von ‚Kampf ansagen‘ hat, der Diskursmarker weiß=u (weißt du) und die Vagheitsformel un so. Vor allem aber fallen die ethnolektalen Merkmale auf: der Ausfall von Artikel und Präposition in Präpositionalphrasen in die Erlenhof kommen (die vom Erlenhof kommen) oder wir treffen uns Friesenheimer Insel (wir treffen uns auf der Friesenheimer Insel), der Ausfall des Artikels in schicks=du kumpel von dem (schickst du einen Kumpel von dem) und in zu Erlenhof (zum Erlenhof) und der Ausfall von Personalpronomina in dass uns schlagn wolln un so (dass sie uns schlagen wollen), und in soll zu Erlenhof gehen (er soll zum Erlenhof/ denen vom Erlenhof gehen). Interaktionsstruktur, Formulierungs- und Sprechweise verdeutlichen, dass es sich hier um eine stabile, gut organisierte und hierarchisch aufgebaute Gruppe von Mannheimer Migrantenjugendlichen handelt, die „cool“, routiniert und Keim_sV-264End.indd 130 10.02.12 16: 57 Ethnolekt in Migrantenkinder- und Jugendgruppen 131 in selbstverständlicher Weise mit einer neuen Situation umgeht, der Bedrohung durch die Gegner. Doch nicht nur die Migrantenjugendlichen gebrauchen Ethnolekt, sondern auch die deutschen Klassenkameraden, die zu den Peergroups gehören. Das zeigt das folgende Beispiel, das aus dem Unterricht in einer 8. Hauptschulklasse stammt (Keim 2004a). Beteiligt sind der türkischstämmige Sozialpädagoge Güven (GÜ), die türkischstämmigen Jungen Uğur (UR), Cüney (CÜ) und Seifula (SE) und die deutschen Jungen Ron (RO) und Tobias (TO). Im Beispiel diskutieren die Jungen über die nächste Klassenunternehmung, und zu Beginn des Ausschnitts stellt der deutsche Ron (RO) eine Frage an den Pädagogen Güven: 13 01 K DURCHEINANDER 02 RO: <wann gehen wir ausflug Güven > 03 TO: nächstes jahr 04 GÜ: des wollt 05 GÜ: isch jetz gerade euch vorschlagen un=dann hört kein 06 UR: <ru"he jetz > 07 RO: wir gehn schwimmbad 08 GÜ: mensch zu wir wollen 09 GÜ: einfach dass * ihr sel|ber wie-| 10 SE: |(...) | <Güven ab * darf=sch 11 Ü großer Bruder 12 SE: was sagn wann gehen wir schwimmbad 13 GÜ: >ja: < 14 TO: <ja" geh 15 TO: schwimmbad> 16 CÜ: der will nur wegn seim körper langer 17 K UNTERDRÜCKT LACHEND 18 UR: hahaha 19 K LACHT 20 SE: wegn meim körper * sch=scheiß drauf lan sch=geh nur 21 Ü Mann 22 SE: schwimmbad weil des sportlisch is lan * siktir lan 23 Ü Mann * verpiss dich Mann In Rons Frage wann gehen wir ausflug Güven (02) wird die Richtungsergänzung ausflug (‚zum Ausflug‘) ohne Artikel und Präposition realisiert. Noch bevor Güven antworten kann, liefert Tobias die Information (03); er reagiert nur auf den Inhalt der Frage (nächstes jahr), nicht auf ihre grammatische Form. Auch der Pädagoge Güven reagiert darauf nicht, sondern beginnt seine Vorstellungen zu Gruppenunternehmungen darzustellen (04/ 09). Parallel zu Güven 13 Die türkischsprachigen Elemente sind fett. Keim_sV-264End.indd 131 10.02.12 16: 57 132 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt macht Ron einen Vorschlag für den nächsten Ausflug: wir gehen schwimmbad (07). Seifula unterbricht Güven mit der Bitte um das Wort und übernimmt Rons Vorschlag: wann gehen wir schwimmbad (12). Wieder schiebt sich Tobias dazwischen und fordert Seifula in hämischem Unterton auf: <ja" geh schwimmbad> (14/ 15). Er initiiert ein Frotzelspiel gegen Seifula, das Cüney mit der Motivunterstellung der will nur wegen seim körper langer (16) weitertreibt. Cüney spielt auf Seifulas Eitelkeit an und seinen Stolz auf seinen bodygebildeten Körper, den er im Schwimmbad zur Schau stellen kann. Der angegriffene Seifula entkräftet die Unterstellung und erklärt den Schwimmbadwunsch mit seinem Interesse an Sport: wegen meim körper * isch=scheiß drauf lan * isch geh nur schwimmbad weil des sportlisch is lan * siktir lan (20/ 22). In der gesamten Sequenz werden Präpositionalphrasen ohne Artikel und Präposition verwendet und von den deutschsprachigen Jungen Ron und Tobias ebenso wie vom Betreuer als Normalform behandelt. Dieselben Jugendlichen können gegenüber deutschen Lehrenden aber auch ganz anders sprechen; sie verwenden z. B. Höflichkeitsformen und umgangssprachliche Lokal- und Richtungsangaben wie in der folgenden Bitte an die Klassenlehrerin: darf isch ma bitte auf die Toilette Frau Brand oder in einer Protestformulierung: isch hab die aber auf=m Hof gesehn Herr Wolf. Diese situationelle Differenzierung deutet daraufhin, dass für die Jugendlichen ethnolektale Formen gruppensprachliche Qualität haben; sie signalisieren, dass sie unter sich sind, in „ihrer“ Sprache reden. Dass sie im angeführten Beispiel auch dem Pädagogen Güven gegenüber Ethnolekt verwenden und ihn mit Güven abi adressieren, einer vertrauten türkischen Anredeform für einen Älteren, zeigt, dass sie ihn als ‚einen von uns‘ behandeln. Die Kinder und Jugendlichen lernen im Laufe der Schulzeit die Differenz zwischen ethnolektalen und umgangssprachlichen Formen als kommunikative Ressource zu nutzen, beide Formen kontextspezifisch zu gebrauchen und sie zu diskursiven und sozialen Zwecken einzusetzen. In der Peergroup ist Ethnolekt die Normalform, den deutschen Lehrenden gegenüber wird Umgangssprache erwartet, die die Jugendlichen auch verwenden, wenn sie höflich sind und eine freundliche, aber sozial-distanzierte Haltung den erwachsenen Gesprächspartnern gegenüber ausdrücken. Wenn sie einen Erwachsenen, wie Güven, als dazugehörig behandeln, wird auch ihm gegenüber Ethnolekt gebraucht, und zwar als unmarkierte Form, nicht ironisch, nicht karikierend und nicht provozierend. 5.4 Wechsel zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch: diskursive und sozial symbolische Funktionen Es gibt Wechsel zwischen Umgangsdeutsch und Ethnolekt, die deutlich erkennbare Funktionen haben und eine rekonstruierbare Bedeutung trans- Keim_sV-264End.indd 132 10.02.12 16: 57 Wechsel zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch 133 portieren. Das wird besonders in den Gesprächssituationen deutlich, an denen Jugendliche und außenstehende Erwachsene beteiligt sind und in denen sich die Jugendlichen sowohl an ihre Peers als auch an die Erwachsenen wenden. Wie routiniert und virtuos diese Wechsel ausgeführt und welche zusätzlichen Bedeutungen damit ausgedrückt werden, werde ich im Folgenden auf der Basis von zwei Fallstudien vorstellen. 5.4.1 Fallstudie: Hauptschülerinnen einer 8. Klasse 14 In einer 8. Hauptschulklasse konnte ich Unterrichtssituationen (Lehrer-Schüler-Kommunikation) und Peergroup-Situationen dokumentieren. Die Analyse der aufgezeichneten Gesprächsdaten zeigt, dass die SchülerInnen zwischen offiziellen Situationen und Gesprächen untereinander unterscheiden. In offiziellen Unterrichtssituationen kommen keine ethnolektalen Merkmale vor, aber in den Peergroup-Gesprächen. Die folgenden Beispiele stammen aus einer Aufnahme, bei der türkischstämmige Schülerinnen im Beisein ihrer Lehrerin der Interviewerin über eine Klassenfahrt nach Berlin berichten und Erlebnisse erzählen, die sie aufregend fanden. Das Gespräch findet im Klassenraum der Gruppe statt. Die Mädchen stellen ihre Plakate vor, die sie nach der Fahrt zusammen mit ihrer Lehrerin hergestellt haben. Die Interviewerin war den Mädchen vor dem Gespräch nicht bekannt. Zu Gesprächsbeginn stellt die Interviewerin Fragen, die die Mädchen bereitwillig beantworten. Diese ersten Gesprächssequenzen sind umgangssprachlich formuliert. Im folgenden Ausschnitt kommentiert Canan (CA) einige Fotos der Berlinfahrt und wird von ihren Freundinnen unterstützt: 01 CA: ZEIGT AUF EINZELNE FOTOS 02 CA: also da warn wir noch auf dem weg * un da ham wir ein paar 03 CA: fotos gemacht- * da frau Kranz * die kuckt auf dem zettel da * 04 CA: da bin isch * da war isch am schlafen- * un da warn wir 05 CA: noch-/ wo war des ** ah ja da warn wir in Berlin eh 06 CA: Alexanderplatz * da auch ** da warn wir im <bus> ** un da 07 CA: eine frau Käfer * Anna Käfer Auf die Nachfrage der Interviewerin, wer diese Anna Käfer ist, antwortet Canan: 09 CA: da ham wir eine frau kennen gelernt * von DDR oder Die Vergewisserungsfrage von DDR oder richtet Canan an ihre Freundin Ayla (AL), die die Frage sofort beantwortet: 10 AL: sie hat in de=DDR zeit gelebt 14 Das Folgende ist eine gekürzte Version von (Keim 2007a). Keim_sV-264End.indd 133 10.02.12 16: 57 134 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt Daraufhin ergänzt Dilara (DI): 11 DI: und die hat dann auch in de"m hotel gewohnt wo wir auch 12 DI: gewohnt haben * und wir ham sie halt dort kennen gelernt * 13 DI: sie war auch allei"ne > gell * ja * un wir ham zusammen 14 DI: ausflüge gemacht Darauf schildert die erste Sprecherin Canan die Situation des Kennenlernens: 15 CA: sie hat gefragt wo das schloss Charlottenburg is glaub=sch * 16 CA: un da ham wir gemeint da gehen wir au"ch hin * so ham wir 17 CA: uns kennen gelernt Diese erste, gemeinsam hergestellte Gesprächsphase ist umgangssprachlich formuliert; ethnolektale Merkmale treten nicht auf. Eine Präpositionalphrase ohne Artikel (von DDR oder , 09) in der Vergewisserungsfrage an die Freundin Ayla wird von dieser unaufwändig korrigiert: sie hat in de=DDR zeit gelebt (10). Doch im weiteren Verlauf, als sich unter den Mädchen eine Interaktionsdynamik zu entwickeln beginnt, sie sich wechselseitig ergänzen, ums Rederecht oder um die Darstellung der „richtigen“ Version eines Ereignisses kämpfen, verändert sich das Ausdrucksverhalten. In diesen Interaktionsphasen, die in Anwesenheit der Interviewerin stattfinden, an denen sie aber nicht aktiv beteiligt ist, setzen sich Sprechweisen mit jugendsprachlichen und ethnolektalen Elementen durch. Ein Vergleich mit den Sequenzen zu Gesprächsbeginn zeigt, dass die Mädchen zwischen Situationen unterscheiden, in denen sie umgangssprachliche Formen verwenden und solchen, in denen sie Peergroup-Sprechweisen verwenden. Sie nutzen also die Differenz zur Herstellung unterschiedlicher Gesprächskonstellationen und unterschiedlicher Beziehungsstrukturen: Wenn nur die fremde Erwachsene adressiert ist, werden umgangssprachliche Formen eingesetzt. In den Beiträgen, die nur oder vor allem an die Gruppenmitglieder gerichtet sind, kommen ethnolektale und jugendsprachliche Formen vor, die im Kontrast zu den umgangssprachlichen Formen der Fremden gegenüber eine vertraute Ingroup-Beziehung signalisieren. In diesen Gesprächsphasen gibt es eine reiche Variation zwischen ethnolektalen und umgangssprachlichen Formen. Die Wechsel sind vor allem diskursivrhetorisch motiviert, und es lassen sich einige relativ stabile Muster rekonstruieren; zwei davon werde zwei vorstellen. a) Widerspruch wird durch den Kontrast zwischen Ethnolekt und umgangssprachlichen Formen verstärkt Der Sprachkontrast wird genutzt um inhaltliche Kontraste zwischen zwei Parteien und Positionen hervorzuheben. Im folgenden Beispiel geht es um die „richtige“ Version bei der Lokalisierung eines Fotos. Canan (CA) deutet auf ein Foto und ist sich nicht sicher, ob es am ersten oder am zweiten Tag der Berlinfahrt aufgenommen wurde. Sie richtet sich mit der Frage des war erste=tag * gell * oda= zweite (01) an die anderen Mädchen: Keim_sV-264End.indd 134 10.02.12 16: 57 Wechsel zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch 135 01 CA: und <da"> des war erste=tag * gell |odda=zweite| 02 FI: nei"n des |war nischt | 03 FI: erste=tag nei"n * du hattest 04 AL: <do"ch des war der erste tag> 05 FI: das blaue |hemd an| 06 CA: |ah ja- | des war zweiter tag oder so * Auf Canans Frage reagiert die Freundin Fidan (FI); sie ist sich sicher, dass es nicht der erste Tag war (nei"n des war nischt erste=tag, 02/ 03). Doch Ayla (AL) widerspricht und behauptet: doch des war der erste tag (04). Darauf liefert Fidan ein weiteres Argument für ihre Version: ein bestimmtes Kleidungsstück, das Canan auf diesem Foto trägt (03/ 05). Dieses Argument überzeugt Canan, dass das Foto am zweiten Tag aufgenommen wurde (06). Interessant an diesem Ausschnitt ist, dass Canan in der Frage (01) die Temporalangabe ethnolektal (ohne Artikel) realisiert des war erste= tag * gell * oder zweite und ihre Freundin Fidan, die ihr bei der Entscheidung hilft, die ethnolektale Form übernimmt nei"n des war nischt erste=tag (02/ 03). Ayla, die die Gegenversion zu Fidan liefert, verwendet die umgangssprachliche Form doch des war der erste tag (04, Realisierung des Artikels). Die endgültige Version, die Canan formuliert, nachdem sie von Fidan überzeugt wurde, ist dann wieder ethnolektal realisiert: ah jades war zweite=tag oder so (06). D. h. Canan passt sich auf der Formulierungsebene nicht den umgangsprachlichen Formen ihrer Kontrahentin Ayla an, sondern verwendet zur Herstellung der endgültigen Version ethnolektale Formen. Diese Interaktion zur Klärung der „richtigen“ Version findet ausschließlich zwischen den Mädchen statt. Die Kontrastversion wird umgangssprachlich formuliert, die endgültige Version ethnolektal. b) Ethnolektale Formen werden zur Spannungsererhöhung eingesetzt Dieses Muster wird deutlich bei der Ausgestaltung des Höhepunktes einer Erzählung über ein wichtiges Ereignis. Die Erzählung ist an die Interviewerin gerichtet. Nach einer Discofeier, bei der die Mädchen voll süße Jungen kennen gelernt hatten, und in deren Verlauf auch Alkohol getrunken wurde, trafen sie nachts in ihrem Jugendhotel, in dem auch die Jungen untergebracht waren, auf einen splitternackten und total betrunkenen Jungen. Dieses Ereignis erzählt Dilara (DI) aus ihrer Perspektive: Sie hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits in ihr Zimmer zurückgezogen. Als sie Krach auf dem Flur hörte, ging sie hinaus und entdeckte dort den nackten Jungen: 01 DI: un=dann isch bin kurz in die dusche oder so oder isch 02 DI: hab mein gesischt gewaschen isch hab mein jogging anzug 03 DI: angezogn |ah|un=dann/ * un=dann drau"ßen 04 AL: <ja: > wir gingn |ja| 05 DI: war voll krach |un=dann| isch hab gesagt 06 AL: LACHT HELL |(. ..) | Keim_sV-264End.indd 135 10.02.12 16: 57 136 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt 07 DI: isch wollte schlafen un=dann isch hab gesagt hey sind 08 DI: die schon wieder da ds=war=so=halbe=stunde=später un=sch 09 DI: so des kann sei/ isch kuck oh ma"mmy 10 AL: KREISCHT 11 K& LACHEN 12 IN: was war da 13 DI: < da war eine na"ggische ju"nge > 14 AL: KREISCHT 15 K& HELLES LACHEN 17 IN: wo kam der her 18 DI: un=der war halt besoffen Dilara beginnt mit einer detaillierten Beschreibung: Sie ging unter die Dusche, wusch sich das Gesicht und zog den Jogginganzug an, als sie vor ihrem Zimmer plötzlich Krach hörte (01/ 05). In einem Selbstgespräch stellt sie dar, wie sie sich den plötzlichen Krach zu erklären versuchte: Sie fragte sich, ob der Rest der Gruppe gerade heimgekommen ist, und ein Blick auf die Uhr bestätigte diese Vermutung (05/ 09). In dieser kleinschrittigen Schilderung von Handlung und Selbstgespräch wird der Höhepunkt der Erzählung wirkungsvoll vorbereitet. Hier kommen keine ethnoktalen Merkmale vor. Dann wird der Höhepunkt durch Spannung steigernde Mittel gestaltet. Er besteht aus der minimalen Äußerung isch kuck (09), die kreischendes Lachen hervorruft, und der stark wertenden Interjektion oh ma"mmy, auf die die Interviewerin (IN) mit gespannter Nachfrage reagiert (was war da , 12). Dann folgt die langsam und bedeutungsvoll gesprochene Feststellung < da war eine na"ggische ju"nge > (13, starker Akzent auf na"ggische und ju"nge). Die Äußerung ist durch das femine Genus ethnolektal markiert: eine na"ggische junge. Mit dieser Höhepunktgestaltung ist die Erzählerin ausgesprochen erfolgreich: Die Mädchen, die das Ereignis je bestens kennen, fiebern am Höhepunkt mit (das zeigen Aylas Versuche zur Beteiligung) und belohnen die Darstellung durch kreischendes Lachen. Interessant ist, dass dieselbe Sprecherin in ihrer Antwort auf die Nachfrage der Interviewerin wo kam der her (17) die umgangssprachliche Variante wählt: un=der war halt besoffen (19). Sie kennt die umgangssprachliche Form (mask. Genus), setzt sie aber nur in Reaktion auf die Frage der Interviewerin ein, während sie die ethnolektale Form (fem. Genus) zur Gestaltung des Erzählhöhepunktes wählt. Neben ethnolektalen Merkmalen, die mit umgangssprachlichen variieren, gibt es aber auch stabile Merkmale, die nicht variieren. Interessant ist, dass es sich dabei um mit Adjektiven erweiterte Nominalphrasen und um Präpositionalphrasen handelt, deren Präposition den Dativ erfordert. Dazu einige Beispiele: Keim_sV-264End.indd 136 10.02.12 16: 57 Wechsel zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch 137 • sie hatte mit türkn * also mit türkische frauen gespräch gehabt • die frauen hattn voll stress mit ihre männer wegn ihre probleme • da war alles da * von jüdische essen zu türkische und eh zu deutsche essen • der junge hat zu unser mädels gesagt • in diese fünf minuten Diese Formen kommen in den grammatischen Bereichen vor, die allen Lernern des Deutschen Probleme bereiten und die im Spracherwerbsprozess relativ spät erworben werden (vgl. Tracy 2000): Flexionsformen der NP im Dativ und der Adjektive in attributiver Position. Dass die jungen Migrantinnen sich diese Strukturen (noch) nicht angeeignet haben, könnte damit zusammenhängen, dass der sprachliche Input nicht eindeutig war. Auffallend ist, dass die von der Zielsprache abweichenden Formen großteils mit dialektalen Formen übereinstimmen. Ein Vergleich zwischen den Äußerungen der Mädchen (a) und denselben Äußerungen in Mannheimer Dialekt (b) übertragen, zeigt die Ähnlichkeit zwischen beiden: 1. a) sie hatte mit türken * also mit türkische frauen gespräche gehabt b) sie hatte mit türke * also mit türkische fraue gespräche gehabt 2. a) die frauen hatten voll stress mit ihre männer wegn ihre probleme b) die fraue hatte voll stress mit ihre männer wege ihre probleme 3. a) der junge hat zu unser mädels gesagt b) der junge hat zu unsre mädels gesagt 4. a) in diese fünf minuten b) in dene fünf minute Bei den Formulierungen der Mädchen fällt im Vergleich zu den dialektalen Realisierungen auf, dass sie eine Mischung aus Umgangsdeutsch und Dialekt darstellen. Die fett gedruckten Teile der Mädchenäußerungen stimmen mit den dialektalen Realisierungen überein (ebenfalls fett gedruckt), d. h. der Einfluss des Mannheimer Dialekts kann diese Teile der Mädchenäußerungen erklären helfen. Die Sprecherinnen sind von Kindheit an mit dialektalen Formen konfrontiert. Da sie zwischen den ethnolektalen und dialektalen Formen nicht variieren, scheint es ihnen (noch) nicht gelungen zu sein, sich das jeweilige Regelsystem zu erschließen. D. h. zu den Strukturbereichen, die beim Zweitspracherwerb Deutsch ohnehin schwierig sind und deren Erwerb durch dialektalen Einfluss noch erschwert werden kann, müssten Migrantenkinder und -jugendliche konstant ein reiches und vielseitiges Angebot erhalten, damit sie zielsprachliche Formen erwerben können. Keim_sV-264End.indd 137 10.02.12 16: 57 138 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt 5.4.2 Fallstudie: Murat und seine Freunde 15 Männliche Jugendliche benutzen ebenfalls die Differenz zwischen umgangssprachlichen und ethnolektalen Formen und wechseln zwischen beiden zur Herstellung diskursiv-rhetorischer und sozialer Funktionen. Die folgenden Gesprächsbeispiele stammen von dem 17-jährigen Murat. Er ist im Migrantenwohngebiet geboren und zur Grund- und Hauptschule gegangen. Bereits mit Beginn der Hauptschule ist für ihn das Leben nach der Schule viel wichtiger als das in der Schule. Er und seine Freunde schwänzen, bleiben sitzen und machen einen schlechten Hauptschulabschluss. Murat ist eloquent und hat ein weites sprachliches Repertoire, das Umgangsdeutsch, Mannheimerisch, deutschtürkische Mischungen und ethnolektale Formen umfasst. Das erste Gespräch mit Murat findet auf dem zentralen Spielplatz des Migrantenwohngebiets statt. Während des Gesprächs kommen drei seiner Freunde dazu; in dieser Gesprächsphase erzählt Murat von einer Schlägerei, zu der ihn ein Rivale, der neue Freund seiner Ex-Freundin, aufgefordert hatte. Kurze Zeit bevor der Kampf stattfinden sollte, hatte Murat (MU) einen Unfall; sein Fuß musste gegipst werden, er konnte nur mit Krücken laufen, nahm aber trotzdem die Herausforderung zum Kampf an. In der Kampferzählung, die gleichzeitig an die Interviewerin und an die Freunde gerichtet ist, treten ethnolektale neben umgangssprachlichen Formen auf. Eine detaillierte Analyse zeigt, dass ethnolektale Formen nur bei der direkten Schilderung des Kampfes vorkommen; bei Hintergrundinformationen, Motiverklärungen etc. kommen sie nicht vor. Im folgenden Gesprächsausschnitt sind die Strukturteile, die zur reinen Kampfschilderung gehören, fett gedruckt, die übrigen Teile mit Hintergrunddarstellung und Motiverläuterung recte; eine Übergangsequenz ist fett und unterstrichen: 01 MU: un dann halt bin isch rau"s * hab noch krü"ckn * 02 MU: un dana"ch* hat=a gemeint di"ng * hald der wollt 03 MU: u"nbedingt> en kampf mit mir un=isch 04 MU: konnt net sagn isch hab/ isch kann jetz net 05 MU: weil mein fuß gebrochn is odda so * bin 06 MU: isch trotzdem hingegangn obwohl meine fuß noch 07 MU: zusammngenäht war * da hab=isch halt zur sischerheit 08 MU: einn schlagstock mitgenommn * falls es 09 MU: wirklisch schiefgehn sollte odda so 10 MU: der is halt auf misch drauf * hab=isch 11 MU: schlagstock rausgezogn * hab=isch ihm vom 12 MU: hals so gepackt nach hintn * hab=sch 13 MU: den gepa"ckt (…) wollt wegrennn * dann 14 MU: hat=a mir fuß gestellt In diesem Erzählausschnitt gibt es verschiedene Formulierungsmuster, die für die folgenden Strukturteile verwendet werden: 15 Für eine ausführliche Beschreibung dieser Fallstudie vgl. Keim/ Knöbl (2007). Keim_sV-264End.indd 138 10.02.12 16: 57 Wechsel zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch 139 • Verdichtete Vordergrundschilderungen (fett gedruckt), in denen der Kampf kleinschrittig dargestellt wird: Sie bestehen aus kurzen Äußerungen mit Verberststellung, die unverbunden aneinander gereiht sind, 16 und sie haben ethnolektale Merkmale (Ausfall des Artikels in schlagstock und fuß, anderer Kasus ihm gepackt und andere Präposition vom hals). • Hintergrunddarstellungen (recte gedruckt), in denen Motive erläutert und die Handlungen begründet werden: Sie sind charakterisiert durch komplexe Satzstrukturen (Kausal-, Temporal- und Konzessivsätze) und haben keine ethnolektalen Merkmale. • Eine Art Übergangssequenz zwischen Hintergrund und Vordergrund (fett und unterstrichen gedruckt), die charakterisiert ist durch Merkmale aus beiden Formulierungsmustern: Verberststellung (bin isch, 05) und anderes Genus (meine fuß, 06) gehören eher zum Muster für Vordergrunddarstellung, das komplexe Satzgefüge mit der Konjunktion obwohl (06) eher zum Muster für Hintergrunddarstellung. Der Kontrast zwischen den Formulierungsmustern für Vordergrund und Hintergrund wird besonders deutlich bei den Nomina, die in der Hintergrundschilderung mit Artikel (mein fuß 05 und einn schlagstock 08), in der Vordergrundschilderung jedoch ohne Artikel (fuß 14 und schlagstock 11) realisiert sind. In einer anderen Erzählsituation mit Murat, in der nur die Interviewerin anwesend ist, kommen keine ethnolektalen Merkmale vor, auch nicht in verdichteten Vordergrundschilderungen. Im folgenden Beispiel erzählt Murat über einen Konflikt mit seinen Lehrern: Nachdem er mehrere Tage die Schule geschwänzt hatte, wurde er zum Gespräch beim Rektor gebeten. Anwesend waren sein Klassenlehrer, der Rektor und der Konrektor. Alle drei wollten ihn - so empfand er es - als faulen und feigen Schüler fertigmachen: 01 MU: dann hat mein lehrer gesagt * eigentlisch will=isch 02 MU: ja jedem he"lfen bei der prüfung * aber bei so einem 03 MU: schleschten schüler wie dir wi"ll isch ja gar nisch 04 MU: helfen es lohnt sisch gar nischt >und so< * <halt 05 MU: i"mmer so * un=dann hat ei"ner was gesagt und alle 06 MU: drei ham misch ausgelacht * dann bin=isch au"sgerastet 07 MU: hab=isch gemeint * isch hab keine lust mehr misch 08 MU: mit eusch zu unterha"ltn und bin gega"ngn (…) Als Murat das Rektorenzimmer verlässt, hört er, noch bevor er die Tür geschlossen hat, dass die drei Lehrer sich über ihn lustig machen: 16 Reihungen von Hauptsätzen mit Erststellung des Verbs bezeichnet Günthner (2006), zitiert in Keim/ Knöbl (2007) S.-185ff., als „uneigentliche Verbspitzenstellung“ und als „dichte Konstruktionen“. Sie erscheinen vor allem in mündlichen Erzählungen in den Teilen, die einen hohen Grad an Detaillierungen und Vergegenwärtigungen erfordern. Keim_sV-264End.indd 139 10.02.12 16: 57 140 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt 12 MU: die ham misch ausgelacht * ja" dann bin=isch rei"n * 13 MU: hab zu meinem lehrer gesagt wenn noch ei"ner von eusch/ 14 MU: also ri"schdisch au"sgerastet isch konnt net mehr isch 15 MU: hätt fast geweint * isch bin rei"nhab gemeint wenn 16 MU: ei"ner von eusch noch ei"nmal über misch lacht * 17 MU: dann seid ihr tot * isch mach eusch kaputt 18 MU: >hab=isch gemeint< * halt * aus wu"t * 19 MU: un=isch hab meine sachen gepackt an dem tag und 20 MU: bin weg von der schule * einfach so rau"s In dieser dramatischen Schilderung mit szenischen Darstellungen kommen viele Strukturmerkmale für erzählerische Verdichtung vor: kurze Äußerungen, unverbunden aneinander gereiht, Verberststellung (hab=isch gemeint 07, hab zu meinem lehrer gesagt 13, hab gemeint 15), Verkürzungen (halt aus wut 18; einfach so raus 20) aber keine ethnolektalen Merkmale. Murat schildert das Konfliktereignis spannend und emotionsgeladen. Ein Vergleich der beiden Konfliktschilderungen, die vorherige Kampferzählung, die an die Freunde und die Interviewerin gerichtet ist, und die Erzählung über die Auseinandersetzung in der Schule, die nur an die Interviewerin gerichtet ist, legt die Vermutung nahe, dass die Verwendung ethnolektaler Formen in der Kampferzählung mit der Spezifik der Erzählsituation zusammenhängt: Murat muss auf das unterschiedliche Hintergrundwissen der Adressaten Rücksicht nehmen; die Interviewerin hat kein Hintergrundwissen über das Ereignis, die Freunde dagegen wissen Bescheid. Außerdem muss er unterschiedliche Beziehungsstrukturen herstellen und diese sprachlich anzeigen. Ethnolektale Merkmale erscheinen nur in der Vordergrundschilderung des Kampfes, d. h., diese Teile sind in besonderer Weise auch an die Freunde gerichtet. Komplexe, umgangssprachliche Formen dagegen erscheinen in den Hintergrunderläuterungen, die an die Interviewerin gerichtet sind, die z. T. auch von ihr evoziert werden und auf die sie reagiert (Keim/ Knöbl 2007, S. 179ff.). Diese ausgebauten Formen werden also verwendet, um der Interviewerin gegenüber eine freundliche, aber sozial eher distanzierte Beziehung anzuzeigen. 5.4.3 Mediale Stilisierungen von Ethnolekten Während die vorher dargestellten Jugendlichen virtuos zwischen verschiedenen Sprachformen wechseln und damit unterschiedliche Beziehungen und soziale Rollen anzeigen, werden Migrantenjugendliche in den Medien meist stereotyp, eindimensional und holzschnittartig charakterisiert. Keim und Androutsopoulos (2000) skizzieren als erste den Zusammenhang zwischen ethnolektalen Formen und der Darstellung von Migrantenjugendlichen in den Medien, und Androutsopoulos (2001a und 2001b) beschreibt den Verarbeitungsweg von der „Straße“ zu den Medien. Dabei werden ethnolektale Merkmale, die die Jugendlichen verwenden, aufgegriffen, gebündelt, modifiziert und zur Stilisierung bestimmter sozialer Typen eingesetzt. Bezeichnungen für medial konstruierte Keim_sV-264End.indd 140 10.02.12 16: 57 Wechsel zwischen Ethnolekt und Umgangsdeutsch 141 Sprechweisen sind z. B. Türkenpidgin, Migrantenslang, Türkenslang und vor allem Kanaksprak (Androutsopoulos 2007); sie lassen die Figuren „komisch“ und „fremd“ erscheinen und kommen bei den Jugendlichen nicht vor: Bei „Dragan und Alder“ z. B. die durchgängige Ersetzung der Artikel das/ der durch den oder dem z. B. in den is so uldra geil oder den is von lasdern gefalln (Sketch von „Mundstuhl“, zit. aus Keim 2004b), die sehr häufige Verwendung von korrekt, krass, konkret zur Intensivierung, oder Neuschöpfungen wie brontal aus Filmen von „Erkan und Stefan“. Die sprachlichen Eigenschaften variieren zwischen den Produzenten und den Genres erheblich, doch bei der Konstruktion einer Figur werden sie konsequent angewandt. Die medialen Stilisierungen haben ihre Wurzeln im „primären“ Ethnolekt, erweitern ihn frei und, im Ggs. zum primären Ethnolekt, werden die Merkmale konsistent und dicht angewandt (Androutsopoulos 2001b; Auer 2003; Keim 2004b). Doch die soziale Typisierung der jungen Migranten hängt vom Medium ab. Es gibt Filme wie „Kurz und Schmerzlos“ und „Gegen die Wand“ von Fatih Akin oder „Nachttanke“ von Samir Nasr, die eine authentische Darstellung der Lebenswelt der jungen Migranten und ihrer Sprach- und Kommunikationsformen anstreben. In solchen Produktionen kommen auch sprachliche Mischungen vor, z. B. in den Filmen von Akin. Daneben gibt es realitätsfernere Produktionen in Film, Comedy und Cabaret, die die dargestellten Figuren als „fremd“, „sozial-abweichend“, „ungebildet“, „angeberisch-machohaft“ oder „albern“ stilisieren und karikieren (Keim 2004b). 17 Die Kenntnis medialer Stilisierungen ist unter jungen Deutschen und unter Migrantenjugendlichen weit verbreitet. Wie Migrantenjugendliche mit negativen Stilisierungen in medialen Konstrukten umgehen, haben zwei Fallstudien gezeigt: Keim (2004b) beschreibt, wie 14jährige Hauptschüler unterschiedlicher ethnischer Herkunft in der Ingroup-Kommunikation mit den medialen Figuren „Dragan“ und „Alder“ spielen und sie dem Lehrer gegenüber in subversiver Funktion einsetzen. Keim und Knöbl (2007) beschreiben den sukzessiven Abgrenzungsprozess, den türkischstämmige Jugendliche gegenüber einem Fernsehjournalisten vornehmen, der sie mit dem medialen Konstrukt Kanak- 17 Viele mediale Figuren wurden von Nicht-Migranten in Szene gesetzt: z. B. „knocking on heaven’s door“ (1997) mit dem deutschen Moritz Bleibtreu in der Rolle des „arabischen Gangsta Abdul“, die (Blödel)Filme von „Erkan und Stefan“ (Erkan stammt aus einer binationalen Familie, Stefan ist Deutscher) und die Comedies des Duos „Mundstuhl“, zwei Deutschen aus Frankfurt, die migrantische „Asos“ und „Prolls“ karikieren. Es gibt auch Comedians mit Migrationshintergrund, z. B. Kaya Yanar in der Fernsehsendung „was guckst du“ oder den in Mannheim sehr bekannten Bülent Ceylan. In Medienberichten über problematische Ereignisse im Zusammenhang mit Migrantenjugendlichen beobachtet Androutsopoulos (2007) eine zunehmende Tendenz zu „stereotypen Leitmerkmalen“. Das „schlechte“ Deutsch wird reduziert auf Koronalisierung und Artikeltilgung und wird in den negativen Berichten als zentrales Merkmal der Migrantenjugendlichen dargestellt (2007, S.-149). Keim_sV-264End.indd 141 10.02.12 16: 57 142 Das Deutsch der Jugendlichen: Umgangssprache und Ethnolekt sprak konfrontiert (vgl. Kap.- 6.8.1). In diesem Prozess distanzieren sich die Jugendlichen deutlich von den medialen Produkten. 5.5 Zusammenfassung und Ausblick Wie der vorherige Blick in die Forschung zu (multi)ethnolekalten Varietäten und Stilen gezeigt hat (5.2), ist die Entwicklung von Ethnolekten bzw. Multi- Ethnolekten in vollem Gange. Innerhalb von multiethnischen Lebenswelten gibt es eine schwer zu entwirrende Variation innerhalb und zwischen Varietäten, bei gleichzeitig deutlich erkennbaren Gemeinsamkeiten zwischen Ethnolekten in verschiedenen europäischen Ländern, an deren Ausbildung unterschiedlich strukturierte Sprachen beteiligt sind. Wir konnten zeigen, dass Migrantenjugendliche über ethnolektale und umgangssprachliche Formen verfügen und die Differenz als kommunikative Ressource nutzen. Interessant ist, dass die Jugendlichen, die unterschiedlichen Peergroups angehören, sie zu ähnlichen Zwecken verwenden. Gegenüber außenstehenden Erwachsenen, zu denen sie eine freundliche, sozial-distanzierte Beziehung herstellen, verwenden sie Umgangsdeutsch. In Kommunikationssituationen mit Zweifachadressierungen, an Mitglieder der Peergroup und an außenstehende Erwachsene, dient die Variation zwischen ethnolektalen und umgangssprachlichen Formen sozial-symbolischen und diskursiven Zwecken: zur Differenzierung zwischen Ingroup-und Outgroup-Beziehungen, zum Ausdruck von Zugehörigkeit zur „Ghetto“-Jugendszene oder zur Abgrenzung davon und zur Kontrastherstellung und Spannungserhöhung. Der virtuose Umgang mit beiden Sprechweisen setzt Kompetenz voraus und ein Wissen über den adäquaten Gebrauch in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zwecken. Beides haben die vorgestellten Jugendlichen in hohem Maße erworben. Auf der Basis bisheriger Beobachtungen kann man davon ausgehen, dass Jugendliche, wenn sie mit außenstehenden Erwachsenen sprechen, denen sie respektvoll begegnen und von denen sie sich respektiert fühlen, Umgangsdeutsch bevorzugen bzw. sich bemühen, es zu sprechen. 18 Aus den bisherigen Befunden ergibt sich eine Reihe von weiterführenden Fragen. Aus der Perspektive der Bildungsinstitutionen ist z. B. von Interesse, ob alle Migrantenjugendlichen die Gelegenheit haben, derart umfangreiche sprachliche Repertoires auszubilden, oder ob es Lebenswelten gibt, in denen die Jugendlichen ethnolektale Formen bevorzugen bzw. keine weiteren Deutschvarietäten ausbilden. Nach Beobachtungen von Lehrenden scheint es solche Gruppen zu geben, in denen das Sprachrepertoire nur eine geringe situationelle Differenzierung zeigt und die, wenn sie Deutsch sprechen, bevorzugt Ethnolekt 18 Das sind die Erfahrungen von Hausaufgabenhelfern, Sprachförderkräften aus Haupt- und Realschule, von Lehrkräften und SozialpädagogInnen. Keim_sV-264End.indd 142 10.02.12 16: 57 Zusammenfassung und Ausblick 143 wählen. Dazu müssten weitere Untersuchungen durchgeführt werden, in den bisherigen Studien sind solche Fälle nicht beschrieben. Aus einer allgemeinen gesellschaftlichen Perspektive ist von Interesse, ob sich ethnolektale Formen zu überregionalen Gruppensprachen entwickeln, und wer die Träger einer solchen Entwicklung sein könnten. Dazu ist es notwendig mehr über die Bewertung, das Prestige oder das Stigma von ethnolektalen Formen in der Mehrheitsgesellschaft zu erfahren, über ihre Verbreitung in Mode und Werbung, in Jugendmagazinen, Fernseh-Jugendsendungen, Comedies und Spielfilmen, in Literatur und Musik, in denen „neue Trends“ gesetzt werden. Über solche „Trendsetter“ könnten auch Einflüsse auf die Standardsprache möglich sein. Keim_sV-264End.indd 143 10.02.12 16: 57 Kapitel 6 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing Einleitung Wer in Mannheim oder anderen Großstädten mit der Straßenbahn durch Gebiete fährt, in denen nach Schulschluss Kinder und Jugendliche in die Bahn stürmen, hört ein vielsprachiges Stimmengewirr, in dem deutsch-türkische, deutsch-russische oder deutsch-italienische Äußerungen erkennbar sind. In schnellem Tempo wird zwischen Elementen aus verschiedenen Sprachen gewechselt, und man hört Äußerungen wie 1. sus lan hal=die klappe1 sei still Mann, halt die Klappe 2. n=aber moruk was geht ab was gibt’s Neues Alter, was geht ab 3. Matheö retmeni çok kompliziert (Hinnenkamp, 2005, S.-73) der Mathelehrer ist sehr kompliziert Als Linguistin ist man begeistert von der Vielsprachigkeit und beobachtet fasziniert mit welcher Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit die Jugendlichen mit zwei und mehr Sprachen umgehen. Aus der Perspektive von Lehrkräften jedoch wird das Vermischen von Sprachen ganz anders beurteilt. Lehrkräfte, die ich befragt habe, sehen Mischungen z. B. als Ausdruck doppelter Halbsprachigkeit; die Jugendlichen seien unfähig, sich in der einen oder anderen Sprache angemessen auszudrücken. Aus der Perspektive der Kontakt- und Soziolinguistik sind Wechsel zwischen Sprachen und Sprachmischungen das „natürliche“ Resultat eines Lebens in multilingualen Gemeinschaften; sie kann man in Regionen antreffen, wie z. B. im Elsass, in der Schweiz, in Südtirol oder in Luxemburg. Sie entwickeln sich auch überall dort, wo in Folge von Migration neue multiethnische Gemeinschaften/ Gesellschaften entstanden sind bzw. entstehen. Sprachliche Mischungen sind nicht Ausdruck doppelter Halbsprachigkeit, sondern zeigen die sprachliche Flexibilität der Sprecher und ihr erstaunliches sprachliches Können. Sie können auch zum Symbol einer neuen sozial-kulturellen Identität werden, die jenseits ethnischer Grenzen bestimmt wird. Wie die deutsch-türkischen Mischungen aussehen, die Migrantenkinder und Jugendliche alltäglich verwenden, wie sie strukturiert sind, wie Elemente 1 Die deutschsprachigen Elemente sind fett, die türkischsprachigen recte. Keim_sV-264End.indd 144 10.02.12 16: 57 Das Türkische der jungen Generation 145 aus beiden Sprachen verknüpft werden und welche Funktion das in Gesprächen haben kann, werde ich im folgenden Kapitel zeigen. Die Mischungen der türkischstämmigen Jugendlichen werden aus deutschen und türkischen Elementen gebildet. Die deutschen Anteile bestehen aus umgangssprachlichen und ethnolektalen Elementen, wie ich sie in Kap.- 5.1 beschrieben habe. Wie die türkischen Anteile strukturiert sind, zeige ich in Abschnitt 6.1. Nach einem kurzen Blick in die Forschung zu Code-switching und Code-mixing (6.2) folgt die Darstellung der Mischungspraxis der türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen; zunächst die Anfänge des Mischens im multilingualen Kindergarten (6.3), dann die ausgeformte Mischungspraxis in Jugendgruppen. In (6.4) zeige ich, wie Elemente aus beiden Sprachen verknüpft werden, und gehe dann der Frage nach, zu welchem Zweck von einer Sprache in die andere gewechselt wird (6.5-6.7) und welche Bedeutung Mischungen für die Sprecher haben können (6.8). 6.1 Das Türkische der jungen Generation Zur Türkischkompetenz der jungen Generation in Deutschland gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die auf geschriebenen Materialien basieren (Erzählungen, Bildergeschichten etc.), und die z. T. große Unterschiede zwischen Migrantentürkisch und Türkeitürkisch feststellen. Da die meisten Kinder in Deutschland nur gesprochene Varietäten des Türkischen als Erst- oder Zweitsprache erwerben und kein Schrifttürkisch, 2 Türkisch für sie also keine Schul- und Bildungssprache ist, kann die türkeitürkische Schriftsprache keine angemessene Vergleichsgröße sein, wenn man Aussagen über ihre Türkischkompetenz machen will. Außerdem lassen solche Vergleiche die Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit außer Acht. So kommt z. B. Rehbein (2001) auf der Basis schriftlicher Texte von Migrantenkindern zum Ergebnis, dass ihr Türkisch sich unter dem Einfluss des Deutschen verändert hat. 3 Carol Pfaff (1991/ 1999) gehört zu den wenigen AutorInnen, die das gesprochene Türkisch von Kindern untersucht und gezeigt hat, dass die türkische Morphologie stabil und relativ unbeeinflusst von deutschsprachigen Strukturen ist. Nur bei Kindern, für die Deutsch die dominante Sprache ist, gibt es Besonderheiten: Die im Türkischen zur Bildung von Nebensätzen notwendigen Partizip- und Gerundformen fehlen und der Valenzrahmen türkischer Verben ist teilweise verändert. 2 Der so genannte „Muttersprachenunterricht“ für Migrantenkinder, in dem sie Standardtürkisch lernen könnten, findet zumindest in Baden-Württemberg am Nachmittag statt; er ist nicht versetzungsrelevant und wird von vielen Kindern nicht angenommen. 3 Der Autor stellt fest, dass die für synthetische Sprachen charakteristischen Merkmale zugunsten von Merkmalen analytischer Sprachen zurückgehen (a. a. O., S. 15ff.). Keim_sV-264End.indd 145 10.02.12 16: 57 146 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing Zur Charakterisierung des Türkischen der jungen Generation in Mannheim greife ich auf die Untersuchungen von Cindark/ Aslan (2004) und Sirim (2009) zurück, die auf umfangreichen Gesprächsmaterialien basieren. Cindark/ Aslan fokussieren drei grammatische Bereiche, die in der bisherigen Forschung als auffallend hervorgehoben wurden: der Valenzrahmen von Verben, die Verwendung von (anaphorischen) Pronomina und von Fragepartikel in Entscheidungsfragen. Sie zeigen, dass im Gesprächsmaterial der Jugendlichen zwischen 94 % und 97 % korrekt produziert und nur 3-6 % auffällig sind. Eine genaue Analyse der Auffälligkeiten zeigt, dass die meisten durch Übergeneralisierung einer im gesprochenen Türkisch geltenden Regel erklärt werden können, und nur in einigen Fällen Übertragungen aus dem Deutschen eine Rolle spielen können. Regeln, die in einem türkischen Dialekt üblich oder möglich sind, werden im Türkischen der Migranten übergeneralisiert, wobei Einflüsse aus dem Deutschen verstärkend wirken könnten. Da die Jugendlichen die morphologischen und syntaktischen Regeln des Türkischen in hohem Maße beherrschen, sehen- die Autoren keine Anzeichen für die Ausbildung eines „Deutschlandtürkisch“. Die wenigen Abweichungen von der Norm (3-6 %) genügen allerdings, um die jugendlichen Sprecher für Türkeitürken auffällig zu machen. Eine Informantin aus der Türkei, der das Gesprächsmaterial vorgelegt wurde, stellte z. B. fest, dass die Fragepartikel fehlen, obwohl das nur für 3 % der Fälle galt. Die normgerechten Realisierungen (97 %) fielen ihr nicht auf. Hier wird ein Mechanismus deutlich, der auch bei Urteilen kompetenter Sprecher über Zweitsprachensprecher immer wieder zu beobachten ist: Geringfügige Abweichungen werden zu grundlegenden Defiziten generalisiert, während normgerechte Realisierungen nicht in den Blick kommen. Ähnlich wie Cindark/ Aslan stellt auch Sirim (2009) fest, dass die von ihr untersuchten Jugendlichen die türkische Morphologie und Syntax im Wesentlichen beherrschen. Die wenigen Auffälligkeiten (2-7 %) erklärt auch sie durch eine Ausweitung bzw. Generalisierung von Regeln, die im gesprochenen Türkeitürkisch unter bestimmten Bedingungen gelten. Im Bereich der Lexik dagegen stellen die AutorInnen größere Unterschiede zum gesprochenen Türkisch fest: In vielen Sach- und Wissensbereichen haben die Migrantenjugendlichen lexikalische Lücken, es gibt semantische Unter- und Überdifferenzierungen, Wortfür-Wort Übertragungen aus dem Deutschen, sowie den Gebrauch veralteter Formeln (Aslan 2005, Cindark 2010, Sirim 2009). Da die Jugendlichen den Sachwortschatz in der Schule in Deutsch erwerben, fehlt der entsprechende türkische Wortschatz. Durch den Einfluss des Unterrichts entwickelt sich der Wortschatz asynchron: Im Deutschen wird er größer und differenzierter, im Türkischen bleibt er meist auf die Anforderungen der Familienkommunikation begrenzt. Für eine Ausdifferenzierung im Türkischen gibt es im Alltag der Jugendlichen auch keine Notwendigkeit, da sie jederzeit ins Deutsche wechseln können. Dieser Befund kann erklären, warum in türkischen Äußerungen deutsche Wörter eingebaut werden und eine gemischte Äußerung entsteht. Betrachtet Keim_sV-264End.indd 146 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zu Code-switching und Code-mixing 147 man die Gespräche der Jugendlichen jedoch genauer, erkennt man, dass lexikalische Lücken nicht allein die Ursache für eine ausgeprägte Mischungspraxis sind. In vielen Fällen werden alltägliche deutsche Wörter, also keine Sach- oder Fachausdrücke, in türkische Äußerungen eingebettet, über die die SprecherInnen auch im Türkischen verfügen, wie Bahn, Haltstelle, Treppe, Schule, Bilder etc. (vgl. Balcı 2005). Dass das deutsche Wort zuerst gewählt wird, hängt mit Alltagsroutinen, mit Präferenzen oder besonderen Zusatzbedeutungen zusammen. Umgekehrt gibt es eine Reihe thematischer Bereiche, in denen die SprecherInnen türkische Bezeichnungen bevorzugen, weil das Türkische besser klingt, ihnen vertrauter ist, oder sie ein bestimmtes Gefühl nur in Türkisch ausdrücken können. Aus der intensiven Mischungspraxis lassen sich also keine direkten Rückschlüsse auf das lexikalische Wissen der jungen SprecherInnen ziehen. In einer neuen Untersuchung auf der Basis mündlicher und schriftlicher Türkischtexte von 6- und 13-jährigen Migrantenkindern (Nacherzählungen, Erlebniserzählungen, Anleitungen zum Gebrauch eines Mobiltelefons) stellen Şimşek/ Schröder (2011) strukturelle Auffälligkeiten im Vergleich zum Türkeitürkischen fest. Sie liegen im Bereich der adverbialen Kasusmarkierungen, der Aspektformen und der Semantik einiger Verben. Auffallend sind auch vereinfachte syntaktische Strukturen und häufige Wechsel ins Deutsche. Diese Besonderheiten erklären die Autoren ähnlich wie Cindark/ Aslan und Sirim durch Dialektnivellierung im Türkischen, durch das Vorherrschen mündlicher Strukturen und durch den Einfluss des Deutschen. Die so entstehenden innovativen Potentiale könnten das Türkische in Deutschland langfristig verändern, so die Autoren. 6.2 Blick in die Forschung zu Code-switching und Code-mixing Der in bilingualen Gesellschaften weltweit beobachtete Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen innerhalb von Gesprächen hat in den 80er und 90er Jahren zu einer reichen Forschung geführt. 4 In der Soziolinguistik etablierten Blom/ Gumperz (1972) mit ihrer Untersuchung zur sozialen Bedeutung des Wechsels zwischen Dialekt und Standard das Thema Code-switching als Forschungsgegenstand. Sie zeigten, dass die Verwendung der einen oder anderen Varietät von sozialen Situationen abhängt und eng mit der sozialen Identität der Sprecher verknüpft ist. Fragen des Zusammenhangs zwischen Sprachwahl, sozialer Zugehörigkeit, gesellschaftlicher Macht bzw. gesellschaftlicher Marginalität waren von da an bevorzugte Themen in der Soziolinguistik. Myers-Scotton (1993) betrachtet die gesellschaftliche Verteilung und Bedeutung von Sprachen und 4 Vgl. z. B. Grosjean (1982), und die Sammelbände von Heller (1988), Milroy/ Muysken (1995), Pütz (1997) und Auer (1998). Keim_sV-264End.indd 147 10.02.12 16: 57 148 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing zeigt, dass mit der Wahl einer Sprache Rechte und Pflichten verbunden sind, an denen sich die Gesprächspartner orientieren und die ihre situative Wahl steuern. Mit der Arbeit von Poplack (1980) kommen grammatische Aspekte des Code-switching in den Fokus: Fragen nach den strukturellen Positionen, an denen innerhalb von Sätzen gewechselt werden kann, nach universell geltenden Beschränkungen für den Sprachwechsel (Poplack 1980, Myers-Scotton 1993, Muysken 1997 und 2000), ebenso wie Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Sprachwechsel und der Sprachkompetenz bilingualer Sprecher (Poplack 1980, Muysken 1997 und 2000). Ausgehend von der Erkenntnis, dass bei Sprachwechsel die grammatischen Regeln beider Sprachen berücksichtigt werden, formulierte Poplack (1980) folgenden Zusammenhang: Sprecher, die innerhalb von Sätzen wechseln, beherrschen in hohem Maße die grammatischen Regeln beider Sprachen; sie sind „bilingual“. Interaktive Ansätze (Gumperz 1982, Auer 1984) rekonstruieren die mit einem Sprachwechsel hergestellte Bedeutung und zeigen, dass Sprachwechsel diskursiv-rhetorische und soziale Bedeutungen haben können. Exkurs Lange Zeit war „Code-switching“ der übergeordnete Begriff für viele Sprachwechselphänomene (Poplack 1980, Heller 1988, Myers-Scotton 1993). In neueren Arbeiten werden verschiedene Grade der Verknüpfungsintensität begrifflich getrennt. Auer (1999) unterscheidet zwischen Code-switching, Code-mixing und fused lects. Unter Code-switching fasst er den Wechsel von einer Sprache in eine andere, wenn der Wechsel zusätzliche interaktive oder soziale Bedeutung signalisiert: Wenn also z. B. ein Gesprächspartner ausgeschlossen, die besondere Bedeutung eines Themas angezeigt oder soziale Zugehörigkeit ausgedrückt wird. Je häufiger Sprecher zwischen den Sprachen wechseln, desto weniger Bedeutung signalisieren die einzelnen Wechsel; sie fallen kaum noch auf, und es entsteht der Eindruck eines gemischtsprachlichen Codes. Den bezeichnet Auer (1999, S. 320ff.) als Code-mixing. Wenn Mischungen eine Stabilität im grammatischen Sinne erreicht haben, und die Verwendung von Elementen der einen und der anderen Sprache festen Regeln folgt, handelt es sich um „fused lects“. Ähnlich wie Auer unterscheidet Franceschini (1998) zwischen „starken“ Funktionen des Sprachwechsels (Code-switching) und „schwachen“ oder keinen Funktionen (Code-mixing). Starke Funktionen liegen z. B. dann vor, wenn bei Themenwechsel, bei Zitaten oder bei Nebenbemerkungen die Sprache gewechselt wird (a. a. O., S. 60ff.). Im Code-mixing ist keine zusätzliche Bedeutung mehr erkennbar, d. h. die Mischung wird wie „eine Sprache“ gehandhabt, die aus Elementen zweier Sprachen besteht. Auch Meeuwis/ Blommaert (1998, S. 76) sprechen von einem „mixed code“, als einem „code in its own right“. Backus (1996) spricht von bilingualen Sprechweisen, die Codecharakter haben; nach seiner Beobachtung können Mischungen aus zwei oder mehr Sprachen bestehen (a. a. O., S. 8). Keim_sV-264End.indd 148 10.02.12 16: 57 Die Entstehung von Sprachmischungen im Kindergarten 149 Muysken (1997, 2000) verwendet den Begriff des „mixing“ für Wechsel innerhalb von Sätzen, die er in drei Typen untergliedert: „alternierende“ Wechsel an den Rändern von Sätzen, „insertierende“ Wechsel, d. h. Einbettungen von Elementen einer Sprache in die grammatische Struktur der anderen, und außerdem „congruent lexicalization“ in Fällen, in denen die Strukturen beider Sprachen gleich sind und an jeder Stelle gewechselt werden kann. Seit Beginn der 90er Jahre gibt es in Europa Untersuchungen zu bilingualen Gruppen oder Gemeinschaften mit Türkisch als eine der beteiligten Sprachen. Joergensen, Holmen und Can untersuchten in einer Längsschnittstudie in Dänemark (Koege) das Sprachverhalten Bilingualer und ihre Kompetenz in beiden Sprachen. Sie stellten fest, dass für die Elterngeneration Türkisch die „eigene“ Sprache war, die zweite Generation dagegen eine bilinguale Identität entwickelte und für sie Code-switching zur „eigenen Sprache“ geworden war. Auch Backus (1996) zeigte, dass bei jugendlichen Migranten in Holland Codeswitching die natürliche Sprachpraxis war. Wenn bilinguale Kinder außerdem intensive Beziehungen zu Monolingualen hatten, lernten sie zwischen monolingualen und bilingualen Situationen zu unterscheiden. Vor dem Hintergrund einer in Deutschland weit verbreiteten Auffassung, dass sprachliche Mischungen Defizite der Sprecher signalisieren, heben Dirim (1995) und Hinnenkamp (2005) sie als besondere Leistung von Bilingualen hervor. Vor allem Hinnenkamp zeigt die Virtuosität der Jugendlichen in der harmonischen Verbindung von Türkisch und Deutsch. Er weist nach, dass Mischvarietäten nicht aus mangelnder Kompetenz in zwei Sprachen entstehen, sondern dass sie Ausdruck eines neuen deutsch-türkischen Selbstbewusstseins sind. 6.3 Die Entstehung von Sprachmischungen im Kindergarten In einer Studie in einem multiethnischen Kindergarten im Migrantenwohngebiet in Mannheim konnten wir zeigen, dass die Praxis des Mischens in türkischsprachigen Spielgruppen entsteht. 5 Die Kinder betten Bezeichnungen, die sie von den deutschen Erzieherinnen hören, wie Puppe, Tee, Papier, Schere, Farben, Bilderbuch und Aufforderungen, Arbeitsanweisungen, Routineformeln etc. in ihre türkischen Äußerungen ein. Die Einbettungen geschehen sehr routiniert, und die entstehenden Mischungen stellen für die Kinder die normale Sprechweise in der Kindergruppe dar. 6 Das will ich an einigen Beispielen illustrieren. 5 Zu dieser Studie vgl. das Dissertationsprojekt von Sema Aslan, (i. Vorb.); vgl. auch Kap.-7. 6 Die Beispiele stammen aus dem Korpus von Aslan; die deutschen Elemente sind fett gedruckt. Die angeführten Beispiele haben Sema Aslan und ich in gemeinsamen Vorträgen mehrfach vorgestellt. Keim_sV-264End.indd 149 10.02.12 16: 57 150 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing In der Kinderäußerung o zähne putzen dedi (sie hat Zähne putzen gesagt) ist die Aufforderung der Erzieherin, nach dem Essen die Zähne zu putzen, in die türkische Äußerung o dedi (sie hat gesagt) eingebettet. In farbenkinderlar yaptılar onu (die Farbenkinder haben das gemacht) ist die im Kindergarten übliche Bezeichnung Farbenkinder für eine Gruppe von Kindern, die gerne malen, in die türkische Struktur eingebettet und besetzt die Subjektposition. Interessant ist, dass in dem Ausdruck farbenkinderlar dasselbe Phänomen auftritt, das bei Migranten der ersten Generation beobachtbar ist (vgl. Kap.-4): An das deutsche Nomen im Plural farbenkinder wird das türkische Pluralsuffix -lar anhängt, die grammatische Kategorie „Plural“ also doppelt markiert. Wenn deutsche Nomina in die türkische Satzstruktur eingebettet werden, handelt es sich meist um Bezeichnungen, die kindergartenspezifisch sind oder die für die Kinder eine besondere, auf die Welt des Kindergartens bezogene Bedeutung haben. Der Schrank im Kindergarten z. B., in dem die Spielsachen aufbewahrt werden, wird mit dem Wort Schrank bezeichnet; das zeigt die folgende Äußerung, in der die Aufforderung der Erzieherin in den Schrank legen, in die türkische Struktur eingebettet wird: schranka legen dedi (in den Schrank legen hat sie gesagt). Das Wort Schrank erhält das türkische Richtungssuffix -a (in) und wird zusammen mit dem deutschen Verb legen in die Struktur dedi (sie hat gesagt) eingefügt. Dasselbe Kind bezeichnet den Schrank in seinem Zimmer zuhause, in dem Kleider verstaut sind, mit dem türkischen dolap (Schrank). Das Beispiel zeigt, dass das mentale Lexikon der Kinder mit den Erfahrungen im Kindergarten lebensweltspezifisch ausdifferenziert wird: Die Dinge im Kindergarten werden mit deutschen Bezeichnungen benannt und die (z. T. selben) Dinge zuhause mit türkischen, wobei die Bezeichnungen eine zusätzliche Bedeutung bekommen: Der Schrank im Kindergarten wird anders genutzt (zur Aufbewahrung von Spielsachen) als dolap (Schrank) zuhause (zum Aufbewahren von Kleidern). Diese Ausdifferenzierung des Wortschatzes zeigt auch die nächste Äußerung: ben tee trinken etcem (ich werde Tee trinken). Mit dem Wort Tee referiert das Kind auf den Kräutertee, den es im Kindergarten gibt, während es den Tee, den die Familie zuhause trinkt, als çay (Tee) bezeichnet. Das Wort Tee hat für das Kind die Bedeutung ‚Kräutertee‘, das türkische Wort çay bedeutet ‚schwarzer Tee‘. Dass sprachliche Mischungen die Einbettung der deutschen Kindergartenwelt in die türkische Welt der Kinder widerspiegeln, zeigt auch das nächste Beispiel. Der sechsjährige Tugay erklärt der Interviewerin, wann die jüngeren Kindergartenkinder nach dem Mittagsschlaf aufstehen, folgendermaßen: große zeiger neuna gelirse * galıyolar (wenn der große Zeiger auf neun zugeht, stehen sie auf). Zur Angabe der Zeit verwendet er die Erklärung, die er von der Erzieherin gehört hat: wenn der große Zeiger auf neun zugeht. Die semantisch entscheidenden deutschen Wörter große Zeiger und die Zahl neun bettet er in den türkischen Satz ein. Dabei wird an das deutsche Wort neun, der Valenz des türkischen Verbs entsprechend, das Richtungssuffix -a angehängt und die Keim_sV-264End.indd 150 10.02.12 16: 57 Die Entstehung von Sprachmischungen im Kindergarten 151 deutschen Wörter werden den türkischen Wortstellungsregeln entsprechend eingefügt. Ein äußerst interessantes Phänomen hat Sema Aslan im Gespräch mit zwei sechsjährigen Jungen entdeckt (vgl. Aslan i. Vorb.). Als sie die beiden nach ihrer Beziehung zur Erzieherin Frau Hanke fragte, antwortetet der eine: çünkü frau Hankeyi biz seviyoz * biz onu lieben ediyoz (weil wir Frau Hanke lieben, wir tun sie lieben). Der erste Teil der Äußerung ist ganz in Türkisch. Die emotionale Beziehung zu Frau Hanke drückt der Junge durch das türkische Verb seviyoz (wir lieben/ mögen) aus. Nach der kurzen Pause reformuliert er den ersten Äußerungsteil und verwendet jetzt zum Ausdruck von Emotion die gemischte Konstruktion lieben ediyoz (wir tun lieben), d. h. er reformuliert das türkische seviyoz durch die gemischte Konstruktion. Wenn der Junge über seine Gefühle zu seiner Mutter oder zu anderen Familienangehörigen spricht, verwendet er ausschließlich die türkischen Bezeichnungen. Wenn er jedoch über seine Beziehung zur deutschen Erzieherin spricht, verwendet er die neue, gemischte Form. Solche gemischten Verbkonstruktionen sind in der zweiten und dritten Generation weit verbreitet und sehr produktiv. Dabei wird ein deutsches Verb im Infinitiv mit einem türkischen ‚Tun‘-Verb verknüpft (etmek, yapmak), das die notwendigen Flexionsmerkmale trägt, also in unserem Beispiel: dt. Verb. (inf.) + tk. tun-Verb (fin.) lieben + ed iyoz 1. Pers. Pl. Präs. von etmek Wörtlich: lieben tun wir Dass die Kindergartenkinder über solche Mischkonstruktionen verfügen, zeigt auch das nächste Beispiel, in dem Tugay von einem Spiel erzählt: çocuklar beni angreifen yapıyorlar (die Kinder tun mich angreifen). Auch hier wird das deutsche Verb im Infinitiv angreifen mit der flektierten Form des türkischen yapmak kombiniert: yapıyorlar (tun + 3. Pers. Pl. Präs.), wörtlich: angreifen tun sie. Außerdem gibt es Alltagswissen, das die Kinder im Kindergarten erwerben, z. B. Material- und Sachwissen, literarisches (Geschichten, Märchen) und musisches Wissen (Lieder, Reime). Dieses Wissen wird ihnen in Deutsch vermittelt. Daneben gibt es Alltagswissen, das sie in ihren Familien erwerben, z. B. das Wissen über religiöse Rituale und Feste, über Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, über innerfamiliäre Regeln und Normen, das Wissen über Haushaltsgegenstände und -einrichtungen, über Lebensmittelherstellung und -verarbeitung etc. Zu diesen Lebensbereichen erwerben die Kinder türkisches Vokabular und türkische Strukturen. D. h. das Wissen, das die Kinder in den verschiedenen Lebensbereichen erwerben, eignen sie sich in der jeweiligen Sprache an. In der Peergroup im Kindergarten treffen die verschiedenen Wissens- und Sprachsegmente aufeinander, überlagern und vermischen sich. Nach Aslans Beobachtung bildet sich die Mischungspraxis im Kindergarten in Stufen heraus: Zunächst werden einzelne deutsche Wörter (Partikel, Nomina, Keim_sV-264End.indd 151 10.02.12 16: 57 152 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing Verben) oder mehrgliedrige Äußerungen der Erzieherinnen in türkische Strukturen eingebettet. Dann, wenn die Kinder Deutsch soweit erworben haben, dass sie selbständig Sätze bilden können, werden die Mischungsmuster komplexer; mehrgliedrige türkische Strukturen folgen auf mehrgliedrige deutsche Strukturen oder innerhalb einer Struktur wird gewechselt (vgl. Aslan i. Vorb.). 6.4 Die Sprachmischungen der Jugendlichen: strukturelle Aspekte Die im Kindergarten entstandene Mischungspraxis wird im Schulalter weiter entwickelt. Dafür gibt es eigene Bezeichnungen. Die Jugendlichen aus Augsburg, die Hinnenkamp (2005) vorgestellt hat, sprechen von karışık konuşmak (‚gemischt sprechen‘) oder halb deutsch halb türkisch reden (a. a. O., S.-87). Die Mannheimer Jugendlichen bezeichnen Mischungen als Mixsprache und Mischsprache und charakterisieren sie durch fünfzich prozent deutsch und fünfzich prozent türkisch oder durch zwei drei Sätze auf Deutsch und zwei drei Sätze auf Türkisch. Für sie ist gemischt sprechen die normale Praxis im Unterschied zu Deutsch bzw. Türkisch gegenüber monolingualen deutschen oder türkischen Gesprächspartnern. Bei den Wechseln von einer Sprache in die andere gibt es verschiedene Muster. Der Wechsel kann zwischen Sätzen stattfinden, also nach einem Satz in Deutsch folgt einer in Türkisch. Dieses Wechselmuster bezeichnet man als „intersentenziellen“ Wechsel. Der Sprachwechsel kann aber auch innerhalb eines Satzes stattfinden („intrasentenzieller“ Wechsel). Dabei können Elemente einer Sprache in die grammatische Struktur der anderen eingebettet und deren Regeln angepasst werden; in diesem Fall spricht man von „Insertionen“. Es können aber auch Elemente der einen Sprache an die Struktur der anderen ohne grammatische Einbindung angehängt werden, wie das z. B. bei Zeitangaben, bei Diskursmarkern und bei Rückversicherungsfragen der Fall ist; solche Wechseltypen bezeichnet man als „Alternationen“. Dazu einige Beispiele: 1. Wechsel zwischen Sätzen (intersentieller Wechsel) Im folgenden Beispiel ist der 1. Satz in Deutsch; nach der kurzen Pause folgt der Wechsel ins Türkische; der 2. Satz ist durchgehend in Türkisch formuliert: kuck wir warn in der schule ja * ondan sonra ben ikinci kattayım bi tane kız arkadaşım aşa"ğıda duryo (und dann bin ich im zweiten Stock und eine Freundin steht unten) Der Sprachwechsel findet an der Grenze von zwei vollständigen Sätzen statt. 2. Wechsel innerhalb von Sätzen (intrasentieller Wechsel) Bei den Wechseln innerhalb von Sätzen betrachten wir zunächst Einbettungen (Insertionen): Keim_sV-264End.indd 152 10.02.12 16: 57 Die Sprachmischungen der Jugendlichen: strukturelle Aspekte 153 bizim okulda treppeler var ya (in unserer Schule sind doch so Treppen) Oder: neyse ben haltestellede duryom (nun stehe ich an der Haltestelle) In beiden Fällen sind deutsche Wörter, Treppe und Haltestelle, in die türkische Struktur eingebettet und morphologisch integriert. An die Wörter werden die der Vokalharmonie entsprechenden türkischen Suffixe angehängt. Bei Treppe sieht die Struktur folgendermaßen aus treppe ler (die Treppen) dt. Nom. + tk. Pl.suffix Das deutsche Wort Haltestelle wird mit dem türkischen Lokativsuffix verbunden: haltestelle de (an der Haltestelle) dt. Nom. + tk. Lok.suffix Alternationen sehen folgendermaßen aus: neyse * ich geh über die Ampel işte (also * ich geh über die Ampel * halt so) Oder: papa schau mal falan filan (Papa schau mal und so weiter) In der ersten Äußerung sind die Partikel neyse (also) und işte (halt so) an die deutsche Struktur angefügt, ebenso wie im zweiten Beispiel die Gliederungspartikel falan filan (und so weiter). Sie sind grammatisch nicht mit der deutschen Struktur verbunden. Charakteristisch für Mischungen sind die dichten Wechsel zwischen Elementen aus beiden Sprachen und ein schnelles, sehr flüssiges, selbstverständliches Sprechen. Wie eng Elemente aus beiden Sprachen miteinander verbunden werden können, zeigt die folgende Äußerung: o da konuşma=de gan=zeit ben=de=böyl=aptım (er hat auch nicht gesprochen, die ganze zeit, und ich hab so gemacht) Der Höreindruck von Einheitlichkeit kommt durch die prosodische Kontur zustande, die Elemente aus beiden Sprachen bruchlos überspannt. 7 Das Muster des Tonhöhenverlaufs wird durch den Wechsel ebenso wenig beeinträchtigt wie die rhythmische Struktur; vor und nach dem Wechsel gibt es keine Pause: 7 Die Zeichen über der Sprecherzeile zeigen den Tonhöhenverlauf, die Zeichen unter der Sprecherzeile die rhythmische Struktur: (.) leichte Betonung, (-) mittlere Betonung, (=) starke Betonung. Keim_sV-264End.indd 153 10.02.12 16: 57 154 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing __________________________________________________________ _______________________________o____________________o_____ ___o___o___o____o____o___o___________o____o___o________o__ _____________o____________________________________________ o da konu ma = de gan = zeit ben de böyl = apt m - - - . - - - - - - - = - Außerdem werden Anteile aus beiden Sprachen zu einer lautlichen Einheit verschmolzen, der verschiedene grammatische Kategorien zugrunde liegen. Die grammatisch vollständige Version der Äußerung sieht folgendermaßen aus: o-da konuşmadı die gan=zeit, d. h. in der verkürzten Version fallen • das türkische Suffix für 3. Pers. Sg. Prät: dı und • der deutsche feminine Artikel die zusammen und werden phonetisch als [dә] realisiert. Bezogen auf die türkische Struktur erfüllt [dә] die Funktion der 3. Pers. Sg. Prät., bezogen auf die deutsche Struktur die Funktion des femininen Artikels. Neben Verschleifungen und Verschmelzungen kommen gemischte Strukturen vor, die bereits stabil sind, also immer wieder in derselben Form auftreten. Dazu gehört die Verknüpfung eines deutschen Verbs im Infinitiv mit einer finiten Form der türkischen Verben yapmak oder etmek (tun, machen), die wir bereits bei den Kindergartenkindern gesehen haben (vgl. 6.3). Im Türkischen gibt es Bildungen aus Nomen oder Adjektiv + yapmak oder etmek. In den Mischungen werden diese Strukturen erweitert zur Kombination aus deutschen Verben und yapmak oder etmek. Im folgenden Beispiel wird austeilen mit einer flektierten Form von yapmak (machen) kombiniert: 8 bizim okulda austeilen yapsaydım (wenn ich sie in unserer schule ausgeteilt hätte) Strukturbeschreibung: austeilen yapsaydım (ich hätte ausgeteilt) dt. inf. Verb + 1. Pers. Sg. Prät. Konj. von yapmak wörtlich: austeilen hätte ich gemacht Im nächsten Beispiel wird teilnehmen mit einer Form von etmek (tun) kombiniert: misswahlda teilnehmen etmiş (sie hat an einer Misswahl teilgenommen) Strukturbeschreibung: teilnehmen etmiş (sie nahm teil/ hat teilgenommen) dt. inf. Verb + 3. Pers. Sg. Prät. von etmek wörtlich: teilnehmen tat sie 8 Die Mischkonstruktion ist unterstrichen, die deutschen Elemente sind fett. Keim_sV-264End.indd 154 10.02.12 17: 49 Die Sprachmischungen der Jugendlichen: strukturelle Aspekte 155 Auch bei den Jugendlichen kommen morphologische Doppelungen bei der Pluralbildung vor, 9 wie wir sie schon bei den Kindergartenkindern beobachtet haben. Bei kinderler oder datenler wird an die deutsche Pluralendung noch die türkische angehängt. In der nächsten Äußerung gibt es neben dem doppelten Plural noch das türkische Dativsuffix -a: und doktor röntgen bilderlara daha bakmamış (und der Arzt hat sich die Röntgenbilder noch nicht angesehen) Strukturbeschreibung: bild er lar a (die Bilder) dt. Nom. + dt. Pl. + tk. Pl. + tk. Dat. Mischungen sind keine homogenen Sprachformen: Es gibt SprecherInnen, die gewohnheitsmäßig mehr türkisches, andere die mehr deutsches Sprachmaterial verwenden. Diese Unterschiede hängen mit schulischen und sozialen Erfahrungen und Anforderungen zusammen: Die Jugendlichen, die mehr deutsches Sprachmaterial verwenden, besuchen Schulen und bewegen sich in sozialen Kontexten außerhalb des „Ghettos“, in denen Deutsch die dominante Sprache ist und der Schulalltag (Klassen, Peergroups) deutsch geprägt ist. Die Jugendlichen dagegen, die mehr türkisches Material verwenden, besuchen (noch) die „Ghetto“-Hauptschulen mit einem Migrantenanteil von bis zu 90 %. In den Klassengemeinschaften und Peergroups herrschen Ethnolekt und Mischungen vor. Mit zunehmenden deutschsprachigen Anforderungen in Schule und Ausbildung steigen die Deutschkompetenzen und auch die deutschen Anteile in den Mischungen. Wir haben beobachtet, dass Jugendliche, die in der 9.-Hauptschulklasse (noch) hohe türkische Anteile in den Mischungen hatten, nach Abschluss der Realschule ihr Sprachverhalten verändert haben: Die deutschsprachigen Anteile ebenso wie die Fähigkeit, Umgangsdeutsch über längere Gesprächssequenzen flüssig zu sprechen, nahmen deutlich zu, ethnolektale Formen nahmen ab (Keim 2008). Deshalb haben wir die Mischungspraxis auf einem Kontinuum zwischen den Polen „große Deutschanteile“ und „große Türkischanteile“ angeordnet. Zur Illustration ein Ausschnitt aus der Erzählung von Aynur (AY), die die 11. Klasse Gymnasium besucht und deren Mischungen sich nahe am deutschen Pol bewegen. Das Beispiel stammt aus einer Erzählung, in der sie ihren Freundinnen ein bewegendes Ereignis schildert: 10 AY: Zeynebi de gördüm * die arme die hat fast=en Ü ich habe auch Zeynep gesehen 9 In Sprachenkontaktsituationen kommen morphologische Doppelungen häufig vor, vgl. Backus (1996), Myers-Scotton (1993). 10 Unter der Sprecherzeile steht die Übersetzungszeile (Ü), in der die türkischen Segmente übersetzt sind. Keim_sV-264End.indd 155 10.02.12 16: 57 156 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing AY: herzinfarkt bekommen LACHT bahnda göryom böyle Ü ich sehe sie in der Bahn AY: yap yo ** LACHT die hat gedacht mir is was Ü sie macht so AY: passiert * ph des war so schlimm die Esra musst AY: noch kurz zur schule ihre bücher abgeben i te Ü halt Im Vergleich dazu ein kurzer Ausschnitt aus der Erzählung von Meline (ME), die noch in die Hautpschule geht, und deren Mischungen wesentlich mehr türkische Anteile haben. Das Beispiel stammt aus einer Erzählung, in der Meline ihrer Freundin ein Ereignis aus der Schule schildert: ME: bizim okulda imdik treppeler var ya Ü in unserer schule sind doch so Treppen ME: hani * ben imdi ikinci kattay m Emel de Ü ich bin jetzt im zweiten Stock und Emel ME: a a daki katta bana bah yo böyle tamam m Ü ist im unteren Stockwerk und schaut mich so an okay ME: ondan son/ und die hat so doppelte oberteile Ü und dann/ ME: angehabt tamam m * böyle durchsichtig biraz Ü okay so ein bisschen ME: * üstdekini kald rd böyle Ü das obere hat sie so hochgehoben Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass die erste Sprecherin mehr deutsches Material verwendet als die zweite. Bei Bewegungen in Richtung „deutscher Pol“ können Wörter und syntaktische Strukturen bis zu 70 % in Deutsch sein, und die Sprachwechsel finden eher an Satzgrenzen statt. Bei Bewegungen in Richtung „türkischer Pol“ ist es umgekehrt: bis zu 70 % der Wörter und der syntaktischen Strukturen sind Türkisch, und die meisten Wechsel sind satzintern. Bewegen sich SprecherInnen in der Mitte des Kontinuums, sind die Anteile aus beiden Sprachen relativ ausgeglichen, ebenso die Wechsel innerhalb von Sätzen und an Satzgrenzen. 6.5 Diskursiv-rhetorische Funktionen Bisher haben wir Sprachwechsel unter struktureller Perspektive betrachtet. Man kann sie aber auch unter diskursiv-rhetorischer Perspektive betrachten. In diesem Fall fragt man, ob Sprachwechsel während eines Gesprächs bestimmten Mustern folgen, und ob mit dem Wechsel eine bestimmte Funktion erfüllt wird. Solche Funktionen können beispielsweise sein: Ein bestimmtes Thema wird Keim_sV-264End.indd 156 10.02.12 16: 57 Diskursiv-rhetorische Funktionen 157 in einer bestimmten Sprache behandelt, weil üblicherweise über dieses Thema in dieser Sprache gesprochen wird; oder man wechselt bei der Adressierung eines Gesprächspartners in die andere Sprache, weil man weiß, dass der andere lieber in dieser Sprache spricht; oder man versucht die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners zu erhöhen, indem man an einer besonders spannenden Stelle in die andere Sprache wechselt; wenn man dem Vorredner widerspricht, kann man die Gegenhaltung dadurch unterstreichen, dass man in die andere Sprache wechselt. Außerdem kann man eine längere Gesprächssequenz, die aus verschiedenen Handlungen besteht, durch Sprachwechsel gliedern. Wenn man die Erzählung eines Gesprächspartners unterbricht, kann man in die andere Sprache wechseln und bei Rückführung zur Erzählung die vorherige Sprache wieder aufnehmen. So zeigt man dem Gesprächspartner auch auf der sprachlichen Ebene, dass man wieder „bei ihm ist“. Oder man kann die Information in einer komplexen Äußerung zusätzlich konturieren, indem man einen Teil der Äußerung in der einen, den anderen in der zweiten Sprache formuliert. Monolinguale verwenden für die Erfüllung von solchen diskursiv-rhetorischen Funktionen, die der Differenzierung, der Hervorhebung von Details und der Steuerung von Aufmerksamkeit dienen, prosodische (laut/ leiser, schneller/ langsamer u. a.) und stilistische Mittel. Bilinguale können zusätzlich ihre beiden Sprachen einsetzen. In der Forschung sind Sprachwechsel, die solchen Funktionen dienen, mehrfach beschrieben. 11 Wie ich im Folgenden zeigen werde, kommen sie auch bei den von uns untersuchten Jugendlichen vor. 12 Es gibt Sprachwechsel • bei Formulierungsproblemen: Wenn man eine Äußerung nicht zu Ende bringen kann, wechselt man in die andere Sprache; • zur Organisation des Gesprächs; dazu gehören Wechsel zur Unterscheidung von Haupt- und Nebenaktivität oder zur Eröffnung eines neuen Themas; • zur Strukturierung von Darstellungen: dazu gehören Sprachwechsel zur Hervorhebung und zur Konturierung bestimmter Strukturen, z. B. zur Unterscheidung verschiedener Perspektiven, von Hintergrund- und Vordergrunddarstellung etc. Zu diesen Funktionen werde ich einige Beispiele anführen. 1. Sprachwechsel bei Formulierungsproblemen Äußerungsabbrüche, Korrekturen und Reformulierungen sind bei Bilingualen häufig mit Sprachwechsel verbunden. Solche Sprachwechsel zeigen die Mühe 11 Erste Beschreibungen funktionaler Wechsel stammen von Gumperz (1982). In Deutschland hat Auer (1984) als erster solche Sprachwechselfunktionen beschrieben; zu weiteren Arbeiten vgl. Franceschini (1998), Muysken (2000), Bierbach/ Birken-Silverman (2002), Birken-Silvermann (2005), Lattey/ Tracy (2005), Hinnenkamp (2005). 12 Vgl. Aslan (2005), Cindark (2005) und (2010), und Keim (2008). Keim_sV-264End.indd 157 10.02.12 16: 57 158 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing im Formulierungsprozess. Bei unseren Jugendlichen finden die Sprachwechsel meist von Türkisch zu Deutsch statt, d. h. ein türkischsprachiges Segment wird abgebrochen und in Deutsch reformuliert. Die Richtung des Wechsels ist ein Indiz dafür, dass die SprecherInnen eher Formulierungsschwierigkeiten im Türkischen haben als im Deutschen. Im folgenden Beispiel rügt Türkan (TÜ) ihre Freundin Zeynep (ZE), die gerade unkontrolliert Nüsse in sich hineinstopft. Die Rüge ist in Türkisch. Zeynep antwortet ebenfalls in Türkisch, hat dann Formulierungsprobleme und wechselt ins Deutsche: 01 TÜ: ey sen de yeme all|ah | 02 Ü ey, dann iss doch nicht mensch 03 ZE: | ey | yemecem ** ay: / sinirler- 04 Ü ey ich esse nicht ey n/ meine nerven 05 ZE: ey oldu * isch zitter voll isch brauch irgendwas 06 Ü sind dings geworden Zeynep weist den Vorwurf zurück yemecem (ich esse nicht, 03). Als sie den Sachverhalt darstellen will, dass sie die Nüsse als eine Art Beruhigungsmittel für ihre angespannten Nerven benutzt, hat sie Formulierungsprobleme: ** ay: ş/ sinirler şey oldu (ey d/ meine Nerven sind Dings geworden, 03/ 05). Sie werden angezeigt durch längere Pause, Wortabbruch ş/ (für şey, ‚dings‘) und durch die Proform şey anstelle eines passenden prädikativen Elements in der Struktur sinirler şey oldu (meine Nerven sind Dings geworden, 05). Danach wechselt sie ins Deutsche, reformuliert den Sachverhalt ich zitter voll und begründet ihr ungezügeltes Essen durch isch brauch irgendwas (05). Erst mit dem Wechsel ins Deutsche gelingt ihr die Darstellung. 2. Sprachwechsel zur Organisation des Gesprächs Sprachwechsel sind häufig zu beobachten, wenn ein Wechsel des Adressaten stattfindet. Unterhalten sich beispielsweise zwei Jugendliche gemischtsprachig, können sie, wenn ein älterer Verwandter dazu kommt, ihn in Türkisch ansprechen. Sie verhalten sich höflich und nehmen den Verwandten in ihr Gespräch auf. Sprachwechsel können aber auch dazu genutzt werden, um Anderssprachige aus dem Gespräch auszuschließen. Dann wechseln die Jugendlichen in die Sprache, die der andere nicht versteht und zeigen ihm, dass er nicht dazu gehört. Sprachwechsel können auch dazu dienen, um in einem Gespräch verschiedene Handlungen voneinander zu trennen, z. B. die Haupthandlung von einer Nebenhandlung. Wird die Haupthandlung, z. B. eine Erzählung, in Deutsch durchgeführt, kann die Nebenhandlung in Türkisch erledigt werden; Haupthandlung und Nebenhandlung werden so auch sprachlich voneinander getrennt. Im folgenden Beispiel erzählt Nadiye (NA) über ein Ereignis, das ihr bei einer Veranstaltung in Deutschland passiert ist. Die Erzählung findet in Deutsch statt. Als die Zuhörerinnen mit Lachen auf die Erzählung reagieren, Keim_sV-264End.indd 158 10.02.12 16: 57 Diskursiv-rhetorische Funktionen 159 damit beginnt der Ausschnitt, fordert Meral (ME) die anderen zur Ruhe auf, weil sie noch eine weitere Information braucht: 01 NA: des war so komisch 02 ZE: LACHT des is gut|(... ... ...) | 03 ME: |<susun bi ya: >| 04 Ü seid doch mal ruhig 05 K LACHEN, DURCHEINANDER 06 ME: Nadiye abla wie alt warst du da 07 Ü große Schwester 07 NA: vierzehn oder fünfzehn Nadiyes Erzählung endet in Deutsch (01), auch Zeyneps (ZE) Kommentar dazu ist in Deutsch des is gut (02). In das Lachen und Durcheinander, das dem Erzählabschluss folgt (05), meldet sich Meral zu Wort, ruft die anderen zur Ordnung und adressiert sie in Türkisch <susun bi ya: > (seid doch mal ruhig, 03). Dann wendet sie sich an Nadiye mit einer Nachfrage zur Erzählung und wechselt ins Deutsche: Nadiye abla wie alt warst du da (06). 13 Nadiye beantwortet die Frage ebenfalls in Deutsch vierzehn oder fünfzehn (07). Der Wechsel von der Haupthandlung „Erzählung“ zur Nebenhandlung „Ordnungsruf “ wird durch Sprachwechsel verstärkt, ebenso die direkt anschließende Rückführung in die „Erzählung“. D. h. Meral signalisiert auch auf der Sprachebene, dass sie aus der Erzählhandlung aussteigt und dann wieder in sie zurückkehrt. Der Sprachwechsel zusammen mit dem Handlungswechsel (die Erzählung ist in Deutsch, der Ordnungsruf in Türkisch) unterstützt die Gesprächsorganisation; verschiedene Handlungen werden auch sprachlich unterschieden. 3. Sprachwechsel zur Strukturierung von Informationen Oft dienen Sprachwechsel der Konturierung von Informationen in zweiteiligen Strukturen. Wird z. B. eine Bitte in Türkisch geäußert, kann die Begründung dazu in Deutsch erfolgen; oder ein Sachverhalt wird zuerst in Türkisch, die Wiederholung bzw. Reformulierung dann in Deutsch formuliert. Bei solchen Darstellungsstrukturen konnten wir eine relativ stabile Verteilung der Sprachen beobachten: Der erste Teil ist türkisch strukturiert und der zweite deutsch. Sie sehen also folgendermaßen aus: Erster Strukturteil: Türkisch Zweiter Strukturteil: Deutsch Bericht/ Feststellung Kommentar Bitte Begründung Bezugsäußerung Reformulierung 13 Abla (große Schwester) ist eine übliche Anrede für befreundete ältere Mädchen oder Frauen. Sie drückt Respekt und Vertrautheit aus. Keim_sV-264End.indd 159 10.02.12 16: 57 160 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing Dazu einige Beispiele: a) Sprachwechsel zwischen Bericht und Kommentar Türkan (TÜ) berichtet von einem Arztbesuch; sie hatte Kreuzschmerzen und suchte den Arzt Dr. Bein auf: 01 TÜ: benim belim a: riyo ya * doctor Beina gittim 02 Ü mein Kreuz tut so weh ich bin zu doctor Bein gegangen 03 TÜ: < sch=weiß net ob des sti: mmt aber > Die Information zu den Kreuzschmerzen und dem Arztbesuch formuliert Türkan in Türkisch (01). Darauf folgt ein Kommentar, in dem sie ihre Unsicherheit zur Diagnose des Arztes ausdrückt < sch=weiß net ob des sti: mmt aber >(03). Der Kommentar ist in Deutsch. Durch den Sprachwechsel von Türkisch zu Deutsch werden die Strukturteile Bericht und Kommentar zusammen mit prosodischen Veränderungen (lauter, langsamer) deutlich von einander getrennt. b) Sprachwechsel zwischen Bitte und Begründung Gülsen (GL) bittet ihre Schwester Hatice (HA), mit der kleinen Schwester Şükrüye zum Arzt zu gehen: 01 GL: Hatice * gitçenmi ükrüyeyle oraya ** die heult fast 02 Ü gehst du mit ükrüye dahin Gülsen adressiert die Schwester und trägt die Bitte in Türkisch vor. Dann folgt die Begründung der Bitte in Deutsch: die (kleine Schwester) heult fast. Die Bitte ist in Türkisch, die Begründung in Deutsch. c) Wechsel zwischen Bezugsäußerung und Reformulierung Die folgende Szene spielt sich in der Umkleidekabine einer Turnhalle in einer Gruppe von türkisch-, kroatisch- und italienischstämmigen Mädchen ab. Hatice (HA) zieht sich gerade um, als ihre türkischsprachigen Freundinnen den Raum verlassen wollen: 01 HA: ya beni beklesenize * ne kadar g ç ks n z * <hallo" 02 Ü wartet doch auf mich was seid ihr blöd 03 HA: könnt ihr nich kurz warten isch will doch mit> Hatice bittet die Freundinnen, auf sie zu warten. Als die weiter gehen, beschimpft sie sie. Die Bitte und die Beschimpfung sind in Türkisch ya beni beklesenize * ne kadar gıçıksınız (wartet doch auf mich, was seid ihr blöd, 01). Da Hatice damit keinen Erfolg hat, wechselt sie ins Deutsche und fordert die Freundinnen nochmals auf, auf sie zu warten. Mit der Reformulierung verleiht sie der Bitte mehr Gewicht: Sie spricht lauter und nachdrücklicher, begründet die Bitte isch will doch mit (03) und erweitert durch den Wechsel ins Deutsche den Keim_sV-264End.indd 160 10.02.12 16: 57 Sprachwechselmuster in Erzählungen 161 Zuhörerkreis. Vorher waren Bitte und Beschimpfung an die türkischsprachigen Mädchen adressiert, nur sie konnten sie verstehen. Jetzt werden auch die übrigen Anwesenden, Italienerinnen, Kroatinnen und die deutsche Trainerin, in die Situation einbezogen. Mit dem Wechsel ins Deutsche erhöht Hatice den Druck auf die Freundinnen, da jetzt alle auf den Zwischenfall aufmerksam gemacht werden. Mit dieser Strategie ist sie erfolgreich, die Freundinnen warten auf sie. 6.6 Sprachwechselmuster in Erzählungen Auch für Erzählungen gibt es allgemeine Sprachwechselmuster: • Redewiedergaben werden in der Sprache formuliert, in der die Personen in der realen Situation gesprochen haben; • am Erzählhöhepunkt wird die Spannung durch Sprachwechsel erhöht; • Erzählungen werden durch Sprachwechsel gerahmt. Im Folgenden führe ich dazu einige Beispiele an. 1. Redewiedergaben in Erzählungen In Erzählungen werden Personen in der Sprache zitiert, die sie in der Situation, in der das Ereignis stattfand, verwendeten. Die Zitate werden durch Elemente der anderen Sprache gerahmt. Im folgenden Beispiel erzählt Aynur, wie sie in einem Rollstuhl sitzend an einer Straßenbahnhaltestelle in Mannheim stand, als ein Mann ihr seine Hilfe anbot. Das kurze Gespräch mit dem Mann gibt sie in Deutsch wieder, die Rahmung des Gesprächs geschieht in Türkisch: 01 AY: önce birisi geldi wolln sie in die bahn soll isch sie 02 Ü zuerst kam einer 03 AY: tragn dedi eh isch so nee diyom isch wart hier nur 04 Ü hat er gesagt sage ich Die Erzählsequenz önce birisi geldi (zuerst kam einer, 01) ist in Türkisch. Danach folgt das Zitat des Mannes in Deutsch: wolln sie in die bahn soll isch sie tragen (01/ 03). Die Zitatausleitung dedi (hat er gesagt, 03) ist in Türkisch. Darauf folgt die Einleitung zum eigenen Zitat in Deutsch (isch so) und die eigene Antwort auf die Frage des Mannes ist ebenfalls in Deutsch nee. Die Zitatausleitung ist dann in Türkisch diyom (sage ich, 03), ihr folgt der zweite Zitatteil in Deutsch: isch wart hier nur (03). Durch die türkischen Elemente wird die Szene strukturiert, und die deutschen Redewiedergaben von den Zitateinleitungen bzw. Ausleitungen getrennt. Das Gespräch zwischen Aynur und dem Mann wird in Deutsch wiedergegeben, in der realen Situation hat es auch in Deutsch stattgefunden. Im nächsten Beispiel gibt Meral (ME) ein Gespräch zwischen sich und ihrer deutsch-türkischen Freundin wieder: Keim_sV-264End.indd 161 10.02.12 16: 57 162 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing 01 ME: söyledi Sandraya göster zeig=s Sandra zeig * 02 Ü sie hat gesagt zeig es Sandra 03 ME: ja: okey einmal dedim 04 Ü habe ich gesagt In der dargestellten Szene wird Meral von ihrer Freundin aufgefordert, einer Sandra etwas zu zeigen. Die Aufforderung wird zuerst in Türkisch Sandraya göster (zeig es Sandra, 01), dann in Deutsch reformuliert zeig=s Sandra zeig (01). Das Zitat der Freundin wird in Türkisch eingeleitet söyledi (sie hat gesagt). Sich selbst zitiert Meral in Deutsch: ja: okey einmal (03), die Zitatausleitung ist Türkisch dedim (habe ich gesagt, 03). Die Redewiedergabe der Freundin ist also gemischtsprachig, der erste Teil in Türkisch, der zweite in Deutsch. Die eigene Rede wird in Deutsch formuliert. Der Redeaustausch wird durch die türkischen Ein- und Ausleitungen (söyledi und dedim) gerahmt. Durch das gemischtsprachige Zitat der Freundin, auf das Meral reagiert, setzt sie sich und die Freundin als gemischt-sprechend in Szene. 2. Sprachwechsel vor bzw. an dem Erzählhöhepunkt Meral erzählt folgendes Ereignis: Als sie im Treppenhaus der Schule der Freundin ihr neues zweiteiliges Oberteil vorführen will und dabei aus Versehen ihre Brust entblößt, kommt, gerade als sie das Oberteil wieder herunterziehen will, ein türkischer Junge um die Ecke und starrt sie entgeistert an: 01 ME: tam a"çt m böyle * hab isch so gemacht GESTE 02 Ü ich habe es gerade so aufgemacht 03 ME: tam kapa"t "ca"m öyle uramda imdi oberteil 04 Ü ich wollt es dann zumachen, das oberteil ist jetzt hier so 05 ME: unun uras var ya * <ist hier > GESTE * 06 Ü da ist doch dieses Dings 07 ME: bah yom Ismail ge: li: yo: LACHT ben böyle |hi: | 08 Ü sehe ich Ismail er kommt ich so 09 K |ERSCHRECKT| Der Höhepunkt wird vorbereitet durch eine kleinschrittige Schilderung mit knappen Formulierungen. Der langsam gesprochenen und stark akzentuierten türkischen Äußerung tam a"ctım böyle (ich habe es gerade so geöffnet, 01) folgt die Reformulierung in Deutsch hab isch so gemacht verbunden mit einer Geste, mit der Meral zeigt, wie sie das neue Oberteil vorgeführt hat. Die Beschreibung, wie sie das Oberteil wieder zumachen wollte, ist in Türkisch söyle şuramda şimdi oberteil (das Oberteil ist jetzt hier so, 03) mit der Einbettung des Wortes Oberteil. Dann schildert Meral ebenfalls in Türkisch ein Hindernis, das den Vorgang des Schließens unterbricht: şunun şurası var ya (da ist doch dieses Dings, 05). Als sie vorführt, wieweit der Schließvorgang fortgeschritten ist, wechselt sie ins Deutsche <ist hier > (05), spricht lauter und zeigt gestisch, Keim_sV-264End.indd 162 10.02.12 16: 57 Sprachwechselmuster in Erzählungen 163 wie weit sie ihre Blöße bereits bedeckt hat. Dann folgt der Höhepunkt: Gerade als sie das Oberteil ganz herunterziehen will, sieht sie Ismail, der um die Ecke kommt, und stößt einen erschreckten Schrei aus. Dieser Erzählteil ist in Türkisch formuliert. In der gesamten Sequenz sind nur die Äußerungen in Deutsch, in denen die für den Spannungsaufbau wichtigen Schritte hervorgehoben und gestisch verdeutlicht werden: Dass Meral das Oberteil geöffnet hat und dass sie es wegen eines Hindernisses nur zum Teil wieder zumachen konnte, bevor sie von Ismail überrascht wird. Die deutschen Äußerungen sind Reformulierungen türkischer Vorgängeräußerungen. 3. Rahmung und Strukturierung von Erzählungen durch Sprachwechsel Für Erzähler besteht eine wichtige Aufgabe darin, ihr Erzählangebot so in ein Gespräch einzubringen, dass sie die Aufmerksamkeit der anderen erregen, diese ihr Interesse bekunden und dem Erzähler Raum für die Erzählung geben. Zu den Techniken, mit denen man ein Erzählangebot interessant machen kann, gehören Charakterisierungen des Ereignisses, das erzählt werden soll, als witzig, spannend, empörend oder skandalös. Bilinguale haben außerdem die Möglichkeit, mit Beginn der Erzählung in die andere Sprache zu wechseln, um die Differenz zwischen dem bisherigen Gespräch und dem Beginn von etwas Neuem auch sprachlich zu markieren. Wenn das vorangehende Gespräch in Deutsch geführt wurde, kann das Erzählangebot in Türkisch oder gemischtsprachig erfolgen. Im folgenden Beispiel erzählt die 17-jährige Gymnasiastin Aynur (AY) ihre Erfahrungen bei einem Schulprojekt, in dem die Schüler als Rollstuhlfahrer erkunden sollten, wie die Umwelt auf Behinderte reagiert. Aynurs Erzählangebot wird erst nach zweimaligem Versuch angenommen. Der folgende Ausschnitt zeigt den Beginn der Erzählung. Davor fand ein Informationsaustausch in Deutsch statt, in den Aynur die erste Erzählankündigung in Deutsch platziert: wir machen ein projekt * rollstuhlfahren. Mit dieser Ankündigung gelingt es ihr jedoch nicht, die Aufmerksamkeit der anderen zu erregen. Dann unternimmt sie einen zweiten Versuch; damit beginnt der Gesprächsausschnitt: INTERAKTION IN DEUTSCH 01 TL: sieht man den fleck 02 NA: +ja * 03 AY: wir habn fünf rollstühle 04 NA: mhm 05 AY: bekommn pro rollstuhl ä: h * zwei person neyse 06 Ü also 07 AY: hab isch misch hinge|setzt i te| * ja 08 Ü halt so 09 TL: |ro"llstuhl | Keim_sV-264End.indd 163 10.02.12 16: 57 164 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing Nach den Bemerkungen von Tülay (TL, 01) und Nadiye (NA, 02) präsentiert Aynur ihren zweiten Versuch, wieder in Deutsch: wir haben fünf rollstühle bekommn pro rollstuhl ä: h * zwei personen (03/ 05). Darauf reagiert Nadiye, die gerade in der Interaktion mit Tülay engagiert ist (01/ 02), zurückhaltend durch mhm (04). Erst mit dem nächsten, gemischtsprachigen Zug, eingeleitet durch die türkische Partikel neyse (also, 05) und beendet durch işte (halt so, 07), gelingt es Aynur die Aufmerksamkeit von Tülay zu gewinnen, die jetzt neugierig nachfragt ro"llstuhl (09). Anfang und Ende des Erzählbeginns sind durch türkische Partikel gerahmt, die einen Kontrast zum vorangehenden Austausch in Deutsch herstellen. So gelingt es Aynur die Aufmerksamkeit der anderen für ihre Erzählung zu gewinnen. Aynurs Erzählung besteht aus einer Reihe von Episoden, in denen sie ihre Erlebnisse als Rollstuhlfahrerin schildert. In diesen Episoden verwendet sie auch Mischungsmuster, die ich oben (6.5) bereits vorgestellt habe: In zweiteiligen Informationsstrukturen wird der erste Teil in Türkisch, der zweite in Deutsch formuliert. Dieses Muster tritt direkt im Anschluss an den vorherigen Gesprächsausschnitt auf: 10 AY: Zeneybi de gördüm die arme die hat fast=en 11 Ü ich hab auch ZE gesehn 12 AY: herzinfarkt bekommen LACHT bahnda göryom böyle 13 Ü ich sehe sie in der Bahn 14 NA: |ah ja | 15 AY: yap yo ** LACHT die hat |gedacht| mir is was 16 Ü sie macht so 17 AY: passiert * ts des war so schlimm Hier schildert Aynur die Begegnung mit ihrer Freundin Zeynep; diese Information ist in Türkisch: Zeynebi de gördüm (ich habe auch Zeynep gesehen, 10). Die Reaktion der Freundin, die nichts von dem Rollstuhlprojekt weiß und beim Anblick von Aynur erschrickt, wird in Deutsch dargestellt: die arme die hat fast=en herzinfarkt bekommen (10/ 12). Nach dem kurzen Lachen (12) reformuliert Aynur die Sequenz nach demselben Muster: Der erste Teil, der das enthält, was sie sieht, ist in Türkisch formuliert: bahnda görüyüm böyle yapıyo (ich sehe sie in der Bahn, sie macht so, 58/ 59); die Reaktion der Freundin beim Anblick von Aynur im Rollstuhl wird in Deutsch formuliert: die hat gedacht mir is was passiert (15/ 17). Aynur verwendet das Sprachwechselmuster für zweiteilige Informationsstrukturen mit dem ersten Teil in Türkisch, dem zweiten in Deutsch. Auch in den nächsten Beispielen aus derselben Erzählung erscheint dieses Muster. Die Handlung eines Mannes, der Aynur die Tür zur Straßenbahn aufhält, wird in Türkisch formuliert, die genauere Beschreibung in Deutsch: 97 AY: adam khap y aç p tutuyo der steht so an der wand 98 Ü der Mann hält die Tür auf Keim_sV-264End.indd 164 10.02.12 16: 57 Sprachwechselmuster in Erzählungen 165 Als Aynur schildert, dass das Rollstuhlfahren sehr anstrengend war, ist die Beschreibung ihre Zustandes in Türkisch sonra yoruldum (dann bin ich müde geworden), die Beschreibung der Folge in Deutsch: isch bin grad so stehengeblieben. Diese Variationsmuster mit einer festen Zuordnung der Sprachen sind charakteristisch für Jugendliche, die routiniert mischen und je nach situativer Anforderung mehr türkisches oder mehr deutsches Material verwenden. Als Beleg für den in der Forschung beschriebenen Befund, dass Sprecher, die intensiv und routiniert mischen, auch die jeweilige Landessprache sprechen, 14 möchte ich noch einen kleinen Ausschnitt aus dem Interview mit Aynur zeigen, in dem sie sich bei der deutschen Gesprächspartnerin über Lehrer beklagt, von denen sie immer wieder ethnische Vorurteile hört: dann fing es mit den lehrerbemerkungen an * in der neunten zehnten klasse hat sich angefangen zu häufen * wie zum beispiel ach ihr lest den mannheimer mo"rgen aber das is ungewöhnlich dass ne türkische familie den mannheimer morgen liest * oder * ach du willst medizin stu"dieren * a"lle ausländer denken sie könnten medizin studieren aber wir sind hier in deutschland und net sonst wo * solche bemerkungen * oder wir sind hier nicht auf dem türkischen bazar * oder * ach ko"mm du willst mir doch nicht erzählen dass du in deiner freizeit au"ch so redest wie du in der schu"le redest * ihr redet doch immer ausländischen jargon * in so ner mischmaschsprache oder so was * die ganze zeit ständig so"lche bemerkungen In Aynurs Ausführungen gibt es eine Reihe gesprochensprachlicher Merkmale (Verschleifungen, Elisionen etc.), aber keine gemischten Formen und auch keine ethnolektalen Merkmale. Auf der sprachlichen Ebene unterschiedet sich Aynurs Rede nicht von der einer einheimischen Jugendlichen. Inhaltlich jedoch unterscheidet sie sich erheblich von Einheimischen: Sie schildert Erfahrungen, wie ich sie von vielen Migrantenjugendlichen gehört habe: 15 Erfahrungen von Herabsetzung, Entmutigung und Diskriminierung in deutschen Bildungsinstitutionen. In Bezug auf die vorher beschriebenen zweiteiligen Sprachwechselmuster hat Aslan (i. Vorb.) eine interessante Beobachtung bei den Kindergartenkindern gemacht. Sie zeigt, dass Sprachwechselmuster, die wir für die Jugendlichen beschrieben haben, auch bei Kindern vorkommen, deren Eltern zur zweiten Generation gehören. Im folgenden Beispiel erzählt der sechsjährige Turan (TU), dessen Mutter zur zweiten Generation gehört, der bilingualen Interviewerin folgendes Ereignis aus dem Kindergartenalltag: 01 TU: weihnachtsmann geln/ gel/ gelmi ti isch hab zwei çukuladen 02 Ü gekom/ ist gekommen 14 Vgl. z. B. auch Aslan (2005), Backus (1996), Bierbach/ Birken-Silverman (2002), Cindark (2010), Hinnenkamp (2005), Lattey/ Tracy (2005). 15 Vgl. Keim (2008), Teil II und oben Kap.-3.2 und 3.3. Keim_sV-264End.indd 165 10.02.12 16: 57 166 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing 03 SE: mhmhm 04 K VERNEINEND 05 TU: gekriegt niye biliyon mu weil=sch der ü/ ü/ überse/ 06 Ü weißt du warum 07 SE: öyle mi LACHT des is toll | 08 Ü wirklich 09 TU: übersetzer bin en iyisi benim| ya 10 Ü weil ich doch der Beste bin 16 TU: zaten isch helf die alle un=dann krigg isch alles 17 Ü sowieso 18 TU: çocuk/ çocuklar he/ bausteineleri yapm yolar ya dökmü ler 19 Ü die Kind/ die kinder machen die Bausteine nicht, also haben sie 20 TU: yapm yolar ben yap yom * krigg i/ krigg=isch lutscher 21 Ü sie verstreut, sie machen (das)nicht ich mach das Der erste Äußerungsteil weihnachtmann gelmisti (der Weihnachtsmann ist gekommen, 01), der in die Szene einführt, hat eine türkische Struktur, in die das Wort „Weihnachtsmann“ eingebettet ist. Im zweiten Teil schildert Turan das für ihn besondere Ereignis: Er bekommt zwei Tafeln Schokolade geschenkt (01/ 05). Diese Äußerung ist in Deutsch isch hab zwei çukuladen gekriegt. Das Wort çukuladen ist eine Überblendung des türkischen çikolata und des deutschen Wortes Schokolade. Dann folgt die rhetorische Frage an die bilinguale Gesprächspartnerin in Türkisch: niye biliyon mu (weißt du warum, 05). Die Antwort, mit der Turan das Geschenk des Weihnachtsmanns begründet, besteht aus zwei Teilen: Der erste ist in Deutsch weil=sch der ü/ ü/ überse/ übersetzer bin (05/ 09), der zweite in Türkisch en iyisi benim ya (weil ich doch der Beste bin, 09). In den deutschen Äußerungen sind Haupt- und Nebensatzstruktur ebenso wie verschiedene Tempora bereits vorhanden; Turan hat also bereits wichtige Regeln des Deutschen erworben (vgl. Kap.-7), die er in der gemischtsprachigen Formulierung anwendet. Dann stellt Turan in Türkisch dar (in die türkische Struktur ist das deutsche Wort Bausteine eingebettet), dass er den anderen Kindern, die nach dem Spielen die Bausteine nicht aufräumen wollen, beim Aufräumen hilft (18/ 21). Als Belohnung bekommt er von der Erzieherin einen Lutscher; das ist in Deutsch formuliert: krigg i/ krigg=isch lutscher (20). Die von Turan verwendeten Mischungsmuster sind denen ähnlich, die die Jugendlichen verwenden. Turan hat sie von seiner Mutter und seinem türkischen Umfeld erworben und verwendet sie ganz selbstverständlich im Gespräch mit einer Bilingualen. Sein Sprachverhalten zeigt, dass die beschriebenen Mischungsmuster in der bilingualen türkischen Gemeinschaft weit verbreitet sind, zu den selbstverständlichen Routinen unter Bilingualen gehören und an die nachfolgende Generation weiter gegeben werden. 16 16 Turan und seine Mutter haben keinen direkten Kontakt zu den untersuchten Jugendgruppen. Aber sie verwenden ähnliche Mischungsmuster. Keim_sV-264End.indd 166 10.02.12 16: 57 Sprachwechselmuster bei Aushandlungen und Streit 167 6.7 Sprachwechselmuster bei Aushandlungen und Streit Auch in Aushandlungs- und Streitsequenzen können relativ stabile Sprachwechselmuster beobachtet werden. Sie dienen vor allem dazu, Widerspruch bzw. Übereinstimmung auch auf der sprachlichen Ebene symbolisch zum Ausdruck zu bringen. Interessant ist, dass solche Muster auch für andere bilinguale Kontexte beschrieben sind, also nicht nur für die in Mannheim untersuchten Gruppen gelten. 17 Zu diesen Sprachwechselmustern gehören: Bei Übereinstimmung mit dem/ der VorrednerIn wird die vorher verwendete Sprache übernommen; bei Widerspruch wird in die andere Sprache gewechselt. Das Sprachwechselmuster sieht also folgendermaßen aus: Bei Übereinstimmung: XX: Sprache a - YY: Sprache a Sprecher XX spricht in Sprache a, Sprecher YY übernimmt Sprache a. Bei Widerspruch: XX: Sprache a - YY: Sprache b Sprecher XX spricht in Sprache a, Sprecher YY wechselt zu Sprache b. Außerdem gibt es Muster des Aushandelns. Hier zeigt der zweite Sprecher zunächst Verständnis für die Position des Vorredners, präsentiert dann aber die eigene Perspektive, die der des Gesprächspartners entgegensteht. Für diese Art der Auseinandersetzung sieht das Sprachwechselmuster folgendermaßen aus: Der zweite Sprecher übernimmt zunächst die Sprache des Vorredners, er geht also, metaphorisch ausgedrückt, auf ihn zu. Doch zur Darstellung der eigenen Position wechselt er die Sprache und drückt damit auch sprachlich den Gegensatz zur Position des Vorredners aus. Schematisch sieht das Sprachwechselmuster folgendermaßen aus: XX: Sprache a YY: Sprache a - Sprache b XX: Sprache b - Sprache a YY: Sprache a XX: Sprache a Das Schema verdeutlicht, dass Sprecher XX sein Argument in Sprache a vorbringt. Sprecher YY übernimmt zunächst Sprache a und wechselt dann zur Formulierung des eigenen Arguments in Sprache b. Dann übernimmt Sprecher-XX Sprache b und wechselt zu Sprache a, als er sein Gegenargument formuliert. Findet eine inhaltliche Annäherung der Positionen statt, einigen sich die Gesprächspartner auf eine der beiden Sprachen. Diese Sprachwechselmuster bei Widerspruch und Aushandlung sind ziemlich stabil und werden über längere Streit- und Aushandlungssequenzen durchgehalten. Auch jüngere Bilinguale wenden sie schon in routinierter Weise an. 17 Die Muster, die die Jugendlichen in Mannheim verwenden, sind auch für andere bilinguale Kontexte beschrieben, vgl. u. a. Hinnenkamp (2005). Keim_sV-264End.indd 167 10.02.12 16: 57 168 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing Das will ich im Folgenden am Beispiel einer Auseinandersetzung zwischen den beiden 14 und 15 Jahre alten Schwestern Hatice und Gülsen zeigen. Der Disput entwickelt sich in folgender Situation: In einer Jugendeinrichtung sitzt Hatice mit der deutschen Betreuerin bei den Hausaufgaben, als Gülsen in den Raum kommt und sie auffordert mit der kleinen Schwester Şükrüye zum Arzt zu gehen. Hatice weigert sich, weil sie zuerst ihre Hausaufgaben zu Ende bringen will. Gülsen besteht jedoch darauf, dass Hatice sofort nach Hause kommt und sich um die kleine Schwester kümmert. Die Auseinandersetzung steigert sich zum Streit: Hatice verwendet als Argument eine Anweisung des Onkels, die ihr zeitlich Spielraum lässt. Gülsen vertritt die Position der Familie und lässt Hatice keinen zeitlichen Spielraum. Hatice setzt sich durch; sie bleibt bei den Hausaufgaben und Gülsen verlässt wütend den Raum. Die Auseinandersetzung lässt sich in drei Phasen gliedern: in der ersten geht es um eine Klärung der beiden Positionen; in der zweiten nimmt die Intensität der Auseinandersetzung zu mit Vorwürfen und Rechtfertigungen; die dritte Phase endet mit Beschwörungen, Beschimpfungen und der Niederlage Gülsens. Im Folgenden stelle ich Ausschnitte aus der ersten und der zweiten Phase der Auseinandersetzung vor, in denen die vorher beschriebenen Sprachwechselmuster bei Widerspruch und Aushandlung auftreten. 18 In den ersten beiden Beispielen geht es um die Klärung der Positionen von Gülsen (GÜ) und Hatice (HA): Beispiel 1 01 GL: Hatice * gitcen mi ükrüyeyle oraya ** |die| heult 02 Ü gehst du mit ükrüye dahin 03 HA: ne|den| 04 Ü warum 05 GL: fast ** 06 HA: nee: Als Gülsen den Raum betritt, fordert sie die Schwester in Türkisch auf: Hatice * gitcen mi Şükrüyele oraya ** (Hatice gehst du mit Şükrüye dorthin, 01). Durch die Sprachwahl stellt sie eine Interaktion zwischen Türkischsprachigen her und schließt die deutsche Hausaufgabenhelferin aus. Hatice übernimmt die Sprache, d. h. sie bestätigt, dass es um eine Angelegenheit zwischen den Schwestern geht, und fragt zurück: neden (warum, 03). Darauf begründet Gülsen die Forderung: die heult fast (01/ 05). Hatices Antwort, mit der sie Gülsens Aufforderung ablehnt, ist in Deutsch nee: (06). Die in Türkisch formulierte Aufforderung (01) wird mit einer in Deutsch formulierten Antwort (06) abgelehnt. 19 18 Zur ausführlichen Analyse vgl. Keim (2008), S. 366-380. 19 In den Sequenzen dazwischen werden Details geklärt, die Sprachwechsel folgen anderen Mustern. Hatices Übernahme von Türkisch dient der Bestätigung der Interaktion zwischen Bilingualen; und Gülsens Wechsel zu Deutsch in die heult fast folgt dem Wechselmuster Feststellung - Begründung; ausführlich dazu Keim (2008), S. 366ff. Keim_sV-264End.indd 168 10.02.12 16: 57 Sprachwechselmuster bei Aushandlungen und Streit 169 Das Widerspruchsmuster, in dem die eine Position in Türkisch, die andere in Deutsch formuliert wird, tritt auch in der direkt folgenden Sequenz auf: Beispiel 2 05 GL: dedi ki * saat ücte yola cikcakmisiniz 06 Ü sie hat gesagt dass ihr um drei losgeht 07 HA: <ücte > isch weiß nisch mal wo des a"rzt is 08 Ü um drei 09 GL: <ah ja > Gülsen liefert zur Verstärkung ihrer Position das Zitat der kleinen Schwester: dedi ki * saat ücte yola cikcakmisiniz (sie hat gesagt, dass ihr um drei losgeht, 05), in dem die Familienentscheidung ‚um drei Uhr geht Hatice mit ihr zum Arzt‘ unmissverständlich ausgedrückt wird. Das Zitat ist in Türkisch, d. h. Gülsen folgt dem Sprachverwendungsmuster bei Redewiedergaben, die in der Sprache, die in der realen Situation verwendet wurde, zitiert werden, im vorliegenden Fall Türkisch. Darauf fragt Hatice überrascht zurück <ü"cte > (um drei, 08), erhält die Bestätigung: <ah ja > (10), und verstärkt dann die vorherige Absage: ich weiß nisch mal wo des a"rzt is (08/ 11). Auch in diesem Austausch ist Gülsens Position (die Familienposition, 05) in Türkisch formuliert, Hatices Ablehnung in Deutsch (07). In den beiden Beispielen erfüllen die Sprachwechsel folgende Funktionen: • Die neue Gesprächskonstellation (Austausch zwischen den Schwestern und Ausschluss der Deutschen) wird durch Wechsel ins Türkische hergestellt; • die kleine Schwester, und damit die in der Familie vereinbarte Position, wird in Türkisch zitiert; • unterschiedliche Positionen werden in verschiedenen Sprachen formuliert: Gülsen formuliert ihre Forderung in Türkisch, Hatice die Ablehnung in Deutsch. In der zweiten Phase nimmt die Auseinandersetzung an Schärfe zu. Trotzdem versuchen die Schwestern eine Verständigung herzustellen und werben um Verständnis für die jeweilige Position. Das Zusammenspiel zwischen Verschärfung der Auseinandersetzung bei gleichzeitigem Bemühen um Verständigung spiegelt sich auch auf der Sprachebene wider; in einigen Beiträgen beginnen die Sprecherinnen mit Sprachübernahme und wechseln dann in die andere Sprache. Im folgenden Ausschnitt weist Gülsen mit Nachdruck (lautes Sprechen, Interjektion ya) auf die Dringlichkeit einer Lösung hin: 29 GL: <ya agliyo evde oturup ya > * 30 Ü Mensch die sitzt zuhause und weint 31 HA: <üc bucuk dedi hasan amca > 32 Ü Onkel Hasan hat halb vier gesagt 33 GL: bilmiyom * die hat um drei" 34 Ü ich weiß nicht Keim_sV-264End.indd 169 10.02.12 16: 57 170 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing 35 GL: gesagt o zaman ona sor- 36 Ü dann frag sie 37 HA: < nei"n > üc bucuk dedi 38 Ü halb vier hat er gesagt 39 HA: komm üc bucuk halt=s maul mann 40 Ü halb vier 41 GL: o zaman ona sor 42 Ü dann frag sie Gülsens eindringlichem Hinweis, dass die kleine Schwester zuhause wartet und weint (29), setzt Hatice ein Zitat des Onkels entgegen (<üc bucuk dedi hasan amca >, Onkel Hasan hat um halb vier gesagt, 31), der ihr größeren zeitlichen Spielraum eingeräumt hatte. Als Gegenargument zitiert Gülsen nochmals die kleine Schwester: bilmiyom die hat um drei" gesa: gt (33/ 35.) Im ersten Teil spricht sie Türkisch bilmiyom (ich weiß nicht), d. h. sie übernimmt Hatices Sprachwahl, das Zitat ist dann in Deutsch. Das ist das erste Mal, dass von dem Muster bei Zitaten abgewichen wird: Obwohl in der Referenzsituation mit Sicherheit Türkisch gesprochen wurde, wird die kleine Schwester jetzt in Deutsch zitiert. Da hier das Zitat die Funktion eines Gegenarguments zu Hatices in Türkisch formulierter Position hat, ist es in Deutsch formuliert. D. h. an dieser Stelle wird das Wechselmuster für Zitate durch das Widerspruchsmuster überlagert; offensichtlich hat es in der Dynamik der Auseinandersetzung Priorität. Hatice setzt ihre Position dagegen; sie übernimmt zunächst die Sprache der Schwester (Deutsch) und wechselt dann zu Türkisch: < nei: n > * üc bucuk dedi (halb vier hat er gesagt, 37). Daraufhin präsentiert Gülsen einen Lösungsvorschlag o zaman ona sor- (dann frag sie doch, 35). Doch Hatice reagiert mit einem Gegenvorschlag; sie wirbt dafür, dass die beiden sich auf Hatices Version einigen: komm üc bucuk (halb vier, 39). Da Gülsen hartnäckig bleibt (o zaman ona sor , dann frag sie doch, 41), wird Hatice grob: halt=s maul mann (39). Die Verlaufsstruktur und die Sprachenverteilung in diesem Teil der Auseinandersetzung sehen folgendermaßen aus: 20 29 GL: dringt auf eine Lösung Tk 31 HA: zitiert den Onkel (Eigenposition) Tk 33 GL: räumt ein + zitiert die Schwester (Gegenposition) Tk + Dk 37 HA: widerspricht + zitiert den Onkel (Eigenposition) Dt + Tk 35 GL: fordert zur Klärung auf Tk 39 HA: schlägt Einigung auf Eigenposition vor Dt + Tk 41 GL: fordert erneut zur Klärung auf Tk 39 HA: Beschimpfung Dt 20 Zur schematischen Darstellung: Links steht die Transkript-Zeilennummer, dann die Sigle für die Sprecherin; nach dem Doppelpunkt folgt die Charakterisierung der Handlung, die die Sprecherin mit dem Beitrag ausführt; auf der linken Seite steht das Kürzel für die in dem Beitrag verwendete/ n Sprache/ n: tk für Türkisch, dt für Deutsch. Keim_sV-264End.indd 170 10.02.12 16: 57 Soziale Bedeutung der Mischungen 171 In den Beiträgen 33 und 37 wird das Muster des Aufeinander-Zugehens (Sprachübernahme) mit dem Widerspruchsmuster (Sprachwechsel) kombiniert. Die Kombination der beiden Muster findet in der Phase der Auseinandersetzung statt, in der die Kontroverse an Intensität zunimmt, in der aber gleichzeitig die Bemühung um eine Lösung erkennbar ist, auch wenn die Lösungsvorschläge weit auseinander liegen. Die Sprachübernahme bei gesteigerter Intensität der Auseinandersetzung verleiht den Äußerungen eine fast beschwörende Qualität. Dass die beschriebenen Sprachwechselmuster selbst in einer emotional aufgeladenen Interaktion, in der die Beiträge mit hoher Geschwindigkeit aufeinander folgen, angewandt werden, zeigt ihre Stabilität und Normalität; sie gehören zum normalen Kommunikationsverhalten der bilingualen Jugendlichen. 6.8 Soziale Bedeutung der Mischungen Die Jugendlichen bezeichnen die deutsch-türkische Mischsprache als „eigene“ Sprache, die sie von monolingualen Deutschen ebenso wie von monolingualen Türken unterscheidet. Deutsch-türkische Mischungen sind für sie Identität stiftend und sie können sich damit zu allen anderen Sprachformen in ihrer Lebenswelt in Kontrast setzen. Diese Bewertung gilt für männliche und weibliche Jugendliche. 6.8.1 Mischsprache als Sprache der männlichen Jugendlichen Ich greife auf die in Kap.- 5 vorgestellte Gruppe zurück, auf Murat und seine Freunde, die in einer sehr offiziellen Gesprächssituation, einem Fernsehinterview, von einem regionalen Fernsehreporter ‚live‘ zu ihrem Sprachgebrauch befragt wurden. Die Jungen machten Murat zu ihrem Sprecher. Als der Reporter „Kanaksprak“, die von den Medien konstruierte Sprachform (vgl. 5.4.3) in direkten Bezug zur Sprache der Jugendlichen setzt, schafft er für die Jungen die Gelegenheit, sich in Relation zu den medialen Produkten zu positionieren: es gibt viel Comedy Leute die machen Kanaksprak nach * fühlt ihr euch da verarscht. Den Hinweis, dass Kanaksprak eine Ausdrucksform der Jugendlichen sei, weist Murat zurück und setzt sich und seine Clique in Kontrast zu medialen Figuren, die als ungebildet, einfältig, grob, derb und Kanaksprak sprechend konstruiert werden. Zur Herstellung des Kontrasts zwischen der eigenen Gruppe und den medialen Figuren verwendet Murat eine maximal kontrastierende, elaborierte Sprechweise, die keine ethnolektalen Elemente enthält. Als der Reporter fragt: die wollen euch nachmachen, antwortet Murat folgendermaßen: MU: die wü"rden uns gerne nachmachen ja * aber kö"nnen sie net * MU: weißt du/ also wissen sie ** wenn man zwei drei wörter MU: türkisch kann und dann versucht irgendwie die kana"kensprache MU: zu machen * dann geht des net * man muss schon was drauf haben MU: auf türkisch Keim_sV-264End.indd 171 10.02.12 16: 57 172 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing Der Reporter hakt nach und fragt, ob die von Comedians sehr häufig verwendeten Formeln wie krass alter nicht zur Sprache der Jugendlichen gehören: RE: also krass alter würde nicht stimmen Auch das weist Murat zurück und wechselt dabei ins Mannheimerische MU: nää * kra"ss alder is do=kä tü"agisch Er wird unterstützt durch seinen Freund Ümit: ÜM: des gehört nicht zu uns In dieser Sequenz setzten sich die Jugendlichen auf der Inhalts- und Ausdrucksebene in Kontrast zu medialen Figuren und weisen „Kanaksprak“, die Sprachform, die auf der Basis von Umgangsdeutsch mit vielen verfremdenden Elementen konstruiert wird, zurück. Das ist nicht „ihre Sprache“, sie gehört nicht zu uns. Dabei verwenden die Jungen Umgangssprache mit dialektalen (Mannheimerischen) Elementen in nää (nein), kä (kein) und tüagisch (türkisch). Da der Reporter selbst Dialektsprecher ist und mehrfach „Mannheimerisch“ als seine Sprache hervorhebt, zeigt Murat mit dem Wechsel, dass er es auch kann. Als der Reporter kurze Zeit später die Frage nach dem eigenen Sprachgebrauch stellt: wie sprescht ihr dann , antwortet Murat folgendermaßen: 01 MU: wie ich grad spreche * ganz normal * aber auf türkisch 02 MU: sprechen wir halt ** ja unter uns sprechen wir * n=aber 03 MU: moruk (was gibt’s Neues Alter) was geht ab * de"s is die 04 MU: kanakensprache * wenn man schon zwei drei sätze zusammen 05 MU: bildet auf türkisch plus zwei drei sätze auf deutsch * 06 MU: dann könnte man sagen kanakensprache * aber krass 07 MU: alder is * kein türkisch * Murat unterscheidet hier zwei Sprachformen: Zum einen die, die er gerade mit dem Reporter verwendet, Umgangssprache, und die er als ganz normal bezeichnet (01). Dann führt er am Beispiel der zweisprachigen Formel n=aber moruk was geht ab (was gibt’s Neues, Alter, was geht ab) die Sprechweise vor, die die Jugendlichen normalerweise untereinander verwenden und bezeichnet sie als „Kanakensprache“ (de"s is die kanakensprache, 03/ 04). Dann erklärt er in einer komplexen Formulierung wie sie aussieht: wenn man schon zwei drei sätze zusammen bildet auf türkisch plus zwei drei sätze auf deutsch * dann könnte man sagen kanakensprache (04/ 06). D. h. die deutschen und die türkischen Anteile müssen in dieser Sprache gleich verteilt sein. Damit legt er die Bezeichnung „Kanakensprache“ für Mischungen fest, in denen die deutschen und türkischen Anteile gleich verteilt sind. Das ist die normale Sprachform in der Jugendgruppe. Die Kategorie „Kanakensprache“ ist positiv bewertet und wird zu der von dem Reporter eingeführten Kategorie „Kanaksprak“ in Kontrast gesetzt. In dieser Sequenz, in der Murat die Mischsprache als „Kanakensprache“ und als Sprache der Gruppe festlegt, sind seine Formulierungen elaboriert (wenn-dann- Konstruktion, gehobene Lexik Sätze bilden). Auch auf der lautlichen und pros- Keim_sV-264End.indd 172 10.02.12 16: 57 Soziale Bedeutung der Mischungen 173 odischen Ebene bewegt er sich nahe am deutschen Standard. Insgesamt entsteht der Eindruck eines reflektierten und kompetenten Sprechers. 6.8.2 Mischsprache als Sprache der weiblichen Jugendlichen Hier greife ich auf die Gruppe der „türkischen Powergirls“ zurück (Kap.- 3.3), die zur Bewertung von Mischsprache mehrfach explizite und eindeutige Statements abgeben. Die folgenden Gesprächsausschnitte stammen aus derselben offiziellen Gesprächssituation, aus der ich im vorherigen Abschnitt zitiert habe. In dem Fernsehinterview, das der Reporter auch mit den „türkischen Powergirls“ durchführt, antwortet die Sprecherin der Gruppe, Tülay auf die Frage was redest du zuhause de"nn * hier in Mannheim folgendermaßen: also zuhause mit meinen eltern red isch türkisch aber wenn isch mit meinen geschwistern und mit meinen freunden rede rede isch- * fünfzig zu fünfzig also mal türkisch mal deutsch automatisch kommt dann türkisch und auch deutsch also es is eher ne mixsprache rein deutsch oder rein türkisch mit meinen freunden kann ich ni"cht weil * des kommt immer automatisch Und ihre Freundin Gülay ergänzt: des is halt so * wie die Tülay schon gesagt hat des is ne mixsprache Mischungen sind die Normalformen in der Gruppe, und in Gesprächen mit Monolingualen wird entweder Türkisch oder Deutsch gesprochen wird. Auf die Zusatzfrage des Interviewers bringt euch des vorteile oder nachteile sind sich beide Mädchen einig, dass Mischungen vor allem Vorteile haben: 01 GY: vorteile * | nach|teile au"ch aber 02 TÜ: eh vo"r|teile| ja" * 03 GY: auch vorteile in der hinsicht dass man ** halt 04 GY: mehr wortschatz hat * dass man mehr wörter kennt 05 GY: und dass uns die eltern und lehrer nicht verstehn Mischungen haben für die jungen Frauen vor allem Vorteile, da durch die Aktivierung beider Sprachen ihr Ausdrucksvermögen erheblich vergrößert wird. Außerdem ermöglichen die Mischungen den Ausschluss monolingualer Sprecher, der türkischsprachigen Eltern und der deutschsprachigen Lehrer. Gülay drückt hier aus (05), was auch andere Jugendliche so sehen: wenn wir nicht wollen dass die Lehrer was verstehen * sprechen wir Mischsprache. Die Mischsprache ist also sowohl Gruppensprache und Identität stiftend, als auch ein erprobtes Mittel zum Ausschluss anderer. Wie sehr die Mischsprache „eigene Sprache“ ist, kommt in dem folgenden Beispiel sehr deutlich zum Ausdruck. Als die 20-jährige Studentin Hülya schildert, welche Anstrengung es sie kostet, wenn sie bei einem Türkeibesuch nur Keim_sV-264End.indd 173 10.02.12 16: 57 174 Zweisprachige Kommunikationspraktiken: Code-switching und Code-mixing Türkisch sprechen muss, hebt sie die Bedeutung der Mischsprache hervor, die keine Anstrengung kostet: bei der mi"schsprache * da muss ich mich gar nicht konzentrieren also das ge"ht einfach * und es gibt tage * wo ich richtig merke dass ich die <mi"schsprache bevorzuge> * dass ich mich nur da wohl fühle Aus der Sicht der jungen Frauen ist die Mischsprache nicht nur das angenehmste und ausdrucksstärkste Kommunikationsmittel, sondern auch das ausschlaggebende Kriterium bei der Partnersuche. Dazu die dezidierte Äußerung von Fulya: ich könnte nie einen mann lieben wenn er meine sprache nicht kann * die mischsprache * einen türken nicht und auch keinen deutschen * ich könnte nie zu einem sagen * ich liebe dich * das klingt so hart * aber seni seviyorum (ich liebe dich) klingt schön LACHT Interessant in Fulyas Statement ist zunächst die Gewichtung und Bewertung von Deutsch und Türkisch. Für den Ausdruck starker, tief empfundener Emotionen wird Türkisch bevorzugt, Deutsch wäre zu hart. Die Bewertung des Deutschen als harte Sprache wird von vielen türkischstämmigen Migranten geteilt (vgl. Keim 2008). In Fulyas Statement kommt aber vor allem die ethnisch-kulturelle Bedeutung der Mischungen klar zu Ausdruck: Sie sind ein Symbol für die Zugehörigkeit zur Migrantengemeinschaft ebenso wie für die Abgrenzung gegenüber Deutschen und Türken; und sie sind Ausdruck eines neuen Selbstbildes jenseits der ethnischen Kategorien „deutsch“ und „türkisch“. Nach dem Prinzip, das Fulya hier explizit formuliert, haben viele Jugendliche gehandelt: Sie haben Freunde, Freundinnen, Männer und Frauen aus der Migrantengemeinschaft gesucht und geheiratet, also PartnerInnen, die Mischsprache sprechen. 6.9 Zusammenfassung und Ausblick Die vorgestellten Migrantenjugendlichen verfügen über ein reiches sprachliches Repertoire, das monolinguale deutsche und türkische Varietäten ebenso wie bilinguale Mischungen umfasst. In Gesprächen mit Deutschen bzw. Türken sprechen sie Deutsch oder Türkisch, wobei es für sie leichter ist, mit Deutschen nur Deutsch zu sprechen, als mit Türken nur Türkisch. Mit Bilingualen verwenden sie in selbstverständlicher Weise deutsch-türkische Mischungen und variieren je nach Gesprächssituation und -anlass zwischen Mischungen, die aus mehr türkischen oder aus mehr deutschen Anteilen bestehen. In der bilingualen Ausdrucksform fühlen sie sich am wohlsten; sie ist ihre natürliche Sprache. Sie selbst charakterisieren ihr Sprachverhalten durch die Zuordnung von Sprachen zu Situationen: untereinander sprechen wir Mischsprache * mit Deutschen sprechen wir Deutsch und zuhause Türkisch oder Mischsprache. Keim_sV-264End.indd 174 10.02.12 16: 57 Zusammenfassung und Ausblick 175 Die Zuordnung zwischen Situation und Sprache ist in der Alltagspraxis der Jugendlichen jedoch wesentlich komplexer, differenzierter und auch diffuser: monolinguales Deutsch wird nicht nur mit Deutschen, sondern auch untereinander gesprochen. Neben der deutschen Umgangssprache kommen auch andere Deutschvarietäten vor wie „Ghettoslang“ und „Mannheimerisch“. Mit den Eltern und Verwandten der ersten Generation sprechen die Jugendlichen dialektal geprägtes Umgangstürkisch, das oft mit deutschen Wörtern und Routineformeln durchsetzt ist. In den gemischtsprachigen Gesprächen verwenden sie Sprachwechselmuster, die in der Forschung auch für andere bilinguale Lebenswelten belegt sind. In Bezug auf die alltägliche Mischungspraxis gibt es Unterschiede, die mit den schulischen und beruflichen Lebenswelten zusammenhängen, in denen sich die Jugendlichen bewegen. Diejenigen, die noch die Hauptschule des Stadtgebiets mit einem hohen Migrantenanteil besuchen, sind stark in das soziale Leben der Migrantenpopulation eingebunden. Die Mischungen dort haben einen relativ hohen Anteil türkischer Elemente. Diejenigen, denen es gelungen ist, in höhere Bildungseinrichtungen außerhalb des Migrantenwohngebiets zu wechseln, bewegen sich in anderen sozialen Kontexten und haben anderen sprachlich-kommunikativen Anforderungen zu genügen. Deutsch nimmt einen zunehmend größeren Raum ein, und die Jugendlichen müssen, wenn sie bestehen wollen, ihre Ausdrucksfähigkeit in Deutsch erhöhen und schriftkulturelle Kompetenzen erwerben. Die veränderten Lebensbedingungen spiegeln sich auch in ihrem Ausdrucksverhalten: Gruppenbesprechungen finden in Deutsch statt und die Deutschanteile in den Mischungen nehmen zu. Doch die symbolische Bedeutung der Mischungen bleiben erhalten: Sie sind auch für beruflich erfolgreiche Erwachsene Symbol für ihren Migrationshintergrund (vgl. Cindark 2010) und für ihr hybrides Selbstkonzept jenseits ethnischer Grenzen, als weder türkisch noch deutsch, sondern als etwas Neues * ganz Anderes (Keim 2008). Mischungen werden weiter bestehen, da sie auch in jungen deutsch-türkischen Familien verwendet und an die Kinder weiter gegeben werden. Keim_sV-264End.indd 175 10.02.12 16: 57 Kapitel 7 Deutsch in multilingualen Kindergruppen Einleitung In den Kapiteln 5 und 6 wurden die Sprach- und Kommunikationspraktiken beschrieben, die Migrantenkinder und -jugendliche unter den spezifischen Bedingungen ihrer Lebenswelt ausbilden, und es wurde der Bezug zwischen Lebenswelt, Ausdrucksrepertoire und der Wahl von Ausdrucksvarianten zu bestimmten kommunikativen Zwecken dargestellt. In den Kapiteln 7 und 8 ändert sich die analytische Perspektive: Im Fokus steht nicht mehr die Vielfalt an Sprachformen und ihr Gebrauch, sondern der Erwerb von mündlichen und schriftlichen Fähigkeiten in der Zweitsprache Deutsch, wie er sich in Interaktionen in Kindergruppen und in Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen gestaltet. Im folgenden Kapitel geht es um sechs- und siebenjährige Kinder, deren Entwicklung vor der Einschulung bis kurz vor Ende des ersten Grundschuljahres dargestellt wird. Wenn Kinder unterschiedlicher sprachlicher Herkunft miteinander spielen, kann man beobachten, dass jedes Kind „seine“ Sprache spricht und seine Äußerungen durch Gestik und Mimik begleitet. Wenn Kinder im deutschen Kindergarten bereits etwas Deutsch erworben haben, spielt auch Deutsch eine Rolle. Die Kinder mischen dann Wörter und grammatische Strukturen aus den Erstsprachen mit deutschen Wörtern und Strukturen. Das konnten wir in einem Kindergarten, der nur von Migrantenkindern besucht wurde, beobachten. Als die Kinder eingeschult werden sollten, genügten ihre Deutschkompetenzen jedoch den schulischen Anforderungen nicht, und auf Wunsch der Eltern richteten wir einen Sprachförderkurs ein. Bereits nach kurzer Zeit ließen sich erstaunliche Entwicklungen feststellen, die ich im Folgenden beschreiben werde. Nach einem Blick in die Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb (7.1) stelle ich zunächst die Sprach- und Kommunikationsformen vor, die sich in den Kinderspielgruppen ausgebildet haben (7.2). Dann beschreibe ich unsere Sprachförderinitiative (7.3) und die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten, die die Kinder nach sieben Monaten Förderung (und neun Monaten Schule) erreicht haben (7.4). Keim_sV-264End.indd 176 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb 177 7.1 Blick in die Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb 1 Derzeit gibt es (noch) keine einheitliche Theorie dazu, welche angeborenen und welche umweltbedingten Voraussetzungen und Bedingungen den Spracherwerb ermöglichen. Doch es gibt eine Reihe von Ergebnissen aus empirischer Forschung, die „eine solide Ausgangsbasis für eine erfolgreiche Steuerung von sprachlichen Aneignungsprozessen bei Kindern und Jugendlichen im Rahmen des Unterrichts oder in besonderen Fördermaßnahmen bieten können“. (Kniffka/ Siebert-Ott 2009, S. 36). In der noch jungen Forschung zum Zweitspracherwerb von Kindern gibt es Konsens in Bezug auf folgende Aspekte: • Der frühe Zweiterwerb (bis zum Alter von 4-5 Jahren) verläuft vergleichbar dem Ersterwerb; d. h. die Kinder durchlaufen in erstaunlich kurzer Zeit ähnliche Phasen wie beim Erstspracherwerb; • bis etwa zum 7. Lebensjahr ist der Zweitspracherwerb eine Mischform aus den Erwerbsmechanismen des Erstspracherwerbs und des erwachsenen Zweitspracherwerbs; • nach dem 7. Lebensjahr verändert sich die Spracherwerbsfähigkeit; ab diesem Alter produzieren Kinder ähnliche Strukturen wie Erwachsene, die die Zweitsprache ungesteuert erwerben. Da der frühe Zweitspracherwerb ähnlich wie der Erstspracherwerb verläuft, fasse ich kurz die wichtigsten Erkenntnisse zusammen. 7.1.1 Der Erstspracherwerb Bereits lange bevor Kinder zu sprechen beginnen, können sie verschiedene Sprachen unterscheiden und verstehen viel von ihrer Umgebungssprache. Etwa mit 1,5 Jahren beginnt die Entwicklung im grammatischen Bereich, und bis zum 3. Lebensjahr haben Kinder sich die Grundstrukturen der Umgebungssprache angeeignet. Dieser Prozess ist bei allen Kindern zu beobachten. Für die einzelnen sprachlichen Bereiche, für Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexik, gibt es jedoch unterschiedliche Erwerbsphasen. a) Der Erwerb syntaktischer Strukturen Syntaktische Strukturen werden in aufeinander aufbauenden Phasen erworben, die in der Forschung u. a. als vier Meilensteine (Tracy 1991, 2008) beschrieben werden. Meilenstein I wird im Alter von 10-18 Monaten erreicht. Das ist die Zeit der Einwortäußerungen, die aus Nomen wie Mama, Papa, Auto, Puppe, Teddy, Partikeln wie weg, ab, auf, an, da rein, aus pragmatischen Wörtern wie ja, 1 Eine gute Einführung in die Forschung zum Zweitspracherwerb von Kindern geben Chilla/ Rothweiler/ Babur (2010) und Tracy (2008). Zum Erstspracherwerb vgl. u. a. Tracy (1991) und (2008), Rothweiler (2007), Chilla et al. (2010) und Kniffka/ Siebert-Ott (2009). Keim_sV-264End.indd 177 10.02.12 16: 57 178 Deutsch in multilingualen Kindergruppen nein, au, guck da und lautmalerischen Wörtern wie wauwau bestehen. Adjektive, Verben und Funktionswörter (Artikel, Präpositionen) fehlen weitgehend. Mit Meilenstein II, den das Kind im Alter von 18-24 Monaten erreicht, wird das syntaktische Prinzip erkannt, d. h. die Verbindung von zwei oder drei Wörtern zu bedeutungsvollen Äußerungen, wie z. B.: Mami auch Auto, Auto puttemacht, Joku essen, Mami auch gehn. Funktionswörter (Artikel, Präpositionen), Hilfsverben (haben, sein, werden) und Modalverben (können, sollen, müssen) fehlen immer noch, die Verben sind nicht flektiert und es gibt die Tendenz, Verben am Satzende zu platzieren. In Meilenstein III (im Alter von 24-36 Monaten) erfolgt ein qualitativer Sprung. Es treten Sätze mit finiten (flektierten) Verben auf und die ersten Modalverben werden verwendet. Vor allem stimmen das Subjekt und das Verb in Bezug auf Person (1., 2. und 3. Person) und Numerus (Singular und Plural) überein. 2 Trägt das Subjekt z. B. das Merkmal 3. Pers. Sg., dann auch das Verb (das Baby schreit). Außerdem haben die Sätze bereits die zielsprachliche Verbstellung: Im Hauptsatz tritt das finite Verb an die zweite Stelle (V2) und der infinite Teil bzw. die Verbpartikel kommen ans Satzende (VE), z. B. • ich will nich mehr esse • da falln jetz die Blätter runter. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs führe ich ein Modell an, das die syntaktische Grundstruktur des deutschen Satzes mit vier Feldern abbildet: SATZKLAMMER Vorfeld V2 Position Mittelfeld VE Position Das Kind hat heute seinen Vater gemalt Gestern hat das Kind seinen Vater nicht gemalt Wen hat das Kind gestern nicht gemalt? ___ hat das Kind gestern seinen Vater oder seine Mutter gemalt? Im Vorfeld können viele Elemente auftreten, das (mehrgliedrige) Satzsubjekt, (mehrgliedrige) Objekte, Temporal-, Lokal- und Modalangaben oder Fragepronomen. In der zweiten Position steht im Hauptsatz das finite Verb bzw. der finite Teil einer mehrgliedrigen Verbkonstruktion (V2). Nicht-finite Verbteile wie Verbpartikel, Infinitive, Partizipien, erscheinen in der Endposition (VE). V2 und VE bilden die Satzklammer, die stabilen Positionen im Satz. Im Mittelfeld können Objekte oder das Subjekt erscheinen (wenn es nicht im Vorfeld steht), außerdem die Satznegation, Partikel und verschiedene Modal-, Temporal- oder Lokalangaben. 2 Die Übereinstimmung von Subjekt und Verb wird als „Subjekt-Verb-Kongruenz“ bezeichnet. Person, Singular und Plural werden im Folgenden durch Pers., Sg. und Pl. abgekürzt. Keim_sV-264End.indd 178 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb 179 Hat das Kind Meileinstein III erreicht, hat es sich die beiden Verbpositionen für die Satzklammer angeeignet, auch wenn es gelegentlich noch Sätze mit Verbendstellung gibt. Außerdem tauchen in dieser Phase weitere Wortklassen auf: Artikel (der, die, das), Präpositionen (auf, in, an) und Hilfsverben (haben, sein). Gegen Ende der Phase kommen Kasusmarkierungen für Nominativ und Akkusativ dazu, und Funktionswörter (Artikel, Präpositionen) werden nicht mehr ausgelassen. Meilenstein IV (etwa ab 30 Monaten) beginnt, wenn die Kinder anfangen komplexe Sätze zu äußern, d. h. Sätze, die aus Haupt- und Nebensatz bestehen. Der Nebensatz wird durch eine Konjunktion (weil, wenn, dass, ob etc.) oder ein Relativpronomen eingeleitet und der finite Verbteil steht am Satzende, z. B. • er sagt, dass Peter gestern das Auto kaputt gemacht hat • Mama ist traurig, weil Anna nicht will • ich will wissen, ob die Julia das gemacht hat • der Junge, der Anna das Geschenk gebracht hat Die Geschwindigkeit, mit der Kinder die vier Meilensteine durchlaufen, ist erstaunlich; es gibt Kinder, die bereits kurz nach dem 2. Geburtstag Meilenstein- IV erreicht haben, andere produzieren die ersten Nebensätze erst nach dem 3.-Geburtstag. D. h. es gibt große Unterschiede in Bezug auf die Erwerbsgeschwindigkeit, manche Phasen können schnell und kaum merklich durchlaufen werden. Doch die Erwerbsabfolge ist bei allen Kindern ähnlich. Komplexere grammatische Konstruktionen, wie Infinitivsätze und Passivkonstruktionen werden sehr viel später erworben, oft erst mit Eintritt in die Grundschule. b) Erwerb der Negation Auch der Erwerb der Negation verläuft in Phasen. Tracy (2008, S. 88) führt folgende Schritte an: 1. satzexterne Negation, z. B. nein mama auto fahrn; 2. satzinterne Negation, z. B. mama nicht bus fahrn; 3. die Negation steht im Hauptsatz rechts vom finiten Verb, z. B. Mama fährt nicht Bus; 4. kein tritt als Begleiter des Nomens auf, z. B. Ich will keinen Apfel. Nach dem 3. und 4. Schritt wissen Kinder, dass im Hauptsatz die Negation rechts vom finiten Verb steht, wie in Mama fährt nicht Bus oder ich kann nicht schwimmen. Im Nebensatz dagegen steht die Negation links vom finiten Verb bzw. vom Verbalkomplex, z. B. weil er nicht kommt/ nicht kommen kann. c) Erwerb morphologischer Strukturen Parallel zur Satzstruktur erwirbt das Kind morphologische Strukturen (Chilla et al. 2010, S. 18ff.). Sobald Artikel erworben sind, werden Nominativ und Akkusativ unterschieden. Kinder eignen sich den Akkusativ vor dem Dativ an, oft Keim_sV-264End.indd 179 10.02.12 16: 57 180 Deutsch in multilingualen Kindergruppen kommt es auch zu Übergeneralisierungen des Akkusativs. Mit Meilenstein IV ist meist auch der Ausbau des Kasussystems erreicht, d. h. die Unterscheidung zwischen Akkusativ und Dativ sowohl in Bezug auf den Verbrahmen als auch in Präpositionalphrasen. Verben fordern unterschiedliche Ergänzungen. Es gibt Verben, die ein Objekt im Dativ erfordern, z. B. ich helfe ihm; andere erfordern den Akkusativ (ich sehe ihn, sie heiratet ihn), wieder andere erfordern ein Objekt im Akkusativ und Dativ, z. B. ich gebe ihm das Buch. Außerdem gibt es Verben, die eine Lokalangabe (ich wohne in der Stadt) oder eine Richtungsangabe (ich ziehe in die Stadt) erfordern. Auch Präpositionen fordern verschiedene Kasus; die Präpositionen zu und mit z. B. fordern Nomen oder Pronomen im Dativ (zu dem Vater, mit mir), während die Präpositionen in, auf, an, über etc. in Abhängigkeit vom Verb sowohl mit dem Dativ als auch mit dem Akkusativ erscheinen können, wie z. B. er läuft in die Stadt aber er wohnt in der Stadt. Viele Kinder haben das Kasussystem in Bezug auf Verbrahmen und Präpositionen mit dem 4. Lebensjahr erworben, einige Kinder brauchen bis zum 5. Lebensjahr. Um Flexive zu erwerben, also Elemente, die zur grammatischen Kennzeichnung von Wortformen dienen, muss das Kind eine Reihe von Aufgaben lösen: Es muss Flexive isolieren und grammatische Kategorien erkennen (Genus, Numerus, Kasus), es muss Flexive mit grammatischer Bedeutung belegen (z. B. -st trägt das grammatische Merkmal 2.Pers.Sg.), es muss Regeln für die reguläre Verbflexion entdecken (ge-mach-t ) und irreguläre Formen mit einer grammatischen Bedeutung verbinden (ge-schwomm-en). Wenn Kinder den Artikel erworben haben, markieren sie bald auch die Unterscheidung zwischen Singular- (der, die das) und Pluralformen (die). Wesentlich länger dauert der Prozess des Erwerbs der Pluralmarkierungen am Nomen. Häufig kommt es zu Übergeneralisierungen, und viele Kinder entscheiden sich für die Pluralflexive -n, -s oder -e, wenn sie die korrekte Form (noch) nicht kennen, z. B. Manns, Mutters, Biers. Auch der Erwerb der Genusmarkierungen an Artikel und Pronomen dauert lange. Genus und Plural sind lexikalische Informationen, die zum Nomen gehören. Für beide gibt es im Deutschen Muster, aber nur wenig klare Gesetzmäßigkeiten. Doch trotz dieser „Schwierigkeiten“ haben viele Kinder bis zum 4. Geburtstag Genus und Plural erworben. d) Wortschatzerwerb Während der Wortschatzerwerb zunächst nur langsam verläuft, beginnt ab Mitte des 2. Lebensjahres eine rasante Entwicklung, und das Kind erwirbt bis zu 10 neue Wörter pro Tag. Die Bedeutung neuer Wörter wird über Zeigen auf den Gegenstand oder über den Kontext erschlossen. Die Fähigkeit, die Bedeutung abstrakter Wörter wie Mut zu erfassen, entwickelt sich erst etwa mit dem 5.-Lebensjahr. Mit 6 Jahren verstehen Kinder zwischen 9000 und 14.000-Wörter, ihr produktiver Wortschatz umfasst 3000-5000 Wörter. Der Ausbau des mentalen Lexikons, die Ausdifferenzierung von Wörtern und der Erwerb neuer Wörter, ist ein lebenslanger Prozess; auch Erwachsene erweitern ihren Wortschatz ständig. Keim_sV-264End.indd 180 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb 181 7.1.2 Der frühe Zweitspracherwerb Die Frage, wann und wie sich im Laufe der Kindheit die Fähigkeit für den Erwerb einer zweiten oder mehrerer Sprachen verändert, wird in aktuellen Studien (u. a. Chilla 2008, Meisel 2007, Thoma/ Tracy 2006, Rothweiler 2007) z. T. kontrovers diskutiert. Dabei besteht Konsens darüber, dass Kinder von Beginn an zwei oder mehr Sprachen erwerben und darin „muttersprachliche“ Kompetenz erreichen können. Wird die zweite Sprache später erworben, geht man davon aus, dass es für den optimalen Erwerb einzelner sprachlicher Bereiche unterschiedliche Altersphasen gibt. Ein „optimaler“ Erwerb bedeutet, dass die Mechanismen des Erstspracherwerbs genutzt werden und das Kind sich die Zweitsprache ähnlich wie die Erstsprache aneignet. Bisher weiß man, dass es für den optimalen Erwerb einzelner Bereiche (Phonologie, Prosodie, Morphologie, Syntax) unterschiedliche Alterstufen gibt, doch wo die „Altersgrenze“ jeweils liegt, wird kontrovers diskutiert. Man geht davon aus, dass der phonologische und prosodische Bereich in einem frühen Alter (3 Jahre) optimal erworben wird, während es in einem späteren Alter zu Fossilisierungen kommen kann. Für den optimalen Erwerb syntaktischer Strukturen scheint es eine höhere Altersgrenze zu geben; sie können auch im Alter von 6-7 Jahren (noch) optimal erworben werden, während für den optimalen Erwerb morphologischer Strukturen ein früheres Alter (etwa 4-5 Jahre) angenommen wird. a) Der Erwerb von Satzstrukturen In Studien zu Kindern in Kindergärten mit einem hohen Migrantenanteil, in denen es keine Sprachfördermaßnahmen gab, stellten Thoma/ Tracy (2006) und Tracy/ Thoma (2009) fest, dass die Kinder, wenn sie mit ca. 3 Jahren mit Deutsch in Kontakt kamen, nur kurze Zeit (6-12 Monate) brauchten, um die Satzklammer (V2 und VE), Finitheit und Subjekt-Verb-Kongruenz zu erwerben. Der Erwerb folgte demselben Verlauf wie beim Erstspracherwerb. Obwohl es in den Erstsprachen (Russisch, Türkisch) keine Satzklammer und keine Artikel gibt, erwerben die Kinder diese Strukturen im Deutschen problemlos. Diese Ergebnisse stimmen mit anderen Forschungsergebnissen überein (vgl. Kroffke/ Rothweiler 2006, Chilla et al. 2010). 3 3 Auch in diesen Studien produzierten die Kinder bereits nach zwei Monaten Verben und nach drei Monaten erste Sätze mit V2- und VE-Stellung. In der V2-Position traten Modalverben auf, Formen von sein und Verben, die mit -t flektiert sind (z. B. macht, singt), während nicht-finite Verbelemente in der VE-Position erschienen. Wie beim Ersterwerb war das Flexiv -st (2.Pers.Sg.) das letzt erworbene Flexiv des Subjekt-Verb-Kongruenz-Paradigmas. Anders als bei erwachsenen Lernern gibt es nur wenige Belege für nicht-finite Verben in V2-Position. Nach dem Erwerb der Hauptsatzstruktur treten, ähnlich wie beim Ersterwerb, Fragesätze auf und kurze Zeit später Nebensätze. Keim_sV-264End.indd 181 10.02.12 16: 57 182 Deutsch in multilingualen Kindergruppen b) Der Erwerb des Wortschatzes Der Erwerb des Wortschatzes verläuft anderes als beim Ersterwerb. Beim frühen Zweitspracherwerb müssen die Kinder mit den neuen Wörtern auch neue Bedeutungskonzepte erwerben, da nur wenige Wörter aus der Erstsprache, in der Regel Konkreta, eine direkte Entsprechung in der Zweitsprache haben. Oft gibt es Unterschiede im Bedeutungsumfang, in der Bedeutungsübereinstimmung und im Sprachgebrauch; außerdem werden Raum- und Zeitkonzepte oft unterschiedlich kodiert. In Bezug auf den Wortschatzumfang im Deutschen sind mehrsprachige Kinder einsprachigen in der Regel zunächst unterlegen. Da die Kinder ihre Sprachen in verschiedenen Kontexten (Familie, Kindergarten, Peergroup, Schule) erwerben, wird der Wortschatz kontextspezifisch ausgebildet und ausdifferenziert. In der Zweitsprache ist der Wortschatz zunächst wenig ausdifferenziert, es werden allgemeine Wörter wie tun, machen, Dings verwendet. Doch mit dem Durchlaufen der Bildungsinstitutionen und durch geeignete Unterstützungsmaßnahmen wird der Wortschatz in der Zweitsprache sukzessive erweitert. c) Der Erwerb morphologischer Strukturen Beim Erwerb morphologischer Strukturen bereiten vor allem die Nominalflexion (Genus und Plural) und der Erwerb von Flexionsparadigmen erhebliche Schwierigkeiten. In beiden Bereichen verläuft der Erwerb anders als beim Erstspracherwerb. Zeitsprachensprecher produzieren häufig grammatische „Abweichungen“, wie er esst statt isst, die magt statt die mag, da kommte eine Frau statt da kam eine Frau; sie kommen besonders bei den irregulären Verben vor. Bei zweisprachigen Kindern finden sich auch gelegentlich Platzhalter für die finite Verbposition; das sind semantisch unspezifische Verben wie sein oder machen, z. B. • das is hier rein muss (das muss hier rein) • und dann mach der komm hoch (und dann kommt der hoch) d) Der Erwerb von Lokalisierungsausdrücken Auch Raum- und Lokalisierungsausdrücke bereiten Schwierigkeiten, vor allem dann, wenn erhebliche strukturelle und semantische Unterschiede zwischen Erst- und Zweitsprache bestehen. Bryant (2011) zeigt, dass räumliche Informationen, die im Deutschen präpositional und unbetont kodiert werden (in der Küche), den türkischen Kindern Probleme machen, in deren Erstsprache die räumliche Information postpositional und betont kodiert wird. Außerdem bereiten die erheblichen Bedeutungsunterschiede Probleme. Im Türkischen reicht eine unspezifische Lokalisierung, die durch das Lokativsuffix -de/ -da ausgedrückt wird; im Deutschen muss durch verschiedene Präpositionen spezifiziert werden. Das zeigen die folgenden Beispiele: Keim_sV-264End.indd 182 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb 183 1) tk.: kitap masada Strukturbeschreibung: kitap masa da wörtl.: Buch Tisch - Lokalsuf. dt.: das Buch ist auf dem Tisch 2) tk: kitap cantada Strukturbeschreibung: kitap canta da wörtl.: Buch Tasche - Lokalsuf. dt.: das Buch ist in der Tasche Während also im Türkischen in beiden Fällen das Lokalsuffix -da verwendet wird, muss im Deutschen die lokale Information durch die Präposition auf im ersten Beispiel und durch in im zweiten Beispiel spezifiziert werden. Türkische Postpositionen haben meist auch andere Bedeutungsdimensionen als deutsche. Zur Kodierung von Konzepten wie „auf dem Tisch“ und „über dem Tisch“ sind im Deutschen zwei Präpositionen notwendig, d. h. es wird je nach Kontext spezifiziert, während im Türkischen die Postposition üst- (‚Oberseite, oben‘) in beiden Fällen verwendet wird, wie die folgenden Beispiele zeigen: 4 3) tk.: Kitap masanın üstünde Strukturbeschreibung: Kitap masa nın üst ü n de wörtl.: Buch Tisch - Gen Oberseite - Poss. 3. Sg - Lokalsuf. dt.: das Buch liegt auf dem Tisch 4) tk.: Balon evin üstünde Strukturbeschreibung: Balon ev-in üst ü n de wörtl.: Ballon Haus-Gen Oberseite - Poss. 3. Sg - Lokalsuf. dt.: der Ballon ist über dem Haus Türkische Kinder brauchen aufgrund ihrer Erstsprache lange um die semantische Spezifizierung im Deutschen zu entdecken. Da vor allem betonte und post- 4 Üstgehört zu den sog. „unechten“ Postpositionen. Dabei handelt es sich um Nomen, hier das Nomen üst (‚Oberseite, oben‘), die mit ihrem Bezugswort eine Genitivverbindung eingehen. Das erste Nomen steht im Genitiv, das zweite Nomen erhält die Possessivendung der 3. Pers. Sg. ü, i, ö,ı . Je nach der Valenz des Verbs tritt dann noch die Kasusendung hinzu, z. B. -e,-de,-den. Keim_sV-264End.indd 183 10.02.12 16: 57 184 Deutsch in multilingualen Kindergruppen positionale Elemente ihre Aufmerksamkeit erregen, beginnen sie im Deutschen postpositionale Adverbien und Partikel zu verwenden und erschließen sich so das deutsche präpositionale System. Sie kodieren also lokale Informationen zunächst postpositional, z. B.: • das Buch ist in Tisch drauf • ein Geschenk is bei der Tasche drin In diesen Konstruktionen fungieren die Präpositionen in und bei als Platzhalter, die lokale Information wird in den Adverbien drauf und drin, die betont werden, kodiert. Dann werden Informationen präpositional und postpositional kodiert: • das Buch ist auf dem Tisch drauf • ein Geschenk ist in der Tasche drin Später, in der Regel im Grundschulalter, erscheint nur die Präpositionalphrase: • das Buch liegt auf dem Tisch Auch Unterschiede in der Verwendung eines Raumbegriffs bereiten türkischen Kindern Schwierigkeiten. Das Türkische verfügt z. B. über ein Äquivalent für „in“, das sich auf einen Innenraum bezieht, der nach allen Seiten begrenzt ist. Für Gebäude, Zimmer, Behälter wird der „in“- Ausdruck verwendet. Das Deutsche hat jedoch eine ungewöhnlich weite Ausdehnung des Innenraumkonzepts, z. B. Loch in der Straße, Riss in der Scheibe. Türkische Kinder versprachlichen solche Inhalte zunächst durch die Präposition auf. 7.1.3 Ältere Kinder Zum Zweitspracherwerb von Kindern, die erst im Grundschulalter in Kontakt mit dem Deutschen kommen, gibt es nur wenige Studien (z. B. Pienemann 1981, Wegener 1998, Haberzettl 2005, Chilla 2008). Beobachtet wurde bisher, dass es bei diesen Kindern bereits Strukturen gibt, die an den Erwerb von Erwachsenen erinnern. Das sind z. B. Sätze, in denen das Verb an der 3. Stelle steht (V3-Position, ohne Beachtung der Inversionsregel), und Sätze, bei denen ein nicht-finites Verb in V2-Position steht (Beispiele aus Chilla 2008): • dann der frosch geht weg (V3-Position) • der willy zuhören in der papa (infinites Verb in V2-Position) Oder der finite und der nicht-finite Verbteil bilden keine Klammer, wie in • die zwei bub geht machen eine schneemann (Haberzettl 2005). Solche Konstruktionen ähneln denen, die auch bei erwachsenen Lernern vorkommen. Das sind Hinweise darauf, dass bei Kindern, die erst im Grundschulalter mit Deutsch in Kontakt kommen, der Erwerbsprozess in den genannten Bereichen ähnlich wie bei Erwachsenen verläuft, und Verbflexion und Verbstel- Keim_sV-264End.indd 184 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb 185 lung (V2- und VE-Position) nicht unmittelbar aufeinander bezogen sind. Der Zweitspracherwerb von Kindern gleicht also je nach Erwerbsbeginn eher dem Erstspracherwerb oder dem Zweitspracherwerb Erwachsener. Die Frage nach dem Alter des Erwerbs bzw. der „kritischen Periode“ für den Erwerb sprachlicher Strukturen beschäftigt die Forschung seit vielen Jahren. Lange Zeit galt das Alter der Pubertät (ab 12 Jahren) als kritische Periode, d. h. als der Altersbereich, in dem die optimale Erwerbsperiode abklingt. Man nahm an, dass sich ab da die Spracherwerbfähigkeit ändert (Lenneberg 1967). Auf der Basis neurolinguistischer Studien geht man heute mit aller Vorsicht davon aus, dass das Alter ab 7 Jahren eine kritische Grenze zu sein scheint. Beginnt der Zweitspracherwerb davor, ist das grammatische System der Zweitsprache wie das der Erstsprache in der linken Hemisphäre des Gehirns organisiert. Liegt der Erwerb danach wird morphologisches Wissen für beide Sprachen in unterschiedlichen zerebralen Strukturen verarbeitet. Es scheint also fundamentale Unterschiede zwischen dem Erstbzw. frühem Zweitspracherwerb einerseits und dem Zweitspracherwerb andererseits zu geben. Nach dem 7. Lebensjahr sind die Lerner kognitiv reifer, verwenden metasprachliche und kontrastive Strategien und übertragen Wissen aus der Erstsprache auf die Zweitsprache. Die beiden Erwerbsprozesse unterscheiden sich qualitativ, die Erwerbsmechanismen sind unterschiedlich. Sicher scheint derzeit jedoch zu sein, dass Bilinguale weitere Sprachen leichter erwerben als Monolinguale. Die neurologische Hirnforschung vermutet (vgl. Nietsch 2007), dass sie ihre Sprachareale im Gehirn so ausgebildet haben, dass sich weitere Sprachen dort ansiedeln können und nicht, wie bei Monolingualen, für jede weitere Sprache ein eigenes Netzwerk aufgebaut werden muss. Sicher ist auch, dass für den Erwerb einer oder mehrerer Sprachen ein reichhaltiges Sprachangebot und vielfältige Interaktionen mit kompetenten Sprechern notwendig sind, damit Kinder die grammatischen Regeln der zweiten Sprache erschließen, einen differenzierten Wortschatz aufbauen und die pragmatischen Regeln für soziales Handeln erwerben können. Auch bei Erwachsenen ist ein hoher Beherrschungsgrad der Zweitsprache prinzipiell möglich. Er kann im morphologischen und syntaktischen Bereich gut gelingen, im phonologischen und prosodischen Bereich erscheint er mühsamer. Doch viele erwachsene Zweitsprachensprecher bilden eine hohe Sprach- und Kommunikationsfähigkeit aus, auch wenn sie nicht in allen Bereichen „muttersprachliche“ Qualität erreichen. Es gibt Zuwanderer, deren Deutsch nicht in allen Bereichen gut ist, die jedoch hervorragende Ärzte, Techniker und Geschäftsleute sind und die sich beruflich und sozial in die deutsche Gesellschaft integriert haben. Für Einheimische bedeutet das, dass sie lernen müssen in Gesprächen mit Zuwanderern deutlicher zwischen Inhalt und Form zu unterscheiden. Formale Fehler oder ein „fremder Akzent“ dürfen nicht Auslöser dafür sein, dass Zuwanderer als weniger kompetent oder als nicht dazugehörig betrachtet werden. Keim_sV-264End.indd 185 10.02.12 16: 57 186 Deutsch in multilingualen Kindergruppen 7.1.4 Der Erwerb narrativer Strukturen Wie die Forschung gezeigt hat, sind für den Erwerb von Erzählstrukturen Interaktionen, d. h. eng aufeinander bezogene Handlungen, zwischen Erwachsenen und Kindern besonders wichtig. Bereits 1996 zeigten Hausendorf/ Quasthoff, wie Kinder Erzählungen in Interaktionen mit Erwachsenen erwerben. Erzählungen haben spezifische Strukturen, und ein erfolgreicher Erzähler muss zumindest die folgenden Anforderungen erfüllen. Er muss • klarmachen, worum es in der Geschichte geht (thematisieren) und das Interesse der Zuhörer wecken; • den Handlungsverlauf einer inneren Logik entsprechend entfalten (elaborieren); • den Planbruch bzw. das Unerwartete detailliert und spannend schildern; • die Lösung, d. h. den Ausgang der Geschichte, darstellen und die Geschichte schließen. Damit Kinder solche Strukturen erweben können, müssen sie von Erwachsenen unterstützt werden. Die Befunde von Hausendorf/ Quasthoff wurden in neueren Untersuchungen bestätigt und präzisiert. Kern/ Quasthoff (2005) zeigten auf der Basis von ‚Erzählungen persönlicher Erlebnisse‘ und von ‚Fantasiegeschichten‘, dass Erwachsene je nach Gattung unterschiedliche Unterstützung anboten, die Basis für die Entwicklung der Erzählkompetenz der Kinder bildete. In Fantasiegeschichten sah die Unterstützung folgendermaßen aus: Wenn die Kinder das Thema genannt hatten, bekundeten die Erwachsenen großes Interesse durch erstaunte Ausrufe oder durch geheimnisvoll geflüsterte Wiederholung des Themas. Die nächsten Erzählaufgaben, Elaborieren, Schildern des Unerwarteten, unterstützten die Erwachsenen durch Nachfragen, z. B. durch ‚wie ist denn das passiert‘ oder ‚was hast du dann gemacht‘, die dem Kind zeigten, was erwartet wird und welche Informationen es als nächstes liefern muss. Interessant ist der Befund, dass Kinder keine Informationen mehr liefern, wenn der Erwachsene aufhört zu fragen (a. a. O. S. 28). Er belegt die enge Verbindung zwischen der Unterstützung des Erwachsenen und dem Kompetenzerwerb des Kindes: Wenn der Erwachsene aufhört zu fragen, hört das Kind auf zu erzählen. Bei Erlebniserzählungen ist wichtig, dass der Erwachsene zunächst eine mögliche Liste erzählbarer Ereignisse anbietet, die das Kind anregen, sein eigenes Thema zu finden. Dann muss der Erwachsene auf den Erzählinhalt reagieren, um das Kind zum Weitererzählen anzuregen, z. B. durch positive Kommentare, die Erzählwürdigkeit der Geschichte hervorheben und die Anteilnahme des Erwachsenen zeigen. Wichtig ist nicht so sehr das Ausmaß, sondern die Art und Weise der Unterstützung. Reines Lob für die Erzähltätigkeit liefert dem Kind keine strukturellen Anregungen und fördert seinen Entwicklungsprozess nicht. Auf der Basis ihrer Befunde bezweifeln die Autorinnen, ob im schulischen Unterricht, in dem die Lehrenden vor allem formale Rückmeldungen geben (z. B. ein Lob für gutes Erzählen), der Erwerb verbaler und narrativer Keim_sV-264End.indd 186 10.02.12 16: 57 Fallstudie: Kommunikation in multilingualen Spielgruppen 187 Kompetenzen gefördert wird, und sie schließen mit der Feststellung: „Es wurde deutlich, dass für den Erwerb narrativer Gattungen ein diskursives Unterstützungssystem (durch Erwachsene, m. A.) von grundsätzlicher Bedeutung ist“. 5 Auch Becker (2005a und b) zeigte, dass Kinder Erzählstrukturen in Interaktionen mit Erwachsenen erwerben. Sie untersuchte vier Erzählgattungen (Bildergeschichte, Fantasiegeschichte, Nacherzählung eines Märchens, Erzählung persönlicher Erlebnisse), die fünf-, sieben- und neunjährige Kinder produziert hatten, und stellte fest, dass die Aktivitäten der Erwachsenen in den drei Altergruppen sehr unterschiedlich waren. Bei den 5Jährigen waren die Erwachsenen am meisten aktiv, bei den 9Jährigen am wenigsten. Die Produktion von Bildergeschichten, Fantasiegeschichten und Nacherzählungen ist weniger von der Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen abhängig, als das Erzählen „persönlicher Erlebnisse“. Hier ist das eng aufeinander bezogene Handeln zwischen Erwachsenen und Kindern besonders wichtig; die Erwachsenen übernehmen zentrale Aufgaben und zeigen den Kindern das Modell einer „guten Geschichte“. Da bei allen Kindern die Erlebniserzählung nach der Darstellung des Unvorhergesehenen (des Planbruchs) aufhörte, der Strukturteil „Lösung“ also noch fehlte, wurden die Erwachsenen vor allem an dieser Stelle aktiv und zeigten durch ihre Fragen, wie die Erzählung enden muss. Die Forschungsergebnisse zum Erwerb narrativer Strukturen liefern wichtige Erkenntnisse für die Praxis: Kinder erwerben narrative Strukturen und verschiedene Textgattungen in Interaktionen mit kompetenten Erwachsenen. Sie brauchen deren aktive Unterstützung, sonst hören sie auf zu erzählen. Das gilt vor allem für Erlebniserzählungen, die strukturell eng an Interaktionen gebunden sind. 7.2 Fallstudie: Kommunikation in multilingualen Spielgruppen Gemeinsam mit Sema Aslan führte ich eine (ethnografisch-soziolinguistische) Studie in einem multiethnischen Kindergarten im Migrantenwohngebiet in Mannheim durch. 6 Mich interessierte zunächst, wie sich die Kinder organisieren, wie sie miteinander spielen und welche Sprach- und Kommunikationsformen sie unter den gegebenen Bedingungen ausbilden. In dem Kindergarten wurden vierzig Kinder aus neun Nationen von zwei deutschsprachigen Erzie- 5 Im Original heißt es: „It has become obvious that a Discourse Support System is of vital importance for the children’s successful achievement of different narrative genres“ (S. 54). 6 Zu dieser Studie vgl. das Dissertationsprojekt von Aslan, (i. Vorb.). Im Folgenden stelle ich einen kleinen Ausschnitt aus dieser Studie vor; die Gesprächsdaten habe ich selbst als Videobzw. Tondateien erhoben. Die hier vorgestellten Gesprächsbeispiele verwendeten S. Aslan und ich in mehreren gemeinsamen Vorträgen und Workshops. Eine ausführliche Darstellung der Untersuchung und eine umfassende Analyse der Daten erfolgt in dem Dissertationsprojekt, vgl. Aslan (i. Vorb.). Keim_sV-264End.indd 187 10.02.12 16: 57 188 Deutsch in multilingualen Kindergruppen herinnen betreut, die gelegentlich von Praktikantinnen unterstützt wurden. Türkischsprachige Kinder bildeten die größte Gruppe. Gemäß dem damaligen Konzept des Kindergartens hatten die Kinder viel Freiraum zum selbstbestimmten Spiel in Kleingruppen. Wir besuchten den Kindergarten zweibis dreimal pro Woche und machten Ton- und Videoaufnahmen von Kindern, die kurz vor der Einschulung standen, und von Interaktionen zwischen diesen Kindern und den Erzieherinnen. Wir konnten zwei Typen von Spielgruppen beobachten: einerseits homogene türkische Gruppen und andererseits multiethnische Gruppen. In den beiden Typen von Spielgruppen bilden sich verschiedene Kommunikationsformen aus: • in türkischen Spielgruppen deutsch-türkische Sprachmischungen (vgl. oben 6.3) • in multiethnischen Gruppen deutsche Lernervarietäten, z. T. gemischt mit Elementen aus den Erstsprachen. Im Folgenden stelle ich multiethnische Spielgruppen vor, und zeige, wie die Kinder die multilinguale Situation managen, welche Sprache(n) sie wählen und wie sie diese ihren Bedürfnissen entsprechend anpassen. In vielen Situationen funktioniert die Kommunikation sehr gut, in einigen scheitert sie. Das zeige ich an Beispielen und rekonstruiere die Bedingungen für das Gelingen bzw. Scheitern der Kommunikation. 7.2.1 Funktionierende Kommunikation 7 Drei sechsjährige Mädchen spielen „Kaufladen“; Isra (IS) übernimmt die Rolle der Verkäuferin, sie steht hinter der Kaufladentheke, Burcu (BU) und Meral (ME) spielen die Kundinnen. Burcu und Meral sind türkischsprachig, Isra hat irakisches Arabisch als Erstsprache. Im Transkriptausschnitt fordert Burcu ihre Freundin Meral auf bei Isra Brot zu kaufen. 8 Beispiel 1 01 BU: k z m bi ekmek alsana hadi orda (...) bah 02 Ü mädchen geh ein Brot kaufen los da schau 03 IS: was willst du >sag isch nisch versteh< 04 ME: ekmek ver 05 Ü gib mir Brot 06 BU: mag da/ mag da brötschen essen 07 IS: brö"tschen >brötschen 08 IS: brötschen < * ein euro 7 Das Gesprächsmaterial stammt aus einer von mir gemachten mehrstündigen Videoaufnahme. Die folgende Darstellung ist eine erweiterte Version von Keim 2007b. 8 Die türkischen Elemente sind fett gedruckt. Keim_sV-264End.indd 188 10.02.12 16: 57 Fallstudie: Kommunikation in multilingualen Spielgruppen 189 Burcus Aufforderung an Meral ist in Türkisch formuliert (01). Meral folgt der Aufforderung, geht in Isras Geschäft, und Isra erkundigt sich nach Merals Wunsch. Sie spricht Deutsch: was willst du (03). Meral nennt ihren Wunsch in Türkisch ekmek ver (‚gib mir Brot‘, 04), d. h. Meral hat die in Deutsch formulierte Frage verstanden, antwortet aber in Türkisch. Das versteht Isra nicht: sag isch nisch versteh (03), und Meral reformuliert ihren Wunsch in Deutsch: mag da/ mag da brötschen essen. Das türkische Wort ekmek (‚Brot‘) gibt sie durch brötschen wieder, ein Wort, das sie im Kindergarten gelernt hat: Beim gemeinsamen Mittagessen gibt es oft Brötchen als Beilage zur Suppe. Auch die Formulierung mag brötschen essen erinnert an den Kontext „Mittagessen“, wenn die Kinder auf die Frage der Erzieherin, ob sie Brötchen möchten, mit ich mag ein brötchen antworten. Meral verwendet also eine Formulierung, die aus einem Kontext stammt, in dem im Beisein der Erzieherin Deutsch gesprochen wird. Das versteht Isra, sie gibt Meral ein „Spielbrot“ und verlangt von ihr „Spielgeld“ (einen Euro, 07/ 08). Diese kleine Szene verdeutlicht sehr schön, wie die Kinder die ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen einsetzen. Burcu und Meral sprechen untereinander Türkisch. Gegenüber der arabischsprachigen Irsa wird zunächst Türkisch verwendet, als sie nicht versteht (das sagt sie in Deutsch), wechselt Meral ins Deutsche. Sie produziert jedoch kein deutsches Äquivalent des türkischen ekmek ver, sondern eine inhaltlich einigermaßen passende Formel aus einem anderen Kontext. Die deutschen Äußerungen der Kinder sind kurz; sie bestehen aus 3-4 Wörtern, die Verben sind flektiert, Subjekt und Verb stimmen meist in Person und Numerus überein. Die V2-Position im Hauptsatz ist (noch) nicht stabil (isch nisch versteh), in anderen Äußerungen kommt sie allerdings vor: • BU: die macht der kamera • IS: die gebt die apfel Daneben gibt es auch Äußerungen, in denen Verben unflektiert auftreten und die Satzklammer nicht realisiert ist: • IS: dann kind da rein machen • BU: ich so machen • ME: Isra auch spielen In Bezug auf die Nominalphrase haben die Kinder die Grundstruktur (Art.+N) erkannt ist, wie in die Apfel oder der kamera; doch es gibt noch Strukturen aus einer früheren Erwerbsphase, wie in haus große (N+Adj.) Neben lernersprachlichen Äußerungen gibt es auch zielsprachliche Formulierungen. Das sind in der Regel formelhafte Anweisungen, wie sie die Kinder täglich von den Erzieherinnen hören, und die sie sich als feste Verbindungen angeeignet haben, z. B. komm wir bauen was, pass auf, mach das so, alle aufräumen, du musst aufhören, das machen wir jetzt. Keim_sV-264End.indd 189 10.02.12 16: 57 190 Deutsch in multilingualen Kindergruppen Die Verständigung unter den Kindern beim Spielen funktioniert gut, solange sich die lernersprachlichen Äußerungen auf die materielle Ausstattung der Situation oder auf anwesende bzw. bekannte Personen, deren Eigenschaften oder Handlungen beziehen; d. h. wenn die Referenzobjekte aus der Situation erschließbar sind und die Handlungen auf einem geteilten Wissen basieren. Das zeigen die folgenden Beispiele. Im ersten Beispiel spielen Isra und Burcu mit Puppen. Als ich mit der Kamera dazu komme, fordert Burcu ihre Freundin auf in die Kamera zu lachen. Daraufhin führt Isra mit ihrer Barbie-Puppe vor der Kamera einen kleinen Tanz auf und lacht: Beispiel 2 01 BU: Issa pass auf die macht der kamera mach lachen 02 IS: LACHT UND TANZT barbie willen auto spielen barbie 03 IS: willen auto spielen * des is babyborn Burcus Äußerungen bestehen aus Aufforderungen (01). Die Formel pass auf, eine typische Kindergartenformel, ist zielsprachlich realisiert. In den übrigen Äußerungen wird das semantisch unspezifische Verb machen in verschiedenen Funktionen verwendet: zum einen in der Bedeutung von ‚filmen‘ (‚die filmt mit der Kamera‘), und zum anderen zur Verstärkung des Imperativs im Sinne von ‚lach doch‘ oder ‚lach doch mal‘. In Burcus Äußerungen ist die V2-Stellung realisiert und die Verben sind flektiert. In Isras Äußerungen ist ebenfalls die V2-Position realisiert (barbie willen auto spielen, 02), doch nur das Verb der letzten Äußerung ist flektiert (des is babyborn). Babyborn ist der Name der Puppe. Auch im nächsten Beispiel gelingt die Kommunikation zwischen Isra und Burcu sehr gut. Isra schlägt vor, aus Schaumstoffmatten ein Haus zu bauen. Sie beginnt Matten zusammenzutragen und fordert Burcu auf, ihr dabei zu helfen. Damit beginnt der Gesprächsausschnitt: Beispiel 3 01 IS: Burcu * isch will bauen * wir machen des alle aufräumen 02 K ZEIGT AUF GEGENSTÄNDE AM BODEN 03 IS: un wir bauen was * haus große <jetz komm> * wir machen 04 K ZEIGT DIE GRÖßE MIT DEN HÄNDEN SAMMELT 05 BU: ok * HILFT AUFRÄUMEN 06 IS: eine haus ja * so geht de haus * guck da 07 K MATTEN STELLT MATTEN AUF, DEUTET 08 BU: HILFT MIT DEN MATTEN isch sitzen hier 09 K ZEIGT AUF LÜCKE 10 IS: nei"n nich jetz Keim_sV-264End.indd 190 10.02.12 16: 57 Fallstudie: Kommunikation in multilingualen Spielgruppen 191 Die Interaktion zwischen den Mädchen ist situationsbezogen. Die Formulierungen des alle aufräumen (01) und guck da (06) werden durch Gestik unterstützt. Zusammen mit so geht de haus (06) demonstriert Isra, wie sie sich das Haus vorstellt. Wie Burcus Reaktionen zeigen, versteht sie Isras Aufforderungen: Dem Spielvorschlag (01/ 03) stimmt sie zu (ok, 05), dann folgt sie Isras Aufforderung zum Aufräumen (<jetz komm>, 03) und hilft Isra beim Aufstellen der Matten (08), das zeigt die Videoaufzeichnung. Als Burcu sich mit der Frage isch sitzen hier (08) in die Lücke zwischen zwei Matten setzen will, wird sie von Isra zurückgewiesen nei"n nich jetz (10), und kommt dieser Aufforderung nach. In dieser Spielsequenz ist Isra die Initiierende, macht Vorschläge und gibt Anweisungen; Burcu folgt ihr und passt sich in das Spiel ein. Isra führt ‚am Material‘ vor, was sie baut, und kommentiert ihre Handlungen. Die Aufforderungen an Burcu werden gestisch und mimisch unterstützt. Isras Äußerungen bestehen aus drei bis vier Elementen. Ein Teil der Äußerungen hat formelhaften Charakter: wir machen des, wir bauen was, jetzt komm, guck da, nein nich jetzt. Sie gehören zum Kindergartenrepertoire und sind zielsprachlich formuliert. In den übrigen Äußerungen isch will bauen, so geht de haus sind Subjekt- Verb-Verbkongruenz (1. und 3. Pers. Sg.), V2-Position und die Satzklammer realisiert; und es gibt auch bereits Artikel in der Nominalphrase: eine haus, de haus. Bei einer Äußerung fällt die doppelte Verbkonstruktion mit machen als Platzhalter auf: wir machen des aufräumen. Die Struktur der Äußerungen zeigt, dass beide Mädchen in Bezug auf den Erwerb der Grundstrukturen des Deutschen auf dem Weg zu Meilenstein III sind bzw. ihn bereits erreicht haben. Bei Isra ist auch die Grundstruktur der Nominalphrase (Art.+N) vorhanden und sie wendet die Inversionsregel an (so geht de haus). Strukturen mit Verb-dritt-Position (also ohne Inversion), wie sie beim späteren Zweitspracherwerb und bei Erwachsenen auftreten, kommen bei beiden Kindern nicht vor. Die vorgestellten Beispiele zeigen, dass die Kommunikation zwischen den Mädchen bei den in eine konkrete Situation eingebundenen Spielen sehr gut funktioniert. Die lernersprachlichen Äußerungen sind situationsgebunden und werden gestisch, mimisch und durch Handlungen begleitet. 7.2.2 Verstehensprobleme Verstehensprobleme entstehen jedoch, wenn die Kinder nicht auf ein gemeinsames Hintergrundwissen zurückgreifen können, oder die Bedeutung der Äußerungen nicht unmittelbar aus der Situation erschließbar ist. Das ist z. B. der Fall, wenn ein Kind dem anderen ein Ereignis schildert, das es nicht kennt, oder wenn es ein neues Spiel erklärt, wie im folgenden Beispiel. Isra bittet Burcu mit ihr „Fangeles“ zu spielen, ein Spiel, dessen Regeln Burcu nicht kennt. Bei diesem Spiel wird durch Auszählen ein Kind bestimmt, das das andere fangen muss. Keim_sV-264End.indd 191 10.02.12 16: 57 192 Deutsch in multilingualen Kindergruppen ‚Fangen‘ wird mit einem kleinen Schlag auf Schulter, Rücken oder Arm des Kindes, das gefangen werden muss, symbolisch ausgedrückt. Die Kinder bezeichnen diesen Vorgang als abtatschen. Das Kind, das gefangen werden muss, versucht durch geschickte Täuschungsmanöver möglichst lange ‚frei‘ zu bleiben. Gelingt es dem verfolgenden Kind das andere zu berühren, wird es abgetascht. Danach wird das abgetatschte Kind zum Verfolger, und das Spiel beginnt von neuem. Vor dem Spiel legen die Kinder mithilfe eines Abzählreims die Spielrollen fest: wer ausgezählt ist, muss die Rolle des Fangenden übernehmen. Vor dem folgenden Transkriptausschnitt hat Isra mit einem Auszählreim die Rolle der Fangenden bestimmt. Der Ausschnitt beginnt mit dem Verkünden des Auszählergebnisses: Beispiel 4 19 IS: ok die Burcu muss fangen * ja 20 BU: so machen ich 22 IS: <nei"n> du muss mi"sch fangen * spiel fangeles ** 23 IS: <oh Burcu jetzt mach ma fa"ngen * mach ta"tsch 24 BU: wa: s 25 IS: <nei"n> du muss fangen un mir tatsch> 26 BU: so isch weiß net 27 BU: was * >tatsch doch< 28 IN: dann zeig=s ihr * sie weiß nich was 29 IN: sie machen muss 30 IS: <guck ma * isch muss=dich du=muss=rennen 31 IS: un isch=muss=disch ta": tsch * wenn=sch ta": tsch muss=du du > 32 IS: ja |so geht | a: h GEHT ENTTÄUSCHT WEG 33 BU: isch |weiß net| WENDET SICH AB Isras Feststellung ok die Burcu muss fangen bedeutet, dass Isra wegrennt und Burcu sie fangen muss. Burcus Frage zeigt jedoch, dass sie nicht weiß, was die Anweisung (Burcu muss fangen) bedeutet. Sie versucht es mit einem Handlungsvorschlag so machen ich (20), den sie nonverbal vorführt (Geste des Wegrennens, das zeigt die Videoaufzeichnung). Das weist Isra zurück <nei"n> und reformuliert ihre Handlungsanweisung: du muss mi"sch fangen * spiel fangeles (22). Da Burcu nicht in der gewünschten Weise reagiert, wird Isra ungeduldig: <oh Burcu jetz mach ma> (23). Burcus Nachfrage wa: s (24) zeigt wieder, dass sie die Anweisung nicht versteht. Isra wiederholt und expandiert sie zu: fa"ngen * mach ta"tsch (23). Burcu versteht immer noch nicht und unternimmt einen neuen Versuch so (26), der wieder zurückgewiesen wird. Jetzt wird Isra noch ungeduldiger und wiederholt mit Nachdruck: <nei"n du muss fangen un mir tatsch> (25). Darauf macht Burcu deutlich, dass sie nichts versteht (isch weiß net was, 26) und sie gibt die Anweisung an Isra zurück: Keim_sV-264End.indd 192 10.02.12 16: 57 Intervention: eine Sprachförderinitiative für Erstklässler 193 >tatsch doch< (27). Jetzt greift die Interviewerin (IN) ein, erklärt Isra, dass Burcu nichts versteht und bittet sie das Spiel zu erklären (28/ 29). Isras Erklärung isch muss=dich du=muss=rennen un isch=muss=disch ta": tsch * wenn=sch ta": tsch muss=du du (30/ 32) besteht aus einer schnell und verschliffen gesprochenen Aneinanderreihung von Beschreibungen eigener und fremder Handlungen im Sinne von ‚ich muss dich (fangen), du musst rennen und ich muss dich tatschen, wenn ich (dich) tatsch, musst du (mich fangen)‘. Die Äußerungen sind z. T. verkürzt (isch muss=disch und muss=du) und enthalten wieder die spielspezifische Vokabel tatsch, die Burcu bisher nicht verstanden hat. Außerdem vertauscht Isra die Spielrollen: jetzt ist sie die Verfolgerin und Burcu die Verfolgte. Die Erklärung scheitert, Burcu versteht immer noch nicht und wendet sich ab (33). Isra ist enttäuscht, ihre Spielinitiative ist gescheitert (32). Das Verständigungsproblem zwischen den Kindern liegt auf mehreren Ebenen: • Auf der Ebene der Perspektivenübernahme: Isra berücksichtigt das fehlende Wissen von Burcu nicht, d. h. ihre Äußerungen sind nicht auf Burcus Vorwissen zugeschnitten; die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme kann sie aufgrund ihres Alters noch nicht erworben haben (vgl. Kap.-8.1). • Auf der Ebene der Informationsübermittlung: Die Erklärung ist sehr schnell gesprochen, undeutlich artikuliert und enthält verkürzte Formen. Außerdem sind die Spielrollen vertauscht, das verkompliziert das Verstehen. • Auf der lexikalisch-semantischen Ebene: Isra erklärt das Spiel nur mit Vokabeln, die Burcu nicht kennt (fangen und tatsch). • Burcu macht ihrer Freundin nicht genügend deutlich, „was“ sie an den Anweisungen nicht versteht. Die altersgemäßen Fähigkeiten der Kinder und ihr sprachliches und interaktives Wissen reichen bei Weitem nicht aus, um das Verstehensproblem zu erkennen und in angemessener Form zu lösen. In solchen Situationen bräuchten die Kinder Unterstützung durch Erwachsene, die ihnen helfen, das Problem zu klären und die ihnen Lösungsstrategien zeigen. 7.3 Intervention: eine Sprachförderinitiative für Erstklässler Die vorgestellten Kinder standen zum Zeitpunkt der Aufnahme kurz vor der Einschulung. Auf Drängen der Eltern etwas zu tun, damit die Kinder besser Deutsch sprechen, entstand die Idee einer Initiative zur Sprach- und Wissensförderung, die für die Kinder kostenlos sein sollte. Zusammen mit der „Forschungs- und Kontaktstelle für Mehrsprachigkeit“ der Universität Mannheim nahmen wir Kontakt mit dem staatlichen Schulamt auf und präsentierten den Vorschlag, für Schulanfänger in den Grundschulen mit hohem Migrantenanteil Keim_sV-264End.indd 193 10.02.12 16: 57 194 Deutsch in multilingualen Kindergruppen Förderkurse einzurichten. Unsere Idee traf auf Interesse und auf großzügige Unterstützung des Schulamtes. 9 Ausgehend vom aktuellen Stand der Spracherwerbsforschung, der Forschung zum Erwerb narrativer Strukturen (vgl. oben 7.1) und in Orientierung an neueren Immersionsprogrammen 10 entwarfen wir folgendes Förderprogramm: Wir wollten den Kindern auf spielerische Weise ein stabiles und umfassendes Alltagswissen in deutscher Sprache vermitteln, bei ihnen die Freude am Sprechen und am differenzierten Ausdruck wecken und sie beim Erwerb wesentlicher Diskursmuster unterstützen, deren Beherrschung für die Kommunikation in Alltag und Schule notwendig ist. Die Förderung sollten Studierende übernehmen, und die Fördergruppen sollten aus höchstens 6 Kindern bestehen, um intensive Interaktionen unter den Kindern und zwischen den Kindern und der Förderkraft zu ermöglichen. Wir knüpften an die thematischen Interessen der Kinder an (Tiere, Vulkane, Dinos, Ritter, Autos etc.), boten ihnen altersgemäße Geschichten, Bilder, Rätsel, Spiele, Rollenspiele und Filme an und ermöglichten Situationen, in denen sie viele Anlässe zum Fragen, Erklären, Erzählen, Vorspielen, Diskutieren und Streiten hatten. Um ein großes Sprachstrukturangebot zu sichern, nahmen die Erwachsenen die Äußerungen der Kinder auf, formulierten sie um, stellten sie in Frage, führten sie ins Spielerische weiter etc., so dass die Kinder erzählen, erklären, begründen und Alternativen entwickeln mussten. Auf diese Weise lernten die Kinder Diskursformen wie „Erzählen“, „Beschreiben“, „Argumentieren“ etc. kennen und beherrschen. Die Erwachsenen führten die für das jeweilige Diskursmuster typischen Strukturen ein und veranlassten die Kinder zu entsprechenden Reaktionen. Die Vorbereitung der Studierenden, die Organisation ihres Einsatzes in den Schulen, ebenso wie die regelmäßigen Besprechungen über den Verlauf der Förderkurse übernahm die Forschungs- und Kontaktstelle für Mehrsprachigkeit. In Anknüpfung an den Lehrplan für die erste Klasse stellten wir außerdem Materialien zusammen, mit denen das Fachvokabular systematisch aufgebaut und 9 In der Zwischenzeit gibt es im Raum Mannheim mehrere Förderinitiativen, z. B. über Stiftungen finanzierte Förderprogramme für Kindergartenkinder. Zu Informationen für den Mannheimer Raum vgl. das Mannheimer Zentrum für Mehrsprachigkeit an der Universität Mannheim, www.mazem.de. Mazem ist eine gemeinnützige GmbH (Tracy und Partner), die aus der ‚Forschungs- und Kontaktstelle Mehrsprachigkeit‘ hervorgegangen ist. Die Einrichtung leistet seit 2002 Wissenstransfer aus der sprachwissenschaftlichen Forschung in die Praxis in Form von wissenschaftlicher Evaluation, Sprachstandstestung, Sprachförderprojekten, Vorträgen und Weiterbildungsveranstaltungen für ErzieherInnen und LehrerInnen. 10 Einen guten Überblick über verschiedene Immersionsprogramme und ihre Erfolge gibt Siebert-Ott 2001. Immersion bedeutet „Sprachbad“ bzw. das Eintauchen in eine neue Sprachwelt. Bei dieser Methode werden Kinder auf natürliche Weise mit der neuen Sprache konfrontiert. Sie wird zur Umgangs- und Arbeitssprache, auch wenn die Kinder sie zu Beginn noch nicht kennen. Sie erschließen sich die neue Sprache selbst aus dem Zusammenhang, in dem sie gebraucht wird. Die Immersionsmethode eignet sich vor allem für jüngere Kinder. Keim_sV-264End.indd 194 10.02.12 16: 57 Die Entwicklung der Kinder 195 in Geschichten, Bildern, Spielen etc. eingeübt werden konnte. Die Förderung fand zweimal wöchentlich nachmittags für zwei Stunden in den Schulen statt und war auf das erste Grundschuljahr begrenzt. In einzelnen Gruppen wurden Sprachaufnahmen gemacht, die im Rahmen von Qualifikationsarbeiten (Seminar-, Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten) ausgewertet wurden. 11 Die Finanzierung übernahmen die Schulen und verschiedene Sponsoren und Stiftungen der Metropolregion Rhein Neckar. 12 Die Information der Eltern erfolgte regelmäßig im Rahmen von Elternabenden, die wir bei Bedarf auch in Türkisch oder Italienisch durchführten. Über zweisprachige Förderkräfte gelang der Austausch mit den Eltern meist sehr gut; die Eltern arbeiteten mit und sorgten dafür, dass die Kinder regelmäßig am Förderunterricht teilnahmen. 7.4 Die Entwicklung der Kinder nach neun Monaten Schule und sieben Monaten Förderung Die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten aller Kinder hatten sich nach neun Monaten Schule und sieben Monaten Förderkurs erheblich verbessert: Die Kinder sprachen flüssiger, artikulierten besser und sie hatten vor allem Freude daran, miteinander Deutsch zu sprechen, auch in ethnisch einheitlichen Gruppen. Sie hatten die Fähigkeit erworben spontan zu formulieren, Informationen zu erfragen und Erklärungen zu geben, einem Nichteingeweihten eine Geschichte zu erzählen und Hintergründe verständlich zu machen. Sie diskutierten miteinander, neckten und stritten sich, sie konnten Fantasiegeschichten erzählen und Sprachrätsel lösen. Kinder, die zu Schulbeginn still und schüchtern waren, waren gegen Ende der ersten Klasse in ihrer Redelust kaum zu bremsen. Im Folgenden werde ich am Beispiel von zwei Kindern, Turan und Burcu, den sprachlich-kommunikativen Fortschritt darstellen. Von beiden hatten wir Gesprächsaufnahmen aus der Kindergartenzeit, die mit den Materialien aus dem Förderkurs verglichen werden konnten. Beide Kinder habe ich bereits vorgestellt: Turan in Kap.-6.3, wie er im Gespräch mit der Interviewerin Deutsch und Türkisch mischt; und Burcu im Spiel mit Meral und Isra (Abschnitt 7.2). Die Aufnahmen, aus denen die Gesprächsausschnitte stammen, wurden während des Förderunterrichts in der Schule gemacht. In Kap.- 7.4.1 stelle ich eine scherzhafte Interaktion vor, an der Turan beteiligt ist; und in 7.4.2 eine Erzählung, die Burcu gemeinsam mit der Kursleiterin gestaltet. 11 Vgl. z. B. die Arbeiten von Krempin/ Mehler (2009), das Dissertationsprojekt von Aslan (i. Vorb.) und die Veröffentlichungen unter www.mazem.de. 12 Sponsoren waren die Heinrich-Vetter-Stiftung, der Duden-Verlag, die BASF, der Rotary- Club und der Lions-Club. Keim_sV-264End.indd 195 10.02.12 16: 57 196 Deutsch in multilingualen Kindergruppen 7.4.1 Scherzhafte Interaktion Der türkischsprachige Turan (TU), die albanischsprachige Ermina (ER) und der italienischsprachige Dennis (DE) sitzen im Klassenraum um einen Tisch und betrachten Fotos, die bei einer Theateraufführung gemacht worden waren, an der Ermina und Dennis mitgespielt hatten. Der Transkriptausschnitt beginnt, als Ermina der Kursleiterin erklärt, dass Dennis auf dem Foto in Verkleidung zu sehen ist. In dem Theaterspiel musste Dennis sich als Frau verkleiden, und sein Freund Ahmet heiratete ihn: Beispiel 5 01 ER: Dennis hat sich verkleidet als eine frau un der Ahmnet 02 ER: hat ihn geheiratet * so=n spie: l 03 TU: ja ey kuck ehm der hat 04 TU: sich verkleidet zu eim frau der hat sich geschminkt * 05 TU: des war de"r * isch wusste gar nischt dass des der Dennis is Noch bevor die Förderkraft auf Erminas Erklärung (01/ 02) zu Dennis Theaterrolle reagieren kann, schaltet sich Turan ein, der das Theaterspiel nicht gesehen hat. Jetzt, nachdem Ermina das Foto erklärt hat, erkennt er den als Frau verkleideten Dennis. Voller Erstaunen registriert er, dass Dennis geschminkt ist: ja ey kuck ehm der hat sich verkleidet zu eim frau der hat sich geschminkt (03/ 04). Seine nächste Äußerung des war de"r * isch wusste gar nischt dass des der Dennis is bezieht sich auf das Betrachten des Fotos kurze Zeit vorher, als Turan in der „Frau“ noch nicht den verkleideten Dennis erkannt hatte. Die verschiedenen Zeitstufen (als er den verkleideten Dennis erkennt, und die Zeit davor, als er die Person auf dem Foto noch nicht erkannt hat) markiert Turan durch die Verwendung verschiedener Tempora, Perfekt und Imperfekt. Bis auf das Genus in zu eim frau (fem. statt mask.) sind Turans Formulierungen zielsprachlich realisiert, ebenso wie die von Ermina. In den Aufnahmen ein Jahr vorher, als Turan in die türkische Jungengruppe im Kindergarten eingebunden war, sprach er vor allem deutsch-türkisch gemischt (Kap.-6.3). In der jetzigen Situation produziert Turan selbständig komplexe Deutschstrukturen. Auch das nächste Beispiel zeigt, wie weit sich Turan sprachlich entwickelt hat. Turan, Ermina und Dennis fertigen Zeichnungen zu einer Geschichte an, die die Kursleiterin gerade vorgelesen hat. Beim Zeichnen sprechen die Kinder über Details in der Geschichte und diskutieren darüber, „wie es wirklich war“. Dennis zeigt keine große Begeisterung am Zeichnen, und versucht durch Toilettengänge die Zeit zu verkürzen. Turan und Ermina machen sich über ihn lustig, und Ermina droht scherzhaft, dass er, wenn er ständig zur Toilette muss, wie ein Baby Windeln tragen müsste. Der Transkriptausschnitt beginnt mit Dennis Reaktion auf Erminas scherzhafte Drohung: Keim_sV-264End.indd 196 10.02.12 16: 57 Die Entwicklung der Kinder 197 Beispiel 6 01 DE: nei"n 02 ER: do"ch wenn du kaka machst oder pipi * machst du da drauf 03 IN: du kriegst ne windel wenn du dauernd auf=s klo musst 04 ER: am baby macht ma des immer LACHT 06 TU: oder du gehst/ du gehst ins krankenhaus * weil 07 TU: du immer pipi machen musst 08 IN: >vielleicht is=a krank< 09 TU: ja vielleicht hat=a magen un darmgrippe 10 IN: bitte 11 TU: <vielleicht hat=a magen un darmgrippe> 12 IN: mhm Dennis weist die Drohung energisch zurück nei"n (01). Darauf erklärt Ermina, dass sein Problem durch Anlegen einer Windel gelöst werden könnte: do"ch wenn du kaka machst oder pipi * machst du da drauf (02). Die Interviewerin (IN) bestärkt Erminas Vorschlag du kriegst ne windel wenn du dauernd auf=s klo musst (03), und Ermina begründet den Vorschlag am baby macht ma des immer (04). Darauf schlägt Turan eine weitere Alternative zur Lösung von Dennis Problem vor; er rät zu einem Krankenhausaufenthalt: oder du gehst/ du gehst ins krankenhaus * weil du immer pipi machen musst (06/ 07). Die Interviewerin knüpft mit der Vermutung vielleicht is=a krank (08) an den Vorschlag an, und im nächsten Zug toppt Turan die Krankheitsvermutung mit der präzisen Bezeichnung für eine mögliche Krankheit: ja vielleicht hat=a magen un darmgrippe (09). Die Äußerung überrascht die Interviewerin (bitte , 10), und Turan wiederholt, laut und deutlich sprechend, dass Dennis eine magen und darmgrippe haben könnte. In diesem scherzhaften Spiel auf Kosten von Dennis kooperieren Ermina, die Interviewerin und Turan sehr eng miteinander. Die Züge sind aufeinander bezogen und die übertreibenden Vorschläge steigern sich in drei Runden: zunächst die Androhung einer Windel (ER, unterstützt von IN), dann die Vermutung einer ernsthaften Krankheit (TU, unterstützt von IN) und als letzter Zug die Explizierung dieser Krankheit (TU). In dem Spiel zeigen Ermina und Turan, dass sie die Regeln für spielerisch-übertreibende Frotzeleien beherrschen: Die Angriffe auf Dennis sind nicht realitätsbezogen (Dennis ist nicht krank); d. h. sie beziehen sich nicht auf eine reale Schwäche und verletzen ihn nicht wirklich, sondern sie beziehen sich auf sein durchsichtiges Manöver, sich mit Ausreden vor einer Aufgabe zu drücken. Die gemeinsam produzierten spielerischen Züge folgen dem Prinzip der Steigerung. Keim_sV-264End.indd 197 10.02.12 16: 57 198 Deutsch in multilingualen Kindergruppen Eine Analyse der Sprachstrukturen zeigt, dass Turan im Bereich der Satzstruktur Meilenstein IV erreicht hat. Das folgende Schema gibt einen Überblick über die von ihm verwendeten Satzstrukturen: Turan: Satzstrukturen SATZKLAMMER Vorfeld V2 Position Mittelfeld VE-Position ich wusste gar nicht ----dass […]… du gehst ins Krankenhaus ----weil […] der hat sich verkleidet der hat sich geschminkt des war der ----vielleicht hat er magen und darmgrippe ------ Konjunktion dass das der Dennis ist weil du immer Pipi machen musst Turan produziert komplexe Haupt- und Nebensatzkonstruktionen. Außerdem kennt er die Struktur der Nominal- und Präpositionalphrase und gebraucht sie zielsprachlich, unterscheidet zwischen regelmäßiger (verkleiden - verkleidet, schminken - geschminkt) und unregelmäßiger Verbflexion (wissen - weiß - wusste), realisiert das Subjekt-Verb-Kongruenz-Paradigma (auch die 2. Pers. Sg.), die Stellung der Negation und die Inversionsregel. In den nach siebenmonatiger Förderzeit dokumentierten Gesprächsmaterialien gibt es nur wenige Äußerungen von ihm, die nicht zielsprachlich sind. 7.4.2 Gemeinsames Erzählen: Burcu und die Kursleitern Mündliches „Erzählen“ in Gesprächen ist eine komplexe Aufgabe. 13 Wie oben (7.1.4) bereits dargestellt, sind bei der Herstellung einer Erzählung folgende Aufgaben zu erledigen: • Die Erzählung muss angekündigt werden, das Interesse der Gesprächsbeteiligten finden und von ihnen angenommen werden (Thematisieren und Ratifizieren). 13 Einen Forschungsüberblick zu dem Diskursmuster „Erzählen“ geben Gülich/ Hausendorf (2001); zur Untersuchung von Kindererzählungen vgl. z. B. Hausendorf/ Quasthoff (1996), Becker (2005a und b). Den Aspekt der interaktiven Herstellung von Alltagserzählungen fassen Hausendorf/ Quasthoff (1996) im Begriff der Ko-Konstruktion zwischen Erzähler und Rezipient. Keim_sV-264End.indd 198 10.02.12 16: 57 Die Entwicklung der Kinder 199 • Die Geschichte muss adressatenspezifisch gestaltet und der Ereignisverlauf in seiner inneren Logik dargestellt werden; es müssen Informationen zum Ort der Handlung, den Personen, zum Ereignishintergrund und zum Handlungsmotiv gegeben werden (Elaborieren). • Das Unvorhergesehene muss spannend dargestellt und der Höhepunkt durch Dramatisierung gestaltet werden (Gestalten des Planbruchs bzw. der Komplikation); • Das Problem muss gelöst, und die Erzählung muss abgeschlossen werden (Lösung). Außerdem müssen explizite oder implizite Bewertungen in einzelne Strukturelemente eingebaut oder am Schluss formuliert werden (Evaluation). In Bezug auf diese Anforderungen werde ich eine Erzählung, die die siebenjährige Burcu zusammen mit der Kursleiterin gestaltet, betrachten. Von Interesse ist, welche Erzählaufgaben sie bewältigt und worin die Unterstützungsleistung der Kursleiterin bestehen. Das Gespräch findet in der Pause des Förderunterrichts statt. Als Burcu (BU) der Kursleiterin (IN) einen Ring zeigt, entwickelt sich ein Gespräch, in dem Burcu schildert, dass ein gleichaltriger Junge, der noch im Kindergarten ist und den sie dort regelmäßig besucht, ihr einen Heiratsantrag gemacht und einen goldenen Ring geschenkt hat. Der Beginn der Erzählung ist leider wegen des Lärms im Pausenraum kaum verständlich; die Erzählung besteht aus folgenden Strukturelementen: a) Thematisieren und Identifizieren der Personen Das Transkript startet, nachdem das Gespräch bereits begonnen hat. Beispiel 7 01 DURCHEINANDER 02 BU: LACHT <weil ich hab geheiratet > 03 IN: wen hast du denn geheiratet 04 BU: Murat diese nischt diese nischt andere Murat 05 IN: du hast mir doch erzählt vorher du hast den ring bekommen 06 IN von wem von |wem | 07 BU: ja |von |eh/ die=s im kindergarten weißt=u gell 08 IN: ach de"r Murat ja: 09 BU: a"ndere Murat ja du kennst ihn gell 10 IN: den kenn ich aus=em kindergarten 11 BU: ja de=is türkisch gell 12 IN: +ja den kenn ich |und/ | 13 BU: |der | hat mir ring gegeben 14 BU: aber ring war ganz schö: n der war aber/ der war gold [Kurze Unterbrechung durch ein anderes Kind] Keim_sV-264End.indd 199 10.02.12 16: 57 200 Deutsch in multilingualen Kindergruppen Zu Beginn des Ausschnitts (die Äußerung ist strukturell auf eine Vorgängeräußerung bezogen) nennt Burcu ein außergewöhnliches Ereignis isch hab geheiratet und stuft es durch Lachen hoch. Das weckt die Neugierde der Kursleiterin, sie fragt nach dem Bräutigam und zeigt ihr Interesse an dem Thema (03). Burcu nennt den Namen des Jungen (Murat) und erklärt, während sie auf einen Klassenkameraden deutet, der auch Murat heißt, dass nicht er der Bräutigam ist (diese nischt , 04), sondern ein anderer Murat (andere Murat, 04). Darauf fragt die Kursleiterin, wer ihr den Ring gegeben hat, von dem sie vorher erzählt hat (du hast mir doch erzählt vorher du hast den ring bekommen * von wem , 05 und 06). Burcu antwortet nicht sofort, sondern erklärt zunächst, dass „ihr Murat“ noch im Kindergarten ist und IN ihn von dort kennt: von eh/ die=s im kindergarten weißt=u gell a"ndere Murat (07/ 09); d. h. sie identifiziert „ihren“ Murat, schneidet die Äußerung auf das Wissen von IN zu, die auch sofort versteht, um wen es sich handelt (ach de"r Murat ja: , 08). Nachdem Burcu sicher ist, dass IN „ihren Murat“ identifizieren kann (ja du kennst ihn gell und de=is türkisch gell , 09/ 11), beantwortet sie INs Fragen (in 03 und 05): der hat mir ring gegeben (13). Danach folgt die positive Bewertung des Ringes: aber ring war ganz schö: n der war aber/ der war gold (14). In dieser Sequenz zeigt Burcu, dass sie wichtige Interaktionsregeln beherrscht: Sie beginnt mit der Klärung der Identität von „Murat“ noch bevor die Kursleiterin eine falsche Referenz herstellt, und vergewissert sich mehrfach, dass Murat identifiziert ist. Sie erkennt und erfüllt Zugzwänge, die die Kursleiterin für sie herstellt, und schneidet ihre Äußerungen adressatenspezifisch zu. b) Chronologische Ereignisschilderung, Detaillierungen und Bewertungen Nach der kurzen Unterbrechung leitet IN wieder zum Thema zurück: Beispiel 8 [Kurze Unterbrechung durch ein anderes Kind] 15 IN: also Murat 16 BU: der hat mir erst/ wir haben im bau gespielt 17 IN: ja 18 BU: im bau" wir ham was gebaut dann: eh/ der hat mir 19 IN: der ring war 20 BU: eine ring gegebt aber des war go"ld 21 IN: aus gold und wie groß war der ring 22 BU: ja nicht 23 IN: ein bisschen klein so 24 BU: groß ein bisschen klein 25 IN: für deine kleine hand * Nach der Rückführung zur Erzählung (also Murat , 15) fährt Burcu mit der Darstellung fort: der hat mir erst/ wir haben im bau gespielt im bau" wir ham Keim_sV-264End.indd 200 10.02.12 16: 57 Die Entwicklung der Kinder 201 was gebaut (16/ 18). Interessant ist die Selbstkorrektur: Burcu beginnt mit der Darstellung einer Handlung Murats der hat mir erst/ , bricht ab, bettet die Handlung situativ ein (wir haben im bau gespielt wir ham was gebaut), nimmt dann die abgebrochene Äußerung wieder auf und fährt mit der Handlungsdarstellung fort (dann: eh/ der hat mir der hat mir eine ring gegebt aber des war go"ld , 18/ 20. Die Selbstkorrektur zeigt, dass Burcu weiß, dass Handlungen situativ eingebettet werden müssen, damit sie für den Adressaten verständlich sind. IN reagiert auf die Besonderheit des Ringes und hebt sie nochmals hervor (der war aus gold , 19/ 21). Mit der Frage nach der Größe des Ringes (21) zeigt sie, welche Eigenschaft noch wichtig ist, um seine Bedeutung verstehen: Der Ring ist nicht nur sehr wertvoll, sondern auch passend für Burcu gewählt (23/ 25). c) Szenische Darstellung des Heiratsantrags Danach schildert Burcu in einer Szene, wie der Heiratsantrag zustande kam: Beispiel 9 25 IN: für deine kleine hand * 26 BU: wir warn wieder in die kindergarten 27 BU: da hat er gesagt kannst du mich nicht heiraten * hat/ 28 IN: der Murat hat gefragt darf ich dich 29 BU: hat=a gesagt 30 IN: heiraten >ja < 31 BU: ja * da hab ich ja gesagt Dieses Mal beginnt Burcu gleich mit der situativen Einbettung wir warn wieder in die kindergarten (26) und stellt dann den Heiratsantrag szenisch dar. Sie zitiert Murat hat er gesagt kannst du mich nicht heiraten (27) und, auf INs Rückfrage (der Murat hat gefragt darf ich dich heiraten , 28/ 30), ihre Zustimmung: da hab ich ja gesagt (31). Diesen wichtigen Teil der Erzählung gestaltet sie als kleine Szene, d. h. sie erfüllt die Erzählanforderung des Dramatisierens. Wie aus der Erzählforschung bekannt ist, verfügen siebenjährige Kinder über die Fähigkeit, Redewiedergaben zur Dramatisierung einzusetzen (vgl. Kap.- 8.1). D. h. Burcu verfügt über Kompetenzen, wie sie für gleichaltrige monolinguale Kinder beschrieben sind. 14 d) Erste Komplikation Mit der Schilderung des Heiratsantrags ist die Erzählung noch nicht zu Ende. Burcu fährt eigenständig fort und schildert die erste Komplikation: Die (ver- 14 Ein Vergleich mit den Erzählungen der siebenjährigen monolingualen Kinder, die Hausendorf/ Quasthoff (1996) untersuchten, zeigt, dass Burcus Erzählfähigkeiten altersgemäß entwickelt sind. Keim_sV-264End.indd 201 10.02.12 16: 57 202 Deutsch in multilingualen Kindergruppen mutlich ältere) Schwester Murats ermahnt die Kinder, dass sie, bevor sie die Heirat beschließen, das Einverständnis der Familie einholen müssen: Beispiel 10 32 IN: ja 33 BU: dann/ * wir warn in puppenecke dann hat sie/ äh sein 34 IN: die schwester ja 35 BU: schwester=s gekommen * von de=Murat 36 BU: jadann: hat sie gesagt ihr könnt beide heiraten 37 IN: das is richtig 38 BU: aber * erster seine mutter fragen 39 IN: erst muss man die mutter fragen und eh/ und hast 40 IN: du auch dei"ne mutter gefragt und was sagt 41 BU: mhm 42 K BESTÄTIGEND 43 IN: deine mutter deine mutter hat okay gesagt du 44 BU: okay 45 IN: kannst ihn heiraten Sie beginnt mit der Einführung in die Situation dann/ wir warn in puppenecke (33), fährt fort mit dann hat sie/ , bricht wieder ab und führt die Schwester von Murat ein: äh sein schwester=s gekommen * von de=Murat. Dann nimmt sie die abgebrochene Äußerung wieder auf und vervollständigt sie zu einer Redeeinleitung: jadann hat sie gesagt (36). Auch diese Selbstkorrektur ist interessant, da sie zeigt, dass Burcu ein wichtiges Verfahren zur Herstellung von Textkohäsion beherrscht: Neue Akteure müssen zuerst explizit eingeführt werden, erst danach kann durch Pronomen auf sie verwiesen werden. Die Selbstkorrektur als eine Art „innerer Monitor“ offenbart, dass Burcu dieses Verfahren beherrscht: Sie führt zuerst die „Schwester Murats“ ein und verweist dann durch Pronomen auf sie. Außerdem schneidet sie die Äußerung wieder adressatenspezifisch zu: Sie berücksichtigt, dass die Kursleiterin Murats Schwester nicht kennt und führt sie nicht namentlich ein, sondern kategoriell (als ‚Schwester Murats‘). Die Schwester erklärt sich mit der Heiratsabsicht der Kinder einverstanden, trägt ihnen aber auf, die Erlaubnis der Mutter einzuholen (36/ 38). IN bestätigt die Richtigkeit des Rats (38/ 39) und fragt dann: und hast du auch dei"ne mutter gefragt (39/ 40). Damit bringt sie Burcu und den innerfamiliären Entscheidungsprozess in den Fokus. Darauf reagiert das Kind nur durch mhm (41), sagt aber nichts über die Antwort der Mutter. IN fragt weiter: und was sagt deine mutter (40/ 43); auch darauf antwortet Burcu nur ‚einsilbig‘ (okay , 44). Die knappen Reaktionen kontrastieren zu ihrer vorherigen Keim_sV-264End.indd 202 10.02.12 16: 57 Die Entwicklung der Kinder 203 Erzählfreude und erwecken den Eindruck, dass sie ausweicht. Das verstärkt das Interesse von IN, sie fragt weiter: deine mutter hat okay gesagt du kannst ihn heiraten (43/ 45) und bringt Burcu in Zugzwang über die Situation zuhause zu sprechen. e) Zweite Komplikation: Das Familienverbot Nach einer längeren Pause schildert Burcu, dass es bei ihr zuhause Widerstand gab. Die Mutter stimmte dem Heiratswunsch zwar zu, aber der für solche Entscheidungen maßgebliche ältere Bruder (der Vater war vermutlich nicht anwesend) ließ nicht zu, dass Burcu das Geschenk behält: Beispiel 11 45 IN: kannst ihn heiraten 46 BU: ** aber meine mutter hat mein bruder gefragt 47 IN: ja 48 BU: kuck mal die hat ein ring gegeben von de=Murat und und 49 IN: ja 50 BU: die haben/ eh ** ich hab de=ring eh rausgemacht 51 IN: ja 52 BU: da hab ich den wieder hingelegt dann hab ich 53 IN: aha * und wo ist der ring jetzt 54 BU: wieder gegebt In dieser Sequenz geht es um die für Burcu schmerzliche Wende in der Geschichte. Aus der Szene zwischen Mutter und Bruder gibt sie nur die Rede der Mutter wieder aber meine mutter hat mein bruder gefragt guck mal die hat ein ring gegeben [bekommen] von de=Murat (46/ 48) und spart die Antwort des Bruders aus. Dann beginnt sie mit einer Handlungsdarstellung von Mutter und Bruder: und und die haben/ eh * (48/ 50), bricht ab und schildert die Konsequenz, die sich für sie selbst ergab: ich hab de=ring eh rausgemacht * da hab ich den wieder hingelegt * dann hab ich wieder gegebt (50/ 54). Daraus lässt sich die Antwort des Bruders rekonstruieren: Er hat Burcu verboten den Ring zu behalten. Diesen schmerzlichen Teil der Geschichte spart sie in der Darstellung aus, und nur die Detaillierung in drei Erzählschritten - den Ring abnehmen, ihn hinlegen und ihn dann zurückgeben - lässt erkennen, wie schwer es ihr fiel, sich von dem Ring zu trennen. Darauf initiiert die Kursleiterin nochmals eine Fokusverschiebung: aha * und wo ist der ring jetzt (52), die Burcu veranlasst, den noch offenen Teil der Geschichte darzustellen, die Rückgabe des Ringes. Keim_sV-264End.indd 203 10.02.12 16: 57 204 Deutsch in multilingualen Kindergruppen f) Lösung und Gestaltschließung Auf die Frage nach dem Verbleib des Ringes stellt Burcu fest, dass er wieder bei Murat ist: Beispiel 12 53 IN: aha und wo ist der ring jetzt 54 BU: wieder gegebt 55 IN beim Murat und was hat der Murat 56 BU: von de=Murat mhm 57 IN: gesagt 58 BU: ** mm: * ÜBERLEGT ** hier ich will den ring nich 59 BU: haben ich hab gesagt okay okay hat sie [er] gesagt 60 IN: oh ** der wollte den ring nicht zurück ham * der wollte 61 IN: dass du ihn behältst 62 BU: ja Burcus Antwort steht in Widerspruch zum Beginn der Erzählsituation, als sie der Kursleiterin den Ring gezeigt hat. Doch die Kursleiterin geht darauf nicht ein, sondern fragt nach Murats Perspektive: und was hat der Murat gesagt (55/ 57). Diese Frage kommt für Burcu offensichtlich unerwartet (Pause und Verblüffungsäußerung mm: *, 58); für sie scheint die Erzählung mit der Schilderung des schmerzlichen Teils, dem Verbot den Ring zu behalten, abgeschlossen zu sein. Sie denkt kurz nach (58) und führt dann in einer weiteren Szene vor, wie die Kinder die Situation verarbeitet haben. Murat will den Ring nicht (hier isch will den ring nicht haben, 58/ 59), und die folgende Verhandlung der Kinder, die Burcu durch ein Eigenzitat (ich hab gesagt okay ) und ein Zitat Murats (okay hat sie [er] gesagt , 59) wiedergibt, kann so verstanden werden: Die Kinder kommen überein, dass Burcu trotz des häuslichen Verbots den Ring behält. An dieser Stelle hakt die Kursleiterin nicht nach, sondern fasst Murats Reaktion zusammen: der wollte den ring nicht zurück ham der wollte dass du ihn behältst (60/ 61). Sie thematisiert nicht den Bruch des Familienverbots, sondern fasst das tröstliche Ende der Geschichte zusammen, und Burcu stimmt zu (62). Damit ist die Erzählinteraktion beendet. In Bezug auf Burcus Erzählleistungen kann man folgendes feststellen: Sie kommt allgemeinen Interaktionsanforderungen nach, beantwortet die an sie gestellten Fragen, schildert das Ereignis in chronologischer Folge, bewertet die für sie positiven Aspekte (schön, gold) und berücksichtigt das Hintergrundwissen der Adressatin. Die für sie schmerzlichen Aspekte der Geschichte und das Umgehen des Familienverbots blendet sie aus. Diese Strukturteile, die zweite „Komplikation“ und die „Lösung“ des Konflikts muss die Kursleiterin erfragen. Dass Burcu diese Strukturteile nicht eigeninitiativ gestaltet, sondern erst Keim_sV-264End.indd 204 10.02.12 16: 57 Die Entwicklung der Kinder 205 auf Nachfragen der Kursleiterin hin, kann mit dem Bruch des Familienverbots zusammenhängen: Burcu könnte sich gescheut haben, ihn einzugestehen. Burcu könnte aber auch einem Erzählmuster folgen, das in der Forschung für ihre Altersgruppe festgestellt wurde (vgl. oben Abschnitt 7.1.4). Kinder dieses Alters realisieren den Strukturteil „Lösung“ erst auf die Initiative der Erwachsenen hin, die ihn erfragen. Die übrigen Erzählaufgaben, Thematisieren, Ereignisschilderung, Dramatisierung und erste Komplikation, erledigt Burcu jedoch eigenständig. Dabei wird sie von der Kursleiterin bestätigt und durch Fragen zum Fortführen motiviert. Erst in den letzten Erzählsegmenten greift die Kursleiterin steuernd ein und bringt die innerfamiliäre Situation mit dem Verbot in den Fokus und die Lösung, die die Kinder nach dem Verbot gefunden haben. Sie initiiert die Klärung wesentlicher Aspekte des Ereignisses und zeigt Burcu, dass diese Strukturelemente noch zu gestalten sind, wenn die Erzählung nachvollziehbar sein soll. In der Interaktion mit der Erwachsenen kann Burcu ihre Erzählfähigkeiten entfalten, durch die Interessensbekundungen ihren Erfolg erleben und durch- die Anforderungen der Kursleiterin ihre Erzählfähigkeiten weiterentwickeln. Die sprachlichen Fähigkeiten Burcus haben sich im Vergleich zur Situation vor Schulbeginn (vgl. oben Abschnitt 7.3) erheblich verändert; die Äußerungen sind länger und komplexer, der Wortschatz ist größer und differenzierter. In der Erzählung sind folgende grammatische Strukturen realisiert 15 • Subjekt-Verb-Kongruenz, d. h. die Verben sind dem Subjekt entsprechend flektiert • verschiedene Tempora (Präsens und Perfekt), die Modalverben wollen, können, müssen und die Hilfsverben haben und sein kommen vor; • Satzklammer und Inversion sind zielsprachlich, z. B., ich will den ring nicht haben, da hab ich den wieder hingelegt; • die Kasus der Pronomina (Akkusativ und Dativ) sind in Abhängigkeit vom Verb zielsprachlich realisiert: er hat mir gegeben, kannst du mich heiraten, ich hab den hingelegt; • die Struktur der Nominal- und Präpositionalphrasen ist erkannt und z. T. auch zielsprachlich realisiert: seine mutter, den ring, eine ring, im bau, im kindergarten, in puppenecke, von de Murat, diese Murat, bei de Murat; • die Bildung komplexer Satzstrukturen beginnt: weil ich hab geheiratet 15 Die Ergebnisse beziehen sich nur auf diese Tonaufnahme, d. h. sie entstammen einer Momentaufnahme. Ob die hier von Burcu produzierten Strukturen stabil sind, müssten weitere Aufnahmen zeigen. Keim_sV-264End.indd 205 10.02.12 16: 57 206 Deutsch in multilingualen Kindergruppen Die folgenden Übersichtstabellen zeigen die produzierten Strukturen: Burcu: Satzstrukturen SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE wir haben im Bau gespielt a) wir ham was gebaut b) der hat mir Ring gegeben c) der hat mir eine Ring gegebt d) ich will den Ring nicht haben e) _____ kannst du mich nicht heiraten f) da hab ich ja gesagt g) da hab ich den wieder hingelegt h) dann hat sie gesagt i) ihr könnt beide heiraten j) Burcu: Subjekt-Verb-Kongruenz, Pronomina im Nominativ, Dativ und Akkusativ 16 a) Wir haben im Bau gespielt b) Wir ham was gebaut c) Der hat mir Ring gegeben d) Der hat mir eine Ring gegebt e) Ich will den Ring nicht haben f) Kannst du mich nicht heiraten? g) Da hab ich ja gesagt h) Da hab ich den/ ihn wieder hingelegt i) Dann hat sie gesagt j) Ihr könnt beide heiraten Wie die Tabellen zeigen, hat Burcu wesentliche grammatische Strukturen des Deutschen erworben. Noch instabil ist die Unterscheidung von regelmäßigen und unregelmäßigen Verben (gegebt alterniert mit gegeben), die Bildung von Lokalisierungsausdrücken und der Bereich der Genera; das sind Bereiche, die vielen Zweitsprachlernern Schwierigkeiten bereiten. Abschließend will ich noch an zwei Beispielen zeigen, wie auch der Erwerb grammatischer Strukturen in der Interaktion mit der Kursleiterin unterstützt wird: a) Die Verwendung des natürlichen Geschlechts: In den Kindergruppen fiel uns auf, dass zum Verweis auf Personen oft das feminine Genus verwendet wird. Auch Burcu verweist auf Murat zunächst mit femininen Formen: diese Murat nischt, die=s im kindergarten (04/ 07). Direkt nachdem die Kursleite- 16 Subjekt und Verb sind fett gedruckt, die Pronomina sind fett und unterstrichen. Keim_sV-264End.indd 206 10.02.12 16: 57 Zusammenfassung und Ausblick 207 rin mit der Identifizierung ach de"r Murat (08) das zielsprachliche Genus eingeführt hat, übernimmt Burcu es in der Frage: du kennst ihn gell (09). Von da an verweist sie mit maskulinen Formen auf Murat (de=s türkisch, der hat mir ring gegeben, der hat mir eine ring gegeben, da hat er gesagt). Nur in der letzten Äußerung okay hat sie [er] gesagt (58) fällt sie in die alte Praxis zurück, die die Kursleiterin in der Folgeäußerung wieder korrigiert (oh der wollte nicht…). b) Die Verwendung von Artikel und Genus: Burcu hat erkannt, dass die Nominalphrase im Deutschen in der Regel einen Artikel erfordert; in den meisten Fällen setzt sie den Artikel. Doch bei der ersten Erwähnung des Ringes verwendet sie „Ring“ ohne Artikel: der hat mir ring gegeben aber ring war ganz schön (13/ 14). Kurz darauf konstruiert sie die Nominalphrase mit Artikel, aber mit einem anderen Genus: eh der hat mir eine ring gegebt aber des war gold (18/ 20) Die Kursleiterin fragt überrascht nach, korrigiert dabei das Genus der ring war aus gold (19/ 21) und verwendet die zielsprachliche Form nochmals in und wie groß war der ring (21). Anschießend verwendet Burcu nur zielsprachliche Formen: Die Nominalphrase erscheint mit Artikel, und „Ring“ hat maskulines Genus: kuck mal die hat ein ring gegeben [bekommen] von de Murat (48), ich hab de=ring eh rausgemacht (50), da hab ich den wieder hingelegt (52) und hier ich will den ring nicht haben (57/ 58). 7.5 Zusammenfassung und Ausblick Am Ende der Kindergartenzeit schien Turan sich in einer deutsch-türkischen Mischsprache, die er mit der Interviewerin ebenso wie mit seiner Mutter verwendete, am wohlsten zu fühlen. Sieben Monate später hat sich sein Deutsch erheblich entwickelt: Er spricht leicht und flüssig, verwendet komplexe Satzstrukturen, hat den Wortschatz erweitert und ausdifferenziert. Burcu war zu Schulbeginn eines der Kinder, das sich auf dem Weg zu Meilenstein III befand (vgl. oben Abschnitt 7.3). Nach siebenmonatiger Förderung (und neun Monaten Schule) beherrscht sie ihrem Alter entsprechend das Diskursmuster „Erzählen“, kann Ereignisse und Sachverhalte verständlich darstellen und kennt die Grundstrukturen des Deutschen. D. h. im Laufe des ersten Schuljahres hat das Kind einen enormen Entwicklungsfortschritt erreicht. 17 Burcu ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern auch andere Kinder der Fördergruppen haben Fortschritte gemacht. 18 Auf der Basis der Analysen 17 Das Ergebnis unserer Untersuchung kontrastiert allerdings mit der Einschätzung der Klassenlehrerin. Aus deren Sicht hat sich Burcu sprachlich kaum entwickelt, da sie wenig im Unterricht mitarbeitet. Wir hatten keine Gelegenheit, die Interaktionen im Unterricht zu beobachten und mögliche Hintergründe für die Beurteilungsdivergenz aufzudecken. 18 Zur Entwicklung von Erstklässlern vgl. u. a. die Arbeiten von M. Krempin/ K. Mehler (2009) und die Dissertation von S. Aslan (i. Vorb.). Keim_sV-264End.indd 207 10.02.12 16: 57 208 Deutsch in multilingualen Kindergruppen können wir zeigen, dass der Erwerbsprozess entscheidend von der Unterstützungsleistung der erwachsenen Interaktionspartner abhängig ist, der Erwerb grammatischer ebenso wie der Erwerb narrativer Strukturen. Auf der Basis unserer Sprach- und Erzählanalysen können jetzt gezielt die Bereiche eingeübt werden, in denen die Kinder noch nicht sicher sind (Lokalisierungsausdrücke, starke Verben, Genus, Verbrektion und Kasus), und es können weitere Erzählgattungen und komplexere Diskursmuster eingeführt werden. Der dokumentierte Fortschritt der Kinder zeigt, dass die Förderinitiative im Hinblick auf folgende Aspekte erfolgreich ist: • Die Förderung bietet den Kindern ein Zusatzangebot, das sie als „unterrichtsfreien Raum“ erleben. • Es knüpft an ihren Interessen an und erhöht ihre Motivation zur Mitarbeit. • Durch die kleinen Gruppen werden Kommunikationsgelegenheiten in deutscher Sprache geboten, die die Kinder im Regelunterricht und zuhause nicht haben. • In den Kleingruppen können schüchterne und ängstliche Kinder leichter zum Sprechen motiviert werden als im Klassenverband. • Das Programm ist auf intensive Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern angelegt, in denen die Erwachsenen die Kinder beim Erwerb grammatischer Strukturen und komplexer Diskursmuster (Erzählen, Frotzeln) unterstützen. • Außerdem hat sich gezeigt, dass Studierende, die selbst einen Migrationshintergrund haben, gute sprachliche und soziale Vorbilder für die Kinder sind. Mit der Förderinitiative konnte gezeigt werden, dass mit relativ geringem Aufwand Fortschritte erzielt werden können. Doch ein einjähriges Unterstützungsprogramm, wie es derzeit oft nur möglich ist, ist bei Weitem nicht ausreichend, um Kinder, die unter sozialen Bedingungen aufwachsen, wie sie in Kap.- 3 beschrieben wurden, auf schulische Anforderungen vorzubereiten. Sie brauchen im Kindergarten und während der Grundschulzeit eine intensive Förderung in Sach- und Sprachwissen, damit sie die Voraussetzungen für weiterführende Schulen erfüllen können. Eine solche Förderung wird von Seiten der Sprach- und Erziehungswissenschaften auch seit Jahren gefordert. Das Wissen zu effektiven Fördermaßnahmen ist vorhanden und wurde in Praxisprojekten bereits erprobt. Was fehlt, ist eine Zusammenführung der Förderprojekte, eine flächendeckende Einführung und vor allem der politische Wille, das vorhandene Wissen möglichst schnell und umfassend in den Bildungsinstitutionen und in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften umzusetzen. Keim_sV-264End.indd 208 10.02.12 16: 57 Kapitel 8 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz Einleitung Wie in den Kapiteln 5 und 6 deutlich wurde, bilden Migrantenkinder und Jugendliche eine hohe alltägliche Kommunikationsfähigkeit aus, in der sie alle zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen einbeziehen und ihren Zwecken entsprechend anpassen. Auf was sie jedoch in ihrer Alltagswelt meist nicht zugreifen können (vgl. Kap.- 2 und 3), sind komplexe deutschsprachige Texte und ein Sach- und Fachwortschatz, wie er für die schulische Wissensvermittlung charakteristisch ist. Es gehört mehr als alltagssprachliche Kommunikationsfähigkeit dazu, wenn man in einer Sprache umfassend handeln will. In modernen Gesellschaften, in der das meiste Wissen in Texten gespeichert und über Texte vermittelt wird, sind literale Kompetenzen, die Fähigkeit Texte zu verstehen und zu produzieren, für den gesellschaftlichen Erfolg unerlässlich. Gesellschaftsmitglieder müssen wissen, welche Texttypen es gibt, welche in verschiedenen institutionellen und sozialen Kontexten angemessen sind, welche für sie wichtig sind, und wie sie diese herstellen können. Dazu brauchen sie neben grammatischem und lexikalischem Wissen vor allem pragmatische und literale Kompetenzen. Wie die nationalen und internationalen Vergleichsstudien (PISA- und IGLU-Studien) gezeigt haben, scheitern viele Migrantenkinder im Bereich Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz. Deren Vermittlung ist Aufgabe der Schule, und Prozesse des Erwerbs von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz finden tagtäglich im Deutschunterricht und im Fachunterricht statt. Will man den Schulerfolg von Migrantenkindern erhöhen, gilt es die Bedingungen des Erwerbs schriftsprachlicher Fähigkeiten zu betrachten und die Strategien zu identifizieren, die den Erwerbsprozess verbessern können. Dabei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: • Wie sieht der Weg von mündlichen zu schriftlichen Produktionen aus? Welche Fähigkeiten der Kinder werden dabei sichtbar, und welche Fertigkeiten müssen sie erwerben? • Wie sieht der Prozess der Vermittlung von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz aus? • Welche Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden fördern den Prozess des Erwerbs von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz? Keim_sV-264End.indd 209 10.02.12 16: 57 210 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz Die Analyse von Unterrichtsinteraktionen schärft den Blick für die Dynamik von Lehr-Lernprozessen, und es ist möglich, solche Aktivitäten zu identifizieren, die sich positiv auf den Erwerbsprozess auswirken. Im folgenden Kapitel stelle ich eine Fallstudie vor, die Unterrichtsinteraktionen in Bezug auf die genannten Aspekte hin analysiert. Ich hatte Gelegenheit, Interaktionen in einem Sprachförderkurs für 12-jährige Migranten-Hauptschüler zu dokumentieren, in denen mündliche und schriftliche Erzählungen hergestellt wurden. Nach einem Blick in die Forschung zu Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz (8.1) und einer kurzen Beschreibung des Förderprojekts, in dem die Fallstudie durchgeführt wurde (8.2), werde ich zunächst mündliche Erzählinteraktionen zwischen den Kindern und der Förderkraft darstellen (8.3), dann den Prozess von der mündlichen zur schriftlichen Produktion analysieren und die Aktivitäten rekonstruieren, die sich leistungssteigernd auswirken (8.4.1-8.4.3). Abschließend werden die geschriebenen Produkte auf literale Eigenschaften hin untersucht (8.4.4 und 8.4.5). 8.1 Blick in die Forschung zu Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz Zur schriftsprachlichen Kompetenz gehören folgende Fähigkeiten: • Kognitive Fähigkeiten: Der Schreiber muss von seinem Erleben abstrahieren können und einen Sachverhalt so darstellen, dass der Leser, der den Sachverhalt nicht kennt, ihn verstehen kann; er muss ihn in einen bestimmten textuellen Bezugsrahmen bringen, z. B. in eine Erzählung, eine Beschreibung oder eine Argumentation; und er muss die Fähigkeit haben, den Sachverhalt zu gliedern, ihn in Sätze zu fassen, die eng aufeinander bezogen sind und die ihn als Ganzes abbilden. • Soziale Fähigkeiten: Der Schreiber muss mögliche Leser und deren Reaktionen antizipieren können; er muss die Fähigkeit zur Empathie und zum Perspektivenwechsel haben. • Emotionale Fähigkeiten: Der Schreiber muss Emotionen verbalisieren und formulieren können. Solche Fähigkeiten machen eine schriftsprachliche bzw. literale Kompetenz aus, die anders als die mündliche Kompetenz strukturiert ist. Schriftsprachliche Kompetenz wird mit Beginn des Schulalters in den Bildungsinstitutionen vermittelt und erworben. Dabei lernen Kinder nicht eine neue Sprache, sondern, wie Günther (1998, S. 21) das formuliert hat, die eigene Sprache neu. Will man den Erwerb von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz erfassen, lohnt ein Blick in die Textlinguistik, die dazu eine Reihe von Erkenntnissen liefert. Keim_sV-264End.indd 210 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zu Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz 211 Exkurs 1 In den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts war in der Forschung in Deutschland der Begriff „Schriftsprachlichkeit“ etabliert. Die Forschungsergebnisse zu diesem Bereich wurden in zwei Bänden „Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung“ zusammengefasst (hgg. von Hartmut Günther/ Otto Ludwig 1994 und 1996). Im Anschluss an die PISA- und IGLU-Studien wird in der Fachliteratur zunehmend die von „literacy“ abgeleitete, deutsche Bezeichnung Literalität verwendet. Der im anglo-amerikanischen Raum verwendete Begriff bezeichnet die Fähigkeit, Alltags- und Berufstexte zu verstehen, schriftliche Texte situationsadäquat zu produzieren und mit Sprache analysierend, kreativ und abstrahierend umzugehen. In einem Beitrag von 2006 diskutiert Feilke, was Literalität in modernen Gesellschaften bedeutet. Eine Gesellschaft ist literal verfasst, die ihr Wissen in Texten darlegt und aus Texten bezieht, und deren Institutionen auf Texttraditionen und Textkritik aufbauen. Literalität bedeutet wesentlich mehr „als die bloße Möglichkeit sich schriftlich mitzuteilen.“ Literale Kompetenzen umfassen soziale, emotionale, kognitive und sprachliche Fähigkeiten, deren Erwerb Feilke als ‚literale Sozialisation‘ bezeichnet. Dabei handelt es sich nicht um einen Reifungsprozess, wie das beim Spracherwerb z. T. der Fall ist, „sondern um einen kulturabhängigen, stark eigengesetzlichen Kompetenzaufbau“ (a. a. O., S. 23). Feilke unterscheidet drei Realisationsformen des Geschriebenen: die „geschriebene Sprache“, die bereits Erstklässler erreichen, wenn sie Gesprochenes aufschreiben; die „schriftliche Sprache“, die eigenständige Formmerkmale enthält, wie grammatische und morphologische Gliederung, Interpunktion, Orthografie etc., und die „Schriftsprache“, die genormte Standardvarietät einer Sprache. Feilkes Begriffsbestimmung von literaler Kompetenz umfasst konzeptionelle Schriftlichkeit im Sinne von Koch/ Österreicher (vgl. Abschnitt 8.1.1) und Textkompetenz im Sinne von Portmann-Tselikas (vgl. Abschnitt 8.1.3). 8.1.1 Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden wesentliche Unterschiede zwischen „gesprochener“ und „geschriebener“ Sprache beschrieben. Als Prototyp für gesprochene Sprache galt die direkte (face-to-face) Kommunikation, als Prototyp für geschriebene Sprache ein schriftlich fixierter elaborierter Text (literarischer Text, Gesetzestext, Zeitungsartikel). Doch bald kam die Vielfalt gesprochener und geschriebener Formen in den Blick, so dass die schlichte Dichotomie „gesprochen“ vs. „geschrieben“ nicht mehr ausreichte. Aus der Perspektive von Fiehler (2000, S. 100) gibt es die gesprochene bzw. die geschriebene Sprache gar nicht, sondern die Verwendung gesprochener oder geschriebener Formen variiert in Abhängigkeit von kommunikativen Absichten und den entsprechenden Praktiken: „Wir sprechen und schreiben Keim_sV-264End.indd 211 10.02.12 16: 57 212 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz nicht schlechthin, sondern jedes Sprechen und Schreiben geschieht in und ist Bestandteil von kommunikativen Praktiken. Wir sprechen im Rahmen eines Kaffeeklatsches, einer Dienstbesprechung, einer telefonischen Vereinbarung, eines Arzttermins, einer Rede, einer Theaterrolle etc.; wir schreiben einen Brief, einen Aufsatz, ein Protokoll, einen Einkaufszettel“ (a. a. O., S. 97). Je nach Aktivitätstyp, Kommunikationsform oder Genre verändern sich die mündlichen bzw. schriftlichen Ausdrucksformen; sie können viele Gemeinsamkeiten, aber auch große Unterschiede haben. Eine wichtige Rolle in der Forschung spielen die von Koch/ Oesterreicher (1994) eingeführten Begriffe „mediale und konzeptionelle Mündlichkeit“ bzw. „Schriftlichkeit“. Die mediale Dimension ist dichotomisch gefasst; eine Äußerung ist entweder lautlich oder geschrieben realisiert. Die konzeptionelle Dimension bezieht sich auf die für die Äußerung gewählte Ausdrucksweise, die sich aus der Sicht der Autoren auf einem Kontinuum zwischen den Polen „konzeptionell schriftlich“ und „konzeptionell mündlich“ bewegen kann. So ist z. B. eine E-Mail medial schriftlich (wird geschrieben), sie kann aber konzeptionell mündlich verfasst sein und Merkmale des Gesprochenen haben. Ein Gespräch unter Kollegen ist medial mündlich, kann konzeptionell aber zum schriftlichen Pol tendieren, wie z. B. bei einer Fachdiskussion. Den beiden Polen ordnen die Autoren die Begriffe „Nähe“ (Mündlichkeitspol) und „Distanz“ (Schriftlichkeitspol) zu, Begriffe, die sich auf die Bedingungen der Situation beziehen, in der ein Text produziert wird. „Nähe“ und „Distanz“ unterscheiden sich in Bezug auf die räumliche Entfernung, auf die Vertrautheit bzw. Fremdheit zwischen den Partnern, auf die dialogische vs. monologische Ausrichtung, auf die Themenentwicklung (frei oder fixiert) und in Bezug auf den Ausdruck von mehr oder weniger Emotionalität und Spontaneität (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994, S. 588). Für beide gibt es unterschiedliche Versprachlichungen. Mündliche Äußerungen sind durch probeweise Formulierung, durch grammatische oder lexikalische Brüche, Korrekturen, Reformulierungen, durch Abbrüche und Neubeginn, durch situative Verweise (gestisch, mimisch), durch Parataxen, Ellipsen, Formeln, durch Sprach- und Stilwechsel charakterisiert, ebenso wie durch den Ausdruck von Emotionen mithilfe von Gestik, Mimik und Stimmveränderungen (ironisches, gehässiges, wütendes Sprechen) oder durch sonstige lautliche Äußerungen (Lachen, Seufzen, Weinen). Sie sind eingebettet in konkrete Interaktionssituationen und kontextgebunden, d. h. sie reagieren auf Vorgängeräußerungen und etablieren für Nachfolgeäußerungen bestimmte Reaktionsverpflichtungen; z. B. wird auf eine Frage eine Antwort, auf eine Beschuldigung eine Erklärung oder Rechtfertigung und auf einen Tadel eine Entschuldigung erwartet. Bei schriftlichen Äußerungen dagegen besteht eine räumliche und zeitliche Trennung zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten, die Formulierungen sind endgültig, die Darstellung orientiert sich in Inhalt und Form an Keim_sV-264End.indd 212 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zu Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz 213 kulturell vorgegebenen Mustern (Genres) wie „Erzählung“, „Bericht“ oder „Argumentation“. Die Darstellung folgt der inneren Logik (Temporalität, Kausalität) eines Handlungsverlaufs oder Sachverhalts und Emotionen und Einstellungen werden verbalisiert. Die Sätze sind komplex und werden durch Verknüpfungsmittel aufeinander bezogen. Verweisungen werden durch Pronomen, Adverbien oder durch Synonyme hergestellt, die Zeitstruktur wird durch unterschiedliche Tempora und Adverbien verdeutlicht. Die Darstellung ist insgesamt „situationsentbunden“, d. h. sie muss von Adressaten verstanden werden, die an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit leben und kein Wissen über das Dargestellte haben. Das bedeutet, dass ein Ereignis oder ein Sachverhalt historisch, politisch, sozial etc. eingebettet werden muss; es müssen größere Zusammenhänge hergestellt und Hintergründe offen gelegt werden. Insgesamt ist der Schriftlichkeitspol durch hohe Informationsdichte, hohe Komplexität, Elaboriertheit und Planung charakterisiert, der Mündlichkeitspol dagegen- durch geringere Informationsdichte, Komplexität, Elaboriertheit und Planung. Zur Illustration gebe ich ein kleines Beispiel. In einer Zeitungsnachricht fand ich folgenden Satz: Gestern weihte der Vertreter des Bürgermeisters das nach langer Bauzeit endlich fertig gestellte und von einer anerkannten Designerfirma mit viel Glas und Stahl gestaltete Gebäude ein. Das ist ein äußerst komplexer Satz, der aus mehreren Informationen besteht, die mithilfe grammatischer Einbettungen eng miteinander verbunden sind. Eine etwas leichter überschaubare, aber immer noch schriftsprachlich verfasste Version könnte lauten: Gestern weihte der Vertreter des Bürgermeisters das Gebäude ein. Es war nach langer Bauzeit endlich fertig gestellt worden. Eine anerkannte Designerfirma hatte es mit viel Glas und Stahl gestaltet. In dieser Version werden dieselben Informationen in drei selbständigen Sätzen untergebracht. Im Kontrast zu den schriftlichen Versionen konstruiere ich eine mündliche Version, wie sie ein Sprecher des Mannheimer Dialekts äußern könnte: geschdern is e neies gebäude oigeweiht worre * de bürgermeeschder ho=des ned selbsch gemachd * der hod=n verdreder gschickt * des hod gonz schä long gedauert bis des ding do ferddisch war * so e designerfirma do ho=des gemachd * mit viel glas un schdahl * ah die sin jo bekonnd fer so was Die Informationen aus der ersten Version sind in sieben Äußerungseinheiten untergebracht, wobei jede Einheit eine Information enthält; die Formulierungen sind stark dialektal und gesprochensprachlich geprägt. Die Differenzen zwischen der ersten und der dritten Version sind offenkundig; sie veranschaulichen den „weiten Weg“, den Zweitsprachensprecher, die in einer Dialektregion Keim_sV-264End.indd 213 10.02.12 16: 57 214 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz aufwachsen, zurücklegen müssen, wenn sie schriftsprachliche Texte verstehen und herstellen wollen. Während der Erstspracherwerb in der frühen Kindheit intuitiv und „natürlich“ erfolgt (vgl. Kap.-7), ist der Erwerb von Schriftsprachlichkeit institutionell vermittelt und hat Einfluss auf die Entwicklung von Sprachbewusstheit. Bei der Schreibung von Wörtern und Sätzen müssen phonologische, prosodische, lexikalische, syntaktische und pragmatische Strukturen umgesetzt werden. Ein Text muss geplant, formuliert und überarbeitet werden. Dazu sind grammatische Strukturen und ein Wortschatz notwendig, die in gesprochener Sprache kaum oder gar nicht vorkommen, z. B. bestimmte Tempora (Präteritum, Futur II), komplexe Nominal- und Präpositionalstrukturen, Satzstrukturen mit Objekt- und Adverbialsätzen und ein anderer Wortschatz (gehobener, literarischer Wortschatz, Fachwortschatz, etc.). Außerdem werden viele grammatische Formen erst durch Schriftsprachlichkeit erworben. Feilke (1998, S. 48ff.) hat gezeigt, dass an der das/ dass-Schreibung erkennbar ist, ob SchülerInnen auf die entsprechenden grammatischen Strukturen zugreifen können. In der Grundschulzeit tritt die Konjunktion dass in Konstruktionen wie ich + Verben des Meinens und Fühlens auf, z. B. ich finde, dass…, ich glaube, dass… Später werden das (Demonstrativem) und dass (Konjunktion) beliebig verwendet. Erst ab etwa der 7. Klasse wird das konjunktionale Muster erkannt und auch flexibler eingesetzt, z. B. am Satzanfang (dass er Bücher liest, ist neu für mich) oder mit Korrelaten (er freute sich darüber, dass sie kam) oder unpersönlich (das bedeutet, dass die Prüfung ausfällt). Parallel dazu wird die Konjunktion mit ss geschrieben. Die Beziehung zwischen Schriftsprachlichkeit und Text charakterisiert Feilke (2007, S. 32) folgendermaßen: Es ist vor allem die innere, mentale Form einer „Distanzkommunikation und Distanzsprache“, die schriftsprachliche Texte prägt. Ein Text muss „in jedem Fall den Bedingungen konzeptioneller Schriftlichkeit genügen. (…) Genügt er diesen Bedingungen nicht, ist er einfach ein schlechter Text. Er wird im Extremfall unverständlich“ (a. a. O., S. 34). 8.1.2 Textkompetenz Eng verknüpft mit dem Begriff der Schriftsprachlichkeit ist der Begriff „Textkompetenz“, der vor allem mit den Arbeiten von Portmann-Tselikas (2002 und 2005) verbunden ist. Unter Textkompetenz versteht der Autor (2002) die Fähigkeit produktiv und rezeptiv mit Texten zu operieren. Zur rezeptiven Textkompetenz gehört die Fähigkeit, Texte selbstständig zu lesen, zu verstehen und in Texten enthaltene Informationen zur eigenen Wissenserweiterung zu nutzen; zur produktiven Textkompetenz gehört, Texte eigenständig zu produzieren, um persönliche Absichten und Anliegen in angemessener Form mitzuteilen. Das, was der Schreiber mitteilen will, muss kohärent entfaltet und auf den antizipier- Keim_sV-264End.indd 214 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zu Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz 215 ten Leser hin zugeschnitten werden. Textkompetenz ist nicht mit Sprachkompetenz gleichzusetzen, sondern es ist die Kompetenz auf ganz bestimmte Weise mit Sprache umzugehen, die in engem Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung von Lernenden steht. Was macht nun einen „guten Text“ aus? Zur Herstellung eines guten Textes sind folgende Anforderungen zu erfüllen: a) Textkohäsion und Textkohärenz: In einem guten Text müssen die Mittel, die zur Herstellung von Textkohäsion und Textkohärenz notwendig sind, enthalten sein. Unter Textkohäsion wird der durch grammatische Mittel gebildete Textzusammenhang verstanden. Er wird hergestellt durch Wiederholung, Wiederaufnahme von Textelementen, durch Rekurrenz (Bezugnahme), Paraphrase (Umformulierung), Parallelismus, durch Mittel der Textverdichtung wie Ellipse (Auslassung von Satzteilen), Proformen (Pronomen, Adverbien), durch morphologische und syntaktische Mittel zum Ausdruck von Beziehungen wie Tempus, Aspekt und Deixis. Unter Textkohärenz werden satzübergreifende textgrammatische und semantische Beziehungen gefasst, die die Makrostruktur eines Textes ausmachen und die Entfaltung des Sachverhaltes strukturieren. Hier spielen vor allem semantische Strukturen eine Rolle, Isotopie im Wortschatz (Wörter aus demselben Bedeutungs- oder Erfahrungsbereich) und Formen der thematischen Progression. Doch Textkohäsion und Textkohärenz alleine machen noch keinen guten Text aus; dazu sind noch weitere Anforderungen zu erfüllen. b) Wissen über Textgattungen: Die Herstellung von Texten ist eingebettet in Kommunikationssituationen mit Handlungen und Handlungszielen, für die es sozial-kulturell vorgeprägte Genres bzw. Textgattungen gibt, wie Erzählung, Beschreibung, Instruktion etc. Ein guter Text wird auch danach beurteilt, ob er eine „gute Erzählung“, eine „gute Beschreibung“ oder eine „gute Instruktion“ ergibt. Um z. B. eine gute Erzählung zu schreiben, braucht der Produzent Wissen darüber, wie die in seiner Lebenswelt konventionalisierte Form einer „Erzählung“ aussieht, welche Strukturen sie hat und was in ihr dargestellt werden kann. c) Wissen über die Adressaten: Der Produzent eines Textes muss wissen, wie er eine „Erzählung“ effektiv gestaltet. Dazu muss er die Adressaten berücksichtigen, d. h. er muss antizipieren können, welche Eigenschaften sein Text haben muss, damit er für die Adressaten informativ, interessant, amüsant oder spannend ist. Er muss das sozio-kulturelle Wissen der Adressaten, ihre Interessen, ihre moralischen und ästhetischen Präferenzen, ihren Stil und ihr Sachwissen berücksichtigen und seinen Text so gestalten, dass sie ihn als überzeugend, informativ oder unterhaltsam bewerten. Keim_sV-264End.indd 215 10.02.12 16: 57 216 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz 8.1.3 Entwicklung von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz bei Kindern Beim Erwerb von Schriftsprachlichkeit geht die Forschung von einer Interdependenz (gegenseitiger Abhängigkeit) von mündlichen und schriftlichen Formen aus. Die Entwicklung von Schriftsprachlichkeit kann vor Schulanfang beginnen. Kinder, die vor der Schule Erfahrungen mit geschriebenen Texten sammeln konnten (z. B. über Vorlesen, Hörspiele), können, wie Pätzold (2005) zeigt, „proliterale“ Konzepte entwickeln. Sie orientieren sich in ihren mündlichen Äußerungen an literalen Mustern, z. B. Märchen, übernehmen typische Formulierungen aus Märchen, wie es war einmal… oder wenn sie nicht gestorben sind… Sie verwenden in mündlichen Äußerungen auch formelle Lexik, können Textkohärenz herstellen und verwenden verschiedene sprachliche Mittel, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu steuern. Die wörtliche Rede, die Kinder aus der Mündlichkeit kennen, tritt früh in schriftlichen Kindertexten auf und wird zur Dramatisierung eingesetzt. Auch Becker (2005a) zeigt anhand von mündlichen Erzählungen (Bildergeschichte, Erlebniserzählung, Fantasiegeschichte und Nacherzählung), die fünf-, sieben- und neunjährige Kinder produzierten, dass „Schriftlichkeit in der Mündlichkeit vorbereitet wird“ (S.- 39). Noch bevor Kinder selbst lesen und schreiben können, verwenden sie literalisierte Formen beim Tempusgebrauch (Präteritum), sie verwenden gehobene Lexik (z. B. eines Morgens, er war ganz einsam) und feste Redewendungen (z. B. wir wollen unsere Kräfte messen, die Kräfte verließen ihn). Eine interessante Beobachtung Beckers ist, dass die Verwendung literaler Formen von der Textsorte abhängt: Literale Formen treten in Fantasiegeschichten (hier spielen mediale Vorbilder eine Rolle) und in Nacherzählungen auf; d. h. die Kinder verwenden beim Nacherzählen einer Geschichte, die ihnen vorgelesen wurde, Elemente aus dem vorgelesenen Text. Will man den Erwerb von Textkompetenz bei Kindern bestimmen, ist Kohäsivität ein wesentlicher Faktor (Becker a. a. O., S. 24). Siebenjährige z. B. sind fähig, relativ zusammenhängend zu erzählen und Pronomen in angemessener Art und Weise einzusetzen. Interessante Ergebnisse erbrachte auch die Untersuchung von Bachmann (2005). Er ließ Kinder der vierten, achten und zwölften Klasse schriftliche Versionen der Textsorte „Instruktion“ anfertigen und konnte ebenfalls zeigen, dass der Gebrauch von Kohäsions- und Kohärenzmitteln verlässliche Hinweise für die literale Entwicklung sind: „Mit fortschreitender Schreibentwicklung werden vermehrt anspruchsvollere Kohärenz stiftende Elemente (…) verwendet“ und zunehmend „voraussetzungsreichere Kohäsionsmittel“ (a. a. O., S. 177). Dazu gehören das Verweisen, Verknüpfen und Textstrukturieren (S. 175ff.). Z. B. sind einfach reihende Verknüpfungsmittel (und dann) wenig voraussetzungsreich, während syntaktisch-kausale, thematische und logisch-konzeptionelle Verknüpfungen voraussetzungsreich sind. Je anspruchsvoller diese Mittel sind, desto gezielter werden sie eingesetzt. Keim_sV-264End.indd 216 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zu Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz 217 Auch in Bezug auf die Fähigkeit, die Perspektive anderer zu übernehmen, eine wesentliche Fähigkeit für die Produktion eines guten Textes, liefert Bachmanns Untersuchung interessante Ergebnisse. Schreibnovizen schreiben aus der Perspektive des eigenen Erlebens und berücksichtigen die Perspektive des/ der Lesenden nicht. Schreibexperten jedoch antizipieren die Bedürfnisse des Lesers und schreiben entsprechend. Während Kinder der vierten Klasse aus dem subjektiven Erleben heraus expressiv-assoziativ schreiben und das für die Textsorte „Instruktion“ Wesentliche oft gar nicht erwähnen, wird bei Kindern der achten Klasse die Herstellung einer formalen Ordnung im Instruktionstext exzessiv betrieben. Sie scheinen der Maxime zu folgen „beschreibe so ausführlich wie möglich“, so dass die Texte übergenau und oft auch schwer verständlich sind. Erst die Jugendlichen folgen der Maxime „beschreibe so ausführlich wie nötig“, so dass der Leser die Instruktion verstehen und die Handlung ausführen kann. Das Befolgen dieser Maxime ist für Bachmann ein Indikator dafür, dass die Schreiber den Perspektivenwechsel vollziehen können. D. h. erst bei den älteren SchülerInnen (12. Klasse) tritt leserbezogenes Schreiben auf. 8.1.4 Erwerb von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz in der Zweitsprache Die Wissensvermittlung in der Schule findet im Wesentlichen auf der Basis von (Fach)Texten statt, die schriftsprachlich formuliert sind. Deshalb ist für alle Kinder, besonders jedoch für Zweitsprachsprecher, die Fähigkeit mit deutschsprachigen Fachtexten umzugehen eine notwendige Voraussetzung für den schulischen Erfolg. Das gilt nicht nur für das Fach Deutsch, sondern für alle Fächer, in denen Sach- und Fachtexte die Basis der Wissensvermittlung bilden. Wenn die Kinder wenig oder keine Vorerfahrung mit Texten haben, treffen sie mit Beginn der Schule auf eine für sie neue Darstellungs- und Ausdrucksform, deren Merkmale Portmann-Tselikas (2002) folgendermaßen charakterisiert: Es wird ein besonderer Sprach- und Denkstil gefordert, Darstellungen sind themen- und gegenstandsbezogen, Sachverhalte werden ausführlich und systematisch behandelt. Der Unterricht ist durch theoretisch motivierte Lerninhalte und curriculare Ziele bestimmt, die mit der aktuellen Lebenssituation der Kinder und ihrer Erfahrungswelt oft nur wenig zu tun haben. Da Migrantenkinder, die den deutschen Kindergarten besucht haben, bei Schuleintritt oft über gute mündliche Fähigkeiten verfügen, erkennen die Lehrenden meist zu spät, dass sie beim Verstehen und Produzieren von Texten Schwierigkeiten haben. Zu Beginn der Schulzeit hat der Unterrichtsstoff noch einen direkten Bezug zur Alltagswelt der Kinder und sie können mit ihrer Alltagssprache darin bestehen. Doch bereits ab dem dritten Schuljahr werden im Sachunterricht alltagsfernere Themen behandelt, und mit dem Übergang in weiterführende Schulen nehmen die schriftsprachlichen Anforderungen und Keim_sV-264End.indd 217 10.02.12 16: 57 218 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz der Fachwortschatz erheblich zu. Im Geschichtsunterricht z. B. wird über politische und soziale Ereignisse gesprochen, die weit von der heutigen Erfahrungswelt entfernt sind; im Physik- und Biologieunterricht wird über Zusammenhänge und Gesetze gesprochen, die oft nicht direkt erfahrbar sind. Das Wissen dazu wird über Texte erworben, d. h. Texte sind das zentrale Arbeitsmittel. Auch mathematische Operationen werden in Textaufgaben verpackt und sind nur ausführbar, wenn der Text verstanden ist. Als Beispiel für einen Fachtext in der Sekundarstufe I stelle ich einen Anweisungstext aus dem Chemieunterricht vor: „Umgang mit Chemikalien. Sparsamer Verbrauch von Chemikalien vermindert Kosten, Gefahren und Umweltbelastungen. Zur Entnahme von Chemikalien wird die Flasche mit dem Schild zur Hand genommen und geöffnet, der Stopfen wird umgekehrt auf den Tisch gelegt. Nach der Entnahme wird die Flasche sofort wieder verschlossen. Zur Entnahme fester Stoffe benutzt man einen Spatel; Chemikalien werden nie mit den Fingern angefasst. Pipettieren mit dem Mund ist verboten, daher muss zur Entnahme flüssiger Stoffe eine Pipettierhilfe oder ein Saughütchen benutzt werden“ (zit. aus Chlosta/ Schäfer 2010, S. 289ff.) Der Text enthält viele Merkmale, die für Fachtexte charakteristisch sind: Es gibt eine Reihe von Fachwörtern und Wörtern, die im Alltag der Kinder eher wenig vorkommen wie z. B. „Umweltbelastungen“, „Entnahme“, „feste und flüssige Stoffe“, „Spatel“, „Pipettieren“, „Pipettierhilfe“, „Saughütchen“ etc. Außerdem gibt es Passivkonstruktionen wie z. B. „wird geöffnet“, „werden angefasst“, „muss benutzt werden“ etc. Besondere Schwierigkeiten bereiten mehrgliedrige Satzteile, die aus Nominal- und Präpositionalphrasen bestehen. Um die grammatische und semantische Relation zwischen den Elementen zu erkennen, müssen die komplexen Konstruktionen aufgelöst werden. So lässt sich z. B. „sparsamer Verbrauch von Chemikalien vermindert Kosten“ auflösen in ein zweiteiliges Satzgebilde: ‚wenn man Chemikalien sparsam verbraucht, vermindert man die Kosten‘. Dabei wird deutlich, dass das Agens (‚man‘) im Beispielsatz fehlt und dessen grammatisches Subjekt (‚sparsamer Gebrauch von Chemikalien‘) in einen Satz umgewandelt werden kann. Die aufgelöste Konstruktion ist umfangreicher als die verdichtete Konstruktion. Die in der Formulierung „Pipettieren mit dem Mund ist verboten“ enthaltenen Informationen können wiedergegeben werden durch: ‚Es ist verboten, die Pipette in den Mund zu nehmen und mithilfe der Pipette die Flüssigkeit aus der Flasche zu saugen‘. Die Bedeutung der verdichteten Konstruktion (Pipettieren mit dem Mund) kann durch aufeinander bezogene Einzelinformationen wiedergegeben werden. Auch in diesem Beispiel wird erst durch die Auflösung die der verdichteten Konstruktion zugrunde liegende grammatische und semantische Struktur sichtbar. Da vor allem in (Fach) Texten verdichtete Strukturen vorkommen, fordert Krumm (2007), dass Textkompetenz nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch im Fachunterricht vermittelt werden soll. Bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Lehrenden, Keim_sV-264End.indd 218 10.02.12 16: 57 Blick in die Forschung zu Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz 219 muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass „eine alltagssprachlich hohe Sprachfähigkeit nicht zugleich eine hohe Sprach- und Textkompetenz (…) impliziert, und schließlich auch, dass (…) Textmuster kulturell unterschiedlich definiert sein können“ (Krumm 2007, S. 204). Der Erwerb von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz ist für alle Kinder ein schwieriger, arbeitsintensiver und langfristiger Prozess. Das zeigt die bisherige Forschung. Für Migrantenkinder jedoch, die unter den in Kap.- 3 dargestellten Bedingungen leben und aufwachsen, ist dieser Prozess besonders schwer und risikoreich. Meist bleibt der deutschsprachige „Schulstoff “ auf das Schulleben begrenzt, da sie in ihrer Alltagswelt keine oder nur geringe Möglichkeiten zur Anwendung, Vertiefung und Ausweitung haben. Außerhalb der Schule spielen die deutsche Schriftsprache, deutsche Literatur und deutsche Sach- oder Fachtexte kaum eine Rolle. Deshalb fordern viele Autoren, die sich mit Bildungsproblemen von Migrantenkindern beschäftigen, eine langjährige schulbegleitende Sprach- und Wissensförderung. 1 „Der Zweitspracherwerb erfordert während des gesamten Bildungsprozesses eine sorgfältige, aufmerksame und positiv orientierte Begleitung. Dies sollte an allen Schulformen gewährleistet sein (…) Erforderlich ist ein vielfältiges reiches Lernangebot und eine individualisierte Unterstützung einzelner Teilkomponenten“. (Ott, 2010, S. 195). Eine die gesamte Schulzeit begleitende Förderung ist vor allem in Schulen mit einem hohen Migrantenanteil dringend erforderlich. Bei einem hohen Migrantenanteil in einer Klasse besteht die Gefahr, dass die Lehrenden die Leistungsstandards niedriger anzusetzen, und das zu einem negativen Lern- und Leistungsklima führen kann. 2 Die PISA-Untersuchungen z. B. zeigten, dass „ab einem Anteil von 20 Prozent fremdsprachlicher Jugendlicher (…) die Leistungen tendenziell niedriger aus(fallen) als in Schulen mit einem Anteil von bis zu fünf Prozent“ (zit. aus Ott, 2010, S. 191). Das bedeutet, dass vor allem in sogenannten Brennpunktschulen nachhaltige Fördermaßnahmen unabdingbar sind, um den Bildungs- und Ausbildungsstand von Migrantenkindern und -jugendlichen entscheidend zu verbessern. 3 1 Vgl. dazu z. B. die Beiträge in den Sammelbänden von Ahrenholz/ Oomen-Welke (2010) und Ahrenholz (2010). 2 Vgl. Kristen (2002), zit. in Keim (2008), S. 96 und oben Kap.-3.2; vgl. auch die Ausführungen in Esser (2006). 3 Die frühere Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Marie-Luise Beck, stellte 2005 in einem Memorandum fest, dass 40 % der Migrantenkinder ohne berufliche Qualizifierung bleiben. Frau Beck bezeichnet den schlechten Bildungsstand als „hoch alarmierend“ und stellt fest: „hier bahnt sich eine Katastrophe an“ (zit. aus Keim 2008, S.-96). Die Situation hat sich bis heute nur unwesentlich verbessert. Keim_sV-264End.indd 219 10.02.12 16: 57 220 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz Exkurs 2 Die Umsetzung dieser Erkenntnisse in die schulische Praxis geschieht jedoch eher schleppend oder gar nicht. Es wird zwar seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts auf der Ebene der Kulturministerkonferenz immer wieder die Notwendigkeit formuliert, dass die Vermittlung von Deutsch als Zweit- und Unterrichtssprache dringend notwendig ist (Krüger-Potratz/ Supik 2010, S. 298). Doch in der Ausbildung von Lehrkräften an deutschen Universitäten wird diese Forderung kaum umgesetzt. Nur in Berlin (2007/ 08) und in NRW (2009) sieht ein neues Lehrerausbildungsgesetz vor, dass Lehramtsstudierende ab 2011 Leistungen in „Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“ zu erbringen haben. Doch die Umsetzung des Gesetzes ist ungewiss; in NRW gibt es immer noch keine zusätzlichen Stellen für Lehre und Forschung (a. a. O., S. 299). Auch im Bereich der Lehrmaterialien für Deutsch als Zweit- und Unterrichtssprache sieht es nicht besser aus. Kuhs (2010, S. 321) stellt z. B. fest, dass es für Migrantenjugendliche der Sekundarstufe I bisher keine geeigneten Lehrmaterialien gibt, und es an Materialien für den Fachsprachunterricht, für den Ausbau des Fachwortschatzes und für den Ausbau schriftsprachlicher Fähigkeiten fehlt. Da es außerdem keine empirische Lehrwerkforschung gibt und kritische Stellungnahmen zu Unterrichtsmaterialien selten sind, gibt es für Lehrende wenig Unterstützung. Die Autorin kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass der Lehrmaterialienmarkt für Deutsch als Zweitsprache unzureichend auf die Sprach- und Schulsituation der Migrantenschüler ausgerichtet ist, und dass die Förderung im Sekundarschulalter und im fachsprachlichen Unterricht immer noch stark vernachlässigt wird. 8.1.5 Herstellen von Textverständnis Lehrende können dazu beitragen, dass SchülerInnen Texte besser verstehen, wenn sie Folgendes berücksichtigen. Texte, die an das Vorwissen und die Interessen der Leser anknüpfen, sind leichter zu verstehen; sie erhöhen die Lesemotivation. Bevor man mit dem Lesen eines Textes beginnt, sollte das für sein Verstehen notwendige Vorwissen hergestellt bzw. aktualisiert werden; z. B. das Wissen über die sozialen und politischen Umstände der Zeit, in der ein historischer Text angesiedelt ist; oder das Wissen über naturwissenschaftliche Zusammenhänge, die in dem Text detailliert behandelt werden. Da kein Text alle Informationen, die zu seinem Verständnis notwendig sind, explizit macht, sind die implizit vorhandenen Informationen zu klären, bevor man mit dem Lesen des Textes beginnt. Es spielen z. B. Fragen eine Rolle wie: Welche soziale Situation wird vergegenwärtigt, welches soziale Modell wird präsentiert, und nach welchen moralischen/ ethischen Prinzipien handeln die Personen etc. Texte gehören zu bestimmten Textsorten, d. h. sie haben eine konventionalisierte interne Struktur und bestimmte pragmatische Merkmale. Ein Kochrezept z. B. ist anders aufgebaut und hat einen anderen Zweck als ein Zeitungstext, ein Keim_sV-264End.indd 220 10.02.12 16: 57 Der Weg von Peergroup-Sprechweisen zu Schriftsprachlichkeit 221 Märchen, eine Erlebniserzählung oder ein Witz. Bei den Lesern muss textsortenspezifisches Wissen vorhanden sein, um die interne Struktur des Textes und seine pragmatischen Bedingungen verstehen zu können. Jeder Text hat einen thematisch bestimmten Wortschatz. Die LeserInnen müssen die Wörter und Wortfelder, die Metaphern und Phraseologismen etc. verstehen. Sie müssen die Kontextabhängigkeit von Bedeutungen erschließen und soziale und stilistische Besonderheiten erkennen können. Die pädadogisch-didaktische Umsetzung dieser Erkenntnis fand in den letzten Jahren im DaZ- und DaF-Bereich vermehrte Aufmerksamkeit. Auf der Basis von Fallstudien gibt es eine Reihe von Hinweisen dazu, 4 wie Textarbeit im Deutschunterricht und im Fachunterricht gestaltet werden könnte, damit sich Zweitsprachenlerner das Fachwissen erarbeiten können, das für einen erfolgreichen Schulabschluss notwendig ist. Eine Forschergruppe in Bremen (Karakaşoğlu/ Haberzettl) hat einen Sprachtest für die Sekundarstufe entwickelt, der Kategorien zur Messung von Textkompetenz und komplexer Grammatik festlegt. Wie Haberzettl (2009) gezeigt hat, kommen in Schülertexten der Sekundarstufe kaum Auffälligkeiten in Bezug auf Flexionsmorphologie, Verbzweitstellung, Verbklammer und die Unterscheidung von Haupt- und Nebensatzstellung vor; d. h. diese grammatischen Bereiche werden weitgehend beherrscht. Doch in Bezug auf Textstrukturen bestehen erhebliche Lücken, sowohl in Bezug auf die Makrostruktur von Texten, als auch in Bezug auf Kohäsion und Kohärenz stiftende Mittel für die Verknüpfung von Informationen (durch Pronomen, Konnektoren, Thema-Rhema-Progression). Dazu besteht erheblicher Förderbedarf. 8.2 Fallstudie: Der Weg von Peergroup-Sprechweisen zu Schriftsprachlichkeit 5 Im Folgenden stelle ich eine Studie vor, die im Rahmen eines Sprachförderprojektes der Mercatorstiftung für MigrantenschülerInnen der Sekundarstufe I entstand, und zeige, wie zwölfjährige Kinder mündliche Äußerungen sukzessive zu schriftsprachlichen Produkten gestalten, wie dieser Prozess verläuft und welche Unterstützungshandlungen der Förderkraft ihn positiv beeinflussen können. Seit 2004 führen die Universität Mannheim (Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit, R. Tracy) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Deutsche Sprache/ Mannheim (I. Keim) ein von der Mercator-Stiftung finanziertes Projekt zur Sprach- und Wissensförderung von Migrantenkindern in der Sekundar-Stufe I durch. Die Mercator-Stiftung finanziert solche Projekte an ca. 35 Universitäten in Deutschland mit dem Ziel, zukünftige LehrerInnen mit alltäglicher Mehr- 4 Vgl. z. B. die Beiträge in Ahrenholz (2010) und Ahrenholz/ Oomen-Welke (2010). 5 Die folgende Darstellung basiert auf Keim (2009); sie ist um wesentliche Teile erweitert. Keim_sV-264End.indd 221 10.02.12 16: 57 222 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz sprachigkeit in Schulen vertraut zu machen und Migrantenkindern allgemeines Sach- und Sprachwissen zu vermitteln, wie es in der Schule gefordert wird. Im Mannheim fördern Studierende der Universität Kinder ab der fünften Klasse in Haupt- und Realschulen zweimal wöchentlich zwei Stunden in kleinen Gruppen (3-4 Kinder, ein/ e Student/ in). Die Förderung läuft über drei Jahre. Die Studierenden werden in Seminaren auf ihre Aufgaben vorbereitet und in Feedback-Sitzungen bei ihrer Förderarbeit begleitet und unterstützt. Der Schwerpunkt des Förderprogramms in Mannheim liegt im Bereich des Verstehens und Produzierens von Texten (mündlich und schriftlich) zu verschiedenen Wissensbereichen. Zusätzlich zum Schulstoff werden den Interessen der Kinder entsprechende Themen angeboten, die anhand von geeigneten Materialien (Sachtexte, Kinderliteratur, Filme, Spiele etc.) bearbeitet werden. Außerdem werden kleine Exkursionen durchgeführt, z. B. Theater-, Kino-, Zoo- und Ausstellungsbesuche, die vor- und nachbereitet werden. Mit unseren Angeboten und mit der Art und Weise der Durchführung hatten wir Erfolg: Die Kinder kamen regelmäßig, machten eifrig mit und konnten sich schulisch z. T. erheblich verbessern. Auch die Lehrkräfte bestätigen die positive Entwicklung der Kinder, und eine externe Evaluation bewertete die Projektarbeit positiv. 6 Die Fallstudie führte ich in einem Förderkurs der 6. Klasse einer Hauptschule im Migrantenwohngebiet durch. Der Kurs bestand aus vier zwölfjährigen türkischstämmigen SchülerInnen, die in Mannheim geboren, in dem Migrantenwohngebiet aufgewachsen und zur Grundschule gegangen sind. Die Jungen Fatih und Cem und die Mädchen Betül und Gülay sind eng in das Leben im Migrantenwohngebiet eingebunden. Die älteren Geschwister und die FreundInnen der Kinder gehen ebenfalls zur Hauptschule. In regelmäßigen Abständen nahm ich an den Förderstunden teil, deren Verlauf dokumentiert wurde. Ausschnitte aus den dokumentierten Interaktionen wurden mit den Studierenden in den Feedback-Sitzungen analysiert. Durch die Rekonstruktion von Unterrichtshandlungen hatten die Studierenden die Möglichkeit, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Exkurs 3 Zur Erinnerung ein kurzer Blick in die Lebenswelt der Hauptschüler: Wie in Kap.-3 dargestellt, liegt der Anteil von Migrantenkindern in den Hauptschulen des Migrantenwohngebiets mit 77-90 % sehr hoch. Obwohl nach Aussage der Lehrenden viele Kinder ausgesprochen intelligent sind, kommen sie schulisch nicht voran, weil ihre schriftlichen Leistungen unzureichend sind. Die Kinder und Jugendlichen haben eine hohe mündliche Ausdrucksfähigkeit entwickelt, die Türkisch, deutsch- 6 Die Mercator-Stiftung führte 2007/ 2008 eine externe Evaluation durch, die für unser Projekt positiv ausfiel; vgl. die Nachricht im Mannheimer Morgen (MM) vom 24. März 2009 zum Erfolg der Mercator-Förderprojekte und des Mannheimer Projekts. Keim_sV-264End.indd 222 10.02.12 16: 57 Mündliche Erzählformen 223 türkische Mischungen, regionales (dialektales) Deutsch und Ethnolekt umfasst. Da die Hauptschule des Stadtgebiets ein schlechtes Image hat, entwickeln viele Hauptschüler schon mit elf oder zwölf Jahren eine anti-schulische Haltung und suchen außerhalb der Schule nach Herausforderungen und nach Anerkennung, die sie z. B. in ethnischen Cliquen finden. Die sozialen Netzwerke der Kinder und Jugendlichen sind auf die Migrantengemeinschaft begrenzt und Kontakte zu gleichaltrigen oder erwachsenen Deutschen außerhalb des Wohngebiets sind selten. Die Kinder leben in einem sozial-räumlichen Mikrokosmos, in dem sich besondere soziale Orientierungen und sprachlich-kommunikative Praktiken herausgebildet haben. Unser vorrangiges Ziel in den Förderkursen war, die anti-schulische Haltung aufzubrechen, den Wissensdrang der Kinder zu wecken und sie zum Lernen zu motivieren. Meiner Analyse liegt das folgende Datenmaterial zugrunde. Auf Wunsch der Kinder besuchte die Studentin mit ihnen den Kinofilm „Happy Feet“ unter der Bedingung, dass sie dazu später kleine Geschichten schreiben. Episoden aus dem Film, die den Kindern besonders gut gefallen hatten, sollten zuerst mündlich, dann schriftlich erzählt werden. Die Nachbereitungsphase wurde dokumentiert. Bei Durchsicht des Materials fiel auf, dass die Kinder im Prozess der Annäherung an schriftsprachliche Formen mehr sprachliches Wissen zeigten, als in den mündlichen Erzählungen sichtbar geworden war. Ich stelle also zunächst Ausschnitte aus den mündlichen Erzählungen vor. 8.3 Mündliche Erzählformen Die Studentin beginnt mit der Bitte an Fatih dem Mädchen Gülay über den Film zu erzählen, da sie aus Krankheitsgründen nicht hatte mitkommen können. Da auch die Interviewerin (IN) den Film nicht kannte, wird mit der Bitte eine natürliche Erzählsituation initiiert, in der die Erzählfähigkeiten der Kinder gefordert werden: Sie müssen den Inhalt des Films bzw. Ausschnitte davon für Nicht-Informierte verständlich und überzeugend entfalten, die Darstellung muss situationsentbunden gestaltet sein und das fehlende Wissen der Rezipientinnen berücksichtigt werden. Der Film stellt die Lebensgeschichte eines kleinen Pinguins dar, der von Geburt an anders als seine Stammesgenossen ist: Er kann nicht singen wie sie, sondern er krächzt nur, obwohl seine Mutter eine große Sängerin ist. Aber er kann tanzen, eine Fähigkeit, die keiner der Pinguine hat. Deshalb wird er „Happy Feet“ genannt. Sein Anderssein wird durch einen Unfall erklärt, der dem Vater vor der Geburt des Kleinen passierte. Weil der kleine Pinguin anders als seine Altersgenossen ist, wird er aus der Pinguinkolonie ausgeschlossen. Traurig geht er in die Welt und begegnet dort vielen Gefahren, die er zu bestehen lernt. Als es ihm gelingt, sich der Pinguinkolonie nützlich zu erweisen, wird er wieder aufgenommen und kann zu seinen Eltern zurückkehren. Keim_sV-264End.indd 223 10.02.12 16: 57 224 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz Der folgende Gesprächsausschnitt beginnt mit der Aufforderung der Studentin (ST) an Fatih (FA) zu erzählen, und Betül (BE) beteiligt sich von Beginn an der Erzählung: Beispiel 1 01 ST: Fatih * erzählst=e Gülay ma um was es ging 02 BE: ich weiß=s 03 FA: <des ging um pinguin happy feet > * happy feet bedeutet/ 04 FA: bedeutet glücklische füße und eh * alsoehm die 05 IN: mhm 06 FA: mutter von happy feet war voll geil/ eh voll gute sängerin 07 FA: sehr gute * un die hat einen/ wie/ wie soll=sch des sagn 08 K LACHEND # 09 BE: einen freund 10 FA: die hat einfach mit mann rumgemacht also * 11 FA: un dann ham die ei gekriegt * un dann hat der mann des ei 12 FA: unter dem ding versteckt 13 IN: wo wo hat=a=s versteckt 14 BE: >popo< 15 FA: un dann eines tages hat eh der mann so eh nachricht 16 FA: gegebn glaub=sch * und der hat den ei runter fallen 17 FA: lassen net allein * aus versehn runtergefallen * und dann 18 FA: * nächste tag is die mutter gekommn wo is unsere kind * 19 FA: kind war da und wer macht unsere kind diese füße so * 20 FA: eh einfach der hat glücklische füße * und dann eh sind 21 FA: die singen gegangen * der junge macht so <giiaah> * der kann 22 K KRÄCHZT 23 FA: |nischt rischtisch singn | |der kann nisch rischtisch singen 24 BE: |<darf=sch was dazu sagn >| |SCHNIPPT MIT DEN FINGERN Auf die Aufforderung (Fatih * erzählst=e Gülay ma um was es ging , 01) drängt sich Betül vor: ich weiß=s (02). Sie will erzählen und tritt in Konkurrenz zu Fatih. Der erfasst die Konkurrenzsituation und beginnt mit lauter Stimme die Vorgeschichte des kleinen Pinguins zu erzählen; er stellt seine Entstehung und die Ereignisse dar, die zu seinem Ausschluss führten. Diese Sequenz besteht aus folgenden Strukturteilen: a) Einführung der Personen (03/ 10) Fatih stellt die zentrale Figur vor (03) und erklärt den besonderen Namen, indem er die englische Bezeichnung ins Deutsche übersetzt: happy feet bedeutet/ Keim_sV-264End.indd 224 10.02.12 16: 57 Mündliche Erzählformen 225 bedeutet glücklische füße (03/ 04). Dann führt er die Mutter ein, nennt eine für die weitere Geschichte wichtige Eigenschaft und stuft sie hoch: und eh * alsoehm die mutter von happy feet war voll geil/ eh voll gute sängerin * sehr gute (04/ 07). Durch die Hervorhebung der Singfähigkeit der Mutter projiziert er eine entsprechende Eigenschaft für das Kind. Dann führt er den Mann der Mutter ein un die hat einen/ , bricht ab und signalisiert, dass er einen adäquaten Ausdruck sucht: wie/ wie soll=sch des sagn (07/ 08). Betül liefert die Bezeichnung einen freund (09), und Fatih präzisiert die Beziehung der beiden Pinguine mit der derben Formulierung: die hat einfach mit mann rumgemacht also (10). Die Hauptakteure sind eingeführt, der kleine Pinguin, seine Mutter und deren Partner. b) Hintergründe für das Anderssein des kleinen Pinguins (11/ 19) Der Chronologie der Ereignisse entsprechend fährt Fatih fort. Das Pinguinpaar bekommt ein Ei (11/ 14), das der Vater zum Ausbrüten unter seinen Bauch steckt. Hier hat Fatih Formulierungsschwierigkeiten und verwendet zum Verweis auf die Körperstelle, an der der Vater das Ei versteckt, die Proform ding (unter dem ding versteckt, 12). Darauf fragt IN: wo hat=a=s versteckt (13). Wieder schiebt sich Betül mit einem passenden Wort dazwischen: >popo< (14). Fatih akzeptiert die Wortwahl (zumindest widerspricht er nicht) und kommt zu dem zentralen Ereignis: Das Vater erhält eine Nachricht und lässt vor Schreck (oder aus Überraschung? ) das Ei fallen: un dann eines tages hat eh der mann so eh nachricht gegebn glaub=sch * und der hat den ei runter fallen lassen net allein * aus versehn runtergefallen (15/ 17). Als die Mutter am Tag darauf zurückkehrt, ist das Junge ausgeschlüpft und hat deformierte Füße (17/ 20). Die Entdeckung der Deformation schildert Fatih in einer kleinen Szene, in der er die Fragen der Mutter an den Vater zitiert: wo is unsere kind und wer macht unsere kind diese füße so (18). Die Deformation stellt er folgendermaßen dar: kind war da (im Sinne von „das Kind war ausgeschlüpft“, 19) und eh einfach der hat glückliche füße (20). Die sequenzielle Anordnung (das Ei fiel zu Boden und das Junge hat dann deformierte Füße) legt nahe, dass die Unachtsamkeit des Vaters, der das Ei fallen ließ, zur Deformation führte. c) Das Ereignis, das zum Ausschluss führt (20/ 23) Die Pinguineltern gehen mit dem Kleinen zum Pinguin-Singen. Als der Kleine mitsingen will, kann er nur krächzen. (20/ 21). An dieser Stelle unterbricht Betül die Erzählung und kündigt mit Fingerschnippen und lauter Stimme an, dass sie etwas Wichtiges zu sagen hat: <darf=sch was dazu sagn > (24). Dann erklärt sie (das zeigt das Transkript nicht mehr), dass Singen zu den normalen Eigenschaften der Pinguinkolonie gehört; sie liefert damit eine wichtige Information zum Verständnis der Geschichte, denn die Unfähigkeit zu singen macht den kleinen Pinguin zum Außenseiter. In dieser ersten Episode sind folgende Strukturteile realisiert, die für eine „Erzählung“ konstitutiv sind (vgl. auch Kap.-7.1): Das Thema wird genannt (es Keim_sV-264End.indd 225 10.02.12 16: 57 226 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz ging um pinguin happy feet (02), der ungewöhnliche Namen erläutert (03), die wichtigen Personen werden eingeführt (07/ 10), ein wesentliches Merkmal der Mutter, das dem Kind fehlt, wird hervorgehoben (04/ 07), und es werden die Ereignisse dargestellt, die zu seiner Deformation (15/ 19) und zu seinem Ausschluss führen (20/ 23). Diese Ereignisse werden hoch gestuft und ansatzweise szenisch detailliert. Die Realisierung dieser Strukturteile zeigt, dass Fatih bereits einiges Gattungswissen erworben hat und, mit Unterstützung von Betül, wichtige Erzählanforderungen erfüllt. Die Episode enthält zielsprachliche grammatische Formen, die zeigen, dass Fatih wesentliche Strukturen des Deutschen erworben hat, wie die Flexionsmorphologie, verschiedene Tempora (Präsens, Perfekt, Imperfekt), die Struktur des Hauptsatzes mit Satzklammer, die Bildung von Nominal- und Präpositionalphrasen: des ging um happy feet * happy feet bedeutet glückliche füße (…) und dann hat der mann des ei unter dem ding versteckt (…) und dann sind die singn gegangen (…) der kann nischt richtisch singn. Dasselbe gilt auch für Betül, ebenso wie für die meisten anderen Kinder aus unseren Sprachförderkursen. Diese Befunde stimmen mit den Ergebnissen von Haberzettl (2009) überein, wonach Kinder der Sekundarstufe I über Wissen zu den Grundstrukturen des Deutschen verfügen. Außerdem kommen jugendsprachliche Ausdrücke vor, voll (im Sinne von sehr), das Adjektiv geil (im Sinne von gut), und auch der Ausdruck mit einem Mann rummachen kann als jugendsprachlich charakterisiert werden. Interessant ist die Selbstkorrektur von war voll geil/ zu voll gute und zu sehr gute sängerin, die Fatihs beginnende stilistische Bewusstheit zeigt. Und es gibt ethnolektale Merkmale: • Ausfall des Artikels in Nominal- und Präpositionalphrasen (5 Belege): z. B. und dann ham die (ein) ei gekriegt oder die hat einfach mit (einem) mann rumgemacht • Ausfall von Artikel und Präposition (2 Belege): und dann (am) nächste(n) tag is die mutter gekommen; • ein anderes Genus und ein anderer Kasus (jeweils 1 Beleg): unsere kind statt unser kind und wer macht unsere kind diese füße so statt unserem kind Die ethnolektalen Formen werden weder von den anderen Kindern noch von den Erwachsenen korrigiert, sondern als normale Peergroup-Sprechweise behandelt. Auch Betül, die im Erzählverlauf immer wieder die Erzählerrolle übernimmt, gebraucht ethnolektale Formen, wie im folgenden Beispiel: Beispiel 2 01 ST: wo war der pinguin noch 02 BE: in so zoo" * er war in zoo 03 BE: ja" * un danach ham die/ danach kam ein mädchen ein kleines 04 BE: mädchen die hat so geklopft an ding/ des war doch schei"be- * Keim_sV-264End.indd 226 10.02.12 16: 57 Der Prozess von mündlichen zu schriftlichen Erzählformen 227 05 IN: der war in=a gla/ hinter ner gla"sscheibe 06 BE: ja" damit die menschen 07 BE: es sehn konntn un man konnt ja in wasser reinschw: immen 08 IN: mhm In einigen Äußerungen Betüls fehlen die Artikel: in den Präpositionalphrasen in so zoo und in zoo (02); in der Nominalphrase des war doch scheibe (04) und in der Präpositionalphrase man konnt ja in wasser reinschw: immen (07). Auch hier werden die ethnolektalen Merkmale von den Erwachsenen nicht korrigiert, doch sie selbst verwenden durchgehend zielsprachliche Formen. 8.4 Der Prozess von mündlichen zu schriftlichen Erzählformen Die Bildungspläne der Bundesländer in Deutschland legen je nach Schulart und Schulstufe im Bereich der Literalität Anforderungen fest, die die Schüler erfüllen sollen. Nach dem Bildungsplan für Baden-Württemberg steht für die 6.-Klasse Hauptschule das Genre „Erzählung“ im Fokus des Deutschunterrichts. Die SchülerInnen sollen folgende Anforderungen erfüllen: 7 • die Genre spezifischen Strukturen kennen und produzieren • Ereignisse und Fakten situationsentbunden und plausibel darstellen, der inhärenten Sach- und Ereignislogik folgen und auf den/ die Adressaten zuschneiden • Situations- und adressatenspezifische Stil- und Sprachebenen beachten • kohärente textuelle Strukturen produzieren unter der Verwendung geeigneter referentieller, kausaler, konditionaler und raum-zeitlicher Strukturen • Schriftsprache verwenden und den Regeln der Orthographie folgen An diesen Anforderungen werden die Leistungen der SchülerInnen am Ende des sechsten Schuljahres gemessen. Sie bilden deshalb auch den Bezugsrahmen für den Förderkurs in dieser Klassenstufe. Da wir die Erfahrung gemacht hatten, dass es sehr schwierig war, die Kinder zum Schreiben zu motivieren, das sie als blöd, langweilig oder schwul ablehnten, 8 hatten wir die Idee, die Texte gemeinsam mit ihnen am Laptop herzustellen. Damit hatten wir Erfolg: Die Kinder machten mit, schrieben abwechselnd am Laptop, und das gemeinsame Arbeiten förderte die Textproduktion erheblich. Wie sich die Teamarbeit gestaltete, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte. 7 Das ist die knappe Zusammenfassung der Darstellung im Bildungsplan von Baden- Württemberg, vgl. Bildungsstandards für die Hauptschule, vom 18.01.2007, Ministerium für Kultur, Jugend und Sport Baden-Württemberg, www.bildung-staerktmenschen.de (Stand September 2011). 8 Vor allem die Jungen lehnten schreiben mit der Begründung ab: Schreiben ist etwas für Mädchen oder Schreiben ist schwul. Keim_sV-264End.indd 227 10.02.12 16: 57 228 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz 8.4.1 Beteiligungsrolle der Erwachsenen Zunächst betrachte ich die Rolle der Erwachsenen beim Prozess der Textherstellung, wie sie sich beteiligt, welche Unterstützung sie leistet, und welche Konsequenzen das hat. Im folgenden Beispiel sitzt Betül am Laptop und schreibt, Fatih hilft bei der Formulierung und die Erwachsene (IN) begleitet den Prozess. Der Ausschnitt beginnt, als Betül die Phase des Verliebens zwischen den beiden Pinguinen darstellt: Beispiel 3: 01 BE: da sah sie eine/ * einn mann * eine"n mann K SPRICHT BEIM SCHREIBEN 02 IN: richtich * gut 03 BE: sie wurd/ sie ist * sofort in ihn verknallt 04 IN: da machst=e jetz 05 IN: en punkt odda komma/ en punkt würd ich da machen eh net 06 BE: ok 07 IN: verknallt * wie sagt ma denn da besser sie hat 08 BE: <verliebt> 09 IN: sich sofort in ihn verliebt 10 BE: sie hat sich sofort in ihn verliebt 11 K SCHREIBT UND SPRICHT DABEI Betül formuliert den ersten Satz in drei Schüben mit jeweils einer Pause vor dem nächsten Schub. Der Prozess bildet die sukzessive Annäherung an schriftsprachliche Formen ab: Sie bricht ab nach da sah sie eine/ , korrigiert den femininen zu dem maskulinen Artikel einn mann und hebt dann die Akkusativendung im Indefinitpronomen eine"n mann artikulatorisch hervor. Sie ersetzt also die ethnolektale Form eine mann (fem. Genus) durch die zielsprachliche einn mann (09/ 13) und hebt beim Schreiben den / e/ -Laut der Endsilbe hervor, da er geschrieben wird; sie setzt die Schreibversion in Kontrast zur vorangegangenen Sprechversion. Dieser Prozess zeigt, dass Betül zwischen der ethnolektalen, der gesprochensprachlichen und der schriftsprachlichen Version zu unterscheiden weiß. Das Endprodukt wird von IN explizit gelobt (richtich * gut, 02). In der nächsten Äußerung sie wurd/ sie ist * sofort in ihn verknallt (03) zeigt die Selbstkorrektur (von sie wurd/ zu sie ist) wieder die Formulierungsarbeit. IN gibt dann einen Hinweis zur Interpunktion (05), den Betül annimmt (ok, 06), und sie erhebt Einspruch gegen den Ausdruck „verknallt“: eh net verknallt * wie sagt ma denn da besser (07). Betül verbessert zu <verliebt> (08). IN ist einverstanden und ersetzt in Betüls vorheriger Äußerung (03) das Verb verknallt durch das standardsprachliche verliebt: sie hat sich sofort in ihn verliebt (07/ 09). Diesen Satz schreibt Betül auf (10/ 11). INs Beteiligung in dem die Verschriftlichung begleitenden Prozess besteht aus folgenden Aktivitäten: Keim_sV-264End.indd 228 10.02.12 16: 57 Der Prozess von mündlichen zu schriftlichen Erzählformen 229 • Sie initiiert und steuert den Erzählprozess; • sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die stilistische Differenz zwischen gesprochensprachlichen und schriftsprachlichen Formen; • sie gibt Hinweise zur Strukturierung von Sätzen durch Interpunktion. Auch im weiteren Interaktionsverlauf setzt IN solche Verfahren ein. Leitendes Prinzip für die Kontrolle des Verschriftungsprozesses ist, die Initiativen der Kinder aufzugreifen und sie zu syntaktischen, grammatischen und stilistischen Korrekturen anzuregen, so dass sie selbst Alternativen entwickeln, die von der Erwachsenen dann bestätigt oder korrigiert werden. Die Erwachsene „formuliert nicht vor“, sondern veranlasst die Kinder ihr Sprachwissen zu entfalten, bestätigt ihre Produktionen, initiiert Selbstkorrekturen der Kinder oder greift korrigierend ein. 8.4.2 Peergroup-Sprechweisen vs. schriftsprachliche Formen Im nächsten Ausschnitt verhandeln Betül und Fatih die Differenz zwischen Peergoup-Sprechweisen und schriftsprachlichen Formen. Der Ausschnitt schließt unmittelbar an das vorherige Beispiel an, er gehört ebenfalls zur Vorgeschichte des kleinen Pinguins. Nachdem Betül den Satz Sie hat sich sofort in ihn verliebt und er sich in sie auf dem Computer geschrieben hat, initiiert IN mit der Frage und wie ging=s weiter (01) die folgende Interaktion: Beispiel 4: 01 IN: und wie ging=s weiter 02 BE: und jetz * da wurden sie ein päärchen un 03 BE: sie bekamen ein kind 04 FA: sie haben rumgemacht 05 BE: LACHT nein * sie bekamen 06 BE: ein/ * sie bekamen ein ei" 07 IN: ein ei richtich * was is dann 08 IN: weiter passiert * was macht mer mit nem ei 09 FA: >unter den arsch< 10 IN: <der mann> 11 FA: der mann hat den ei * un|ter den- |po gelegt| 12 BE: |unter den po |gelegt Auf INs Frage antwortet Betül mit einer schriftsprachlich formulierten Äußerung da wurden sie ein päärchen un sie bekamen ein kind (02/ 03), ohne gesprochensprachliche Merkmale (keine Reduktionen, keine Verschleifungen, Verzögerungspartikel oder Abbrüche) und mit dem für Schriftsprache charakteristischen Tempus (Imperfekt). Fatih formuliert eine Alternative sie haben rumgemacht (04) und gebraucht dabei denselben sozialstilistisch markierten Keim_sV-264End.indd 229 10.02.12 16: 57 230 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz Ausdruck rummachen wie in der mündlichen Version (oben, Beisp. 1, Z. 10). Darauf lacht Betül, weist seinen Vorschlag zurück (nein, 05), reformuliert ihre Version sie bekamen ein/ (05/ 06), bricht ab und korrigiert zu sie bekamen ein ei“. Die Zurückweisung des derben Ausdrucks und das Bestehen auf der eigenen Version zeigen ihre Fähigkeit zur stilistischen Differenzierung. Außerdem entspricht die Korrektur von kind zu ei dem dargestellten Sachverhalt. IN bestätigt die Korrektur (ein ei richtich , 07) und stellt die nächste weiterführende Frage: was is dann weiter passiert (07/ 08).Da die Kinder darauf nicht reagieren, schränkt sie den Fragefokus ein: was macht mer mit nem ei (08). Fatih antwortet <unter den arsch< (09). Als IN nach dem Agens fragt (<der mann> ), vervollständigt er den Satz der mann hat den ei * unter den- (11), zögert jedoch vor der Nennung des Nomens. D. h. er wählt das derbe Wort arsch ab und sucht nach einem anderen Ausdruck. Noch bevor er fortfahren kann, nennt Betül (überlappend mit seiner Formulierung) als Alternative den umgangssprachlichen Ausdruck unter den po (12), 9 und Fatih übernimmt ihn (10). Betül zeigt hier zum zweiten Mal ihre Fähigkeit stilistisch zu differenzieren. Während Fatih in dieser Phase des Verschriftlichungsprozesses (noch) Peergroup-Sprechweisen verwendet, bewegt sich Betül bereits nahe an schriftsprachlichen Formen; ihr sprachliches Wissen kommt in Selbst- und Fremdkorrekturen zum Ausdruck. 8.4.3 Interaktive Bearbeitung eines Formulierungsproblems Nach einiger Zeit wechseln die Kinder die Plätze, Fatih setzt sich an den Computer, Betül und IN sitzen neben ihm. Die Kinder wollen als nächstes das Abenteuer des kleinen Pinguins bei den Möwen erzählen. IN initiiert den Erzählprozess durch die Frage was hat=a dort gemacht bei den möwen (01). Beim Versuch die Frage zu beantworten, entsteht wieder eine Konkurrenzsituation zwischen Betül und Fatih um die ‚richtige Version‘ des Abenteuers. Als Fatih seiner Version Geltung verschaffen will, hat er ein Ausdrucksproblem, das erst nach mehreren Anläufen und mit Unterstützung von Betül und IN gelöst werden kann: Beispiel 5: 10 01 IN: was hat=a dort gemacht bei den möwen 02 BE: dort hat=a mit den 03 BE: möwen gekämpft LACHT 04 FA: nei"n * was für gekämpft der * 05 FA: der wollte dass die ihn essen eh/ ** darf=sch auf türkisch 9 Der Ausdruck Po ist umgangssprachlich gebräuchlich und für Kinder üblich. 10 Das türkischsprachige Segment ist fett gedruckt. Keim_sV-264End.indd 230 10.02.12 16: 57 Der Prozess von mündlichen zu schriftlichen Erzählformen 231 06 FA: sagn oyal yor oyal yor * oyalanmak ** ehm * Ü er lenkt sie ab, er lenkt sie ab, zerstreuen 07 BE: was 08 FA: <zei"t verlieren dass die keine lust mehr haben den zu 09 FA: e"ssen> ja: 10 IN: ach * die möwen wolltn den pi"nguin fressn 11 FA: dort hat er die ehm möwen/ * so zeit verliern * wie sagt 12 FA: man des 13 BE: er wollte keine zeit verlieren er hatte hunger 14 FA: <nei"n> * isch weiß 15 IN: ich weiß nich was du meinst kind 16 FA: auch net wie ma des/ 17 BE: <überle"g> 18 IN: dann probier=s ma irgendwie 19 IN: * ich mach=s dann schon 20 FA: also * eh da sin doch zum beispiel 21 FA: die möwen * die wollen den essen * un=der/ un=der will 22 FA: dass die möwen den nisch mehr fressn solln und so 23 FA: <fragen stellen> der hat fragen 24 IN: und was macht=a da 25 FA: gestellt zum zeit zu verliern 26 IN: <ah: : * je"tz versteh ich> 27 IN: ja * ja * hört mal 28 FA: SCHREIBT die möwen wollten ihn fressen 29 IN: ich probier=s ma zu formulieren * um sie a"bzulenken 30 FA: <ja" * um sie abzulenken * ja> 31 IN: hat er ihnen viele fragen 32 IN: gestellt 33 BE: ja" 34 FA: ja" * voll viele sogar SCHREIBT Die durch INs Frage initiierte Interaktion hat folgende Struktur: a) Auftreten des Formulierungsproblems Auf die Frage, was der Pinguin bei den Möwen gemacht hat, macht Betül den Vorschlag: dort hat=a mit den möwen gekämpft (02/ 03). Fatih weist das mit Nachdruck zurück: nei"n * was für gekämpft (im Sinne von „wieso hat er gekämpft“, 04). Darauf lacht Betül (03), und Fatih beginnt mit seiner Version: der * der wollte dass die ihn essen eh/ (05), bricht jedoch ab. In der Äußerung gibt es Hinweise auf Formulierungsschwierigkeiten (Abbruch, Neustart, wieder Abbruch), und nach einer längeren Pause fragt er, ob er in Türkisch fortfahren darf (darf=sch auf türkisch sagn , 05/ 06). Der Abbruch und der Wunsch die Sprache zu wechseln zeigen, dass er kein inhaltliches, sondern ein sprachliches Keim_sV-264End.indd 231 10.02.12 16: 57 232 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz Problem hat: Er kann das, was er darstellen möchte, nicht in Deutsch formulieren. b) Erster Lösungsversuch: Sprachwechsel Fatih wechselt ins Türkische: oyalıyor (er lenkt sie ab). Die Adressatin seiner Äußerung ist Betül; mit dem Sprachwechsel appelliert er an sie, ihm bei der Lösung seines Formulierungsproblems zu helfen. Doch Betül versteht nicht (oder will nicht verstehen) und fragt nach: was (07). Fatih reformuliert die Äußerung zu oyalıyor * oyalanmak (er lenkt sie ab, zerstreuen, 06), doch Betül reagiert nicht. Nach einer Pause wechselt er wieder ins Deutsche. Sein Versuch, sich durch Sprachwechsel ins Türkische verständlich zu machen und Betül als Unterstützerin zu gewinnen, ist gescheitert. c) Zweiter Lösungsversuch: Gefahr des Abbruchs Fatih spricht jetzt lauter und mit Nachdruck: <zei"t verlieren dass die keine lust mehr haben den zu e"ssen> (08/ 09). Die Äußerung besteht aus der Infinitivkonstruktion (zeit verlieren) und dem abhängigen Satz (dass die keine lust mehr haben den zu e"ssen), deren Relation zueinander nicht erkennbar ist. IN reagiert auf den zweiten Strukturteil: ach * die möwen wolltn den pi"nguin fressn (10) und fragt, ob sie richtig verstanden hat. Fatih bestätigt (ja: , 09), fährt fort: dort hat er die ehm möwen/ (11), bricht wieder ab und wiederholt die vorherige Infinitivkonstruktion so zeit verlieren. Dann bittet er die anderen um Unterstützung: wie sagt man des (09/ 11). BE reagiert als erste, nimmt die Infinitivkonstruktion (zeit verlieren) auf und macht den Vorschlag: er wollte keine zeit verlieren er hatte hunger (13). Doch der Vorschlag passt nicht in die Szene, die Fatih schildern will, denn er weist ihn mit Nachdruck zurück: <nei"n> (14). Wie die folgenden Beiträge zeigen, droht an dieser Stelle die Interaktion zu scheitern: IN drückt Rat- und Hilflosigkeit aus (ich weiß nich was du meinst kind, 15), und Fatih gesteht ein, dass er das, was er sagen will, nicht ausdrücken kann: isch weiß auch net wie ma des/ (16). Jetzt ist es Betül, die ihn zum Durchhalten ermutigt <überle"g> (17). Das verändert die Situation, und auch IN bietet ihre Unterstützung an: dann probier=s ma irgendwie * ich mach=s dann schon (19). Die Forderung ‚zu geben was er kann‘ (probier=s ma irgendwie) und die Zusicherung sich auf ihn einzulassen (ich mach=s dann schon), motivieren Fatih zu einem neuen Anlauf. d) Neuer Anlauf Fatih löst die Inhaltsstruktur, die er nicht ausdrücken kann, in Einzelschritte auf und produziert Äußerungen mit je einer Information in klarer thematischer Progression (20/ 22): • da sin doch zum beispiel die möwn • die wolln den fressn • un=der will dass die möwn den nisch mehr fressn solln Keim_sV-264End.indd 232 10.02.12 16: 57 Der Prozess von mündlichen zu schriftlichen Erzählformen 233 Die anschließende Infinitivkonstruktion und so <fragen stellen> (23) passt allerdings nicht zu dem gerade etablierten Verlaufsschema und schafft ein neues semantisches Problem, da unklar bleibt, wer an wen Fragen stellt und wozu. Jetzt fragt IN, was ‚er‘ (der Pinguin) macht (24) und bereitet damit die Lösung vor. e) Lösung Fatih greift das Agens ‚er‘ auf, beschreibt seine Handlung der hat fragen gestellt und bringt die Infinitivkonstruktion zeit verlieren in die semantische Position „Handlungsmotiv“: zum zeit zu verlieren (25). Jetzt kann IN die Bedeutung erschließen <ah: je"tz versteh ich> (26) und sie bietet den Kindern folgende Formulierung an: um sie abzulenken hat er ihnen viele fragen gestellt (29/ 32). Fatih bestätigt voller Eifer, dass das genau das ist, was er gemeint hat (<ja" * um sie abzulenken * ja>, 30). Beide Kinder stimmen befriedigt zu (33, 34), und Fatih schreibt diese Version auf dem Computer. Die Bearbeitung von Fatihs Problem erfolgt in vier Anläufen. Der Versuch, unter Mithilfe von Betül das Problem durch Sprachwechsel ins Türkische zu lösen, scheitert. Sein zweiter Versuch, in dem er zwei nicht aufeinander beziehbare Satzfragmente produziert, führt zu Ratlosigkeit und zum drohenden Abbruch der Interaktion. Erst Betüls energische Aufforderung, weiter an der Lösung zu arbeiten, und das Unterstützungsangebot von IN motivieren Fatih zu einem neuen Versuch. Dadurch, dass er die Inhaltsstruktur in Einzelinformationen zerlegt und sie in eine geordnete Thema-Rhema-Progression bringt, gelingt es ihm einen Teil des Gemeinten zu verdeutlichen. Als er noch einmal eine nicht-verstehbare Äußerung produziert, bringt IN ihn dazu, eine Äußerung zu produzieren, in der er das Gemeinte in die entsprechende semantische Position bringt. Jetzt gelingt die Verständigung und IN kann das formulieren, was Fatih gemeint hat. Seine Hartnäckigkeit bei der Suche nach einer Lösung, Betüls Ermutigung und die enge Kooperation zwischen IN und Fatih führen zu einer befriedigenden Lösung. 8.4.4 Selbständige Produktion schriftsprachlicher Formen: Fatih Kurz danach beschreibt Fatih, was geschah, nachdem es dem kleinen Pinguin gelungen war, die Möwen abzulenken. Er formuliert selbständig, schreibt den Satz auf und liest ihn laut vor: Beispiel 6: 01 FA: LIEST LAUT er hat bei den möwen ein band entdeckt 02 IN: un was war mit dem band * warum war des wichtig 03 FA: das 04 FA: band bedeutete dass der/ dass er der anführer war 05 IN: ja gut 06 FA: SCHREIBT Keim_sV-264End.indd 233 10.02.12 16: 57 234 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz Die Interviewerin zeigt Fatih mit der Frage (was war mit dem band warum war des wichtig , 02), wie er die Geschichte weiterführen muss, damit die Bedeutung des gerade aufgeschriebenen Satzes verständlich wird. Fatih erklärt: das Band bedeutete dass der/ dass er der Anführer war (03/ 04) und schreibt den Satz. An dieser Stelle produziert er zum ersten Mal selbständig schriftsprachliche Formen (Haupt- und Nebensatz, Verb im Imperfekt): Er hat bei den Möwen ein Band entdeckt. Das Band bedeutete dass er der Anführer war. Interessant ist, dass Fatih schriftsprachliche Formen direkt nach der gemeinsamen Anstrengung zur Lösung seines Problems produziert. Das legt die Vermutung nahe, dass die gemeinsame Arbeit ihn zu Leistungen motiviert, bei denen er sprachliches Wissen entfaltet, das vorher nicht sichtbar war. Er lässt sich auf den Verschriftlichungsprozess ein, nachdem er Ermutigung (von Betül) erfahren hat, ihm Unterstützung (von IN) zugesichert wurde, und er darauf vertrauen kann, dass seine Formulierungsversuche ernst genommen und in seinem Sinne vervollständigt werden. Vergleicht man Fatihs Text mit einem Produkt, das er zwei Wochen vorher geschrieben hat, wird deutlich, wie wichtig die gemeinsame Arbeit für den Erwerb von Textkompetenz ist. Das frühere Produkt kam in einer Förderstunde zustande, in der die Studentin den Kindern die Aufgabe erteilt hatte, sich schriftlich vorzustellen. Jedes Kind sollte eine Version schreiben, und das Produkt sollte an Brieffreunde in anderen Schulen verschickt werden. Fatih schrieb damals Folgendes: Beispiel 7: Hallo Leute isch heiße Fatih isch bin isch Galatasaray Fan aus Türkei isch bin mit meine Freund Indien geflogen es war dort voll cool isch hab dort giftige Schlange gesehn isch bin auch Elefant gestiegen und in Dörfer geritten und wieder zurück und komische Kühe die Hörner warn zurück gebogen. Das selbst verfasste Produkt besteht aus einer Aneinanderreihung einfacher, z. T. unvollständiger und kaum verknüpfter Strukturen. Es gibt gesprochensprachliche Merkmale (Ausfall des / e/ in Endsilben gesehn, warn, Koronalisierung von / ch/ zu / sch/ in isch) und vor allem ethnolektale Formen: Ausfall der Präposition in Indien geflogen (nach Indien), Ausfall von Artikel und Präposition in Elefant gestiegen (auf einen Elefant), anderer Kasus und anderes Genus in mit meine Freund (mit meinem Freund) und Ausfall des Artikels in giftige Schlange (eine giftige Schlange). Außerdem kommt der jugendsprachliche Ausdruck cool vor. Diese Besonderheiten haben große Ähnlichkeit mit der mündlichen Erzählung Fatihs, die ich oben (Abschnitt 8.3) vorgestellt habe. Fatih schreibt, wie er spricht, d. h. er überträgt seine Peergroup-Sprechweise in Schreibform. Das ist aufgrund der damaligen Anforderung auch nachvollziehbar: Die Rezipienten seiner Selbstpräsentation sollten gleichaltrige Brieffreunde Keim_sV-264End.indd 234 10.02.12 16: 57 Der Prozess von mündlichen zu schriftlichen Erzählformen 235 sein, denen er sich als „cooler“, Fußball begeisterter und Welt erfahrener Junge präsentiert. Und dazu verwendet er die typische Peergroup-Sprechweise, die er in Schrift überträgt. In den oben analysierten Beispielen will Fatih zunächst ebenfalls schreiben, wie er spricht. Doch in der Interaktion mit Betül und durch die Unterstützung von IN beginnt er allmählich zwischen Peergroup-Formen und schriftsprachlichen Formen zu differenzieren, die er in dem letzten Textstück (Beispiel-6) dann eigenständig produziert. Mit welchen Anstrengungen dieser Weg verbunden ist und welche Unterstützung Fatih dabei braucht, hat die Analyse gezeigt. 8.4.5 Selbständige Produktion schriftsprachlicher Formen: Betül Betül drängt sich immer wieder an den Computer und möchte alleine formulieren. Da sie dabei auch ethnolektale Formen verwendet, vereinbart IN mit ihr, dass sie das, was sie schreiben will, ihr vorher zur Überprüfung anbietet. Während des kontrollierten Schreibprozesses differenziert Betül immer sicherer zwischen ethnolektalen, gesprochensprachlichen und schriftsprachlichen Formen. Hier ihr Text, der die Vorgeschichte des kleinen Pinguins enthält, die Fatih vorher mündlich erzählt hatte (vgl. oben 8.3): Es waren viele Pinguine in einem Land. Es waren über Tausende Pinguine. In diesem Land Doch da war eine wunderschöne Pinguinfrau sie war so hübsch, dass die Männer die hübsche Pinguinfrau wollten. Doch plötzlich sah sie einen Mann. Sie hat sich sofort in ihn verliebt. Und er sich in sie. Sie wurden ein Paar. Sie bekamen ein Ei. Der Mann hat das Ei unter sich gelegt damit es nicht friert. Unglücklicherweise ist das Ei Ein bisschen in das Eis gefallen. Das Baby schlüpfte nicht zur normalen zeit, sondern später. Als das Baby kam, hatte es zappelige Füße. Auch sonst war es nicht normal. Es konnte nicht Wie die anderen Babys singen. Die Eltern machten sich Sorgen weil das Baby nicht singen Konnte. Der Pinguinstamm wollte das Baby nicht haben, außer der Mutter. Sie flehte die Pinguine an, dass das Baby da bleibt. Den Text präsentiere ich so, wie Betül ihn geschrieben hat; die Großschreibungen sind z. T. Computer-technisch bedingt (Großbuchstabe bei Zeilenbeginn). Wenn man den Text in Bezug auf die in Abschnitt 8.1 dargestellten Charakteristika betrachtet, die den Erwerb konzeptioneller Schriftlichkeit und Textkompetenz anzeigen (Erzählstruktur, Textkohärenz und Textkohäsion), hat er die folgenden Eigenschaften. a) Erzählstruktur Die Darstellung orientiert sich an der inneren Logik des Geschehens, die Abfolge der Ereignisschritte bildet den natürlichen Verlauf ab. Mit einer Einleitung, die an Märchenanfänge erinnert, führt Betül in den Ort des Geschehens ein, das Land der Pinguine: Keim_sV-264End.indd 235 10.02.12 16: 57 236 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz Es waren viele Pinguine in einem Land. Es waren über Tausende Pinguine In diesem Land. Dann leitet sie zur zentralen Figur der Geschichte über, der Mutter des kleinen Pinguins, stuft sie durch adversative Konjunktion (doch) und gehobene Lexik hoch (wunderschöne Pinguinfrau) und hebt mithilfe einer konsekutiven Konstruktion ihre Besonderheit hervor: sie war so hübsch, dass die Männer die hübsche Pinguinfrau wollten. Im nächsten Schritt folgt der Planbruch, das Unerwartete, eingeleitet durch die adversative Konjunktion doch in Verbindung mit dem Diskontinuität anzeigenden Adverb plötzlich. Die Pinguinfrau folgt nicht der Werbung eines Verehrers, sondern verliebt sich unerwartet in einen anderen Mann: Doch plötzlich sah sie einen Mann. Sie hat sich sofort in ihn verliebt. Und er sich in sie. Die natürliche Konsequenz dieser unerwarteten Liebe schildert Betül dann in einfachen Konstruktionen: Sie wurden ein Paar. Sie bekamen ein Ei. In den folgenden Sätzen wird das Ei fokussiert und das, was mit ihm geschieht: Der Mann hat das Ei unter sich gelegt damit es nicht friert. Unglücklicherweise ist das Ei Ein bisschen in das Eis gefallen. Die Darstellung folgt zunächst wieder dem natürlichen Verlauf (Ei-Ausbrüten), doch dann tritt ein unerwartetes Ereignis ein, das Betül als Unglück charakterisiert. Die Konsequenzen des Unglücks stellt sie kleinschrittig dar und zeichnet den zeitlichen Verlauf nach, in dem die Anormalität des Pinguinkükens zu Tage tritt: Das Baby schlüpfte nicht zur normalen zeit, sondern später. Als das Baby kam, hatte es zappelige Füße. Auch sonst war es nicht normal. Es konnte nicht Wie die anderen Babys singen. Dann folgt ein Wechsel der Perspektive hin zu den Pinguineltern und zu ihrer Reaktion auf die Deformation ihres Kükens: Die Eltern machten sich Sorgen weil das Baby nicht singen Konnte. Dass die Sorgen begründet waren, wird im Anschluss deutlich: Der Pinguinstamm wollte das Baby nicht haben, außer der Mutter. Sie flehte die Pinguine an, dass das Baby da bleibt. An dieser Stelle bricht Betül ab und verspricht, in der nächsten Förderstunde an ihrem Text weiter zu schreiben. Auch wenn der Text aus ihrer Sicht noch nicht fertig ist, hat er doch eine kohärente Makrostruktur, und die konstitutiven Strukturteile einer Erzählung sind realisiert: • Hinführung zur Situation • Einführung der Akteure (die Eltern) • Entfaltung des Geschehens (Verlieben, Paar, Ei) • das Unglück (das Ei fällt ins Eis) und die Konsequenzen (Deformation des Jungen) • soziale Konsequenzen der Deformation (der drohende Ausschluss aus der Kolonie). b) Textkohärenz und Textkohäsion: Die thematische Progression folgt dem Verlauf des Geschehens, die Ereignisse sind chronologisch und kausal aufeinander bezogen: Kennenlernen der Eltern; Verlieben und Paarbeziehung; der Unfall; die Geburt des Jungen und die Ent- Keim_sV-264End.indd 236 10.02.12 16: 57 Der Prozess von mündlichen zu schriftlichen Erzählformen 237 deckung der Deformation; die Sorge der Eltern vor dem Ausschluss des Kindes aus der Kolonie und der Kampf der Mutter um ihr Junges. Textgrammatisch und semantisch ist der Text dicht gestaltet. Betül verwendet zum Verweis auf die Pinguinfamilie ihrem Alter entsprechende Bezeichnungen aus der Menschenfamilie: der Mann, die Frau, das Baby, die Eltern, die Mutter. Unerwartete Ereignisse werden durch entsprechende sprachliche Mittel verdeutlicht (doch plötzlich, unglücklicherweise), sie strukturieren den Text. Emotionen und Einstellungen werden verbalisiert (sich verlieben, Sorgen der Eltern, die Mutter flehte sie an). Die Sätze sind vollständig, z. T. auch komplex. Die Informationen sind semantisch aufeinander bezogen und werden durch Konjunktionen und Adverbien verbunden. Es gibt Hypotaxen mit kausaler, temporaler, finaler und konsekutiver Verknüpfung, und als unterordnende Konjunktionen kommen vor: so dass, damit, als, weil und dass. Referenz wird pronominal (die Eltern - sie; das Baby - es) oder durch Isotopie hergestellt, d. h. durch Wörter aus demselben Erfahrungsbereich (Eltern-Mutter-Baby). Die Zeitstruktur wird durch die Abfolge der Ereignisschritte und durch Adverbien (später, sofort, zur normalen Zeit) hergestellt. Fast durchgängig wird das für schriftsprachliche Produkte charakteristische Tempus (Imperfekt) verwendet. Nur an wenigen Stellen weicht Betül davon ab und wechselt ins Perfekt bzw. Präsens. Auch der letzte Satz, der eine indirekte Redewiedergabe enthält, ist grammatisch nicht ganz zielsprachlich. Insgesamt ist die Darstellung situationsentbunden und kann auch von Adressaten nachvollzogen werden, die die Geschichte nicht kennen. Betül hat gute Fortschritte beim Erwerb von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz gemacht. Nicht nur ihre Leistung zeigt, dass der Förderunterricht und die Art und Weise der Durchführung sie erreicht hat. Sie selbst bringt zum Ausdruck, dass ihr der Förderkurs gut gefällt und sie sich angenommen fühlt. Kurze Zeit nach der oben analysierten Unterrichtsituation schreibt sie unbeobachtet folgenden Text auf den Computer: Der Deutsch-Kurs Also der Deutsch-Kurs ist was ganz tolles für mich. Ich will auch mal eine Lehrerin werden, weil das was ganz gutes ist für uns Kinder. Ich möchte für immer hier bleiben und was lernen. Manchmal motz ich auch weil das auch mal langweilig ist. Aber die die Lehrer versuchen ihr bestes ein gutes Vorbild für uns Kinder zu sein. Es macht sehr spaß: ) Dieser kleine, selbst gestaltete Text gibt Hinweise für die Weiterarbeit mit Betül: Sie wünscht sich anspruchsvolle Materialien, die sie thematisch interessieren und nicht langweilen. Sie erkennt die Unterstützung durch die Erwachsenen an, ihr gefällt, wie mit ihr gearbeitet wird, und sie wünscht sich das auch für die Zukunft. Betül ist in hohem Maße lernmotiviert und hat ehrgeizige berufliche Pläne. Ein kurzer Blick in die Zukunft von Fatih und Betül: Beide Kinder sind den eingeschlagenen Weg weiter gegangen. Fatih hat den Hauptschulabschluss geschafft und Betül ist der Übergang auf die Realschule gelungen. Damit ist Keim_sV-264End.indd 237 10.02.12 16: 57 238 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz sie auf dem Weg zu ihrem Berufsziel „Lehrerin“ einen kleinen Schritt vorangekommen. 8.5 Zusammenfassung und Ausblick Während die Kinder zu Beginn der analysierten Unterrichtsinteraktion nicht zwischen Peergroup-Sprechweisen und schriftsprachlichen Formen differenzieren, verändern sich ihre Formulierungen ganz allmählich in Richtung Schriftsprache. Dieser Prozess wird initiiert und vorangetrieben durch die Interaktionen zwischen der Erwachsenen und den Kindern und zwischen den Kindern untereinander, die um die richtige Version wetteifern. Obwohl die Konkurrenz unter den Kindern die Verwendung von Peergroup-Sprechweisen begünstigt, treibt sie doch die Erzählhandlung voran, führt zu konzentriertem Arbeiten und zu schnellen Reaktionen auf Formulierungsschwächen des jeweils anderen. Beim Wettstreit um die ‚richtige‘ Version tritt zunehmend schriftsprachliches und stilistisches Wissen zutage, das vorher verborgen war. Dabei wirkt sich Betüls weiter entwickelte Textkompetenz motivierend und leistungssteigernd auf Fatih aus; er strengt sich an. Die Beteiligungsrolle der Erwachsenen in diesem Prozess besteht darin, Fragen zu stellen (Verständnisfragen, Fragen zur Präzisierung und Fragen, die den Erzählfortgang vorantreiben), Verstehen zu signalisieren und zu Korrekturen in Richtung Schriftsprache anzuregen. In diesem Prozess zeigen die Kinder ein erstaunliches Sprachbewusstsein, das durch die in den Interaktionen etablierten Zugzwänge Schritt für Schritt aktiviert wird. Die Formulierungen, die Fatih in dem kontrollierten Schreibprozess produziert, bilden ein Kontinuum zwischen Peergroup-Sprechweisen und schriftsprachlichen Formen, in dem ethnolektale Formen kontinuierlich abnehmen. Das wird besonders in der Interaktionsphase deutlich, in der die Beteiligten gemeinsam an der Lösung seines Ausdrucksproblems arbeiten (vgl. 8.4.3); -hier treten gesprochensprachliche, aber keine ethnolektalen Merkmale (mehr) auf, und im weiteren Verschriftungsprozess werden sie, wenn sie vorkommen, sofort korrigiert. Solche intensiven Interaktionsprozesse zwischen den Kindern einerseits und zwischen ihnen und der Erwachsenen andererseits eignen sich sehr gut, um implizites sprachliches Wissen explizit zu machen, und den situativ angemessenen Gebrauch sprachlicher Formen zu verdeutlichen und einzuüben. Auf diese Weise erfahren die Kinder, dass Peergroup-Formen, die in Alltagssituationen angemessen sind und die sie zum Ausdruck von sozialer Zugehörigkeit einsetzen (vgl. Kap.-6), nur eine begrenzte soziale Reichweite haben. Sie erfahren, welche sprachlichen und stilistischen Kompetenzen sie erwerben müssen, wenn sie Anforderungen außerhalb ihres sozialen Umfeldes erfüllen wollen. Und sie erleben, dass sie das leisten können und dass Leistung befriedigt. Keim_sV-264End.indd 238 10.02.12 16: 57 Zusammenfassung und Ausblick 239 Die in der Fallstudie dargestellten Erkenntnisse bestätigten sich auch in anderen Fördergruppen, in denen in vergleichbarer Weise gearbeitet wurde. Auch dort kooperierten die Kinder, hatten Vertrauen zur Förderlehrerin, wetteiferten um die besten Versionen und machten gute Fortschritte. 11 Unsere bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es dringend notwendig ist, motivierte und gut ausgebildete Förderkräfte einzusetzen, die fähig sind • den Leistungswillen der Kinder zu wecken; • ihnen zu vermitteln, dass konzentrierte Arbeit Freude bereitet und sie auf diese Weise Erfolge erzielen; • ihnen zu verdeutlichen, dass ihre Kooperation bei der Lösung von Problemen notwendig ist; und • sie Vertrauen in die Unterstützungsbereitschaft der Erwachsenen haben können. Intensive Interaktionsprozesse, in denen Sprachbewusstheit, metakommunikatives und stilistisches Wissen und der Aufbau von Textkompetenz entwickelt werden können, können im normalen Unterricht in der Schule in der Regel kaum stattfinden. Die Klassengröße, die Unterrichtsformen und die Unterrichtsangebote sind kaum darauf angelegt, auf individuelle Interessen einzugehen, lokal auftretende Probleme anzugehen und sie in einer für das Kind befriedigenden Weise zu lösen. Außerdem gibt es zu wenige Lehrkräfte, die auf die Kinder zugehen und sich auf ihre Probleme einlassen könnten. So hätte z. B. eine bilinguale Lehrkraft Fatihs Ausdrucksproblem leicht lösen können, da er beim Wechsel ins Türkische eine entsprechende Formulierung produziert. Doch bilinguale Lehrkräfte gibt es nur wenige. Mit einer monolingualen Lehrkraft lassen sich, wie das analysierte Beispiel zeigt, Ausdrucksprobleme oft nur in expandierten Interaktionen lösen. Wenn das nicht möglich ist, haben die Kinder wenig Gelegenheit, ihr sprachliches Wissen auszubauen mit der Konsequenz, dass sie das Interesse verlieren und sich abwenden. Bisher haben vor allem Zusatzmaßnahmen für Kinder in der Sekundarstufe geholfen, wie sie von einer privaten Stiftung ermöglicht wird. 12 Hier konnten verschiedene Förderansätze und Methoden erprobt werden. Was fehlt, ist 11 Das zeigen die Magisterarbeit von Ungericht, Jenny (2007): „Schriftliche und mündliche Textkompetenzen am Beispiel von Kindern mit Deutsch als L1 und L2 der 5. Klasse, Hauptschule“ und die Zulassungsarbeit von Malli, Nadide (2011): „Entwicklung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei Migrantenkindern“, beide Universität Mannheim; vgl. die erfolgreiche Arbeit in verschiedenen Mercator-Projekten, u. a. Haberzettl (2009); vgl. auch die Beiträge in Schmölzer-Eibinger/ Weidacher (2007). 12 Die von der Mercator-Stiftung finanzierten Projekte zur Förderung von Migrantenkindern in der Sekundarstufe gibt es seit über 30 Jahren. Zu den Projektergebnissen gibt es Evaluationen, Begleituntersuchungen und eine Reihe von Unterrichtsmaterialien, die unter der Adresse der Stiftung www.mercator.de eingesehen werden können; vgl. auch Ahrenholz/ Oomen-Welke (2010), Anstatt, Tanja (2007), Haberzettl (2009), Kniffka/ Siebert-Ott (2009). Keim_sV-264End.indd 239 10.02.12 16: 57 240 Der Erwerb von Schriftlichkeit und Textkompetenz eine Zusammenführung des vorhandenen Wissens und eine flächendeckende Umsetzung. Sie ist dringend notwendig, wenn es gelingen soll, allen Kindern Bildungschancen zu eröffnen, unabhängig von ihrem sozialen, sprachlichen und ethnisch-kulturellen Hintergrund. Das setzt eine Neuorientierung und Neustrukturierung von Bildungsangeboten voraus, eine bessere personelle Ausstattung von Schulen mit hohem Migrantenanteil, eine bessere Lehreraus- und fortbildung und vor allem einen Perspektivenwechsel in Bildung und Öffentlichkeit: weg von der Defizitperspektive, hin zur Anerkennung des Erreichten und zur Bereitschaft dort zu unterstützen, wo noch Lücken sind. Keim_sV-264End.indd 240 10.02.12 16: 57 Kapitel 9 Was ist zu tun? In den Kap.-2 und 3 wurde die türkische Migration nach Deutschland und das Leben in migrantischen Lebenswelten deutscher Großstädte geschildert. In Kapitel 4 wurde das Deutsch, das Migranten der ersten Generation unter den spezifischen Lebensbedingungen ausgebildet haben, das sogenannte „Gastarbeiterdeutsch“ beschrieben, und in den Kapiteln 5 und 6 wurden das Sprachrepertoire und die Sprach- und Kommunikationspraktiken der zweiten und dritten Generation dargestellt, ihre Ausdruckskraft, ihre sprachliche Flexibilität und die Virtuosität, mit der sie zwischen verschiedenen Sprachen und Varietäten wechseln, um spezifische diskursive und soziale Bedeutungen zu übermitteln. Ihre hohe Kommunikationsfähigkeit und ihre Kreativität im Umgang mit verschiedenen Sprachformen, die sie verbinden, trennen und verändern, stehen oft in deutlichem Kontrast zu ihren schulischen Leistungen. Wie es dazu kommt, wurde in den Kap.-2 und 3 und in den Kap.-7 und 8 gezeigt. Kapitel 7 hat auch gezeigt, dass die sprachlich-kommunikative Förderung im Kindergarten- und frühen Grundschulalter bereits nach kurzer Zeit zu einem erheblichen Fortschritt im Bereich von Syntax und Morphologie führt, und die Kinder die grammatischen Grundstrukturen des Deutschen erworben haben. Wie Kapitel 8 jedoch deutlich gemacht hat, reichen diese Fähigkeiten bei Weitem nicht aus, um in den Bildungsinstitutionen zu bestehen. Dazu müssen die Kinder weitere Kompetenzen erwerben: grammatisch komplexe Strukturen, einen differenzierten Sach- und Fachwortschatz, sprachliche Handlungskompetenz und vor allem Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz. Solange sich die Lebensbedingungen der Kinder und die Unterrichtsbedingungen in den Schulen nicht grundsätzlich ändern, können Migrantenkinder solche Kompetenzen nur durch eine langfristige intensive Förderung erwerben. Bildungsarbeit kann nicht auf die Migranteneltern abgewälzt werden. Eltern können motivieren, die Arbeitsdisziplin der Kinder fördern, für gute Lernbedingungen zuhause sorgen. Und sie sollten gut darüber informiert werden, wie sie die Lernbereitschaft ihrer Kinder erhöhen können. Doch sie können im Bereich Deutscherwerb und Erwerb von Schriftsprachlichkeit und Textkompetenz (in Deutsch) in der Regel nicht die Unterstützung leisten, die den Erwerb fördern. Dazu sind gut ausgebildete Personen notwendig, mit fundiertem Wissen im Bereich Deutsch als Zweitsprache, einer hohen Kompetenz in Schriftsprachlichkeit und der Fähigkeit, den Kindern die Freude am Schreiben und Verfassen von Texten zu vermitteln. Keim_sV-264End.indd 241 10.02.12 16: 57 242 Was ist zu tun? Wie dringend notwendig die Vermittlung einer umfassenden Sprachbildung für die deutsche Gesellschaft ist, zeigt einerseits die Klage über den Fachkräftemangel, andererseits der erschreckend hohe Anteil von Analphabeten. Nach einer Studie der Universität Hamburg können 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland so schlecht lesen und schreiben, dass sie als funktionale Analphabeten gelten. Das sind 14 Prozent der Bevölkerung. Noch größer ist die Gruppe derjenigen, die lesen und schreiben nur auf Grundschulniveau beherrschen, und die allenfalls die Artikel einer Boulevard-Zeitung verstehen können. 1 Gleichzeitig wissen alle, dass es fast nur noch Arbeitsplätze gibt, in denen die Fähigkeit zu lesen, zu schreiben und Texte zu verfassen erwartet wird und dass es immer weniger Arbeitplätze mit geringen Anforderungen an Schriftsprachlichkeit gibt. Mit der hohen Anzahl an Schulabgängern, die nicht ausbildungsfähig und beruflich nicht vermittelbar sind, schafft sich die deutsche Gesellschaft systematisch und Jahr für Jahr Menschen, die am Rande leben und zeitlebens von staatlicher Unterstützung abhängig sind. Statt in die Sozialsysteme, wäre es wesentlich sinnvoller in den Bildungsbereich zu investieren und dafür zu sorgen, dass neugierige, lernfähige und lernbereite junge Menschen heranwachsen. Wie einfach gute Bildung organisiert werden kann, zeigt ein Blick in die Gehirnforschung, die heute die „über Jahrhunderte gesammelten Erfahrungen guter LehrerInnen“ durch moderne Analyse- und Meßmethoden untermauern kann und weiß, was sich positiv und was sich negativ auf Bildungsprozesse auswirkt. Zu diesem Wissen gehört: 2 „Je jünger der Mensch, desto rascher lernt er. Angst behindert Kreativität. Neugierde weckt rasches Lernen. Ein negatives Selbstbild schadet der Leistungsfähigkeit.“ Würde man dieses Wissen systematisch in Lehr-Lernprozessen berücksichtigen und mit fachlichem und linguistischem Wissen kombinieren, müsste es endlich gelingen, das pädagogische Credo „kein Kind darf verloren gehen“ umzusetzen. Dieses Credo, das ich mehrfach von Pädagogenseite gehört habe, muss auch für Migrantenkinder gelten; zu viele sind bisher auf der Strecke geblieben. Und es muss endlich ins gesellschaftliche Bewusstsein dringen, dass die Verantwortung für einen umfassenden Deutscherwerb nur in den Bildungsinstitutionen liegen kann und bei Personen mit hoher Textkompetenz und einer hohen Kompetenz in Schriftsprachlichkeit. Sie sind gefordert, den Kindern in anregenden, vielgestaltigen und emotional befriedigenden Interaktionen den Erwerb einer umfassenden Schriftsprach- und Textkompetenz zu ermöglichen. 1 Vgl. den Artikel von Verena Töpper „Analphabeten. Wenn die Beförderung zum Horror wird“, Spiegel-online vom 18.12.2011, http: / / www.spiegel.de/ karriere/ berufsleben/ 0,1518,803980,00.html. 2 Vgl. Spitzer, Manfred (2010): Medizin für die Bildung. Ein Weg aus der Krise. Heidelberg: Spektrum, S. 234. Keim_sV-264End.indd 242 10.02.12 16: 57 Glossar Anapher: Sprachliche Einheit (Pronomen), die zu einer vorausgehenden Einheit in direkter Beziehung steht und auf sie verweist, z. B. unser Vater hat ein Haus gekauft; es (das Haus) hat ihm (unserem Vater) sehr gut gefallen. Arbeitsmigration: Darunter versteht man die Migration (Wanderung) von Menschen zum Zweck der Arbeitsaufnahme. Die Wanderung geht vor allem aus ökonomisch weniger entwickelten in ökonomisch entwickelte Regionen, in denen es Arbeitsmöglichkeiten gibt. Die Migration ist meist auf Zeit geplant, d. h. die → Migranten behalten ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft. Es gibt aber auch den umgekehrten Weg, die Wanderung aus ökonomisch entwickelten Gebieten in weniger entwickelte mit dem Ziel, dort Handel und Gewerbe aufzubauen. Asyndetische Reihung: Reihung ohne Verbindungswort, z. B. er kam, sah, siegte. Bildungsinländer: Darunter werden ausländische Studierende erfasst, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland oder an einer deutschen Auslandsschule erworben haben. Dazu gehören auch die in Deutschland sozialisierten → MigrantInnen der zweiten und dritten Generation, die noch die ausländische Staatsangehörigkeit haben. Code-switching: Der Wechsel von einer → Varietät in eine andere innerhalb eines Gesprächs, eines Gesprächsbeitrags oder einer Äußerung. Der Wechsel kann bestimmte soziale oder diskursive Funktionen haben. Code-mixing: das routinemäßige und dichte Mischen von Elementen aus zwei oder mehr Varietäten. Deixis: Verweis auf situative Elemente (Gegenstände, Räume, Menschen etc.) mithilfe von Gesten oder sprachlicher Ausdrücke, z. B. der Schwamm dort drüben… Deklination: Beugung von Nomen, Artikel, Adjektiven, Pronomen. Im Deutschen geschieht die Beugung vor allem durch Anfügen von Endungen und die Abwandlung des Stammes, die bestimmte Flexionskategorien signalisieren, z. B. Singular (Sg.) und Plural (Pl.) in: Kind - Kinder, Mann - Männer. Diskursmarker: Darunter versteht man Partikel und Formeln, die dazu dienen, das Gespräch inhaltlich und organisatorisch zu strukturieren, z. B. → Gliederungssignale, → Interjektionen, → Konjunktionen, → Rückversicherungssignale etc. Einwanderer: Im Gegensatz zum → Gastarbeiter beabsichtigt der Einwanderer Staatsbürger des Landes zu werden, in das er einwandert. D. h. er verlässt sein Herkunftsland, gibt seine alte Staatsbürgerschaft ab und erwirbt die neue mit allen Rechten und Pflichten. Er wandert in das neue Land ein mit der Absicht ein akzeptiertes gesellschaftliches Mitglied zu werden. Oft wandert die gesamte Familie mit. Keim_sV-264End.indd 243 10.02.12 16: 57 244 Glossar Ellipse: Aussparung von sprachlichen Elementen, die aufgrund von syntaktischen Strukturen oder lexikalischen Eigenschaften notwendig sind: z. B. sie geht in den Keller, er (geht) in die Küche. Elision: Auslassung eines unbetonten Vokals in Endsilben, z. B. gebn (gem), nehmn (nehm). Entlehnung: Übernahme eines sprachlichen Elements aus einer anderen Sprache. Oft wird unterschieden zwischen kulturellen Entlehnungen, d. h. der Übernahme von Wörtern aus der anderen Sprache, für die es in der eigenen kein Äquivalent gibt, und ad hoc Entlehnungen, d. h. der momentanen Übernahme von Wörtern zur Bezeichnung von Dingen, für die es auch in der eigenen Sprache Ausdrücke gibt. Ethnie: Volk, Volksgruppe. Begriff aus der Ethnologie, mit dem Gruppen gefasst werden, die ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Solidarität aufgrund von Geschichte, Kultur, Tradition, Sprache und Religion verbindet. Ethnische Gemeinschaft: So werden Migranten derselben ethnischen Herkunft bezeichnet, die sich selbst als eine räumlich und/ oder sozial unterscheidbare Gruppe präsentieren und von anderen so wahrgenommen werden. Zu den Unterscheidungsmerkmalen gehören Aussehen, Kleidung, Sprache, Religion, Verhalten etc. In vielen Großstädten Deutschlands haben sich im Zusammenhang mit der → Arbeitsmigration ethnische Gemeinschaften gebildet, besonders bei den großen Zuwanderergruppen (Türken, Italiener, Polen etc.). Ethnische Segregation: Sozial-räumliche Abtrennung einer ethnischen Gruppe von anderen Gruppen. Finitheit: Personalform von Verben, die in Bezug auf Tempus (Zeit), → Person (1., 2. und 3. Person), → Numerus (Singular und Plural), Genus Verbi (Aktiv, Passiv, Reflexiv) und Modus (Indikativ, Konjunktiv) gekennzeichnet sind. Flexion: Formenlehre. Wortstämme werden je nach Wortart regelhaft gebeugt. Beim Verb spricht man von → Konjugation, bei Nomen, Artikel, Pronomen und Adjektiven von → Deklination. Die Gesamtheit von Flexionsformen eines Wortes bezeichnet man als Flexionsparadigma. Flexive: sprachliche Elemente, die zur grammatischen Kennzeichnung von Wörtern dienen, z. B. / -st/ signalisiert 2. Pers. Sg. des Verbs; / -er/ oder / -s/ signalisieren den Plural in Kinder und Autos Fortes: Stimmlose Artikulation von Verschlusslauten (z. B. p, t, k) und Reibelauten (z. B. f, s, sch, r). Werden Verschluss- und Reibelaute stimmhaft artikuliert werden, z. B. b, d, g und das stimmhafte / s/ , werden sie als Lenes bezeichnet. Werden Lenes stimmlos artikuliert, bezeichnet man das als fortisieren, werden Fortes stimmhaft artikuliert spricht man von → Lenisierung. Fossilisierung bzw. Fossilierung: Damit bezeichnet man das Einfrieren und Festwerden sprachlicher Routinen, die nicht den zielsprachlichen gram- Keim_sV-264End.indd 244 10.02.12 16: 57 Glossar 245 matischen Regeln entsprechen. Fossilisierungen sind charakteristisch für Lernersprachen. Gastarbeiter: Als Gastarbeiter werden Personen bezeichnet, die von 1955 bis 1973 auf der Basis von zwischenstaatlichen Anwerbeabkommen zur zeitlich befristeten Arbeitsaufnahme angeworben wurden. Arbeitsvertrag und Aufenthalt waren eng aneinander gekoppelt. Gastarbeiter behielten ihre Staatsbürgerschaft und sollten nach Ablauf des Arbeitsvertrags wieder in ihre Heimat zurückkehren. Eine → Einwanderung war weder von den Gastarbeitern noch von der deutschen Gesellschaft geplant. Genre, Textgenre oder → Textsorte: Texte werden klassifiziert nach textinternen (Struktur, Aufbau, Thema etc.) und nach pragmatischen Kriterien (in welchen Situationen, zu welchen Anlässen, zu welchem Zweck wird der Text formuliert und welche Konsequenzen hat er.) und dann zu Textsorten zusammengefasst. So unterscheiden sich die Textsorte „Interview“ sowohl nach internen als auch nach externen Kriterien z. B. von den Textsorten „Witz“, „Kochrezept“ oder „Erzählung“. Gliederungssignal: Partikel, die der Gliederung eines Redebeitrags und der Organisation des Rederechts dienen. Am Beginn eines Sprecherbeitrags können Gliederungspartikel erscheinen wie ja, nun, also, ich meine und am Ende eines Beitrags und so, oder so, ja, und so, und so weiter etc. Heiratsmigration: Migration durch Eheschließung mit einem Partner in Deutschland. Sie erfordert geografische und soziale Mobilität, da der → Migrant/ die Migrantin sich in dem neuen Land in eine neue Familien- und Sozialstruktur eingliedern muss. Wenn eine Schein- oder Zwangsehe vorliegt, wird der Zuzug nicht genehmigt. In Deutschland hat der zugereiste Partner zunächst kein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Dieses kann er erhalten unter den Voraussetzungen, dass die Ehe seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig Bestand hatte, die Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben und der nachziehende Partner sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann. Er muss einfache Deutschkenntnisse auf der „Kompetenzstufe A1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen“ nachweisen, und zwar vor der Einreise bei der Beantragung des Visums für den Ehegattennachzug in der deutschen Auslandsvertretung . → Integrationskurs Hypotaxe: Unterordnende Verknüpfung von Teilsätzen, Verbindung von Haupt- und Nebensatz/ Nebensätzen. Die strukturelle Unterordnung wird durch unterordnende Konjunktionen (z. B. weil, obwohl, da, als, wenn etc.), Relativpronomen (der, welche) oder Infinitivkonstruktion angezeigt. Neben der Hypotaxe gibt es die → Parataxe. Infinitivkonstruktion: syntaktische Konstruktion, die als Kern eine infinite Verbform enthält. Integrationskurs: Der Sprachkurs vermittelt in 600 Stunden Deutschkenntnisse bis zum Niveau B1 des Europäischen Referenzrahmens. In weiteren Keim_sV-264End.indd 245 10.02.12 16: 57 246 Glossar 45 Stunden werden Kenntnisse über Deutschland vermittelt (Geschichte, Gesellschaft, Kultur, usw.). Seit 2007 ist das Bestehen eines Integrationskurses Voraussetzung für die Zuwanderung (z. B. durch Heirat). MigrantInnen, die vor 2007 zuwanderten, können zu einem Integrationskurs verpflichtet werden, wenn sie arbeitslos und aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sind. Interaktion: eng aufeinander bezogene Handlungen/ Sprachhandlungen von zwei oder mehreren Gesprächsbeteiligten. Interjektion: Gesprächspartikel zum Ausdruck von Gefühlen. Man unterscheidet Gesprächspartikel ohne lexikalische Bedeutung wie ach, oh, nana, pfui und solche mit lexikalischer Bedeutung wie Mist, Scheiße, oh mein Gott etc. Inversion: Umkehrung der Stellung von Satzelementen. In der Grundform steht im deutschen Satz das Subjekt an 1. Stelle, der finite Verbteil an 2.-Stelle. Der finite Verbteil bildet mit dem infiniten Teil die Satzklammer. Steht an 1. Stelle ein anderes Element, kommt das Subjekt nach dem finiten Verbteil. Z. B.: ich fahre heute in die Schule → heute fahre ich in die Schule. Kasus: grammatischer Fall. Im Deutschen gibt es vier Fälle: der Junge Nominativ (wer? was? ), des Jungen Genitiv (wessen? ), dem Jungen Dativ (wem? ), den Jungen Akkusativ (wen? ). Z. B.: Der Vater (wer? ) gibt dem Jungen (wem? ) den Wagen (wen? ) des kleinen Bruders (wessen? ). Konjugation: Damit bezeichnet man die Beugung von Verben. Im Deutschen geschieht das durch Abwandlung des Stammes und durch Anfügen von Endungen, die bestimmte Flexionskategorien signalisieren, z. B. 1. Pers. Sg. Imperfekt von „gehen“: ich ging oder 2. Pers. Pl. Präsens von „liegen“: ihr liegt. Konjunktion: Bindewort, das syntaktische Verbindungen und semantische Beziehungen zwischen Wörtern, Wortgruppen und Sätzen/ Teilsätzen herstellt. Man unterscheidet unterordnende (weil, da, als etc.) und nebenordnende (und, oder etc.) Konjunktionen. Unterordnende Konjunktionen verbinden Haupt- und Nebensätze, nebenordnende Konjunktionen verbinden gleichrangige Wörter/ Wortgruppen und Sätze (Hauptsätze). Konsonant: Mitlaut. Konsonaten werden nach Artikulationsart und Artikulationsort (im Mund- und Rachenraum) unterschieden in Plosive (Verschlusslaute, p, t, k, b, d, g), Frikative (Reibelaute f., s. etc.), Nasale (n., m., ng), Lateral (l) und Vibrant (r). Es gibt stimmlose (p, t, k) und stimmhafte (b,d,g etc.) Konsonanten. Koronalisierung: So bezeichnet man die Aussprache des [ch]-Lautes in ich als [sch] oder als ein dem [sch] ähnlicher Laut zwischen [ch] und [sch]. Dieses Merkmal ist charakteristisch für rheinfränkische Dialekte. Viele Migrantenjugendliche sprechen ich oder nicht als isch oder nischt aus, wobei das [sch] weich und fast stimmhaft gesprochen wird. Lenisierung: Schwächung von Konsonanten (z. B. p wird als b gesprochen) und Reduzierung von Vokalen, die kaum hörbar gesprochen werden. Keim_sV-264End.indd 246 10.02.12 16: 57 Glossar 247 Lernervarietät: Bezeichnung für die relativ systematischen Übergangsphasen im Laufe des (Erst-/ Zweit)Spracherwerbs mit Eigenschaften, die z. T. nach universellen (Erwerbs)Prinzipien gebildet werden. Eine Lernervarietät ist noch nicht zielsprachlich ausgebildet, sondern enthält Lücken und Abweichungen. Migrant: So werden Menschen bezeichnet, die von einem Wohnsitz/ Land zu anderen Wohnsitzen/ Ländern wandern oder auch durchziehen. Entweder sind sie dauerhaft nicht-sesshaft (wie beispielsweise viele Sinti und Roma) oder sie geben ihren bisherigen Lebensraum vorübergehend oder dauerhaft auf, um zu einem anderen zu ziehen. Oft pendeln sie zwischen den Wohnsitzen/ Lebensräumen bzw. können sich für keinen dauerhaft entscheiden. Migrationshintergrund: Unter der Bezeichnung werden Migranten und ihre Nachkommen ganz allgemein zusammengefasst, unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Deutsche mit Migrationshintergrund sind Migranten und ihre Kinder, die die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben. Migrantengeneration, erste und zweite: Migranten, die als junge Erwachsene zuwandern, werden als erste Migrantengeneration bezeichnet; ihre Kinder, die im Aufnahmeland geboren werden oder zumindest aufwachsen, werden als zweite Migrantengeneration bezeichnet. Morphologie: Formenlehre, Oberbegriff für → Flexion und → Wortbildung. Numerus: Bezeichnet die Anzahl der beteiligten Personen. Die meisten Sprachen unterscheiden zwischen Singular (Einzahl) und Plural (Mehrzahl), z. B. ein Spiel, mehrere Spiele. Parataxe: Verknüpfung von Hauptsätzen. Als Verknüpfungsmittel dienen nebenordnende Konjunktionen wie und, oder, denn etc. Person: Man unterscheidet grammatikalisch drei Personen (Pers.), die 1.-Person (ich - wir), die 2. Person (du - ihr) und die dritte Person (er/ sie/ es - sie). Phonologie: Teildisziplin der Linguistik, die das Lautsystem einer Sprache, die Eigenschaften der Laute und die Beziehung der Laute untereinander beschreibt. Pragmatik: Aus sprachphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Traditionen hervorgegangene Teildisziplin der Linguistik, die die Relation zwischen sprachlichen Ausdrücken und ihrer Verwendung in Situationen betrachtet. Die Pragmatik beschäftigt sich auch mit der Analyse von Gesprächen in verschiedenen sozialen Kontexten. Pragmatisch: Bezogen auf die kontextspezifische Verwendung sprachlicher Ausdrücke Prosodie: Sie umfasst die Gesamtheit von Eigenschaften des Sprechens wie Akzent, Tonhöhenverlauf, Rhythmus, Sprechpausen, Sprechgeschwindigkeit, Lautqualität etc. Reformulierung: Die wörtliche Wiederholung, Paraphrase (inhaltliche Wiederholung, Umformulierung), Expansion (Erweiterung, Präzisierung) Keim_sV-264End.indd 247 10.02.12 16: 57 248 Glossar oder Reduktion (Zusammenfassung, Resümee) von bereits Gesagtem oder Geschriebenem. Register: Sprachregister. Für eine bestimmte Kommunikationssituation charakteristische Sprech- und Schreibweise, z. B. in Behörden ist das eine Amts- oder Behördensprache, in Jugendgruppen sind das jugendsprachliche, in Arbeitervereinen regionale (dialektale) und in Hochschulgruppen akademische und fachsprachliche Ausdrucksweisen. Rektion: Damit bezeichnet man die Eigenschaft von Verben, Adjektiven, Nomen und Präpositionen den Kasus abhängiger Elemente zu bestimmen (zu regieren). Die Bezeichnung wird vor allem bei Verben verwendet; sie kann unter dem Begriff → Valenz subsumiert werden. Repertoire: Sprachrepertoire; die Gesamtheit der → Varietäten, → Stile und → Register, über die ein Sprecher und eine Sprecherin verfügen. Rückversichungsfrage (signal): An eine Frage angehängte Partikel oder Frageformel wie ne? gell? nicht wahr? weißt du? was meinst du? , mit der der Gesprächspartner / die Gesprächspartnerin zur Reaktion (Zustimmung, Stellungnahme etc.) aufgefordert wird. Simplifizierung: Vereinfachung komplexer und Regularisierung unregelmäßiger grammatischer Formen einer Sprache; z. B. Auslassung von Flexiven in du geben (du gibst), zwei Kind (zwei Kinder) oder regelmäßige Konjugation unregelmäßiger Verben, z. B. er sehte (er sah), sie ist geschwimmt (geschwommen). Stil, sozialer Stil: Die für eine soziale Gruppe charakteristischen sprachlichen und außersprachlichen Ausdrucksformen. Sozialstilistische Merkmale können auf allen sprachlichen Ebenen liegen, auf der phonologischen, lexikalischen, syntaktischen und pragmatischen Ebene. Sozialstilistische Merkmale zeigen sich auch im gestischen, mimischen und im Raumverhalten und in den geschmacklichen Präferenzen. Suffix: morphologisches Element, das an ein Wort/ einen Wortstamm angehängt wird. Es wird zwischen Flexionssuffixen (bei der Verb-, Nomen-, Pronomen und Adjektivflexion) und Ableitungssuffixen (bei der Wortbildung) unterschieden. Syntax: Teilbereich der Grammatik, der sich mit der Anordnung und Beziehung sprachlicher Elemente befasst. Die Syntax einer Sprache besteht aus einem System von Regeln, mit denen aus Wörtern/ Wortgruppen durch Stellung und morphologische Markierung Sätze gebildet werden können. Textsorte: Gruppe von Texten, die nach bestimmten Merkmalen bzw. Bündeln von Merkmalen kategorisiert werden. Sie haben eine konventionalisierte interne Struktur und bestimmte externe, pragmatische Merkmale. Ein „Witz“ z. B. ist anders aufgebaut und hat eine andere kommunikative Funktion als ein „Zeitungstext“, ein „Märchen“ oder eine „Erlebniserzählung“. Transfer: Übertragung von Elementen einer Sprache auf die andere. Es wird zwischen positivem Transfer (bei Ähnlichkeit zwischen beiden Sprachen) Keim_sV-264End.indd 248 10.02.12 16: 57 Glossar 249 und negativem Transfer unterschieden. Der negative Transfer führt zu Abweichungen in der zweiten Sprache. Übergeneralisierung: Übertragung einer erkannten (gelernten) Regel auf vergleichbare Fälle, die jedoch nach anderen Regeln gebildet werden, z. B. die Übertragung der Pluralbildung in Autos auf andere Nomen wie Mädchens, Lehrers. Valenz: Bezeichnet die Fähigkeit eines Wortes (Verb, Adjektiv, Nomen) seine syntaktische Umgebung zu strukturieren, d. h. anderen Elementen im Satz grammatische Eigenschaften aufzuerlegen. So fordert z. B. das Verb helfen ein Objekt im Dativ: er hilft seinem Bruder; das Verb wohnen fordert ein Lokativobjekt (eine Präpositionalphrase): die Schülerin wohnt in Mannheim; das Verb ziehen fordert ein Richtungsobjekt: sie zieht nach Mannheim; vgl. auch → Rektion. Varietät: Bezeichnung für eine Sprachform, die durch sprachinterne und sprachexterne Kriterien definiert wird. Man unterscheidet historische Varietäten (Mittel- und Neuhochdeutsch), regionale (Dialekte) und soziale (Gruppensprachen) Varietäten, gesprochene oder geschriebene Varietäten, Umgangs- und die überregionale Standardvarietäten. Verbteile, finite und infinite: Der Verbalkomplex im Deutschen kann finite und infinite Verbteile enthalten. Zu den infiniten Verbteilen gehören Infinitive und Partizip II, z. B. er will kommen, er ist gekommen. Die finiten Verbteile sind markiert durch → Numerus, → Person, Tempus etc., z. B. er will (3. Pers. Sg. Präs.) heute noch kommen; sie kamen (3. Pers. Pl. Imperf.) gestern um zwölf und brachten die Bücher. Die finiten und infiniten Verbteile bilden die Satzklammer. Verbstellung: Position des Verbs im Satz. Im Deutschen unterscheidet man zwischen Verbzweitstellung (V2) und Verbendstellung (VE). Vokal: Selbstlaut. Im Deutschen gibt es folgende Vokale: a, e, i, o, u und den Schwa-Laut, ein stark abgeschwächtes / e/ wie in ich mache. Außerdem gibt es die Diphthonge au, ei und eu (äu) und die Umlaute ä, ö und ü. Wortbildung: Darunter versteht man im Wesentlichen zwei Prozesse: die Derivation, d. h. die Ableitung neuer Wörter durch Suffixe und die Komposition, d. h. die Zusammensetzung mehrerer Wörter. Keim_sV-264End.indd 249 10.02.12 16: 57 Literatur Ackermann, Irmgard (Hrsg.) (1983): In zwei Sprachen leben. Frankfurt a. M.: dtv. Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) 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Außerdem werden folgende Zeichen verwendet: ja |aber | simultane Äußerungen stehen übereinander; Anfang und |nein nie|mals Ende werden auf den jeweiligen Textzeilen markiert * kurze Pause (bis max. ½ Sekunde) ** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden = Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute zwischen Wörtern (z. B. sa=mer für sagen wir ) / Wortabbruch (war) vermuteter Wortlaut steigende Intonation (z. B. kommst du mit ) fallende Intonation (z. B. jetzt stimmt es ) schwebende Intonation (z. B. ich sehe hier- ) " auffällige Betonung (z. B. aber ge"rn ) : auffällige Dehnung (z. B. ich war so: fertig ) immer ich langsamer (relativ zum Kontext) immerhin schneller (relativ zum Kontext) > vielleicht < leiser (relativ zum Kontext) < manchmal > lauter (relativ zum Kontext) LACHT Wiedergabe nichtmorphemisierter Äußerung auf der Sprecherzeile in Großbuchstaben IRONISCH Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile) QUIETSCHEN nicht-kommunikatives (akustisches) Ereignis in der Gesprächssituation (auf der global. Kommentarzeile) Mutter Übersetzungszeile Keim_sV-264End.indd 264 10.02.12 16: 57