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Sinologie und Chinastudien

2013
978-3-8233-7773-3
Gunter Narr Verlag 
Stefan Kramer

Dieser Studienführer ist zugleich Einführung und Ratgeber für Studieninteressenten und Studierende von sinologischen, ostasienwissenschaftlichen und ähnlichen Fächern an Universitäten und Fachhochschulen. Er führt an die Gegenstände und Methoden der Chinaforschung heran, gibt zahlreiche Tipps für das wissenschaftliche Arbeiten und stellt die grundlegenden Materialien, Hilfsmittel und Methoden für ein erfolgreiches Studium vor. Als ständiger Begleiter und Nachschlagewerk widmet er sich ausführlich dem Spracherwerb und anderen Grundlagen. Schließlich bietet er einen Überblick über die unterschiedlichen disziplinären Angebote von ostasienwissenschaftlichen Fächern. Diese umfassen philologische, philosophische, regionalwissenschaftliche und ethnologische, medien- und kommunikationswissenschaftliche sowie sozial-, politik-, wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Schwerpunkte. Als interaktive Fortführung mit weiteren konkreten und aktuellen Informationen sowie einem öffentlichen Forum steht zusätzlich zum Buch eine Webseite zur Verfügung.

Stefan Kramer (Hrsg.) Sinologie und Chinastudien Eine Einführung 093413 Stud. Kramer_093413 Stud. Kramer Titelei 07.10.13 12: 17 Seite 1 093413 Stud. Kramer_093413 Stud. Kramer Titelei 07.10.13 12: 17 Seite 2 Stefan Kramer (Hrsg.) Sinologie und Chinastudien Eine Einführung 093413 Stud. Kramer_093413 Stud. Kramer Titelei 07.10.13 12: 17 Seite 3 Prof. Dr. Stefan Kramer, Sinologe und Medienwissenschaftler, wird nach Lehrtätigkeiten in Konstanz, Tübingen und Leipzig ab 2014 an der Universität zu Köln als Professor zur chinesischen Kultur lehren und forschen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-6773-4 093413 Stud. Kramer_093413 Stud. Kramer Titelei 07.10.13 12: 17 Seite 4 Inhalt 1. Herleitungen ............................................................................................. 7 1.1 Wozu Chinastudien? (Stefan Kramer)........................................................... 7 1.2 Eignung und Aneignung (Stefan Kramer) .................................................... 19 2. Hinleitungen ........................................................................................... 29 2.1 Sprache (Andreas Guder)............................................................................. 29 2.2 Wissen (Stefan Kramer) ............................................................................... 38 2.3 Schuldidaktik (Henning Klöter) ................................................................... 53 3. Weiterleitungen ..................................................................................... 61 3.1 Transfer: Philologie (Philip Clart)................................................................ 61 3.2 Diskurs: Geistesgeschichte und Philosophie (Hans van Ess) ........................ 73 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften (Nicola Spakowski)..................................... 84 3.4 Raum: Kulturanthropologie (Merle Schatz) ............................................... 104 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Christian Göbel) .... 120 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften (Björn Ahl).............................................. 137 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften (Andrea Riemenschnitter).......................................................................... 150 4. Umleitungen ......................................................................................... 171 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin (Stefan Kramer) ............................ 171 5. Ausleitungen ......................................................................................... 188 5.1 Kommentierte Bibliographie ..................................................................... 188 5.2 Autorinnen und Autoren ........................................................................... 204 1. Herleitungen 1.1 Wozu Chinastudien? (Stefan Kramer) Für Studienanfänger gibt es zahlreiche Gründe, sich für ein Studium der Sinologie oder für einen anderen Studiengang zu entscheiden, der sich auf die eine oder andere Weise mit dem Gegenstand „China“ beschäftigt. Dabei kann es sich um ein allgemeines historisches und kulturelles Interesse und eine sich daran anknüpfende Begeisterung für das Fremde handeln, welches sich für den Mitteleuropäer fast zwangsläufig mit dem „Reich der Mitte“ verbindet. Es kann aber auch die Leidenschaft für den Erwerb von Sprachen und die Wissbegierde hinsichtlich des Funktionssystems von Gesellschaften und politischen sowie ökonomischen Systemen im historischen und gegenwärtigen Globalisierungskontext sein. Und schließlich rücken auch handfeste Karriereüberlegungen, für die China und die China involvierenden Märkte mehr und mehr Angebote bereit halten und Einfalltore geöffnet haben, immer stärker in den Vordergrund dieser Studienentscheidung. Dasselbe trifft selbstverständlich auf die eine oder andere Weise ebenso auf jedes andere Fach der universitären Bildung zu. Nichtsdestoweniger gilt ein Studium der Sinologie, anders als die meisten Fächer, auch nach mehr als einem Jahrhundert ihrer Etablierung an den deutschsprachigen Universitäten ungeachtet der Wiedererstarkung Chinas als ökonomischer, politischer und kultureller Global Player, die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm als genauso naheliegend erscheinen lassen wie das Streben auf einen China-bezogenen Arbeitsmarkt, noch immer als exotisch, gar abwegig. So gehört es für die frisch eingeschriebenen Studierenden der Sinologie und Chinawissenschaften zu den ersten anstehenden Aufgaben, sich eine passende Begründung, ja Rechtfertigung zurechtzulegen, um den sie womöglich ein Leben lang begleitenden Fragen in ihrer außeruniversitären sozialen Umwelt erfolgreich begegnen zu können. „Wie kommt man eigentlich dazu, Sinologie zu studieren? “, oder „Was ist in deinem Leben vorgefallen, dass du dich zu so etwas entschieden hast? “. Das dem Wort „vorgefallen“ unterschwellig innewohnende „schiefgelaufen“ im Kopf und somit zwangsläufig in die Defensive gedrängt, muss der so gepeinigte Student in der Regel noch eine Reihe Folgefragen über sich ergehen lassen. Insbesondere sollte er, um dem Verdacht psychischer Labilität zu entgehen, sich eine wirklich gute Begründung für die Selbstkasteiung beim Spracherwerb zurechtlegen. Zu diesem wird ja selbst der hochrangigste Quantenphysiker, ohne es jemals versucht zu haben, die intellektuelle Fähigkeit entschieden von sich weisen: „Na ja, das ist mit ein wenig Fleiß durchaus machbar…“, wie im Übrigen ja für 1,3 Milliarden Chinesen, die mittlerweile diese Welt bevölkern, auch. Und schließlich die alles entscheidende Frage: „Was macht man eigentlich mit diesem Studium? “, mit welcher die angehende Studentin und der angehende Student insbesondere gegenüber den privaten Sponsoren, die zu Recht mit der Bildung und Ausbildung ihrer Zöglinge auf einen lebenslangen Ertrag und eine wirtschaftliche Absicherung genauso wie auf einen gewissen sozialen Status hoffen, regelmäßig in Verlegenheit gebracht werden. Man mag diese Nachfragen und Einwände gegenüber dem Studium der Sinologie für witzig oder langfristig wohl eher auch für unangenehm halten. Zumindest zeigen 8 1. Herleitungen sie, dass diese Studienrichtung im gesellschaftlichen Bewusstsein nach wie vor als ungewöhnlich gilt und also Aufklärungsbedarf hinsichtlich ihrer Grundlagen, Inhalte und Zielsetzungen besteht. Zudem zeigt sich an den allgemeinen Reaktionen auf die Sinologie und ihre Studierenden, wie stark der gesellschaftliche Umgang mit dem Gegenstand der Sinologie noch immer von Vorurteilen, utopischen wie dystopischen Mythen und Unkenntnis hinsichtlich der Wirklichkeiten Chinas beherrscht wird. Darin zumindest könnte die allererste Begründung für die Wahl dieser Studienrichtung bestehen. In all diesen Fragen und Zweifeln lässt sich nämlich ersehen, dass eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand China, an welche diese Studiengänge heranführen sollen, heute mehr denn je angezeigt ist. Das trifft mit Blick auf die sich unaufhörlich aufeinander zubewegende Weltgemeinschaft, in der chinesische Akteure in allen Bereichen zunehmend an Bedeutungsmacht gewinnen, umso mehr zu. Offen bleibt dabei allerdings noch immer die Frage danach, mit was sich die Sinologie und die anderen chinawissenschaftlichen Studiengänge denn nun tatsächlich beschäftigen und an welche Erkenntnis und an welche möglichen Berufsfelder sie ihre Studierenden auf welche Weise und mit welchen Methoden heranführen wollen. Nicht zuletzt erhebliche Meinungsverschiedenheiten über diese Fragen, die zwischen den unterschiedlichen chinawissenschaftlichen Instituten und selbst innerhalb einzelner Institute die Geister scheiden, sind Ursachen dafür, dass bislang noch kein Studienführer Sinologie auf dem überbordenden Markt der Lebens- und Studienhilfen zu finden ist. Nicht zuletzt in ihnen liegt schließlich die Tatsache begründet, dass die Studierenden und Absolventen dieser Fächer sich oftmals noch immer großem Unverständnis, zweifellos auch großer Bewunderung ob der erbrachten Leistungen vor allem im Spracherwerb, gegenüber sehen. Ähnlich dem chinesischen Gegenstand ihrer Forschung gelten sie nach wie vor als Exoten in der Wissenschaftslandschaft und Berufswelt. Angesichts der genannten Unklarheiten und Vielfalt besetzen die sinologisch gebildeten Berufsanfänger zwar selten auf geradlinigem Wege und mit frühzeitiger Arbeitsplatzsicherheit, aber dennoch in aller Regel mit vergleichbar großem Erfolg und, wie verschiedene Statistiken wie auch die persönlichen Erfahrungen der Autoren zeigen, mit langfristiger Zufriedenheit ihre Nischen und Positionen. Was aber ist eigentlich Sinologie? Womit beschäftigt sie sich und auf welche Weise, mit welchen Fragestellungen, Methoden und Zielen begegnet sie dem Gegenstand resp. den Gegenständen ihrer Beschäftigung? Wofür steht, so ja auch im Titel dieses Buches, die Unterscheidung zwischen Sinologie und Chinastudien? In der Öffentlichkeit wird die Frage nach dem Gegenstand und Inhalt des Faches Sinologie in aller Regel mit „irgendetwas mit China“ beantwortet. Selbst die Studierenden dieses Faches haben, so zumindest zu Beginn ihres Studiums (und vor der Lektüre dieses Buches), häufig zunächst einmal keinen anderen Anspruch an ihr Studium als vor allem die chinesische Sprache zu erlernen und darüber hinaus „einen Einblick in die Geschichte, Kultur, Politik und Gesellschaft Chinas“ aus ihrem Studium mitzunehmen. Und selbst die Lehrenden dieses Faches an den Universitäten sehen ihre Aufgabe nicht selten ausschließlich darin, ihren Studenten Beschreibungen hinsichtlich dessen, was China in der landläufigen Meinung darstellt, anzubieten und sie für alles darüber Hinausgehende an die „methodischen Fächer“ zu verweisen. So zumindest hat es der damalige Dekan der ostasienwissenschaftlichen Fakultät in einer deutschen Metropole gehalten, der uns Studienanfängern bereits in der Begrüßungssitzung die Trennung zwischen einer auf den Gegenstand bezogenen Sinologie, wie seine Fakultät sie betreibe, und den irgendwo darum herum in der Universität angesiedelten methodischen Fächern eingeimpft hatte. Mit diesen sollten wir uns, wenn wir dies denn für 9 1.1 Wozu Chinastudien? unbedingt notwendig hielten (er selbst wies diese Notwendigkeit eher von sich), doch bitteschön selbst beschäftigen. Indem wir uns allerdings auf diese Trennung einlassen, wie sie nach wie vor an einigen Instituten Bestand hat, marginalisieren wir unser eigenes Fach und verabschieden uns aus den wissenschaftlichen Debatten und dem Dialog mit den anderen Disziplinen. Damit reduzieren wir dessen Relevanz tatsächlich auf die Sprachausbildung und die Lieferung von Informationen über das, was China für uns bedeutet, geben deren wissenschaftliche Auswertung und also auch ihre gesellschaftliche Nutzbarmachung aber in die - hinsichtlich unseres Gegenstandes allerdings nicht immer kompetenten - Hände der „methodischen Fächer“. Die sich damit selbst bestätigende Rolle als wissenschaftlicher Exot mag für den in seiner Verbeamtung zufriedenen Professor vielleicht gut und bequem sein. Für den um seinen Platz in Wissenschaft und Gesellschaft ringenden Nachwuchsforscher und Berufseinsteiger ist sie aber zweifellos genauso fatal wie für die Weiterentwicklung einer jeden auf Erkenntnis ausgerichteten und damit recht eigentlich erst zu Wissenschaft werdenden Auseinandersetzung mit dem Gegenstand „China“. Tatsächlich hat sich die Welt seit den Anfängen dieses Fachs im 19. Jahrhundert, als die Grundlagen für dessen frühe Ausrichtung unter den damaligen Wissensanordnungen im industriell aufstrebenden Europa gelegt wurden, aber inzwischen entscheidend verändert. Damals bedeutete China für den europäischen Betrachter vor allem kulturelle Fremdheit. In jener Zeit ging es in der Chinakunde tatsächlich noch in erster Linie um die Verfügbarmachung von mündlichen, schriftlichen und photographischen, seit der Jahrhundertwende auch kinematographischen Informationen über und aus dem „Reich der Mitte“. Damals, in der Hochphase des europäischen Kolonialismus und der auf globale Rohstoff- und Absatzmärkte abzielenden industriellen Revolution, die einher ging mit jener exotischen Neugier für fremde und aus der Enge der eigenen Gesellschaften entführende Welten, waren es vor allem politische, darunter nicht selten religiös motivierte Multiplikatoren von Wissen über das „Reich der Mitte“, die an den chinakundlichen Instituten ausgebildet wurden. So sie überhaupt jemals in ihrem Leben nach China kamen, bedienten diese Chinaforscher mit ihren publizierten Erzählungen und in Zeitschriften, Varietéshows und schließlich auch in Kinosälen der breiten Bevölkerung zugänglich gemachten Bildern vor allem die kommerziellen Interessen einer sich jenseits des immer enger werdenden europäischen Kulturraumes exotische Wahrnehmungswelten medial erobernden Gesellschaft. Die frühen Chinakundler standen also mit der Ausnahme einiger bemerkenswerter unabhängiger Abenteurerpersönlichkeiten überwiegend in den Diensten ihrer Regierungen und Glaubensgemeinschaften und deren politisch-ideologischen und ökonomischen Zielsetzungen. Dies fand in der Zeit des Nationalsozialismus seinen unrühmlichen Höhepunkt. Dagegen etablierte sich nach der Neuordnung der Welt in den 1950er und 1960er Jahren in den europäischen Gesellschaften genauso wie in Nordamerika neben den sich nach wie vor als bloße Übersetzer und Multiplikatoren von chinesischen Texten verstehenden philologisch vorgehenden Wissenschaftlern eine grundsätzliche Zweiteilung in der Sinologie. Dabei ist vor allem zwischen den Vertretern der Area Studies sowie überwiegend oppositionellen linken Ideologen zu unterscheiden. Während erstere überwiegend konservative Werte vertraten und sich im aufkommenden „Kalten Krieg“ als Politikberater verstanden, beanspruchten letztere das sich gegenüber der Welt verschließende und daher kaum besser zugängliche China der kommunistischen Revolution als Projektionsfläche für die eigenen Sozialutopien und einen „Dritten Weg“ für die Zukunft der „westlichen Welt“. Zwar handelte es sich um eine bemerkenswerte Leistung, dass China damit auch als sozialwis- 10 1. Herleitungen senschaftlich relevantes Feld entdeckt wurde. So wurde es in eine ganz andere komparative Beziehung zu den eigenen - gegenwärtigen - Gesellschaften gestellt, mit deren Motivation dann erstmals nicht mehr nur nach dem gänzlich Fremden, sondern auch nach Verbindungen und Vergleichbarkeiten gefragt wurde, durch die eine Anknüpfung an die methodischen Wissenschaften erst denkbar wurde. Allerdings haben diese sich vor allem in marxistischer Tradition verstehenden Forscher gegenüber ihren christlich missionierenden, politisch repräsentierenden und nach fremden Welten suchenden ethnologischen Vorgängern nicht minder exotische Träume und utopische Gesellschaftsideale in die Akademien hineingetragen. Diese schließlich hatten mit den chinesischen Wirklichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oftmals nicht mehr gemeinsam als z.B. die Narrative der Tang-zeitlichen Lyrik mit den sozialen Realitäten im 9. Jahrhundert. In den gegenwärtigen Zeiten einer sich in immer weitreichenderem Ausmaß global vernetzenden Informationsgesellschaft dagegen ist eine Flugreise nach China inzwischen ähnlich leicht verfügbar geworden wie eine solche in die europäischen Nachbarländer. Zudem hat die technische Kommunikation Bilder und Texte aus dem und über das „Reich der Mitte“ nahezu grenzenlos und in Echtzeit verfügbar gemacht. Unter diesen Bedingungen kann es in der chinakundlichen Bildung nicht mehr in erster Linie um die Versorgung einer europäischen Bildungselite mit grundlegenden Informationen über China gehen. Mit dem allmählichen Verschwinden von dessen Fremdheit und seinem Eingang in eine weltweite Normalität der mit- und gegeneinander agierenden Regionen und politischen, wirtschaftlichen sowie kulturellen und wissenschaftlichen Akteure ist der Nimbus des Ungewöhnlichen und Exotischen, welcher dieser wissenschaftlichen Disziplin und diesem Studienfach bis in die 1980er Jahre hinein innewohnte, in Wirklichkeit längst verlustig gegangen. Erst das hat die Grundlagen geschaffen für eine differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Gegenständen, die sich unter dem Stichwort „China“ ja nur sehr nebulös, in jedem Falle unzureichend zusammenfassen lassen. Es waren zugleich die Grundlagen für eine Eingliederung dieser Disziplin in ein breites sozial- und kulturwissenschaftliches Fächerspektrum, mit dem sie zusehends ihre Fragestellungen, Perpektiven und Methoden teilt und sich in einen sich ausweitenden Austausch und gegenseitige Befruchtung begeben hat. Genauso wie die Thematisierung Chinas im politischen und wirtschaftlichen Alltag sollte inzwischen auch die Sinologie zu einem „normalen“ Teilnehmer der Wissenschaftslandschaft geworden sein. Angesichts des Bedeutungszuwachses chinesischer Akteure auf dem wirtschaftlichen und politischen Parkett, welcher u.a. auch der chinesischen Sprache Eingang in immer mehr Schulen im deutschsprachigen Raum und den Absolventen der chinawissenschaftlichen Studienfächer wachsende Arbeitsmärkte verschafft hat, sollte die Sinologie längst den Status des „kleinen“ Faches hinter sich gebracht haben. Damit kann sie sich allerdings auch nicht mehr, wie einst, hinter eben diesem Nimbus und dem Alleinstellungsmerkmal hinsichtlich der Kenntnisse der chinesischen Sprache verstecken. Die Fähigkeit, Texte der klassischen chinesischen Literatur zu lesen, hat zu Zeiten, in denen China selbst für die meisten Sinologen eine verschlossene Region darstellte, den zentralen Inhalt eines Sinologiestudiums ausgemacht. Sie ist aber in den 1970er Jahren und infolge der Reformpolitik Chinas wie nicht zuletzt auch der Hochschulreformen in Deutschland ergänzt worden durch die Aufnahme des gegenwärtigen Chinas in die wissenschaftlichen Diskurse. Damit verbunden ist die inzwischen flächendeckende Erkenntnis der Notwendigkeit einer Ausbildung der Studierenden auch im Mündlichen und Schrift- 11 1.1 Wozu Chinastudien? lichen der modernen Umgangssprache. Diese ermöglicht nunmehr nicht mehr nur den Einblick in die lebendigen jüngeren chinesischen Wissenschaftdiskurse zur Geschichte und Texttradition des „Reichs der Mitte“ sondern ist inzwischen auch zur unabdingbaren Grundlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den sozialen Prozessen des Chinas im 20. Jahrhundert geworden. Seit dem auslaufenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist allerdings ein neuerlicher Paradigmenwechsel in der chinawissenschaftlichen Blickrichtung zu verzeichnen, der sich vehement auch in den Notwendigkeiten der universitären Bildung niederschlägt. Dem rasanten Aufschwung und der Rückkehr Chinas als Militär- und Wirtschaftsmacht und politischer Global Player sowie einer zunehmenden Ausdifferenzierung der innerchinesischen Akteure und Interessen geschuldet, lässt sich der Blick auf das „Reich der Mitte“ kaum mehr auf dessen zentralstaatliche politische Machtelite und deren Textüberlieferung beschränken, wie es die sinologische Geschichtsschreibung hinsichtlich des „Alten China“ überwiegend betrieben hat. Und er lässt sich nicht einmal mehr auf den hinsichtlich des Verhältnisses von Herrschern und Beherrschten erweiterten Blick reduzieren, wie ihn das sozialistische China vorgegeben und die marxistisch beeinflusste Sinologie genauso wie die vom Freund- Feind-Schema des Kalten Kriegs geprägten „Area Studies“ seit den 1970er Jahren in ihren Diskursen aufgegriffen haben. Beide sind inhaltlich zwar von ideologisch gegensätzlichen Standpunkten ausgegangen, haben dabei ihre Felder und Argumente aber in gleicher Weise polarisierend und mit eher politischen denn wissenschaftlichen Beweggründen besetzt. Neben der Herrschaftselite und ihren Sprachrohren haben sie damit aber immerhin erstmals auch das beherrschte und sich gegenüber der Beherrschung positionierende chinesische „Volk“ und mit ihm die politische Opposition genauso wie die industrielle „Massenkultur“ als ihre Forschungsobjekte entdeckt. Neben der geopolitischen Einheit des Nationalstaats sind seit den 1980er Jahren längst neue, diesen ergänzende oder ihn alternierende und mit ihm konkurrierende individuell-menschliche, institutionelle und nicht zuletzt auch technische Akteure auf der wissenschaftlichen Landkarte erschienen, die sich - so dies denn überhaupt jemals sinnvoll gewesen sein sollte - mithin kaum noch unter dem zentralstaatlichen Stichwort „China“ subsumieren lassen. Das Verständnis eines China als nahezu monolithische Einheit, auf welche jeder „chinesische“ Akteur und jedes in „China“ vorgängige Ereignis auf die eine oder andere Weise immer zu beziehen und anzuwenden ist, wurde von den Wissenschaften lange Zeit hoch gehalten. Es ist in jüngster Zeit aber mehr und mehr von den methodisch orientierten und sich überwiegend im breiteren Rahmen sozialwissenschaftlicher Fächer verortenden Chinastudien abgelöst worden, die sich damit bewusst von der philologisch (Sprache und Texte) und regionalwissenschaftlich (Geopolitik und Area Studies) argumentierenden Sinologie abgrenzen. An die Stelle von alle Diskurse beherrschenden Propositionen wie Konfuzianismus, Maoismus, Schriftkultur oder Massenkultur ist nunmehr die Beschreibung und Analyse von Besonderheiten seiner Akteure, Interessen und Prozesse in ihrer tatsächlichen Vielfalt und in ihren - nicht nur inneren - Referenzstrukturen, Dynamiken und Wechselwirkungen getreten. Der Band Sinologie und Chinastudien. Eine Einführung versteht sich als ein Studienführer. Als solcher richtet er sich in erster Linie an alle Schulabgänger, die sich mit der Überlegung tragen, sich an einer Universität in ein Studium der Sinologie oder einen anderen Studiengang mit Chinabezug einzuschreiben. Für diese Leser ist dieses Buch, indem es einen Überblick über das gibt, was diese Studiengänge bedeuten, was ihre Inhalte sind und worin ihre Ziele liegen, vor allem als eine Entschei- 12 1. Herleitungen dunghilfe für oder gegen diese Studiengänge zu verstehen. Zudem liefert es die hinreichenden Informationen für die konkrete selbstständige Ausgestaltung derselben einschließlich der Standortwahl und der Wahl von möglichen Fächerkombinationen bis hin zu sich anbietenden Berufsfeldern, auf welche ein Studium neben der „reinen Bildung“ ja auch immer hinzuführen hat. Es richtet sich außerdem an alle diejenigen, die diese Entscheidung bereits hinter sich gebracht und in einen dieser Studiengänge eingeschrieben haben. Es sollte also auch bei der erstgenannten Leserschaft mit Beginn des Studiums nicht beiseite gelegt werden. Vielmehr ist es als ein ständiger Begleiter des Studiums angelegt, auf dessen Hinweise und Quellenvorschläge immer wieder zurückgegriffen werden kann. Hierzu stellt es die disziplinären und wissenschaftlich-methodischen Grundlagen dieser Fächer dar und unterzieht diese, versehen mit zahlreichen Hinweisen auf unterschiedliche Ausrichtungen und Schulen, einer kritischen Diskussion. Diese Anregungen sollen, etwa bei der Überlegung für Hausarbeitsthemen und deren konkrete Ausgestaltung oder bei Klausurvorbereitungen, eine Hilfestellung bei der maßgeblichen wissenschaftlichen Aufgabe anbieten, die unabhängig vom gewählten Gegenstand immer auf die eine oder andere Weise darin besteht, von übergreifenden Themenbereichen und allgemeinen Fragestellungen auf konkrete Forschungsgegenstände herunterzubrechen. Sie besteht aber auch darin, von den so definierten spezifischen Objekten und Themenstellungen den Weg zurück zu übergreifenden und komplexen Fragen und Modellen zu finden. Es geht also immer darum, das Singuläre im Allgemeinen verorten zu können wie umgekehrt das Allgemeine, also das Modellhafte und Regelmäßige, im einzelnen Gegenstand und Ereignis wiederzuerkennen und beide durch die Abstraktion des Erfahrenen und Beobachteten sowie durch die Rückführung des Abstrakten in neue Beobachtungen und Erfahrungen sinnvoll in eine Beziehung zueinander zu setzen. Durch diese allgemeinen Verfahren lassen sich Sinologie und Chinawissenschaften als das verstehen, was Wissenschaft in ihrem Kern ausmacht und was auch den Sinn und Nutzen von Wissenschaft in ihrer Anwendung in außerwissenschaftlichen Berufsfeldern, in welche doch die Mehrzahl der Studienabsolventen wechseln werden, jenseits der bloßen Vermittlung eines Wissens oder gar nur von Informationen über China in Wirklichkeit bedeutet. Dabei handelt es sich um die Herstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen - wissenschaftlich und erkenntnistheoretisch wünschenswerter - Komplexitätsanreicherung und - arbeitstechnisch notwendiger - Komplexitätsreduktion, zwischen Analyse und Synthese. Hinsichtlich seiner breit gefächerten Adressatenschaft und seines einführenden Charakters versteht sich dieses Buch in erster Linie als eine zwar nicht alle Einzelheiten aufnehmende, aber doch zumindest einen breiten Überblick über die Gegenstände, die grundlegenden Richtungen und Inhalte der chinawissenschaftlichen Bildung verschaffende Bestandaufnahme der sich auf den Gegenstand China beziehenden sinologischen und chinawissenschaftlichen Fächer. In diesem Sinne hält es als ein Ratgeber und informativer Begleiter für das gegenwärtige Studienangebot im deutschsprachigen Raum, mit Blick auch auf das zwar nicht an allen Lehreinrichtungen vorgeschriebene, für Studierende der Chinawissenschaften nichtsdestoweniger unabdingbare Auslandsstudium und für Praktika und andere Tätigkeiten im chinesischen Sprachraum, her. Allerdings will dieses Buch sich auch nicht mit der bloßen Wiedergabe des gegenwärtigen Ist-Zustandes der Chinawissenschaften zufrieden geben. Vielmehr will es, wie die einleitenden Absätze bereits angedeutet haben, darüber hinaus auch dessen Leerstellen und Mängel beleuchten. Daraus sollen sich neue Perspektiven für die weitere Entwicklung des Faches Sinologie und der sich auf die 13 1.1 Wozu Chinastudien? eine oder andere Weise mit dem Gegenstand „China“ beschäftigenden Studiengänge und Forschungsgebiete entwickeln oder dafür doch zumindest Anregungen und damit die Grundlage für eine weiterführende Diskussion geschaffen werden, an der teilzunehmen alle Leser eingeladen sind. In diesem Sinne versteht dieses Buch sich nicht zuletzt auch als ein offenes Diskursforum unter allen Beteiligten, Studierenden wie auch Lehrenden, die sich über das gemeinsame Forschungsinteresse begegnen. Dass ein interaktives Diskursforum nicht sinnvoll im und über das Medium Buch ausgetragen werden kann, versteht sich dabei von selbst. Daher steht für dessen interaktive Fortführung eine mit weiteren konkreten und aktuell gehaltenen Informationen, aber eben auch mit einem öffentlichen Forum ausgestattete Webseite unter der Adresse (www.narr.de/ chinastudien) zur Verfügung. Im Rahmen und Kontext dieses Forums erwünschen wir uns eine rege und kritische aber respektvolle Diskussion, auf deren Grundlage wir die Entwicklung der Chinawissenschaften weiterschreiben wollen, indem wir die dort gesammelten Vorschläge gemeinsam diskutieren und die Ergebnisse dieser Diskussion so gut wie möglich in die Praxis von Forschung und Lehre umzusetzen versuchen. Um diese Diskussion in aller notwendigen Breite führen zu können, richtet sich dieses Buch schließlich auch an alle anderen in den sinologischen und Chinabezogenen wissenschaftlichen Bereichen Tätigen. Insbesondere versteht es sich als ein Angebot an Forscher und Lehrende für die gemeinsame Diskussion über die zukünftige Entwicklung der chinabezogenen Studiengänge. Diese Adressierungen bestimmen auch den Aufbau dieses Bandes. Darin wollen wir die deutschsprachige Sinologie als einen Teil der deutschen und europäischen Sozial- und Wissenschaftsgeschichte verstehen. Daraus erklärt sich schließlich auch die im Zeitalter einer glücklicherweise zunehmenden globalen Mobilität von Studierenden auf den ersten Blick zweifellos fragwürdige Beschränkung der Betrachtung auf die deutschsprachige Sinologie. Diese hat sich, wie es sich in einschlägigen Arbeiten zur sinologischen Fachgeschichte nachlesen lässt, im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in philologischer, zugleich aber auch in kolonialistischer und christlich-missionarischer Tradition entwickelt. Sie ist schließlich in die Fänge des Nationalsozialismus geraten und im geteilten Deutschland völlig unterschiedliche Wege gegangen. Erst seit den 1990er Jahren und im 21. Jahrhundert, dessen ersten knapp 13 Jahre den historischen Bezugsrahmen der nachfolgenden Betrachtungen zur Sinologie und den Chinastudien darstellen, kann von einer vernetzten deutschsprachigen Chinawissenschaft gesprochen werden, zu der zweifellos auch die in diesem Bereich arbeitenden Institute in Österreich und der Schweiz einen wesentlichen Beitrag liefern, der nicht übersehen werden darf. Den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde dagegen eine umfangreiche historische Herleitung der heutigen Chinastudien genauso wie eine ergänzende Betrachtung auch der zahlreichen sinologischen Institute in den nicht-deutschsprachigen Staaten. Mit diesen existieren zwar auch enge Beziehungen und gemeinsame Interessen, gar vernetzte Studiengänge. Sie blicken dabei aber auf teilweise ganz andere Traditionen und unter ihren spezifischen politischen, sozialen und wissenschaftlichen Diskurstraditionen auch auf ganz andere Entwicklungen zurück, welche einen Vergleich auch ihrer Ist-Zustände mit denjenigen der deutschschprachigen Sinologie erschweren. Nichtsdestoweniger werden, wie in den einzelnen Kapiteln immer wieder betont wird, Chinawissenschaften nicht nur im deutschsprachigen Raum betrieben und wird im Serviceteil der an dieses Buch angebundenen Website, in dem es um die jeden Studierenden betreffende Pragmatik konkreter Entscheidungen geht, 14 1. Herleitungen auch auf andere Studienstandorte in Europa, Nordamerika und anderen Weltregionen, vor allem aber auf diejenigen im chinesischsprachigen Raum selbst hingewiesen. Gemeinsam ist allen sinologischen, chinawissenschaftlichen und den meisten anderen Studiengängen mit Chinabezug, und zumindest auf dieser Ebene unterscheiden sich auch die Studiengänge im deutschsprachigen Raum kaum von denjenigen in anderen Staaten und Sprachräumen, die Notwendigkeit der Sprachausbildung im Chinesischen. Die oben angestellten Überlegungen zur Praxis (China-)wissenschaftlichen Arbeitens haben diese Notwendigkeit bereits deutlich gemacht. Sie ergibt sich für Studierende der Sinologie und anderer Fächer mit Chinabezug aber schon auf einer sehr viel rudimentäreren Ebene als derjeningen des Wissenschaftszugangs. Es handelt sich um diejenige des alltäglichen Kommunizierens mit Menschen im chinesischen Alltag, der Lektüre von Fahrplänen und Speisekarten, Tageszeitungen und Studienplänen, wie sie dem Chinareisenden und dem in China Studierenden und Forschenden ständig begegnen und die unabdingbare Voraussetzung für jeglichen Zugang zu dem darstellen, was China in seinem innersten Selbstverständnis wie auch in seinen mannigfachen inneren Differenzierungen ausmacht. Das bedeutet die unabdingbare Notwendigkeit des Erwerbs von hinreichenden Fähigkeiten in der schriftlichen und mündlichen Form der gegenwärtigen Standardsprache Chinas, dem, je nach fachlicher Ausrichtung, im Verlaufe des Studiums gegebenenfalls noch spezifische Dialekte und Minderheitensprachen hinzuzufügen sind. Lese- und Schreibsowie Hör- und Sprechfähigkeiten in der Umgangssprache, die seit dem 20. Jahrhundert maßgeblich auch der wissenschaftlichen Textproduktion zugrunde liegt, bilden also die Voraussetzung für den Zugang zu den gegenwärtigen Wissens- und Wissenschaftsdiskursen in China. Mit diesen hat ein jeder Sinologe sich auf die eine oder andere Weise immer wieder auseinanderzusetzen. Sie bilden außerdem die Voraussetzung für die eigene Anschauung, die in Form von Studien- und Forschungsaufenthalten zweifelsfrei eine der wesentlichen Arten wissenschaftlichen Aneignens darstellen und jedem Studierenden somit unbedingt ans Herz zu legen sind. Sie reichen allerdings weder dazu aus, einen Zugang zum China vor dem 20. Jahrhundert und seiner umfangreichen Textproduktion zu erlangen, noch ist ohne Lesefähigkeiten in der bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein gebräuchlichen klassischen Schriftsprache ein tiefergehendes Verständnis der modernen Kommunikationsformen und semantischen Systeme denkbar. Das reformierte Schriftsystem basiert nämlich nach wie vor erheblich auf jener und ist in seinen Feinheiten unauflöslich mit ihr verwoben. Insofern ist es zu bedauern, dass einige chinawissenschaftliche Studiengänge im Zuge der mit den Bologna-Reformen einhergehenden Zusammenstreichung von Studienplänen ausgerechnet die Schriftsprache aus dem Programm genommen haben und ihre „Aus“Bildung damit leider nur auf den ersten Blick Studierenden-freundlich entschlackt haben. Das bedeutet nämlich zwar eine erhebliche Arbeitserleichterung für die Studierenden dieser Studiengänge, allerdings nur um den Preis einer nicht minder erheblichen Beschränkung der in ihnen erzielbaren Erkenntnismöglichkeiten. Schließlich muss sich ein jeder Studierender, der eine adäquate Sprachausbildung erlangen will, sowohl mit der jenseits der Staatsgrenzen der VR China, etwa in Hongkong und Taiwan, nach wie vor gültigen und in Publikationen verwendeten traditionellen Schreibweise chinesischer Schriftzeichen ( 繁体字 Fantizi) wie auch mit deren Kurzform ( 简体字 Jiantizi) befassen. Letztere haben als Ergebnis der volksrepublikanischen Sprachreform unter Mao Zedong eine erhebliche Vereinfachung der Schreibweise, dabei allerdings teilweise auch eine Abkoppelung von den - für das Verständnis von Texten und Kontexten oftmals notwendigerweise zu berücksich- 15 1.1 Wozu Chinastudien? tigenden - etymologischen Wurzeln und Entwicklungsprozessen der einzelnen Zeichen herbeigeführt. Dieses erste Kapitel wird anschließend noch näher auf die Frage nach dem Sinn und Zweck der Chinastudien sowie auf diejenige nach der Eignung von Studienanfängern und den Voraussetzungen für deren Studieneinstieg eingehen. Auf dieser Grundlage wird im zweiten Kapitel zu den „Hinleitungen“ zunächst Andreas Guder die Herausforderungen, Möglichkeiten und Gegenstände des allen Chinastudien notwendigerweise vorausgehenden Spracherwerbs ausführlicher vorstellen. Bereits die Diskussion des Spracherwerbs zeigt, dass ein Studium der Sinologie und Chinawissenschaften für ausländische Lernerinnen und Lerner in gewissem Sinne immer die Quadratur des Kreises bedeutet. Der Studienerfolg hängt vor allem von der Bereitschaft eines jeden Einzelnen ab, intensiv Zeit und Energie in den Spracherwerb zu investieren. Dabei gilt es, die sich auch hinsichtlich von oftmals nur langsamen Fortschritten gelegentlich breit machende Frustation immer wieder zu überwinden und in neue Motivation zu übertragen - das alles in dem Wissen, dass mit dem sich über mehrere Jahre hinziehenden Spracherwerb allein das Fachstudium noch nicht einmal begonnen hat. Anders als in Fächern wie der Germanistik, Anglistik oder Romanistik, bei denen zum Studieneinstieg Sprachkenntnisse vorausgesetzt werden, kann in der Sinologie und den Chinawissenschaften daher ein Fachstudium, wie es eigentlich sinnvoll wäre und an einigen Instituten durch Propädeutika zumindest ansatzweise versucht wird, nicht erst nach Erwerb hinreichender Lese- und Sprechfähigkeiten beginnen, sondern hat parallel zur Sprachausbildung stattzufinden. Daher ist in jedem chinawissenschaftlichen Studiengang neben der Sprachausbildung grundlegend auch der Erwerb von Kenntnissen hinsichtlich des Gegenstandes China, also seiner Geschichte und Kulturgeschichte, seiner sozialen und politischen Strukturen, seiner kulturellen Besonderheiten und ästhetisch-narrativen Repräsentationssysteme zunächst unter Hinzuziehung von nicht-chinesischsprachigen Quellen anzustreben, welche den Studierenden erst in einer fortgeschrittenen Phase ihres Studiums den breiteren Zugang zu innerchinesischen Diskursen ermöglichen. Diese Grundlagen des chinawissenschaftlichen „Wissens“, die im Anschluss an Andreas Guders Ausführungen zur Sprachausbildung als deren notwendige Ergänzung vorgestellt werden (Stefan Kramer), gelten in leichten Variationen und mit unterschiedlichen methodischen Schwerpunktsetzungen, welche in einem so wenig einheitlich definierten Fach wie der Sinologie noch sehr viel stärker ausfallen als in anderen Fächern, an allen sinologisch und chinawissenschaftlich bildenden Instituten. Henning Klöter schließlich geht zum Abschluss des „Hinleitungs“-Kapitels auf die Spezifika ein, welche eine Lehrerausbildung, wie sie von immer mehr Universitäten auf Staatsexamina hinleitend angeboten werden, davon abweichend mit sich bringen und anstelle einer disziplinären Spezifizierung im weiterführenden Studium den Fokus auf die Vermittlung von, zudem didaktisch an Mittelschüler und Gymnasiasten weitervermittelbarer allgemeiner Chinakompetenz erfordern. Damit ist der Quadratur des Kreises aber noch immer nicht genüge getan. Wissenschaft nämlich, wie sie im Mittelpunkt der universitären Bildung steht, beinhaltet neben grundlegenden handwerklichen Fähigkeiten der Wissensgenerierung und dem Wissen über die Gegenstände der jeweiligen Disziplinen, das bei der Sinologie um die wichtigen und vielseitig einsetzbaren Sprachfähigkeiten ergänzt wird, insbesondere eine spezifische - wissenschaftliche - Art des Denkens und Handelns. Vor allem diese Art des Denkens und Handelns ist über die einzelnen Fächer und Gegenstände des Studiums hinaus nach wie vor das wesentliche auch arbeitsmarktrelevante Qualifika- 16 1. Herleitungen tionsmerkmal von Hochschulabsolventen. Das bedeutet die Fähigkeit der Erkennung von Problemen, der Entwicklung von Modellen und schließlich der strategischen Umsetzung von Lösungen, dies teilweise für Probleme, die bis dahin von anderer Seite nicht einmal als solche erkannt worden sind. Dies alles einmal abgesehen von dem unschätzbaren Wert einer vordergründig funktionsunabhängigen Bildung und von scheinbar zweckfreien Fähigkeiten für die individuelle Lebensgestaltung eines jeden Einzelnen. Wer dieses Argument als weltfremd und romantisch beiseite schieben will, möge sich daran erinnern, dass ein Großteil der Errungenschaften unserer modernen Gesellschaften zunächst zweckfrei oder mit ganz anderen Zielsetzungen entwickelt worden ist. Erst im Nachhinein sind solche Erfindungen von wirtschaftlichen und politisch-gesellschaftlichen Akteuren neuen und sich häufig verändernden Nutzungen zugeführt worden, an welche die eigentlichen Erfinder dieser Techniken oder Denkmodelle häufig noch überhaupt nicht gedacht haben, die aber nichtsdestoweniger die Bedingungen der späteren Welten beherrscht haben und nach wie vor beherrschen. Unsere Gesellschaften beruhen, wie sich daran zeigt, maßgeblich auf der Zweckfreiheit, welche die Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen ihren Studierenden und Lehrenden lange Zeit garantiert haben und um die es daher weiterhin zu kämpfen lohnt. Bei diesem zentralen, in den chinawissenschaftlichen Studiengängen mit Blick auf deren hohen Ausbildungsanteil oftmals allerdings leider vernachlässigten Element des Studiums handelt es sich zunächst um den Erwerb methodischer Fähigkeiten hinsichtlich der Anwendung des erworbenen Wissens auf konkrete Problemstellungen. Diese Problemstellungen indes verweisen auf die unterschiedlichen Disziplinen, unter deren methodischem Dach die Sinologie und Chinawissenschaften ihre spezifischen Bereiche bearbeiten. Das dritte Kapitel dieses Bandes wird unter dem Titel der „Weiterleitungen“ einige der wichtigsten an deutschsprachigen Universitäten vertretenen Disziplinen der Chinaforschung vorstellen. Dazu gehören die philologische (Philip Clart), die geistes- und ideenhistorische (Hans van Ess), die geschichtswissenschaftliche (Nicola Spakowski) und die kulturwissenschaftlich-ethnologische (Merle Schatz) Ausrichtung der Sinologie und Chinawissenschaften genauso wie deren sozialwissenschaftlichen (Christian Göbel), rechtswissenschaftlichen (Björn Ahl) und literatur-, kunst- und medienwissenschaftlichen (Andrea Riemenschnitter) Zweige. Andere, so insbesondere die ingenieurs- und naturwissenschaftlichen Fächer, für deren Studierende und Absolventen China einen immer attraktiveren Studien- und Betätigungsort darstellt, werden, zumal diese oft ihre eigenen Netzwerke aufzuweisen haben und in internationalisierten und englischsprachigen Studiengängen weitgehend ohne China-spezifische Kenntnisse auskommen, in diesem Buch nicht ausführlich behandelt. Zumindest die Frage nach der Wissenschafts- und Technikgeschichte Chinas zeigt aber, wie notwendig über die bloße Arbeitsmarktgenerierung hinaus ein breit gefächertes Wissen nicht nur über China sondern auch im Bereich der methodischen Wissenschaften oder doch zumindest eine intensive disziplinäre Verzahnung für beide Seiten ist. Sie betrifft Chinas Kulturen und soziale Anordnungen im Kern. Dabei kann sie allerdings in den Händen von sozial- und kulturwissenschaftlichen Sinologen, denen der Zugang zu technischen Prozessen verwehrt ist, allein zweifellos nicht hinreichend beantwortet werden. Auf der anderen Seite fehlt aber den Ingenieuren, die hier unabdingbar zu Rate zu ziehen sind, meist das sprachliche und methodischkritische Handwerkszeug, ihre Gegenstände auf einer Reflexionsebene zweiter Ordnung zu beobachten: die Quadratur des Kreises. 17 1.1 Wozu Chinastudien? Alle genannten und einige weitere disziplinäre Ausrichtungen der Sinologie, auf die in diesem Band nicht eigens eingegangen wird, verweisen auf die eingangs genannte grundlegende Problematik der Chinawissenschaften. Sie besteht in ihrer nach wie vor im Raume stehenden Beschränkung auf den - zudem sehr vagen und in unterschiedlichen Disziplinen auch durchaus unterschiedlich zu definierenden - Gegenstand „China“ und den damit einhergehenden Verzicht auf einen spezifischen Fragen- und Methodenfokus. Verknüpft mit dieser Problematik, aus welcher sich auch die Unterscheidung zwischen Sinologie und Chinastudien im Titel dieses Buches erklärt, ist eine grundlegende Entscheidung, der sich jeder Studienanfänger zu stellen hat. Es handelt sich um die Entscheidung darüber, ob er sich in einen sinologischen oder chinawissenschaftlichen Studiengang einschreiben will und von dort aus eine disziplinäre Verengung anstrebt, oder ob er eine methodische Fachdisziplin studieren und sich von dieser aus auf der Grundlage von soliden Sprachfähigkeiten und Chinakenntnissen einen Chinaschwerpunkt erarbeiten will. Die Auswahlmöglichkeiten sind zu erheblichen Teilen den Angeboten an den unterschiedlichen Universitäten und den Spezialisierungen in den einzelnen Instituten geschuldet, die etwa hierzu notwendige Fächerkombinationen oder einen nicht an ein sinologisches Studium angebundenen Spracherwerb erst möglich machen müssen oder in den besten Fällen bereits kombinierte Studienangebote bereithalten. Sie sind aber auch den persönlichen Interessen und Zukunftsplänen eines jeden einzelnen Studienanfängers geschuldet, dem die Entscheidung hinsichtlich seiner Schwerpunktsetzung niemand abzunehmen imstande ist. In dem einen wie dem anderen Fall bleibt es auch bei bester Studienberatung, die in Anspruch zu nehmen einem jeden Studienanfänger zu raten ist, unabdingbar die Quadratur des Kreises und bedeutet die Entscheidung für das Eine immer den Verzicht auf Teile des Anderen. So wird es einem Studierenden der Ökonomik in aller Regel sehr schwer fallen, nebenher nicht nur die moderne chinesische Sprache in mündlicher und schriftlicher Form sondern auch noch die vormoderne Schriftsprache zu erlernen und deren Texte in größerer Menge zu studieren. Und genauso wird es einem Studierenden der Sinologie, der große Anteile seines „Work Load“ in eben diesen zeitintensiven Spracherwerb investiert, schwer fallen, nebenher auch noch mit den Kommilitonen aus dem Bereich der Ökonomik in den grundlegenden Modulen dieses Faches mithalten zu können. Daher stehen am Ende solcher Entscheidungsprozesse immer der Kompromiss und die damit verbundene Erfahrung eines gewissen Mangels gegenüber den wenigen Spezialisten des einen wie des anderen Gebietes. Dem wird der kompetente Chinaforscher allerdings mit seinen besonderen Fähigkeiten hinsichtlich der Verknüpfung von spezifischem und kontextuellem Wissen mit passgerechten Methoden zur Lösung der Probleme, die nur über dieses Wissen überhaupt erkennbar sind, zu begegnen wissen. So ist er, wenn er diese Ausgewogenheit zwischen Wissen und Methode erzielt hat, dem wissenden „Generalisten“, der sich nämlich vor dem einen wie dem anderen Spezialisten immer auf seine Fähigkeiten im jeweils anderen Bereich beruft, dadurch im Vorteil, dass dieser die Dinge zwar überblickt, ihm allerdings in aller Regel das Handwerkzeug, welches er benötigt, um in sie einzudringen, fehlt. Und genauso ist er gegenüber dem disziplinären Methodiker im Vorteil, der zwar einen reichen Werkzeugkasten an Problemlösungsmodellen bereithält, dabei aber nicht hinreichend in der Lage ist, die Probleme, die er zu lösen angetreten ist, in ihren tatsächlichen Umweltbedingungen überhaupt zu erkennen und zu beschreiben. Quadriert ist der Kreis also nur mit dem generellen Spezialisten oder auch mit dem speziellen Generalisten. Wie aber kann dieser sich selbst erschaffen? Mit dieser Frage schließlich beschäftigt 18 1. Herleitungen sich das „Umleitungen“ übertitelte vierte und letzte Kapitel zur Aufgabe der Chinaforschung als eine philosophische Grundlagendisziplin (Stefan Kramer), mit dem sich der Kreis zu dieser Einleitung schließen soll. Nachdem im dritten Kapitel die chinawissenschaftlichen Disziplinen ihre Gegenstände unter dem Aspekt des Wissens hinsichtlich des Gegenstandes „China“ vorgestellt und diskutiert haben, wird es in diesem abschließenden Kapitel darum gehen, China vor allem auch als eine Methode zu verstehen. Mit ihr gilt es zum einen die ontologischen und erkenntnistheoretischen Ausgangsbedingungen der genannten Fachdisziplinen zu überprüfen. Zum anderen geht es darum, die Bedeutungen der alltäglichen, wissenschaftlichen und philosophischen Auseinandersetzung mit dem Objekt „China“ für das eigene Selbstverständnis offenzulegen. Das bedeutet die Notwendigkeit, einen Schritt hinter die Chinaspezifische Relevanz der betroffenen Fächer zurückzugehen und nach den die Bedeutungen bedingenden Bedeutsamkeiten einer Chinaforschung und -lehre im Kontext des vermeintlich Eigenen unserer Wahrnehmung und von deren kulturell-sozialen Anordnungen zu fragen, welche nicht zuletzt auch die Grundbedingungen unseres Denkens über China darstellen. Während Sinologie in ihrer ursprünglichen Form vor allem die Beobachtung des vermeintlich Fremden bedeutete, haben die disziplinären Chinawissenschaften dieser Beobachtung mit ihrem methodischen Handwerkszeug den selbstreferentiellen Blick auf ihr eigenes Beobachten hinzugefügt - eine Beobachtung zweiter Ordnung, die sich die formalen und sprachlichen Bedingungen von Wissenschaft zunutzen macht, allerdings auch nicht über diese hinauskommt. Die Quadratur des Kreises besteht nunmehr, wenn man Chinaforschung als eine Methode der philosophischen Selbstreferentialität begreift, darin, diese Beobachtung zweiter Ordnung um eine solche dritter Ordnung zu ergänzen. Dabei wird der Blick nicht allein auf das Forschungsobjekt gerichtet und gibt man sich auch nicht mit der darüber hinausgehenden Beobachtung der Beobachtung durch deren wissenschaftliche Abstraktion zufrieden. Vielmehr werden hierbei eben diese Anordnungen der eigenen - wissenschaftlichen - Beobachtung mit reflektiert. Jenseits von „Sein“ (1. Ordnung) und „Bedeutung“ (2. Ordnung) wird bei dieser Beobachtung dritter Ordnung nach der „Bedeutsamkeit“ gefragt. Sie nämlich, obgleich den Akteuren selbst zumeist unbewusst bleibend, bildet das Fundament, auf dem Sein und Bedeutung als gesellschaftliche Wirklichkeit erst errichtet werden. Indem sie zugleich die Grundlagen auch für das Entstehen von Wissenschaft im Allgemeinen wie in ihren spezifischen Ausdifferenzierungen in das Bewusstsein zurückführt, schließt diese abschließende Fragestellung schließlich den Kreis zum Ausgangspunkt der Überlegungen dieses Bandes. Sie führt - hoffentlich - zu einer reichhaltigen und kontroversen Debatte um die Zukunft der Wissenschaften und die der Sinologie und den Chinastudien darin zukommende Position, an der Studierende und Lehrende in ihrer Einheit als Forschende sich gleichermaßen beteiligen mögen. 19 1.2 Eignung und Aneignung 1.2 Eignung und Aneignung (Stefan Kramer) Neben der eingangs erwähnten Frage nach den beruflichen und die Persönlichkeit bildenden Möglichkeiten, die sich aus einem chinawissenschaftlichen Studium ergeben, sind es insbesondere zwei Dinge, die die Mehrzahl der Studieninteressierten und Studienanfänger umtreiben, wenn sie den Sinn und Unsinn sowie die Erfolgsaussichten ihrer Studienentscheidung abwägen. Zum einen ist das die Frage nach der Eignung, also die Problematik der Voraussetzungen, die man in das Studium mitzubringen hat. Zum anderen handelt es sich um die Frage nach den Grundlagen, die eine jede Studentin und ein jeder Student dieser Fächergruppe unabhängig von der spezifischen disziplinären Richtungsentscheidung in das Studium mitzubringen und im Studium zu erwerben haben, um dieses bestmöglich zu durchlaufen. Die Frage nach der Eignung und den formalen Voraussetzungen ist relativ leicht zu beantworten, zumal die Hochschulgesetze die allgemeinen Hochschulzugangsbedingungen regeln und die Studienordnungen der sinologischen und chinawissenschaftlichen Institute sowie der Fakultäten und Universitäten, an denen diese angesiedelt sind, den Gesetzen zusätzliche Einschränkungen hinzufügen. Neben der durch Abitur oder andere in- und ausländische Bildungsabschlüsse erfolgreich erworbenen Hochschulzugangsberechtigung, die an einigen chinawissenschaftlichen Instituten zusätzlich durch einen Numerus Clausus eingeschränkt wird, geht es da zumeist formal um Fremdsprachenkenntnisse in zumeist zwei modernen und/ oder klassischen Fremdsprachen und eigentlich darüber hinaus um wenig mehr. In Beratungsgesprächen, zu denen im übrigen die meisten Institute nicht nur zu öffentlichen Hochschultagen gerne einladen, um ihre möglichen künftigen Studierenden kennenzulernen, die Studienerwartungen in realistische Bahnen zu lenken und die anstehende gemeinsame Arbeit vor Missverständnissen zu bewahren, werden zudem in aller Regel einige Empfehlungen ausgesprochen, an denen die Studienbewerber ihre Interessen, Fähigkeiten und Wünsche zu orientieren hätten. Als gute Voraussetzung gilt demnach insbesondere ein grundlegendes Interesse an Fragestellungen im Bereich von Kulturen und textbasierenden Wissensbeständen. Kulturelle und soziale Besonderheiten Chinas lassen sich nur bis zu einem gewissen Grade und mit nur geringer Aussagekraft mit den Gesetzen von Ratio und Logik beschreiben und sind daher mit einem naturwissenschaftlichen Denken auch nur bedingt zugänglich. So ist es auch für einen Studierenden der Wirtschafts- oder Sozialwissenschaft Chinas, der von seinem Fachverständnis her überwiegend mit quantitativ erhobenen Basismaterialien und mathematischen Auswertungmethoden auf seinen Gegenstand zugreift, von Vorteil, wenn er die statistischen Mittelwerte seines Forschens nicht nur errechnen, sondern das dabei erhobene Datenmaterial anschließend auch auf den konkreten Gegenstand zurückbeziehen und an diesem messen kann. Im besten Falle sollten dabei im selben Zuge auch die ja keineswegs naturgegebenen sondern unserem eigenen sozial-kulturellen Umfeld entsprungenen Methoden des eigenen Messens am Gegenstand China abgearbeitet, auf den Prüfstand gehoben, abstrahiert und ggf. korrigiert werden. Der Mehrwert eines chinawissenschaftlichen Zugriffs auf ökonomische und soziale Gegenstände besteht in diesem Sinne gegenüber den mathematisch-rational argumentierenden Disziplinen, von denen immer mehr sich auch für die insbesondere wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in Ostasien interessieren und diese in ihre Curricula aufgenommen haben, in der ihm exklusiv gegebenen Fähigkeit, die dort erhobenen Daten in eine breiter angelegte Betrachtung lokaler Bedingungen 20 1. Herleitungen einzubinden. Nur so nämlich lassen sich diese auch angemessen interpretieren und für die weitere Nutzung verfügbar machen. Neben dem distanzierten und selbstreflexiven wissenschaftlichen Blick auf die abstrakte Größe China lassen sich dabei auch der Dialog mit lokalen Akteuren in China und somit die den Abstraktionen zugrunde liegenden sozialen Wirklichkeiten sowie die politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgangspunkte der mit eigenen Interessen an den beobachteten Dingen und Ereignissen beteiligten lokalen Individuen, Kollektive und Institutionen mit in die Forschung einbeziehen. Bei dieser Vorgehensweise wird sich die oben getroffene Annahme immer wieder bestätigen: Forschungen über China, die sich ausschließlich auf mathematisch-empirische Erhebungen berufen, besitzen, auch wenn sie die Chinaseminare an den wirtschaftswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten, in denen nur selten eine auch kulturelle und sprachliche Chinaexpertise existiert, nach wie vor beherrschen, nur wenig Aussagekraft. In aller Regel geben sie zwar einen statistischen Mittelwert, etwa für Gesamtchina, eine Provinz, eine soziale Gruppe etc. wieder. Damit sind sie aber noch längst nicht in der Lage, lokale Realitäten abzubilden geschweige denn verlässliche Aussagen über deren kausale Zusammenhänge und Ursachen sowie die ihnen zugrunde liegenden Interessen oder auch nur die Eigenschaften einzelner Akteure zu treffen. Die Aufgabe des Chinawissenschaftlers, der sich dabei selbstverständlich auch statistischer Methoden bedienen darf und soll, besteht darin, die formalisierende und nur dadurch ihren - für einen pauschalen Überblick durchaus wertvollen - Gehalt gewinnende quantitative Analyse wieder in die tatsächliche Vielfalt der unter ihren Ergebnissen zusammengefassten Dinge und Ereignisse zurückzuführen. Dabei geht es darum, Kausalitäten, Wandel und Kontinuitäten zu beobachten und in den Kontext ihrer konkreten Umwelten, ihrer historischen, natürlichen, sozialen und nicht zuletzt ontologischen und epistemologischen Gegebenheiten einzubinden. Erst durch diesen weit über die bloße Statistik und über die simple Wiedergabe von vermeintlichen Tatsachen resp. Wahrheiten hinausgehenden Schritt lässt sich das Besondere dieser lokalen Gegebenheiten und Begebenheiten und das Singuläre der beteiligten Akteure von den nationalen und globalen Konstanten differenzieren und in seinen tatsächlichen Kontexten beschreiben, um von daher im besten Falle auch Übereinstimmungen und Konstanzen auszumachen. Die für einen pauschalen Überblick durchaus hilfreichen und von rational handelnden d. h. unter festen Verhaltensannahmen und nach standardisierten wissenschaftlichen Kriterien erfassbaren Akteuren ausgehenden Statistiken sind immer auf eine best mögliche Handhabbarkeit ausgerichtet, wie sie vor allem durch die Anpassung der Beobachtung an die eigene Methodik und die von ihr vorgefertigten Schubladen erzielt wird. Dadurch gelangen sie zwar zu einer besseren Darstellbarkeit und wissenschaftlichen Weiterverwertbarkeit ihrer Ergebnisse. Das gelingt allerdings nur um den Preis des oftmals vollständigen Verlustes einer Erfassung der tatsächlichen Vielfalt von Akteuren und Interessen. Diese nämlich handeln in Wirklichkeit niemals ausschließlich rational und sind also auch nicht aus einem auf die begriffliche Reduktion von tatsächlicher Vielfalt ausgerichteten normativen Methodenkanon heraus hinreichend erfass- und darstellbar, wie ihn die rationalempirischen Wissenschaften betreiben. Der Mehrwert in der Tätigkeit des Chinawissenschaftlers gegenüber den empirischen Wissenschaften, wie etwa die Ökonomik oder die Soziologie, sofern diese selbst keine ausdrückliche und sprachlich fundierte Chinaexpertise mitbringen, besteht in seiner durch den unmittelbaren Zugriff auf die Gegebenheiten und Diskurse Chinas erlangten Kompetenz zur Fortführung, Überprüfung und Konkretisierung der 21 1.2 Eignung und Aneignung statistischen, dabei nicht differenzierenden Forschung. Seine Aufgabe ist, anders als es die umgekehrt vorgehenden empirischen Wissenschaften vorsehen, die Anpassung von Blick und Methode an den Beobachtungsgegenstand. Das ermöglicht die Einbeziehung möglichst umfassender Faktoren in den Beobachtungsfokus, bei dem die empirischen Daten, wie sich bei diesem Verfahren zeigen wird, nur noch einen geringen Bedeutungsanteil ausmachen. Seine unverzichtbare Rolle beim zunächst immer pauschal und indifferent bleibenden Blick der methodischen Disziplinen auf chinesische Akteure und Ereignisse besteht somit in einer Annäherung an die sozial-kulturellen und diskursiven Wirklichkeiten Chinas in ihrer tatsächlichen Vielheit und ihren wechselseitigen Bedingtheiten. Das, so die mit diesen Ausführungen verbundene Studienempfehlung, setzt schon für den Studienanfänger eine Offenheit und Neugier gegenüber den sich zumeist erst in den Leerstellen rationaler Wissenschaften offenbarenden Spezifika als fremd verstandener Kulturen und Menschen voraus. Dabei ist eine besondere Affinität zu China eigentlich überhaupt nicht notwendig, erleichtert das Arbeiten, so insbesondere den zeitweise mühseligen Spracherwerb und die unumgehbaren Auslandsaufenthalte im chinesischen Raum, aber zweifellos und kann es mit der Freude anreichern, die einem jeden erfolgreichen Studium ohnehin zugrunde liegen sollte. Auch wenn die Hochschulgesetze vieler Länder einen verpflichtenden gebührenpflichtigen Studienaufenthalt im Ausland mittlerweile ausschließen, gehört zum Studium auch die Bereitschaft, ja die Lust, dieser Neugier durch Reisen und längere Studien- und Arbeitsaufenthalte im chinesischen Kulturraum nachzugehen. Ein wesentlicher Teil und eine Voraussetzung für den Erfolg des Studiums bestehen darin, sich im Rahmen von selbst organisierten oder in die Curricula der chinawissenschaftlichen Institute eingepassten Chinaaufenthalten den Gegebenheiten Chinas auszusetzen und sich mit allen sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten auf sie einzulassen. Genauso wichtig wie die Fähigkeit und Bereitschaft des Einlassens auf das Neue ist allerdings auch, bei alledem die Distanz zu den Objekten der eigenen Forschung nicht zu verlieren, die für eine wissenschaftliche Reflexion der eigenen Erfahrung und für deren sinnvolle und genauso kritische wie selbstreferentielle Einfügung in die eigenen Wissenshorizonte unabdingbar ist. Ein Aufenthalt im chinesischen Sprach- und Kulturraum sollte im B.A.-Studium mindestens ein, besser zwei Semester dauern. Durch dieses halbe oder ganze Studienjahr jenseits der Heimatinstitution, das meist, aber nicht notwendigerweise nach dem zweiten Studienjahr und also auf der Grundlage eines inzwischen erworbenen grundlegenden Wortschatzes und für einen aktiv selbst gestalteten Aufenthalt hinreichender Fachkenntnisse stattfinden sollte, gewinnt der Studierende die notwendige und keinesfalls durch touristische Kurzaufenthalte ersetzbare Zeit, um Abstand von der eigenen Lebensumwelt zu bekommen. Erst das Hineinbegeben in die muttersprachlich chinesische Umgebung und die dortigen Seinsverhältnisse wird dem Reisenden und Studierenden nicht nur eine zusätzliche Motivation und Leichtigkeit beim weiteren Spracherwerb verleihen sondern auch dazu beitragen, dass er Erfahrungen sammeln, Beobachtungen machen, Kontakte knüpfen, in Gesellschaft und Wissenschaft kommunizieren und den Alltag so umfänglich wie möglich erleben kann. Das alles bedeutet nicht nur für das Studium sondern auch für die individuelle Entwicklung einen unersetzlichen Mehrwert. Infrage kommen dafür Aufenthalte in der Volksrepublik China genauso wie in der Republik China auf Taiwan, wo die meisten Universitäten Sprachkurse und Fachprogramme für ausländische und fremdsprachige Studierende anbieten, oder auch an Universitäten in den ehemaligen britischen bzw. portugiesischen Kolonien Hongkong und Macao, an 22 1. Herleitungen denen Sprachkurse und teilweise chinesischsprachiger Unterricht angeboten werden. Die chinawissenschaftlichen Institute im deutschsprachigen Raum unterhalten zumeist Partnerschaften mit Instituten und Austauschprogramme, in deren Rahmen ein Sprach- und Fachstudium in China durchführbar ist. Doch auch selbstständige Bewerbungen bei chinesischen Universitäten, die überwiegend englischsprachige Webseiten unterhalten und Online-Bewerbungsverfahren anbieten, sind inzwischen problemlos realisierbar und ermöglichen einen optimal auf die eigenen Erwartungen und Bedürfnisse zugeschnittenen Studienaufenthalt. Zu seiner Eingliederung in das heimische Studienprogramm geben dessen Lehrende die notwendigen Informationen. Dabei ist zu bedenken, dass nicht notwendigerweise die besten Universitäten auch die besten Sprachprogramme anbieten. Vielmehr sind oftmals gerade selbst weniger in der Forschung aktive, stattdessen auf Sprachausbildung spezialisierte Universitäten wie die Language and Culture University in Beijing oder das Mandarin Training Center in Taipei die erfolgreichsten Ausbildungsstätten im Sprachbereich und bietet sich z.B. auch ein zeitlich geteilter Aufenthalt von einem Semester an einer Sprachschule, einem weiteren Semester in der Fachausbildung an. Dieses zusätzliche Semester im Kreise dann nicht mehr ausschließlich ausländischer Sprachlerner sondern von überwiegend muttersprachlichen Studierenden bedeutet mit seinen hohen sprachlichen Anforderungen in Unterricht und Freizeit in aller Regel einen enormen zusätzlichen Motivationsschub und ist daher in jedem Falle zu empfehlen. Finanzierungsmöglichkeiten, darüber informieren die Akademischen Auslandsämter der Universitäten, bieten sich mittlerweile in größerer Menge an, vom Auslandsbafög über die Selbstzahlerprogramme und Jahresstipendien des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) bis hin zu zahlreichen Stiftungen. Wenn man die Auseinandersetzung mit den Kulturen und Gesellschaften Chinas während des Auslandsstudiums mit einem über ein touristisches Niveau hinausgehenden Interesse betreibt, bedeutet das immer auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion und Hinterfragung von Gewohntem und von scheinbaren Selbstverständlichkeiten des eigenen Lebensumfeldes und der eigenen Lebenserfahrungen. Nur wer diese Bereitschaft und ein gewisses Maß an Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein mitbringt, wird sich schließlich vorurteilsarm auf die Zeit in China einlassen und in die dortige Lebenswirklichkeit einzudringen vermögen, ohne dabei die Distanz zu seinen Beobachtungen und Erfahrungen aufzugeben, die für eine wissenschaftliche Reflexion genauso unabdingbar ist wie die Vorurteilsfreiheit gegenüber den Objekten der Beobachtung. Dieses aufreibende und die sich ihm aussetzenden Studierenden bis an den Rand des Selbstzweifels treibende Spiel mit Nähe und Ferne, wie man es in der Auseinandersetzung mit China wahrscheinlich ausgeprägter erfährt als in derjenigen mit den meisten anderen Kulturen, stellt eine der größten Herausforderungen, aber auch einen der wesentlichen Vorzüge dieses Studiums dar. Es schärft den Blick auf das Forschungsobjekt China genauso wie es das eigene Selbstverständnis und damit auch die Fähigkeit der differenzierten Wahrnehmung der eigenen Umwelt bereichert. Nicht zuletzt ist es die wichtigste Voraussetzung für den neben der eigenen Erfahrung vor allem im Mittelpunkt eines jeden chinawissenschaftlichen Studiums stehenden Umgang mit Texten aus und über China, der neben der unmittelbaren Anschauung und Erfahrung den zweiten, wohl vornehmlichen Schwerpunkt eines jeden chinawissenschaftlichen Studiums darstellt. Wenn das Studium nicht zur Qual werden und zu einem erfolgreichen Abschluss führen soll, bedeutet das also auch die Notwendigkeit für die Lust an der Beschäftigung mit Texten und den Erwerb der dazu notwendigen Kompetenzen. Während des 23 1.2 Eignung und Aneignung Studiums in größerer Menge zu lesende Texte und Medienangebote aus und über China erfordern in jedem Falle gute Deutsch- und Englischkenntnisse sowie möglichst akzeptable Lesefähigkeiten im Französischen. Diese Kenntnisse sollte man während des Studiums um sehr gute Kenntnisse im Modernen Chinesisch, über Grundkenntnisse hinausgehende Fähigkeiten in der Lektüre von Texten in klassischer chinesischer Schriftsprache sowie, das zumindest für einige Beschäftigungsfelder wie etwa diejenigen zur späten Kaiser- und frühen Republikzeit Chinas (19. und frühes 20. Jhd.), um Lesefähigkeiten im Japanischen erweitern. Neben der Lektüre von Texten aus und über China, von denen im nachfolgenden Kapitel noch einige maßgebliche vorgestellt werden, gehört zu einem erfolgreichen Studium aber auch die intensive Auseinandersetzung mit solchen zur Methodik der Betrachtung wie nicht zuletzt auch zum eigenen kulturellen und erkenntnistheoretischen Hintergrund. Ohne deren Kenntnis ist eine Bestimmung der eigenen kulturellen und wissenschaftlichen Position, wie sie die allererste Voraussetzung dafür ist, diejenige des Betrachtungsgegenstandes zu beurteilen, unmöglich. Was aber lässt sich dafür als Vorbereitung empfehlen? Zweifellos ist der Einstieg in eine Regionalwissenschaft wie die Sinologie für einen Studienanfänger, der sich schon während seiner Schulzeit vor allem für Textdisziplinen wie die Sprach- und Literaturfächer, die Philosophie und Religion interessiert hat, leichter als für seinen vor allem naturwissenschaftlich interessierten und vorgebildeten Kommilitonen. Der Unterricht in Deutsch und den Fremdsprachen wird ihm dabei Lesekompetenzen, derjenige in Fächern wie Religion, Ethik oder Philosophie die Ahnung für ein kritisches, das Sein und unsere konventionelle Weltsicht hinterfragendes Denken an die Hand gegeben haben. Auch bedeutet die Kenntnis der wesentlichen Strömungen der europäischen Geistes- und Philosophiegeschichte einschließlich ihrer epistemologischen, ontologischen, aber auch moral- und politikphilosophischen Diskurse eine gute Grundlage für die weitergehende Lektüre auf diesem Gebiet. Sie ist unabdingbar, um auf einer möglichst hohen Bewusstseinsebene diejenigen Vergleiche anzustellen, ohne welche die Beschreibung Chinas nicht möglich sein wird. Um den Studierenden, der sich ja vor allem mit dem Gegenstand China beschäftigen will, nicht mit überbordenden Literaturlisten zu überfrachten, sei an dieser Stelle nur auf eine einführende Reihe von Publikationen verwiesen, die ihn auf hohem Niveau an die jeweiligen Gegenstandsbereiche heranführt. Darüber hinaus geben sie dem an Detailfragen Interessierten genügend Informationen und Hinweise auch für ein weitergehendes Forschen an die Hand. Dabei handelt es sich um die Reihe: The Routledge Companion to… Daraus bereiten insbesondere die inzwischen vorliegenden Bände zur Epistemology, Postmodernism, Race and Ethnicity, Social Theory, Semiotics, Translation Studies, Postcolonial Studies, Sociolinguistics, Critical Theory, Global Economics, Feminism and Postfeminism, Postmodernism sowie Semiotics and Linguistics den Studierenden bereits recht gut auf eine kritische Reflexion der Ausgangsbedingungen seines eigenen Denkens, Forschens und Schreibens vor. Weitere offenbar nicht weniger wichtige Bände, u.a. zur Critical and Cultural Theory, World Literature und Sixteenth Century Philosophy, sind bereits angekündigt. Es gilt bei der Lektüre dieser Bände und von weiterführenden Arbeiten zu ihren Spezialthemen zu begreifen, dass Wissenserwerb eben nicht die bloße Reproduktion von Fakten und das Einprägen von vermeintlichen Tatsachen bedeutet, wie viele Studienanfänger es aus ihren Pisa-gedrillten Gymnasialausbildungen annehmen, ja mit Blick auf möglichst übersichtliche Prüfungsvorbereitungen und eindeutige Fragen-Antworten-Beziehungen gar hoffen mögen. Fakten selbst, darüber muss sich der Chinaforscher noch mehr im Klaren sein als sein sich wissenschaftlich ausschließlich 24 1. Herleitungen innerhalb des eigenen Erkenntnisraumes bewegender Kollege etwa aus der Germanistik oder der Physik, stellen ja nicht eine (selbst aus der Perspektive der Logik unmögliche) Identität der Bezeichnungen von Objekten und der Objekte selbst dar. Als wahrgenommene, gedachte, aufgezeichnete, gespeicherte und kommunizierte Bedeutungen sind sie vielmehr eine begriffliche Erfindung von Geist und Kultur. Sie existieren in Wirklichkeit immer nur in der symbolischen Form ihrer sprachlichen Repräsentation. Eine wissenschaftliche Beobachtung von Fakten kann daher sinnvollerweise auch nur unter Einbeziehung der Bedingungen ihrer Repräsentation stattfinden. Hier ergänzen sich die empirischen Wissenschaften als sich selbst nicht reflektierende Bereitsteller von Fakten und die kritischen Wissenschaften des Geistes als produktive Analytiker dieser Fakten, die sie selbst allerdings nicht generieren, in optimaler Weise. Das bedeutet für den sich kultur- und geisteswissenschaftlich begreifenden Chinaforscher, dass es sich bei seinen Forschungsgegenständen niemals um unwiederlegbare „Fakten“ und „Tatsachen“, sondern in Wirklichkeit immer um Symbole handelt, also um Schrifttexte aus und über China genauso wie um Bilder, Bewegtbilder, Töne und weitere medial aufgezeichnete, gespeicherte und kommunizierte Bedeutungen. Und selbst die persönliche Erfahrung während des Auslandsaufenthalts ist im Zuge ihrer kognitiven Verarbeitung und somit ihrer Einbettung in das sozial geprägte symbolische Korsett der fremden und eigenen Sprache nicht anders als symbolisch zu verstehen. Hier wird die Notwendigkeit von weitreichenden Lektürefähigkeiten und eines kritischen und selbstreflexiven Umgangs mit Texten für eine nachhaltige, ihren Gegenstand nicht auf unreflektierte Datensätze reduzierende Chinaforschung deutlich. Die Symbole, mit denen und über die der Chinaforscher arbeitet, besetzen zwischen den Objekten des Wissens, also einer oder mehreren vermeintlich faktischen Realitäten Chinas, sowie seinen Subjekten, also dem Forscher und seiner Kognition, immer eine Position des Dazwischen. Damit nehmen sie eine kommunikative Funktion ein. Diese kommunikative Funktion indes ist nicht in Form einer neutralen Vermittlungsinstanz zwischen Fakt und Wahrnehmung zu verstehen. Vielmehr nehmen die Instrumente der Kommunikation, also die sprachlichen Symbole wie auch die Kanäle ihrer Übertragung, selbst entscheidenden Einfluss auf die Inhalte und Formen des Wissens, das demnach niemals ein „reines Wissen über“ China sein kann sondern sich immer nur im Wechselspiel all dieser Faktoren untereinander generiert und aktualisiert. Aus diesen Zusammenhängen heraus ist es für den Studienanfänger durchaus nützlich, sich auf der Grundlage einer Kenntnis auch des „westlichen“ philosophischen und wissensoziologischen Diskurses von vorne herein diese Beziehungen bewusst zu machen. Es geht darum, sich von den Erwartungen an ein Faktenwissen, wie es den Schulunterricht noch teilweise geprägt haben mag und auch in vor allem empirisch ausgerichteten Studiengängen teilweise nach wie vor gang und gäbe ist, zu verabschieden. Nur so lässt sich das Studium der Chinawissenschaften mit einer vorurteilsarmen Offenheit gegenüber dem Studiengegenstand und mit einer erkenntniskritischen Haltung gegenüber der eigenen Wahrnehmung und den eigenen Konventionen angehen. Erkenntnis sollte auch im Zeitalter von aus der Wirtschaft entlehnten, sodann politisierten und oftmals weitgehend sinnfrei auf die Akademien übertragenen Schlagwörtern wie „Employability“, „Work Load“ und „Credits“ immer das Ziel eines Studiums und einer jeden wissenschaftlichen Tätigkeit bleiben. Der Weg zu ihr verläuft niemals über die Autorität gegebener „Wahrheiten“ wie von deren selbst ernannten Repräsentanten und über eine unreflektierte Autoritätsgläubigkeit gegenüber 25 1.2 Eignung und Aneignung einem bestehenden Wissenskanon. Vielmehr sind es gerade die kritischen und kreativen Fähigkeiten, die den sinologischen Kultur- und Geisteswissenschaftler, der er auch in Forschungsgebieten wie der Ökonomik oder Soziologie bleiben sollte, die sich inzwischen in ihrem Mainstream eher empirisch begreifen und mathematisch argumentieren, auszeichnen und für einen akademischen wie genauso für einen Chinabezogenen Arbeitsmarkt in Verwaltung und Ökonomie vorbereiten. Dabei geht es darum, sich in ungewohnten Situationen zurechtzufinden, Lösungsmodelle jenseits der - europäischen - Standards und über die „ausgebildeten“, in neuen Kontexten aber oftmals versagenden Strategien der Wirtschaftsschulen und Ausbildungsangebote im Interkulturalitätssektor hinaus zu entwerfen und mit vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten aufwarten zu können. All das sind Eigenschaften, die ein hohes Maß an Selbstständigkeit, auch Selbstbewusstsein wie zugleich auch an der Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion, weniger indes eine unreflektierte Gläubigkeit gegenüber konventionalisierten Weltsichten und Wissenschaftsmodellen voraussetzen. Sie bereits zu einem gewissen Maß in das mehr als viele andere - zusehends verschulte - Studiengänge mit Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsnotwendigkeiten angereicherte Studium der Chinawissenschaften mitzubringen ist daher durchaus von Vorteil und sollte unbedingt im Verlaufe des Studiums selbst - nicht zuletzt auch durch den Auslandsaufenthalt - weiter ausgebaut werden. Im Mittelpunkt steht dabei neben der Frage nach den Inhalten des Wissens, die die Studienanfänger - nicht zuletzt im Hinblick auf Prüfungsvorbereitungen - in aller Regel vor allem interessiert, auch und vor allem diejenige nach den Anordnungen des Wissens. So kommt jeder die oben genannten Eigenschaften beherzigende Studierende, bevor er sich an die Inhalte des Wissens begibt, fast zwangsläufig zu der Frage danach, was unter Wissen überhaupt zu verstehen ist, worin dessen Struktur und Bedingungen bestehen. Sie hat die Studierenden der chinawissenschaftlichen Fächer insofern noch mehr zu interessieren als diejenigen, die sich in ihren Beobachtungen ausschließlich innerhalb des eigenen kulturellen Umfelds und des angestammten Erkenntnisraums bewegen und also auch mit nicht mehr als nur einer Sprache, nämlich der eigenen, und deren konventionalisierten Wirklichkeitsbezügen zu beschäftigen haben. Der Blick in die zunächst einmal als fremd wahrgenommene Kultur nämlich erfordert anders als derjenige auf das eigene epistemische System die Bereitschaft, über die Beobachtung und die Einordnung der in der Beobachtung ja recht eigentlich erst konstruierten - chinesischen - Objekte in den eigenen Erkenntnisraum und dessen Ontologie hinaus auch den umgekehrten Weg einzuschlagen. Das bedeutet die Erweiterung der Beobachtung von der bloßen Objektebene auf diejenige der Erkenntnis des Objektes. Es geht dabei um die Inbeziehungssetzung des in seiner eigenen sozialen und natürlichen Umwelt verorteten und die Anordnungen seines Wissens ausschließlich aus ihr beziehenden Studenten und Forschers zu den epistemologischen und ontologischen Bedingungen sowie den Umweltvoraussetzungen seiner Forschungsobjekte. Dabei begeben sich die in den Texten aus China beobachteten Symbole mit den Symbolen der Texte über China und der eigenen Wahrnehmungswirklichkeit in eine lebendige Kommunikation und Interaktion. Sie stellt jenseits des bloßen Faktenwissens den eigentlichen Gegenstand chinawissenschaftlichen Forschens und die Grundlage für eine jede diesbezügliche Erkenntnis dar, widerspricht allerdings weitgehend den Wissensprozessen, wie sie an den Gymnasien und Oberschulen überwiegend reproduktiv vermittelt werden. Die Beschreibung einer beobachteten und erfahrenen Wirklichkeit von Dingen und Ereignissen, wie sie der Fakten-Empiriker in Übergehung dieser entscheidenden 26 1. Herleitungen Schritte des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses unmittelbar aus seiner Beobachtung und Erfahrung für die Objekte der Beobachtung und Erfahrung schließt, ist zwar die Grundlage allen Wissens. Dabei kann aber gar nicht oft genug wiederholt werden, dass die Begriffe, mit denen man etwa die chinesische Geschichte in Epochen einteilt, Figuren in das Zentrum von deren Ereignissen und Kausalitäten stellt, wirtschaftliche Daten auf eine soziale Wirklichkeit bezieht oder aus literarischen Texten heraus Positionen ihrer Autoren und Aussagen über ihre Lebensumwelt herzieht, für sich stehend nur wenig Aussagekraft besitzen. Fakten sind hinsichtlich der Bedeutungen des von ihnen bezeichneten Gegenstandes aussagearm, ja nahezu aussagefrei. In Wirklichkeit bezeichnen sie nicht einmal eine unumstößliche Wahrheit, wie sie der allgemeine gesellschaftliche Diskurs in Form einer Übereinstimmung zwischen Erfahrung und Erfahrungsobjekt annimmt. So verweist der lateinische Begriff „factum“ nicht auf eine Tatsache, also auf die Einheit von Ding und Bezeichnung, sondern bringt, ohne sich für die Differenz zwischen beiden überhaupt zu interessieren, eine Handlung oder ein Ereignis (und eben kein Ding) zum Ausdruck. Das lässt sich dahingehend weiterdenken, dass es erst das Handeln (des Wahrnehmungssubjektes, also des Forschers) ist, welches Erfahrung in die Bedeutung verwandelt, um der es der Wissenschaft recht eigentlich zu gehen hat. Unter dem Wissen der Wissenschaften versteht sich demnach nicht die begriffliche Abbildung von Ereignissen oder Dingen. Deren - zumeist angelesene - Fähigkeit zeichnet vielmehr das aus, was man hierzulande unter Gelehrsamkeit verstehen würde, also ein enzyklopädisches Wissen, ergänzt durch eine feuilletonistische Aufbereitung desselben. Dagegen handelt es sich bei wissenschaftlichem Wissen um die aktive (handelnde) Verwandlung von Erfahrung in Bedeutung. Sie unterscheidet sich von der allgemein gesellschaftlichen, der politischen und auch der gelehrten Bedeutungsproduktion vor allem dadurch, dass sie sich selbst und ihre ontologischen Grundlagen mit reflektiert und anstelle vermeintlich fixer Dinge die interaktiven Prozesse der Herstellung und Aktualisierung von Bedeutung in ihren Mittelpunkt stellt. Das führt uns noch einmal zurück zu der Frage danach, was unter Wissen überhaupt zu verstehen ist und was die Komponenten dessen sind, was das Wissen von Gesellschaften und Individuen darstellt. Diese Frage wird jenseits des Bereichs der Erkenntnistheorie und Wissenssoziologie merkwürdigerweise selbst in den Wissenschaften, bei denen es ja um nichts anderes als um die Generierung von Wissen geht oder doch gehen sollte, nur allzu selten gestellt. Sie gehört aber in einem Fach wie der Chinawissenschaft, das seine Diskurse im Zwischenraum zwischen mindestens den beiden Wissenssystemen des eigenen und des chinesischen Umfeldes generiert, in das Zentrum der Betrachtung. Wissen, das sind zunächst die für den Studierenden der Chinawissenschaften unabdingbaren Beobachtungen und Erfahrungen, wie sie aus der unmittelbaren Anschauung von Texten, Symbolen und anderen Daten aus und über China zu gewinnen sind. Dabei ist es die Aufgabe der Geistes- und Kulturwissenschaften, die Beziehungen zwischen den Symbolen und ihren Bezugsebenen zu reflektieren, die vermeintlichen Wahrheiten des eigenen wie auch des untersuchten Diskurses sowie deren begriffliche Repräsentationen hinsichtlich ihrer tatsächlichen Herkünfte zu hinterfragen und somit zu neuen Ordnungen und Anordnungen des Wissens selbst zu gelangen. Bei der Problematik der Ordnung und Anordnung von Wissen kommt man zwangsläufig von den begrifflich abgebildeten Fakten und Realitäten zu der Frage nach den sozialen Umweltbedingungen, unter denen das Wissen von Gemeinschaften entsteht und sich wandelt. Es geht dabei genauso um die Frage nach der eigenen 27 1.2 Eignung und Aneignung Kultur, aus deren epistemischen und ontischen Anordnungen heraus wir auf China blicken, wie um diejenige der chinesischen Gemeinschaften, auf die wir durch den Filter zahlreicher symbolischer Verschlüsselungen hindurch blicken. Texte und nicht Fakten, das ist damit klar geworden, sind das tatsächliche Arbeitsmaterial des Chinaforschers. Sie stellen in allen Variationen, wie sie symbolische Repräsentanten der Zeit und des Ortes ihrer jeweiligen Entstehung sind, ihre Bedeutung aber tatsächlich immer erst im Leseakt und unter den Bedingungen der Umwelt des jeweiligen Lesers generieren, die Grundlage einer jeden chinawissenschaftlichen Tätigkeit dar. Dabei ist es unabdingbar, möglichst viele und breite Bereiche betreffende Gegenstände lesend zu erfassen, hinter denen sich die textlich abgebildeten Wirklichkeiten, um die es dem Forschenden geht, zwar nicht erfassen lassen, aber doch zumindest eine Annäherung an sie erreicht werden kann. Es geht darum, sich auch weit über den jeweiligen konkreten Forschungs- und Studiengegenstand hinaus vielfältige Möglichkeiten von dessen Verortung in unterschiedlichste Kontexte zu verschaffen, um den insbesondere in den empirischen Wissenschaften gängigen, aber auch in den Geisteswissenschaften gerne begangenen Fehler von Bedeutungsdualismen zu vermeiden, mit denen man seinem Gegenstand zweifellos nicht gerecht werden könnte. Für eine sinnvolle chinawissenschaftliche Betätigung genügt es also nicht zu wissen, was uns ein Autor mit seinem Text sagen wollte, oder dass die Wirtschaftsdaten in Gesamtchina von dem einen zu dem anderen Jahr die und die Entwicklung vollzogen haben. Das könnte in ersterem Falle ohnehin immer nur vermutetes, im letzteren Falle ein nur durch extreme Reduzierung und Synthetisierung entstandenes und damit kaum weiter nutzbares Wissen sein. Darüber hinaus benötigen wir neben möglichst breiten Wissensbeständen auch die Bereitschaft, hinter diese Symbole zu blicken und uns die Zusammenhänge ihres Entstehens und ihrer unterschiedlichen Deutungs- und Bedeutungsebenen zu erschließen. Außerdem benötigen wir das methodische und erkenntniskritische Handwerkzeug, um diese Fragen aus den zur Verfügung stehenden Texten heraus zu konkretisieren, zu formulieren und in neue, auch den Mainstream und den globalen bzw. nationalen Wissensformalismus infrage stellende Wissensformationen zu übertragen. Im Mittelpunkt des chinawissenschaftlichen Arbeitens kann demnach nicht die Suche nach einer objektiven, universellen und also, aus unserem eigenen kulturellen und wissenschaftlichen Selbstverständnis heraus kolonial beanspruchten „Wahrheit“ stehen. Vielmehr muss es um das Erkennen von Bedeutungen und Bedeutsamkeiten in ihren jeweiligen konkreten und historischen Umweltbedingungen und Wandlungsprozessen gehen, um deren Abstraktion in begriffliche Modelle sowie deren ständige komparative und selbstreflexive Inbeziehungsetzung zu den (vermeintlichen) Gegenständen der Beobachtung und Erfahrung. Nur so kann man schließlich zur Möglichkeit von deren Anwendung auf neue Beobachtungen und Erfahrungen gelangen. Dabei muss Wahrheit (ein Begriff übrigens, den es im Chinesischen genauso wenig gibt wie denjenigen des Seins, der im europäischen Diskurs einer jeden wissenschaftlichen Betrachtung unabdingbar zugrunde liegt) in die Bezüge zurückgeführt werden, die ihr tatsächlich anhaften. Gemeint sind die Bezüge einer sozial-kulturellen Weltkonstitution, die in einem selbstkritischen Diskurs nicht über China sondern entlang Chinas und vor allem auch mit China in ihren zahlreichen Facetten zu beschreiben und immer wieder neu auszuhandeln der wesentliche Anspruch einer jeden Chinaforschung ist und bleiben sollte. Am Ende wird sich dabei immer die Frage danach stellen, wofür der so exponentiell bemühte Begriff „China“ eigentlich einsteht und ob man bei der Vielzahl der darunter zusammengefassten Akteure, Interessen und Agenten nicht besser auf ihn verzichten und 28 1. Herleitungen sich stattdessen eher den darunter nur unzureichend subsumierten Akteuren, Interessen und Agenten in ihren singulären Beschaffenheiten und tatsächlichen lokalen Umwelten zuwenden sollte. 2. Hinleitungen 2.1 Sprache (Andreas Guder) Trotz der recht unterschiedlichen Ausrichtung chinawissenschaftlicher Studiengänge gibt es neben den inhaltlichen Einführungskursen eine Konstante, die an allen Instituten unstrittig ist: die Ausbildung in der Fremdsprache Chinesisch. Während verschiedene Institute je nach Denomination ihrer (meist zwei bis drei) Professuren unterschiedliche Schwerpunkte in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kosmos „China“ setzen, wird „Sprachkompetenz Chinesisch“ an allen Instituten und von allen Autoren dieses Studienführers als zentraler Inhalt des chinawissenschaftlichen Studiums betrachtet. Dieses Lernziel „Chinesisch“ soll in der kurzen folgenden Abhandlung genauer beleuchtet werden. Historische Dimension Bis in die 1980er Jahre war Modernes Chinesisch ein ungeliebtes Stiefkind der Sinologie: Der Schwerpunkt der Sprachausbildung lag in den meisten Instituten auf dem Klassischen resp. Vormodernen Chinesisch, das bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Schriftsprache der chinesischen Welt darstellte. Sinologie verstand sich (und versteht sich mancherorts auch heute noch) als historisch-philologisch orientierte Textwissenschaft, deren Forschungsobjekte primär in Texten bestanden, die zwischen der frühen Zhou-Zeit (um 1000 v.Chr.) und der ausgehenden Kaiserzeit (19. bis Beginn 20. Jahrhundert) entstanden waren. Um sich mit den Texten und historischen Zusammenhängen des alten China angemessen auseinandersetzen zu können, war ausschließlich die Fähigkeit zum lesenden Verstehen (und ggf. Interpretieren) dieser Texte zentrales Ziel der Chinesischausbildung. Zum einen waren China und seine Quellen über Jahrzehnte insbesondere für Westeuropa weithin schwer zugänglich, zum Anderen war geisteswissenschaftliches Arbeiten im China der Republikzeit selbst wenig entwickelt und in den ersten Jahrzehnten der Volksrepublik China, sofern es überhaupt stattfand, stark von der marxistisch-maoistischen Ideologie geprägt. So wurde an manchen Instituten aufgrund der Quellenlage das Lesen japanischsprachiger Sekundärtexte zu China für wichtiger erachtet als der Erwerb der modernen chinesischen Sprache des 20. Jahrhunderts. Zwischen den 1950er und 1970er Jahren war daher vor allem Taiwan der Ort, an dem junge Chinawissenschaftler Zugang zur chinesischen Sprache und den mit ihr verbundenen Wissenschaften in einem chinesischen Umfeld fanden. Mitte der 1970er Jahre reisten die ersten westdeutschen Sinologiestudenten zum Sprachstudium auch nach Peking. Erst mit der Öffnung Chinas ab 1978 begann sich der Studentenstrom und mit ihm zugleich der Schwerpunkt wissenschaftlicher Arbeit allmählich auf das chinesische Kernland zu verlagern. Damit begann das moderne Chinesisch auch für die Sinologie als Wissenschaftssprache Verwendung zu finden. Die Grenze zwischen vormodernem und modernem Chinesisch lässt sich deshalb so exakt ziehen, weil sich im Zuge der (weltweiten) gesellschaftlichen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts in China eine Reformbewegung durchsetzte, die häufig 30 2. Hinleitungen mit der 4. Mai-Bewegung 1919 verbunden wird, tatsächlich jedoch schon früher begann. Diese sogenannte báihuà-Bewegung forderte im Interesse der bis dahin geringen Literalisierung und Bildung der Bevölkerung, dass von nun an alles Geschriebene in der aktuellen, gesprochenen Alltagssprache (báihuà) niedergelegt werden sollte, die sich von der konservativen Schriftsprache vergangener Jahrhunderte deutlich entfernt hatte. Von dieser Reform der chinesischen Schriftsprache waren Syntax und Wortwahl, nicht aber das chinesische Schriftsystem selbst betroffen. Die Baihua- Bewegung führte innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer vollkommenen Neugestaltung der chinesischen Schriftkultur. Während Texte der Republikzeit (1911-1949) noch gewisse Hybridfomen auf der Schwelle zwischen traditionellem und modernem Chinesisch aufweisen, sind insbesondere im Schrifttum der VR China seit 1949 nur noch einzelne Phrasen der klassischen Sprache zu finden. So kam dem Vormodernen Chinesisch im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr nur noch eine Rolle zu, die sich in mancher Hinsicht mit der der lateinischen Schriftsprache in der europäischen Kultur- und Bildungsgeschichte vergleichen lässt. Entsprechend gelten auch heute noch in wie außerhalb Chinas Kenntnisse des klassischen Chinesisch als Zugang zur autochthonen chinesischen Kultur. Der Kalte Krieg und die Isolation Chinas führten dazu, dass das Moderne Chinesisch des 20. Jahrhunderts erst nach der Kulturrevolution (1966-1976) zu einem ernstzunehmenden Lernziel in den Chinawissenschaften wurde. Erst in den 1980er Jahren wurde Chinesisch in der Wahrnehmung des Westens von einer exotischen, nur einem kleinen Kreis zugänglichen Literatursprache zu einer modernen Weltsprache, mittels derer man mit dem erneut ins globale Bewusstsein getretenen riesigen China kommunizieren konnte. Im Zuge der damaligen Aufbruchsstimmung gründete sich 1984 unter der Ägide von Peter Kupfer (Germersheim) und Helmut Martin (Bochum) mit Unterstützung des Bochumer Sprachlehrforschers Friedhelm Denninghaus die Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Chinesischunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland, aus der wenige Jahre später der Fachverband Chinesisch (FaCh) e.V. hervorging, dessen Ziel bis heute in der Professionalisierung des Chinesischunterrichts in allen Bildungsbereichen besteht. Seitdem neben das einst zentrale Lernziel der Lese- und Verstehensfähigkeit klassischer chinesischer Texte die moderne chinesische Sprache getreten ist, kämpft nun an manchen Instituten das Vormoderne Chinesisch als Zugang zu allen historisch relevanten Texten aus vier Jahrtausenden seinerseits ums Überleben, während „Modernes Chinesisch“ überall zum Standard einer chinawissenschaftlichen Ausbildung gehört. Die Sprachen Chinas Bei der an chinawissenschaftlichen Instituten vermittelten Form des Chinesischen handelt es sich grundsätzlich um diejenige Variante, die in der VR China als „pŭtōnghuà“ ( 普通话 , „Allgemeinsprache“), in Taiwan als „Táiwān Guóyŭ“ ( 台湾国语 ) als Standardsprache (oft auch als „Mandarin Chinese“ bezeichnet) etabliert wurde. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Varietäten des Chinesischen sind minimal, lediglich in der Klangfärbung und im Wortschatz finden sich gelegentlich Unterschiede (vielleicht vergleichbar mit dem Unterschied zwischen dem Deutsch, das in Wien vs. Berlin von Einheimischen gesprochen wird). Diese Form des Chinesischen, die ursprünglich nur nördlich des Yangzi-Flusses gesprochen wurde, ist heute zur weithin verständlichen Varietät im chinesischen Kulturraum geworden. 31 2.1 Sprache Abgesehen von der Tatsache, dass auch in Nordchina jede Region ein anders gefärbtes „Hochchinesisch“ spricht, kann nicht genügend darauf hingewiesen werden, dass im südchinesischen Raum, namentlich in den Provinzen Guangdong, Jiangxi, Fujian und Zhejiang und in einigen chinesischen Communities in Südostasien, Europa und Nordamerika chinesische Regionalsprachen (Yue-Chinesisch / Kantonesisch, Min- Chinesisch / Hokkien, Hakka, Gan-Chinesisch, Wu-Chinesisch, jede mit weit über 50 Millionen Sprechern) den dortigen chinesischen Alltag beherrschen. Diese chinesischen Sprachen (besser Sprachgruppen) unterscheiden sich voneinander und vom Hochchinesischen so stark, dass ihre Sprecher einander kaum verstehen können. Manche vergleichen die Distanz zwischen diesen Regionalsprachen mit denen romanischer Sprachen untereinander (Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Rumänisch), es gibt jedoch durchaus Argumente, die dafür sprechen, die Distanz zwischen den südchinesischen Sprachen als noch größer einzuschätzen. Innerhalb der VR China ist allerdings inzwischen auch in diesen Regionen Hochchinesisch insbesondere im akademischen Umfeld zur lingua franca geworden, so dass auch dort Sprachunterricht, Verständigung und Kommunikation auf Hochchinesisch im Allgemeinen kein Problem mehr darstellen. Während in der VR China vor allem die audiovisuellen Massenmedien die Verbreitung der Hochsprache in den letzten Jahrzehnten befördert haben, ist in der Sonderverwaltungszone Hongkong das Kantonesische in seiner dortigen Form sehr dominant geblieben. Es muss offen bleiben, ob es der Pekinger Regierung gelingen wird, diese nach wie vor auch weltweit verbreitete Varietät des Chinesischen weiter zurückzudrängen. Auch auf Taiwan lässt sich in jüngerer Zeit eine Erstarkung des dortigen Minnanhua resp. Hokkien, einer Form des Min-Chinesischen, beobachten. Im deutschsprachigen Raum gibt es Kantonesischkurse an der LMU München, ansonsten werden diese Sprachen derzeit an keinem Institut gelehrt. Da alle genannten Varietäten des Chinesischen jedoch über keine kodifizierte Schriftsprache verfügen, werden sie in China gerne als Dialekte, nicht als Sprachen bezeichnet. Im Westen und in den Grenzregionen des Vielvölkerstaats Volksrepublik China werden neben diesen Varietäten des Chinesischen außerdem zahlreiche Sprachen anderer Sprachfamilien gesprochen, die größten davon sind Uigurisch, Mongolisch, Tibetisch, Zhuang, daneben Yi, Kasachisch, Russisch, Koreanisch, Dai und eine Vielzahl weiterer Sprachen. Im deutschsprachigen Raum wird Mongolisch in Bonn, Leipzig, München und Bern, Tibetisch in Bonn, Marburg, München und Bern gelehrt, Uigurisch ist als Turksprache in der Turkologie oder den Zentralasienwissenschaften angesiedelt. Gesprochenes Chinesisch Sprache als Medium zwischenmenschlicher Kommunikation ist zunächst einmal flüchtig; bis heute hat nicht jede Sprache eine standardisierte Verschriftung erfahren. Erst die Verschriftung einer Sprache stellt den entscheidenden Schritt zu deren Standardisierung und Normierung dar und ermöglicht eine systematische Anhäufung komplexer Wissenswelten. Während der traditionell-philologische Ansatz des Chinesischunterrichts beim Schriftzeichen begann und beginnt, versucht die moderne Fremdsprachendidaktik weltweit, Sprache primär als interpersonales Kommunikationsmedium zu betrachten, bei dessen Vermittlung die aktive mündliche Sprachbeherrschung im Mittelpunkt steht. Mit diesem Lernziel haben die akademischen Chinesischkurse ihre Lernziele gegenüber der traditionellen Sinologie enorm ausgeweitet. 32 2. Hinleitungen War früher das Lernziel, chinesische Texte zu verstehen und zu übersetzen, ist es heute - analog zum Fremdsprachenunterricht in anderen Sprachen - in allen Chinesischkursen üblich, neben der chinesischen Schrift (siehe unten) auch das Hörverstehen, eine korrekte Aussprache und die Fähigkeit zur mündlichen Interaktion mit Muttersprachlern zu trainieren. Für diese mündlichen Chinesischkompetenzen ist in der Grundstufe das Beherrschen der chinesischen Schrift nicht zwingend erforderlich; spätestens jedoch im Kontext einer beruflichen Anwendung (wie z.B. bei Diskussionen unter Fachleuten über komplexere Sachverhalte) lässt sich - wie in allen Schrift verwendenden Gesellschaften - nicht mehr ohne eine zumindest passive Beherrschung von Schriftlichkeit auskommen. Geschriebenes Chinesisch Die chinesische Schrift lässt sich nicht wie die Schriftsysteme des Abendlands auf den vorderasiatisch-indischen Kulturraum zurückführen. Vielmehr ist sie das einzige heute noch existente Schriftsystem, das von diesen vollkommen unabhängig vor über 4.000 Jahren entstanden ist. Im Unterschied zu allen übrigen in Gebrauch befindlichen Schriften der Welt ist sie nicht primär phonographisch (laut-abbildend), sondern besteht aus Schriftzeichen (Sinographemen, 漢字 / 汉字 , chin. Hànzì, jap. Kanji), die in der überwiegenden Mehrheit zugleich sowohl lautliche (phonetische) als auch bedeutungstragende (semantische) Subgrapheme enthalten. Dieses Schriftentwicklungsstadium lässt sich übrigens auch für die anderen drei autochthonen Schriftsysteme der Welt, die ägyptischen Hieroglyphen, die babylonische Keilschrift und die Mayaschrift nachweisen. Vor allem die semantischen Elemente (Signifika) der chinesischen Schrift stellen erfahrungsgemäß den enormen Reiz des Chinesischlernens dar, da sich in vielen Schriftzeichen Konzepte einer archaischen Gesellschaft wiederfinden, die die Jahrtausende überdauert haben. Die chinesische Schrift ist prägend für den gesamten ostasiatischen Kulturraum, wobei sie in Japan, Korea und Vietnam (wie auch in untergegangenen peripheren Staaten vor allem des 9. bis 13. Jahrhunderts) eigene, den jeweiligen Sprachen angepasste Veränderungen und Modifikationen durchlaufen hat. Während in Korea und Vietnam die chinesische Schrift heute fast vollkommen aus dem Alltag verschwunden ist, gehören chinesische Schriftzeichen (Kanji) in Japan nach wie vor zum Schriftbild. Die durch sie transportierten Konzepte stehen in engem Bezug zu deren chinesischer Bedeutung. Im Gegenzug wanderten nach der frühen Öffnung Japans gegenüber dem Westen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche westliche Begrifflichkeiten über ihre japanische Kanji-Verschriftung nach China ein. Das chinesische Schriftsystem besteht also nicht wie alle anderen Schriften der Welt aus einem Inventar von weniger als 100 Graphemen, sondern aus angeblich über 50.000 verschiedenen Zeichen, die sich allerdings bei genauer Betrachtung erheblich reduzieren. Die weltweite Leseforschung geht davon aus, dass flüssiges Lesen von Texten erst möglich ist, wenn dem Leser mindestens 97%-98% des Vokabulars vertraut sind - in allen Sprachen ist dies ein Wortschatz im Umfang von etwa 5.000 Wörtern (Laufer, B. / Nation, P. 1995). Obwohl fast jedes Schriftzeichen eine (oder auch mehrere) Bedeutung(en) in sich trägt, sind Wortschatz und Schriftzeichenschatz des Chinesischen nicht identisch, da die Mehrheit der Wörter des modernen Chinesisch aus jeweils zwei Silben, d.h. auch zwei Schriftzeichen besteht. Verschiedene Frequenzuntersuchungen stellen für das Chinesische fest, dass der Wert von 5.000 Wörtern (97-98% eines Textes) bereits mit 33 2.1 Sprache etwa 1.600 (Alltagstexte) bis 2.000 (Fachtexte) verschiedenen Schriftzeichen erreicht wird. In dieser Größenordnung liegt ein wichtiges Lernziel für Lesekompetenz Chinesisch, das erfahrungsgemäß etwa im vierten Semester erreicht werden kann und sollte. Schreibkompetenz im Chinesischen ist ebenfalls ein Themenkomplex, der gegenüber europäischen Fremdprachen gesonderte Betrachtung verdient. Während man in der Grundstufe unter „Schreiben“ vor allem das korrekte Schreiben einzelner Schriftzeichen von Hand versteht (dabei sind Strichrichtung und Strichfolgen zu beachten), sollte Schreibkompetenz in der Mittelstufe selbstverständlich aus dem Abfassen von Texten verschiedender Textsorten (E-Mails, Zusammenfassungen, Notizen, Argumentationen etc.) bestehen - eine Kompetenz, die aus rein zeitökonomischen Gründen häufig vernachlässigt wird. Hinzu kommt das Problem, dass sich das Schreiben chinesischer Texte mit digitalen Hilfsmitteln deutlich einfacher gestaltet (da hierfür nur passive Schriftzeichenkenntnisse erforderlich sind), jedoch kaum ein Institut über die technische Ausstattung verfügt, Schreibkompetenz mit Hilfe von digitalen Geräten zu vermitteln und zu prüfen. Verschriftungsformen des Chinesischen In den 1960er Jahren wurde - wiederum im Interesse einer Vereinfachung des Schriftsystems und einer rascheren Literarisierung der Bevölkerung - in der VR China eine Schriftzeichenreform durchgeführt, weshalb man heute meist von „Kurzzeichen“ (VR China) und „traditionellen Zeichen“ resp. „Langzeichen“ (Taiwan, Hongkong, viele Überseechinesen) spricht. In Prozentzahlen angegeben, wurden bei dieser Schriftreform tatsächlich etwa 40% der häufigsten 7.000 chinesischen Schriftzeichen in ihrer Gestalt verändert (meist durch Verringerung der Strichzahl wie in 飽 zu 饱 oder der Streichung von Subgraphemen wie in 號 zu 号 ). Auch wurden zahlreiche gleich oder ähnlich lautende Schriftzeichen mit gleichen, aber auch mit verschiedenen Bedeutungskonzepten zu einem Schriftzeichen zusammengefasst und Variantenschreibungen eliminiert. Viele der Kürzungen sind sehr regelhaft, so dass man nach Verinnerlichung einiger grundlegender Kürzungsregeln noch bei etwa 20% des Schriftzeicheninventars Differenzen feststellen muss. So existieren heute weltweit zwei Schriftsysteme des Chinesischen; derzeit werden in fast allen Lehrinstitutionen zunächst die Kurzzeichen als aktiv zu beherrschende Standardschrift unterrichtet, obwohl unstrittig ist, dass jedwede Arbeit an authentischen Dokumenten, die älter als 50 Jahre sind, die (passive) Kenntnis der traditionellen Schriftzeichen voraussetzt. Je nach inhaltlicher Schwerpunktsetzung des chinawissenschaftlichen Instituts wird dem Erwerb der traditionellen Schriftzeichen entsprechend Gewicht beigemessen. Während es in den vergangenen Jahrhunderten unzählige Versuche gab, für das Chinesische eine Lautschrift zu entwickeln, hat sich seit den 1980er Jahren als Verschriftung des Chinesischen mit lateinischen Buchstaben weltweit das Transkriptionssystem „Hanyu Pinyin“ durchgesetzt. „Hanyu Pinyin“ stellt auch im Lernprozess Chinesisch für Europäer ein unverzichtbares Hilfsmittel beim Erwerb der chinesischen Aussprache und der schnellen Visualisierung von gesprochenem Wortschatz oder grammatischen Strukturen dar. Auch Indices chinesischer Quellen sind heute häufig nach dem Pinyin-Alphabet sortiert, und ein großer Teil chinesischer Muttersprachler benutzt unsere alphabetische Tastatur, um mittels Hanyu-Pinyin Chinesisch an digitalen Geräten zu schreiben. 34 2. Hinleitungen Phonetik Ein großer Teil der Lautungen chinesischer Sprache sind für das ungeübte Ohr nicht zu unterscheiden, weshalb Phonetik, Aussprache und Hörverstehen einen wichtigen Teil des Einstiegs in die chinesische Sprache umfassen. Die sorgfältige Differenzierung zwischen verschiedenen Affrikaten (vulgo „Zischlauten“) einerseits und den zahlreichen Vokalen andererseits sowie die vier unterschiedlichen Tonkurven von Sprechsilben machen das gesprochene Chinesisch zu einer Herausforderung an Hörverstehen und Sprechfertigkeit. Ohne die korrekte Beherrschung des phonetischen Inventars, die unbedingt auch mündlich geprüft werden muss, ist keine erfolgreiche mündliche Kommunikation und Interaktion möglich. Grammatik und Lexik Die angeblich „einfache“ Grammatik wird vor allem von chinesischer Seite gerne als Argument für die leichte Erlernbarkeit der chinesischen Sprache ins Feld geführt. Tatsächlich verfügt das Chinesische über keine Flexionsmorphologien wie Kasus, Numerus oder ähnliche sprachliche Merkmale, die allen indoeuropäischen Sprachen gemeinsam sind. Das bedeutet aber auch, dass Wortarten nicht randscharf voneinander abgegrenzt werden können (nominale vs. verbale, verbale vs. präpositionale Verwendung desselben Wortes). Außerdem stellt die vollkommen fremde Lexik große Anforderungen an das Lernen von Wortschatz, da sich für den europäischen Lerner kein Begriff aus anderen vertrauten Sprachen wie Englisch oder Latein ableiten lässt. Der Einfluss europäischer Sprachwissenschaft hat dazu geführt, dass die aus China stammenden Chinesischlehrwerke primär einem grammatischen System zu folgen versuchen. Sie orientieren sich im Grunde alle an dem aus der traditionellen europäischen Fremdsprachendidaktik der 1950er Jahre stammenden Prinzip „Das grammatische Phänomen bestimmt den Lektionstext“. Die weitaus komplexeren Lernkompetenzen „Wortschatz“ und „Schriftzeichen“, ganz zu schweigen von „Interaktion“, werden bis heute diesem Prinzip untergeordnet, und es ist viel Kreativität und Eigeninitiative bei der Unterrichtsgestaltung erforderlich, um im Einklang mit einem grammatikzentrierten Lehrwerk, das immer noch den roten Faden des Chinesischunterrichts darstellt, auch diese Kompetenzen entsprechend zu entwickeln. Mündlichkeit und Schriftlichkeit Die Chinesischdidaktik hat sich seit den 1990er Jahren, der kommunikativen Wende im Fremdsprachenunterricht folgend, verstärkt dem gesprochenen Chinesisch zugewandt, wobei sie gleichzeitig an der Vermittlung der chinesischen Schrift festhält. Das führt in Kombination mit der oben beschriebenen Lehrwerkgestaltung oft dazu, dass das Lesen von Dialogen im Mittelpunkt der Lehrwerke zu stehen scheint, obwohl das Lesenkönnen von Dialogen eine Sprachkompetenz darstellt, die kaum jemand anstreben dürfte. Die Orientierung an der Mündlichkeit im ersten (und häufig auch zweiten) Studienjahr kann dazu führen, dass die im fortgeschrittenem Studium notwendige Konfrontation mit authentischen schriftsprachlichen chinesischen Dokumenten einen kleinen Kulturschock darstellt: Moderne chinesische Schriftsprache (wie auch deutsche Schriftsprache) arbeitet mit einem deutlich anderen Wortschatz (und Zeichenschatz) als die Alltagssprache. Auch die Überwindung dieses Widerspruchs gehört zu den anspruchsvollen Aufgaben professionellen Chinesischunterrichts. 35 2.1 Sprache Im Grunde hat der Lerner des modernen Chinesisch heute zwei Sprachen zu lernen: Gesprochenes Chinesisch (mündlich) und geschriebenes Chinesisch (schriftlich), mit den jeweils diesen Registern eigenen sprachlichen Phänomenen. Gleichzeitig sollte sich der künftige Chinawissenschaftler mit grundlegenden Problemen der Übersetzungswissenschaft beschäftigen. Schließlich besteht eine seiner akademischen Aufgaben darin, chinesische Wissenswelten und chinesische Texte einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wobei man rasch feststellen wird, dass eine „wörtliche Übersetzung“ aus dem Chinesischen nicht selten unmöglich ist. Strategien hierzu können nur von Dozenten vermittelt werden, die selbst mit diesen Fragestellungen vertraut und in Ausgangs- und Zielsprache gleichermaßen kompetent sind. Lernziel(e) Chinesisch Die Modularisierung und Kompetenzorientierung im Rahmen der Bologna-Reformen hat dazu geführt, dass der gewichtige Block „Chinesischunterricht“ im Rahmen des Studiums eine sorgfältigere Betrachtung als bisher erforderte. Die Definition von Inhalten und Lernzielen einzelner Sprachmodule bei gleichzeitig geforderter Orientierung an den Sprachkompetenzbeschreibungen des „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Fremdsprachen“ führte zu einer dringend notwendigen Reflexion über „Chinesischkompetenz“, die freilich bis heute noch nicht an alle chinawissenschaftlichen Institute durchgedrungen ist. Fremdsprachliche Kompetenz bedeutet heute neben Lesekompetenz auch die Fähigkeit zur mündlichen und schriftlichen Kommunikation. Hörverstehen, Ausdrucksfähigkeit im Gespräch, Präsentationen, das Überfliegen von Texten oder das Verfassen von Korrespondenz sind alles Zielsetzungen modernen Fremdsprachenunterrichts, mit denen sich der traditionell philologische Chinesischunterricht nicht auseinanderzusetzen hatte. Diese Diversifizierung der Lernziele bei gleichzeitiger Reduzierung des Chinesischunterrichts seit den Bologna- Reformen führt zwangsläufig dazu, dass im Rahmen eines dreijährigen Studiums, bei dem die chinesische Sprache immer nur 25% bis maximal 50% des Ausbildungsumfangs umfasst, nicht alle Kompetenzen gleichermaßen gefördert werden können. Unter Absolventen der Chinawissenschaften ist wohl auch heute immer noch die Lesekompetenz am weitesten entwickelt, gefolgt von der mündlichen Kommunikationskompetenz, während, wie bereits ausgeführt, die Fähigkeit zur aktiven schriftlichen Textproduktion deutlich dahinter zurückbleibt. (vgl. Guder 2005) Eine solche schwach ausgeprägte Schreibkompetenz trotz vergleichsweise hoher Lesekompetenz lässt sich allerdings für jede in akademisch-institutionellem Rahmen vermittelte Fremdsprache beobachten. Der Fachverband Chinesisch hat bereits 2005 darauf hingewiesen, dass für eine umfassende Chinesischkompetenz, die in etwa dem Niveau B2 des Europäischen Referenzrahmens entspricht (Fähigkeit, die Sprache beruflich und akademisch mündlich und schriftlich angemessen in der Zielkultur einzusetzen), mindestens 1.200 bis 1.600 Unterrichtsstunden erforderlich seien. Da kein Institut über die entsprechende Lehrkapazität verfügt (den meisten Instituten stehen trotz großer Nachfrage nur eine oder zwei Vollzeitstellen für die Sprachvermittlung zur Verfügung), hat man an vielen Instituten begonnen, ein Semester Chinaaufenthalt in das BA-Studium zu integrieren. Durch ein solches Auslandssemester an einer chinesischen Hochschule wird einerseits mittels der von lokalen Partnerhochschulen angebotenen sehr intensiven Sprachkurse (bis zu 20 Stunden pro Woche) die aktive und passive Sprachkompetenz deutlich erhöht, andererseits führt der unmittelbare Kontakt mit dem Studiengegenstand „China“ erfahrungsgemäß zu einer inten- 36 2. Hinleitungen siven Auseinandersetzung mit der Relativität eigener Wahrnehmungen und kultureller Prägungen gegenüber chinesischen Lebenswirklichkeiten. Meine Einschätzungen zu erreichbaren Sprachkompetenzen Chinesisch im Rahmen des BA-Studiums: Die Lesekompetenz erreicht im Rahmen eines chinawissenschaftlichen BA-Studiums meist Mittelstufenniveau (B1-B2). Mündlich-kommunikative Chinesischkenntnisse bleiben ohne einen mehrmonatigen Chinaaufenthalt meist in der Grundstufe (Niveau A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens vergleichbar) verhaftet. Lediglich sehr begabten Lernern gelingt es, auch außerhalb eines chinesischsprachigen Umfelds ein B1 vergleichbares Niveau zu erreichen. Wird jedoch im Rahmen des Studiums ein Intensivkurs in China absolviert (ein oder sogar zwei Semester), werden auch auf mündlicher Ebene Mittelstufenkenntnisse erreicht, während sich die Lesekompetenz selbstverständlich ebenfalls nochmals signifikant verbessert. Absolventen von BA-Studiengängen sollte es gelingen, in der offiziellen Chinesischprüfung der VR China HSK (Hanyu Shuiping Kaoshi) das Niveau 5, im taiwanischen TOCFL (Test of Chinese as a Foreign language) Niveau 3 zu erreichen (entspricht in etwa Niveau B1 des GER). Das Erreichen von HSK 6 bzw. TOCFL 4 (Niveau B2 des GER) ist bereits als herausragende Leistung zu betrachten (vgl. entsprechende Dokumente des Fachverbands Chinesisch e.V.). Klassisches/ Vormodernes Chinesisch Wie bereits dargestellt, stellt die Auseinandersetzung mit der chinesischen Schriftsprache der Kaiserzeit das Kernelement der traditionellen Sinologie dar. Wenngleich jeder historische Text epochentypische und regionaltypische Eigenheiten aufweist, lässt sich vereinfachend „Klassisches Chinesisch“ (guwen; bis zum Ende der Han-Zeit ca. 200 nach Chr.) von Vormodernem Chinesisch (wenyan; bis ins 20. Jahrhundert) abgrenzen. Eine fundierte chinawissenschaftliche Ausbildung ermöglicht Studierenden die Lektüre und den didaktisierten Zugang zu derartigen Texten aus verschiedenen Epochen der chinesischen Kulturgeschichte (z.B. konfuzianische, daoistische, buddhistische, lyrische und historiographische Texte) und sensibilisiert auf diese Weise für kulturhistorische Zusammenhänge und Diskurse innerhalb chinesischer Kontextualisierungen, ohne die eine chinawissenschaftliche Ausbildung der Tiefe und Komplexität des chinesischen Kosmos nicht gerecht werden kann. Gefahr der Marginalisierung Das Bemühen, BA-Studierenden neben inhaltlichen Kursen zu Geschichte, Gesellschaft, Politik, Literatur und anderen Schwerpunkten in sprachlicher Hinsicht außerdem a) Kommunikationsfähigkeit in modernem Chinesisch, b) Lesefähigkeit für moderne chinesische akademische Texte und c) Lesefähigkeit für historische Texte verschiedener Jahrtausende zu ermöglichen, erscheint im Rahmen von drei Jahren einschließlich Nebenfach und geforderter Praktikumsphase kaum durchführbar. Auch gelingt es an den Hochschulen nicht, den Sprachunterricht Chinesisch (modern und klassisch) personell in einer Weise auszustatten, die der Nachfrage, Komplexität der Materie und den angestrebten Zielsetzungen entspricht. So bleibt durch das Diktum dreijähriger Studiengänge häufig eines dieser drei Lehrziele der Sprachausbildung stark eingeschränkt. Vierjährige BA-Studiengänge, die ein Studienjahr in China einschließen, können diese Problematik teilweise abmildern. 37 2.1 Sprache Zwar wird das Studium der chinesischen Sprache als Kern der chinawissenschaftlichen Ausbildung betrachtet, jedoch ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sprache selbst und ihrer Vermittlung (Fachdidaktik) ein disziplinäres Stiefkind der Chinawissenschaften geblieben. Ganz abgesehen davon, dass es außer in Göttingen und Mainz/ Germersheim keinen Forschungsschwerpunkt zur chinesischen Sprachwissenschaft gibt (in Germersheim unter translationswissenschaftlichen Aspekten, in Göttingen unter sprachdidaktischen Aspekten), sind Arbeiten zur modernen chinesischen Sprache und ihrer Vermittlung an anderen Instituten kein Forschungsthema. Obwohl außerdem die Nachfrage nach Chinesischkursen jeseits der Chinawissenschaften stark zugenommen hat, ist es an den meisten Universitäten immer noch nicht möglich, als Studierender eines natur-, wirtschafts- oder ingenieurwissenschaftlichen Faches Chinesisch als 30-LP-Zusatzqualifikation (Grundstufe) oder sogar als 60-LP-Fach (Mittelstufe) zu belegen, da die Versäulung der Fakultäten einerseits und Hochschul-Sprachenzentren andererseits dies verhindert. Viele der genannten Probleme hängen meines Erachtens damit zusammen, dass die Weltsprache Chinesisch sich in Europa immer noch dem Diktat eines eurozentrischen Blicks auf Fremdsprachenvermittlung beugen muss: Sprachenlernen gilt hierzulande nicht als akademische Kernkompetenz, und mehr als vier Semesterwochenstunden bzw. 15 Leistungspunkte sind für das Lernen einer Fremdsprache nicht vorgesehen. Dieses in unserem Bildungssystem vielfach verankerte europäische Konzept von „Fremdsprache“ dominiert auch den Chinesischunterricht. So wird wohl noch einige Zeit ins Land gehen, bis dem Erlernen einer „distanten Fremdsprache“ wie dem Chinesischen auch bildungs- und hochschulpolitisch das Gewicht zukommt, das ihm in seiner Komplexität zusteht. Bis dahin werden es - trotz der genannten Schwierigkeiten - in Deutschland und Europa weiterhin primär die chinawissenschaftlichen Studiengänge sein, an denen Chinesisch in gewinnbringender und kompetenzorientierter Form gelehrt und gelernt werden kann. Zitierte Literatur Europarat / Rat für kulturelle Zusammenarbeit (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Strasbourg. Laufer, B., Nation, P. (1995) : „Vocabulary size and use: Lexical richness in L2 written production“. In: Applied Linguistics 16/ 1995: S. 307-322. 38 2. Hinleitungen 2.2 Wissen (Stefan Kramer) Aus der Lektüre des einleitenden Kapitels sollte bereits nachvollziehbar geworden sein, was jenseits der Gelehrsamkeit unter einem wissenschaftlich nutzbaren Wissen grundsätzlich zu verstehen ist und wie und mit welchem Zweck sich ein chinawissenschaftliches Wissen zusammensetzt. Die sprachlichen und methodischen sowie selbstreflexiven Voraussetzungen zu seinem Erwerb sind dabei genauso vorgestellt worden wie Möglichkeiten seiner Anwendung in der Chinaforschung. Noch offen ist dabei allerdings die gerade dem Studienanfänger am Herzen liegende Frage danach geblieben, worin denn nun das Basiswissen aller chinawissenschaftlichen Forschung tatsächlich besteht. Zudem ist nach den Quellen zu fragen, die der Studieneinsteiger zu konsultieren hat, um sich dieses Basiswissen anzueignen. Das Ziel dieses Wissenserwerbs besteht darin, Abschlussprüfungen zu überstehen und zu bestehen, sich für ein weiterführendes Studium, dessen mögliche Inhalte im dritten Kapitel dieses Bandes, „Weiterleitungen“ vorgestellt werden, zu qualifizieren und auf dem Arbeitsmarkt als die Chinaexpertin und der Chinaexperte zu bestehen, zu denen die Politik seit der Bolognareform ja schon die Bachelor-Absolventen nach oftmals nur dreijährigem Studium erhoben hat. Und es besteht nicht zuletzt darin, einen persönlichen Gewinn aus dem Studium zu ziehen, der auch jenseits des zu ergreifenden Berufs zu einer Bereicherung des Lebens und der Möglichkeiten seiner Gestaltung führen soll - das mit häufig nicht geringerem Nutzen auch für die Gesellschaft, als ihn die erfolgreiche Berufsausübung schon allein für sich hervorzubringen imstande ist. Darüber, worin das Basiswissen eines sinologischen oder chinawissenschaftlichen Studiums besteht, scheiden sich nach wie vor die Geister. Nachdem dieses Fach in seiner philologischen Frühphase noch recht überschaubare Interessen und Gegenstände entwickelt hatte, hat insbesondere seine disziplinäre Ausdifferenzierung seit den 1970er Jahren zu einer kaum noch überschaubaren Vielfalt an Paradigmen, Themenfeldern, Methoden und Perspektiven geführt, die einen stabilen Wissensstandard mehr und mehr unmöglich gemacht hat. Anders als die methodisch und von ihren Gegenständen her enger begrenzten und schärfer differenzierten Fächer, so z.B. die europäischen Literaturwissenschaften, die Soziologie oder die Ökonomik, haben die Chinawissenschaften jenseits des gemeinsamen Ziels einer möglichst umfänglichen Sprachausbildung daher keinen einheitlichen Kanon von Methoden und Modellen oder gar standardisierten Lehrbuchsammlungen entwickelt, anhand derer die Studierenden sich durch ihr grundständiges Studium hangeln können. Und selbst bei der Sprachausbildung wird man zwischen den unterschiedlichen Ausbildungsstätten und Lehrenden hart umkämpfte Fronten entlang der Gewichtung von klassischer Schriftsprache gegenüber moderner Umgangssprache und -schrift, Kurz- oder Langzeichen etc. vorfinden, deren Beachtung einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt bei der Wahl von Studiengang und Studienort darstellt. Allerdings ist die Erkenntnis einer Unmöglichkeit der Benennung von Wissensgrundlagen, mit der dieses Kapitel dann an dieser Stelle abgeschlossen werden könnte, unbefriedigend. Daher soll hier dennoch der Versuch einer Systematisierung der Anordnungen und Bereiche des im B.A.-Studium zu erwerbenden Wissens unternommen werden. Dieser Versuch versteht sich nicht als abzuarbeitende Liste und hat noch weniger den Anspruch auf Vollständigkeit, dies weder hinsichtlich der Titel und Themen noch auch nur in Bezug auf die Themenfelder und Paradigmen. Vielmehr ist er als ein Leitfaden für die Generierung von Eckdaten und Rahmungen zu begreifen, mit dessen Hilfe sich der Studierende selbst die notwendigen Wissensbestände beschaffen und, was noch wichtiger ist, sich 39 2.2 Wissen mehr und mehr in die Lage versetzen kann, die notwendigen Entscheidungen über die Relevanz von Quellen für seine eigene Forschung kompetent selbst zu treffen. Den Ausgangspunkt der Wissensgenerierung stellt die im Kapitel zu „Eignung und Aneignung“ beschriebene Erkenntnis dar, dass Wissen nicht dasselbe wie Information und die menschliche Kognition in diesem Sinne nicht in der Weise als ein Container zu verstehen ist, der sich mit einer zu Wissen addierenden Menge an Informationen auffüllen ließe - so lange, bis er eben gefüllt, das Wissen ausgeschöpft ist. Nicht anders verhält es sich im Falle der Wissenschaft. Wissen versteht sich hier wie dort in Wirklichkeit vielmehr als ein Erkenntnissystem, das sich aus zahlreichen Faktoren zusammensetzt. Der Ausgangspunkt einer Feinführung der chinawissenschaftlichen Wissensanordnungen muss demnach in der Beschreibung der spezifischen Interessen und Umwelten bestehen, in deren Rahmungen sie ihre Erkenntnissysteme entwickelt, auf welche sie ihre Erkenntnisse bezieht und innerhalb derer sie in einer Weise nützlich wird, dass die Öffentlichkeit dazu bewogen wird, ihr zumindest eine grundlegende Finanzierung zukommen zu lassen. Das Interesse an dem Begriff „China“ lässt sich in der deutschsprachigen und auf dem zentraleuropäischen Kontinent angesiedelten Forschung grundsätzlich entlang der im Kapitel „Weiterleitungen“ dieses Bandes prämierten Fächer ausdifferenzieren. Dabei wird unterschieden zwischen philologischen, historischen und geisteshistorischen, sozialwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und textwissenschaftlichen Zugangsweisen, die zudem weitere Untergruppierungen wie die Soziologie, die Politikwissenschaften, die Wirtschaftswissenschaften, die Juristerei, die Ethnologie, die Literatur- und Sprachwissenschaften oder die Kunst- und Medienwissenschaften hervorgebracht haben. Die Abgrenzung all dieser Fächer untereinander wie auch gegenüber zahlreichen in diesem Kontext überhaupt nicht erwähnten Bereichen ist bis zu einem gewissen Grade virtuell und eher den diskurshistorischen Entwicklungen in unseren Gesellschaften als den Gegenständen unserer Forschung geschuldet. Die konventionalisierten Kategorien und Paradigmen haben genauso viele Überschneidungen zwischen den einzelnen Fächern wie Leerstellen von Bereichen hervorgebracht, die weder von dem einen noch von dem anderen berührt werden und im Interessengebiet der Gesellschaft also offenbar keine allzu große Rolle spielen bzw. von dieser schon wieder verworfen oder aber in ihrer Relevanz noch nicht erkannt und anerkannt worden sind. Es gehört zweifellos zu den wichtigsten Aufgaben der Wissenschaften, den Blick kritisch auf diesen Kanon der Fächer und der sich mit diesen verbindenden Wissenschaftsparadigmen zu richten und seine Relevanz immer wieder entlang der sich verändernden Umwelten und Bedürfnisse zu evaluieren. Ausgangspunkt und damit der allererste Bezugsrahmen für den Studienanfänger ist aber notwendigerweise dessen Ist-Zustand, den es zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen und anzueignen gilt, um in späteren Schritten seine Relevanz für die eigenen Interessen überprüfen und dabei ggf. Schritt für Schritt Änderungen in den bestehenden Kanon einfügen zu können. Neben dem inhaltlichen Fokus auf die Wissensbestände der einzelnen Fachbereiche sind dabei auch deren gemeinsame bzw. sich voneinander unterscheidende Paradigmen und methodische Modelle ins Auge zu nehmen. Sie orientieren sich an der jeweiligen disziplinären Interessenlage. So interessieren sich z.B. sowohl der Wirtschaftswissenschaftler als auch der Soziologe und der Jurist und nicht zuletzt der Textwissenschaftler und der Philosoph für Prozesse auf dem chinesischen Kapitalmarkt. Während der Ökonom allerdings von seinem disziplinären Interesse her vor allem nach Optimierungsmöglichkeiten der Märkte und der Soziologe nach deren 40 2. Hinleitungen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Funktionssystem fragt, interessiert sich der Jurist vor allem für die rechtlichen Grundlagen und etwaigen Anpassungsnotwendigkeiten im Sinne eines funktionierenden Staatswesens. Dagegen wird der Philosoph hinsichtlich desselben Gegenstandes womöglich die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen Märkten und Moral oder nach der Kompatibilität zwischen Ersteren und dem Wesen des Menschlichen stellen, während der Textwissenschaftler z.B. Repräsentationsmuster der sich in Bezug auf die Märkte etablierenden hegemonialen und widerständigen Diskurse in unterschiedlichen Medien sowie deren potentielle Auswirkungen auf das soziale Bewusstsein erforscht. Es könnte aber auch ganz anders sein. Dasselbe trifft auf die Vorgehensweise des wissenschaftlichen Arbeitens, auf Methoden und Arbeitstechniken zu, die in den Wissenschaften zwar in ihren Grundsätzen einheitlich definiert und in den jeweiligen Disziplinen interpretiert und spezifiziert sind, damit aber nicht notwendigerweise für alle Ewigkeit Gültigkeit haben müssen und also ständig an den sich verändernden Umwelten zu evaluieren sind. Auch in ihrem Falle empfiehlt es sich, sich möglichst gut mit ihren Möglichkeiten und Grenzen vertraut zu machen, um sie anwenden zu können und mit wachsender Routine in der Anwendung selbst einmal zu ihrer kritischen Hinterfragung und ggf. Neuformulierung zu gelangen. In den gängigen Arbeitsschritten, das lässt sich in den einschlägigen Einführungen in das wissenschaftliche Arbeiten sehr gut nachlesen, bedeutet das zuallererst die Formulierung eines allgemeinen disziplinären wie am konkreten Gegenstand orientierten spezifischen Interesses, aus dem sich eine wissenschaftliche Fragestellung ergibt. Die Formulierung dieser Frage, die auf dieser Stufe des Arbeitens noch an nur wenige Voraussetzungen anknüpfen und auf keinerlei konkrete Vorarbeiten aufbauen kann, bedarf sowohl eines möglichst umfangreichen Vorwissens als auch einer großen Kreativität. Deshalb stellt sie überraschenderweise für eine Vielzahl von Studierenden eine viel größere Hürde dar als die weiteren, sich jeweils aus den Vorarbeiten ergebenden Arbeitsschritte. Sie ist ihrerseits die Grundlage für jede Form einer wissenschaftlichen Wissensgenerierung. Diese kann niemals zufällig und diffus sein. Vielmehr muss sie möglichst konkret und zielgerichtet sein, um aus der Unmenge verfügbarer Informationen Vorauswahlen und Suchkriterien formulieren zu können, mit denen die im zweiten Arbeitsschritt folgende Recherche operabel wird. Die Recherche stellt auf der Grundlage der vorliegenden wissenschaftlichen Problemstellung zweifellos das zentrale Element einer jeden Forschungsarbeit dar. Um sie erfolgreich betreiben zu können, bedarf es neben dem vorweg formulierten Ziel, das sich im Verlaufe des Arbeitens allerdings immer an den dabei gewonnenen Erkenntnissen messen lassen sollte und ggf. auch zu korrigieren und zu revidieren ist, vor allem zweier Dinge. Bei der ersten Voraussetzung geht es um ein möglichst umfangreiches allgemeines sowohl methodisch-theoretisches wie auch inhaltliches Vorwissen hinsichtlich des Faches und seiner Ränder und Referenzen. Nur auf der Grundlage dieses Vorwissens lässt sich überhaupt erst ein Problem erkennen. Zudem muss zur Kenntnis genommen werden, was andere bereits in diesem Bereich geforscht haben, welche Fragen sie gestellt haben, zu welchen Ergebnissen sie gekommen sind und welche Lücken und Fragen dabei offen geblieben sind. Daraus lässt sich schließlich das eigene Forschungsdesign definieren und das konkrete Vorgehen der Recherche bestimmen. Die zweite Voraussetzung ergibt sich unmittelbar aus der Ersteren. Es geht dabei darum, die Recherche dadurch operabel zu machen, dass man Quellen, die ja vielfältigster Natur sein können, erkennt und für die eigene Forschung nutzbar 41 2.2 Wissen macht. Dabei bemüht man in den chinawissenschaftlichen Disziplinen, abhängig vom jeweiligen Forschungsgegenstand und der gewählten Forschungsfrage, etwa die herkömmlichen Universitätsbibliotheken, Internetressourcen und Online-Datenbanken. Aber auch Archive von Medienanstalten, Unternehmen, Regierungen oder Parteien, „Originalquellen“ wie Menschen, die man als Experten oder unmittelbare Forschungsobjekte mit Hilfe von Fragebögen oder Interviews befragen kann, oder Artefakte, die man in Laborsituationen oder in ihren angestammten Umwelten selbst beobachten und analysieren kann, stellen mögliche Quellen für die eigene Forschung dar. Auf sie alle wird in den Abschnitten dieses Bandes zu den disziplinären „Weiterleitungen“ aus derem jeweiligen Sichtweisen noch konkreter eingegangen werden. Grenzen existieren für die Quellensuche nicht. Anders als es einige konservative Dozenten mit elitärem Welt- und Wissenschaftsbild ihren Studierenden noch immer vermitteln, gibt es in Wirklichkeit nichts, was sich der Möglichkeit, Quelle wissenschaftlicher Forschung zu werden, von vorne herein entzieht. Der Studierende sollte daher vom ersten Semester an vor allem eine größtmögliche Freiheit hinsichtlich der von ihm entwickelten Interessen und der Gegenstände seiner Beschäftigung in Anspruch nehmen, die allerdings zugleich mit einer größtmöglichen Verantwortung einhergeht, die Beobachtungen in eine seriöse und erkenntnisreiche, für die Rezipienten erschließbare Wissenschaft zu übertragen. Das zentrale Ziel eines grundständigen chinawissenschaftlichen Studiums besteht zum einen darin, den eigenen Wissenshorizont hinsichtlich der mit dem Begriff „China“ verknüpften Gegenstände und Methoden, wissenschaftlich auf diese zuzugreifen, sowie die eigenen Erkenntnisfähigkeiten in einem Maße zu erweitern, dass diese Freiheit erst möglich wird. Es besteht zum anderen darin, die handwerklichen Voraussetzungen dafür zu erlangen, mit diesem erweiterten Wissenshorizont wissenschaftlich umzugehen, ihn selbstständig und eigenverantwortlich in neue Erkenntnis zu übertragen und diese Erkenntnis der Wissenschaftsgemeinschaft zugänglich zu machen. Dadurch kommt der Studierende in die Lage, die eigene Persönlichkeitsbereicherung mit einer allgemeinen Reflexionsfähigkeit und mit Wissenskompetenzen zu verbinden, die nicht nur in der Wissenschaft selbst, sondern auch in allen anderen Berufsfeldern als wesentliche Bereicherung gelten können, wie sie durch eine ausschließlich auf Faktenwissen abzielende „Ausbildung“ nicht zu erreichen ist. Das bildet die unabdingbare Voraussetzung dafür, Probleme auch weit über den „erlernten“ Bereich und die Gegenstände und Modelle des Studiums hinaus zu erkennen und unter Verwendung von Modellen kreativ zu lösen, die man hinsichtlich der sich schnell wandelnden Umwelten immer neu aktualisieren und nutzbar machen kann und muss. Was die hierzu im grundständigen Studium der Chinawissenschaften notwendigen Lektüren betrifft, gibt es sehr unterschiedliche Ansichten, die den disziplinären Ausrichtungen, wissenschaftlichen Schulen, zudem den persönlichen Vorlieben der Vertreter dieser Fächer geschuldet sind. Im Einzelnen sei deshalb für die Lektüreentscheidungen auf die Institute und Lehrenden der einführenden Seminare und Vorlesungen selbst verwiesen. Nichtsdestoweniger sollen im Folgenden auf der Grundlage der oben angestellten Überlegungen zumindest die maßgeblichen Paradigmen und Themenfelder benannt und im Anhang auch einige Titel vorgeschlagen werden, deren Kenntnis für einen ersten Über- und Einblick in die Wissenschaften zum Gegenstand „China“ als unabdingbar erscheint, um auf ihrer Grundlage kompetentere Entscheidungen für weitergehende Lektüren und konkrete Studien- und Forschungsentscheidungen treffen zu können. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Quel- 42 2. Hinleitungen len, die selbst Gegenstand der Forschung sind und damit als Primärquellen gelten dürfen, solchen, die als Sekundärquellen chinesische Objekte zu ihrem Gegenstand haben, und solchen, die als Hilfsmittel die Erkenntnisbedingungen reflektieren und die Forschung handwerklich unterstützen. Zudem gehören Quellen der Wissenschaftstheorie mitsamt ihren methodentheoretischen Arbeiten und nicht zuletzt solche, die dem Bereich einer allgemeinen Gelehrsamkeit zuzuordnen sind, zum Standardwerkzeug chinawissenschaftlicher Forschung. Sie sind unabdingbare Stützen, mit denen die Gegenstände wie auch die Methoden der Untersuchung sich kontextualisieren und in eine sinnvolle Verbindung mit dem eigenen epistemischen, ontologischen und sozial-kulturellen sowie individuellen Beobachterstandort bringen lassen. Zumindest einige zentrale Texte dieser Bereiche sollten allen Studierenden möglichst früh in ihrem Studium bekannt sein, um mit ihrer Hilfe eine kompetente Themen- und Methodenwahl für möglichst selbstständige Diskussionsbeiträge und Studienarbeiten treffen zu können. Dabei ist es grundsätzlich als ein Qualitätsmerkmal der chinawissenschaftlichen Fächer zu verstehen, dass sie - bislang - weitestgehend an der Einführung von verschulten Studienformen und standardisierten Lehrbüchern vorbeigekommen sind. Stattdessen haben sie ihren Studierenden mit ihrer Vielfalt der Gegenstände, Perspektiven und Methoden noch vergleichsweise umfangreich das erhalten können, was ein Studium vor allem auszeichnen sollte: die Fähigkeit und Freiheit zur eigenen Erkenntnis. Das trifft auch dann zu, wenn diese Freiheit, die zugleich immer auch den Aufwand der eigenen Entscheidung und Verantwortung bedeutet, einigen an die fixen Lehrpläne der Gymnasien und an konkrete Lernvorgaben gewohnten Schulabgängern zu Beginn noch nicht vertraut sein und im Hinblick auf Prüfungsvorbereitungen gar Angst bereiten mag. Die dabei zu gewinnende Selbstständigkeit und Erkenntnisfähigkeit wird diese Erschwernisse um ein Vielfaches aufwiegen, auch wenn das im Prüfungsstress der ersten Semester noch nicht jedem Studierenden einsichtig erscheinen mag. Es geht also um selbstständiges und unabhängiges Denken und Forschen. Ein solches ist nicht in erster Linie auf die Erfüllung von vorgegebenen Lehrplänen und auf eine leere Gelehrsamkeit, sondern auf die Erlangung von neuem Wissen und der dazu ausgerichtet, dieses produktiv nutzbar zu machen. Denn vor allem (Vor-)Wissen und Kreativität sind für einen Erkenntnisgewinn vonnöten, der nicht nur dem einzelnen Studierenden, sondern auch den dessen Studium finanzierenden Familien und Gesellschaften von weitaus größerem Nutzen sein wird als die Erfüllung einer fälschlich als berufliche Ausbildung verstandenen „Employability“. Die Wissenschaftsparadigmen der zentralen Fachbereiche in der deutschsprachigen Sinologie und den Chinawissenschaften haben das Erkenntnisinteresse an China maßgeblich geprägt. Ungeachtet aller unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und persönlichen Vorlieben der sie prägenden Akteure haben sie dabei auch die Kriterien für das festgelegt, was im Allgemeinen als chinawissenschaftliches Grundlagenwissen gilt. Seine Kenntnis erleichtert den Zugang zu Lehrveranstaltungen und Prüfungen sowie den Einstieg in ein weiterführendes Studium. Es stellt nicht zuletzt die Basis für jegliche Form von „China-Kompetenz“ dar, wie sie für die Berufe gefordert wird. Selbstständiges Arbeiten in konkreten Studier- und Forschungsfeldern, auf welches jedes Studium hinauslaufen sollte, wird erst dadurch möglich, dass ein gewisses Wissensfundament vorhanden ist, auf dem sich weiteres Wissen errichten lässt. Als grundlegendes Handwerkzeug haben dabei in erster Linie die arbeitstechnischen Hilfsmittel zu gelten. Sie erst ermöglichen das wissenschaftliche Arbeiten handwerklich. Auch wenn der chinawissenschaftliche Studierende überwiegend erst zum Ende 43 2.2 Wissen seines grundständigen Studiums und schließlich im weiterführenden Masterstudium dazu kommt, sich auch jenseits des Sprachunterrichts in größerem Umfang mit chinesischsprachigen Quellen zu befassen, stellen die Wörterbücher immer die erste Quelle von Grundlagenwissen dar, weil sie den sprachlichen Zugang zu den Texten des Wissens erst ermöglichen. Von ihren unterschiedlichen Kategorien gehört zumindest eines in jedes Studierendenregal. Das sind ein modernes Chinesisch-Deutsch-Wörterbuch, worunter sich dasjenige von Wilfried Fuchsenberger bewährt hat, ein Deutsch- Chinesisch-Wörterbuch wie z.B. das Neue Chinesisch-Deutsche Wörterbuch des Pekinger Fremdsprachenverlages und außerdem ein in beide Richtungen übersetzendes Handwörterbuch für unterwegs, so z.B. das Handwörterbuch Deutsch-Chinesisch, Chinesisch- Deutsch der Pekinger Commercial Press und des deutschen Langenscheid Verlags. Fachwörterbücher gibt es zudem zu zahlreichen Bereichen wie den technischen und naturwissenschaftlichen Gebieten, der Literaturwissenschaft, Philosophie und Ästhetik, aber auch zu Politik und Recht, mit denen die Studierenden allerdings zumeist erst im Laufe ihres weiterführenden Studiums konfrontiert werden. Nicht zu vernachlässigen ist auch der Bereich der klassischen chinesischen Schriftsprache, für die sich allerdings kaum einheitliche Übersetzungen in eine europäische Sprache definieren lassen, die ein kompetentes Wörterbuch möglich machen würden. Stattdessen sei neben dem vielleicht besten Entwurf von Übersetzungsvorschlägen in die englische Sprache in Mathew’s Chinese-English Dictionary vor allem auch auf Übersetzungsangebote in das moderne Chinesisch verwiesen, für die z.B. das Gudai hanyu cidian 古代汉 语词典 (Wörterbuch des Klassischen Chinesisch) der Pekinger Commercial Press immerhin kompetente Angebote für ein weitergehendes Nachlesen in den Quellentexten bereitstellt. Das Pekinger Cihai 辞海 sowie das taiwanesische Zhongwen da cidian 中文 大辞典 indes gelten als chinesischsprachige Standardwerke zu den Begriffen Chinas, vergleichbar mit dem deutschen Duden. Neben gedruckten Wörterbüchern kann der Studierende zudem auf unterschiedliche elektronische Hilfsmittel zurückgreifen. Insbesondere sind hier die für den Unterricht nützlichen elektronischen Wörterbücher, die vorwiegend von chinesischen Herstellern angeboten werden, dabei aber über einen Alltagswortschatz nicht hinausgehen, zu nennen, oder auch das für PC und Mac erhältliche, insbesondere auch für die Arbeit mit schriftsprachlichen Texten hervorragend geeignete und über einen sehr großen Wortschatz verfügende Programm „Wenlin“ 文林 . Zahlreiche gedruckte Stichwortsammlungen zu allen möglichen Fachgebieten der Chinawissenschaften und Bibliographien, die allerdings zusehends durch die sehr viel dynamischeren, dabei aber nicht in jedem Falle vergleichbar sorgfältig recherchierten und editierten Onlineressourcen im WorldWideWeb abgelöst werden, erleichtern zudem die Auswahl und den Zugriff auf Quellen und weiterführende Hilfsmittel. Sie geben nicht selten erst die notwendigen Impulse für die Formulierung von Fragestellungen und die weitergehende wissenschaftliche Recherche. Hinsichtlich des Gegenstandes China ist es angesichts der Vielfalt an Werken und doch sehr unterschiedlichen Ausrichtungen und Vorlieben nicht leicht, konkrete Lektüreempfehlungen zu geben; dies, zumal der Buchmarkt sehr schnelllebig ist und unaufhörlich neue, aktualisierte Arbeiten erscheinen. Deren Halbwertzeit nimmt mehr und mehr ab, so dass außerhalb der geisteswissenschaftlichen Fächer die Monographie als prämierte Darstellungsform von Wissen inzwischen weitgehend durch Zeitschriftenaufsätze und Onlineforen abgelöst worden ist und ähnliche Forderungen auch für die angestammten „Text-Fächer“ immer lauter werden. Nichtsdestoweniger, so die Ansicht der Autoren, lässt sich Wissen (in Abgrenzung zur Information) nach wie vor sinnvoll vor allem in langfristigen Denkprozessen tatsächlich sinnvoll und 44 2. Hinleitungen weiterführend entfalten und bietet sich die Monographie daher nach wie vor als wesentliche Darstellungsform desselben an. Zumindest die Bereiche, in die man sich vor dem Abschluss des Bachelorstudiums durch die Lektüre von umfangreich vorliegenden Monographien und Textsammlungen einführend eingearbeitet haben sollte, um auf dieser Grundlage weiterführende Interessen formulieren und Forschungsschwerpunkte kompetent auswählen zu können, lassen sich grob benennen. Deren Auswahl muss unabdingbar chinesische Primärquellen beinhalten, soweit diese in Übersetzungen vorliegen oder dem in der Sprachausbildung noch am Anfang stehenden Studenten anderweitig verfügbar gemacht werden können. Sie muss zudem Forschungen zu China in europäischen Sprachen wie nicht zuletzt einige grundlegende wissenschaftstheoretische und methodische Literatur umfassen, die den Studierenden dabei hilft, sich einen Überblick über die wissenschaftlichen Möglichkeiten zu verschaffen, diese Gegenstände zu betrachten, Forschungsfragen an sie anzulegen und schließlich Lösungsmodelle zu erarbeiten. Aus China verfügbar sind vor allem die Texte der klassischen Literaturen, der Geschichtsschreibung und der gelehrten Schriften, die seit dem 19. Jahrhundert in die englische oder gar in die deutsche Sprache übertragen worden sind. Jeder Studierende sollte aus diesem breiten Fundus während seines Bachelorstudiums zumindest einige der maßgeblichen Texte aus der achsenzeitlichen Denktradition kennen. Dazu gehören die „Vier Bücher“ (die Gespräche des Konfuzius, der Menzius, die Große Lehre und die Lehre der Mitte) des Konfuzianismus. Dazu gehören auch die sogenannten „Fünf Klassiker“ (das Buch der Wandlungen, das Buch der Urkunden, das Buch der Riten, die Frühlings- und Herbstannalen und das Buch der Lieder) und die Werke des Daoismus, etwa von Laozi und Zhuangzi, sowie des Legalismus von Han Feizi und des Mohismus von Mozi. Hinzu kommen die Schriften späterer Schulen und Denker, die bis in das 20. Jahrhundert hinein und mit nach dem weitgehenden Abdanken des die chinesischen Diskurse zwischen den 1920er und den 1980er Jahren beherrschenden Marxismus inzwischen erneut auflebendem Interesse an deren Tradition angeknüpft haben, sowie die Schriften des seit dem 8. Jahrhundert in China an Gewicht gewinnenden Buddhismus. Nur durch die grundlegende Kenntnis dieser Schriften kann man sich eine Vorstellung davon machen, was eigentlich die Gegenstände Hunderter und Tausender sinologischer Untersuchungen sind und worin das Interesse ihrer Autoren an diesen besteht. Auch erfährt man nur so, wovon jenseits der populären Klischees eigentlich die Rede ist, wenn die großen Paradigmen chinesischen Denkens, so insbesondere dasjenige des „Konfuzianismus“, - zu Recht oder zu Unrecht - immer wieder als bis in die Gegenwart wirksame Charakteristika chinesischer Kulturen ins Feld geführt werden. Neben den genannten klassischen Schriften, die in verschiedenen, für den ersten Überblick im B.A.-Studium durchaus ausreichenden Übersetzungen vorliegen, gibt es zahlreiche weitere chinesischstämmige Texte, deren Übersetzungen zur Standardlektüre des frühen Studiums gehören sollten. Das sind zum einen die Texte der Historiker, worunter insbesondere die vorliegenden Teilübersetzungen des Sima Qian sowie einige seiner Nachfolger bekannt sein sollten. Zum anderen sind es die eher künstlerisch-literarisch angelegten Textgattungen, wie sie bereits im Buch der Lieder vorgekommen sind. Ihre Lektüre gestattet dem Leser, wenn dieser weniger auf etwaige mimetische Darstellungsweisen als vielmehr auf die sich in der Repräsentation spiegelnden individuellen und sozialen Psychologien in der Lebenszeit ihrer Autoren achtet, einen guten Einblick in die Selbstwahrnehmung der Menschen, wie er über die auf die Darstellung von „Fakten“ abzielende Sekundärliteratur allein nicht möglich ist. Aus demselben Grunde ist auch ein möglichst umfassender Einblick in künst- 45 2.2 Wissen lerische, handwerkliche und alltagsgegenständliche Artefakte aus den zu beobachtenden Perioden angezeigt. Deren erhaltene Originale können wir vor allem an ihren chinesischen Ausgrabungsstätten und in den historischen, kunsthistorischen und ethnologischen Museen besichtigen. Oder wir finden sie doch zumindest in Bildbänden abgebildet, um mit ihrer Hilfe einen, wenn auch aus ihren angestammten Umwelten herausgelöst und damit ganz anderen, musealen, Funktionen und Bedeutungen zugeführt, dennoch vergleichsweise unmittelbaren Zugang zur Lebenswirklichkeit der von ihnen repräsentieren Zeiten und Orte zu erhalten. Während aus der Frühgeschichte darüber hinaus kaum Zeugen verfügbar sind, nimmt deren Anzahl mit der historischen Nähe der beobachteten Zeiten zu unserer eigenen Lebenswirklichkeit zu. Insbesondere Kunstwerke und Alltagsgegenstände werden hierbei zum Teil des originären Quellenmaterials. Aber auch literarische Zeugnisse, von denen die seit der Tang-Zeit und insbesondere in der Song-Dynastie mit ihren voranschreitenden Institutionalisierungen bei der Generierung und Speicherung von Wissen erheblich zunehmenden Publikationen im politischen, administrativen, ideengeschichtlichen und technischen Bereich im Zentrum stehen, bilden einen maßgeblichen Grundstock für das Wissen über das chinesische Kaiserreich der vergangenen zwei Jahrtausende. Doch auch fiktionale Texte aus Lyrik und Prosa und andere Kunstgattungen wie insbesondere die Malerei und Kalligraphie, die, anders als die meisten der lokalen Bühnendramen und Lieder vergangener Zeiten, die überwiegend oral von Generation zu Generation weitergegeben wurden und irgendwann in Vergessenheit geraten sind, materiell aufgezeichnet wurden, gelten als wesentliche Zeugen der Zeiten und Orte ihres Entstehens. Sie sind teilweise noch sehr viel besser als die auf ihre Gegenstände ausgerichteten anderen Gattungen in der Lage, jenseits der puren Materialität von Kultur auch die Befindlichkeiten, die Psychologie ihrer sozialen Entstehungsumwelten wiederzugeben und dem heutigen Forscher damit ein oftmals äußerst lebendiges Bild ihrer Zeit zu vermitteln. So sollte sich jeder Studierende schon früh im Studium mit Texten der Tang-Lyrik und den Novellen sowie den in Übersetzungen vorliegenden klassischen Romanen der Ming- und Qing-Dynastie (Der Traum der roten Kammer, Die Reise nach dem Westen, Die Räuber vom Liangshan Moor und Die drei Reiche sowie, mit auch für die kritische Reflexion des eigenen Studierens enormem Mehrwert, Die Gelehrten) beschäftigen. Und ein Grundverständnis der Ästhetik von Kalligraphie und Tuschemalerei sowie der ihnen zugrunde liegenden Theorien erleichtert den Zugang zu den Strukturen der chinesischen Kulturen erheblich. Zudem kann es nicht schaden, selbst einmal den Kalligraphiepinsel und die anderen drei „Schätze des Gelehrtenzimmers“ (Tusche, Tuschestein und Papier) in die Hand genommen zu haben, um sich - virtuell - in die materiellen Umstände dieser Künste hineinzuversetzen und deren soziale Bedeutung verstehen zu lernen. Erst für die Zeit ab dem 19. Jahrhundert sind neben den genannten Aufzeichnungen auf vormodernen Trägermedien wie Schildkrötenpanzer, Stein, Holz, Seide oder Papier auch industriell technische Zeugnisse aus China verfügbar, worüber einige für ein Verständnis der Materialität der chinesischen Kultur und der äußeren Bedingungen des Handelns chinesischer Menschen unbedingt zu konsultierende Technik- und Wissenschaftsgeschichten Chinas Auskunft geben. Deren Aufkommen hat eine rasante Vermehrung wissenschaftlichen Quellenmaterials mit sich gebracht. Zunächst waren es die Photographie und Typographie, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch in China Verwendung fanden. Schließlich haben seit dem frühen 20. Jahrhundert auch die Kinematographie und anschließend in schneller Aufeinanderfolge all die neueren Medien, mit denen die industrielle Welt sich seitdem selbst be- 46 2. Hinleitungen schreibt, dem chinawissenschaftlichen Studierenden eine Vielzahl an originären Quellen bereit gestellt, mit denen er sein Wissen über China zu bereichern vermag. Insbesondere die Bildmedien, also die Kinematographie, das Fernsehen und die neueren visuellen Medien bis hin zum WorldWideWeb und seinen Computerbildschirmoberflächen, haben eine Vielfalt des dokumentarischen und künstlerischen Ausdrucks chinesischer Akteure bewirkt, angesichts inzwischen nicht mehr die Suche nach knapp verfügbaren Quellen sondern die kompetente Auswahl und Betrachtung einer überbordenden Fülle an solchen das eigentliche Problem der chinawissenschaftlichen Forschung darstellt. Zumindest einige Werke und Programme aus dem Bereich der genannten Medien sollte jeder Studierende zur Kenntnis genommen haben, um deren technische Repräsentationsmedien dabei zudem nicht bloß als neutrale Träger von Informationen, sondern zugleich auch selbst als in vielfältiger Weise zu untersuchende Gegenstände des Forschens zu betrachten. Sie haben nämlich ihrerseits den Werdegang der chinesischen Gesellschaften und Kulturen in erheblichem Maße bedingt und die menschlichen und institutionellen Akteure und Interessen, welche in den meisten Fachbereichen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, erst mit geformt. Im Bereich der Typographie hat der in Märkte überführte und seit der Sprachreform im frühen 20. Jahrhundert auch breiter zugängliche Buchdruck zu einer Explosion der Publikationen in den genannten Bereichen geführt. Hier sollten in jedem Falle einige zentrale Werke der politischen und philosophischen Literatur im Kontext der gesellschaftlichen Umwälzungen im gesamten 20. Jahrhundert von Wang Guowei und Liang Qichao über Hu Shi, Zhang Dongsun und Jin Yuelin bis hin zu Feng Youlan, Zhang Dainian und schließlich den politischen Akteuren und Autoren Sun Yixian, Mao Zedong und Deng Xiaoping bekannt sein. Zudem gehören die Arbeiten der fiktionalen Literatur, so etwa von Lu Xun, Guo Moruo, Lao She und Shen Congwen aus der chinesischen Republikzeit und der taiwanesischen wie auch volksrepublikanischen „Reformliteratur“ seit den 1980er Jahren, etwa Werke von Zhang Xianliang oder dem Nobelpreisträger Mo Yan, zum Grundwissen der chinawissenschaftlichen Studiengänge. Und neben der Literatur ist es insbesondere das Kino, welches im 20. Jahrhundert in das Zentrum chinesischer Selbstrepräsentationen gerückt ist. Werke des Shanghaier Kinos aus den 1930er und 1940er Jahren wie „Göttin“, „Straßenengel“, „Ein Frühjahrsstrom fließt nach Osten“ und „Krähen und Spatzen“ sind hier genauso zu nennen wie solche des „sozialistischen Realismus“ zwischen 1950 und 1980. Dazu gehören Arbeiten wie „Das weißhaarige Mädchen“ oder „Das rote Frauenbataillon“, von denen es zudem auch Bühnenversionen gibt, mit denen sich das kulturrevolutionäre China der frühen 1970er Jahre erneuern wollte. Und nicht zuletzt das auf den Weltmärkten erfolgreiche taiwanesische, Hongkonger und volksrepublikanische Kino seit den 1980er Jahren gehören zum Standardrepertoire sinologischen Sachwissens. Daher sollten die Filme der Hongkonger Regisseurin Xu Anhua (Ann Hui) und ihres Landsmannes Xu Ke (Tsui Hark) genauso bekannt sein wie diejenigen Tsai Mingliangs und Hou Hsiaohsiens aus Taiwan oder Xie Jins, Xie Feis, Zhang Yimous, Chen Kaiges, Tian Zhuangzhuangs, Wang Xiaoshuais, Lou Yes und Jia Zhangkes vom chinesischen Festland. Die neuesten Medien, Konsolen- und Computerspiele sowie die Bildschirmkünste dagegen sind, anders als das Internet, als Datenquelle chinesischer Selbstbeschreibungen, noch nicht wirklich in den Chinawissenschaften angekommen, bieten für die nähere Zukunft aber ein ungeheures Potential, das sich der Studierende als Quellen wie Gegenstände seiner Forschung so gut wie möglich zunutze machen sollte. 47 2.2 Wissen Neben den genannten Primärquellen sind es schließlich die sogenannten „Sekundärquellen“, die die zentralen Gegenstände einer jeden Chinaforschung ausmachen und die systematische wissenschaftliche Beobachtung ersterer erst ermöglichen. Hier kann es angesichts der Fülle an vorliegenden Bereichen, Themen, Perspektiven und Einzeltiteln und angesichts des in nur drei oder vier, zudem überwiegend durch die Sprachausbildung ausgefüllten Jahren auf den Abschluss „Bachelor of Arts“ hinführenden Studiums zunächst einmal nur darum gehen, sich ein „allgemeines“ Wissen über China anzueignen. Das Ziel besteht darin, in die Lage zu geraten, selbstständig weitergehende Studienentscheidungen zu treffen und dabei eigene weiterführende Themen kompetent wissenschaftlich zu bearbeiten. Darüber, was hier als „allgemein“ zu gelten hat, gibt es, den Disziplinen und Paradigmen geschuldet, zu Recht sehr unterschiedliche Sichtweisen. Für Studierende der Chinawissenschaften erscheint es, im Rahmen des gewählten Studiengangs und so weit unter dessen Vorgaben möglich, sinnvoll, hinsichtlich der Bereiche und Gegenstände zunächst den Weg zum Generalisten zu beschreiten. Anders als bei den „europäischen“ Wissenschaften ist hinsichtlich Chinas von nur wenigen in das Studium mitgebrachten Wissensvoraussetzungen auszugehen und reicht bereits ein recht bescheidenes Wissen, das man in China selbst von jedem Mittelschüler erwarten dürfte, im gesellschaftlichen Diskurs Europas bereits zum „Expertentum“ hin. Gleichzeitig erleichtert es die Entscheidung für spätere disziplinäre Spezialisierungen im weiterführenden Studium oder Beruf erheblich. Im Einzelnen bedeutet das die Aneignung von Wissen, das im Allgemeinen unter dem - zweifellos altbackenen - Begriff „Landeskunde“ zusammengefasst wird und als allererster - vorwissenschaftlicher - Überblick über die gängigen Einführungen zugänglich ist. Dies leisten z.B. der regelmäßig überarbeitete und neu aufgelegte Länderbericht China und andere Publikationen der „Bundeszentrale für politische Bildung“. Diese eher an ein allgemein interessiertes, etwa journalistisches, denn an ein wissenschaftliches Publikum gerichteten Schriften führen in die natürlichen und kultürlichen, die geographischen und geologischen, klimatischen und sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Bedingungen Chinas ein. Sie liefern zudem einen knappen Überblick über Historisches, Ethnien, Sprachen, Künste und anderes zum „Allgemeinwissen“ über China Gehörendes, von dem her sich der Blick im nächsten Schritt weiter in wissenschaftliche Interessen hinein fokussieren lässt. Und auch Quellen wie Wikipedia und andere Angebote im WorldWideWeb, darunter auch offizielle Seiten der verhandelten Staaten und Institutionen, sind, wenn man sie genauso kritisch behandelt wie es im übrigen auch bei Printquellen vonnöten ist, durchaus nützliche Hilfsmittel für den ersten Schritt in die Wissenschaften von China. Die Themenbereiche für diesen nächsten Schritt sind durch die disziplinäre Ausdifferenzierung der Chinawissenschaften vorgegeben, wie sie im 3. Kapitel, „Weiterleitungen“, dieses Bandes, ergänzt durch Lektüreempfehlungen, beschrieben werden. Grundlegend sind demnach ein Überblick über Stationen der chinesischen Geschichte und Geschichtsschreibung, der Geistes- und Ideengeschichte, der Kunst- und Literaturgeschichte, der Wissenschafts-, Technik-, Diskurs- und Mediengeschichte sowie des politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Systems. Dazu gehören auch die immanenten ethnisch-kulturellen Spezifika sowie regionalen und lokalen Binnendifferenzierungen im geteilten China der Gegenwart mit seinen unterschiedlichen politisch-kulturellen Konstitutionen in der Volksrepublik China, der Republik China auf Taiwan sowie Hongkong. Auch der Blick auf die extraterritorialen chinesischen Gemeinschaften, etwa in Singapur und in Südostasien, aber auch in Nordamerika und - zusehends - auf dem afrikanischen Kontinent, hat durchaus chinawissenschaftliche 48 2. Hinleitungen Relevanz und ihr Wissen ist daher auch jenseits ihrer Bedeutung für Chinas Außenpolitik hinsichtlich kultureller und sozialer Prozesse in den Chinas von Bedeutung. Er gehört somit ebenfalls zum Grundwissen eines jeden Studierenden der Chinawissenschaften, über dessen sich rasch wandelnde Textgrundlage die jeweiligen Institute sowie die diesem Band zugeordnete Website Auskunft geben und über die der Studierende sich schon früh im Studium einen Überblick verschaffen sollte. Schwieriger noch als die Benennung der einigermaßen überschaubaren Literatur und Quellen zum Grundlagenwissen über China ist es, Empfehlungen zum wissenschaftlich-methodischen Zugriff auf dieses Wissen zu geben. Ein Großteil des wissenschaftstheoretischen und methodischen Wissens zum jeweiligen Forschungsgebiet wird ohnehin erst Gegenstand des weiterführenden Studiums sein. Unabdingbar ist nichtsdestoweniger bereits der frühzeitige Überblick über das, was Wissenschaft überhaupt bedeutet und welche Möglichkeiten sie dem Studierenden in handwerklicher und horizonterweiternder Hinsicht bietet. Eingangs als Wissenschaft mit im Allgemeinen vorwiegend philologischer sowie sozial- und kulturwissenschaftlicher Ausrichtung vorgestellt, sind es vor allem diese Felder, deren Verständnis es sich anzueignen gilt, um das Wissen über China in Wissenschaft und Beruf sowie für die Persönlichkeitsbildung nutzbar zu machen. Es geht dabei darum, nachvollziehen zu können, wie sich die Interessen an dem Gegenstand China und den mit diesem verknüpften Teilbereichen in der Geschichte entwickelt haben und wie diese Entwicklungen sich mit denjenigen der eigenen Gesellschaften verknüpfen. Zudem geht es um die Frage danach, wie Wissenschaft sich im Allgemeinen entwickelt hat, welche Paradigmen sie aus welchem Grund herausgebildet hat und wie diese Entwicklungen sich mit den sozialen und kulturellen Entwicklungen in den eigenen Gesellschaften verhalten. Schließlich ist zu fragen, was das alles für Auswirkungen auf das konkrete Erkenntnisinteresse an China und auf die daran gerichteten Fragestellungen und die Wege, mit ihnen umzugehen, hat. Zur Wissenschaftsgeschichte mit seinen Paradigmenwechseln sind in jüngster Zeit aus dem Bereich der „Humanities“, also der Kultur- und Sozialwissenschaften, zahlreiche Titel erschienen, von denen zumindest einige Überblicksbände und Lexika zum Standardrepertoire eines jeden Studierenden gehören sollten. Auf der Grundlage ihrer Kenntnis lassen sich kompetentere Entscheidungen für die Paradigmen und Methodenmodelle des eigenen Forschens treffen, um die eigene Wissenschaft mit den anderen Disziplinen und einem mehr und mehr angezeigten transdisziplinären Ansatz zu verknüpfen. Es gilt, mit ihnen gemeinsam an den Fragen der Welt arbeiten zu können. Diese lassen sich angesichts der vielfältigen Verflechtungen in allen Bereichen des individuellen und institutionellen Handelns, aber auch mit Blick auf die Gegebenheiten und Probleme der Natur (etwa diejenige des Klimawandels), längst nicht mehr sinnvoll hinter den Scheuklappen disziplinärer und kultureller Beschränkung verhandeln. Dazu ist zweifellos eine disziplinäre Offenheit auch bereits für die Studierenden der frühen Semester angezeigt und sei diesen empfohlen, sich im Rahmen ihrer zeitlichen Möglichkeiten auch in anderen Fächern umzutun und von deren Perspektiven und Handwerkzeug zu lernen. Hinsichtlich der zur Verfügung stehenden methodischen Überblicksliteratur liefern dazu zweifellos vor allem die bereits im Kapitel „Eignung und Aneignung“ empfohlenen Bände der Reihe Routledge Companion to … die Grundlagen. Dazu gehören aber auch die vom Stuttgarter Metzler Verlag herausgegebenen Lexika, so vor allem diejenigen zu Literatur- und Kulturtheorie, Literatur, Sprache, Kunstwissenschaft, Philosophie, Ästhetik, Fremdsprachendidaktik, Film, Gender Studies, Kultur der Gegenwart, Medientheorie und Medienwissenschaft und 49 2.2 Wissen Sprachwissenschaft sowie das dreibändige Handbuch der Kulturwissenschaften. Insbesondere Letzteres, das - genauso wie übrigens alle anderen Bände dieser Reihe und einige weitere empfehlenswerte Einführungsbände in die Kultur- und Sozialwissenschaften des genannten Verlags - mit zahlreichen Hinweisen auf das weiterführende Lernen versehen ist, sollte in keinem chinawissenschaftlichen Regal fehlen. Es liefert dem Studierenden die notwendigen Begriffe für das Verständnis der mit der Sinologie und den Chinawissenschaften verwandten anderen Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaften mitsamt ihren Fragestellungen und Methoden an die Hand und zeichnet deren für die Definierung des eigenen Beobachterstandpunktes unabdingbaren historisch-disziplinären Herleitungen und gegenwärtigen Paradigmenwechsel der Wissenschaften nach. Dadurch vermittelt sich dem Studierenden die Möglichkeit der Einbindung seines eigenen Lernens und Forschens in die Vielfalt der Ansätze und Methoden, der Teilnahme am inter- und transdisziplinären Diskurs und nicht zuletzt der Anwendung eines reichhaltigen Handwerkzeugs auf die ihm begegnenden Gegenstände, so etwa die vorgeschlagene sinologische Fachliteratur und die chinesischen Quellen. Das alles ist unabdingbar, um entlang der „chinesischen“ Forschungsgegenstände eigene Fragestellungen zu entwickeln und sich methodisch wie zugleich selbstreflexiv mit ihnen zu beschäftigen. Dieser Weg führt im besten Fall zu dem erstrebenswerten Studienziel, mit eigenen am Gegenstand „China“ weiterentwickelten Methoden auch jenseits der Aussagen „über“ China produktiv und innovativ am allgemeinen Prozess der Wissenschaften teilhaben zu können oder diese Fähigkeiten auch in einem anderen als den Wissenschaften zuzuordnenden Beruf fruchtbar zu machen. Darin kann es nämlich, anders als viele nach Fakten fragende Studienanfänger annehmen, niemals nur um die bloße Reproduktion von Wissen über China gehen. Viel wichtiger ist die bereits erwähnte Fähigkeit zu dessen kreativer Anwendung bei der Entwicklung von Strategien für Lösungen von Problemen, von deren Aufkommen die Studierenden und ihre Lehrer während des Studiums noch überhaupt nicht wissen können. Wissen kann schließlich, um damit zum letzten Bereich des Grundlagenwissens zu kommen, immer erst dann zu einem Wissen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse werden, wenn es auch auf die eine oder andere Weise repräsentiert, gespeichert und kommuniziert und erst dadurch den Diskursteilnehmern zugänglich gemacht wird. Das ist die grundlegende Voraussetzung für alle im dritten Schritt der Wissensgenerierung vorgestellten Inhalte, bei denen der Studierende die Repräsentationen anderer Akteure des Wissensprozesses für sich nutzbar macht, um seine eigenen Erkenntnisse entlang dieser und über diese hinaus weiterzuentwickeln. Und es ist schließlich auch das am - jeweils vorläufigen - Ende des eigenen Erkenntnisprozesses stehende Element von Wissenschaft, mit dem der Forscher seine Arbeit und deren Ergebnisse der Gemeinschaft zugänglich macht und zur weiteren Verwendung, bei der es selbst zu einem Gegenstand und/ oder Hilfsmittel der Forschung wird, zur Verfügung stellt. Für den fortgeschrittenen Forscher wird das überwiegend in Form von Buch- und Aufsatzpublikationen, Lehrveranstaltungen und Vorträgen geschehen, doch auch andere Medien wie z.B. Filme oder Ausstellungen in Museen oder an anderen Orten sind hierbei denkbar und häufig auch sinnvoll. Zumindest formal sind den Wissenschaften hier keinerlei Grenzen gesetzt. Zudem wird Henning Klöter im nachfolgenden Kapitel auf die inzwischen auch in den Chinawissenschaften an Gewicht gewinnende Lehrerausbildung und das Medium Schule hinsichtlich einer frühen Chinakompetenz hinweisen. 50 2. Hinleitungen Für Studierende der Chinawissenschaften beschränken sich die Möglichkeiten der Repräsentation ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse in aller Regel noch auf die klassischen Formen von mündlichem Referat sowie schriftlicher Klausur und Hausarbeit sowie Bachelor- und schließlich Masterarbeit, welche die Studien- und Prüfungsordnungen der meisten chinawissenschaftlichen Institute vorsehen. Doch auch hier haben andere Fächer und einige sinologische Lehrende bereits vorgemacht, dass auch andere Darstellungsformen von Wissenschaft, die Herstellung von Filmen, Weblogs und multimedialen Installationen im WorldWideWeb und anderen Plattformen genauso wie die Vorbereitung von Ausstellungen oder auch die Organisation von Workshops oder anderen Veranstaltungen durchaus ihre Berechtigung haben. Wenn sie nicht zum affektheischenden Selbstzweck werden, können sie durchaus mehr sein als der „modische Unsinn“, als der sie von einigen konservativen Lehrenden abgetan werden. Am konkreten darzustellenden Gegenstand und Forschungsergebnis wird zu entscheiden sein, ob sie den herkömmlichen Präsentationsformen von Wissenschaft im Einzelfall nicht sogar überlegen sein können. Wissenschaft, das kann gar nicht oft genug betont werden und zeigt sich an den Formen der Generierung von Wissen genauso wie an denjenigen seiner Repräsentation, zeichnet sich nicht durch die Einhaltung normativer Vorgaben und die ewig redundante Reproduktion von Altbekanntem aus. Vielmehr stellt sie einen unaufhörlichen Prozess der kreativen und sich an sich wandelnden Umweltbedingungen, also auch an sich verändernden technischen Möglichkeiten orientierenden, Neumontage des Bekannten unter Hinzufügung von immer Neuem dar. Dabei wird der Studierende und Forschende schnell feststellen, dass Wissen und die Speicherung und Darstellung desselben, welche alles andere als neutrale Instanzen, sondern selbst Bedeutung generierende Bestandteile des von ihnen bewahrten und weitergegebenen Wissens sind, überhaupt nicht sinnvoll voneinander zu trennen sind. Vielmehr ergeben sie eine unabdingbare Einheit, die auch nur als solche zu betrachten ist. Das beinhaltet allerdings unabdingbar eine kritische Verwendung dieser Medien, die nicht, wie bei vielen PowerPoint-Vorträgen, bei denen der Effekt den Inhalt ersetzt oder der Vortragende sich nur noch darauf beschränkt, den auf die Wand projizierten Text abzulesen, zum Selbstzweck werden darf, sondern sich immer an ihrem Darstellungsnutzen zu orientieren hat. So kann in einigen Fällen der auf Hilfsmittel verzichtende mündliche Vortrag dem Gegenstand etwa eines studentischen Referatsthemas durchaus angemessener sein als eine technisch hochgerüstete Präsentation, die aber in bloßer Effekthascherei verkommt und den eigentlichen Sinn des Referats, die Darstellung eines Gegenstandes, ad absurdum führt. Andererseits kommt aber auch vor, dass ein trocken vorgetragenes Referat sich der Möglichkeiten einer Verstehbarkeit für die Zuhörer und Zuschauer entzieht, wie sie sich dagegen etwa durch eine visuell-auditive Anschaubarmachung der Gegenstände und Thesen durchaus hätte einstellen können. Die Form der mündlichen Präsentation ist also jeweils eine Einzelfallentscheidung, die nicht etwaigen Formvorgaben sondern ausschließlich der Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit einer verstehbaren, dabei dennoch nicht unterkomplexen Darlegung zu folgen hat. Dasselbe gilt für schriftliche Präsentationsformen. Wie eine Hausarbeit oder eine Bachelor- und Masterarbeit formal auszusehen haben, darüber geben die im Buchhandel erhältlichen und in Bibliotheken und auf diversen Internetseiten einsehbaren allgemeinen Einführungen in das wissenschaftliche Arbeiten Auskunft, zu dem die meisten Universitäten auch - in die Curricula integriert oder jenseits von diesen - Kurse anbieten. Deren Inanspruchnahme ist auch dann unbedingt zu empfehlen, wenn sie nicht mit dem Erwerb von „Credits“ verbunden ist. Über die konkreten Be- 51 2.2 Wissen dingungen und Anforderungen der chinawissenschaftlichen Institute und Lehrstühle geben deren Webseiten und sicher auch die Lehrenden in ihren Sprechstunden gerne Auskunft. Sicher ist bei allen im Studium und darüber hinaus zu verfassenden Arbeiten immer darauf zu achten, dass in gestalterischer, sprachlicher, argumentativer und verweistechnischer Form die allgemeinen Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens wie auch diejenigen guter wissenschaftlicher Praxis, auf welche u.a. in den Publikationen und auf der Website der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) veröffentlichte Richtlinien hinweisen, eingehalten werden. Wissenschaft kann nämlich erst durch die Einhaltung dieser Standards zu Wissenschaft und für andere Wissenschaftler sowie die Gesellschaften nutzbar und nützlich werden. Bei aller Notwendigkeit der Einhaltung wissenschaftlicher Standards dürfen allerdings dennoch nicht der Zweck und die Hilfsmittel von Wissenschaft miteinander verwechselt werden. So stellen sich das normative Festhalten an vorgegebenen Richtlinien oder z.B. auch die Zählung von Fussnoten und anderen Verweisen in Hausarbeiten und die Beachtung der Einhaltung einer Nähe von studentischen Argumenten zu denjenigen in Lehrbuchtexten oder gar der Lehrenden selbst am Ende nicht selten als bloßer Konservatismus, als ewig redundante Vergewisserung der eigenen Positionen der Lehrenden heraus. Dieses Vorgehen indes zielt weniger auf wissenschaftliche Erkenntnis als vielmehr auf den Erhalt von Hegemonien, mithin auf die Prämierung wissenschaftlicher Ideenlosigkeit gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis. Dabei sollte sich ein jeder, der diesen Weg beschreitet, um so sicher durch sein Studium zu kommen, noch einmal den Zweck desselben und den Mehrwert, welchen es gegenüber einer bloßen „Ausbildung“ mit sich bringt, sowie die womöglich vertane Lebenszeit vor Augen halten, die mit dieser Reduzierung der eigenen Erkenntnismöglichkeiten, die ein Studium tatsächlich mit sich bringen sollte, einhergehen. Auch sollte er sich vor Augen halten, dass alle diejenigen Wissensbestände, die nunmehr zum konservativen Kanon gezählt und in endlosen Redundanzschleifen in der Wahrnehmung ihrer Hörer zu einer unhinterfragbaren Wahrheit gemacht werden, in der Zeit und in den Händen ihrer Entwicklung selbst einmal innovativ, mutig und widerständig waren. Schon auf dieser Ebene geben sie somit ein besseres Vorbild für eine auch zu ihrer Überwindung und Weiterentwicklung entlang sich verändernder Umweltbedingungen bereite Forschung ab als ihre selbsternannten, das Wort über die Erkenntnis stellenden Gralshüter, in deren Händen Wissen und Erkenntnis zu Theologie und Ideologie gerinnen und sich damit unmerklich dem Wissensprozess entziehen. Die meisten sinologischen und chinawissenschaftlichen Lehrenden und Prüfenden werden die - in wissenschaftlich korrekte Repräsentationen übersetzte - Freiheit des eigenen Denkens bei ihren Studierenden zweifellos honorieren. Der Studierende sei damit bei seiner Arbeit zu einer sinnvollen Mischung aus der Einhaltung wissenschaftlicher Standards sowie einer Kreativität ermutigt, die ihn in die Lage versetzt, das Gegebene nicht einfach nur zu übernehmen. Vielmehr geht es darum, es zugleich zu hinterfragen, zu verändern und für sein eigenes Forschungsinteresse sowie, hinsichtlich der Herstellung studentischer Arbeiten, für dessen optimale Kommunikation und Repräsentation und also für einen offenen, ausschließlich erkenntnisorientierten Diskurs nutzbar zu machen. Im engeren Kreis werden an diesem Diskurs zunächst die Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie die Kursleiter beteiligt sein und wird es in erster Linie darum gehen, Handwerkliches einzuüben und das angeeignete eigene Wissen im Rahmen der vorgegebenen Paradigmen kompetent in eine für die Kommilitoninnen und Kommilitonen verständliche und nachvollziehbare Repräsentation umzuformen und diesen dadurch als neue Wissensange- 52 2. Hinleitungen bote bereitzustellen. Im sich im Verlaufe des Studiums und darüber hinaus stetig erweiternden Kreis der Diskursteilnehmer wird es aber mehr und mehr auch darum gehen, Paradigmengrenzen zu überschreiten und in der Präsentation Testfelder für die bestehenden Wissensbestände oftmals infrage stellende und überwindende, somit nahezu zwangsläufig auch in ständiger und guter, ja notwendiger Kritik stehende neue Erkenntnisbereiche zu bereiten. Dabei ist es in aller Regel weder in formaler noch in inhaltlich-methodischer Hinsicht sinnvoll, Altes einfach radikal über Bord zu werfen und durch das als besser erachtete Neue zu ersetzen. Es ist aber genauso wenig sinnvoll, sich für das Neue nicht aus dem Gewand des Alten herauszuwagen. Vielmehr zeichnen sich erfolgreiche Präsentationen immer dadurch aus, dass sie das Neue in ihren Präsentationsformen wie auch in ihren Argumentationslinien nachvollziehbar aus dem Alten heraus entwickeln. Dabei ist vor allem das Gleichgewicht aus Kontinuität und Bruch im Auge zu behalten, durch das allein Neues sich seinen Weg bahnen kann, um die Hörer, Zuschauer und Leser der Präsentation mit auf diesen Weg zu nehmen. Bei alledem ist es nicht die Form, die den Inhalt bestimmt, kann es also nie sinnvoll sein, sich der vorgegebenen Richtlinien wegen an Präsentationsmuster zu halten, wie es leider noch immer an einigen Instituten gehandhabt wird, genausowenig wie es sinnvoll sein kann, des Regelbruchs wegen mit diesen Regeln zu brechen. Vielmehr hat sich die Form immer aus dem Inhalt zu ergeben. Dabei sollte allerdings die Tatsache, dass die Form der Repräsentation ihrerseits Einfluss auf die Aussage nimmt, immer mit in die Überlegungen einbezogen werden. So muss sich der Referent in universitären Lehrveranstaltungen genauso wie derjenige in akademischen Tagungen, bei Geschäftsabschlüssen oder in Unternehmenspräsentationen immer die Frage danach stellen, wie die darzustellenden Aussagen sich formal sinnvoll an das adressierte Publikum vermitteln lassen, um für dieses selbst zu einer Wissensgrundlage für die Generierung eigener Erkenntnis werden zu können. Klassische Vortragsformate können dabei als Äquivalenz zum schriftlichen Textformat von Hausarbeit oder wissenschaftlichem Essay genauso angemessen sein wie die multimediale PPP, solange deren mediales Format nicht zum Selbstzweck wird. Aber auch andere Formate wie die Erstellung einer interaktiven Bildschirmpräsentation oder die klassische Ausstellung können, abhängig von den Gegenständen und Aussagen für die Wissensvermittlung, zum optimalen Format der Präsentation von Wissen werden. Es darf nie vergessen werden, dass erst die Präsentation und verstehbare Vermittlung der in den ersten beiden Schritten des wissenschaftlichen Arbeitens generierten Erkenntnisse diese in den wissenschaftlichen Prozess einzufügen vermag. Nur so können Erkenntnisse zur Grundlage von weiterführenden Wissensprozessen durch die Adressaten der Präsentation werden, die ihrerseits auch dem Präsentierenden durch ihre Rückmeldungen und ihre eigene Arbeit die hinreichenden Impulse für seine eigene fortführende Erkenntnisarbeit liefern. 53 2.3 Schuldidaktik 2.3 Schuldidaktik (Henning Klöter) Sinologische Studiengänge führten bisher nicht zu einer Berufsqualifikation. Mit der fast zeitgleichen Einrichtung von Lehramtsstudiengängen Chinesisch an den Universitäten Bochum, Göttingen und Tübingen hat sich dies geändert. Die Studiengänge sind die ersten ihrer Art, die ein sinologisches Studium mit einer festen Berufsqualifikation verbinden. Während der berufliche Einstieg für Absolventen allgemeiner sinologischer Studiengänge in der Regel über individuelle Schwerpunktsetzungen, Fächerkombinationen und Praktika erfolgt, treten Studierende der neuen Studiengänge ihr Studium zumeist mit dem Berufsziel Lehramt an Gymnasien an. Doch werden sie nach Abschluss des Vorbereitungsdienstes (Referendariat) überhaupt Schulen vorfinden, an denen das Fach Chinesisch unterrichtet wird? Wie unterscheidet sich das Studium von anderen Lehramtsstudiengängen und von anderen sinologischen Profilen? Was sollte bei der Wahl eines Studienstandortes beachtet werden? Auf diese und andere Fragen soll in den folgenden Abschnitten genauer eingegangen werden. Chinesisch an Schulen in Deutschland und Europa, früher und heute Es soll sich in den 1980er Jahren an einem Gymnasium in Baden-Württemberg zugetragen haben. Ein Gymnasiallehrer war nach China gereist und hatte sich dort selbst Chinesisch beigebracht. Zurück in Deutschland war er fest entschlossen, seinen Schülern im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft diese Sprache beizubringen. Die neue AG wurde per Durchsage angekündigt. Einem damaligen Schüler zufolge soll der durchsagende Direktor Mühe gehabt haben, die Durchsage in Sachen Chinesisch-AG mit dem gebotenen Ernst zu Ende zu bringen. Nach dem Ende der Durchsage herrschte für den Bruchteil einer Sekunde kollektives Schweigen, woraufhin die gesamte Schule in schallendes Gelächter ausbrach. Dies ereignete sich vor nicht einmal 30 Jahren. Heutzutage löst die Erwähnung des Unterrichtsfachs Chinesisch zwar kein schallendes Gelächter mehr aus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Chinesisch inzwischen ganz unauffällig in die Reihe der etablierten Fremdsprachen Englisch, Französisch und Latein eingeordnet hätte. Auch wenn das Fach Chinesisch in den Schulcurricula nach wie vor eine untergeordnete Rolle spielt: Es ist zweifelsohne auf dem Weg zu mehr Akzeptanz und Verbreitung. Was das künftige Betätigungsfeld für Chinesischlehrer und -lehrerinnen betrifft, so gibt es zwar berechtigten Anlass zu Optimismus; von Euphorie kann jedoch nicht die Rede sein. Dies gilt sowohl für Deutschland als auch für das europäische Ausland. In einer aktuellen allgemeinen Bestandsaufnahme zur Situation des Fremdsprachenunterrichts in der Europäischen Union (Ammon und Wright 2010) findet Chinesisch so gut wie keine Erwähnung. Wie man es also dreht und wendet: Chinesisch wird auf Jahre hinaus die Rolle eines curricularen Außenseiters spielen. Ein Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen in einigen europäischen Ländern zeigt jedoch, dass Chinesisch im Windschatten der etablierten Fremdsprachen allgemein deutlich an Fahrt aufgenommen hat. In den Niederlanden (ähnliche Einwohnerzahl wie Nordrhein-Westfalen) hat das Bildungsministerium acht Schulen die Erlaubnis erteilt, Chinesisch als Abiturfach anzubieten. Nach einer vierjährigen Versuchsperiode soll über eine Ausweitung des Angebots entschieden werden. In Großbritannien ist im Zeitraum 2003 bis 2008 die Anzahl der Schulen, die das Unterrichtsfach Chinesisch anbieten, von 70 auf 500 angestiegen. Auch in Irland soll in den nächsten Jahren eine erhebliche Ausweitung des Angebots angestrebt werden. Die erfolgreichste Etablie- 54 2. Hinleitungen rung hat das Fach Chinesisch in Europa bisher in Frankreich vorzuweisen. Einer Erhebung zufolge wurde es im Jahr 2007 von ca. 16.000 Schülerinnen und Schülern an 15 Grundschulen und 260 weiterführenden Schulen belegt, Tendenz steigend (vgl. Hoffmann und Guder 2007). Chinesisch als Fremdsprache in Deutschland: Zahlen und Argumente Die Entwicklung des Fachs Chinesisch in Deutschland folgt einem Trend, der sich im unterschiedlichen Ausmaß auch in anderen europäischen Ländern manifestiert. Laut einer Erhebung des Pädagogischen Austauschdienstes (PAD, vgl. KMK 2011) befindet sich Chinesisch in Deutschland im Aufwind. Der PAD verweist in diesem Zusammenhang auf mindestens 232 Schulen und ca. 5.800 Schülerinnen und Schüler für das Schuljahr 2010/ 2011. Dies ist zwar ungefähr nur ein Drittel der Schülerzahlen in Frankreich; im Vergleich zur Situation vor 30 Jahren ist dies jedoch ein Quantensprung. So berichtete die damals frisch gegründete Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Chinesischunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland (heute bekannt als „Fachverband Chinesisch e.V.“) in der ersten Ausgabe ihrer Fachzeitschrift Chun im Jahr 1984 noch zweckoptimistisch unter Verweis auf acht bekannte Gymnasien von einer stetigen Zunahme der Zahl der Gymnasien mit Chinesisch im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft oder als Wahlfach (vgl. Kupfer 1984: 61). In München wurde Chinesisch seinerzeit aufgrund einer Ausnahmeregelung als Abiturprüfungsfach angeboten (ebd.). In der DDR gab es zeitgleich kein Unterrichtsangebot an Schulen. Kaden (1987: 31) verweist in diesem Zusammenhang auf den Versuch, in den 1950er Jahren Chinesisch an einer Oberschule in Erfurt einzuführen. Natürlich wäre es unzulässig, den Sprung von acht auf 232 Schulen in nicht einmal 30 Jahren auf die nächsten 30 Jahre zu projizieren. Dennoch gibt es aus den Bundesländern Anzeichen dafür, dass der Trend weiter in Richtung Zunahme geht. Antworten auf die Frage nach der Daseinsberechtigung und dem curricularen Mehrwert des Faches Chinesisch haben sich in den letzten Jahrzehnten kaum geändert. Unterschieden werden muss hierbei die politische von der lernerorientieren Argumentation. Erstere bezieht sich auf Argumente, mit denen Fachvertreter gegenüber politischen Entscheidungsträgern die Etablierung des Faches einfordern; letztere auf Gründe, mit denen Eltern, Schülerinnen und Schülern von der Wahl des Faches Chinesisch überzeugt werden sollen. Die sprachpolitische Argumentation pro Chinesisch in Deutschland ist in Stellungnahmen des bereits genannten Fachverbandes Chinesisch dokumentiert, insbesondere in zwei Erklärungen aus den 1990er Jahren. Darin wird insbesondere auf die „Größe“ der Sprache Chinesisch hingewiesen. Weltweit gibt es keine Sprache mit mehr Muttersprachlern als das Hochchinesische (international auch bekannt als „Mandarin“) und seine enger verwandten Dialekte - Schätzungen zufolge beläuft sich die Zahl der Sprecher auf ca. 850 Millionen. Chinesisch ist eine von sechs Arbeitssprachen der Vereinten Nationen. In den 1990er Jahren zeigte sich zudem überdeutlich, dass sich frühere Prognosen bezüglich der zu erwartenden Wirtschaftskraft des Riesenmarktes China bewahrheiten sollten. In der Soester Erklärung des Fachverbandes Chinesisch aus dem Jahr 1994 steht hierzu: „Auf den Weltkarten des kommenden Jahrhunderts wird höchstwahrscheinlich der asiatisch-pazifische Raum im Zentrum liegen und nicht mehr Europa und Amerika. Nicht mehr der G7-Club wird die Weltwirtschaft steuern, sondern die Gemeinschaft der ostasiatischen Mächte unter der Führung Chinas“ (Fachverband 1994: 10). Eine ähnliche argumentative Stoßrichtung 55 2.3 Schuldidaktik findet sich in der Dillinger Erklärung, die der Fachverband vier Jahre später veröffentlichte. Darin heißt es: „Heute besteht wohl kein Zweifel mehr, daß im Zuge der enorm prosperierenden chinesischen Wirtschaft Chinesisch zum Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer der großen Fremd- und Verkehrssprachen der Welt avancieren wird“ (Fachverband 1998: 7). Anders als noch in den 1980er Jahren, wird die Wichtigkeit von Chinesisch- Kompetenzen seit Mitte der 1990er Jahre immer stärker mit internationalen beruflichen Karrieremöglichkeiten begründet. Dies wird nicht nur als politisches Argument pro Chinesisch an Schulen angeführt, sondern manifestiert sich auch im Wandel chinabezogener Studiengänge an Universitäten. Anwendungsorientierte Studiengänge, die darauf abzielen, den Erwerb von Chinesisch-Kenntnissen mit Wirtschaftskompetenz zu kombinieren (oder umgekehrt), weisen vermutlich höhere Einschreiberaten auf, als traditionelle sinologische Studiengänge. Allerdings lässt sich die karriereorientierte Motivation im Hinblick auf die Fächerwahl durch Studierende keineswegs auf die Situation von Schülern übertragen. Die Frage, warum Schülerinnen und Schüler sich im Alter von 13, 14 oder 15 Jahren für die Sprache Chinesisch entscheiden (und im Elternhaus entsprechende Ermutigung und Unterstützung erfahren), soll und kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Alles in allem scheint die Formulierung des früheren Chinesischlehrers Hans-Christoph Raab nicht an Gültigkeit eingebüßt zu haben, der bereits 1984 in Bezug auf das Schul- und Universitätsfach Chinesisch von der „Attraktion der exotischen Ausstrahlung“ schrieb (Raab 1984: 67). Dies impliziert natürlich nicht, dass die Attraktion des Schulfachs Chinesisch auf seine Exotik reduziert werden soll. Dennoch liegt hier ein gewisses Dilemma. Einerseits trägt die exotische Ausstrahlung zur Attraktion des Faches bei; andererseits sollte genau diese Exotisierung Chinas und seiner Sprache im Rahmen des Schulunterrichts einem differenzierteren Chinabild und einem konkreten Sprachverständnis weichen. Chinesisch als Schulfach Ein paar Jahrzehnte nach dem Aufkommen erster AGs kann das Schulfach Chinesisch inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes als halbwegs etabliert betrachtet werden. Einerseits ist die Entwicklung im Bereich Schülerzahlen und schulisches Fächerangebot in den letzten Jahren in einem rasanten Tempo verlaufen. Anderseits ist Chinesisch nach wie vor kein „normales“ Schulfach. Chinesischlehrkräfte an Schulen berichten noch immer von einem immensen Rechtfertigungsdruck für ihr Fach, dem nach wie vor das Vorurteil anhaftet, schwer erlernbar, extravagant und politisch inkorrekt zu sein. Zu Letzterem: Einer aktuellen Umfrage des amerikanischen Pew-Forschungszentrums zufolge haben 28 Prozent der Deutschen einen positiven Eindruck von China. Nur Italien weist innerhalb Europas den gleichen niedrigen Wert auf; in Frankreich liegt er bei 42 Prozent (Pew 2013). Es liegt die Vermutung nahe, dass die negative Wahrnehmung Chinas in Deutschland in einem engen Zusammenhang mit der Infragestellung des Schulfachs Chinesisch an Schulen durch Eltern steht. Für (angehende) Chinesischlehrer hat das wichtige Implikationen. Gerade in der Übergangsphase von einer AG zum regulären Wahlfach ist es für ein neues Fach entscheidend, dass es angenommen wird und sich diese Akzeptanz in entsprechenden Belegzahlen widerspiegelt. Den Lehrenden kommt hierbei, gewollt oder ungewollt, die Rolle eines Fürsprechers in eigener Sache zu - eine Rolle, die sie von Lehrenden anderer moderner Fremdsprachen unterscheidet. 56 2. Hinleitungen Ob es dem Schulfach Chinesisch mittel- und langfristig gelingen wird, sich vollständig zu etablieren, hängt auch wesentlich von der politischen Unterstützung durch die verantwortlichen Ministerien ab. Auch diesbezüglich kann in den letzten 30 Jahren eine sehr positive Entwicklung verzeichnet werden. Aufgrund des föderalen Bildungssystems in Deutschland kann jedoch kein allgemeines Zwischenfazit gezogen werden. Die Situation des Schulfaches Chinesisch stellt sich von Bundesland zu Bundesland sehr uneinheitlich dar. Als erstes Bundesland hat Nordrhein-Westfalen im Jahr 1984 „sein Interesse an dem Vorhaben bekundet, an einer Hochschule den Studiengang Chinesisch mit erster Staatsprüfung für das Lehramt Sekundarstufe II einzuführen, um damit die Ausbildung qualifizierter Lehrkräfte zu gewährleisten“ (vgl. Kupfer 1984: 61). Es sollten jedoch noch ca. 30 Jahre verstreichen, bevor aus der Interessensbekundung ein bestehender Studiengang wurde. In zahlreichen Bundesländern ging der Übergang von der AG zur zweiten oder in der Regel dritten Fremdsprache einher mit der Verabschiedung von Curricula, Richtlinien oder Bildungsstandards. Die Kultusministerkonferenz legte 1998 einheitliche Prüfungsordnungen für die Abiturprüfung Chinesisch vor (KMK 1998). Gegenwärtig liegen Chinesisch- Lehrpläne in zehn Bundesländern vor (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Thüringen; vgl. Fachverband 2013). Lehramtsausbildungen Chinesisch in Bochum, Göttingen und Tübingen Lange befand sich das Fach Chinesisch in einer Zwickmühle: Ohne Lehrerinnen gab es keine Ausweitung des Fächerangebots, ohne ein erweitertes Fächerangebot schreckten Universitäten vor einer Etablierung der Lehrerausbildung zurück. Es ist also zu erwarten, jedoch keineswegs garantiert, dass die Einführung von universitären Lehrerausbildungen für Chinesisch an drei deutschen Hochschulen zur nachhaltigen Weiterentwicklung des Schulfachs Chinesisch beitragen wird. Wenn voraussichtlich im Jahr 2017 die ersten Absolventinnen den Vorbereitungsdienst abgeschlossen haben werden, können Schulen nicht mehr unter Verweis auf den Mangel an ausgebildeten Lehrkräften vor der Etablierung des neuen Faches zurückschrecken. Angehende Lehramtsstudenten des Faches Chinesisch müssen sich jedoch auf einige Besonderheiten in Bezug auf ihre Fächerwahl einstellen, die ihr Studium sowohl von anderen sinologischen Studiengängen als auch von anderen Lehramtsfächern grundlegend unterscheidet. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Lehramtsstudiengängen liegt darin, dass die bestehenden Studiengänge keinerlei Chinesisch- Vorkenntnisse voraussetzen. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Zum einen müssen sich Studierende für eine Sprache entscheiden, die ihnen weitgehend oder gar vollständig unbekannt ist. Für jedes andere Lehramtsfach werden in der Schule Grundkenntnisse vermittelt. Begegnungen mit diesen Fächern ermöglichen es Schülern, frühzeitig persönliche fachliche Neigungen und Fähigkeiten festzustellen. Die Entscheidung für das Lehramtsfach Chinesisch ist hingegen eine Entscheidung für ein weitgehend unbekanntes Fach, das man sechs Jahre später nicht nur selbst unterrichten soll, sondern für dessen schulisches Fortbestehen ein wesentlich höheres Engagement erforderlich ist, als für etablierte Schulfächer. Studieninteressierte sollten sich daher vor Beginn des Studiums hinsichtlich der eigenen Erfolgserlebnisse, Begeisterungsfähigkeit und des Durchhaltevermögens beim Erlernen von Fremdsprachen genauestens selbst hinterfragen. Außerdem ist es dringend ratsam, ein Angebot zum Kennenlernen mit der Fremdsprache Chinesisch wahrzunehmen, sei es in Form von 57 2.3 Schuldidaktik Vorbereitungskursen an Universitäten, Sprachreisen oder außeruniversitären Sprachkursen. Selbstverständlich ist es ein großer Vorteil, im Rahmen des Schulunterrichts bereits Chinesisch-Grundkenntnisse erworben zu haben. Allerdings hat sich bisher in der Praxis nicht gezeigt, dass ein erfolgreich absolviertes Schulfach Chinesisch ein großer Startvorteil beim Studium ist. Auf diesen Punkt soll weiter unten genauer eingegangen werden. Der „Start bei null“ hat auch weitreichende Konsequenzen für den Inhalt und den Aufbau des Studiums: Ein beträchtlicher Anteil der BA-Studiengänge ist dem Erlernen der modernen chinesischen Hochsprache gewidmet. Dies hat wiederum zur Konsequenz, dass die fachdidaktischen sowie die sprach- und kulturwissenschaftlichen Anteile des Bachelor-Studiums im Vergleich zu anderen BA-Lehramtsstudiengängen im Bereich der Fremdsprachendidaktik eher gering ausfallen. Ein Rechenbeispiel mag das illustrieren. Studierende erwartet im BA-Studium Chinesisch an der Universität Göttingen ein Sprachkursanteil von 57 CP; in Tübingen sind dies 51, in Bochum 45. Zum Vergleich: Der Anteil der Sprachpraxis in einem BA-Studiengang Französisch liegt bei ca. 20 CP und ist eher ein marginaler Teil des Studiums. Da die maximale Anzahl der CP für einen Studiengang genau reglementiert ist, eröffnet sich bei der Gestaltung eines BA-Studiengangs Chinesisch zwangsläufig relativ wenig Raum für affine fachwissenschaftliche Lehrveranstaltungen. Der Studienverlauf ist daher wesentlich stärker vorstrukturiert, als dies bei anderen Studiengängen der Fall ist. Eine wichtige affine Fachwissenschaft der Lehramtsausbildung ist die Sprachwissenschaft. Die Fragestellungen der Sprachwissenschaft orientieren sich zwar nicht an der Praxis des Fremdsprachenunterrichts. Dennoch werden umgekehrt im Rahmen sprachwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen mit expliziter Bezugnahme auf das Chinesische metasprachliche Kenntnisse vermittelt, die als Kontextwissen eine wichtige Voraussetzung für die spätere Praxis des Unterrichts sind. Der Erwerb einer soliden sprachwissenschaftlichen Grundlage ist zudem eine wesentliche Voraussetzung für die wissenschaftliche Forschung im Bereich Chinesisch als Fremdsprache. Im Rahmen eines Bachelor-Studiums geht es um die wissenschaftlich stichhaltige Beantwortung von konkreten Fragen wie diesen: Hat das Chinesische eine Grammatik und wie „funktioniert“ diese? Was ist der Unterschied zwischen Schriftzeichen und Wörtern? Wie viele Schriftzeichen gibt es? Wie unterscheidet sich das im Norden gesprochene Chinesisch von südlichen Dialekten? Was hat es mit den chinesischen Tönen auf sich? Trotz der intensiven Gewichtung der Sprachausbildung werden Absolventen von Chinesisch-Lehramtsstudiengängen keine Sprachkompetenzen erreichen, die mit denen eines abgeschlossenen Englisch- oder Französisch-Studiums vergleichbar wären. In den letztgenannten Fremdsprachen wird eine hohe Kompetenz in der jeweiligen Sprache als Voraussetzung zur Aufnahme des Studiums betrachtet; sie ist zudem in der Regel Lehr- und Prüfungssprache in den fachwissenschaftlichen Veranstaltungen. Hiervon sind sinologische Studiengänge im Allgemeinen und Lehramtsstudiengänge Chinesisch im Besonderen weit entfernt. An der Universität Göttingen ist ein einsemestriger Studienaufenthalt an einer Universität im chinesischsprachigen Raum (China, Taiwan) integraler Bestandteil des Studiums. Allgemein gilt, dass angesichts der enormen Bedeutung besonders hoher Sprachkompetenzen unabhängig von Studienordnungen auf jeden Fall ein deutlich längerer Studienaufenthalt in China realisiert werden sollte. 58 2. Hinleitungen Die Entscheidung für einen Lehramtsstudiengang Chinesisch fällt im Prinzip zu Beginn oder während des Bachelorstudiums. Da an den Standorten Bochum, Göttingen und Tübingen jeweils ein Chinesisch-Sprachkurs für alle sinologischen Studiengänge angeboten wird, ist ein Wechsel in den Lehramtsstudiengang auch nach Aufnahme des Studiums und dem erfolgreichen Erwerb von Chinesisch-Grundkenntnissen möglich. Allerdings muss bei dieser Entscheidung beachtet werden, dass an allen drei Standorten bereits in der Bachelor-Phase außerhalb des Fachstudiums erziehungswissenschaftliche Pflichtveranstaltungen vorgesehen sind, die wiederum Eingangsvoraussetzung für den späteren Master of Education sind. Eine wesentlich grundlegendere Vorentscheidung für den Lehramtsstudiengang Chinesisch im Bachelor erfolgt durch die Wahl eines Zweitfachs. Grundsätzlich können alle Lehramtsstudiengänge nur in Kombination mit einem Zweitfach belegt werden. Dies ist insbesondere zu beachten, wenn Studierende erst nach Beginn des Studiums die Entscheidung treffen, in einen Lehramtsstudiengang zu wechseln. Je nachdem, wann der Wechsel genau erfolgt, kann ein bisher nicht belegtes Kombinationsfach zu zeitlichen Verzögerungen führen. Hinsichtlich der möglichen Fächerkombinationen weisen die drei Standorte Unterschiede auf. Die möglichen Fächerkombinationen mit Chinesisch sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Bochum Göttingen Tübingen Biologie  X X Chemie   X Deutsch    Englisch    Ev. Theologie    Französisch X   Geschichte  X  Geographie X X  Griechisch X X  Informatik X   Italienisch X X  Kath. Theologie  X  Latein    Mathematik   X Philosophie X X  Physik   X Politik und Wirtschaft X X  Russisch X X  Spanisch    Tabelle 1: Kombinationsfächer für den Master of Education Chinesisch an drei Hochschulen Berufsperspektiven Welche beruflichen Perspektiven erwarten angehende Chinesischlehrer? Eine sichere Antwort auf diese Frage kann für Chinesisch ebenso wenig gegeben werden wie für andere Schulfächer. Eine Fächerwahl mit Berufsgarantie gibt es grundsätzlich nicht. 59 2.3 Schuldidaktik Viel wird davon abhängen, ob Schulen und Ministerien in den einzelnen Bundesländern dazu übergehen, das neue Angebot an professionell ausgebildeten Lehrkräften anzunehmen und das vielerorts bereits bestehende AG-Angebot in ein reguläres Fächerangebot umzuwandeln. Das weitere Schicksal des Faches Chinesisch wird zudem zwangsläufig aufs engste verknüpft bleiben mit der Wahrnehmung des Landes China. Wie oben bereits angedeutet, steht die Unterstützung oder auch Infragestellung des Faches Chinesisch an Schulen auch in einem Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Landes China. Als Beispiel für die Wechselwirkung zwischen politischen Ereignissen in China und Wahrnehmung des Faches sei hier der dramatische Einbruch der Studierendenzahlen im Fach Sinologie infolge der Niederschlagung der Studentenproteste von 1989 genannt. Die meisten deutschen Universitäten haben die mehrjährige Durststrecke bei den Neueinschreibungen überstanden. Für das junge Schulfach Chinesisch käme bei ausbleibenden Neuanmeldungen an vielen Orten das Ende wohl schneller. Zum jetzigen Zeitpunkt kann jedoch keinerlei Prognose abgegeben werden, wie sich der Bedarf an professionell ausgebildeten Chinesischlehrern in den nächsten zwei Jahrzehnten entwickeln wird. Der Blick auf die beruflichen Perspektiven sollte sich jedoch nicht auf die Entwicklung des Schulfachs Chinesisch beschränken. Es ist zu erwarten, dass sprachliche und interkulturelle Vermittlungskompetenz als zentrale Inhalte eines Lehramtsstudiengangs Chinesisch in Zukunft auch außerhalb der Schule stärker gefragt sein werden als heute. Ein wichtiges Berufsfeld für Chinesischlehrer ist daher auch der außerschulische Chinesischunterricht. Die Zahl der Firmenmitarbeiter und Berufseinsteiger, die in Vorbereitung auf einen längeren Chinaaufenthalt an sprachlichen und interkulturellen Vorbereitungskursen teilnehmen (möchten), wächst stetig. Sollte dieser Trend anhalten und gleichzeitig der Qualitätsanspruch in Bezug auf die didaktische Professionalität von Lehrenden wachsen, so werden sich automatisch andere Aufgabenbereiche für Absolventen ergeben. Auch hier gilt, dass der Nachweis von längeren Aufenthalten im chinesischsprachigen Raum ein wichtiger Qualifikationsvorteil ist. Auch Schulbuchverlage haben den „Markt“ Chinesisch als Fremdsprache inzwischen für sich entdeckt. In den letzten Jahren sind zwar bereits einige Lehrwerke und andere didaktische Hilfsmittel für jüngere Lernergruppen erschienen. Insbesondere im Bereich des E-Learning kann jedoch von einer Ausweitung und damit von einem höheren Bedarf an qualifizierten Fachleuten ausgegangen werden. Die akademische Forschung im Bereich Chinesisch als Fremdsprache ist ein weiteres Betätigungsfeld für künftige Absolventen. Der akademische Grad Master of Education berechtigt genauso zur Promotion wie andere Master-Abschlüsse. Einschlägige Forschungsarbeiten im Schnittfeld von Spracherwerb, Fremdsprachendidaktik und Chinesischunterricht gibt es nur sehr wenige, der Bedarf ist jedoch groß. Es bleibt daher ein Desiderat, dass die Professionalisierung der Lehrerausbildung auch mit der Stimulierung anwendungsorientierter Forschung einhergehen wird. Ausblick Die obige Feststellung, dass das sinologische Lehramtsstudium keine Vorkenntnisse voraussetzt, führt schließlich zu der Frage, ob Absolventen eines schulischen Sprachkurses an der Universität Startvorteile haben, eventuell sogar in ein höheres Fachsemester eingestuft werden können. Grundsätzlich kann die Frage positiv beantwortet werden: Schulabsolventen betreten an der Universität kein fachliches Neuland. Allerdings hat sich in der Praxis bisher nicht gezeigt, dass sie aufgrund ihrer Vorkenntnisse 60 2. Hinleitungen Tests bestehen, auf deren Grundlage sie in ein höheres Semester eingestuft werden könnten. Einer der Gründe ist, dass im schulischen Chinesischunterricht ein höherer Nachdruck auf kommunikativen Kompetenzen liegt, während universitäre Sprachkurse tendenziell eher textfokussiert sind. Konkret ausgedrückt: Die Anzahl der im ersten Fachsemester zu erlernenden Schriftzeichen liegt in der Regel über dem, was das schulische Curriculum in drei Schuljahren „abverlangt“. Es ist daher zu hoffen, dass die Einrichtung der neuen Lehramtsstudiengänge Chinesisch eine breitere Diskussion über Lernziele, Inhalte und Methoden des Chinesischunterrichts nach sich ziehen wird. Wenn es mittelfristig gelingt, einen barrierefreieren Übergang von der Schule zur Universität zu gestalten, wird das nicht nur konkretere Weiterbildungsperspektiven für Schülerinnen und Schüler eröffnen. Durch ein engeres Ineinandergreifen von schulischer Ausbildung und weiterführenden Sprachlehrgängen an Universitäten würden China-bezogene Studiengänge allgemein einen nachhaltigen Schub erhalten. Zitierte Literatur Ammon, Ulrich; Wright, Sue (2010): Fremdsprachen an den Schulen der Europäischen Union. Berlin, De Gruyter. Fachverband (Fachverband Chinesisch e.V.) (1994): „Soester Erklärung zur Fremdsprache Chinesisch an Schulen im deutschsprachigen Raum“. In: Chun - Chinesischunterricht 10, S. 9-12. Fachverband (Fachverband Chinesisch e.V.) (1998): „Erklärung der Teilnehmer an der Tagung „Chinesisch als spätbeginnende Fremdsprache am Gymnasium“ in Dillingen/ Donau“. In: Chun - Chinesischunterricht 14, S. 7-9. Fachverband (Fachverband Chinesisch e.V.) (2013): Curricula. Online: http: / / www.fachverbandchinesisch.de/ chinesischindeutschland/ curricula/ index.html, letzter Aufruf am 25.7.2013. Hoffmann, Jana N.; Guder, Andreas (2007): „Une langue émergente“: Chinesischunterricht in Frankreich. In: CHUN - Chinesischunterricht 227, S. 187-195. Kaden, Klaus (1987): „Chinesischausbildung in der Deutschen Demokratischen Republik“. In: Chun - Chinesischunterricht 4, S. 20-33. KMK (Kultusministerkonferenz/ Pädagogischer Austauschdienst) (2011): Chinesisch an Schulen in Deutschland. Zusammenfassung der Ergebnisse einer Umfrage durch die Kultusministerkonferenz vom Frühjahr 2011. Online: http: / / www.kmk-pad.org/ fileadmin/ Dateien/ download/ VEROEFFENTLICHUNGEN/ Auswertung_China2011.pdf KMK (Kultusministerkonferenz) (1998): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) für Chinesisch. Online: http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 1998/ 1998_04_14_EPA_Chinesisch.pdf, letzter Aufruf am 25.7.2013. Kupfer, Peter (1984): „Chinesischunterricht in der Bundesrepublik Deutschland“. In: Chun - Chinesischunterricht 1, S. 60-66. Pew (PewResearch) (2013): America’s Global Image Remains More Positive than China’s. Online: http: / / www.pewglobal.org/ 2013/ 07/ 18/ americas-global-image-remains more-positive-than-chinas/ , letzter Aufruf am 25.7.2013. Raab, Hans-Christoph (1984): „Chinesischunterricht am Gymnasium Marktbreit“. In: Chun - Chinesischunterricht 1, S. 67-70. 3. Weiterleitungen 3.1 Transfer: Philologie (Philip Clart) Die aktuelle Problematik Philologie heißt wörtlich „die Liebe zum Wort“, wird aber im modernen Sprachgebrauch in der Regel enger auf die Erforschung von Texten in ihren sprachlichen, kulturellen und historischen Strukturen und Kontexten angewendet. Diese Texte können als Selbstzweck erforscht werden, aber in der Regel dient ihr Studium der Eröffnung von Zugängen zu den kulturellen und historischen Kontexten, in denen sie entstanden sind. Manche Definitionen betonen daher eher die Ziele von Philologie, andere ihre spezifischen Verfahrensweisen. Ein Beispiel für ersteren Definitionstyp sieht in der Philologie eine Kulturwissenschaft (Erforschung von Kultur und oder Geschichte; vg . Bremer und Wirth 2010: 94), letzterer die wissenschaftlich geordnete Erschließung von Texten (Pollock 2009: 931; allgemein zur Begriffsbestimmung s. Ziolkowski 1990, Bremer & Wirth 2010, Lepper 2012). Beides gehört als Erkenntnisinteresse und Methode zusammen. Bezeichnet man die Sinologie als philologische, d.h. sprach- und textbezogene Wissenschaft, so kann dies einerseits als eine neutrale Beschreibung verstanden werden, andererseits als programmatische Vorgabe. Im ersteren Sinne reflektiert diese Definition die Tatsache, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit China in der Tat über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit chinesischen Texten war und weiterhin ist. Im letzteren Sinne ist sie eine normative Festlegung der Sinologie als eine rein philologische Wissenschaft, also unter Ausschluss anderer methodischer Zugänge zu China. Der Soziologe, der quantitative Datenerhebungen betreibt; die Ethnologin, die Feldforschungen durchführt; die Kunsthistorikerin, die die Werke chinesischer Gelehrten-Maler studiert: Sie alle sind keine Philologen und wären damit in der programmatischen Deutung des Eingangssatzes keine Sinologen. Im sozialwissenschaftlichen Turn der Chinaforschung ab den 1960er Jahren spielten solche Aus- und Eingrenzungsfragen tatsächlich eine zentrale Rolle und führten u.a. zu einer terminologischen Unterscheidung zwischen einer rein philologisch verstandenen Sinologie einerseits und multidisziplinär aufgestellten Chinawissenschaften andererseits. Diese begriffliche Trennlinie ist in der anglophonen Welt wesentlich schärfer gezogen worden als im deutschsprachigen Bereich: Sinology wird eindeutig als Philologie und gleichzeitig als spezialisierter Unterbereich der multidisziplinären Chinese Studies definiert. Dementsprechend setzt sich der Lehrkörper in Chinese Studies programs z.B. an nordamerikanischen Universitäten in der Regel aus China-Experten vieler Fachrichtungen und Institute zusammen, wobei die Angebote der meist an Asian Studies departments angesiedelten sinologists ergänzt werden durch Vorlesungen und Seminare von Wirtschaftswissenschaftlern, Historikern, Linguisten, Ethnologen, Soziologen, Politikwissenschaftlern, Kunsthistorikern, Philosophen, Medien- und Kommunikationswissenschaftlern, Religionswissenschaftlern u.v.a.m. Ein solch breites Angebot existiert an deutschen Universitäten in der Regel nicht, da hierzulande China-Kompetenz meist auf die sinologischen Institute begrenzt bleibt, während sich l 62 3. Weiterleitungen die sogenannten Fachwissenschaften bislang kaum für Wissenschaftler mit regionalen Forschungsschwerpunkten außerhalb Europas und Nordamerikas geöffnet haben. Diese problematischen Strukturen konfrontieren die deutsche Sinologie mit einem Dilemma: Den typischerweise kleinen sinologischen Instituten mit ein, zwei oder drei Professuren kommt die Aufgabe zu, an ihren Universitäten die wissenschaftliche Beschäftigung mit China in Forschung und Lehre weitgehend allein zu repräsentieren. Die Unmöglichkeit dieser Aufgabe resultiert in zwei verschiedenen Strukturmodellen: Zum einen gibt es die Aufteilung der vorhandenen Professuren an einem Institut in philologisch-historisch und sozialwissenschaftlich ausgerichtete; erstere haben dann meistens einen Forschungsschwerpunkt im vormodernen, letztere im modernen China - man versucht also die disziplinäre Spannbreite der Chinawissenschaften selektiv und en miniature zu reproduzieren. Kritiker sehen in diesem Ansatz eine Verzettelung ohnehin ungenügender Ressourcen und plädieren stattdessen für eine klare Schwerpunktbildung entweder im Bereich philologischer Sinologie oder sozialwissenschaftlicher Chinawissenschaften. Es gibt im Wesentlichen zwei Kritiken dieser Alternativen: Die einen sehen in der rein philologischen Ausrichtung die Konservierung eines obsoleten Wissenschaftsverständnisses, die anderen in der sozialwissenschaftlichen Alternative eine verflachte „Sinologie light“ ohne genügende sprachlich-historische Fundierung. Vor diesem Hintergrund setzt sich das vorliegende Kapitel zwei Ziele: erstens, die Rolle philologischer Ansätze in der historischen Entwicklung der Sinologie und ihr Verhältnis zu anderen methodischen Ansätzen zu evaluieren; zweitens, einen Überblick über die Bedeutung der Philologie in der aktuellen Chinaforschung zu geben. Philologische Chinaforschung: Historische Perspektiven Lässt man mit Charles Le Blanc (Le Blanc 2007) und Helwig Schmidt-Glintzer (Schmidt-Glintzer 2007), auf die im Folgenden vor allem Bezug genommen wird, die Fachgeschichte der Sinologie mit dem Jesuiten Matteo Ricci (1552-1610) beginnen, so steht an ihrem Anfang auch die intensive Auseinandersetzung mit Chinas kanonischem Schrifttum. Für Riccis missionarische Akkommodationsstrategie war die Aufarbeitung und christliche Aneignung vor allem der konfuzianischen Klassiker von zentraler Bedeutung und so verfasste er die erste lateinische Übersetzung der Vier Bücher (Gespräche des Konfuzius, Großes Lernen, Maß und Mitte, Menzius). Seine Nachfolger in der China-Mission führten die Beschäftigung mit den chinesischen kanonischen Schriften fort; 1687 erschien in Paris Philippe Couplets Werk Confucius Sinarum Philosophus, welches Übersetzungen von dreien der Vier Bücher enthielt und enormen Einfluss im Zeitalter der Aufklärung ausüben sollte. Bis zur Mitte des 18. Jh. blieb die philologische Erschließung chinesischen Schriftguts im Wesentlichen eine Domäne der Missionsorden, welche durch ihre Präsenz vor Ort privilegierten Zugang zu chinesischen Texten und zu den sprachlichen Mitteln ihrer Bearbeitung hatten. Die Entwicklung wurde unterbrochen bzw. geschwächt durch die Ausweisung der meisten christlichen Missionare aus China nach 1724 sowie durch das päpstliche Verbot des Jesuitenordens zwischen 1773 und 1814. Als nach 1846 die Wiedereröffnung der katholischen Chinamission unter französischer Ägide ermöglicht wurde, verfügten die Missionsorden nicht mehr über ein sinologisches Monopol, da ungefähr zeitgleich protestantische Missionare aktiv wurden und sich eine säkulare China-Philologie zu entwickeln begann. Gleichwohl blieben katholische Ordensgelehrte einflussreich; zu nennen sind hier die zahlreichen Klassikerübersetzungen ins Französische des Jesu- 63 3.1 Transfer: Philologie iten Séraphin Couvreur (1835-1919) sowie sein Wörterbuch Dictionnaire classique de la langue chinoise (1890). Hochproduktiv war zudem der Jesuit Léon Wieger (1856 1933), der neben den bislang privilegierten konfuzianischen Klassikern auch daoistische Texte (Laozi, Zhuangzi, Liezi) sowie das sprachgeschichtlich wichtige Wörterbuch aus dem 1. Jh. Shuowen jiezi übersetzte und kommentierte. Heute sind die vier Ricci-Institute des Jesuitenordens (in Taipei, Paris, San Francisco und Macau) weiterhin wichtige Zentren der sinologischen Forschung; u.a. publizierten sie 2001 das bislang beste und umfassendste zweisprachige Wörterbuch der chinesischen Sprache, den Grand Dictionnaire Ricci de la langue chinoise (7 Bände). Die nicht-katholische Sinologie des 19. Jh. folgte zwei Entwicklungslinien, welche im 20. Jh. fusionierten. Zum einen gab es ein protestantisches Konkurrenzprojekt der philologischen Erschließung Chinas durch China-Missionare, die sich dem Studium des klassischen Schrifttums widmeten. Besonders wichtig für die Sinologie sind hier die Werke des Schotten James Legge (1815-1897), des Deutschen Richard Wilhelm (1873-1930) und des Australiers R.H. Mathews (1877-1970). Letzterer ist der Autor von Mathews’ Chinese-English Dictionary (1931), welches das Standard-Handwörterbuch für das Lesen sowohl moderner wie vormoderner Texte wurde und heute immer noch in Gebrauch ist, jedenfalls für das vormoderne Chinesisch. Legge und Wilhelm wurden bekannt für ihre umfangreichen Übersetzungen chinesischer Schriften, respektive ins Englische und Deutsche. Legges The Chinese Classics: with a Translation, Critical and Exegetical Notes, Prolegomena, and Copious Indexes (in fünf Bänden, 1861-1872) ist philologisch mittlerweile etwas in die Jahre gekommen. Es ist aber nicht zuletzt wegen seiner Benutzerfreundlichkeit immer noch in Gebrauch, da es synoptisch den chinesischen Text, die englische Übersetzung und die umfangreichen Anmerkungen und Kommentare Legges und seiner chinesischen Kollegen jeweils auf derselben Seite anordnet. Wilhelms Übersetzungen dominierten die deutsche China- Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und hatten auch internationale Ausstrahlung; vor allem seine Übersetzung des Yijing (Buch der Wandlungen, mit einem Vorwort Carl Gustav Jungs, 1924) galt lange als Standardversion und wurde in andere Sprachen übersetzt (z.B. die einflussreiche englische Fassung 1950). Die diversen protestantischen Missionswerke hatten jedoch ein deutlich geringeres intrinsisches Interesse an sinologischer Forschung als ihre katholischen Konkurrenten. So konnten sich hier keine von der Theologie relativ klar geschiedenen institutionellen Strukturen für die Sinologie herausbilden, wie sie im katholischen Bereich die bereits genannten Ricci-Institute der Jesuiten oder das Institut Monumenta Serica der Steyler Mission (Societas Verbi Divini) in St. Augustin bei Bonn repräsentieren. Mangels akademischer Perspektiven im konfessionellen Bereich überrascht es daher nicht, dass protestantische Missionssinologen dazu neigten, irgendwann in die säkulare Lehre und/ oder Forschung zu wechseln. James Legge war die letzten 20 Jahre seines Lebens Professor für chinesische Sprache und Literatur an der Universität Oxford. Richard Wilhelm lehrte ab 1924 chinesische Geschichte und Philosophie an der Universität Frankfurt am Main und R.H. Mathews arbeitete nach seiner Repatriierung aus China nach dem 2. Weltkrieg als Linguist für das australische Verteidigungsministerium (http: / / www.umass.edu/ wsp/ sinology/ persons/ mathews.html. Zugriff 05.03.13). Diese Karrierebewegungen markieren die Entwicklung einer säkularen, d.h. von unmittelbar theologisch-missiologischen Zielsetzungen emanzipierten (wiewohl nicht notwendigerweise völlig freien) Sinologie, deren Ursprünge allerdings bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichen. In Europa spielte Frankreich hier die Vorreiterrolle mit der Einrichtung der ersten Professur für chinesische Studien am Collège de France - 64 3. Weiterleitungen im Jahre 1814. Der erste Inhaber dieses Lehrstuhls war Jean-Pierre Abel-Rémusat (1788-1832), der ebenso wie viele andere bekannte Sinologen des 19. Jahrhunderts einen sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt hatte, was sich aus der Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erschließung der chinesische Sprache(n) in dieser Frühphase der Sinologie ergibt. In diesem Zusammenhang überrascht es denn auch nicht, dass die früheste sinologische Professur in Deutschland eine für ostasiatische Sprachen war und von einem ausgewiesenen Sprachwissenschaftler eingenommen wurde. Hans Georg Conon von der Gabelentz (1840-1893) lehrte von 1878 bis 1889 erst als außerordentlicher Professor, dann als ordentlicher Honorarprofessor der ostasiatischen Sprachen an der Universität Leipzig; er verfasste u.a. die richtungsweisende Chinesische Grammatik mit Ausschluss des niederen Stiles und der Umgangssprache (Leipzig 1881; s. Leibfried 2003). Die starke sprachwissenschaftliche Ausrichtung war aber nicht nur den Fundierungsbestrebungen einer jungen Disziplin geschuldet, sondern geht durchaus konform mit allgemeinen Tendenzen der Wissenschaftslandschaft bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein. Die säkulare Sinologie bildete sich unter dem Einfluss und den Vorgaben der im 19. Jahrhundert aufblühenden philologischen Wissenschaften heraus, die sich aus zwei Quellen speisten: zum einen aus der neuen Bibelforschung, welche die christlich-jüdische Überlieferung der historisch-sprachlichen Textkritik unterwarf, zum anderen aus der Befassung mit dem griechischen und lateinischen Schriftgut der klassischen Antike. In beiden Projekten waren sprachwissenschaftliche und hermeneutische Verfahren und Anliegen eng verbunden - die Herausdifferenzierung der Linguistik als eigenständige Disziplin erfolgte erst später. Beide Projekte, Altertums- und Bibelforschung, dienten der Erschließung und kritischen Neubewertung derjenigen schriftlichen Überlieferungen, die als kanonisch konstitutiv für Europas Kultur und Identität angesehen wurden. Im Zuge der nationalstaatlichen Prozesse des 19. Jahrhunderts sprang der philologische Funke rasch auf die Erschließung anderer nationalidentitätsstiftender Textkorpora über und führte zur Herausbildung der einzelnen Nationalphilologien (wie z.B. der Germanistik). Sieht man vom Hebräischen als biblische Sprache ab, fanden die frühesten philologischen Forschungen zu asiatischen Sprachen und Kulturen im Bereich der sogenannten indogermanischen Sprachen statt, welche sprachgeschichtlich mit dem Lateinischen und Griechischen verbunden waren und daher bald ins Visier der Altertumsforschung gerieten. Hier war für die Sinologie die frühe Entwicklung der Indologie aus der Sanskritforschung von besonderer Bedeutung, da viele Sinologen bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein ihre sprachwissenschaftlich-philologischen Fertigkeiten im Studium der Indologie erlernten und erst dann auf China und das Chinesische übertrugen. Die institutionelle Konsolidierung der Sinologie in Deutschland fand erst im frühen 20. Jahrhundert statt und zwar bezeichnenderweise in einer Selbstdefinition als philologische Kulturwissenschaft, die über das reine Sprachstudium und die Sprachvermittlung weit hinausgehen sollte. Der unmittelbare hochschulpolitische Kontext waren die Debatten um Sinn, Zweck und Ziel der deutschen Chinaforschung in den Jahren zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. 1887 war das Seminar für Orientalische Sprachen an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin gegründet worden, welches praktische Sprach- und Landeskenntnisse zur Beförderung der Außen- und Kolonialinteressen des Deutschen Reiches vermitteln sollte. Im Gegensatz zu diesem engen Anwendungsbezug sollte die „wissenschaftliche Sinologie” „ein gründliches Verstehen der ostasiatischen Kulturwelt, und zwar nicht eine mechanische Kenntnis ihrer [...] äußeren Erscheinungsformen, sondern ein Durchdrin- 65 3.1 Transfer: Philologie gen ihres geistigen Gehalts und ihrer historischen Entwicklung“ auf Grundlage einer „genaue[n] Kenntnis des Altertums und der confucianischen Exegese“ ermöglichen (zit. in Schmidt-Glintzer 2007: 41-42). Der Prozess der Etablierung einer als historisch-philologischen Wissenschaft verstandenen Sinologie war mühselig und langsam. 1911 beklagte Otto Franke, der Autor der soeben zitierten Zeilen, wiederum die deutsche Fixierung auf Nützlichkeitserwägungen im Sinne von Sprachunterricht und Landeskunde: „Für die Notwendigkeit, das Geistesleben der Chinesen in ihrem geschichtlichem Zusammenhange zu erfassen, die Sprache nicht bloß als Verständigungsmittel für den Verkehr, sondern auch als Schlüssel für das Eindringen in die Literatur zu studieren, fehlt hier fast durchweg das Verständnis“ (zit. in Schmidt-Glintzer 2007: 45; zur Fachgeschichte um die Wende des 20. Jh. s. auch Schütte 1999). Angesichts der aktuellen Versuche, das Hochschulstudium wieder stärker auf Anwendungs- und Nützlichkeitserwägungen auszurichten (Stichwort: berufsqualifizierender Charakter der BA-Abschlüsse) ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass zumindest in Deutschland die Sinologie sich erst in der Emanzipation von kolonialpolitischer Dienstleistungserbringung als Wissenschaft etablieren konnte. Das heißt allerdings nicht, dass manche Sinologen sich nicht dennoch als willige politische Erfüllungsgehilfen gerierten (zum stark variierenden kritisch-reflexiven Potenzial der Sinologie des 19. und frühen 20. Jh. s. Leutner 1999). Sie etablierte sich dabei als historisch-philologische Wissenschaft, deren privilegierter Zugang zu China über chinesische Texte erfolgte. Dieses philologische Verständnis von Sinologie produzierte einen reichen Korpus an Übersetzungen und Kommentaren chinesischen Schriftguts sowie historische Forschungen mit primärem Rekurs auf chinesischsprachige Quellen. Das Selbstverständnis der Sinologie als Philologie blieb bis in die 1950er Jahre hinein weitgehend unangefochten; dann allerdings kam eine Reihe von Faktoren zusammen, die eine breitere methodische Aufstellung der Chinaforschung verlangten. Zum Teil war dies eine endogene Entwicklung der Sinologie, zum einen als Einsicht, dass die philologische Herangehensweise an China zwar einerseits fundamentale Bedeutung hatte, andererseits aber viele Bereiche chinesischer Gesellschaft und Kultur der Gegenwart nicht adäquat erschließen konnte. Hinzu trat die Erkenntnis, dass die Konzentration auf die Arbeit an chinesischen Quellen dazu führen konnte, die Sinologie von der methodisch-theoretischen Entwicklung anderer Disziplinen, auch nah verwandter wie der Geschichtswissenschaft, zu isolieren. Nicht zu vernachlässigen ist auch der politische Kontext des Kalten Krieges, in dem die Asienwissenschaften wiederum gedrängt wurden, praktisch verwertbares Wissen zu liefern (je nach ideologischen Vorzeichen zur Beförderung oder Eindämmung des Kommunismus). Wie oben angesprochen, führte dies im anglophonen Bereich zur Ausdifferenzierung einer philologischen Sinology in einem methodisch und institutionell breiter aufgestellten Gesamtfeld von Chinese Studies. Diese „sowohl/ als auch“-Lösung war im deutschen Universitätskontext schwieriger, da eine regionalwissenschaftliche Öffnung von nicht-philologischen Disziplinen für Chinaforschung kaum stattfand, so dass die Debatte im Wesentlichen in die kleinen sinologischen Institute verlegt wurde und aufgrund der dort herrschenden Ressourcenknappheit schnell zu einer „entweder/ oder“-Diskussion wurde (also „entweder Philologie oder Sozialwissenschaft“). Wie bereits angedeutet, hat dies entweder zu klaren Richtungsentscheidungen einzelner Institute geführt oder zum Versuch eines „sowohl/ als auch“ im kleinteiligen institutionellen Rahmen. 66 3. Weiterleitungen Beispiele philologischer Chinaforschung Die massiven Übersetzungsprojekte des 19. Jahrhunderts hatten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ausreichende Grundlagen gelegt, um Nicht-Sinologen den wissenschaftlichen Zugang zu China zu ermöglichen. Ein berühmtes Beispiel ist die Studie zu „Konfuzianismus und Taoismus“ des Soziologen Max Weber (1920), die ausschließlich auf Grundlage der bis ca. 1919 erschienenen sinologischen Übersetzungen und Studien verfasst wurde. Die philologische Erschließung und Übersetzung chinesischen Schriftguts der Vormoderne und Moderne ist seitdem ein wesentlicher Arbeitsbereich der Sinologie geblieben. Im Folgenden möchte ich exemplarisch anhand der vormodernen Philosophie und Religion die Entwicklungslinien sinologischer Forschung im 20. Jahrhundert nachzeichnen; innerhalb dieses Feldes werde ich mich auf die (übrigens nicht immer sauber trennbaren) konfuzianischen und daoistischen Texttraditionen konzentrieren. Wie bereits im historischen Überblick erwähnt, beginnt die Geschichte der Sinologie mit dem Studium der konfuzianischen Klassiker. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war dieser komplette Korpus bereits in westliche Sprachen übersetzt; einige dieser Übersetzungen haben bis heute Bestand und sind nie durch vollständige Neuübersetzungen ersetzt worden. Das gilt vor allem für solche Texte der kanonischen Tradition, die (zu Recht oder Unrecht) als weniger bedeutsam hinsichtlich ihres philosophischen Gehalts gelten. So ist die bislang einzige vollständige Übersetzung des Zhouli („Riten der Zhou“) die von Édouard Biot 1851 verfasste französische Version in drei Bänden. Die jüngste Übersetzung des Yili („Zeremonien und Riten“) wurde 1917 von John Steele in zwei Bänden publiziert, während die letzte Übersetzung des Buches der Lieder von dem schwedischen Sinologen Bernhard Karlgren stammt (1950). Andere Werke des konfuzianischen Kanons hingegen, wie z.B. die Gespräche (Lunyu) des Konfuzius, wurden wiederholt neu übersetzt, wobei der philologische Fortschritt zum einen in der kritischen Auseinandersetzung mit den Vorgängerversionen entsteht, zum anderen aber auch in einer bewussteren Auseinandersetzung mit der chinesischen Kommentarliteratur. Richard Wilhelms Übersetzungen lassen seine Rückgriffe auf die chinesischen Kommentare nur indirekt erkennen; James Legges umfangreiche Fußnoten sind in dieser Hinsicht transparenter, zeigen gleichzeitig aber deutlich seine starke Abhängigkeit von der orthodoxen, neokonfuzianischen Tradition, die für die Beamtenprüfungen der Qing-Dynastie noch verbindlich war. Neuere Übersetzungen zentraler kanonischer Texte beziehen dagegen eher die gesamte Breite und Tiefe der chinesischen Kommentarliteratur ein und zeigen dabei, dass die Auslegung der kanonischen Schriften nie unumstritten und vor allem nie abgeschlossen war. Da die Klassiker ab der Han-Zeit nie ohne Kommentar gelesen wurden, ist es mittlerweile üblich geworden, diese traditionelle Lesepraxis in Übersetzungen dadurch nachzubilden, dass man traditionelle und moderne Kommentare in die übersetzten Texte integriert (z.B. Slingerland 2003; Van Norden 2008). Ein anderer moderner philologischer Ansatz ist die Übersetzung eines Werkes mit bewusster Beschränkung auf nur eine Kommentartradition und deren spezifische Auslegung des Texts; Beispiele bieten Richard John Lynns englische Übersetzungen des Buches der Wandlungen und des Daodejing in der Interpretation des Wang Bi (226-249), die 1994 resp. 1999 publiziert wurden, sowie Diana Arghirescos neokonfuzianische Lektüre des Klassikers Maß und Mitte (Arghiresco 2013). Beide Ansätze erlauben einen wesentlich differenzierteren, „mehrstimmigen“ Zugang zur chinesischen Geistesgeschichte, als dies bei den sinologischen Pionieren noch der Fall war. 67 3.1 Transfer: Philologie Ein ebenfalls beachtenswerter (wenn auch unter philologischen Puristen kontroverser) Ansatz in der modernen sinologischen Forschung ist die explizit philosophisch-konstruktive Lektüre chinesischer Texte, wie z.B. Ames, Rosemonts und Halls prozessphilosophische Übersetzungen und Interpretationen von kanonischen Texten wie dem Lunyu und dem Zhongyong (1998, 2001). Ein weiterer wichtiger Innovationsschub entstand durch sensationelle archäologische Entdeckungen seit den 1970er Jahren, insbesondere Textfunde in Gräbern der Zhou-, Qin- und Han-Zeit. Im Unterschied zum Trend der verstärkten Berücksichtigung der Kommentartradition erlaubten diese Textfunde den Rückgriff auf Textversionen, die vor dem Beginn der Kommentarliteratur entstanden waren und uns so einen kritischen Blick auf Strategien der Kanonisierung und Standardisierung von Schriften ab der Han-Zeit erlauben. Zahlreiche Neuübersetzungen auf Grundlage archäologischer Textversionen sind in den letzten zwanzig Jahren angefertigt worden. Zu nennen sind hier beispielsweise die Übersetzungen und Studien des Lunyu von Ames & Rosemont (1998), des Yijing von Shaughnessy (1996) sowie des Daodejing von Möller (1995) und Henricks (2000). Eine wichtige Erkenntnis der Arbeiten an diesen neu entdeckten Textversionen ist, dass die alte philologische Sehnsucht nach einem „Urtext“ weiterhin unerfüllt bleibt. Selbst die frühesten erhaltenen Manuskripte sind bereits Produkte einer komplexen Textgeschichte, die keine Rückführung auf einen individuellen Autor oder eine ursprüngliche Textversion zulässt. So wie dies früher im 20. Jahrhundert bereits mit den Orakelknocheninschriften der Shang- Dynastie geschehen war, hat sich das Studium der archäologischen Textfunde mittlerweile zu einem eigenen Forschungsgebiet entwickelt. Neben der Bereitstellung früher Manuskriptversionen von bekannten Texten liefert die archäologische Forschung auch bisher völlig unbekannte Texte bzw. solche, von deren Existenz wir bislang nur durch Zitate oder Einträge in alten Bibliographien wussten. Die Erschließung dieser Manuskripte ist philologische Grundlagenforschung, die das Potential besitzt, lang etablierte Gewissheiten in Frage zu stellen; ein Anschauungsbeispiel bietet die Arbeit an dem 1993 in Guodian (Provinz Hubei) entdeckten Textkorpus aus einem Grab, welches ca. 300 v. Chr. verschlossen worden war (s. Scott Cooks vollständige Übersetzung und Analyse, 2012). Eine weitere wichtige Entwicklung ist die rasche Erweiterung des Forschungsinteresses über die „konfuzianischen Klassiker“ als der angeblich zentralen und hegemonialen Schrifttradition hinaus zu späteren und eben auch nicht-konfuzianischen Texten. Das bereits erwähnte Daodejing ist der wohl bekannteste und am häufigsten übersetzte Text der daoistischen Tradition, dessen philologische Bearbeitung ähnliche Entwicklungslinien durchlief wie diejenige der oben erwähnten konfuzianischen Klassiker. Neben dem Daodejing schenkte die sinologische Forschung des frühen 20. Jahrhunderts allenfalls noch dem Zhuangzi und Liezi Beachtung (beide von Richard Wilhelm ins Deutsche übersetzt). Erst seit den 1960er Jahren kam neuer Schwung in die Daoismus-Forschung, als die Erschließung daoistischer Textkorpora aus den Jahrhunderten zwischen der Han- und der Tang-Zeit eine fruchtbare Verbindung mit ethnographischen Studien moderner daoistischer Ritual- und Kultivierungspraktiken einging. Auf philologischer Seite eröffneten die Texteditionen und/ oder -studien von Seidel (1969) Robinet (1977, 1984), und Strickmann (1981), um nur einige wenige zu nennen, ein riesiges neues und weiterhin dynamisches Forschungsfeld, in dem die grundlegende Erschließung einer großen Masse weitgehend unbearbeiteter Texte im Mittelpunkt steht. Nur ganz allmählich gelingt es, wenigstens einen ungefähren Überblick über Vielfalt und Komplexität daoistischer Schrifttraditionen zu bekommen. In 68 3. Weiterleitungen den letzten Jahren kristallisierte sich dieser Überblick in enzyklopädischen Nachschlagewerken wie Daoism Handbook (Kohn 2000), The Taoist Canon: A Historical Companion to the Daozang (Schipper & Verellen 2004) und The Encyclopedia of Taoism (Pregadio 2008). Auch jenseits des Daoismus sind Enzyklopädien, bibliographische Handbücher und Anthologien wichtige Hilfsmittel für Studierende und Forscher bei der philologischen Arbeit. Besonders zu nennen sind hier Michael Loewes Handbuch Early Chinese Texts: A Bibliographical Guide (1993) sowie Anthologien philosophischer und religiöser Texte aus verschiedenen Perioden der chinesischen Geistesgeschichte (z.B. Chan 1963, Kohn 1993, Bokenkamp 1997, Ivanhoe & Van Norden 2005, Csikszentmihalyi 2006, Komjathy 2013). Diese Darstellung vernachlässigt zigtausende von Studien und Übersetzungen einzelner Texte, welche die sinologische als philologische Forschung in den letzten 200 Jahren erschlossen hat. Vergleichbare Abrisse könnte man für die Buddhismusforschung erstellen, aber auch jenseits von Philosophie und Religion für das Studium der chinesischen Literatur, Geschichte, Medizin, Naturwissenschaften usw. Die hier gebotene exemplarische Darstellung möge jedoch genügen, um sowohl einerseits die Komplexität und Größe des Forschungsgegenstandes anzudeuten, wie auch andererseits auf die der philologischen Forschung eigentümliche Verbindung von Kontinuität und Innovation hinzuweisen. Philologische Chinaforschung heute Welche Rolle spielt Philologie in der sinologischen Forschung und Lehre heute? Vor der Beantwortung dieser Frage muss klar gestellt, dass „Sinologie“ hier nicht die Gesamtsumme der Chinaforschung meint, welche methodisch notwendigerweise breit aufgestellt sein muss - und parallel dazu institutionell differenziert werden muss, d.h., verstärkt in anderen als spezifisch sinologischen Fachkontexten betrieben werden sollte (was aber wohl hochschulpolitische Maßnahmen zur Überwindung fachspezifischer Eurozentrismen erfordert). Mit „Sinologie“ meine ich hier vielmehr das Fach in Form einer institutionellen und Lehrtradition, wie es sich in Deutschland in sinologischen Instituten und Studiengängen verkörpert. Für dieses Fach halte ich eine philologische Grundorientierung für weiterhin sinnvoll und notwendig (vgl. dazu auch Döring 1999; Kaden 1999; Le Blanc 2007: 15). Dieser Schluss ergibt sich aus folgenden drei Überlegungen: 1. Die historische Chinaforschung beruht fast ausschließlich auf der Auswertung schriftlicher Quellen, mit einzelnen Ausnahmen wie z.B. archäologischen Daten, Kunstwerken, sowie oral history - wobei auch diese Bereiche allerdings in verschiedenem Maße auf die Philologie zurückgreifen müssen (als kunsthistorisches Beispiel s. Lee 2010). In bedeutendem Ausmaß trifft dies auch für die Forschung zum China der Gegenwart zu. Für diese Forschung ist nicht nur die Beherrschung der modernen und vormodernen chinesischen Sprache notwendig, sondern überdies eine Ausbildung in der textkritischen Arbeit, die Kern aller Philologie ist. 2. Wie wir im historischen Entwicklungsüberblick gesehen haben, spielte das Bestehen auf dem philologischen Charakter der Sinologie eine wichtige Rolle sowohl in ihrer Etablierung als Wissenschaft und Fach als auch in der Abwehr von Instrumentalisierungsversuchen durch Kolonial- oder kalte Krieger. Diese Funktion 69 3.1 Transfer: Philologie ist heute im Rahmen der marktkonformen Umgestaltung der deutschen Universitäten unter der Überschrift „Bologna-Prozess“ wieder höchst relevant. 3. Eine philologische Ausrichtung entfaltet zudem ein kritisches Potential nicht nur mit Blick auf (hochschul-)politische Prozesse sondern auch in ihrem breiteren wissenschaftlichen Umfeld. Die philologische Privilegierung der chinesischen Text- und „Selbstauslegungstraditionen” (Schmidt-Glintzer 2007: 6) bietet die Möglichkeit einer epistemischen Positionierung, die sich zwar nie völlig frei machen kann von dominanten theoretischen und ideologischen Vorgaben der jeweils aktuellen Kultur- und Gesellschaftsforschung, aber dennoch eine Distanzierung erfordert und ermöglicht, welche die kritische Reflektion eben dieser Vorgaben erlaubt. Der erste der drei Punkte ist im Wesentlichen eine didaktische und forschungspraktische Erwägung, aus der sich ableitet, dass sowohl Sprachausbildung (in Form von Kursen in moderner und(! ) vormoderner chinesischer Sprache) wie auch philologische Ausbildung (z.B. in Form von Leseübungen in ausgewählten Textgenres) zentrale Elemente sinologischer Studiengänge sind. Der zweite Punkt verweist auf die historischen Erfahrungen des Faches als Inspiration für die Navigation aktueller hochschulpolitischer Untiefen. Der dritte Punkt ist m.E. allerdings der wichtigste, da er Philologie nicht nur didaktische, strategische und hilfswissenschaftliche Potentiale zumisst, sondern im philologischen Ansatz eine epistemische Positionierung sieht, die neue kritische Perspektiven eröffnen kann. Ich betone das Wörtchen „kann“, da dieses Potential nicht realisiert werden muss. Philologie kann auch selbstgenügsam im Elfenbeinturm betrieben werden, ohne große Außen- oder auch nur Innenwirkung (für eine skeptische Perspektive auf das kritische Potential der Philologie s. Harpham 2005 & 2009). Sinologie als kritische Philologie hingegen kommt dem nahe, was der australische Sinologe, Historiker und Dokumentarfilmer Geremie Barmé „New Sinology“ nennt: „Implicit in the inquiry of ‚New Sinology then is an abiding respect for written and spoken forms of Chinese as these have evolved over the centuries. ‚New Sinology can thus also be described as an unrelenting attentiveness to Sinophone ways of speaking, writing, and seeing, and to the different forces that have shaped the evolution of Sinophone texts and images, as well as Sinophone ways of sense-making. Textually, the interests of a New Sinology range from the specificities of canonical and authoritative formulations in both the classical language (or rather the languages of the predynastic and dynastic eras) and the modern vernacular to the many inventive bylines that have emerged more recently in our media-saturated times.“ (http: / / ciw.anu.edu.au/ new_sinology/ - Text von 2005; zu New Sinology siehe auch http: / / www.thechinastory.org/ about-the-china-story/ new-sinology/ ) Ein weiterer Anknüpfungspunkt für eine „neue Sinologie“ sind die epistemologischen und methodischen Reflektionen anderer philologischer Wissenschaften in der jüngeren Vergangenheit, die neue Horizonte philologischer Forschung zu erschließen versuchen. Entscheidend ist hierbei, dass die Philologie die Chance ernst- und wahrnimmt, dass sie es mit Texten zu tun hat, welche nicht für die Philologen geschrieben wurden und deshalb ihre Interessen nicht widerspiegeln. Die Philologie ist zwar nicht vor der Projektion eigener Anliegen in die Texte gefeit, dennoch gibt es zahlreiche Möglichkeiten, diese Gefahr einzudämmen (z.B. in der Berücksichtigung der indigenen Kommentarschichten des Texts, falls vorhanden). So bietet die philologische Forschung tatsächlich Ansatzpunkte für eine Rekonstruktion und „Präsentierung“ (im ‘ ‘ 70 3. Weiterleitungen Sinne von „Präsenz verleihen“, „präsent machen“) zeitlich und/ oder räumlich ferner Kulturelemente, die dann in ein Gespräch mit Anliegen unserer Gegenwart gebracht werden können, ohne lediglich als Korn für theoretische Mühlen zu dienen (vgl. Gumbrecht 2003, Bohrer 2009). So ermöglicht es gerade der philologische Ansatz, Sinologie als Kulturwissenschaft voranzubringen. Im Sinne einer „New Sinology“ oder weiter gefasst einer „neuen Philologie“ ist es gerade ihre philologische Ausrichtung, die es der Sinologie erlaubt, originäre wissenschaftliche Beiträge zu leisten und kritische Perspektiven zu erschließen. Dies ist ein attraktives Angebot, aber auch eine Herausforderung an diejenigen, die sich entscheiden, sich auf ein solches Studium und die so verstandene Befassung mit China einzulassen. Zitierte Literatur Ames, Roger T.; Hall, David L. (2001): Focusing the Familiar: A Translation and Philosophical Interpretation of the Zhongyong. Honolulu, University of Hawai‘i Press Ames, Roger T.; Rosemont Jr., Henry (1998): The Analects of Confucius: A Philosophical Translation. New York, Ballantine Books. Arghiresco, Diana (2013): De la continuité dynamique dans l’univers confucéen. Lecture néoconfucéenne du „Zhongyong“: Nouvelle traduction du chinois classique et commentaire herméneutique. Paris, Les Éditions du Cerf. Biot, Édouard (1851): Le Tcheou-li ou Rites des Tcheou. Paris, Imprimerie nationale. Bohrer, Karl Heinz (2009): „Behaupten und Zeigen“. In: Schwindt, Jürgen Paul (Hg.): Was ist eine philologische Frage? Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 255-274. Bokenkamp, Stephen R. 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China betreibt seine auswärtige Kulturpolitik seit Beginn des neuen Jahrtausends unter seinem Namen. Doch nicht nur Konfuzius ist in China en vogue: Die chinesischen Geisteswissenschaften sind von einem Phänomen erfasst, das auf Chinesisch „guoxue“ heißt, ein Begriff, den man mit „Nationalstudien“ übersetzen kann und der für eine Richtung steht, die chinesischsprachige Sinologie betreiben möchte - so etwas hat es nämlich traditionell nicht gegeben, in China sind die Dinge, die in Deutschland die Sinologie ausmachen, bisher auf die Departments für Chinesische Literatur, Geschichte und Philosophie aufgeteilt gewesen. „Guoxue“ dient einer Definition chinesischer Kultur und Identität, die sich aus den verschiedenen Geistestraditionen Chinas speisen, Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus, aber auch altchinesischen Militärtheorien oder den wichtigsten traditionellen Romanen. In gern gesehenen Fernsehsendungen werden die Gespräche des Konfuzius (Lunyu), die wichtigste Quelle für dessen Denken, das Denken des Laozi, des Ahns des Daoismus, oder Interpretation und Inhalte von spätkaiserzeitlichen Romanen wie dem Traum der Roten Kammer einem Millionenpublikum nahegebracht. Chinesische Universitäten bieten mittlerweile auf ihren Homepages teure Schulungen in „Nationalstudien“ für Manager an, und die Kurse erfreuen sich reißender Nachfrage. Diese Hinwendung zur Tradition erfüllt Teile der europäischen Sinologie und Chinawissenschaften mit etwas Ratlosigkeit, denn im Gefolge der 1968er-Bewegung hatte sich innerhalb ihrer eine starke Strömung herausgebildet, die ganz in Übereinstimmung mit den Interessen von Politikern und Unternehmern meinte, man müsse sich an den Universitäten mehr auf das gegenwärtige China konzentrieren als auf das altchinesische Denken. Die Chinawissenschaften vollzogen damit verspätet eine Wendung nach, die in China selbst ihren Ausgang genommen hatte. Dort hatten Intellektuelle zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen, die chinesische Tradition zu verwerfen, weil sie glaubten, sie stünde einer Modernisierung eines als verknöchert empfundenen Landes im Wege. Der Bildersturm hat allerdings nie alle chinesischen Intellektuellen erfasst, und vor allem auf Taiwan und in Hongkong ist das traditionelle Erbe weiter gepflegt worden. Doch in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts sah es für Konfuzius und Konsorten dennoch gar nicht gut aus, weil man sich in der VR China eher westlichen Wissenschaftstraditionen zuwandte. Erst seit den neunziger Jahren hat sich der Wind auch in der Volksrepublik China gedreht. Obwohl hinter dieser überraschenden Wendung auch politische Interessen stecken und sie durchaus nicht von der gesamten Bevölkerung bzw. den Intellektuellen mitgetragen wird, kann man die „Nationalstudien“ auch nicht als ein amorphes Konstrukt abtun, das keine Chance auf Überleben hat. Dafür ist die Resonanz zu groß. Die Chinesen sind ein erstaunlich historisch orientiertes Volk, und auch wenn - oder gerade weil - das, was heute in vielen chinesischen Publikationen über Geschichte gesagt wird, noch immer den Geist des Ikonoklasmus vom Anfang des 20. Jahrhunderts atmet, erscheint es notwendig, daß die westliche Sinologie hinter diese Zeit zurückblicken kann. Universitäten reagieren auf Stimmungsumschwünge zumeist sehr träge, und so ist in den letzten Jahren die Beschäftigung mit der zweieinhalbtausendjährigen chinesischen Geistesgeschichte in Deutschland stark zurückgedrängt worden. Das ist eine bedrohliche Entwicklung. Gute Kenntnisse der chinesischen Denktraditionen, die 74 3. Weiterleitungen auch die Nachbarländer Japan, Korea und Vietnam mitgeprägt haben, sollten für angehende Chinawissenschaftler zur Grundausbildung dazugehören. Wer sich dafür interessiert, sollte indes genau hinschauen: Leider kann nicht mehr jedes sinologische Seminar in kompetenter Weise Unterricht in chinesischer Geistesgeschichte anbieten, ebenso wie nicht überall gute Ausbildung in der Beschäftigung mit den Entwicklungen des letzten Jahrhunderts oder gar der letzten zwei Jahrzehnte möglich ist. Von dem Standard, den einige wenige amerikanische Eliteuniversitäten aufweisen, an denen beide Aspekte auf hohem wissenschaftlichem Niveau abgedeckt sind, ist der deutsche Sprachraum leider fast überall weit entfernt - dafür reichen die Ressourcen im allgemeinen nicht aus. Wer ein guter Sinologe werden will, der sollte darauf achten, sich sowohl Kenntnisse des alten als auch des gegenwärtigen China anzueignen. Dies sind zwei Seiten einer Medaille, von denen jede einzeln ohne die andere unvollständig ist. Es ist zu hoffen, daß sinologische Seminare, Fakultäten, Universitäten aber auch Politiker hierzulande diesen Zusammenhang in Zukunft stärker begreifen. China ist zu groß und mittlerweile zu bedeutend, als daß man es sich leisten könnte, ganze Teile des wissenschaftlich zu beackernden Terrains unbearbeitet zu lassen. Geistesgeschichte, Philosophie? Philosophie und Geistesgeschichte sind westliche Begriffe. In China hat es dazu kein Äquivalent gegeben. Man sprach dort traditionell von den „Lehren“ (jiao) des Konfuzianismus, Daoismus und des Buddhismus, den „Drei Lehren“ (san jiao) also, nicht aber von Philosophie. Das Wort „Lehre“ steckt bezeichnenderweise im modernen chinesischen Wort für „Religion“ (zongjiao), einem wohl über den Umweg des Japanischen ins Chinesische gelangten Begriff (im Japanischen heißt Religion „shûkyô“, ein Wort, das mit denselben Zeichen geschrieben wird). Zongjiao heißt wörtlich übersetzt „Ahnenlehre“. Damit kann die „Lehre von den Ahnen“ gemeint sein. Dann müsste man das Kompositum auf die altchinesische Religion zurückführen, deren zentraler Verehrungsgegenstand die Ahnen gewesen sind. Gemeint sein könnte aber auch eine Lehre mit ihren Ahnen bzw. mit einem Stammbaum. Das hieße, dass eine Religion in China erst dann zur Religion wird, wenn sie einen Stammbaum von Lehrern und Meistern aufweist, der eine gewisse Länge erreicht hat. Wichtig ist vor allem, dass es in China keine scharfe Unterscheidung zwischen Religion und Philosophie gegeben hat. Das ist vielleicht weniger überraschend, als es auf den ersten Blick aussieht: Auch in der europäischen Neuzeit ist die Philosophie ja aus der Theologie hervorgegangen und lange Zeit nicht von ihr unterschieden gewesen. Auf jeden Fall gilt es, bei der Rede von chinesischer Philosophie die Religion mitzudenken. Erst unter dem Einfluss westlichen Denkens begann man in China, wieder über den Umweg Japans, überhaupt von chinesischer Philosophie zu sprechen. In Japan hatte man schon seit kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen, westliche Philosophie zu rezipieren. Dort wurde man sich deshalb auch der Notwendigkeit bewusst, ein Wort für die Philosophie zu wählen, das keine falschen Assoziationen weckte. Dieses Wort wurde mit dem Begriff „tetsugaku“ (chin.: zhexue) gefunden, das sich aus einem in der alten Tradition nur selten verwendeten Wort für „weise“ oder „klug“ und dem Wort „lernen“ zusammensetzte. Mit „tetsugaku“ war zunächst die westliche Philosophie gemeint. Man begann auch von chinesischer Philosophie zu sprechen, wobei sich schnell herausstellte, dass es nicht einfach war, antike westliche und chinesische Philosophie in einem Atemzug zu nennen bzw. zu vergleichen, denn das altchinesische Denken, mit dem grob die Phase von den Lebzeiten des Konfuzius 75 3.2 Diskurs: Geistesgeschichte und Philosophie bis zum Eindringen des Buddhismus nach China etwa um die Zeitenwende gemeint ist, beschäftigt sich hauptsächlich mit praktischer Philosophie und klammert den für das alte Griechenland, aber auch für die europäische Neuzeit so wichtigen Bereich der Metaphysik weitgehend aus. Überdies unterscheiden sich altchinesische Texte auch formal von westlicher Philosophie stark. An der Stelle systematisch analytischer Modelle stehen in vielen altchinesischen Traktaten häufig nur kurze Sätze und Thesen, die dann Inhalte anhand von Anekdoten und Beispielsgeschichten veranschaulichen. Aufgrund des anekdotenhaften Charakters altchinesischen Denkens ist hier und da die Meinung geäußert worden, China habe eine Philosophie im westlichen Sinne gar nicht gekannt. Man habe dort nicht aus „Liebe zur Weisheit“ philosophiert. Vielmehr sei es im Allgemeinen um zweckgerichtetes Denken gegangen. Zwar ist der Begriff der „Weisheit“ bzw. des „Weisen“ (shengren) im alten China von großer Bedeutung, doch ist der Weise nicht Weiser um der reinen Weisheit willen. Von manchen wird „shengren“ übrigens mit „der Heilige“ übersetzt, eine Übertragung, die einen religiösen Aspekt betont, jedoch nur in wenigen Zusammenhängen Sinn ergibt. Der Weise bzw. die Weisen des chinesischen Altertums sind im Allgemeinen Persönlichkeiten, die nachdenken, um die Gesellschaft zu verbessern, nicht aus Liebe zur „Weisheit“ oder gar zur „Heiligkeit“. Er bringt säkulares Heil, nicht spirituelles Heil (partiell ändert sich dies später mit dem Entstehen einer daoistischen Religion). Ihm (oder ihnen) ging es auch nicht um ein abstraktes Ding an sich oder einen letzten Grund, sondern um den „Weg“ (dao). Dies ist ein schwieriger Begriff mit langer Entwicklungsgeschichte, mit dem jedoch zu Anfang wohl einfach eine „Methode“ gemeint war. Eine Entsprechung hat dies im Griechischen. In unserem Fremdwort Methode steht nämlich ebenfalls der Weg („hodos“). Der „rechte Weg“ ist der oberste Gegenstand chinesischen Denkens, und dieser Weg, so abstrakt er auch gedacht sein mag, hat im chinesischen Altertum fast immer eine ideale Gesellschaftsordnung zum Ziel. Er dient auch zur Pflege der eigenen Person, welche im frühen chinesischen Denken die Voraussetzung für die Gestaltung der Welt ist. Man erkennt ihn, indem man versucht, in Übereinstimmung mit dem Handeln des Himmels oder der Natur zu gelangen. Diese Aussagen sollte man nicht verabsolutieren. Es gibt auch im altchinesischen Denken Ansätze zur Metaphysik oder Sprachphilosophie. Dementsprechend sind besonders in den USA eine ganze Reihe wissenschaftlicher Zeitschriften entstanden, welche sich die Erforschung der chinesischen „Philosophie“ bzw. den Vergleich zwischen chinesischer und westlicher Philosophie zum Ziel gesetzt haben, wobei es besonders im letzteren Bereich manchmal zu merkwürdigen Verirrungen kommt, so, wenn der altchinesische Daoist Zhuangzi mit dem Sprachphilosophen Wittgenstein verglichen wird. Stöbern sollte der an chinesischer Philosophie interessierte Student dennoch schon zu Anfang seines Studiums zum Beispiel in den in Honolulu herausgegebenen Zeitschriften „Journal of Chinese Philosophy“ oder „Philosophy East and West“. Die Zweifel daran, ob man das chinesische Denken als Philosophie bezeichnen sollte, haben in Ostasien dazu geführt, dass man dort anstelle von zhexue/ tetsugaku/ Philosophie gerne von chinesischem „sixiang“ (japanisch seisô) spricht. „Si“ heißt „denken“, bzw. „nachsinnen“ und „xiang“ ebenfalls „denken“ bzw. „sich vorstellen“. Anstelle von „Philosophiegeschichte“ (zhexue shi) muss man deshalb mit „Sixiang shi“ auch von chinesischer „Geistesgeschichte“, bzw. von der „Geschichte des Denkens“ sprechen. Allerdings muss daran erinnert werden, dass der Begriff der Geistes- 76 3. Weiterleitungen geschichte in Europa, woher er kommt, durchaus nicht unkritisch gesehen wird, weil er lange Zeit dazu geführt hat, dass die sozialen Bedingungen, vor deren Hintergrund geistige Strömungen entstehen, zu sehr abstrahiert wurden. Deshalb mag eine Abtrennung der chinesischen Geistesgeschichte oder Philosophie von der Geschichte aber auch der Literatur, wie sie zum Beispiel an manchen Universitäten in den USA und fast überall in China vorgenommen wird, zwar in bestimmter Hinsicht sinnvoll sein, sie ist aber dennoch eine gefährliche Sache. Wer Geistesgeschichte studiert, sollte auch Geschichte und Literatur zur Kenntnis nehmen. Umgekehrt gilt natürlich dasselbe. Inhalte und Genres Das traditionell chinesische Denken beginnt mit Konfuzius, seinen Sprüchen, Dialogen und mit seiner Beschäftigung mit den kanonischen Schriften des chinesischen Altertums, von denen wiederum einige philosophisches Gedankengut enthalten. Auf ihn folgt zunächst das klassische Zeitalter des chinesischen Denkens, die formative Phase der Zeit der Streitenden Reiche im vierten und dritten Jahrhundert v.u.Z. In dieser Phase entfalteten sich verschiedene philosophische Strömungen wie der Konfuzianismus, der nach Konfuzius mit Mengzi und Xunzi zwei weitere bedeutende Denker hervorbrachte. Zu nennen sind des Weiteren der Daoismus mit der Spruch- und Verssammlung des Daodejing, nach seinem Verfasser auch als „Laozi“ bekannt, und mit dem Zhuangzi-Text. Für die weitere Entwicklung des chinesischen Denkens sind zudem der Mohismus mit den Werken des Mo Di wichtig gewesen, ebenso wie der Legalismus, unter dessen Autoren die fünfundfünfzig Kapitel des Han Fei hervorragen. Diese Texte bedienen sich entweder gereimter Formen, des Essays oder dialogischer Formen, wobei besonders Lehrer-Schüler Dialoge oder Unterredungen zwischen Philosophen und Fürsten von Bedeutung sind. Kenntnis der Texte der klassischen Tradition ist fundamental für jede Beschäftigung mit chinesischer Geistesgeschichte, denn zwar schieden die Traditionen des Legalismus und des Mohismus aus dem Hauptstrom der Überlieferung nach der Han-Zeit (207 v.u.Z. bis 220 n.u.Z.) aus, doch wurden Teile von ihnen in die überlebenden Strömungen des Konfuzianismus und des Daoismus integriert. Zudem ist die Sprache dieser Texte stilbildend für die nächsten 2000 Jahre geworden, ein Vorbild, an dem sich spätere Autoren immer gemessen haben. Noch heute finden sich viele ihrer Gedanken in Form von Sprichwörtern (chengyu) in der chinesischen Sprache - auch diese Sprichwörter, deren Kenntnis zum Verständnis des modernen Chinesischen grundlegend ist, versteht man kaum, wenn man nicht einen Einblick in den Ort hat, woher sie stammen. Wie der chinesische Philosophiehistoriker Feng Youlan bemerkt hat, beginnt sich in der Han-Zeit die Form zu ändern, in der philosophische Gedanken geäußert werden. Um 140 v.u.Z. beginnt mit der Einrichtung einer kaiserlichen Akademie, an der erstmals Prüfungen für Beamtenkandidaten abgenommen wurden, die Geschichte des chinesischen Prüfungswesens, dem Merkmal, durch das sich die traditionell chinesische Gesellschaft in vielleicht entscheidendem Maß von anderen Kulturen unterschied. Wesentlicher Bestandteil der Prüfungen waren Fragen zu den kanonischen Schriften des chinesischen Altertums, die vor allem in der konfuzianischen Tradition gepflegt wurden, nämlich dem Buch der Wandlungen, dem Buch der Urkunden, dem Buch der Lieder, den Aufzeichnungen zu den Riten und der Chronik der „Frühlings- und Herbstannalen“. Damit wird das Schreiben von Kommentaren wichtig, denn erst in diesen wurden die kanonischen Schriften für die Chinesen der Han-Zeit verständlich. 77 3.2 Diskurs: Geistesgeschichte und Philosophie In den Kommentaren wiederum wurden allmählich philosophische Gedanken entwickelt. Eine Beschäftigung mit den kanonischen Schriften, die Konfuzius selbst redigiert haben soll, gehört deshalb zu einem Studium der Geistesgeschichte und Philosophie Chinas untrennbar dazu, auch wenn große Teile dieser Texte nicht unmittelbar philosophisch zu nennen sind. Während es dem Konfuzianismus so gelingt, eine Art Staatsorthodoxie zu errichten, die bis zum Ende des chinesischen Kaiserreichs 1911 Bestand hat, entwickelt sich zur gleichen Zeit der Daoismus zu einer Religion. Ursprünglich eher philosophische Texte wie das Daodejing oder der Zhuangzi werden in diese religiöse Tradition aufgenommen und ihre Autoren vergöttlicht. Parallel dazu gelangt ab der westlichen Zeitenwende mit dem Buddhismus eine weitere Religion nach China. Übersetzungen buddhistischer Sutren und Lehrtexte bereichern das traditionell chinesische Denken. Daoismus und Buddhismus, indische und chinesische Gedanken befruchten sich gegenseitig. Zudem übernehmen beide Religionen die konfuzianische Praxis, in Kommentaren philosophische Gedanken auszudrücken. Sie hat allerdings auch im indischen Buddhismus Tradition. Über den Buddhismus gelangen Ideen nach China, die auch das philosophische Vokabular prägen. Zum Teil übernimmt und verändert der chinesische Buddhismus zur Übertragung von Begriffen, die aus dem Sanskrit stammen, Vokabular aus dem altchinesischen Denken. Das ist deshalb wichtig, weil man bei Texten, die ab spätestens dem dritten Jahrhundert geschrieben worden sind, immer damit rechnen muss, dass in sprachlicher und gedanklicher Hinsicht beide Traditionen beteiligt sein können. Konfuzianisches Denken ist in der formativen Phase der Religionen des Buddhismus und des Daoismus weniger fortschrittlich. Erst mit dem Neukonfuzianismus der Song-Zeit erlebt es eine Renaissance. Denker wie der wohl wichtigste konfuzianische Philosoph des zweiten Jahrtausends, Zhu Xi (1130-1200), greifen auf buddhistische und daoistische Begriffe zurück, um den Konfuzianismus wiederzubeleben. Zhu Xi formuliert auch einen neuen Kanon, den der „Vier Bücher“, welche zur neuen Grundausbildung werden. Dies sind die Gespräche des Konfuzius, der Mengzi-Text, sowie zwei Ritenkapitel, nämlich das Große Lernen (Daxue) und das Buch von Maß und Mitte (Zhongyong). Gleichzeitig setzen sich neben den neukonfuzianischen Kommentaren zu diesen Büchern und zu den Fünf kanonischen Schriften ab dem elften Jahrhundert Schüleraufzeichnungen (yulu) von den Lehren konfuzianischer Meister als wichtigste philosophische Gattung durch. Das Genre solcher Unterrichtsmitschriften ist zuvor bereits im Chan-Buddhismus entstanden, gewinnt jedoch durch die Übernahme in den Konfuzianismus entscheidend an Bedeutung. Obwohl sich viele Neukonfuzianer entschieden gegen Buddhismus und Daoismus wenden, ist ihr Denken nur durch das Vorbild dieser beiden Religionen möglich. Im 15. und 16. Jahrhundert setzt als Konsequenz eine starke Strömung ein, welche unter dem Schlagwort „Die drei Lehren vereinen sich zu Einem“ (san jiao heyi) die Gemeinsamkeiten von Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus betont. Allerdings werden den Lehren unterschiedliche Bereiche zugeordnet: Der Konfuzianismus dient der harmonischen Ordnung des Gemeinwesens, der Daoismus der Kultivierung des Leibes und der Buddhismus der Befriedigung spiritueller Bedürfnisse. Diese Bereiche sind allerdings nicht allzu streng zu nehmen: Gerade buddhistische Institutionen kümmern sich zu dieser Zeit sehr um soziale Dinge, und umgekehrt nimmt der Konfuzianismus immer stärker religiöse Züge an. In der Gelehrsamkeit des 17. und 18. Jahrhunderts schließlich kommt es zum Primat der Philologie, welche - auf der Grundlage von Vorarbeiten, die mindestens 78 3. Weiterleitungen bis in die Zeit der Dynastie Song (960-1280) zurückreichen - beginnt, in kommentarartigen Arbeiten die Grundfesten der kanonischen Schriften zu unterminieren. Sie stellt z.B. fest, dass Teile des Buchs der Urkunden „Fälschungen“ des dritten Jahrhunderts westlicher Zeit sind oder dass bestimmte Teile des Buchs der Wandlungen nicht von Konfuzius verfasst sein können, was die ältere Tradition als unumstößliche Wahrheit annahm. Dieser Trend von der „Philosophie zur Philologie“ (Benjamin Elman) wird allerdings am Ende des 19. Jahrhunderts gestoppt, als sich eine konfuzianische Reformbewegung daran macht, in den alten Texten geistige Grundlagen zu suchen, welche die jungen Intellektuellen in die Lage versetzen sollen, das verkrustete politische System den Erfordernissen der Moderne zu öffnen. Die vorher akzeptierte Formel „Chinesisches Lernen als Grundlage, Westliches Lernen zur Anwendung“ (zhongxue wei ti, xixue wei yong), mit der Zhang Zhidong (1837-1909) an den alten Dualismus von „ti“ und „yong“, der in allen drei philosophischen Lehren eine wichtige Rolle gespielt hatte und häufig mit „Substanz“ und „Funktion“ übersetzt wird, angeschlossen hatte, verliert ihre Gültigkeit. Nun geht es eher darum, unter dem Deckmantel des Konfuzianismus westlichem Lernen den Einzug ins chinesische Denken zu gestatten. Nachdem 1905 das konfuzianische Prüfungswesen abgeschafft und ein westliches Curriculum eingeführt wird, scheint dieses Ansinnen gelungen. Eine massive Welle von Traditionskritik, deren Rhetorik noch heute bewusst oder unbewusst viele chinesische Stellungnahmen zum Erbe der Vergangenheit beherrscht, geht über das Land und fegt die konfuzianisch geprägten Institutionen hinweg. Die alten Bildungsgegenstände gehen genauso verloren wie in weiten Kreisen der chinesischen Gesellschaft die Kenntnis der klassischen chinesischen Schriftsprache, welche durch eine verschriftlichte Form der modernen Umgangssprache, so wie sie in den literarischen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts bereits verwendet wurde, ersetzt wird. Doch kommt es schon bald zu Versuchen, altchinesische mit westlicher Philosophie zu versöhnen. Einige chinesische Philosophen studieren in Europa oder den USA. Mou Zongsan (1909-1995) etwa bemüht sich um eine Synthese neokonfuzianischen Denkens mit der Philosophie Immanuel Kants. Zudem beginnt, etwa bei Xu Fuguan (1903-1982), die Suche nach demokratischen Ansätzen in der alten chinesischen Philosophie. Im zwanzigsten Jahrhundert kommt es zu Versuchen, nach europäischem Vorbild ausführliche und systematische philosophische Werke zu verfassen. Am Ende bleiben die meisten dieser Ansätze jedoch dem alten chinesischen Denken viel stärker verhaftet, als sie sich selbst eingestehen. Geschichte der Geistesgeschichte Chinas und wichtige Grundlagenwerke Als die Jesuiten im 17. Jahrhundert zum ersten Mal Kenntnisse über China nach Europa vermittelten, interessierten sie sich vor allem für zwei Bereiche: denjenigen der Geistesgeschichte und Philosophie sowie denjenigen der Geschichte. Während sie auf letzterem Gebiet mit dem monumentalen Werk Histoire générale de la Chine, ou Annales de cet Empire; traduit du Tong-kien-kang-mou par de Mailla, Paris, 1777-1783 in zwölf Bänden, das Joseph-Anna-Marie de Mailla (1669-1748) schon 1730 vollendet hatte, schon bald eine überblickhafte Darstellung der chinesischen Geschichte liefern konnten, fiel ihnen die Beschäftigung mit der Geistesgeschichte wesentlich schwerer. Sie begannen deshalb mit den kanonischen Schriften des chinesischen Altertums, in denen sie eine Art Gegenstück zur Bibel erkannten. Auch nachdem im 19. Jahrhundert in einigen wenigen europäischen Zentren die universitäre Sinologie ihre Anfänge 79 3.2 Diskurs: Geistesgeschichte und Philosophie nahm, absorbierte die Beschäftigung mit den kanonischen Schriften einen beträchtlichen Anteil der Forschungsinteressen. Vor allem ging es darum, diese Texte in verlässlicher Form zu übersetzen. Die französischen und englischen Übersetzungen von Seraphin Couvreur, James Legge und anderen, die in dieser Zeit entstanden, gehören bis heute zum sinologischen Standard. Manche kanonischen Schriften liegen immer noch nur in einer dieser beiden westlichen Sprachen vor. Deutschsprachige Übersetzungen sind erst später entstanden. Hier ist der Name Richard Wilhelms (1873-1930) von zentraler Bedeutung. Für ihn gilt übrigens dasselbe wie für Couvreur und Legge: Er kam als Theologe nach China. Obwohl seine Übersetzungen, mit denen er auch weite Teile des klassisch-philosophischen Zeitalters erfasste, für den deutschsprachigen Raum bahnbrechend gewesen und viele davon bis heute die einzigen geblieben sind, die für wichtige chinesische Grundlagenwerke vorliegen, und obwohl außerdem die philologische Kompetenz Wilhelms außer Frage steht, sei der Studierende, der sich für die chinesische Geistesgeschichte interessiert, doch vor einer kritiklosen Verwendung gewarnt: Die Wilhelm’schen Übersetzungen sind auf Schritt und Tritt mit Assoziationen zu christlichem und humanistischem Bildungsgut überfrachtet. Sie sollten daher immer mit einem Blick in das chinesische Original gepaart werden. Dies gilt mit anderen Vorzeichen übrigens auch für viele der zahlreichen Übersetzungen, die in den letzten Jahrzehnten im englischsprachigen Raum entstanden sind. Das wichtigste hermeneutische Problem für den Geistesgeschichtlicher ist die Befangenheit in den Ideen und sprachlichen Wendungen seiner eigenen Zeit und Herkunft. Diese zu überwinden, ist kein leichtes Unterfangen. Seit den 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich die Sinologie um Gesamtdarstellungen der chinesischen Philosophie bemüht. Ein wichtiger Meilenstein war dabei die 1927 erschienene Geschichte der alten chinesischen Philosophie des Hamburger Sinologen Alfred Forke, welcher er einen Band zur Geschichte der „mittelalterlichen“ und zur „neueren“ Philosophie folgen ließ. Forkes Darstellung ist recht aufzählend gehalten, hat aber den Vorzug, dass sie mit zahlreichen Textbeispielen ausgestattet ist, welche die Beschreibung veranschaulichen. Die immer noch am meisten gelesene Philosophiegeschichte stammt allerdings von Feng Youlan (Damals transkribiert als: Fung Yu-lan). Ursprünglich 1930-1933 unter dem Titel Zhongguo zhexue shi auf Chinesisch in zwei Bänden erschienen, machte der amerikanische Sinologe Derk Bodde sie durch seine Übersetzung ins Englische unter dem Titel A History of Chinese Philosophy (1952/ 53) bekannt. Obwohl sie durchaus unvollständig ist und weit weniger Namen behandelt als die Geschichte Forkes, gilt Fungs History, zu dem er übrigens noch eine Kurzfassung mit dem Titel A Short History of Chinese Philosophy (1948) verfasst hat, noch immer als das Standardwerk zur chinesischen Philosophie schlechthin. Nach ihm hat es in der westlichsprachigen Welt kaum noch Versuche gegeben, dieses Thema in seiner Gänze abzuhandeln. Ausnahmen sind die Histoire de la pensée chinoise von Anne Cheng (1997) sowie die Geschichte der chinesischen Philosophie von Wolfgang Bauer, die auf Einführungsvorlesungen am Ostasiatischen Seminar der Universität München zurückgeht und 2001 postum erschienen ist. Den meisten Spezialisten jedoch erscheinen die Forschungslücken als zu groß, um einen Wurf zu wagen, der die gesamte chinesische Philosophie zum Gegenstand hat. Allen bestehenden Philosophiegeschichten, mit Ausnahme von in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts erschienenen Übersetzungen aus dem Chinesischen (z.B. von Xiao Jiefu oder von Bo Mou) gemeinsam ist die Tatsache, dass sie die Philosophie des 20. Jahrhunderts nicht behandeln. Zu unterschiedlich erscheint das, was in diesem Zeitraum gedacht wurde, von der traditionellen Philosophie. Wer sich für die 80 3. Weiterleitungen neue chinesische Philosophie interessiert, kann zu diesem Thema auf vorläufige Beschreibungen, z.B. von Umberto Bresciani (Reinventing Confucianism, Taipei 2001) und Lee Minghui (Der Konfuzianismus im modernen China, Leipzig 2001) zurückgreifen, die allerdings nur sketchartige Lebensläufe der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts liefern und einige Schlaglichter auf ihre Gedanken werfen, nicht aber eine durchgängige Geschichte schreiben. Eine inhaltliche Darstellung wagt John Makeham mit Lost Soul: Confucianism in Contemporary Chinese Academic Discourse (Harvard 2008). Zu einzelnen Strängen der chinesischen Tradition liegen Kurzmonographien vor. So hat der Verfasser dieser Zeilen im Münchner Beck-Verlag zwei Büchlein zu Konfuzianismus und Daoismus vorgelegt, die auf die Bedürfnisse eines interessierten, nicht unbedingt sinologisch vorgebildeten Publikums ausgerichtet und deshalb auch für Anfängerstudierende gut geeignet sind. In deutscher Übersetzung liegt mit der Geschichte des Daoismus von Isabelle Robinet darüber hinaus eine fundierte historische Einführung vor allem in den religiösen Daoismus vor, die aber den philosophischen Daoismus ebenfalls ausführlich behandelt. Eine Geschichte des chinesischen Buddhismus gibt es bisher nicht. Zentral sind nach wie vor die Einführungen von Zürcher, The Buddhist Conquest of China (Leiden 1959), sowie von Tsukamoto Zenryu, A History of Early Chinese Buddhism (Englische Übersetzung Tokyo 1985). Doch enden diese mit dem Ende des sechsten Jahrhunderts. Weitere Phasen chinesisch buddhistischen Denkens sind zwar in Einzeldarstellungen bearbeitet, eine für den Anfänger geeignete Überblicksmonographie fehlt jedoch. An die Stelle von Philosophiegeschichten sind in der amerikanischen Sinologie Textbücher getreten, in denen wichtige Texte der chinesischen Philosophie in Übersetzung vorgestellt und mit kurzen einleitenden Kommentaren versehen werden. Von besonderer Bedeutung dafür ist eine Gruppe von Wissenschaftlern um Theodore de Bary an der Columbia University in New York gewesen. Den Anfang machten de Bary, Wing-tsit Chan und Burton Watson, als sie 1960 und 1966 die Sources of Chinese Tradition herausgaben. Chan hat diese 1963 um das Source Book in Chinese Philosophy ergänzt. 1999 brachte de Bary mit Irene Bloom und Richard Lufrano eine vollkommen überarbeitete Neuauflage der Sources heraus, die vor allem auf den Gebieten des Daoismus und des Buddhismus um große Teilbereiche erweitert sind. Seitdem sind in den USA zahlreiche weitere Textbücher erschienen, die sich zumeist auf einzelne Epochen konzentrieren. Parallel dazu gibt es zu den Religionen und Philosophien seit neuestem zahlreiche Enzyklopädien, unter denen hier aufgrund der übergroßen Fülle nur exemplarisch auf die verschiedenen Bände des Handbuchs der Orientalistik, das bei Brill in Leiden erscheint, sowie auf den Verlag Routledge, bei dem konkurrierende Produkte zu finden sind, verwiesen sei. So erfreulich die zuletzt genannten Entwicklungen auch sind, verbergen sich dahinter doch auch einige Probleme. Einerseits können enzyklopädische Darstellungen, in denen die Auffassungen verschiedenster Wissenschaftler versammelt sind, nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Überblick über ein großes Ganzes und über die spezifischen Besonderheiten des chinesischen Denkens, so wie ihn zu Anfang des 20. Jahrhunderts etwa Marcel Granet in seinem immer noch lesenswerten Buch La pensée chinoise (Paris 1934; deutsch: Das chinesische Denken, München 1963) vorstellen wollte, verloren gegangen ist. Enzyklopädien zeugen von dem fragwürdigen Bedürfnis, alles zu sammeln, aber nichts wirklich durchdrungen zu haben. Zum anderen sind die Erzeugnisse der de Bary-Schule zwar unverzichtbarer Gegenstand des Lernens eines jeden Anfängers, der sich für die chinesische Geistesgeschichte interessiert. Doch 81 3.2 Diskurs: Geistesgeschichte und Philosophie haben seine und Wing-tsit Chan’s Übersetzungen im amerikanischen Sprachraum zu einem teilweise problematischen Standard geführt, dem sich die englischsprachige Sinologie selten entziehen kann. Der zentrale Begriff des „li“, der ursprünglich Ordnung, Struktur, Gliederung, manchmal auch Grund oder Möglichkeit heißt (Forke sprach gar von „Vernunft“), wird in dieser Tradition fast automatisch mit „principle“ übersetzt, was den Inhalt aber häufig nur unvollkommen trifft und den unkundigen Leser oft in die Irre führt. Genauso hat man sich darauf geeinigt, den chinesischen Begriff „xing“, der zumeist das menschliche Wesen (oder dasjenige anderer Lebewesen) meint, mit „nature“ zu übersetzen, was beim nichtsinologisch vorgebildeten Leser zu der falschen Assoziation führt, die alten Chinesen hätten damit einen der europäischen Tradition vergleichbaren Naturbegriff gemeint. Diesen mag es zwar gegeben haben, doch die gesamte belebte und unbelebte Natur ist mit „xing“ nur äußerst selten gemeint. Die englischsprachige Sinologie - und zum Teil davon beeinflusst auch die französisch- und deutschsprachige - entkommt dieser Übersetzungsorthodoxie nur sehr mühsam, und wo sie es tut, da nicht in systematischer Art und Weise. An dieser Stelle wären eigentlich andere sinologische Traditionen gefragt, doch werden diese international immer weniger zur Kenntnis genommen, weil wissenschaftliche Publikationen, die sich nicht der englischen Sprache bedienen, seit Jahren zurückgedrängt werden. Wer sich für die chinesische Geistesgeschichte interessiert, braucht deshalb heute mehr denn je ein gutes Gefühl für die klassische chinesische Sprache, damit er nicht auf Abwege gerät. Ähnlich problematisch ist die Lage bei Übersetzungen zur alten chinesischen Philosophie: Wer sich etwa für eines der zentralen Grundlagenwerke des klassischen Denkens, die Gespräche des Konfuzius, interessiert, sollte sich klar machen, dass zwar seit der monumentalen, im ersten von fünf Bänden der Chinese Classics von James Legge herausgekommenen Übersetzung zahlreiche weitere Übersetzungen erschienen sind - auch hier nimmt die amerikanische Sinologie eine Vorreiterrolle ein -, dass diese aber im allgemeinen keinen echten philologischen Fortschritt bedeuten, sondern eher die persönlichen Vorlieben der Übersetzer widerspiegeln. Es gibt bis heute keine solide Untersuchung, die uns erlauben würde, zu erschließen, wo einzelne Konfuziuswörter herkommen und ob sie von Konfuzius tatsächlich so gesagt worden sein dürften, wie sie in den Gesprächen stehen. Vom Stand der Bibelwissenschaft ist die Sinologie meilenweit entfernt. Daran ändert selbst ein Titel wie The Original Analects von Bruce und Taeko Brooks (1998) nichts, denn auch in diesem Buch sind die Kriterien nicht philologische Vergleiche mit parallelen Überlieferungen, sondern persönliche Überzeugungen des Autorenteams. In vielen Wissenschaften gelten Bücher heute als überholt, wenn sie älter als zwanzig, in manchen Bereichen sogar nur zehn Jahre sind. Obwohl man auch bei der Beschäftigung mit chinesischer Philosophie leicht Fehler machen kann, wenn man alte Sekundärliteratur heranzieht, gilt diese Regel auf diesem Gebiet nicht. Viele Werke der älteren Sinologie sind solider gemacht als Werke der letzten beiden Jahrzehnte, die nach wenigen Jahren bereits zurecht in Vergessenheit geraten. Die Voraussetzungen Die voranstehenden Überlegungen zur Geschichte der Geistesgeschichte dienen dazu, angehenden Sinologiestudierenden klar zu machen, dass sie sich auf ein spannendes Feld einlassen, zu dem eine Menge an Sekundärliteratur in verschiedenen Sprachen vorliegt, das aber immer noch viel Platz für Grundlagenarbeit bietet. Zunächst hat 82 3. Weiterleitungen man sich die genannte Sekundärliteratur zu erschließen. Während eines Bachelorstudiums wird dies allerdings nur in Teilen möglich sein. Erste Voraussetzung für eine vernünftige Beschäftigung mit dem chinesischen Denken ist nach wie vor eine gute Quellenkenntnis in der Originalsprache. Ohne eine fundierte Ausbildung in der klassischen chinesischen Schriftsprache lässt sich die chinesische Geistesgeschichte kaum erlernen, denn es dürfte klar geworden sein, dass sich über die westliche Sekundärliteratur allein alte chinesische Texte nicht lesen lassen, und die Fähigkeit, zu beurteilen, was hinter Übersetzungen im chinesischen Original stecken mag, ist ein zentrales Requisit des Sinologiestudenten. Immer häufiger fragen diese heute nach Seminaren zum gegenwärtigen chinesischen Denken, um die Aktualität des Themas zu begreifen. Das ist ein legitimes Bedürfnis. Doch in einschlägigen chinesischen Publikationen dazu, die man lesen lernen muss, wird so viel aus klassischen Texten zitiert, dass Kenntnisse allein im modernen Chinesischen dafür nicht ausreichen. Wer auf die Grundlage verzichtet, dem werden deshalb große Teile auch der gegenwärtig erscheinenden Publikationen zur chinesischen Geistestradition Bücher mit sieben Siegeln bleiben. In einer Bachelorausbildung können nur die Grundlagen gelegt werden, und auch im Master wird ein vollständiger Überblick nicht zu vermitteln sein. Wer am chinesischen Denken interessiert ist, sollte aber bei der Studienplatzwahl darauf achten, einen Ort auszusuchen, der eine fundierte Ausbildung sowohl im klassischen als auch im modernen Chinesischen anbietet. In der Bedeutung, die gute Lesefähigkeiten im modernen und klassischen Chinesischen für eine vernünftige Beschäftigung mit chinesischem Denken haben, liegt wohl auch der Grund dafür, dass aus der eigentlich logischen Partnerwissenschaft, der westlichen Philosophie, bisher kaum weiterführende Ansätze für ein Verständnis chinesischer Philosophie gekommen sind. Ein Nebenfach der Philosophie ist für einen am chinesischen Denken Interessierten sicherlich sinnvoll, es kann aber auch leicht zu Frustrationen führen, weil die Gegenstände beider Disziplinen unterschiedlich sind und der Studierende deshalb leicht Dinge vermisst, die auf dem jeweils anderen Gebiet selbstverständlich sind. Auch wenn sich in Teilen der Sinologie eingebürgert hat, wissenschaftliche Arbeiten, die nicht auf Englisch oder Chinesisch erschienen sind, nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen (ein besonders abschreckendes Beispiel ist in dieser Hinsicht die überdies schlecht recherchierte Introduction to Chinese Philosophy von Karyn Lai bei Cambridge University Press), sind für ein erfolgreiches Studium der chinesischen Philosophie und Geistesgeschichte Kenntnisse in den drei wichtigsten europäischen Wissenschaftstraditionen vonnöten. Auf Französisch und Deutsch sind so viele Arbeiten erschienen, zu denen es bisher keine vergleichbaren Pendants auf Englisch gibt, dass man wenigstens eine Lesefähigkeit in diesen Sprachen vorweisen können, bzw. diese sich im Lauf des Studiums aneignen sollte. Das gilt umso mehr, als das beste westliche Lexikon des klassischen Chinesisch, Le Grande Ricci, französischsprachig ist. Es gibt kein englisches Lexikon, das auch nur annähernd die Qualität des Ricci erreichen würde. Die chinesischsprachige Sekundärliteratur hat in den letzten drei Jahrzehnten sehr stark an Bedeutung zugenommen und die früher in weiten Teilen bestehende Vormachtstellung der japanischen Forschung abgelöst. Wer ein ernsthaftes Interesse an der chinesischen Geistesgeschichte hat und daran denkt zu promovieren, sollte sich dennoch auch Grundlagenkenntnisse des Japanischen aneignen. Dies gilt besonders für den Bereich des chinesischen Buddhismus, bei dessen Erforschung die japanische Sinologie lange Zeit weltweit führend gewesen ist. Aber auch zur altchinesischen 83 3.2 Diskurs: Geistesgeschichte und Philosophie Philosophie hat die japanische Sinologie bahnbrechende und originelle Beiträge geliefert, die in dieser Form nirgendwo sonst zu finden sind. Chinesische Geistesgeschichte an deutschen Universitäten Wie oben ausgeführt, hat die Beschäftigung mit der chinesischen Geistesgeschichte im deutschsprachigen Raum eine lange Tradition, sie ist neben Geschichte und Literatur lange Zeit die klassische Dreiheit der Sinologie gewesen. Damit hat man auch das chinesische Verständnis abgebildet: In China, wo es lange Zeit kein Pendant zur westlichen Sinologie gegeben hat, spricht man wie eingangs gesagt im Allgemeinen von wen, shi, zhe (wenxue = Literatur, lishi = Geschichte, zhexue = Philosophie) als den klassischen Disziplinen der Geisteswissenschaft. Diese Dreiheit ist in den letzten Jahrzehnten in Deutschland etwas aus den Fugen geraten. Während historische Forschung in der Sinologie nach wie vor verhältnismäßig stark ist, haben klassische chinesische Literatur und Geistesgeschichte massiv an Boden verloren. Damit gehen nicht nur der deutschen Universität wertvolle Traditionen verloren, sondern auch der chinesischen Wissenschaft der Austausch mit kompetenten deutschen Kollegen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn sich in Deutschland Methodenfächer wie die Soziologie, Politologie, Philosophie oder auch Geschichts- und Literaturwissenschaft für China öffnen würden, so daß der Austausch auch auf dieser Ebene stattfinden könnte. Davon ist der deutschsprachige Raum jedoch noch weit entfernt, und der Sinologie kommt nach wie vor eine entscheidende Mittlerfunktion zu. Wer sich für Sinologie interessiert, sollte an die Geisteswissenschaft denken, denn dieses spannende Gebiet verdient guten Nachwuchs. Empfehlungen, wo man bedrohte Gebiete wie chinesische Philosophie und Literatur am besten studieren kann, sollen hier ausdrücklich nicht erfolgen, denn die Meinungen darüber gehen naturgemäß unter den beteiligten Wissenschaftlern auseinander. Vor einer Generation hätte man München und Hamburg als die stärksten Zentren genannt, und an beiden Standorten gibt es immer noch eine solide Substanz, was nicht heißt, dass nicht für bestimmte Themengebiete andere Universitäten besser sein können. Das Gros der Studierenden ist in Deutschland ohnehin erfahrungsgemäß zumindest in den Anfangssemestern sehr heimatverbunden. Bei einem Interesse an chinesischem Denken sei deshalb der Rat gegeben, sich über das Internet mit den Namen der aktuell lehrenden deutschen Sinologieprofessoren und -professorinnen vertraut zu machen und in deren Publikationslisten zu schauen. Nicht immer ist jemand, der viel publiziert, auch ein guter Wissenschaftler oder Lehrer. Doch umgekehrt kommt jemand, der gar nicht zu einem Gebiet publiziert hat, für dieses auch kaum infrage. Wenn in Ausnahmefällen doch, dann spricht sich das herum. 84 3. Weiterleitungen 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften (Nicola Spakowski) Die Beschäftigung mit der chinesischen Vergangenheit hat eine lange Tradition in der deutschsprachigen Sinologie und China-Wissenschaft, ja sie war für lange Zeit vorrangiger, wenn nicht sogar ausschließlicher Gegenstand der Sinologie. In der Anfangsphase der Sinologie dominierte dabei die Philologie, aus der sich die geschichtswissenschaftliche Befassung mit China erst später herauslöste. Bis heute ist die Erforschung der chinesischen Vergangenheit vom Nebeneinander beider Ansätze geprägt, deren zentrales Unterscheidungsmerkmal der Status der überlieferten Texte ist: Während für Philologen die Texte der Vergangenheit und die für deren Erschließung notwendige Sprachkompetenz von unmittelbarem Belang sind, sind sie für Historiker eher mittelbar wichtig, nämlich als eine von vielen möglichen Quellen bei der Klärung von Sachfragen. Selbstverständlich ist auch die Sprachkompetenz für China-Historiker unerlässlich, sie ist aber nur eines unter mehreren Werkzeugen der Quellenerschließung. Die Sachfragen, denen ihr unmittelbares Interesse gilt, werden dabei im Wechselverhältnis zwischen der Geschichtswissenschaft als systematischer Disziplin und der Sinologie, die sich mit den Spezifika Chinas in Geschichte und Gegenwart befasst, entwickelt. Die methodisch-theoretische Orientierung stammt aus der Geschichtswissenschaft. China-Historiker sind in der Regel in beiden Disziplinen - Sinologie und Geschichtswissenschaft - ausgebildet. Wo dies nicht der Fall ist, sind sie ernsthaft bemüht, sich als Sinologen die für die eigenen Themenbereiche relevanten Methoden und Theorien der Geschichtswissenschaft anzueignen bzw. als Historiker die chinesische Sprache und Grundkenntnisse von Geschichte und Gesellschaft Chinas so gut zu beherrschen, dass sie tragfähige Aussagen über die Geschichte Chinas treffen können. Anders herum - und salopp - ausgedrückt: Nicht überall, wo „chinesische Geschichte“ draufsteht, ist eine Geschichte, die disziplinären Qualitätskriterien standhält, drin. In dem vorliegenden Beitrag wird vorgestellt, von welchen fachspezifischen Überlegungen die chinabezogene Geschichtswissenschaft geleitet ist. Geschichte wird dabei nicht - wie Studierende es oft noch aus dem Schulunterricht kennen - als faktischer historischer Prozess behandelt, sondern - auf dem höheren Reflexionsniveau der Geschichte als Studienfach - in ihren erkenntnistheoretischen Möglichkeiten und Grenzen, der Zeitgebundenheit ihrer Aussagen und der sich daraus ergebenden Verantwortung von Historikern. Themen und historische Entwicklungen werden beispielhaft in die Diskussion eingeflochten, um Studienanfängern gleichwohl ein plastisches Bild von den Inhalten eines China-Studiums mit Schwerpunkt Geschichte zu vermitteln. Wozu Geschichte? Weshalb Geschichte Chinas? Ganz allgemein stellt sich zunächst die Frage, was die Disziplin Geschichte als solche auszeichnet und welcher Reiz und welche Relevanz speziell die historische Beschäftigung mit China birgt. Geschichte ist nicht allein - und für viele Historiker ausdrücklich gerade nicht - durch die Vergangenheit als Untersuchungsgegenstand definiert (für die eine plausible Abgrenzung von der Gegenwart bisher ohnehin nicht gelungen ist), sondern durch die Dimension der Zeit, also die Frage nach Dauer und Wandel, nach der historischen Gewordenheit der heutigen Welt und nach den Faktoren ihrer Herausbildung. Historiker denken in der Regel in großen Zusammenhängen und sind bemüht, historische Einzelfälle in weiteren horizontalen Kontexten und vertikalen 85 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften Entwicklungslinien zu verorten. Ein weiterer Reiz des Faches liegt in seiner großen thematischen Breite, die von politischen und wirtschaftlichen über sozial- und kulturhistorische Phänomene bis hin zu Fragen der Technik- oder Medizingeschichte reicht. Speziell China-Historiker sind außerdem in der reizvollen Lage, Pionierarbeit zu leisten in Bezug auf eine Geschichte, die wesentlich lückenhafter aufgearbeitet ist als etwa diejenige Deutschlands. Hier ist die Aufgabe der Rekonstruktion der Vergangenheit besonders stark gewichtet, bei der einzelne Details vergangenen Geschehens aus oftmals großen Quellenbeständen überhaupt erst destilliert und schrittweise zu einem Gesamtbild zusammengestellt werden. Auf das große Ganze hin betrachtet, tragen China-Historiker dazu bei, den Reichtum menschlicher Erfahrungen in Zeit (Vergangenheit) und Raum (China) zu vergegenwärtigen. Dieser Reichtum ist an sich faszinierend, er kann aber auch - und dieses Potential wird von Historikern leider viel zu selten ausgeschöpft - dazu anregen, die scheinbare „Alternativlosigkeit“ des Hier und Jetzt in seinen Strukturen, dominanten Werten und Entscheidungen zu hinterfragen. Historiker, die ihre Aufgabe auch oder gerade darin sehen, das gegenwärtige China besser zu verstehen, befassen sich mit der Genese aktueller Phänomene und ermitteln historische Prägungen oder auch sogenannte „Pfadabhängigkeiten“ des heutigen China. So ging z.B. jüngst eine Gruppe von Forschern der Frage nach, inwiefern politische Entscheidungsprozesse des heutigen China von „Mao’s invisible hand“, also von Ansätzen, die sich unter Mao Zedong herausgebildet haben, geprägt sind (Heilmann et. Al. 2011). Ein anderes Beispiel ist die Frage nach einer möglichen konfuzianischen oder in anderer Weise „vormodernen“ Prägung des heutigen China. Nicht viele Historiker würden pauschal unterstellen, dass das heutige China nicht „modern“ ist. In der öffentlichen Debatte sowohl in China als auch im Westen ist diese Idee aber virulent und verlangt nach fachwissenschaftlicher Einmischung. Im Raume stehen Überlegungen wie: Herrschen die heutigen Staats- und Parteiführer nach Art von „neuen Kaisern“? Wird China im Prozess des „Aufstiegs“ eher ein aus der deutschen und japanischen Geschichte bekanntes, aggressives „Aufsteigerverhalten“ an den Tag legen, oder sein außenpolitisches Handeln an konfuzianischen Harmonievorstellungen ausrichten? Auch die Frage nach der Spezifik der historischen Entwicklung Chinas, wie sie in den letzten Jahren unter den Begriffen „chinesisches Modell“, „chinesische Erfahrung“ oder „chinesischer Weg“ diskutiert wird, ist genuin historisch und gleichzeitig von immenser politischer Brisanz, schwingt hier doch auch die Frage nach der Leistungsbilanz der alleinherrschenden KPCh (Kommunistische Partei Chinas) mit. Und schließlich befassen sich China-Historiker mit dem Umgang mit Geschichte in China selbst. Wie in anderen Gesellschaften auch kommen der Geschichte in China bestimmte gesellschaftliche und politische Funktionen zu, die sie über die reine Fachwissenschaft hinaus im Schulunterricht sowie als sogenannte „öffentliche Geschichte“ in Museen, in Film und Fernsehen, in populären Publikationen, in Militärparaden etc. erfüllt. Diese öffentliche Geschichte ist in China sogar von besonderer Wichtigkeit, weil in der chinesischen Bevölkerung ein sehr ausgeprägtes Interesse an der Vergangenheit besteht. Zudem war die Geschichte in politisch restriktiven Phasen oft dasjenige Feld, in dem versteckt politisch tabuisierte Themen debattiert wurden. Wo Historiker diese und andere gesellschaftlichen und politischen Funktionen von Geschichte behandeln, untersuchen sie Versuche des Parteistaates, über nationalhistorische Narrative von den Ursprüngen und der Genese der chinesischen Nation kollektive Identität und Zusammenhalt zu stiften sowie die eigene Herrschaft als angeblich historisch notwendig zu legitimieren. Sie wenden sich aber auch Impulsen „von 86 3. Weiterleitungen unten“ zu, die von der Bevölkerung erlittene Geschichte von Krieg oder den bekannten Desastern der kommunistischen Herrschaft zu thematisieren und zu erinnern. Insgesamt begeben sie sich bei der öffentlichen Geschichte aber auf ein Feld, das mit einer Opposition zwischen Staat und Gesellschaft nur unzureichend beschrieben ist. Hier geht es vielmehr darum, die Komplexität der Beziehungen zwischen Parteistaat, Fachhistorikern, Öffentlichkeit und Marktkräften abzubilden. Die chinabezogene Geschichtswissenschaft schlägt im Idealfall die Brücke zwischen Regionalexpertise und disziplinär fundierter, methodisch-theoretischer Kompetenz. Wer profitiert dabei wie von wem? Was leistet die Geschichtswissenschaft für die Sinologie? Die Frage von Theorie und Methodik Die historisch arbeitende Sinologie bezieht von der Geschichtswissenschaft zuallererst die theoretisch-methodische Verankerung, auf deren Grundlage sie kritisch, selbstreflexiv und an den Standards der Fachdisziplin orientiert über den Zuschnitt einer historischen Forschungsarbeit entscheidet (Haas 2012). Hierzu gehören die Bestimmung von Forschungsgegenstand, Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Vorgehensweise sowie die Abwägung von Erklärungen für die ermittelten Sachverhalte. Ein wichtiges Element dieses Prozesses ist die Erschließung und Interpretation von Primärquellen. Für Historiker stellt sich dabei oft das Problem, dass Quellen nicht in gewünschtem Maße vorliegen, weil bestimmte Dinge in der Vergangenheit entweder nicht dokumentiert wurden oder weil Quellen der unterschiedlichsten Form nicht erhalten blieben. Auch für China gilt, dass die Quellenlage für die Bearbeitung bestimmter Epochen und Themenbereiche sehr gut oder sehr schlecht sein kann, wobei sich diese Problematik für die vormoderne und die neuere Geschichte grundsätzlich unterscheidet. Historiker des vormodernen China profitieren zunächst von einer ausgeprägten Geschichtsorientierung der kaiserzeitlichen Herrscherhäuser, ihrer Beamten und der gesellschaftlichen Elite (Mittag 2003). Der Kaiserhof ließ umfangreich Dokumente sammeln, zunächst in der Palastbibliothek, seit dem 7. Jahrhundert in dem eigens für die historische Überlieferung und die Abfassung der Dynastiengeschichten eingerichteten Geschichtsamt. Auch auf regionaler und lokaler Ebene wurden aktuelle Gegebenheiten und lokalhistorische Ereignisse umfangreich dokumentiert. Seit der Song-Zeit wurde diese für Verwaltungszwecke staatlich angeordnete Dokumentation sogar durch vielfältige private Aufzeichnungen bereichert. Insgesamt besteht für das vormoderne China aber ein deutliches Übergewicht an staatsnahen, die Verwaltung betreffenden Quellen gegenüber solchen, die Lebensbereiche jenseits von Staat und Elite widerspiegeln. Ein weiteres Spezifikum der vormodernen und vor allem der vorkaiserzeitlichen Geschichte ist die Relevanz materieller Quellen, wie sie von der Archäologie erschlossen werden, z.B. Orakelknochen, Bronzegefäße und Steinstelen, die mit Inschriften versehen sind, oder auch Funde aus prähistorischen Siedlungen und Grabanlagen. Eine Besonderheit des sozialistischen China ist demgegenüber die Tabuisierung von „dunklen“ Kapiteln wie dem „Großen Sprung nach vorn“ (1958-1961) und der Kulturrevolution (1966-1976), weshalb wichtige Archive - insbesondere solche, die Quellen zum Geschehen in der politischen Zentrale aufbewahren - verschlossen sind. Hier ist die Kreativität von Historikern gefragt, den Mangel an Quellen aus zentralen 87 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften Archiven zu kompensieren, etwa durch die Recherche in Provinzarchiven oder durch die Heranziehung von alternativen Quellen (z.B. kulturrevolutionäre Propagandablätter oder Personalakten), mit denen auf Flohmärkten oder online gehandelt wird. Dafür können für die Geschichte der Volksrepublik vielfach noch die Aussagen von Zeitzeugen berücksichtigt werden, denen sich die oral history zuwendet. Diese Methode hat in China selbst in den letzten zehn bis zwanzig Jahren an Bedeutung gewonnen und wertvolle Quellensammlungen zu einer Vielfalt von Themen hervorgebracht. Dies gilt insbesondere für solche Bereiche, deren Dokumentation früher für überflüssig gehalten wurde, etwa die Lebenswirklichkeit und die Aktivitäten von Frauen. Insgesamt kann die chinabezogene Geschichtsschreibung aus einem sehr reichen Bestand an Quellen schöpfen. Hierzu gehören zuallererst schriftliche Quellen, wie sie in Archiven, Bibliotheken oder Datenbanken aufbewahrt sind. Viele Themen werden zudem mit Quelleneditionen bedacht, welche von Bibliotheken, Forschungsstätten oder anderen Institutionen kompiliert werden. Eine große Erleichterung für westliche Forscher stellt dabei der zunehmende Grad der Digitalisierung von historischen Quellen dar, der es ermöglicht, die oft mühsamen Archiv- und Bibliotheksbesuche vor Ort zumindest teilweise durch elektronische Recherchen am Schreibtisch in Europa zu ersetzen. Eine vollständige Aufzählung relevanter Quellen kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht geleistet werden. Zu den besonders erwähnenswerten gehören die in großem Umfang zur Verfügung stehenden Lokalchroniken (difangzhi) - eine Gattung, die sich im 11. Jahrhundert herausgebildet hat und bis heute gepflegt wird (Moll-Murata 2003). Lokalchroniken dokumentieren lokale Verhältnisse in den unterschiedlichsten Bereichen und können z.B. für wirtschafts- oder sozialgeschichtliche Langzeitstudien herangezogen werden. Vor allem für die neuere Geschichte von Bedeutung sind die von der Politischen Konsultativkonferenz seit 1960 edierten „Materialien zu Kultur und Geschichte“ (wenshi ziliao), in denen zu den verschiedensten historischen Ereignissen und Persönlichkeiten vielfältige Quellen - darunter in beträchtlichem Umfang Memoiren - zusammengestellt sind. Für quantitativ arbeitende Historiker stellen demgegenüber Statistiken die Hauptquelle dar (Scharping 2003). Auch hier gibt es Beispiele bereits aus der Kaiserzeit, z.B. zu Bevölkerungszahlen, Steuersätzen oder Getreidepreisen. In der Republikzeit (1911-1949) wurden die staatlichen Bemühungen einer quantitativen Erfassung Chinas systematisiert, und 1935 wurde erstmals ein statistisches Jahrbuch herausgegeben. Unter den Bedingungen der Planwirtschaft war Statistik natürlich ein wichtiges Instrument im volksrepublikanischen China. Die politischen Wirren der Republikzeit und der Volksrepublik haben die statistische Arbeit teilweise aber auch schwer beeinträchtigt oder ganz unterbrochen. Auch Tageszeitungen sind umfänglich archiviert (die zentralen ebenfalls elektronisch) und können eine wichtige Quelle darstellen. Für bestimmte Fragestellungen eignen sich auch die Reiseberichte westlicher Beobachter als Quelle; andere sind besonders gut mit visuellen Quellen wie Fotos, Zeichnungen, Buchillustrationen oder Werbung zu beantworten. Die meisten Forschungsarbeiten werden aber eine Vielfalt von Quellen heranziehen, um möglichst vielen Dimensionen eines Forschungsgegenstandes gerecht zu werden. Je nach Art der Quelle wird diese dann fachwissenschaftlich anerkannten Methoden der Kritik und Interpretation unterzogen. Hierzu gehört zunächst die klassische Methode der Quellenkritik, bei der vor allem der Ursprung, die Echtheit und die Aussagekraft einer Quelle überprüft werden. In der Interpretation der Quellen bedienen sich Historiker sodann einer Vielfalt von Methoden, die in vielen Fällen einer bestimmten „Schule“ oder einem „Ansatz“ der Geschichtswissenschaft zugeordnet 88 3. Weiterleitungen werden können. So arbeitet z.B. die historische Sozialwissenschaft oft quantitativ und stützt sich dabei auf Statistiken. Im Bereich der Kulturgeschichte, die sich u.a. mit Wahrnehmungs- und Deutungsmustern vergangener Zeiten befasst, ist demgegenüber die Diskursanalyse populär. Die Theorieangebote der Geschichtswissenschaft, wie sie von China-Historikern aufgegriffen und auf den Gegenstand China übertragen werden, kreisen vielfach um Begriffe, in denen für eine Epoche typische, übergeordnete Prozesse oder Strukturen abstrahiert werden. Für die vormoderne Geschichte ist hier insbesondere der Begriff des „Imperiums“ relevant. Zentrale Begriffe in der Darstellung der modernen Geschichte Chinas sind „Nation“, „Revolution“ und „Modernisierung“. Die genannten Beispiele führen China-Historiker in das Gebiet des historischen Vergleichs, denn Imperien, Nationen, Revolutionen usw. kamen und kommen in der Geschichte kulturübergreifend vor. In der Zusammenarbeit und im Dialog mit Historikern, die auf andere Länder und Regionen spezialisiert sind, bietet sich hier die Chance, durch die vergleichende Untersuchung die Profile von regionalen oder nationalen Einzelfällen zu schärfen und in der Zusammenschau dieser Einzelfälle die Variationsbreite eines bestimmten Phänomens zu bestimmen. Wie groß dabei die Gefahr ist, den speziellen Fall Europa als die „allgemeine“ Geschichte zu verstehen und regionale Varianten zur bloßen „Abweichung“ zu degradieren, wird unten unter dem Schlagwort „Eurozentrismus“ zu problematisieren sein. Neben den theoretisch-methodischen Anleihen bietet die Geschichtswissenschaft Einsichten in die globalen Kontexte und transnationalen Bezüge der chinesischen Geschichte. China hat sich, von sehr kurzen und abgegrenzten Perioden der Isolation abgesehen, stets im Austausch mit anderen Völkern und Regionen der Erde befunden; es war regionalen oder globalen Systemen der Weltordnung ausgesetzt bzw. hat diese mit geprägt. China-Historiker, die sich für diese grenzüberschreitenden Phänomene und Interaktionen interessieren, befassen sich mit Chinas zwischenstaatlichen Beziehungen und mit dem über die Staatsgrenzen erfolgenden Austausch von Gütern, Menschen und Ideen. Sie sind überdies bemüht, die Muster solcher Transfers - variierende Transferrichtungen, wechselhafte Machtbeziehungen - übergeordneten Strukturen und Prozessen zuzuordnen. In der Neuzeit sind dies v.a. Kolonialismus, Imperialismus und Globalisierung, die in unterschiedlicher Weise Regionen, welche vielfach geographisch weit auseinanderliegen, zusammenbinden und - wie es neuere geschichtswissenschaftliche Ansätze ausdrücken - eine „gemeinsame“ bzw. „verflochtene“ Geschichte (shared history, entangled history) konstituieren. Insgesamt bietet die Geschichtswissenschaft der historisch interessierten Sinologie also die Möglichkeit, die eigene Arbeit theoretisch-methodisch zu fundieren, das Verständnis der chinesischen Vergangenheit im historischen Vergleich zu schärfen und den Einfluss transnationaler Strukturen auf die chinesische Geschichte in Rechnung zu stellen. Wo diese Chancen nicht wahrgenommen werden und China in Isolation und allein über die tradierten Texte betrachtet wird, besteht die Gefahr, China fälschlicherweise als unvergleichlich und einzigartig auszugeben. Ein Beispiel dafür, dass die Sinologie ohne den erweiterten historischen Horizont nur unvollständige, wenn nicht sogar falsche Erklärungen produziert, sind die Forschungen zur sogenannten „Bewegung des Vierten Mai“ (wusi yundong) von 1919. Dabei handelt es sich um eine Protestbewegung chinesischer Studenten (aber auch anderer Bevölkerungsgruppen), die sich gegen die Beschlüsse der Versailler Friedenskonferenz, insbesondere gegen die von der Konferenz sanktionierte Fortdauer der Präsenz Japans auf chinesischem Territorium, richteten. Wo Sinologen isoliert vorgehen, ordnen sie diese Be- 89 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften wegung meist vertikal in eine Entwicklungslinie sich verschärfender Konflikte zwischen China und einem zunehmend aggressiven Japan ein. Diese Sichtweise ist nicht falsch, vernachlässigt aber eine wichtige horizontale Komponente, denn die „Bewegung des Vierten Mai“ hatte Parallelen in und teilweise sogar direkte Bezüge zu Unabhängigkeitsbewegungen in anderen Ländern - Korea, Ägypten und Indien -, die ebenfalls im Frühjahr 1919 ausbrachen und in der Idee der nationalen Selbstbestimmung, wie sie in den genannten Ländern v.a. mit Woodrow Wilson assoziiert wurde, sowie deren Verletzung durch die Beschlüsse von Versailles wurzelten. Wenigen Sinologen ist z.B. bekannt, dass chinesische Zeitungen über die nur wenige Wochen vor den chinesischen Protesten ausgebrochene „Bewegung des ersten März“ in Korea berichteten, welche durchaus eine Inspirationsquelle für die chinesischen Akteure gewesen sein könnte. Globalhistorisch können die chinesischen Proteste an den Anfang eines antikolonialen Nationalismus gestellt werden, dessen Ziele in der Dekolonisierung seit den 1940er Jahren und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg realisiert wurden. Was leistet die Sinologie für die Geschichtswissenschaft? Das Aufbrechen eurozentrischer Sichtweisen Genauso wenig wie die Sinologie ohne die Orientierung an Methoden, Theorien und Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft auskommen kann, ist eine Geschichtswissenschaft ohne den Beitrag der Sinologie denkbar. Historiker ohne profunde China- Kompetenz, zu der neben der Beherrschung der chinesischen Sprache ein Grundverständnis für das Land, seine Geschichte und seine eigenen historiographischen Traditionen und Schulen gehört, sind schlichtweg nicht in der Lage, primäre Forschung zu China zu betreiben. Selbst die Lektüre von Werken der Sekundärliteratur wird sie kaum zu mehr als oberflächlichen Aussagen über die Geschichte Chinas befähigen. Auch die mittlerweile häufig vorkommende Zuarbeit von chinesischen Doktoranden ersetzt die genannten Kompetenzen nicht, denn sie bilden die unerlässliche Voraussetzung für die Urteilskompetenz des Forschers selbst. Chinesische Geschichte muss also von China-Spezialisten geschrieben werden. Hier stellt sich natürlich zunächst die Frage, welchen Stellenwert China in der westlichen und insbesondere deutschsprachigen Geschichtswissenschaft überhaupt einnimmt. Derzeit arbeiten nur zwei ProfessorInnen mit der Doppelqualifikation Geschichte/ Sinologie an einem geschichtswissenschaftlichen Institut im deutschsprachigen Raum (Universität Freiburg, Jacobs University Bremen). Diese unbefriedigende Bilanz in der Denomination von Professuren setzt sich fort in den Curricula der Geschichtsstudiengänge, die weiterhin weitgehend auf die deutsche Geschichte konzentriert sind und allenfalls ausgewählte Bereiche der europäischen oder „westlichen“ Geschichte berühren. Regionen außerhalb Europas und der USA mögen in Vorlesungen zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als Kolonien und somit als Objekte europäischer Politik Erwähnung finden, erhalten aber in der Regel keinen eigenständigen Stellenwert. Es wird damit das Muster der deutschen Schulbildung fortgesetzt, die junge Leute nur mit der „eigenen“ Geschichte vertraut macht. Dies ist gerade im Vergleich mit China beklagenswert, wo welthistorisches Wissen sehr geläufig und fester Bestandteil von Schul- und Hochschulcurricula des Faches Geschichte ist. Die Abschottung der deutschen Geschichtsabteilungen von der nichtwestlichen Geschichte hat sich glücklicherweise mit der Öffnung gegenüber globalhistorischen Ansätzen, die seit den 2000er Jahren immer populärer werden, etwas aufgeweicht. 90 3. Weiterleitungen Globalgeschichte kann als Antwort auf die aktuelle Erfahrung dichterer Beziehungen zwischen Kontinenten, verstärkter globaler Interaktion und erweiterter räumlicher Horizonte verstanden werden - Entwicklungen, die landläufig unter den Begriff der „Globalisierung“ gefasst werden. In dem Maße, wie speziell China als „Herausforderer“ alter Strukturen und vielleicht sogar zukünftige dominante Macht perzipiert wird, setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Welt in allen ihren Zeitschichten ohne China nicht erklärt werden kann. Hierin liegt eine Tür für China-Historiker in die „allgemeine“ Geschichte. Ein wichtiger Anstoß für das Umdenken innerhalb der Geschichtswissenschaft ging dabei von einer Reihe von Publikationen aus, die meist vergleichend angelegt waren und demonstrierten, dass China bis ca. 1800 ökonomisch, aber auch in anderen Bereichen dem Westen und speziell Großbritannien als dem Ursprungsort der Industrialisierung ebenbürtig oder sogar überlegen war. Die westliche Dominanz ist also nur ein jüngeres und - so mag spekuliert werden - vermutlich auch vorübergehendes Kapitel der Weltgeschichte. Der Globalisierungsspezialist Jan Nederveen Pieterse fasst die Haupteinsicht dieser Werke wie folgt zusammen: „Arguably, the recent global history literature converges on a single major thesis: the Orient came first and the Occident was a latecomer” (Pieterse 2006). Historiker, die eine Makroperspektive auf die Geschichte einnehmen und sich für Zentren und Peripherien in der Weltgeschichte interessieren, kommen offensichtlich nicht darum herum, den Fall China genauer zu betrachten und bisherige eurozentrische Perspektiven zu überdenken. Eurozentrismus ist in der Tat eines der größten Probleme der westlichen Geschichtsschreibung und gleichzeitig auch derjenige Problembereich, in dem sich die Sinologie besonders verdienstvoll einbringen kann. Eurozentrismus manifestiert sich dabei auf zwei Ebenen. Erstens - und diese Ebene wurde bereits angedeutet - in der sozusagen „materiellen“ Frage nach den Zentren der welthistorischen Entwicklung. Im Westen bisher dominant ist die Haltung, den „Motor“ dieser Entwicklung für sich selbst zu beanspruchen und die eigene Geschichte - von der griechisch-römischen Antike über das europäische Mittelalter zur Herausbildung der euroamerikanischen Moderne - als die Weltgeschichte schlechthin zu begreifen. Nicht unerwähnt bleiben darf dabei, dass diese Sichtweise auch lange Zeit die China-Forschung dominierte. Für die neuere Geschichte war hier der amerikanische China-Wissenschaftler John King Fairbank prägend, der die chinesische Geschichte in ein „impact - response“-Modell fasste. Dieses suggerierte, dass die Herausbildung moderner Strukturen in China vom Westen angestoßen wurde und China selbst auf westliche Anstöße lediglich reagierte, anstatt eigeninitiativ und selbstbestimmt die eigene Geschichte zu formen. Diese Position wurde von verschiedener Seite herausgefordert, zunächst mit dem Vorschlag einer „chinazentrierten“ Perspektive, der unten genauer zu besprechen ist. Studien, die zeitlich vor den Zusammenstoß Chinas mit dem Westen zurückgehen, zeigten überdies die indigenen Ursprünge verschiedener moderner Phänomene auf. Und Forschungen zur Kolonialgeschichte schließlich verwiesen auf die Reziprozität der Beziehungen zwischen China und dem Westen, auf Verhandlungsprozesse und auf die Hybridität neuer kultureller Formen. Die zweite Erscheinungsform des Eurozentrismus ist eher auf der „ideellen“ Ebene angesiedelt und liegt in eurozentrischen Problemstellungen, Grundannahmen, Kategorien und Theorien, also den Kernelementen des Forschungsdesigns. Hiermit ist die Problematik transkultureller Forschung insgesamt berührt, also die Frage, ob eine fremde Gesellschaft mit den eigenen Begriffen überhaupt adäquat erfasst werden kann. Westliche China-Historiker befinden sich dabei unter doppeltem Subjektivitäts- 91 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften verdacht, wenden sie doch eigene, zeitgenössische Kategorien auf eine sowohl zeitlich als auch räumlich entfernte Gesellschaft an. Es stellt sich also die Frage, ob historische China-Forschung überhaupt objektiv sein kann. Eine einhellige Antwort auf diese Frage wurde von der erkenntnistheoretischen Forschung bisher nicht vorgelegt, und eine alle Diskussionsstränge einbeziehende Erörterung des Problems kann im Rahmen dieses Beitrages nicht geleistet werden. Eine solche müsste überdies die disziplinenübergreifende Dimension der Frage der Objektivität aufnehmen. Erkenntnistheoretischer Konsens ist, dass eine objektive Beschreibung der Vergangenheit nicht möglich ist. Für Historiker, die kaum die Existenz der Vergangenheit als solche leugnen werden, bietet sich aber immer noch die Möglichkeit einer Annäherung an die Objektivität oder das Bemühen um „relative“ Objektivität in der Erforschung derselben. Einer kulturell und historisch sensiblen China-Forschung stehen hierfür grundsätzlich zwei Wege offen. Ein erster Weg besteht in der bewussten Annäherung an die subjektiven Horizonte der historischen Akteure. In der Geschichtswissenschaft würde man dieses Vorgehen als historisierend bezeichnen; in der zusätzlich transkulturell angelegten China- Wissenschaft müsste die Historisierung um ein „sinozentrisches“ Element erweitert werden. Die möglichen subjektiven Horizonte können allerdings sehr komplex angelegt sein, und in der Bestimmung des Forschungsdesigns ist ein hohes Reflexionsniveau erforderlich, um vorschnelle Zuschreibungen zu vermeiden. So hat z.B. der amerikanische Sinologe Paul Cohen in seinem Buch „Discovering History in China“ (1984) zunächst den durchaus erwägenswerten Vorschlag gemacht, im Forschungsprozess eine „chinazentrierte“ Sichtweise einzunehmen und die Geschichte Chinas sozusagen durch eine chinesische Brille zu betrachten. Cohen hat dabei aber übersehen, dass das moderne China dermaßen von westlichen Ideen durchdrungen ist, dass es gar nicht mehr möglich ist, genuin „chinesische“ Sichtweisen zu identifizieren. Fraglich ist überdies, wer dieses subjektive China repräsentiert und wie mit den divergierenden Standpunkten unterschiedlicher chinesischer Interessengruppen zu verfahren ist. Ein Beispiel dafür, wie komplex und fast vergeblich die Aufgabe ist, eurozentrischen Herangehensweisen mit der Einnahme einer chinesischen Perspektive beizukommen, bietet die Modernisierungstheorie. In ihrer frühen Variante beschrieb die Modernisierungstheorie einen universalen - de facto aber aus der euroamerikanischen Entwicklung abgeleiteten - Prozess, der angeblich alle Gesellschaften erfasst, die den Weg von der Tradition in die Moderne beschreiten. Kritiker stellten zunächst die Vorstellung von Modernisierung als gleichförmigem Prozess in Frage und schlossen sich dem von Shmuel N. Eisenstadt entwickelten Modell der „Vielfalt der Moderne“ (multiple modernities) an. Moderne wurde hier sozusagen pluralisiert, und es wurden die nationalen Besonderheiten moderner Gesellschaften anerkannt. Einen Schritt weiter machte sich die Postmoderne mit ihrer Sensibilität für die sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit und ihrem Drang, Vorstellungen einer historischen Zielgerichtetheit zu dekonstruieren, daran, den Begriff der „Moderne“ als solchen in Frage zu stellen. Wie gehen wir aber nun mit dem paradoxen Faktum um, dass „Modernisierung“ seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der VR China geradezu zum Leitbegriff der historischen Forschung wurde, ja dass der Mainstream der aktuellen chinesischen Geschichtsschreibung unter Verwendung des Begriffes „Modernisierung“ fast schon musterhaft „eurozentrisch“ argumentiert? Offensichtlich kann in Zeiten der Internationalisierung der Wissenschaften der regionale Ursprung einer Theorie nicht mehr ausschlaggebendes Kriterium für ihre Angemessenheit in Anwendung auf eine 92 3. Weiterleitungen bestimmte Region sein. Wer sich also bemüht, die Eigengesetzlichkeit fremder und zeitlich zurückliegender Wirklichkeiten anzuerkennen, muss zunächst die Komplexität derselben in Rechnung stellen. Auf China bezogen heißt dies, dass es nicht die eine und auch keine reine chinesische Sichtweise gibt, sondern dass Sichtweisen konkurrieren und dass zur Bandbreite historisch existenter Sichtweisen auch ursprünglich europäische Standpunkte gehören können. Überdies kann die Perspektivik des heutigen und kulturell entfernten Forschers nie ganz ausgeschaltet werden, so dass gegenwärtige und historische Horizonte dialogisch aufeinander bezogen werden müssen, um die so ermittelten Spannungen bewusst für den Erkenntnisprozess nutzbar zu machen. Ein zweiter Weg besteht darin, die genannte Perspektivik als zwangsläufig und unumgänglich zu akzeptieren und die reflexiven Anstrengungen auf die Frage der Angemessenheit und des Geltungsbereichs der eigenen Perspektive zu richten. Schließlich ist es ja durchaus legitim, die Vergangenheit aus einem aktuellen Erkenntnisinteresse heraus unter die Lupe zu nehmen, sei es, um die Genese aktueller Probleme zu verstehen, sei es, um Antworten der Vergangenheit auf heutige Problemstellungen zu ermitteln. Hier muss geklärt werden, wessen Interessen die jeweilige Perspektive widerspiegelt - wobei erneut die regionale Identifikation (China vs. Westen) nur eine und in vielen Fällen nicht die sinnvollste darstellt. Die Annäherung an Objektivität kommt bei diesem Weg durch die im wissenschaftlichen Diskurs der gesamten scientific community vorzunehmende kritische Abwägung der Triftigkeit einzelner Darstellungen sowie durch die Addition vieler subjektiver Sichtweisen zustande. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass die Frage der Objektivität der historischen China-Forschung mit dem in den späten 1980er Jahren einsetzenden und sich stetig vertiefenden Austausch zwischen westlichen und chinesischen Wissenschaftlern neue Brisanz erlangte. Was geschieht, wenn kulturell unterschiedlich geprägte Forschungshorizonte aufeinandertreffen? Ist es möglich, transkulturellen Konsens über die historische Wahrheit zu erlangen, oder können allenfalls subjektive Forschungsmeinungen zu einem pluralistischen Bild addiert werden? Sind westliche Wissenschaftler überhaupt daran interessiert, den chinesischen Kollegen einen gleichberechtigten Platz in der Forschung einzuräumen, oder verweisen sie diese lediglich in die untergeordnete Rolle, empirische Daten für eine westlich-zentrierte Theoriebildung zu liefern? Sind chinesische Forscher auf der anderen Seite bereit, westlichen Kollegen, die sprachlich und in ihren empirischen Vorkenntnissen in der Regel im Nachteil sind, Urteilskompetenz über die chinesische Geschichte zuzugestehen? Diese Fragen zeigen, dass transkulturelle Forschung neben der erkenntnistheoretischen auch eine ausgeprägte wissenschaftspolitische Dimension aufweist, die den Kenntnisstand und die Aussagen der China-Forschung nicht unwesentlich beeinflussen. Womit befassen sich China-Historiker? Trends und Beispiele Wie bereits erwähnt, sind der historischen China-Forschung thematisch prinzipiell keine Grenzen gesetzt. Dennoch ist es für Forscher jeglicher Disziplin üblich, nicht nur individuellen Interessen zu folgen, sondern diese auf etablierte Forschungsfelder und Fachdebatten abzustimmen. Selbige unterliegen natürlich auch selbst einer historischen Dynamik, wobei Anstöße für die Herausbildung neuer Teilgebiete und Fragestellungen methodischer Kreativität, neuen Quellenfunden, der Inspiration durch aktuelle Problemlagen oder der Anregung aus anderen Disziplinen zu verdanken sind. 93 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften Der Ausgangspunkt der historischen China-Forschung findet sich im 19. Jahrhundert (auf der Ebene von Einzelwerken teilweise auch etwas früher), und zwar speziell bei der philologischen Erschließung der chinesischen Tradition, insbesondere bei den Texten des Konfuzianismus und den politischen Dokumenten, die am Kaiserhof gesammelt wurden. Die damaligen Schwerpunkte, die sich in Bezug auf die vormoderne Geschichte oft bis in die Gegenwart gehalten haben, lagen also beim Staat und seinen geistigen und bürokratischen Eliten und wurden in geistes- oder politikhistorischem Zuschnitt bearbeitet. Das Interesse am Staat und an den „großen Männern“ setzte sich in der Betrachtung der neueren Geschichte Chinas fort, die im späten 19. Jahrhundert - damals als chinesische „Gegenwart“ - erstmals Aufmerksamkeit fand, sich aber erst viel später als legitimer Forschungsgegenstand der Sinologie durchsetzte. In Bezug auf die neuere Geschichte wurde damals der Blick ausgeweitet auf die vielen Reformer oder Revolutionäre, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts den konfuzianischen Staat herausforderten, insbesondere auf ihre Ideen und Biographien, sowie auf politische Parteien, ihre Programme und die internen und externen Fronten, welche diese durchzogen. Eine Diversifizierung der Themen und Zugänge setzte im deutschsprachigen Raum, wo die China-Forschung unter dem einheitlichen Dach der Sinologie verblieb und damit wenigen Impulsen von außen ausgesetzt war, erst mit der Expansion des Faches in den 1970er Jahren und dem wachsenden Bewusstsein für Forschungen jenseits der Fach- und nationalen Grenzen in den 1980er Jahren ein. Länderübergreifend bedeutet Diversifizierung in erster Linie, dass der enge Fokus auf die Staats- und konfuzianische Gelehrtenelite und deren Lebenswelten aufgeweicht wurde. In der Sozialgeschichte rückten die Unterschichten der Gesellschaft und soziale Randgruppen in den Blick: Arbeiter, Bauern, ethnische Minderheiten, Frauen und Kinder, Kulis, Prostituierte usw. Analog hat sich die Kulturgeschichte, die sich bis dahin auf die Erforschung der Hochkultur konzentriert hatte - also auf die Schriftkultur, den philosophischen und literarischen Kanon, die Geistes- und Ideengeschichte - auch der Volkskultur und Volksreligion zugewandt. In Bezug auf das moderne China werden mittlerweile die verschiedensten Formen und Produkte von Populär- und Massenkultur untersucht, z.B. Sport oder auch Medien wie Film, Schallplatte und Comic. Weitere historische Interessengebiete sind Themen aus den Bereichen Ökonomie, Technik, Medizin und Recht. Für die letztgenannten Schwerpunktbereiche besteht allerdings die Gefahr, randständig zu bleiben, was teilweise an einem engen Verständnis davon liegt, welches der thematische „Kern“ des Faches Sinologie ist, teilweise auch an der mangelnden Fähigkeit von Spezialisten, ihre auf den ersten Blick randständige Forschung an größere und zentralere Forschungsfragen anzuschließen. Insgesamt hat sich im Verlaufe der Geschichte des Faches das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Quellen der Elitekultur vorwiegend präskriptiver Natur sind, also frühere gesellschaftliche Ideale ausdrücken, die mit der sozialen Wirklichkeit und dem Alltag der Bevölkerung oft wenig gemein hatten. So herrschte z.B. in Bezug auf die Geschichte der Frauen im vormodernen China lange Zeit die Vorstellung einer durchgängigen und umfassenden Unterdrückung, deren Ursprung in den konfuzianischen Verhaltensnormen lag, mit denen Frauen unter der Formel der „drei Gehorsamspflichten und vier Tugenden“ (san cong si de) in jeder Lebensphase den Männern untergeordnet und auf ein sittsames Verhalten verpflichtet wurden. Was die Aufgabenbereiche der beiden Geschlechter anging, so wurden in den konfuzianischen Texten Frauen dem „Innen“, also der häuslichen Sphäre, zugeordnet, während Männer das „Außen“ repräsentierten. Die Praxis des Füßebindens sprach sogar dafür, dass 94 3. Weiterleitungen Frauen im vormodernen China ganz besonders repressiven Verhältnissen ausgesetzt waren. Die genannten Positionen krankten allerdings an einer unkritischen Gleichsetzung von Norm und Realität und wurden erst mit der Etablierung der historischen Frauenforschung als eigenem chinawissenschaftlichem Teilgebiet, das sich von den kreativen Methoden und Überlegungen der Gender Studies inspirieren ließ, kritisch hinterfragt. Alternative Quellen brachten sodann eine erstaunliche Variationsbreite in der Lebenswirklichkeit von Frauen im vormodernen China zu Tage. So muss insbesondere nach sozialen Schichten unterschieden werden, denn nur reiche Haushalte konnten es sich leisten, ihre weiblichen Mitglieder durch das Binden der Füße und die Beschränkung auf den häuslichen Bereich von Landwirtschaft und handwerklichem Zuerwerb auszuschließen. Auch die historische Dimension spielte eine Rolle. So ist bekannt, dass besonders grausame Praktiken, die angeblich tugendhaftes Verhalten von Frauen zum Ausdruck brachten, wie z.B. der Witwenselbstmord, erst mit der Ming-Zeit gebräuchlich wurden und gar nicht ausschließlich mit dem Konfuzianismus erklärt werden können, sondern durch bestimmte ökonomische und soziale Gegebenheiten zusätzlich begünstigt wurden. Regionale Spezifika schlugen sich z.B. in der Praxis des Füßebindens nieder, die etwa in Siedlungsgebieten der Hakka in Südchina überhaupt nicht vorkam. Für die sogenannte Jiangnan-Region, also die am Unterlauf des Yangzi-Flusses gelegenen Gebiete, konnte nachgewiesen werden, dass im 18. Jahrhundert reiche Familien ihren Töchtern Bildung zukommen ließen und diese sich oftmals in literarischen Zirkeln austauschten oder sogar selbst schriftstellerisch tätig wurden. Dass diese historische Vielfalt später auf das Moment der Unterdrückung reduziert wurde und dass die außerhäuslichen Aktivitäten und kreativen Leistungen von Frauen ausgeblendet wurden, ist dabei zum einen einem androzentrisch strukturierten Überlieferungsapparat geschuldet, zum anderen den ideologischen Bedürfnissen späterer historischer Akteure, die sich als „Befreier“ der chinesischen Gesellschaft gerierten und die Notwendigkeit dieser Befreiung am Status der Frauen festmachten. Hier sind insbesondere christliche Missionare aus dem Westen und die chinesischen Aktivisten der Neuen Kulturbewegung der späten 1910er Jahre zu nennen. Ihre Agenda der „Befreiung“ chinesischer Frauen erschien dabei umso dringlicher, je repressiver sich die Lage des Subjektes dieser Emanzipation darstellte. Frauen des vormodernen China wurden also zum Sinnbild der Unterdrückung schlechthin stilisiert und in das simplifizierende rhetorische Muster von „traditionell“ (gleich repressiv und zu überwindend) und „modern“ (gleich befreit) gepresst. Diese rhetorischen Manipulationen von chinesischen Reformern und westlichen Interventionisten in der Unterscheidung von „alt“ und „neu“ und die damit einhergehende Schwarz-Weiß- Malerei beschränkten sich übrigens nicht auf den Status von Frauen im vormodernen China, sondern prägten die Sichtweise auf die chinesische Vergangenheit auch in vielen anderen Bereichen. Grundsatzprobleme der Theoriebildung: Periodisierungen und die Frage der chinesischen Moderne Die oftmals problematische - weil holzschnittartige - Unterscheidung von Zeitaltern führt uns zu der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der chinesischen Geschichte sowie allgemein nach deren Periodisierung. Periodisierung ist eine der grundsätzlichen und gleichzeitig besonders folgenreichen Aufgaben von Historikern. Sie impliziert immer auch eine Hierarchisierung, denn bestimmten Merkmalen einer angeblich neuen Epoche wird Vorzug vor anderen eingeräumt. Überdies gehen mit Periodisie- 95 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften rungen oft auch Wertungen einher, wie in der obigen Kontrastierung von „traditionell“ und „modern“ oder - um ein Beispiel aus der westlichen Geschichte anzuführen - von „finsterem“ Mittelalter und „aufgeklärter“ Neuzeit. Welches sind nun aber die großen oder auch kleineren historischen Einschnitte, mit denen die chinesische Geschichte strukturiert werden kann, und welche Erklärungen gibt es für die vielen Neuanfänge unterschiedlicher Reichweite? Gängige Gliederungsschemata orientieren sich an den offensichtlichen politischen Einschnitten, also dem Wechsel von Dynastien und - in Bezug auf das 20. Jahrhundert - den beiden revolutionären Neugründungen des chinesischen Staates in den Jahren 1911 und 1949. Die bloße Ablösung von Regimen sagt aber noch nichts darüber aus, wie sich die chinesische Gesellschaft langfristig verändert hat. Die westliche Geschichtsschreibung verwendet zur Markierung solcher qualitativer Einschnitte üblicherweise die Dreigliederung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, und der Historische Materialismus, der für Historiker der VR China für mehrere Jahrzehnte bindend war, unterscheidet fünf sogenannte „Gesellschaftsformationen“, die durch bestimmte Produktionsformen und Herrschaftsverhältnisse gekennzeichnet sind (Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus). Aber wie sinnvoll ist es, solche an der Geschichte anderer Regionen entwickelten Kategorien auf das Beispiel China zu übertragen? Können die genannten Verlaufsschemata universale Gültigkeit beanspruchen, oder tut man dem chinesischen Einzelfall nicht eher Gewalt an, wenn man seine Besonderheiten einem scheinbar allgemeinen Modell unterordnet? Viele Debatten unter China-Historikern in und außerhalb Chinas waren und sind genau dieser grundsätzlichen Abwägung von „Allgemeinem“ und „Besonderem“ in der chinesischen Geschichte gewidmet bzw. spezielleren Fragen von Kontinuitäten und Brüchen. Einen besonders hohen Stellenwert nimmt dabei die Frage des Beginns der Moderne ein, denn es geht dabei um die Bestimmung der Triebkräfte in der Herausbildung unserer heutigen Welt. Diese Problematik wurde bereits in Bezug auf den Charakter des heutigen China angesprochen, der mit den Begriffen „Moderne“ oder „Modernisierung“ potentiell eurozentrisch benannt ist. Die Gefahr des Eurozentrismus liegt auch in der Datierung dieser Moderne. Dies gilt insbesondere für einen Periodisierungsvorschlag, der sowohl bei westlichen Historikern als auch in der marxistischen Geschichtsschreibung Chinas lange Zeit dominierte und den Beginn der chinesischen Moderne im Jahr 1840 ansiedelte. Diese Periodisierung entspricht dem oben genannten „impact-response“-Modell, denn sie schreibt dem westlichen Imperialismus, der 1840 eine Serie von Angriffen auf die chinesische Souveränität einleitete, die Initiative dabei zu, ein passiv gedachtes China gewaltsam der Moderne einzuverleiben. Ein mittlerweile gängiger Periodisierungsvorschlag verortet demgegenüber den Beginn der Moderne etwas früher, um ca. 1800, und stellt damit in Rechnung, dass Chinas Weg in die Moderne auch von der inneren Dynamik der letzten Dynastie bestimmt war: Die Qing-Dynastie hatte zu diesem Zeitpunkt zwar ihre Blüte - und sogar die größte territoriale Ausdehnung Chinas in seiner gesamten Geschichte - erreicht, war aber gleichzeitig mit einer Vielzahl auch interner Herausforderungen konfrontiert, welche zu ihrer Destabilisierung führten. Vor diesem Hintergrund taten sich neue Akteure hervor, und China geriet in einen Strudel von immer neuen und tiefer greifenden Reformforderungen, die seine Entwicklung maßgeblich prägten. Ähnlich brisant, aber etwas anders gelagert ist das Problem der Periodisierung der Geschichte des 20. Jahrhunderts, für welche sich zunächst das Jahr 1949 als Zäsur anbietet. Dabei geht es selbstverständlich nicht nur neutral um eine Jahreszahl, sondern auch um die Frage von Gesellschaftscharakter, Herrschaftsformen und Ursa- 96 3. Weiterleitungen chen des Systemwechsels: Wie konnte es zur kommunistischen Machtübernahme kommen? Gab es Alternativen zum Sozialismus, und wenn ja, warum haben sich diese nicht durchgesetzt? Überdies gibt es auch gute Gründe, sich mit den Kontinuitäten zwischen der Herrschaft der GMD (Guomindang bzw. „Nationalpartei“) vor 1949 und der KPCh zu beschäftigen und somit die Zäsur des Jahres 1949 zu relativieren. Auch in der Frage des Machtwechsels von 1949 gilt, dass die historische China- Forschung in verschiedenen Zeiten unterschiedliche Überlegungen anstellte, jeweils andere Themen unter die Lupe nahm und neue Ansätze verfolgte, um die genannten Aspekte besser zu verstehen - oder auch ganz hinter sich zu lassen. Dass dabei politische Sensibilitäten und ideologische Konstellationen von nicht geringer Bedeutung waren und teilweise auch heute noch sind, gilt sowohl für die westliche als auch für die chinesische Forschung. Betrachten wir nur die Nachkriegssituation, so fällt auf, wie tief die ideologischen Fronten des Kalten Krieges unmittelbar in die China- Forschung hineinwirkten: Wurde in den USA in den 1950er Jahren gefragt, wie es passieren konnte, dass China an das kommunistische Lager „verloren“ ging, so wurde in China der sozialistische Weg verabsolutiert, und Alternativen waren als eigenständige Forschungsgegenstände nicht opportun. Diese Konfrontation ist mittlerweile natürlich behoben, und der zunehmende Austausch zwischen westlichen und chinesischen Forschern hat eine erfreuliche Dynamik in die betroffenen Forschungsfelder getragen. Dennoch gilt bis heute, dass sich der Gang der Geschichte selbst sowie zeittypische Problemstellungen und Paradigmen auf die Zugänge zur Geschichte des modernen China auswirken. Um dies zu illustrieren, soll hier beispielhaft die Entwicklung zweier Forschungsfelder skizziert werden, die sich komplementär zueinander verhalten: die Geschichte der kommunistischen Revolution im ländlichen China der 1920er bis 1940er Jahre und die Geschichte der Stadt Shanghai ungefähr im selben Zeitraum. Beide Gegenstandsbereiche sind Teil der sehr bewegten Politikgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als China von wechselnden inneren und äußeren Fronten zerrissen war. Die zwei großen Parteien, KPCh und GMD, rivalisierten um die Herrschaft über ein neu zu gestaltendes China, und Japan expandierte immer weiter auf chinesischem Territorium, um schließlich zwischen 1937 und 1945 zu versuchen, seine Machtansprüche im offenen Krieg durchzusetzen. Für die Bevölkerung machte es einen enormen Unterschied aus, ob sie (so z.B. in Shanghai) unter japanischer Besatzung, im sogenannten „freien China“ unter GMD-Kontrolle oder in einem der Stützpunktgebiete der Kommunisten lebte - Optionen, die angesichts sich ständig verlagernder Fronten und wechselnder Machtansprüche allerdings selten stabil waren. Zunächst fällt auf, dass die revolutionäre Bewegung im ländlichen China bis in die 1980er Jahre hinein das sinologische Interesse wesentlich stärker anzog als Shanghai. Man wollte offenbar vorrangig verstehen, wie Mao Zedong den Systemwechsel herbeiführen konnte, für den Shanghai von untergeordneter Bedeutung war. Frühe Studien orientierten sich deshalb vorrangig an der politisch heiklen Frage, wie es der KPCh gelang, die ländliche Bevölkerung in ihrem Einflussbereich hinter sich zu bringen und für die diversen Kriege zu mobilisieren: War es der Einfluss und die Unterstützung der Sowjetunion? War es der von der KPCh organisierte Widerstand gegen Japan, der an den Nationalismus der Bauern anknüpfte, welche unter der japanischen Besatzung um ihr Leben und ihre Existenz fürchten mussten? War es die sozialistische Programmatik, welche soziale Ungerechtigkeiten behob und den Bauern zu größeren Rechten verhalf? Oder war es schlichtweg das organisatorische Geschick der Partei, wenn nicht sogar Zwang in einem Prozess der reinen Mobilisierung von 97 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften oben? Alle genannten Positionen wurden in der Debatte im Stile einer monokausalen Erklärung vertreten, wobei jede einzelne Position ein völlig anderes Licht auf die Rechtmäßigkeit der später alleinherrschenden KPCh warf. Die Situation änderte sich erst in den 1980er Jahren, als sich das Feld der Revolutionsgeschichte im Zuge der aus dem Reformkurs Chinas herrührenden politischen Entspannung zu entpolitisieren begann. Der Zugang zu neuen Quellen in einem „geöffneten“ China bereitete den Boden für tiefergehende Studien, welche eine Professionalisierung und Diversifizierung des Feldes einleiteten. Waren die frühen Erklärungsversuche für den kommunistischen Erfolg eher monokausal angelegt, so setzten sich in den 1980er Jahren Positionen durch, die mindestens zwei Faktoren benannten oder grundsätzlich für multikausale Erklärungsmodelle plädierten. Regional- und Lokalstudien brachten eine große räumliche Varianz im Vorgehen der Partei zu Tage. Und schließlich trugen Ansätze, die nicht von den Direktiven der Parteizentrale ausgingen, sondern versuchten, Impulse „von unten“ zu erfassen, zu einem wesentlich komplexeren Bild der KPCh und ihrer Interaktion mit der lokalen Bevölkerung bei: Die Partei war in sich kein Monolith, sondern vereinte diverse soziale und politische Interessen. Zentrale Vorgaben - so sie überhaupt den Weg zu den Akteuren vor Ort fanden - wurden an lokale Gegebenheiten angepasst oder konnten aufgrund der großen Instabilität vieler Gebiete überhaupt nicht umgesetzt werden. Pragmatische Erwägungen zwangen dazu, radikale theoretische Vorgaben abzumildern, etwa im Umgang mit den Eliten, die als lokale Autoritäten und Garanten der Produktion in die Revolution einzubinden waren. Insgesamt spricht man deshalb jetzt eher von den „Revolutionen“ im Plural als von der einen „chinesischen Revolution“. Sozialhistorische Forschungen bereicherten die Revolutionsforschung um den Aspekt der Geschlechterbeziehungen (gender) und machten deutlich, dass Frauen eine bedeutende Gruppe im revolutionären Geschehen waren, sei es als Objekte kommunistischer Politik, sei es als Kader und Soldatinnen, die diese mit gestalteten und ausführten. In eher kulturhistorisch angelegten Studien wurde gezeigt, wie die kommunistische Propaganda populäre Formen von Theater, Musik und Kunst nutzte, um einer vorrangig illiteraten Bevölkerung politisch neue Inhalte zu vermitteln. Und schließlich sind solche Studien zu nennen, die den Fokus auf die Kommunistische Partei ganz aufgaben, um stattdessen das Leben der Bevölkerung in den Blick zu nehmen, welches durch die Erfahrungen von Krieg, Flucht und politischen Wirren nachhaltig geprägt wurde. Das Komplement zu den ländlichen Stützpunktgebieten der Kommunisten im Landesinneren bildet die Stadt Shanghai, welche durch ihre Küstenlage zudem der Interaktion mit dem Westen, also dem Kolonialismus, ausgesetzt war. Als ökonomisches Zentrum und zu diesem Zeitpunkt modernste Stadt Chinas gab Shanghai auch ein plausibles Fallbeispiel für die Frage ab, woran eine „bürgerliche“ Alternative zur sozialistischen Revolution gescheitert war. Für Historiker in China selbst war bis zum Ende der 70er Jahre natürlich Mao Zedongs Abneigung gegen die Stadt als Hort westlich-bourgeoiser Dekadenz und als Brennpunkt der kolonialen Erfahrung Chinas von Bedeutung. Wurde Shanghai überhaupt behandelt, so geschah dies deshalb im Rahmen eines Erklärungsmusters, in dem westliche Unterdrückung und chinesischer Widerstand kontrastiert wurden. Der erstgenannte Aspekt spiegelte sich in der kolonialen Machtordnung wider, die sich in einer Vielzahl von Phänomenen manifestierte: den sogenannten „ungleichen Verträgen“, die China nach den verlorenen Kriegen im 19. Jahrhundert von den westlichen Mächten aufgezwungen wurden; der besonderen Rechtsform der Extraterritorialität, welche Ausländer von einer Strafverfolgung 98 3. Weiterleitungen durch chinesische Gerichte ausnahm; und dem Wirken westlicher Händler und Missionare sowie der Frage, in welchem Maße und mit welchen Mitteln sie von ihren Regierungen unterstützt wurden. Der Aspekt des Widerstandes wurde mit den diversen Aufstandsbewegungen in der Geschichte Shanghais abgedeckt. Während chinesische Forscher die kolonialen Formen also in ihren repressiven Seiten betrachteten, taten sich im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst Verfasser hervor, die - ganz im Geiste des Kolonialismus - den angeblich zivilisierenden Einfluss der Europäer auf Shanghai priesen und die westliche Präsenz romantisierten. Eine Shanghai- Forschung im Sinne eines etablierten und regen Forschungsfeldes von Sinologen existierte aber nicht. Die Situation änderte sich für beide Seiten auch hier mit der - jetzt freiwilligen - „Öffnung“ Chinas Ende der 1970er Jahre und speziell mit dem ökonomischen Boom Chinas, zu dem Shanghai seit der Öffnung der Sonderwirtschaftszone Pudong im Jahr 1992 auf substantielle Weise beitrug. Als einer der zentralen Brennpunkte des rasanten Wirtschaftswachstums Chinas stieg Shanghai seit den 1990er Jahren geradezu zum Symbol desselben auf. Außenpolitische und außenwirtschaftliche „Öffnung“ hatte auch im Falle der historischen Shanghai-Forschung zunächst neue Forschungsmöglichkeiten zur Folge: Archive wurden geöffnet und westliche und chinesische Forscher konnten in Kontakt treten. In dem Maße, wie „Öffnung“ dem Kolonialismusverdacht entzogen bzw. gerade umgekehrt zum Motor des Wachstums erklärt wurde, wurde Shanghai in China selbst als Forschungsgegenstand opportun und konnte sich aus dem Paradigma von Unterdrückung und Widerstand befreien. Gerade die Regsamkeit von Forschern und historischen Forschungsinstituten in Shanghai selbst, die nicht selten von einem großen Lokalpatriotismus angetrieben sind, sowie deren großes Bemühen, der internationalen Shanghai-Forschung neue Quellen zur Verfügung zu stellen, haben diesem Forschungsgebiet eine große Dynamik verliehen und geradezu eine Explosion der Shanghai-Forschung bewirkt. Zwei Tendenzen sind dabei besonders bemerkenswert. Zum einen sind solche Forschungen zu erwähnen, die von der Frage der chinesischen Moderne ausgingen und Shanghai als potentielle Alternative zur kommunistischen Revolution im ländlichen China untersuchten. Hier stellte sich zunächst die Frage, warum das Bürgertum in China eine so schwache politische Kraft blieb. Diesbezüglich wurde die These aufgestellt, dass sich in der Republikzeit aufgrund der Schwäche des chinesischen Staates eine kapitalistische, die Interessen chinesischer Unternehmer schützende Ordnung nicht durchsetzen konnte. Gerade die Schwäche des Staates, der das Bürgertum nicht zwang, sich als Gegenkraft zum Staat zu konstituieren, habe - paradoxerweise - die Herausbildung einer Demokratie verhindert. Überdies bemerkte man die „parochiale“ Ausrichtung diverser sozialer Gruppen Shanghais, die sich eher landsmannschaftlich, also entlang der individuellen Wurzeln in den verschiedenen Städten und Regionen Chinas, organisierten, anstatt als geeinte „Klasse“ Interessenpolitik zu betreiben und damit die Transformation Chinas hin zu einer modernen Gesellschaft voranzutreiben. Es wird deutlich, dass betreffende Aussagen sich zunächst an der historischen Entwicklung des Westens orientierten: Was fehlte China im Vergleich zum Westen als dem Modell der Moderne? Neuere Forschungen gehen demgegenüber mit der Frage der Moderne offener um. Sie fragen nach den Besonderheiten einer „Shanghaier Moderne“ (Shanghai modernity) und suggerieren, dass für China eine Alternative jenseits der sozialistischen und bürgerlichen Pfade bestanden haben könnte, nämlich in der Vereinigung von Kultur und Kommerz, welche „hybride“ Formen hervorbrachte. 99 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften Genannte jüngere Thesen profitieren dabei von dem zweiten Trend, nämlich der Vertiefung, Diversifizierung und theoretisch-methodischen Neuorientierung der Shanghai-Forschung. Der Kolonialismus spielt weiterhin eine Rolle, aber jetzt weniger als politisch-moralische Kategorie, welche die Forschung zwangsläufig in zwei Lager teilt, sondern etwas neutraler als „Kontaktzone“ zwischen China und dem Westen, aus der neue Institutionen, Formen und Inhalte in Literatur, Musik, Kunst, Bildung und Wissenschaft hervorgingen. Eine klare Unterscheidung zwischen „chinesisch“ und „westlich“, „traditionell“ und „modern“ machte einer Sensibilisierung für „hybride“ Phänomene Platz, wie sie sich in der Literatur, im Film, bei der Schallplatte, in der Architektur oder in der Werbung nachweisen ließen. Auch die Herausbildung einer städtischen Konsumkultur wurde bemerkt, in der sich die o.g. Verbindung von Kultur und Kommerz am deutlichsten niederschlug. Im Bereich der Sozialgeschichte rückten auch die Randgruppen der Gesellschaft und die Schattenseiten des städtischen Lebens in den Blick: Emigranten, Geheimgesellschaften, Prostitution, Kriminalität, Opium usw. Die große soziale und kulturelle Vielfalt des damaligen Shanghai, wie sie in diesen neueren Studien zu Tage gefördert wurde, war dabei natürlich auch den kolonialen Verwaltungs- und Machtstrukturen der Stadt geschuldet: Die kolonial legitimierte ausländische Präsenz begünstigte den Transfer westlicher Ideen und Güter; und die komplexen Machtstrukturen der „halbkolonialen“ Stadt verursachten eine Unklarheit der Kompetenzen bis hin zur Herausbildung von Räumen der Regellosigkeit, in denen soziale Randgruppen ihre Nischen fanden und kriminelle Praktiken blühen konnten. Diese Rahmenbedingungen treten in den genannten Forschungen leider oft hinter einer bloßen Faszination gegenüber dem speziellen historischen Forschungsgegenstand und einer unkritischen Euphorie über die damalige „Blüte“ und den heutigen „Boom“ Shanghais (und Chinas) zurück. Während die Spezialisierung der historischen Shanghai- und China-Forschung erfreulicherweise auch zu einer bewussteren Verortung einzelner Forschungsarbeiten in Teildisziplinen der Geschichte (Sozial-, Wirtschafts-, Kulturgeschichte usw.) geführt hat, besteht überdies die Gefahr, dass der Blick auf das „große Ganze“ - etwa die Frage nach der chinesischen Moderne - verloren geht und das Fach Sinologie in Teildiskussionen zersplittert. Lernziele und Erkenntniswege für Studierende der Geschichte Chinas „China hat eine lange Geschichte“ - diese Phrase gehört zum festen Bestand formelhafter Selbstbeschreibungen, wie sie in China üblich sind. Sie wird auch gerne ausländischen Studenten und Forschern entgegengehalten, die Geschichte als ihren Interessenschwerpunkt in der Beschäftigung mit China preisgeben. Unterstellt wird, dass dieses Unterfangen hoffnungslos sei, zumal für Ausländer, denen jegliche Vorkenntnis und Insider-Einsichten in den Erkenntnisgegenstand fehlten. Die obigen Ausführungen zur erkenntnistheoretischen Problematik der historischen China-Forschung dürften deutlich gemacht haben, dass die Insider-Perspektive kein hinreichender Faktor für die Triftigkeit geschichtswissenschaftlicher Aussagen ist. Bleibt die Konfrontation mit der schieren Masse an Daten, Ereignissen und Entwicklungen, die Studierende der Geschichte Chinas überwältigen, wenn nicht sogar abschrecken kann. Welches sind realistische Lernziele, und welche Strategien bieten sich an, diese zu erreichen? Grundsätzlich gilt, dass Studium und Wissenschaft Spaß machen müssen, um zu guten Ergebnissen zu führen, und sich die Qualität von China-Wissenschaftlern nicht an der bloßen Quantität ihres Wissens entscheidet. Es mag sein, dass jedes Fach seine quasi standardisierten und kanonischen Wissensbestände kennt und Studierende mit 100 3. Weiterleitungen Leselisten überhäuft, deren Abarbeitung angeblich das Erreichen eines disziplinären Standards garantieren. Ohne die Lust an der kritischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand werden Studierende an dieser Aufgabe aber schnell scheitern. Als einzige generelle Empfehlung kann hier deshalb nur ausgesprochen werden, individuellen Interessen zu folgen und diese mit den systematischen Verständnisangeboten zu verknüpfen, welche sich in Form von Leselisten und Vorlesungen darbieten. Auf dem Bachelor-Level sollten Studierende sich ein Zeitgerüst aneignen und Hauptdaten, wichtige Personen und zentrale Ereignisse für die großen Zeitabschnitte kennen. Diese werden in der Regel in Vorlesungen oder über die Lektüre von Überblicksdarstellungen vermittelt. Darüber hinaus sollten Studierende auf exemplarische Weise vertiefte Einsichten in einer überschaubaren Zahl von Themenbereichen erwerben, wie sie üblicherweise in Seminaren behandelt werden. Der vorliegende Beitrag hat exemplarisch eine ganze Reihe solcher Themenbereiche benannt. „Einsichten“ bedeutet hier nicht ausschließlich Wissen, sondern auch das Bewusstsein für die Relevanz eines Themas, mögliche Fragestellungen, Forschungsansätze und Fachdiskussionen. Auf der Master-Ebene entscheiden sich Studierende für zeitliche und thematische Schwerpunkte und werden im günstigsten Falle neben den bereits für die Bachelor-Phase genannten themenspezifischen Einsichten auch in die Forschungspraxis eingeführt, etwa durch die Analyse von Primärquellen und erste Übungen im Umgang mit größeren Quellenbeständen. In der Master-Arbeit schließlich wird die Fähigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens in einem größeren Themenbereich demonstriert, welche in manchen Fällen sogar die Präsentation selbständig gewonnener Erkenntnisse einschließt. Aber selbst nach in der Regel fünf Jahren Studium bis zum Master-Abschluss wird von Studierenden der chinesischen Geschichte nicht der „volle Durchblick“ erwartet. Dieser abstrakt formulierte Studienweg wird hoffentlich von den individuellen Studieninteressen durchkreuzt und mit Abzweigungen versehen. Individuelle Interessen entzünden sich in der Regel an der Lektüre eines Buches, an der Diskussion einer Problemstellung und ganz besonders an der Erfahrung vor Ort. Denn auch für das Studium der Geschichte Chinas gilt, dass Studienaufenthalte in China unerlässlich sind: Sie verbessern die sprachlichen Fähigkeiten, befördern die Motivation, treiben die Ausbildung individueller Interessen voran und konfrontieren Studierende mit der Bedeutung von Geschichte und den Spezifika von Geschichtswissenschaft und Erinnerung in China selbst. Zuletzt sei hier die Problematik von Überblicksdarstellungen angesprochen, die, je nachdem wie souverän die Leserin oder der Leser damit umgeht, zum Segen oder Fluch des Studiums gereichen können. Grundsätzlich gilt, dass Gesamtdarstellungen nur in Ausnahmefällen zur spannendsten Lektüre eines Studiums gehören. Ihr Hauptproblem liegt darin, dass sich die für sie notwendige Kompaktheit nur durch Simplifizierung und Selektion erzielen lässt. Simplifizierung nimmt dem historischen Stoff aber die Ecken und Kanten, die ihn eigentlich interessant machen, und reduziert eine Fülle faszinierender Ereignisse und Phänomene auf ein meist glattes Gesamtnarrativ, das sich in der Regel an der Geschichte des Staates und seiner Eliten orientiert. Auch die Selektion ist eine problematische Operation, deren Fragwürdigkeit im Einzelnen oft hinter einem neutralen Gebaren und der autoritativen Ausstrahlung einer Gesamtdarstellung verborgen bleibt. Jede Selektion impliziert eine Hierarchisierung - was wird berücksichtigt, was entfällt? -, die auf subjektiven Entscheidungen und im schlimmsten Fall auch fragwürdigen Wertehorizonten beruht. Gesamtdarstellungen sollten deshalb stets mit der kritischen Begleitüberlegung gelesen werden, wessen 101 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften Geschichte erzählt und wessen Geschichte weggelassen wird. In die Liste der Lektüreempfehlungen im Anhang dieses Bandes wurden bewusst solche Titel aufgenommen, die sich durch Ausgewogenheit, durch eine gelungene Balance zwischen historischem „Gerüst“ und Details, Fakten und kritischer Reflexion sowie durch gute Lesbarkeit auszeichnen. Eine Alternative zu den monographisch angelegten Gesamtdarstellungen bieten editorische Großprojekte, in denen oftmals auf viele Bände verteilt Spezialisten eines Teilgebietes der chinesischen Geschichte eine Epoche oder Teilaspekte einer solchen behandeln. Das bekannteste dieser Projekte für die Geschichte Chinas ist die Cambridge History of China, eine auf fünfzehn voluminöse Bände angelegte Geschichte Chinas, die seit 1978 von der Cambridge University Press aufgelegt wird und bis heute noch nicht vollständig erschienen ist. Hier sind die Probleme von Selektion und Simplifizierung etwas gemildert - aber auch nicht ganz behoben. Überdies besteht das Problem, dass die Kompilation eines Bandes von der Konzipierung bis zum druckfertigen Manuskript mehrere Jahre in Anspruch nimmt, so dass das fertige Produkt in manchen Aussagen bereits veraltet ist. Bei einem wie im Falle der Cambridge History für bestimmte Bände mittlerweile mehr als dreißig Jahre zurückliegenden Publikationsdatum ist dann der autoritative Anspruch eines solchen ehergeizigen Unterfangens („the largest and most comprehensive history of China in the English language“ (http: / / www.cambridge.org/ gb/ knowledge/ series/ series_display/ item3937001/ ? site_ locale=en_GB), wie die Verlagswebseite verkündet) deutlich relativiert. Nichtsdestotrotz bieten auch die Kapitel der Cambridge History oder vergleichbarer Editionen anderer Verlage hilfreiche Einführungen und stellen für Studienanfänger oft die Einstiegslektüre in eine Thematik dar. Die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit China im deutschsprachigen Raum Im deutschsprachigen Raum ist die historische China-Forschung fast ausschließlich im Fach Sinologie und nicht im Fach Geschichte angesiedelt. Überdies sind die wenigsten historisch arbeitenden Sinologen in Deutschland über das zweite Hauptfach als Historiker ausgebildet. (Freiburg bildet hier mit seinen gegenwärtig drei Fachhistorikern in der Sinologie und Geschichte eine große Ausnahme.) Diese disziplinäre Struktur unterscheidet sich deutlich von den USA, die als Standort der historischen China- Forschung insofern besondere Erwähnung verdienen, weil hier - neben der VR China - die meisten China-Historiker tätig sind, was sich auf die Zahl der Publikationen und den Einfluss auf internationale Forschungsstandards auswirkt. In den USA arbeiten China-Historiker entweder in den - wesentlich größer angelegten - Geschichtsabteilungen in einem Verbund von Spezialisten zu den unterschiedlichsten Epochen und Weltregionen, oder sie sind einem Zentrum für China- oder Asien-Studien angeschlossen. Vielfach kommen auch Doppelaffiliationen vor. In jedem Fall aber sind amerikanische China-Historiker als Historiker mit China-Schwerpunkt ausgebildet und würden sich auch immer als Historiker und nicht als Sinologen bezeichnen. Ihre Forschungsarbeiten sind folglich auch eindeutig von den methodisch-theoretischen Horizonten der Geschichtswissenschaft geprägt. Für die Situation im deutschsprachigen Raum ist die grundsätzliche Tatsache von Bedeutung, dass sinologische Institute mit zwei oder höchstens drei Professuren sehr klein sind und in Forschung und Lehre zwangsläufig das Interessenprofil der jeweiligen Stelleninhaber prägend ist. Hinzu kommt die weiterhin übliche zeitliche Schwerpunktbildung beim vormodernen oder modernen China bzw. bei einem noch 102 3. Weiterleitungen spezifischer definierten Abschnitt der chinesischen Geschichte. Diese Schwerpunktbildung ist aus rein pragmatischen Gründen - z.B. den sehr spezifischen sprachlichen Anforderungen, die v.a. in der groben Unterscheidung von „moderner“ und „vormoderner“ Geschichte liegen - plausibel, bedeutet für Studierende aber, dass sie sich mit der Wahl eines Studienortes auch in gewissem Maße für „Moderne“ oder „Vormoderne“ entscheiden. Dass Studierende trotzdem ein repräsentatives und zeitlich umfassendes „Gerüst“ an historischem Wissen und Einführungen in Themenbereiche jenseits des Interessengebietes eines Stelleninhabers erhalten müssen, gehört zu den großen, leider nicht immer ausreichend eingelösten Verpflichtungen eines sinologischen Institutes. Der aktuelle Stand der historischen China-Forschung in Deutschland lässt sich in dem Ende 2012 verfassten und veröffentlichten „Jahrbuch der historischen Forschung 2011“ nachlesen, welches Forschungsberichte zur historischen Ostasienforschung in Deutschland versammelt ( Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 2011, hg. von der Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland, München: Oldenbourg 2012). Hier fehlen zwar einzelne deutsche Institute sowie die Institute in Wien und Zürich, dennoch lassen sich aus den Berichten gewisse Trends ablesen. Ein erster Trend liegt darin, dass Geschichte als einer von mehreren Schwerpunkten vorrangig projektförmig und nicht mit einem systematischen Anspruch erforscht wird. Eine Ausnahme bildet wiederum Freiburg, das mit den „Transformationen des modernen China“ eine übergreifende Forschungsprogrammatik formuliert hat. Die meisten der im Jahrbuch vertretenen Institute (Leipzig, Tübingen, Bonn, München) konzentrieren sich auf die Geschichte des vormodernen China, einige (Erlangen-Nürnberg, Frankfurt) reichen in ihren Forschungen in das 20. Jahrhundert hinein. Eher bzw. dezidiert der Moderne verpflichtet sind Heidelberg mit einem vorrangig kulturwissenschaftlichen Interesse und Freiburg, wo Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte gleichermaßen berücksichtigt werden. Sinologische Institute, die im Jahrbuch nicht vertreten sind, aber ebenfalls teilweise oder umfänglich zur chinesischen Vergangenheit arbeiten, befinden sich an den Universitäten Hamburg, Würzburg, Trier, Köln, Bochum, Münster, Wien, Zürich und der Freien Universität Berlin. Eine zweite Auffälligkeit besteht bei den meisten Instituten in der mehr oder weniger großen Nähe zur Philologie, dem Interesse an der schriftlichen Überlieferung und der bevorzugten Beschäftigung mit der chinesischen Gelehrsamkeit. Typische Interessengebiete sind die Geistes-, Wissenschafts- und Intellektuellengeschichte, Geschichtsschreibung, Begriffsgeschichte, der philosophische und literarische Kanon, Stoffgeschichten usw. Eine Öffnung zu alternativen Gegenstandsbereichen und Ansätzen liegt besonders an denjenigen Instituten vor, an denen schwerpunktmäßig zur Moderne gearbeitet wird, wo Fachhistoriker konzentriert sind und wo über interdisziplinäre Kooperationsprojekte Brücken in die systematischen Fächer geschlagen werden. Letztendlich kommen Studieninteressenten nicht umhin, über die Webseiten oder direkt vor Ort das Studienangebot einzelner Institute zu prüfen und sich zu überlegen, wo die eigenen Interessen am besten bedient werden. Dass diese sich in den meisten Fällen erst im Verlaufe des Studiums herausbilden oder schärfen, liegt in der Natur eines Faches, das nicht aus dem Schulunterricht bekannt ist. Spätestens auf der Master-Ebene wird das Bild klarer sein, und ein Studienortwechsel ist zu diesem Zeitpunkt relativ üblich. Und schließlich sei denen, die sich auf die Geschichte Chinas spezialisieren möchten, empfohlen, das Fach Geschichte als zweites Hauptfach oder Nebenfach neben der Sinologie zu wählen. Denn - wie einleitend argumentiert wurde 103 - die Vergangenheit als Gegenstand ist noch keine hinreichende Qualifikation für die Berufsbezeichnung der Historikerin bzw. des Historikers. Zitierte Literatur Haas, Stefan (2012): Theoriemodelle der Zeitgeschichte, Version: 2.0. In: Docupedia- Zeitgeschichte, 22.10.2012, URL: https: / / docupedia.de/ zg/ Theoriemodelle_Version_2.0_Stefan_Haas? oldid=84927. Heilmann, Sebastian; Perry, Elizabeth J. (Hg.) (2011): Mao's invisible hand: the political foundations of adaptive governance in China. Cambridge, Mass., Harvard University Press. Mittag, Achim (2003): „Geschichtsschreibung“. In: Staiger, Brunhild (Hg.): Das große China-Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 248-252. Moll-Murata, Christine (2003): „Lokalmonographien“. In: Staiger, Brunhild (Hg.): Das große China-Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 454-456. Pieterse, Jan Nederveen (2006): “Oriental Globalization: Past and Present.” http: / / www.jannederveenpieterse.com/ pdf/ NP%20Orient%20Glob%20PP.pdf. Scharping, Thomas: „Statistik“ (2003). In: Staiger, Brunhild (Hg.): Das große China- Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 719-722. 3.3 Zeit: Geschichtswissenschaften 104 3. Weiterleitungen 3.4 Raum: Kulturanthropologie (Merle Schatz) Die Interpretation von komplexen Ereignissen und Sachverhalten in China kann von ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten und Disziplinen her erfolgen, sie ist nicht alleinige Domäne der Chinawissenschaften. Für Studierende der Chinawissenschaften ist ein Blick zudem auf Disziplinen außerhalb des angestammten Fachbereichs angezeigt, die sich aus ihren ganz eigenen Interessen heraus und mit ihren ganz eigenen Perspektiven mit China beschäftigen. Durch die Kenntnis von deren unterschiedlichen Methoden sowie von den damit verbundenen Inhalten erschließen sich nämlich zusätzliche wissenschaftliche Zugänge zu China. Mit diesen lassen sich auch solche Sachverhalte einordnen, beurteilen und darstellen, die von den eigentlichen Chinawissenschaften bisher kaum oder gar nicht beachtet worden sind und für die sie teilweise auch nicht das hinreichende Handwerkszeug zur Verfügung haben. Das trifft z.B. auf die kulturanthropologische Chinaforschung zu, mit der sich dieses Kapitel exemplarisch beschäftigen wird. Mit der Einleitung der chinesischen Reformpolitik im Jahr 1979 lebte die ethnologische Forschung in China auf. Auch besaßen nun ausländische Wissenschaftler die Möglichkeit, ins Land zu reisen, um eigene Feldforschung zu betreiben. Die Gegenstände und Methoden ihrer Untersuchungen wurden im Zuge der Entwicklung der eigenen Fachdisziplin fortwährend modifiziert. Die Ethnologie, aus deren Wurzeln die Kulturanthropologie hervorgegangen ist, wurde in den 1960er Jahren „kulturell gewendet“. Begriffliche Vorannahmen vom Eigenen und Fremden und dem ethnologischen Beobachter als etwaigem Konstrukteur dieser Kategorien wurden damals erstmals problematisiert. Gleichzeitig traten qualitative Forschungsmethoden in den Vordergrund. Mit ihnen sollten sich die symbolische Strukturierung der sozialen Wirklichkeit in ihren spezifischen historisch-kulturellen Kontexten und die alternativen Codes und Praktiken in Gegenwart und Vergangenheit besser als bis dahin erfassen lassen. Ein neuer Schwerpunkt entwickelte sich dabei in der Erforschung von Alltagskulturen. Wissenschaftstheoretisch bedeutete das zugleich eine kritische Rückwendung auf eigene kulturelle und soziale Erkenntnisvoraussetzungen. Es rückten verstärkt symbolische Ordnungen, Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge als Bedingung für ein Verständnis von „Kultur“ in den Fokus. Sie bezogen sich auf ein breit gefächertes Themengebiet und beschäftigten sich z.B. mit Dörfern, Städten, Geschlechtern, Konsum, Religion, Migranten oder ethnischen Minderheiten. Diese innerdisziplinären Entwicklungen fanden ihren Niederschlag auch in der Auseinandersetzung mit dem Thema „China“. Seit jener Zeit ist unter diesen Vorzeichen eine reiche wissenschaftliche Literatur zu zahlreichen Themen entstanden. Es war vor allem die Dekolonisierung, die einen neuen Rahmen für die ethnologische Wissenschaft geschaffen hatte. Im Sinne einer Unterscheidung zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ war die Differenz zwischen traditionellen und modernen Sozialitätsformen bis dahin konstitutiv gewesen. Kultur war von Ethnologen totalitär als an eine Gemeinschaft gebundene Lebensform verstanden worden, bevor die kulturwissenschaftliche Wende in der Ethnologie die Differenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen zu problematisieren angeregt und damit eine Krise ethnologischen Selbstverständnisses eingeleitet hat. Man begann nun damit, die von „westlichen“ Herkunftskulturen geprägten begrifflichen und methodischen Voraussetzungen der ethnographischen Feldforschung und Textproduktion sowie der dort hergestellten Bilder des Fremden selbst zu betrachten. Das Forschungsinteresse wandte sich zudem komplexen und historischen Gesellschaften des Mittelmeerraums, Latein- 105 3.4 Raum: Kulturanthropologie amerikas und Asiens zu. Das Denken in Kategorien von primitiven, traditionalen und modernen Kulturen sollte damit endlich überwunden werden. In den untersuchten Gesellschaften erforderte schon die Arbeit in Dörfern eine zunehmende Sensibilität für Verknüpfungen mit deren Umwelt. Dabei wurden auch Städte, d.h. Feldforschungsgebiete, die nach außen offen waren, zum Forschungsgegenstand. Das Interesse verschob sich von tribalen Gruppen, Inselbevölkerungen, abgelegenen und begrenzten Gemeinschaften hin zu umfassenderen, heterogenen, städtischen, literaten und politisch aktiven Gesellschaften. Der US-amerikanische Ethnologe Clifford Geertz etwa vertrat dabei einen semiotischen Kulturbegriff: „Der Kulturbegriff, den ich vertrete (…) ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen“ (Geertz 1983: 9). Nach Geertz muss jede Kultur wie ein Text gelesen werden, dessen Urheber sämtliche Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft sind. Der Ethnograph kann sich lediglich interpretatorisch diesem Text annähern. Geertz warf die Frage danach auf, wie anderswo generierte Deutungen rezipiert, auf den eigenen Kontext bezogen, in ihn übersetzt und wieder externalisiert werden. Kultur ist seiner Überzeugung nach ein geschaffenes und die Menschen involvierendes Bedeutungsgewebe. Bestimmte Ausprägungsarten von Wertesystemen oder kulturellen Praktiken wurden nun vermehrt unter bestimmten sozialen Bedingungen untersucht. Gleichzeitig fand fachintern eine kulturwissenschaftlich initiierte Kritik an dieser Form der wissenschaftlichen Repräsentation statt, wonach sie kein Garant für die Authentizität und die Objektivität der Datengenerierung darstelle. Die ethnologischen Untersuchungen der 1960er und 1970er Jahre beschränkten sich weiterhin überwiegend auf ländliche und periphere Regionen. Dabei wurde aber auch beobachtet, dass die ländlichen sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen von den Folgen der massiven Landflucht und Urbanisierung nicht unberührt geblieben sind. Die Ökonomie und das Selbstverständnis ruraler Gesellschaften veränderten sich damit grundlegend. Aufgrund dieser Einsicht wurde die nähere Untersuchung von Migrationsphänomenen als unerlässlich betrachtet, um zu einem adäquaten Verständnis der genannten Veränderungen zu gelangen. Die Konsequenzen, die solche Migrationsbewegungen sowohl für die ländlichen Regionen als auch für die urbanen Zentren besaßen, rückten damit in den Forschungsfokus. Pionierstudien über urbane Migrationsbewegungen und -gemeinschaften wurden von Jankowiak (1993) und Bruun (1994) vorgelegt: Jankowiak diskutierte unter anderem die Sozialkontrolle und Sexualität in Hohhot, der Hauptstadt der Inneren Mongolei. Bruun dagegen beschrieb die durch die Intervention lokaler Autoritäten auftretenden Gründungsschwierigkeiten kleiner Unternehmen in der Stadt Chengdu (Sichuan). Nach Harrell (2001) hatte die chinesische Regierung die Menge von etwa 100 Millionen Wanderarbeitern, die ihre Heimat verlassen haben, um in den Städten zu arbeiten, nicht vorhergesehen. Migranten, die sich nicht registrieren ließen, besaßen kein Wohnrecht, kein Recht auf eine Ausbildung für ihre Kinder und keine Möglichkeit, eine Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen (Solinger 1999). In Städten wie Peking, Shanghai und Kanton gibt es heutzutage große Migrantengemeinschaften und teils großflächige illegale Wohnniederlassungen. Diese Gemeinschaften zeichnen sich dadurch aus, dass Migranten aus ähnlichen Herkunftsregionen nachbarschaftlich 106 3. Weiterleitungen zusammenleben und gelegentlich gleichen Erwerbstätigkeiten nachgehen. In Peking kommen z.B. Kleidermacher überwiegend aus der südlichen Provinz Zhejiang und Müllsammler aus der nördlichen Provinz Hebei (Zhang 2001). Migranten liefern in diesen Städten einen maßgeblichen Beitrag zum städtischen Ausbau und zu industriellen Tätigkeiten. Allerdings werden sie von den einheimischen Bewohnern auch für soziale Phänomene wie die steigende Kriminalität verantwortlich gemacht, auch wenn sie hierbei oftmals selbst Opfer sind (Zhang 2001). Wirtschaftlich und sozial benachteiligte Wanderarbeiter in Kanton, die auf lokale Behörden angewiesen sind und sich dabei untereinander zu Leidens- und Identitätsgemeinschaften zusammenschließen, hat Zhou (1997) beschrieben. Die Lebensbedingungen weiblicher Migranten stellen sich noch schwieriger dar: Pun (1999) hat die schlechte Bezahlung und gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen sowie die schlechten Wohnverhältnisse weiblicher Arbeiter beschrieben. Aber nicht alle Migranten gehören der untersten Gesellschaftsschicht an. Zhang (2001) etwa hat lokale Unternehmereliten und kleinere Unternehmer mit ihren ganz eigenen Gemeinschaftsstrukturen und sozialen Netzwerken untersucht. Andere Forschungen beschäftigen sich z.B. mit den Arbeitsbedingungen und Lohnverhältnissen, Wohnaspekten oder der Behördenkommunikation von chinesischen Binnenmigranten. Wanderungsbewegungen sprengen seit jeher den gewohnten Rahmen von Raum, sozialer Ordnung und Kultur. Der vermeintlich durch Kontinuität und Persistenz von Denkweisen charakterisierte Kulturraum „China“ oder auch „das chinesische Denken“ (Granet 1985) sind dabei nur zwei unter zahlreichen forschungsrelevanten Konstrukten. Migranten leben überwiegend in großer Ferne zu ihrer ursprünglichen Heimat und damit in einem Zwischenraum zwischen angestammter und angenommener Kultur, zu denen sie unterschiedliche Beziehungen unterhalten können. Eine Selbstverständlichkeit von sozialer Rolle, kultureller Orientierung und lokaler Verortung entfällt hier, gegebene Vorstellungen von Kultur bzw. etablierte kulturelle Zuschreibungen werden fraglich. Fremd- und Selbstzuschreibungsprozesse sind ein zentrales Moment einer jeden Migrationssituation, Kultur ist für Migranten nicht Gegebenes oder Vorgefundenes, sondern etwas Gemachtes. Vor dem Hintergrund von Migrationsstudien ist der ethnologische Diskurs seit den 1970er Jahren zunehmend durch eine konstruktivistische und antiessentialistische Sicht auf Kultur bestimmt worden. Einflussreich dabei war vor allem das von Fredrik Barth bereits 1969 verfasste Werk „Ethnic Groups and Boundaries“. Barth argumentiert, dass Kulturen durch Prozesse der Abgrenzung definiert seien. Sie ließen sich nicht von innen heraus fassen sondern nur im Vergleich mit anderen Kulturen. Die Abgrenzung der Gruppen voneinander erfolge dabei dadurch, dass sie vor allem Symbole einsetzten, die sich für die Differenzmarkierung eignen. Diese Symbole können herangezogen werden, um etwa Sprache, religiöse Rituale, Kleidung, Schmuck oder kulinarische Gewohnheiten zu untersuchen und somit Kultur und deren Abgrenzung zum anderen zu definieren. Pierre Bourdieu (1976) und später Johannes Fabian (1983) haben kritisiert, dass Ethnologen dadurch, dass sie mit ihren Beschreibungen einen Beitrag zur Genese kultureller Kategorien geleistet hätten, selbst erst hervorgebracht hätten, was sie angeblich nur beschreiben wollten. Einen theoretischen Rahmen hierzu hatte Edward Saids Kritik an den Islamwissenschaften geliefert, denen der Autor einen generalisierenden Orientalismus vorwarf (Said 1981). Die ethnographischen Standards wurden zum Maßstab für die Begutachtung der Welt und zum Beleg für die Behauptung der Korrektheit der selbst erhobenen Daten stilisiert. Auch das Konzept der ethnographischen Repräsentation wurde im Zusammenhang mit solchen methodologischen Selbstverständigungs- 107 3.4 Raum: Kulturanthropologie prozessen kritisch betrachtet, da ein Sprechen über etwas nie eine reine Beschreibung sein kann, sondern immer auch ein Sprechen für etwas ist, was immer auch Machtzuschreibungen impliziert (Berg/ Fuchs 1993). Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Macht und Wissen wurde nachfolgend geradezu zur Grundsatzdebatte in den Kulturwissenschaften. So hätte bereits die Auswahl des Feldforschungsgegenstandes Einfluss auf seine Konstruktion, da mit ihr eine Erwartungshaltung an das Forschungsobjekt verbunden sei. Ein weiterer Kritikpunkt bezog sich auf das ethnographische Präsens, das die untersuchten Gesellschaften in einer künstlichen Gegenwart beschreibe und damit einen andauernden, zeitlosen Zustand vermittle. Ebenso wurde die Konstruktion von Kollektivsubjekten wie „die Chinesen“ kritisch hinterfragt, da mit derartigen Begriffen ein homogenes, zeitloses und einstimmiges Bild von „Kultur“ oder Gruppen geschaffen würde. Zudem würde so das Gesellschaftsbild einer dominanten Gruppe unkritisch reproduziert und etwaigen Gegenstimmen von Minderheiten nicht angemessen Rechnung getragen: „Letztendlich führt jeder Versuch der Beschreibung von Deutungsmustern, Weltbildern, Normen und Werten einer Gruppe zur Wahrnehmung ihrer Besonderheit und trägt damit zur Konstruktion von Differenz bei“ (Schiffauer 2004: 511). Aufmerksamkeit ist also geboten bei der Produktion ethnographischer Daten und Texte. Der deutsche Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer berichtet, dass es in den 1990er Jahren zur Ausweitung der Ethnologie in der modernen Gesellschaft gekommen sei (Schiffauer 2004). Nachdem zunächst die Großstadt als ein Rahmen betrachtet worden war, innerhalb dessen die Objekte der Ethnologie verortet waren, rückte nun die ethnographische Analyse des Rahmens selbst in den Vordergrund. Der schwedische Sozialanthropologe Ulf Hannerz dagegen verbindet einen kommunikationstheoretischen Ansatz von Kultur mit einer Theorie der Netzwerkgesellschaft (Hannerz 1980). Kulturelle Gemeinsamkeiten wie Rituale, Klassifikationen, Ausdrucksformen und Erinnerungen formieren sich demzufolge in Kommunikationsprozessen unaufhörlich neu. Dabei bietet die Großstadt dem Individuum Möglichkeiten bei der Gestaltung und dem Austausch kulturgenerierender Beziehungen, indem sie ihnen den Zugang zu Gemeinschaften von Gleichgesinnten bzw. den Kontakt mit Andersgesinnten ermöglicht. Während Hannerz die kreativen Akte des Erarbeitens und Austauschens gemeinsamer Deutung in das Zentrum seiner Analyse stellte, ging Pierre Bourdieu von Phänomenen der Unterscheidung und Abgrenzung aus (Bourdieu 1982). Vor allem Oberschichten zeichnen sich seiner Ansicht nach dadurch aus, dass sie durch symbolische Grenzziehungen ihre Exklusivität und damit Stellung im sozialen Raum wahren wollen. Mittelschicht und Unterschicht dagegen imitieren kulturelle Muster und zwingen die Oberschicht damit zu immer neuen Unterscheidungsanstrengungen. Gleich ist beiden Konzepten, dass Kultur als etwas Dynamisches verstanden wird. Die ethnologischen Studien zu chinesischen Großstädten haben seit den 1980er Jahren ihr Themenfeld zusätzlich erweitert: Erforscht worden sind z.B. von Rofel (1999) Geschlechterdynamiken in einem staatlichen Unternehmen in Hangzhou. Andere Wissenschaftler beschäftigten sich etwa mit der öffentlichen Moral im Kontext der Anonymität des Lebens in Großstädten (Hertz 2001). Weitere Arbeiten liegen vor zu Fragen von Sexualität, Freizeit, Populärkultur und Konsum. Dikköter (1995) hat die Veränderung sexueller Praktiken der neuen Mittelschicht und das Aufkommen von Themen wie Homosexualität anhand der Berichte populärer Zeitschriften aus der chinesischen Republikzeit untersucht. Evans (1997) hat sich auf vergleichbare Diskurse nach 1949 konzentriert. Hershatters Studie (1997) über die Sex-Industrie in Shanghai beschreibt dazu die Versuche der kommunistischen Regierung, diese Indus- 108 3. Weiterleitungen trie abzuschaffen und die Arbeiter und Arbeiterinnen „umzuerziehen“. Tatsächlich aber hat, wie Zheng (2009) in seiner Untersuchung in diesem Milieu der Stadt Dalian zeigt, die Sex-Industrie alle Kampagnen überlebt und im Fahrwasser des wirtschaftlichen Aufschwungs gar expandiert. Die Analyse Farrers (2002) alleinstehender Club- und Diskothekenbesucher in Shanghai beschreibt ein zusehends von „westlichen“ Ideen von Sex, Liebe und Freiheit geprägtes Selbstverständnis. Als ein Ergebnis wirtschaftlicher Reformen wurden in der Geschlechterforschung nun auch Veränderungen sowohl in der Bevölkerungsstruktur als auch in der Machtbeziehung zwischen Männern und Frauen untersucht. Das Verständnis von Frauen als Mütter, Schwestern, Ehefrauen und Töchter veränderte sich in den 1980er Jahren sichtbar. Dabei bekamen sie ihre soziale Rolle vor allem als Angehörige einer biologischen Kategorie ( 女性 nüxing) oder einer undifferenzierten politischen Masse ( 妇女 funü) zugewiesen, dessen ungeachtet hielt die kommunistische Regierung an ihrem Mythos der Befreiung der Frauen durch ihre Teilhabe an der Produktion fest (Harrell 2001: 147). Judd (1994) erklärt, dass sich die Stellung der Frauen im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zwar verändert habe, es für berufstätige Frauen dabei jedoch kaum zur sozialen Gleichstellung gekommen sei. Vielmehr sei ein Wiederaufleben patriachaler Dominanz zu beobachten, etwa bei arrangierten Ehen, im häuslichen Rollenverständnis oder bei der Unterordnung von Frauen im Zuge von Familienritualen (Jing 1996). Auch wird beschrieben, dass, nachdem die männliche Bevölkerung überwiegend als Arbeitsimmigranten in die Städte abgewandert sei, nun die Frauen die Hauptarbeitskraft in den ländlichen Gemeinden darstellten (Shi 1997). Judd (2002) untersucht die Bildungssituation und den wirtschaftlichen Status von Frauen in lokalen Umwelten. Da Frauen in Dörfern teilweise ihr Einkommen steigern konnten, führte ihr wirtschaftlicher Mehrwert dazu, dass die Kosten für heiratswillige Männer stiegen. In der Folge blieben viele Männer unverheiratet (Han und Eades 1995). Als Lösung wurden zwecks Eheschließung Frauen aus westlichen Gegenden Chinas herbeigeholt. Als Fremde mussten diese in ihrem neuen sozialen Umfeld aber zumeist Diskriminierung und sozialen Ausschluss erfahren. Nie (1992) beschreibt am Beispiel eines Dorfs, in dem Frauen Kleider produzieren, Männer indes als Saisonarbeiter tätig sind, dass das stabile und demjenigen ihrer Ehemänner nicht nachstehende Einkommen der Frauen ein besonderes familiäres Konfliktpotential darstelle. Yang (1994, 1999) zeigt, wie Männer und Frauen ihre Netzwerke in Hinblick auf gesellschaftlichen Erwartungen aufbauen, wobei von Frauen vor allem die Tugenden Höflichkeit und Bescheidenheit, von Männern dagegen diejenigen von Manipulations- und Durchsetzungsfähigkeit erwartet würden. Geschlechterforschung wurde auch im Zusammenhang mit Sport durchgeführt. Riordan und Jones (2008) beschäftigten sich mit Sport als Teil der Diskussionen über „Körper“ und Geschlecht. Brownell (2008) stellte am Beispiel der Olympischen Spiele in Peking den Zusammenhang zwischen Sport, Nationalismus und Menschenrechtsdiskursen dar. Die 1979 eingeführte Ein-Kind-Politik hatte dazu geführt, dass die Familien die Entscheidungsmöglichkeiten über die Anzahl ihrer Kinder fast vollständig an den Staat abtreten mussten. Die geschlechtliche Bevölkerungsstruktur veränderte sich im Zuge der Ein-Kind-Politik auch dadurch, dass mit ihr die Bemühungen um den einen männlichen Nachkommen bei den meisten Familien zusätzlich verstärkt wurden (Croll 1994, 1995, 2001). Li und Peng (2000) beschreiben, dass der Mangel an Frauen besonders in wohlhabenderen Ostprovinzen bereits in den 1990er Jahren erheblich gewesen sei. Der Frauenmangel zeitigte insbesondere in den Großstädten Phänomene wie Heiratsmärkte, Speed-Dating-Veranstaltungen und Hilfegruppen, in denen 109 3.4 Raum: Kulturanthropologie Männer lernen sollten, sich dem zunehmend unbekannten weiblichen Geschlecht „erfolgreich“ zu nähern. Im Zusammenhang mit der Ein-Kind-Politik werden in anderen Arbeiten die nachlassende Pflege der Eltern und Älteren in den Familien und die Veränderungen in den Familienbeziehungen im Allgemeinen problematisiert (Fong 2004; Zhang 2007, 2009). Die wirtschaftlichen Reformen in China haben seit den 1980er Jahren das Konsumverhalten der ländlichen und städtischen Bevölkerung beeinflusst. Es war ein enormer Kaufkraftanstieg zu verzeichnen, zudem veränderte sich das Kaufverhalten mit der Verfügbarkeit in- und ausländischer Produkte nachhaltig. In den 1980er Jahren waren es vor allem die Fernsehgeräte, Stereoanlagen, Waschmaschinen und Kühlschränke, mit denen Modernität und Fortschritt sowie ein attraktiver Lebensstandard verbunden wurde. In den 1990er Jahren kamen Motorräder, Autos, Karaoke-Video- Geräte, Pager, Faxgeräte und Mobilfunkgeräte dazu. Die Konsumgüter für den häuslichen Gebrauch wurden vielfältiger, zudem stiegen auch die Ausgaben für Freizeitaktivitäten, Nahrungsmittel und Restaurantbesuche (Klein 2006). Ethnologische Forschung untersucht Konsumpraktiken etwa in Zusammenhang mit der Konstruktion von sozialem Status, vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und politischer Veränderungen oder als Teil von kulturellen Zuschreibungen und Identitätskonstruktionen. Yang (1994) zeigt, dass bestimmte Nahrungsmittel bei Festivitäten besonders repräsentativ seien und ihr Konsum die Netzwerkbildung fördere. Die Menschen essen zunehmend außer Haus. Dabei seien amerikanische Fast-Food-Ketten trotz relativ hoher Preise sehr beliebt, weil sie mit bestimmten kulturellen Bedeutungen wie Modernität und „ausländisch“ in Verbindung gebracht würden (Watson 1997, Lozada 2000). Der Austausch von Premium-Zigaretten zwischen Unternehmern und politischen Funktionsträgern wird von Wank (2000) im Zusammenhang mit der Etablierung von Status beschrieben. Tanz, Karaoke, Bowling und die Versendung von Neujahrs- oder Weihnachtskarten seien allesamt Konsumerscheinungen, die dazu dienen, Netzwerke aufzubauen, zu stärken oder zu bestätigen (Erbaugh 2000). Krauss (2000) betrachtet den Besuch öffentlicher Parks und Monumente im Kontext von Hochzeitsritualen und Familienfeiern. Soziale Funktionen und soziale Praktiken von Konsum beschreibt Croll (2006) an Beispielen von Mode, Shopping, Auto- und Wohneigentum, Reise- und Freizeitverhalten, Lifestyle, Computer, Handy, Kinderbetreuung und Spielzeug. Eine Einteilung in Städte und ländliche Forschungsgebiete lässt sich in China mitunter nicht mehr eindeutig vollziehen. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung haben sich Unternehmer und Gewerbetreibende auch in Gebieten außerhalb der Städte niedergelassen (Oi 1999). In einigen Dörfern wurde eine Verstädterung beobachtet, in deren Zuge Bewohner in neue Stadtteile umgesiedelt wurden, in denen sie verbesserten Zugang zu Bildung, Verkehrsanbindung und Handel erhalten haben (Guldin 2001). Das führte zu steigender Mobilität, aber auch zu Nachteilen von Älteren und Armen, die damit aus ihren sozialen Umgebungen herausgerissen worden sind und an den wirtschaftlichen Prozessen nur noch begrenzt teilhaben können. „Städtische Gebiete auf dem Land“ sind für das Yangzi-Delta, den Shenyang-Anshan Korridor und für die Region um die Hafenstadt Dalian beschrieben worden (Hoffman und Liu 1997). Aber auch für südlichere Gebiete wird festgehalten, wie Dorfbewohner sich vom Ackerbau ab- und industriellen Arbeiten zugewendet haben (Johnson und Guldin 1992). Veränderungen der Arbeitstätigkeit, der Zeitorganisation und des Lebensstils der Bewohner sind eine Folge von Verstädtlichungsprozessen. All diese Arbeiten vertreten einen dynamischen Kulturbegriff. Kulturelle Beschreibungen eines Lebens- 110 3. Weiterleitungen raums zeichnen sich dabei weniger durch die Gemeinsamkeiten als vielmehr durch die Differenz der Akteure und ihrer Handlungen aus. Die Akteure teilen nicht mehr Normen, Werte und Überzeugungen. Stattdessen interpretieren sie diese unter veränderten sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Bedingungen um. Einige Forschungen im Bereich der städtischen Anthropologie lassen sich durchaus auch als solche der modernen Gesellschaft insgesamt verstehen. Geertz fordert in seinem Werk „Welt in Stücken“ (Geertz 1996), die Wandlungsprozesse von politischen, sozialen und kulturellen Identitäten zu beobachten. Das Spektrum der Untersuchung reicht von der Identitätsanalyse neu entstandener ethnischer oder religiöser Bewegungen bis hin zu transnationalen Identitäten, etwa in Diasporagemeinschaften. Auch Studien zu Grenzen, Grenzregionen und kulturellen Grenzüberschreitungen sind hier zu nennen. Kultur bezeichnet nunmehr die Gesamtheit der Praktiken, mit denen Wissen, Macht und Identität hergestellt wird. Die Frage nach ethnischer Differenz zielt dabei auch immer unmittelbar auf den Begriff der Kultur in konkreten sozialen Kontexten und auf die mit ihm verknüpften Kommunikations-, Vertrauensbildungs- und Machtbildungsprozesse ab (Schiffauer 2004). In den 1980er Jahren lebte auch in China selbst die kulturanthropologische Forschung auf. Im Ausland ausgebildete chinesische Anthropologen hatten sich, etwa in Arbeiten zu ethnischen Minderheiten, zwar schon in den 1930er Jahren mit Fragen der Gesellschafts- und Kulturanthropologie ( 社会文化人类学 shehui wenhua renleixue) sowie Ethnologie ( 民族学 minzuxue) befasst. Diese ersten eigenständigen Anfänge wurden allerdings nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 schon bald wieder erstickt. In der Regierungszeit Mao Zedongs konzentrierte sich die chinesische Anthropologie weitestgehend auf stalinistisch geprägte ethnologische Methoden bei der Beschreibung ethnischer Minderheiten: Ethnographische Beobachtungen wurden hierbei auf die politische Funktion reduziert, Feldforschungsdaten zur Bestätigung der marxistischen Annahmen sozialer Evolution zu generieren (Guldin 1994). Im selben Zeitraum hatten indes nur wenige ausländische Wissenschaftler die Möglichkeit, eigene Feldforschungen in China zu betreiben. Diesbezügliche Informationen kamen daher vornehmlich von Flüchtlingen in Hongkong. Von ihnen haben Parish und Whyte (1978) Informationen zu städtischen und familiären Fragestellungen zusammengestellt. Zu städtischen Fragen liegt zudem eine Arbeit von Chan, Masden und Unger vor (1984). Während die chinesischen Wissenschaften in der Zeit der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 nahezu vollständig brach lagen, waren die „westlichen“ Chinaforschungen in dieser Zeit entweder auf die in Hongkong erlangten Informationen angewiesen oder beschränkten sich, wie etwa Murice Freedmans Arbeiten zur chinesischen Abstammungsgeschichte (Freedman 1958), gar vollständig auf in Bibliotheken verfügbares historisches Quellenmaterial. Der Verfall von Abstammungslinien, die wirtschaftliche Entwicklung in den nördlichen Gebieten Chinas, der Wandel von Reisanbau zu Gemüseanbau, Unternehmerschaft und Auswanderung oder wirtschaftliche Unterschiede innerhalb einzelner Städte waren die Forschungsinteressen etwa von Jack Potter (1968), James und Rubie Watson (1975, 1977, 1985) und Hugh Baker (1968) in Hongkong. Andere Ethnologen indes forschten von ihren taiwanesischen Standorten her zu Städten (Gallin 1966, Pasternak 1972), Abstammung (Cohen 1976), Frauen und Familien (Wolf 1972) oder Ritualen (Jordan 1972, Ahern 1973). Die Forschungsbedingungen in China besserten sich mit Einleitung der Reformpolitik in den 1980er Jahren. Die „Chinese Anthropological Association“ wurde 1980 gegründet. Nur wenig später wurden ethnologische Abteilungen an den Universitäten 111 3.4 Raum: Kulturanthropologie in Zhongshan (1981) und Xiamen (1984) eingerichtet. Dabei wurden die bis dahin gängigen ideologisierten Wissenschaftsmodelle zunehmend auf den Prüfstand gehoben. In den 1990er Jahren konnten sich neuere ethnologische Forschungsprogramme etablieren, so etwa an der Yunnan Universität in Kunming und der Qinghua Universität in Peking. An diesen Institutionen arbeiten seitdem vor allem im Ausland ausgebildete chinesische Wissenschaftler. Auch ist es für ausländische Wissenschaftler inzwischen einfacher geworden, in China Feldforschung zu betreiben und sich mit den chinesischen Kollegen an deren Instituten auszutauschen. In den Fokus ethnologischer Forschungen rückten nun zunehmend die Auswirkungen sozialer und intellektueller Verwüstungen in der Herrschaftszeit Mao Zedongs und Fragestellungen zu Fortschritt und Modernität. Yan Yunxiang (1996) z.B. hat soziale Netzwerke und, ausgehend von Listen über Hochzeitsgeschenke, den Tauschhandel in einem nordchinesischen Dorf, in das er während der Kulturrevolution landverschickt worden war, untersucht. Kern seiner Untersuchungen ist dabei die Frage danach, ob Tauschbeziehungen und dadurch entstehende Netzwerke alte Familienstrukturen als Grundlage sozialen Lebens ablösen. Han Min (2001) dagegen hat die Genealogie eines Dorfes in der Provinz Anhui untersucht. Einen Überblick über die chinawisssenschaftliche Verwandtschaftsforschung indes haben Santos und Brandtstädter (2011) vorgelegt. Einen weiteren Schwerpunkt in der ethnologischen Forschung zu China bilden Analysen zu den revolutionären chinesischen Kampagnen zwischen 1949 und 1976. Eades (2004) z.B. hat die Geschichte von Dörfern in der wechselhaften Geschichte der VR China nachgezeichnet und der Umgang der Dorfbewohner mit den politischen Veränderungen in jenen drei Jahrzehnten untersucht. Anhand dieser und anderer Untersuchungen dieses Bereichs kann eingeschätzt werden, inwiefern die revolutionären Vorgänge der 1950er Jahre einen historischen Bruch herbeigeführt und Veränderungen gegenüber bereits existierenden Vorstellungen von Verwandtschaft, Gemeinschaft, Geschlecht und Arbeit gezeitigt haben. Auch machen sie deutlich, inwieweit Dörfer als begrenzte Verbünde von der Öffnung und Schließung nationaler und regionaler Wirtschaftssysteme abhängig sind (Skinner 1971). Andere Untersuchungen haben sich der Frage nach den Dörfern als moralische Gemeinschaften zugewandt: Madsen (1984) etwa hat ein Dorf als den Ort der Auseinandersetzung zwischen konfuzianischen Moralverpflichtungen und der maoistischen Mentalität eines auf Klassenkampf basierenden moralischen Absolutismus beschrieben. Andere Arbeiten dokumentieren die Unterschiede dörflicher Wirtschaftspolitik im Zusammenhang mit Familie und Geschlecht. So beschreiben z.B. Jacka und Sargeson (2011) die Geschlechterrollen in familiären Haushalten vor dem Hintergrund von Kommerzialisierung und Industrialisierung sowie den Einfluss von Wirtschaftspolitik auf traditionelle Formen ökonomischer Organisation. Nationale Minderheiten In den 1980er Jahren wurden auch die Forschungen zu nationalen Minderheiten Chinas wieder aufgenommen. Grundlage für die Definition der „nationalen Minderheiten“ war ein bereits in den 1950er Jahren durchgeführtes Klassifizierungsprojekt der chinesischen Regierung, in dem Sprache als ein wesentliches Kriterium für die Bestimmung und Zuordnung „ethnischer“ Gruppen fungiert hatte. In diesem Projekt waren neben der Mehrheitengruppe der Han-Chinesen aus über vierhundert bis dahin bekannten weiteren Sprachgruppen fünfundfünfzig sogenannte „nationale Minderheiten“ ( 少数民 112 3. Weiterleitungen 族 shaoshu minzu) bestimmt worden (Mullaney 2011). Andere Gruppen, die ebenso offiziell anerkannt werden wollten, wurden einer dieser Gruppen zugeordnet, einige von ihnen versuchen bis heute, eine offizielle Anerkennung als eigenständige Gruppe zu erwirken: Die Baiman im Nordwesten Sichuans etwa haben zwar eigentlich keinerlei historisch-kulturelle oder sprachliche Verbindung zu den Tibetern. Sie sind diesen aber nichtsdestoweniger offiziell zugeordnet worden (Harrell 2001). Ein weiteres zentrales Forschungsthema stellen die Vereinheitlichungen und Diversifizierungen zwischen Han und nationalen Minderheiten dar. Mitglieder der Yi- Nationalität haben z.B. nie angezweifelt, ein Teil der chinesischen Kultur zu sein. Vielmehr verweisen sie auf ihren Beitrag zur sogenannten chinesischen Zivilisation, der viel größer sei, als ihr Minderheiten-Status annehmen ließe. Frühe Kalendersysteme, ein erstes Schriftsystem, das die Vorfahren der Yi besaßen, oder auch die direkte Abstammung der ersten Siedler in Yunnan werden hier als Rechtfertigung zivilisatorischer - chinesischer - Errungenschaften angeführt (Harrell 2001). Bei den Diskussionen darüber, wer den Yi und wer den Tibetern zuzuordnen ist, haben die meisten Wissenschaftler die staatlich vorgegebene Einteilung in nationale Minderheiten unkritisch übernommen. Klar indes ist, dass auch diese Einteilung, bei der die zu bestimmenden Gruppen nicht erforscht sondern vorgegebenen Kategorien zugeordnet werden, nicht mehr als ein politisches Konstrukt darstellt (Mullaney 2011). Dru Gladney (1991) hat diesbezüglich einen dekonstruktivistischen Diskurs eingeleitet und am Beispiel der Hui gezeigt, wie sich deren lokale Identitäten mit ihren diversen Ortswechseln und im Wandel der Zeit verändert haben. Das Ziel derartiger Forschungsarbeiten besteht darin, die Problematik der gegebenen Kategorien aufzuzeigen und ihren ausschließlich diskursiven Charakter zu entlarven. Dasselbe trifft auf den touristischen Bereich zu, in dessen Kontext in China ganze Minderheitenstädte errichtet und als Themenparks der touristischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind, um, ergänzt durch eine intensive Medieninszenierung, ausgewählte nationale Minderheiten folkloristisch zu präsentieren (Yang 2011). Das homogene, in sich abgeschlossene Bild nationaler Minderheiten tritt dem Betrachter und mitunter auch den Mitgliedern der Minderheiten damit in ihrer mediatisierten Form als zunehmend „echt“ und „wahr“ entgegen. Die tatsächlichen Beziehungsstrukturen innerhalb solcher Gruppen selbst und in ihrer Beziehung zu den Han-Chinesen stellen sich allerdings komplexer dar, als es ihre folkloristische Aufbereitung kommuniziert (i.E. Schatz 2014). Als Teil der chinesischen Gesellschaft geht es z.B. den Mongolen darum, ihre ethnische Identität in Abgrenzung zu „den Chinesen“, zudem ihre „bessere mongolische Identität“ in Abgrenzung zu den Mongolen in der Republik Mongolei zu vermitteln. Dass sie dabei sowohl eine chinesische als auch eine mongolische kulturelle Symbolik verwenden, hat inzwischen sichtbar zu einer Hybridisierung der beteiligten Kulturen selbst geführt. Khan (1996) hat diesbezüglich die Prozesse bei der Übernahme der - dem „Mongolenbild“ des hegemonialen chinesischen Diskurses entsprechenden - Selbstbeschreibungen pastoraler Mongolen durch Innermongolen dargestellt und gezeigt, wie weitreichend die Konsequenzen dieser Aneignung etwa für die dabei gänzlich ausgeblendeten mongolischen Bauern und Städter seien, die in Wirklichkeit jenseits ihrer Klischeeisierung typisch städtischen Berufen und Lebensweisen nachgehen. Andere Arbeiten über Ethnizität und Identität sind unter diesen Umständen vor allem darum bemüht, einem derart auflebenden kulturellen Essentialismus durch spezifischere Feldforschungsdaten entgegenzuwirken. Dautcher (2009) z.B. hat Alltagspraktiken uigurischer Männer zur Bestätigung ihrer sowohl maskulinen als auch 113 3.4 Raum: Kulturanthropologie ethnisch uigurischen Selbstverständnisse dargestellt. Tapp (2001) zeigt mittels einer detaillierten Verwandtschafts- und Ritualanalyse, dass die Hmong ihre Identität in Opposition zu hegemonialen Praktiken der Han-chinesischen Zentralregierung konstruieren (Harrell 2001). Die Annahme, die Han seien eine homogene Gruppe, scheint vor dem Hintergrund ihrer regionalen Verteilung und aufgrund ihres Kontakts mit den jeweiligen regionalen Minderheiten ohnehin nicht haltbar. Die Heterogenität der Han-Chinesen ist allerdings noch nicht ausreichend untersucht worden. Deren Rolle in Studien über Minderheiten beschränkt sich vielmehr meist auf diejenige als homogenes Gegenstück. Hierbei spielt auch der Faktor eine Rolle, dass in Minderheiten- Gebieten oft Unklarheit darüber besteht, wie viele der dort lebenden Menschen denn tatsächlich auch der jeweiligen Minderheit angehören. Auch ist nicht bekannt, wie viele ihren Status von Han-Chinese in einen anderen Nationalitätenstatus, etwa Mongole, geändert haben. Die Kolonisierung von Randgebieten in China durch Han- Chinesen hat zu einer starken Vermischung der jeweiligen Gruppen geführt. Oftmals sind Han-Chinesen auch in typischen Minderheitengebieten zahlenmäßig dominant. Offizielle Statistiken geben jedoch darüber keine genaue Auskunft und können daher nur vage Anhaltspunkte sein, um Informationen über die ethnische Verteilung in einzelnen Regionen zu generieren. Zudem führen Mischehen zwischen Han und Minderheiten zu einem unklaren Identitätsstatus. Zahlreiche Han-chinesische Partner solcher Ehen nehmen dabei den Status des einer Minderheit zugehörigen Partners an, um nicht der Ein-Kind-Politik unterworfen zu sein oder um bessere Chancen im Bildungssektor zu erhalten. Yokoyama (1995) hat am Beispiel der Bai in Yunnan beschrieben, wie eine als typisch Han-chinesisch geltende Gegend innerhalb von nur einer Generation zu einer Bai-Gegend geworden ist. Die Ethnogenese der Han und Nicht-Han ist also kompliziert. Zudem scheint klar, dass ethnische Identität kontextuell, wechselhaft und oftmals auch bloß inszeniert ist (Harrell 2001, Wu 2004). Es stellt sich daher die Frage, ob überhaupt irgendeine Kategorie verbindlich herangezogen werden kann, um die ethnische und kulturelle Identität all derjenigen, die sich als Chinesen oder als eine nationale Minderheit Chinas bezeichnen, bestimmen zu können. Möglicherweise könnten heterogene und dynamische Beschreibungen die etwaigen Merkmale einer Gruppe besser darstellen als es mit festgeschriebenen Kategorien und der damit verbundenen Eingrenzung auf dieselben möglich ist. Dann würde beispielsweise nicht vornehmlich die Relevanz der Sprache für die mongolische Identität der Innermongolen untersucht werden, sondern eher der Gebrauch von Sprache im Zusammenhang mit mongolischen Identitätskonstruktionen. Der Fokus verschiebt sich damit auf ein Handlungs- und Beziehungssystem der Akteure, in dem „Sprache“ nur situationsabhängig relevant sein kann und kein ausschließliches Merkmal ethnischer oder nationaler Identität darstellt. Religion Religion spielt im Prozess der Ausdifferenzierung der Teilbereiche von Kultur eine interessante Rolle, da durch ihren Einfluss in einigen Teilbereichen Regelungen entstehen, die sie von anderen Teilbereichen der Kultur unterscheiden. Diese Regelungen etablieren soziale Systeme und spiegeln sie, selbst zu einem eigenständigen Bereich kultureller Praktiken werdend, wider. Ein weites Feld ethnologischer, aber auch religionswissenschaftlicher Chinastudien bilden daher Fragen zu Religion, Glauben, Glaubenssystemen und religiösen Ritualen. Diese werden vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ordnung, Globalisierung, Modernität oder sozialen Netzwerken 114 3. Weiterleitungen untersucht. Religion wird dabei oft als ein wichtiger Teil der Identität einer Person oder Gruppe dargestellt. Im Falle der Hui etwa ist Religion das Hauptunterscheidungsmerkmal zu anderen Gruppen. In der Geschichte Chinas traten mit Ahnenverehrung, Animismus, Divination, Daoismus, Konfuzianismus, Buddhismus, Islam und Christentum verschiedene religiöse Formen in Erscheinung. In der Zeit der Republik China (ab 1912) kam es schließlich zu einer Trennung von legitimer Religion ( 宗教 zongjiao) und einem als illegitim gebrandmarkten und politisch bekämpften Aberglauben ( 迷信 mixin) (Gossaert und Palmer 2011). Nach 1949 entwickelte der chinesische Staat dann auch gegenüber etablierten Religionen eine zunehmend feindselige Einstellung (Luo 1991). Insbesondere während der Kulturrevolution wurden zahlreiche Moscheen, Tempel, Kirchen, kulturelle Monumente, Genealogien und Bücher systematisch zerstört. Erst in den 1980er Jahren kam es mit dem Wiederaufleben von Religion auch zur Wiederaufnahme religiöser Forschung in und über China: Feng Shui hat damit eine neue Popularität erfahren (Bruun 2003), aber auch der Konfuzianismus und die Ahnenverehrung in lokalen Kontexten haben eine neuerliche wissenschaftliche Beachtung erfahren (Han 2001). Es sind sowohl Ethnologen als auch Religionswissenschaftler, die inzwischen über Rituale, Tempel und Tempelfeste forschen. Dean und Zheng (2010) etwa beschreiben den hohen Stellenwert der Tempel als lebendige kulturelle Zentren, in denen kapitalistische und nationale Interessen unter Beibehaltung lokaler kultureller Differenzen ausgehandelt würden. Das Christentum und lokale christliche Kirchen, aber auch Hauskirchen haben eine wachsende Bedeutung als Teil von Netzwerken erlangt, die soziale und wirtschaftliche Zuwendung zeigen (Cao 2010). Im Bereich der Han-Buddhismus-Forschung untersucht Gareth Fisher (2012) neue buddhistische Bewegungen im gegenwärtigen Peking im Kontext von Globalisierung und damit verbundenem kulturellen Wandel. Religiöse Rituale werden im Zusammenhang mit Ereignissen wie Geburt, Heirat, Tod, Festivitäten oder Pilgerreisen untersucht. In diesem Kontext werden zudem Geschlechterrollen, regionale Unterschiede, ethnische Identitäten und Klassenunterschiede, das Wiederaufleben und die Kommerzialisierung von Religion, Religion in ihrem Verhältnis zur Staatsideologie, religiöse Netzwerke von Migranten sowie der religiöse Gebrauch digitaler Medien erforscht. Dan Smyer Yu (2011) etwa widmet sich in seiner Arbeit dem gegenwärtigen tibetischen Buddhismus in den Provinzen Sichuan und Qinghai und analysiert diese im Zusammenhang mit kultureller Identität, Staatsideologie und populären Vorstellungen über tibetisch-buddhistische Spiritualität. Das Wiederaufleben des tibetischen Buddhismus im heutigen China steht nach seiner Überzeugung in enger Beziehung mit Globalisierung, Modernität, Religionspolitik und Marktwirtschaft. Adam Yuet Chau (2004, 2005) untersucht anhand des Schwarzen-Drachenkönig-Tempels im Norden der Provinz Shaanxi, inwieweit Religiösität und die Aktivitäten lokaler Eliten zu einem Wiederaufleben religiöser Aktivitäten beigetragen haben. Am Beispiel eines Dorfes in der Provinz Guangdong untersucht Pui-Lam Law (2004) den Zusammenhang von volksreligiösen Praktiken mit patrilinearen Geschlechterverhältnissen. Yang (2008) dagegen berichtet vom Verlust religiös motivierter Umweltvorstellungen in China als vermeintliche Mitauslöser für die Hungerkatastrophe nach dem Großen Sprung in den späten 1950er Jahren, die damalige Abholzung der Wälder und die zunehmende Wasser- und Luftverschmutzung seit den 1980er Jahren. Insgesamt ist in den letzten Jahren ein enormer Anstieg von Forschungsarbeiten zu verzeichnen, die Fragestellungen zur Religion mit solchen aus dem Bereich von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft verknüpfen. Und nicht zuletzt rücken Arbeiten über chinesische Investoren im Ausland zusehends auf 115 3.4 Raum: Kulturanthropologie die ethnologische Forschungsagenda. Auch „Umwelt“ stellt dabei ein wichtiges Feld dar. Smil (2004) z.B. hat den Einfluss des Wirtschaftswachstums im Zusammenhang mit Ressourcennutzung problematisiert. Ethnologische Forschung untersucht in diesem Kontext neue Lebensstile, ein sich wandelndes Konsumverhalten oder auch die sozialen Folgen der Entwicklung neuer Technologien. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Student der Chinawissenschaften immer offen sein sollte für die Gegenstände und Perspektiven anderer Disziplinen sowie für deren Methoden und Handwerkszeug. Angesichts sich überlappender inhaltlicher und methodischer Kategorien, mit denen Chinawissenschaftler sich vermehrt konfrontiert sehen, ist eine Festlegung auf „typisch chinawissenschaftliche Charakteristika“ immer weniger möglich. Was bleibt dem interessierten Studenten also zu raten? Ich rate immer dazu, ein einziges Thema herauszusuchen. Nur eins. Zum Beispiel den Taiping-Aufstand, das war zu Beginn meines Studiums mein Lieblingsthema. Wenn man sich eingehend mit seinem Lieblingsthema beschäftigt, stößt man zwangsläufig auf unterschiedliche theoretische Perspektiven, wie sie zu großen Teilen anderen als der eigentlich angestammten Disziplin zuzuordnen sind. Auf diese Weise gelangt man zu einer überschaubaren Datenmenge und verschafft sich die Möglichkeit, sein Wissen Schritt für Schritt zu erweitern. Und wonach soll man sein Thema aussuchen? Ganz einfach: Danach, was am meisten Spaß macht, denn dann bleibt man auch dabei! Zitierte Literatur Ahern, Emily (1973): The Culture of the Dead in a Chinese village. Stanford, Stanford University Press. Baker, Hugh (1968): Chinese Family and Kinship. New York, Columbia University Press. Barth, Fredrik (1969): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Oslo, Universitetsforlaget. Berg, Eberhard; Fuchs, Martin (Hg.) (1993): Kultur, sozial Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen. Repräsentation. Frankfurt a. M., Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a. M., Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M., Suhrkamp. Brownell, Susan (2008): Beijing´s Games: What the Olympics mean to China. Lanham, Rowman & Littlefield. Bruun, Ole (1994): Business and Bureaucracy in a Chinese City: An Ethnography of Private Business households in contemporary China. 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Leider beruhen diese Einschätzungen nicht immer auf einem soliden Wissensfundament, und es ist erstaunlich, wie wenig man im deutschsprachigen Raum weiß über dieses Land, das anscheinend so wichtig für uns ist. Das gilt sogar für Investoren, die ihre Entscheidung oft in Unkenntnis der politischen und ökonomischen Umstände treffen, welche für den Erfolg oder Misserfolg ihrer Investition maßgeblich sind. Die Folgen dieser Uninformiertheit sind vor allem für mittelständische Unternehmer überwiegend negativ. Die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Forschung zu China vermittelt Informationen, die für eine Reihe von Berufen in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur relevant sind. Sie verspricht ein spannendes Studium vor allem für Menschen, die Teil eines zweifachen Entdeckungsprozesses sein möchten: Auf der einen Seite bringt die rasche Veränderung Chinas eine hohe Produktivität in der Forschung mit sich, die sich in aktuellen Kursinhalten widerspiegelt. Allerdings bedeutet das auch, dass ein „gesichertes Wissen“ über China nicht erwartet werden darf. Auf der anderen Seite befindet sich die sozialwissenschaftliche Chinaforschung selbst gerade in einem Entwicklungsprozess, so dass Studierende, die sich für neue Wege in der Chinaforschung interessieren, hier ein fruchtbares Betätigungsfeld finden. Die Tatsache, dass viele Studenten sich vor allem wegen ihrer beruflichen Relevanz auf die sozialwissenschaftliche Chinaforschung spezialisieren, stellt für Dozenten und Professoren eine große Herausforderung dar. Wie in anderen Fächern auch ist die Lehre in den sozialwissenschaftlichen Chinastudien noch immer vor allem darauf ausgerichtet, Studenten mit der Wissenschaft vertraut zu machen, doch nur ein geringer Teil der Studienanfänger strebt auch eine wissenschaftliche Karriere an. Die Herausforderung besteht allerdings weniger darin, zwei unterschiedliche Programme anzubieten, als die Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen aufeinander abzustimmen. Wie Stefan Kramer in der Einleitung richtig hervorhebt, vermittelt die wissenschaftliche Ausbildung Kompetenzen, die auch in Berufsfeldern jenseits des Wissenschaftsbereichs benötigt werden. Gleichzeitig beruht eine wissenschaftliche Karriere nicht nur auf der Fähigkeit, wertvolle Forschungsbeiträge zu liefern und gute Lehre anzubieten. Außer einem hervorragenden Abschluss benötigen Jungwissenschaftler Fähigkeiten unter anderem im Selbstmanagement, in der Projektakquise und -verwaltung, im Teammanagement sowie im strategischen Handeln. Ein Angebot, das unterschiedlichen Ansprüchen genügt, ist also nicht notwendigerweise eine Quadratur des Kreises. Der Einstieg in dieses Kapitel über die Praxisrelevanz der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung ist der vermuteten Zusammensetzung der Leserschaft geschuldet, soll aber nicht den Eindruck vermitteln, dass sozialwissenschaftliche Chinaforscher vor allem Fakten vermitteln oder tagesaktuelle Ereignisse diskutieren. Im Zentrum der politikwissenschaftlichen, soziologischen und ökonomischen Beschäftigung mit China liegt die wissenschaftliche Erkenntnis. Dabei befindet sich die sozialwissenschaftliche Chinaforschung in einem Spannungsfeld zwischen den Theorie- und Methodenanforderungen der Fachdisziplinen und dem vorrangigen Ziel der Sinologie, 121 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften China besser verstehen zu lernen. Auch hier helfen die Fachdisziplinen, die methodische Basis der Untersuchung Chinas zu stärken und die Forschungsergebnisse mit den Entwicklungen in anderen Ländern zu vergleichen. Ebenso stellen viele soziale, ökonomische und politische Entwicklungen in China bestehende Paradigmen der Fachdisziplinen in Frage. Studierende erhalten also eine gute Ausbildung in den Fähigkeiten, die für solide Forschung benötigt werden. Aufgabe des vorliegenden Beitrags ist es, die hier bereits skizzierten Spannungsfelder weiter auszuleuchten und damit eine Einführung in die Gegenstandsbereiche, Entwicklung und Ziele der sozialwissenschaftlich orientierten Chinaforschung zu liefern. Hierbei soll nicht nur auf die Entwicklung dieser fachlichen Schwerpunkte, sondern auch auf die Möglichkeiten der Schaffung einer Lernumwelt eingegangen werden, die heterogene Zielgruppen anspricht. Thematisch wird der Schwerpunkt dieses Kapitels auf der politikwissenschaftlich ausgerichteten Chinaforschung liegen. Das liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass dies die fachliche Ausrichtung des Autors ist. Aus Gründen, auf die später noch eingegangen werden wird, ist zudem die Anzahl der Professoren, die neben einer sinologischen auch noch eine ökonomische oder soziologische Ausbildung aufweisen können, in Deutschland leider gering. Wissenschaftler mit einer Doppelausbildung in Sinologie und Politikwissenschaft sind häufiger vertreten. Auf die anderen Kombinationen, die im deutschsprachigen Raum sehr kompetent abgedeckt werden, soll trotzdem so weit wie möglich eingegangen werden. Was ist „sozialwissenschaftliche Chinaforschung”? Der Begriff „sozialwissenschaftliche Chinaforschung“ wird in diesem Band sehr breit verwendet, da unter seinem Dach nicht nur die politikwissenschaftliche und soziologische Beschäftigung mit China gefasst werden, sondern auch die wirtschaftswissenschaftliche. Die Untersuchung der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ist kein Alleinstellungsmerkmal der so verstandenen „sozialwissenschaftlichen Chinaforschung“, denn auch die Sinologie widmet sich beispielsweise der Erforschung der Politik Chinas. Der größte Unterschied zwischen Sinologie und sozialwissenschaftlicher Chinaforschung liegt im Anspruch und der Herangehensweise. Während erstere China vornehmend philologisch und aus sich selbst heraus erklärt, kommen in der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung die Theorien und Methoden der Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie zur Anwendung. Mit den Kerndisziplinen, aus denen sie entstammen, haben sie das Ziel der Generalisierung gemeinsam. Das heißt, Forschung ist nicht nur auf die Erklärung eines bestimmten Phänomens gerichtet, sondern bemüht, Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die auch über die untersuchten Phänomene hinaus Erklärungskraft haben. Was die Fragestellungen der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung angeht, so sind diese in höherem Grad als in der traditionellen Sinologie von den früheren Arbeiten in den Sozialwissenschaften beeinflusst. Sozialwissenschaftler interessieren sich besonders dafür, ob Entwicklungen, die sich in den Industrieländern vollzogen haben, sich nun in China wiederholen. Große Fragen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden, und die Wissenschaftler, Politiker und Bevölkerung gleichermaßen interessieren, sind zum Beispiel: Wird es in China mit zunehmender Entwicklung zur Ausbildung einer Mittelklasse kommen, die die Demokratisierung Chinas befördert? Ist China noch immer die „Werkbank der Welt“, oder bildet sich bereits ein leistungsfähiges Innovationssystem heraus? Führt die Konfrontation zwischen chinesischer 122 3. Weiterleitungen Kultur und globalen Einflüssen zur Herausbildung neuer Lebensstile? Wie auch in den anderen Disziplinen führt die Öffnung eines sich schnell verändernden Chinas dazu, dass die Identifizierung von Forschungsfragen nicht schwierig ist - die Wissenschaft kann mit den sich rapide vollziehenden Änderungen vielfach nicht Schritt halten. Gleichzeitig ist auf der methodologischen Ebene ein Bewusstsein dafür vorhanden, dass vom Einzelfall nicht auf die Allgemeinheit geschlossen werden kann. Diese Einsicht stellt den Forscher vor eine Herausforderung: Er muss darlegen, wie repräsentativ die eigene Studie für die Gesamtheit aller Phänomene ist. Beleuchten die Ergebnisse einen Einzelfall, oder gilt Ähnliches auch für andere Teile Chinas? Ist anzunehmen, dass sich ein Phänomen unter gleichen Bedingungen wiederholt? Diese Fragen stellen sich allerdings nicht erst bei der Bewertung der Ergebnisse, sondern schon beim Forschungsdesign. Welche Fälle bieten sich besser, welche weniger gut an, um ein bestimmtes Phänomen besser verstehen zu lernen oder eine Theorie zu überprüfen? Was ist zu tun, wenn der Zugang zu „optimalen“ Fällen nicht gewährleistet werden kann? Wie kann ich die Repräsentativität meiner Studie erhöhen? Wie auch in den anderen Ausrichtungen profitiert die sozialwissenschaftliche Chinaforschung nicht einseitig von den Theorien und Methoden der Sozialwissenschaften. Auch hier gilt, dass China zu groß ist, um übersehen zu werden, und eben nicht nur ein Land von vielen ist. So dient die Forschung zu China auch als Ideenlieferant für Theorien, die dann für andere Fälle überprüft werden können. Beispiele für solche Themen sind die Mechanismen und Werkzeuge, die den Bestand eines nichtdemokratischen Regimes sichern können, oder die mögliche Rolle des Staates bei der Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes. Allerdings muss schon hier darauf hingewiesen werden, dass sich Forschung und Lehre nur am Rand mit den großen Fragen beschäftigen, die weiter oben aufgeworfen wurden. Der Grund hierfür ist vor allem, dass die Entwicklung des chinesischen Gmeinwesens von einer so großen Zahl an Faktoren beeinflusst wird, dass seriöse Voraussagen unmöglich sind. Die Wissenschaft, die dies versucht, setzt sich dementsprechend großer Kritik aus. Deshalb widmet sich die sozialwissenschaftliche Chinaforschung begrenzteren, handhabbareren Fragen. Themen der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung Genauso wie auch in den Kerndisziplinen widmet sich die sozialwissenschaftliche und ökonomische Chinaforschung in ihrer alltäglichen Arbeit einem schwer überblickbaren Themenspektrum. Prinzipiell kann jedes Phänomen oder Ereignis, jeder Prozess, jede politische, ökonomische und soziale Struktur, und jedes Interaktionsmuster Untersuchungsgegenstand sein, wenn die Fragestellung gut begründet ist. Die Identifikation innovativer Fragestellungen und Methoden ist sogar eines der Kriterien dafür, ob ein Thema relevant ist. Dennoch können einige grobe Forschungsagenden identifiziert werden, die oft an populäre Themen in den Kerndisziplinen anknüpfen und dabei die subdisziplinären Trennungen übernehmen. Auch in der Chinaforschung finden wir mittlerweile Schwerpunkte, die sich der vergleichenden Politikwissenschaft („comparative politics“), den Internationalen Beziehungen, der Verwaltungswissenschaft sowie der Politikfeldforschung zuordnen lassen, und auch die Arbeitsteilung der Soziologie ist in der Chinaforschung weitgehend abgebildet. Ähnliches gilt für die Ökonomie. Allerdings sind die Trennungen weniger verfestigt als in den Disziplinen selbst. China befindet sich in einem Transformationsprozess, in dem sich Politik, Wirtschaft und 123 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Gesellschaft schnell und stetig verändern. Will man diese Wandlungsprozesse erfassen und erklären, dann darf man die einzelnen Aspekte nicht isoliert betrachten - Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wirken aufeinander ein und verändern sich in Abhängigkeit voneinander. Der Wandel von der Planzur Marktwirtschaft wird politisch gestaltet und durch Gesetze strukturiert, und aus diesen Entwicklungsprozessen und ihren sozialen Folgen ergeben sich wiederum Chancen und Herausforderungen für gesellschaftliche, politische und ökonomische Akteure. Um die Interaktionen zwischen Politik, Ökonomie und Gesellschaft analysieren zu können, muss man also manchmal über den Tellerrand der eigenen Disziplin blicken. Fragen, die die so verstandene sozialwissenschaftliche Chinaforschung beschäftigen, betreffen die Triebkräfte und Folgen des chinesischen Wandels: Wie trugen Politiker, Unternehmer, internationale Akteure, Arbeiter und Chinas Ressourcenausstattung zu Chinas Wirtschaftswachstum bei? Welche sozialen Gruppen bilden sich in diesem Prozess heraus, und welchen Einfluss spielen kulturelle Faktoren? Wie werden das Internet und andere Kommunikationstechnologien in China kontrolliert, und wie werden sie von der Regierung selbst eingesetzt, um Regierungshandeln effektiver zu gestalten oder die Bevölkerung zu kontrollieren? Sind die Entwicklungen Chinas heute mit denen lateinamerikanischer Staaten in den 1980er Jahren zu vergleichen, wo Wirtschaftswachstum zu Demokratie führte? Welche nationalen Interessen verfolgt China auf welche Art und Weise, und wie kooperationsfähig ist die Regierung bei der Lösung globaler Probleme? Ein wichtiger Punkt, der China von anderen aufstrebenden Ländern unterscheidet, ist der Charakter des politischen Systems. China ist ein autokratisches Einparteiensystem, und Politikwissenschaftler gehen bis heute mehrheitlich davon aus, dass Autokratien nicht auf Dauer überleben können, vor allem nicht, wenn sie einen Modernisierungsprozess durchlaufen. Die Geschichte spricht für diese Annahme: Es gibt nur wenige wirtschaftlich entwickelte Autokratien, die beinahe allesamt der Familie der Monarchien angehören, im Mittleren Osten und Nordafrika angesiedelt sind und über reiche Bodenschätze, vor allem Öl, verfügen. Aus diesem Grund vertreten Befürworter der „Demokratisierungsthese“ die Ansicht, dass Chinas Demokratisierung noch bevorstünde. Plausibel erscheint diese These aus dem Grund, dass Chinas Küstenprovinzen zwar sehr entwickelt sind, der Großteil des Landes sich aber noch immer auf einer niedrigen Entwicklungsstufe befindet. Chinas Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist noch immer niedriger als das von vergleichbaren Staaten zum Zeitpunkt ihrer Demokratisierung. Die Tatsache, dass China noch immer autokratisch regiert wird, sei also nichts Besonderes. Auch Faktoren wie die steigende Ungleichheit, grassierende Korruption, das Fehlen technologischer Innovationen, der ökologisch und sozial hohe Preis des Wirtschaftswachstums, die mangelnde Leistungsfähigkeit vieler Lokalregierungen sowie der Zugang der chinesischen Bevölkerung zu Informationen aus dem Ausland sprächen dafür, dass China innerhalb des nächsten Jahrzehnts den Übergang zur Demokratie vollziehen wird. Die Ansicht, dass Chinas Regierung mittelfristig zur Demokratisierung gezwungen würde, wird nicht von allen Wissenschaftlern geteilt. Vor allem in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Chinaforschung werden Theorien entwickelt, die die Stabilität des chinesischen Einparteiensystems erklären sollen. Diese Theorien beruhen auf drei Prämissen, die sich von denen der Demokratisierungsforschung unterscheiden, jedoch nicht in allen Arbeiten explizit gemacht werden. Die erste Prämisse lautet, dass Legitimität auch in autoritären Regimen erzeugt werden kann. Während die Demokratisierungsforschung davon ausgeht, dass nur Demokratien ei- 124 3. Weiterleitungen nen Glauben der Bevölkerung in die Rechtmäßigkeit des politischen Systems hervorbringen können, behauptet die Autokratieforschung, dass auch nichtdemokratische Systeme als rechtmäßig anerkannt werden können. Als Beweis hierfür wird oft die Tatsache angeführt, dass bei in China durchgeführten Meinungsumfragen die überwiegende Anzahl der Befragten angibt, der chinesischen Regierung zu „vertrauen“. Auch wenn dieser Befund heftig umstritten ist, hat er doch ein Forschungsprogramm begründet, das sich fruchtbar mit den Legitimitätsansprüchen und der Propaganda des chinesischen Einparteiensystems beschäftigt. Mittlerweile befasst sich auch die ansonsten vor allem institutionentheoretisch geprägte Autokratieforschung (wieder) mit diesen Fragen. Die zweite Prämisse ist, dass politische Systeme lernfähig sind. Die Möglichkeit, dass politische Eliten durch Anpassung der Institutionenstruktur den Zusammenbruch des Systems verhindern oder zumindest herauszögern, ist in den Modellen der Demokratisierungsforschung nicht vorgesehen. Im Gegensatz hierzu zeigt die sozialwissenschaftliche Chinaforschung prominent, wie dezentrale Lernprozesse zur Anpassung von politischen Institutionen führen, die Leistungsfähigkeit des politischen Systems steigern und so vermutlich zu dessen Stabilisierung beitragen. Eine dritte Prämisse jüngeren Datums bezieht sich auf das Instrumentarium, das Autokraten für die Stabilisierung des Regimes zur Verfügung steht. So entstanden die meisten Demokratisierungstheorien in den 1980er Jahren, also zu einem Zeitpunkt, als es kein Internet gab und die Digitalisierung der Informationsverarbeitung vor allem in ärmeren Ländern nur wenig fortgeschritten war. Die nahezu universale Verfügbarkeit von Computern und Software, mit deren Hilfe Verwaltungsarbeit transparenter und effizienter gestaltet werden kann, und die so möglicherweise zur Stabilisierung autokratischer Systeme beitragen, konnte von diesen Theorien jedoch nicht vorhergesehen werden. Ähnliches gilt für die Rolle des Internets als Kommunikationsmittel zwischen Staat und Gesellschaft, dessen Folgen für die Stabilität autokratischer Regime bisher nur ungenügend untersucht wurden. Zusammengenommen legen diese drei Prämissen die Vermutung nahe, dass autokratische Regimeeliten, die zudem in zunehmendem Maße an internationalen Universitäten ausgebildet werden, vom Zusammenbruch anderer politischer Regime lernen, die Entstehung ähnlicher Prozesse im eigenen Land zu vermeiden suchen und sich an positiven Beispielen in anderen Ländern orientieren. Die Informationsgewinnung vollzieht sich dabei genauso wie die Kommunikation innerhalb des eigenen Regimes effizienter als in der Zeit vor dem Internet, das zudem vielfältige und vorher nicht dagewesene Möglichkeiten zur Beobachtung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung bietet. Wie diese Beispiele zeigen, sind selbst grundsätzliche Fragen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Chinas noch nicht geklärt. Die sozialwissenschaftliche Chinaforschung bietet demnach eine spannende Forschungsumwelt, in der noch grundlegende Beiträge geleistet werden können. Dies ist eine große Chance, aber gerade vor dem Hintergrund der Größe und Heterogenität Chinas, dem geschlossenen Charakter des politischen Systems und der Masse an qualitativ höchst unterschiedlichen Informationen auch eine sehr große Herausforderung. Diese Herausforderungen verlangen nach disziplinierten Forschungsdesigns, was vor allem die theoretische und methodische Verortung der Forschung betrifft. 125 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Theorien der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung Auch in diesem Kapitel soll die in der Einleitung zu diesem Band vorgeschlagene begriffliche Unterscheidung zwischen Sinologie und Chinaforschung verwendet werden. Die sozialwissenschaftliche Chinaforschung ist in ihren theoretischen Zielen und vor allem den verwendeten Methoden zwischen der Sinologie und den sozialwissenschaftlichen Kerndisziplinen angesiedelt. Das gilt für den theoretischen Anspruch und die Reichweite der Analyse sowie für die verwendeten theoretischen Ansätze, Methoden und Forschungstechniken. Die Kritik der „westlichen“ Theorie Den Stellenwert von Theorie in einer wissenschaftlichen Untersuchung zu verstehen, fällt Studierenden der Sinologie, aber auch der Sozialwissenschaften bis zum Ende ihres Studiums (und oft auch darüber hinaus) tendenziell schwer. Oft gilt Theorie als etwas, das man „braucht“, das für das Bestehen einer Arbeit entsprechend „gefunden“ werden muss, und das man in einem gesonderten Kapitel der eigentlichen Untersuchung voranstellt, ohne dass diese sich dann notwendigerweise auf die „gewählte“ Theorie bezieht. Dabei ist die Generierung von Theorie das grundlegende Ziel von Wissenschaft - eine Theorie ist eine vereinfachte Erklärung der Wirklichkeit. Sie kann bereits existieren und mit Hilfe einer Untersuchung überprüft, verworfen oder modifiziert werden oder auch das Ergebnis einer Untersuchung sein. In jedem Falle ist es wichtig, das eigene Forschungsinteresse in die bestehende Theorielandschaft einzubetten. Konkret bedeutet das zunächst herauszuarbeiten, ob es für das untersuchte Phänomen bereits Erklärungsvorschläge gibt, und an Hand dieser Einbettung der eigenen Fragestellung in den Forschungsstand zu bestimmen, warum bestehende Erklärungsangebote überprüft, modifiziert oder erst geschaffen werden müssen. In der traditionellen Sinologie bestand jedoch lange ein gewisser Unwillen, universalistische Theorien beispielsweise zu Modernisierungsprozessen, die Entstehung von Staaten und Nationen, Systemwechseln und wirtschaftlicher Transition für China zu überprüfen oder auch nur einzelne Begriffe für die Analyse zu übernehmen. Die hervorgebrachte Begründung für diesen Unwillen lautete, dass diese Theorien in ihren „westlichen“ Entstehungszusammenhang eingebettet wären, kulturelle Voreingenommenheit reproduzierten und damit nicht auf China anwendbar wären. Teilweise geht diese Kritik so weit, dass bestimmte Fragestellungen von vornherein abgelehnt werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Akzeptanz von Menschenrechten, die der Individualkultur des „Westens“ entsprängen und im „kollektivistisch“ geprägten China keine Entsprechung fänden. Diesen Positionen ist erstens entgegenzusetzen, dass sie auf einem kulturellen Essentialismus beruhen, dessen radikale Aussagen empirischen Überprüfungen nicht standhalten. Einstellungsumfragen belegen ein großes Spektrum von Einstellungen in der chinesischen Bevölkerung, die, wie auch in anderen Ländern, nach Bildungsniveau, Herkunft, Alter, Geschlecht, Beruf und weiteren individuellen Faktoren variieren. Zweitens, eng damit zusammenhängend, hat der zunehmende Austausch Chinas mit anderen Ländern dazu geführt, dass lange als unvereinbar mit der chinesischen Kultur geglaubte Ideen in China lebhaft diskutiert werden. Drittens ist es bemerkenswert, dass die von einheimischen Forschern immer wieder geforderte Emanzipierung der chinesischen Wissenschaft von angeblich inkompatiblen westlichen Theoriegebäuden sowohl in China als auch in Taiwan bisher kaum zur Entstehung alternativer indigener sozialwissenschaftlicher Theorien geführt hat. Im Gegenteil erfreuten sich 126 3. Weiterleitungen europäische und amerikanische sozialwissenschaftliche Theorien schon immer großer Beliebtheit in den chinesischen Sozialwissenschaften. Nun kann dieses Phänomen selbstverständlich wieder mit dem Kulturimperialismus erklärt werden, doch ist dann der Widerspruch aufzulösen, dass eine Kultur, die sich trotz stetiger Austauschbeziehungen mit dem Ausland jahrhundertelang nicht verändert haben soll, sich plötzlich fremden Ideen gegenüber so rezeptiv zeigt. Schließlich ist noch interessant, dass die behauptete Unvereinbarkeit westlicher Theorien mit der chinesischen Realität selbst eine im Westen entstandene Theorie ist, die sich zudem gerne auf die Werke westlicher Denker wie Foucault und Habermas stützt, welche ebenfalls universalistische Theorien formulieren, aber seltsamerweise von dieser Kritik ausgenommen zu sein scheinen. Diese radikale Position wird jedoch immer seltener vertreten. China befindet sich in einem rapiden kulturellen und sozialen Wandel, gleichzeitig nimmt die Menge an verfügbaren Informationen über das Land zu. Während der kulturelle Wandel zu einer Heterogenisierung führt, bestätigen die neuen Informationen zudem, dass China niemals homogen war. Die Herausforderung, dieser Heterogenität gerecht zu werden und China arbeitsteilig zu untersuchen, war sicherlich eine wichtige Ursache dafür, dass die sozialwissenschaftliche Chinaforschung sich neben der traditionellen Sinologie etablieren konnte. Mit der Zunahme an Wissenschaftlern, die eine fundierte Ausbildung sowohl in der Sinologie als auch in einer Fachdisziplin haben, hat sich die Chinaforschung sozialwissenschaftlichen Theorien geöffnet und organisiert sich zunehmend arbeitsteilig. Wissenschaftler forschen nun auch in China und Taiwan zu Demokratisierung, politischen Einstellungen, Autokratie, Gender, Urbanisierung, Migration, Arbeit, Frieden, Militär, Außenpolitik und vielen anderen Themen. Die Themen und dazugehörigen Erklärungsansätze sind hierbei nicht statisch, sondern wandeln sich gemeinsam mit dem Untersuchungsgegenstand: Neuerungen wie z.B. die Verbreitung des Internets, die Nutzung neuer Kommunikationsmittel, e-government, die Schaffung eines Sozialversicherungssystems, Verstädterung usw. finden nun rasch ihre Entsprechung in wissenschaftlichen Forschungsagenden. Die Konfrontation „westlicher“ Theorien mit der chinesischen Realität erweist sich hierbei als äußerst fruchtbar. Oft vermittelt die Beschäftigung mit China Einsichten, die zur Weiterentwicklung bestehender Theorien führen. Zwischen Universalismus und Partikularität Tendenziell dient in der Politikwissenschaft und der Ökonomie die Untersuchung Chinas der Formulierung von Theorien, die über diesen Einzelfall hinausgehen, während es der Sinologie um ein besseres Verständnis von China sui generis geht. Dem entsprechend wird in der Sinologie, wie auch in der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung, von den Einzelfällen auf die Gesamtheit geschlossen. Induktive Theoriebildung beherrscht also nach wie vor das Forschungsfeld und wird im deutschsprachigen Raum fast ausschließlich betrieben. Demgegenüber ist die deduktive Theoriebildung, also die Formulierung einer Erklärung für ein bestimmtes Phänomen, deren Güte dann empirisch überprüft wird, eher die Ausnahme. Was die eng damit zusammenhängende theoretische Reichweite angeht, so ist das Bild des italienischen Politikwissenschaftlers Giovanni Satori einer „Leiter der Abstraktion” (ladder of abstraction) hilfreich. In seiner Konzeptualisierung von theoretischen Ansprüchen unterscheidet Giovanni Sartori zwischen zwei Dimensionen: der Extension und Intension einer Theorie. Extension bezeichnet hierbei den Gel- 127 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften tungsbereich der Theorie, also wie viele Fälle sich mit ihr erklären lassen, Intension die Anzahl der Merkmale oder Eigenschaften der einzelnen Fälle, die beschrieben werden. Extension und Intension verhalten sich tendenziell umgekehrt proportional zueinander: Je größer der Geltungsbereich einer Theorie, desto geringer fällt das Detail der Untersuchung der einzelnen Fälle aus. Vor allem die Ökonomie und die politikwissenschaftlichen Subdisziplinen der Vergleichenden Politikwissenschaft und der Internationalen Beziehungen zeichnen sich durch einen hohen Abstraktionsgrad aus, während die Soziologie und die Politikfeldforschung tendenziell noch immer länderbezogen arbeiten. Dies gilt auch für die traditionelle Sinologie, wobei philologisch geprägte Untersuchungen der Politik, Gesellschaft und Ökonomie Chinas nicht notwendigerweise den Anspruch haben, ganz China zu erklären. In der Literatur finden wir ein breites Spektrum von Untersuchungen, deren Spannbreite von Detailanalysen einzelner Dörfer bis hin zur Erklärung der politischen Kultur Chinas oder gar ganz Asiens reichen. Für die sozialwissenschaftliche Chinaforschung, und hier vor allem die politikwissenschaftliche Ausrichtung, lässt sich ein interessantes Phänomen feststellen. Wie der amerikanische Politikwissenschaftler Kevin O’Brien in einem Aufsatz feststellt, haben in der politikwissenschaftlichen Chinaforschung Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften, die sich mit hochspeziellen Themen beschäftigen, zugenommen, während Analysen zu weitergefassten Fragen der Entwicklungsdynamik Chinas abgenommen haben. Interessant ist das Phänomen deshalb, weil Abstraktionsgrad und Verfügbarkeit von Informationen über und aus China in einem umgekehrten Verhältnis zueinander stehen: Je mehr Informationen, desto weniger Abstraktion. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich leicht erklären. Zum einen ist er in der Diversität Chinas begründet, denn die nun verfügbare Vielzahl an Informationen begünstigt die genaue Untersuchung einzelner Phänomene. Eng damit zusammen hängt die Erkenntnis, dass sich Ergebnisse, die beispielsweise in der Provinz Shandong gewonnen wurden, sich nicht unbedingt auf die Provinz Fujian übertragen lassen. Ein Land, das von extremer Heterogenität geprägt ist und dessen Provinzen die Größe europäischer Nationalstaaten haben, lässt sich nur schwer auf einen Nenner bringen. Der andere Grund für den augenscheinlichen Widerspruch zwischen Informationszunahme und abnehmender theoretischer Abstraktion liegt in den verwendeten Methoden und Forschungstechniken, die wiederum vom oben besprochenen theoretischen Anspruch abhängen. Wie bereits erwähnt, überwiegt die induktive Theoriebildung auf der Grundlage von recht genauen Untersuchungen regional abgegrenzter Phänomene. Anders als die vergleichende Politikwissenschaft, die in zunehmendem Maße große Fallzahlen mit statistischen Verfahren untersucht, und der Sinologie, die sich vor allem Einzelfallstudien widmet, operiert die sozialwissenschaftliche Chinaforschung deshalb zumeist mit wenigen Fällen. Was die Forschungstechniken angeht, so dominieren noch immer Quellenanalysen und Leitfadeninterviews das Repertoire. Deduktive Theoriebildung dagegen wird genauso wie statistische Untersuchungen noch immer skeptisch betrachtet. Gegen die Deduktion wird angeführt, dass logisch erschlossene Erklärungsmodelle der Komplexität Chinas nicht genügten. Statistische Methoden werden hingegen abgelehnt, weil die Qualität der verfügbaren Daten zweifelhaft sei und die Erhebung eigener Daten einen erheblichen finanziellen und Zeitaufwand bedeuteten. Zudem sei der Erfolg des Unterfangens gerade bei politisch sensitiven Themen ungewiss. Weiterhin verfügen gerade ältere, in den Regionalwis- 128 3. Weiterleitungen senschaften sozialisierte Wissenschaftler zwar über die notwendigen Fremdsprachenkenntnisse, sind aber vor allem in statistischen Verfahren nicht ausgewiesen. Dieser Befund ist problematisch. Durch die Verästelung in Spezialthemen und den Verzicht auf umfassende Theorien überlässt sie journalistischen oder populärwissenschaftlichen Erklärungen das Feld, die zwar gut klingen, in ihrer Substanz aber oft Horoskope oder bestenfalls Stammtischgeplauder sind. Es ist allerdings zu erwarten, dass sich das rasch ändert: Schon um den Herausforderungen der Politikwissenschaft zu begegnen, die basierend auf statistischen Analysen Phänomene wie Zensur und Unterschiede in der lokalen Regierungsqualität in China beleuchtet, wird die politikwissenschaftliche Chinaforschung sich in Bezug auf Fragestellung, Theoriebildung und Methodologie einer größeren Pluralisierung unterziehen müssen. Hinzu kommt, dass gerade in den Kerndisziplinen mittlerweile großer Wert auf eine umfangreiche methodologische Ausbildung gelegt wird, die qualitative und quantitative Methoden umfasst. Jüngere Professoren sowie Mitarbeiter auf der Ebene der Doktoranden, Postdoktoranden und Habilitanden verfügen zunehmend über ein umfangreiches Methodenwissen. Methoden der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung Wie oben erwähnt, hat der zunehmende Einfluss der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung zu einer fruchtbaren Arbeitsteilung in der Untersuchung Chinas geführt. Gleichzeitig leidet die sozialwissenschaftliche Chinaforschung aber zunehmend unter dem Problem, dass die einzelnen, sehr gründlich herausgearbeiteten Puzzleteile bisher noch für sich stehen. Wie im Gleichnis der Blinden, von denen jeder einen Teil des Elefanten erfühlt, aber niemand weiß, wie der Elefant aussieht, fügen sich die bisherigen Erkenntnisse nicht zu einem Gesamtbild zusammen. Während der Befund von Heterogenität und Kontingenz als Ergebnis der Forschung eine Zeit lang zu faszinieren vermag, ist die Aussage, dass China komplex ist, sich ständig wandelt und Zufälle dabei eine große Rolle spielen, auf Dauer unbefriedigend. Hier unterscheiden sich die Vergleichende Politikwissenschaft und die sozialwissenschaftliche Chinaforschung noch maßgeblich voneinander: Während Erstere zunehmend um die Formulierung und Überprüfung von „grand theories” bemüht ist, die nahezu universellen Geltungsbedarf beanspruchen, zieht sich Letztere auf die regional begrenzte Untersuchung von sehr speziellen Fragen zurück. Die Folge dieser Ausdifferenzierung ist eine Erklärungslücke: Theorien zu Phänomenen, die in ganz China zu beobachten sind, werden auf der Basis weniger Fälle zwar zuweilen formuliert, aber nicht durch die Analyse einer größeren Fallzahl überprüft. Vieles, was in der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung als Erkenntnis gehandelt wird, ist daher zunächst nur eine plausible Hypothese, deren Festigung der Untersuchung weiterer Fälle bedürfte. Die historische Entwicklung der Chinaforschung und ihrer Methoden Die Vorliebe für induktive Theoriebildung und qualitative Methoden kann durch die historische Entwicklung der Area Studies, die sich wiederum an ihren Untersuchungsgegenständen ausrichteten, erklärt werden. Die Sinologie beschäftigte sich bis in die 1980er Jahre vor allem mit der chinesischen Sprache, Schrift, Geschichte, Philosophie und Literatur. Da westliche Forscher bis Ende der 1970er Jahre keinen Zugang zu China erhielten, überwog bis zu diesem Zeitpunkt die Analyse von Texten. Gegenstand war das Verständnis der Texte selbst (Hermeneutik). China sollte zudem aus sich selbst heraus verstanden werden, das heißt, dass Erkenntnisse zu Kultur, 129 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Geschichte, Literatur und Philosophie miteinander kontrastiert wurden, um ein besseres Verständnis von China zu erhalten. In diesem Sinne arbeiteten Sinologen einerseits zu speziellen Themen, sie mussten andererseits aber auch Universalgelehrte sein, um die Analyse verschiedener Facetten der chinesischen Gesellschaft zu neuen Sichtweisen verdichten zu können. Das Erlernen der chinesischen (Schrift-)sprache war hierfür eine unerlässliche Voraussetzung. Als vermehrt Informationen aus China zugänglich und erste Besuche möglich waren, wurden im Prinzip dieselben Methoden verwendet, um die Analyse von Texten und Artefakten zu Interpretationen zu verdichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in den Vereinigten Staaten die Area Studies. Die Gründung von Instituten zur Erforschung bestimmter Länder und Kontinente diente politischen Zwecken, hierbei vor allem der Bereitstellung von Wissen über Gegenden, deren weltpolitische Relevanz die amerikanische Regierung bisher unterschätzt hatte. So befand die USA nach Ende des Zweiten Weltkriegs beispielsweise Asien als irrelevant für ihr nationales Interesse, wurde aber durch den Vormarsch der Sowjetunion in der Region eines Besseren belehrt. Da Asien neben Europa einer der zentralen Schauplätze des Kalten Krieges wurde, musste die Regierung Strategien entwickeln, für die sie wiederum Informationen benötigte. Regionalwissenschaftliche Zentren wurden mit Mitteln von Stiftungen wie der Carnegie, Rockefeller und Ford aufgebaut und kooperierten mit der CIA. Bis in die 1970er Jahren war die Forschung zu China (wie insgesamt zu Asien) in den USA wie auch in Deutschland sehr politisiert. In den USA war die Forschung, von wichtigen Ausnahmen abgesehen, durch das Ziel der Verbreitung von Marktwirtschaft und Demokratie in den „totalitären“ Regimen Asiens dominiert. In Deutschland hingegen zeichneten sich viele Chinawissenschaftler durch ihre Sympathie zur revolutionären Ideologie Mao Zedongs aus, ohne freilich deren katastrophale Auswirkungen vor Ort erlebt zu haben. Keiner dieser Forscher hatte China vor 1974 betreten. Wichtig für den vorliegenden Abschnitt ist hierbei, dass in beiden Fällen die Beschäftigung mit der Politik Chinas auf der Grundlage von einzelnen, unvollständigen und vor allem schriftlichen Quellen erfolgte. In den 1970er Jahren wurden diese Quellen durch Interviews mit Flüchtlingen aus China ergänzt, die vor allem amerikanische und australische Wissenschaftler in Hongkong führten. Mit der Öffnung Chinas ab den späten 1970er Jahren wurde es möglich, selbst im Land Informationen zu sammeln. Zum einen orientierte sich die entstehende sozialwissenschaftliche Chinaforschung dabei unter anderem an den modernisierungstheoretischen Annahmen der Area Studies, die wiederum auf den Erkenntnissen der Politikwissenschaft und Soziologie gründeten. Zum anderen eignete sie sich gleichzeitig die ethnographischen Methoden an, die bisher vor allem in der Anthropologie und Ethnologie angewendet wurden. Ab den 1990er Jahren begannen vor allem amerikanische Chinawissenschaftler mit der Durchführung repräsentativer Umfragen zur politischen Kultur der chinesischen Bevölkerung; ebenso wurden Einstellungen der Bevölkerung zu neuen politischen Institutionen wie Dorfwahlen durch Erhebungen abgeprüft. Diesem Trend ist die sozialwissenschaftliche Chinaforschung in Deutschland noch nicht gefolgt, hier stützen sich Wissenschaftler bis heute vor allem auf Textanalysen und Feldstudien. Die sozialwissenschaftliche Chinaforschung im deutschsprachigen Raum ist in hohem Maße darum bemüht, den Anschluss an die theoretischen und methodologischen Standards zu finden, die von den amerikanischen Kollegen vorgegeben werden. Dies ist ein wichtiger Schritt zu dem von den meisten Wissenschaftlern verfolgten 130 3. Weiterleitungen Ziel, international eine hohe Reputation zu erlangen. Ihre Forschungsergebnisse publizieren sie mittlerweile fast ausschließlich in englischer Sprache, und deutschsprachige Veröffentlichungen werden sogar von deutschen Kollegen kaum noch rezipiert. Selbst China Aktuell, ehemals die Hauszeitschrift der deutschen sozialwissenschaftlichen Chinaforschung, erscheint nun auf Englisch. Mit hohen Standards und freiem Artikelzugang (open access) hat sie sich erfolgreich auf dem internationalen Publikationsmarkt positioniert. Deutschsprachige Wissenschaftler stellen ihre Forschungsergebnisse mittlerweile vor allem auf internationalen Konferenzen vor und suchen den Kontakt zu den weltweiten Größen der Disziplin. Zu den Jahrestreffen des „Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Asienforschung“ (ASC) der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde (DGA), dem ein Großteil der sozialwissenschaftlich ausgerichteten deutschen Chinaforscher angehört, werden nun namhafte Kollegen aus dem Ausland eingeladen. Aus diesem Grund werden auch beim ASC die fachlichen Diskussionen mittlerweile auf Englisch geführt. Die wirtschaftswissenschaftliche Beschäftigung mit China nahm ebenfalls in den 1990er Jahren ihren Aufschwung. Mit Hilfe von institutionalistischen Ansätzen wurde zunächst die Transformation Chinas von der Planzur Marktwirtschaft nachgezeichnet. Da diese Prozesse politisch motiviert und geprägt waren, lässt sich hierbei vor allem von politökonomischen Ansätzen sprechen. Rein wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten entstanden ab den 1990er Jahren, als die zunehmende Menge an systematischen statistischen Daten die Durchführung von ökonometrischen Analysen zuließ. Trotz der weltwirtschaftlichen Relevanz Chinas und der Fruchtbarkeit institutionenökonomischer Analysen des chinesischen Entwicklungsprozesses fristen Ökonomen mit einer Spezialisierung auf China weltweit unverständlicherweise immer noch ein Nischendasein. Mit zwei Universitätsprofessuren für chinesische Wirtschaft steht Deutschland gerade im Vergleich zu den USA sogar noch verhältnismäßig gut dar. Während Politikwissenschaftler mit einer Chinaspezialisierung durchaus darauf hoffen können, in einem politikwissenschaftlichen Institut angestellt zu werden, ist die Wahrscheinlichkeit eines auf China spezialisierten Ökonomen, an ein wirtschaftswissenschaftliches Institut berufen zu werden, weitaus geringer. Derart spezialisierte Wissenschaftler müssen also um die wenigen Stellen konkurrieren, die in den Regionalwissenschaften der Erforschung der chinesischen Wirtschaft gewidmet werden. Dies führt zu der unbefriedigenden Situation, dass weltweit die Anzahl an Professoren für chinesische Wirtschaft, an der Bedeutung des Untersuchungsgegenstands gemessen, vergleichsweise gering ist. Viele Absolventen mit der Kombination Ökonomie und Sinologie, die sich eigentlich für eine wissenschaftliche Karriere interessieren, suchen dann trotzdem Anstellung in Unternehmen, oder arbeiten für internationale Organisationen und think tanks, die wiederum eine wichtige Quelle für Informationen über die chinesische Wirtschaft sind. Entstehende Methodenvielfalt Methodologisch führte die „Verheiratung“ der Sinologie mit den sozialwissenschaftlichen Kerndisziplinen zu einer gegenseitigen Durchdringung. Allerdings sind die theoretischen und methodischen Einflüsse der Kerndisziplinen auf die Sinologie weitaus größer, als dies umgekehrt der Fall ist. Vorreiter - und Vorbilder - sind hierbei Wissenschaftler namhafter amerikanischer Universitäten. Im deutschsprachigen Raum muss sich Methodenbewusstsein und -vielfalt allerdings noch durchsetzen. Für die Erklärung einzelner Forschungsstrategien bietet dich die Unterscheidung zwischen interpretativer und positivistischer Forschung an. Wichtige interpretative 131 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Methoden, die in der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung Verwendung finden, sind die Hermeneutik und die Diskursanalyse. Hierbei werden Aussagen oder Situationen vom Wissenschaftler gedeutet. Der Maßstab, mit dem die Güte der so gelieferten Erklärung bewertet wird, ist ihre Plausibilität. Im Unterschied hierzu stützt sich die positivistische Forschung in ihrer Beweisführung auf beobachtete und beobachtbare Phänomene („Fakten“ oder „Tatsachen“). Zu den Methoden, die sich hierfür anbieten, zählen die Prozessanalyse, die vergleichenden Methoden sowie statistische Verfahren. Einige interpretative und positivistische Forschungsstrategien, die in der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung verwendet werden (können) sollen kurz skizziert werden:  Hermeneutik: Auslegung von Texten, um diese Texte in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Mit dieser Methode können beispielsweise Parteitagsdokumente interpretiert und miteinander verglichen werden.  Diskursanalyse: Analyse, wie bestimmte Phänomene in verschiedenen Diskursarenen dargestellt werden, welche Gegendarstellungen sie hervorrufen, und wie sich diese Darstellungen über Zeit und in Konfrontation miteinander verändern. Diese Methode eignet sich beispielsweise gut, um die Veränderung öffentlicher Wahrnehmungen oder die versuchte Beeinflussung von Werten durch bestimmte Akteure zu untersuchen. Die Diskursanalyse kann qualitativ und quantitativ erfolgen. Bei der quantitativen Diskursanalyse werden bestimmte Ausdrücke kodiert. So kann schnell festgestellt werden, wo, wann, wie oft und in welchem Zusammenhang solche Ausdrücke und Begriffe vorkommen, und ob sich Begriffskonstellationen über Zeit verändern.  Vergleichende Methode: Hier geht es um die Identifizierung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen für ein bestimmtes Ergebnis. Mehrere Fälle werden in Hinblick auf die Ausprägung bestimmter Merkmale und das Eintreten eines bestimmten Ergebnisses miteinander verglichen. Hinter dieser Methode verbirgt sich die Logik, dass diejenigen Faktoren oder Faktorenkombinationen für ein bestimmtes Ereignis ursächlich sind, die in allen Fällen, in denen dieses Ereignis eintritt, gleich ausgeprägt sind. Zumeist werden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Fällen beschreibend dargestellt. Ein Sonderfall ist das formalisierte Verfahren der Qualitative Comparative Analysis (QCA), in der Variablen für die Auswertung numerisch kodiert werden. Das ermöglicht die Auswertung großer Fallzahlen. Beispiele für Fragestellungen, für die sich diese Methode eignet, sind die Entstehungsbedingungen von Revolutionen und Demokratisierungsprozessen oder die Bedingungen, unter denen Autokratien überleben.  Prozessanalyse: Die Tatsache, dass bestimmte Faktorenausprägungen mit bestimmten Ereignissen korrespondieren, muss nicht heißen, dass Faktoren auch tatsächlich für das Ereignis verantwortlich sind. Mit Hilfe der Prozessanalyse wird die Entwicklung der Faktoren historisch nachverfolgt und überprüft, ob und wie sie ein bestimmtes Ereignis bedingt haben. Diese Methode eignet sich besonders für die Untersuchung komplexer und vielschichtiger Prozesse wie beispielsweise die Entstehung oder Implementierung einer bestimmten Politik.  Regressionsanalyse: Die Regressionsanalyse ist eines von vielen Verfahren, mit deren Hilfe nachgeprüft wird, ob zwischen dem Auftreten bestimmter Faktoren und dem Eintreten bestimmter Ereignisse ein statistischer Zusammenhang besteht. Die Regressionsanalyse eignet sich vor allem, wenn eine gute Datenbasis für die Überprüfung von Hypothesen bereits vorhanden ist oder für eine Vielzahl an Beobach- 132 3. Weiterleitungen tungen erstellt werden kann. Sie eignet sich zudem sehr gut für Zusammenhänge, bei denen Faktoren und Ergebnisse graduell ausgeprägt sind. Beispielsweise könnte für alle Kreise Chinas überprüft werden, ob es einen Zusammenhang zwischen der Zunahme des Prokopfeinkommens und dem Zugang zum Internet gibt. Forschungstechniken Methoden, also die Art und Weise, wie Schlussfolgerungen gewonnen und überprüft werden, müssen von Forschungstechniken unterschieden werden. Letztere beziehen sich auf die Gewinnung der Daten, die benötigt werden, um eine Theorie zu überprüfen oder erst zu schaffen. Dieser Prozess ist das, was viele Menschen motiviert, sich für Forschung zu interessieren. Daten und Erkenntnisse können im Boden vergraben sein, sich in der hinteren Ecke eines schwer zugänglichen Lokalarchivs oder auf der Festplatte eines Beamten befinden, in der Zeitung stehen, öffentlich niedergeschrieben sein, sich in den Köpfen von Zeitzeugen befinden oder noch darauf warten, im Forschungsprozess erschaffen zu werden. Ein wichtiger Teil der Forschung ist also die Sammlung und Erhebung von Daten. Einfach gestaltet sich der Erhebungsprozess, wenn die Daten, die benötigt werden, bereits zugänglich sind. Das gilt für die vorhandene wissenschaftliche (Sekundär-) Literatur zu einem Phänomen genauso wie für Regierungsdokumente, Zeitungen und andere Primärquellen, die im Internet oder in öffentlichen Bibliotheken bereitgestellt werden. Auch statistische Analysen können mit auf hunderttausenden bereits bestehenden Datensätzen arbeiten. Wichtige und ergiebige internationale Datenbanken wie die World Development Indicators oder die Ergebnisse der World Value Surveys können sogar kostenfrei heruntergeladen werden. An deutschen Universitäten eingeschriebene Studierende haben zudem Zugang zu CrossAsia, einer wachsenden und unverzichtbaren Sammlung von Datenbanken aus dem asiatischen Raum, die über die Staatsbibliothek Berlin bereitgestellt werden. Neuere Forschung stützt sich zudem auf Blogs, Mikroblogs und andere soziale Medien, die ebenfalls sehr gut zugänglich sind. Mit den verfügbaren Quellen lässt sich also gut arbeiten, und ein Großteil der sozialwissenschaftlichen (China-)forschung tut genau das. Für das Verständnis neuerer oder bisher vernachlässigter Entwicklungen und Phänomene reichen diese Quellen aber oft nicht aus. Auch für die detaillierte Analyse bestimmter Prozesse oder die kritische Überprüfung bestehender Erklärungen benötigt man oft Informationen, die weder im Internet noch in Bibliotheken verfügbar sind. Gerade wenn man sich für Entwicklungen auf der Kreis-, Gemeinde oder Dorfebene interessiert, stößt man mit den verfügbaren Quellen schnell an seine Grenzen. Die Forschungstechniken, die für die „Bergung“ von Rohdaten und die Erhebung neuer Daten angewendet werden, müssen ebenso erlernt werden wie die chinesische Sprache, die Theoriebildung und die Analysemethoden, die zur Anwendung kommen sollen. Hierzu gehört die Identifizierung von relevanten Archiven, die Erlangung des Zugangs, die Lokalisierung der benötigten Dokumente in einem oft unübersichtlichen Berg aus Informationen und die Fähigkeit, die oft handschriftlich abgefassten Dokumente zu entziffern. Manche Informationen finden sich nicht in Archiven, sondern müssen im Gespräch mit Zeitzeugen erhoben werden. Interviews sind aber gerade in China, wo man für die Weitergabe der „falschen” Information verhaftet werden kann, eine Kunstform. Da die Interaktion zwischen Interviewer und Interviewtem auch bei nicht sensiblen Themen großen Einfluss auf das Ergebnis des Interviews oder Gesprächs nehmen kann, sollte die Führung von Interviews im Vorfeld eines Forschungs- 133 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aufenthalts trainiert werden. Auch die Erhebung von Daten mittels Fragebögen ist nicht ohne Tücken. Zunächst sind Fragebogenerhebungen genehmigungspflichtig. Verstöße gegen diese Regel können mit dem Landesverweis bestraft werden. Eine weitere Herausforderung ist das Design eines Fragebogens, da sichergestellt werden muss, dass die gewünschten Informationen tatsächlich abgefragt werden. Dass nicht alle europäischen Konzepte ohne Weiteres ohne Bedeutungsverluste oder -verzerrungen ins Chinesische übertragen werden können, erschwert die Formulierung einzelner Fragen zusätzlich. Ebenso muss man sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass die Befragten nicht notwendigerweise ihre eigenen Präferenzen kundtun, sondern bemüht sind, die „richtige“, d.h. eine scheinbar sozial angemessene oder erwünschte Antwort zu identifizieren und anzukreuzen. Schließlich gilt, wenn auch in geringerem Maße als bei nicht standardisierten Interviews, dass die Interaktion mit dem Befragten Auswirkungen auf die Antworten haben kann. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass die sozialwissenschaftliche Chinaforschung theoretisch und methodisch zunehmend ausdifferenzierte Forschungsbereiche umfasst. Doch nicht nur die sozialwissenschaftliche Chinaforschung ist im Wandel, sondern auch die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas selbst. Für Studienanfänger bedeutet das eine große Herausforderung, die allerdings auch große Gewinne verspricht. Lehr- und Lernziele Die sozialwissenschaftlich ausgerichtete Chinaforschung stellt ein Lernangebot bereit, das sowohl Wissen als auch Fähigkeiten umfasst. Wie in den meisten anderen Fächern auch sind Wissen und Fähigkeiten vor allem darauf ausgerichtet, Studenten auf eine Forschungslaufbahn vorzubereiten. Das steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass viele Studenten vorrangig an die Universität kommen, um sich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Die Inflation an Arbeitssuchenden mit höherwertigen Bildungsabschlüssen hat dazu geführt, dass Arbeitgeber ihre Anforderungen an den vorzuweisenden Abschluss erhöht haben. Für Tätigkeiten, für die früher Abitur oder Matura ausreichten, ist mittlerweile ein Masterabschluss vorzuweisen. Von einer Organisation, die ursprünglich für die Forschung und die Heranführung von Studierenden an die Wissenschaft geschaffen wurde, wird nun verlangt, auch arbeitsmarktrelevante Fähigkeiten zu vermitteln. Hierin liegt ein Dilemma: Die wenigsten der Studenten, die eine Universität besuchen, wollen Forscher werden, und die wenigsten Forscher wollen oder können ihre Studenten systematisch auf einen sich stetig wandelnden und von der Universität weitgehend abgekoppelten Arbeitsmarkt in der „freien Wirtschaft“ vorbereiten. Die Hoffnung vieler Studenten liegt deshalb oft mehr auf dem Wissen als auf den Fähigkeiten, die vermittelt werden: „Den chinesischen Markt kennen” wird als wichtiger angesehen als der Entwurf eines guten Forschungsdesigns. Dies ist ein Fehler, denn viele Studierende fühlen sich mit der Menge an Wissen überfordert, die vermittelt wird, und wenn man sich im Detail mit politischen, ökonomischen und sozialen Phänomenen beschäftigt, können diese schnell ihren Glanz verlieren. Die Faszination und Neugier weicht dann schnell einer Ernüchterung, dass alles kompliziert und nichts definitiv ist. Wissen ist aber lebendig, und es ist nicht neutral, denn es wird eingesetzt, um eine Handlung einzuleiten, sie anderen zu erklären, eine Diskussion zu gewinnen, oder einfach die persönliche Neugier zu befriedigen. Manchem Wissen heftet die Aura 134 3. Weiterleitungen der Macht an, anderes Wissen erscheint unwichtig und insignifikant. Lernen bedeutet, mit Wissen umgehen zu lernen, und dazu gehört als Erstes ein Bewusstsein, wozu man sich dieses Wissen aneignen möchte. Auswendig gelernte Zahlen zur Stadtbevölkerung, der Größe des Agrarsektors, der administrativen Einheiten müssen ein Jahr später wieder angepasst werden, ähnliches gilt für Institutionen, die sich in anderen Ländern nur langsam verändern, wie beispielsweise das Sozialsystem oder der Arbeitsmarkt. Auch wenn man diese Veränderungen in sein Wissen aufnimmt, stellt sich dennoch die Frage: „so what”? Was genau bedeutet diese Veränderung, warum ist sie erfolgt, und warum ist das eigentlich wichtig? Erkennt man für sich selbst die Relevanz von Veränderungsprozessen, dann fällt das Lernen der Fakten, die mit diesen Veränderungen verbunden sind, oft leichter. Es hilft also, sich darüber bewusst zu werden, warum genau man sich für China interessiert, welche Saite in einem selbst angeschlagen wird und was man mit diesem Wissen tun möchte. Das hilft auch dabei, mit den Veränderungen Schritt zu halten und das für die eigenen Ziele Wichtige von Unwichtigem zu trennen. Aneignung und Verarbeitung von Wissen sind ein zyklischer Prozess: Ich nehme auf, bewerte, ordne ein, kontrastiere, verwerfe, baue ein Argument und schaffe damit neues Wissen, das mir wiederum als Grundlage für den weiteren Forschungsprozess dient. So schön das auch klingt: Am Anfang seines Studiums sieht man sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass man, um das Unwichtige zu verwerfen, es zunächst einmal gelernt haben muss. In dieser Phase gibt es also doch eine Durststrecke, in der Wissen aufgenommen werden muss: Hierzu zählen die chinesische Sprache, die Organisation des politischen Systems, die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft sowie Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft. Dieses Wissen kann aber schon zu diesem Zeitpunkt mit dem Ziel verglichen werden, das man sich selbst gesteckt hat - oder auch mit dem Kontext, in dem man selbst aufgewachsen ist oder lebt. Über den Sinn und Unsinn bestimmter Konfigurationen kann so zumindest spekuliert werden. Spekulieren ist ohnehin eine großartige Übung, die, wenn sie gut begleitet wird, Neugier und Argumentationsfähigkeit schult. Das bringt uns auch schon zu den Fähigkeiten, die Studierenden der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung vermittelt werden sollten. Gerade weil China sich so schnell verändert, weil das, was heute relevant scheint, morgen schon wieder irrelevant sein kann, und weil das, was morgen relevant sein wird, heute noch nicht vorhergesehen werden kann, ist es notwendig, sich die Fähigkeiten, die exzellente Professoren und Dozenten der Disziplin auszeichnen, selbst anzueignen. Idealerweise sollen Studierende nach ihrem Studium, spätestens nach dem Master, selbst fähig sein, relevante Fragen zu identifizieren, sie zu begründen, mögliche Erklärungen für ein Phänomen zu finden, eine Methode der Überprüfung festzulegen und schließlich Beweise und Gegenbeweise zu suchen, um die Qualität der eigenen Theorie beurteilen zu können. Dieselben Maßstäbe gelten selbstverständlich auch für Erklärungsangebote von anderen Wissenschaftlern, so dass Studierende am Ende des Studiums hoffentlich in der Lage sein werden festzustellen, welche Stärken und Schwächen die Arbeiten des eigenen Dozenten auszeichnen! Hinzu kommt eine weitere erfreuliche Tatsache: Fähigkeiten sind übertragbar. Wer es vermag, die Welt systematisch nach Beweisen und Gegenbeweisen zu durchforsten, wird in jeder anderen Arbeitswelt als der wissenschaftlichen ebenfalls in dieser Kunst versiert sein. Wer wissenschaftliche Argumentationen systematisch auf ihre Güte überprüfen kann, wird auch die Stimmigkeit des Arguments eines Arbeitskollegen, Vorgesetzten, Konkurrenten, Teammitglieds oder Politikers beurteilen kön- 135 3.5 Kommunikation: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nen oder wissen, welche Informationen ihm dazu fehlen. Argumentatorische Fallstricke sind einfacher zu entlarven, Allgemeinplätze locken dazu, sie zu hinterfragen, und das eigene Argument kann auf festeren Fundamenten gebaut werden. Auch wenn sich die Firma und der Staat an einigen Stellen voneinander unterscheiden, kann Wissen über die Organisation politischer Einheiten und der Einfluss externer, struktureller, institutioneller oder individueller Faktoren auf politisches Handeln mit etwas Kreativität auf die eigene Arbeitsumwelt übertragen werden. Teamarbeit an der Universität vermittelt erste Einblicke in die Schwierigkeiten kollektiven Handelns, Möglichkeiten, Arbeitsteilung erfolgreich zu gestalten, sowie Ergebnisse gemeinsam auszuarbeiten und kohärent zu präsentieren. Erklärungen für Phänomene wie Führung, Gehorsam, Wettbewerb und institutionelle Trägheit sind so nicht nur Ergebnis einer Untersuchung. Vielmehr offenbaren sie sich im Untersuchungsprozess selbst und können anhand der eigenen Situation reflektiert werden. Schließlich können Team- und Organisationsfähigkeit, Leitungskompetenzen und andere Fähigkeiten, die in keinem Lebenslauf fehlen dürfen, in Simulationen, kleinen Forschungsprojekten und Politikberatungsprojekten trainiert werden. In der Öffentlichkeit gibt es großen Bedarf an Erklärungen und Interpretationen der rapiden Veränderung Chinas, und dieses Bedürfnis kann durchaus im Rahmen eines auf Erstellung einer Präsentation oder Analyse angelegten Kurses bedient werden. Schließlich ist es hilfreich, dass die Interessen von sozialwissenschaftlicher Chinaforschung, Politik und Wirtschaft sich überlappen, so dass durch die Kooperation zwischen Universität und Politik oder Wirtschaft nicht nur relevante Fragen bearbeitet, sondern durch die Kursteilnehmer auch gleich erste Kontakte für berufliche Einstiege geknüpft werden können. Zwar ist ein guter Wissenschaftler nicht zwangsläufig auch ein guter Unternehmer. Jedoch werden in der wissenschaftlichen Ausbildung Fähigkeiten vermittelt, die auch in anderen Kontexten sehr hilfreich sind. Eine Annäherung der verschiedenen Lebenswelten kann einen Gewinn für alle darstellen. Sozialwissenschaftliche Chinaforschung im deutschsprachigen Raum Vieles von dem, was Nicola Spakowski in ihrem Kapitel zur Geschichtswissenschaft schreibt, gilt auch für die sozialwissenschaftliche Chinaforschung. Nicht jeder Sinologe, der zu Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft forscht, ist auch Politikwissenschaftler, Soziologe oder Ökonom. Eine weitere Ähnlichkeit besteht in der Tatsache, dass es in Deutschland nur wenige fachdisziplinäre Institute gibt, die Chinaspezialisten in ihren Reihen haben. So finden sich in keinem wirtschaftswissenschaftlichen Institut Chinaexperten. In der Soziologie sind die Universitäten Duisburg-Essen und Freiburg Ausnahmen, in der Politikwissenschaft die FU Berlin sowie die Universitäten Duisburg- Essen, Frankfurt und Trier. Auf der anderen Seite rekrutieren Institute für Sinologie aber zunehmend Forscherinnen und Forscher mit einer Doppelausbildung in Sinologie und einem sozialwissenschaftlichen Kernfach. Für die Wirtschaftswissenschaft und die Soziologie ist die Anzahl solcher Personen allerdings ebenfalls sehr klein. Auf der Lehrstuhlebene findet sich die Kombination Sinologie/ Ökonomie an der Hochschule Bremen und den Universitäten Duisburg-Essen, Frankfurt und Würzburg, die Kombination Sinologie/ Soziologie an der FU Berlin und die Kombination Sinologie/ Politikwissenschaft an der FU Berlin und den Universitäten Bochum, Duisburg-Essen, Trier, Tübingen, Wien und Würzburg. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass diese Liste sich durch Neuberufungen und Emeritierung stetig ändert. Wissenschaftliche Mitar- 136 3. Weiterleitungen beiter, Postdoktoranden und Assistenten, die über Doppelqualifikationen verfügen, sind in dieser Liste nicht enthalten. Diese soll ohnehin nur zur Orientierung dienen und dazu anregen, sich selbst ein genaueres Bild über das Angebot der einzelnen Universitäten zu machen. Auf Grund der Notwendigkeit, Absolventenzahlen zu erhöhen, ändern sich auch die angebotenen Programme stetig: Viele Institute versuchen mit attraktiven Studiengängen hoch qualifizierte Studienanfänger zu rekrutieren. Hier sollte man allerdings nicht immer auf die Bezeichnung der Studiengänge vertrauen, sondern sich den Inhalt des Pakets genau ansehen. Vor allem die vielen Studienangebote, die eine Ausbildung in chinesischer Wirtschaft versprechen, sollten genau unter die Lupe genommen werden. Die Tatsache, dass die Anzahl solcher Studiengänge die Zahl der Lehrstuhlinhaber mit der Doppelqualifikation Sinologie/ Ökonomik weit übersteigt, liegt darin begründet, dass manche dieser Studiengänge einfach die Angebote zweier Fächer kombinieren. So kann es passieren, dass man Veranstaltungen zur Volkswirtschaft und Seminare in klassischer Sinologie kombiniert, dabei aber keinem Dozenten begegnet, der über mehr als Überblickswissen zur chinesischen Wirtschaft verfügt. Auch die Kombination Volkswirtschaft mit Sprachkursen in Wirtschaftschinesisch sind kein Ersatz für die unmittelbare Beschäftigung mit der chinesischen Wirtschaft. Man darf zudem nicht vergessen, dass ein Großteil des Studiums von Personen mit ganz eigenen Lehr- und Forschungsinteressen geprägt wird. Hinter den Programmen stehen immer Menschen, die ihre eigenen Erfahrungen, Sichtweisen und Vorlieben in den Ausbildungsprozess einbinden. Mit diesen Menschen wird man während des Studiums viel zu tun haben, so dass es sich lohnt, sich die Lebensläufe derjenigen, deren Kurse man bei Aufnahme eines Studiums besuchen würde, genau anzusehen. 1 1 Dankesnotiz: ür ihre ausführlichen und hilfreichen Kommen are zu einer früheren Version des Kapitels danke ich Heike Göbel, Sascha Klotzbücher, Stefan Kramer, David Kühn und Susanne Weigelin-Schwiedrzik. t F 137 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften (Björn Ahl) Recht und Rechtswissenschaft Wenn man die Frage stellt, was denn „Recht“ sei, so kommt es für die Antwort entscheidend auf die Perspektive an, die man dabei einnimmt. Aus der Perspektive der Soziologie etwa erscheint Recht als ein Element gesellschaftlicher Steuerung. Es wird gefragt, welche Wirkung das Recht in der Gesellschaft entfaltet und wie andererseits die Gesellschaft Recht gestaltet. Aus dem Blickwinkel der Wirtschaftswissenschaften wird Recht wiederum als ein Kostenvorteil oder als ein Kostenfaktor wahrgenommen. Für den Juristen ist das Recht eine intersubjektiv verbindliche Normenordnung, die gegenüber dem Einzelnen auch mit Zwang durchgesetzt werden kann. Recht etabliert eine Friedensordnung, die das Zusammenleben der Menschen fördert und sieht dazu vorhersehbare und gerechte Konfliktlösungsmechanismen vor (Muthorst 2011: § 2 Rn. 1). Die Rechtswissenschaft - und die Juristenausbildung in Deutschland - beschäftigt sich primär mit dem heute geltenden Recht, mit rechtsdogmatischen Fragestellungen. Aufgabe der Dogmatik ist, das geltende Recht überzeugend zu erklären, die Rechtsquellen und die Traditionen ihrer Anwendung zu erschließen, sie zu systematisieren und zu kommentieren. Die Rechtsdogmatik umfasst die Grundregeln und Prinzipien des Rechts, wie sie im Gesetz enthalten sind und wie sie durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ergänzt werden. Dies zeigt, dass die Rechtsdogmatik in großem Maße vom staatlichen Gesetzgeber abhängig ist und es sich bei ihr im Ausgangspunkt um eine Lehre vom positiven Gesetzesrecht handelt. Die Rechtsdogmatik dient der Rechtspraxis, da sie den Rechtsstoff durchdringt und systematisiert, ihn lernbar macht und Lösungsvorschläge erarbeitet, auf welche die Rechtsprechung etwa bei der Ausfüllung von Gesetzeslücken zurückgreifen kann (Rüthers 2011: 192). Neben der Rechtsdogmatik gibt es noch weitere Perspektiven der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Recht, wobei für den Umgang mit dem chinesischen Recht insbesondere die Rechtsgeschichte, die Rechtsvergleichung und die Rechtssoziologie von Bedeutung sind. Wo verorten wir die Rechtswissenschaft im Kreis der anderen Wissenschaften? Die Rechtswissenschaft ist eine normative, empirische und analytische Wissenschaft, sie ist abhängig vom konkreten Untersuchungsgegenstand zwischen Sozialwissenschaften und analytischer Textwissenschaft anzusiedeln. Geht es um die Wirkung von Recht in der Gesellschaft, so hat sie sozialwissenschaftlichen Charakter. Geht es um rechtsdogmatische Fragen, also etwa darum, wie ein Gesetzestext oder ein Gerichtsurteil richtig auszulegen sind, so stehen textwissenschaftliche Methoden im Mittelpunkt. Der Unterschied zu anderen Textwissenschaften besteht in der Orientierung auf praktische Entscheidungen hin und in der Notwendigkeit, empirische Ergebnisse zu berücksichtigen (Muthorst 2011: § 2 Rn. 42). Rechtswissenschaft trifft sowohl normative als auch beschreibende Aussagen, die nur relativ wissenschaftlich begründbar sind. Macht die Rechtswissenschaft normative Aussagen, so sind diese oft nicht eindeutig. Aufgrund ihres Praxisbezugs ist die Rechtswissenschaft auf ein Gestalten der gesellschaftlichen und politischen Ordnung ausgerichtet und intendiert die Verwirklichung normativer Ziele, was zur Entwicklung einer Vielzahl von Lösungen mit unterschiedlicher Systemgerechtigkeit führen kann. Insoweit die Rechtswissenschaft Systemzusammenhänge von Normen und juristische Argumentationsformen untersucht, 138 3. Weiterleitungen ist sie analytisch. Da die Aussagen der Rechtswissenschaft oft nicht daraufhin überprüfbar sind, ob sie im exakten Sinn wahr oder falsch sind, ist der Wissenschaftscharakter von Rechtswissenschaft immer wieder in Zweifel gezogen worden. Rechtswissenschaft wird beschreibend tätig, wenn sie den Rechtsanwendungsorganen das Programm des Gesetzgebers vermittelt, den rechtsberatenden Berufen Gestaltungsspielräume des Rechts aufzeigt oder die Entscheidungspraxis der Gerichte vorhersagt (Rüthers 2011: 199). Besonderheiten des chinesischen Rechts Wir haben gesehen, dass Recht eine intersubjektiv verbindliche Normenordnung darstellt. Dabei haben wir vorausgesetzt, dass das Recht durch das Gewaltmonopol des Staates auch durchgesetzt und in der Gesellschaft real wirksam werden kann. Allerdings kann die Beschränkung allein auf die Rechtsordnung, die Summe der geltenden Rechtsnormen, bei der Vorhersage der Rechtspraxis möglicherweise zu falschen Ergebnissen führen, wenn zwar Gesetze vorhanden sind, diese aber nicht in der Praxis umgesetzt und in der Gesellschaft wirksam werden. Recht wird dadurch real wirksam, dass es durch die staatliche Verwaltung und die staatlichen Gerichte angewandt wird. In China kommen bei der Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten durch Gerichte nicht die einschlägigen Gesetze zur Anwendung, sondern wird auf der Grundlage von politischen Richtlinien ( 政策 ) oder von Einzelanweisungen eines nach dem Gesetz nicht zuständigen Staats- oder Parteiorgans entschieden, so stellt dies die Existenz einer intersubjektiv verbindlichen Rechtsordnung in Frage (Ahl 2009: 21). Um dann vorherzusehen, wie ein Staatsorgan entscheiden wird, ist ein Blick auf das staatliche Recht jedenfalls nicht mehr ausreichend, es bedarf zusätzlicher Kriterien und Maßstäbe. Gleichzeitig wird die Bedeutung des Rechts relativiert gegenüber anderen Mechanismen gesellschaftlicher Steuerung. Besonders während der Herrschaft von Mao Zedong 毛泽东 hatten die chinesischen Justizbehörden in ihren Entscheidungen politische Richtlinien der Kommunistischen Partei sowie Programme und Beschlüsse der Regierung zugrunde zu legen. Parteipolitik wurde nicht in formale Gesetzgebung umgesetzt, sondern fand ihren unmittelbaren Ausdruck in Massenkampagnen, Propagandafeldzügen und politisch-ideologischer Indoktrination am Wohn- und Arbeitsplatz (Heuser 2002: 153). Das Recht war mit der politischen Macht untrennbar verbunden und nur in seiner traditionellen, auf Bestrafung und Schrecken abzielenden Funktion relevant. Das Recht diente in der Mao-Periode der Disziplinierung und der Unterdrückung von Volksfeinden. Freilich war die Relevanz bzw. Irrelevanz des Rechts kein konstanter Faktor. So gab es in den unter kommunistischer Verwaltung stehenden Gebieten während des Chinesisch-Japanischen Kriegs (1937-45) und der Einheitsfront mit der Guomindang 国民党 ein Justizsystem und auch eine Reihe wichtiger gesetzlicher Regelungen, die auch in der Praxis angewandt wurden. Die Phase nach Gründung der Volksrepublik 1949 war bis zur zweiten Hälfte der 1950er Jahre von einer Orientierung am sowjetischen Recht und einer deutlichen Verrechtlichungstendenz geprägt. Ein Beispiel dafür ist die chinesische Verfassung von 1954, die sich die sowjetische Verfassung von 1936 zum Vorbild genommen hatte und auf der wiederum die heute geltende chinesische Verfassung von 1982 aufbaut. Die Verfassung von 1954 sah ausdrücklich den Erlass weiterer Gesetze zur Regelung des Eigentums an Grund und Boden, zum Erbrecht und zur Justizorganisation vor. Es wurde ab 1955 auch intensiv am Entwurf eines Zivilgesetzbuchs gearbeitet. 139 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften Mit der Kampagne gegen Rechtsabweichler 1957 setzte allerdings wiederum eine Abwendung vom Recht ein, die in den 1960er Jahren noch einmal kurz durch Vorarbeiten zu einem Zivilgesetzbuch unterbrochen wurde. Während der Kulturrevolution (1966 76), als das Recht als ein Hindernis des gesellschaftlichen Umbaus angesehen wurde, kamen Rechtswissenschaft, Gesetzgebung, Juristenausbildung und die Tätigkeit der Gerichte zum Erliegen. Gerichte wurden aufgelöst oder mit den Organen der Staatsanwaltschaft und der Polizei zusammengelegt. Die Rechtsentwicklung zwischen 1940 und 1980 kann als ein Schwanken zwischen einem informellen und einem formellen Modell beschrieben werden. Diese Entwicklung fand parallel zu dem politischen Kampf der „zwei Linien“ ( 两条路线 ) statt. Die eine Linie steht für eine permanente Revolution und die Umgestaltung der Gesellschaft unter Beteiligung der Volksmassen. Die andere Linie räumt der Entwicklung der Produktivkräfte und dem wirtschaftlichen Aufbau Priorität ein. Während die erste Linie das informelle Modell bevorzugte, das flexible Partei- und Regierungsanordnungen vorsah und die Schlichtung als Mittel der Streitbeilegung verwendete, war die zweite Linie auf ein Rechtssystem mit formalen Verfahren der Streitbeilegung durch Gerichte und die Bindung der Verwaltung an Gesetze angewiesen. Ein Oszillieren zwischen den beiden Modellen, zwischen Politisierung und Verrechtlichung, ist bis heute zu beobachten, auch wenn die Ausschläge Richtung des informellen Modells nicht mehr so extrem ausfallen, da ein Wirtschaftssystem mit marktwirtschaftlichen Elementen auf eine stetige Verrechtlichung des Wirtschaftslebens angewiesen ist (Heuser 2009: 247 54). Für die Zeit vor der Reform und Öffnung bis Ende der 1970er Jahre kann man, wie wir gesehen haben, nicht von einer intersubjektiv verbindlichen Rechtsordnung in der Volksrepublik China sprechen. Es herrschte das Primat der Politik, das in seinem Extrem politischer Massenbewegungen das Recht und die wichtigsten Rechtsinstitutionen negierte. Aber auch für die Zeit der Wirtschaftsreformen nach Mao wird vielfach in Zweifel gezogen, dass eine intersubjektiv verbindliche Rechtsordnung in China existiert. Etwa wird davon ausgegangen, dass die Funktion des Rechts gegenüber anderen Mechanismen der Gesellschaftslenkung so weit relativiert ist, dass rechtwissenschaftliche Untersuchungen keinen Erkenntniswert besitzen können. Es bedürfe deshalb einer als „Soziagogie“, d.h. Wissenschaft von der Gesellschaftsführung zu bezeichnenden, neuen Normwissenschaft, da die westliche Jurisprudenz keine begrifflichen Kategorien bereithalte, um das chinesische System der Gesellschaftsführung abzubilden (von Senger 1994: 222). Folgte man dieser Auffassung, so müssten die Differenzen zwischen westlichen Rechtssystemen und dem chinesischen Recht als so grundlegend verstanden werden, dass man in Hinblick auf China auf den Rechtsbegriff ganz verzichten müsste. Dies mag für die Zeit vor der Reform und Öffnung noch vertretbar erscheinen, wenn etwa während der Kulturrevolution an die Stelle von Gesetzen die „Weisungen des Vorsitzenden“ traten. Für eine Beschäftigung mit dem chinesischen Recht der Gegenwart kann dieser Ansatz nur bedingt weiterhelfen. Es gibt aber auch weitere Einwände gegen die Existenz eines Rechtssystems in China. Etwa wird argumentiert, dass die formellen geschriebenen Rechtsquellen keine ausreichende Einheitlichkeit besäßen, um ein zusammenhängendes Rechtssystem zu bilden (Keller 1994: 711). Die Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit einer Rechtsordnung ist eine wesentliche Voraussetzung für einen Rechtsstaat, denn nur eine widerspruchsfreie Rechtsordnung kann die Verwaltung auf eine Weise binden, dass ihr Verhalten voraussehbar und berechenbar wird. Eine widerspruchsfreie Rechtsord- - - 140 3. Weiterleitungen nung wird durch eine Normenhierarchie erreicht, in der die jeweils höherrangige Norm Geltungsvorrang vor der niederrangigen Norm hat. Widerspricht eine niederrangige Norm einer höherrangigen, so ist sie nichtig. An der Spitze der Normenhierarchie steht die Verfassung. Auch gibt es in rechtsstaatlichen Systemen Verfahren der Normenkontrolle, die dafür sorgen, dass der Geltungsvorrang höherrangiger Rechtsnormen in der Praxis durchgesetzt wird. Die Rechtsentwicklung in China ist aber ganz entscheidend von einer Dynamik lokaler Regelungsexperimente geprägt. Das bedeutet, dass immer wieder entweder spontan oder aufgrund ausdrücklichen Wunsches der parteistaatlichen Führung neue Rechtspraktiken in bestimmten Städten oder Regionen erprobt werden. So wurde etwa mit der entgeltlichen Veräußerung von Nutzungsrechten an Grund und Boden in den 1980er Jahren in Südchina experimentiert, obwohl dies eigentlich durch Regelungen des nationalen Rechts untersagt war. Waren solche Experimente erfolgreich, so wurden sie allmählich auf einer höheren Regelungsebene im Gesetz verankert. Eine Verfassungsänderung findet dann erst als Schlussstein einer solchen Entwicklung statt; bis dahin wird eine an sich verfassungswidrige und gegen nationales Recht verstoßende Praxis hingenommen. Solche Verstöße gegen höherrangiges Recht sind vor allem deshalb geduldet worden, um ein marktwirtschaftliches Wirtschaftssystem im Rahmen einer an sozialistischen Prinzipien ausgerichteten Verfassung entwickeln zu können. Das Gesetzgebungsgesetz aus dem Jahre 2000 gestaltet Gesetzgebungskompetenzen, Gesetzgebungsverfahren, Normenhierarchie, Gesetzesanwendung und auch Normenkontrolle konkret aus und zeigt damit, dass der Gesetzgeber ein rationales und widerspruchsfreies Rechtssystem anstrebt, wenn dies auch in der Praxis bislang kaum durchgesetzt werden konnte. Ein weiteres Argument, das gegen die Existenz eines Rechtssystems in der Volksrepublik China ins Feld geführt wird, ist das Primat der Politik. Wenn politische Richtlinien der Partei Vorrang vor Gesetzesrecht hätten, verliere das Recht an Rationalität und Konsistenz und verkomme zu einem bloßen Instrument der Parteiherrschaft. Ein umfassendes und institutionalisiertes Rechtssystem sei ohne Autonomie und Vorrang des Rechts nicht denkbar (Shen 2000: 29). Der hierbei verwendete Rechtsbegriff ist als zu eng abzulehnen, da er Anforderungen an ein Rechtssystem stellt, wie es liberale Rechtsstaaten tun. Es ist aber davon auszugehen, dass es auch in solchen Staaten Recht gibt, in denen das Recht nicht auch dem Zweck dient, den politischen Prozess zu kanalisieren und staatliche Machtausübung zu beschränken. Auch in einem System mit Einparteiherrschaft, fehlender Gewaltenteilung, einem ineffizienten Gerichtssystem und einer traditionellen Präferenz für informelle Streitbeilegung gibt es „Recht“. Auch wenn man von Recht in China sprechen kann, kommt dem chinesischen Recht doch eine vom Recht des liberalen Verfassungsstaats zu unterscheidende Funktion zu. Ein wesentlicher Unterschied liegt im Primat der Politik, das durch die faktische Souveränität der Kommunistischen Partei begründet wird, die ein Monopol über alle wichtigen Entscheidungen im Staat innehat. Während im Rechtsstaat die Machtträger an das Recht gebunden sind und der politische Prozess durch das Recht begrenzt und kanalisiert wird, ist in China die Politik dem Recht übergeordnet. Das Primat der Politik kommt zum Ausdruck im Führungsmonopol der Kommunistischen Partei, dem Instrumentalcharakter des Rechts und in der s.g. „sozialistischen Gesetzlichkeit“, der Anwendung des Rechts nach politischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten. Das führt dazu, dass das Recht zumindest in denjenigen Bereichen, die für den Fortbestand des politischen Systems wichtig sind, nicht autonom sein kann. Recht gilt 141 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften mithin in China insoweit nur im Rahmen seiner politischen Zweckmäßigkeit. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass das Recht seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen einem Funktionswandel unterworfen ist und in weiten Teilen seinen ursprünglichen Charakter als ein „Instrument der Diktatur“ verliert und auch, etwa im Verwaltungsprozess, der Machtkontrolle dient. In Anbetracht des bislang bestehenden Primats der Politik muss der Rechtsbegriff richtigerweise erweitert werden. Er umfasst dann mehr als nach einem Rechtsverständnis, das nur die Normen des staatlichen Gesetzesrechts als Recht anerkennt. Bei der Anwendung, Auslegung und Fortbildung von Gesetzesrecht sind politische Richtlinien, Dokumente der Kommunistischen Partei sowie Äußerungen von Führungspersönlichkeiten heranzuziehen (Ahl 2009: 24). Das kann, besonders zu Zeiten, in denen das informelle Modell wieder bevorzugt wird, auch dazu führen, dass politische Richtlinien dergestalt auf die Rechtsanwendung einwirken, dass sie den Inhalt des staatlichen Gesetzes derogieren. Das chinesische Recht in den Rechtskreisen der Welt Die Rechtsordnungen aller Staaten lassen sich bestimmten Rechtskreisen oder Rechtsfamilien zuordnen. Das deutsche Recht gehört wie das französische Recht dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis an, der maßgeblich vom rezipierten römischen Recht beeinflusst worden ist. Zu den überwiegend vom französischen Recht geprägten romanischen Rechten gehören die Rechtssysteme von Italien und Spanien, den Staaten Lateinamerikas und den frankophonen Staaten Afrikas. Vom deutschen Recht geprägt wurde das Recht in Österreich und der Schweiz sowie in der Türkei, Griechenland, Thailand, Japan, Südkorea und China. Das englische Recht gehört zum angloamerikanischen Rechtskreis (auch Common-Law-Rechtskreis genannt). Vom englischen Recht wurden beispielsweise die USA, Irland, Kanada, Australien, Neuseeland, Indien, Pakistan, Singapur und Hongkong beeinflusst. Daneben lassen sich weitere Rechtskreise definieren, wie der sozialistische, der skandinavische, der fernöstliche oder der islamische Rechtskreis. Zu den Hauptmerkmalen des kontinentalen Rechtskreises gehört, dass Gesetzesbücher (Kodifikationen) die wichtigste Rechtsquelle darstellen, Gerichtsverfahren sind durch die relativ starke Position des Richters gekennzeichnet (inquisitorisches Verfahren) und das Recht wird in einem deduktiven Verfahren angewandt. Im Common-Law-Rechtskreis sind Gerichtsurteile (precedents) eine verbindliche Rechtsquelle, formelle Gesetze (statutes) gehen dem Fallrecht vor, die Parteien dominieren das Gerichtsverfahren (adversarischer Prozess), die Rechtsanwendung folgt dem induktiven Verfahren. Als Merkmale des sozialistischen Rechtskreises lassen sich festhalten, dass grundsätzlich nicht zwischen privatem und öffentlichem Recht unterschieden wird und die zentrale Planwirtschaft keinen Raum für privatrechtliches Handeln lässt. Die Eigentumsordnung wird dominiert von staatlichem und kollektivem Eigentum und es gibt eine Rangordnung der verschiedenen Eigentumsarten. Die marxistischleninistische Rechtstheorie betrachtet das Recht lediglich als ein Instrument der herrschenden Klasse. Die Verfassungspraxis wird von einer Gewalteneinheit der Staatsorgane geprägt und nicht durch gegenseitige Beschränkung und Kontrolle der Gewalten. Will man das chinesische Recht nun in die verschiedenen Rechtskreise einordnen, so muss zunächst zwischen den unterschiedlichen Rechtssystemen auf dem chinesischen Festland, in Taiwan, in Hongkong und Macao unterschieden werden. Das Rechtssystem in Taiwan ist aufgrund der japanischen Kolonialherrschaft vom 142 3. Weiterleitungen japanischen und indirekt auch vom deutschen Recht geprägt. Aufgrund der langen Zugehörigkeit Macaos zu Portugal, steht es bis heute unter dem Einfluss des portugiesischen Rechts. Hongkong gehört als ehemalige Kolonie Großbritanniens aufgrund des Grundsatzes „Ein Land, zwei Systeme“ auch nach der Rückgabe an China zum Common-Law-Rechtskreis (Heuser 2002: 33 38). Die Rechtsentwicklung auf dem chinesischen Festland wurde sowohl in der Republikzeit als auch nach Gründung der Volksrepublik ganz maßgeblich durch Gesetzeskodifikationen vorangetrieben. Aufgrund des politischen Systems der Volksrepublik China erfüllt sie viele Kriterien des sozialistischen Rechtskreises, auch wenn das Privateigentum aufgrund der Rechtsreformen der jüngeren Zeit faktisch gleichberechtigt neben dem staatlichen und kollektiven Eigentum steht. Im Bereich des Staatsorganisationsrechts hat die Rezeption sowjetischen Rechts deutliche Spuren hinterlassen. Gleichzeitig entspricht das chinesische Rechtssystem aber auch den Kriterien des kontinentalen Rechtskreises, da es neben dem Gesetzesrecht als Hauptrechtsquelle auch inquisitorisch orientierte Prozessgesetze und das deduktive Verfahren der Rechtsanwendung kennt. Auch die Juristenausbildung, welche mit einem Staatsexamen abschließt, folgt weitgehend kontinentaleuropäischer Tradition. Man kann das Rechtssystem Festlandchinas mithin als diesen beiden Rechtskreisen zugehörig verstehen. Das Oberste Volksgericht erlässt justizielle Interpretationen, durch welche es Gesetzesrecht für alle übrigen Gerichte verbindlich auslegt und fortentwickelt. Diese justiziellen Interpretationen haben die gleichen Rechtswirkungen wie Gesetze, sie sind aber nicht mit dem Fallrecht des Common-Law-Rechtskreises zu vergleichen, da sie in abstrakt-genereller Form ergehen und nicht nur einen Einzelfall regeln. Auch die Leitentscheidungen, welche das Oberste Volksgericht seit einiger Zeit erlässt, entsprechen nicht den Präjudizien des Common Law, da sie nicht für die unteren Gerichte als rechtlich verbindlich angesehen werden. Die vergleichende Perspektive auf das chinesische Recht Aus dem Bezug der Rechtswissenschaft auf die Lebenswirklichkeit einer bestimmten Gesellschaft, die Gesetze und die Praxis der Rechtsprechung ergibt sich, dass der Zugang zur Rechtswissenschaft eines bestimmten Rechtssystems quasi „von außen“, dadurch sehr erschwert wird, dass der Kontext des Rechts, die zu dem fremden Rechtssystem gehörende Lebenswirklichkeit, dem Lernenden kaum bekannt ist. Deshalb kann das Studium einer fremden Rechtsordnung immer nur einen kleinen Ausschnitt auf grundsätzliche Regelungen und Rechtsprinzipien sichtbar machen, die abstrakt und wenig greifbar bleiben. Umgekehrt besteht die positive Seite der engen Bezogenheit des Rechts auf seine Regelungsgegenstände für Studierende der Chinawissenschaften darin, dass sie durch die Untersuchung der Rechtspraxis Einblicke in verschiedene Lebensbereiche der chinesischen Gesellschaft gewinnen können. Beschäftigt man sich beispielsweise mit chinesischen Gerichtsverfahren, bei denen es um Schadensersatzansprüche von Patienten aufgrund von ärztlichen Behandlungsfehlern geht, so erfährt man nicht nur etwas über die formale juristische Seite, wie etwa über Regeln der Beweislastverteilung, die Höhe des Schadensersatzes für bestimmte Körperverletzungen und die Regelung der Verjährung. Neben diesen juristischen Aspekten wird man mit großer Wahrscheinlichkeit auch etwas über die interne Organisation und die Ausstattung von Krankenhäusern mit Personal und medizinischen Geräten lernen, über das Arzt- Patienten-Verhältnis, das System der Krankenversicherung, den medizinischen Kennt- - 143 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften nisstand der Ärzte, über das Vertrauen, das Patienten in Ärzte oder das Gesundheitssystem setzen, über das grundlegende Verständnis darüber, was Gesundheit in einer bestimmten Kultur ausmacht, und über das gesellschaftliche Ansehen des Berufsstands der Ärzte. Das Studium des chinesischen Rechts birgt genauso wie das Studium anderer ausländischer Rechtsordnungen eine Reihe von Problemen, mit denen wir uns jetzt beschäftigen. Das Studium eines fremden Rechts lässt sich nicht trennen von Vergleichen mit der eigenen Rechtsordnung. Insofern sind auch Probleme der Rechtsvergleichung berührt. Auch wenn man sich kein Fachwissen über die eigene Rechtsordnung angeeignet hat, hat man dennoch ein durch die eigene Rechtskultur vorgeprägtes, juristisch laienhaftes Verständnis vom Inhalt eines Mietvertrags, der Arbeitsweise eines Gerichts oder vom Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Da wäre zunächst die für die Rechtswissenschaft als Textwissenschaft besonders wichtige sprachliche Seite. Auch wenn nicht zwischen dem deutschen und dem chinesischen Recht verglichen werden soll, beinhalten die Übersetzung chinesischer Rechtsbegriffe und die Umsetzung ihres rechtlichen Gehalts in entsprechende deutsche Begriffe doch unausweichlich Vergleiche mit der Rechtsterminologie und dem dahinter stehenden Rechtssystem der Zielsprache. Das bedeutet, dass die Übersetzung bezogen auf den juristischen und den weiteren Kontext zu erfolgen hat und sich an der Zielsprache orientieren muss. Chinesische Fachtermini müssen in einer Weise ins Deutsche übertragen werden, dass sie für den Leser vor dem Hintergrund des deutschen Rechts verstehbar sind. Aufgrund der Verschiedenheit der Rechtssysteme lässt sich eine Identität der Rechtsbegriffe aber nicht erreichen. Vielmehr geht es immer nur um eine Annäherung. Gute fachsprachliche Übersetzungen im Rechtsbereich setzen nicht nur eine gute Kenntnis des Rechts der Ausgangssprache sondern auch eine mindestens ebenso gute Kenntnis des Rechts der Zielsprache voraus. Um die Differenzen und die Übereinstimmungen zwischen den Rechtsbegriffen der Ausgangs- und der Zielsprache feststellen zu können, ist ein ständiger Vergleich zwischen chinesischem und deutschem Recht notwendig. Insofern impliziert die Darstellung fremden Rechts auch ein vergleichendes Element. Dabei handelt es sich aber nicht um Rechtsvergleichung im engeren Sinn. Rechtsvergleichung im engeren Sinn ist ein mehrstufiges Verfahren, das verschiedenen Zwecken dienen kann. Sie kann etwa vom Gesetzgeber mit dem Zweck betrieben werden, neue Regelungsmodelle zu finden, oder von der Rechtsprechung, um weitere Argumente für die Begründung einer Entscheidung zu finden. Bei der Rechtsvergleichung im akademischen Kontext steht neben der Beschreibung von Unterschieden vor allem die Untersuchung der Ursachen für die Differenzen bei der Lösung von Rechtsproblemen in verschiedenen Gesellschaften im Mittelpunkt. Rechtsvergleichung zwischen dem deutschem und dem chinesischen Recht ist in vielerlei Hinsicht problematisch. In der Zeit des Kalten Krieges wurde immer wieder vorgebracht, dass „sozialistisches Recht“ wegen fundamentaler Unterschiede nicht mit „westlichem Recht“ vergleichbar sei. Es wurde davon ausgegangen, dass nur Rechtsinstitute aus Rechtsordnungen vergleichbar seien, die demselben Rechtskreis angehören. Dem ist entgegenzuhalten, dass bei Berücksichtigung ihrer grundlegenden Unterschiede ein Rechtsvergleich auch in diesen Fällen durchaus möglich ist und zu sinnvollen Ergebnissen führen kann. Doch sind auch solche Rechtsinstitute, die äußerlich Gemeinsamkeiten aufweisen, in der Gesamtheit ihrer Beziehungen zu der jeweiligen Rechtsordnung zu sehen. Deshalb müssen im Fall der Volksrepublik China die für die Rechtsordnung determinierenden Elemente beachtet werden, wie das Pri- 144 3. Weiterleitungen mat der Politik, die Bindung des Rechts an eine Staatsideologie und der damit verbundene Instrumentalcharakter des Rechts. Werden diese determinierenden Elemente beim Vergleich berücksichtigt, so sind auch Unterschiede in den politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Strukturen kein Hindernis bei einem entsprechenden Vergleich. Für die Rechtsvergleichung und gleichermaßen für das Studium des chinesischen Rechts gibt es einige Gesichtspunkte zu beachten, um falsche Schlussfolgerungen zu vermeiden. Da wir zunächst nur die Rechtskonzepte und Rechtsbegriffe unserer Heimatrechtsordnung kennen, bringen wir ein gewisses Vorverständnis mit, wenn wir uns über die Tätigkeit eines chinesischen Richters oder die Kompetenzen eines chinesischen Gerichts Gedanken machen. Wir müssen aber bedenken, dass Gerichte in autoritären Systemen andere Funktionen haben als in liberalen Verfassungsstaaten, so sind z.B. chinesische Richter bei ihren Entscheidungen deutlich stärker in eine hierarchische Verwaltungsstruktur eingebunden und nicht persönlich unabhängig. Das führt im Detail zu so vielen Unterschieden zwischen der Tätigkeit eines Richters in China und in Deutschland, dass man kaum von einem einheitlichen Berufsbild sprechen kann. Wenn wir uns dem Studium der Volksgerichte ( 人民法院 ) zuwenden, müssen wir also offen dafür sein, dass sich hinter einem chinesischen Gericht etwas ganz anderes verbirgt als hinter dem deutschen Amtsgericht. Rechtsvergleiche haben auch die Tendenz, dem zu vergleichenden System eigene Rechtsauffassungen und Erwartungen aufzuzwingen, etwa wird nicht-westlichen Rechtssystemen oftmals ein einheitlicher Entwicklungspfad unterstellt, dessen Endpunkt ein liberaler Verfassungsstaat darstellt. Das ist natürlich nicht zwingend. Ein weiteres Problem stellt die Ignoranz gegenüber außerrechtlichen Normen dar, obwohl informelle Praktiken und andere nicht-rechtliche Phänomene die Rolle des Rechts in einer Gesellschaft maßgeblich bestimmen können. Ein anderes Risiko besteht in einer „orientalistischen“ Perspektive auf das chinesische Recht (Ruskola 2013). Der von Edward Said geprägte Begriff des Orientalismus beschreibt, wie dominante Kulturen „andere“ Kulturen repräsentieren und damit die „Anderen“ erschaffen, deren imaginäre Andersartigkeit dem Westen dazu verhilft, seine eigene Identität zu festigen. Diese orientalistische Perspektive führe dazu, dass der Orient als feminin, irrational und primitiv im Gegensatz zum maskulinen, rationalen und fortschrittlichen Westen gesehen werde. Die Kultur des Orients werde als Abweichung von der Kultur des Westens und damit als minderwertig betrachtet. Die Orientalismusdiskurse hatten ihren Höhepunkt in der unmittelbaren Konfrontation mit dem „Anderen“ in der Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts, bestimmen aber die Wahrnehmung auch Chinas noch weit darüber hinaus. China wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die militärische Macht westlicher Staaten und Japans dazu gezwungen, weitreichende Souveränitätseinbußen hinzunehmen, die durch ein System so genannter ungleicher Verträge völkerrechtlich abgesichert wurden (Ahl 2009: 9). Ein Merkmal dieser Verträge war die Errichtung einer Konsulargerichtsbarkeit, wodurch ausländische Staatsbürger der chinesischen Gerichtsbarkeit entzogen und der Rechtsstreit nach ausländischem Recht beurteilt wurde, obwohl nach dem Territorialitätsprinzip an sich chinesisches Recht hätte Anwendung finden müssen. Begründet wurde dies mit der „Rechtlosigkeit“ der Chinesen, barbarischen Strafen und einer Vermischung von Moral und Recht, wie sie für „zivilisierte“ Staaten nicht hinnehmbar wäre. Die Tatsache, dass es in der Qing- Dynastie ein umfassendes kodifiziertes Strafrecht ( 大清律里 ) gab, wurde also auf zweierlei Weise gegen das chinesische Recht gewandt: einerseits als ein Nachweis 145 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften dafür, dass es kein Privatrecht gegeben habe, das etwa die Rechtsbeziehungen der Kaufleute regelte, andererseits als ein Nachweis für grausame Strafen und damit fehlende Zivilisiertheit. Damit ließ sich das Unternehmen der zwangsweisen Öffnung Chinas für den Handel mit dem Westen zu den oktroyierten Bedingungen des Westens rechtfertigen. Der generelle Vorwurf, dass es in China kein „Recht“ bzw. kein „richtiges Recht“ gegeben habe oder dass es ein solches bis heute nicht gibt, hält sich hartnäckig. Natürlich liegt es daran, wie man „Recht“ definiert, und man wird immer zu dem Ergebnis kommen, dass eine andere Rechtskultur kein Recht hat, wenn man den engen Begriff des eigenen Rechts auf eine fremde Rechtskultur anwendet. Deshalb sagen westliche Repräsentationen von chinesischem Recht oftmals mehr aus über westliche Konzepte des Rechts als über entsprechende Phänomene in China. Aber auch chinesische Akteure instrumentalisieren Repräsentationen westlichen Rechts für ihre eigenen Zwecke, um sich in den Debatten um die Reform des chinesischen Rechts politisch zu positionieren. Etwa werden Merkmale des Common Law oder des kontinentalen Rechts in überspitzter Form dargestellt, um im Kontrast dazu einen eigenen chinesischen Weg der Rechtsentwicklung zu beschreiben, der sich tatsächlich nicht wesentlich von Entwicklungen in ausländischen Rechtssystemen unterscheidet. Die westliche Rechtsvergleichung muss sich die kulturellen Vorurteile gegenüber dem chinesischen Recht bewusst machen. Eine informierte und weniger für Rechtsorientalismen anfällige vergleichende Rechtswissenschaft kann sich vor allem dadurch entwickeln, dass sie in die rechtswissenschaftlichen Diskurse in China eingebunden wird und nicht isoliert in der Außenperspektive verharrt. Für das Studium des chinesischen Rechts aus der Außenperspektive kann das Konzept der „chinesischen Rechtskultur“ hilfreich sein. Es kommt aber darauf an, was man genau unter „Rechtskultur“ verstehen möchte. Vielfach wird Rechtskultur unspezifisch als ein Residualbegriff verwendet, verweist auf die Komplexität und Vielfalt des sozialen Kontextes von staatlichen Rechtsordnungen und hat keinen spezifischen Erklärungswert. Oft bezieht sich Rechtskultur auf das allgemeine Umfeld, in dem Recht existiert, auf die mit Recht verbundenen Vorstellungen oder das Verhalten sowie auf Rechtsinstitutionen. Zweifelhaft wird die Verwendung des Rechtskulturbegriffs, wenn er nur dazu gebraucht wird, um die Fremdheit des chinesischen Rechts im Vergleich zur eigenen Rechtsordnung zu beschreiben. Aufgrund seiner Unbestimmtheit ist der Rechtskulturbegriff anfällig für die Einbeziehung essentialisierender Sichtweisen, etwa aus klassischen Schriften abgeleitete Merkmale „der Chinesen“ oder „der chinesischen Gesellschaft“. Bedeutet Rechtskultur eine Kontextualisierung des Rechts insoweit, als sie neben der Rechtsordnung auch die tatsächliche Relevanz von Normen und Institutionen sowie ihren Vergangenheitsbezug umfasst (Heuser 2002: 27), so kann sie Missverständnissen vorbeugen, die bei einem rein rechtsdogmatisch orientierten Studium des chinesischen Rechts aus der Außenperspektive entstehen können. Für diese Art der Kontextualisierung sind die Entstehung des Rechts durch Gesetzgebung, Gewohnheit und Rechtsfortbildung, die Anwendung und Auslegung des Rechts durch die Gerichte sowie die Wirkung des Rechts auf das Verhalten der Menschen, das durch den Vollzug des Rechts erzwungen wird, von besonderer Bedeutung. Interessanterweise besteht eine enge Beziehung zwischen dem chinesischen und dem deutschen Recht, die auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Diese gemeinsame Geschichte hat die jüngere chinesische Rechtstradition der letzten einhundert Jahre entscheidend geprägt und ist der Grund dafür, warum eine Beschäfti- 146 3. Weiterleitungen gung mit dem chinesischen Recht aus deutscher Perspektive besonders gewinnbringend erscheint. Als in den letzten Jahren des chinesischen Kaiserreichs ein Zivilgesetzbuch nach westlichem Vorbild geschaffen werden sollte, orientierte man sich einerseits unmittelbar am deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, das im Jahr 1900 in Kraft getreten war, andererseits am japanischen Zivilgesetzbuch von 1898, das wiederum maßgeblich auf dem Entwurf des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1887 beruhte. Der 1911 fertiggestellte Entwurf ( 大清民律草案 ) war wie das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch in fünf Bücher unterteilt, einen Allgemeinen Teil, Schuldrecht, Sachenrecht, Familien- und Erbrecht. Der vermögensrechtliche Teil war vor allem am deutschen Recht orientiert, das Familien und Erbrecht bewahrte jedoch viele traditionelle Elemente. Dieser Entwurf konnte aufgrund der Revolution ( 辛亥革 命 ) nicht Gesetz werden. Ein chinesisches Zivilgesetzbuch wurde erst in der stabilen Nanking-Periode der Republik sukzessive zwischen 1929 und 1931 erlassen. Auch wenn es auf dem Territorium Festlandchinas mit der Gründung der Volksrepublik aufgehoben wurde, gilt es auf Taiwan bis heute fort. Erst im Vertragsgesetz von 1999 hat man sich auf dem chinesischen Festland wieder verstärkt auf die Tradition des republikzeitlichen Zivilgesetzbuches besonnen. Entwicklung des Fachs des chinesischen Rechts in Deutschland Das Fach des chinesischen Rechts und der chinesischen Rechtskultur wurde in Deutschland maßgeblich von Wissenschaftlern geprägt, die als Volljuristen auch deutsches und internationales Recht in China gelehrt haben sowie dort beratend tätig waren. Daraus folgen für das Fach des chinesischen Rechts in Deutschland eine starke Praxisorientierung, eine intensive Vernetzung mit der chinesischen Rechtswissenschaft und eine durch die Rechtsvergleichung geprägte Perspektive auf das chinesische Recht. Bislang gibt es keine Professur für chinesisches Recht an einer deutschen juristischen Fakultät. Die juristische Fakultät an der Universität Freiburg hat allerdings eine Professur für Internationales Wirtschaftsrecht mit Schwerpunkt Ostasien eingerichtet, die auch Aufgaben in Lehre und Forschung auf dem Gebiet des chinesischen Rechts wahrnimmt. Die Lehre zum chinesischen Recht deckt in Freiburg allerdings nur einige einführende Kurse ab und kann kein umfassendes Studienangebot zum chinesischen Recht anbieten. Bislang gibt es in Deutschland nur eine Professur, die sich ausschließlich in Lehre und Forschung dem chinesischen Recht widmet. Dies ist die Professur für chinesische Rechtskultur an der Universität zu Köln, die im Jahr 1992 am Ostasiatischen Seminar der Philosophischen Fakultät eingerichtet wurde und in die chinawissenschaftlichen Studiengänge an der Universität zu Köln eingebunden ist. Der Vorteil des Studiums des chinesischen Rechts in Köln besteht in der engen Vernetzung mit den anderen chinawissenschaftlichen Fächern und der Möglichkeit, sich den Stoff auch anhand originalsprachlicher Literatur zu erarbeiten. In Deutschland findet daneben Forschung zum chinesischen Recht an den juristischen Max-Planck-Instituten in Heidelberg, Hamburg, Frankfurt und München statt. Eine herausgehobene Stellung nimmt das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg ein, dessen China-Referent regelmäßig zum chinesischen Recht Rechtsgutachten für die Praxis der deutschen Gerichte schreibt, die in Fällen mit einem Bezug zu China chinesisches Recht anwenden. 147 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften Forschung zum chinesischen Recht in Deutschland Die Entwicklung vormoderner Rechtskonzepte nach der konfuzianischen ( 儒家 ) und der legistischen Schule ( 法家 ), die in der Dichotomie von li ( 礼 ) und fa ( 法 ) ihren Ausdruck findet, wird im Sinne des „Fortwirkens von Traditionen“ als wichtiger Ausgangspunkt für ein Verständnis der Rolle des Rechts in der heutigen chinesischen Gesellschaft angesehen (Heuser 2002: 56). Forschung im Sinne einer kontextorientierten Arbeitsweise wie die der chinesischen Rechtskultur untersucht die Modernisierung des chinesischen Rechts über die einzelnen Bereiche des Zivil- und Wirtschaftsrechts, des Verwaltungs- und Strafrechts hinweg im Zusammenhang mit historischen, politischen und sozio-ökonomischen Entwicklungen. Sie arbeitet dabei in erster Linie mit Texten. Die rechtsdogmatisch ausgerichtete Forschung orientiert sich vornehmlich an den Bedürfnissen der anwaltlichen Beratungspraxis und fokussiert Themen wie ausländische Direktinvestitionen, Handels- und Gesellschaftsrecht sowie Steuer- und Arbeitsrecht. Empirische Untersuchungen werden von Rechtsanthropologen oder Rechtssoziologen durchgeführt, die oftmals der angloamerikanischen Rechtstradition nahestehen. Ein wichtiges Thema ist auch hier der größere Zusammenhang von Recht und Entwicklung (Law and Development). Die deutsche Forschung steht - wie auch die chinesische Rechtswissenschaft - deutlich in der rechtsdogmatischen Tradition, deren Hauptmethode die Textanalyse darstellt. Studium des chinesischen Rechts Was das Studium des chinesischen Rechts in Deutschland angeht, so gibt es bislang nur an der Universität zu Köln die Möglichkeit, im Rahmen der chinawissenschaftlichen Studiengänge an der Philosophischen Fakultät Module zum chinesischen Recht zu belegen. Das über die verschiedenen Studiengänge der Bachelor- und Masterebene verteilte Themenspektrum reicht von einer Einführung in die chinesische Rechtskultur, Rechtsinstitute und Rechtsdenken im traditionellen China, Recht und Zivilgesellschaft, chinesisches Verfassungsrecht, Recht und Entwicklung, Rechtstransfers, privates und öffentliches Wirtschaftsrecht, chinesisches Zivilrecht, chinesisches Sozial- und Arbeitsrecht und chinesische Positionen zum Völkerrecht. In den fachsprachlichen Kursen zum chinesischen Recht wird das Übersetzen von Gesetzestexten und Gerichtsurteilen geübt. Daneben gibt es an einigen Universitäten wie etwa in Passau oder Trier eine fachspezifische Fremdsprachenausbildung Chinesisch für Juristen. Dabei handelt es sich um ein studienbegleitendes Fachsprachenstudium für Studierende der Rechtswissenschaft, wobei auch Grundkenntnisse über das Rechtssystem des entsprechenden Sprachraums erworben werden. Studierende erwerben regelmäßig mit erfolgreicher Fachsprachenprüfung ein Zertifikat, das etwa von Partneruniversitäten der entsprechenden Hochschule beim Antrag auf ein Auslandsstudium berücksichtigt wird. Aufgrund des relativ geringen zeitlichen Umfangs der Sprach- und Fachkurse können diese zwar eine gute Einführung bieten, befähigen jedoch in der Regel nicht zum eigenständigen Arbeiten mit anspruchsvollen chinesischen Fachtexten. Die Universität Göttingen bietet gemeinsam mit der Universität Nanking einen Doppelmaster „Chinesisches Recht und Rechtsvergleichung“ an, der mit dem Studienschwerpunkt „Rechtswissenschaften“ als Master of Laws (LL.M.) oder mit dem Studienschwerpunkt „Chinawissenschaften“ als Master of Arts (M.A.) abgeschlossen 148 3. Weiterleitungen wird. Dies ist bislang der einzige chinarechtliche Studiengang, der gemeinsam mit einer chinesischen Universität angeboten wird. Für Studieninteressenten mit einem weit fortgeschrittenen bzw. abgeschlossenen juristischen Studium gibt es die Möglichkeit, chinesisches Recht in einem englischsprachigen LL.M.-Programm in Festlandchina, in Hongkong oder in Singapur zu studieren. Hier sind vor allem Universitäten in Hongkong (The Chinese University of Hong Kong, The University of Hong Kong) und Singapur (National University of Singapore) zu empfehlen, da sie grundsätzlich ein günstigeres und qualitativ hochwertigeres Masterstudium anbieten als Hochschulen auf dem chinesischen Festland. Auch ist der juristische Master auf dem chinesischen Festland normalerweise ein zweijähriger Studiengang, während die Programme in Hongkong nur einjährig sind. Für die Studienwahl sollte man sich zunächst darüber klar werden, welche Berufe mit einem Studium des chinesischen Rechts ausgeübt werden können. Für eine anwaltliche Tätigkeit gibt es je nach Staat, in dem man tätig werden möchte, unterschiedliche Voraussetzungen. Bei einer anwaltlichen Tätigkeit in China sind zwei Fälle zu unterscheiden: Um eine chinesische Anwaltszulassung zu erhalten, muss das staatliche Justizexamen bestanden und ein Praxisjahr in einer Rechtsanwaltskanzlei absolviert werden. Zum Examen werden nur Kandidaten mit chinesischer Staatsangehörigkeit zugelassen. Ein rechtswissenschaftliches Studium ist für die Zulassung zum Examen streng genommen nicht erforderlich, lediglich ein universitärer Bachelorabschluss. Freilich haben quasi alle erfolgreichen Kandidaten einen Bachelor in Rechtswissenschaft erworben. Aufgrund des Erfordernisses der chinesischen Staatsangehörigkeit ist die Anwaltszulassung in China nur für solche Studierenden in Deutschland interessant, die einen chinesischen Pass haben und sich ihr deutsches Bachelorstudium in China für die Anmeldung zum Staatsexamen anerkennen lassen können. Das chinesische Staatsexamen ist anspruchsvoll, die Durchfallquote lag in den letzten Jahren bei ca. 80 Prozent. Für Studierende in Deutschland gibt es noch einen anderen Weg, um in China als (ausländischer) Anwalt tätig zu sein, indem man etwa in einer deutschen Kanzlei tätig ist, die in China Repräsentanzbüros unterhalten. Man hat dann zwar keine chinesische Anwaltslizenz und kann keine Mandanten vor Gericht vertreten. An sich darf man als ausländischer Anwalt in China nicht einmal zum chinesischen Recht beraten, sondern nur zum Recht des Heimatlandes oder zu internationalrechtlichen Fragen. Dennoch wird eine Beratung zum chinesischen Recht durch Ausländer geduldet; gerade in der Beratung von etwa deutschen Mandanten zum chinesischen Recht vor Ort in China liegt ja ein Vorteil im Sinne eines besseren Vertrauensverhältnisses durch kulturelle Nähe, den der deutsche Anwalt gegenüber seinen chinesischen Kollegen hat. Auch chinesische Kanzleien sind an der Einstellung von ausländischen Anwälten interessiert. Um entsprechend in China tätig zu werden ist aber grundsätzlich erforderlich, im Heimatland als Anwalt zugelassen zu sein. Für Deutschland setzt dies das erfolgreiche Bestehen des ersten und zweiten juristischen Staatsexamens voraus. Studiert man beispielsweise Regionalwissenschaften China in einem Verbundstudiengang, in dem ein Teil der Studienleistungen bei der juristischen Fakultät erbracht wird (wie ihn die Universität zu Köln anbietet), kann man diese für das rechtswissenschaftliche Studium anrechnen lassen. Wenn man nicht bereit ist, die Zeit in ein volles juristisches Studium zu investieren, das in Deutschland mit beiden Staatsexamina und dem Referendardienst mindestens sechs Jahre dauert, so bietet sich auch für den Regionalwissenschaftler der Chinastudien mit dem Schwerpunkt Rechtswissenschaft noch eine ganze Reihe interessanter Betätigungsfelder. Vor allem im Non-Profit-Bereich, wie etwa in Stiftungen, 149 3.6 Ordnung: Rechtswissenschaften die in China tätig sind, in Behörden, Verbänden und Organisationen, in der Entwicklungszusammenarbeit oder in einem journalistischen Beruf. Chinawissenschaftler mit dem Schwerpunkt chinesisches Recht finden natürlich auch in Unternehmen oder in verschiedenen beratenden Berufen spannende Tätigkeitsfelder. Zitierte Literatur Ahl, Björn (2009): Die Anwendung völkerrechtlicher Verträge in China. Springer, Dordrecht. Heuser, Robert (2002): Einführung in die chinesische Rechtskultur. Institut für Asienkunde, Hamburg. Heuser, Robert (2009): Sozialistisches Recht in der Erprobung. Entwicklung der chinesischen Rechtsordnung (1949 2009). In: Zeitschrift für chinesisches Recht, Vol. 16, S. 247-261. Keller, Perry (1994): Sources of Order in Chinese Law. In: American Journal of Comparative Law, Vol. 42, S. 711-759. Lubman, Stanley (1999): Bird in a Cage. Legal Reform in China after Mao. Stanford University Press, Stanford. Muthorst, Olaf (2011): Grundlagen der Rechtswissenschaft. Methode, Begriff, System. Beck, München. Ruskola, Teemu (2013): Legal Orientalism. China, the United States, and Modern Law. Harvard University Press, Cambridge, MA. Rüthers, Bernd; Fischer, Christian; Birk, Axel (2011): Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre. Beck, München. Shen, Yuanyuan (2000): Conceptions and Receptions of Legality. Understanding the Complexity of Law Reform in Modern China. In: Turner, Karen; Feinerman, James; Guy, Kent (eds.): The Limits of the Rule of Law in China. University of Washington Press, Seattle, S. 20-44. von Senger, Harro (1994): Einführung in das chinesische Recht. Beck, München. - 150 3. Weiterleitungen 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften (Andrea Riemenschnitter) Das Sinologiestudium: vom Orchideenfach zu den Area Studies Die Dienstleistungs-Website Unicheck (www.unicheck.de/ studienfach/ Sinologie-Philologie) stellt für künftige Studierende ein Ranking aller Fächer an deutschen Universitäten zur Verfügung, welches ihnen bei der Auswahl des Studienortes behilflich sein soll. Das Fach Sinologie wurde in diesem Projekt für neun Institute gleichermassen mäßig (drei von fünf Sternen) bewertet, gleichzeitig erscheinen in der Liste so bedeutende Standorte wie Berlin, Bonn, Göttingen, Köln, Münster oder Würzburg nicht; die beiden immerhin im deutschsprachigen Raum gelegenen Satelliten Wien und Zürich fehlen gleichfalls. Jedoch kann man neben der Sinologie auch noch die Fachrichtungen Chinese Studies, Ostasien/ Sinologie oder Ostasienwissenschaften/ China u.a. anklicken, mit jeweils einem einzigen Listenort. Schnell wird klar: China mag groß und inzwischen auch wieder weltpolitisch mächtig sein: seine Bedeutung spiegelt sich dennoch in keiner Weise im mitteleuropäischen Studienangebot wider. Weder die jüngsten Strukturreformen vor Ort, noch die massiven Positionsverschiebungen der letzten 40 Jahre in der globalen politischen Topographie haben das Studienangebot im Bereich der Chinastudien wesentlich erweitert. Auch der Arbeitsmarkt bleibt für promovierte Sinologen limitiert; mehr Präsenz Chinas im sekundären Bildungssektor wäre eine gute Grundlage für ein angemessenes Wachstum. Zwar spricht heute niemand mehr ernsthaft vom Orchideenfach, jedoch machen anhaltende Diskussionen um die sogenannten kleinen Fächer deutlich, dass man sich unter dem gegenwärtigen politischen Druck, der den Nachweis von Leistungskriterien wie dem Nutzen oder messbaren Ertrag einfordert, anderes als eine Rhetorik der Defensive gar nicht vorstellen kann. In einem 2006 herausgegebenen Papier des Wissenschaftsrates (Wissenschaftsrat 2006: 12; zit. n. Conermann 2011: 13) wird in Reaktion darauf Einspruch gegen die Rede von der Krise der Geisteswissenschaften erhoben. Nicht die Geisteswissenschaften an sich, sondern lediglich deren traditionelle Bezugsgrößen - Nation, Politik, Gesellschaft - seien einer Revision, bezogen auf deren problematisch gewordene „Ganzheitsideen“, unterzogen worden. Die Autoren des Papiers warnen darüber hinaus davor, das seit einiger Zeit favorisierte Konzept der trans- und interdisziplinär ausgelegten Kulturwissenschaften (statt der auf philologische Methoden fokussierten, traditionellen Geisteswissenschaften) als Lizenz für die Einschmelzung der kleinen geisteswissenschaftlichen Fächer in eine einzige Kulturwissenschaft zu missbrauchen, denn: „Die Zukunft der Geisteswissenschaften liegt im Bereich der Forschung in einer methodologisch bewussten, historisch präzise argumentierenden, gesellschaftlich kommunizierbaren und zugleich die Gesellschaft mitkonstituierenden Forschung.“ Der Einspruch des Wissenschaftsrats ist aber nicht gegen kulturwissenschaftliche Methoden an sich, sondern lediglich gegen den Missbrauch des Programms für fakultäre Sparmaßnahmen gerichtet. Das Programm selbst entspricht einem tiefen Wandel im Selbstverständnis humanistischer Disziplinen. Gerade die nicht-europäischen Philologien verstanden sich lange als außerhalb der Moderne und ihrer Trägergesellschaften operierend, obwohl sie den kolonialen Ambitionen dieser Nationen durchaus auch zuarbeiteten. Der Komparatist Edward Said prägte für die Allianz zwischen Machtpolitik und den - exotische Alterität produzierenden - Asien-Philologien den 151 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften Begriff des Orientalismus. (Said 1978) Mit seinem im Detail nicht unumstrittenen Konzept hatte Said aufzuzeigen unternommen, wie ein seit der Antike bekanntes Deutungsmuster des kulturell Anderen in den Philologien reproduziert und vom Imperialismus instrumentalisiert worden war. Während Europäer sich selbst als rational, tüchtig und tugendhaft darstellten, wurde ein demgegenüber feminisiertes Asien zum Ort lasziver Sinnlichkeit, des Irrationalen und Trägen deklariert - verführerisch und destruktiv zugleich. Das bis vor die Zeit der Aufklärung zurückzuverfolgende ambivalente Bild Chinas - weise geordnete antike Hochkultur und revolutionären Bewegungen zugeneigtes, unberechenbares Entwicklungsland (Knüsel 2012) - kann als Beiprodukt solcherart philosophisch zementierter Grenzlinien gesehen werden. (Trotz gewisser Vorbehalte bezüglich seiner Vorannahmen und Schlussfolgerungen empfiehlt sich Gu, um einen Überblick über wichtige Stationen in der Formation des westlichen China-Bildes zu erhalten: s. Gu 2013.) Die europäischen China-Philologien, aber auch die deutschsprachigen Asien- Philologien allgemein, standen nicht im Fokus von Saids Attacken; nicht nur, weil er über China nicht geforscht hatte, sondern auch, weil die deutsche Kolonialpolitik im Vergleich zur britischen und französischen weniger kulturelle Spuren hinterließ. Seit dem 19. Jahrhundert wurde das Fach Sinologie an europäischen Universitäten in disziplinärer Breite mit einem Schwerpunkt im (passiven) Spracherwerb gelehrt. Dabei lag das Gewicht der Forschung auf der klassischen Schriftsprache und den kanonischen Schriften. Sie wurden übersetzt, philologisch kommentiert und in der Regel mit Einführungsveranstaltungen zu Geistesgeschichte, Religionen, Literatur und Kunst ergänzt. Das China der Missionare, die als erste auch literarische Werke in Europa bekannt machten, war geprägt durch das Selbstbild der zeitgenössischen konfuzianischen Elite und deren spezifische Interessen und Werte. Für die traditionellen Beamtenprüfungen mussten chinesische Amtsanwärter neben dem Nachweis profunder Kenntnisse in den kanonischen Schriften auch elegante Lyrik und Essays verfassen können; diesen Genres kommt deshalb bildungsgeschichtlich gesehen eine Sonderstellung zu. Theater und Fiktion waren hingegen kein Schulstoff im vormodernen China. Sie spielten folglich - ebenso wie die moderne Literatur - im ohnehin gedrängten Curriculum sinologischer Seminare bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts so gut wie keine Rolle. Zwar hatten bereits Goethe und Schiller über die weltliterarische Bedeutung der klassischen chinesischen Fiktion nachgedacht, jedoch gründete ihr positives Urteil auf der freien Übertragung eines eher unbedeutenden, anonymen Texts. (Gimm 2005: 45 f., FN 88) Wissenschaftlich übersetzt wurden zuerst die Kerntexte des Bildungskanons, daneben aber auch Schriften der nicht-kanonisierten, religiösen Traditionen. Über die Methode gab es bereits früh unterschiedliche Ansichten; während die grundsätzliche Orientierung an der klassischen Philologie und ihrem Gegenstand - die griechisch-römische Antike - noch kaum hinterfragt wurde, verlangte der Weg der Texte in die Zielsprache bewusste und schmerzliche Entscheidungen. Wo ein strenger wissenschaftlicher Maßstab und somit präzise philologische Rekonstruktion verfolgt wurden, fehlte dem Ergebnis meist die ästhetische Lebensader, während bei kreativen Anverwandlungen die historisch-philologischen Aspekte auf der Strecke zu bleiben drohten. (Hartman 2001; Honey 2001) Solange das Fach Sinologie auf das Studium der chinesischen Antike und die Zeit bis zur Vormoderne beschränkt blieb, sahen seine Vertreter wenig Grund, ihre europäischen Paradigmen des Wissenserwerbs zu überprüfen. Als man jedoch zunehmend auch die chinesische Moderne und die ihr eigenen kulturellen wie gesellschaftlichen Phänomene zu erforschen unternahm, wurden die Grenzen dieser Methoden unüber- 152 3. Weiterleitungen sehbar. Hatte Herbert Franke bereits 1968 darauf hingewiesen, dass die „gegenwärtige Situation ... in der Sinologie ... durch eine Tendenz zur Spezialisierung gekennzeichnet“ ist und das Fach sich „der Sache nach auffächern“ wird, und zwar in „die Erforschung der Sprache, Literatur, Geschichte, Religion, Kunst usw. Chinas“, so merkt Susanne Weigelin-Schwiedrzik noch im Jahr 2009 an, dass das moderne China im deutschsprachigen Hochschulraum noch keinen angemessenen Ort gefunden hat und die ernsthafte methodische Umorientierung auf sich warten lässt: „Wenn aber in unserem Gemischtwarenladen die Philologie der klassischen Sinologie einfach auf die Erforschung des gegenwärtigen China ausgeweitet wird, wird die Suppe dünn: Weder kann sie mit den modernen Philologien mithalten, die sich in Sprach- und Literatur[-] neuerdings auch Kulturwissenschaft aufgeteilt haben; noch kann sie den Sozialwissenschaften das Wasser reichen. Die moderne Sinologie als Fortsetzung der klassischen Sinologie mit anderen Texten ist langweilig, methodisch defizitär, kurz: überflüssig.“ (Weigelin-Schwiedrzik 2009: 4 f.) Studenten, die sich im Bereich des modernen China spezialisieren wollen, klagen folglich über Defizite in der Ausbildung und mangelnde Berufschancen (ebda.). Der überfällige hochschulpolitische Wandel müsste sich offensichtlich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: der Erweiterung sinologischer Seminare in Richtung auf eine möglichst breite Abdeckung der wichtigsten disziplinären Felder - neben Herbert Frankes Liste kommen sozialwissenschaftliche (Gesellschaft, Politik, Wirtschaft), neuerdings aber durchaus auch naturwissenschaftliche (Bioethik, Humangeographie, Umweltwissenschaften) in den Blick - innerhalb des Faches, oder aber der strategischen Aufforstung der erforderlichen Kompetenzen durch Schaffung von China-relevanten Lehrstühlen in den verschiedenen Fachdisziplinen (Ethnologie, Geschichte, Linguistik, Literaturwissenschaften, Philosophie, Politologie, Soziologie etc.), die idealerweise neben der Lehre in den jeweiligen Fächern auch gemeinsame Projekte in Kompetenzzentren oder anderen interdisziplinären Verbünden verfolgen. Beide Varianten entsprechen Modellen, welche im anglophonen und frankophonen Raum schon lange etabliert sind. Die Ratio hinter der dort erfolgten Reorganisation der „Außereuropa-Philologien“, die bis anhin innerhalb der Geisteswissenschaften (in anglophonen Universitäten als humanities gelistet) entlang nationaler Grenzen organisiert sind, in einem neu von sozialwissenschaftlichen Disziplinen dominierten Programm der area studies war jedoch alles andere als harmlos oder im eigentlichen Sinne des Wortes fortschrittlich. Die viel dezidierter zweckorientierten area studies sind vielmehr aus den Bedürfnissen des Kalten Krieges hervorgegangen. Das in ihnen generierte Wissen konzentriert sich zwar auf die modernen nicht-westlichen Staaten und Gesellschaften. Es bildet aber Experten aus, die auf der Basis ausgezeichneter Landes- und Sprachkenntnisse strategische Fragen der Beobachter-Staaten beantworten sollen. Danach, in welchem Zusammenhang diese mit der lokalen Wissensproduktion der erforschten Länder stehen, oder ob ein solcher Zusammenhang überhaupt besteht, wird in derartigen Forschungskontexten in der Regel nicht gefragt. Daran scheint auch der inzwischen wieder abflauende Zufluss von Fördergeldern aus den erforschten Regionen selbst nicht viel geändert zu haben. Hier ging es in erster Linie um die Chance betroffener Staaten, eigene Ansprüche auf Autorität und Definitionsmacht zu erheben; eine Förderung der kritischen Reflexion dieser Art von Wissensproduktion erfolgte jedoch auch in diesen Gefäßen in den wenigsten Fällen. Die Tragweite solcher blinder Flecken kann man an der Frage ermessen, ob europäische Philologien in Europa ebenfalls als area studies denkbar wären. Sie muss negativ beantwortet werden: diese 153 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften dienen der staatlich geförderten Produktion von regionaler (kultureller) Identität, sind also auf Tiefgang und Differenzierung ausgerichtet, während die anderen die Produktion von einfach verständlichen, quantifizierbaren und anwendungsorientierten Fakten über die als „Andere“ gesetzten Staaten und Gesellschaften zum Ziel haben. Es sollte auch bedacht werden, dass das Modell der area studies zwar mit der gegenwärtig politisch vorangetriebenen Transformation des tertiären Bildungssektors kompatibler erscheint als die auf eine nur schwerlich quantifizierbare, selbst-/ kritische Reflexion gesellschaftlicher Prozesse ausgerichteten Geisteswissenschaften. Jedoch könnte diese Ökonomisierung des Wissens, welche sich nicht nur im universitären Drittmittel-Wettbewerb und Evaluationswesen, sondern u.a. auch im Aufruf an Hochschulen manifestiert, ihre Studiengänge von Beginn an vermehrt auf den Erwerb praktischer Fähigkeiten und auf Berufsziele hin auszurichten, mittelfristig beträchtliche Flurschäden in der Hochschullandschaft anrichten. Es fehlen bereits jetzt zunehmend Zeit und Gelder für die Arbeit an allen nicht unmittelbar (ob real, symbolisch oder kulturell) kapitalisierbaren Fragen. (Chow 2006; Miyoshi und Harootunian 2002; Wesley-Smith und Goss 2010) Trajektorien und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Sinologie Was wäre angesichts dieser Lage ein gangbarer Weg für das Fach und die noch nicht in den area studies aufgegangenen sinologischen Seminare? Sicher nicht der Widerstand gegen eine moderne, sozialwissenschaftlich ausgerichtete Chinaforschung; jedoch ist dabei auch die Relevanz, ja die Nichthintergehbarkeit methodisch fundierter (kulturwissenschaftlich ausgerichteter) Literaturstudien im Verbund interdisziplinärer Forschung und Lehre hervorzuheben, statt diese marktpolitischen Konjunkturen zu opfern. Die moderne Literatur war in der deutschsprachigen Sinologie allerdings nie ein starker Schwerpunkt, obwohl es bedeutende Sinologen gibt, die sich mit literarischen Themen auseinandergesetzt haben. Vor allem Helmut Martin und Wolfgang Kubin haben bedeutende zeitgenössische Werke im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht. Das öffentliche Interesse am modernen China blieb aber trotz ihrer pionierhaften Vorstöße auf die politische Rolle der Antagonisten VR China und Taiwan fokussiert: der Kalte Krieg hatte Ostasien ins Zentrum der Sorge um die weltpolitische Stabilität gerückt. Aufgrund ihrer überwiegend realistischen, häufig auch dogmatischen Schreibverfahren wurden selbst die ästhetischen Texte der Region während der 1970er und teilweise auch noch der 1980er Jahre entweder an den Zweck gebunden, Sinologen wie interessierten Lesern als Informationsquellen zu dienen, oder aber den ästhetischen Vorgaben einer universell vorgestellten Moderne unterworfen und dabei tendenziell negativ bewertet. Eine weltliterarische Bedeutung wurde ihnen sogar von international angesehenen (marxistischen) Literaturwissenschaftlern abgesprochen. Die Begründung lief auf ein Dogma des europäischen Modernismus hinaus: moderne Kunst soll autonom, das heißt unabhängig von gesellschaftlichen und politischen Realitäten agieren. Als Fredric Jameson 1986 an die westliche Welt appellierte, Lu Xun zu lesen, brachte er eine Strategie ins Spiel, die ihm viel Kritik eintrug: im Bemühen, Lesern die spezifischen Eigenschaften und Fragen nicht-westlicher Texte nahezubringen, konzedierte er, dass „Dritte-Welt-Literatur“ nicht dasselbe Lesevergnügen wie im Westen kanonisierte Texte hervorrufen könne. Aufgrund der Differenz der historischen Situation warb er um die Akzeptanz eines seiner Ansicht nach ästhetisch minderwertigen, politisch notwendig nationalistisch orientierten Anderen: 154 3. Weiterleitungen Many arguments can be made for the importance and interest of noncanonical forms of literature such as that of the third world, but one is peculiarly self-defeating because it borrows the weapons of the adversary: the strategy of trying to prove that these texts are as „great“ as those of the canon itself. The object is then to show that, to take an example from another non-canonical form, Dashiell Hammett is really as great as Dostoyevsky, and therefore can be admitted. This is to attempt dutifully to wish away all traces of that „pulp“ format which is constitutive of sub-genres, and it invites immediate failure insofar as any passionate reader of Dostoyevsky will know at once, after a few pages, that those kinds of satisfactions are not present. Nothing is to be gained by passing over in silence the radical difference of non-canonical texts. The third-world novel will not offer the satisfactions of Proust or Joyce; what is more damaging than that, perhaps, is its tendency to remind us of outmoded stages of our own firstworld cultural development. (Jameson 1986: 65) Gegen die Intention Jamesons, der ja eigentlich die Lektüre des „Dritte-Welt-Romans“ nach Maßgabe von dessen eigenen, von denjenigen der „Ersten Welt“ abweichenden ästhetischen Prinzipien einmahnen wollte, geriet die derart festgeschriebene Asymmetrie zwischen reichen Industrienationen, die sich den modernistischen Luxus freier Sprachspiele leisten zu können glaubten, und einem funktionalen (magischen) Realismus der Schwellenländer, die vermeintlich noch auf diesen Luxus hinarbeiteten, zum Alibi fortdauernder Vernachlässigung im globalisierten akademischen Diskurs. (Jameson 2002; Chow 2006) Dem „verspäteten“ Modernismus nicht-westlicher Literaturen wurde mit dem Jamesonschen Etikett der nationalen Allegorie, welche einem neokolonial operierenden Globalisierungs-Kapitalismus ästhetisch wie politisch die Stirn zu bieten unternimmt, nicht mehr als eine Marktnische geboten. Eine solche geopolitisch orientierte Neukartierung nicht-westlicher Texte war aber in jeder Hinsicht ungenügend, um deren kulturelle Dynamiken auszuschöpfen. Gefragt sind vielmehr Ansätze, die sowohl die in diesen Texten zirkulierenden Werte, Ideen und Diskurse als auch deren gesellschaftliche Performanzen auf der Basis der ihnen inhärenten ästhetischen, philosophischen, ideologischen etc. Paradigmen erfahrbar machen können. Drei Szenarien sollen die Tragweite solchen Perspektivenwechsels deutlich machen. Systemwechsel: Der Fall der Viererbande In der Zeit vom 20. November bis zum 29. Dezember 1980 präsentierten Chinas TV- Sender der Nation den Sturz der Viererbande als fulminanten Ausklang einer historischen Tragödie, die ihren Anfang am 10. November 1965 mit vernichtender Kritik an einem Theaterstück genommen hatte. In diesem Bühnendrama, der 1961 uraufgeführten modernen Peking-Oper Hai Rui wird seines Amtes enthoben, fordert der aufrechte Ming-Beamte Hai Rui (1515-1587) den Jiaqing-Kaiser auf, der grassierenden Korruption im Land einen Riegel vorzuschieben. Der Kaiser hört aber nicht auf seinen loyalen Beamten, sondern entmachtet diesen. Davon unbeirrt, vollzieht Hai Rui noch seinen Urteilsspruch gegen einen straffälligen hohen Beamtensohn, bevor er sein Amtssiegel zurückgibt. Einer der späteren Köpfe der Viererbande, der Shanghaier Literaturkritiker und künftige Propagandabeauftragte der Planungsgruppe Kulturrevolution, Yao Wenyuan (1931-2005), ergriff damals die Chance, sich auf Kosten Wu Hans (1909-1969) zu profilieren. Er warf dem Verfasser der Oper vor, seinen Helden allegorisch als Kritiker an Maos Politik des Großen Sprungs nach vorn dargestellt und 155 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften hiermit sich selbst als Verteidiger des 1959 von Mao entlassenen Verteidigungsministers Peng Dehuai (1898-1974) positioniert zu haben. Wu Han, ein angesehener Historiker der Ming-Dynastie, war zu jener Zeit stellvertretender Bürgermeister Beijings. Er starb im Jahr 1969 in Gefangenschaft - an den Folgen der politischen Hetzjagd gegen ihn. (Cody 2007: 575) In den Jahren zwischen 1966 und 1976, dem Jahr von Mao Zedongs Tod, hielt eine in der Inszenierung modern auftretende, in ihrem Kern jedoch archaisch anmutende Willkür Einzug, die sich u.a. in sanktionierter Gewalt, massenhaften Verhaftungen, Pogromen, Ritualen, Hetzliedern und Bücherverbrennungen sowie der brachialen Zerstörung gesellschaftlicher Netzwerke und Hierarchien entlud. All dies hinterließ eine zutiefst traumatisierte Gesellschaft. Am Tag, als die Verantwortlichen für die Exzesse der Kulturrevolution verhaftet wurden, tanzten die Menschen auf der Straße Walzer. Das vier Jahre später, am Nachmittag des 20. November 1980, im Beisein von 800 Zeugen und 300 Journalisten eröffnete Tribunal klagte Mao Zedongs Witwe Jiang Qing (1914-1991) und ihre drei Verbündeten sowie sechs weitere Mitarbeiter der - fortan u.a. in Cartoons als Viererbande verhöhnten - Planungsgruppe der Kulturrevolution an, verantwortlich für diese Katastrophe gewesen zu sein. Die überlange, 20.000 Zeichen umfassende Anklageschrift wurde von zwei Anwälten alternierend verlesen. Im darauf folgenden Prozess hatten alle vier Angeklagten die Gelegenheit, sich selbst mit oder ohne Unterstützung durch offiziell verpflichtete Anwälte zu verteidigen. Es war ein sorgfältig inszenierter Schauprozess, der sich einreihen lässt in eine globale Serie von ähnlichen Prozessen gegen Kriegsverbrecher und politische Massenmörder. Ob das publikumswirksame Verhalten der keineswegs reuigen ehemaligen Schauspielerin Jiang Qing als Show-Element von den Veranstaltern so geplant war, ist schwer zu sagen: Jiangs Aussagen wurden häufig nicht zuende gehört, denn sie sprachen Wahrheiten aus, die den neuen Erben Mao Zedongs nicht gelegen kamen. (Anne Kerlan, “The Trial of the ‘Gang of Four’: Visibility and Invisibility of the Cultural Revolution,” in: Goodrich and Delage 2012: 89-100; Terrill 1999: 330-359) Der Prozess ist der erste Fall in der Geschichte der Volksrepublik China, in welchem Mitglieder der politischen Spitze öffentlich angeklagt und verurteilt wurden. Aber auch im Jahr 2012, 32 Jahre später, wurden im Zuge des in den Medien breit kommunizierten Korruptions-Skandals von Bo Xilai und seiner Familie bei weitem nicht alle Fakten offengelegt. (Jamil Anderlini: „Bo Xilai: power, death and politics“, 20 July 2012 in: www.ft.com) Insbeso d n ere die engen geschäftlichen Beziehungen Bos zu anderen einflussreichen Parteimitgliedern blieben zur Enttäuschung kritischer Blogger weitgehend aus dem Verfahren ausgeklammert. Als Wasserscheide für Chinas Übergang von der Revolutionszur Reform-Ära ist die Bedeutung des Falls der Viererbande, der eine Neuausrichtung der Gesellschaft auf Strategien der Entschärfung sozialer Konflikte zum Ziel hatte, immens. Bezogen auf die Rolle von politischem Theater im Übergang vom Kaiserreich zur modernen Nation ist er eine von vielen historischen Episoden mit politisch genutzten theatralischen Effekten, die nicht selten in der Folge wiederum in Bühnenstücken reflektiert wurden. (Xiaomei Chen 2003; Esherick and Wasserstrom 1990) Es darf angenommen werden, dass er auch die protestierenden Studenten bei ihren zum Teil rituell inszenierten Aktionen am Tiananmen-Platz im Frühjahr 1989 inspirierte. (Esherick und Wasserstrom 1990; s.a. Wasserstrom und Perry 1994) Er legt darüber hinaus ein sich in der Geschichte wiederholendes Drama weiblichen Strebens nach politischer Macht offen, welches immer wieder scheitert, also auch von Jiang Qing nicht in ein positives Rollenmodell inkarniert werden konnte. Dass Jiang Qing wenig Auswahl hatte bei 156 3. Weiterleitungen ihrer Entscheidung, nach welchem Vorbild sie ihre politische Machtposition besetzen wollte - und warum ihr ein chinesisches Rollenmodell dennoch unabdingbar erschien -, erläutert Francisca Cho Bantly so: The point is, a Wu Zetian hardly offered a paradigm of legitimacy... What is instructive is that a Jiang Qing of the twentieth century - a woman of a revolutionary society that claimed to have broken from the limitations of its feudal past - chose to reactivate a traditional archetype of identity, no matter how problematic. This ostensibly modern woman was not willing or able to craft her life on the presumption that it was her qualities as an individual that merited her her place on the stage of history. Jiang Qing was compelled to instantiate herself in the mythical rather than historical mode. (Cho Bantly in Patton and Doniger 1996: 183 ff., hier: 188; Vittinghoff 1995; Xiaomei Chen 2003: 282 ff.) Welche Dringlichkeit die Vorschläge Maos zur Umwertung der Tang-Kaiserin Wu Zetian (625-705) hatten, kann man folglich erst im Zuge eines Studiums der vielen diesbezüglichen Stellungnahmen in Literatur, Theater und Geschichtsschreibung ermessen. Sichtet man dazu noch die Kommentare zum Sturz der Witwe Mao Zedongs in Form von Romanen und Bühnenstücken, so manifestiert sich darin das gespenstische Fortleben einer unerledigten Geschichte. Eine kulturwissenschaftliche Lesart dieses Ereignisses - ob seriell gefasst als Inszenierung einer Neuordnung der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Parteifraktionen bzw. des Bruchs mit dem maoistischen Regime, oder aus der geschlechtertheoretischen Perspektive eines konsequent unterdrückten weiblichen Anspruchs betrachtet - nimmt nicht nur die darauf rekurrierenden ästhetischen Texte in den Blick, sondern fragt insbesondere nach den diese konstituierenden Strukturen des Denkens und Handelns. Hinter der Maske der rechtskonformen modernen Gerichtsverhandlung findet sie eine atavistische Opferhandlung und entschlüsselt den bedingungslosen Kampf der Kulturrevolutionärin Jiang Qing gegen überlieferte Kulturformen und deren Repräsentanten als gescheiterten Versuch, frühere Vorstöße zur Etablierung einer Subjektposition für Frauen in Führungspositionen mit dem eigenen Erfolg zu rehabilitieren. Ihre Nachfolgerin, Staatspräsident Xi Jinpings Ehefrau Peng Liyuan, ist eine bekannte Sängerin. Ihre im Jahr 2007 aufgezeichnete Hymne auf die Verdienste der Volksbefreiungsarmee und der KPCh in Tibet ist auf vimeo.com zu sehen. Die von ihr dargebotene - gnadenlos domestizierte - Version der modernen Frau beschränkt sich darauf, sich von starken, hanchinesischen Männern beim Wäschewaschen helfen zu lassen - und Tibeterinnen anzusinnen, ihre Subjektivität in ebendieser Weise zu konstituieren. (vimeo.com/ 25211722) Auch dieses Ereignis liest sich seriell, hier in Kontinuität mit traditionellen Frauenbildern sowie als weibliches Einverständnis mit den von Männern geschaffenen Voraussetzungen des Scheiterns von Machtfrauen wie Wu Zetian oder Jiang Qing, anders als von der glamourösen Show-Oberfläche her. Ob es konkret um weibliche Formen des Umgangs mit politischer Macht geht, oder allgemeiner das Aushandeln von kulturellen Spielräumen thematisiert wird: auch die aufmerksamste Lektüre eines isolierten Texts wird ohne Kenntnis von dessen historischen Extensionen und gesellschaftlichen Implikationen wenig aussagen können. Wo Kulturproduktion und soziale Phänomene so eng ineinander verwoben sind (und wo wären sie das nicht? ), erscheint es ungenügend, literarische Texte entweder ausschließlich gemäß den Vorstellungen klassisch-philologischer Gelehrsamkeit, oder 157 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften in modern-sozialistischer Manier als Ausdruck und Instrument politischer Interessen, oder aber als autonome sprachliche Kunstwerke im Referenzrahmen postmodernelitärer Realitätsverweigerung zu würdigen. Ebenso wäre es jedoch ein Irrtum, zu glauben, dass zeitgenössische chinesische Literatur solchen Ansprüchen nicht genügte: sie ist in jeder Hinsicht auf der Höhe weltliterarischer Standards. Vielmehr verspielt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomenen ihr Potential, wenn sie aus Sorge um deren politische Vereinnahmungen ihre gesellschaftliche Anbindung ignoriert. Film, Bild, Theater, Performancekunst und Internet partizipieren maßgeblich an der Produktion von gesellschaftlicher Realität und von Diskursen über diese. Aus dieser Erkenntnis heraus bemühen sich Sinologinnen und Sinologen, deren Forschungsgegenstand die Literatur, Kunst und/ oder Populärkultur des gegenwärtigen China ist, um eine kulturwissenschaftliche Erweiterung der auf das Textstudium und dessen Leitidee der Weltkonstruktion durch sprachlichen Ausdruck fokussierten, traditionellen Chinawissenschaft. Dies impliziert ein erweitertes Verständnis von Übersetzung. (Yeung 2008: 157-167) Systemkritik: Theorien, Methoden und Aporien einer kulturwissenschaftlichen Sinologie Es bedeutet u.a., das avancierte Methodeninventar der westlichen Geisteswissenschaften und ihrer Kritiker zur Kenntnis zu nehmen und für die eigene Arbeit fruchtbar zu machen. So verfolgen Kulturwissenschaftler in der Regel die multidisziplinäre Integration poststrukturalistischer, postkolonialer, feministischer, gendertheoretischer, ökokritischer, medienwissenschaftlicher und anderer Analyse-Methoden, welche nach Maßgabe ihres Gegenstandes für die Reflexion eigener und textrelevanter Denkstrukturen eingesetzt werden sollen. (Ashcroft, Griffiths, und Tiffin 2007; Bachmann- Medick 2006; Hepp, Krotz, und Thomas 2009; Garrard 2012; Bergmann, Schößler, und Schreck 2012) In Anerkennung der von Literaturwissenschaftlern ins Fach integrierten, disziplinär heterogenen Theorie-Innovationen unterteilt Doris Bachmann- Medick die kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft in Phasen, die sogenannten turns, welche sich auf je unterschiedliche methodische Grundlegungen berufen, grundsätzlich jedoch aus Strukturalismus und Poststrukturalismus hervorgegangen sind. So folgen nach ihrer Einschätzung auf den Paradigmenwechsel durch einen strukturalistischen linguistic turn rasch weitere Modelle: unter anderem nennt sie interpretive, performative, reflexive/ literary, postcolonial, iconic, spatial und schließlich einen translational turn. (Bachmann-Medick 2006) Keiner dieser turns setzt die vorhergehenden außer Kraft, sondern es entwickelt sich eine Art Spiraldynamik, in welcher sowohl jedes einzelne Analyse-Modell, als auch Kombinationen mehrerer dieser Modelle sinnvolle Parameter für die individuelle Arbeit an literarischen Texten liefern können. Hintergrund ihrer Überlegungen ist eine ursprünglich von Ethnologen entwickelte Sicht auf Kulturen als Text, welche davon ausgeht, dass gesellschaftliche Realität sich wesentlich aus Geschichten formiert. Identität stiften solche Geschichten, die die Mitglieder einer Gemeinschaft über sich selbst (Innenperspektive kultureller Identität) oder über andere als die Anderen (Aussenperspektive des nicht ins Eigene Integrierbaren) erzählen. Eine Gefahr solcher Erzählungen ist ihre Tendenz, kulturelle, ethnische, geschlechts- oder klassenspezifische Unterschiede zu essentialisieren, weshalb theoretisch informierte Analysen zusammen mit den vermittelten Vorstellungen und Ideen auch die nicht explizit reflektierten ideologischen Vorgaben ihres Untersuchungsgegenstandes zu entschlüsseln suchen. Hinzu kommt, dass auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Texten ihrerseits 158 3. Weiterleitungen realitätsformende Erzählungen generiert; diese Erkenntnis verlangt selbstreflexive Distanznahmen zur eigenen ideologischen Situiertheit. (Bachmann-Medick 2004) Das prominenteste Beispiel für eine - vermittels einer Kombination aus Kanonenbooten und Erzählungen - tief in die Rechte anderer eingreifende und deren Souveränität verletzende Realitätskonstruktion ist das europäische koloniale Projekt. Wie bereits weiter oben erwähnt, prägte Edward Said den Begriff des Orientalismus für die kulturellen Implikationen dieses Projekts. Wie stark es in den gegenwärtigen Globalisierungs-Strukturen weiter wirkt, zeigt u.a. der China-Historiker Arif Dirlik auf. (Dirlik 2007) Woher nehmen westliche Intellektuelle nach dieser systematischen Dekonstruktion ihrer hegemonialen Weltordnungs-Narrative noch die Legitimation, kulturelle Phänomene in Asien gemäß einem immer noch großenteils im eigenen akademischen Kontext erstellten Methodenapparat zu reflektieren? Eine Möglichkeit ist die Orientierung an dessen positiver Rezeption in China. Bereits in den frühen 1990er Jahren nutzte die Beijinger Filmwissenschaftlerin Dai Jinhua erfolgreich Methoden der Cultural Studies für ihre Arbeiten über die sich formierende, konsumkapitalistische Populärkultur in China. (Dai 2006; J. Wang and Barlow 2002) Der an der Qinghua-Universität in Peking lehrende Philosoph Wang Hui publizierte in der Zeitschrift Dushu erste Debatten und Einführungen zur Birminghamer Schule der Cultural Studies. (H. Wang 1994a; H. Wang 1994b; H. Wang 1995; s.a. Gentz 2009) In rascher Folge wurden Übersetzungen der wichtigsten Vertreter und Werke sowie Unterrichtsmaterialien für Studierende aufgelegt, internationale Konferenzen organisiert, Institute für Kulturwissenschaften gegründet, einschlägige Zeitschriften ins Leben gerufen und Websites aufgeschaltet. (Tao und Jin 2005: 1-25) Einen Überblick über die Wirkung der methodischen Umorientierung auf die chinesischen Geisteswissenschaften bietet Wang Ning an. Er periodisiert die drei Phasen ihres Einzugs in die VR China in den 1990er Jahren als „Einführung durch Übersetzung“, „internationaler Dialog und interkultureller Austausch“ und schließlich „Institutionalisierung und Glokalisierung“. (Wangs Schema erinnert an das vierstufige Modell E. Saids, der damit die Wanderschaft von Theorien und Ideen in eine Formel zu bringen suchte. Er brachte damit 1983 eine weitere Debatte ins Rollen, die Saiyma Aslam hilfreich zusammenfasst: Aslam 2011; N. Wang 2003a: 186) Für in der Region besonders produktiv erachtet Wang vier Bereiche: At present we see that the range and content of Cultural Studies in China are similar to those in the West. It covers at least four areas: ethnic studies, including studies of postcolonial, minority and diasporic writing; area studies, including Asian and Pacific studies; gender studies, including studies of feminist, gay and lesbian writings; and media studies comprising film, TV and even internet studies. (N. Wang 2003b: 189) Innerhalb eines globalen Feldes der mit literarischen Texten arbeitenden, modernen Sinologie mussten Vormachtstellungen und Diskursmonopole noch ins Kreuzfeuer der poststrukturalistischen und postkolonialen Kritik geraten, bevor eine Öffnung des Lehrbetriebs für solche nicht-kanonischen Kulturstudien möglich wurde. Die Kritik richtete sich neben den programmatisch-inhaltlichen vor allem auf nicht artikulierte ethnische, geschlechtsspezifische, sprachliche und politische Vorgaben der Disziplin. So erinnert die an der Duke University lehrende Komparatistin Rey Chow vor dem Hintergrund ihrer Hongkonger Herkunft daran, dass außerhalb Chinas die bestimmenden Parameter der chinesischen Kultur über sehr lange Zeit von männlichen In- 159 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften tellektuellen definiert wurden, die in ihrer privilegierten Beschäftigung mit vormodernen, von Männern verfassten han-chinesischen Texten bereits beim Spracherwerb politische Macht ausübten und damit im global-modernen Management von Ethnizität an einer dominanten kulturellen Werteproduktion partizipierten. Nicht-weiße, nicht-männliche und nicht mandarinsprachige Intellektuelle, z.B. aus Hongkong, hatten mit dieser Politik schon aufgrund ihrer sprachlichen „Marginalität“ kaum je eine Chance, an dieser Werteproduktion beteiligt zu werden oder diese gar kritisch zu hinterfragen. “Mandarin is, properly speaking, also the white man’s Chinese, the Chinese that receives its international authentication as ‘standard Chinese’ in part because, among the many forms of Chinese speeches, it is the one inflected with the largest number of foreign, especially Western, accents.” (Chow 1998: 11) Die weißen Gralshüter einer auf vormoderne kanonische Schriften fixierten Chineseness schlossen beispielsweise auch aus den Curricula westlicher Universitäten aus, was ihrer Meinung nach durch den Kontakt mit der westlichen Moderne verfälscht oder kontaminiert worden war, vor allem die moderne Lyrik. In China selbst hingegen wurden viele moderne Autorinnen und Autoren, die zwar chinesisch, aber außerhalb des kulturellen Zentrums (d.h. in Hongkong, Taipei oder Kuala Lumpur statt in Peking- Shanghai) schrieben, nicht zur Kenntnis genommen. Rey Chow ermutigt angesichts der vielen neuen Fragen, welche eine kulturwissenschaftliche Öffnung der Sinologie hin zur Moderne, zur Peripherie, zu bislang marginalisierten Stimmen aufwirft, zur Rückkehr zum Text unter Einbezug von Analysen seiner Produktionsbedingungen, die auch die eigene Arbeit der Kulturwissenschaftler und eine Kritik an den Grenzen und blinden Flecken poststrukturalistischer Theorien einschließen müssen: And it is at this juncture, when we realize that the poststructuralist theoretical move of splitting and multiplying a monolithic identity (such as China or Chinese) from within powerful and necessary as it is is by itself inadequate as a method of reading, that the careful study of texts and media becomes, once again, imperative, even as such study is now ineluctably refracted by the awareness of the unfinished and untotalizable workings of ethnicity. The study of specific texts and media, be they fictional, theoretical, or historical, is now indispensable precisely as a way of charting the myriad ascriptions of ethnicity, together with the cultural, political, and disciplinary purposes to which such ascriptions have typically been put. Only with such close study, we may add, can Chineseness be productively put under erasure not in the sense of being written out of existence but in the sense of being unpacked and reevaluated in the catachrestic modes of its signification, the very forms of its historical construction (Chow 1998: 24). Mit ihren Empfehlungen wusste sich Rey Chow in Übereinstimmung mit Vertreterinnen benachbarter Disziplinen, die ebenfalls in dieser Richtung argumentierten. So gab die Anthropologin Helen Siu 1997, im Jahr der Übergabe Hongkongs an China, vier Befunde und Empfehlungen aus der Perspektive der Hongkonger Peripherie zu Protokoll: 1. die gleichzeitig lokale, regionale und transnationale Erfahrung Hongkongs stellt konventionelle Perspektiven auf Kultur und kulturelle Identität in Frage; 2. die Hongkonger Erfahrungen widersprechen Vorstellungen kultureller Eindeutigkeit und klarer Solidaritäten; 3. die Bindung von Kultur an einen spezifischen Ort ist an sich 160 3. Weiterleitungen problematisch, denn Hongkongs Geschichte war nie territorial im engeren Sinn, so dass Identitäten wie auch kulturelle Werte und Orientierungen flüssig blieben; 4. die Kulturträger müssen stärker als Akteure kultureller Aushandlungsprozesse wahrgenommen werden. Im Feld politisch-ökonomischer Interessen und kultureller Begegnungen erweist sich der Balanceakt solcher Akteure zwischen Kulturnationalismus und globalen Orientierungs-Ressourcen als prekär und stets nur individuell und temporär gelingend. Eine neue Dimension nehmen Kulturen der globalen Moderne gemäß Siu nicht vorrangig aufgrund von deren vielfachen Verbindungen, Verflechtungen und Überlappungen in einem transnationalen Raum an, denn kultureller Austausch und Transfer sind historisch gesehen nichts Neues. Hingegen sind die Aktivitäten und Interventionen einzelner Akteure - seien es Gruppen oder Individuen - im Verhandlungsraum zwischen globalen Konvergenzen und lokalen Möglichkeiten der Bearbeitung von Ideen und Technologien kulturell bedeutsam und für den wissenschaftlichen Diskurs über die postkoloniale Globalisierung besonders ergiebig, weil diese ebenso kreativ wie unvorhersehbar sind: [A]t this almost post-modern end of our century, the expected cultural integration associated with modernity comes with assertions of local identities. Underlying a worldwide sharing of language and consumption objects are the differing meanings attached to them. In fact, the nation state idea has been challenged on two fronts, by divisive ethnic strife within state boundaries as much as by the fluidity of identities which comes with a transnational flow of technology, capital, commodities, population and political movements. As shown by the Hong Kong material, intense cultural diversity in an increasingly connected world poses analytical issues. Instead of imposing reified cultural characteristics to a particular linguistic group, territory or national entity, we may need to treat culture as complicated processes of meaningful human endeavors over time and across space. A key focus is not only on convergence, but also on unique ways localities capture global energies. (Siu 1997) Was in der westlichsprachigen Sinologie - jedenfalls dort, wo die Kritik ernst genommen wurde - zu einer Identitätskrise und Neuorientierung des Faches führte, brachte auch in der chinesischsprachigen Sinologie neue Perspektiven hervor. Der an der Peking University lehrende Literaturwissenschaftler Chen Xiaoming publizierte im Jahr 2008 eine Monographie, in welcher er das Programm der ästhetischen Postmoderne in ein erweitertes Modernitätskonzept zu integrieren suchte, indem er es als kulturelles Handeln (s)einer imagined community (Anderson 1991) auffasste und dessen Emergenz in der Gegenwartsliteratur nachzuweisen suchte. Bemerkenswert sind insbesondere Chens Analysen der jüngeren Generationen von Schriftstellern der Reformzeit, die häufig unter den Generalverdacht eines konsumkapitalistischen, populärkulturellen Mainstream fallen. Auch ihr Arbeiten mit Fragmenten eines sozialistischen Jargons wurde von Kritikern als unreflektierte Imitation verworfen. (Kap. 1 in Kinkley bietet eine Einführung in diese Problematik: s. Kinkley 2007) Weit entfernt von solch eiligen Urteilen bemüht sich Chen zu zeigen, dass das Interesse vieler „spät geborener“ Autoren an einer ästhetischen Rettung des sozialistischen Realismus auf einer höheren Ebene produktiv zu machen ist. Den Nachweis führt er am Beispiel einer Reihe von im Jahr 2004 in der renommierten Literaturzeitschrift „Renmin wenxue“ publizierten und mit einem Preis ausgezeichneten Werken von Autoren wie 161 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften Yang Yingchuan, Guizi oder Chen Yingsong. Darin wird das Thema der vielfach entrechteten und ausgebeuteten „neuen“ Unterschicht, die es ja eigentlich im sozialistischen Gesellschaftssystem gar nicht mehr geben dürfte, seiner Meinung nach nicht schlicht weitergeführt, sondern als oxymoronische Figur des Marktkapitalismus mit chinesischen Merkmalen aktualisiert. Auch mit welchen stilistischen Mitteln und rhetorischen Strategien die Frage nach der Verantwortung der Politik für die Lebenssituation dieser chinesischen Post-Nation (hou renminxing) gestellt wird, ist gemäß Chen alles andere als trivial. Im Fokus der Publikation steht die Interaktion zwischen transnationalen Theorien und lokalen Erzählungen, wobei sich der Autor den Schnittstellen und Überlappungen der verschiedenen historischen Konfigurationen chinesischer Modernität zuwendet. Als wichtige Etappen der gegenwärtigen Refigurationsprozesse chinesisch-ästhetischer Modernität untersucht er republik- und frühe volksrepublikzeitliche Kriegs- und Katastrophenerzählungen im Spannungsfeld von Trauma, Erinnerung und Vergessen; analysiert Texte, die nach dem Ende der Kulturrevolution der Suche nach postreligiösen Werten und sozialem Frieden Ausdruck verleihen; und sichtet schließlich literarische Entwürfe einer kommenden, alternativen Moderne, die sich weniger denn je nur einem einzigen kulturellen Zentrum zuordnen lassen. Hierzu zählen neben weiblichem Körperschreiben und Stadtliteratur aus der VR China auch transnationale Imaginaires von politisch engagierter Queerness und Hybridität in Hongkonger und taiwanischen Avantgarde-Zirkeln. (Xiaoming Chen 2008; Martin and Heinrich 2006; Riemenschnitter und Madsen 2009) System-Trägheit: Vereinnahmung, Widerstand, Montage Die erfreuliche Parallel-Entwicklung theoretischer Ansätze in westlichen wie asiatischen sinologischen Forschungskontexten wirft schließlich noch eine Frage auf, die sich im Grunde nur aus relativ großer zeitlicher Distanz beantworten lässt: Wie wirkt sich dieser Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften auf die Realitäten aus, in welchen dessen Theorien und Narrative zirkulieren? Folgen wir Gayatri C. Spivak, so ist die Gefahr groß, dass die Theorien, welchen auch die Cultural Studies verpflichtet sind, die akademische Landschaft zwar bis zu einem gewissen Grad zu erweitern, nicht aber grundlegend zu reformieren vermögen. Neu eingerichtete disziplinäre Schwerpunkte dieser Ausrichtung haben die Diskurs-Macht jedenfalls bis jetzt noch nicht erkennbar umverteilt, sondern vielmehr Nischen für Disparates geschaffen, das als solches kaum Einfluss auf den politischen Mainstream nehmen kann. (Spivak 1993) Was Naomi Oreskes und Erik M. Conway für das Lobbying zwischen Naturwissenschaften, Politik und Wirtschaft in den USA zeigen konnten, gilt auch für die Hochschulen: selbst vergleichsweise kleine Seilschaften können notwendige Reformen wirkungsvoll verhindern, wenn sie entsprechenden Zugang zum Machtapparat des Staates haben. Grundlage für das Operieren solcher Seilschaften ist aber häufig nicht der hehre wissenschaftliche Wahrheitsanspruch, sondern es sind die Interessen von Kapital und Macht. (Oreskes und Conway 2010) Innerhalb Chinas wurden die Cultural Studies als ein gangbarer Weg gegen solche Seilschaften wahrgenommen. Man hoffte, die durch den Tiananmen-Zwischenfall vom 4. Juni 1989 gewaltsam sistierten politischen Reformen mittelfristig im Verlauf eines anhaltenden, kritischen akademischen Diskurses doch noch einfordern zu können. Mit Blick auf die - auch in den Umweltproblemen Chinas derzeit immer sichtbareren - Krisen und Paradoxien des gegenwärtigen politischen Systems wünscht sich Wang Hui eine praxisorientierte, interdisziplinäre Methodologie kulturwissenschaftlicher Forschung, die das Dilemma postmoderner Kulturproduktion, sich ihre Unab- 162 3. Weiterleitungen hängigkeit von den beiden mächtigsten, im Kapitalismus eng verflochtenen gesellschaftlichen Kräften von Nationalstaat und globalem Kapital immer wieder neu erkämpfen zu müssen, zu artikulieren und schließlich auch zu überwinden vermag: Neo-Marxism focuses almost exclusively on economic democracy and rarely if ever touches on the problem of cultural democracy; this is to some extent a reflection of the lingering influence of China’s goal-oriented modernization theory. In the present context, the complex interpenetration of the state machinery and the capitalist market means on the one hand that the state is completely involved in cultural production, and on the other hand that cultural production is limited by the activity of both capital and the market. Clearly, in the present circumstances, cultural production is part of social reproduction. Therefore, cultural studies must transcend the Marxist base/ superstructure dichotomy to treat culture as an organic part of social production and consumption. In other words, for Chinese scholars, cultural criticism must be thoroughly integrated with political and economic analysis, and this integration must be sought in methodological practices. In this respect, there are few scholars who have developed systemic theories to deal with the problem, for this type of theory requires large amounts of empirical information and historical research, both of which are still lacking. This does not, however, prevent us from reaching a basic conclusion: namely, that the struggles for economic, political, and cultural democracy are all essentially the same fight. (H. Wang 2006: 174) Diese in Gesellschaften beiderseits der ehemaligen Kalten-Kriegsfront zu beobachtende Trägheit der staatlichen Institutionen, welche zwar Korrekturvorstellungen inkubieren, diese dann aber nicht oder viel zu langsam durchführen, setzt sich in der Praxis der Kulturproduktion fort. Neben der Öffnung des Binnenmarkts für den Konsum von transnationaler Populärkultur wurde die politische und kulturelle Entwicklung nach dem Fall der Viererbande in China auch durch eine Politik der Wiederaneignung von vormals aus der Moderne ausgemusterten kulturellen Traditionen gesteuert. Der bereits von den Modernisten der End-Qingzeit attackierte Konfuzianismus avancierte mittlerweile zur führenden Modernisierungsideologie Asiens. Die klassische Kun-Oper, Liebling der kaiserzeitlichen Literaten-Gelehrten, wurde im Jahr 2001 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Die weltgrößten und modernsten archäologischen Museen finden sich heute in China: von Shanghai über Wuhan bis nach Xi’an und Shenyang wurde der Vision einer großen Zukunft technologisch wie architektonisch Tribut gezollt. Der Rückgriff des Reform-Regimes auf das vom Modernismus der Vierten-Mai-Bewegung bis zum Maoismus dämonisierte kulturelle Erbe scheint aber kaum auf Dialog, Unvorhersehbarkeit und kreative Erneuerung abzustellen. Er erinnert eher an die Versuche westlicher Sinologen, ein museal stillgestelltes, antikes China gegen dessen hybride Modernität aufzubieten. Aber auch die Avantgarde in Literatur, Film und Kunst bedient sich vermehrt klassischer Anleihen. Ihr geht es dabei tatsächlich um die Suche nach Ausdrucksformen des Widerstands gegen eine grassierende Tendenz, die Vergangenheit zur nostalgischen Komfortzone der zunehmend versehrten Gegenwart zu machen. Gegen diese gesellschaftlich lähmende Sehnsucht nach Weltflucht oder unproblematischer Kontinuität, welche von den herrschenden politischen und ökonomischen Kräften offenbar noch gefördert wird, setzt 163 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften sie die experimentelle Konfrontation traditioneller und moderner kultureller Formen. (Huber und Zhao 2011) Gewarnt werden muss schließlich noch vor Versuchen, kulturwissenschaftlich erarbeitete gesellschaftliche Kritikpunkte und Einsichten leichtfertig auf kulturelle Repräsentationen zu übertragen, welche im Einklang mit dem politischen Establishment hergestellt wurden und die sich selbst reproduzierende, herrschende Diskursmacht eher noch zementieren denn korrigieren. Sowohl fundamentalistische Formen von Antiamerikanismus, als auch Legitimationsversuche nicht nachhaltiger industrieller Produktionsformen schreiben sich auf diese Weise scheinbar in den hegemoniekritischen Diskurs der Cultural Studies ein, instrumentalisieren ihn jedoch für ihre eigenen Zwecke. (Harris 2011; Shapiro 2012) Ein Beispiel soll zeigen, welche unvorteilhaften Implikationen selbst die wohlgemeinte, positive Evaluation populärkultureller Traditionspflege in chinesischen TV-Serien und Spielfilmen mit dem Ziel einer Bereitstellung alternativer Narrative für die Zukunft unseres Planeten haben kann. Seiner in zahlreichen Fallbeispielen dokumentierten Diagnose einer Inkompetenz des Westens im Umgang mit der globalen Moderne stellt der Singapurer Politikwissenschaftler und Diplomat Kishore Mahbubani - in bester Absicht und aus politikwissenschaftlicher Sicht nicht falsch - chinesische politische Weisheit und diplomatische Kompetenz entgegen, die sich in dessen Führungspersönlichkeiten seit Deng Xiaoping deutlich manifestiere. Darauf aufbauend setzt er nun aber auf eine asiatische kulturelle Renaissance, die er voller Optimismus aus dem Umgang des modernen China mit seiner Geschichte zu beziehen sucht: China’s efforts to rediscover its past and reconnect with it are likely to be exciting for both China and the world; it will bring about a massive change in international cultural chemistry. China is only just beginning this process of reconnecting with its past. To get a glimpse of what China will behave like when it becomes a rich and successful civilization, we need only to look back and see how China behaved during previous peaks of Chinese civilization. Six decades of communist rule have not changed the Chinese soul, which has developed over thousands of years of history. There is a rich and wondrous well of Chinese culture….A rejuvenation of Chinese civilization along the lines of the Tang dynasty would be a blessing for the world. This revived Chinese civilization would be open and cosmopolitan, not closed and insular. Indeed, a confident Chinese civilization may prove even more open and cosmopolitan than the insecure societies of the West. (Mahbubani 2008: 148 f.) Das Loblied Mahbubanis auf die seiner Ansicht nach durch 60 Jahre kommunistischer Regierung nicht verdorbene chinesische Volksseele mündet in den Vorschlag des Autors, global Anschluss an das kosmopolitische chinesische Mittelalter zu finden. Hier wird die Sache bedenklich: In der Tang-Zeit verorteten Gelehrte späterer Epochen einige der schlimmsten Verstöße gegen die Menschlichkeit, was Machtmissbrauch von mit dem Hof verwandtschaftlich verbundenen Sippen oder durch Eunuchen-Cliquen betrifft, oder bezogen auf das Ausbluten des Bauernstandes durch sowohl Kriege als auch den extravaganten Lebensstil der Eliten. (Benn 2004) Misswirtschaft im Zusammenhang mit Naturkatastrophen und gesellschaftliche Instabilität aufgrund von in der Bevölkerung breit unterstützten, lang anhaltenden und grausam niedergeschlagenen Rebellionen sind zwar kein alleiniges Merkmal des von Mah- 164 3. Weiterleitungen bubani gelobten tangzeitlichen Kosmopolitismus, haben jedoch darin offensichtlich einen nicht minder geeigneten Nährboden gefunden als die weniger weltoffenen Dynastien nach der Tang-Zeit. Im Zusammenhang mit der „vom Kommunismus unverdorbenen Volksseele“ muss deshalb der Einwand erlaubt sein, dass der Kosmopolitismus der Tang wesentlich ein Mehrwert für die Eliten war, der die nicht-privilegierten Bevölkerungsschichten teuer zu stehen kam. Mahbubanis Buch, das als „wake-up call“ für den Westen geschrieben wurde, ist folglich als zwar historisch informierte, aber im Hinblick auf die gesellschaftlichen Implikationen welthistorischer Entwicklungen zu wenig differenzierte Streitschrift mit Schwachstellen in ihrem kulturellen Deutungshorizont zur Kenntnis zu nehmen. Der auf die Vervielfältigung globaler Machtzentren gerichtete Blick mag in seiner provokanten Zuspitzung die Diskursmacht des Westens destabilisieren und damit zur Schaffung neuer Realitäten, womöglich sogar einer neuen Weltordnung beitragen. Es wäre aber zu befürchten, dass daraus eine Weltordnung mit gerade jenen destruktiven Zügen erwüchse, welche im Eifer der Geschichtsklitterung übergangen wurden. Im schlimmsten Fall wäre dies eine Fortsetzung oder Zuspitzung derjenigen Weltordnung, für welche das neue globale Lumpenproletariat - Kleinbauern, Wander- und Kinderarbeiter, Flüchtlinge, Prostituierte etc. - schon jetzt am teuersten bezahlen muss und für welches die hochglanzpolierte „eigene“ Vergangenheit im Fernsehen ein denkbar schwacher Trost ist. Lesbar als harsche Repliken auf den von Mahbubani favorisierten, schön gefärbten offiziellen TV-Geschichtsdiskurs wären somit Autorenfilme wie Li Yangs Mang Shan (Blind Mountain, 2007) und, noch deutlicher, Mang Jing (Blind Shaft, 2003), in welchem die Protagonisten - zwei Mörder und ihr/ e Opfer - mit den Dynastie-Namen Tang, Song und Yuan belegt wurden. Hier zeigen sich die katastrophalen Folgen einer hemmungslosen Ausbeutung von Mensch und Umwelt im gegenwärtig vorherrschenden Brachialkapitalismus Chinas in schockierende Bilder des nackten Überlebenskampfes gefasst und übertüncht mit den Insignien einer glanzvollen Vergangenheit. (“Human” in the Age of Disposable People: the Ambigous Import of Kinship and Education in Blind Shaft, in: Chow 2007: 167 ff.) Einen weitgehend geglückten Versuch, die Befreiung von den Aporien der Moderne vorstellbar zu machen ohne diese an die vorherrschenden westlichen Werte zu binden, aber auch ohne einen alternativen Hegemonialdiskurs zu unterstützen, bietet der vom indischen Regisseur Pan Nalin gedrehte Film Samsara (Indien, Italien, Frankreich, Deutschland 2001). Er erzählt die Geschichte einer Suche nach dem Sinn des Lebens zwischen Moderne und Tradition als hybride Version einer buddhistischen Erleuchtungs-Erfahrung. Als Kind von den Eltern ins Kloster geschickt, verlässt ein junger Mönch dieses wieder, um eine Familie zu gründen. Wenige Jahre später flieht er Frau und Kind heimlich, um wieder ins Kloster zurückzukehren. Seine Frau folgt ihm und präsentiert ihm ihre weibliche Version von Buddha Gautamas Rückzug aus der Welt. Sie erzählt ihm die Geschichte von Gautamas Ehefrau Yasodhara, welche mit dessen Sohn Rahula allein zurückblieb, diesen groß zog und erst danach endlich selbst Nonne werden konnte. Sie hinterfragt mit dem von der Geschlechterperspektive und einer modernen, aber nicht rationalistisch säkularisierten Welt her gespiegelten Narrativ die egoistische Entscheidung ihres Mannes. Ihre Fragen nach der Verantwortung für einmal getroffene Entscheidungen und nach den moralischen Grundlagen für die kulturelle Privilegierung von männlichen Vorstellungen über Spiritualität und Transzendenz kann sie von einer alternativen Subjektposition her aufwerfen, während ihr Ehemann in seinem manichäischen Entscheidungshorizont verharrt und die an sich im Buddhismus nicht ausgeschlossene Möglichkeit, in der selbst gewählten, 165 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften weltlichen Lebensform gemeinsam mit der Partnerin Erleuchtung zu erlangen, gar nicht ernsthaft in Betracht gezogen hat. So erscheinen die Positionen von Tradition und Moderne mehrfach gebrochen und instabil. Die subtile Verortung der Ankunft der Moderne in den Erzählungen tibetisch-ladakhischer Steppenbewohner verlagert diese in einen Zwischenraum unterschiedlich globalisierter sozialer Gruppen, so dass der Film urbanen Rezipienten gut vermitteln kann, wie und unter welchen Opfern jenseits der gleich geschalteten urbanen Zentren Traditionswahrung, aber auch sozialer Wandel geschieht. (Ravina Aggarwal gesteht dem Film bessere Hintergrundrecherchen zu als vielen kommerzielleren Produktionen, sieht ihn aber doch sehr kritisch als gefangen in einer einseitigen Ausrichtung auf männliche Spiritualität; für das hier vorgebrachte Argument wurde auf eine flexiblere Lesart gesetzt. S. Aggarwal 2004: 255, FN 45) Mehr als Zeichen der Zeit denn als eine wirksame Strategie, die Weltgesellschaft der Zukunft politisch voranzubringen, sei abschließend noch ein Phänomen erwähnt, welches seit einigen Jahren die Debatten um Produktpiraterie in China romantisiert. Die Rede ist von der sogenannten Shanzhai- oder Bergdorf-Kultur, welche eben nicht nur teure westliche Markenartikel kopiert, sondern auch politische Anliegen der Graswurzel-Ebene mimetisch realisiert. So schafft man Reinkarnationen von Volkshelden vom Popstar bis zu Mao Zedong, kopiert offizielle Propaganda-Organe wie CCTV und reproduziert Miniaturen monumentaler Veredelungsformen der globalen Kulturindustrie wie das Beijinger Olympiastadion. Der Schriftsteller Yu Hua sieht shanzhai als Fortsetzung der Kulturrevolution mit anderen Mitteln, wobei er die Ironie und erfrischende Respektlosigkeit ihrer Anhänger gegenüber Obrigkeiten ebenso wahrnimmt wie die Probleme eines umfassend fiktionalisierten Kommunikationsraums, in welchem niemand mehr mit Sicherheit wissen kann, welche in Umlauf gebrachte Informationen eine reale Basis haben und welche gefälscht sind. (Riemenschnitter 2010; Lin 2011; Pang 2012; Yu 2010) Ein Beitrag der Kulturwissenschaften könnte es sein, diese Praktiken zu historisieren. Mythos und Märchen entstanden als Erzählungen von elementarem menschlichen Begehren in Kontexten von Kulturkontakt und Kulturwandel. Strukturelle Gleichförmigkeit bei flexibler Codierung ermöglichten endlos variierende Aktualisierungen, zum Beispiel als Kitsch, Chinoiserie oder Shanzhai-Produkt. Die Überschwemmung globaler Märkte mit chinesischen Shanzhai- Erzeugnissen ist so gesehen lediglich eine lokale Antwort auf den Kulturwandel durch die globale Kulturindustrie. So sieht es auch Karen Rigby in ihrer lyrischen Antwort auf das Recycling früherer Mirabilien-Moden in der Gegenwartskultur Amerikas: The pagoda’s roof curls beyond a lake-view glazed in reproduction pink on serveware matched to the butter dish, the gravy boat, the once-a-year feast — no Villeroy & Boch, but good enough, herr doktor, to fake that recherché look. Pastorals stand for the village, and candles, like black trees in the Brothers Grimm, script happiness we could drown in. (Aus dem Gedicht Red Transferware (2011), in: Rigby 2012) Herausforderungen im Studium und danach Die globale Reichweite und Bedeutung chinesischer kultureller Repräsentationen hat seit den 1980er Jahren exponentiell zugenommen. Autoren- und Dokumentarfilme sind auf den großen Festivals weltweit erfolgreich; auch sinophone Theaterproduk- 166 3. Weiterleitungen tionen und neue Musik aus der VR China, Taiwan, Hongkong und Singapur erobern sich allmählich ihren Platz auf den Bühnen der Welt. Das thematische Spektrum übersetzter chinesischer Fiktion konnte aufgrund viel beachteter Verfilmungen und internationaler Literaturpreise beträchtlich erweitert werden. Olympia in Peking stand im Zeichen von „One World, One Dream“; dort wurde die Weltgesellschaft aufwendig und mit großer massenmedialer Wirkung mit der neuen Vision des Regimes über Chinas zukünftige Position in diesem globalen Traum bekannt gemacht. Haben wir also die Einheit von Yin und Yang erreicht? Können wir auf der Basis wechselseitigen Konsums endlich die harmonische Verbindung von Ost und West in einem globalen Kulturimperium genießen? Leider ist das keine realistische, noch weniger ist es eine nachhaltige Vision. Während das Land selbst derzeit Konfuzius als Urheber seiner Staatsideologie wiederaufleben lässt, denkt es über die Umleitung und Appropriation von Wasserressourcen der Nachbarländer nach und recycelt seine von Industrie und Urbanisierung umzingelten Naturlandschaften vor deren Auslöschung noch rasch als Touristenattraktionen. Gleichzeitig lassen wir uns im Westen von umweltbelastend hergestellten Chemie-Erzeugnissen und Elektrogeräten Made in China, aber auch von anspruchsvollen Kunstprodukten oder den demokratischen Experimenten der Shanzhai-Graswurzeln und Netizens faszinieren. Hinter der Hochglanzoberfläche ist vieles nicht das, was es zu sein behauptet. Andersherum werden Dinge aus Bequemlichkeit verurteilt, die bei näherem Hinsehen womöglich gar nicht so falsch sind. Ein gutes Beispiel für die gegenwärtige Orientierungskrise in globalen akademischen wie massenmedialen Rezeptionsforen liefern die Romane Mo Yans. Von Kritikern innerhalb wie außerhalb Chinas lange nonchalant als nationalistische Propaganda oder kommerzielle Massenproduktion verworfen, formierte sich daneben bereits in den späten 1980er Jahren eine Schule ernsthafter akademischer Auseinandersetzung mit seinem literarischen Werk. Gleichzeitig wurde dieses von regimenahen Zensoren kritisch beargwöhnt, zeitweise auch verboten. Die Romane scheinen folglich Anhaltspunkte für alle nur denkbaren Lesarten zu enthalten: parteikonform oder regimekritisch, konsumorientiert oder im Widerstand gegen die Kulturindustrie. Das Anliegen des Autors, mehr Gewicht auf die philosophischen Implikationen seines Werks zu legen, wurde trotz der Verleihung vieler renommierter Auszeichnungen bis jetzt noch zu wenig berücksichtigt. (Riemenschnitter, Mo Yan in Moran und Xu 2013: 179-194; Riemenschnitter 2011) In Mo Yans Fall hat der prestigereichste Literaturpreis der Welt dafür gesorgt, dass sein Werk künftig in weniger eiligen Lektüren und im behutsameren Umgang mit Werturteilen analysiert werden kann. Die vielen Texte, denen solche höheren Weihen nicht zuteil werden, bergen aber ebenfalls wichtige Aussagen über spezifische Weltanschauungen, Ideen, Erfahrungen sowie über die historischen, materiellen, institutionellen und spirituellen Lebensgrundlagen chinesischer Subjekte. Wenn wir an dieser Papierrepublik nicht partizipieren, fehlen uns die wichtigsten Kompetenzen im transkulturellen Austausch. So können Studierende, die sich von Phänomenen der Populärkultur - MTV, Spielfilme und TV-Serien, Blogs, Internet-Romane, Comics, Spoofs etc. - auch deshalb besonders angesprochen fühlen, weil sie einen raschen Einstieg in die kommunikativen Netzwerke und deren sprachliche Konventionen suggerieren, selbst solche, auf den schnellen Massenkonsum ausgerichtete Artefakte kaum ohne didaktische Unterstützung verstehen. Auch der Einsatz von populärkulturellen Sprachspielen, Satire und Ironie verlangt auswärtigen Teilnehmern einiges an Insiderwissen ab, da diese zumeist aus denselben lokalen kulturellen Archiven schöp- 167 3.7 Repräsentation: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften fen wie die mit längerem Atem produzierten literarischen Texte - und mit diesen in ständigem Dialog stehen. Eine disziplinäre Fokussierung auf chinesische Literatur und deren Kontexte bleibt folglich der Königsweg zur Tiefenstruktur dieser Kultur. In der Zeit der traditionellen China-Philologie hatte sie vor allem deshalb einen schweren Stand, weil die erforderliche Lesekompetenz nicht in nützlicher Frist erreicht werden konnte. Das ist bei der inzwischen erreichten Didaktisierung des Sprachunterrichts und mit den mittlerweile entwickelten Hilfsmitteln kein Problem mehr. Hingegen wird ihrer kritischen Rezeption heute im Vergleich zum Spracherwerb - zumindest aus Sicht der nicht-chinesischen Gesellschaften - immer weniger Nutzen zugestanden. Im Zuge der Verlagerung vom Buch zu virtuellen Medien wird die Arbeit am literarischen Text scheinbar noch mehr zum Elfenbeinturm-Projekt. Gleichzeitig sieht sich die Weltgesellschaft aber zunehmend in chinesische kulturelle Diskurse und Deutungsansprüche eingebunden, deren Hintergründe ohne vertieftes Wissen unverständlich bleiben. Dass die deutschsprachige Hochschullandschaft in den vergangenen Jahrzehnten auf den gesellschaftlichen Anerkennungsverlust der Künste mit einer Marginalisierung der modernen außereuropäischen Literatur- und Kulturwissenschaften zugunsten von Sprachausbildung und regionalwissenschaftlichen Schwerpunkten reagierte, ist misslich, denn es könnte die mittelfristige Entwicklung auch unseres Faches in eine unerwünschte Richtung lenken: Wo mit wissenschaftspolitischen Mitteln marginalisiert wird, bleiben Nachwuchs und belebende Konkurrenz aus. Studierende, die sich für eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem modernen China interessieren, dürfen sich davon aber nicht entmutigen lassen. Statt Unicheck zu konsultieren, kann nach entsprechender Recherche bei den Anbieterinstituts-Websites zielführender das persönliche Beratungsgespräch vor Ort gesucht werden. Bezüglich der Berufschancen benötigen promovierte Sinologen zwar ein wenig mehr Flexibilität als ihre Kolleginnen und Kollegen in Abiturfächer-Philologien, sie haben bis jetzt aber immer noch viel versprechende Tätigkeitsfelder gefunden. Wer sich für die akademische Laufbahn interessiert, wird überdies die Chance haben, Ausbildungs- und Karrierephasen in den großen Zentren sinologischer Forschung außerhalb Europas zu absolvieren. Studierende mit dieser Zielsetzung sollten sich deshalb schon früh im internationalen Angebot an entsprechenden Studien- und Forschungsorten umsehen. Zitierte Literatur Aggarwal, Ravina (2004): Beyond Lines of Control: Performance and Politics on the Disputed Borders of Ladakh. India, Durham, NC, Duke University Press. Anderson, Benedict; O’Gorman, Richard (1991): Imagined Communities. London, Verso. Ashcroft, Bill; Griffiths, Gareth; Tiffin, Helen (2007): Post-Colonial Studies: The Key Concepts. 0002 ed. Abingdon, New York, Taylor & Francis. 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Für dessen Betrachtung indes hat Philip Clart in diesem Band auf die Bedeutung der philologischen Quellenarbeit als eine primäre Methode der Auseinandersetzung mit dem vermeintlich Fremden und für eine sinnvolle Verortung des Eigenen gegenüber diesem verwiesen. Sie ist insbesondere für schwer zugängliche Sprachen wie das Chinesische und in erster Linie dessen klassische Schriftsprache unabdingbar, um einen kulturellen Zugang zum Forschungsobjekt „China“ zu erlangen. Die philologische Aufarbeitung von Repräsentationen „chinesischen Denkens“ resp. chinesischer Denker stellt zweifellos einen wesentlichen, wenn auch nicht, wie von einigen der klassisch-philologisch arbeitenden Sinologen angenommen, den einzigen Aspekt der Beschreibung und Erklärung von Phänomenen dar, die sich als Gegenstände sinologischer und chinawissenschaftlicher Forschung begründen lassen. In jedem Falle ist, das ist in diesem Band deutlich geworden, die reflektierende Auseinandersetzung mit Texten aus und über China die Grundlage einer jeden weiterführenden sinologischen und chinawissenschaftlichen Betätigung. In diesem Sinne sind den lauter werdenden Rufen nach ihrer vollständigen Überwindung zum Trotz in Wirklichkeit ihre Stärkung und dabei die Ausformulierung einer - gegenüber ihrer einst ausschließlich reproduktiven Orientierung - stärker selbstreferientiell organisierten Philologie angezeigt. In unumgehbarer philologischer Feinarbeit geht es darum, den textuellen Charakter der Beobachtungsobjekte genauso als solchen mit in die Überlegungen einzubeziehen wie denjenigen des eigenen - wissenschaftlichen - Arbeitens, dessen Rolle bei der Übersetzung, Interpretation und Analyse von Texten die frühen Philologen noch zumeist übersehen haben. Nur die Betrachtung beider Seiten der textuellen Bedeutungsproduktion, diejenige der Denotation wie auch diejenige der Konnotation, ermöglicht es uns nämlich, wie wir seit Stuart Halls bahnbrechendem Aufsatz zu „Encoding, decoding“ (Hall 1993) wissen und es insbesondere Andrea Riemenschnitter in ihrem Beitrag zu diesem Band dargelegt hat, von vorausgesetzten Wahrheitsansprüchen abzusehen. Anstelle der Einbindung der Textlektüren in vorgängig vorhandene Wissensbestände geht es also in Wirklichkeit darum, die in der Denotation und Konnotation von Texten jeweils konfrontativ aufeinander treffenden Wahrheiten miteinander sowie mit den irgendwo hinter beiden verborgenen „Wirklichkeiten“ in eine Erkenntnis tragende Beziehung zu setzen. Wie im einleitenden Kapitel dieses Bandes bereits dargelegt worden ist, handelt es sich, wenn man also von jeglichen allgemeinen und apriori angenommenen Wahrheiten absieht, bei den wissenschaftlich zu erarbeitenden Wirklichkeiten immer zuallererst um diejenige der vorliegenden Texte in ihrer jeweiligen Wahrnehmungssitua- 172 4. Umleitungen tion. Erst in deren weitergehenden Verweisen handelt es sich um die Wirklichkeit eines etwaig existierenden „realen China“ mit seinen „tatsächlichen“ Akteuren, Interessen und Agenten; etwa die - in den Texten selbst ja nicht anwesenden - Autoren und die von ihnen beschriebenen Personen und Institutionen. Und auch bei diesen allen handelt es sich ja tatsächlich um nicht mehr aber auch um nicht weniger als um Texte, die jenseits ihrer textuellen Wirklichkeit zunächst einmal keine weiteren Wahrheiten repräsentieren und von den sozialen, politischen, kulturellen und nicht zuletzt wissenschaftlichen Diskursen, welche sie prägen und verwenden, immer erst mit eigenen Bedeutungen angefüllt werden müssen. Und wenn wir uns darüber bewusst sind, dass Texte nicht die Klone der durch sie repräsentierten Wirklichkeit darstellen, wissen wir auch, dass es in Wirklichkeit vor allem die Umwelten der Produktion und der Rezeption dieser Texte sind, die mit ihren menschlichen und institutionellen, ihren natürlichen und technischen Akteuren die entscheidende Wirklichkeitsebene darstellen. Jenseits der „bloßen“ Textreproduktion und Textinterpretation gilt es also vor allem, die Umwelten der von uns gelesenen Texte zu untersuchen. Doch auch diese begegnen uns ausschließlich in textueller Form und stellen ihrerseits Basistexte dar, für die die von uns zuerst gelesenen Texte selbst nichts anderes als Umwelt sind. Es geht also immer um Texte. Und diese zu lesen bedarf es einiger Kompetenzen. Bewusster noch als etwa ein Germanist oder auch ein Ingenieur, die sich mit ihren Forschungen ausschließlich in ihrer eigenen Sprache und den dieser zugrunde liegenden Umwelten, Epistemen und Ontologien bewegen, hat sich dabei der Sinologe über die Inhaltsebene der Texte hinausgehend auch zu ihrer spezifischen - fremden - textuellen und medialen Form zu verhalten. Dass er in seiner Arbeit zum unaufhörlichen Übersetzen auf vielerlei Ebenen gezwungen ist und sich in ihm teilweise unbekannten Umwelten bewegt, erfordert zwar einen erheblichen Mehraufwand. Dieser ist aber dadurch, dass das Übersetzen die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung nicht nur mit dem Gegenstand sondern auch mit dessen Strukturen und Anordnungen beinhaltet, auch mit einem zusätzlichen Erkenntnisgewinn verbunden, der etwa den germanistischen Studien nicht implizit ist. Nur dadurch, dass der Sinologe und Chinawissenschaftler sich seiner eigenen epistemologischen und ontologischen Ausgangsposition vergewissert, kann er sich nämlich überhaupt der kulturellen Spezifik seiner Beobachtungsobjekte bewusst werden und durch die nicht nur sprachliche sondern auch kulturelle Entschlüsselung ihrer Bedeutungsebenen zu den Referenzumwelten vordringen, welche ihre Bedeutungsstrukturen bedingen. Text und Akt der Wahrnehmung, darüber muss der Studierende und Wissenschaftler sich im Klaren sein, sind immer von symbolischer Art und verweisen somit sowohl auf die Kultur des Wahrnehmungsobjektes wie auch auf das eigene symbolische System und die mit ihm verknüpften sozialen Umweltbedingungen und sprachlichen Kodierungssysteme, innerhalb von deren Grenzen die Wahrnehmung und Konstruktion des Objektes = Textes als Forschungsgegenstand stattfindet. Forschung beruht demnach, wie dem Sinologen durch seine Übersetzungsnotwendigkeiten immer wieder ins Bewusstsein gerufen wird, in den Wissenschaften des Geistes, die tatsächlich ja nicht den Geist selbst sondern immer nur die Vertextlichungen und Repräsentationen von Geist betrachten können, vor allem auf einer möglichst umfänglichen Textlektüre. Das im Übrigen gilt im selben Maße auch für die Wissenschaften der Natur. Denn auch diese betrachten ja keine „reine“, ausschließlich für sich selbst stehende, anästhetische Natur oder gar deren „Gesetzlichkeiten“. Vielmehr konstruieren auch sie die Ereignisse und Objekte ihrer Forschung recht eigentlich erst 173 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin durch ihre sprachliche resp. kulturelle Aneignung, durch die Benennung und Kategorisierung von in der Natur Unbenanntem und Ungeordnetem. Und damit verweisen sie, wie es der Sinologe auf der Grundlage seiner eigenen Forschungserfahrungen den weniger selbstreferentiell mit ihren Objekten und ihrem eigenen Blick auf dieselben verfahrenden Fachvertretern der anderen Disziplinen mitzuteilen berufen ist, mehr auf die eigene Sprache und die eigenen Diskursanordnungen als auf eine etwaige „Realität“ der Natur oder gar auf eine allgemeine „Wahrheit“ von deren Erfahrung. Wissenschaft bedarf folglich immer der Fähigkeit, die Objekte der Untersuchung in ihrem Erscheinen als symbolische Formen zu verstehen, um sie als solche dekodieren und mit großer Sensibilität gegenüber den Bedingungen des eigenen Erkenntnissystems in dessen Diskurse übersetzen zu können. Im Falle der chinawissenschaftlichen Forschung bedarf es dazu - wie es bis zu diesem Punkt auch auf eine jede andere Disziplin zutrifft - einer möglichst umfängigen Kompetenz hinsichtlich des Umgangs mit der betrachteten (chinesischen) Kultur und ihrer sprachlichen Kodierungssysteme im Sinne des genannten Textverständnisses. Das setzt zum einen die formale Sprachkompetenz, wie sie Andreas Guder in diesem Band vorgestellt hat, zum anderen die Fähigkeit der von Philip Clart angemahnten - wissenschaftlichen - Lektüren der somit in ihrer Symbolhaftigkeit zu erfassenden und auf ihre natürlichen und sozialen Umwelten rückzubeziehenden Texte voraus. Zudem bedarf es, wie von Hans van Ess beschrieben, immer und unabhängig vom konkreten Forschungsgegenstand der geisteshistorischen Beschäftigung mit der spezifischen Form der Weltkonstitution, wie sie sich in den Texten sich einer chinesischen Kulturgemeinschaft zughörig fühlender und auf deren Gemeinschaft und ihre symbolischen Systeme verweisender Autoren darstellt. Denn nur so wird es gelingen, die erforschten Texte zumindest teilweise an die Umwelten ihrer Denotation wie ihrer Konnotation anzubinden und erst dadurch zu einer relevanten Interpretierbarkeit derselben vorzustoßen. Die in dieser Dreiheit von Spracherwerb, Lektürefähigkeit und des dazu notwendigen Wissens hinsichtlich der diskurshistorischen Grundlagen von Sprache zu erlangende Textkompetenz setzt auf einen möglichst umfänglichen Erkenntnisgewinn und auf möglichst breite wie zugleich tiefgreifende Kompetenzen hinsichtlich des Objektes „China“ und aller darunter zu begreifenden Ereignisse und Dinge (zur Methodik der kulturellen Textanalyse vgl. einführend Danesi; Perron 1999). Die philologische Textarbeit in ihrem politik-, sozial- und ontologiekritischen sowie selbstreferentiellen Gewand stellt somit die grundlegende Voraussetzung für eine weitergehende Beschäftigung mit spezifischen Phänomenen und disziplinären Problemstellungen der Chinaforschung dar. Diese Problemstellungen sind in diesem Band in den Beiträgen von Nicola Spakowski, Merle Schatz, Christian Göbel, Björn Ahl und Andrea Riemenschnitter zu den Bereichen von Geschichte, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft, Rechtskultur sowie den spät- und postmodernen kritischen Wissenschaften verhandelt worden. Diese Liste lässt sich, wenn es die sich vor allem an gesellschaftspolitischen Bedürfnissen orientierenden Hochschulangebote einmal hergeben sollten, durchaus noch um andere Disziplinen erweitern, die bislang noch keine akademische Aufmerksamkeit gefunden haben. Durch ihre Anbindung an den methodischen Rahmen der etablierten Fachdisziplinen gewinnt die Chinaforschung einen systematischen und problemorientierten Charakter, der weit über das „bloß“ rekonstruierende Informieren über China und dessen Phänomene hinausgeht. Erst durch die Aneignung von disziplinären Wissenschaftssprachen, darauf haben in diesem Band insbesondere Christian Göbel und Nicola Spakowski hingewiesen, treten 174 4. Umleitungen die chinawissenschaftlichen Disziplinen in einen allgemeinen Wissenschaftsdiskurs ein. Indem sie sich nach ihrer vor allem auf die Vermittlung von Informationen „über“ China abzielenden Frühphase seit den 1970er Jahren erstmals dadurch von den natürlichen Alltagssprachen abzugrenzen begonnen haben, dass sie den methodischen Disziplinen dahingehend folgen, den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr schlichtweg zu wiederholen sondern ihn zu beobachten, ist die Chinaforschung wissenschaftlich diskursfähig geworden. Dabei hat sie sich in ihren elaborierteren Weiterentwicklungen aber nicht einfach den Metawissenschaften wie der Soziologie, der Linguistik, der Literatur- und Medienwissenschaft oder den Geschichtswissenschaften ein- und untergeordnet. Vielmehr hat sie es dort, wo man bereit war, in den zunächst inter- und schließlich transdisziplinären Diskurs einzusteigen, mehr und mehr vermocht, zugleich auch deren Leerstellen und blinden Flecken zu besetzen. Regionalwissenschaftliche Fächer wie die Chinawissenschaften, das wird insbesondere in den Beiträgen von Merle Schatz und Björn Ahl in diesem Band deutlich, konnten den kulturell nicht differenzierenden und also oftmals von ihren eigenen Umwelterfahrungen und ontologisch-epistemologischen Ausgangsbedingungen her universalistisch, mithin kolonialistisch argumentierenden Wissenschaftssystemen der methodischen Fächer ihrerseits kulturelle und sprachliche Kompetenzen hinzufügen. Mit diesen ist es inzwischen besser als bis dahin gelungen, die Welt in der tatsächlichen Vielfalt ihrer Erscheinungsformen zu beobachten. Eine zielführende und erfolgreiche Chinaforschung, darüber sind sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes einig, beruht immer auf der Kombination von philologischer Feinarbeit mit der Erarbeitung von Kontexten sowie einem für die Extrahierung von Wissen aus den vorgefundenen Texten unabdingbaren methodischtheoretischen und handwerklichen Rüstzeug. Wissenschaft nämlich, darüber sollte sich jeder Studierende von Beginn seines Studiums an im Klaren sein, beschränkt sich nicht auf ein Informieren über China. Sie besteht vielmehr immer und unabhängig von den Disziplinen in der Beobachtung und Erfahrung von Wirklichkeit (Textlektüren) und deren systematischer Abstraktion in Begriffe, Modelle und Theorien. Diese werden ihrerseits entlang der Beobachtungen und Erfahrungen aktualisiert und weiterentwickelt, bevor sie schließlich auf neue Beobachtungen und Erfahrungen angewendet werden können, womit eine neue Runde dieser Wissensspirale eingeläutet wird. Dabei stellt, um das zu konkretisieren, die sich durch die Lektüre möglichst tiefgehender Texte zum jeweiligen Forschungsgegenstand sowie deren Einbettung in möglichst weitreichende Kontexte erstellende Gelehrtheit die Grundlage einer jeden Forschung dar. Zu Wissenschaft wird dieses Wissen in nachfolgenden Schritten durch seine Anreicherung mit den Fragestellungen und Lösungsmodellen der methodischen Wissenschaften. Sie bestehen im allgemeinsten Sinne immer darin, die Beobachtungen und Erfahrungen an bereits vorher vorhandenes Wissen anzubinden. Die dabei aufgegriffenen und aktualisierten Begriffe, Modelle und Theorien stellen die Sprache der Wissenschaft sowie deren Erkenntnisrahmen dar. Sie lassen sich in weiteren Schritten neuen Beobachtungen und Erfahrungen an die Seite stellen, um diese einordnen und vergleichend bewerten zu können. Dadurch lässt sich gegebenenfalls der Erkenntnisrahmen einschränken, erweitern oder auch verschieben, um die bekannten Begriffe, Modelle und Theorien den neu gemachten Erkenntnissen anpassen und so die eigenen Voraussetzungen für die Generierung weiterer Erkenntnisse aus nachfolgenden Beobachtungen optimieren zu können. Zumindest auf einen der Leerstellen und blinden Flecken dieser Form der Beobachtung von Welt und der Generierung von Wissen vermögen die Sinologie und die 175 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin Chinawissenschaften allerdings außerdem noch zu reagieren, um damit zur Weiterentwicklung der weltweiten Wissensdiskurse beizutragen. In seinem Modell eines „Encoding, decoding“ hatte bereits Stuart Hall von dem Beziehungsgeflecht zwischen Denotation und Konnotation berichtet und dabei auch auf die Akteure in diesen Bedeutungsbildungsprozessen hingewiesen. Deren Denken nämlich unterläge spezifischen ontologischen und sprachlichen Bedingungen und verweise somit den Blick auf die Anordnungen derselben selbst. Von dort her war Hall auf die Problematik der politischen Verfasstheit von Sprache gekommen und hatte deren Bedeutung für die Wissensdiskurse und also für die Erkenntnis selbst in das Zentrum seiner Forschung gerückt. Andere Autoren, so insbesondere solche der poststrukturalistischen französischen Philosophie, Psychologie und Kulturwissenschaft von Jacques Lacan (1978) über Roland Barthes (2012) zu Jacques Derrida (1997, 2006) und Gilles Deleuze (1993, 2007; gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari 2000, 2010) haben die Zusammenführung von textmit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen durch Stuart Hall und seine Nachfolger im Bereich der British Cultural Studies (vgl. During 1993) und deren Extensionen und Weiterentwicklungen weitergedacht in Richtung einer transdisziplinären Ontologie und Epistemologie. Ihre Forschung und ihre Überlegungen haben der Philosophie in ihrer immanenten, vorakademischen Form Eingang in die Wissenschaften verschafft und dabei erkenntniskritische Fragen aufgeworfen, wie sie die Wissenschaften in ihren standardisierten Hegemonialmodellen und ihrer grundsätzlich rational-logozentristischen Ausrichtung und eurozentristischen Weltsicht eigentlich längst nicht mehr zu denken gewagt und ihre diesbezüglichen Kritiker entsprechend sanktioniert hatten. Der weltweite Abschied vom „westlichen“ Kolonialismus seit den 1950er Jahren, die neoliberale Globalisierungswelle der postindustriellen Kapital- und Güterzirkulation sowie die - noch längst nicht erfolgreich abgeschlossenen - politischen Neuordnungen nach dem Ende des Kalten Krieges haben seit den 1980er Jahren die Situation merklich verändert. Nicht nur hat sich inzwischen die Lern- und Forschungssituation an den Universitäten selbst mehr und mehr an die neoliberalen Strukturen und an ein Effizienzdenken angepasst, das dem ursprünglichen Gedanken der Zweckfreiheit, aus dem heraus die Mehrzahl der geistigen und technischen Entwicklungen unserer Gesellschaften einst entstanden ist, grundsätzlich zuwider läuft. Damit sind die Wissenschaften in den letzten Jahren und Jahrzehnten erstmals seit ihrem Aufkommen an der Seite der säkularen Philosophie und der technischen Erfindungen in der europäischen Neuzeit und ihrem Siegeszug in der industriellen Moderne wieder in die Lage geraten, die ihr voranschreitenden Prozesse dieser Welt(en) nicht mehr annähernd hinreichend beschreiben und erklären zu können. Das liegt, wenn auch nicht zur Gänze so doch zumindest zu Teilen, daran, dass die Wissenschaften in ihren Mainstreamdiskursen mehr und mehr dazu übergegangen sind, die Bedingungen der Beobachtung von Welt an ihre Modelle anzupassen anstatt, wie oben beschrieben, die Modelle entlang der Beobachtung von Welt weiterzuentwickeln, um dadurch auch zu neuen Perspektiven der Beobachtung selbst zu gelangen. Die Begriffe des Denkens und Wahrnehmens in einer durch die Episteme und Ontologien der „westlichen“ Moderne geprägten Wissenschaft haben die Logozentrismuskritiker insbesondere der philosophischen Dekonstruktion seit den 1960er Jahren und der sich dieser anschließenden Disziplinen in den Fokus genommen. Sie sind dabei allerdings zumeist nicht über die bloße Kritik hinaus gekommen oder gar dahin gelangt, selbst Alternativen anzubieten, wie sie notwendig wären, die Beobachtung der Welt in ihrer tatsächlichen Vielfalt aufzunehmen und die Bedingungen der 176 4. Umleitungen Beobachtung wieder an deren „Objekten“ auszurichten. Immerhin haben sie mit ihrer Fokussierung auf Sprache und Begriffe sowie ihrer Logozentrismuskritik den Pfad für solche Alternativen dahingehend gelegt, dass China und mit ihm eine metaphysisch argumentierende Sinologie, deren Gegenstände überwiegend nicht von euro- und logozentristischen Normativitäten eingeengt sind, sich nunmehr aufmachen können, solche Alternativen anzubieten, wie sie den aus dem eigenen System heraus argumentierenden Dekonstruktivisten noch verwehrt waren. Neben der philologischen und disziplinär-wissenschaftlichen Beschäftigung mit China, wie sie in diesem Band in ihren wesentlichen Facetten vorgestellt worden ist und den Rahmen des allgemeinen wie China-bezogenen wissenschaftlichen Studierens und Arbeitens absteckt, kann die Chinawissenschaft und können Studierende und Absolventen von deren Fächern der Wissenschaft und Welt in dieser Hinsicht also noch einen weiteren wesentlichen Erkenntnisbeitrag beisteuern. Dieser wird zwar nur selten in den Curricula der chinawissenschaftlichen Institute expliziert. Nichtsdestoweniger stellt er gerade in dieser immer enger zusammenrückenden, dabei aber auch immer mehr von Auseinandersetzungen um Deutungs- und Bedeutungshoheiten geprägten globalen Gegenwart einen maßgeblichen Mehrwert für die wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Diskurse in eben dieser Welt dar. Es geht dabei nicht um das, was in einigen chinawissenschaftlichen Seminaren noch immer unter dem Begriff der „Interkulturalität“ oder der „Interkulturellen Kommunikation“ verhandelt wird. Diese befördert nämlich in Wirklichkeit keineswegs das Verstehen zwischen „zwei Völkern“, worin ursprünglich ihr Anspruch bestand und nach wie vor die Inhalte einer sich leider ausschließlich an äußerlichen Merkmalen von gesellschaftlichen Spezifika orientierenden „Ausbildung“ von Spezialisten für das Fremde bestehen. Wenn man aber den Begriff des „Fremden“ wörtlich nimmt, stellt dieser im Zusammenhang mit dem „Inter“ einen unauflöslichen Widerspruch dar. Solange es nämlich fremd ist, lässt sich auch keine Kommunikation zu ihm errichten. In dem Moment aber, in dem man es kennenlernt und damit zwangsläufig in seine eigenen Sprach- und Wissenskontexte einbettet, stellt es auch nicht mehr das Fremde dar, das es nur so lange sein kann, wie man keinerlei Wissen und also auch keine Begriffe von ihm hat. (vgl. Baecker 2000) Nun ist es aber durch seine „Lektüre“ und durch seine Erfassung mit den Mitteln der eigenen Sprache zum Teil des eigenen Selbstverständnisses geworden und vom eigenen Erkenntnisraum mit seinen ganz eigenen Rahmen absorbiert worden. Es ist, wie Dirk Baecker in seiner unbedingt empfehlenswerten kleinen Studie zu unserem Kulturbegriff anschaulich darlegt, vom unbekannten Fremden zum sehr wohl bekannten Anderen geworden. Dieses stellt einen unabdingbaren Teil des eigenen Ich seines Wahrnehmenden und des Wir seines Kollektivs dar, existiert damit aber in seiner ganz eigenen Spezifik, die zugleich eine für den Wahrnehmenden nicht verständliche Sprache bedeutet und somit zwangsläufig im Kennenlernprozess in dessen Sprache übertragen wird, für diesen schlichtweg nicht mehr. Von diesem Problemfeld her richtet sich die Chinawissenschaft, die sich im Übrigen mit einer Kultur auseinanderzusetzen hat, welche selbst überhaupt keinen unserem Verständnis adäquaten Kulturbegriff entwickelt hat, neben der auf eine grundlegende Gelehrsamkeit ausgerichteten philologischen Wissensgenerierung und den an diese anknüpfenden und sie in die Wissenschaftslandschaft einbettenden methodischdisziplinären Fragestellungen notwendigerweise immer auch auf die grundlegenden philosophischen und wissenschaftstheoretischen Probleme. In ihrem Zentrum kann somit auch längst nicht mehr das in wohlwollenden und gerade dadurch unvermindert kolonialistisch auftretenden postkolonialen Kontexten etablierte „Inter“ der Kul- 177 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin turen stehen, bei dem wir von unserer eigenen - nicht weiter problematisierten - Kultur und Sprache her auf unsere - vermeintlich fremden - Forschungsobjekte blicken. Vielmehr werden die textuellen Forschungsobjekte in einer transdisziplinären Betrachtung zum Basismaterial für eine sich an ein „chinesisches Denken“ resp. an das Denken und Repräsentieren chinesischer Autoren anbindende philosophische Debatte. Diese muss die vorausgesetzte Trennung zwischen dem Subjekt (wir) und dem Objekt („China“) der Forschung zunächst einmal überwinden, um sie entlang des dialogischen Diskurses und im Bewusstsein ihrer jeweiligen Konstruktionsbedingungen möglicheraber nicht notwendigerweise wieder neu entstehen lassen zu können. Das geschieht dann allerdings nicht mehr auf der Basis der normativen Kategorien des Wissenschaftsdiskurses sondern auf derjenigen von Dialog, Beobachtung und einer genauso ontologiekritischen wie selbstreflexiven Verwendung der Sprachen des Eigenen wie auch derjenigen des Anderen (vgl. Derrida 1997). Der Diskurs wird somit nicht mehr, wie noch im wissenschaftlichen Diskurs, „über“ das vermeintlich Fremde sondern entlang desselben und schließlich auch entlang des immanent Eigenen geführt und ermöglicht somit Erkenntnisse sowohl über den Gegenstand „China“ (so sich dieser denn dann überhaupt noch als solcher aufrecht erhalten lässt) wie auch über die eigene Position des Forschers. Deren Differenz kann sodann nicht mehr die Voraussetzung der Forschung sondern allenfalls noch ein stets zu evaluierendes und zu aktualisierendes Ergebnis des Dialogs sein, der diese zwar nicht ersetzen aber, im Verständnis einer Erweiterung der philologischen Feinarbeit, um wesentliche Fragestellungen und Sollbruchstellen hinsichtlich ihrer Selbstverständnisse ergänzen kann und muss. Eine sich am philologischen Diskurs anlehnende, diesen aber zugleich erkenntniskritisch erweiternde Sinometaphysik nach diesem Verständnis kann die Wissenschaften dadurch ergänzen, dass sie erkenntnistheoretisch auf gänzlich anderen Voraussetzungen beruht und in völlig andere Diskursanordnungen als jene eingebettet ist. Demnach folgt sie auch anderen Interessen und Zielen als die methodische, zwar sich selbst, nicht aber ihre ontologischen und epistemologischen Ausgangsbedingungen beobachtende Wissenschaft. Sie unterscheidet sich aber auch von der politischen und allgemeinen Rede, vom Alltagsdiskurs, welcher maßgeblich auch einer sich selbst erkenntnistheoretisch nicht reflektierenden China-Gelehrtheit zugrunde liegt. Metaphysik nämlich, auf welche die Philosophie hier eingegrenzt wird, ist keine Wissenschaft, genauso wenig wie Wissenschaft, auch eine solche, die sich mit philosophischen Diskursen beschäftigt, der Philosophie zuzurechnen ist. Worin aber besteht der Mehrwert einer Sinometaphysik gegenüber den vielfältigen bereits vorliegenden philosophischen Diskursen zur Metaphysik von den antiken griechischen Philosophien, die diesen Begriff geprägt hatten, bis hin zur Dekonstruktion, die ihre - bislang - letzte große Strömung begründet hat? Die Sinologie bewegt sich innerhalb eines Forschungsfeldes, dessen Gegenstände, wenn man sie denn ernst nimmt, die Studierenden und Forschenden quasi dazu zwingen, sich über die Grenzen ihres eigenen ontologischen und epistemischen Raumes hinaus zu bewegen und sich mit anderen Erkenntnisräumen und, um sich diesen gegenüber positionieren und sie nur so erfassen zu können, auch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dadurch kann sie besser als die meisten anderen Disziplinen dazu beitragen, die Rahmungen der Gelehrsamkeit und des rational-wissenschaftlichen Denkens und Repräsentierens der Neuzeit und industriellen Moderne, wenn auch nicht zu überwinden, so doch zu verschieben, um neuen Wirklichkeiten und Möglichkeitsräumen von Wissen und Erkenntnis Einlaß in die eigenen Diskurse wie auch in die Diskurse über das Eigene zu 178 4. Umleitungen gewähren. Es sind aber nicht die Inhalte sondern die Grenzmarkierungen und Zwischenräume des unsere Gegenwart beherrschenden onto- und logozentristischen wissenschaftlichen Denkens, an welche die Sinometaphysik ansetzen kann, um das Denken der Differenz zu überwinden. Es geht vielmehr darum, seinen Anordnungen Alteritäten hinsichtlich der für eine Beschreibung der gegenwärtigen und zukünftigen Welt neu zu definierenden und auch in Zukunft unaufhörlich zu evaluierenden und zu aktualisierenden Erkenntnisräume anzubieten. Die in den Fokus zu nehmenden Grenzmarkierungen ergeben sich dabei vor allem aus der - den Blick für vom in der industriellen Moderne definierten Mainstream abweichende Erkenntnisformen einengenden - Beschränkung der gegenwärtigen Wissenschaften auf die zwei bekannten Beobachtungsebenen. Es handelt sich zum einen um diejenige des Objektes, die die Wissenschaft, wenn sie sich vor allem unter dem Aspekt der Gelehrsamkeit versteht, mit dem allgemeinen Denken teilt und in dessen Sprachrahmen sie bisher unausweichlich gefangen war. Diese erste Beobachtungsebene ist, anknüpfend an Überlegungen der Kybernetik, des radikalen Konstruktivismus und der Systemtheorie, erst in den jüngeren - methodischen - Chinastudien durch eine zweite Beobachtungsebene, diejenige der Selbstbeobachtung, ergänzt worden. Indem damit zugleich eine eigene wissenschaftliche Sprachprägung und die dadurch ermöglichte Abstraktion eingeführt worden ist, konnten der bloßen Erfahrung, welche die Wissenschaften bis dahin geprägt hat, das Modell und damit der „objektive“ Vergleich und Beweis, die Empirie, hinzugefügt werden, um somit eine standardisierte - wissenschaftliche - Kommunikation und Erkenntnis zu ermöglichen (vgl. Luhmann 1998). Der blinde Flecken dieser Form der ontologischen Standardisierung liegt darin, dass es sich bei ihr immer um ein System handelt, das sich mit seinen Objekten ausschließlich von innen heraus beobachtet und analysiert. Aus der Perspektive der Sinometaphysik bedeutet das allerdings gegenüber der das Beobachtungssubjekt noch viel stärker mit in den Bedeutungsprozess einbeziehenden Hermeneutik (vgl. Gadamer 1975), in deren Tradition sich dann auch die bereits zitierte Dekonstruktion gesehen hat, einen Rückschritt im Erkenntnisprozess. Der sich in diesen Strömungen weiterentwickelnde Konstruktivismus hat zwar die Konstruktionsbedingungen von Wirklichkeit erstmals systematisch in den Fokus genommen und den Wissenschaften damit zu einem - geistigen - Quantensprung verholfen. Dabei hat er bei seinen Bemühungen um die Herstellung von Kommunikation, die sich allerdings auf die Angehörigen des eigenen Systems - von eurozentrischer Wissenschaft - beschränkt, in Kauf nehmen müssen, dass der Analyst nicht anders kann, als die sprachlich-ontologischen Bedingungen seines Beobachtens auch auf seinen Gegenstand anzulegen und diesen damit seinem eigenen Erkenntnisrahmen einzuverleiben und auf dessen Episteme und Begriffe zu reduzieren. Die dabei gewonnene Erkenntnis löst sich somit in einer doppelten Negation auf und ist unausweichlich innerhalb der Grenzen des Systems gefangen, welches doch eigentlich Gegenstand der Reflexion sein sollte. Und dieses System ist seinerseits unausweichlich durch die normativ an die Logik gebundenen Ontologien des Erkenntnisraums geprägt, welche die europäischen Wissenschaften mit der Einführung des cartesianischen Dualismus ja recht eigentlich erst begründet hatten. Dabei wird der Begriff der Logik allem wissenschaftlichen Denken zugrunde gelegt. Die Logik, die wir kennen, baut allerdings auf vier begrifflichen Grundprinzipien auf, die sich nicht einfach auf ein anderes ontologisches System wie dasjenige Chinas übertragen lassen, das teilweise nicht einmal adäquate Begriffe für die hier verhandelten Prinzipien eingeführt hat. Es sind diejenigen der Identität, der Binarität 179 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin zwischen wahr und falsch, des ausgeschlossenen Dritten, nach dem es nicht ein sowohl als auch von wahr und falsch geben kann, und schließlich des hinreichenden Grundes, nach dem jedes Urteil unabhängig von seinen Grundlagen auf seine ursprüngliche Unterscheidung als Axiom zurückführbar sein muss. Logik, diese Erkenntnis wird sich bei der Auseinandersetzung mit den Wissenssystemen Chinas und spätestens beim Versuch, ihre Kategorien in die klassische chinesische Schriftsprache zu übertragen und in deren Diskurse einzufügen, zwangsläufig einstellen, ist also kein Naturgesetz, das sich beliebig in alle kulturellen Zeiten und Räume übertragen ließe. Diese Erkenntnis der kulturell-sozialen Relativität aller Begriffe, die wir geprägt haben, um unsere Wahrnehmung von Welt zu sortieren, also zu reduzieren, und zu kommunizieren, ist der grundlegende Ansatzpunkt für eine erkenntniskritische Sinometaphysik. Die Natur (die als Begriff überdies ja selbst nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein kulturelles Phänomen ist) nämlich, auf deren Abbildbarkeit die - mimetischen - „westlichen“ Wissenschaften setzen, kennt keine solche Ordnung, wie sie das Erkenntnisziel einer jeden wissenschaftlichen Forschung darstellt, und ebensowenig kennt sie Begriffe, welche die Phänomene zu Entitäten und Ereignissen formen. Die Idee, der Natur eine Form zuzuschreiben, stellt tatsächlich nichts anderes als ein soziales Handeln dar. Das aber bedeutet, dass sie die Möglichkeit von Alternativen in sich trägt. In Wirklichkeit hat sie demnach keine natürliche Struktur sondern eine kulturelle Architektur, die weniger auf eine „natürliche“ Umwelt, welche durch die Begriffe abgebildet wird, als vielmehr auf die sozialen Umwelten der jeweiligen Gemeinschaft verweist, die eben diese Begriffe prägt. Und wenn das schon auf die vom Menschen unbeeinflusste Umwelt, die Natur, zutrifft, dann umso mehr auf die vom Menschen geformte Umwelt, die Kultur. Genauso wie die Wissenschaft, die also selbst ein Produkt von Kultur darstellt und somit die Regeln, die sie der Natur wie auch den von ihr beobachteten Sozialsystemen zuschreibt, in Wirklichkeit erst begrifflich erschafft, bestehen Natur wie Kultur aus einer Anordnung von begrifflichen Grundannahmen und Ableitungen, die ihrerseits immer neue Grundannahmen und sich aktualisierende Begriffe mit weiteren Ableitungen produzieren. Wissenschaft als Beobachterin dieser Phänomene und Ereignisse stellt demnach, wie es uns die Dekonstruktion vor Augen geführt hat, nicht mehr als eine unendliche lineare Signifikantenkette von Begriffen dar, über deren Begrenzungen sie auch nicht hinauszugehen vermag. Die Problematik dabei liegt darin, dass diese Begriffe infolge der normativen Setzung moderner Wissenschaftlichkeit nach dem Diktat der - selbst ja ausschließlich begrifflich argumentierenden - Logik in einer Weise mit der beobachteten Wirklichkeit verwechselt werden, dass sie in den Diskursen „westlicher“ und globaler Wissenschaft einen Anspruch auf universelle Wahrheit erhalten haben. Dabei hat das sprachliche System der Wissenschaften alle Alternativen von vorne herein ausgeschlossen, und auch die institutionalisierte Philosophie, die sich durch ihre Eingliederung in die Akademien den Bedingungen derselben weitestgehend unterworfen hat, ist zu einem immanenten Teil dieses Systems geworden und daher kaum in der Lage, eine Beobachterposition gegenüber dem System einzunehmen, einen „anderen Raum“ der Heterotopie zu besetzen. Wissenschaft nämlich versteht sich, wie wir es seit Immanuel Kant wissen, vor allem als ein System der Verbegrifflichung von Erfahrung. Der Zweck der Bildung von Begriffen indes besteht vor allem darin, Erfahrung, deren Möglichkeitsräume tatsächlich unendlich sind, durch ihre Reduktion auf ein vorgegebenes sprachliches Repertoire zu ordnen und somit einer - wissenschaftlichen - Gemeinschaft, die dieses Repertoire teilt und im immanenten Diskurs immer wieder aktualisiert und an neue 180 4. Umleitungen Erfahrungen anpasst, kommunizierbar zu machen. Bei einer gegen unendlich tendierenden Zahl von Gedanken und sinnlichen Wahrnehmungseindrücken stehen uns nur recht wenige gebräuchliche sprachliche Zeichen zur Verfügung, bei weitem aber nicht so viele, um damit unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit auch nur annähernd zu erfassen. Aber selbst wenn es tatsächlich möglich wäre, jeden Gedanken und jeden Eindruck sprachlich zu erfassen, verlöre die Sprache, wenn sie ihnen gerecht werden und auf Reduktionen verzichten würde, ihren Sinn. Auf die Wahrnehmung des Einzelnen reduziert und somit aus ihrer Funktion eines gesellschaftlichen Regelungsmechanismus entlassen, wären sie schlichtweg nicht mehr kommunizierbar. Bedeutungen ergeben sich, das bleibt festzuhalten, immer erst aus ihren begrifflichen Reduktionen und Kategorisierungen, die aber - als Dritte und Außenstehende - streng genommen dem inhärenten System der Logik widersprechen. An dieser Stelle der Erkenntnis, dass Sprache, wie ein jeder Sinologiestudent schon aus dem Vergleich seines eigenen Sprachsystems mit dem Chinesischen und aus den Wandlungs- und Austauschprozessen beider weiß, immer offen ist, setzt die Sinometaphysik an. Sie deckt im Diskurs entlang Chinas und im Dialog mit China die ja auch von zahlreichen „westlichen“ Philosophen von Henri Bergson über Alfred North Whitehead bis hin zu Gilles Deleuze - wenn auch ausnahmslos in Nischendiskursen, die den Mainstream nicht erreicht haben - angemahnte Lücke der allgemeinen wie auch der wissenschaftlich normierten Erkenntnis in der sprachlich-ontologischen Selbstbeschränkung von deren rational-modernen Erkenntnissystemen auf. Damit kann sie in einen Dialog mit den Kritikern der „westlichen“ Ontologie und Epistemologie treten und mit diesen gemeinsam an der Generierung von Alteritäten arbeiten - dies mit einem maßgeblichen Erkenntnisgewinn sowohl hinsichtlich der chinesischen Beobachtungsobjekte wie auch hinsichtlich der eigenen Beobachterposition. Die Philosophie, an deren Grundprinzipien dabei angeknüpft wird, war ja vor ihrem Eintritt in die Akademien ursprünglich einmal angetreten, um aus den Erfahrungswelten heraus ideale Wirklichkeiten zu konzipieren und diese der Politik und Gesellschaft mit ihren Institutionen (u.a. den Wissenschaften) als Ideen zur Evaluation und ggf. Verwirklichung anzubieten. Eine Sinometaphysik betreibt in diesem Sinne nicht die philologische oder geisteshistorische Untersuchung von Texten chinesischer Philosophen, wie sie im Kapitel zur chinesischen Geistesgeschichte bearbeitet worden sind. Deren Kenntnis stellt allerdings eine unabdingbare Voraussetzung für ihre Arbeit dar. Und genausowenig ist damit die Lektüre und wissenschaftliche Aufarbeitung von - vor allem dem eigenen kulturellen Diskurs entsprungenen und auf diesen verweisenden - philosophischen Ideen sowie deren Anwendung auf sich innerhalb des eigenenen sozialen und Wahrnehmungshorizontes wandelnde Diskursanordnungen gemeint, obgleich auch diese Lektüre eine unabdingbare Voraussetzung für den sinometaphysischen Diskurs ist. Wenn hier die Philosophie in Anlehnung an den ursprünglichen Gedanken des Philosophierens als eine - auch - sinologische Disziplin vorgeschlagen wird, dann ist damit vielmehr die gegenüber der naiven Beobachtung des allgemeinen Diskurses und der durch die Beobachtung der Beobachtung zu normativer Struktur angereicherten Beobachtung der Wissenschaft hinzugefügte dritte Beobachtungsebene gemeint. Mit deren Einführung erhoffen wir uns weitere Ergänzungen zu den Antworten auf die Fragen der Gegenwart, wie sie das Wissen und dessen Interpretation und Analyse auf den beiden anderen Beobachtungsebenen bereitstellen. Die dritte Ebene der Beobachtung, die unabdingbar auf den beiden beschriebenen Beobachtungsebenen der allgemeinen und wissenschaftlichen Erkenntnis beruht und von diesen zu lernen hat, die aber auch ihrerseits jenen einen wichtigen Beitrag 181 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin zu leisten imstande ist, vermag im besten Fall einer Quadrierung und Schließung des Kreises in einer quasi postphilologischen Sinologie aufzugehen. Ihr geht es darum, Alteritäten zu den normativen Diskursen anzubieten und diese im Sprechen entlang Chinas und mit China in Wirklichkeitsräume zu transformieren. In ihrer Hinwendung zu dem, was der deutsche Philosoph Martin Heidegger einst als „die Idee der Philosophie als Urwissenschaft“ bezeichnete, verweist die Sinometaphysik damit über die wissenschaftlichen Erkenntnissysteme der industriellen Moderne und die von ihnen durchdrungenen gesellschaftlich-politischen Diskurse hinaus. Damit kann sie ein besseres Verständnis für die Ausgangspositionen unseres eigenen Denkens, Wahrnehmens und Repräsentierens wie zugleich auch einen gewissen Abstand von den Lasten des eigenen ontologischen Systems bei der Erfassung der „Wirklichkeiten“ der chinesischen Forschungsgegenstände erreichen. Nachdem die akademische Philosophie ihre Kritiker nach einer nur kurzen Blütephase der Dekonstruktion in den 1970er und 1980er Jahren inzwischen wieder weit in das diskursive Abseits gedrängt hat, sind es insbesondere sich dem methodischen Mainstream widersetzende Fächer wie die Chinawissenschaften, die durch ihre indigene Beschäftigung mit dem „Anderen“ an die von deren Protagonisten gestellten Fragen anknüpfen können. In einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Verfechtern einer doch noch existierenden selbstreferentiellkritischen Philosophie muss es ihnen unter diesen Voraussetzungen darum gehen, an einer Wiederaufnahme und Neudefinierung der metaphysischen Betrachtung erkenntnistheoretischer Fragestellungen zu arbeiten. Den Wissenschaften und Gesellschaften können dadurch neue Angebote für die Füllung der von Wissenschaft und Politik kaum noch thematisierten Lücken im erkennenden Wissen von der Welt bereitgestellt werden, das sich eben nicht auf die Binarität zwischen dem Eigenen und dem (chinesischen) Anderen oder gar auf die Darstellung einer global konformen Moderne reduzieren lässt. Eine auf diese Weise betriebene Sinometaphysik vermag es, sich mittels des ontologisch-epistemologischen Umwegs über China (Jullien 2002) ausserhalb der in Wissenschaft und Gesellschaft konventionalisierten Diskurse zu verorten. Sie ist als eine vertiefte philologische Auseinandersetzung mit den Gegenständen chinawissenschaftlichen Forschens zu verstehen. Darüber hinaus geht es aber vor allem auch um eine philosophische Auseinandersetzung mit sich selbst und mit den Grundlagen des eigenen Wissens und Denkens. Diese reflektierende Auseinandersetzung wird dadurch möglich, dass der „Umweg über China“ über die wissenschaftliche Komponente der Selbstbeobachtung hinaus auch zur Auseinandersetzung mit den Anordnungen und den Bedingungen des eigenen Beobachtens zwingt, ohne die eine relevante Beschreibung und Kategorisierung der chinesischen Beobachtungsobjekte nicht möglich wäre. Die grundlegende Voraussetzung für diese - gegenüber den im logo- und eurozentrischen Diskurs verharrenden Wissenschaften weitergehende - Auseinandersetzung liegt in der Fähigkeit des diese Maßgaben berücksichtigenden Chinawissenschaflers, neben der eigenen auch andere Diskursanordnungen und epistemische wie (onto-)logische Strukturen in Erwägung zu ziehen. Das ermöglicht es, den inzwischen in Selbstgenügsamkeit verharrenden und sich epistemologisch und ontologisch nicht mehr hinterfragenden Wissenschaften, wie sie die Akademien überwiegend prägen, einen Zweifel hinzuzufügen. Und dieser Zweifel ist der Kern dessen, was die Metaphysik als die höchste Form philosophischen Denkens in ihrem eigentlichen Sinne auszeichnet. Metaphysik bezeichnet mithin das, was Martin Heidegger 1921 in seiner Freiburger Vorlesung zur „Phänomenologischen Interpretation zu Aristoteles“ als das Fundament der Philosophie beschrieben hat, nämlich „das radikale existentielle Er- 182 4. Umleitungen greifen und die Zeitigung der Fraglichkeit; sich und das Leben und die entscheidenden Vollzüge in die Fraglichkeit zu stellen ist der Grundbegriff aller und der radikalsten Erhellung. Der so verstandene Skeptizismus ist Anfang und auch das Ende der Philosophie“ (Heidegger 1994: 35) Die Metaphysik, so wie sie von den Chinawissenschaften aufzugreifen und gemeinsam mit den philosophischen und fachwissenschaftlichen Disziplinen weiterzuentwickeln ist, lässt sich demnach nicht „nur“ im Verständnis einer wörtlichen Übertragung dieses griechischen Terminus als das Blicken hinter die Natur verstehen. Der Blick auf und also auch hinter die „Natur“ nämlich ist nur unter der Vorgabe eines begrifflichen Denkens derselben als Differenz zu dem möglich, was das Selbstverständnis des Beobachters als „Nicht-Natur“, in diesem Falle Kultur, darstellt. So wäre z.B. danach zu fragen, wie denn diese Zusammenhänge zu denken sind, wenn man etwa entlang des chinesischen Diskurses, der keine starren Binärdifferenzen eingeführt und mitnichten einer solchen ein anthropozentristisches Weltbild vorangestellt hat, von der apriori angenommenen Binärdifferenz Natur vs. Kultur absieht. Dasselbe trifft auch auf die in den Wissenschaften überwiegend als selbstverständlich angenommene Binärdifferenz zwischen der einen (der eigenen) und der anderen (hier also der chinesischen) Kultur zu. Auch sie setzt stillschweigend voraus, was die Forschung eigentlich untersuchen sollte, dadurch, dass sie in ihrer logozentrisch-dualistischen Sprache gefangen ist, allerdings gar nicht zu problematisieren in der Lage ist. Und auch hier werden wir feststellen, dass der chinesische Diskurs mit ganz anderen Begrifflichkeiten auf seine spezifischen Umweltbedingungen reagiert hat. Somit hat er auch eine sich deutlich von unserem wissenschaftlichen Verständnis unterscheidende Wirklichkeit konstruiert. Sie gilt es philologisch zu erarbeiten, um ihre Anordnungen (nicht notwendigerweise kontrastiv differenzierend sondern im besten Falle alternierend) mit denjenigen unseres eigenen Wahrnehmens und Denkens in eine Beziehung zu setzen und dadurch die eine wie die andere besser verstehen zu lernen. Es geht in der Sinometaphysik in einer Erweiterung des heideggerschen Philosophiebegriffs nicht bloß um einen Blick hinter die Natur sondern auch und vor allem um einen solchen hinter die Begrifflichkeiten, welche Kategorien wie diejenige der Natur hervorbringen, und hinter die Erkenntnisbedingungen der von den Wissenschaften im Allgemeinen prämierten dinglichen Beschaffenheit von Wirklichkeit. Wenn Metaphysik in diesem Sinne nach dem Prinzipiellen des Seins und des Seienden fragt, dann ist der Begriff des „Prinzipiellen“ aber durchaus wörtlich zu verstehen. Er bezeichnet nämlich die Rückkehr zu den „Anfängen“, zu einer vorbegrifflichen Immanenz, die sich ausschließlich aus sich selbst heraus beschreibt und in diesem Stadium der Erkenntnis (noch) keine Differenz zwischen dem Signifikat und seinen Signifikanten, zwischen dem Objekt der Beschreibung und der Beschreibung selbst, kennt. Eine Sinometaphysik, die entlang des „Umwegs über China“ die Bedingungen des eigenen Wahrnehmens und Denkens in den Fokus nimmt, bedarf zunächst der radikalen Infragestellung von deren Begriffen, Kategorien und syntaktischen Verknüpfungen. Das bedeutet, dass wir neben Kategorien wie Kultur und Natur auch weitere grundlegende Begriffe wie „Sein“ oder „Objekt“, deren sozial-ontologische Konstruktionen zentral die o.g. Aussagen bedingen, nicht weiter unreflektiert auf den chinesischen Diskurs übertragen dürfen. Wenn wir also, um das am ehesten auf der Hand liegende Beispiel zu nehmen, über China reden und an dieses etwa die Frage, „Was ist China? “ richten, dann muss uns dabei bewusst sein, dass die Ausgangsbedingungen unseres Fragens nicht im Objekt unserer Beobachtung liegen. Vielmehr sind sie vor allem in uns selbst und in unseren eigenen Umwelten angelegt, die unser Bewusst- 183 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin sein, unser Denken und unsere Sprache und nicht zuletzt auch unser Verständnis von Wissenschaft, also unsere Fragen prägen. Wir können demnach von unserem begrifflichen Werkzeugkasten her nicht zwangsläufig auf Objekte schließen, die diesem als Entitäten entsprächen. Weder hat der Begriff „China“ in seinem geopolitischen und/ oder kulturell-ethisch-sprachlichen Verständnis einen chinesischen Ursprung oder käme auch nur der Selbstbeschreibung der von uns als chinesisch titulierten Menschen über mehr als zwei Jahrtausende „chinesischer“ Geschichte nahe, noch haben Autoren, die wir dieser Kultur zuschreiben, jemals die Frage nach einem „Sein“ von China oder des Chinesischen gestellt. Letzteres wäre im Übrigen auch gar nicht möglich gewesen, weil die chinesische Sprache auch den Begriff des „Seins“ überhaupt nicht entwickelt hat und die sich dieser Sprache bedienenden Diskurse also offensichtlich auch nicht die Notwendigkeit hierzu gesehen haben. In Wirklichkeit handelt es sich sowohl beim Objekt der Betrachtung, „China“ als auch bei der hier gestellten Frage nach dessen „Sein“ um Begriffe und Zuschreibungen, die zumindest in diesem Verständnis nicht von China sondern von Europa und dessen modernen Identitäts- und Wissenschaftsverständnis ausgegangen sind. Den hier an China gerichteten Fragen liegt also nicht der chinesische Diskurs, den es - sinologisch - zu betrachten gilt, sondern derjenige der europäischen Neuzeit und industriellen Moderne zugrunde, wie er die Wissenschaften bis in die Gegenwart beherrscht. Dieser darf also keinesfalls übersehen werden, wenn man sich mit China auseinandersetzen will. So geht das Anliegen, China (oder das, was wir unter dem Begriff oder jenseits dieses Begriffs in den Fokus unserer Forschung nehmen) in seinen Wirklichkeiten zu beschreiben und dabei auch und vor allem die von dessen Akteuren stammenden Selbstbeschreibungen zu untersuchen, nahezu zwangsläufig einher mit demjenigen, sich selbst zu beobachten. Dabei geht es zudem darum, jenseits des Blicks auf das „Sein“ von Subjekt und Objekt vor allem das imaginäre Selbst zu erfassen, welches sich erst in demjenigen seines - chinesischen - Anderen konstituiert. Erst dieser Schritt führt uns zu den epistemologisch-ontologischen Konstruktionsbedingungen des Seins und seiner Alteritäten in ihrer semantisch-syntagmatischen Struktur und also hinter die konventionalisierten Begriffe und Kategorien sowie insbesondere die ihnen zugrunde liegenden Propositionen zurück zu den quasi vorbegrifflichen Immanenzen des Denkens und zu dessen Strukturen und Anordnungen. Diese verweisen sodann ihrerseits auf eine - wenn auch für uns nicht sichtbare - äußere, also nichtbegriffliche Wirklichkeit, auf welche sich alle Begriffe ja doch auf die eine oder andere Weise beziehen. Dabei wird uns der immanente Blick entlang des epistemischen Chinas lehren, dass das Sein, wenn man es unabhängig vom Seienden, also ohne ein substantielles Objekt und ohne ein substantielles Subjekt, annimmt, als Denkfigur und (Re-)Präsentationmodus keineswegs alternativlos ist und also auch nicht das Apriori des Denkens und Wahrnehmens darstellen kann. Genauso wie von einer Bedeutungsübertragung des Begriffs der „Kultur“ abzusehen ist, stellt also auch der alle Wissenschaften nach wie vor determinierende zentrale Begriff des Seins keine notwendige Konstante dar, wie uns der Blick auf China lehrt. China selbst indes liefert uns die Alternativen, mit deren Hilfe die Chinawissenschaften nicht nur zu einer genaueren Beschreibung ihrer Gegenstände gelangen sondern im selben Zuge auch an die großen, auf uns selbst verweisenden Fragen der Metaphysik anknüpfen und die Beobachtung des Eigenen schärfen können. Entlang des „Umwegs“ über das ontische und epistemische China, so wie wir dieses in seinen textlich repräsentierten Diskursen wiederfinden, geraten wir damit in die Lage, der Philosophie sowie den Wissenschaf- 184 4. Umleitungen ten und Gesellschaften Alternativen für eine Beschreibung von Welt sowie für die dazu hinreichenden sprachlichen und epistemischen Voraussetzungen anzubieten. So soll zum Abschluss dieses Bandes, noch einmal die Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung und des Zusammengreifens der drei grundsätzlichen Herangehensweisen an einen Gegenstand „China“ betont und davor gewarnt werden, für die Prämierung des einen das andere zu vernachlässigen. Erst das gelungene Zusammenspiel aller drei Perspektiven wird die Quadratur des Kreises einer erfolgreichen Chinaforschung und eines Studiums ermöglichen, das seinen Absolventen eine große Vielfalt an Möglichkeiten für die weitere Persönlichkeitsbildung und den Einsatz ihrer Kompetenzen, ihres Wissens und ihrer charakterlichen Fähigkeiten in vielfältigen Berufsfeldern, die nicht notwendigerweise mit China zu tun haben müssen, bereitstellt. So wird es nicht gelingen, relevante Aussagen über chinesische Gegenstände und Ereignisse, um die es im chinawissenschaftlichen Studium immer vor allem zu gehen hat, allein auf der Grundlage einer philologischen Quellenarbeit zu generieren. Dies trifft zumindest dann zu, wenn dabei darauf verzichtet wird, die beobachteten Gegenstände zu abstrahieren und zu verwissenschaftlichen, um sie erst dadurch von der - aus wissenschaftlicher Sicht naiven - Ebene der Gelehrtheit in den wissenschaftlichen Diskurs ein- und einer Reflexion zuzuführen. Andererseits lässt sich eine Besonderheit chinesischer Diskurse, wenn man nicht auf die Ebene von Pauschalisierungen, Essentialisierungen, ja in Klischees und Exotismen abgleiten will, vor denen auch die Wissenschaften, wenn sie sich nicht selbst beobachten und hinterfragen, nicht gefeit sind, immer nur auf der Grundlage philologischer Feinarbeit beschreiben. So bleibt diese - in dem erweiterten Textverständnis aller kulturellen Repräsentationsformen - nach wie vor unabdingbar eine grundlegende Voraussetzung für jegliches Forschen, das also auch nur auf der Basis einer soliden Sprachkompetenz in der modernen Sprache wie auch der klassischen Schriftsprache, in Lang- und Kurzzeichen, möglich ist. Nur mit philologischen Mitteln lassen sich die Erfahrungen und Beobachtungen des Forschers hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Relevanz auswählen, versprachlichen und in Begriffe fassen, die sodann strukturiert und kategorisiert werden, denen also eine wissenschaftsspezifische Ordnung zugewiesen wird, um sie somit aus der allgemeinen Alltagserfahrung herauszuheben und der Wissenschaft zuzuordnen. Die Unterscheidung zwischen dem Alltagswissen, dem auch eine philologische Gelehrsamkeit zuzuordnen ist, und einer wissenschaftlichen Ordnung des Wissens ist in diesem nächsten Schritt allerdings unabdingbar, weil sie die Voraussetzung dafür darstellt, Wissenschaft als das zu betreiben, was sie recht eigentlich darstellt. Während sowohl das Alltagswissen wie auch das wissenschaftliche Wissen auf der Beobachtung und Erfahrung von Welt resp. deren Repräsentationen beruhen, unterscheiden sie sich im nächsten Schritt des von ihnen ausgehenden Erkenntnisprozesses nämlich vehement voneinander. Dabei geht die Wissenschaft weit über den Alltagsdiskurs hinaus, indem sie sich durch die Beobachtung des eigenen Beobachtens in die Lage versetzt, Vergleiche mit vorgängigen, bereits begrifflich erfassten Erfahrungen vorzunehmen und somit zu einer Einordnung in abstrakte Kategorien und Modelle zu gelangen, aus denen heraus sich neue Beobachtungen und Erfahrungen konzeptuell und standardisiert durchführen lassen. Mit der Generierung eines wissenschaftlichen Wissens ist demnach ein gänzlich anderes Ziel verknüpft als mit derjenigen von Gelehrtheit. Die gelehrten Diskurse nämlich haben in aller Regel die soziale Funktion, die vorherrschenden und sich auf dem richtigen Weg wähnenden Hegemonen zu stützen oder aber sie im Sinne von 185 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin deren einen anderen Weg favorisierenden Widerständlern so lange zu destabilisieren, bis diese selbst ihre Diskurse behaupten und mit ihren Begriffen eine Machtposition erringen können. Damit dreht sich das Spiel zwar inhaltlich um, allerdings bleibt seine grundlegende binäre Struktur aufrecht erhalten. In beiden Fällen bleiben die Diskurse der Gesellschaft und ihrer allgemeinen Sprache verhaftet und sind ein inhärenter Teil derselben. Sie werden sich also auch nicht selbst beobachten können. In der Wissenschaft dagegen, die die der Gesellschaft inhärente Funktion einer Heterotopie, eines anderen Ortes, besetzt, geht es darum, den gesellschaftlich-politischen Diskursen durch die Einnahme einer Beobachterposition das Handwerkzeug zur Verfügung zu stellen, das notwendig ist, um die Umwelt in der Weise zu gestalten, dass sie sich in der Herausbildung von Institutionen zu einem optimalen Beziehungsgeflecht zusammenfügt. Und dieses Handwerkzeug besteht in einer durch die Beobachtung der eigenen Beobachtung und deren begriffliche Abstraktion strukturierten und von den jeweiligen Begriffen her auf neue Beobachtungen anlegbaren Sprache, welche die wissenschaftlichen Begriffe und Konzepte bestmöglich repräsentiert. Die Philosophie schließlich, so wie sie hier als Sinometaphysik eingeführt worden ist, greift von zwei Richtungen auf die Bedeutungsebenen von Wissenschaft und Politik/ Gesellschaft zu. Zum einen geht es ihr auf der Grundlage ihrer Reflexion von Wirklichkeiten um die gedankliche Errichtung jener idealen Umwelten, welche die Wissenschaft in Begriffe und Konzepte überträgt, damit die Politik und die Institutionen sie schließlich in neue - bessere - soziale Wirklichkeiten überführen können. Zum anderen muss es ihr, um die Reflexion beobachteter Wirklichkeiten überhaupt sinnvoll vornehmen zu können, immer auch um den Schritt zurück hinter die Bedeutungsebenen von Wissenschaft und Gesellschaft mitsamt ihren Konzepten und Begriffen sowie ihren Institutionen gehen. Dieser Schritt führt sie in die Immanenzen des Denkens und Wahrnehmens selbst, also auf eine vorbegriffliche Ebene, von der her die Herkunft und Struktur derselben erst beobachtbar wird und die Frage nach den „Bedeutsamkeiten“ (Hörisch 2009) hinter den in den Wissenschaften sowie der Politik und Gesellschaft apriori gesetzten Bedeutungen gestellt werden kann. Es geht dabei nicht um die Inhalte von Denken und Wissen, wie sie auf der ersten Beobachtungsebene generiert werden, und auch nicht um deren Strukturen, wie sie von der - sich selbst beobachtenden - Wissenschaft auf deren zweiter Ebene transparent werden. Vielmehr geht es hier um die Aufdeckung der begrifflichen Grundlagen für die jeweiligen Konventionen, aus denen unter spezifischen Umweltbedingungen Wissens- und Denkstrukturen sowie deren Aufzeichnungssysteme entstehen und sich wandeln, und um deren ganz eigene Umweltbeziehungen. Der Beitrag, den eine sich als Metaphysik betrachtende Chinaforschung zu leisten angetreten ist, besteht in diesem Sinne darin, durch den „Umweg über China“ hinter die Anordnungen von Wissenschaft zurückzugehen und neben der eigenen Entstehung und Veränderung von Wissen und dessen Strukturen zugleich die Bedingungen dieser Strukturen des Wissens selbst zum Gegenstand der eigenen Betrachtung zu machen. Das bedeutet, dass der Chinaforscher sich, um jenseits der Generierung von bloßem „Faktenwissen“ über seinen Gegenstand zu weiterreichenden Aussagen und einem maßgeblichen Beitrag zur Wissenschaft selbst zu gelangen, zugleich den allgemein gültigen Bedingungen derselben zumindest teilweise entziehen muss, um in parallaktischer Verschiebung seiner eigenen epistemologischen Position zeitweise einen neben demjenigen der Wissenschaft weiteren anderen Ort, denjenigen eines „chinesischen Denkens“, einzunehmen. Von diesem her kann er die in den Wissenschaften nur scheinbar geklärte, tatsächlich - und das selbst in der akademischen 186 4. Umleitungen Philosophie - aber kaum noch problematisierte Frage danach, was Wissen recht eigentlich bedeutet, neu stellen. Die Chinawissenschaften können in diesem Sinne Teile derjenigen Rolle übernehmen, die die Philosophie bis zu ihrem Eintritt in die Akademien innehatte. Sie besteht darin, zu einer Kontrollinstanz zu werden, die die Wissenschaften in ihren Mainstreamdiskursen und der einem jeden Mainstream naturgemäß innewohnenden Selbstgewissheit und Selbstgenügsamkeit von sich weisen. Ohne die ihr vorangehende und durch sie um die Beschäftigung mit dem Eigenen erweiterte philologische Feinarbeit, die ihr ein Verständnis der chinesischen und anderen Quellen ermöglicht, kann die Sinometaphysik allerdings nicht arbeiten. Und ohne die wissenschaftlichen Abstraktionsmodelle, die ihr die Ordnungsmuster vorgeben, mit denen sie sich auseinanderzusetzen hat, die ihr aber zugleich auch die Forschungsgegenstände in die Hand geben, anhand derer ihre metaphysischen Überlegungen wieder auf eine Handlungswirklichkeit heruntergebrochen werden, ist auch sie nicht mehr als ein bloßes Denkexperiment ohne Anbindung an die Diskurse in Wissenschaft und Gesellschaft. Erst das Zusammenspiel dieser drei Bereiche und deren gegenseitige Kontrolle ermöglichen einen Erkenntnisprozess von wissenschaftlicher Relevanz. Ganz gleich, ob man sich in seinem Studium und Arbeiten für eine philologisch-sinologische Richtung, für eine der methodischen Chinawissenschaften oder für die erkenntniskritische Philosophie entscheidet: Zu relevanten Erkenntnisgewinnen wird man immer nur dann gelangen, wenn man die jeweils anderen Seiten ebenfalls mit auf der Rechnung und den Kreis dadurch erfolgreich quadriert hat. Zitierte Literatur Baecker, Dirk (2000): Wozu Kultur? Berlin, Kadmos. Barthes, Roland (2012): Mythen des Alltags. Frankfurt a.M., Suhrkamp. Danesi, Marcel; Perron, Paul (1999): Analyzing Cultures. An Introduction and Handbook. Bloomington, Indianapolis, Indiana Univ. Pr. Deleuze, Gilles (1993): Die Logik des Sinns. Frankfurt a.M., Suhrkamp. Deleuze, Gilles (2007): Differenz und Wiederholung. München, Wilhelm Fink. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (2000): Was ist Philosophie? Frankfurt a.M., Suhrkamp. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (2010): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin, Merve. Derrida, Jacques (1997): „Die Einsprachigkeit der Anderen oder die Prothese des Ursprungs”. In: Haverkamp, Anselm (Hg.): Die Sprache der Anderen. Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen. Frankfurt a.M., Fischer TB. Derrida, Jacques (2006): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M., Suhrkamp. During, Simon (Hg.) (1993): The Cultural Studies Reader. London, New York, Routledge. Gadamer, Hans Georg (1975): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen, Mohr. Hall, Stuart (1993): „Encoding, decoding“. In: During, Simon (Hg.): The Cultural Studies Reader. London, New York, Routledge, S. 90-103. Heidegger, Martin (1994): Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. (Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 61). Frankfurt a.M., Vittorio Klostermann. Hörisch, Jochen (2009): Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München, Hanser. 187 4.1 Sinologie als metaphysische Disziplin Jullien, Fran ç ois (2002): Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens. Berlin, Merve. Lacan, Jacques (1978): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. (Das Seminar von Jacques Lacan, Bd. 11): ) Olten, Walter. Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. (2 Bd.) Frankfurt a.M., Suhrkamp. 5. Ausleitungen 5.1 Kommentierte Bibliographie Sprache (Andreas Guder) Chen, Ping (1999): Modern Chinese: History and sociolinguistics. Cambridge & New York, Cambridge University Press. Ein gut zu lesender Überblick über die zahlreichen historischen und synchronen Aspekte chinesischer Sprachwissenschaft, der vor allem auch die enorme Varianz zwischen mündlichen und schriftlichen Formen des Chinesischen verdeutlicht. De Francis, John (1984): The Chinese Language - Fact and fantasy. Honolulu, University of Hawaii Press. (deutsch: Die chinesische Sprache - Fakten und Mythen. Nettetal: Steyler 2011) Eines der ersten Bücher, das sachlich und unterhaltsam mit einigen Vorurteilen über die heutige chinesische Sprache und Schrift aufräumte. Fachverband Chinesisch: http: / / www.fachverband-chinesisch.de Das Netzwerk der Chinesisch Lehrenden an Schulen und Hochschulen. Daten, Tagungen, Thesen und Publikationen zur Vermittlung des modernen Chinesisch im deutschsprachigen Raum. von der Gabelentz, Georg (1881): Chinesische Grammatik. Mit Ausschluss des niederen Stils und der heutigen Umgangssprache. Leipzig. (Nachdruck Berlin 1953) Das umfassendste Werk, das je auf Deutsch zur (vormodernen) chinesischen Sprache geschrieben wurde und damit auch viele Phänomene der heutigen chinesischen Schriftsprache umfasst. Eine Fundgrube für Fortgeschrittene. Guder, Andreas (2005): „Kann man das überhaupt lernen? “ Zur Vermittlung von Chinesisch als distanter Fremdsprache. In: Lebende Sprachen 2/ 2005, S. 61-68. Einige Daten und Hypothesen zur Erreichbarkeit von Lernzielen im Chinesischunterricht. Norman, Jerry (1988): Chinese. Cambridge, Cambridge University Press. Eine etwas in die Jahre gekommene Alternative zur Einführung von Ping Chen, mit einem zusätzlichen Fokus auf den sprachlichen Varietäten des südchinesischen Raumes. Zhu, Jinyang (2007): Chinesische Grammatik für Deutsche. Ein Lehr- und Übungsbuch mit Lösungen. Hamburg, Buske Die derzeit im deutschen Sprachraum am weitesten verbreitete systematische Grammatik der modernen Umgangssprache. Auch in einer Version mit Pinyin-Transkription erhältlich. 189 5.1 Kommentierte Bibliographie Lehramt (Henning Klöter) Benedix, Antje (2009): Chinesisch als Fremdsprache in der Sekundarstufe: Binnendifferenzierung und die Gestaltung von Unterrichtsmaterialien. Marburg, Tectum Verlag. Eine Einführung in die Didaktik des Chinesischen als Fremdsprache, die insbesondere auf Lernende mit deutscher Muttersprache und die Lernsituation an Schulen in Deutschland abzielt; die bisher einzige Studie zu diesem Thema in deutscher Sprache. Chun - Chinesischunterricht (1984-) Die Zeitschrift des Fachverbandes Chinesisch e.V.; erscheint einmal jährlich. Die einzige deutschsprachige Fachzeitschrift, die den Themenfeldern Chinesischunterricht und chinesische Sprachwissenschaft gewidmet ist. Everson, Michael E.; Xiao, Yun (Hg.) (2009): Teaching Chinese as a Foreign Language: Theories and Applications. Boston, Cheng & Tsui Company. Auch wenn dieser Sammelband sich ausschließlich mit der Situation in den USA beschäftigt, wirft er in elf Kapiteln zahlreiche anwendungsorientierte Fragen auf, die auch für die Situation in Deutschland relevant sind. Enthält u.a. Beiträge zu Sprachstandards im Bereich Chinesisch als Fremdsprache, Kulturvermittlung, und Schriftdidaktik. Kane, Daniel (2006): The Chinese Language: Its History and Current Usage. Singapore, Tuttle Publishing. Eine allgemeine Einführung in die chinesische Sprache (kein Sprachlehrwerk! ), die sich insbesondere an internationale Studierende richtet, die mehr über die chinesische Sprache und Schrift erfahren wollen. Sehr verständlich geschrieben und daher auch hervorragend für Studienanfänger geeignet. Kecskes, Istvan (Hg.) (2013): Research in Chinese as a Second Language. Boston/ Berlin, Mouton de Gruyter. Dieser Sammelband spricht einleitend die offensichtliche Forschungslücke im Bereich Chinesisch als Fremdsprache an. Die elf Beiträge sind in drei Kapitel gegliedert: Research base for practice, Integrating culture and language, Acquisition of language structures. Die Beiträge bieten einen sehr guten Überblick über Forschungsfragen und -methoden im Bereich Chinesisch als Fremdsprache. SinoLinguistica Die Schriftenreihe des Fachverbandes Chinesisch e.V.; seit 1991 sind 15 Bände erschienen. Ähnlich wie die Zeitschrift Chun decken die Monographien die Themenbereiche chinesische Sprachwissenschaft, Sprachdidaktik des Chinesischen und Übersetzungswissenschaft ab. 190 5. Ausleitungen Philologie (Philip Clart) Elman, Benjamin A. (1984): From Philosophy to Philology: Intellectual and Social Aspects of Change in Late Imperial China. Cambridge, MA, Council on East Asian Studies, Harvard University. Henderson, John B. (1991): Scripture, Canon, and Commentary: A Comparison of Confucian and Western Exegesis. Princeton, Princeton University Press. Zwei exemplarische Studien zu indigenen philologischen Traditionen des vormodernen China. App, Urs (2010): The Birth of Orientalism. Philadelphia, University of Pennsylvania Press. Die Entstehungsgeschichte der asienbezogenen Philologien im Europa des 18. Jh. Girardot, Norman J. (2002): The Victorian Translation of China: James Legge's Oriental Pilgrimage. Berkeley, University of California Press. Pfister, Lauren F. (2004): Striving for 'The Whole Duty of Man': James Legge and the Scottish Protestant Encounter with China. Assessing confluences in Scottish Nonconformism, Chinese Missionary Scholarship, Victorian Sinology, and Chinese Protestantism. 2 Bde. Frankfurt/ M., Peter Lang. Zwei Werke über Leben, Denken und philologische Forschung des wohl einflussreichsten Sinologen der zweiten Hälfte des 19. Jh. Hervouet, Yves (Hg.) (1978): A Sung Bibliography. Hong Kong, The Chinese University Press. Loewe, Michael (Hg.) (1993): Early Chinese Texts: A Bibliographical Guide. Berkeley, CA: The Society for the Study of Early China & The Institute of East Asian Studies, University of California, Berkeley. Nienhauser, William H. (1986, 1998): The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature. 2 Bde. Bloomington, IN, Indiana University Press. Schipper, Kristofer & Franciscus Verellen (2004): The Taoist Canon: A Historical Companion to the Daozang. 3 Bde. Chicago, The University of Chicago Press. Vier Beispiele wichtiger philologischer Kompendien, die große traditionelle Textkorpora erschließen: die gesamte Textproduktion der Song-Dynastie (960-1279); die klassischen Texte bis zur Han-Zeit (206 v. Chr. - 220 n. Chr.); die vormoderne chinesische Literatur; der daoistische Kanon. Mathews, R.H. (1943): Chinese-English Dictionary. Revised American Edition. Cambridge, MA: Harvard University Press. Rüdenberg, Werner; Stange, Hans O.H. (1963): Chinesisch-Deutsches Wörterbuch. 3. erw., neub. Auflage. Hamburg, De Gruyter. Instituts Ricci (2001): Le Grand dictionnaire Ricci de la langue chinoise. 7 Bde. Paris: Desclée de Brouwer. Die drei wichtigsten chinesisch/ westlichsprachigen Allgemeinwörterbücher für die vormoderne Schriftsprache. Fuller, Michael A. (2004): An Introduction to Literary Chinese (revised ed.). Cambridge, MA: Harvard University Asia Center. 191 5.1 Kommentierte Bibliographie Gassmann, Robert H. (1997): Antikchinesisch in fünf Element(ar)gängen: eine propädeutische Einführung. Bern, Peter Lang. Gassmann, Robert H. (1997): Antikchinesische Texte: Materialien für den Hochschulunterricht. Bern, Peter Lang. Gassmann, Robert H. (1997): Grundstrukturen der antikchinesischen Syntax: eine erklärende Grammatik. Bern, Peter Lang. Pulleyblank, Edwin G. (1995): Outline of Classical Chinese Grammar. Vancouver, University of British Columbia Press. Rouzer, Paul (2007): A New Practical Primer of Literary Chinese. Harvard University Press. Shadick, Harold; Ch’ien, Ch’iao (1968): A First Course in Literary Chinese. Ithaca, Cornell University Press. Unger, Ulrich (1996): Grammatik des klassischen Chinesisch. Münster, Selbstverlag. Vochala, Jaromír; Vochalová, Ruzhen (1990): Einführung in die Grammatik des klassischen Chinesisch. Übers. von Romana Altmann, bearb. von Klaus Kaden. Leipzig, VEB Verlag Enzyklopädie. Lehrwerke und Grammatiken zum Erlernen der vormodernen Schriftsprache. Geistesgeschichte und Philosophie (Hans van Ess) Elman, Benjamin: From Philosophy to Philology. Band, der in den Umschwung von neokonfuzianischem Philosophieren zur philologischen Unterminierung kanonischer Schriften in der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts einführt. Feng, Youlan (Fung Yu-lan) (1933/ 34 ? ): Zhongguo zhexue shi. Übersetzt von Derk Bodde unter dem Titel “A History of Chinese Philosophy” (1952/ 53). Der Klassiker der chinesischen Philosophiegeschichte, wichtigste Einführung in die chinesische Philosophie. Feng, Youlan (1948): A Short History of Chinese Philosophy. Eine verkürzte Fassung des zuvor genannten Titels. Forke, Alfred: Geschichte der alten, mittelalterlichen sowie neueren chinesischen Philosophie. Wohl immer noch die umfassendste Darstellung der chinesischen Philosophiegeschichte in einer westlichen Sprache. Etwas problematisch sind allerdings die - guten - Übersetzungen, die mit einer Terminologie arbeiten, die nicht immer sofort erkennen lässt, was im chinesischen Urtext stand. In weiten Strecken für den heutigen Geschmack zu deskriptiv, aber für eine erste Orientierung immer gut geeignet. Cheng, Anne (1997): Histoire de la pensée chinoise. Die einzige neuere Philosophiegeschichte, die mit größerem Anspruch auftritt und auch Bezug auf neueste Entwicklungen (u.a. Textfunde in chinesischen Gräbern) nimmt. Bauer, Wolfgang (2001): Geschichte der chinesischen Philosophie. Hg. von Hans van Ess. München. 192 5. Ausleitungen Philosophiegeschichte, die auf Vorlesungsmanuskripten des Autors basiert. Das Manuskript wurde nur sehr behutsam redigiert und versucht den erzählenden Ton, wie ihn Bauer in seinen Vorlesungen pflegte, zu erhalten. Bauer hätte das Buch an manchen Stellen sicherlich noch umgeschrieben, wenn er nicht plötzlich verstorben wäre. Xiao, Jiefu ; Li, Jinquan ; Zhang, Siqi (2008): An Outline History of Chinese Philosophy. Peking, Foreign Language Press. Verdienstvolle chinesische Darstellung der chinesischen Philosophie auf Englisch, die allerdings die früheren westlichen Werke nicht ersetzen kann. Bo, Mou (Hg.) (2009): History of Chinese Philosophy. Routledge. Ein Sammelwerk mit Beiträgen verschiedener Autoren zu den wichtigsten Themen der Philosophiegeschichte. Insgesamt lesenswert, doch würde man sich manchmal eine ordnende Hand wünschen. Granet, Marcel (1934): La pensée chinoise. Paris. (Deutsch: Das chinesische Denken, München 1963). Standardwerk der älteren Sinologie zu einzelnen Themen des chinesischen Denkens, aber keine Philosophiegeschichte. Anregend, sollte aber unter Hinzuziehung modernerer Darstellungen gelesen werden. van Ess, Hans (2003): Der Konfuzianismus. München. Kurze, für Anfänger geeignete Einführung in die Geschichte des Konfuzianismus, mit nur sehr knapper Bibliographie und ohne Anmerkungen. Gedacht nur als erster Einstieg in das Thema. van Ess, Hans (2011): Der Daoismus. Von Laozi bis heute. München. Kurze, für Anfänger geeignete Einführung in die Geschichte des Daoismus, mit nur sehr knapper Bibliographie und ohne Anmerkungen. Gedacht nur als erster Einstieg in das Thema. Bresciani, Umberto (2001): Reinventing Confucianism. Taipei. Erste zusammenfassende Einführung in die Geschichte des chinesischen Denkens im 20. Jahrhundert mit Kurzbiographien der wichtigsten Protagonisten dieser Bewegung. Lee, Minghui (2001): Der Konfuzianismus im modernen China, Leipzig. Selbes Ziel wie das Buch von Bresciani und sehr ähnlich angelegt, aber noch etwas knapper gefasst. Das Buch geht auf eine Vorlesungsreihe am Sinologischen Seminar in Leipzig zurück. Makeham, John; Soul, Lost (2008): Confucianism in Contemporary Chinese Academic Discourse. Harvard. Inhaltliche Auseinandersetzung mit den wichtigsten Themen des modernen Konfuzianismus und seiner gesellschaftlichen Verortung in China. Robinet, Isabelle (1995): Geschichte des Daoismus. Köln, Diederichs (deutsche Übersetzung der Historie du taoisme, Paris 1991). 193 5.1 Kommentierte Bibliographie Erste vollständige historische Darstellung der Entwicklung des Daoismus in einer westlichen Sprache. Zürcher (1959): The Buddhist Conquest of China. Leiden, Brill. Standardwerk zum Eindringen des Buddhismus nach China, mit Hinweisen auf alle wichtigen Namen von den Anfängen bis zum Ende des sechsten Jahrhunderts. Zenryu, Tsukamoto: A History of Early Chinese Buddhism. (Englische Übersetzung Tokyo 1985). Weitaus umfangreichere Darstellung des frühen chinesischen Buddhismus als das Buch von Zürcher. Enzyklopädische Zusammenstellung. Theodore de Bary; Chan, Wing-tsit; Watson, Burton (1960 und 1966): Sources of Chinese Tradition. New York, Columbia. Zusammenstellung von Texten zu den wichtigsten Autoren der chinesischen Philosophie- und Geistesgeschichte mit kurzen Einführungen. Theodore de Bary; Bloom, Irene; Lufrano, Richard (1999): Sources of Chinese Tradition. New York. Erweiterte und vollkommen neubearbeitete Neuauflage des Vorgängerwerkes von 1960-1966, ebenfalls in zwei Bänden. Vor allem im Bereich des Daoismus und des Buddhismus sind hier zahlreiche neue Texte hinzugekommen, allerdings auch in der Behandlung des 20. Jahrhunderts. Chan, Wing-tsit (1963): Source Book in Chinese Philosophy. New York, Columbia. Ähnlicher Ansatz wie de Bary, Sources of Chinese Tradition, allerdings Konzentration auf die Philosophie und vor allem den Konfuzianismus. Sehr brauchbare Kurzeinführungen zu den einzelnen Denkern mit anschließenden Übersetzungen zentraler Werke von ihnen. Geschichtswissenschaften (Nicola Spakowski) Cambridge History of China, bisher 15 Bände, verschiedene Herausgeber, Cambridge University Press, 1978ff. Chronologisch gegliederte Reihe zur Geschichte Chinas von der Qin-Dynastie (3. Jh. v. Chr.) bis in die frühen 1980er Jahre. Standardwerk, aber je nach Publikationsdatum des einzelnen Bandes teilweise auch veraltet. Die umfassenden Einzelbände sind in ausführliche thematische Kapitel untergliedert, die von renommierten Spezialisten verfasst sind. Hilfreich für das Verständnis spezifischer Problembereiche einer Periode. Dabringhaus, Sabine (2009): Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. München, C.H. Beck. Übersichtliche, chronologisch strukturierte Darstellung der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert, die alle zentralen Problemfelder berührt. Als Einführung geeignet. 194 5. Ausleitungen History of Imperial China, 6 Bände, verschiedene Verfasser, Harvard University Press, 2009-2013. Chronologisch gegliederte Reihe zur Geschichte Chinas von der Qin-Dynastie(3. Jh. v. Chr.) bis zum Sturz der Qing 1911. Die Einzelbände sind von renommierten Verfassern geschrieben und geben gute Einführungen in die wichtigsten Themenfelder. Klein, Thoralf (2007): Geschichte Chinas. Von 1800 bis zur Gegenwart. Paderborn u.a., Schöningh. Systematisch gegliederte Darstellung, die eine Einführung in zentrale Problembereiche gibt. Für etwas fortgeschrittene Leser geeignet. Lary, Diana (2007): China's Republic. Cambridge, Cambridge University Press. Lehrbuch zur Geschichte Chinas von 1912 bis 1949 sowie zur Geschichte der Republik China auf Taiwan von 1949 bis zur Gegenwart. Abwechslungsreich verfasst, mit Abbildungen und Empfehlungen zur weiterführenden Lektüre. Als Einführung geeignet. Lieberthal, Kenneth (2004): Governing China: From Revolution to Reform. New York u.a., Norton. Verständlich geschriebene Einführung in die Politik Chinas seit dem späten 19. Jahrhundert mit chronologischen und systematischen Kapiteln. Schwerpunkt ist das China seit 1949. Mackerras, Colin (2008): China in Transformation, 1900-1949. Harlow, München u.a., Pearson/ Longman. Einführung mit Lehrbuchcharakter. Der Text selbst ist knapp, dafür enthält das Buch aber hilfreiche zusätzliche Teile wie eine Chronologie, Quellentexte, Lektüreempfehlungen usw. Mitter, Rana (2004): A Bitter Revolution. China’s Struggle with the Modern World. Oxford, Oxford University Press. Narrativ angelegte und spannend geschriebene Darstellung der Geschichte Chinas seit 1919. Zugeschnitten auf die Erfahrungen der intellektuellen Elite und somit nicht umfassend. Mote, Frederick W. (1999): Imperial China, 900-1800. Cambridge, Mass., Harvard University Press. Standardwerk zur Geschichte der späten Kaiserzeit. Informationswerk mit einführendem Charakter, aber nicht unbedingt zur durchgängigen Lektüre geeignet. Spence, Jonathan D. (2001): Chinas Weg in die Moderne. München, dtv. Sehr umfassende, chronologisch gegliederte Geschichte Chinas seit ca. 1600. Der Autor ist für seinen lebendigen Stil bekannt. Vogelsang, Kai (2012): Geschichte Chinas. Stuttgart, Reclam. Hervorragende Einführung in die Geschichte Chinas von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. In die chronologische Struktur sind wichtige Themen als zeitenübergrei- 195 5.1 Kommentierte Bibliographie fende Exkurse eingefügt. Abwechslungsreich geschrieben und als einführende Lektüre zur vormodernen Geschichte empfohlen. Zarrow, Peter (2007): China in War and Revolution, 1895-1949. London, New York, Routledge. Chronologische Darstellung, die es besonders gut versteht, zentrale politische Ereignisse mit ideen- und sozialhistorischen Entwicklungen zu verknüpfen. Anspruchsvoll, aber auch für Anfänger geeignet. Kulturanthropologie (Merle Schatz) Davis, Edward L. (2009): Encyclopedia of Contemporary Chinese Culture. London und New York, Routledge. Zahlreiche Sacheinträge und Kurzbibliographien. Übersichtliche Klassifikation (Architektur und Raum, Bildung, Ethnizität, Mode, Literatur, Medien…). Den Beiträten folgen Literaturempfehlungen. Umfangreicher Index. Dirlik, Arif (2012): Sociology and Anthropology in Twentieth-Century China: Between Universalism and Indigenism. Hong Kong, The Chinese University Press. Historische Perspektive auf die Entwicklung der Anthropologie und Soziologie in China mit einem Fokus auf die 1930er und 1980er Jahre. Darstellung unterschiedlicher theoretischer Ansätze von Wissenschaftlern der VR China und Taiwan. Fardon, Richard (2012): The SAGE Handbook of Social Anthropology. Los Angeles, SAGE. In zwei Bänden werden Überblicke in gegenwärtige ethnologische Forschungsbereiche gegeben. Umfangreiche Beiträge, die historische Linien und zukünftige Forschungsfragen aufzeigen. Ausführlicher Namen- und Sachindex. Gladney, Dru (1998): Ethnic Identity in China: The Making of a Muslim Minority Nationality. Florida, Harcourt Brace College Publishers. Beschreibung der Diversität von Identitäten innerhalb einer Nationalität sowie die Darstellung ethnischer Komplexität einer modernen Nation. Zeigt das Spektrum der ethnischen Nationalitätendebatte im gegenwärtigen China auf. Ausführliche Bibliographie. Guldin, Gregory Eliyu; Southall; William, Aidan (1993): Urban Anthropology in China. Leiden, Brill. Konferenzbeiträge chinesischer und ausländischer Wissenschaftler zu Urbanisierung in China. Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit städtischer Anthropologie in China. Guldin, Gregory (1994): The Saga of Anthropology in China. From Malinowski to Moskow to Mao. Armonk, Sharpe. Überblick über die Entwicklung der Anthropologie in Verbindung mit politischen und sozialen Umbrüchen im China des 20. Jahrhunderts. Ausführliches Glossar. 196 5. Ausleitungen Jacka, Tamara (2005): Rural Women in Urban China: Gender, Migration, And Social Change. Armonk, Sharpe. Blick weiblicher Migranten auf Migrationsprozesse, Beschreibung ihrer Migrationserfahrungen und die Relevanz dieser Erfahrung für ihre Identität, Wertevorstellungen und Weltwahrnehmung. Darstellung, wie Globalisierung, Modernität und sozialer Wandel von einzelnen Individuen erfahren werden. Santos; Goncalo; Brandtstädter, Susanne (Hg.) (2011): Chinese Kinship: Contemporary anthropological perspectives. London, Routledge. Darstellung gegenwärtiger ethnologischer Perspektiven auf Verwandtschaftsforschung in China mit aktuellen Beispielen. Ausführliche Bibliographie. Swedberg, Richard (2005): The Max Weber Dictionary. Key Words and Central Concepts. Stanford, Stanford University Press. Hilfreiches Nachschlagewerk für zentrale Begriffe und Konzepte Max Webers. Die Einträge erklären Webers Definitionen, zudem verweisen sie auf die Stellen, wo die Begriffe oder Konzepte von Weber eingeführt oder gebraucht wurden. Ebenso nennen die Beiträge relevante Sekundärliteratur, in der Konzepte oder Begriffe von Weber behandelt werden. Sozialwissenschaften (Christian Göbel) Fewsmith, Joseph (2008): China since Tiananmen: from Deng Xiaoping to Hu Jintao. New York, Cambridge University Press. Beleuchtet, wie die schwere politische Krise Chinas im Jahre 1989 sich auf die politische Entwicklung der folgenen Jahre ausgewirkt hat. Heilmann, Sebastian (2004): Das politische System der Volksrepublik China. Wiesbaden, VS Verl. für Sozialwissenschaften. Standardwerk zur Einführung in das politische System der Volksrepublik China. Landry, Pierre F. (2008): Decentralized authoritarianism in China: the Communist Party's control of local elites in the post-Mao era. Cambridge/ New York, Cambridge University Press. Analysiert, wie die Zentralregierung die chinesischen Lokalregierungen kontrolliert. Göbel, Christian (2010): The politics of rural reform in China: state policy and village predicament in the early 2000s. Milton Park, Abingdon, Oxon/ New York, NY: Routledge. Beleuchtet die Dynamik von politischen Reformen, die auf die Umgestaltung des ländlichen Raums zielen. Heberer, Thomas; Göbel, Christian (2011): The politics of community building in urban China. Abingdon,Oxon/ New York, Routledge. Beleuchtet die Dynamik von politischen Reformen, die auf die Umgestaltung des städtischen Raums zielen. 197 5.1 Kommentierte Bibliographie Carlson, Allen (2010): Contemporary Chinese politics: new sources, methods, and field strategies. New York, Cambridge University Press. Sammelband, der Methoden der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung vorstellt. Naughton, Barry (2007): The Chinese economy: transitions and growth. Cambridge, Mass., MIT Press. Standardwerk, das die Triebkräfte des chinesischen Wirtschaftswachstums analysiert. Tsai, Lily L. (2007): Accountability without democracy: solidary groups and public goods provision in rural China. New York, NY, Cambridge University Press. Analyse über die Rolle von Clans und anderen traditionellen sozialen Gruppen in der Bereitstellung sozialer Güter im ländlichen China. Perry, Elizabeth J.; Selden, Mark (2010): Chinese society: change, conflict and resistance. London/ New York, Routledge. Sammelband, der beleuchtet, wie verschiedene soziale Gruppen die politische Führung herausfordern. Lanteigne, Marc (2013): Chinese foreign policy: an introduction. Milton Park, Abingdon, Oxon/ New York, Routledge. Einführung in die Außenpolitik und diplomatischen Beziehungen der Volksrepublik China. Sutter, Robert G. (2012): Chinese foreign relations: power and policy since the Cold War. Lanham, Md., Rowman & Littlefield Publishers. Historische Einführung zur Entwicklung der chinesischen Außenpolitik seit Ende des Kalten Krieges. Shambaugh, David L. (2013): China goes global: the partial power. Oxford/ New York, Oxford University Press. Aktuelles Werk, das die Zunahme wirtschaftlicher, politischer, militärischer und kultureller Macht Chinas in der Weltpolitik beleuchtet. Fell, Dafydd (2012): Government and politics in Taiwan. London/ NewYork, Routledge. Lehrbuch, das den Regierungsapparat und die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in der Republik China auf Taiwan vorstellt. Rigger, Shelley (2011): Why Taiwan matters: small island, global powerhouse. Lanham, Rowman & Littlefield. Einführung in die Außenwirtschaftsbeziehungen der Republik China auf Taiwan. Rechtswissenschaften (Björn Ahl) Heuser, Robert; Sprick, Daniel (2013): Das rechtliche Umfeld des Wirtschaftens in der VR China. Nomos, Baden-Baden. Das auf die Wirtschaft bezogene Rechtssystem Chinas wird in einem ersten Teil anhand der Wirtschaftsverfassung, den wirtschaftsvölkerrechtlichen Vorgaben im Rah- 198 5. Ausleitungen men der WTO sowie dem Justizsystem thematisiert. Der zweite Teil befasst sich mit dem Wirtschaftsprivatrecht von den zivilrechtlichen Grundlagen bis zum Unternehmens- und Gesellschaftsrecht. Im dritten Teil wird die Regulierung der Wirtschaft zunächst aus der Perspektive der Wirtschaftsaufsicht, -förderung und -lenkung erläutert, um dann auch Gebiete wie das Kartellrecht und das Wirtschaftsstrafrecht darzulegen. Das als Lehrwerk konzipierte Buch wendet sich vornehmlich an Studierende rechtswissenschaftlicher und regionalwissenschaftlicher Studiengänge, in denen das chinesische Wirtschafts- und Rechtssystem einen Teil des Studienprogramms ausmacht, bietet aber auch Lehrenden, Wissenschaftlern und Praktikern einen Einstieg in die Materie. Dieses Buch ist momentan das aktuellste und ausführlichste Werk zum chinesischen Wirtschaftsrecht auf Deutsch. Heuser, Robert (2013): Grundriss der Geschichte und Modernisierung des chinesischen Rechts. Nomos, Baden-Baden. Dieses sowohl für den Chinawissenschaftler als auch den Rechtshistoriker verfasste Lehrwerk widmet sich der Frage, was die wesentlichen Charakterzüge von Chinas vormoderner, sich über einen Zeitraum von 3000 Jahren erstreckender Rechtsgeschichte sind und wie sich diese bis in das 20. Jahrhundert hineinreichende Rechtstradition zu den an ein modernes Rechtssystem zu stellenden Anforderungen verhält. Das Kapitel zu den frühzeitlichen Rechtsordnungen beschäftigt sich mit der Entstehung und dem Wandel eines eigenständigen Rechtsbegriffs, der politischen Legitimation und der sprachlichen Gestaltung von Rechtsnormen. Das zweite Kapitel zeichnet Gesetzgebung und Strafrechtssystem während der Kaiserzeit nach von der Realisierung der Rechtsvorstellung der Legisten unter der Qin-Dynastie über die Ethisierung des Rechts von der Han bis zur Tang-Zeit. Die Kodizes seit der Tang-Dynastie bis zur Qing-Zeit werden abgehandelt. Das dritte Kapitel schließlich widmet sich den Bemühungen um Rechtsreformen gegen Ende der Qing-Dynastie, der Gesetzgebung der Republikzeit und dem sozialistischen Recht seit Gründung der Volksrepublik. Dieses Buch ist Pflichtlektüre für alle Studierenden, die ein Verständnis für die großen Zusammenhänge der chinesischen Rechtsentwicklung von den Anfängen bis heute erwerben möchten. Bu, Yuanshi (2009): Einführung in das Recht Chinas. München, Beck. Diese umfassende Einführung ist für alle Anfänger geschrieben, die sich einen breiten Überblick über das chinesische Recht verschaffen wollen. Der erste Teil informiert über Juristenausbildung, Justizaufbau, Rechtsquellen und das Vorgehen bei der Literaturrecherche. Daran schließt sich ein Überblick über das Verfassungsrecht, Verwaltungs-, Staatshaftungs- und Verwaltungsprozessrecht. Das Zivilrecht wird ausführlicher behandelt und schließt das Vertragsrecht einschließlich der Vertragsarten Kauf-, Schenkungs-, Darlehens-, und Mietvertrag mit ein. Die wichtigsten sachenrechtlichen Vorschriften wie etwa zu Eigentum und Sicherungsrechten werden behandelt, auch Ehe- und Erbrecht sowie das chinesische internationale Privatrecht. Der Abschnitt über das Unternehmensrecht stellt Partnerschaftsunternehmen und Kapitalgesellschaften vor. Das Buch behandelt auch Unternehmenstransaktionen, Kartell- und Arbeitsrecht sowie das Recht ausländischer Investitionen, Zivilprozessrecht und Schiedsgerichtsbarkeit. Auch wenn es thematisch sehr breit angelegt ist, liegt der Schwerpunkt dieses Buches auf dem Zivil- und Wirtschaftsrecht. Es verfolgt einen rechtsdogmatischen Ansatz, der institutionelle Kontext des Rechts spielt nur eine 199 5.1 Kommentierte Bibliographie marginale Rolle. Mögen auch die einzelnen Darstellungen oft zu knapp erscheinen, dem Leser wird insofern geholfen, als das Buch am Anfang jeden Abschnitts ausführliche Verweise auf weiterführende Literatur in deutscher, englischer und chinesischer Sprache enthält. Peerenboom, Randall (2007): China Modernizes: Threat to the West or Model for the Rest? Oxford, Oxford University Press. Dieses Buch ist eine gute Ergänzung zu dem etwas früher verfassten wichtigen Werk von Peerenboom, China’s Long March toward Rule of Law. Auch in China Modernizes geht es um Entwicklungspfade des chinesischen Rechts, doch schreibt der Autor nun aus einer vergleichenden Perspektive und setzt den Schwerpunkt auf das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Recht. Die Rechtsentwicklung in China wird hier nicht mit derjenigen in europäischen Rechtsordnungen oder in Nordamerika verglichen, sondern mit der Rechtsentwicklung in Staaten, die von der Einkommensstruktur her vergleichbar sind. Es behandelt vier Hauptelemente der Moderne: wirtschaftliche Entwicklung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Im Menschenrechtsteil werden die einzelnen Rechte und ihre Verwirklichung in China diskutiert, wie sie im Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte enthalten sind sowie die im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthaltenen Rechte. Da hier die Kontextualisierung der Rechtsentwicklung im Mittelpunkt steht, ist das Buch auch gut verständlich für den Anfänger, der noch keine vertieften Kenntnisse des chinesischen Rechts hat. Peerenboom, Randall (2002): China’s Long March toward Rule of Law. Cambridge, Cambridge University Press. Peerenboom ist der mit Abstand produktivste amerikanische Autor auf dem Gebiet des chinesischen Rechts. Da er sich übergreifenden Fragestellungen, wie etwa dem Zusammenhang zwischen Recht und Entwicklung widmet, sind auch seine Aufsätze gut für Leser ohne vertiefte juristische Kenntnisse lesbar. Auf knapp 700 Seiten untersucht Peerenboom die chinesische Rechtsentwicklung aus der Perspektive der späten 1990er Jahre. Er verwendet dabei einen Ansatz, der nicht von einer in einen liberalen Rechtsstaat mündenden Pfadabhängigkeit der chinesischen Rechtsentwicklung ausgeht, sondern verschiedene alternative Rechtsstaatsmodelle entwickelt. Neben das Modell des liberalen Rechtsstaats werden die Modelle eines neo-autoritären, eines kommunitarischen, eines sozialistischen Rechtsstaats sowie eines Staats mit einem rein instrumentalen Rechtsverständnis gestellt, um unterschiedliche mögliche Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen. Am Anfang der Untersuchung steht eine Beschreibung der Rolle des Rechts im kaiserlichen China und unter Mao. Der Schwerpunkt liegt neben den theoretischen Überlegungen zu verschiedenen Rechtsstaatskonzepten und -entwicklungen dann auf der Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Organen von Partei und Staat, der Gesetzgebung, der Justiz, der juristischen Berufe und des Verwaltungsrechts. Es stehen hier Rechtsinstitutionen und deren Entwicklung im Mittelpunkt der Untersuchung, nicht das materielle Recht. Auch wenn das Buch schon seit über zehn Jahren erschienen ist und zu einer Zeit verfasst wurde, als sich die Bestrebungen einer Verrechtlichung und Übernahme westlichen Rechts zur Vorbereitung auf den WTO-Beitritt auf einem Höhepunkt befanden, ist die Lektüre allen zu empfehlen, die sich vertieft mit den verschiedenen Entwicklungsperspektiven des chinesischen Rechtsstaates befassen möchten. 200 5. Ausleitungen Lubman, Stanley (1999): Bird in a Cage. Legal Reform in China after Mao. Stanford, Stanford University Press. Die Vorzüge dieses Buches liegen in der sehr gründlichen Auseinandersetzung mit der Rechtsentwicklung während der Mao-Zeit und der Zeit des Übergangs zu einer formellen rechtlichen Ordnung. Auch gehört der Autor zu denjenigen amerikanischen Rechtswissenschaftlern, die sich seit den 1960er Jahren mit dem chinesischen Recht beschäftigen und der in diesem Buch eine Zusammenfassung seiner bisherigen Forschungstätigkeit vorlegt. Ausgangspunkt ist eine Gegenüberstellung von chinesischen und westlichen Rechtstraditionen und die Frage nach der angemessenen Annäherung an das chinesische Recht. Dann widmet sich die Darstellung den maoistischen Vorgängern von Rechtsinstitutionen der Reformzeit, insbesondere der Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten durch Schlichtung. Im Zeitabschnitt vor der Kulturrevolution werden der Strafprozess sowie die Politisierung des Zivilrechts analysiert. Der Übergang von einem informellen System der politischen Richtlinien und Anordnungen durch Führungspersönlichkeiten zu einem formellen System einer gesetzesgebundenen Verwaltung ist ein weiterer Schwerpunkt dieses Buches. In diesem Abschnitt wird auch die Entwicklung der Gesetzgebungskompetenzen und des Gesetzesrechts behandelt. Der Rechtsrahmen für ausländische Investitionen sowie für Handelsgeschäfte in der Privatwirtschaft ist Gegenstand einer ausführlichen Analyse, wie auch eine Reihe von wirtschaftsrechtlichen und zivilrechtlichen Gerichtsentscheidungen. von Senger, Harro (1994): Einführung in das chinesische Recht. München, Beck. Auch wenn dieses Buch bereits Anfang der 1990er Jahre verfasst wurde und deshalb nicht in der Lage ist, das heute in der Volksrepublik geltende Recht ausreichend abzudecken, ist es eine ausgesprochen wertvolle Lektüre, da es über das Wesen des Rechts und die Zwecke seines Erlasses und seiner Anwendung Auskunft gibt. Der Abschnitt über die ausgewählten Bereiche des chinesischen Gesetzesrechts hat nun größtenteils rechtshistorischen Wert. Ein eigener Abschnitt ist der Frage der autoritativen und der nicht-autoritativen Auslegung von normativen Texten gewidmet. Die Unterschiede zwischen dem staatlich gesetzte Recht und dem durch die Kommunistische Partei gesetzten Recht (Politnormen), die unterschiedlichen Arten von Politnormen und ihre Interaktion mit staatlichem Recht werden sehr ausführlich behandelt. Dies folgt der Einsicht, dass sich die Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts ohne die Kenntnis von Parteinormen nicht realistisch einschätzen lässt. Der interessanteste Teil des Buches geht dann auf die sinomarxistische Problemlösungsmethode und ihre Auswirkungen auf das Recht ein. Auch wenn heute, zwanzig Jahre später, die Prozesse der Gesetzgebung und der Gesetzesanwendung komplexer geworden sind und das Recht in den meisten Bereichen einen höheren Grad an Autonomie erlangt hat, sind die in diesem Buch vorgestellten sinomarxistischen Strukturen für ein Verständnis von Parteistaat und Rechtsentwicklung unentbehrlich. Zeitschriften Im deutschsprachigen Raum gibt es bislang nur eine Fachzeitschrift, die sich ausschließlich mit dem chinesischen Recht beschäftigt, vor allem rechtsdogmatische Fragestellungen in den Blick nimmt und auch wichtige Gesetze und Gerichtsentscheidungen sowie Interpretationen des Obersten Volksgerichts mit deutscher Übersetzung dokumentiert. Die von der deutschen Juristenvereinigung herausgegebene Zeitschrift 201 5.1 Kommentierte Bibliographie für chinesisches Recht ist bis auf die letzten vier Hefte frei online im Volltext verfügbar (www.dcjv.org). In den chinawissenschaftlichen Zeitschriften wie etwa dem China Journal oder The China Quarterly finden sich immer wieder Publikationen zum chinesischen Recht, doch handelt es sich meist um empirische Arbeiten oder um Untersuchungen, welchen eine Common-law-Perspektive zugrunde liegt. Eine Reihe von englischsprachigen Zeitschriften, die in den USA, Festlandchina, Taiwan, Hongkong und Singapur publiziert werden, widmen sich schwerpunktmäßig dem chinesischen Recht: The Asian Journal of Comparative Law, Hong Kong Law Journal, LAWASIA Journal, Asia-Pacific Journal on Human Rights and the Law, East Asia Law Review, National Taiwan University Law Review, Peking University Journal of Legal Studies, Asian Law Journal, Asian Pacific Law & Policy Journal, Australian Journal of Asian Law, China Law Reporter, Chinese Journal of International Law, Columbia Journal of Asian Law, Frontiers of Law in China, Journal of Chinese and Comparative Law, Pacific Rim Law & Policy Journal, UCLA Pacific Basin Law Journal, China Legal Science, Tsinghua China Law Review, China Law & Practice, China Law Review, China EU Law Journal. Internet Frank Münzel, Chinas Recht: http: / / www.chinas-recht.de Chinese Legal Research at the University of Washington: http: / / lib.law.washington.edu/ eald/ clr/ cres.html Asian Law eJournal: http: / / papers.ssrn.com/ sol3/ JELJOUR_Results.cfm? form_name= journalbrowse&journal_id=208730 China Law and Practice: http: / / www.chinalawandpractice.com Oberstes Volksgericht (Datenbank Gerichtsurteile): http: / / www.court.gov.cn/ zgcpwsw/ Legal Daily: http: / / www.legaldaily.com.cn China Law for Business (Dan Harris Blog): http: / / www.chinalawblog.com Chines Law (Donald Clarke Blog): http: / / lawprofessors.typepad.com/ china_law_prof_blog/ Sinometaphysik (Stefan Kramer) Bergson, Henri (1991): Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg, Meiner. Die Grundsteinlegung einer erkenntniskritischen “westlichen” Philosophie und Epistemologie durch den französischen Nobelpreisträger im ausgehenden 19. Jahrhundert. Cheng, Zhongying (2002): Contemporary Chinese Philosophy. Malden (Mass), Blackwell. Ein knapper Überblick über die neuere chinesische Philosophie unter Bennennung einiger ihrer maßgeblichen Akteure und Theorien sowie Umweltreflexionen. Deleuze, Gilles (1993): Logik des Sinns. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Berlin, Merve. Deleuze, Gilles (2007): Differenz und Wiederholung. Paderborn, Fink. 202 5. Ausleitungen Erkenntniskritische Arbeiten des poststrukturalistischen Philosophen, im dritten Band gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Guattari, die sich auf die Philosophie Bergsons berufen und das wohl weitreichendste alternierende Modell einer „europäischen“ Erkenntnistheorie vorstellen. Derrida, Jacques (1979): Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Derrida, Jacques (1995): Dissemination. Wien, Passagen. Derrida, Jacques (1997): Die Sprache der Anderen. Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen. Frankfurt am Main, Fischer. Derrida, Jacques (1998): Grammatologie. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Derrida, Jacques (2000): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Wichtigste logozentrismus- und erkenntniskritische Arbeiten des dekonstruktivistischen französischen Philosophen. Geaney, Jane (2002): On the Epistemology of the Senses in Early Chinese Thought. Honolulu, University of Hawaii Press. Der durchaus gelungene Versuch, die Perspektive früher chinesischer Autoren auf die sensuelle Seite der Wahrnehmung aus deren Texten zu extrahieren und mit dem modernen wissenschaftlichen Verständnis in eine Beziehung zu setzen. Gu, Mingdong (2013): Sinologism. An Alternative to Orientalism and Postcolonialism. London, Routledge. Eine kritische Bestandsaufnahme des sinologischen Wissenssystems, das, so der chinesisch-amerikanische Literaturwissenschaftler, in seiner historischen Entwicklung und gegenwärtigen Ausprägung, gar nicht dazu in der Lage sei, relevante Aussagen über den Gegenstand China zu treffen, mit Vorschlägen für eine erkenntnisreichere Chinaforschung. Jullien, François (1999): Über das Fade. Eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China. Berlin, Merve. Jullien, François (2000): Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland. Wien, Passagen. Jullien, François (2001): Der Weise hängt an keiner Idee. Das Andere der Philosophie. München, Fink. Jullien, François (2002): Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens. Berlin, Merve. Jullien, François (2009): Das Universelle, das Einförmige, das Gemeinsame und der Dialog zwischen den Kulturen. Berlin, Merve. Jullien, François (2012): Philosophie des Lebens. Wien, Passagen. Einige zentrale Arbeiten des französischen Sinologen und Philosophen zur Betrachtung der chinesischen und „westlichen“ Denk- und Wissenssysteme, der als führender Vertreter einer komparativen Erkenntnisforschung gelten kann, sich allerdings dabei nicht ganz vom Tisch zu wischenden Vorwürfen ausgesetzt wird, dabei die Andersheit der Kulturen zu essentialisieren und deren Konkretheiten hinter den großen philosophischen Entwürfen, an die er anknüpft und die er bedient, zu ignorieren. 203 5.1 Kommentierte Bibliographie Kramer, Stefan (2004): Vom Eigenen und Fremden. Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in der Volksrepublik China. Bielefeld, Transcript. Kramer, Stefan (2006): Das chinesische Fernsehpublikum. Zur Rezeption und Reproduktion eines neuen Mediums. Bielefeld, Transcript. Zwei aufeinander aufbauende Studien zur Anwendung einer Sinometaphysik auf die Fernsehkultur als konkrete Objekte chinawissenschaftlicher Forschung. Li, Youzheng (1997): Epistemological Problems of the Comparative Humanities. A Semiotic/ Chinese Perspective. Frankfurt am Main, New York, Peter Lang. Studie über die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit komparativer, die Klischees von Differenzen nur befördernder Kulturforschung und ein Appell für eine Kulturforschung des Menschlichen. Obert, Mathias (2007): Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg- Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert. Freiburg, Alber. Studie zur Aisthesis chinesischer Berg-Wasser-Malerei als epistemologisches System. Serres, Michel (1987): Der Parasit. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Serres, Michel (1998): Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Bahnbrechende erkenntniskritische Studien des französischen Philosophen und Mathematikers zu den Bedingungen und Grenzen von Wahrnehmung und Kommunikation. Whitehead, Alfred North (1987): Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Zentrale prozessphilosophische Arbeit des britischen Mathematikers und Philosophen und zugleich Angebot für eine „andere“, nicht von den zentralen Elementen der Substanz und Materie sondern von Prozessen und Relationen ausgehenden, damit dem chinesischen Denken näher rückenden „westliche“ Philosophie. Zhang, Dainian (2002): Key Concepts in Chinese Philosophy. New Haven (Conn), Yale University Press. Konventioneller Überblick über die Begriffe und Konzepte der chinesischen Diskursgeschichte. 204 5. Ausleitungen 5.2 Autorinnen und Autoren Björn Ahl Studium der Rechtswissenschaft und chinesischen Sprache an den Universitäten Heidelberg und Nanking. Nach Tätigkeiten am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, dem Deutsch-Chinesischen Institut für Rechtswissenschaft in Nanking, der City University of Hong Kong und der China- EU School of Law in Peking ist er seit 2012 Juniorprofessor für chinesische Rechtskultur an der Universität zu Köln. Er schreibt zu Themen der chinesischen Positionen zum Völkerrecht, des chinesischen öffentlichen Rechts, zu Rechtsvergleichung, Rechtstransfers und Rechtskultur. Philip Clart 1989 MA Sinologie (Universität Bonn), 1997 Ph.D. Asian Studies (University of British Columbia, Vancouver, B.C., Kanada). 1998-2008 erst assistant, dann associate professor in Religionswissenschaft an der University of Missouri (Columbia, MO, USA); seit 2008 Professor für Kultur und Geschichte Chinas an der Universität Leipzig. Veröffentlichungen vor allem zu den Religionen Chinas, u.a. Religion in Modern Taiwan (hg. mit Charles B. Jones, University of Hawai'i Press 2003), Han Xiangzi: The Alchemical Adventures of a Daoist Immortal (University of Washington Press 2007), Die Religionen Chinas (Vandenhoeck & Ruprecht 2009), The People and the Dao: New Studies of Chinese Religions in Honour of Daniel L. Overmyer (hg. mit Paul Crowe, Institut Monumenta Serica 2009), und Chinese and European Perspectives on the Study of Chinese Popular Religions (hg., Boyang 2012). Hans van Ess geboren 1962 bei Frankfurt, aufgewachsen in Tübingen, Studium der Sinologie (mit Mongolistik), Philosophie und Turkologie in Hamburg und Shanghai, promoviert 1992 über ein Thema der Politik und Geistesgeschichte der Han-Dynastie, war von 1992-1995 Ostasienreferent in einem Wirtschaftsverband in Hamburg. Anschließend von 1995-1998 Assistent am Sinologischen Seminar der Universität Heidelberg. 1998 Habilitation mit einer Arbeit zum Neokonfuzianismus der Song-Zeit. Seit Herbst 1998 Lehrstuhlinhaber für Sinologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Christian Göbel Professor für Sinologie mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung an der Universität Wien. Er studierte Politikwissenschaft und Moderne Sinologie in Erlangen, Taipei und Heidelberg, promovierte an der Universität Duisburg-Essen, und forschte und lehrte an den Universitäten Duisburg-Essen, Lund, Heidelberg und Wien. Seine derzeitigen Forschungsprojekte untersuchen die Determinanten erfolgreicher politischer Innovationen in China sowie den Einfluss von Informationstechnologien auf Regimestabilität in China. Zu seinen Veröffentlichungen zählen die Monografien „The Politics of Rural Reform in China" (Routledge 2010) und „The Politics of Community Building in Ur- 205 5.2 Autorinnen und Autoren ban China" (Routledge 2011, mit Thomas Heberer) sowie wissenschaftliche Artikel u.a. in the China Journal, the China Quarterly, Journal of Current Chinese Affairs, Politische Vierteljahresschrift und European Political Science. Andreas Guder 1995 M.A. Deutsch als Fremdsprache (München), 1998 Dr. phil. Sinologie (München), 1998-2002 DAAD-Lektor am Beijing University of Technology, 2003-2006 Juniorprofessor für Chinesische Sprache und Übersetzung in Mainz/ Germersheim, seit 2006 Leiter des Studienbereichs Chinesische Sprache an der Freien Universität Berlin, seit 2004 Vorsitzender des Fachverbands Chinesisch e.V. (FaCh), Publikationen zu chinesischer Sprachwissenschaft und Fachdidaktik, 2010-2012 Leiter des deutschen Teils des EU-Projekts EBCL "European Benchmarks for the Chinese Language". Henning Klöter Studium der Sinologie in Peking, Taipei und Leiden (Niederlande), wo er 2003 promovierte; anschließend Lehr- und Forschungstätigkeiten an den Universitäten Leiden und Bochum. 2007-2009 Assistant Professor an der National Taiwan Normal University in Taipei, 2009-2012 Lehrstuhlvertreter an der Ruhr-Universität Bochum (Habilitation 2010), 2012-2013 Professor für Chinesisch (Sprache, Kultur, Translation) an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, seit April 2013 Professor für Fachdidaktik Chinesisch als Fremdprache an der Georg-August-Universität Göttingen. Zweiter Vorsitzender des Fachverbandes Chinesisch e.V.; zahlreiche Veröffentlichungen zur chinesischen Sprach- und Kulturwissenschaft. Stefan Kramer Prof. Dr. phil., Sinologe und Medienwissenschaftler, wird nach Stationen u.a. in Konstanz, Tübingen und Leipzig ab 2014 an der Universität zu Köln zur chinesischen Kultur lehren und forschen. Arbeiten u.a. zur Diskursgeschichte und Geschichte der Einzelmedien in China, Medien- und Kulturtheorie, Epistemologie und Ästhetik. Buchpublikationen u.a. Kinder des Drachen (mit Hu-Chong Kramer, Hg., Leipzig 1994), Schattenbilder (Dortmund 1996), Geschichte des chinesischen Films (Stuttgart, Weimar 1997, koreanisch Seoul 2002), Vom Eigenen und Fremden (Bielefeld 2004), Globalization, Cultural Identities and Media Representations (mit Natascha Gentz, Hg., New York 2006), Das chinesische Fernsehpublikum (Bielefeld 2006), Networks of Culture (mit Peter Ludes, Hg., Münster, London, 2010). Andrea Riemenschnitter Ordinaria für moderne chinesische Sprache und Literatur an der Universität Zürich, Ehrenmitglied der Universität Lingnan, Hongkong und assoziiertes Mitglied des Asia Research Institute der National University of Singapore. Sie nahm Gastprofessuren und Visiting Fellowships an der Beijing Normal University, der University of California, Berkeley und der Tsinghua University, Beijing wahr. Gegenstand ihrer Forschung sind u.a. Kulturgeschichte Chinas (späte Ming-Zeit bis zur Gegenwart), Theorien und Methoden der Kulturanalyse, Prozesse des Kulturtransfers sowie ästhetische und intel- 206 5. Ausleitungen lektuelle Ortsbestimmungen der Moderne. Ihre Veröffentlichungen umfassen u.a. die Monographien Karneval der Götter. Mythologie, Moderne und Nation in Chinas 20. Jahrhundert (P. Lang 2011), China zwischen Himmel und Erde: Literarische Kosmographie und nationale Krise im 17. Jahrhundert (P. Lang 1998), Diasporic Histories. Archives of Chinese Transnationalism (hg. mit D. Madsen, Hong Kong Univ. Pr. 2009), Xian yu yin / Sichtbares und Unsichtbares / The Visible and the Invisible. Gedichte Leung Ping-kwan (Hg. und Übers., mccm creations 2012) und Jia Pingwa. Geschichten vom Taibai-Berg (Hg., LIT 2009). Merle Schatz Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ostasiatischen Institut der Universität Leipzig. Nach ihrem Studium der Sinologie, Mongolistik und Japanologie in Göttingen führte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Feldforschungen in China und der Mongolei zum Thema „Sprache und Identität bei den Mongolen Chinas“ durch. Ihr gegenwärtiges Forschungsinteresse gilt kultureller Nachbarschaft und hybriden Identitäten in der Inneren Mongolei. Publikationen: „The creation of Sinism. Mongolian-Chinese language contact in Inner Mongolia“. (Brockmeyer 2012) „Ögedei mergen qaγan-uüliger. Transkription, Glossar, Index, Zusammenfassung“ (Köppe 2012). „Sprache und Identität der Mongolen Chinas heute“ (i.E. Köppe 2014). Nicola Spakowski seit 2010 Professorin für Sinologie an der Universität Freiburg. Studium der Sinologie und Geschichte an den Universitäten Tübingen, Nanking und an der FU Berlin (1985- 1991); Promotion in Sinologie (1997) und Habilitation in den Fächern Sinologie und Geschichte an der FU Berlin (2006). Sie arbeitete als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Assistentin und Professorin an der FU Berlin und an der Jacobs University Bremen. Ihre Interessengebiete sind die Geschichte Chinas seit dem 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zu ihren Publikationen gehören Helden, Monumente, Traditionen. Nationale Identität und historisches Bewußtsein in der VR China (Hamburg: LIT 1999) und „Mit Mut an die Front“. Die militärische Beteiligung von Frauen in der kommunistischen Revolution Chinas (1925-1949) (Köln: Böhlau 2009). Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BESTELLEN! Otfried Höffe (Hrsg.) Im Namen der Aufklärung 2011, 117 Seiten, €[D] 29,90/ SFr 43,90 ISBN 978-3-7720-8385-3 Was ist Aufklärung und worin liegt ihre nicht nur europäische, sondern interkulturelle Bedeutung? Dieser Frage widmete sich ein chinesisch-deutsches Symposium in Peking anlässlich des Besuchs von Bildungsministerin Annette Schavan. Deutsche und chinesische Philosophen, Sinologen, Kulturwissenschaftler und Kulturvermittler traten in einen interkulturellen und interdisziplinären Dialog und debattierten über die Bedeutung der Aufklärung für den im Zeitalter der Globalisierung über die Grenzen der Kulturen hinweg geführten Diskurs über Moral, Freiheit und Macht. Der vorliegende Sammelband enthält die Vorträge des Symposiums, jeweils in deutscher und chinesischer Sprache. Auf diesem Weg soll eine Bestandsaufnahme der Aufklärung aus der Perspektive beider Philosophietraditionen geleistet werden. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Kennosuke Ezawa / Annemete von Vogel (Hrsg.) Georg von der Gabelentz Ein biographisches Lesebuch 2013, 344 Seiten geb. €[D] 58,00/ SFr 74,70 ISBN 978-3-8233-6778-9 Der große Sprachforscher Georg von der Gabelentz (1840−1893) verfasste unter anderem die erste wissenschaftliche Grammatik des Chinesischen, die auch heute noch als ein Standardwerk gilt. Dieses neue Buch stellt ihn, seine wissenschaftliche Arbeit und seine Familiengeschichte, einem breiteren Publikum vor. Seine neun Jahre jüngere Schwester, Clementine v. Münchhausen, hinterließ ein Manuskript „H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik“; eine neue komplette Abschrift durch die Urenkelin der Verfasserin, Annemete v. Vogel, bildet das Kernstück des Buches. Bislang waren nur Teile davon als Abschriften in Archiven zu lesen. Außerdem wird die detaillierte, 1938 in kleiner Auflage gedruckte familiengeschichtliche Darstellung des alten Adelsgeschlechtes Gabelentz in Altenburg/ Thüringen von Pfarrer Theodor Dobrucky wiedergegeben. Zusammen mit Bildern und Dokumenten aus der Gabelentz- Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin von 2010 werden einige Arbeiten von Fachwissenschaftlern und Forschern zu Gabelentz‘ Leben als Wissenschaftler, Auszüge aus seinen Hauptwerken sowie seine scharfsinnigen „Sentenzen“, die privat überliefert sind, abgedruckt. So soll der Band ein primäres Quellenbuch für alle diejenigen sein, die sich für diesen universellen Gelehrten interessieren, dem heute eine zunehmende internationale Bedeutung als Vorläufer der globalen Sprachforschung zukommt. Dieser Studienführer ist zugleich Einführung und Ratgeber für Studieninteressenten und Studierende von sinologischen, ostasienwissenschaftlichen und ähnlichen Fächern an Universitäten und Fachhochschulen. Er führt an die Gegenstände und Methoden der Chinaforschung heran, gibt zahlreiche Tipps für das wissenschaftliche Arbeiten und stellt die grundlegenden Materialien, Hilfsmittel und Methoden für ein erfolgreiches Studium vor. Als ständiger Begleiter und Nachschlagewerk widmet er sich ausführlich dem Spracherwerb und anderen Grundlagen. Schließlich bietet er einen Überblick über die unterschiedlichen disziplinären Angebote von ostasienwissenschaftlichen Fächern. Diese umfassen philologische, philosophische, regionalwissenschaftliche und ethnologische, medien- und kommunikationswissenschaftliche sowie sozial-, politik-, wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Schwerpunkte. Als interaktive Fortführung mit weiteren konkreten und aktuellen Informationen sowie einem öffentlichen Forum steht zusätzlich zum Buch eine Webseite unter www.narr.de/ chinastudien zur Verfügung.