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Bedeutungswandel deutscher Verben

2013
978-3-8233-7797-9
Gunter Narr Verlag 
Sascha Bechmann

Es geht in dieser Arbeit um die Frage, wie Wortbedeutungen über den absichtsvollen Gebrauch verändert werden und welche strukturellen Veränderungen auf der Ebene der Gebrauchsregel dabei festzustellen sind. Die Herausarbeitung von Bedeutungsparametern, die in Wortbedeutungen semantisch wirksam sind und die wichtige Frage, wie die Binnenstruktur einer Gebrauchsregel durch den Wortgebrauch verändert wird, stehen im Zentrum der Arbeit. Der Wandel deutscher Verben wird analysiert, systematisiert und handlungstheoretisch erklärt. Mögliche Entwicklungspfade deutscher Verben werden nachgezeichnet und als sprachliche Realisierungen zweckrationaler Sprecherabsichten aufgedeckt.

Sascha Bechmann Bedeutungswandel deutscher Verben Eine gebrauchstheoretische Untersuchung Bedeutungswandel deutscher Verben Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 543 Bedeutungswandel deutscher Verben Eine gebrauchstheoretische Untersuchung Sascha Bechmann Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die Arbeit wurde unter dem Titel „Pfade des Bedeutungswandels im deutschen Verbwortschatz. Eine Untersuchung der Parameterstruktur von Wortbedeutungen aus gebrauchstheoretischer Sicht“ von der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf angenommen. D61 © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6797-0 Meinem Vater †2012 7 Inhalt Abbildungsverzeichnis ................................................................................13 TEIL I: ALLGEMEINER TEIL ....................................................................15 1. Einleitung, Motivation und methodische Vorüberlegungen ...............................................................................17 1.1 Relevanz des Themas / Problembereich ........................................... 17 1.1.1 Das Verbum als Untersuchungsgegenstand ..............................................20 1.1.2 Verbaler Bedeutungswandel in Analogie zum adjektivischen Bedeutungswandel ..........................................................................................23 1.2 Theoretisches Konzept, Fragestellungen und Ziele der Arbeit ..................................................................................... 24 1.2.1 Bedeutung vs. Sinn ..........................................................................................27 1.2.2 Gebrauchstheoretische Fixierung .................................................................29 1.2.3 Methodisches Vorgehen und Fragestellungen ..........................................31 1.3 Forschungsstand, Forschungsinteresse und Quellenlage ............... 35 1.3.1 Pragmatische Strategie vs. semantischer Mechanismus ..........................39 1.4 Methodisches Vorgehen....................................................................... 46 1.5 Formale Bemerkungen ......................................................................... 49 2. Bedeutungswandel - eine Begriffsbestimmung........................51 2.1 Der Bedeutungsbegriff ......................................................................... 51 2.1.1 Repräsentationistische Bedeutungstheorien ..............................................55 2.1.2 W ITTGENSTEIN s Gebrauchstheorie der Bedeutung ....................................67 2.2 Zum Wandel in der Sprache................................................................ 77 2.2.1 R UDI K ELLER s „invisible-hand“-Theorie .........................................................84 2.2.2 Überlegungen zum Bedeutungswandel im Speziellen ............................90 2.3 Fazit......................................................................................................... 92 8 3. Zur Konstitution der Gebrauchsregel bei Verben ....................95 3.1 Parameter der Gebrauchsregel............................................................ 96 3.1.1 Allgemeiner Kommunikationsbegriff..........................................................97 3.1.2 Bedeutungsausdifferenzierung mit Hilfe von Parametern der Gebrauchsregel ..........................................................................................98 3.1.3 Die bekannten Parameter der Gebrauchsregel ........................................100 3.1.4 Parameter der Gebrauchsregel bei Verben ...............................................104 3.1.5 Verben und ihre Nebenbedeutungen - Kommunikative Nutzungserweiterung durch Parameter der Gebrauchsregel..............111 3.2 Kategorisierung von Verben anhand außersprachlicher Bedeutungsparameter ........................................................................ 114 3.2.1 Deskriptive Verben ........................................................................................115 3.2.2 Emotive Verben ..............................................................................................117 3.2.3 Evaluative Verben ..........................................................................................117 3.2.4 Mentale Verben...............................................................................................121 3.2.5 Expressive Verben ..........................................................................................122 3.2.6 Soziale und diskursive Verben ....................................................................126 3.2.7 Überblick ..........................................................................................................129 3.3 Parameterverschiebungen als Motor für den Bedeutungswandel - ein Fazit .......................................................... 130 4. Zur (Über-)Generalisierung semantischen Wandels bei Verben .................................................................................................137 4.1 Generalisierung aufgrund rekurrenter Muster und allgemeiner Prinzipien ....................................................................... 137 4.1.1 Gesetze des Bedeutungswandels ................................................................139 4.1.2 Zur Angemessenheit des Regularitätenbegriffs ......................................144 4.1.3 Zum Status sozialer und kommunikativer Regeln beim verbalen Bedeutungswandel .......................................................................154 9 4.1.4 L ÜDTKE s universales Sprachwandelgesetz - Ein Modell für die Erklärung semantischen Wandels? ............................................................158 4.1.5 Sozialtheoretische Fixierung vs. Natürliche Gesetzmäßigkeiten.........165 4.2 Zur Frage der Unidirektionalität konkret > abstrakt ........................ 167 4.2.1 Abstrahierung als semantischer Effekt......................................................170 4.2.2 Semantische Exkorporierung.......................................................................173 4.2.3 Das Prinzip konkret > abstrakt.......................................................................177 4.3 Die pragmasemantische Dimension des Bedeutungswandels - ein Fazit.............................................................................. 179 TEIL II: SPEZIELLER TEIL .......................................................................183 5. Verbaler Bedeutungswandel im kulturellen und kommunikativen Kontext .....................................................185 5.1 Innovation und kultureller Fortschritt als Motor des Bedeutungswandels? .......................................................................... 186 5.1.1 Bedeutungsentleerung durch kulturellen Wandel ...................................195 5.1.2 Metaphorisierung als kulturhistorischer Effekt ......................................199 5.1.3 Bedeutungswandel als Spiegel des Kulturwandels? - Ein Zwischenfazit........................................................................................204 5.2 Bedeutungswandel und Frequenz.................................................... 206 5.2.1 Qualitativer vs. quantitativer Aspekt ........................................................218 5.3 Kulturelle und kommunikative Prinzipien des Bedeutungswandels - ein Fazit......................................................... 219 6. Verfahren des Bedeutungswandels bei Verben ......................223 6.1 Semantische Verfahren - eine Begriffsbestimmung ....................... 224 6.2 Figurative Rede: Metapher und Metonymie ................................... 234 6.2.1 Verbale Metaphern ........................................................................................236 6.2.2 Verbale Metonymien .....................................................................................253 6.2.3 Semantischer Wandel von PHYS-Verben zu Psychverben ...................260 6.3 Fazit....................................................................................................... 267 10 7. Grammatisch-syntaktische Aspekte beim verbalen Bedeutungswandel ..........................................................................271 7.1 Einbeziehung von Theoremen der Valenztheorie und der Kasusgrammatik ................................................................................. 272 7.1.1 Zirkuläre Bedeutungsentwicklung.............................................................275 7.2 Diathesenwandel: Zur Geschichte der semantischen Entwicklung der Verben entschuldigen und erschrecken ................. 282 7.2.1 Zur Semantik des Entschuldigens ................................................................283 7.2.2 Zur Semantik des Erschreckens.....................................................................292 7.3 Grammatische Paradigmatisierung von brauchen zum Modalverb ............................................................................................ 299 7.3.1 Die semantische Funktion von brauchen innerhalb des Modalverbparadigmas - Besetzung einer Leerstelle..............................307 7.3.2 Funktionale Bedeutungsparameterkongruenz ........................................312 7.3.3 Grammatische Paradigmatisierung als semantischer Effekt ................315 7.4 Grammatisch-syntaktischer Wandel im Schatten des Bedeutungswandels - ein Fazit......................................................... 318 8. Pfade des Bedeutungswandels bei Verben ...............................321 8.1 Bedeutungswandel aus handlungstheoretischer Sicht .................. 322 8.1.1 2-Ebenen-Modell der Bedeutung und Semantische Kopplung .....................322 8.1.2 Das Modell der semantischen Pfade bei K ELLER / K IRSCHBAUM ............339 8.2 Wandelpfade als strukturelle Parameterverschiebungen ............. 344 8.2.1 Der expressiv-evaluative Pfad (Pfad 1) .....................................................345 8.2.2 Der abschwächende Pfad (Pfad 2) ..............................................................349 8.2.3 Der evaluative Pfad (Pfad 3) ........................................................................352 8.2.4 Der expressive Pfad (Pfad 4)........................................................................355 8.2.5 Der abstrahierende Pfad (Pfad 5)................................................................358 8.2.6 Der konkretisierende Pfad (Pfad 6) ............................................................361 8.2.7 Die emotiven Pfade (Pfad 7a, 7b und 7c) ..................................................365 11 8.2.8 Der illokutionäre Pfad (Pfad 8) ...................................................................369 8.2.9 Der sozial-diskursive Pfad (Pfad 9)............................................................372 8.2.10 Der Nullpfad (Pfad 10)..................................................................................375 8.3 Die Karte der semantischen Wandelpfade bei Verben - ein Fazit ............................................................................................. 378 9. Fazit und Ausblick ...........................................................................381 Literaturverzeichnis.....................................................................................389 13 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Phänomene der dritten Art ............................................................ 86 Abb. 2: Kumulationsprozess ....................................................................... 86 Abb. 3: Invisible-hand-Prozess...................................................................... 89 Abb. 4: Bedeutungswandel ......................................................................... 91 Abb. 5: Verbklassifizierung anhand außersprachlicher Gebrauchsparameter .................................... 130 Abb. 6: Die Verfahren des Bedeutungswandels bei Verben und ihre strukturellen Folgen...................................................... 269 Abb. 7: Zirkuläre Bedeutungsentwicklung ............................................. 277 Abb. 8: Das erweiterte Paradigma der Modalverben mit brauchen...... 310 Abb. 9: 2-Ebenen-Modell der Bedeutung ................................................ 330 Abb. 10: Mittel-Zweck-Relation und das Prinzip der Semantischen Kopplung .............................................................. 335 Abb. 11: Der expressiv-evaluative Pfad (Pfad 1) ...................................... 348 Abb. 12: Der abschwächende Pfad (Pfad 2) .............................................. 351 Abb. 13: Der evaluative Pfad (Pfad 3)........................................................ 354 Abb. 14: Der expressive Pfad (Pfad 4)........................................................ 357 Abb. 15: Der abstrahierende Pfad (Pfad 5) ................................................ 360 Abb. 16: Der konkretisierende Pfad (Pfad 6) ............................................ 364 Abb. 17: Die emotiven Pfade (Pfad 7a, 7b, 7c) .......................................... 368 Abb. 18: Der illokutionäre Pfad (Pfad 8) ................................................... 371 Abb. 19: Der sozial-diskursive Pfad (Pfad 9) ............................................ 374 Abb. 20: Der Nullpfad (Pfad 10) ................................................................. 377 Abb. 21: Die Karte der semantischen Wandelpfade bei Verben ............ 380 TEIL I: ALLGEMEINER TEIL Was ein Wort bedeutet, kann ein Satz nicht sagen. (Ludwig Wittgenstein, 1889-1951) 17 1. Einleitung, Motivation und methodische Vorüberlegungen 1.1 Relevanz des Themas / Problembereich Haben Sie schon einmal ein Stück Holz, eine Zahnbürste oder einen Pudel begriffen? Hat Sie mal ein Buch im wörtlichen Sinne berührt? Wissen Sie, wie man einen Salat lesen muss oder haben Sie schon einmal etwas anderes geköpft als eine Flasche Wein? Haben Sie schon einmal etwas anderes geschossen als ein Foto? Können Sie Kartoffeln auch ohne ein Fernglas ausmachen und sind Sie wirklich schon einmal aus luftiger Höhe abgestürzt, wenn Sie in einer Kneipe waren? Vermutlich werden Sie auf alle (oder zumindest auf die meisten) Fragen mit Nein antworten und das ist auch nicht verwunderlich; viele Verben werden heute in Bedeutungsvarianten gebraucht, die vor einigen hundert Jahren noch nicht denkbar waren. Die damals gebräuchlichen Lesarten hingegen kennen wir heute nicht mehr. Wir verwenden gegenwärtig zwar noch dieselben Verben wie früher, bezeichnen damit aber andere Vorgänge. Die Ursprungsbedeutungen, in denen unsere Vorfahren diese Wörter ganz selbstverständlich verwendet haben, kommen uns heute befremdlich vor. Wir operieren also täglich mit Verben, die das Resultat eines Bedeutungswandels sind; und oftmals merken wir es gar nicht. Wie kam dieser Wandel zustande? Was geschah von Fall zu Fall bei der Bedeutungsentwicklung? Und: Lassen sich die Veränderungen in unserer Verbszene sprachwissenschaftlich erklären oder sogar systematisieren? Wenn in einem gegenwärtigen Gesprächskontext davon die Rede ist, jemand habe in etwas eingegriffen, so denkt man sofort an eine Maßnahme der Intervention. Ein Fahrlehrer greift ein, wenn der Fahrschüler ein Stoppschild überfährt - und bewahrt ihn und sich damit vor einem Unfall. Politiker sprechen davon, in Krisenherden eingreifen zu müssen und meinen damit oft militärische Aktionen oder politische Sanktionen. Und auch Pädagogen müssen nicht selten eingreifen, wenn Schüler den rechten Pfad der Tugend zu verlassen drohen. Dass noch vor 200 Jahren der Ausspruch Ich habe ihm in die Tasche eingegriffen eine völlig gebräuchliche Äußerung war, weiß heute nahezu niemand mehr. Der berühmte Eingriff in Herrenunterhosen oder der Eingriffschutz bei Briefkästen als Substantive erinnern an diese, im folgenden Beispiel noch lebendige, Ursprungsverwendung des Wortes: 18 Nicht weit von Anschlag liegt noch so ein Stein, den er hingeworfen hat in der Schlacht, da sieht man noch alle fünf Finger, wie sie in den Stein eingegriffen haben. 1 Wenn Sie diese Zeilen lesen, werden Sie sicher begreifen und erfassen, was ich hier schreibe, ohne dass Sie dazu im wörtlichen Sinn meine Gedanken oder die Buchstaben, mit denen ich diese Worte zu Papier bringe, haptisch greifen oder fassen müssten, geschweige dies überhaupt könnten. 2 Stattdessen werden diese Zeilen von Ihnen gelesen, was bedeutet, dass Sie die Buchstabenfolge, aus der sich die Wörter formen, kognitiv verarbeiten. Dieser Prozess spielt sich in Ihrem Kopf ab und er kennzeichnet die heutige Bedeutung des Wortes lesen. Dem eigentlichen Wortsinne nach müssten Sie aber, ähnlich wie beim begreifen oder erfassen, die Buchstaben oder Wörter von Hand trennen, indem Sie diese etwa ausschneiden, vor sich ausbreiten und beginnen zu sortieren, beispielsweise nach der Größe oder nach der Form. Diese manuelle Auswahl, das diskriminierende Unterscheiden verschiedener Entitäten, das die ursprüngliche Bedeutung des Wortes lesen fordert, zeigt noch in Jakobs Krönung, der milden Auslese oder in der Weinlese an Rhein oder Mosel ihre Spuren. 3 In Wahrheit meinen wir heute mit lesen etwas ganz anderes, wir verwenden dieses Wort gegenwärtig metaphorisch. Durch die zunächst assoziative Wortverwendung haben wir Sprecher über die Zeit den Bedeutungswandel bewirkt; er ist im Fall des Wortes lesen schon gänzlich konventionalisiert und lexikalisiert, für eingreifen, begreifen und erfassen gilt dies ebenso. 1 Deutsches Sagenbuch: 187. Die Sassen und die Jüten. S. 148. In: Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. [Leipzig: Georg Wigand, 1853]. ed. Karl Martin Schiller. Meersburg, Leipzig 1930. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 2 Dies gilt mit einer Einschränkung: Wäre dieser Text in Blindenschrift verfasst, könnte man konstatieren, dass die haptische Sphäre mit der kognitiven Sphäre verknüpft wird: Lesen ist dann ein haptischer Prozess, der durch Begreifen zum Verständnis führt. Damit ein blinder Leser etwas begreifen kann, muss er es in der Tat begreifen, also anfassen. Wenn wir diesen Fall aber einmal außen vor lassen, ist Begreifen ein rein kognitiver Vorgang (ebenso wie Lesen). 3 Vgl. DWb: Lesen wird hier in der Ursprungsbedeutung auflesen, sammeln und in Bezug auf konkrete Dinge, die als einzelne oder zerstreut vorkommen können, angeführt. Der Wortstamm wird aus dem Lateinischen Wort legere = sammeln abgeleitet. So verwendet Goethe das Verb lesen noch in der ursprünglichen Bedeutung, auch wenn die gegenwärtig gebräuchliche Verwendung zu dieser Zeit schon sehr viel stärker vertreten war: „Die Frauen saßen darin, um zu nähen und zu stricken; d i e K ö c h i n l a s i h r e n S a l a t ; die Nachbarinnen besprachen sich von daher miteinander, und die Straßen gewannen dadurch in der guten Jahreszeit ein südliches Aussehen“ (DuW: Goethe HA, Band 9: 11. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebung durch den Verfasser). 19 Diese Beispiele aus unserem alltäglichen Sprachgebrauch zeigen, dass Wörter - und insbesondere in nicht unerheblichem Maß die Verben - im Laufe der Zeit ihre Bedeutung verändern, mitunter neue Bedeutungen annehmen und alte Bedeutungen ablegen können. Lässt sich ein Wort in der heutigen Bedeutung nicht mehr so ohne Weiteres in den Kontext einfügen, werden wir vermutlich die gesamte Äußerung absurd finden und nicht verstehen, was mit ihr gemeint ist. Wir werden sagen Das verstehe ich nicht und werden meinen Ich verstehe den Sinn der Äußerung nicht. So wird mancher Leser heute den Ausspruch Goethes Nur die Lumpe sind bescheiden, Brave freuen sich der Tat nicht verstehen, wenn er nicht reproduzieren kann, dass brav ursprünglich mutig, tapfer hieß. 4 Das Miss-Verstehen beruht dann darauf, dass wir die (heutigen) Bedeutungen der Einzelelemente (der Wörter) nicht zueinander sinnvoll in Beziehung setzen können. Als Linguist gesprochen: Wir kennen die ursprüngliche Gebrauchsregel (R 1 ) eines Wortes (W) nicht mehr und missinterpretieren einen ganzen Satz (S) auf der Folie der heute gebräuchlichen Bedeutungskonvention (R 2 ). Daraus ergibt sich eine erste, noch unscharfe Definition für den Begriff Bedeutungswandel, die bereits wichtige Grundbegriffe enthält: Bedeutungswandel ist so verstanden die Entwicklung von der Gebrauchsregel R 1 des Wortes W zur Gebrauchsregel R 2 unter (weitgehender) Beibehaltung der morphologischen Gestalt des Wortes W, sowie der (weitgehenden) Konstanz der syntaktischen Strukturen im Satz S. Bedeutungswan- 4 Im Englischen bedeutet brave noch immer tapfer, mutig. Hier hat sich bis heute die ursprüngliche Bedeutung erhalten. Dass sich insbesondere Adjektive gut dazu eignen, fehlinterpretiert zu werden, liegt daran, dass sie i. d. R. Eigenschaften spezifizieren. Im Gegensatz zu Verben fällt es über den Kontext oft nicht auf, wenn ein Adjektiv sich gewandelt hat. Man interpretiert das Adjektiv in der neuen Lesart und - wie das Beispiel brav sehr gut zeigt - erkennt den Wandel nicht (mehr). Insbesondere dann, wenn die neue Bedeutungsvariante bereits lexikalisiert ist, wird man die ursprüngliche Bedeutung nicht reproduzieren, sondern intuitiv die neue Bedeutungsvariante für richtig halten. Bei Verben ist die konkrete Vorstellung, die durch das Verb - als semantisches Zentrum des Satzes - generiert wird, deutlich stärker, so dass Mehrdeutigkeit eher zu offensichtlichen Missverständnissen oder zum Nicht-Verstehen führt. Man „stolpert“ eher über einen Satz, in dem die Verbbedeutung von der heutigen abweicht, als dies bei Adjektiven der Fall ist. Das ist vermutlich der Grund, warum Polysemie bei Verben eher selten ist und stattdessen wenig frequente Bedeutungsvarianten bei Verben eher verschwinden als bei Adjektiven. Auf diesen Aspekt wird an späterer Stelle näher eingegangen. 20 del geht in der Folge mit einem Verschwinden von R 1 im Wortschatz einher, während das Wort W weiterhin gebräuchlich bleibt. 5 Einen Satz oder eine sprachliche Äußerung verstehen heißt also auch, zu wissen, was dessen Bestandteile, insbesondere die Wörter, zu einer bestimmten Zeit bedeutet haben, also zu wissen, wie man ein Wort zu einer bestimmten Zeit gebraucht hat. Die Kenntnis der Regel für die ursprüngliche Wortverwendung (R 1 ) ist für das richtige Verständnis historischer Texte in vielen Fällen unabdingbar. Veränderungen der Regel des Gebrauchs finden aber keineswegs willkürlich statt. Im Zuge dieser Arbeit wird sich zeigen, dass es zweckrationale Erwägungen sind, die zum Wandel der Wortbedeutung beitragen. Dabei findet eine Kopplung statt zwischen der Mikroebene des Sprechers und der Makroebene der Sprache, die sich in der Verschiebung und Inkorporierung semantischer Parameter der Gebrauchsregel manifestiert (Kapitel 3). Semantische Veränderungen insbesondere für den Verbwortschatz nicht nur zu beschreiben, sondern auf der Grundlage eines adäquaten pragmatischen Theoriemodells über die Aufdeckung von Wandelpfaden (verstanden als eine intentionale Zweck-Mittel-Relation) zu erklären und zu systematisieren, ist Ziel der vorliegenden Arbeit, die damit einen Beitrag leisten soll zur etwas einseitigen und in letzter Zeit eher still gewordenen Diskussion um das Phänomen Bedeutungswandel. 6 1.1.1 Das Verbum als Untersuchungsgegenstand Dass sich diese Arbeit nun ausgerechnet mit der Gruppe der Verben beschäftigt, ist kein Zufall, aber möglicherweise erstaunlich und bedarf an dieser Stelle der Erklärung. Auf den ersten Blick gelten Verben im Vergleich zu Adjektiven und Substantiven als eher wandelresistent, zumindest doch als ziemlich wandelstabil, was oftmals ihrer sprachlichen Funk- 5 Dem Verfasser ist bewusst, dass diese Definition eine starke Verkürzung darstellt und auch nicht jede der hier aufgeführten Prämissen zwingend erfüllt sein muss bzw. erfüllt sein kann. Vielmehr soll die Definition an dieser Stelle zur Einführung in die Thematik dienen - im weiteren Verlauf der Arbeit werden die Prämissen noch zu präzisieren sein. Insbesondere der Begriff der Gebrauchsregel wird sich im Folgenden als wesentlich erweisen. 6 Dass insbesondere wortartspezifische Untersuchungen ein Desiderat der linguistischen Forschung darstellen, wird mit einem Blick auf die Forschungsliteratur und das Forschungsinteresse in Abschnitt 1.3 deutlich. Der Befund: Neuere linguistische Ansätze nähern sich dem Phänomen entweder nur peripher oder sie versuchen, interdisziplinäre Erkenntnisse (z. B. aus dem Bereich der Grammatik) auf den wortartspezifischen Bedeutungswandel zu adaptieren. Dass dies nicht immer erklärungsadäquat gelingen kann, zeige ich exemplarisch mit einem Blick auf die Anwendung von Theoremen aus der Valenztheorie und Kasusgrammatik in Kapitel 7 dieser Arbeit. 21 tion als Ausdrucksmittel für Tätigkeiten, Handlungen, Zustände oder Vorgänge im Satz zugesprochen wird. 7 Vereinfacht lässt sich wohl als unter Linguisten allgemein akzeptierte Wahrnehmung das Verhältnis von Bedeutung und Tätigkeit bei Verben in etwa so ausdrücken (in Form von intuitiven Glaubenssätzen): - Wenn sich Verben semantisch verändern, dann wohl am ehesten, weil sich die korrespondierende Handlung oder Tätigkeit ändert oder weil sie schlichtweg nicht mehr ausgeführt wird. - (Grundlegende menschliche) Tätigkeiten und Handlungen wandeln sich aber eher selten. - Das gilt im Wesentlichen auch für elementare Zustände oder Vorgänge in der Welt. - Entsprechend selten wandeln sich Bedeutungen von Verben. Diese vermeintlich logische Kausalitätskette führt zu einem Irrglauben, der bereits auf einer falschen Annahme einer untrennbaren Verknüpfung von Verbbedeutung und korrespondierender Tätigkeit im ersten Kettenglied basiert. Legt man nämlich diese explanativ sehr schwache Erklärung an, wäre Bedeutungswandel bei Verben ein eher banales Phänomen: Ändert sich die Tätigkeit, ändert sich auch das Verb. Aber lässt sich semantischer Wandel bei Verben wirklich so einfach erklären? Die Behauptung, Bedeutungswandel bei Verben sei zwingend an den Wandel der Tätigkeit oder Handlung geknüpft, lässt sich leicht widerlegen. So werden Filme heute immer noch gedreht und geschnitten, gute Motive werden geschossen. Und dies, obwohl sich technisch gesehen nichts mehr dreht, niemand etwas mit der Schere oder dem Messer schneidet und auch das wortwörtliche Schießen würde manches Motiv eher zerstören als es auf Dauer fotografisch zu konservieren. Warum haben sich z. B. diese Verbbedeutungen bis heute konstant gehalten, wenn sich doch die Tätigkeiten (technisch) grundlegend verändert haben? Und warum würde wohl ein Freund am Telefon zu Recht annehmen, es handele sich um ein Buch und nicht etwa um einen knackigen Salat für mein Abendessen, wenn ich ihm sagen würde, er störe mich gerade beim Lesen? Warum also hat sich dieses Verb semantisch so grundlegend gewandelt, dass die ehemals sehr gebräuchliche Bedeutungsvariante (le- 7 Vgl. D UDEN -Grammatik 1998: 85, 90ff. C ATHERINE F ABRICIUS -H ANSEN definiert Verben als Wörter, „die in sog. finiter Form Tempus, Modus und eventuell Diathese ausdrücken, sofern es diese grammatischen Kategorien in der jeweiligen Sprache gibt, und im typischen Fall Handlungen, Aktivitäten, Vorgänge u. dgl. bezeichnen“ (F ABRICIUS -H ANSEN 1991: 692). Den Aspekt der Ausdrucksfunktion einer Diathese durch das Verbum und die möglichen semantischen Prozesse beim Diathesenwandel werde ich weiter unten im speziellen Teil dieser Arbeit in Kapitel 7 anhand zweier Beispiele näher beleuchten. 22 sen=sortieren, auswählen) nahezu völlig verschwunden und nur noch im Bereich der Weinlese etwa als Spezialbedeutung erhalten geblieben ist? Die Antwort lautet: Es ist keine Frage der Kopplung an eine bestimmte Tätigkeit, sondern die Kopplung an einen bestimmten sprachlichen Zweck und zudem eine bestimmte semantische Eignung, die einem sprachlichen Zeichen eine neue Bedeutung zuweisen kann. 8 Diese Aspekte werde ich insbesondere in Kapitel 5 aufgreifen und anhand weiterer Beispiele intensiver beleuchten. Die pragmasemantische Struktur der Gebrauchsregel wird für diese Frage eine besondere Rolle spielen. Wie steht es derweil um die vermeintliche Tatsache, dass Verben generell eher bedeutungskonstant sind? R UDI K ELLER und P ETRA R ADTKE konnten im Rahmen einer Pilotuntersuchung im Jahr 1997 zum adjektivischen Bedeutungswandel feststellen, dass rund 18 Prozent der Substantive, 24 Prozent der Verben und 37 Prozent der Adjektive Bedeutungsveränderungen aufweisen. 9 Mit diesem Befund stehen die Verben gar nicht mehr so stabil da, wie man vielleicht zunächst glauben mag. Im Gegenteil: Neben den Adjektiven sind es gerade die Verben, die in besonderem - aber im Vergleich zu den gut untersuchten Adjektiven abweichendem - Maß Wandel erkennen lassen. Die Vermutung, dass sich Verben semantisch eher spärlich wandeln, ist daher falsch. Richtig ist: Verben wandeln sich gerne und häufig. Oder richtiger: Wir Sprecher tun dies. 10 Die bislang angeführten Beispiele aus der Alltagskommunikation zeigen m. E. deutlich, dass a) Verben in nicht unerheblicher Weise Wandelphänomene aufweisen und b) der Wandel bei Verben nichts (oder nur wenig) mit dem Wandel der korrespondierenden Tätigkeit zu tun hat. Mit dem Blick auf diese beiden Befunde eröffnet sich so ein Forschungsfeld, in dem das Verb ins Zentrum der Betrachtung rückt. 8 Dieser Gedanke des Bedeutungswandels als Wandel der Mittel-Zweck-Relation wird uns in dieser Arbeit an einigen Stellen weiter beschäftigen. In Kapitel 5.1 werde ich Gedanken zur Frage entwickeln, welchen Zusammenhang es zwischen dem Wandel der Wortbedeutung und dem Wandel des Denotats gibt (oder nicht gibt). 9 Vgl. den Abstract eines Vortrags von R UDI K ELLER und P ETRA R ADTKE anlässlich der DGfS-Jahrestagung 1997. Zu finden unter http: / / coral.lili.uni-bielefeld.de/ DGfS/ Jahrestagungen/ dgfsabst/ node154.html. 10 Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn man nicht behaupten möchte, dass Bedeutungswandel ein innersprachlich motivierter Prozess ist, der einer Eigendynamik folgt. An späterer Stelle innerhalb dieser Arbeit wird diese Frage, wer oder was für den Wandel verantwortlich ist und wie es sich bei Verben mit der semantischen Bindung an eine konkrete Tätigkeit verhält, eine zentrale Rolle einnehmen und erklärungsadäquat beantwortet werden. 23 1.1.2 Verbaler Bedeutungswandel in Analogie zum adjektivischen Bedeutungswandel Worin liegt das Besondere, wenn man den semantischen Wandel der Verben, dem der nachweislich wandelaktiven Adjektive gegenüberstellt? Gibt es Unterschiede? Und welche Gemeinsamkeiten lassen sich feststellen? Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich zunächst ansehen, was für den Wandel der Adjektive in erster Linie charakteristisch ist und diese spezifischen Charakteristika mit denen der Verben vergleichen. Adjektive sind, wie R UDI K ELLER und I LJA K IRSCHBAUM im Jahr 2003 im Zuge einer handlungsorientierten Untersuchung zum Bedeutungswandel im Adjektivwortschatz festgestellt haben, aufgrund ihrer Funktion als Ausdrucksmittel von Haltungen sehr häufig bewertend, wobei die bewertende Variante über das Verfahren der Metaphorisierung oder der Metonymie häufig aus einer neutralen, deskriptiven Bedeutungsstufe entstanden ist. Wenn doof schwerhörig bedeutet, dann liegt es nahe, dass doof irgendwann in einer metaphorischen Lesart auch schwerfällig im Sinne geistiger Fähigkeiten bedeuten kann. Heute trägt diese neue Lesart die Hauptbedeutung. Viele ältere Menschen verwenden das Adjektiv noch heute in seiner ursprünglichen Bedeutung. So kommt es nicht selten vor, dass diesen Menschen von jüngeren erwidert wird: Nein, Sie sind nicht doof. Sie hören nur nicht mehr so gut. So plausibel dieser Zusammenhang zwischen Bewertung und Wandel ist und so gut man darüber die meisten Wandelprozesse bei Adjektiven erklären kann, so schwierig wird eine Übertragung dieser Erkenntnis auf das Verbum. Das Dilemma ist: Verben sind in aller Regel nicht bewertend (auch wenn ihnen diese Eigenschaft bisweilen zufällt) und sie kennzeichnen auch keine Haltungen oder Eigenschaften - ein Umstand, der sie aber nicht davon abhält, auf ähnlichen Pfaden wie die Adjektive zu neuen Bedeutungen zu gelangen. So werden wir in Kapitel 3 erkennen, dass Verben dennoch bewertend verwendet werden können, auch wenn ihnen als Ausdrucksmittel eine solche Funktion - im Gegensatz zu den Adjektiven - gar nicht zustehen dürfte. Wir werden zudem in Kapitel 6 feststellen, dass auch das Resultat des Wandels häufig semantisch ein anderes ist: So tragen Verben in Folge einer Metaphorisierung nur vereinzelt (und keinesfalls zwangsläufig, wie wir es für die Adjektive annehmen dürfen) evaluative Züge - in dieser Hinsicht unterscheiden sich die Verben grundsätzlich von den Adjektiven. 11 Aspekte wie diese stehen im Zentrum des speziellen Teils dieser Arbeit und sie sind wichtig: Sie erweitern und präzisieren in angemessener 11 Vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 98, 149 und 157f. 24 Weise die guten und richtungsweisenden Ergebnisse von K ELLER und K IRSCHBAUM zum adjektivischen Bedeutungswandel, die dieser Arbeit Stein des Anstoßes gewesen sind und die in ihrer Erweiterung nach einer intensiven Beschäftigung mit verbalem Bedeutungswandel verlangen. So unterschiedlich der Wandel in beiden Wortarten auch abläuft, so systematisch lassen sich übergreifende Strukturen und insbesondere Pfade des Wandels feststellen. Dabei ist das, was im Folgenden unter einem Pfad des Bedeutungswandels verstanden wird, nicht mit denjenigen Pfaden zu verwechseln, wie sie beispielsweise G ERD F RITZ in seinen semantischen Analysen entwirft. 12 Es sind damit nämlich nicht so sehr die makroskopischen Typen (oder Verfahren) des semantischen Wandels gemeint, sondern vielmehr die Mittel-Zweck-Relationen, die „zwischen den Absichten der Sprecher und der sprachlichen Realisierung dieser Absichten auf der Wortebene“ 13 unterscheiden. Über diesen Fokus der absichtsvollen Gebrauchsrekonstruktion und der Übertragung auf die Wortebene unterscheidet sich der Ansatz, der dieser Arbeit zugrunde liegt, sehr fundamental von dem, was in der linguistischen Forschung allgemeiner Bestand ist. Nicht die linearen, deskriptiven Pfade von der Ursprungszur Zielbedeutung (und die vermuteten Verfahren) stehen hier im Licht, sondern die weitaus komplexeren Entwicklungspfade, die über den Aspekt der intentionalen Wortverwendung das Wort langfristig semantisch verändern. Die so verstandenen Pfade geben einen wesentlich konkreteren Einblick in den Prozess des Bedeutungswandels, indem sie weniger beschreiben und kategorisieren als viel mehr über den Zweck oder die rationale Absicht auf Sprecherseite semantischen Wandel in vielen Fällen für die Wortart der Verben erklären und plausibel nachvollziehbar machen können. „Die Karte, auf der die Pfade des Bedeutungswandels eingetragen sind, ist noch zu verfeinern und zu vervollständigen“ 14 , schreiben K ELLER und K IRSCHBAUM in ihrem Vorwort ihrer Forschungsarbeit zum adjektivischen Bedeutungswandel. Diesem Aufruf zu folgen, ist die Herausforderung, die ich mit dieser Arbeit annehme. 1.2 Theoretisches Konzept, Fragestellungen und Ziele der Arbeit Die Fragestellungen und Ziele dieser Arbeit ergeben sich zum einen aus der zuvor dargestellten Relevanz des Themas und zum anderen aus dem 12 F RITZ 2005: 39ff. 13 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 146 14 K ELLER / K IRSCHBAUM , 2003: VII 25 Stand der Forschung, der weiter unten ausführlich und mit Blick auf das spezielle Thema dieser Arbeit referiert und kritisch bewertet wird. Besonders an letzteren Aspekt knüpft dieses Vorhaben an, sodass an dieser Stelle - als kleiner Vorgriff auf das nächste Unterkapitel - die Monographie R UDI K ELLER s und I LJA K IRSCHBAUM s aus dem Jahr 2003 kurz Erwähnung finden muss: Es handelt sich dabei m. W. um die bislang einzige korpusbasierte, wortartspezifische und auf den Sprecher und dessen intentionales Handeln fokussierte Untersuchung semantischer Wandelphänomene im Deutschen. Da ich diese Untersuchung im Folgenden als methodische und theoretische Basis, sowie als Maßstab für meine eigenen Ergebnisse anlege, resultiert meine spezifische Fragestellung aus den dort fixierten Befunden: Die Ergebnisse, die aus R UDI K ELLER s und I LJA K IRSCH- BAUM s Untersuchung zum Bedeutungswandel bei Adjektiven gewonnen wurden, liegen meiner Forschungsarbeit methodisch und inhaltlich zugrunde und sollen im Laufe dieser Arbeit ergänzt und verfeinert werden. Was sind die wesentlichen Erkenntnisse, die sich aus der Untersuchung zum Adjektivwortschatz ergeben haben? Inwiefern unterscheidet sich der methodische und theoretische Ansatz von dem, was bislang in der linguistischen Forschung akzeptiert war und ist? Eine grundlegende, wenn auch stark verkürzte Antwort, die diese Fragen plausibel beantwortet, lautet: Der Sprecher und dessen intentionales Handeln wird in den Vordergrund gerückt. Es geht im Zuge einer solchermaßen handlungszentrierten Semantik nicht so sehr darum, einen früheren Sprachzustand zu erforschen und abzubilden - solche Fragestellungen lägen im Erkenntnisinteresse eines Sprachhistorikers. Der Blickwinkel, aus dem K ELLER und K IRSCHBAUM Bedeutungswandel betrachten (und den ich in dieser Arbeit aufgreife) ist ein anderer. Es geht darum, „Gegenwärtiges als Gewordenes zu verstehen“ 15 , also „etwas über die Prinzipien des Werdens und damit auch über einige Prinzipien unseres Kommunizierens zu erfahren“ 16 . Wenn man mit diesem fokussierten Blick Bedeutungswandel als Ergebnis eines kulturellen Auswahlprozesses, also als Resultat eines Kommunikationsprozesses begreift, kann man semantische Veränderungen als Folge sprachlichen Handelns kommunizierender Individuen erkennen. Indem man Bedeutungswandel so verstanden auf der Makroebene der Sprache als kumulativen, nicht-intendierten Nebeneffekt intentionaler sprachlicher Bemühungen begreift, lässt sich die sprachliche Wahl des Sprechers, aus der 15 K ELLER 2006c: 341 16 K ELLER 2006c: 341 26 letztlich der Wandel resultiert, erklären. 17 Diese theoretische Fixierung ist notwendig, um Bedeutungswandel im Sinne eines Mittel-Zweck- Rationalismus zu begreifen, der als Mittel die menschliche Sprache bzw. deren semantische Elemente (die Wörter) involviert und der streng auf einen intentionalen Zweck (in erster Linie Repräsentation oder Persuasion) ausgerichtet ist. Dass man in dieser Denkweise einen rein instrumentalistischen Bedeutungsbegriff in W ITTGENSTEIN scher Tradition anlegen muss, erklärt sich von selbst. Diese Zusammenhänge werden in Kapitel 2 ausführlicher erörtert. Ich möchte nun einen kurzen Überblick über die relevanten Fragestellungen meiner Arbeit geben und dabei - als kleine „Appetitanreger“ - einige interessante und wichtige Aspekte anreißen, die im weiteren Verlauf noch in der Tiefe zu diskutieren sein werden, insbesondere, was den theoretischen Rahmen meiner Überlegungen betrifft. Um Bedeutungswandel anhand konkreter Beispiele aus dem Verbwortschatz zu erklären, muss man sich zunächst auf ein allgemeines theoretisches Grundgerüst, auf eine allgemeine und pragmatische Theorie zur Erklärung des Sprachwandels verständigen und diese zugrunde legen. Dies ist nötig, da sich der historisch-semantische Wandel ebenso systematisch manifestiert, wie alle anderen beschreib-, beobacht- und erklärbaren Phänomene des Sprachwandels (syntaktische, morphologische und lexikalische). Trotz einiger Besonderheiten wird Bedeutungswandel hier als Spezialfall des Sprachwandels begriffen. 18 Welche pragmatische Theorie ist nun dazu geeignet, den in diesem Sinne verstandenen Bedeutungswandel von Wörtern zu erklären? Dazu muss man zunächst die Frage stellen, in welcher Weise sich Sprache wandelt und wovon der Wandel letztlich abhängig ist. Ist Sprachwandel ein natürliches Phänomen wie etwa die Evolution oder tragen Menschen dazu bei, dass sich Wortbedeutungen verändern? Ist Sprach- und Bedeutungswandel als Artefakt zu begreifen? Beide Annahmen sind für sich genommen falsch, denn Sprachwandel ist weder ein Naturphänomen noch ein Artefakt. Vielmehr handelt es sich beim Sprachwandel um ein Phänomen der dritten Art, um ein sogenanntes invisible-hand-Phänomen. 19 Dies bedeutet, dass es zwar Menschen sind, die Sprachen verändern, diese Veränderungen aber nicht willentlich oder absichtlich hervorbringen. Sprachwandel stellt sich vielmehr als ein Makroeffekt (auf der Ebene 17 Diese Theorie, die unter dem Namen invisible-hand-Theorie bekannt geworden ist, wird in Kapitel 2 eingehend vorgestellt. 18 Vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 7ff. und K ELLER 2006c: 341 19 Vgl. K ELLER 1994: 87ff. K ELLER s Erklärung mittels der unsichtbaren Hand ist ihrer explanativen Kraft halber und wegen ihrer Funktion als fundamentales theoretisches Konzept zur Erklärung von Sprachwandel ein eigener Abschnitt in Kapitel 2 dieser Arbeit gewidmet. 27 der Sprache) individueller Einzelhandlungen auf der Mikroebene (der des Sprechers) dar, der wie von unsichtbarer Hand abläuft. Der Wandel der Sprache ist somit die unintendierte Folge und ein Nebeneffekt des alltäglichen Kommunizierens. Wenn eine Vielzahl von Sprechern - völlig unabhängig voneinander aber möglicherweise aus ähnlichem Interesse - ein Wort in einer ganz bestimmten Weise verwenden, in der es zuvor nicht verwendet worden ist, kommt es dazu, dass der Sinn der Satz- oder Wortäußerung neu verregelt wird. In genau diesem Moment der semantischen Neuverregelung findet das statt, was wir gemeinhin als Bedeutungswandel bezeichnen. Niemand, der an diesem Prozess beteiligt war, wird von sich sagen können Ich habe die Bedeutung des Wortes „eingreifen“ geändert, aber faktisch hat er es getan. Oder richtiger: Er hat dazu beigetragen, dass dieser Wandel manifest wurde. Somit ist es für semantische Analysen sowohl zielführend als auch notwendig und in vielen Fällen hinreichend, eben dieses pragmatische Konzept als Maßstab an den verbalen Bedeutungswandel anzulegen und den Sprecher und dessen intentionales Handeln in den Fokus zu rücken. Semantische Erklärungen über dieses Konzept gelingen aber nur, wenn wir zugleich eine instrumentalistische Bedeutungsauffassung vertreten, Bedeutung also eng an das Wort als sprachliches Ausdrucksmittel knüpfen und semantische Bedeutung im Zusammenhang mit dem konkreten Wortgebrauch begreifen und definieren. 20 1.2.1 Bedeutung vs. Sinn Die Bedeutung eines Wortes ist - nach W ITTGENSTEIN - die Gebrauchsregel (im Sinne einer Gebrauchskonvention) des Wortes innerhalb der Sprache. 21 Bedeutung ist dabei streng von dem zu trennen, was der Sprecher 20 Das gedankliche Gegenmodell zur instrumentalistischen Bedeutungsauffassung wäre ein repräsentationistischer Bedeutungsbegriff, wie er bereits von A RISTOTELES und später etwa von G OTTLOB F REGE vertreten wird. Eine genauere Darstellung der Dichotomie dieser beiden Positionen und eine Erklärung dazu, warum Bedeutungswandel ausschließlich über ein instrumentalistisches Konzept erklärbar ist, das sprachliches Handeln in den Fokus rückt, wird in Kapitel 2 erfolgen. Die Stärken und Schwächen der jeweiligen Bedeutungstheorien werden eingehend diskutiert, um daraus einen greifbaren Bedeutungsbegriff entwickeln zu können. 21 Vgl. W ITTGENSTEIN 1969: §43. Es sei an dieser Stelle der Genauigkeit halber darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Definition von Bedeutung um eine Verkürzung handelt. Der §43 der Philosophischen Untersuchungen entspringt einer sehr differenzierten Herleitung und es ist bis heute in der Forschung strittig, ob man W ITT- GENSTEIN s berühmte Bedeutungsbeschreibung so knapp verkürzt überhaupt anlegen kann, um daraus eine komplexe Gebrauchstheorie der Bedeutung abzuleiten. Vielmehr ist es wohl nur die I d e e einer Gebrauchstheorie der Bedeutung, die man in den Schriften W ITTGENSTEIN s finden kann. Auf die Gebrauchstheorie als pragmatische Bedeutungstheorie wird in Kapitel 2 näher eingegangen. Es sei aber an dieser 28 mit einer Äußerung meint und was hier als der Sinn der Verwendung bezeichnet wird. Zu wissen, was ein Sprecher meint, ist etwas kategorial anderes, als die Bedeutung eines Wortes zu kennen. So ist der Satz Ich komme morgen in seiner Satzbedeutung über die Kenntnis der Wortbedeutungen von ich, komme und morgen verständlich, was der Sprecher jedoch damit meint, lässt sich uns ohne Kontextwissen nicht erschließen. Steht dieser Satz zum Beispiel auf einem Notizzettel, den ich zufällig auf der Straße finde, weiß ich zwar vermeintlich, was er bedeutet, denn ich verstehe die Bedeutung der Wörter und ihre syntaktische Verknüpfung (zumindest in der am höchsten frequentierten Bedeutungsvariante in Fällen, in denen Wörter u. U. polysem sind), ich weiß aber nicht, was mit diesem Satz konkret gemeint ist. Der Sinn der schriftlichen Fixierung dieses Satzes erschließt sich mir nicht, da mir der kommunikative Kontext nicht zugänglich ist. Was mir fehlt, ist das Wissen um den Umstand, unter dem der Satz auf dem Zettel Wahrheitswerte besitzt. Will sagen: Ich muss zum vollständigen Verständnis dieses (für mich als Finder) kontextlosen Satzes nicht nur die Bedeutungen der sprachlichen Elemente kennen und es reicht auch nicht, diese syntaktisch sinnvoll zueinander in Beziehung setzen zu können. Ich benötige für ein Verständnis der Äußerung als Ganzes zusätzliche Informationen, ohne die ich den Sinn der Äußerung allenfalls vermuten, nicht jedoch zweifelsfrei konstruieren kann. Noch greifbarer werden diese Notwendigkeit und das damit verbundene Dilemma, wenn auf diesem Zettel z. B. Ich lese morgen steht. In diesem Fall gelingt mir ohne Kontextwissen nicht einmal eindeutig die semantische Konstruktion der lexikalischen Elemente, geschweige des ganzen Satzes. Wenn diesen Zettel ein Student verloren hat, bedeutet lesen vermutlich ein Buch oder einen Aufsatz lesen. Ist er aber einem Winzer aus der Tasche gefallen, der ihn an der Tür seiner Weinhandlung anbringen wollte, trägt lesen u. U. eine ganz andere Bedeutung. Und gehört der Zettel meinem Professor, könnten mit lesen auch gut eine Vorlesung oder ein Vortrag gemeint. Es zeigt sich also, dass der Kontext entscheidend zum Verständnis des Sinns einer Äußerung beiträgt und damit auch dazu, dass ich eine Wortbedeutung richtig erkenne. Für lesen scheint es z. B. heute so zu sein, dass Kraft Konvention und aufgrund hoher Frequenz einer speziellen Bedeutungsvariante (nämlich: ein Buch lesen) das nötige Akkusativobjekt (Buch) in das Verb semantisch inkorporiert ist. Daher neigen wir heute dazu, jede andere Bedeutungsvariante zunächst - weil sie weniger ge- Stelle bereits auf die Arbeit T IM L OPPE s (L OPPE 2010) verwiesen, der sich insbesondere mit der höchst interessanten Fragestellung beschäftigt, ob sich aus den Schriften W ITTGENSTEIN s überhaupt eine Gebrauchstheorie der Bedeutung ableiten lässt, oder ob man nicht vielmehr von einer vortheoretischen Überlegung ausgehen muss, die keine eigene Theorie begründet hat (vgl. L OPPE 2010: 83ff.). 29 bräuchlich ist - nicht mitzudenken und dies kann, wie wir im Fall des verlorenen Notizzettels gesehen haben, zu falschen Schlüssen und Missverständnissen führen. Dieses Phänomen ist uns eingangs bereits in Form eines Männer-Witzes begegnet und es wird uns noch im Weiteren beschäftigen, wenn wir uns in Kapitel 2 mit der Definition von Bedeutung näher auseinander setzen werden. 1.2.2 Gebrauchstheoretische Fixierung Fasst man die Wortbedeutung gemeinhin als die Regel des Wortgebrauchs in einer Sprache auf, erkennt man schnell, dass Bedeutungswandel dort geschieht, wo sich die spezifischen Gebrauchsregeln der Wörter ändern. Oder präziser: Er geschieht dort, wo ein atypischer Wortgebrauch neu verregelt wird. G ERD F RITZ schreibt 2006 mit klarem Blick auf diese Möglichkeit der Gebrauchsregelausdifferenzierung: „Die Gebrauchsregeln sind in manchen Dimensionen offen. Sie können sich historisch verändern“ 22 . Weiter lesen wir bei ihm: „Ausdrücke werden regelhaft in bestimmten kommunikativen Zusammenhängen verwendet“ 23 . Worin im Speziellen die Offenheit der Gebrauchsregel eines Wortes liegt und inwiefern dieser Aspekt für die Erklärung semantischen Wandels fruchtbar ist, lässt an dieser Stelle nicht nur F RITZ offen - eine Antwort findet man in der linguistischen Forschung bis heute nicht. 24 Dennoch ist es gerade dieser Aspekt, der neue Ergebnisse erwarten lässt und er bildet das theoretische Zentrum dieser Arbeit: Es wird sich in Kapitel 3 zeigen, dass funktionale Bedeutungsparameter in ganz entscheidendem Maß auf der Strukturebene der Wortbedeutung, also auf der 22 F RITZ 2006: 101 23 F RITZ 2006: 101 24 R UDI K ELLER (K ELLER 2002, K ELLER 2008) und insbesondere P ETRA R ADTKE (R ADTKE 1998, R ADTKE 1999) formulieren m. W. als erste (und bislang einzige) die Möglichkeit einer semantischen Strukturierung der Gebrauchsregel anhand von außer- und innersprachlichen Bedeutungsparametern. Bei ihnen dient insbesondere der Nachweis evaluativer Parameter der Entwicklung von grundlegenden Gedanken zum Bedeutungswandel bei Adjektiven. Leider versäumen es beide a) auf die grundlegende Wichtigkeit der weiteren Erforschung von Bedeutungsparametern hinzuweisen und b) eine detaillierte Taxonomie dieser Parameter zu entwerfen. Ferner findet man bei ihnen auch keinen Hinweis darauf, welche (elementare) Funktion semantische Parameter beim Bedeutungswandel im Besonderen einnehmen. Ein aktuelle Studie zu W ITTGENSTEIN s Gebrauchstheorie der Bedeutung aus dem Jahre 2010 von T IM L OPPE (L OPPE 2010) greift zwar ebenfalls den Aspekt der Parameter auf, leistet - da der Fokus auf anderen Aspekten lag - leider auch keine Weiterentwicklung. Diesem Desiderat der Forschung, das sich daraus ergibt, wird sich die vorliegende Untersuchung ausführlich widmen und den Forschungsmangel ein Stück weit (nämlich im Sinne der Fragestellung dieser Arbeit) beseitigen. Vgl. dazu insbesondere Kapitel 3 30 Gebrauchsregelebene, zu semantischem Wandel beitragen bzw. dass Bedeutungswandel strukturell über diese Parameter und ihre Veränderungen erklärt werden kann. Die vorliegende Arbeit versteht sich insofern als ein Versuch, hier ein Stück weit Klarheit zu schaffen und Fragen zu beantworten, die bislang noch nicht ausreichend genug formuliert, geschweige im Ansatz beantwortet sind. Die Herausarbeitung und Formulierung von spezifischen Bedeutungsparametern innerhalb der Bedeutungsstruktur von Verben kann solche Antworten liefern, wie ich im Zuge dieser Arbeit beweisen werde und ist daher von entscheidender Bedeutung für ein besseres Verständnis semantischen Wandels - nicht nur bei Verben. Eine Gebrauchstheorie als Erklärungsmodell für semantischen Wandel führt generell zu anderen Ergebnissen als etwa eine referenzsemantische Theorie, die sich mit Intensionen und Extensionen befasst und damit einen eher deskriptiven Charakter hat. Genauer gesagt: Über einen instrumentalistischen Bedeutungsbegriff lässt sich eine pragmalinguistische Sichtweise etablieren, die D IETRICH B USSE beispielsweise als Praktische Semantik formuliert und die mithin sogar intentionalistische Aspekte (z. B. absichtsvolle Verstöße gegen die Konversationsmaximen) mit einschließen kann. 25 Aber wie genau funktioniert semantischer Wandel über den regelhaften Wortgebrauch bzw. wie ist dieser Wandel über ein solches Konzept zu erklären? Was steckt sinnbildlich in einer Gebrauchsregel, damit sie überhaupt eine komplexe Bedeutung generieren kann? Gibt es ein Modell, mit dessen Hilfe man die strukturellen Veränderungen auf der Ebene der Gebrauchsregel erklären kann? Die Antwort lautet: Ja und nein. Eine Theorie der Bedeutungsparameter könnte Antworten liefern, sie muss aber erst noch entwickelt und präzisiert werden. Diese Aufgabe steht im Zentrum dieser Arbeit (Kapitel 3). Um mit Theodor Fontane zu sprechen: Es ist ein weites Feld, das sich da öffnet, wenn man nach dem Bedeutungswandel von Verben fragt und insbesondere dann, wenn man ein pragmasemantisches Modell anlegen will, um dieses Phänomen holistisch zu betrachten. Die bisher aufgeworfenen Fragen zeigen aber an dieser Stelle auch schon, dass Antworten durchaus möglich sind und dass der Bedeutungswandel bei Verben mühelos systematisierbar ist, wenn man sich mit dem richtigen Blick nähert und ein entsprechendes Theoriemodell wie das der Bedeutungsparame- 25 Vgl. B USSE 2009: 60 ff. B USSE bezieht sich auf eine, aus dem Grundgedanken der Sprechakttheorie hervorgegangenen und durch L UDWIG W ITTGENSTEIN und H ER- BERT P AUL G RICE geprägte Semantik, die auf einem pragmalinguistischen Bedeutungskonzept beruht. Der Terminus Praktische Semantik wird erstmals von H ERIN- GER (H ERINGER 1974) verwendet und beruht auf einer ähnlichen Sichtweise, insbesondere was die Kontextfixierung sprachlicher Ausdrücke betrifft. 31 terstruktur anlegt (und dieses im Sinne der Fragestellung stellenweise reformuliert). Bedeutungswandel muss, um diesem Erklärungsansatz gerecht zu werden, als ein Phänomen gedacht, verstanden und analysiert werden, das durch Veränderungen der Wortverwendung - also der Gebrauchskonvention und somit letztlich durch soziokulturelle Einflüsse - geprägt ist. Es wäre m. E. in diesem Zusammenhang nicht plausibel, dass sich Bedeutungen willkürlich und ohne Intentionen der Sprecher ändern könnten. Würde man so argumentieren, müsste man Wortbedeutungen isoliert von sprachlichem Handeln - also letztlich auch von den kommunikativen Zielen der Sprecher - auffassen und würde über diesen Irrweg eine unangemessene Hypostasierung der Wortbedeutung vornehmen. Zahlreiche Bedeutungstheorien wie etwa die Vorstellungstheorie sind an diesem Dilemma gescheitert; ich verweise hier auf das Kapitel 2 dieser Arbeit, in dem ich mich diesen Aspekten nähern werde. Mit Hilfe der Erklärung durch die unsichtbare Hand ist es möglich, analog zum adjektivischen Wandel auch den Bedeutungswandel bei Verben nicht nur zu beschreiben (was allein schon interessant wäre und bisher noch kaum ausreichend geschehen ist), sondern auch die kommunikativen Ziele der Sprecher zu entlarven. Möglicherweise lassen sich einige Wandelphänomene bei Verben nicht systematisch erklären und müssen als Einzelphänomene betrachtet werden. Aber auch in diesem Fall erscheint eine Betrachtung dieser Phänomene nützlich, auch wenn sie keinen Aufschluss über das Warum geben können. 1.2.3 Methodisches Vorgehen und Fragestellungen Wenn man zu plausiblen Erklärungsansätzen für Bedeutungswandel gelangen will, muss man hinreichende Fragen formulieren: Man muss sich erstens fragen, welche Bedeutung ein bestimmtes Wort zu einer bestimmten Zeit gehabt hat, also die Gebrauchskonvention eruieren und mit der Gebrauchskonvention zu einer früheren oder späteren Zeit vergleichen. Dieses Verfahren wurde und wird klassischerweise bis heute immer wieder angelegt, wenn es um Fragen diachronen Wandels geht. Diachrone Erklärungen führen aber nicht weit, wenn sie lediglich genetisch sind, denn dann sind sie nichts weiter als Deskription. Das Aufzeigen der Herkunft eines Wortes und der Vergleich mit der heutigen Variante ist wenig erhellend und liefert leider keine Erklärung für den Wandel. Dies gilt m. E. auch für die vielen Erklärungen über den Weg der reinen Beschreibung semantischer Verfahren. Zu wissen, dass ein Wort im diachronen Vergleich heute z. B. metaphorisch gebraucht wird, erklärt noch nicht, warum es heute so verwendet wird und es lassen sich aus 32 dieser Erkenntnis auch noch keine Regelmäßigkeiten, also Wandelpfade ableiten. Daher muss man zum Zweiten in den Fällen, in denen Wandel nachweisbar ist - wie etwa bei dem Verb eingreifen - plausible Hypothesen darüber entwickeln, welche Motive die Sprecher veranlasst haben könnten, in ihrer Mehrheit - Bedeutungswandel ist ein kumulativer Effekt - eine ganz bestimmte Verwendungsweise zu bevorzugen, die dann auf lange Sicht einen Bedeutungswandel hervorgebracht hat. Drittens muss man sich fragen: Warum wurde ausgerechnet dieses Verb ein Opfer des Wandels? Sprich: Welche strukturellen Verflechtungen gibt es, die dem Bedeutungswandel einer Wortart zugrunde liegen? Gibt es im Falle von eingreifen vielleicht einen systematischen Wandel auch sinnverwandter Verben? 26 Ist es beispielsweise nur ein Zufall oder eine systematische Tendenz, dass viele Verben der konkreten haptischen Tätigkeit - analog zu eingreifen - heute eher und in vielen Fällen ausschließlich für abstrakte kognitive oder mental-psychische Leistungen verwendet werden? Lässt der Bedeutungswandel von Verben wie befassen, erfassen, ergreifen (im Sinne einer psychischen Regung) oder begreifen nicht den Schluss zu, dass es für diese sinnverwandten Wörter eine systematische Bedeutungsentwicklung gegeben hat? Aber: Man sollte sich hüten, solche systematischen Entwicklungen generalisieren zu wollen. Es ist - das möchte ich an dieser Stelle zu Beginn bereits behaupten - ein Irrtum, einen Klasseneffekt anzunehmen und dabei darauf zu vertrauen, dass dieser Effekt universal oder zumindest regelhaft auftritt, denn man verliert leicht aus dem Blick, dass es eine Vielzahl von Ausnahmen gibt, die dem Klasseneffekt nicht folgen. So ist das Verb eingreifen in seiner Ursprungsbedeutung sehr eng an die genannten Beispiele angelehnt, trägt heute aber eine völlig andere Bedeutung als viele Verben, die ehemals einem gleichen Sinnbereich entstammten. Will sagen: Es gibt zwar Tendenzen und Muster, aber keine generalisierbaren Regularitäten. Was es hingegen gibt, sind vielfältige pragmatische Nutzungsmöglichkeiten, die sich über den Weg der semantischen Inkorporierung von neuen Gebrauchsparametern ausdifferenzieren. Das allerdings ist keine strukturalistische Erkenntnis, es ist eine pragmatische Feststellung. Zur Frage der pragmasemantischen Dimension und der Möglichkeit (oder besser Unmöglichkeit) der Generalisierung semantischer Wandelphänomene werde ich in Kapitel 4 Antworten und Thesen entwickeln und ich überlasse es 26 Untersuchungen im Rahmen der strukturellen Wortfeldtheorie haben gezeigt, dass innerhalb eines spezifischen Bedeutungsfeldes jeder Wandel eines Lexems in systemhaftem Zusammenhang mit der Veränderung benachbarter Lexeme steht (vgl. T RIER 1931). In Kapitel 4 werde ich mich der Frage widmen, ob diese Verflechtungen dazu berechtigen, Wandelphänomene generalisieren zu können. 33 der Urteilskraft des Lesers, diese als plausibel anzuerkennen oder abzulehnen. Die vierte und wichtigste Frage lautet: Welche Veränderungen auf der Ebene der Gebrauchsregel, also im Bezug auf die Struktur der Wortbedeutung, haben dazu geführt, dass sich die Bedeutung eines Verbs verändert hat? Um diese Frage adäquat beantworten zu können, ist es notwendig, mit Hilfe eines geeigneten Bedeutungsbegriffs Hypothesen darüber zu entwickeln, wie die Gebrauchsregel eines Wortes semantisch strukturiert ist. Es wird sich dann zeigen, dass man semantischen Wandel aus dieser Perspektive heraus hervorragend klassifizieren kann, woraus sich nicht nur Verbgruppen ableiten lassen (Kapitel 3), sondern auch Pfade des Bedeutungswandels, die in Kapitel 8 auf einer Karte semantischen Wandels verortet werden können. Mit der Antwort auf Frage 4, die alle anderen Antworten mit einschließt, gelangen wir zu einem neuen Verständnis derjenigen Prozesse, die sich auf der Ebene der Wortbedeutung abspielen und die entscheidend sind für die pragmatische Nutzungsfähigkeit eines Wortes. Ich nehme an, dass die hieraus abzuleitenden Befunde wortartübergreifend von erhellendem Wert sein können. Entscheidend für ein tieferes Verständnis werden insbesondere die Parameter der Gebrauchsregel sein, die ich Kapitel 3 für den Verbwortschatz entwickeln werde und die sich als „roter Faden“ explanativ durch diese Arbeit hindurch ziehen werden. Mit der vorliegende Arbeit soll über einen sprachpragmatischen (gebrauchstheoretischen) Ansatz hypothesengeleitet gezeigt werden, dass in vielen Fällen der semantische Wandel bei Verben sehr klaren pragmatischen Prinzipien folgt, die sich durch Bedeutungsparameterverschiebungen bzw. -einbindungen strukturell erfassen lassen. Pfade des semantischen Wandels können darüber sinnvoll abgeleitet werden. Über diesen Ansatz wird es zudem vielfach möglich sein, plausible Hypothesen zur Genese des Wandels und zu den Intentionen der Sprecher in früheren Sprachstufen zu entwickeln. Die Befunde aus den Untersuchungen der Parameterstruktur der Verben lassen sich zudem wortartübergreifend adaptieren und schaffen ein breiteres Verständnis für das Phänomen Bedeutungswandel im Allgemeinen. Dass ein solcher Ansatz der Beschreibung und Erklärung über Bedeutungsparameter prinzipiell gute Ergebnisse zu Tage fördert, konnten K ELLER und K IRSCHBAUM bereits mit ihrer Arbeit über die Adjektive zeigen, auch wenn sie sich dort einzig auf den Aspekt der Bewertung konzentriert haben. Ich werde in Kapitel 3 zeigen, dass darüber hinaus noch einige weitere Parameter für den Wandel von entscheidender Bedeutung sein können. 34 In der Fortsetzung und Erweiterung der Ergebnisse aus der Analyse K EL- LER s/ K IRSCHBAUM s will diese Arbeit nun mehrere Fragen beantworten: 1. Gibt es einen ähnlichen Wandel der Wortbedeutungen auch bei Verben? (ein stark deduktiver Ansatz) 2. Welche semantischen Verfahren lassen sich für den verbalen Bedeutungswandel identifizieren? Sind hier vergleichbare Effekte die Folge? 3. Gibt es Hinweise darauf, dass nur ganz bestimmte Verben sich gewandelt haben? Welche Parameter sind es, die in diese Verben eingebettet sind und wie kann man diese Einbettung erklären? 4. Wodurch lässt sich erklären, dass sich bestimmte Verben wandeln und andere nicht? (Erweiterung der Fragestellung aus 2.) 5. Liegt dem semantischen Wandel von Verbbedeutungen ein allgemeines und beschreibbares Prinzip zugrunde? Ergeben sich daraus Regularitäten semantischen Wandels? 6. Lassen sich (soziokulturelle) Gründe finden, die zu einer Änderung der Gebrauchsregeln von Verben geführt haben? 7. Lassen sich für Verben analog zu Adjektiven Pfade des Bedeutungswandels im Sinne eines Mittel-Zweck-Rationalismus aufzeichnen? Welchen Stellenwert spielen dabei sprachliche und außersprachliche Parameter? Dass sich diese wichtigen Fragen für die Verben - wie auch für die Adjektive - nicht in allen Fällen beantworten lassen, liegt daran, dass wir Bedeutungswandel aus einem sehr großen Abstand betrachten müssen und es fußt außerdem darauf, dass Bedeutungswandel ein fortschreitender Prozess ist, der in keinem Fall abgeschlossen ist. Ergebnisse zum Bedeutungswandel sind daher lediglich transitorische Zwischenergebnisse und in wie weit sie im Bezug auf den verbalen Bedeutungswandel plausibel sind, mag der Leser von Fall zu Fall selbst entscheiden. Dennoch erlauben die im Rahmen dieser Arbeit entstandenen Ergebnisse gewisse Prognosen (oder besser: Trendextrapolationen) semantischen Wandels, und dies nicht nur für die Wortart der Verben. Diese Arbeit streift zudem auch Phänomene und Fragestellungen des semantischen Wandels, die sich auf den ersten Blick eher im peripheren Randbereich befinden (wie die in Kapitel 7 diskutierte Möglichkeit der Einbindung von Theoremen aus der Valenztheorie oder das Phänomen des Diathesenwandels bei Verben) oder solche, die die Grenzen der wortartspezifischen Betrachtung bereits verlassen und übergreifend interessant und in der Forschungsliteratur bislang nicht ausreichend gewürdigt sind (z. B. die Frage nach dem Verhältnis von Frequenz und Wandel in Kapitel 5.2). Im Rahmen dieser Ausarbeitung werden diese Fragestellungen oft als Einzelphänomene betrachtet und diskutiert, sie können und sollen aber zugleich Anreiz bieten, sich in späteren Arbeiten intensiver diesen Desideraten zu widmen. 35 Weil mir an bestimmten Erkenntnissen mehr liegt als an anderen, unterscheiden sich die einzelnen Kapitel durch unterschiedliche Gewichtungen; gelegentliche Überschneidungen waren hier und da unvermeintlich. So fokussiert und ganzheitlich im Bezug auf die Verbsemantik mein Ansatz auch ist, eine abschließende und vollumfängliche Betrachtung kann meine Arbeit nicht leisten. Ich hoffe aber, dass es mir an den Stellen, an denen ich kurz in die verborgenen Winkel geschaut habe, gelungen ist, ein wenig das Dunkel zu lichten oder dass ich zumindest dazu anregen kann, auch diese weißen Flecken auf der Landkarte des semantischen Wandels in weitere Forschung mit einzubeziehen. Möglicherweise lassen sich daraus wertvolle Erkenntnisse schöpfen, die heute noch im Verborgenen liegen. Nachdem wir im Verlauf dieses Kapitels bereits einen kurzen Einblick in die handlungszentrierte Darstellung zum adjektivischen Bedeutungswandel bekommen haben, die R UDI K ELLER und I LJA K IRSCHBAUM 2003 vorgelegt haben und aus der sich die Notwendigkeit und zugleich die Möglichkeit der Anknüpfung für diese hier vorliegende Arbeit ergibt, lohnt sich nun ein intensiverer Blick auf die Forschungsliteratur zu korpusgestützten und wortartspezifischen Fragestellungen und Betrachtungsweisen semantischen Wandels. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass spezielle Betrachtungen einzelsprachlicher Phänomene zu eng umgrenzten Wortschatzbereichen seit langem als Notwendigkeit begriffen werden (insbesondere mit einer sozial- und handlungstheoretischen Blickrichtung), sich jedoch die Forschung bislang nur sehr selten in dieser Art solchen Fragestellungen genähert hat. 1.3 Forschungsstand, Forschungsinteresse und Quellenlage Ist Bedeutungswandel überhaupt systematisch zu erklären? Gibt es feste Regeln oder zumindest spezifische Tendenzen, nach denen sich Bedeutungen von Wörtern ändern? Falls ja, sind sie als universale Regularitäten zu begreifen oder lassen sie sich nur auf einen eng umgrenzten Wortschatzbereich beziehen? Und welche Motive liegen diesem Wandel von Seiten des Sprachbenutzers zugrunde? Welche Prozesse sind es, die sich auf der Strukturebene der Wortbedeutung abspielen, die zum semantischen Wandel führen? - Für diese und die meisten der bereits im Verlauf dieses einführenden Kapitels geäußerten Fragen liefert die linguistische Forschung traditionell keine (oder doch nur sehr allgemein formulierte) Antworten, bisweilen neigt sie zu Übergeneralisierungen oder sie stellt diese Fragen erst gar nicht. Sie sucht nicht danach, da innerhalb der Disziplin bis in die 1980er Jahre hinein und möglicherweise bis heute der 36 weit verbreitete (Irr-)Glaube vorherrscht, dass historisch-semantische Prozesse, insbesondere bei Verben, - sich der systematischen Beschreibbarkeit entziehen, - keinem regelmäßigen Verlauf folgen und - (daher) nicht erklärbar sind. Gemeinhin scheint für viele Linguisten eine wortartspezifische Untersuchung, und erst recht eine solche, die ihre Befunde aus einem begrenzten Textkorpus schöpft, wenig Erfolg versprechend, hält sich doch hartnäckig die Auffassung, Bedeutungswandel sei im Prinzip zwar beschreibbar, aber entziehe sich der konkreten Systematisierung, da pragmatische und historisch-semantische Prinzipien unvereinbar nebeneinander stünden. 27 Woher kommt eine solche Vorstellung? Es liegt wohl daran, dass semantische Entwicklungen auf den ersten Blick nicht so systematisch oder stringent verlaufen wie der Wandel in anderen Bereichen, etwa der Phonologie oder der Morphologie. Dennoch finden sich in der Literatur vereinzelt Hinweise darauf, dass auch in der Semantik Regularitäten des Wandels zu entdecken sind. In der Forschung nach 1980 ist vielfach dargelegt, dass Sprachwandel nicht nur im Bereich der Morphosyntax und Phonologie, sondern durchaus auch auf der semantischen Ebene systematische Züge aufweist. 28 Allerdings - und deshalb führen im Bereich der Semantik Generalisierungsversuche nicht weit - unterscheidet sich semantischer Wandel grundlegend von z. B. phonologischem Wandel darin, „dass er zwar kein unmotivierter, nicht-systematisierbarer Prozess ist, aber auch nicht den Lautwandelgesetzen vergleichbaren strengen Gesetzmäßigkeiten unterliegt“ 29 . Eine Festlegung allgemeiner Prinzipien für lautlichen oder morphologischen Wandel findet man in der Forschung entsprechend häufig. Die Übertragung solcher Gesetzmäßigkeiten aus anderen Bereichen des Sprachwandels auf den Bedeutungswandel ist problematisch und bislang nicht gelungen. Als Sonderfall des Sprachwandels folgt der Bedeutungswandel anderen Mustern, die sich nicht als ein allgemeines Gesetz, sondern eher als Tendenzen erfassen lassen. 30 27 Diese Vorstellung beschreibt einen Denkansatz, der aus einer vorstrukturalistischen, diachronen Tradition der historischen Semantik stammt. Vgl. dazu u. a. B LANK 2001b: 1324 ff. oder B USSE 2001: 1306ff. 28 Vgl. dazu z. B. J OB 1982, 1987; T RAUGOTT 1985; S WEETSER 1990; K ÖNIG / T RAUGOTT 1988; N ERLICH / C LARKE 1992; B LANK 1997; J OB / J OB 1997; H ARM 2000. Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und folgt K UTSCHER 2009: 73. 29 K UTSCHER 2009: 73 30 In Kapitel 4 soll diskutiert werden, ob der Begriff der Regularität, der häufig Verwendung findet, in angemessener Weise auf den Bedeutungswandel bezogen werden kann. Es wird sich zeigen, dass eine Formulierung als Pfade des Bedeutungs- 37 Was beim Bedeutungswandel dagegen leicht zu durchschauen ist, ist das jeweilige semantische Verfahren, nicht aber der Wandelprozess als Ganzes. Zu komplex und zu wenig zielgerichtet scheinen die Pfade des Bedeutungswandels zu sein. Es erstaunt daher nicht, wenn man mit einem Blick auf die Forschungsliteratur feststellt, dass es insbesondere die semantischen Verfahren sind, die traditionell im Licht der Erkenntnis standen (und bisweilen stehen), nicht so sehr aber die allgemeinen Entwicklungsprinzipien und erst recht nicht diejenigen einzelner Wortarten. 31 Die Zahl der wenigen Aufsätze und Monografien, die sich aus dieser Richtung systematisch diesem Thema nähern, lassen kaum einen anderen Schluss zu. A NDREAS B LANK fasst die Forschungstradition der historischen Semantik wie folgt zusammen: Das Hauptaugenmerk der Semantik dieser Epoche [des 19. und 20. Jahrhunderts, S. B.] richtete sich auf die Klassifikation der verschiedenen Verfahren des Bedeutungswandels nach rhetorischen und/ oder psychologischen Kriterien. Ihren vorläufigen Abschluss fand diese Richtung im Werk Stephen Ullmanns [...] 32 . Es sind bis heute nicht mehr als eine Handvoll Monographien erschienen, die sich dem semantischen Wandel über die Ebene des Sprechers nähern und die Entwicklungspfade über diesen Weg ableiten wollen. 33 Sucht man dann noch nach Untersuchungen, die sich explizit mit Verben befassen (und dies rein semantisch), wird die Zahl noch geringer, das Forschungsinteresse scheint marginal. Dies ist umso erstaunlicher, als dieser Mangel an Forschungsinteresse in dieser speziellen soziokulturellen wandels, die den Anspruch des Regulären zugunsten einer tendenziellen Festlegung ablehnt, besser geeignet ist. 31 D IETRICH B USSE (2001: 1313) stellt zutreffend fest, dass die Überlagerung durch die etablierten assoziativen Konzepte der Rhetorik (Metapher, Metonymie, etc.) für alle Typologisierungsversuche des Bedeutungswandels problematisch ist. Dessen ungeachtet sind bis heute vor allem die Kategorisierungen S TEPHEN U LLMANN s (1967/ 72: 188ff.) aktuell und sowohl für die Frage nach den Ursachen als auch nach den Resultaten des Bedeutungswandels etabliert. Problematisch ist, dass alle akzeptierten semantischen Klassifizierungsversuche nach sehr heterogenen Kriterien erfolgen (vgl. K RONASSER 1952: 78ff.) und dass das semantische Verfahren noch nichts über die Intention des Sprechers preisgibt. Eine Klassifizierung nach Pfaden, die auf den Absichten der Sprecher und der sprachlichen Realisierung dieser Absichten fußt, ist daher wesentlich besser geeignet, die semantischen Verfahren handlungszentriert zu inkorporieren und damit nicht nur die Verfahren offen zu legen, sondern auch Hypothesen über die Intentionen der meist assoziativen Wortverwendung zu entwickeln. 32 B LANK 2001a: 69 33 Dagegen findet man eine Vielzahl von Publikationen, die sich mit theoretischen und methodischen Grundsatzfragen der historischen Semantik befassen. Eine Übersicht findet man z. B. bei F RITZ 2006: 7f. 38 Sichtweise bereits vielfach thematisiert worden ist. So hat R UDI K ELLER 2006 sehr treffend den Nutzen und die Wichtigkeit, sich einer systematischen Betrachtung des Phänomens Bedeutungswandel nicht zu entziehen, formuliert: Bedeutungswandel vollzieht sich zwar nicht mit der Konsequenz wie dies beim Lautwandel der Fall war und vielleicht noch ist, aber er vollzieht sich durchaus in ,geordneten‘ Bahnen. [...] Wir können im Einzelfall die Pfade, auf denen sich ein Bedeutungswandel vollzieht, zwar nicht prognostizieren, aber wir sind (bisweilen) durchaus in der Lage, sie im Nachhinein diagnostisch zu rekonstruieren und damit einen Baustein zum Verständnis unserer Sprache sowie der Prinzipien und Prozesse unseres Kommunizierens beizutragen. 34 Bis heute dürften auch die fordernden Worte D IETRICH B USSE s nichts an ihrer Aktualität und Richtigkeit verloren haben, wenn er verlangt, dass „[e]ine Integration von pragmatischen und (Saussure-textkritisch reformulierten) zeichentheoretischen Positionen [...] durchaus als Leitidee am Horizont stehen [sollte]“ 35 . Trotz dieser eindringlichen Forderung findet man aktuell nur wenige Versuche, sich diesem historisch-sematischen Bereich auf pragmatischsystematische Weise zu nähern. Vielmehr beherrschen bis heute Werke die linguistische Forschung, die auf der von S TEPHEN U LLMANN basierenden zeichen- und sprachtheoretischen Erforschung des Phänomenbereichs der 1950er und 1960er Jahre basieren und die sich in erster Linie mit den Similaritäts- oder Kontiguitätsassoziationen beim Bedeutungswandel befassen. 36 So findet man verbreitet - sowohl in den Einführungswerken als auch in den vertiefenden Arbeiten zum Bedeutungswandel - in erster Linie Beschreibungen der etablierten traditionellen rhetorischen Verfahren Metapher, Metonymie und Ellipse oder der logisch-quantitativen Verfahren wie Bedeutungsverengung und Bedeutungserweiterung bzw. der qualitativen Wertungen wie Bedeutungsverbesserung oder -verschlechterung. Darüber hinaus spielen Faktoren der semantischen Relationen in Folge eines Bedeutungswandels eine wesentliche Rolle (Polysemie, Homonymie). Zwar kann man seit Beginn der 1980er Jahre im Zuge der kognitiven Wende in der Semantik von einer „Renaissance der Bedeutungsgeschichte“ 37 sprechen, aber eine sinnvolle Verbindung traditioneller historischer Semantik mit pragmatischen Theorien findet man aufgrund der noch immer vorherrschenden Dominanz (deskriptiver) diachroner Fragestel- 34 K ELLER 2006c: 356 35 B USSE 1986: 51 36 Vgl. B LANK 2001b: 1324ff. 37 B LANK 2001b: 1325 39 lungen und Forschungsansätzen eher selten. Vielmehr ist seit dieser Zeit eine beachtliche Fülle an Publikationen erschienen, die sich mit theoretischen oder methodischen Grundsatzfragen auseinandersetzen und die die kognitiven und pragmatischen Rahmenbedingungen oder die psychologische und semiotische Fundierung beleuchten. 38 V OLKER H ARM bringt das Desiderat, das sich daraus ergibt, auf den Punkt: Auch wenn die historische Semantik seit dem Wiedereinsetzen der Forschungstätigkeit beachtliche Fortschritte erzielt hat, liegen diese eher im Bereich der theoretischen Fundierung der Disziplin. Gegenüber dieser - nach einer Zeit des Stillstandes in den siebziger Jahren freilich dringend notwendigen - Standortbestimmung der historischen Semantik blieb die empirische Aufarbeitung semantischer Wandelphänomene weit hinter den theoretischen Einsichten zurück. Empirie galt und gilt auch in den neueren Arbeiten eher als Illustration zu beweisender Hypothesen. 39 Dass es für die Erklärung von Bedeutungswandel nicht zielführend ist, allein nach semantischen Verfahren oder allgemeinen Regularitäten (im Sinne von Similaritätsbeziehungen in der Bedeutungsentwicklung) zu suchen, ist ja bereits an manchen Stellen angeklungen. Zum einen sind diese schon hinreichend beschrieben worden, zum anderen greift jede systematische Betrachtung m. E. zu kurz, wenn sie nur den reinen Mechanismus oder rekurrente Muster beschreibt oder gar den hoffnungslosen Versuch unternimmt, gewisse Muster generalisieren zu wollen. 1.3.1 Pragmatische Strategie vs. semantischer Mechanismus Stattdessen muss eine moderne Bedeutungswandelforschung m. E. zwei Dimensionen zwingend miteinander verknüpfen: die Dimension der pragmatischen Strategie mit der Dimension des semantischen Mechanismus. Über diesen verbindenden Ansatz lässt sich semantischer Wandel plausibel und nachvollziehbar erklären, denn jeder Sprecher verfolgt individuelle kommunikative Ziele. Der Wortgebrauch auf dem Weg zum Erreichen des kommunikativen Ziels ist dabei das pragmatische Mittel, das der Sprecher intentional (oder später auch usuell) nutzt. Die semantischen Verfahren, die ein Sprecher anwendet (z. B. Metapher) oder die für ihn selbst im Verborgenen ablaufenden Effekte (z. B. Bedeutungsverengung), wenn er ein Wort in abweichender Weise gebraucht, lassen allein keinen Rückschluss auf den Zweck der Neu-Nutzung zu. Sie stellen m. E. vielmehr einen semantischen Reflex dar, der lediglich beschreibbar ist. Die Frage, was sich auf der semantischen Wortebene, also im Hinblick auf die inkorporierten Parameter der Gebrauchsregel, verändert, bleibt mit 38 Vgl. B LANK 2001b: 1330f. 39 H ARM 2000: 15 40 dieser deskriptiven Fokussierung unbeantwortet - ein grundlegender Forschungsmangel, ist doch gerade der Wortgebrauch die sprachliche Realisierung der Sprecherabsicht. Daher sind insbesondere die qualitativen und quantitativen Nachweise in erster Linie Darstellungen makroskopischer Effekte. Geschuldet scheint die konventionelle Fixierung der Linguistik auf die semantischen Makroeffekte dem Umstand, dass weit bis in die 1970er Jahre hinein das „Primat der Diachronie in der traditionellen Semantik [...] den Bedeutungswandel zum (nahezu) einzigen Gegenstand der älteren Forschung werden ließ“ 40 , was unweigerlich das „Primat der Deskription über die Theorie“ bedingt, wie D IETRICH B USSE hervorhebt. Den Mangel so verstanden, ermahnte B USSE bereits Mitte der 1980er Jahre dazu, innerhalb der linguistischen Pragmatik die historische Perspektive nicht zu vernachlässigen und kritisierte bereits damals das fehlende Verständnis für den komplexen pragma-semantischen Ansatz innerhalb der historischen Linguistik: Zum Einen verhinderte die zur Erblast des Strukturalismus gehörende Trennung funktionaler von genetischen Erklärungsweisen die Einsicht, daß Sprach- und Bedeutungswandel nur durch gleichzeitige Thematisierung beider Perspektiven [der pragmatischen und der historischsemantischen] hinreichend erklärt werden kann; zum Anderen schuf die Dichotomie natürlich/ künstlich überflüssige und irreführende Konfrontationslinien, [...] indem verkannt wurde, daß Sprachwandel als Wandel gesellschaftlicher Verhaltensmuster zwar immer Ergebnis menschlichen Handelns ist, aber dennoch niemals (oder kaum) intentional erfolgt. 41 Bis heute hat diese Kritik Berechtigung, wie der Blick auf den Forschungsstand zu wortartspezifischen Untersuchungen zum Bedeutungswandel zeigt. Ein Umstand, der die vorliegende Arbeit als ein Desiderat in der linguistischen Forschung positioniert. Dazu passt sicher auch die Feststellung von G ERD F RITZ , der 1998 (also immerhin mehr als ein Jahrzehnt später) einen bis heute grundlegenden Forschungsmangel beklagt und diesen konkretisiert: „Generell fehlt es noch an der Verbindung der Mikro- und der Makroperspektive in der historischen Semantik“ 42 . Für F RITZ eignet sich als Lösung aus dieser Misere und damit als treffendes „Erklärungsmuster, das gerade auf diese Verbindung hin angelegt ist“ 43 , dabei die invisible-hand-Erklärung R UDI K ELLER s. 44 40 B USSE 2001: 1307 41 B USSE 1986: 51 42 F RITZ 1998: 871 43 F RITZ 1998: 871 44 Vgl. K ELLER 2003 41 Als m. W. einzige linguistische Forschungsarbeit, die ein fundiertes sprachpragmatisches Konzept als Erklärungsmodell anlegt und einen wortartspezifischen Ansatz verfolgt, steht die Schrift R UDI K ELLER s und I LJA K IRSCHBAUM s aus dem Jahr 2003 zum adjektivischen Bedeutungswandel bis heute allein auf weiter Flur. 45 Das Besondere an diesem Forschungsansatz ist - im Vergleich zu allen anderen Grundlagenforschungen - die enge Korrelation zwischen intentionalem Sprecherverhalten im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung und den makroskopischen Effekten des semantischen Wandels. Über die invisible-hand-Erklärung gelingt es, nicht nur die semantischen Verfahren zu identifizieren, sondern auch die semantische Umstrukturierung der Gebrauchsregel eines Wortes zu erkennen. Dies ist möglich, da der Erklärung mittels der unsichtbaren Hand ein instrumentalistischer Bedeutungsbegriff zugrunde liegt. 46 Ich werde in Kapitel 2 diese Zusammenhänge ausführlich darstellen und bereits mit dem Fokus auf mein spezielles Forschungsfeld verknüpfen. Über die Inkorporation semantischer Parameter in die Gebrauchsregel eines Wortes lässt sich erkennen, in welcher Funktion (über die wahrheitsfunktionale Verwendung hinaus) ein Wort gebraucht wird und wurde. 47 Im Abgleich von neuer und alter Gebrauchsregel ergibt sich in vielen Fällen ein Rückschluss auf die Intention, d. h. auf das Motiv für den Bedeutungswandel. Keller und Kirschbaum haben ihre Untersuchung auf die Wortart der Adjektive ausgerichtet. Ihre Forschung ist damit wortartspezifisch und zudem korpusbasiert. Zwar ohne ein solches pragmatisches Grundgerüst, aber immerhin wortartzentriert sind in neuerer Zeit insbesondere für die Gruppe der sprechaktkennzeichnenden Verben - verba dicendi - Ansätze einer Systematisierung im Sinne einer auf Similarität beruhenden Gruppierung von Verben bei G ERD F RITZ zu erkennen. 48 Dennoch beschränken sich seine Überlegungen - auch jenseits der verba dicendi - eher auf eine (deskriptive) Darstellung der Entwicklungsgeschichte, die semantischen und pragmatischen Prinzipien bleiben weiterhin außen vor. Die Befunde, die 45 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003 46 Vgl. hierzu Kapitel 2 47 Auf diesen wesentlichen Aspekt semantischen Wandels kommen wir in Kapitel 2 und 3 eingehend zu sprechen. Dort wird ein instrumentalistischer Bedeutungsbegriff entwickelt, der Bedeutung als regelhaften Wortgebrauch definiert. Dabei wird sich zeigen, dass die Einbettung inner- und außersprachlicher Parameter in die Regel des Wortgebrauchs eine entscheidende Rolle beim Bedeutungswandel von Verben spielt. Diese Theorie der inkorporierten Parameter der Gebrauchsregel findet man zuerst bei R ADTKE 1998, später auch bei R ADTKE 1999, K ELLER / K IRSCHBAUM 2003, K ELLER 2006d, L OPPE 2010. Bis heute ist ihre erklärende Kraft und Wichtigkeit für den Bedeutungswandel noch nicht genügend herausgearbeitet worden. Ich habe vor, diesen Mangel mit dieser Schrift zu beseitigen. 48 Vgl. F RITZ 2005: 183ff. und F RITZ 2006: 121ff. 42 sich aus diesen Untersuchungen ergeben, lassen zwar gewisse Regelmäßigkeiten semantischen Wandels erkennen, allerdings einzig darin, dass „manche Entwicklungspfade immer wieder begangen werden, beispielsweise die Nutzung von Verben des lauten Redens als Verben zur Kennzeichnung des Prahlens oder die Entwicklung von Verwendungsweisen zur Kennzeichnung des Strafens bei Verben des Tadelns“ 49 . Über die zugrunde liegenden Muster und Strukturen ist durch die bloße Aufzeichnung der synchronen Entwicklung anhand eines rekonstruierten lexikalischen Ursprungs- und Zielbereichs aber noch nichts gesagt. Allein aus der Beschreibung eines frühen Sprachzustandes und dem direkten Vergleich mit der heutigen Verwendung ergeben sich mehr Fragen als Antworten. Die so verstandenen Entwicklungspfade, die F RITZ formuliert, sind lineare Pfade und kennzeichnen über den Vergleich Ausgangs- und Zielzustand des Verbs, taugen zur Erklärung dieser Entwicklung aber m. E. eher wenig. Über Gruppengemeinsamkeiten innerhalb einer Verbgruppe, wie F RITZ sie z. B. für die Verben des Vorwerfens identifiziert, deckt man semantischen Wandel nur ansatzweise auf. Richtungsweisender sind da seine Ergebnisse aus Untersuchungen der Fortbewegungsverben oder der Verben des Wartens, allerdings sind auch diese Befunde gleichsam interessant wie dürftig, was F RITZ selbst im Zusammenhang mit den deutschen Schallverben so formuliert: „Die historischen Entwicklungen - so weit wir sie kennen - sind wesentlich komplizierter als diese kurze Skizze es suggeriert, und sie sind insgesamt schwierig zu beschreiben“ 50 . Was für die Schallverben gilt, gilt wohl so gesehen insgesamt für die Erforschung der semantischen Entwicklungsgeschichte der Verben. Der Grund dafür liegt m. E. in einem bislang zu einseitigen Untersuchungsansatz: Die Verbszene des Deutschen nur unter der Lupe der Geschichte zu betrachten, erlaubt lediglich makrostrukturelle, lexikalische Befunde. Man wird zwar auf dem linguistischen Seziertisch etymologische Gemeinsamkeiten 51 von Verben feststellen, allerdings gelangt man darüber allein 49 F RITZ 2005: 184 50 F RITZ 2006: 131 51 Wie etwa die allgemein akzeptierte Erkenntnis, dass sich Verben des Wartens häufig aus Verben des aufpassenden Schauens, Horchens, Hütens oder des Stehens, Bleibens und Verweilens (Vgl. F RITZ 2006: 130, der sich hier auf M ARTIN D URELL bezieht) entwickelt haben - ein rein deskriptiver Befund, der zu einer wenig explanativen Taxonomie der Verben des Wartens führt. Die damit zusammenhängenden Entwicklungspfade sind nicht zu verwechseln mit denjenigen Pfaden des Bedeutungswandels, die im Rahmen dieser Arbeit in Kapitel 8 für die deutschen Verben aufgezeichnet werden. Diese sind nämlich vielmehr als Zweck-Mittel-Relation zu verstehen (also intentional bestimmt) und sie sind zudem in vielen Fällen nicht linear (Gebrauchsweise x wird zu Gebrauchsweise y), sondern durch Parameterverschiebungen beeinflusst und möglicherweise als zirkuläres Phänomen auch rück- 43 noch nicht zu einer Erklärung, wie diese Gemeinsamkeiten entstanden sein dürften. Zu wissen, wie eine Entität heute aussieht und dieses Aussehen mit dem früherer Stufen zu vergleichen, erklärt nicht dessen Entwicklungsprozess. Zu diesem Zweck muss man vielmehr eine systematische Analyse anstellen, die den Prozess selbst - im Falle von Wörtern und Wortbedeutungen den von K ELLER postulierten invisible-hand-Prozess - beleuchtet. Aus diesem Grund eignen sich zur Spurensuche etymologische Wörterbücher auch nur sehr bedingt, ein konkreter Gesprächskontext ist zielführender. Weitere Ansätze von wortartspezifischer Untersuchung finden sich schon seit den 1970er Jahren ebenfalls bei G ERD F RITZ , der insbesondere die Modalverben genauer analysiert hat. Seine Untersuchungen haben aber auch in der Fortführung bis heute mehr deskriptiven Charakter und sind weniger auf eine explanative Systematisierung ausgerichtet. 52 Zwar postuliert auch F RITZ die Verquickung von semantischen und pragmatischen Ansätzen, eine Einzelwortuntersuchung anhand eines festen Textkorpus findet man bei ihm aber nicht. Gleichwohl formuliert er 1998 bereits das bis heute gültige Forschungsdefizit und präzisiert die Aufgabenstellung: „Trotz einer eindrucksvollen Forschungstradition der historischen Semantik sind immer noch Arbeiten Mangelware, die einen reflektierten bedeutungstheoretischen Standpunkt mit detaillierter philologisch-historischer Materialaufarbeitung verbinden“ 53 . Einen solchen Ansatz verfolgt V OLKER H ARM , der im Jahr 2000 im Vorwort zu seiner Arbeit über den Bedeutungswandel bei Wahrnehmungsverben das Desiderat noch einmal benennt: „Korpusbasierte Studien zu Regularitäten des semantischen Wandels sind nach wie vor ein Desiderat“ 54 . H ARM widmet sich in seiner Untersuchung in erster Linie der Prinzipienfrage und erforscht, ob es überhaupt möglich ist, semanti- wärts gerichtet. So können expressiv-evaluative Verben (z. B. Tabuwörter), die aus faktisch-deskriptiven Verben hervorgegangen sind, durchaus über den invisiblehand-Prozess zukünftig durch frequenten Gebrauch und Verbreitung wieder eine rein faktisch-deskriptive Bedeutung annehmen. Augenblicklich ist eine solche Tendenz vielleicht in Ansätzen für das stark expressive Verb ficken zu vermuten, das bereits ein Stück weit seine Nische als umgangssprachliches Tabuwort verlassen hat und vermehrt Einzug in die Literatursprache findet. Für das Adjektiv geil hat dieser Prozess bereits stattgefunden; geil verwendet man seit einiger Zeit nicht mehr expressiv, eine bewertende Hauptbedeutung ist allerdings erhalten geblieben. So verstanden sind die bislang in der Forschungstradition beschriebenen Entwicklungspfade (so wie sie etwa G ERD F RITZ (2005: 39ff.) versteht) reine Ursprungs- Zielbedeutungs-Pfade, die wesentliche sprecherzentrierten Prozesse und damit explanative Kraft vermissen lassen. 52 Vgl. F RITZ 1974: 45ff. 53 F RITZ 1998: 871 54 H ARM 2000: 15 44 sche Regularitäten im deutschen Bedeutungswandel festzustellen. Er stützt seine Untersuchung auf eine eng umgrenzte Gruppe innerhalb der Verben, die Wahrnehmungsverben. Auch H ARM erhebt, obwohl er sowohl wortartzentriert als auch korpusbasiert vorgeht, nicht den Anspruch, die sprecherzentrierten (kommunikativen) Mechanismen semantischen Wandels erklären zu wollen. Vielmehr ist es sein Bestreben, den semantischen Wandel des Verbums zu beschreiben und Rekurrenz aufzudecken (insbesondere mit Blick auf semantische Relationen), nicht aber, die Ursachen oder Intentionen für den Wandel zu ergründen. Dies wäre mit seinem Vorgehen auch nicht leistbar, da H ARM seine Untersuchung zeitlich bis ins Mittel- und Althochdeutsche ausdehnt. H ARM leistet mit seiner Arbeit entsprechend in erster Linie semantische Rekonstruktionsarbeit (z. B. über den Vergleich von Aktantenstellungen) und entwickelt auf diesem Wege Bedeutungschronologien für das Verbum. Aus dem regelmäßigen Vorliegen semantischer Relationen schließt er auf eine Gerichtetheit und erkennt für seinen Wortschatzbereich Regularitäten, die auf eben diesen semantischen Relationen von Ausgangs- und Zielbedeutung basieren. Da sein Korpus einen sehr weiten zeitlichen Rahmen umfasst, sind auch die Ergebnisse seiner Analyse lediglich chronologischkomparativer Natur, auch wenn H ARM stellenweise plausible Hypothesen über die jeweilige Bedeutungsentwicklung entwirft, die auf semantischer Ähnlichkeit von Ausgangs- und Zielbedeutung basieren. So stellt er u. a. fest, dass eine päferierte Gerichtetheit semantischen Wandels bei Teil-Ganzes-Relationen in Richtung Teil zu Ganzes vorliegt. 55 Die Frage, warum ein Sprecher zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Verb in einer anderen (wenn auch vielfach semantisch ähnlichen) Bedeutung verwendet, beantwortet aber H ARM nicht. Erst recht lassen sich über seine rekonstruierende und vergleichende (im Bezug auf Kontiguitäts- oder Similaritätsrelationen) bedeutungschronologische Analyse nicht diejenigen Fälle 55 Ein Beispiel für diese Teil-Ganzes-Gerichtetheit ist das Verb erschrecken, das ich im Rahmen dieser Arbeit in Kapitel 7 sehr eingehend, aber mit einem anderen, meiner handlungstheoretisch orientierten Fragestellung entsprechenden Blick betrachten werde. Die Frage nach (generellen, sprachübergreifenden) Entwicklungswegen, die auf semantischen Relationen beruhen, stelle ich mir in dieser Arbeit nicht, da zu dieser Fragestellung bereits ausreichend Hypothesen in der Forschungsliteratur zu finden sind. Dennoch kann an dieser Stelle mit einem Blick auf den gegenwärtigen Stand der semantischen Forschung der Ansatz V OLKER H ARM s als innovativ bezeichnet und hervorgehoben werden, da H ARM seine Hypothesen empirisch sichert und damit die bis dato sehr pauschalen Hypothesen zur Gerichtetheit semantischen Wandels auf ein stärkeres Fundament stellt und bislang ungesicherte Vermutungen verifiziert. So gab es im Hinblick auf die Gerichtetheit von Bedeutungswandel, der in einer Teil-Ganzes-Relation (Metonymie) steht, bereits bei D AVID P. W ILKINS (1996: 275) die mit wenig Datenmaterial unterfütterte Hypothese, dass der Wandel in erster Linie in Richtung Teil zu Ganzes verläuft als umgekehrt. 45 erklären, in denen die Zielbedeutung sich aufgrund von Verschiebungen außersprachlicher Parameter in der Gebrauchsregel ergeben (z. B. die evaluative Nebenbedeutung in klauen=stehlen), auch wenn semantische Relationen wie Metapher (Similaritätsrelation) oder Metonymie (Kontiguitätsrelation) nachweisbar sind. Über die Korpusfixierung stellt sich sein Ansatz zwar als innovativ und für seine Fragestellung auch als zielführend dar, unterscheidet sich aber doch grundlegend von demjenigen, der dieser Arbeit - analog zu der von K ELLER / K IRSCHBAUM - zugrunde liegt. Auf der Suche nach Prinzipien des Bedeutungswandels ist die Habilitationsschrift A NDREAS B LANK s sehr gehaltvoll. 56 B LANK leistet mit ihr in erster Linie einen sehr umfassenden Überblick über die Wissenschaftsgeschichte semantischen Wandels und liefert eine umfassende Darstellung sowohl über die semantischen Verfahren und über die möglichen Motive des Bedeutungswandels als auch über die Folgen. Sein Ansatz ist holistisch, was unweigerlich dazu führt, dass sehr spezielle Phänomene - wie der Bedeutungswandel bei einzelnen Wortarten - oder Ergebnisse anhand eines festen Korpus nicht oder nur unzureichend beleuchtet werden können. Zudem orientiert sich seine Forschung in erster Linie an den romanischen Sprachen. Gleichwohl sind B LANK s Ausführungen aufgrund der weiten Sphäre von entscheidender Bedeutung und werden als Quelle innerhalb dieser Arbeit nicht selten herangezogen. Was dieser kurze (und keineswegs vollständige) Abriss über den aktuellen Forschungsstand und über das linguistische Interesse an meinem Thema zeigt, ist zweierlei: Erstens gibt es seit den 1980er Jahren ein breites Verständnis innerhalb der Disziplin darüber, dass ein reines Beschreiben oder eine Suche nach Prinzipien zugunsten einer empirischen Forschung, die ihre Befunde mit Hilfe einer pragmatischen Theorie überprüft, aufgegeben werden sollte. Zweitens mangelt es trotz diverser Aufrufe bis heute an wortartorientierten Untersuchungen, die auch und vor allem die intentionalen Ziele des Sprechers, also den pragmatischen Ansatz mit einschließen. Für die Gruppe der Adjektive liegt eine solche Untersuchung bereits vor. Für die Gruppe der Verben wird ein ähnliches Konzept mit dieser vorliegenden Arbeit verwirklicht. Für andere Wortarten wäre eine analoge Beschäftigung sicher ebenso interessant und könnte dazu beitragen, die Lücke im Bereich der Forschung ein Stück weit mehr zu schließen. 56 B LANK 1997 46 1.4 Methodisches Vorgehen Was sich aus dem bislang Gesagten als Befund ableiten und erkennen lässt, ist ein eklatanter Mangel an Forschung, die sich über das Primat der deskriptiven historischen Semantik hinwegsetzt und sich dem Phänomenbereich - systematisch - auf der Basis einer allgemeinen, handlungstheoretisch fundierten Theorie zum Sprachwandel sowie - mit Hilfe eines instrumentalistischen Bedeutungsbegriffs, der außersprachliche Parameter berücksichtigt und - anhand eines Textkorpus, also empirisch fundiert, - wortartspezifisch - und mit einem Erklärungsanspruch für semantischen Wandel innerhalb der untersuchten Wortartgruppe nähert und dabei streng zwischen den - hinlänglich bekannten - semantischen Verfahren und einer (kollektiven) pragmatischen Strategie unterscheidet. Für eine Forschungsarbeit wie die vorliegende, die diesen Ansprüchen gerecht werden will, ergibt sich aus dem Desiderat selbst das wissenschaftliche Vorgehen: Neben allgemeinen Betrachtungen zum Bedeutungswandel wird in erster Linie nach konkreten Phänomen und Beispielen gesucht. Die methodische Basis der Untersuchung ist somit empirischinduktiv, d. h. aus Einzelbeobachtungen verbalen Bedeutungswandels wird anhand einer Materialsammlung auf allgemeine Regelmäßigkeiten geschlossen. Bei diesen Regelmäßigkeiten handelt es sich nicht um Gesetze im strengen Sinne, nach denen in der frühen historischen Semantik aufgrund des Leitideals der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts bereits erfolglos gesucht wurde. Vielmehr geht es um die Aufdeckung von Regelmäßigkeiten und die Aufzeichnung von Wandelpfaden, die keine allgemeinen Gesetze des Bedeutungswandels darstellen sollen, sondern eher im Sinne von Wegen auf einer Landkarte semantischen Wandels (mit durchaus nicht nur linearen Wegen) ein Bild der handlungstheoretisch fundierten Bewegung liefern und somit auch sozialtheoretische bzw. außersprachliche, intentionale Aspekte mit einschließen. 57 Um diesem eigenen Anspruch gerecht zu werden, muss sich eine Untersuchung wie die vorliegende in denjenigen Fällen, in denen das Sprachgefühl allein nicht ausreicht, auch auf ein Textkorpus stützen, auch 57 Auf die Problematik der Formulierung von Gesetzmäßigkeiten semantischen Wandels und dem damit einhergehenden Dilemma der Übergeneralisierung werde ich in Kapitel 4 näher eingehen. 47 wenn einige (insbesondere sehr aktuelle) Wandelphänomene schon aus dem Sprachgefühl oder der eigenen Sprecherwirklichkeit entdeckt werden können. An den Stellen, an denen es mir geboten erschien, habe ich in meine Ausführungen plausible Beispiele als Belegstellen und für die Hypothesenentwicklung eingefügt, die konkrete Verwendungsweisen in einer früheren Sprachstufe widerspiegeln. Um dieser Prämisse gerecht zu werden, galt es Texte auszuwählen, die bestimmte Anforderungen erfüllen. Das Korpus für diese Untersuchung besteht daher aus Texten aus unterschiedlichen zeitlichen Epochen, die zwar weit genug auseinander liegen, um Wandel erkennen zu lassen, aber die auch eng genug beieinander liegen, um plausible Hypothesen über die Genese des Wandels erheben zu können. Diese Prämisse muss zwingend erfüllt sein, damit die semantische Nähe über den Zeitraum hinweg überhaupt noch erkennbar ist und damit die Ursprungsbedeutung nicht erst hypothesengeleitet rekonstruiert werden muss. 58 Die Basis für alles Weitere liefern solche Verben, über die man semantisch „stolpert“, wenn man in alten Texten eine andere Gebrauchsweise findet. Dieses kognitive Stolpern ist notwendig, um überhaupt über ein pragmatisches Schlussverfahren darauf schließen zu können, dass es eine Diskrepanz zwischen alter und neuer Wortbedeutung gibt. Um möglichst nah an der tatsächlichen Gebrauchs- und Verwendungsweise der Verben zu forschen, sind lyrische oder epische Texte aufgrund einer nicht auszuschließenden literarisch-künstlichen Sprachfärbung ungeeignet. Stattdessen müssen die Texte den alltagssprachlichen Wortgebrauch der jeweiligen Zeit widerspiegeln, wie G ERD F RITZ erkennt: „Um den Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken zu verstehen, muss man sie in ihrem Satz-, Text- und Kommunikationszusammenhang sehen“ 59 - eine Prämisse, die impliziert, dass man „[h]istorische Semantik [...] nicht auf der Grundlage von Wörterbuchdateien allein betreiben 58 Bedeutungsrekonstruktionen sind nicht nur überaus aufwendig, so dass sie für eine ganze Wortart im Zuge einer Arbeit wie der vorliegenden kaum geleistet werden kann, sie tragen zudem auch die Gefahr der Fehlinterpretation in sich, da - je weiter die Ausgangsbedeutung von der heutigen Bedeutung entfernt ist - die Reproduktion des konkreten sprachlichen Kontextes schwierig wird. Insbesondere im Mittelhochdeutschen und in stärkerem Maße noch im Althochdeutschen ist es fast auszuschließen, dass das Datenmaterial die tatsächliche Wortverwendung der damaligen Zeit widerspiegelt. Alt- und mittelhochdeutsche Texte dürften mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit künstlerische Färbungen enthalten, die vom tatsächlichen Sprachgebrauch der damaligen Zeit abweichen. Da im Zuge dieser Arbeit weder ideoloektische noch lyrische oder poetische Diktionen untersucht werden sollen, musste das Korpus mit Blick auf diese Notwendigkeit gewählt werden. Daher beschränkt sich das Textkorpus i. d. R. auf die letzten 200 Jahre. 59 F RITZ 2005: 3 48 [kann]“ 60 . Historische und aktuelle Wörterbücher können allenfalls unterstützend hinzugezogen werden, denn sie „unterscheiden nicht immer systematisch zwischen dem kontextspezifischen Sinn eines Wortes in einem bestimmten Vorkommen und der Bedeutung dieses Wortes auf der Ebene der Sprache“ 61 , wie R UDI K ELLER bemerkt. Auf Anraten B RUNO S TRECKER s vom IDS in Mannheim, den ich im Vorfeld zu dieser Arbeit kontaktiert habe, wird eine digitale Ausgabe von Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky verwendet, eine umfangreiche digitale Anthologie deutschsprachiger Literatur. Um hier nicht den Faden zu verlieren - die Datensammlung bündelt auf mehr als 600.000 Seiten das literarische Schaffen von über 500 Autoren und damit über 2.900 teils mehrbändige Werke - wurden auch die Korpora zeitlich und textsortenspezifisch ausgewählt. Um eine umfassende Analyse der Texte möglich zu machen, wurden die digitalen Textkorpora mit Hilfe von Suchfunktionen analysiert: In einem ersten Schritt wurden die historischen (und abweichenden) Verbbedeutungen beschrieben, d. h. aus dem kommunikativen Kontext herausgelöst. In einem weiteren Schritt galt es, die Wortbedeutungen mit den heutigen Gebrauchsweisen zu vergleichen und Änderungen zu beschreiben. Aus der Gegenüberstellung ergeben sich dann die (vermuteten) kommunikativen Ziele und außersprachlichen Parameter, die dem Wortgebrauch zugrunde liegen, die semantischen Verfahren und schließlich die Hypothesen für die Motive und Ursache des Bedeutungswandels, aus denen sich dann in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen Regelmäßigkeiten ableiten und Pfade aufzeichnen lassen. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass eine umfassende Sammlung von Verben in historischen Bedeutungsvarianten weder beabsichtigt noch für das Ziel der vorliegenden Arbeit notwendig war. Die Wortbeispiele dienen vielmehr der Entwicklung von Bedeutungswegen der Verben und entsprechend einzig zur besseren Anschaulichkeit. Inwieweit mir dies gelungen ist, mag der Leser von Fall zu Fall entscheiden. Ein Anspruch auf Vollständigkeit der Abbildung des historischen Verbwortschatzes (z. B. der Goethezeit oder einer bestimmten Epoche) wird nicht erhoben. Ein solches Vorgehen, das einen Wortschatz zu einer bestimmten Zeit reflektiert, wäre auch für meine Fragestellung nicht sinnvoll. Schließlich möchte ich mit dieser Arbeit auch ein Stück weit mit der Tradition der deskriptiven diachronen Semantik brechen. Da sich diese Arbeit nicht als etymologische Forschung oder als historische Lexikologie versteht, ist eine Stringenz im Nachweis historischer Wortverwendung anhand eines festen Korpus nicht notwendig. Stattdes- 60 F RITZ 2005: 3 61 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: VI 49 sen dienen die Beispiele der Plausibilität für theoretische Befunde, die ich im Rahmen dieser Arbeit entwickeln werde. Der Fokus liegt dabei weniger auf der historischen Wortverwendung als auf der Betrachtung der inneren Bedeutungsstruktur eines Verbs (und natürlich auf deren mögliche Veränderungen). Die aufgespürten Verben sollen daher zur anschaulichen Überprüfung der von mir entwickelten übergreifende Thesen und Erklärungsmodelle dienen, weshalb es weder notwendig noch zielführend ist, mehr als die hier präsentierten Verben anzuführen. Natürlich wäre ein Vielfaches möglich gewesen, allerdings war das nicht nötig und auch nicht beabsichtigt. Es geht in dieser Arbeit um Prinzipien, nicht um Vollständigkeit. Diesen Umstand bitte ich beim Lesen zu berücksichtigen. Die Landkarte, auf der die Pfade des verbalen Bedeutungswandels aufgezeichnet werden, unterscheidet sich in manchen Punkten von derjenigen Karte, die K ELLER und K IRSCHBAUM für den Adjektivwortschatz entworfen haben. Neben einigen Übereinstimmungen sind es insbesondere die Abweichungen und neuen Pfade, die ein neues Licht auf die Semantik des Verbums werfen und damit ein tieferes Verständnis der Entwicklung verbaler Bedeutungsgeschichte schaffen. 1.5 Formale Bemerkungen An dieser Stelle möchte ich abschließend auf ein paar sehr generelle Dinge aufmerksam machen, die sich mehr mit der Form als mit dem Inhalt der vorliegenden Arbeit befassen. Zum einen habe ich versucht, in sich lesbare und aus sich selbst heraus verständliche Kapitel zu schreiben, so dass der Leser spezielle Fragestellungen aus dieser Untersuchung extrahieren kann. Dies gilt besonders für die ersten Kapitel, die sich mit sehr theoretischen Überlegungen zum Bedeutungswandel beschäftigen und die sich problemlos als unabhängige Einführungen lesen lassen. Insbesondere das abschließende Kapitel dieser Arbeit zu den semantischen Trampelpfaden bei Verben ist aber nicht ohne die Kenntnis gewisser theoretischer Vorüberlegungen zu einer pragmatischen Semantik verständlich, so dass ich empfehle, dazu die ersten drei Kapitel im Zusammenhang zu lesen. Die Erkenntnisse dieser Arbeit finden in Kapitel 8 schließlich ihren Fluchtpunkt. Darüber hinaus habe ich mich um eine möglichst einfache und klare Sprache bemüht und dort, wo es möglich war, leicht nachvollziehbare Beispiele konstruiert oder aus dem Korpus herausgelöst - die im Zuge dieser Untersuchung dargestellten Phänomene sind insgesamt recht komplex und abstrakt, so dass dieser Umstand nicht auch noch durch eine allzu fachsprachliche Schreibe zu Ungunsten der Lesbarkeit unter- 50 stützt werden musste. Zudem habe ich - ungeachtet der Genderdiskussion - in dieser Arbeit auf die Unterscheidung der maskulinen und der femininen Form verzichtet, auch dies halte ich zu Gunsten der Lesbarkeit für geboten. Ich bitte den Leser, die jeweils weibliche Form implizit mitzudenken. 51 2. Bedeutungswandel - eine Begriffsbestimmung Nach diesen wissenschaftlich-methodischen Anmerkungen und einführenden Gedanken des vorherigen Kapitels stellt sich nun die Frage, über welche Begriffe im Folgenden zu diskutieren sein wird. Es hat sich in der Hinführung zum Problembereich in Kapitel 1 bereits gezeigt, dass Bedeutungswandel als Phänomen in seiner Interpretation entscheidend an das ,richtige’, d. h. einer explanativen Theorie zuträgliche, Verständnis seiner Grundbegriffe gekoppelt ist. Daher halte ich es für geboten, zunächst eine terminologische Einigung darüber zu erzielen, was Bedeutungswandel per definitionem eigentlich ist. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, im Folgenden die beiden Begriffe B e d e u t u n g und W a n d e l einmal isoliert zu betrachten und 1. einen, der hier untersuchten Fragestellung und Methode hinreichenden, Bedeutungsbegriff zu entwickeln, 2. den Begriff des Wandels im Bezug auf natürliche Sprachen näher zu beleuchten, sowie 3. eine Theorie zum Sprachwandel im Allgemeinen vorzustellen, die sich dazu eignet, Bedeutungswandel handlungstheoretisch zu erklären. 2.1 Der Bedeutungsbegriff Wenn man Wörter als komplexe sprachliche Zeichen begreift, gibt es zunächst zwei grundlegend verschiedene Dimensionen, die man voneinander unterscheiden muss. Gemeint sind zum einen der Ausdruck und zum anderen die Bedeutung eines Wortes. Beide Begriffe spielen für die Herleitung eines adäquaten Bedeutungsbegriffs eine wichtige Rolle. 62 62 Der Begriff Bedeutung wird hier als eine von zwei grundlegenden Analyseebenen im Gegensatz zum Begriff Ausdruck verwendet. Gemäß der G l o s s e m a t i k von L OUIS H JELMSLEV (vgl. H JELMSLEV 1943) kann man in Anlehnung an die strukturalistische Sprachanalyse F ERDINAND DE S AUSSURE s (vgl. S AUSSURE 1916) für sprachliche Zeichen ein bilaterales Zeichenmodell anlegen und darin zwei Analyseebenen eines Wortes unterscheiden: Der Ausdruck bezieht sich dabei auf den materiellen Aspekt und ist damit in erster Linie ein Muster für die lautliche Realisierung und als solches sinnlich wahrnehmbar. Die zweite Ebene wird als Inhaltsebene bezeichnet. Auf dieser Ebene manifestiert sich je nach bedeutungstheoretischem Konzept die Bedeutung des Zeichens als a) das Bezeichnete in der außersprachlichen Realität, b) die Vorstellung einer Entität in der außersprachlichen Realität, c) eine außersprachliche Reaktion auf außersprachliche Ereignisse oder d) die Regeln der Ver- 52 Man kann sich z. B. die Frage stellen, warum ein Baum Baum heißt und nicht etwa Maus. Dass ein Baum etwas kategorial sehr anderes ist als eine Maus, spielt dabei zunächst keine Rolle. Die Frage lautet: Warum ist die Anordnung der Buchstaben in diesem Fall so gewählt und nicht etwa ganz anders? Dasselbe gilt für die artikulatorische Realisierung der Phoneme, die dieses Wort ausbildet. Die Antwort ist: Weil es kraft Konvention von der Sprachgemeinschaft so festgelegt worden ist. Die spezifische Anordnung von Buchstaben ergibt auf diesem konventionellen Weg ein sprachliches Zeichen, welches sich als Wort innersprachlich realisieren lässt. Die spezifische Abfolge von Buchstaben dient also dazu, einer Entität ein Zeichen zu geben. Über die spezifische Buchstabenfolge B-a-u-m erhält der Baum seinen Ausdruck. 63 Die zweite Frage, die man sich stellen kann, ist: Was bedeutet ein komplexes sprachliches Zeichen? Wenn ich als ein Leser ohne romanistische Sprachausbildung beispielsweise einen französischen Text vorgelegt bekomme, erkenne ich eine Vielzahl von Buchstabenfolgen, die ich als Wörter interpretieren und die ich vielleicht lautlich artikulieren kann, deren Bedeutungen ich aber nicht kenne. Wenn ich die Buchstabenfolge eines dieser komplexen Zeichen lesen kann, kenne ich zwar den Ausdruck des Wortes, nicht aber dessen semantischen Inhalt. Ich würde die Frage stellen: Was bedeutet dieser sprachliche Ausdruck? und würde damit wissen wollen, wie sich der Ausdruck zur außersprachlichen Wirklichkeit verhält wendung des Wortes, die durch Sprache konstituiert werden. Diese Konzepte (ausschließlich des behavioristischen) werden im Folgenden ausgehend von der Dichotomie Ausdruck vs. Inhalt eingehender diskutiert. 63 Manche linguistische Theorien setzen den Ausdruck eines Wortes auch mit der Form gleich. Ich möchte diesen Terminus hier vermeiden, da er eine Vielzahl von Verwendungsweisen aufweist und damit nicht eindeutig genug kennzeichnet, welche Ebene des sprachlichen Zeichens gemeint ist (vgl. H ERINGER 1974: 9). In der Glossematik werden unter Formen in dem Gegensatzpaar Form vs. Substanz die abstrakten Eigenschaften verstanden, wobei Substanzen materielle sprachliche Realisierungen auf der Ebene der parole darstellen. Formen hingegen stellen in dieser Sichtweise langue-bezogene Einheiten dar. In dieser Sichtweise wäre die Bedeutung eines Wortes auf der Ebene der parole angesiedelt. Wie sich weiter unten zeigen wird, halte ich eine Fixierung der Wortbedeutung auf der Ebene der langue für sinnvoller, da lexikalische Bedeutungen nicht variant sind. Ein Wort kann m. E. nicht je nach Kontext oder Umstand eine andere Bedeutung annehmen - das würde die Interpretation von Wörtern unmöglich machen. Auch instrumentalistische Bedeutungsauffassungen vertreten diese abwegige These nicht, wie wir später sehen werden. Vielmehr ist die Bedeutung über Regeln im Sprachsystem verankert und wird damit nicht situations- oder intentionsabhängig konzeptualisiert (vg. dazu K ELLER 1995: 64f.). Der S i n n einer Äußerung wäre dagegen von der Bedeutung des Wortes zu unterscheiden, denn er wird kontextspezifisch erzeugt. Daher kann man im Gegensatz zur Bedeutung den Sinn mit gutem Gewissen auf der Ebene der parole positionieren (vgl. K ELLER 1995: 182). 53 und wie ich ihn interpretieren soll. 64 Ich würde also die Frage nach der Bedeutung des sprachlichen Zeichens stellen. In der linguistischen Forschung wird das, was unter der Bedeutung überhaupt zu verstehen ist, bis in die Gegenwart sehr kontrovers diskutiert. Nicht nur die Sprachwissenschaft (als vergleichsweise junge Disziplin) stellt sich die Frage nach der Bedeutung von Bedeutung, „das Nachdenken über sprachliche Zeichen und ihre Bedeutung als solches hat [...] eine über 2000jährige Geschichte“ 65 . Es gibt wohl kaum einen Begriff, der so schwierig zu fassen und zu definieren ist, wie der Bedeutungsbegriff. S TEPHEN U LLMANN schreibt: „In der Sprachtheorie ist die Bedeutung einer der vieldeutigsten und am heftigsten umstrittenen Begriffe“ 66 , so dass „[der] Begriff in den Augen vieler Forscher für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar [geworden ist]“. 67 Woran liegt das? Wenn man sich die Frage nach der Bedeutung eines Wortes stellt, gerät man sehr schnell an kognitive und sprachsystemimmanente Grenzen, weil die „Bedeutung des deutschen Wortes Bedeutung [...] nicht so präzise festgelegt [ist], dass es möglich wäre, diese Frage ohne vorherige Präzisierung zu beantworten“ 68 . Dies gilt insbesondere für den (sprach)wissenschaftlichen Diskurs, denn wenn man hier über Bedeutung redet, muss ein präziser Bedeutungsbegriff alle Fälle der spezifischen Benutzung des Wortes Bedeutung (im Falle der linguistischen Semantik als Teildisziplin einer allgemeinen Semantik mit Hinblick auf das Wort als originären Untersuchungsgegenstand) abdecken. 69 In der alltagssprachlichen Verwendung ist dies nicht zwingend nötig, dennoch 64 Es ist für den linguistischen Bedeutungsbegriff m. E. ungeachtet des zugrunde gelegten Bedeutungskonzeptes zentral, dass Bedeutung stets an einen sprachlichen Ausdruck gebunden ist, was zugleich impliziert, dass sprachliche Ausdrücke immer bedeutungstragend sind. Ausdrücke verweisen in dieser Sichtweise über sich selbst hinaus, was nicht nur für referenzsemantische, sondern auch für Interaktionsbezüge (also auch instrumentalistische Bedeutungsauffassungen) als Verweishinsicht gilt (vgl. hierzu L ANG 1983). Die Verweishinsicht eines Ausdrucks beschränkt sich somit nicht nur auf einen Begriff- oder Sachbezug: Geäußerte sprachliche Ausdrücke etwa verweisen auf eine bestimmte Äußerungssituation und die in dieser Situation verfolgten kommunikativen Ziele. 65 B USSE 2009: 22 66 U LLMANN 1973: 67 67 U LLMANN 1973: 67 68 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 3 69 Bedeutung ist als Konzept und als Begriff nicht allein Untersuchungsgegenstand der Linguistik, so dass der Erstreckungsbereich des Begriffs zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen durchaus variiert. Eine psychologische oder eine theologische Wissenschaft würde z. B. einen anderen Bedeutungsbegriff anlegen, als es für die linguistische Forschung notwendig ist. Bedeutung würde in diesen Wissenschaften nicht zwingend auf der Ebene des Wortes angesiedelt, sondern z. B. auf einer mentalen, sozialen oder metaphysischen Ebene. 54 zeigt sich auch hier das Dilemma der definitorischen Ungenauigkeit des Bedeutungsbegriffs: Die Frage nach der Bedeutung des Verbs stehen etwa kann man leicht mit einem Hinweis auf eine unbewegliche aufrechte Körperhaltung beantworten. Aber liefert man damit tatsächlich eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Wortes stehen? Wie verhält es sich mit den Fälle der Benutzung des Wortes stehen, die man z. B. in dem Satz Ich stehe auf schnelle Autos (eine psychologische Lesart) oder in Der Mantel steht Horst aber gut (eine evaluative Lesart) findet? Auch ist die oben gegebene Definition im Hinblick auf eine alltagssprachliche Äußerung eines Satzes wie Wie geht’s, wie steht’s? nicht hinreichend. Zudem ist im Deutschen die Frage nach der Bedeutung u. U. auch eine sehr emotionale und individuelle: So kann mir etwas sehr viel bedeuten, etwas anderes dagegen rein gar nichts - würde man dann davon sprechen, dass eine Sache mehr oder weniger bzw. gar keine Bedeutung hat? Kann man z. B. mit Recht sagen: Weil mir Weihnachten nichts bedeutet, bedeutet Weihnachten nichts? Wenn mir etwa persönlich und subjektiv nichts an Weihnachten liegt, das Fest für mich also keine Bedeutung hat, kenne ich dennoch sowohl die Bedeutung des Wortes Weihnachten, als auch die Bedeutung des Festes im gesellschaftlichen Kontext und ich kann ohne eine Differenzierung der verschiedenen Bedeutungsebenen nicht davon sprechen, welche Bedeutung Weihnachten hat bzw. behaupten, es habe keine Bedeutung. Es zeigt sich also, dass das Wort Bedeutung selbst sehr vage ist und dass nicht alle Fälle der Verwendung des Wortes Bedeutung gleichermaßen eindeutig sind. Daher müssen wir für die linguistische Übertragung des Begriffs Bedeutung auf die Ebene des Wortes einen rein bedeutungstheoretischen Begriff anlegen. 70 Die linguistische Forschung hat die Frage nach der Bedeutung von Wörtern bisweilen höchst unterschiedlich beantwortet und eine Vielzahl linguistischer Bedeutungstheorien entwickelt, von denen wir uns im Folgenden die m. E. drei Wichtigsten näher ansehen werden: die Referenztheorie, die Vorstellungstheorie (beides repräsentationistische Theorien) und die Gebrauchstheorie der Bedeutung (als instrumentalistische Bedeutungstheorie). 71 Die diesen Bedeutungstheorien zugrunde liegende Frage 70 In SAUSSURE scher Diktion ist der Bedeutungsbegriff damit auf der Ebene der langue verankert (vgl. dazu auch S AUSSURE 1916). Zudem ist Bedeutung ein vortheoretisches Phänomen, weshalb wir für die linguistische Ebene diese Einschränkung der bedeutungstheoretischen Betrachtung vornehmen müssen. 71 Eine vollumfassende Darstellung über die Vielzahl linguistischer Bedeutungstheorien ist an dieser Stelle weder beabsichtigt noch in diesem Rahmen leistbar. Vielmehr dienen die folgenden Ausführungen der Herleitung eines Bedeutungsbegriffs, der in Verbindung mit einer adäquaten Theorie sprachlichen Wandels dazu geeignet ist, Bedeutungswandel erklären zu können. Insbesondere das theoretische Fundament repräsentationistischer und instrumentalistischer Bedeutungsauffassung wird uns im Folgenden interessieren. Ausführliche Darstellungen über linguistische 55 war im Prinzip immer die gleiche: Welche Relationen gibt es zwischen der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens und der außersprachlichen Wirklichkeit? 2.1.1 Repräsentationistische Bedeutungstheorien Eine grundsätzliche Differenzierung von Ausdruck und Inhalt eines sprachlichen Zeichens gehört zum Gemeingut der Linguistik und lässt sich im Kern auf den Schweizer F ERDINAND DE S AUSSURE zurückführen, der für diese beiden Ebenen die Unterscheidung zwischen Signifiant (=Ausdruck) und Signifié (=Inhalt) etabliert hat. 72 D E S AUSSURE war der Bedeutungstheorien findet man z. B. bei L YONS 1991, F RITZ 1998, B USSE 2001 (hier: traditionelle Bedeutungskonzepte), F RITZ 2009. Bei K ELLER 1995 findet sich eine sehr ausführliche Darstellung repräsentationistischer und instrumentalistischer Bedeutungskonzeptionen. A NDREAS B LANK (B LANK 1997: 49) macht darauf aufmerksam, dass es gegenwärtig neben Diskussionen über das Mehr oder Weniger der Angemessenheit der etablierten linguistischen Semantiktheorien auch das Postulat einer generellen Unmöglichkeit und Unangemessenheit jeglicher wissenschaftlicher Theorien der Bedeutung gibt: B LANK verweist dabei auf G ÜNTER A BEL (1995, Literaturangabe bei B LANK ), der diese strittige Auffassung vertritt. A BEL s These basiert wohl auf einer unzulässigen Vermischung von lexikalischer Bedeutung, Satzbedeutung, Sinn einer Äußerung und dem Wort Bedeutung in nicht-linguistischer Lesart. Ich argumentiere mit B LANK , dass eine linguistische Bedeutungstheorie diese vier Begriffe nicht auf einmal erklären können muss. Vielmehr beziehen sich linguistische Bedeutungstheorien allein auf die lexikalische Bedeutung von Wörtern. M. E. zeigt sich an A BEL s Postulat der Erklärung der vier Begriffe in einer einzigen Theorie die weiter oben verdeutlichte Schwierigkeit der Bedeutungsvielfalt des Wortes Bedeutung und das Problem, das Wort Bedeutung so zu fassen, dass es den spezifischen Untersuchungsbereich eindeutig kennzeichnet. Für linguistische Bedeutungstheorien ergibt sich daraus ein Postulat: Die Bedeutung des Wortes Bedeutung ist auf der Ebene der langue zu verorten und somit invariant (im Gegensatz zum Sinn einer Äußerung, der mit dem Kontext variieren kann). Es sei an dieser Stelle auch darauf hingewiesen, dass dem Verfasser dieser Arbeit die Probleme der Verwendung des Terminus Bedeutungstheorie bekannt sind. Insbesondere bei der Gebrauchstheorie der Bedeutung in W ITTGENSTEIN scher Tradition zeigt sich, dass der Begriff Theorie bestimmte Konnotationen oder Präsuppositionen impliziert, die unter einer historischen Perspektive fragwürdig sind. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass eine Theorie a) immer präzise formuliert, b) vollständig artikuliert und c) empirisch überprüfbare Vorhersagen macht, dann muss man konstatieren, dass die meisten linguistischen Bedeutungstheorien diesen Ansprüchen nicht gerecht werden. Vielmehr haben sich aus den historischen Ansätzen (beachte: Bedeutung ist ein vortheoretischer Begriff) im Laufe der Zeit semantische Theorien entwickelt. Dennoch wird der Begriff Bedeutungstheorie im Folgenden aufgrund der weiten Verbreitung unter Linguisten mit diesem einschränkenden Hinweis verwendet. Vgl. hierzu auch L YONS 1991: 7f. 72 Vgl. S AUSSURE 1967: 67ff. Es sei der Vollständigkeit halber an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass man unter wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten einige Vorläufer der SAUSSURE schen Theorie ausmachen kann, auch wenn diese streng genom- 56 Meinung, dass jedes ikonische Zeichen (und somit auch Wörter als komplexe sprachliche Zeichen) zwei Ebenen besitzt, die man voneinander unterscheiden muss. Wie zwei Seiten einer Medaille besitzt demnach ein Zeichen eine Seite, die allein dem Ausdruck dient und eine andere Seite, die den (semantischen) Inhalt des Zeichens repräsentiert. In dieser Dichotomie stellt sich der Ausdruck als lautliche Realisierung eines Wortes dar, wogegen die Inhaltsseite die Bedeutung eines Wortes trägt. 73 Mit dieser Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltsseite hat DE S AUSSURE die „erste im eigentlichen Sinne linguistische Theorie des Zeichens“ 74 entworfen. Sie soll uns als Grundlage für die Herleitung eines rein repräsentationistischen Bedeutungsbegriffs dienen. Wir können basierend auf diesem Zeichenbegriff semantische Theorien und Modelle im engeren Sinne identifizieren, die sich alle auf den Gedanken stützen, Bedeutung sei im Grunde die Repräsentation eines Begriffs oder einer Vorstellung von einem Begriff. Wenn nämlich die Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens nach D E S AUSSURE mit dem deutschen Begriff „Bezeichnetes“ übersetzt wird, stellt sich die Frage, was genau dieses Bezeichnete denn eigentlich ist bzw. in welcher Form es sich in der außersprachlichen Welt manifestiert. Eine weit verbreitete Auffassung lautet seit der Antike 75 : Die Bedeutung eines Zeichens ist genau derjenige Gegenstand oder das Konzept, für das ein Zeichen steht. Dies ist die common sense-Meinung einer repräsentationistischen Bedeutungs- men keine linguistische Theorie des sprachlichen Zeichens entwickelt haben. Eine Übersicht über Vorläufer und eine Literaturangabe findet man z. B. bei B USSE 2009: 22ff. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die folgenden Ausführungen stellenweise etwas verkürzt sind. Mir geht es an dieser Stelle nicht so sehr um eine umfassende Darstellung der linguistischen Bedeutungsbegriffe und -theorien als vielmehr um die Hinführung zu einem meiner Fragestellung tauglichen Bedeutungsbegriff. 73 Innerhalb der linguistischen Forschung herrscht mehr Verwirrung als Klarheit darüber, wie S AUSSURE s Begriff des Signifié zu übersetzen ist. Daher findet man in linguistischen Wörterbüchern neben dem Terminus Bedeutung auch die Begriffe Inhalt, Signatum, Begriff, Denotatum oder Signifikatum (vgl. B UßMANN 2002: 123). All diesen Begriffen scheint aber gemein zu sein, dass sie den Inhalt als etwas Physisches oder als eine mentale Realisierung einer physischen Entität in der Welt kennzeichnen. 74 B USSE 2009: 29 75 Die Frage nach der Bedeutung ist bereits ein vortheoretisches Phänomen und nicht erst in der linguistischen Fragestellung Gegenstand der Diskussion. Daraus resultiert ein terminologisches Durcheinander, das allein in der linguistischen Debatte 23 verschiedene Definitionen des Begriffs Bedeutung hervorgebracht hat. Vgl. dazu L YONS 1991: 7 und U LLMANN 1973: 67 57 beschreibung und sie wird bis heute in dieser Form von Linguisten vertreten. 76 Schauen wir uns diese Theorie einmal näher an. 2.1.1.1 Referenz- und Vorstellungstheorie Die meisten (interdisziplinären) Bedeutungstheorien fußen auf der Vorstellung, dass die Bedeutung eines Wortes irgendetwas widerspiegelt, das sich in der realen Welt befindet und somit direkt oder indirekt (dann: über ein mentales Konzept) greifbar ist. Das Wort selbst ist dabei Stellvertreter einer außersprachlichen Entität. 77 Wenn sich in dieser Denkweise ein referenzieller Bezug zwischen dem sprachlichen Zeichen und der außersprachlichen Welt herstellen lässt, ist von der Referenztheorie der Bedeutung die Sprache. Eine solche Theorie geht davon aus, dass „wir in natürlichen Sprachen mit Zeichen über Dinge reden“ 78 . „Das Ding, auf das man sich bezieht, heißt der Referent des sprachlichen Ausdrucks“ 79 und manifestiert sich physisch in der realen Welt. Die Übertragung des Zeichens auf das Ding ist dabei nicht willkürlich möglich, sondern konventionell festgelegt, auch wenn die Benennung an sich arbiträr erfolgt. Das bedeutet (um auf der Wortebene zu bleiben), dass ein Ausdruck genau dann eine Bedeutung hat, wenn konventionell festgelegt wurde, dass er für eine bestimmte Entität steht. 80 Bedeutung ist so verstanden auf der rein ontologischen Ebene angesiedelt. Erweitert man diesen referenziellen Geltungsbereich, gelangt man zu einer Theorie, die ebenfalls repräsentationistisch ausgerichtet ist, sich dabei aber nicht auf einen konkreten Sachbezug, sondern auf die Vorstellung von Begriffen stützt. Eine solche mentale Bedeutungsauffassung ist auf der epistemischen Ebene verwurzelt und sie ist die wissenschaftsgeschichtlich älteste Auffassung von Bedeutung. Die Bedeutung eines Wor- 76 Vgl. S CHWARZ / C HUR 1993: 26 oder L ÖBNER 2003: 23ff. Bei L ÖBNER heißt es explizit: „Die Bedeutung ist [...] eine mentale Beschreibung. Mentale Beschreibungen werden allgemein Konzepte genannt“ (L ÖBNER 2003: 24). 77 An dieser Stelle sei zum besseren Verständnis auf das Modell des semiotischen Dreiecks nach O GDEN & R ICHARDS (später: Basisdreieck bei U LLMANN ) verwiesen, das die Relationen zwischen Ausdruck (oder Zeichen), Begriff und Referenzobjekt verdeutlicht und damit den zweigliedrigen Zeichenbegriff S AUSSURE s erweitert. 78 H ERINGER 1974: 10 79 H ERINGER 1974: 10 80 Dieser Gedanke lässt sich natürlich auch auf komplexe Sätze beziehen. In diesem Fall hat ein Satz genau dann eine Bedeutung, wenn alle Teile des Satzes aufgrund von Konventionen für etwas stehen und natürlich auch nur dann, wenn er als Ganzes für etwas steht. Im Umkehrschluss heißt das auch, dass es für das Verständnis eines komplexen Satzes unerlässlich ist, zu wissen, wofür seine sinnvollen Einzelteile kraft Konvention stehen. So betrachtet haben Sätze keine Bedeutung, wenn man ein bedeutungsloses, d. h. referenzloses Einzelelement einbaut. Wir kommen weiter unten auf die Schwierigkeit einer solchen Theorie noch zu sprechen. 58 tes wäre demnach die mit ihm selbst verbundene (wie auch immer geartete) Vorstellung. Die Idee, die mit einem sprachlichen Ausdruck im Geist des Sprechers verbunden ist, ist der Vorstellungstheorie (auch: Ideationstheorie) gemäß die Bedeutung des Ausdrucks. Der Gegenstand in der Welt oder ein mentales Konzept (z. B. Urlaub oder Feierabend) erzeugen in den Köpfen der Sprecher und Hörer Vorstellungen und eben diese sind dann die Bedeutungen des referenziellen Gegenstandes oder des Konzeptes. Der Empirist J OHN L OCKE hat bereits im Jahr 1689 diesen zentralen Gedanken zur Bedeutung von Wörtern im dritten Buch seines „Versuchs über den menschlichen Verstand“ wie folgt ausgedrückt: „The use, then, of words is to be sensible marks of ideas; and the ideas that they stand for are their proper and immediate signification“ 81 . Im Gegensatz zur Referenztheorie gibt es in einer Ideationstheorie keine direkte Verbindung zu den Dingen der außersprachlichen Welt. Man kann sagen, dass das Verhältnis von Wort und Vorstellung als Assoziation gedeutet werden muss, eine Referenzbeziehung im engeren Sinne existiert dabei nicht. Das sprachliche Zeichen ist vielmehr „eine Marke für eine Idee oder eine Vorstellung, die unabhängig von der Sprache existiert“ 82 . Welchen der beiden kurz skizzierten repräsentationistischen Bedeutungsbegriffe man auch anlegt, eines ist beiden Begriffen gemein: Sie beide gehen davon aus, dass Wörter für etwas in der Welt stehen, indem „,Bedeutung’ mit ,Vorstellung’ erklärt und ,Vorstellung’ ggf. wiederum mit ,Begriff’ [erklärt wird], so dass sich letztlich die terminologische Gleichung (und implizite Identitätshypothese) ,Bedeutung = Begriff = Vorstellung’ ergibt“ 83 . In späterer linguistischer Tradition differenziert sich der Bedeutungsbegriff weiter aus, wobei der prinzipielle Referenzbezug des sprachlichen Zeichens weiter bestehen bleibt. Mit dem Mathematiker G OTTLOB F REGE hat sich eine bis heute gültige Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung etabliert, die in etwa dem Gegensatzpaar Bedeutung vs. Referenz entspricht. 84 Geläufig sind seit C ARNAP bis heute auch die Begriffe I n t e n s i o n für den Begriffsinhalt und E x t e n s i o n für den Begriffsumfang. Die 81 L OCKE 1975/ 2008: 256 82 H ERINGER 1974: 13 83 B USSE 2001: 1309 84 F REGE hat in seiner Dichotomie den Terminus Bedeutung mit dem Referenzgegenstand gleichgesetzt, wogegen er unter Sinn in etwa das versteht, was wir alltagssprachlich als Bedeutung bezeichnen. Insbesondere seine Ungenauigkeit bei der Entwicklung des Begriffs Sinn war immer wieder Anlass zur Kritik. Seine Definition ist in der Tat recht diffus: „Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst [...]; die Vorstellung [...] ist ganz subjektiv; dazwischen liegt der Sinn“ (F REGE 1892: 26 zitiert nach B USSE 2009: 36). 59 Extension versteht sich dabei als die „Menge aller Gegenstände, auf die mit einem Begriff nach den Regeln der Sprache Bezug genommen werden kann“ 85 . Repräsentationistische Bedeutungsauffassungen sind damit - egal ob es sich um ontologische oder epistemische Auffassungen handelt - in erster Linie extensional geprägt, indem sie die Wortbedeutungen rein über die Extension bestimmen. In solchen extensionalen Theorien entspricht die Wortbedeutung immer einem Wahrheitswert, d. h. Bedeutungen werden rein wahrheitsfunktional bestimmt. 86 Die Bedeutung eines Wortes zu kennen, würde demnach bedeuten, zu wissen, wie die Welt beschaffen sein muss, damit der Ausdruck wahr ist: „Der Begriff [also die Bedeutung, S. B.] ist eine Funktion, die Gegenstände in Wahrheitswerte abzubilden“ 87 . Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens wird folglich mit seinem Wahrheitswert gleichgesetzt, wodurch sich eine Korrelation zwischen Sprache und Welt bzw. zwischen Bedeutung und Wahrheit ergibt. Auf diesen wesentlichen Aspekt der Kenntnis von Wahrheitsbedingungen zur Bestimmung einer Wortbedeutung komme ich später zurück. Es wird sich zeigen, dass eine extensionale Beschreibung die Tatsache außer Acht lässt, dass neben wahrheitsfunktionalen Parametern auch andere Parameter in ein Wort inkorporiert sein können. Zudem werde ich zeigen, dass sich viele Verben nicht extensional bestimmen lassen, da ihre Bedeutung unpräzise ist. Dazu später mehr. 2.1.1.2 Die Schwierigkeiten einer repräsentationistischen Bedeutungstheorie Stellen wir uns zunächst die Frage: Was sind die grundlegenden Schwierigkeiten einer solchen repräsentationistischen Bedeutungstheorie? D IET- RICH B USSE schreibt: Wenn Prädikate und ihre Bedeutungen in einer direkten, unvermittelten Referenzbeziehung auf physikalische Dingeigenschaften zurückgeführt werden sollen, dann müsste die Referenzrelation (d.h. eine extensionale Beziehung) die Bedeutung natürlich-sprachlicher Ausdrücke erschöpfend bestimmen können 88 . An eben dieser berechtigten Forderung scheitern m. E. alle repräsentationistischen Bedeutungstheorien. Was müsste eine referenzielle Theorie daneben aber noch leisten können? Sie müsste die Frage beantworten 85 B USSE 2009: 35 86 Vgl. K ELLER 1995: 50ff. 87 K ELLER 1995: 50 88 B USSE 2009: 39f. Hervorhebung durch den Verfasser. 60 können, mit Hilfe welcher Eigenschaft es einem sprachlichen Zeichen gelingt, etwas Außersprachliches zu repräsentieren. 89 Wenn wir davon ausgehen, dass ein Wort immer entweder ein Ding in der Welt oder eine Vorstellung repräsentiert, dann geraten wir rasch an die Grenzen einer solchen Sichtweise. Eine repräsentationistische Theorie orientiert sich zeichentheoretisch vor allem an der Bedeutung von Autosemantika. Synsemantika wie Konjunktionen sind mit einer solchen Theorie weitaus schwieriger, wenn nicht gar überhaupt nicht beschreibbar. Die Bedeutung referenzloser Ausdrücke lässt sich über einen repräsentationistischen Bedeutungsbegriff nicht eindeutig bestimmen. So ist zwar die Bedeutung des Substantivs Baum über einen Referenzbezug zu einem Baum in meinem Garten herstellbar, wo aber wäre dieser Bezug für Verben wie lästern oder grübeln? Viele Verben - das wird sich an späterer Stelle noch zeigen - sind über Referenzbeziehungen (also extensional) auch als Autosemantika gar nicht zu beschreiben, da sie viel zu abstrakt und damit randbereichsunscharf sind. Und selbst Substantive sind nicht immer eindeutig extensional beschreibbar. So hat das Wort Feierabend im Deutschen eine klare Bedeutung, aber es drückt weder einen Begriff noch ein Konzept aus. Ferner ist es selbst bei so konkreten Substantiven wie Baum nicht möglich, dass Sprecher und Hörer zwingend dieselbe Referenz anlegen. So kann ich mir unter einem Baum vielleicht einen Mammutbaum vorstellen, mein Gegenüber dagegen einen Bonsai. Je nach angelegter Theorie wäre die Bedeutung von Baum ein tatsächlich existierender Baum, die Menge aller existierenden Bäume oder die Menge aller mentalen Konzepte von Bäumen, die Sprecher einer Sprachgemeinschaft haben können. 90 In jedem Fall aber könnte die Bedeutung variieren, je nach dem, wer der Sprecher ist und auf welches Referenzobjekt er sich bezieht. Die Bedeutung variiert also mit der Verwendung von Ausdrücken: „Ein solcher Bedeutungsbegriff [ein repräsentationistischer, S. B.] würde dazu führen, daß ein Sprecher nie die Bedeutung eines Ausdrucks wie ich kennen könnte, weil sie sich mit jeder Äußerung von ich [durch einen anderen Sprecher, S. B.] ändern würde“ 91 . Mal abgesehen von der Unmöglichkeit des Kommunizierens, die sich daraus ergeben würde, handelt es sich m. E. hierbei auch um einen klaren Verstoß gegen das von F REGE postu- 89 An dieser Fragestellung zeigt sich, dass ein repräsentationistischer und ein gebrauchstheoretischer Ansatz nicht unvereinbar nebeneinander stehen und sich beide Konzepte nicht zwingend gegenseitig ausschließen: „Die Frage des Bezugs zur Welt, sei es zur Welt der Dinge oder zur Welt der kognitiven Einheiten, ist ebenso berechtigt, wie die Frage, auf welche Weise eine [sic! ] solcher Bezug, wenn er denn vorhanden ist, zustande kommt“ (K ELLER 1995: 73). 90 Vgl. R ADTKE 1998: 39f. 91 H ERINGER 1974: 10 61 lierte Prinzip der Kompositionalität (auch Frege-Prinzip). Demnach muss der Wahrheitswert eines Satzes auch dann konstant bleiben, wenn man die Ausdrücke innerhalb eines Satzes austauscht: „Es gilt das Prinzip der Kompositionalität: Die Bedeutung der Zeichenverbindung ist eine Verbindung der Zeichenbedeutungen“ 92 . Wenn sich die Bedeutungen und somit die Extensionen (also die Wahrheitswerte) der einzelnen Komponenten aber kontextbzw. äußerungsspezifisch ändern, indem sich z. B. das Referenzobjekt ändert oder indem der Referent in der realen Welt gar nicht zu finden ist, kann der Wahrheitswert der Satzbedeutung nicht mehr konstant bleiben. Dies hätte zur Folge, dass ein Satz wie Rapunzel hat Hunger ohne ein konkretes Referenzobjekt Rapunzel in der realen Welt oder als mentales Konzept keine Bedeutung tragen würde. Ähnlich verhält es sich bei Horst ist nicht nur ein schwarzes, er ist sogar ein blaues Schaf. Da es in der Welt keine blauen Schafe gibt, besitzt dieser Ausdruck keinen Wahrheitswert - der ganze Satz wird bedeutungslos. Schwierigkeiten bekommen wir, wenn der Satz in ironischer oder metaphorischer Weise geäußert wurde. Konstruieren wir dazu einen Äußerungskontext: So könnte man diesen Satz äußern, wenn man z. B. in ironischer Weise sagen möchte, dass Horst nicht nur ein schlimmer Mensch ist, sondern auch noch gerne und viel trinkt. In einem solchen Fall tragen sowohl die Einzelelemente als auch der gesamte Satz sehr wohl eine Bedeutung - in diesem Fall eine ironisch-metaphorische. Zudem müsste man für einen repräsentationistischen Bedeutungsbegriff annehmen, dass koreferenzielle Ausdrücke in jedem Fall bedeutungsgleich sind. Auch dies ist nicht der Fall. Wie sonst ließe sich die Vielzahl synonymer Wörter erklären, die zwar die gleiche Referenz aber doch eine unterschiedliche Bedeutung haben? Ein Beispiel aus dem Verbwortschatz: Stehlen und klauen sind prinzipiell referenzidentisch, indem beide Begriffe auf den Vorgang des Diebstahls referieren. Aber stimmt es, dass beide Verben deswegen auch die gleiche Bedeutung haben? Ist es nicht ein semantischer Unterschied, der etwas mit meiner wertenden Einstellung zu der Handlung zu tun hat, wenn ich über jemanden sage, er habe geklaut statt er habe gestohlen (vom Aspekt der Umgangssprachlichkeit einmal abgesehen)? So würde man über einen bedürftigen Menschen, der ein Brot zum eigenen Überleben entwendet, mit einem mitleidvollen Ton sagen: Naja, er hat das Brot zwar gestohlen, aber er hatte ja Hunger. Über einen frechen Teenager würde man vielleicht anders werten und einen Satz wie Der Bengel klaut ständig Autoradios verwenden. Diese beiden Beispiele zeigen deutlich, dass Referenzidentität noch lange keine Bedeutungsgleichheit evoziert. Und das obwohl in beiden Fällen eine Wahrheitswertäquivalenz besteht. Will sagen: beide Verben besitzen die 92 K ELLER 1995: 226 62 gleichen Wahrheitswerte und dennoch ist eine rein extensionale Bedeutungsbeschreibung hier nicht möglich. Wir werden später sehen, dass die Kenntnis wahrheitsfunktionaler Bedingungen zwar für einen repräsentationistischen Bedeutungsbegriff zentral, aber in Wirklichkeit nur eine Möglichkeit der Einbindung von Parametern in Wortbedeutungen ist. Insbesondere die Vorstellungstheorie wird gänzlich unbrauchbar, wenn man sie auf Konjunktionen (und, aber), relationale Ausdrücke (meine Mutter), rein evaluative Ausdrücke (gut oder schön) oder nur strukturell definierbare Ausdrücke (oben, unten, Dienstag) anwenden will oder spätestens dann, wenn man sie auf den Ausdruck Bedeutung selbst anwenden möchte. Zudem müsste für die Plausibilität einer Vorstellungstheorie eine wichtige Prämisse erfüllt sein: Vorstellungen müssten rein objektiv sein. Intersubjektive Vorstellungen (wie die von einem Baum) erzeugen unterschiedliche Bedeutungen. Eine Lösung aus diesem Dilemma ließe sich auch durch intersubjektive Allgemeinvorstellungen nicht erwirken, da man ja bekanntlich keinen Zugang zu den subjektiven Vorstellungen anderer Menschen gewinnen kann. Es zeigt sich also, dass eine „auf der Bestimmung von Extension und Intension beruhende [also repräsentationistische, S. B.] Theorie für die Zwecke der semantischen Analyse natürlicher Sprachen nicht ausreichen kann“ 93 . Diese Einschätzung ist richtig, bedarf aber einer Ergänzung. Es ist nämlich keineswegs so, dass ein repräsentationistischer Bedeutungsbegriff gänzlich als Erklärungsansatz ungeeignet ist. Man müsste hier die Ausgangsfragestellung weiter präzisieren. Möchte man nämlich wissen, wie der Bezug eines Wortes (oder eines Satzes) zur Welt der Dinge oder der kognitiven Einheiten ist, liefert eine repräsentationistische Bedeutungsauffassung durchaus Antworten. In diesem Sinne halte ich eine solche Fragestellung per se für angemessen. Ob man diese Frage aber überhaupt adäquat beantworten kann, steht auf einem anderen Blatt. Ich meine weiter oben gezeigt zu haben, dass man in vielen Fällen auf Fallstricke trifft, weshalb ein solcher Bedeutungsbegriff vielfach nicht dazu taugt, semantische Veränderungen erklären zu können. 2.1.1.3 Zur (Un-)Angemessenheit eines repräsentationistischen Bedeutungsbegriffs für die Bedeutungsbeschreibung bei Verben Um die zuvor formulierte These der Unbrauchbarkeit einer repräsentationistischen Bedeutungstheorie für meine spezielle Fragestellung greifbar zu machen, möchte ich den bisherigen Befund im Folgenden im Sinne der eigentlichen Fragestellung dieser Arbeit durch ein paar Gedanken zur Verbsemantik vervollständigen. 93 B USSE 2009: 40 63 Fassen wird dazu die Kernprobleme eines repräsentationistischen Bedeutungsbegriffs kurz zusammen. Es hat sich gezeigt, dass eine rein repräsentationistische Bedeutungsbeschreibung zwei grundsätzliche Schwierigkeiten aufwirft: 1. lassen sich nicht alle Ausdrücke natürlicher Sprachen auf Referenzobjekte oder Konzepte beziehen und 2. ist in denjenigen Fällen, in denen ein Referenzbezug möglich ist, unklar, auf welche Weise es das sprachliche Zeichen vermag, diese Referenz auszudrücken. Das erste Problem scheint mir das bedeutendere der beiden zu sein - hierfür sehe ich auch keinen Ausweg; insbesondere für die Gruppe der Verben lässt sich bei genauerer Betrachtung dieses Makels die Unangemessenheit dieser Theorie im Bezug auf eine analytische Bedeutungsbetrachtung nachweisen. Eine Lösung wäre allenfalls darin zu suchen, die Grenzen der Begriffseigenschaften (im F REGE schen Sinne) aufzubrechen und einen erweiterten Repräsentationsbegriff anzulegen. Wir werden weiter unten sehen, dass dies durchaus möglich und angemessen ist. Dabei verlassen wir aber streng genommen die Dimension der reinen Repräsentation, so dass diese Möglichkeit nichts an der generellen Unbrauchbarkeit einer repräsentationistischen Theorie ändert, sie allenfalls aufweicht. Für das zweite Problem gibt es dagegen m. E. eine einfache Lösung: Die Verquickung einer repräsentationistischen (also extensionalen) Bedeutungsauffassung mit einer instrumentalistischen Bedeutungstheorie durch die Annahme, dass Wahrheitswerte neben anderen sprachexternen Elementen nur eine von vielen Möglichkeiten der Bedeutungskonstituierung darstellen. Zu dieser Möglichkeit komme ich weiter unten, wenn ich die Gebrauchstheorie der Bedeutung vorstelle. Zunächst soll an dieser Stelle der Beweis geführt werden, warum eine streng extensionale Bedeutungsbeschreibung bei Verben (und damit auch jeder Versuch, semantische Veränderungen im Verbwortschatz analytisch greifen zu wollen) grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist. Dazu möchte ich einen Gedanken paraphrasieren, der bei P ETRA R ADTKE zu finden ist: 94 Die Bedeutung eines Wortes lässt sich in den meisten Fällen nicht extensional bestimmen, da Wortbedeutungen in aller Regel randbereichsunscharf, d. h., unpräzise sind. Was bedeutet diese Unschärfe genau und auf welche Überlegungen stützt sich eine solche These? R ADTKE hat für den Adjektivwortschatz (der ihr originärer Untersuchungsgegenstand war) herausgefunden, dass eine Bedeutungsbeschreibung über den repräsentationistischen Ansatz für 94 Vgl. R ADTKE 1999: 149ff. 64 eine bestimmte Gruppe von Adjektiven möglich ist, für eine andere allerdings ausgeschlossen werden muss. Die etablierte Unterscheidung zwischen absoluten (tot, rot) und relativen (groß, klein) Adjektiven diente R ADTKE dabei als argumentative Basis. In der Tat ist es für Adjektive wohl so, dass diese Dichotomie a) sehr verbreitet ist und dass b) eine solche Klassifikation nur dann nachvollziehbar ist, wenn man die Bedeutung von Adjektiven repräsentationistisch deutet, „d. h. wenn versucht wird, die Bedeutung über Wahrheitswerte zu beschreiben“ 95 . Die direkte Lesart der Adjektive ist dabei Voraussetzung. R ADTKE stellt ferner fest, dass eine solche Bedeutungsbeschreibung über die Extension nur in denjenigen Fällen überhaupt möglich ist, in denen die Adjektive präzise sind, d. h. randbereichsscharf oder allenfalls randbereichsunscharf. In all den Fällen, in denen diese Präzision der Bedeutung - verstanden als Extension - nicht gegeben ist (das sind die relativen Adjektive), lässt sich die Bedeutung extensional nicht bestimmen. Den meisten Begriffen des Alltags fehlt eine scharfe Begrenzung; in diesem Punkt verhalten sich Adjektive kaum anders als andere Wortarten. Wenn die Bedeutung aber nicht präzise ist, welche semantische Konsequenz ergibt sich daraus? In erster Linie bedeutet ein solcher Umstand, dass die entsprechenden Wörter (hier: die relativen Adjektive) kontextabhängig ihre Bedeutung generieren. Für die Adjektive formuliert R ADTKE diese logische Schussfolgerung einer kontextvarianten (und damit lexikalisch invarianten) Bedeutung wie folgt: Wer die Bedeutung eines Ausdrucks mit der Extension gleichsetzt [wie es repräsentationistische Theorien fordern, S. B.], der kann zu keinem anderen Schluß kommen als zu dem, die Bedeutung (= Extension) der sogenannten relativen Adjektive variiere je nach Kobzw. Kontext 96 . Wenn das stimmt, besäße eine Vielzahl von Adjektiven keine lexikalische Bedeutung. R ADTKE zeigt also, dass eine extensionale Bedeutungsbeschreibung für eine große Gruppe der Adjektive unangemessen ist. 2.1.1.3.1 Wahrhaftige und unwahrhaftige Verben Wie lassen sich diese Ergebnisse nun für die Gruppe der Verben nutzbar machen? Zunächst muss man auch für die Verben konstatieren, dass es sowohl präzise als auch weniger präzise oder unpräzise Verben gibt. Das bedeutet, dass auch die Verben einer extensionalen Bestimmung nicht in jedem Fall zugänglich sind. Ein Beispiel: Das Verb küssen ist als Verb einer 95 R ADTKE 1999: 150 96 R ADTKE 1999: 151 65 konkreten physischen Handlung über die Extension, also über den Wahrheitswert noch sehr eindeutig bestimmbar. Dasselbe gilt für Verben wie leben, schlafen, liegen, sitzen, schreien usw. Man kann sagen: All diese Verben sind in gewisser Weise präzise und randbereichsscharf. 97 Diese Teilgruppe der Verben möchte ich in Anlehnung an die Dichotomie absolute vs. relative Adjektive und mit Bezug auf den Wahrheitswertgehalt wahrhaftige Verben nennen. Ihnen ist gemein, dass sie sich - in direkter Lesart - über Extensionen beschreiben lassen, also wahr bzw. falsch sind. Oder anders ausgedrückt: Der Sprecher kann entscheiden, ob sie in einem bestimmten Kontext angemessen zu verwenden sind oder nicht. Ihr grundlegendes Kennzeichen ist dabei zum einen die Konkretheit und zum anderen die Objektivierbarkeit. Bei dieser Gruppe der Verben dürfte eine repräsentationistische Bedeutungsauffassung in aller Regel greifen. Wichtige Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir eine ironische oder metaphorische Lesart ausschließen, denn ansonsten verlieren auch die konkreten Verben an Wahrheitswert. 98 Im Gegensatz zu den wahrhaftigen Verben gibt es eine Vielzahl von Verben, die weder konkret noch zwingend objektiv sind. Solche Verben nenne ich im Folgenden unwahrhaftige Verben, da sich ihre Bedeutung eben nicht über Wahrheitswerte definieren lässt. Das diese Verben verbindende Kennzeichen ist ihre Abstraktheit. Streng genommen muss man diese Gruppe noch einmal unterteilen. So gibt es auf der einen Seite Verben, die abstrakt und rein subjektiv sind. Zu dieser Gruppe gehören Verben wie denken, träumen, trauern, lieben, erfahren usw. Sie entstammen dem Bereich der Kognition oder der Emotion und sind damit subjektiv. Weiter oben haben wir bereits gesehen, dass es keine intersubjektiven Allgemeinvorstellungen gibt, weshalb solche Verben auch nicht im Zuge einer Vorstellungstheorie der Bedeutung plausibel gedeutet werden können. Diese Verben lassen sich zudem extensional nicht beschreiben, da ihre Bedeutungen sich nicht auf eine konkrete Entität und auch nicht auf eine mentale Beschreibung einer bestimmten Art von Entität beziehen. Die zweite Gruppe der unwahrhaftigen Verben ist ebenfalls zwar abstrakt, aber im Gegensatz zu ihrem subjektiven Pendant sind sie objektiv. 97 Diese Feststellung gilt nur mit Einschränkungen. Wenn jemand z. B. im Koma liegt, würde man dann davon sprechen, dass er schläft? Und wie sieht es mit einem Sonnenstuhl am Strand aus? Sitzt man darin oder liegt man vielmehr? Wie wir sehen, sind selbst die vermeintlich präzisen Verben bei genauerer Betrachtung nicht immer randbereichsscharf. Eine Ausnahme bilden so eindeutig absolute Verben wie leben. Diese dürften m. E. aber in der Minderheit sein. 98 Hier sei der Satz Mir liegt die Arbeit schwer im Magen exemplarisch angeführt. In dieser metaphorischen Verwendung des Verbs liegen ist die Bedeutung nicht extensional bestimmbar und das Verb wird entsprechend unscharf und unpräzise. An der Möglichkeit ironischer oder metaphorischer Rede zeigt sich die Vagheit des angelegten Bedeutungsbegriffs einmal mehr. 66 Zu dieser Gruppe zähle ich Verben wie resultieren, gelten, erweisen, etc. Insbesondere diese zweite (objektive) Gruppe der unwahrhaftigen Verben erhält ihre spezifische Bedeutung in einer repräsentationistischen Lesart über den Kobzw. Kontext und ist daher in gewisser Weise mit den relativen Adjektiven vergleichbar. R ADTKE schreibt folgerichtig für die relativen Adjektive in extensionaler Bestimmung (und ich sehe hier eine deutliche Parallele zu den unwahrhaftigen Verben): Wer die Bedeutung eines Ausdrucks mit der Extension gleichsetzt, der kann zu keinem anderen Schluß kommen als zu dem, die Bedeutung (=Extension) der sogenannten relativen Adjektive [und auch der unwahrhaftigen Verben, S. B.] variiere je nach Kobzw. Kontext. Denn es läßt sich nicht gut ein für allemal entscheiden, unter welchen Umständen etwas als klein bzw. als gut bezeichnet werden kann [und ebenso nicht, wann etwas gilt oder sich erweist, S. B.]. Eine darartige Auffassung hat jedoch eine problematische Konsequenz: Sie führt dazu, daß die Bedeutung dieser Adjektive [und Verben, S. B.] immer nur in Anhängigkeit vom jeweiligen Kobzw. Kontext bestimmt werden kann. Dies ist ein klarer Verstoß gegen das Prinzip der Kompositionalität [...]. 99 Eine solche Forderung nach dem Frege-Prinzip, dass man die spezifischen Bedeutungen der einzelnen Bestandteile eines komplexen Ausdrucks (und zwar alle) genau angeben können muss, kann durch die so verstandene Kontextabhängigkeit der Bedeutung extensional unscharfer Verben nicht erfüllt werden. Will sagen: Die unscharfen Verben haben in der Loslösung von ihrem sprachlichen Kontext so verstanden keine Bedeutung. Der Bedeutungsbegriff selbst, das zeigt sich m. E. hier sehr deutlich, ist also falsch gewählt, denn die Bedeutungslosigkeit von referenziell unscharfen Verben wird wohl niemand ernsthaft bekräftigen wollen. Wenn man Bedeutung als Äquivalent zur Extension einstuft, müsste man aber tatsächlich einräumen, dass unwahrhaftige Verben keine Bedeutung haben bzw. keine Bedeutung besitzen, solange sie nicht im konkreten Kontext gebraucht werden. Und auch erst dann wird ihre Bedeutung ad hoc, situationsabhängig und somit immer wieder neu und anders gebildet - solche Verben hätten also per se überhaupt keine Bedeutung. Eine solche Sichtweise wäre kommunikationstheoretisch töricht und sie wäre aus semantischer Sicht auch falsch. Es zeigt sich vielmehr gerade in einer solchen Argumentation die wesentliche Unzulänglichkeit einer repräsentationistischen Bedeutungstheorie: Wenn man nämlich Bedeutung mit Extension gleichstellt, ist man dazu gezwungen, von bedeutungslosen Ausdrücken zu sprechen, wenn Begriffe im Sinne der Theorie unpräzise sind. Eine repräsentationistische Theorie ist daher m. E. über- 99 R ADTKE 1999: 151 67 haupt nicht dazu angelegt, solche Fälle zu beschreiben und deswegen taugt sie in dieser spezifischen Hinsicht (also mit Blick auf natürliche Sprachen) auch nicht. Natürlich ist es so, dass auch extensional unscharfe Verben eine kontextunabhängige Bedeutung haben, ihre Bedeutung also nicht erst durch den Kontext selbst konstituieren. Würde man in dieser Richtung argumentieren, würde man die Bedeutung rein auf der Ebene der parole ansiedeln. Vielmehr ist es wohl richtig, dass die Wortbedeutung immer konstant ist, sich der Sinn der Äußerung, also das, was der Sprecher meint, dagegen vielfach erst aus dem Kontext bestimmen lässt. 100 Insbesondere um „verstehen zu können, wie Bedeutungen sich ändern können, muss man eine wichtige Unterscheidung einführen: die zwischen der Bedeutung eines Wortes auf der Ebene der Langue und dem Sinn einer Äußerung auf der Ebene der Parole“ 101 . Die Kenntnis der Bedeutung eines Ausdrucks ist dabei die Grundlage dafür, dass ein Hörer überhaupt verstehen kann, was ein Sprecher mit einer Äußerung meint, also welchen Sinn die Äußerung beinhaltet. 102 2.1.2 W ITTGENSTEIN s Gebrauchstheorie der Bedeutung Wir kommen über diesen Exkurs nun zur zweiten der beiden gegensätzlichen Bedeutungsauffassungen. Wenn man die zweckrationale Absicht des Sprechers bei der Äußerung eines Satzes als Sinn auffassen kann, dann gibt es noch etwas anderes, das man auf der rein technischen Ebene ansiedeln muss. Man kann verkürzt sagen: Die Bedeutung ist das, was ich als Werkzeug (neben anderen sprachlichen Kompetenzen, biologischen Voraussetzungen und Weltwissen) benötige, um zu verstehen, was ein Sprecher mit einer Äußerung meint. So verstanden ist die Bedeutung eines Wortes ein Mitteilungsmittel und konstituiert sich (wie jedes Werkzeug) durch seinen Gebrauch. Genau hier schließt sich eine wichtige bedeutungstheoretische Fragestellung an: Wie genau leistet es ein sprachliches Zeichen, Dinge oder Vorstellungen zu repräsentieren (wenn es das denn überhaupt vermag)? Und in der Erweiterung dieser Frage: Was 100 Für das Englische ergibt hier ein noch größeres terminologisches Problem: Meaning bedeutet sowohl Bedeutung als auch Meinung, so dass sich die wichtige kategoriale Unterscheidung hier noch viel schwerer treffen lässt. 101 K ELLER 2006c: 346 102 Mit Sinn ist an dieser Stelle natürlich kein metaphysischer Sinn gemeint wie etwa der Sinn des Lebens. Außerdem soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Ausdruck und einer komplexen sprachlichen Äußerung gibt: Der Ausdruck involviert im Gegensatz zur Äußerung weder syntaktische noch kontextuelle Elemente, sondern ist allein die lautliche oder schriftliche Repräsentation eines Wortes. Im Folgenden gilt es also, diese Distinktion beim Lesen zu berücksichtigen. 68 macht ein sprachliches Zeichen für mich als Sprecher kommunikativ nutzbar und für den Hörer interpretierbar? Man benötigt für die Beantwortung dieser Frage eine Theorie, die Bedeutung sprachlicher Zeichen in einen Zusammenhang des gesamten menschlichen Handelns stellt und damit „die Sprache nicht als ein Zeichensytem [ansieht], das unabhängig von Sprechern und sozialen Gruppen existiert“ 103 . Mit Hilfe einer solchen Theorie kann man plausibel semantische Veränderungen erfassen und begründen. Eine solche Theorie wäre dementsprechend eine instrumentalistische. Über einen solchen instrumentalistischen Bedeutungsbegriff lässt sich aufzeigen, dass „durch die Annahme von Regeln das Verhältnis von Langue und Parole und die Möglichkeit der Veränderung, der Erlernung und Entstehung sprachlicher Zeichen vorgesehen [ist]“ 104 . Wie sich gezeigt hat, ist ein rein repräsentationistischer Bedeutungsbegriff für semantische Analysen unbrauchbar, weil er nicht zwischen dem sprachlichen Ausdrucksmittel und dem Zweck einer Äußerung unterscheidet und weil er infolgedessen auch nicht den Aspekt der Interpretierbarkeit einschließt: Auch wenn man zugesteht, daß Zeichen für etwas stehen, etwas repräsentieren, etwas bezeichnen und dergleichen, sei es ein Gegenstand, eine Vorstellung, ein Konzept, einen Wahrheitswert oder was auch immer, kommt man nicht umhin, sich die Frage zu stellen, welche Eigenschaft des Zeichens es ist, dank derer der Adressat herausfindet, wofür das Zeichen steht. Wenn wir mit Hilfe einer Sprache kommunizieren, vollziehen wir Äußerungen in der Absicht, den Adressaten zu einer bestimmten Interpretation zu bewegen. Eine Äußerung in einer solchen Absicht zu vollziehen heißt, mit dieser Äußerung etwas zu meinen. 105 Die Grundfrage einer instrumentalistischen Bedeutungstheorie lautet daher im Bezug auf die beiden Seiten eines sprachlichen Zeichens: Wie lassen sich die beiden Grundbegriffe eines sprachlichen Zeichens in SAUS- SURE scher Diktion (Ausdruck und Bedeutung) linguistisch einordnen, wenn man sich von der repräsentationistischen Tradition lösen möchte? Man könnte vereinfacht argumentieren, dass der Ausdruck eines sprachlichen Zeichens in einem instrumentalistischen Modell auf der Ebene der Sprache selbst angesiedelt ist, manifestiert er sich doch durch ein abstraktes System von Zeichen und Zeichenbeziehungen. Der Inhalt jedoch, das, was wir Bedeutung nennen können, ist in einer anderen Di- 103 H ERINGER 1974: 19 104 H ERINGER 1974: 19 105 K ELLER 1995: 61 69 mension verortet: der Dimension des Sprechens, also in der konkreten Realisierung des Ausdrucks im Gebrauch. 106 Im Gegensatz zu einem repräsentationistischen Bedeutungsbegriff basiert der Symbolcharakter eines Wortes in einer sogenannten Gebrauchstheorie auf einer konventionellen Regelung: Die Regelhaftigkeit des Gebrauchs in der Sprachgemeinschaft sorgt dafür, dass ein sprachliches Zeichen sowohl kommunikativ verwendbar als auch interpretierbar wird. 107 In diesem Sinne ist Bedeutung eng an den Gebrauch durch den Zeichenbenutzer gekoppelt und schließt als kulturell und intentional fixiertes Modell die beiden Dimensionen Sprecher und Hörer mit ein. Insofern ist ein instrumentalistischer Ansatz für die Erklärung von Wortbedeutungen losgelöst von den Vorstellungen der sogenannten Wahrheitsbedingungen-Semantik; Bedeutung wird nicht weiter extensional bestimmt, sondern über den Aspekt sprachlichen Handelns. Der Bedeutungsbegriff selbst ist somit weder auf der ontologischen noch auf der epistemischen Ebene angesiedelt, er ist vielmehr da verortet, wo er hingehört: auf der linguistischen Ebene. Begründer einer solchen Bedeutung-als-Gebrauch-Theorie 108 ist der Philosoph L UDWIG W ITTGENSTEIN . In seinen „Philosophischen Untersu- 106 Man könnte jetzt annehmen, die Bedeutung sei in einer Gebrauchstheorie der Bedeutung auf der Ebene der Parole angesiedelt. Dies ist ein Irrtum: Die Bedeutung eines Wortes wird nicht situations- oder kontextspezifisch durch den Gebrauch immer wieder neu generiert, denn dann wäre ein Wort per se bedeutungsvariant. Dem ist nicht so: Mit dem Ausdruck Gebrauch sind nicht einzelne Gebrauchsinstanzen gemeint, sondern „nur die Gebrauchsweise in der Sprache, die Regel des Gebrauchs“ (K ELLER 1995: 65). 107 Kommunikation wird hier nicht als sprachlicher Selbstzweck begriffen, sondern als Mittel der Beeinflussung. Es kann und muss davon ausgegangen werden, dass Kommunikation per se nicht allein dazu dient, eine Nachricht vom Sender zum Empfänger zu transportieren, sondern dass Kommunikation dazu dient, den anderen zu einer bestimmten Handlung zu bewegen oder ihn von einer bestimmten Haltung zu überzeugen (vgl. auch K ELLER 1995: 105). Dieser erweiterte Kommunikationsbegriff ist anzulegen, wenn man verstehen möchte, warum Sprecher sich z. B. über metaphorischen Wortgebrauch innovativ ausdrücken wollen, also wenn man zweckrationales sprachliches Handeln erklären möchte. Eine solche Fragestellung ist insbesondere für die Erklärung von Bedeutungswandel zentral. 108 Dieser Terminus stammt von J OHN L YONS (L YONS 1991: 19). Da W ITTGENSTEIN selbst keine Bedeutungstheorie im eigentlichen Sinne entwickelt hat, ist der Ausdruck Gebrauchstheorie der Bedeutung im Zusammenhang mit der Person W ITT- GENSTEIN irreführend (vgl. K ELLER 1995: 62 und L OPPE 2010). Es sei der Vollständigkeit halber außerdem darauf hingewiesen, dass auch W ITTGENSTEIN in seinem Frühwerk (dem Tractatus Logico-Philosophicus, 1921) selbst noch einen repräsentationistischen Ansatz im Sinne einer Wahrheitsbedingungen-Semantik postuliert und diese Auffassung zugunsten einer instrumentalistischen Bedeutungsauffassung erst später in seinen Philosophischen Untersuchungen (1953) aufgegeben hat (vgl. L YONS 70 chungen“ formuliert W ITTGENSTEIN in Form von Paragraphen über eine komplexe Herleitung den berühmten Satz: Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ,Bedeutung’ - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache 109 . So präzise dieser Ausspruch auch ist, er hat in der wissenschaftlichen Diskussion zu sehr viel Verwirrung geführt. So wurde die W ITTGENSTEINsche Gleichsetzung von Bedeutung und Gebrauch oftmals so verstanden, als beziehe sich W ITTGENSTEIN hier einzig auf die Ebene der Wortbedeutung. Wenn dies der Fäll wäre, würde das heißen, dass es auch Wörter gäbe, deren Bedeutung nicht ihr Gebrauch in der Sprache sei. 110 Diese Interpretation ist aber falsch, denn W ITTGENSTEIN bezieht sich mit seinem berühmten Gedanken auf die B e n u t z u n g des Wortes Bedeutung selbst und nicht etwa auf Wortbedeutungen. W ITTGENSTEIN spricht also zunächst über alle Fälle der Verwendung des Wortes Bedeutung und differenziert erst dann diejenigen Fälle aus, in denen eine Gleichsetzung von Wortbedeutung und Gebrauch in der Sprache nicht möglich ist. Diese Unterscheidung ist fundamental wichtig, um den Kern des W ITT- GENSTEIN schen Gedankens richtig erfassen zu können: W ITTGENSTEIN verrät in diesem Paragraphen 43 nämlich lediglich, was das Wort Bedeutung selbst bedeutet und wie man dieses Wort - nämlich höchst unterschiedlich - verwenden kann. In der Tat ist es ja so, dass man nicht in allen Fällen der Verwendung des Wortes Bedeutung davon sprechen kann, dass damit der Gebrauch in der Sprache gemeint ist. So gibt es vielfältige Verwendungsweisen des Wortes Bedeutung im Deutschen: Ich kann z. B. davon sprechen, dass mir persönlich dies oder jenes mehr bedeutet als anderes. Oder ich kann davon sprechen, dass ich eine Situation nicht richtig deuten kann: Er hat so seltsam geguckt. Ich weiß noch nicht, was das bedeutet. In diesen Fällen wäre eine Interpretation, die Bedeutung mit Gebrauch gleichsetzt, verfehlt. Das ist auch W ITTGENSTEIN klar gewesen. So macht er selbst auf diesen Umstand aufmerksam, indem er seine Definition von Bedeutung einschränkt und folgerichtig konstatiert, dass man nicht in allen Fällen der Benützung des Wortes Bedeutung diesen Begriff mit Gebrauch gleichsetzen darf. Diese speziellen Fälle der Benutzung (die kleine Gruppe jenseits der großen 1991: 20ff.). Dennoch gibt es gute Gründe, ihn als Begründer der Idee einer Gebrauchstheorie der Bedeutung anzusehen. 109 W ITTGENSTEIN PU § 43 110 Vgl. K ELLER 1995: 63f. Insbesondere diese Einschränkung W ITTGENSTEIN s hat vielfach zu Missverständnissen geführt, die - wie sich gezeigt hat - auf einer Fehlinterpretation des Paragraphen 43 beruhen. 71 Klasse von Fällen) hatte W ITTGENSTEIN aber nicht im Blick, sein Interesse galt vielmehr der Entwicklung eines Bedeutungsbegriffs, der sich auf die Bedeutung von Wörtern in natürlichen Sprachen anwenden lässt. Der Kern des W ITTGENSTEIN schen Bedeutungsbegriffs jenseits dieser Einschränkung ist somit ein anderer: W ITTGENSTEIN verrät uns, was unter dem Begriff Bedeutung zu verstehen ist, wenn wir ihn auf bedeutungstheoretisch relevante Fälle der Benutzung dieses Wortes beziehen und uns damit auf der linguistischen Ebene der Wortbedeutung bewegen. Man kann den Begriff Bedeutung also auf der Ebene der langue verorten (das ist die „große Klasse von Fällen der Benützung“, die W ITTGENSTEIN im Blick hat) und sich die Frage stellen: Was bedeutet das Wort X in der Sprache Y? Und eben für diese besondere Benutzung des Wortes Bedeutung gilt uneingeschränkt, d. h. dann für alle Fälle der Verwendung des Wortes Bedeutung: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Neben diesem Ansatz hin zu einer reinen Gebrauchstheorie der Bedeutung enthält Paragraph 43 auch einen Hinweis, der sich auf einen repräsentationistischen Bedeutungsbegriff bezieht. In Paragraph 43 heißt es nämlich bei W ITTGENSTEIN weiter: „Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt“ 111 . Wesentlich für diesen Bedeutungsbegriff ist der Zusatz manchmal. W ITTGENSTEIN erkennt, dass man in manchen Fällen in der Tat auch durch hinweisende Definition die Bedeutung eines Wortes (d. h. den Gebrauch eines Wortes) erklären kann, er erkennt aber auch, dass dies nur dann möglich ist, wenn „es schon klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll“ 112 . Mit dieser Einschränkung kann man diese spezielle Form der Bedeutungsbeschreibung gelten lassen. Dass aber in den meisten Fällen eine hinweisende Definition nicht ausreicht, da diese notwendige Bedingung des Bekanntseins von Vorkenntnissen nur selten erfüllt ist, war auch W ITTGENSTEIN bewusst. Mit Blick auf die Uneindeutigkeit einer hinweisenden Definition schreibt er: „Das heißt, die hinweisende Definition kann in jedem Fall so und anders gedeutet werden“ 113 . Vielmehr betrachtet W ITTGENSTEIN das, was man die Bedeutung von Wörtern nennt, als etwas, das sich allein über den Gebrauch des Wortes 111 W ITTGENSTEIN PU § 43 112 W ITTGENSTEIN PU § 30. W ITTGENSTEIN bezieht seine Gedanken für eine hinweisende Definition aus einer Textpassage aus A UGUSTINUS ’ „Confessiones“. In den Paragraphen 27 bis 35 zeigt W ITTGENSTEIN , dass eine hinweisende Definition nur dann funktioniert, wenn a) ein Vorverständnis vom Sprachspiel des Zeigens und b) ein Vorverständnis von der Rolle des referenziellen Wortes bei den an der Kommunikation beteiligten Menschen vorhanden ist (vgl. L OPPE 2010: 91). Also auch in der hinweisenden Definition stecken handlungsorientierte Elemente, ohne die eine solche Bedeutungsdefinition nicht möglich wäre. 113 W ITTGENSTEIN PU § 28 72 definiert. Wenn man dabei annimmt, dass Bedeutung nicht situations- und intentionsabhängig konzeptioniert werden kann, dann muss man für den Gebrauch ein konventionelles Regelsystem voraussetzen, nach dem Sprecher ihre Wörter innerhalb ihres Sprachsystems verwenden. Insofern sind „mit dem Ausdruck Gebrauch nicht einzelne Gebrauchsinstanzen gemeint [...], sondern nur die Gebrauchsweise in der Sprache, die Regel des Gebrauchs“ 114 . Will sagen: Die durch Regeln gesteuerte Verwendung sprachlicher Ausdrücke entspricht ihrer Bedeutung. 115 Mit dieser Auffassung kehrt W ITTGENSTEIN allen mentalen oder referenziellen Bedeutungsmodellen den Rücken und betrachtet Sprache als ein gesellschaftliches Phänomen: „Die Existenz von Konzepten oder anderen mentalen Entitäten muss dabei gar nicht einmal geleugnet werden. Der entscheidende Punkt ist: Die Übereinstimmung der Konzepte folgt aus der Übereinstimmung kommunikativer - speziell: sprachlicher - Handlungen“ 116 . Will man also wissen, was ein Wort bedeutet, muss man sich ansehen, wie es in dem jeweiligen Sprachsystem, aus dem es stammt, verwendet wird. Über diese gebrauchstheoretische Definition von Wortbedeutung gelangen wir an einen wesentlichen Punkt, der die Unzulänglichkeit einer rein repräsentationistischen Bedeutungsauffassung noch einmal unter- 114 K ELLER 1995: 65 115 Bei genauer Betrachtung des Paragraphen 43 findet sich kein Hinweis auf eine Regel des Wortgebrauchs. Dennoch hat sich die Ergänzung um den Zusatz „Bedeutung ist die Regel seines Gebrauchs in der Sprache“ etabliert. M. E. ist diese Einschränkung sehr wichtig und richtig. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob ich davon spreche, Bedeutung sei Gebrauch oder Bedeutung sei die Regel des Gebrauchs. Wenn ich davon ausgehe, dass Bedeutung mit Gebrauch gleichzusetzen ist, dann könnte ich annehmen, damit sei der jeweils aktuelle Gebrauch gemeint. Wenn dem so wäre, hätte ein Wort je nach Kontext und Intention des Sprechers eine andere Bedeutung. G ISELA H ARRAS u. a. vertreten diese Auffassung: „[D]er Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken - und damit ihre Bedeutungen - [ist] abhängig [...] von den Intentionen, die Sprecher jeweils haben“ (H ARRAS 2004: 97). Da Bedeutung aber etwas sein muss, das alle Sprecher einer Sprachgemeinschaft gleichsam kennen, damit sie sich gegenseitig verstehen können, kann Bedeutung unmöglich von Fall zu Fall neu generiert werden. Vielmehr ist es in der Tat sinnvoll, hinter dem Gebrauch eines Wortes ein konventionelles Regelsystem zu vermuten. Die Gebrauchsregel eines Wortes muss allen Sprechern einer Sprachgemeinschaft (zumindest potenziell) zugänglich sein. Damit diese Prämisse aber erfüllt ist, muss die Bedeutung eines Ausdrucks immer konstant, d. h. regelkonform und damit interpretierbar sein. Hier zeigt sich für unsere spezielle Fragestellung: Die Änderung der Wortbedeutung manifestiert sich in der Änderung der Gebrauchsregel, also dem veränderten Nutzungsverhalten der Sprachgruppenmitglieder einer Sprachgemeinschaft. 116 L OPPE 2010: 83f. Wir werden weiter unten sehen, dass man durchaus auch repräsentationistische Fragestellungen mit diesem Handlungskonzept in Einklang bringen kann, wenn man die Frage nach dem was der Repräsentation weiter öffnet. 73 streicht und zugleich die praktische Anwendbarkeit einer Gebrauchstheorie hervorhebt: Über Veränderungen des Wortgebrauchs, also über Veränderungen der Regel des Wortgebrauchs, lassen sich semantische Veränderungen von Wortbedeutungen (sprich: Bedeutungswandel) erfassen. Im Gegensatz zur repräsentationistischen Bedeutungskonzeption hält eine Gebrauchstheorie der Bedeutung also die Möglichkeit der analytischen Bedeutungsbetrachtung, die wir für repräsentationistische Bedeutungstheorien ausgeschlossen hatten, bereit: Generally speaking, a basically functional and dialogic approach to meaning innovation and meaning change favours an integrative perspective on the resources and the functions of semantic innovations and it also helps to focus on problems which are neglected by other approaches, e. g. the processes of routinization and conventionalization and the paths of diffusion of new uses [...]. It also shows an affinity to an explanation of meaning change in terms of an invisible hand theory (cf. Keller 1990), in which action-theoretical concepts like intentions and maxims of action loom large. 117 Wie verhält es sich aber mit der Konvention des Gebrauchs und der Bedeutung in einer W ITTGENSTEIN schen Bedeutungstheorie? Zum einen ist Bedeutung im Gegensatz zu repräsentationistischen Modellen nichts Geheimnisvolles, sondern ein Mitteilungswerkzeug. So wie man den Umgang mit einem Hammer oder einer Säge lernen kann und muss, verhält es sich auch mit Wortbedeutungen: Die Kenntnis der Regel des Umgangs ist für den richtigen Gebrauch unabdingbar. Aus der Kenntnis von Regeln lässt sich ein großer Vorteil für die linguistische Analyse ableiten: „Bedeutungen lassen sich vergleichen, untersuchen, überprüfen ohne Blick in den Kopf oder die Seele“ 118 . Zum anderen ist der Gebrauch eines Wortes sozial vermittelt, d. h. überindividuell. Regeln für den Umgang mit Wörtern lernt man durch nachmachen und beobachten. Über diesen Aspekt entwickelt sich Bedeutung im wechselseitigen Einvernehmen, so dass Kommunikation über die Verwendung und Interpretation sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer überhaupt möglich wird. Eine Regel wird dabei immer nur an endlich vielen Beispielen gelernt, soll aber letztlich auf unendlich viele Fälle anwendbar sein. Daraus ergibt sich, dass die Regel das zu lernende Handlungsmuster nicht wirklich festlegt, es gibt immer eine Vielzahl von Mustern, die mit ihr kompatibel sind. Dass es eine Menge von Möglichkeiten gibt, die Regel fortzusetzen, heißt aber nicht, dass man sich bewusst für eine dieser Möglichkeiten entscheidet. Sie drängt sich eher unmittelbar auf. Die Regel des Gebrauchs ist vielmehr rekonstruierbar aus 117 F RITZ 2009: 15 118 K ELLER 1995: 68 74 den konkreten Verwendungsweisen. Dabei ist sie jedoch keinesfalls identisch mit den verschiedenen Verwendungsweisen und sie ist auch nicht die Summe der verschiedenen Verwendungsweisen. Vielmehr ist die Regel des Gebrauchs (und damit die Bedeutung) in jedem Fall konstant. Was von Fall zu Fall aber variieren kann, das ist der Sinn einer Äußerung. Sowohl die Äußerung auf Seiten des Sprechers als auch das Verstehen der Äußerung auf Seiten des Hörers werden über die Kenntnis der gleichen Gebrauchsregeln überhaupt erst ermöglicht. So verstanden wird Sprache in den Zusammenhang des gesamten menschlichen Handelns gestellt und ist eben kein von Sprecher und Sprache unabhängiges Zeichensystem. Die Regeln des Gebrauchs eines Wortes sind dadurch bestimmt, dass sprachliche Äußerungen im täglichen Miteinander eine bestimmte Funktion übernehmen. 2.1.2.1 Zur Vereinbarkeit repräsentationistischer und gebrauchstheoretischer Bedeutungskonzeptionen Es scheint zunächst so zu sein, dass beide Theorien für sich genommen ihre Berechtigung haben, sich gegenseitig aber eher ausschließen. Verkürzt könnte man sagen: Die repräsentationistische Bedeutungskonzeption gibt eine Antwort auf die Frage, was die Bedeutung eines Wortes ausmacht bzw. welchen Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit ein Zeichen herstellt, und die instrumentalistische Bedeutungstheorie beantwortet die Frage, wie ein Wort bedeutungsvoll durch die Sprachgemeinschaft verwendet werden kann. Die eine Theorie also geht von einer strikten Repräsentationsbeziehung zwischen Zeichen und Welt aus, die andere von einer Prägung der Bedeutung allein durch den Gebrauch. An diesen letzten Aspekt möchte ich gerne anknüpfen und im Folgenden erklären, warum es m. E. nicht unmöglich ist, einen gebrauchstheoretischen und einen repräsentationistischen Bedeutungsbegriff miteinander zu verbinden und warum es sinnvoll sein kann, sich von den starren Grenzen zwischen diesen beiden Theorien zu lösen. Ich werde zeigen, dass es drei grundlegende Möglichkeiten der Verknüpfung gibt, die ich für angemessen halte. Erstens: Eine Möglichkeit, die beiden gegensätzlichen Konzeptionen ein wenig aufzubrechen, liegt darin, sich von den scharfen Grenzen 119 in F REGE scher Tradition zu befreien und damit den Repräsentationsbegriff selbst zu erweitern. Wir haben festgestellt, dass die meisten Wörter einer natürlichen Sprache nicht scharf begrenzt sind, was eine rein extensionale Bedeutungsbeschreibung unmöglich macht. 120 Wenn wir die Forderung 119 Vgl. K ELLER 1995: 101 120 Vgl. zur Frage der Angemessenheit einer repräsentationistischen Bedeutungsbeschreibung für Verben die Ausführungen in Kapitel 2.1.1.3 75 der scharfen Begrenzung allerdings fallen lassen und Bedeutung als Gebrauch definieren, dann kann man mit Blick auf den Wahrheitswert eines Ausdrucks sagen: „Die Regel des Gebrauchs [...] räumt dem Sprecher eine gewisse Entscheidungstoleranz ein [zu entscheiden, ob der Ausdruck wahr oder falsch ist, S. B.]“ 121 . Entscheidend dabei ist die Feststellung, dass „Entscheidungsfreiheit [...] nicht Unentscheidbarkeit [heißt]“ 122 . Über eine solche Lösung von den starren Vorstellungen scharfer Grenzen ist ein Sprecher jederzeit in der Lage zu entscheiden, ob ein Ausdruck wahr oder falsch ist, er kann „für jede Sättigung einen Wahrheitswert [zuordnen]“ 123 . Diese Entscheidungstoleranz ergibt sich für den Sprecher aus dem Kontext der Äußerung. Wenn wir so argumentieren, haben wir eine plausible Möglichkeit gefunden, den repräsentationistischen Ansatz in eine Gebrauchstheorie zu integrieren. Allerdings laufen wir Gefahr, die repräsentationistischen Theorien sehr stark in unserem Sinne zu beugen und das, was ursprünglich als klare Extension im Sinne einer Abbildbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gedacht war, in ein Mittel der eigenen Entscheidung zu überführen und damit den Wahrheitsbegriff sehr zu verallgemeinern bzw. ihn im strengen und ursprünglichen Sinne ad absurdum zu führen. Denn: Eine streng repräsentationistische Theorie geht davon aus, dass Begriffe Gegenstände in Wahrheitswerte abbilden. Wenn ich nun für jeden Begriff im Kontext selbst entscheiden kann, ob er wahr oder falsch ist, konstituiere ich dann nicht wieder eine rein kontextspezifische Bedeutung? Um die Antwort vorweg zu nehmen: Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist, wenn man den Begriff der kontextuellen Entscheidbarkeit weiter ausformuliert. Begriffe haben grundsätzlich kontextunabhängige Bedeutungen. Ich kann aber selbst entscheiden, ob ich einen Begriff für eine Entität (bei Substantiven) oder für eine Eigenschaft (bei Adjektiven) oder für einen Zustand oder eine Tätigkeit (bei Verben) angemessen einsetzen kann (dann ist er wahr) oder nicht (dann ist er falsch). Betrachten wir dazu ein Beispiel aus dem Verbwortschatz. Wenn man sich unscharfe Verben wie die weiter oben als unwahrhaftige Verben bezeichneten ansieht, dann stellt man fest, dass sich deren Wortbedeutungen trotz ihrer extensionalen Unschärfe in aller Regel klar bestimmen lassen. Das liegt m. E. daran, dass wir über unser konventionelles Regelsystem als Sprachbenutzer sehr genau wissen, für welche Fälle man ein Verb einsetzt und in welchen Fällen der sprachlichen Benutzung es ungeeignet ist. So können wir z. B. kontextunabhängig eine Reihe von Fällen der Verwendung identifizieren, 121 K ELLER 1995: 101 122 K ELLER 1995: 101 123 K ELLER 1995: 101 76 in denen man das Verb denken einsetzen kann. Wir können erklären, wann man dieses Verb verwendet, nämlich dann, wenn man auf den Prozess einer geistigen Aktivität referieren möchte. In einigen Fällen der Verwendung ist es aber für das Verb denken zweifelhaft, ob die Verwendung möglich ist. So kann ich in der Referenz auf Menschen sehr eindeutig entscheiden, dass das Verb denken sinnvoll zu verwenden ist. Probleme bereitet es mir z. B. für Hunde oder Katzen - hier kann ich nicht so ohne weiteres entscheiden, ob die Verwendung möglich ist. Noch schwieriger wird es bei Kanarienvögeln oder Ameisen. In den letztgenannten Fällen wäre die Verwendung des Verbs denken wohl falsch. Oder anders gesagt: Dem Satz Die Ameise denkt würde ich, wie vermutlich die meisten anderen Sprachbenutzer auch, keinen Wahrheitswert zuschreiben. Trotz meiner offenen Entscheidungsfreiheit habe ich eine klare Entscheidung über den Wahrheitswert treffen können. Die Entscheidung wird durch den Kontext determiniert, die Bedeutung ist aber deswegen nicht ebenfalls kontextspezifisch sondern kontextunabhängig. Mit anderen Worten: Über den sprachlichen Kontext kann ich manchmal sagen, ob ein Verb wahr oder falsch ist bzw. ob die Verwendung kontextspezifisch angemessen ist. Wer die Bedeutung des Verbs denken kennt, kann entscheiden, ob das Verb im jeweiligen Kontext angemessen verwendet wird oder nicht - ob es also wahr oder falsch ist. Somit haben wir über die Aufweichung der scharfen (extensionalen) Grenzen einen Weg gefunden, Wahrheitswerte auch für diejenigen Fälle bestimmen zu können, für die es bislang unmöglich schien. Zweitens: Es gibt noch eine weitere Möglichkeit der Verknüpfung, die sich m. E. noch etwas besser eignet, weil wir den Kerngedanken der Repräsentation im F REGE schen Sinne erhalten können. Wie sieht diese Möglichkeit aus? Wir können sowohl annehmen, dass sprachliche Zeichen Entitäten als auch mentale Konzepte repräsentieren. Dann folgen wir ganz der Linie der repräsentationistischen Denkweise. Wir können aber auch die Auffassung vertreten, dass Begriffe k o m m u n ik a t iv e A b s i c h t e n repräsentieren und den Repräsentationsbegriff auf diese Weise m. E. angemessen erweitern. Das würde bedeuten: Wörter stehen für die kommunikativen Absichten ihrer Sprecher und sind damit Mittel zum Zweck. Diesen Gedanken der Funktion sprachlicher Zeichen als Mitteilungsmittel kennen wir bereits aus der gebrauchstheoretischen Bedeutungsbeschreibung und wir können ihn hier mit einer repräsentationistischen Konzeption verbinden. Über diese Sichtweise lässt sich für unsere spezielle semantische Fragestellung erklären, warum es nicht nur deskriptive (also wahrheitsfunktionale) Verben gibt, sondern eine Reihe weiterer Verben, deren Hauptfunktion eine ganz andere ist. Repräsentation ist nur eine mögliche Funktion, die Verben haben können bzw. nur ein möglicher Zweck, den 77 ein Sprecher mit der Verwendung eines Verbs verfolgen kann. Wenn man hinter einem Wortgebrauch eine spezifische Absicht annimmt, dann erklärt es sich auch, warum z. B. evaluative, expressive oder soziale Verben existieren, die in erster Linie (oder in ihrer Nebenbedeutung) dazu verwendet werden, andere kommunikative Zwecke zu erfüllen, als eine reine wahrheitsfunktionale Beschreibung zu liefern. Drittens: Mit einem Ansatz der Bedeutungsbeschreibung über andere als die bekannten Wahrheitswerte innerhalb einer Gebrauchsregel erhalten wir eine dritte Möglichkeit, einen instrumentalistischen Bedeutungsansatz auf sinnvolle Weise mit einer Gebrauchstheorie der Bedeutung zu verquicken, indem wir Wahrheitswerte g l e i c h b e r e c h t i g t neben andere, an dieser Stelle noch nicht weiter definierte, Elemente einer Gebrauchsregel stellen: „Aus der Sicht einer Gebrauchstheorie sind Wahrheitsbedingungen ein Teil der Gebrauchsregeln für die Verwendung von Ausdrücken, ohne daß die Regeln für den Gebrauch von Ausdrücken restfrei in Wahrheitsbedingungen überführbar wären“ 124 . Ich komme auf diesen Aspekt in Kapitel 3 zurück, wenn ich die sogenannten Parameter einer Gebrauchsregel mit Blick auf den Verbwortschatz näher betrachten werde. Zunächst möchte ich aber den zweiten der für den Bedeutungswandel zentralen Begriffe, den Begriff des Wandels, vorstellen und im Sinne unserer Fragestellung nach dem Wandel der spezifischen Wortsemantik von deutschen Verben greifbar machen. 2.2 Zum Wandel in der Sprache Nachdem wir den ersten der beiden Teilbegriffe des Bedeutungswandels für unsere Zwecke ausreichend beleuchtet und einen angemessenen Bedeutungsbegriff für unsere Fragestellung abgeleitet haben, ist es im Folgenden notwendig, den Begriff des Wandels näher zu untersuchen. Dabei möchte ich zwei linguistische Dimensionen (die des Sprachwandels im Allgemeinen und diejenige des Bedeutungswandels im Speziellen) einschließen und eine weitere, nämlich die globale Dimension des Wandels in der Welt, aus meiner Betrachtung ausklammern. Da im Zuge dieser Arbeit das Phänomen des Bedeutungswandels lediglich auf natürlichsprachliche (und menschliche) Ausdrücke hin untersucht wird, halte ich es für unnötig, den Begriff des Wandels in seiner ganzen Breite zu explizieren. Stattdessen setze ich stillschweigend voraus, dass es natürlich auch Prozesse des Wandels in der Welt gibt, die sich auf anderen Ebenen als auf der linguistischen bewegen. Der Klimawandel oder evolutionäre 124 G LONING 1996: 260 78 Prozesse in der Biologie bewegen sich in solchen Sphären, ebenso wie der Wandel der Jahreszeiten oder der Wandel einer bestimmten Mode. Diese Phänomene des Wandels sollen uns im Einzelnen nicht weiter interessieren, auch wenn es stellenweise Berührungspunkte gibt. 125 Wir können aber verallgemeinernd mit einem Blick auf den Wandel als generelles Phänomen die Feststellung treffen, die m. E. über alle Prozesse des Wandels in der Welt hinweg Gültigkeit besitzt, dass ein Zustand a zu einem Zeitpunkt x sich mehr oder weniger schnell und mit unterschiedlicher Ausprägung in einen Zustand b zu einem Zeitpunkt y wandelt. 126 Der Begriff des Wandels impliziert somit drei wesentliche Elemente und ihr Verhältnis zueinander: 1. Zeitdifferenz 2. Vergleich und 3. Identität. 127 H ELMUT L ÜDTKE drückt das, was unter dem Begriff des Wandels zu verstehen ist, unter Berücksichtigung dieser drei Dimensionen folgendermaßen aus: Es werde z. B. X’ zum Zeitpunkt t’ verglichen mit X’’ zum Zeitpunkt t’’; dann können X’ und X’’ als Zustände eines Objekts X und die (quantitative und/ oder qualitative) Differenz X’ - X’’ als dessen Wandel aufgefaßt werden, sofern X’ und X’’ aufgrund eines gemeinsamen Merkmals eine Klasse X bilden und außerdem dieses Klassenmerkmal auch für alle Zeitpunkte zwischen t’ und t’’ gilt. Somit erheischt der Begriff ,Wandel’ einen Komplementärbegriff ,Kontinuität’, d. h. Identität über eine Zeitspanne hin. 128 Wandel ist somit allgemein als ein Übergang eines Zustandes in einen anderen zu begreifen, unter der L ÜDTKE schen Prämisse, dass sowohl das Ausgangsals auch das Zielobjekt derselben Klasse zugehören. Ich halte diese Prämisse aus folgendem Grund für problematisch: Sowohl in der 125 Der Wandel im Bereich der Mode ist z. B. als kultureller Wandel im Grundprinzip mit dem Wandel in der Sprache vergleichbar. In beiden Fällen handelt es sich um Phänomene der dritten Art und ihr Wandel folgt einem sogenannten invisible-hand- Prozess (Vgl. 2.2.1). Dennoch soll im Folgenden nicht erklärt werden, wie sich modische Konventionen und Bräuche entwickeln und ändern, sondern allein der Prozess des Sprachwandels dargestellt werden. 126 Ich verwende hier absichtlich die Determinanten a und b bzw. x und y und nicht etwa a und a’ oder x und x’. Ich gehe nämlich für viele Prozesse des Wandels davon aus, dass es sich sowohl bei a und b als auch bei x und y um bisweilen völlig verschiedene Entitäten bzw. Zustände handeln kann, so dass nicht der Eindruck erweckt werden soll, es gäbe in jedem Fall eine Art Kontiguitätsbeziehung. 127 Vgl. L ÜDTKE 1980a: 4 128 L ÜDTKE 1980a: 4 79 außersprachlichen Welt als auch im Bereich semantischen Wandels gibt es Wandelprozesse, bei denen die Klasse der Entität streng genommen verlassen wird. So sind beispielsweise die fossilen Brennstoffe über einen Prozess des Wandels entstanden - ich halte einen vitalen Baum und ein Stück Holzkohle aber für etwas kategorial sehr Verschiedenes, so dass L ÜDTKE s Prämisse für diesen Wandelprozess in diesem Beispiel nicht erfüllt wäre. 129 Das gilt auch in einigen Fällen für semantischen Wandel. So kennzeichnen die Adjektivierung von Partizipien und das Phänomen der Scheinpartizipien einen Wandel von der Klasse der Verben zur Klasse der Adjektive. Hier verlässt das Ziellexem streng genommen im Zuge des Wandels die grammatische Klasse. Nachweislich ist dieser Wandel z. B. für das Verb befangen durch metaphorischen Wortgebrauch zu konstatieren. 130 Grundsätzlich scheint mir daher nach Abzug des Klassenaspektes die Veränderung von einem Ausgangszu einem Zielzustand über einen bestimmten Zeitraum der zentrale Vorgang des Wandels sowohl notwendig als auch hinreichend gekennzeichnet zu sein. Manchmal ist der Prozess des Wandels reversibel, manchmal ist er es nicht. Und in den allermeisten Fällen ist der Zustand b zum Zeitpunkt y kein Endpunkt, sondern nur eine Zwischenstation, so dass Ergebnisse eines Wandels oftmals nur als t r a n s it o r i s c h e S t u f e n zu begreifen sind. Ebenso können wir die allgemeine Feststellung ableiten, dass beobachtbarer Wandel über mehrere Stufen hinweg keinerlei präzise Aussage darüber zulässt, wie sich der Wandel zukünftig darstellen wird. Die Feststellung, dass ein Wandel des Klimas in den letzten 100 Jahren sich in einer globalen Erderwärmung manifestiert, erlaubt m. E. keinen Schluss, dass sich dieser Befund in derselben Ausprägung auch auf die nächsten 100 Jahre übertragen lässt. „Wenn ich ein Phänomen der Vergangenheit erklären kann, kann ich auch sein Eintreffen in der Zukunft vorhersagen? Sicher nicht“ 131 , schreibt R UDI K ELLER und er meint damit, dass Wandel prinzipiell zwar erklärbar aber nicht prognostizierbar ist und er legt dar, warum beides in keinem Widerspruch zueinander steht: „[...] Erklärbarkeit impliziert Prognostizierbarkeit des Explanandums aus gegebenen Antezedenzbedingungen. Erklärbarkeit impliziert nicht Prognostizierbarkeit des Erfülltseins der Antezedenzbedingungen“ 132 . Wir können also zwar prognostizieren, dass Veränderungen weiterhin stattfinden werden, Aussagen darüber, wie dieser Wandel exakt aussehen wird, können wir dagegen nicht präzise treffen, m. E. selbst dann nicht zwingend, wenn die 129 Ich schlage daher vor, statt des Begriffs Klassenmerkmal den allgemeineren Begriff der Konstante zu verwenden. 130 Dieses Beispiel findet sich bei K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 57f. 131 K ELLER 1991b: 136 132 K ELLER 1991b: 137. Hervorhebung durch den Verfasser. 80 Antezedenzbedingungen zukünftig unverändert bleiben. 133 „Wer den [Wandel, S. B.] voraussagen können will, will das Erfülltsein der Antezedenzbedingungen voraussagen können. Und die sind aus Prinzip nicht prognostizierbar, wenn sie Handlungen enthalten“ 134 , so dass in vielen Bereichen (nämlich in all denen, die kulturell geprägt sind) eine Prognose erst dann abgegeben werden kann, „wenn sie als Prognose überflüssig geworden ist, nämlich im nachhinein“ 135 . Möglich sind allenfalls sogenannte Trendextrapolationen, also Voraussagen der Art, dass sich vermutlich ein ähnlicher Wandel einstellen wird, wenn genau dieselben Voraussetzungen gegeben sein werden, wie es bisher der Fall war. Dieser Gedanke wird uns im Folgenden noch beschäftigen, denn Sprach- und Bedeutungswandel sind Sonderfälle des Wandels und auch sie sind nicht präzise vorhersagbar, wohl aber erklärbar. So einleuchtend solche allgemeinen Feststellungen sind und so sehr man sie mit dem gesunden Menschenverstand nachvollziehen kann, so wenig sagen sie etwas über die Mechanismen des Wandels aus, die sehr unterschiedlich sein können. Im Falle des Klimawandels dürfte man davon ausgehen, dass gänzlich andere Prozesse diesen Vorgang bedingen, als es etwa bei der Evolution im Tierreich der Fall ist. Hier ist auch entscheidend, als was man eine Entität begreift: Ist etwas ein Naturphänomen wie die Evolution oder die Physik oder ist es ein menschliches Arte- 133 So können zwar die Rahmenbedingungen bestehen bleiben, sich aber u. U. deren Zusammenspiel bzw. die Auswirkungen ändern. Der Klimawandel etwa ist m. W. nicht präzise vorhersagbar, selbst dann nicht, wenn sich an den Antezedenzbedingungen, also an unserem ökologischen Verhalten nichts ändern wird. Das liegt daran, dass wir die Effekte des heutigen Klimawandels für künftige Entwicklungen nicht einschätzen können. So lässt sich nicht absehen, ob die globale Klimaerwärmung a) überhaupt durch die von uns bislang angenommenen Mikroeffekte menschlichen Handelns zustande gekommen ist und b) nicht durch selbstregulative Kräfte bestärkt oder abgeschwächt werden wird. Aus diesen Gründen halte ich eine generelle Prognostizierbarkeit von Wandel für ausgeschlossen. Wir können allenfalls sagen: Wenn sich der Wandel wie bisher weiterhin vollzieht, ohne dass andere als die bisherigen Einflüsse auf ihn einwirken und nur dann, wenn die Einflüsse genau so einwirken wie bisher, dann wird sich vermutlich zum Zeitpunkt z in der Zukunft ein Zustand c einstellen. Dies ist aber eher die Vorhersage eines Trends aufgrund beobachteter Entwicklungen, also eine Art Diagnose und weniger eine exakte Prognose. Sie schließt die Möglichkeit der Veränderung (Trendumkehr) mit ein. Eine mögliche präzise Prognose kann es m. E. nur in denjenigen Fällen geben, die reine Naturphänomene sind, in denen also menschliche Handlungen ausgeschlossen sind: „Im Bereich der Naturphänomene sind [die Antezedenzbedingungen, S. B.] selbst [...] mögliche Explananda deduktiv-nomologischer Erklärungen, so daß sie selbst wieder prognostizierbar sind“ (K ELLER 1991b: 137). 134 K ELLER 1991b: 137 135 K ELLER 1991b: 137 81 fakt wie ein Automobil? Oder ist es vielleicht etwas kategorial anderes mit gewissen Berührungspunkten? Es zeigt sich: Wandel ist per se nur sehr schwer zu fassen und seine Prinzipien sind so vielfältig, wie die Sphären, in denen er stattfindet. Sprachwandel etwa als zu erklärende (makroskopische) Strukturveränderung ist über seine spezifische Struktur der (ökologischen) Rahmenbedingungen und aus der Explikation der Handlungsmotive der Sprachbenutzer eine kausale Konsequenz, die gänzlich anderen Prinzipien folgt, als es z. B. für die Evolution der Fall wäre. Im Folgenden interessieren uns daher in erster Linie zwei linguistische Fragen: 1. Wie funktioniert der Wandel in der Sprache im Allgemeinen? 2. Wie manifestiert er sich im Besonderen beim semantischen Wandel auf der Ebene des Wortes? Sprachwandel im Allgemeinen vollzieht sich grundsätzlich auf allen sprachlichen Ebenen, sowohl im Bereich der Phonologie, im Bereich der Morphologie, in der Syntax als auch im Bereich der Semantik. Diese Feststellung betrifft alle natürlichen Sprachen und sie betrifft all diejenigen Aspekte von Sprache, die nicht biologisch, sondern kulturell determiniert sind. 136 Zudem schließt ein Wandel in der Sprache immer auch Stase (d. h. sprachliche Kontinuität oder eine diachrone Konstante) mit ein: „Um von etwas sagen zu können, daß es sich gewandelt habe, muß einiges davon von Stadium zu Stadium unverändert geblieben sein, damit die Identität dessen, wovon behauptet wird, es habe sich gewandelt, gewährleistet ist“ 137 . Es ist also eher ausgeschlossen, dass sich innerhalb eines einzigen zeitlichen Stadiums des Wandels ein Aspekt in der Sprache so grundlegend verändert, dass z. B. die Bedeutung eines Wortes (verstanden als Gebrauchsregel) sich gänzlich ändert und nichts an diesem Wort semantisch konstant bleibt. K LAUS M ATTHEIER schreibt dazu pointiert: „Kontinuität ist die Quasi-Identität [oder besser: die linguistische Ähnlichkeit, S. B.] über eine bestimmte Zeitspanne hinweg“ 138 . Auf semantischer Ebene lässt sich dies durch die Inkorporierung und die mögliche Verschie- 136 Vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 7 137 K ELLER 1996: 414. Hier erkenne ich den Aspekt der Konstanz, den L ÜDTKE weiter oben m. E. zu sehr auf den Aspekt der Klassenzugehörigkeit gelenkt hat und den ich daher ausgeklammert habe. Verstanden als eine Art diachrone Konstante kann ich diesen Befund aber akzeptieren. 138 M ATTHEIER 1998: 825. Was M ATTHEIER hier als Kontinuität versteht, ist im Prinzip identisch mit Lüdtkes Begriff der Stafettenkontinuität (L ÜDTKE 1980a: 4). Auch R UDI K ELLER schreibt mit Blick auf den Umstand, dass es etwas in der Sprache gibt, dass generationenübergreifend konstant bleibt: „Es empfiehlt sich [...], diese Kontinuität im Wandel ,Stafetten-Kontinuität’ zu nennen“ (K ELLER 1996: 414) und verweist damit ebenfalls auf L ÜDTKE . 82 bung bei gleichzeitiger Konstanz der bestehenden Bedeutungsparameter erklären, 139 für andere Aspekte von Sprache, z. B. für die Morphologie gelten vermutlich andere Regeln für die Einhaltung einer gewissen diachronen Kontinuität. Auch wenn die Feststellung einer Stase in der Sprache zutreffend ist, lassen sich bisweilen auch Wandelphänomene identifizieren, die (wenn die Zeit zwischen Ausgangs- und Zielentität lang genug ist) eine Verbindung zu früheren Stadien nicht mehr erkennen lassen. 140 Auf der Wortebene ist das in vielen Fällen mit einem Verblassen der spezifischen Merkmale der Wörter zu begründen, z. B. in den Fällen, in denen man keine semantische Kontiguität (mehr) erkennen kann (zu finden bei Verben wie lesen oder bei Adjektiven wie blöd). Solche Kontinuitätskrisen im Verlauf sprachhistorischer Entwicklungen haben „häufig auch zu einer Unterbrechung der Kontinuität und einem Identitätszerfall von Sprachvarietäten geführt“ 141 , wobei sprachliche Identität m. E. problemlos mit dem Begriff der linguistischen Ähnlichkeit oder mit der „Verwandtschaft bzw. [der] Kontinuität von zeitlich aufeinanderfolgenden Ausformungen von Sprachvarietäten“ 142 gleichgesetzt werden darf. 143 Wenn man sich nun also fragt, was Wandel in der Sprache ist, muss man m. E. drei Elemente in die Betrachtung zwingend mit einschließen. Erstens: Es muss eine bestimmte, aber nicht zwingend näher spezifizierte zeitliche Komponente geben, also einen zeitlichen Rahmen für den sprachlichen Wandel. Zweitens: Es müssen in das Konzept von Sprache sprachliche Elemente oder Konstituenten gedacht werden, die entfernt oder hinzugefügt werden können (insbesondere im Bereich der Morphologie und Phonetik). Drittens: Man muss zudem die Existenz von Merkmalen oder Eigenschaften dieser sprachlichen Elemente annehmen (z. B. die Parameter einer Gebrauchsregel bei Verben, wie sie in Kapitel 3 dieser Arbeit definiert werden). Diese Eigenschaften spielen insbesondere für die Verbsemantik eine wichtige Rolle, das wird sich weiter unten zeigen. 139 Vgl. hierzu Kapitel 3 in dieser Arbeit 140 Dem Verfasser ist die Problematik der Begriffe Ausgangs- und Zielentität klar. Natürlich ist weder der gegenwärtige Zustand der Sprache ein Zielzustand noch lässt sich ein klarer Ausgangszustand im Sinne einer Stunde Null in der Sprache identifizieren. Diese Terminologie dient an dieser Stelle einzig dem besseren Verständnis. 141 M ATTHEIER 1998: 825 142 M ATTHEIER 1998: 825 143 Vgl. zur Frage der Entwicklungsformen von sprachlichen Kontinuitätskrisen bzw. Kontinuitätsbrüchen M ATTHEIER 1998: 825 83 HELMUT L ÜDTKE hat eine entsprechende Definition von Wandel in Bezug auf Sprache vorgeschlagen, die m. E. sehr treffend ist, da sie diese drei Ebenen einschließt: Der Begriff Wandel impliziert ein Zeitintervall t 0 -t 1 sowie entweder die Substitution von Elementen durch andere [A (t0) B (t1) ] oder die Veränderung von Eigenschaften von Elementen [X (A) t0 Y (A) t1 ] im betreffenden Zeitintervall. 144 H ERMANN P AUL erkennt schon früh mit Blick auf die Wortebene auch den Ort des Wandels und siedelt ihn in der gewöhnlichen Sprechertätigkeit an: „Die Möglichkeit, wir müssen sagen, die Notwendigkeit des [Sprachwandels, S. B.] hat ihren Grund darin, dass die [Beschaffenheit, S. B.], welche ein Wort bei der jedesmaligen Verwendung hat, sich nicht mit derjenigen zu decken braucht, die ihm an und für sich dem Usus nach zukommt.“ 145 P AUL bezieht sich zwar mit seiner Betrachtung ursprünglich allein auf den Bedeutungswandel, m. E. ist seine Aussage aber auch auf andere Wandelphänomene im Bereich der Sprache adaptierbar. So sagt P AUL lediglich, dass es einen Gebrauch der Wörter gibt, der konventionell geregelt ist (das ist sein usueller Gebrauch) und dass die tatsächliche Verwendung der Wörter bisweilen davon abweichen kann (in der jedesmaligen Verwendung). Diese Erkenntnis ist zwar - wie wir sehen - nicht neu, dennoch spielt lange Zeit der Sprecher und dessen intentionales Handeln für die Erklärung von Sprachwandel keine Rolle. Erst in neuerer Zeit hat man sich mit der Rolle des Sprechers für den Sprachwandel intensiver auseinander gesetzt. R UDI K ELLER schreibt: „Die Sprecher einer Sprache können im Allgemeinen den Sprachwandel nicht willentlich beeinflussen; sie können ihn weder anhalten noch beschleunigen.“ 146 Dennoch sind es eben diese Sprecher, die durch ihre zweckrationalen Entscheidungen dazu beitragen, dass sich Sprache ändert. Würde man anders argumentieren, würde man den Fehler der Hypostasierung von Sprache begehen. Stattdessen muss man wohl konstatieren, dass Sprachwandel „ein unbeabsichtigter Nebeneffekt unseres alltäglichen Kommunizierens“ 147 ist, also dass Sprecher ihre Sprache weder willentlich noch wissentlich verändern, dies aber ungeachtet dessen dennoch über 144 L ÜDTKE 1984: 731f. L ÜDTKE entwirft diese Definition zwar für den Bereich der Phonologie, ich halte sie aber für Sprachwandel im Allgemeinen und für Bedeutungswandel im Speziellen ebenfalls für passend (vgl. Klein 1997 und Harm 2000). Für Bedeutungswandel lassen sich die L ÜDTKE schen Elemente problemlos als Lexeme und die Eigenschaften als deren Gebrauchsregeln identifizieren. 145 P AUL 1880/ 1920: 75. Ich habe hier den Begriff des Bedeutungswandels durch den allgemeineren Begriff des Sprachwandels ausgetauscht und gehe davon aus, die Aussage P AUL s nicht wesentlich dadurch berührt zu haben. 146 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 8 147 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 13 84 den Sprachgebrauch tun. Wenn man Sprache als eine Art Netz sich überlagernder Konventionen begreift, dann bedingt diese kommunikative Dynamik logischerweise auch Wandel. Die innere Heterogenität in der Sprache ist letztlich die Möglichkeit dafür, dass Sprachwandel überhaupt erst stattfinden kann. Somit ist Wandel eine notwendige Folge des Gebrauchs; individuelle Wahlhandlungen der Sprecher können Makrostrukturen bilden, die sich im Sprachwandel manifestieren können. Dies setzt allerdings einen Sprachbegriff voraus, der dem Sprecher diese Kraft zuschreibt und zugleich erkennt, dass Sprache nicht allein ein menschliches Artefakt ist, das nach den Regeln eines Artefaktes erschaffen und verändert werden kann. Zudem darf Sprache in dieser Denkweise auch nicht als Naturphänomen gedacht sein, das ohne den Sprecher quasi aus sich selbst heraus entstanden ist und existiert. Wie so oft im Leben liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Wo genau, das hat R UDI K ELLER in den 1990er Jahren herausgefunden und im Zuge seiner erklärungsadäquaten und in der Forschung akzeptierten invisible-hand-Theorie nachgewiesen. 148 Es handelt sich dabei nicht so sehr um eine Erklärung einzelsprachlicher Sprachentwicklung, als vielmehr um eine übereinzelsprachliche Sprachwandeltheorie. 2.2.1 R UDI K ELLER s „invisible-hand“-Theorie Man findet immer wieder in der Literatur den Hinweis, Sprache müsse in ihrer Existenz und ihrer Entstehung auf zwei unterschiedliche Seinswesen rückgebunden werden: „die Sprache als physikalisch-biologisches bzw. als Naturphänomen und die Sprache als historisch gewordenes kulturelles Artefakt“ 149 . Man kann annehmen, dass es gewisse Bereiche natürlicher Sprachen gibt, die in der Tat rein biologisch determiniert sind. Dazu gehört etwa die Möglichkeit der Lautbildung durch einen spezifischen anatomischen Bau des menschlichen Kehlkopfes. Und es gibt Bereiche, die kulturell bedingt sind. Diese Bereiche sind, wenn man sie als Artefakte versteht, etwa die Regeln der deutschen Rechtschreibung oder Neologismen. Eine solche Einschätzung, dass Sprache diesen beiden Bereichen entspringt, ist aber sehr unpräzise, denn man neigt dazu, ein sprachliches Phänomen entweder als Naturphänomen oder als Artefakt zu begreifen. 148 Vgl. dazu die Vielzahl von Arbeiten R UDI K ELLER s, z. B. K ELLER 2003. Den Nachweis der Erklärungsadäquatheit seiner invisible-hand-Theorie liefert K ELLER 1991 in seiner Schrift zur Erklärungsadäquatheit in Sprachtheorie und Sprachgeschichtsschreibung: „Ich glaube, daß es einen Erklärungsmodus gibt, der im strengeren Sinne erklärend ist [...] und der Kulturphänomenen wie natürlichen Sprachen angemessen ist. Es handelt sich um sogenannte Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand“ (K ELLER 1991b: 129). 149 M ATTHEIER 1998: 827 85 Eine solche Sichtweise stößt rasch an ihre Grenzen, denn eine derartige Dichotomie führt zu falschen Befunden im Bezug auf Sprachwandel. Begreift man Sprache entweder als Naturphänomen, dann ist ihr Wandel vom Willen des einzelnen gänzlich unabhängig; stuft man Sprache als Artefakt ein, dann sind alle sprachlichen Veränderungen Ergebnisse menschlicher Handlung. K ELLER räumt mit diesem Missverständnis und dem daraus entstehenden Dilemma auf, das den Forschern lange Zeit auf der Suche nach einem Erklärungsmodell sprachlichen Wandels im Wege gestanden hat und erkennt, dass Sprache weder als rein natürlich noch als rein künstlich einzustufen ist. Für ihn ist Sprache (in Adaption der klassischen Formulierung von A DAM F ERGUSON ) zwar ein Ergebnis menschlichen Handelns aber nicht das Ergebnis menschlicher Planung. Sprache ist somit als nicht-intendierter Effekt intentionalen Handelns weder Naturphänomen noch Artefakt, sondern eine spontane Ordnung, ein Kode der dritten Art: „Kodes der dritten Art sind solche, die Ergebnisse menschlichen Handelns sind, nicht aber willentlich (und meist auch nicht wissentlich) von Menschen geschaffen wurden“ 150 . Solche spontanen Ordnungen 151 [...] haben mit Naturphänomenen gemein, daß sie keine willentlichen Schöpfungen des Menschen sind, und unterscheiden sich von den Naturphänomenen dadurch, daß sie aufgrund menschlicher Handlungen entstehen. Mit den Artefakten haben sie gemein, daß sie Produkte des Menschen sind, und sie unterscheiden sich von den Artefakten dadurch, daß sie nicht die Realisierung eines präexistenten Plans sind. Sie sind weder natürlich noch künstlich, sondern von der dritten Art 152 . Als solche sind sie „Teilmenge der spontanen Ordnungen, eben die durch menschliche Handlungen erzeugten spontanen Ordnungen“ 153 . Spontane Ordnungen finden sich nicht nur im Bereich der Sprache wieder. Alle Phänomene, die unintendiert aus den Einzelhandlungen von Individuen entstehen und sich strukturell manifestieren, lassen sich entsprechend subsumieren. Dabei sind die Erklärungen für den Wandel andere, als man sie für Naturphänomene oder Artefakte anlegen würde. Die folgende Übersicht zeigt, wie sich Phänomene der dritten Art verorten lassen: 150 K ELLER / L ÜDTKE 1996: 417 151 Der Begriff der spontanen Ordnung geht im Prinzip zurück auf den Ökonomen F RIEDRICH H AYEK . 152 K ELLER / L ÜDTKE 1996: 419 153 K ELLER / L ÜDTKE 1996: 419 86 Abb. 1: Phänomene der dritten Art (in Anlehnung an Keller 1996: 430) Die Eingruppierung der Sprache als eine spontane Ordnung ist von entscheidender Bedeutung, wenn man Sprachwandel erklären möchte, denn die Prinzipien, die der Genese einer spontanen Ordnung zugrunde liegen sind dieselben, die auch den Wandel bestimmen. Dabei muss man zunächst zwischen zwei Ebenen unterscheiden: der Ebene des Sprechers und der Ebene der Sprache. Während das eine die Ausgangsbasis für sprachlichen Wandel darstellt und somit als die intentionale Mikroebene bezeichnet werden kann, manifestiert sich auf der anderen Ebene als makrostruktureller Effekt der Wandel selbst. Entsprechend ist die Ebene der Sprache als Makroebene zu bezeichnen. Sprachliche Veränderungen lassen sich auf dieser Ebene erkennen und mit einem Blick auf die Vorgänge auf der Mikroebene erklären. Über einen kumulativen Ordnungsprozess, in dem gewisse Kräfte auf die Elemente der Mikroebene einwirken (im Fall der Sprache sind diese Kräfte z. B. sprachliche Handlungsmaximen), entstehen spontane Ordnungen auf der Makroebene als makrostrukturelle Effekte. 154 Diese Wechselbeziehung zwischen mikrostrukturellen Wirkungszusammenhängen und makrostrukturellen Effekten im Zuge eines Kumulationsprozesses kann folgendermaßen dargestellt werden: Abb. 2: Kumulationsprozess (nach K ELLER 1996: 420) 154 Vgl. K ELLER 1996: 420 87 Die Kräfte, die auf der Ebene der Sprache für die Herausbildung einer bestimmten Makrostruktur verantwortlich sind, sind allgemeine Kommunikationsmaximen. Sprachliche Veränderungen sind also nicht auf intentionale Einzelhandlungen der Sprecher zurückzuführen, sondern vielmehr eine „kausale Konsequenz einer Vielzahl von intentionalen Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Interessen dienen“ 155 . M ATTHEIER schreibt: Diese gemeinsamen Interessen [...] identifiziert Keller als Kommunikationsmaximen. Derartige Kommunikationsmaximen sind [...] dafür verantwortlich, daß die Ergebnisse von Sprachwandelprozessen sich nicht immer unmittelbar aus Veränderungsentwicklungen im Kommunikationsbedarf bzw. der umgebenden Gesellschaft ergeben. 156 Kommunikationsmaximen sind also so verstanden zum einen für eine „Homogenität bei heterogener Ausgangslage“ 157 und zum anderen für „Stase bei homogener Ausgangslage“ 158 verantwortlich, indem die Maxime „aus einer Zufallsverteilung eine Struktur homogener Gebiete erzeugt“ 159 , welche, „wenn die homogene Struktur vorhanden ist, [...] auch stabil bleibt“ 160 . Die dahinter versteckte Handlungsmaxime (auch Humboldt-Maxime genannt) lautet sinngemäß: Rede so, wie du glaubst, dass auch dein Gegenüber reden würde, wenn er oder sie an deiner Stelle wäre. Dies ist die „fundamentalste Maxime unseres Kommunizierens“ 161 , denn sie ist die kommunikative Strategie, verstanden zu werden. Als Hypermaxime menschlicher Kommunikation ist sie aber noch in weitere Untermaximen aufzufächern: Normalerweise wählen wir unsere sprachlichen Mittel nicht nur nach genau einer Maxime. Wir versuchen beim Reden, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Anpassen, Auffallen, Verstanden werden, Energie sparen. Daß jemand nichts anderes will, als nur verstanden werden, dürfte ausgesprochen selten sein. 162 So gibt es also mehrere Triebfedern, die auf der Mikroebene als Kräfte wirken und über dieses Wirken sprachliche Veränderungen bei gleichzeitiger Stabilisierung der Makrostruktur hervorbringen können. Was sich also zeigt, ist, dass Sprache als spontane Ordnung sowohl in der Genese als auch im Wandel eine kausale (also ursächliche) Folge fina- 155 K ELLER 2003: 93 156 M ATTHEIER 1998: 832 157 K ELLER 2003: 137 158 K ELLER 2003: 137 159 K ELLER 2003: 139 160 K ELLER 2003: 139 161 K ELLER 2009: 15 162 K ELLER 2003: 140 88 ler (also zielgerichteter) Einzelhandlungen der Sprecher ist. Diese Einzelhandlungen folgen bestimmten Kommunikationsmaximen und erzeugen so über einen Kumulationsprozess makrostrukturelle Phänomene auf der Ebene der Sprache. Eine Erklärung von sprachlichem Wandel, die diese Ebenen und Prozesse mit einschließt, ist die invisible-hand-Erklärung R UDI K ELLER s, die im Kern auf die schottische Moralphilosophie und Volksökonomen A DAM S MITH , sowie auf die Tradition des methodologischen Individualismus zurückgeht. 163 Eine solche Erklärung ist eine Rekonstruktion von den Motiven der individuellen Handlungsweisen und den (handlungs)ökologischen Rahmenbedingungen hin zur Strukturbeschreibung (also zur Beschreibung des Explanandums) über einen kumulativen Prozess der Genese eben dieser Struktur. Oder anders ausgedrückt: Das Explanandum ist als Makrostruktur eine kausale Konsequenz eines invisible-hand-Prozesses, also das unreflektierte Resultat der finalen Handlungen einzelner und vieler, die im invisible-hand-Prozess kumulieren. Im Gegensatz zu Naturphänomenen und Artefakten, für die entweder eine kausale oder eine finale Erklärung greift, ist für eine spontane Ordnung (oder ein Phänomen der dritten Art) nur eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand angemessen, da diese in der Lage ist, kausale und finale Elemente zu vereinen: „Erklärungen von Kodewandel im allgemeinen und Sprachwandel im besonderen können weder rein kausal noch rein final sein, wenn das Explanandum ein Phänomen der dritten Art ist“ 164 . Eine solche Erklärung mittels der unsichtbaren Hand ist auch im strengen Sinne eine Erklärung, weil sie zum einen Antezedenzbedingungen enthält (das sind handlungsökologische Rahmenbedingungen und Kommunikationsmaximen) und weil sie zum anderen einen allgemeinen Prozess oder eine allgemeine Gesetzmäßigkeit einschließt (das ist der kumulative invisible-hand-Prozess), aus dem sich das Explanandum als notwendige Folge (als kausaler Effekt um genauer zu sein) ergibt und weil dieser auch zwingend auf das funktionale Handeln zurückgeführt werden kann. Ein invisible-hand-Prozess und die Elemente, die daran beteiligt sind und die kausal daraus hervorgehen, lassen sich wie folgt darstellen: 163 „,Methodologischen Individualismus’ nennt man die erkenntnistheoretische Position, welche besagt, daß kollektive Phänomene (wie Recht, Staat, Sprache, Sitte, Geschmack, Mode, usw.) in einer Theorie mit explanativem Anspruch nicht als ,gegeben’ hingenommen werden dürfen, sondern zurückzuführen sind auf Entscheidungen und Handlungen der sie erzeugenden Individuen“ (K ELLER 1996: 423). 164 K ELLER 1996: 423 89 Abb. 3: Invisible-hand-Prozess (nach K ELLER 1996: 423) Sprachliche Veränderungen entstehen also dadurch, dass Sprecher auf der Mikroebene sprachliche Elemente (z. B. Wörter) in ungewohnter Weise verwenden, damit bisweilen gegen die Maxime der Verständlichkeit verstoßen, aber über Reproduktionsprozesse beim Hörer einen innovativen Wortgebrauch etablieren. Dies gelingt nicht, indem ein einzelner ein Wort in abweichender Weise verwendet, sondern nur dann, wenn - eine Äquivalenz der Handlungsmaximen vorausgesetzt - eine Vielzahl von Sprachbenutzern diese Abweichung über einen kumulativen invisiblehand-Prozess in die Makrostruktur Sprache überführt. Da der einzelne nicht beabsichtigt hat und sich vermutlich auch dessen nicht bewusst ist, dass er durch sein sprachliches intentionales Handeln die Veränderung auf der Makroebene bewirkt, dies de facto aber getan hat, greift die Erklärung mittels der unsichtbaren Hand. Die Etablierung von sprachlichen Neuerungen (oder Änderungen, die Möglichkeiten des Wandels sind vielschichtig) folgt einem evolutionären Prozess: Zunächst treten zufällige Neuerungen auf (Mutation), dann entwickeln sich daraus eigenständige Varianten (Variation), die sich aufgrund von Umweltbedingungen entweder durchsetzen können oder nicht (Selektion). Diese Selektion erfolgt wieder als invisible-hand-Prozess, nämlich durch den unreflektierten aber finalen Sprachgebrauch der Sprachgemeinschaft. Die Durchsetzung selbst ist der Effekt der Wahlhandlungen der Sprecher und als solcher kausal. Dass sich eine solche invisible-hand-Theorie, wie ich sie gerade in den Grundzügen dargestellt habe, in besonderer Weise dazu eignet, Sprachwandel und insbesondere semantischen Wandel zu erklären, erkennt u. a. G ERD F RITZ wenn er schreibt: „Genau auf diese Art [als invisible-hand- Prozess, S. B.] verläuft zumeist die Verbreitung von semantischen Neuerungen: als nicht-intendiertes Nebenprodukt alltäglicher kommunikativer Geschäfte“ 165 . Damit dürfte sich die invisible-hand-Theorie in besonderem 165 F RITZ 1998: 870 90 Maße als „allgemeiner theoretischer Rahmen für Verbreitungsstudien, in denen sich Network- und Medienverbreitungskonzepte einbinden lassen, [...] eignen“ 166 . 2.2.2 Überlegungen zum Bedeutungswandel im Speziellen Wenn wir einen instrumentalistischen Bedeutungsbegriff nun mit einem adäquaten Erklärungsmodell für Sprachwandel, wie es die invisible-hand- Theorie ist, kombinieren, erhalten wir eine Möglichkeit semantischen Wandel hinreichend erklären zu können. Bedeutungswandel manifestiert sich als Spezialfall des Sprachwandels auf der Wortebene und folgt ganz bestimmten Regeln. Wenn man davon ausgeht, dass die Bedeutung eines Wortes seine Verwendungskonvention ist, dann ist semantischer Wandel in eben dieser Konventionsveränderung zu begründen. Die Gebrauchsregel eines Wortes ändert sich dadurch, dass ein Sprecher einen zunächst okkasionellen Sinn so häufig generiert, dass in der Sprachgemeinschaft mit der Zeit ein Umlernen erfolgt, und sich der abweichende Wortgebrauch in einer Neuverregelung manifestiert. Da Gebrauchsregeln allein durch kommunikativen Einsatz erworben werden, ist auch eine Veränderung über diesen Weg problemlos möglich und findet auch auf dieser Ebene des Wortgebrauchs statt. So verstanden entsteht semantischer Wandel im Gegensatz zu etwa morphologischem Wandel nicht durch eine Regelverletzung, die dann neue Regeln konstituiert, sondern durch eine regelkonforme Spezialverwendung. 167 Dabei verlässt das Wort oftmals die Sphäre seines ursprünglichen Gebrauchs und differenziert sich in bestimmter Weise aus. Streng genommen ist damit die abweichende Verwendung eines Wortes semantisch nicht falsch, sondern lediglich anders. „Bedeutungswandel [...] beginnt typischerweise nicht als ,Fehler’“ 168 , schreibt R UDI K ELLER und er begründet dies wie folgt: „Das hat seinen Grund darin, dass die Verwendung eines Wortes jenseits seiner Gebrauchsregel mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Missverständnissen oder Unverständnis führen würde“ 169 . Daher werden Wörter im Zuge des Bedeutungswandels sehr häufig z. B. metaphorisch verwendet: Der Hörer kann dann den neuen Sinn der Äußerung aus der semantischen Ähnlichkeit reproduzieren. Bei frequenter Verwendung (das ist der Kumulationsprozess) wird der neue Sinn einer Äußerung zu einer neuen Gebrauchsregel verregelt und nimmt damit selbst Bedeutung an. Wenn diese neue Bedeutung Einzug in die Sprache gehalten hat, ist der invisible-hand-Prozess (zunächst) abgeschlossen. Bedeutungswandel 166 F RITZ 1998: 870. Vgl. auch F RITZ 1998: 866 167 Vgl. K ELLER 2006c: 348 168 K ELLER 2006c: 347 169 K ELLER 2006c: 347 91 zu erklären heißt also: „Wir müssen herausfinden, was es am aktualen Gebrauch der an diesem Prozess beteiligten Sprecher war, das auf lange Sicht zur Veränderung der Gebrauchsregel führte“ 170 . Und ich möchte noch einen Schritt weiter gehen und fragen: Was ist es, das sich innerhalb einer Gebrauchsregel verändert, wenn Sprecher zweckrational den Gebrauch verändern? Will sagen: Wie ist es möglich, dass sich eine Gebrauchsregel verändert und in welchen Bahnen ist dies überhaupt möglich? Es wird sich nämlich für das Verbum zeigen, dass eine Veränderung der Gebrauchsregel nicht willkürlich erfolgen kann und dass bestimmte Elemente (Parameter) einer Gebrauchsregel in entscheidendem Maße den semantischen Wandel ermöglichen und bestimmen können. Sehr allgemein kann man ein Grundprinzip oder einen Verlauf annehmen, nach welchem semantischer Wandel i. d. R. abläuft. Häufig gibt es zunächst eine eins-zu-eins-Zuordnung zwischen Zeichenkörper und Bedeutung, die sich im Rahmen des Bedeutungswandels ausdifferenziert. Neben die monosemische Grundbedeutung tritt durch z. B. innovativen Wortgebrauch eine zweite (Neben)Bedeutung, es entsteht also Polysemie. Im Zuge des weiter oben beschriebenen Selektionsprozesses wird oftmals eine der beiden Bedeutungen verschwinden und es wird sich die andere durchsetzen. Diese Entwicklung ist der Maxime der Verständlichkeit geschuldet; wenn zwei polyseme Begriffe existieren, ist die Gefahr hoch, dass man als Sprecher missverstanden wird. Dies ist insbesondere dann eine Gefahr, wenn man die Wörter im gleichen Kontext verwenden kann. Diese Prozesse des semantischen Wandels lassen sich wie folgt darstellen: Abb. 4: Bedeutungswandel (nach J OB / J OB 1997: 256) In Kapitel 8 wird darüber hinaus deutlich, dass Wandel nicht als eine rein lineare Entwicklung von einer Ausgangszu einer Zielbedeutung verlaufen muss, sondern dass auch zirkuläre Entwicklungen möglich sind. Deutlich wird dies für den Wandel vom Konkreten zum Abstrakten, der allgemein als das Prinzip des Bedeutungswandels schlechthin deklariert und in den Stand einer Regularität erhoben wird. So kann ein konkretes 170 K ELLER 2006c: 344 92 Verb mit einer konkreten Bedeutung B k durchaus zunächst eine abstrakte Bedeutung B a annehmen, aber im Zuge der weiteren Entwicklung ist es möglich, dass sich die Bedeutung B a zu einer Bedeutung B k ausdifferenziert, die wieder auf der Ebene des Konkreten angesiedelt ist. 171 Eine Entwicklung vom Abstrakten zum Konkreten ist ebenfalls möglich. 2.3 Fazit Wir können festhalten, dass für den semantischen Wandel zwei Aspekte eine wesentliche Rolle spielen: Zum einen benötigt man einen passenden Bedeutungsbegriff und zum anderen eine plausible Theorie sprachlichen Wandels. Beides habe ich in diesem Kapitel skizziert, so dass sich an dieser Stelle ein klares Bild ergibt: Wenn man Bedeutungswandel erklären möchte, muss man davon ausgehen, dass Bedeutung als die Konvention des Gebrauchs einzuordnen ist, man also einen instrumentalistischen Bedeutungsansatz wählen muss, um Bedeutungswandel erklären zu können. Mit Blick auf die spezielle Verbsemantik ist deutlich geworden, dass ein repräsentationistischer Bedeutungsbegriff nicht greift. Dies liegt in erster Linie an der Randbereichsunschärfe der meisten Verben. Ein gebrauchstheoretischer Bedeutungsbegriff ist daher im Grundsatz deutlich besser geeignet. Über die Gebrauchsregel eines Wortes ergibt sich dessen Bedeutung. Veränderungen dieser Gebrauchsregel bedeuten somit eine Veränderung der Wortbedeutung. Wir haben es somit mit einer engen Kopplung von sprachlichem Mittel und intentionalem Zweck des Wortgebrauchs zu tun. So verstanden ist Bedeutungswandel wie folgt definierbar: Ein Verb X1 mit der lexikalischen Bedeutung B1, das zum Artikulationszeitpunkt T1 zum kommunikativen Zweck Z1 verwendet wird, wandelt sich (unter weitgehender grammatischer und morphologischer Konstanz) semantisch im Zeitraum T1-T2 zum Verb X2, welches zum Artikulationszeitpunkt T2 zum kommunikativen Zweck Z2 benutzt wird. Im Zuge dieser Entwicklung differenziert sich die Ursprungsbedeutung B1 zur Zielbedeutung B2 aus. Auf diese Weise manifestiert sich semantischer Wandel in einem Wandel der Mittel-Zweck-Relation, bisweilen unter vollständigem Verschwinden der ursprünglichen Bedeutungsvariante. Entscheidend an diesem ge- 171 Hier müsste man die Abbildung von J OB / J OB entsprechend anders ausgestalten, indem man B1 und B2 mit Bk und Ba kennzeichnet. Dieser Befund betrifft aber nicht die eigentliche (lexikalische) Bedeutung, sondern die Sphäre der Bedeutung. 93 danklichen Konstrukt ist, dass die Bedeutung des Verbs immer und zwingend unmittelbar an den intentionalen Zweck gekoppelt ist, wenn man für die grundlegende Frage, was die Bedeutung eines Wortes überhaupt ist, eine instrumentalistische Auffassung vertritt. Mit Hilfe der invisible-hand-Theorie als pragmatisches Erklärungsmodell für Sprachwandel lässt sich der Bedeutungswandel als kausaler und kumulativer Effekt intentionaler und finaler sprachlicher Handlungen begreifen. Sprecher verwenden ein Wort in ungewohnter Weise und erzeugen darüber im Kollektiv eine neue Gebrauchsregel. Der invisiblehand-Prozess schafft dabei auf der Makroebene der Sprache eine Ordnung als Quasi-Koordination, also als eine Koordination ohne Koordinator: „Die Sprecher beabsichtigen nicht die Bedeutung zu ändern. Sie befleißigen sich lediglich eines etwas anderen Sprachgebrauchs“ 172 und eben dieser Gebrauch eines Wortes ist bzw. wird zu dessen Bedeutung. Beim Bedeutungswandel spielen somit drei wichtige Faktoren eine Rolle: 1. die Intention des Sprechers, 2. die kognitive und sprachliche Umsetzung in der Artikulationssituation (beides spielt sich auf der Mikroebene ab) und 3. die sprachlichen Folgen auf der Makroebene des Sprachsystems (z. B. Polysemie). Den Zusammenhang zwischen den zeitlichen Komponenten, den sozialen Wirkungen und dem damit verbundenen Resultat kann man wie folgt festschreiben: Zukunft ist nie eine lineare Fortschreibung von Gegenwart, zugleich ist aber Gegenwärtiges immer als Gewordenes aus etwas Gewesenem zu begreifen und ist somit Resultat einer progressiven oder regressiven Entwicklung, also eines Wandels. Wandel ist somit nicht streng prognostizierbar, wohl aber erklärbar, systematisierbar und erlaubt in vielen Fällen die Vorhersage von Trends, falls er bestimmten Regelmäßigkeiten folgt. Wenn wir also davon ausgehen, dass eine zweckrationale aber unintendierte Veränderung der Gebrauchsregel im Zuge eines invisible-hand- Prozesses genau das ist, was man makrostrukturell als Bedeutungswandel bezeichnet, muss für ein tieferes Verständnis der Prozesse beim Bedeutungswandel die Beschaffenheit der Gebrauchsregel stärker unter die Lupe genommen werden. Dieser Ansatz stellt eine sprachwissenschaftliche Neuerung dar und ich werde im folgenden Kapitel versuchen, hier Licht ins Dunkel zu bringen. 172 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 13 95 3. Zur Konstitution der Gebrauchsregel bei Verben Wenn wir die bisherigen Befunde akzeptieren, stellt sich die Frage: Wie kann ein Wort die sprachlichen Absichten der Sprecher repräsentieren? Eine plausible Antwort auf diese Frage könnte lauten: Indem das Wort absichtsvoll verwendet wird und sich daraus über einen invisible-hand-Prozess konventionelle Regeln für den Wortgebrauch entwickeln, repräsentiert es die Absicht des Sprechers. M. E. wäre eine solche Erklärung zwar zutreffend, aber allein noch nicht präzise genug. Sie sagt noch nichts darüber aus, wie eine Regel des Gebrauchs überhaupt konstruiert ist bzw. welche kommunikativen Bestandteile die Gebrauchsregel eines Wortes kennzeichnen oder beherrschen. Metaphorisch gefragt: Wie ist die Bedeutung eines Wortes aufgebaut? Was „steckt“ in einer Gebrauchsregel, damit sie zweckrational den Absichten der Sprecher folgt und sich dazu eignet, über sie intentional kommunizieren zu können? In den Schriften W ITTGENSTEIN s wird man auf der Suche nach einer Antwort auf diese speziellen Fragen nicht fündig und auch die linguistische Forschung hat sich bislang noch nicht sehr eingehend mit der Beschaffenheit einer Gebrauchsregel auseinander gesetzt, wenngleich Ansätze vorhanden sind. Um diese Frage nach der semantischen Struktur einer Gebrauchsregel mit einem handlungstheoretischen Seitenblick überzeugend beantworten zu können, wird es im Folgenden notwendig sein, die Regel des Gebrauchs zu sezieren und in ihrer Struktur zu analysieren. Es steht dabei wohl außer Frage, dass es deutliche Unterschiede bezüglich der Art einer Gebrauchsregel gibt. So kann eine Gebrauchsregel höchst unterschiedliche Merkmale oder Parameter involvieren, starre Objekteigenschaften sind nur eine Möglichkeit von vielen und selten kommen einzelne Parameter isoliert vor. Häufiger ist wohl für Gebrauchsregeln ein mehr oder weniger an spezifischer Konnotation anzunehmen. Diese Erkenntnis ist alles andere als neu. R ICHARD M ERVYN H ARE hat bereits 1963 vergleichbar argumentiert: „Einer der häufigsten philosophischen [und linguistischen, S. B.] Fehler [...] besteht in der Annahme, daß alle bedeutungsbestimmenden Regeln von der gleichen Art sein müssen, d.h. daß alle Ausdrücke ihre Bedeutung auf die gleiche Weise erhalten“ 173 . So wenig innovativ also aus heutiger Sicht die Annahme der Existenz von semantischen Merkmalen einer Gebrauchsregel ist, so erstaunlich ist es doch, dass man 173 H ARE 1963/ 73: 22 96 an keiner Stelle in der linguistischen Forschung bislang diese Merkmale (verstanden als spezifische Parameter der Gebrauchsregel) ausreichend präzise bestimmt und kategorisiert hat. Sehen wir uns daher im Weiteren an, welche Parameter in die Gebrauchsregel von Verben eingebunden sein können und welchen Stellenwert man diesen Parametern für die Bedeutungskonstitution und für den Bedeutungswandel zuschreiben muss. Ich möchte an dieser Stelle zwei grundlegende Thesen formulieren und im Nachfolgenden den Beweis für ihre Angemessenheit führen: 1. Außersprachliche Parameter bestimmen im Wesentlichen die kommunikative Funktion einer Gebrauchsregel und damit die Bedeutung eines Wortes. 2. Verben erfahren eine semantische und pragmatische, also kommunikative Nutzungserweiterung durch die Einbindung von außersprachlichen Parametern in die Gebrauchsregel. 3.1 Parameter der Gebrauchsregel Die Regel des Gebrauchs eines Wortes ist seine Bedeutung. Zu wissen, wie man ein Wort in welchen Situationen gebrauchen kann, heißt zu wissen, was ein Wort bedeutet. Insofern kann man die Bedeutung eines Wortes nicht verstehen, man kann sie nur kennen oder eben nicht: „Eine regel kann man nicht verstehen, (man kann verstehen, was mit den sätzen gemeint ist, durch die diese regel formuliert ist, aber das ist etwas anderes) sondern kennen, d. h. wissen, wie man nach ihr handelt, sie befolgt“ 174 . Dadurch, dass der Sprecher die Regel des Gebrauchs kennt, kann er das Wort für seine kommunikativen Zwecke nutzen und dadurch, dass der Hörer dieselben Regeln kennt, kann er das Wort in seiner Bedeutung erfassen und über den sprachlichen Kontext und über die Kenntnis der Wortbedeutung den Sinn der komplexen Äußerung verstehen. Dies ist der Tenor einer Gebrauchstheorie der Bedeutung in der pragmatischen Erweiterung um die Dimensionen Sprecher und Hörer. Die Gebrauchsregel also gibt an, wofür man ein Wort verwenden kann und wofür nicht. Gebrauchsregeln haben darüber hinaus den Vorteil, dass sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt angeben können, wie ein Wort gebraucht wird, so dass wir über alle zeitlichen Stationen hinweg (also diachron) eine spezifische Wortbedeutung vorfinden. Dies ist für eine Untersuchung des Bedeutungswandels von entscheidender Wichtigkeit. 174 K ELLER 1975: 51 97 3.1.1 Allgemeiner Kommunikationsbegriff In vielen Situationen der menschlichen Kommunikation ist es nun nicht zwingend geboten oder gar ausreichend, auf Sachverhalte, Gegenstände oder Zustände zu referieren, im Gegenteil: Deskriptive Ausdrücke dürften wohl seltener sein als Ausdrücke, die andere Zwecke verfolgen. Welche Zwecke können das sein und was hat diese Feststellung für eine Auswirkung auf die Ausgestaltung von Gebrauchsregeln? Man muss wohl grundsätzlich davon ausgehen, dass Kommunikation im Allgemeinen nicht zur Lösung eines Transportproblems dient, also nicht allein dazu geschaffen ist, eine Nachricht über die reale Beschaffenheit der Welt vom Sender zum Empfänger zu transportieren, sondern dass Kommunikation in erster Linie ein Mittel der Beeinflussung ist: 175 „Kommunizieren heißt [...], den anderen etwas wahrnehmen zu lassen, woraus er zusammen mit seinem übrigen Wissen [...] erkennen kann, wozu man ihn bringen möchte“ 176 . Kommunikation hat demnach das Ziel, „dem anderen einen Hinweis zu geben, um bei ihm einen Prozeß in Gang zu setzen (den des Interpretierens), der zum Ziel hat, das gewünschte Beeinflussungsziel herauszufinden, das heißt, die Handlung zu verstehen“ 177 . Sprache per se ist „vor allem Mittel der Beeinflussung“ 178 . Kommunizieren ist somit „eine artspezifische Methode [...], den anderen zu etwas Bestimmtem zu bringen“ 179 . Menschliche Sprache ist so verstanden Mittel zum Zweck. Wir können nicht deshalb miteinander kommunizieren weil wir über das Mittel der Sprache verfügen, sondern wir haben eine Sprache, damit wir kommunizieren können. 180 Natürlich „unter den Bedingungen [unserer] genetischen Ausstattung zum Spracherwerb“ 181 . Auf dieser kommunikationstheoretischen Folie zeigt sich, dass die Gebrauchsregel eines Wortes nicht allein Wahrheitswerte involvieren kann, sondern dass weitere Parameter eingebunden sein müssen, die allein (oder besser: primär) einem kommunikativen Zweck dienen. Dass die Gebrauchsregel eines Wortes bisweilen aber auch Wahrheitswerte besitzt, ändert dabei nichts an der grundsätzlichen Unzulänglichkeit einer rein extensional bestimmten Bedeutungstheorie, wie wir in Kapitel 2 erkannt haben. Die Kenntnis von Wahrheitswerten stellt allenfalls einen S p e z i a l f a l l von Gebrauchsbedingungen dar. 182 175 Vgl. K ELLER 2006a und 2006b 176 K ELLER 1995: 105 177 K ELLER 1995: 106 178 K ELLER 2003: 208 179 K ELLER 2003: 208 180 Vgl. K ELLER 2009: 14 181 K ELLER 2009: 14 182 Vgl. K ELLER 1995: 67, R ADTKE 1998: 41 und R ADTKE 1999: 149 98 Viele Verben eignen sich mit Hilfe solcher Parameter der Gebrauchsregel dazu, einen Hörer zu beeinflussen. Beeinflussung kann so verstanden etwa bedeuten, dass mein Gegenüber meine Haltung zu einem Sachverhalt versteht und im besten Fall diese Haltung annimmt oder sein eigenes Verhalten ändert. So kann die Äußerung Sauf doch nicht so viel über die bewusste Verwendung des Verbs saufen zu verstehen geben, dass ich es nicht gut finde, dass mein Gesprächspartner so viel Alkohol trinkt. Ich drücke also über die zweckrationale Wahl des Verbs saufen in diesem Kontext meine eigene Wertung aus und beabsichtige damit, mein Gegenüber dazu zu bringen, dass es weniger trinkt. Dass ich als Sprecher diese Möglichkeit der Verwendung des Verbs saufen habe, liegt daran, dass in die Gebrauchsregel dieses Verbs neben wahrheitsfunktionalen auch evaluative Parameter eingebunden sind und natürlich daran, dass sowohl ich als auch mein Gegenüber die Gebrauchsregel des Verbs saufen kennen. Eine mögliche Formulierung der Gebrauchsregel für das Verb saufen kann also lauten: Verwende dieses Verb im Bezug auf Menschen, wenn sie deiner Meinung nach zu viel Alkohol trinken. 183 3.1.2 Bedeutungsausdifferenzierung mit Hilfe von Parametern der Gebrauchsregel Evaluative Parameter wie in saufen sind neben den wahrheitsfunktionalen nur eine von vielen Möglichkeiten der Einbindung außersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel eines Verbs. Sehen wir uns daher die möglichen Parameter einer Gebrauchsregel, die wir bislang im Vorübergehen an manchen Stellen als diffusen Begriff bereits gestreift haben, genauer an und überprüfen, welche davon speziell in den Gebrauchsbedingungen von Verben wirksam sein können. Das Konzept der Parameter einer Gebrauchsregel folgt prinzipiell einem instrumentalistischen Bedeutungsmodell, das an die Stelle von Repräsentationen Gebrauchsregeln setzt. Die Theorie der Parameter der Gebrauchsregel präzisiert diesen Ansatz und gibt an, welche spezifischen Gebrauchsbedingungen in die Bedeutungsbeschreibung eines Wortes eingehen können. Sie beantwortet in gewisser Weise die Frage nach der 183 Gebrauchsregeln können bisweilen sehr unterschiedlich formuliert werden (vgl. R ADTKE 1998: 46 mit Verweisen auf K ELLER 1974). Der Imperativ ist dabei nur eine von vielen Möglichkeiten. Eine Gebrauchsregel lässt sich häufig nicht in einem einzigen Satz formulieren, da sich viele Wörter auf eine Vielzahl von Situationen anwenden lassen. Je mehr Parameter in die Gebrauchsregel eines Wortes eingebunden sind, desto mehr Formulierungen können notwendig sein. So lässt sich das Verb saufen natürlich auch in seiner nicht-metaphorischen Verwendung auf Tiere beziehen. Dann spielen evaluative Parameter keine Rolle und die wahrheitsfunktionalen Parameter bestimmen die Bedeutung. 99 spezifischen kommunikativen Funktion oder nach der spezifischen Nutzungsmöglichkeit eines Wortes, ist also handlungszentriert. Sie beantwortet zudem die bedeutungstheoretische Frage, die B USSE als eines der Problemfelder für ein Konzept historischer Semantik (als Analyse der sprachlich-kommunikativen Konstitution kollektiven Wirklichkeitsbewusstseins) formuliert: Was ändert sich? und Wie ändert sich, was sich ändert? 184 So plausibel und möglicherweise auch banal dieser Erklärungsansatz über das Konzept der Bedeutungsparameter klingen mag, in der linguistischen Forschung ist eine solche Bedeutungsausdifferenzierung mit Hilfe von Parametern der Gebrauchsregel nicht sehr verbreitet. Dies ist umso erstaunlicher, als m. E. die kommunikative Funktion eines Wortes entscheidend durch die Einbindung von Parametern in die Gebrauchsregel bestimmt wird. Ob ich nämlich das Verb saufen oder trinken verwende, um auf eine Handlung zu referieren, hängt - wie wir gesehen haben - im Wesentlichen nicht von Merkmalen der Welt, sondern von meinen persönlichen Haltungen gegenüber der Handlung ab. Die Gebrauchsregel des Verbs saufen involviert neben wahrheitsfunktionalen vor allem evaluative Bedeutungsanteile und allein durch die Einbindung dieser evaluativen Parameter wird dieses Verb für mich als Sprecher kommunikativ überhaupt nutzbar, wenn ich meine Haltung ausdrücken möchte. R UDI K ELLER macht m. W. als erster auf die prinzipielle Möglichkeit der Inkorporierung von Parametern in die Gebrauchsregel von Wörtern aufmerksam, auch wenn er diesen Begriff zunächst nicht verwendet: „Die Kenntnis der Gebrauchsregel schließt [...] die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen mit ein, aber sie schließt nicht-wahrheitswertrelevante Gebrauchsbedingungen nicht aus“ 185 . Weiter heißt es bei ihm: Die Bedeutung eines Wortes kennen, heißt (gegebenenfalls) nicht nur wissen, welche Bedingungen ein Gegenstand erfüllen muß, damit das Wort geeignet ist, wahrheitsgemäß auf ihn applizierbar zu sein, es heißt auch zu wissen, welche Art ,Winke’, wie Frege so schön sagte, man mit einem Wort geben kann. 186 „Gebrauchsregeln können ganz unterschiedliches Wissen zum Gegenstand haben“ 187 , schreibt P ETRA R ADTKE und sie expliziert dieses „Wissen“ weiterhin in „sprachliche als auch epistemische Kriterien“ 188 , sowie in 184 Vgl. B USSE 1988: 251f. Diese Fragen umfassen Aspekte der Bedeutungskonstitution, der Bedeutungskontinuität und der Bedeutungsveränderung. Ich werde weiter unten darstellen, dass sich diese Aspekte über das Konzept der Bedeutung als Gebrauch- Theorie und insbesondere über außersprachliche Parameter der Gebrauchsregel erklären lassen. 185 K ELLER 1995: 67 186 K ELLER 1995: 67 187 R ADTKE 1998: 46 188 R ADTKE 1998: 46 100 „Kriterien der Kommunikationssituation als auch Kriterien der Welt“ 189 . Die Gebrauchsbedingungen eines Wortes, stellt sie ferner fest, „[...] ergeben sich sowohl aus dem sprachlichen Wissen [...] als auch aus dem außersprachlichen Wissen“ 190 . Das bedeutet in der logischen Übertragung, dass die Parameter der Gebrauchsregel ebenfalls sowohl sprachlich als auch außersprachlich motiviert sein können. 191 3.1.3 Die bekannten Parameter der Gebrauchsregel Anhand der Befunde der frühen K ELLER schen Analyse von Gebrauchsbedingungen entwickelt P ETRA R ADTKE 1998 eine knappe Klassifizierung, die fünf verschiedene Parameter der Gebrauchsregel aus der sprachlichen und vor allem aus der außersprachlichen Sphäre identifiziert. Demzufolge gibt es i. wahrheitsfunktionale Parameter (in einer rein repräsentationistischen Bedeutungstheorie wird dieser Parameter verabsolutiert) ii. epistemische Parameter iii. soziale Parameter 189 R ADTKE 1998: 46 190 R ADTKE 1998: 43 191 D IETRICH B USSE mahnt an, dass man dazu geneigt sein könnte, „aus der Matrix der Prämissen [das sind in erster Linie gesellschaftlich verbreitete Handlungsmuster und -voraussetzungen, S. B.] einige herauszulösen, ihnen die ganze Leistung kommunikativer Sinnkonstitution zuschreiben, und ihnen - als ,Bedeutungen’ der Sprachzeichen - eigenen Ding-Charakter zuschreiben“ zu wollen (B USSE 1988: 256). Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass mir die Gefahr des Vorwurfs einer möglichen Hypostasierung aufgrund der Isolation einzelner sinnrelevanter Momente durch das Konzept der Bedeutungsparameter bewusst ist. Dieses Konzept soll aber nicht so verstanden werden, als seien diese Parameter die bedeutungstragenden Einheiten eines sprachlichen Zeichens. Vielmehr erkenne ich darin aus struktureller Sicht eine bedeutungskonstituierende Einheit, die isoliert natürlich - wie auch das sprachliche Zeichen selbst - keinen kommunikativen Sinn erzeugen kann. Hier sind selbstverständlich der epistemische und der kognitive Hintergrund, der sich für die einzelne sprachliche Handlung zu einer Matrix (als Teil der Gebrauchsregel) verdichtet, entscheidend. Insofern ist für einen holistischen Ansatz, der auch diese Matrix mit einbezieht, die Analyse kommunikationsleitender Diskurse fruchtbarer als eine Untersuchung der semantischen Struktur einzelner Sprachzeichen. Im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen allerdings die semantischen Veränderungen auf der Wortebene, die vom (kommunikativen) Sinn einer sprachlichen Äußerung streng zu unterscheiden sind. Dennoch gibt es natürlich einen engen Zusammenhang zwischen kommunikativem Handeln und der Veränderung der Gebrauchsregel durch das Wirken von Bedeutungsparametern, denn deren Einbindung bzw. Verschiebung unterliegt intentionalen Entscheidungen, setzt kollektives Wissen voraus und ist natürlich auch kontextgebunden und folgt insofern auch den Prämissen, die für eine gelungene kommunikative Handlung notwendig sind (vgl. B USSE 1988: 255). 101 iv. diskursbezogene Parameter und v. innersprachliche Parameter. Wahrheitsfunktionale Parameter (i.) sind solche, die in der Gebrauchsregel eines Wortes etwas über die Beschaffenheit der Welt angeben, also solche, die eine extensionale Bestimmung evozieren. Diese Parameter geben Auskunft über die Merkmale eines Gegenstandes - oder im Bezug auf Verben - über die wahrheitsfunktionalen Merkmale einer Handlung, eines Zustandes oder einer Tätigkeit. Wörter, die wahrheitsfunktionale Parameter involvieren, können nur dann korrekt verwendet und verstanden werden, wenn Sprecher und Hörer ein zumindest grobes (gemeinsames) Wissen über bestimmte, sinnlich erfahrbare Eigenschaften der typischen Referenzobjekte bzw. der typischen Referenzhandlungen und Referenztätigkeiten besitzen. Wir haben weiter oben gesehen, dass es Verben gibt, die sich auf diese Weise bestimmen lassen, zu deren spezifischen Gebrauchsbedingungen es also gehört, auf einen bestimmte Handlung, einen bestimmten Zustand oder eine bestimmte Tätigkeit in der außersprachlichen Welt zu referieren und denen sich daher ein Wahrheitswert zuschreiben lässt. Wahrheitsfunktionale Verben sind insofern in erster Linie deskriptiv. Ich hatte diese Verben weiter oben wahrhaftige Verben genannt und gezeigt, dass sich für die meisten Verben aber eine rein extensionale Bestimmung ausschließt. Für eine ganze Reihe von Substantiven ist eine wahrheitsfunktionale Beschreibung dagegen problemlos möglich, bei anderen Wortarten stößt sie hingegen ebenfalls an ihre Grenzen (z. B. bei relativen Adjektiven). Als eine von mehreren Möglichkeiten in unterschiedlicher Ausprägung von Parametern einer Gebrauchsregel hat sie aber ihre Berechtigung. Es dürfte aber klar sein, dass eine Verabsolutierung dieses speziellen Parameters, der sich nur als eine von mehreren Möglichkeiten der Parameterrealisierung in einer Wortbedeutung darstellt, zu kurz greift und wenig zielführend für eine Bedeutungsbeschreibung ist. Daher lässt es sich durchaus als ein großer Verdienst R ADTKE s und K ELLER s werten, dass sie diesem Parameter noch weitere hinzugefügt haben, die weit stärker die tatsächliche Wortbedeutung prägen, als es der wahrheitsfunktionale Parameter vermag. Epistemische Parameter (ii.), also solche, mit denen über die lexikalische Wortbedeutung eine indirekte Bewertung zum Ausdruck gebracht wird, werden bei R ADTKE ausschließlich im Hinblick auf bewertende Ausdrücke expliziert. Wir haben weiter oben bereits Beispiele für evaluative Parameter in den Gebrauchsregeln von Verben kennen gelernt, so dass wir an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen müssen. Man kann aber grob festhalten, dass ein Sprecher, der Ausdrücke mit epistemischen Parametern verwendet, „dem Rezipienten zugleich Einsicht in seinen Gefühls- 102 haushalt [gewährt]“ 192 . Aus welchen speziellen epistemischen Bereichen sich diese Gefühle ausdifferenzieren können, bleibt bei R ADTKE und auch in den späteren Ergänzungen durch K ELLER und L OPPE unbeachtet. 193 Dass nicht nur die Bewertung eine Realisierungsmöglichkeit des Epistemischen ist, erkennt R ADTKE nicht, zumindest finden sich bei ihr keine Hinweise darauf, welche epistemischen Sphären über epistemische Parameter noch repräsentiert werden könnten. Ich möchte dies nicht als grundlegenden Mangel ihrer Analyse verstanden wissen, wohl aber muss dieses Versäumnis kritisch beäugt werden. Weiter unten stelle ich den Versuch an, den epistemischen Parameter R ADTKE s weiter auszudifferenzieren - m. E. ist dies nicht nur geboten, es ist auch ein überaus erfolgversprechendes Unterfangen und diese notwendige Differenzierung wird uns in der Hinführung zu Pfaden des semantischen Wandels bei Verben an späterer Stelle von entscheidender Hilfe sein. Soziale Parameter (iii.) sind solche, die einem Wort eine bestimmte soziale Funktion zuschreiben, wie etwa die Anredepronomina Du und Sie. Solche Parameter spielen wortsemantisch eine entscheidende Rolle, denn mit ihnen werden soziale Beziehungen gekennzeichnet. Somit verlassen Ausdrücke, die sozial geprägt sind, vielfach die sprachliche Ebene und konstituieren über ihre Bedeutung hinaus soziale Gefüge und Strukturen bzw. sie sorgen dafür, dass soziale Strukturen sprachlich realisierbar werden. Diskursbezogene Parameter (iv.) kommen z. B. in Modalpartikeln (wohl, mal, eben) zum tragen und innersprachliche Parameter (v.) sind solche, die den Gebrauch eines Wortes allein durch die sprachliche Umgebung bestimmen, wie dies bei Verben im Hinblick auf die Valenz etwa der Fall ist, oder die auf andere Art und Weise grammatisch-syntaktisch wirksam sind. 194 192 L OPPE 2010: 202 193 Vgl. K ELLER 2002, K ELLER 2008 und L OPPE 2010 194 In der linguistischen Forschung sind m. W. innersprachliche Parameter von den wenigen Autoren, die sich überhaupt mit der Frage von Parametern des Wortgebrauchs auseinander gesetzt haben, oft (und man könnte meinen, dass dies die einzige Möglichkeit der Realisierung ist) dem Bereich der Synsemantika zugeschrieben worden. L OPPE etwa schreibt: „Ihr Gebrauch [der, der Synsemantika, S. B.] orientiert sich offenbar an rein innersprachlichen Parametern“ (L OPPE 2010: 202). Es ist zutreffend, dass Synsemantika sich an innersprachlichen Parametern orientieren, allerdings gilt dies auch für einige Autosemantika: Die Valenzeigenschaften von Verben (um bei meinem originären Beschäftigungsfeld zu bleiben) sind in vielen Fällen a) in innersprachlichen Parametern der Gebrauchsregel (und damit in der Wortbedeutung) manifestiert (vgl. Kapitel 3.1.4.1) und b) in allen Fällen innersprachlich motiviert. Will sagen: Für viele Verben gibt die Gebrauchsregel an, welche Aktantenkonstellationen im Umfeld des Verbs möglich sind (und nicht etwa von der Wortbedeutung unabhängige Valenzregeln). Ich habe dazu in Kapitel 7 einige Gedanken formuliert und verweise daher an dieser Stelle auf dieses Kapi- 103 Diese fünf Kategorien der Parameter einer Gebrauchsregel haben deutliche Vorteile gegenüber den bisherigen Auffassungen von Gebrauchsbedingungen, denn sie blicken hinter die Fassade einer Gebrauchsregel und geben an, welche kommunikativen Sphären durch eine Gebrauchsregel repräsentiert werden. Über diesen Ansatz hat das Konzept der Parameter einer Gebrauchsregel entscheidenden Anteil an der Beschreibung der Konstituierung einer Wortbedeutung. Das ursprüngliche Konzept, wie ich es gerade kurz vorgestellt habe, hat aber auch kleinere Schwachstellen. Diese konzeptionellen Defizite sind m. E. 1. eine zu weit gefasste und wenig greifbare Terminologie, 2. daraus resultierend eine wenig differenzierte Beschreibung der wahrheitsfunktionalen Parameter, 3. eine zu einseitige Beleuchtung und Definition epistemischer Parameter als (reine) Evaluative und 4. eine Nichtbeachtung, bzw. Fehleinschätzung der Möglichkeit einer bestimmenden Funktion innersprachlicher und sozialer Parameter für die Wortsemantik. 195 Wie lassen sich diese Schwächen beheben und welche davon wurden bislang überhaupt in der linguistischen Forschung erkannt und diskutiert? R UDI K ELLER identifiziert und beseitigt in der späteren Auseinandersetzung mit R ADTKE s Kategorisierung die beiden Mängel 1. und 2. durch eine terminologische Präzisierung und erweitert damit die Theorie R ADT- KE s in angemessener Weise - auch wenn man konstatieren muss, dass seine Präzisierung die entscheidenden Mängel der R ADTKE schen Taxonomie, die ich insbesondere in 3. erkenne, noch nicht gänzlich beheben kann. K ELLER übernimmt zunächst im Wesentlichen R ADTKE s Klassifizierung: „Insgesamt gibt es fünf Typen von Parametern, die in Gebrauchsregeln wirksam werden können - auch in Kombination -, wobei der erste Typus in zwei Subklassen unterteilbar ist“ 196 . Er führt allerdings für die ersten beiden Typen eine abgewandelte Terminologie ein, die R ADTKE s Taxonomie m. E. ein wenig greifbarer macht und zudem inhaltlich er- tel. Dort werden die innersprachlichen Parameter mit Blick auf die Valenzeigenschaften von Verben näher beleuchtet. Ich kann aber bereits hier den Befund formulieren, dass innersprachliche Parameter zwar für den semantischen Wandel nicht außer Acht gelassen werden sollten, das stärkere Interesse allerdings den außersprachlichen Parametern entgegen gebracht werden sollte. Diese sind in wesentlichem Maße bedeutungsbestimmend. 195 Diese Schwächen werde ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels nach und nach versuchen aufzulösen. Ich bitte den Leser daher, diese von mir behaupteten Defizite im Kopf zu behalten und zu einem späteren Zeitpunkt zu überprüfen, ob mir dies gelungen ist. 196 K ELLER (2002): 8 104 gänzt: Der bei R ADTKE auf wahrheitsfunktionale Aspekte reduzierte erste Typ von Gebrauchsbedingungen, den sie entsprechend als wahrheitsfunktionale Parameter bezeichnet, wird bei K ELLER als „Parameter aus dem Bereich der äußeren Welt“ definiert und strukturell präzisiert. So stellt K ELLER fest, dass es neben den reinen wahrheitswerten Merkmalen eines Objektes selbst (z. B. für das deutsche Wort Junggeselle) auch Merkmale der menschlichen Nutzung eines Gegenstandes gibt (z. B. Vogel vs. Geflügel), die diesen Typus einer Gebrauchsregel kennzeichnen. Zudem führt K ELLER für die epistemischen Parameter R ADTKE s den präziseren Terminus „Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen“ ein, beschränkt allerdings diesen Typus ebenfalls allein auf den Aspekt der Evaluation. 197 Für die drei restlichen Typen von Gebrauchsregeln prägt K ELLER in Analogie zu R ADTKE die Begriffe „Parameter aus der Welt des Sozialen“, „Parameter der sprachlichen Welt“ und „Parameter aus der Welt des Diskurses“. „Die Aspekte einer Gebrauchsregel können auf fünf Parametern liegen“ 198 konstatiert auch ein Jahrzehnt später T IM L OPPE und folgt damit sowohl der ursprünglichen Klassifizierung P ETRA R ADTKE s als auch derjenigen, die R UDI K ELLER eingeführt hat, ohne die Kategorisierung zu erweitern oder zu hinterfragen. Ich möchte im Folgenden dafür plädieren, diese etablierte Taxonomie ein Stück weit aufzubrechen und um Parameter zu erweitern, die bislang weder bei R ADTKE noch in der erweiterten Auseinandersetzung bei K EL- LER oder L OPPE Beachtung gefunden haben, die für die Verbsemantik aber von entscheidender Bedeutung sind. Diese betreffen in erster Linie den Typus, den R ADTKE als „epistemische Parameter“ bezeichnet und den K ELLER auf den Aspekt der Gefühle und Haltungen hin ausdifferenziert hat. 3.1.4 Parameter der Gebrauchsregel bei Verben Mit einem Blick auf die Verbsemantik tritt ein Versäumnis zu Tage, das eine weitere Präzisierung der bisherigen Klassifizierungsversuche zwingend notwendig macht. Der Mangel der bisherigen Taxonomie zeigt sich insbesondere im Hinblick auf die epistemischen Parameter (oder die „Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen“): In allen bekannten Parameterbeschreibungen spielen für diesen Typus des Parameters allein evaluative Affekte eine Rolle. Emotionen oder Kognitionen (im weitesten 197 Hier scheinen mir die Möglichkeiten der Ausgestaltung epistemischer Parameter noch nicht ausreichend bestimmt zu sein. Ich werde weiter unten zeigen, dass insbesondere für die Wortart der Verben noch weitere Ausdifferenzierungen notwendig und angemessen sind. 198 L OPPE 2010: 204 105 Sinne) werden in dieser Konzeption nicht mitgedacht, obwohl sie a) wesentlich im Bereich des Epistemischen verankert und b) m. E. auch wortsemantisch von entscheidender Bedeutung sind. Woran liegt es, dass diese beiden wichtigen epistemischen Sphären in der bisherigen Darstellung von Parametern der Gebrauchsregel keine eigenen Parametertypen hervorbringen, sondern allenfalls stillschweigend mitgedacht werden müssen? Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sowohl R ADTKE s als auch K ELLER s (und neuerdings auch L OPPE s) argumentativer Fokus in erster Linie auf dem Aspekt der evaluativen Affekte, also der Bewertungen liegt, was sich auch an der Auswahl ihrer Beispiele zur Illustration zeigt. So entstammen diese Beispiele nahezu ausschließlich der Wortart der Adjektive, die aufgrund ihrer Funktion natürlich zum Ausdruck von Affekten prädestiniert sind. Auch Substantive (bei K ELLER und L OPPE ) werden angeführt, allerdings ebenfalls einzig mit Hinblick auf eine mögliche bewertende Funktion (z. B. „Gesöff“ bei K ELLER oder „Töle“ bei L OPPE ). Der Betrachtung gänzlich außen vor bleiben Verben, so dass ich an dieser Stelle ein paar Erkenntnisse zur Semantik dieser Wortart nachliefern möchte: Bezieht man die Gruppe der Verben in die Betrachtung mit ein, stellt man schnell fest, dass deren Gebrauchsregeln neben a) wahrheitsfunktionalen und b) evaluativen Parametern auch c) emotive und d) kognitivmentale Parameter involvieren können. 199 Die Parameter b) und c) entstammen ebenso wie a) der epistemischen Sphäre - dennoch wurde in den bisherigen Darstellungen einzig Parameter a) als ein epistemischer Parameter identifiziert und expliziert. Diesem Umstand, dass es auch weitere epistemische Parameter gibt, muss in einer allgemeingültigen und erweiterten Taxonomie der Parameter entsprechend Rechnung getragen werden. Für die Bestätigung dieser These möchte ich ein paar Beispiele aus dem Verbwortschatz anführen und im Anschluss daran eine präzisere Taxonomie der Parameter vorschlagen. Wenn man sich Verben wie denken, begreifen (in metaphorischer Lesart) oder - aus dem Umgangssprachlichen - raffen anschaut, stellt man fest, dass diese Verben dazu geeignet sind, um auf einen mentalen Zustand oder auf eine mentale Handlung zu referieren. Dies kann man z. B. auch für das Verb lesen konstatieren. Die Bedeutung des Wortes lesen zu kennen heißt zu wissen, dass man das Wort verwenden kann, um auf eine Handlung der kognitiven Aufnahme eines geschriebenen Textes zu referieren. Dabei ist es m. E. völlig unwich- 199 Auch e) soziale, f) diskursbezogene und g) innersprachliche Parameter sind möglich, spielen aber an dieser Stelle für meine Ausführungen keine Rolle. Hier kann die bestehende Taxonomie unverändert gelten. 106 tig, ob diese Verben in erster Linie dazu verwendet werden, eine mentale Handlung zu beschreiben (z. B. denken) oder ob die mentale Sphäre indirekt mit ausgedrückt wird (wie beim metaphorischen raffen), ob das Verb also die mentale Sphäre denotiert oder konnotiert. 200 Entscheidend ist: Zu den spezifischen Gebrauchsbedingungen solcher Verben gehört, dass man mit ihnen auf mentale Zustände oder Handlungen referieren kann. Warum ist diese Distinktion für die Verbsemantik so wichtig? Es wird sich zeigen, dass im Zuge semantischer Wandelprozesse ein Verb aus der Sphäre der konkreten faktischen Repräsentation sehr häufig über einen invisible-hand-Prozess, wie wir ihn in Kapitel 2 kennen gelernt haben, in ein Verb der abstrakten mentalen Sphäre überführt wird. Die Verben begreifen, lesen oder raffen stehen hier exemplarisch. Der oftmals verabsolutierte Wandel vom Konkreten zum Abstrakten bei Verben findet hier seine deutlichste Ausprägung. Einen solchen Wandel a) ohne ein allgemeines Konzept der Parameter einer Gebrauchsregel und b) ohne die Annahme einer Existenz entsprechender epistemischer Parameter zu begreifen, wäre m. E. unmöglich. Die Beispiele zeigen deutlich, dass die Bedeutung eines Verbs entscheidend über außersprachliche Parameter bestimmt wird, so dass deren Beachtung zwingend erforderlich ist, wenn man zu einem tieferen Verständnis der Wortbedeutung gelangen möchte. Über die Einbindung eines mentalen Parameters in die Gebrauchsregel von (metaphorischen) Verben wie begreifen oder raffen, manifestiert sich zudem die weiter oben von mir formulierte Möglichkeit der kommunikativen Nutzungserweiterung. 201 Dasselbe gilt auch für Parameter, die zwar epistemisch sind, aber weder Affekte (im Sinne von Haltungen) noch Kognitionen betreffen, sondern rein auf der Ebene der Emotion angesiedelt sind. Solche Parameter nenne ich emotive Parameter der Gebrauchsregel und sie manifestieren sich z. B. in den Gefühlswörtern wie lieben, hassen, trauern. Solche Verben kennzeichnet, dass man mit ihnen auf menschliche (oder bisweilen auch tierische) 202 Gefühle referieren kann. Emotive Parameter finden aber auch Beachtung in psychischen Verben wie erschrecken oder ergreifen, die heute vielfach (oder ausschließlich) metaphorisch verwendet werden und deren 200 Ich komme weiter unten auf diesen Aspekt eingehender zurück, wenn ich eine Klassifizierung von Verbkategorien entwickeln werde, die auf den Parametern der Gebrauchsregel basiert. 201 Vgl. hierzu Abschnitt 3.1.5 202 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.1.2.1 zur möglichen Vereinbarkeit einer repräsentationistischen mit einer instrumentalistischen Bedeutungskonzeption: Durch einen Wegfall der scharfen Grenzen ergibt sich Entscheidungstoleranz. Ich hatte dies anhand des Verbs denken illustriert, aber der Beweis hätte auch mit Emotionsverben geführt werden können: Ob ich dem Satz Der Hund trauert einen Wahrheitswert zuschreibe oder nicht, liegt im Rahmen meiner individuellen Interpretation. 107 ursprüngliche physische Lesart noch sichtbar ist. Hier gilt, was ich bereits für die Verben der kognitiven Sphäre ausgeführt habe: Nur durch die Einbindung emotiver Parameter in die Gebrauchsregel der ursprünglich rein faktisch-deskriptiven Verben (z. B. ergreifen) kann a) die Wortbedeutung selbst und b) der semantische Wandel angemessen beschrieben und erfasst werden. Daher plädiere ich dafür, auch diesen eigenen emotiven Regeltyp als präexistent anzuerkennen und ihm einen entsprechenden Stellenwert zuzuschreiben. An welche Stelle in der etablierten Taxonomie von Parametern der Gebrauchsregel können wir diese beiden mentalen und emotiven Parameter sinnvoll integrieren? Es eignet sich dazu sowohl die vorgeschlagene Klassifizierung R ADTKE s als auch diejenige von K ELLER . Dennoch schlage ich vor, bei der Terminologie K ELLER s zu bleiben, da mir diese greifbarer erscheint. Außer Frage steht, dass beide Parameter (sowohl der mentale als auch der emotive Parameter) dort zu verorten sind, wo sich die epistemische Ebene ausdifferenziert. Ich halte es daher für sinnvoll, den bereits etablierten „Parametern der äußeren Welt“ eine neue Gruppe der „Parameter der inneren Welt“ gegenüberzustellen (das sind R ADTKE s epistemische Parameter) und für diese Gruppe eine Subklassifizierung einzuführen, die sowohl die bekannten „Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen“ als auch die neu einzuführenden kognitivmentalen Parameter einschließt. Der entscheidende Unterschied zwischen den Parametern der äußeren und denen der inneren Welt lässt sich dann in etwa so beschreiben: Parameter aus dem Bereich der äußeren Welt sind konkret, diejenigen aus dem Bereich der inneren Welt dagegen sind abstrakt, denn Gefühle und Kognitionen haben ebenso wie Affekte keine Entsprechung in der äußeren Welt. Für die kognitiv-mentalen Parameter möchte ich den neuen Terminus „Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen“ einführen. Zudem ist es m. E. weiterhin notwendig und - wie sich gezeigt hat - auch kommunikationstheoretisch sinnvoll, den Typ der „Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen“ noch deutlicher zu diversifizieren, in seine Bestandteile aufzuteilen und über den bewertenden Aspekt hinaus zu blicken. Es ergeben sich dann auf der einen Seite ein Typus von Parametern, der sich allein auf evaluative Affekte bezieht und auf der anderen Seite ein Typus, der nur Emotionen (im engeren Sinne) involviert. Den ersten Regeltyp nenne ich der Einfachheit halber „Parameter aus der Welt der Haltungen“, er umfasst die evaluativen Parameter. Die andere Möglichkeit bezeichne ich entsprechend als „Parameter aus der Welt der Gefühle“. Hier finden sich die emotiven Parameter wieder. Durch diese Ausdifferenzierung lassen sich unter den Regeltyp der „Parameter der inneren Welt“ nun drei spezifische Parameter (statt bis- 108 her ein verabsolutierter) subsummieren und gleichberechtigt nebeneinander stellen: 1. „Parameter aus der Welt der Haltungen“ oder „evaluative Parameter“ 2. „Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen“ oder „mentale Parameter“ 3. „Parameter aus der Welt der Gefühle“ oder „emotive Parameter“ 3.1.4.1 Versuch einer neuen Taxonomie der Bedeutungsparameter Aus diesen analytischen Überlegungen zur Verbsemantik ergibt sich nun eine neue, deutlich differenziertere Taxonomie für Parameter der Gebrauchsregel, die sich wie folgt ausgestaltet: i. Parameter aus der äußeren Welt ii. Parameter aus der inneren Welt a. Parameter aus der Welt der Haltungen b. Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen c. Parameter aus der Welt der Gefühle iii. Parameter aus der Welt des Sozialen iv. Parameter aus der Welt des Diskurses v. Parameter aus der sprachlichen Welt Zu den beiden ersten Typen von Parametern, die in einer Gebrauchsregel bei Verben in Frage kommen (i. und ii.) haben wir Beispiele kennen gelernt, die Typen iii., iv. und v. dagegen müssen an dieser Stelle noch aus den Gebrauchsbedingungen für Verben extrahiert und speziell nachgewiesen werden. Ich gehe für das Verbum davon aus, dass auch diese drei Parameter in Verben zu finden sind und dass sie (im Gegensatz zu K EL- LER s Annahme) eine bedeutende Rolle für die Verbsemantik spielen. 203 Verben mit den Regeltypen iii. und iv. sind häufig zu finden, vermutlich häufiger, als es bei den Adjektiven der Fall ist. Oftmals sind zwar noch weitere Parameter in das Verb eingebunden, aber sowohl der reine Typ iii., als auch der reine Typ iv. können bei Verben vorkommen. Dies hat das Verbum mit dem Adjektiv gemein und es unterscheidet sich in diesem Punkt auch nicht von anderen Wortarten. 204 Es gibt Verben, die allein dem sozialen Zweck dienen, ebenso wie es Verben gibt, die nur eine diskursive Funktion erfüllen. 203 Dies ist keine prinzipielle Kritik: R UDI K ELLER konstatiert mit dem Fokus auf seine spezifisch evaluative Fragestellung: „Die folgenden drei Klassen (soziale, diskursive und innersprachliche Parameter, S. B.) spielen für unser Thema (für die evaluative Sichtweise, S. B.) keine besondere Rolle“ (K ELLER o. J: 9). Für die Bedeutungsbeschreibung von Verben sind diese Parameter aber m.E. sehr wohl von Bedeutung. 204 Es gibt z. B. Diskurspartikel, die allein dem Diskurs dienen und darüber hinaus keine weitere Bedeutung aufweisen. 109 Nicht selten sind die Parameter iii. und iv. in den Fällen, in denen man sie nachweisen kann, in das Verbum als Nebenbedeutung eingebunden. Solche Verben können sowohl als sozial als auch als diskursiv bezeichnet werden, die Übergänge sind hier in vielen Fällen der Verwendung fließend und die Hauptbedeutung oder der kommunikative Nutzen des Verbs entscheiden über die Zuordnung zu einer Verbgruppe. So kann man für einige Verben konstatieren, dass sie in erster Linie dazu da sind, auf expressive Haltungen zu referieren. Solche Verben eignen sich nicht allein dazu, eine bestimmte Haltung kundzutun. In vielen Fällen geht es überhaupt nicht darum, einen Affekt deskriptiv auszudrücken. Die Funktion solcher Verben ist ein gesteigerter (oft sogar übersteigerter) Ausdruck, eine gesteigerte Expressivität. Viele Tabuwörter oder Verben der umgangssprachlichen Verwendung folgen diesem Muster. So sind insbesondere eine Reihe von Verben der sexuellen Sphäre zwar wahrheitsfunktional, werden aber in erster Linie expressiv verwendet, wobei die heutige expressive Verwendung das Resultat eines semantischen Wandels kennzeichnet und dem Verb auf diese Weise eine soziale Rolle zuweist. Als Beispiele eignen sich ficken oder wichsen. An diesen Beispielen zeigt sich die bislang in der Literatur zwar eingeschlossene, aber nicht explizit illustrierte Möglichkeit der Kombination mehrerer Parameter: 205 Diese beiden sexuell motivierten Ausdrücke besitzen sowohl Wahrheitswerte als auch expressive und je nach Äußerungskontext auch bewertende Parameter der Bedeutung. Auch Verben wie kotzen oder abkacken (im Sinne von sterben) involvieren m. E. in erster Linie soziale Parameter und werden zugleich expressiv verwendet. Es sind Verben, deren Expressivität sich sozial manifestiert, da durch ihre Verwendung der Sprecher entweder a) die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bekunden möchte oder b) aus der sozialen Norm hervortreten will (z. B. um durch den expressiven Ausdruck zu polarisieren, zu schockieren oder zu protestieren). Soziale Parameter finden sich ebenfalls im Bereich der Sprechaktkennzeichnenden Verben (SKV), so etwa in jemandem etwas vorwerfen oder verurteilen. Diskursbezogene Parameter begegnen uns z. B. in (metaphorischen) Verben wie sich auseinandersetzen, abweichen (von einer Meinung) oder (etwas anders) sehen. Bislang hatten wir es in den oben genannten Fällen iii. und iv. mit Parametern zu tun, für die es auch im Bereich der Adjektive Entsprechungen gibt. Eine Sonderstellung nimmt das Verb insofern ein, als inner- 205 So heißt es „Kombinationen sind ebenfalls möglich“ (R ADTKE 1999: 156) und „Insgesamt gibt es fünf Typen von Parametern [...] - auch in Kombination - [...]“ (K EL- LER 2002: 8). 110 sprachliche Parameter (v.) für die Semantik des Verbs in manchen Fällen von entscheidender Bedeutung sind, wogegen dies für die Gruppe der Adjektive ausgeschlossen wurde: „Für den fünften Parameter, den innersprachlichen, gibt es im Bereich der Adjektive keine Beispiele“ 206 . So sind die Valenzeigenschaften des Verbs vielfach nicht gänzlich von der Semantik zu trennen. Weiter unten in Kapitel 7 werde ich zwar ausführen, dass die Valenz eines Verbs nicht dessen Bedeutung, sehr wohl aber die Bedeutung eines Verbs dessen Valenz verändern kann. Dessen ungeachtet ist es m. E. richtig, dass sich die Valenz eines Verbs in innersprachlichen Parametern der Gebrauchsregel (und damit in der Wortbedeutung) manifestiert. Die Gebrauchsregel gibt bekanntlich an, wie man ein Verb (korrekt) verwenden kann und dazu gehört auch die Kenntnis von Valenzeigenschaften. Schließlich ist die Artikulation eines Verbs isoliert von anderen Satzkomponenten (z. B. den Aktanten) nicht sinnvoll möglich, es gibt immer einen syntaktischen Rahmen, in den das Verb involviert ist. Im Satz Es regnet ist es der einzig erforderliche und zudem der einzig mögliche Aktant. Horst regnet wäre zwar syntaktisch nicht falsch gebildet, es wäre aber semantisch unsinnig, einen solchen Satz zu äußern. Somit wird über die Gebrauchsregel des Verbs regnen die Aktantenkonstellation geregelt und indirekt auch die Semantik mitbestimmt. Man könnte auch sagen: Die Stellung und Anzahl der Aktanten ist für das Verb regnen in dessen Gebrauchsregel ebenso verregelt, wie auch der Umstand, dass man kein bestimmtes Subjekt einsetzen kann. Diese Verregelung findet ihre Ausprägung in Form innersprachlicher Parameter. Es gehört also zur Bedeutung des Wortes regnen wie zur Bedeutung aller Witterungsimpersonalien, dass nur eine unbestimmte Entität es als Subjekt der Handlung eingesetzt werden kann. Dies gehört zu den spezifischen Gebrauchsbedingungen des Verbs regnen. Die Gebrauchsregel könnte also lauten: „Verwende das Verb regnen, wenn du auf einen natürlichen Zustand oder Vorgang referieren möchtest, bei dem Wassertropfen vom Himmel zur Erde fallen. Da dies niemand initiiert, musst du als Subjekt ein unbestimmtes es einsetzen“. Entscheidender für die kommunikative Nutzung eines Verbs dürfte aber die Möglichkeit der Einbindung außersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel sein, da Valenzeigenschaften zwar - wie ich weiter unten in Kapitel 7 zeigen werde - durch semantischen Wandel bestimmt sein können, sich die Valenz eines Verbs aber kommunikativ für den Sprecher nicht nutzen lässt. Will sagen: Die kommunikative Nutzungsmöglichkeit eines Verbs hängt nicht von Valenzeigenschaften ab, wohl aber von den Möglichkeiten der Einbindung außersprachlicher Parameter in die Regel- 206 R ADTKE 1999: 157 111 struktur des Wortes (diese Festlegung gilt natürlich auch für andere Wortartgruppen). Die Tatsache, dass es neben wahrheitsfunktionalen auch eine Reihe anderer wichtiger Parameter in einer Gebrauchsregel gibt, dass also die Kenntnis wahrheitsfunktionaler Parameter nur eine Möglichkeit der Kenntnis von Gebrauchsbedingungen darstellt, ist m. E. sehr evident geworden. Daher möchte ich als Zwischenfazit an dieser Stelle festhalten: Insbesondere außersprachliche Parameter bestimmen über die Gebrauchsregel in ausschlaggebendem Maß die Bedeutung eines Wortes. Dass diese Parameter im Wesentlichen auch die kommunikative Funktion eines Wortes bestimmen, hat sich ebenso gezeigt wie die Korrektheit meiner zweiten These, dass ein Wort durch Inkorporierung außersprachlicher Parameter seine kommunikative Nutzung erweitern kann. Wenn wir uns auf diesen Befund einigen, können wir - wie bereits in Kapitel 2 angedeutet - zudem festhalten, dass sich ein repräsentationistischer und ein instrumentalistischer Bedeutungsbegriff nicht ausschließen. Diese beiden Konzepte sind vereinbar, wenn man Wahrheitswerte als Spezialfall außersprachlicher Parameter begreift: „Wahrheitsfunktionalität ist innerhalb dieses Modells nur ein Parameter neben weiteren“ 207 . 3.1.5 Verben und ihre Nebenbedeutungen - Kommunikative Nutzungserweiterung durch Parameter der Gebrauchsregel Wenn sich die Veränderung der Gebrauchsregel eines Wortes in der Einbindung neuer und insbesondere außersprachlicher, also kommunikativ bedeutsamer Parameter manifestiert, dann lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass Wörter über diesen Vorgang der semantischen Inkorporierung dazu geeignet sind, (kontextspezifisch) semantische Erweiterungen auszudrücken. K RONASSER weist auf diese Möglichkeit der semantischen Erweiterungen in der Zusammenfassung der Bedeutungskonzeption K. O. E RDMANNS hin und bezeichnet diese semantischen Ausweitungen als: „[d]ie Nebenvorstellungen, die sich assoziativ an den dingbestimmenden Teil anschließen [...]“ 208 und als „[d]as Begleitgefühl“ 209 . B USSE schreibt dazu: „Bekannt geworden ist Erdmanns Formulierung vom ,Nebensinn und Gefühlswert der Wörter’ (modern Konnotationen), der neben den bei 207 R ADTKE 1999: 159 208 K RONASSER 1952: 56f. zitiert nach B USSE 2001: 1310. K RONASSER bezieht sich hier auf Erdmann 1925: 82 (Quellen bei Busse 2001). Hervorhebung durch den Verfasser. 209 K RONASSER 1952: 56f. zitiert nach B USSE 2001: 1310. K RONASSER bezieht sich hier auf Erdmann 1925: 82 (Quellen bei Busse 2001). 112 ihm noch ,begrifflicher Inhalt’ genannten Bedeutungskern (modern: Denotationen) der Wörter tritt“ 210 . Mit dem Wissen aus der vorangegangenen Analyse der Gebrauchsregel können wir hier zusammenfassend konstatieren: Das, was K RONASSER und andere unter dem Nebensinn und Gefühlswert der Wörter verstehen und was in der modernen Linguistik als Konnotationen bezeichnet wird, manifestiert sich auf semantischer Ebene mit einem pragmatischen Seitenblick (also mit einem instrumentalistischen Bedeutungskonzept als Grundlage) in erster Linie und am deutlichsten in den Parametern der Gebrauchsregel eines Wortes. Die sogenannten Nebenaspekte der Wortbedeutung spielen somit nicht nur in der traditionellen diachronen Semantik „eine sehr viel größere Rolle als in der späteren synchronen [...] Semantik“ 211 , wie B USSE schreibt. Vielmehr nehmen diese Nebenaspekte - verstanden als kommunikative Nutzungsmöglichkeiten - eine zentrale Rolle in der modernen handlungstheoretisch zentrierten praktischen Semantik ein und sie sind m. E. ohne eine grundlegende Kenntnis von Parametern der Gebrauchsregel nicht mehr als ein diffuser Begriff. Hierzu ein Blick auf die Verbsemantik und insbesondere auf die diachrone Entwicklung, die für Verben charakteristisch ist: Vielfach lässt sich feststellen - und wir haben dazu einige Beispiele bereits kennen gelernt -, dass bestimmte Verben zunehmend nicht mehr (nur) dazu verwendet werden, konkrete Handlungen, Vorgänge oder Tätigkeiten zu beschreiben, sondern auch dazu, z. B. Haltungen zu Handlungen oder Vorgängen mit auszudrücken. Das Verb saufen etwa ist erst in zweiter Linie dazu geeignet, auf die Tätigkeit des Trinkens zu referieren. In erster Linie verwendet man dieses Verb dazu, eine bestimmte Form des Trinkens (die des Alkoholkonsums) negativ zu bewerten. Im Gegensatz zur nichtmetaphorischen Verwendung (diese gibt es mit Referenz auf gewisse Tiere) ist die Wortbedeutung, also die Gebrauchsregel, um zwei Aspekte erweitert worden: Zum einen kann man das Verb heute (im Gegensatz zu früher) auf Menschen anwenden und zum anderen dient es dazu, eine Meinung ausdrücken zu können. Motor für diese erweiterte Nutzung ist die Inkorporierung semantischer Parameter. Damit erweitert sich der Nutzungsbereich dieser Verben in vielen Fällen vom reinen Mitteilungsmittel hin zum stärkeren pragmatischen Ausdrucksmittel. In vielen Fällen bleibt die deskriptive Basisfunktion des Verbs erhalten, der pragmatische Nutzen, den das Verb für den Sprecher bekommt, ist daher eine pragmatische Erweiterung, kein Austausch. So muss man konstatieren, dass viele Verben wahrheitsfunktionale Bedeutungskomponenten nicht verlieren, sondern vielmehr evaluative, mentale oder soziale Bedeutungskompo- 210 B USSE 2001: 1310 211 B USSE 2001: 1310 113 nenten hinzugewinnen. Sowohl semantisch als auch pragmatisch kann man hier von einer Erweiterung sprechen, wenn auch die pragmatische Erweiterung (also die kommunikative Nutzungserweiterung) nicht zwingend mit einer semantischen Erweiterung einhergeht. Bedeutungen können sich ausdifferenzieren (man spricht auch von Bedeutungsverengung), semantisch also eher an Bedeutung verlieren (in extensionaler Bestimmung), dennoch aber eine pragmatische Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten erfahren. Hier muss man wohl zwischen der Qualität (auf der Seite der Pragmatik) und der Quantität (auf der Seite der Semantik) unterscheiden. Aber was spielt es für eine Rolle, ob man ein Verb zwar nicht mehr auf eine Vielzahl von Handlungen verwenden kann, dafür dem Sprecher aber neue kommunikative Möglichkeiten offen stehen (z. B. das Verb begreifen, das man früher auf eine fast unbegrenzte Anzahl an Entitäten in der Welt beziehen konnte und heute nur noch auf Gedanken, Theorien oder Ideen anwenden kann)? Da Verben nicht für das Lexikon in der Welt sind, sondern sich als spezifischer Teil der Sprache ausdifferenziert haben, damit der Sprecher diese Wörter im Sinne seines kommunikativen Anspruchs nutzen kann, ist der Wegfall von Bedeutungskomponenten bei gleichzeitigem Gewinn an pragmatischem Nutzen kein Problem, sondern m. E. ein Vorteil. Möglicherweise ließe sich semantischer Wandel ungeachtet dieser Erkenntnis gar nicht erst erklären. Sprache ist ebenso wie deren Bestandteile kein Selbstzweck menschlicher Evolution, sondern für den Menschen ein Mittel zum Zweck. Wenn man dies so gelten lässt, erscheinen Parameter der Wortbedeutung in einem neuen Licht: Ohne diese Parameter wären die vielfältigen Möglichkeiten verbaler Kommunikation wohl nicht denkbar. Dass wir weiter oben diese Parameter seziert und kategorisiert haben, ist im Folgenden wesentlich für die Bedeutungsbeschreibung von Verben und in direkter Folge auch für die systematische Beschreibung und die Erklärung semantischen Wandels in diachroner (aber auch in synchroner) Betrachtung. Parameter der Gebrauchsregel erlauben es, Verben nach ihren pragmatischen Ausdrucksmöglichkeiten zu kategorisieren. Es wird sich im folgenden Abschnitt zeigen, dass in der linguistischen Forschung bisweilen ein zu enger definitorischer Begriffsumfang gewählt wird, um Verben aufgrund ihrer pragmatischen Funktion präzise einordnen zu können. Dies liegt daran, dass Parameter der Gebrauchsregel m. W. bislang nicht oder nur unzureichend für Kategorisierungsversuche herangezogen wurden. Sehen wir uns daher eine Möglichkeit der Kategorisierung anhand außersprachlicher Parameter einmal genauer an. Ich behaupte: Eine solche Kategorisierung hat deutliche Vorteile gegenüber anderen Versuchen, denn sie ist über die Einbeziehung des pragmatischen Nutzens für den Sprecher aus pragmasemantischer Sicht präziser. 114 3.2 Kategorisierung von Verben anhand außersprachlicher Bedeutungsparameter Aus den zuvor entwickelten Parametern der Gebrauchsregel bei Verben ergibt sich eine Reihe von unterschiedlichen semantischen Verbkategorien, die auf dem Aspekt des absichtsvollen Wortgebrauchs gegründet ist. Ich möchte versuchen, diese Kategorien grob zu skizzieren und will zeigen, welchen Vorteil, aber auch welche definitorischen Schwierigkeiten eine derartige (oder eine ähnliche) Kategorisierung aus pragmasemantischer Sicht mit sich bringt. Man darf wohl an dieser Stelle behaupten, dass viele der heute gebräuchlichen Verben mit einer erweiterten kommunikativen Nutzungsmöglichkeit aus ehemals rein deskriptiven Verben entstanden sind. Man kann auch sagen: Die Einbindung außersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel von Verben neben die ursprünglichen, wahrheitsfunktionalen Parameter ist in aller Regel eine Folge und ein Resultat eines semantischen Wandels. Wenn das stimmt, ist anzunehmen, dass über semantische Verfahren Parameter Eingang in die Gebrauchsregel eines Verbs finden, wenn der Sprecher eine erweiterte kommunikative Nutzung anstrebt. Abweichender Wortgebrauch (z. B. metaphorischer) führt dazu, dass Parameter in die Gebrauchsregel von Verben inkorporiert werden. Welche Parameter in welche Verben inkorporiert werden können, bestimmt die Möglichkeit der Anwendbarkeit eines semantischen Verfahrens. Dass etwa emotive Parameter in die Bedeutung des Verbs sich verbeißen Eingang gefunden haben, liegt an der semantischen Nähe von Ursprungs- und Zielbedeutung. Wenn man sich im wortwörtlichen (und ursprünglichen) Sinne in etwas verbeißt, dann lässt man z. B. ein Stück Fleisch so schnell nicht mehr los. In der metaphorischen Übertragung auf einen Wunsch oder eine Idee wird diese Nähe erkennbar: Wer sich in eine Idee verbeißt, der lässt sich so schnell nicht von seinem Vorhaben abbringen. Daher eignet sich insbesondere dieses Verb dazu, eine pragmatische Erweiterung im Bezug auf Emotionen (oder auch Kognitionen) zu erfahren, andere Verben derselben Ursprungssphäre fügen sich durch Analogieschluss in dieses (neue) Paradigma (z. B. an etwas festhalten). Wenn man die weiter oben identifizierten Parameter der Gebrauchsregel (in der Erweiterung um die Parameter der inneren Welt, wie ich sie weiter oben entworfen habe) zugrunde legt, ergeben sich sieben Verbtypen, die man durch die Einbindung außersprachlicher Parameter in den Gebrauchsregeln erkennen kann: i. deskriptive Verben, ii. emotive Verben, iii. evaluative Verben, iv. mentale Verben, v. expressive Verben, vi. soziale Verben und vii. diskursive Verben. Bei der Zuordnung von Verben zu einer dieser Kategorien muss man immer zwischen Haupt- und Nebenbedeutung(en) unterscheiden, da - 115 wie wir gesehen haben - oftmals mehrere Parameter nebeneinander existieren und in einer Gebrauchsregel wirksam sind. Daher stützt sich die Kategorisierung auf die jeweilige pragmatische Hauptbedeutung bzw. auf den hauptsächlichen kommunikativen Nutzen des Verbs. Die Frage, die also im Hinblick auf eine Verbkategorisierung beantwortet werden soll, lautet: Wozu eignet sich ein bestimmtes Verb am ehesten? Oder: Was kann ein Sprecher in erster Linie mit einem bestimmten Verb ausdrücken? 3.2.1 Deskriptive Verben Am leichtesten scheint die Beantwortung dieser Frage bei denjenigen Verben möglich zu sein, die in erster Linie dazu da sind, eine Tatsache in der Welt zu behaupten bzw. Vorgänge, Zustände und Handlungen zu beschreiben. Wir haben zwar in Kapitel 2 erkannt, dass solche extensional bestimmbaren Verben nicht die Hauptgruppe der Verben bilden, sie sind vielmehr wohl die Ausnahme. Dennoch ist ihre Existenz unbestritten. Diese Verben involvieren in erster Linie wahrheitsfunktionale Parameter in ihre Gebrauchsregeln, also - in K ELLER scher Diktion - Parameter der äußeren Welt. Solche Verben sind schlafen, essen, stehen, liegen, singen, usw. Die von mir als wahrhaftige Verben bezeichneten Verben gehören dieser Gruppe an, denn mit ihnen kann man auf Zustände, Vorgänge oder Handlungen referieren, die sich in der realen Welt greifen lassen. Diese Gruppe der deskriptiven Verben involviert zwar in erster Linie Wahrheitsbedingungen. Dennoch muss man die wahrheitswerten Verben als nur eine von mehreren Möglichkeiten der Deskription durch Verben begreifen. Gerade bei den deskriptiven Verben sind die involvierten Parameter noch zu differenzieren. So stellt sich beispielsweise die Gebrauchsregel eines rein deskriptiven Verbs aus der Dimension der Körperlichkeit anders dar, als es dieselbe Gebrauchsregel für dasselbe Verb vermag, nachdem eine Übertragung der Bedeutung auf die Ebene der Kognition erfolgt ist (z. B. bei begreifen). Durch die Einbindung eines mentalen Parameters erhält das Verb in diesem Fall zwar eine andere (eine mental-abstrakte) Bedeutung, die kommunikative Funktion bleibt aber erhalten: Sowohl das nicht-metaphorische begreifen als auch die metaphorische Lesart dieses Verbs sind in erster Linie deskriptiv. Im einen Fall wird eine konkrete haptische Tätigkeit beschrieben, im anderen Fall dagegen ein abstrakter mentaler Vorgang. Dasselbe gilt auch für eine Reihe von Verben, die in manchen Lesarten emotiv sind, in jedem Fall aber emotive Parameter aufweisen. So kann man mit den Verben lieben, hassen oder trauern sowohl auf ein Gefühl referieren (das wäre dann eine deskriptive Funktion des Verbs, z. B. in einem Satz wie Horst liebt Gisela), als auch die Emotion selbst ausdrücken. 116 Wenn zwei verliebte Menschen zueinander sagen Ich liebe Dich ist das vermutlich weniger faktische Beschreibung als tatsächlicher Ausdruck eines Gefühls durch die Verwendung des Verbs lieben. Dass ein Verb sich sowohl zur Benennung eines Gefühls als auch zu dessen emotivem Ausdruck eignen kann, steht m. E. in keinem Widerspruch. Eine solche Auffassung ist bei L OPPE und H ERMANNS zu finden und ich glaube, dass sie falsch ist. H ERMANNS behauptet mit Blick auf Gefühlswörter, dass sie allein „zur Benennung von Gefühlen und Gemütszuständen insbesondere in deskriptiver Absicht [dienen]“ 212 . Ein Satz wie Ich liebe Dich ist seiner Auffassung nach „der Form nach deskriptiv [...] und [unterscheidet] sich darin gar nicht [...] von den Sätzen in der dritten Singularis wie z.B. Sie liebt ihn“ 213 . L OPPE schreibt zu solchen Sätzen: „[D]ie Emotionalität liegt in der Form der Äußerung und somit nicht auf der Ebene der Semantik“ 214 . Ich nehme an, dass L OPPE hier die Wortsemantik im Blick hat. Wenn dem so ist, irrt er sich. Ich denke nicht, dass man sich „über den expressiven Aspekt von Gefühlswörtern [...] leicht täuschen [lässt]“ 215 , wenn man für sie das Vorhandensein emotiver Parameter annimmt. Zum einen gilt es zwischen der Äußerung eines Satzes und der Bedeutung eines Wortes streng zu unterscheiden. Ob einem Verb wie lieben ein emotiver Ausdruckswert zugeschrieben werden kann, hängt vom Kontext ab. Per se würde ich einen solchen Wert nicht annehmen, aber umgekehrt argumentieren zu wollen, dass diese Wörter rein deskriptiv sind, halte ich für ebenso falsch. Wenn der Ausdruck eines Gefühls, wie L OPPE schreibt, eine Selbstbeschreibung des Gefühls darstellt, ist doch gerade die Selbstbeschreibung (wenn es um Gefühle oder Gedanken geht) in erster Linie auch ein Ausdruck des Gefühls. Ob also ein Verb in erster Linie deskriptiv, emotiv, mental oder expressiv verwendet wird, hängt vom Kontext der Äußerung und nicht so sehr von den involvierten Parametern ab. Im Gegenteil: Die Möglichkeit der rein deskriptiven Wortverwendung steht in keinem Widerspruch zur Möglichkeit der Verwendung desselben Wortes mit einer anderen pragmatischen Intention. Wir haben es bei den deskriptiven Verben also mit einem Phänomen zu tun, bei dem sowohl Wahrheitswerte als auch andere Parameter die Gebrauchsregel bestimmen können, ohne dass die deskriptive Hauptfunktion davon berührt wird. Ob ein Verb in erster Linie deskriptiv verwendet wird, hängt - das dürfte klar geworden sein - vom Äußerungskontext ab. 212 H ERMANNS 1995: 144 213 H ERMANNS 1995: 144 214 L OPPE 2010: 211 215 L OPPE 2010: 211 117 3.2.2 Emotive Verben Zu dieser Gruppe von Verben haben wir im vorangegangenen Abschnitt bereits ein paar Gedanken entwickelt, insbesondere zur Unangemessenheit der Verortung von Gefühlswörtern auf der Ebene der Deskription. Wenn H ERMANNS schreibt: „In der Regel sind sie selber [die Gefühlswörter, S. B.] aber gar nicht emotiv [...]“ 216 , dann ist dies als pauschale Aussage falsch, denn natürlich können Gefühlswörter selbst weder emotiv noch sonst etwas sein, sie können aber emotive Parameter in ihre Gebrauchsregel involvieren und je nach Kontext können diese Verben primär dazu dienen, ein Gefühl direkt auszudrücken. Zu den spezifischen Gebrauchsbedingungen solcher Verben der emotionalen Sphäre gehört es, dass man mit ihnen auf menschliche (und manchmal auch auf tierische) Emotionen referieren kann (entweder deskriptiv oder direkt als emotionaler Ausdruck). Ob das Gefühl selbst dabei durch die Äußerung des Wortes zum Ausdruck gebracht wird oder nicht, ob es also eventuell nur beschrieben wird, ändert m. E. nichts daran, dass solche Verben der emotionalen Sphäre entspringen und damit ein mehr oder weniger an emotiven Parametern besitzen. Wenn Verben mit emotiven Parametern in erster Linie dazu verwendet werden, auf ein Gefühl zu referieren, dann würde ich dieses Verb in diesem speziellen Gebrauchskontext den deskriptiven Verben zuordnen. Wird das Verb allerdings zum direkten oder indirekten Ausdruck eines Gefühls benutzt, dann sollte eine Einordnung in die Gruppe der emotiven Verben richtiger sein. Hier zeigt sich: Entscheidend für die Gruppierung eines Verbs in die eine oder die andere Gruppe ist nicht, welche Parameter in die Gebrauchsregel eingebunden sind, sondern einzig, welche Parameter in der spezifischen Wortbedeutung oder (in Fällen der Unklarheit) in der spezifischen Gebrauchssituation überwiegen. Eindeutiger als die Gefühlswörter, die bisweilen rein deskriptiv verwendet werden können, sind einige Verben der psychischen Sphäre (sogenannte Psychverben), die ich ebenfalls unter die emotiven Verben subsummieren würde. Als Beispiele dienen hier erschrecken, packen, reißen (in einer Satzkonstruktion wie Das reißt mich vom Hocker) oder ergreifen. 217 3.2.3 Evaluative Verben Am deutlichsten wird die kommunikative Funktion außersprachlicher Parameter bei den evaluativen Parametern. Verben, die diesen Typus involvieren, dienen primär dem Ausdruck von Affekten, wodurch sich die evaluative Bedeutungskomponente vielfach als (neue) Hauptbedeutung 216 H ERMANNS 1995: 144 217 Vgl. zur Frage der Bedeutungsentwicklung der Psychverben Kapitel 6.2.3 118 ausdifferenziert. Solche Verben sind in erster Linie dazu da, eine Haltung bzw. eine Bewertung mit auszudrücken, auch wenn sie zugleich eine Handlung, eine Tätigkeit oder einen Zustand beschreiben. Verben wie saufen, fressen oder klauen sind uns bereits begegnet und ich möchte sie an dieser Stelle als (indirekte) primär evaluative Verben bezeichnen. Hier gilt es m. E. der Genauigkeit halber, eine Unterscheidung zwischen a) direkten sekundären und b) indirekten primären Evaluativen einzuführen und in dieser Frage einen Seitenblick auf die Ausführungen G ISELA H ARRAS zu werfen. In ihrem Handbuch deutscher Kommunikationsverben befasst sie sich mit der Frage danach, was evaluative Verben ausmacht bzw. in welchen Bereichen solche Verben vorkommen können. 218 H ARRAS verortet die evaluativen Verben im Bereich der Sprechaktkennzeichnenden Verben (SKV) und zwar einzig dort, womit der Aspekt der bewertenden Parameter fälschlich allein auf die Ebene der sprachlichen Handlung mittels des Verbs gelenkt wird. 219 Der definitorische Begriffsumfang für evaluative Verben ist bei H AR- RAS m. E. zu eng gewählt. Als Beispiele führt sie Verben wie loben, verurteilen oder missbilligen an, also Verben, mit denen man durch den Äußerungsakt selbst eine evaluative Haltung direkt (aber sekundär) zum Ausdruck bringen kann, die aber nicht primär dem epistemischen Ausdruck eines Affektes dienen. Solche Verben bezeichne ich an dieser Stelle als (direkte) sekundäre Evaluative. Diese Verben entstammen der evaluativen Sphäre, eignen sich aber nicht zum Ausdruck eines Affektes, da ihre primäre Funktion darin besteht, eine sprachliche Handlung zu vollziehen, die sich zwar im Bereich des Evaluativen bewegt, mit einer Bewertung im eigentlichen Sinne aber kaum etwas zu tun hat. Im Gegensatz dazu eignen sich primäre Evaluative dazu, eine Bewertung indirekt auszudrücken - ihre sekundäre aber direkte Funktion ist es, einen Sachverhalt zu beschreiben. Dieses Phänomen und das sich daraus ergebende Dilemma der Frage der Verortbarkeit als Deskriptive ist uns schon bei den emotiven Verben begegnet: Die SKV im Bereich der Evaluation dienen dazu, einen Affekt zu beschreiben und dazu, die Beschreibung des Affektes, also die eigentliche Wertung, als Sprechakt auszuführen, sie drücken den Affekt aber nicht primär aus. Die kommunikative Funktion ist in diesen Fällen primär 218 Vgl. H ARRAS 2007: 252ff. 219 H ARRAS begeht an dieser Stelle m. E. den Fehler der unzulässigen Generalisierung, indem sie davon ausgeht, dass es neben den SKV keine weiteren Verben mit evaluativer Bedeutung gibt. Zur Frage der Übergeneralisierung semantischer Wandelphänomene vergleiche auch w. u. Kapitel 4. 119 deskriptiv und zugleich, da Sprechakte gekennzeichnet werden, primär performativ. Gleichwohl involvieren auch diese Verben evaluative Parameter, denn sie entstammen der Sphäre der Evaluation. Es gehört aber nicht zu den spezifischen Gebrauchsbedingungen von SKV, auf eine bestimmte Haltung zu referieren, sondern einen bestimmten Akt zu vollziehen (z. B. den Akt des Lobens). 220 SKV aus dem Bereich der Evaluation besitzen somit keine evaluative Funktion. Den Unterschied zwischen den emotiven Verben und den evaluativen SKV möchte ich an zwei Beispielen klar machen, denn für die emotiven Verben hatte ich mich ja weiter oben dagegen gewehrt, Emotionsverben aufgrund der Möglichkeit der deskriptiven Verwendung ihre emotive Funktion gänzlich abzusprechen, so wie ich es jetzt für die SKV postuliere. Wo ist also der Unterschied? Ich kann das Verb lieben verwenden, um zu sagen Ich liebe Dich, und damit mit dem Äußerungsakt zugleich mein Gefühl zum Ausdruck bringen. Ich verwende dann dieses Verb primär zum emotiven Ausdruck. Ich kann zudem jemanden lieben, ohne dass ich dies verbal artikulieren müsste. Wenn ich dagegen sage Ich lobe dich oder Ich verurteile dein Verhalten, lobe bzw. verurteile ich mein Gegenüber erst, indem ich äußere, dass ich es lobe oder verurteile. Was ich mit der Äußerung damit eigentlich vollziehe, ist eine Handlung - in diesem Fall die Handlung des Lobens oder des Verurteilens. Ich selbst muss den geäußerten Affekt nicht zwingend teilen. So kann ich jemanden für etwas verurteilen, auch wenn ich selbst gar nicht der Meinung bin, dass jemand eine Verfehlung begangen hat. Möglicherweise ist es einfach meine Pflicht, einen Tadel auszusprechen, obwohl ich vielleicht affektiv überhaupt nicht betroffen bin (z. B. bei Richtern). Es fehlt den evaluativen SKV (im Gegensatz zu emotiven Verben wie lieben) somit die Möglichkeit des affektiven Ausdrucks neben der sprachlichen Handlungsfunktion. So ist es auch nicht möglich, jemanden zu loben oder zu verurteilen, ohne dies ausdrücklich zu artikulieren. Ich kann aber im Gegensatz dazu sehr wohl eine Haltung ausdrücken, ohne dies ausdrücklich zu sagen, wie es dann der Fall ist, wenn ich statt trinken das metaphorische Verb saufen verwende. Der Sprecher äußert mit und durch die Verwendung des Verbs loben also, dass er etwas als positiv bewertet, er bewertet aber nicht dadurch, dass er das Verb äußert. Anders verhält es sich bei Verben, die indirekt aber primär evaluativ sind. Solche Verben bewerten dadurch, dass sie geäußert werden, aber mit ihnen wird im Gegensatz zu den SKV nicht geäußert, dass man etwas bewertet. Diese Verben bezeichne ich aus diesem Grund als primäre Evaluative. Als Beispiele dienen neben dem bereits erwähnten saufen auch fressen, klauen, 220 In einer anderen Lesart können solche Verben allerdings sehr wohl auch evaluative Parameter involvieren, z. B. in einem Satz wie Das lob ich mir. 120 hoppeln, watscheln (beide Verben in der bewertenden Übertragung auf menschliche Fortbewegung) 221 oder (Geld) scheffeln. Es gibt also im Kontrast zur Annahme H ARRAS nicht nur evaluative Verben im Bereich der SKV (wenn es sie dort überhaupt gib), sondern auch Verben mit evaluativen Parametern in der Nebenbedeutung, die keine sprachlich-bewertenden Handlungen kennzeichnen. Verben wie abnippeln (für sterben) oder klauen (für stehlen) zeigen diesen Unterschied recht gut auf. Im Gegensatz zu den SKV sind solche Verben nicht dazu da, die sprachliche Handlung des Bewertens zu vollziehen. Im Gegenteil: Man würde wohl sagen, dass die Hauptbedeutung solcher Verben darin liegt, einen Zustand oder eine Tätigkeit zu beschreiben (nämlich den Zustand des Sterbens und die Tätigkeit des Stehlens). Dass sie dennoch als evaluative Verben eingeordnet werden sollten, liegt in ihrem semantischen Charakteristikum: Sie drücken beide sehr deutlich eine Haltung aus, sie denotieren diese Haltung allerdings nicht, sie konnotieren sie vielmehr. Die SKV sind somit zwar Verben der Bewertung, aber nicht Verben, in die neben einer deskriptiven Hauptbedeutung (kommunikativ entscheidende) evaluative Parameter inkorporiert sind. Die evaluativen SKV sind vielmehr (wahrheitsfunktionale) Verben für bewertende Handlungen, müssten also treffender unter die deskriptiven Verben subsummiert werden, denn sie dienen zur Benennung von Affekten in deskriptiver Absicht und involvieren m. E. in der Hauptsache wahrheitsfunktionale Parameter. Sie haben somit eine deskriptive Hauptaber keine weitere evaluative Nebenbedeutung. Die Bewertung erfolgt nicht durch die semantische Bedeutung des Verbs, sondern durch die Form der Äußerung. Wenn ich etwas lobe oder verurteile, drücke ich eine Bewertung direkt aus, wogegen ich mit klauen indirekt meine (negative) Bewertung einer Tätigkeit des Stehlens zum Ausdruck bringe (m. E. über den Aspekt der Umgangssprachlichkeit hinaus, wobei umgangssprachliche Ausdrücke nicht selten evaluative oder expressive Konnotationen beinhalten). Somit sind die bewertenden SKV direkt bewertend - aber nicht auf der Ebene der Semantik -, wogegen die Gruppe der Verben mit evaluativen Bedeutungsanteilen indirekt bewertend sind und streng genommen nicht dem Sinnbereich der Bewertung selbst zugeordnet werden. Das evaluative Verb erhält eine bewertende Zusatzfunktion, die handlungstheoretisch sehr wichtig ist: Bei der intentionalen Wahl des Sprechers könnte auch ein 221 Diese beiden Beispiele stammen von G ERD F RITZ , der dazu schreibt: „Bei der Übertragung derartiger Verben auf Menschen wird das stereotype Wissen über typische Bewegungsarten der Tiere dazu genutzt, um Menschen eine dem jeweiligen Tier ähnliche Bewegungsart zuzuschreiben (die Tante watschelte nach Hause)“ (F RITZ 2006: 129). 121 neutrales Verb zur Referenz auf die kongruente Tätigkeit gewählt werden, wenn es dem Sprecher einzig um diese Referenz gehen würde. 3.2.4 Mentale Verben Ein sehr häufig zu beobachtendes Phänomen ist der semantische Wandel eines Verbs von der Sphäre des Konkreten, häufig des Haptischen, in die Sphäre des Abstrakten und dort vielfach in den Bereich des Kognitiven. 222 Solche mentalen oder kognitive Verben (auch verba sentiendi, wobei diese Terminologie auf alle affektiven Verben zutrifft), die dazu verwendet werden, auf einen Vorgang, einen Zustand oder eine Tätigkeit auf mentaler Ebene zu referieren, involvieren in ihre Gebrauchsregeln neben wahrheitsfunktionalen in erster Linie mentale Parameter. Die große Gruppe der unwahrhaftigen Verben, die ich in Kapitel 2 definiert habe, differenzieren sich in dieser Verbkategorie aus. Für die Beschreibung und die Suche nach Regularitäten des Bedeutungswandels bei Verben spielen insbesondere diese mentalen Verben eine entscheidende Rolle, da eine Entwicklung von der konkreten zur abstrakten Deskription und eine damit einhergehende Parameterverschiebung von den wahrheitsfunktionalen zu den mental-kognitiven Parametern in anderen Wortarten (zumindest aber bei den Adjektiven, die dieser Untersuchung Futter liefern) nicht zu finden ist. 223 Die Entwicklung mentaler Verben über semantische Verfahren (z. B. Metaphorisierung) ist ein Prozess, der ein besonderes Charakteristikum des Verbs darstellt und m. W. mit keiner anderen Wortart vergleichbar ist. Natürlich gibt es auch Substantive und Adjektive, die der mentalen Sphäre entstammen (z. B. Gedächtnis und schlau) und auch diese Wörter involvieren streng genommen mentale Parameter. Man verwendet diese Wörter, um auf eine Entität oder eine Eigenschaft aus der kognitiven Sphäre zu referieren. Sie sind aber in ihrer kommunikativen Funktion nicht ver- 222 Dieser Wandel, sofern er über das Verfahren der Metaphorisierung erfolgt, ist von E VE S WEETSER als Mind-as-Body-Metaphor benannt und beschrieben worden (vgl. S WEETSER 1990). Sweetser begeht allerdings den Fehler, diese Verlaufsrichtung des semantischen Wandels direkt zu Beginn ihrer Ausführungen (vgl. S WEETSER 1990: 23ff.) als die einzig mögliche einzustufen. Ihre Ausführungen erwecken daher den Anschein der Übergeneralisierung dieses Phänomens. Vgl. zu dieser Frage auch Kapitel 4 dieser Arbeit 223 Dennoch muss man achtsam sein, diesen unidirektionalen Wandel vom Konkreten zum Abstrakten nicht zu generalisieren. Hier neigt man nicht selten zur Übergeneralisierung bzw. zur stereotypen Vereinfachung. Nicht außer Acht gelassen werden darf der Umstand, dass es eine umgekehrte (und damit bidirektionale) Entwicklung ebenfalls geben kann und dass bisweilen auch eine zirkuläre Entwicklung möglich ist. Vgl. zum Problem der Übergeneralisierung Kapitel 4 und zum Phänomen der zirkulären Bedeutungsentwicklung Kapitel 7.1.1 122 gleichbar mit Verben wie begreifen oder erfassen, deren Existenz auf einer metaphorischen Übertragung beruht, die also nicht der geistigen Ebene entstammen und die gegenwärtig primär dazu verwendet werden, einen mentalen Zustand oder Vorgang (z. T. über ihre Nebenbedeutung) in einem speziellen Kontext auszudrücken. Das Gedächtnis ist dagegen eine mentale Entität, die über ein Substantiv mit semantisch deskriptiven Wahrheitswerten repräsentiert wird, so wie das Wort schlau vermutlich in erster Linie eine evaluative Funktion besitzt. Deutlicher wird dieser Umstand noch bei Verben wie raffen oder schnallen, die eigentlich (wie auch ursprünglich begreifen und erfassen) nicht der mentalen Sphäre entstammen, aber in gewissen Kontexten dazu verwendet werden, auf eine mentale Handlung zu referieren. Dass diese Verben daneben auch soziale Parameter beinhalten, ist kein Widerspruch. 224 Das Phänomen der Gerichtetheit semantischen Wandels vom Konkreten zum Abstrakten manifestiert sich in diesen mentalen Verben am deutlichsten und man kann davon ausgehen, dass eine Vielzahl der heute kognitiv-abstrakten Verben (wie z. B. lesen oder etwas ausmachen) aus Verben entstanden ist, die ursprünglich konkrete Verben aus dem Bereich des Körperlichen waren, in die mentale Parameter eingebracht worden sind. Zu den Gründen für diese regelmäßige Entwicklung solcher abstrakter Verben werde ich in Kapitel 4 Hypothesen nachliefern. Es kann aber an dieser Stelle erwähnt werden, dass eine soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft vom Haptischen zum Kognitiven eine mögliche Erklärung für diese gerichtete Entwicklung hin zu mehr mentalen Verben bedingen könnte. 3.2.5 Expressive Verben Für die Gruppe der expressiven Verben spielt die pragmatische Hauptfunktion des Verbs im kommunikativen Kontext eine distinktive Rolle. So gibt es eine Reihe von Verben, die dazu geeignet sind, damit sich ein Sprecher durch deren Verwendung expressiv ausdrücken kann. Die Parameter, die in die Gebrauchsregeln solcher Verben inkorporiert sind, entstammen sowohl dem Bereich des Sozialen als auch dem Bereich der außersprachlichen Wirklichkeit und natürlich wirken expressive Verben bisweilen auch evaluativ: „Das parasprachliche Mittel ist die Intonation 224 So würde man diese beiden Verben wohl nicht in einem wissenschaftlichen Kreis verwenden, um sich auf kognitive Verstehensprozesse zu beziehen, wogegen auf einem Schulhof eine Verwendung wohl deutlich gebräuchlicher sein wird. 123 und das sprachliche der Gebrauch expressiver Ausdrücke, und expressive Ausdrücke sind immer zugleich evaluativ“ 225 . Während eine Zuordnung bei den emotiven, bei den evaluativen und auch bei den mentalen Verben anhand inkorporierter Parameter der Gebrauchsregel relativ problemlos möglich ist, verhält es sich bei den expressiven Verben ein wenig anders. Wie auch bei den deskriptiven Verben steht hier in erster Linie die kommunikative Funktion dieser Verben im Vordergrund und nicht so sehr die semantische Ausdrucksmöglichkeit bzw. die Sphäre, aus der die Verben entstammen. Entscheidend für diese Verben ist eine besondere Emphase, die durch die Äußerung zum Ausdruck gebracht werden soll. 226 S EBASTIAN L ÖBNER schreibt: „Ein Ausdruck hat genau dann expressive Bedeutung, wenn er dem unmittelbaren Ausdruck subjektiver Empfindungen, Gefühle, Bewertungen und Einstellungen dient“ 227 . Die expressive Bedeutung eines expressiven Verbs ist somit „Bestandteil der lexikalischen Bedeutung [...], eine semantische Qualität, die [diese Verben, S. B.] unabhängig vom ÄK [Äußerungskontext, S. B.] oder der Sprechweise besitzen“ 228 . Es ist aber klar, dass nicht jedes Verb willkürlich dazu geeignet ist, einen expressiven Ausdruck hervorzubringen. Am ehesten werden Verben aus sexuellen Tabusphären und umgangssprachliche Verben (z. B. verpissen oder abkacken) dazu verwendet, damit ein Sprecher sich expressiv ausdrücken kann. Kraftausdrücke sind hierbei ein besonderer Ausdruck einer Emphase und wohl in erster Linie sozial zu erklären. Insofern könnte man die expressiven Verben dieser Sphäre, diejenigen also, die sich in sozialen Rollen und Gruppen manifestieren und dort Verwendung finden, vielfach auch als soziale Verben einordnen. Insbesondere dann, wenn durch die Artikulation dieser Verben eine Zugehörigkeit zu einer 225 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 145. Ich glaube allerdings nicht, dass expressive Ausdrücke immer evaluativ sind, auch wenn diese Einschätzung für Adjektive wohl treffend ist. Für die Gruppe der Verben würde ich hier vorsichtiger argumentieren und eine solche Verallgemeinerung für gefährlich halten. Was ist beispielsweise die bewertende Komponente in Verben wie wichsen oder absaufen? Hier scheint mir die Expressivität im Vordergrund zu stehen, eine Bewertung kann ich je nach Äußerungskontext vielleicht erahnen, aber nicht deutlich erkennen. Dennoch ist es auch möglich, dass expressive Verben auch expressiv-evaluativ verwendet werden. Dies ist dann der Fall, wenn ich klar erkennen kann, dass der Sprecher eine positive oder negative Haltung mit dem geäußerten Verb über den Aspekt der Expressivität hinaus ausdrücken möchte. Der Kontext ist für eine solche Bestimmung entscheidend. 226 Emphase wird hier nicht auf der emotionalen Ebene als ein gesteigertes Gefühl verstanden, sondern im ursprünglichen Sinne als „Kraft des Ausdrucks“. Somit sind die sogenannten Kraftausdrücke in erster Linie expressiv, denn sie drücken eine besondere Emphase aus. 227 L ÖBNER 2003: 43 228 L ÖBNER 2003: 43 124 sozialen Gruppe erzeugt oder aufrechterhalten werden soll bzw. wenn die Artikulation soziale Funktionen erfüllt. 229 Anders verhält es sich wohl bei Tabuwörtern, auch wenn deren Artikulation in vielen Fällen ebenfalls soziale Funktion besitzt. Dass es aber überhaupt eine Vielzahl von expressiven sexuellen Tabuwörtern gibt, 229 Diese Auffassung steht in einem diametralen Gegensatz zu den Ansichten S EBASTI- AN L ÖBNER s, der behauptet, „der Einsatz von Expressiven [gehorche] [...] Regeln, die nur die s u b j e k t i v e , nicht die soziale Angemessenheit ihrer Verwendung betreffen“ (L ÖBNER 2003: 47. Unterstreichung durch den Verfasser). Ich halte es für zwingend notwendig, für die Verwendung expressiver Ausdrücke auch immer die soziale Dimension mitzudenken. Auch wenn es stimmt, dass es für die Verwendung sozialer Ausdrücke vielfach klare Regeln gibt (L ÖBNER 2003: 47), gelten diese m. E. ebenso für die Verwendung expressiver Ausdrücke im sozialen Kontext. L ÖBNER schreibt: „Aber während es klare soziale Regeln für die Verwendung von Ausdrücken mit sozialer Bedeutung gibt [...], gibt es keine solchen Regeln dafür, wann man jemanden ein ,Arschloch’ nennt“ (L ÖBNER 2003: 47). Ich stimme für dieses spezielle Beispiel mit L ÖBNER überein. Dennoch gibt es auch gesellschaftliche Regeln - und die von Löbner postulierten Regeln für die Verwendung sozialer Ausdrücke (z. B. Duzen oder Siezen) folgen ebenfalls keinen innersprachlichen, sondern sprachexternen sozialen Regeln - , die die Verwendung expressiver Verben bestimmen. So ist es zwar in der Tat eine „Sache der subjektiven Kategorisierung“ (L ÖBNER 2003: 47), ob ich etwa ein expressives Verb wie ficken oder kotzen verwende, aber ich bin in der Situation der Äußerung ähnlichen sozialen Regeln unterworfen, wie es L ÖBNER für die (konventionalisierten) sozialen Ausdrücke vorgibt. So kann eine solche Regel für expressive Verben pauschal lauten: Verwende in einem sozialen Kontext K keine (sexuellen) Kraftausdrücke! Dies wäre in meinen Augen ebenso eine feste soziale Regel wie Sieze fremde erwachsene Menschen! oder Sag „Danke“, wenn dir jemand ein Geschenk macht! Diese sozialen Regeln haben aber nichts mit den Regeln des Wortgebrauchs und damit auch nichts mit den Wortbedeutungen expressiver oder sozialer Verben zu tun. Was L ÖBNER hier m. E. außerdem übersieht ist, dass expressive Ausdrücke vielfach ebenso sozialen Regeln folgen, wie es bei den sozialen Ausdrücken der Fall ist. Vielmehr müsste man hinterfragen, ob es tatsächlich so klare soziale Regeln für die sozialen Ausdrücke gibt, wie L ÖBNER annimmt. Er scheint sich nämlich in erster Linie auf konventionalisierte Ausdrücke zu beziehen und allein denen eine soziale Bedeutung aufgrund ihrer sozialen Bekundungsfunktion zuzuweisen (z. B. sich entschuldigen oder bedanken). Es wird sich weiter unten für die sozialen Verben zeigen, dass diese durchaus (wie die Expressive auch) subjektiv konzeptionalisiert werden, wenn der Sprecher sich nämlich in einer Weise ausdrückt, die von der in einem bestimmten Kontext sozial geltenden Regel abweicht. In solchen Fällen wäre das Abweichen (und damit die Verletzung einer sozialen Regel) ein Ausdruck der sozialen Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe. Will sagen: Auch asoziales sprachliches Verhalten ist bisweilen sozial determiniert. Die soziale Angemessenheit einer Wortverwendung ist daher keine Frage der Wortbedeutung; die Wortbedeutung kann aber soziale Parameter involvieren und damit eine soziale Funktion erfüllen. Dies sind aber unterschiedliche Kategorien, die L ÖBNER hier nicht beachtet, weil er die Ebene der Wortbedeutung mit der Ebene der Wortverwendung gleichsetzt und damit nicht präzise genug unterscheidet, obwohl eine solche Unterscheidung m. E. zwingend geboten ist. 125 liegt vermutlich zum einen daran, dass Tabuwörter per se expressiv sind und zum anderen daran, dass es offenbar einen Bedarf an deutschen Verben für sexuelle Handlungen gibt. Dies erkennt im Grunde auch G ERD F RITZ , wenn er schreibt: „[N]euerungsfördernd sind Themen wie Sexualität und andere affektiv besetzte Themen, die zu immer neuen Euphemismen führen“ 230 . Da sexuelle Handlungen in unserer Gesellschaft vielfach tabuisiert sind, ergibt sich eine de facto Expressivität der Wörter. Ich behaupte: Alle Tabuwörter sind expressiv und alle Wörter der sexuellen Sphäre sind (mehr oder weniger) Tabuwörter. So kennt das Deutsche zwar Verben für sexuelle Vorgänge und Handlungen, diese entstammen aber m. W. alle medizinisch-biologischen Terminologien und sind daher für die Sprecherwirklichkeit aufgrund des Fehlens einer Bildhaftigkeit ungeeignet. Innovationen im Bereich der sexuellen Tabuwörter tragen diesem Mangel Rechnung und erfüllen damit eine Prämisse, die F RITZ für den Erfolg semantischer Neuerungen postuliert, indem sie „eindeutig auf einen Gegenstand Bezug nehmen, für den es bisher keine geeignete Kennzeichnung gab“ 231 . Verben wie kopulieren oder masturbieren sind als Fremdwörter im Wesentlichen zu sperrig, um in die Alltagssprache einer Sprachgemeinschaft aufgenommen zu werden. Deutsche und standardsprachliche Entsprechungen für kopulieren und onanieren gibt es auf der Ebene des Verbs m. W. nicht. Stattdessen entstammen die tatsächlich gebräuchlichen Verben dieser sexuellen Dimension der konkreten Sphäre des Körperlichen, wurden aber durch semantische Inkorporierung wahrheitsfunktionaler (aus der Sphäre des Sexuellen), sozialer und evaluativer Parameter durch Bildhaftigkeit in ihrer Bedeutung ausdifferenziert und haben über diesen Prozess einen Bedeutungswandel erfahren. So verwendet man die Verben ficken heute nur noch für kopulieren und wichsen (m. W. nur bei Männern) für onanieren. Die ursprünglichen Wortbedeutungen sind vielfach nicht mehr erhalten. Man könnte also von einer bedarfsgerechten Umformung von Verben des Körperlichen zu Verben des Sexuellen sprechen. Die Expressivität haben diese Verben im Zuge dessen nicht dadurch erhalten, dass man mit ihnen eine bestimmte Emphase ausdrücken wollte, sondern vermutlich eher dadurch, dass sexuelle Ausdrücke per se Emphase zum Ausdruck bringen, wenn sie nicht-wissenschaftlich generiert und verwendet und dadurch tabuisiert sind. Ein Aufweichen dieser Expressivität ist durch eine frequente Verwendung auch außerhalb des Umgangssprachlichen zu beobachten: Dadurch, dass mittlerweile auch im Fernsehen und in der Literatur tabuisierte und damit expressive Verben verwendet werden, verlieren diese Verben m. E. zukünftig ihren expressiven Charakter. Eine 230 F RITZ 1998: 868 231 F RITZ 1998: 869 126 solche Entwicklung nennt man bisweilen in der Linguistik auch Objektivierung oder emotive bleaching, also ein „Verblassen des expressiven Bedeutungsanteils“ 232 . 3.2.6 Soziale und diskursive Verben Expressive Verben, das habe ich weiter oben bereits angedeutet, erfüllen in vielen Fällen eine soziale Funktion. Es scheint daher geboten, eine Vielzahl der expressiven Verben zugleich den sozialen Verben zuzuordnen, nämlich immer dann, wenn die Expressivität dazu dient, eine soziale Rolle zu sichern oder zu markieren. Auf der Suche nach Beispielen für Verben, die sehr klar eine soziale Zugehörigkeit markieren, die aber nicht zwingend expressiv sind, kann man sich am reichen Wortschatz des Soziolekts bestimmter Regionen bedienen. So sind v. a. im Ruhrgebiet Verben wie feudeln (für wischen), malochen (für arbeiten) oder reinklotzen (für sich beeilen) in einer bestimmten sozialen Schicht sehr gebräuchlich. Neben den wahrheitsfunktionalen Parametern in den Gebrauchsregeln dieser Verben sind es insbesondere die sozialen Parameter, die diesen Verben eine sozial regulierende und strukturierende Funktion zuweist. Durch die Inkorporierung sozialer Parameter lassen sich diese Verben zum Ausdruck einer Gruppenzugehörigkeit verwenden und erhalten erst dadurch ihre kommunikative Funktion. Solche sozialen Verben erfüllen ihre primäre soziale Funktion, indem sie dem Ausdruck einer sozialen Stellung dienen. Dass über den Aspekt der Entkopplung von der Hoch- oder Standardsprache auch expressive Bedeutungsanteile vorhanden sind, ist in den gerade genannten Fällen zwar nachweisbar, allerdings eher sekundär bedeutungsbestimmend sind, liegt m. E. in der Natur der sozial abgrenzenden Rede. 233 Darüber hinaus gibt es Verben, in deren Gebrauchsregel soziale Parameter eingebettet sind, die aber nicht zugleich expressiv wirken. Im Bereich der SKV können wir solche Verben identifizieren, etwa in den Beispielen jemandem etwas vorwerfen oder jemanden oder etwas verurteilen. Hier stellt sich wieder die Frage, ob es sich bei solchen Verben in erster Linie um Verben handelt, die eine soziale Funktion ausüben oder ob man diese Verben nicht vielmehr den deskriptiven Verben unterordnen muss. Ich 232 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 147 233 Wenn Wörter dazu verwendet werden, eine soziale Rolle oder Zugehörigkeit zu markieren, die nach unten von der Mitte abweicht, dann ist eben dieses Abweichen durch bewusste Sprachwahl erwünscht und wird in jedem Fall Expressivität hervorbringen. Will sagen: Wenn ich mein Abweichen von der Norm sprachlich markieren möchte, wird meine Wortwahl mehr oder weniger expressiv sein. Soziale Markierung durch Sprache scheint mir in den meisten Fällen, da es Ausdruck einer Rolle ist, expressiv. 127 denke, dass eine Zuordnung zu den sozialen Verben deswegen richtig ist, weil diese Verben zugleich eine sozial regulierende Funktion einnehmen. Wenn ich z. B. sage: Ich verurteile die Haltung der USA in der Irak-Frage, dann dient mir das Verb verurteilen zum indirekten Ausdruck meiner eigenen sozialen Rolle (in diesem Fall als politisch denkender Bürger). Der direkte Ausdruck ist dagegen die Beschreibung meiner Haltung. Man könnte deswegen auch vermuten, dass dieses Verb primär evaluativ verwendet wird, aber das stimmt nicht, denn meine eigentliche Bewertung drücke ich nicht über die Äußerung des Verbs verurteilen aus (das ist eher eine Deskription), sondern ich äußere meine Bewertung - und das ist etwas gänzlich anderes. 234 Insofern sind viele soziale Verben auf den ersten Blick bewertend und deskriptiv, ihre kommunikative Funktion liegt aber in erster Linie auf dem Aspekt der Zuschreibung einer sozialen Rolle (z. B. der Rolle des Kritikers). Zudem kann ein Verb wie verurteilen in einer Äußerung wie Ich verurteile Horst hiermit zum Tode als soziales Instrument geeignet sein, indem durch solche Verben soziale Normen, Werte und Regeln konnotiert werden. Auch S EBASTIAN L ÖBNER definiert soziale Ausdrücke mit einem starken Fokus auf den „Ausdruck sozialer Beziehungen oder de[n] Vollzug sozialer Handlungen“ 235 . Es ist - das zeigt sich gerade bei den sozialen Verben sehr deutlich - für eine Reihe von Verben nicht eindeutig feststellbar, in welche Gruppe sie letztlich einzuordnen sind. Dies ist weniger ein Dilemma als eine prinzipielle Entscheidungsfreiheit. Auch hier gilt: Entscheidungsfreiheit heißt nicht Unentscheidbarkeit. Vielmehr muss man wohl in dieser kategorischen Uneindeutigkeit den Beleg für die These sehen, dass in Wortbedeutungen nicht einzelne Parameter isoliert vorkommen, sondern dass Überschneidungen und Mehrfachvorkommen durchaus möglich sind. Für die sozialen Verben möchte ich daher - insbesondere mit einem Verweis auf die Semantik expressiver Ausdrücke, die ich weiter oben verdeutlicht habe - feststellen, dass diese Kategorie weniger scharfe Grenzen besitzt, als wir es zuvor für die anderen Gruppen annehmen durften. Etwas klarer ist die Kategorisierung für Verben wie einholen oder einräumen. Beide Verben stammen ursprünglich aus der Sphäre des Haptischen (hier: aus dem Bereich der Ernte) und werden heute in bestimmten Kontexten dazu verwendet, auf Meinungen zu referieren. Im einen Fall wird eine bestimmte Meinung (oder ein Ratschlag) eingeholt, im anderen Fall wird ein Umstand zugegeben. In beiden Fällen handelt es sich um eine sozial determinierte Handlung: Die Meinung eines anderen einzuho- 234 Vgl. dazu die Ausführungen zu evaluativen Verben in Kapitel 3.2.3. Dort habe ich den Unterschied zwischen indirekten primären und direkten sekundären Evaluativen herausgearbeitet. 235 L ÖBNER 2003: 39 128 len ist ebenso von sozialer Bedeutung, wie einen eventuellen Fehler einzuräumen. In beiden Fällen, die hier exemplarisch stehen, handelt es sich um abstrakte Vorgänge, wobei die Einholung eines Angebots (im Bereich der Wirtschaft) durchaus stärker an die konkrete Ursprungsbedeutung anlehnt. Ein Beispiel für eine etwas andere Bedeutungsentwicklung eines gegenwärtig sozial gebräuchlichen Verbs ist die Geschichte des Verbs versorgen. In einer früheren Lesart, die man im historischen Textkorpus z. B. bei Goethe findet, trägt das Verb zwar eine ähnliche Bedeutung, wie wir sie heute kennen, das Dativobjekt hingegen hat sich geändert, wodurch das Wirken des sozialen Parameters deutlich in den Vordergrund getreten ist: Bezieht man sich heute mit diesem Verb auf Menschen oder Tiere (Ich versorge meine Großmutter mit Essen/ Ich muss noch die Katzen versorgen), hatte das Verb ursprünglich eine Bedeutung, die weiter gefasst war und sich nicht (direkt) auf Lebewesen bezog. Während wir heute das Verb mit einer sozialen Komponente versehen verwenden (man kümmert sich um jemanden), konnte man zu Goethes Zeiten auch auf Unbelebtes referieren und in erster Linie mit versorgen eine Art Lagerhaltung denotieren. Diese ursprüngliche Verwendungsweise finden wir heute noch in Substantiven wie etwa dem Versorgungsraum in einem Mehrfamilienhaus. So lesen wir bei Goethe (mit deutlich schwächerer sozialer Konnotation): Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr im Kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. 236 Ein typisches Beispiel für ein Verb, dass man als diskursives Verb bezeichnen kann, findet sich in einer bestimmten Lesart des Verbs sehen. In dem Satz Ich sehe das aber leider anders erfüllt das Verb sehen eine diskursive Funktion, indem es schlussfolgernd oder begründend verwendet wird. Das gilt auch für das Verb sich auseinandersetzen in einem Satz wie Ich denke nicht, dass ich mich damit auseinandersetzen werde. Auffällig ist, dass solche Verben ihre diskursive Funktion erst über den Prozess der metaphorischen Übertragung erhalten haben. Aus zunächst rein wahrheitsfunktionalen Verben werden durch Metaphorisierung in diesem Fall diskursiv wirksame Verben. Auch hier sehen wir: Die pragmatische Nutzung solcher Verben wurde durch die Einbindung (in diesem Fall diskursiver) Parameter erweitert, das Verb gewinnt an pragmatischer Weite. Es hat einen Grund, warum ich die sozialen und die diskursiven Verben an dieser Stelle gemeinsam beleuchte: Die diskursiven Verben erfül- 236 DuW: Goethe HA, Band 9: 12. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebung durch den Verfasser. 129 len nicht nur eine Funktion im Bezug auf kommunikative Argumentationen, sie sind zudem auch als soziale Verben zu bewerten: Nur derjenige, der sozial in einer bestimmten Rolle ist, kann es sich erlauben, gewisse diskursive Verben in einem kommunikativen Kontext zu verwenden. So kann der Satz Ich sehe das anders (als du) nur dann geäußert werden, wenn man aufgrund seines sozialen Status dazu berechtigt ist, diese argumentative Kritik oder diesen argumentativen Kontrapunkt setzen zu dürfen. Insofern ist die Möglichkeit der Äußerung mancher diskursiver Verben zugleich auch sozialer Ausdruck. Erneut zeigt sich: Die Grenzen zwischen den hier entworfenen Verbgruppen sind bisweilen fließend und ggfs. erfordern sie in späteren Auseinandersetzungen noch der Präzisierung. An dieser Stelle dienen sie dem Nachweis von außersprachlichen Bedeutungsparametern und ich nehme an, der Nachweis wurde hinreichend geführt. 3.2.7 Überblick Aus der Einbindung außersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregeln von Verben ergibt sich eine Verbklassifizierung, die sich nach kommunikativen Handlungsmöglichkeiten für den Sprecher durch das Verb richtet. In der folgenden Übersicht lassen sich die vielfältigen (erweiterten) Nutzungsmöglichkeiten erkennen und die Wichtigkeit der inkorporierten Parameter für die (bisweilen neue) Wortbedeutung ablesen: 130 Abb. 5: Verbklassifizierung anhand außersprachlicher Gebrauchsparameter 3.3 Parameterverschiebungen als Motor für den Bedeutungswandel - ein Fazit Weiter oben haben wir gesehen, welchen entscheidenden Stellenwert sprachliche und vor allem außersprachliche Parameter für die Beschaffenheit einer Gebrauchsregel und damit für die Bedeutung eines Wortes haben. Ich hatte in diesem Zusammenhang zwei Thesen aufgestellt, die ich jetzt um eine dritte These erweitern möchte. Sie lautet: 3. Verschiebungen der Parameter der Gebrauchsregel sind entscheidend für den Bedeutungswandel eines Wortes verantwortlich. Fassen wir zum Beweis dieser dritten These den bisherigen Kenntnisstand zu den Bedeutungsparametern bei Verben (und vermutlich gilt dies für andere Wortarten analog) kurz zusammen. Wie sich gezeigt hat, gibt es drei wesentliche Aspekte, die für die Erklärung von Bedeutungswandel beachtet werden müssen: 131 Erstens ist der richtige bzw. angemessene Bedeutungsbegriff zu wählen, der sich nur als ein instrumentalistischer denken lässt, zweitens ist dieser Bedeutungsbegriff mit einer adäquaten Theorie zur Erklärung sprachlichen Wandels im Allgemeinen zu verknüpfen. Dass sich zu diesem Zweck die von R UDI K ELLER entwickelte invisible-hand-Theorie im Besonderen eignet, habe ich weiter oben explizieren können. Drittens sind über den Aspekt der Gebrauchsregel als Bedeutung die Parameter der Gebrauchsregel eines Wortes zu involvieren. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren möchte ich wie folgt beschreiben: Über einen instrumentalistischen, gebrauchstheoretischen Bedeutungsbegriff lässt sich Bedeutungswandel als invisible-hand-Prozess, also als soziokulturelles, intentionales Handeln mit ungeplanten Effekten auf der Ebene der Sprache begreifen. Das intentionale Handeln der einzelnen Individuen spiegelt sich beim Bedeutungswandel in der Veränderung der Gebrauchsregel wider und zwar sehr deutlich in der Verschiebung, Inkorporierung oder dem Wegfall von Parametern der Gebrauchsregel. So dürfte das Resultat semantischen Wandels in aller Regel in der Veränderung der Gebrauchsregel in Form einer Neu-Inkorporierung sprachlicher und/ oder außersprachlicher Parameter zu suchen und zu finden sein. Wenn das stimmt, dann manifestieren sich die intentionalen Entscheidungen der Sprecher, die in bis dato ungewohnter Weise von dem ursprünglichen Wortgebrauch abweichen (durch die Anwendung eines semantischen Verfahrens wie etwa der metaphorischen Übertragung), sehr deutlich (und vor allem dank einer präzisen Taxonomie der Parameter einer Gebrauchsregel nun auch sprachwissenschaftlich nachweisbar) in den Gebrauchsbedingungen der Wörter. Dabei handelt es sich um ein Wechselspiel aus Regelverletzung, Sinnerzeugung und Neuverregelung. Einige Beispiele haben uns bereits verdeutlicht, dass im Zuge einer solchen Verkettung am Ende des Prozesses neue, bislang nicht involvierte Parameter Einzug in die Gebrauchsregel (und damit in die Bedeutung eines Wortes) halten können. Wenn dies passiert, differenziert sich ein Wort in einer ganz bestimmten Weise semantisch und pragmatisch aus. Eine Vielzahl von Verben kann deswegen heute zu einer der weiter oben entworfenen Verbgruppen zugeordnet werden, für die diese Zuordnung ursprünglich nicht möglich war (z. B. fressen, raffen, begreifen, klauen, etc.). Gäbe es die prinzipielle Möglichkeit der Parameterverschiebung bzw. Parameterinkorporierung nicht, würde Bedeutungswandel wohl nicht in dieser Weise stattfinden. 237 237 So verstanden ist es wohl korrekt, Parameterstrukturveränderungen als einen „Motor“ des Bedeutungswandels zu bezeichnen, wie ich es auf pointierte Weise in 132 D IETRICH B USSE hat im Zusammenhang mit den traditionellen Bemühungen um die Aufdeckung von Typen des Bedeutungswandels erkannt, dass sich eine „Dominanzverschiebung von denotativen zugunsten konnotativen Bedeutungselementen“ 238 feststellen lässt, „die sich neben dem politischen Sprachgebrauch z. B. auch in der Werbesprache“ 239 manifestiert. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen und behaupten: Eine solche Dominanzverschiebung findet sich auch in der Alltagssprache, wie die bisherigen Beispiele aus den Verbwortschatz gezeigt haben. Mit Hilfe der weiter oben entwickelten Bedeutungsparameter ist es auch möglich, diese Verschiebung zu erklären: Die Inkorporierung inner- und vor allem außersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel eines Wortes ist der Motor für den Bedeutungswandel, indem sich daraus in vielen Fällen die von B USSE vermutete Dominanzverschiebung ergibt: Die beiden Verben klauen und stehlen besitzen die gleiche Denotation, sie weisen aber aufgrund der unterschiedlichen Parameter, die in ihren Gebrauchsregeln wirksam sind, unterschiedliche Konnotationen auf. Somit befeuern Bedeutungsparameter den Bedeutungswandel, indem sie aus den realen kommunikativen Sphären entspringen und ein Wort in neuer Art und Weise semantisch konnotieren. Man könnte sagen: All das, was ein Sprecher mit einem Wort ausdrücken will (pragmatisch und intentional), findet sich in semantischen Parametern wieder. Dem Sprecher steht es daher frei, ein Wort in abweichender Weise zu verwenden und damit über diese Neuverwendung den Parametern die Tür zu öffnen. 240 Wenn wir also erkennen, dass Bedeutungsparameter einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Wortbedeutung haben, können wir festhalten, dass Änderungen der Parameterstruktur eines Wortes in jedem Fall auch eine Änderung der Wortbedeutung bedingen. Ich denke, hier erwächst ein gänzlich neuer Ansatz der Betrachtung von Wortbedeutung: Ging man bisher immer davon aus, dass Bedeutungswandel über semantische Verfahren hinreichend beschrieben wurde, muss man jetzt argumentieren, dass eine solche Betrachtung das Wesen der Benennung dieses Unterkapitels getan habe. Ich muss aber darauf hinweisen, dass diese Metaphorik nur mit einer wichtigen Einschränkung zu verstehen ist: Die Motormetapher bezieht sich hier nur auf die Strukturebene der Wortbedeutung, nicht auf die intentionalen Entscheidungen der Sprecher. Es wäre auch töricht anzunehmen, dass irgendein Sprecher beabsichtigt, Parameter innerhalb einer Gebrauchsregel zu verändern. Insofern ist der eigentliche Motor, um bei diesem Bild zu bleiben, natürlich das zweckrationale Handeln der Sprecher. Die Veränderungen auf der Parameterebene hingegen sind die Effekte dieses Handelns und strukturell für den Bedeutungswandel von entscheidender Bedeutung. 238 B USSE 2001: 1316 239 B USSE 2001: 1316 240 Dass sich nicht jedes Wort beliebig dazu eignet, z. B. expressiv verwendet zu werden, ist klar. 133 der Bedeutung eines Wortes nicht ausreichend berührt. Bedeutungsparameter zu klassifizieren ist daher kein reiner sprachwissenschaftlicher Selbstzweck, sondern von entscheidender Wichtigkeit dafür, Bedeutungen strukturell und aus handlungstheoretischer Sicht zu begreifen und Bedeutungswandel darüber erklären zu können. Ich denke daher, dass über den Ansatz der Parameter der Gebrauchsregel einem Anspruch genüge getan wird, den A RMIN B URKHARDT vor etwa 20 Jahren formuliert hat, der aber bis heute der Auffassung vieler Linguisten entsprechen dürfte: [Die] pragmatische Semantik ist [...] viel zu vage und unverbindlich formuliert und [...] für die praktische [...] Arbeit weitgehend ungeeignet, [...] indem sie alle Semantik auf die Formulierung von ,Gebrauchsregeln’ reduziert, und keinerlei Angaben darüber macht, was Gebrauch oder Gebrauchsregeln eigentlich sind, worin sie bestehen oder wie sie zu beschreiben sind [...]. 241 Weiter lesen wir bei ihm: Die Definition der Bedeutung oder Gebrauchsregel [diese beiden Begriffe werden hier fälschlicherweise gleichgesetzt, S. B.] ist so lange ohne erklärende Kraft, wie man nicht angibt, worin beide bestehen und wie beide zu beschreiben sind. Es steht zu befürchten, daß von einer [...] theoretischen Basis her genauere Angaben weder zu leisten noch zu erwarten sind. 242 B URKHARDT s düstere Befürchtung hat sich - das habe ich zeigen können - nicht bewahrheiten müssen; dass die Gebrauchsregel eines Wortes (insbesondere in der diachronen Analyse) über Bedeutungsparameter präzise bestimmt wird (und damit die Gebrauchstheorie an explanativer Kraft gewinnt), dürfte mittlerweile evident geworden sein. Diese Erkenntnis ist im Übrigen nicht auf die sehr spezielle Fragestellung dieser Arbeit hin ausgerichtet. Ganz im Gegenteil: Die Kategorien semantischer Parameter lassen sich m. E. auf fast jede Wortart anwenden, sowohl (und in erster Linie) auf Autosemantika, sicher aber auch in gewissem Maß auf die Gruppe der Synsemantika (dort sind es vor allem die innersprachlichen Parameter, die das Wort semantisch prägen und grammatisch positionieren). 243 241 B URKHARDT 1991: 7. Hervorhebungen im Original und durch den Verfasser. 242 B URKHARDT 1991: 9. Hervorhebungen durch den Verfasser. 243 Eine weitergehende Überprüfung dieser These und praktische Anwendung der im Zuge dieser Arbeit entwickelten Analyse der Gebrauchsregel von Verben wäre sicher auch für andere Wortarten spannend und fruchtbar. Sie könnte hilfreiche Antworten auf die Frage liefern, wie Wortbedeutungen grundsätzlich konstruiert sind und wie sich diese durch intentionales Verhalten der Sprachgemeinschaft ändern können. Insofern bin ich der Auffassung, dass eine tiefgreifende Untersuchung der Parameter einer Gebrauchsregel zugleich Desiderat und Notwendigkeit 134 Welche Wege der semantischen Inkorporierung im Einzelnen für das Verbum möglich sind, haben wir schon gesehen. Welche makroskopischen Pfade im Sinne einer Mittel-Zweck-Rationalität des Sprechers sich daraus für den Bedeutungswandel bei Verben ergeben, wird im Zentrum des analytischen Teils dieser Arbeit stehen. Dort wird der intentionale Zweck einer Äußerung noch in drei grundlegende Gegensätze zu differenzieren sein: Repräsentation, Persuasion und soziale Interaktion, also Darstellungsfunktion, Beeinflussungsfunktion und Beziehungspflege durch die zweckrationale Auswahl sprachlicher Mittel durch den Sprecher. 244 Die zuvor entworfenen Parameter der Bedeutung werden die dort zu entwickelnden Pfade des Wandels bei Verben präzisieren können und sie werden dabei helfen aufzuzeigen, welche semantische Veränderung ein Verb auf der sprachlichen Ebene des Wortes auf dem Weg von A nach B durchlaufen hat. Will sagen: Es wird sich zeigen, wie semantische Entwicklungspfade (in K ELLER scher Diktion) durch die Inkorporierung von Bedeutungsparametern in die Gebrauchsregel eine bestimmte Richtung (im Sinne einer eindeutigen Gerichtetheit) bekommen können. Diese Pfade eignen sich m. E. besser zur Klassifizierung des Bedeutungswandels, als die bisherigen Versuche, dies anhand von Ursachen oder Typen (orientiert an semantischen Verfahren) zu leisten, fähig sind. So konstatiert D IETRICH B USSE , dass manche Autoren eine Klassifizierung von Bedeutungswandel (egal ob nach Ursachen oder Typen) gänzlich ablehnen, da ihnen ein einheitliches Kriterium fehlt, welches aufgrund der Vielschichtigkeit der Einzelphänomene nicht aufzufinden sei. 245 Ich plädiere daher dafür, die hier entwickelten Bedeutungsparameter aus handlungstheoretischer Sicht als ein solches einheitliches Kriterium aufzufassen, anhand dessen man durchaus in der Lage ist, Bedeutungswandel über mögliche Pfade der Inkorporierung zu klassifizieren. Diese Klassifizierung von Pfaden des Bedeutungswandels werde ich in Kapitel 8 entwerfen und ich nehme an, dass sie das Desiderat auflösen können. Den Prozess der Verbindung von Mikro- und Makroebene durch Inkorporierung semantischer Parameter werde ich weiter unten unter dem Begriff 2-Ebenen-Modell der Bedeutung als semantische Kopplung von außer- weiterer linguistischer Forschung ist. Ich glaube, mit der weiter oben entwickelten erweiterten Taxonomie der Bedeutungsparameter einen ersten Beitrag dazu geleistet zu haben; eine intensivere Beschäftigung ist mir im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, sie ist für meine Fragestellung zudem auch nicht nötig und nicht weiter zielführend. 244 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 8.1.1. In Bezug auf meine spezifische Fragestellung sind die sprachlichen Mittel Verben, aber auch andere Wortarten folgen dieser Trichotomie, wie K ELLER und K IRSCHBAUM etwa für die Adjektive herausstellen konnten (vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003). 245 Vgl. B USSE 2001: 1313 135 sprachlicher und innersprachlicher Ebene über Bedeutungsparameter der Gebrauchsregel beschreiben. Zunächst möchte ich aber in diesem allgemeinen Teil dieser Arbeit zwei weitere Aspekte und Fragestellungen beleuchten, die sich aus einer grundsätzlichen Betrachtung der Verbsemantik ergeben. Zum einen möchte ich im Folgenden klären, ob und in wieweit semantische Generalisierungsversuche zielführend sind und zum anderen werde ich neue Überlegungen zur häufig diskutierten Frage, welchen Stellenwert der soziale und kommunikative Kontext für den Bedeutungswandel - insbesondere für den der Verben - einnimmt, entwickeln. Es wird sich auf den folgenden Seiten zeigen, dass die bisherigen Annahmen und Thesen zu diesen beiden allgemeinen Fragestellungen für den Bedeutungswandel bei Verben in vielen Fällen (wenn sie denn überhaupt formuliert sind) nicht hinreichend und nicht präzise genug formuliert sind. Meine Thesen, die es im Folgenden zu beweisen gilt, lauten: 1. Generalisierungsversuche zu semantischem Wandel scheitern bei näherer Betrachtung. Sie greifen für die Wortart der Verben oft zu kurz, indem sie nach dem Prinzip der Ausschließlichkeit wichtige Wandelphänomene außer Acht lassen, andere Phänomene aufgrund der Häufigkeit ihres Vorkommens zu sehr in den Fokus rücken, unpräzise formuliert sind und daher oft unzulängliche Übergeneralisierungen darstellen. (Kapitel 4) 2. Bedeutungswandel bei Verben kann in den meisten Fällen nicht als Spiegel des Kulturwandels gedeutet werden, obwohl Bedeutungswandel unstrittig als ein soziokulturelles Phänomen im Sinne einer sprachlichen Manifestation eines außersprachlichen Phänomens gedeutet werden muss. Auch hier verleiten makroskopische Beobachtungen zu Übergeneralisierungen. (Kapitel 5) Im Zuge der Beweisführung wird sich zeigen, dass man semantische Veränderungen nicht ohne den gebrauchstheoretischen Aspekt der Bedeutungsparameter erklären kann, also erklärungsadäquat nicht von den kommunikativen Nutzungsmöglichkeiten und den kommunikativen Nutzungsnotwendigkeiten für die Sprachbenutzer trennen kann. 246 246 Unter Erklärungsadäquatheit verstehe ich in dieser Arbeit, was G ERHART W OLFF treffend formuliert hat: „Erklärungs[adäquatheit] wird dann erreicht, wenn Strukturen oder Prozesse einer Sprache mit Hilfe einer Theorie gedeutet werden, deren Prinzipien und Kategorien ausreichen, um alle Erscheinungen zu erfassen und in ihren inneren Zusammenhängen sowie in ihren äußeren Bedingungs- und Wirkungskomplexen zu interpretieren. Eine solche Theorie muß es insbesondere ermöglichen, Forme und Inhalte einer Sprache auf Funktionen zu beziehen“ (W OLFF 1999: 16). 137 4. Zur (Über-)Generalisierung semantischen Wandels bei Verben 4.1 Generalisierung aufgrund rekurrenter Muster und allgemeiner Prinzipien Dass Beobachtungen von Phänomenen des Bedeutungswandels bisweilen dazu verleiten, einzelne typische Entwicklungen generalisieren zu wollen, also den Anspruch zu erheben, dass diese Entwicklungen als generelle Prinzipien semantischen Wandels eingestuft werden können, haben wir weiter oben bereits festgestellt, als wir uns die Frage der Zuordnung von Verben zu Verbgruppen anhand der involvierten Bedeutungsparameter gestellt haben. Für die Gruppe der evaluativen Verben ist uns dort die Schwierigkeit begegnet, uns gegen eine etablierte Zuordnung behaupten zu müssen. G ISELA H ARRAS hatte festgestellt, dass sich im Bereich der Sprechaktkennzeichnenden Verben (SKV) solche finden, die eine evaluative Bedeutung tragen. 247 Indem H ARRAS in ihrer Zuordnung - die zweifelsohne richtig ist - den Fokus der Evaluation einzig auf die Gruppe der SKV lenkt, also Bewertung nur auf der Ebene der sprachlichen Handlung verortet, wählt sie einen sehr engen definitorischen Begriffsumfang für bewertende Verben. Ich habe in Kapitel 3 gezeigt, dass dieser Rahmen aufgebrochen werden muss, um tatsächlich alle Verben mit evaluativen Bedeutungszügen und insbesondere solche mit kommunikativ wirksamen evaluativen Nebenbedeutungen einer Gruppe zuordnen zu können. Was sich im Zuge dieser Bemühung gezeigt hat, ist eine zu starre Vorstellung, dass eine Vielzahl beobachteter semantischer Phänomene und Vorkommnisse den Schluss erlaubt, eine verallgemeinernde Aussage über eine gesamte Wortart (oder gar über eine Sprache) treffen zu dürfen. In diesem Fall hätte die Generalisierung gelautet: Wenn ein Verb eine evaluative Bedeutung trägt, dann eignet sich dieses Verb zum Vollzug eines Sprechaktes bzw. dann ist es ein Sprechaktkennzeichnendes Verb. 248 Daraus ließe sich die folgende Regel ableiten: Wenn ein Verb eine evaluative Bedeutung erhält, dann ist es dazu geeignet, eine bewertende sprachliche Handlung zu vollziehen. Oder im Umkehrschluss: Jedes Verb, mit dem man eine bewertende sprachliche 247 Vgl. Kapitel 3.2.3 248 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dies in dieser Striktheit zwar von H ARRAS nicht behauptet wird, dennoch liegt ihrer Zuordnung eine solche Generalisierung zugrunde. 138 Handlung vollziehen kann, ist ein bewertendes Verb. 249 Und zugespitzt: Kann man mit einem Verb keine bewertende sprachliche Handlung vollziehen, ist es kein bewertendes Verb. Wenn man die Zuordnung H ARRAS ’ so versteht, stellt sie eine unzutreffende Generalisierung dar, denn natürlich - das habe ich gezeigt - kann man mit einem Verb wie klauen (in der Abwägung zu einem neutralen Verb wie stehlen) eine bewertende Haltung zum Ausdruck bringen, das Verb eignet sich dennoch nicht zum Vollzug einer sprachlichen (bewertenden) Handlung; es ist kein Sprechaktkennzeichnendes Verb, wie etwa loben oder tadeln. Zwar hat H ARRAS kein Gesetz oder eine Regularität für bewertende Verben formuliert, aber dennoch zeigt sich an diesem Beispiel, dass tendenzielle Beobachtungen dazu verleiten, eine Tendenz, eine Regelmäßigkeit, ein Prinzip (bei H ARRAS ist es am ehesten ein solches Prinzip, dass bestimmte Verben den Sprechakt der Bewertung auslösen) oder ein rekurrentes Muster für allgemeingültig, regulär und damit generell zu erklären. Im Folgenden soll uns - angeregt durch dieses Beispiel - die ganz grundsätzliche Frage begleiten, inwiefern Gesetze (oder die bisweilen vorsichtiger ausgedrückten Regularitäten) a) für Bedeutungswandel überhaupt sinnvoll formuliert werden können und b) als Generalisierungen semantischen Wandels einer Überprüfung Stand halten. Über diesen Weg werden sich auch - so hoffe ich - Erkenntnisse entwickeln, die zeigen, dass man den Gesetzesbegriff zugunsten einer handlungstheoretisch fundierten Semantik, die sich an Gebrauchsregeln und Bedeutungsparametern orientiert, auflösen sollte. Aber diese Hypothese wird im Weiteren erst noch zu beweisen sein. Die beiden zentralen Fragen, die sich für das weitere analytische Vorgehen im Folgenden stellen, lauten konkret: 1. Muss man die über ein Jahrhundert währende Suche nach den Gesetzen und Regeln des Bedeutungswandels aufgeben oder sind zielführende Ergebnisse, die über die reine Deskription hinausgehen, zum Bedeutungswandel aus dieser Denkrichtung zu erwarten? Und daran anknüpfend: 2. Welches gedankliche Konzept zur strukturellen und analytischen Beschreibung und Erklärung semantischen Wandels (nicht nur für die 249 Ich habe in Kapitel 3.2.3 zeigen können, dass die sogenannten bewertenden Sprechaktkennzeichnenden Verben im eigentlichen Sinne keine bewertende Funktion haben und somit streng genommen auch keine bewertenden Verben sind. 139 Gruppe der Verben) ist möglicherweise besser geeignet, falls wir die zuvor gestellte Frage 1) mit Nein beantworten müssen? Um auf beide Fragen plausible Antworten liefern zu können, müssen wir uns auf den nächsten Seiten ansehen, wie insbesondere Frage 1 bis heute traditionell beantwortet wird und wir müssen kritisch überprüfen, ob wir die bisherigen Befunde und Hypothesen weiterhin gelten lassen können. Dass sich einige Einwände gegen Versuche der Regelformulierung ins Feld führen lassen, wird sich in den folgenden Ausführungen deutlich zeigen. 4.1.1 Gesetze des Bedeutungswandels Die Frage und die Suche nach den Gesetzen des Bedeutungswandels sind untrennbar geknüpft an die frühen Forschungstraditionen der modernen Linguistik in der Nachfolge S AUSSURE s, so dass eine kurze wissenschaftsgeschichtliche Darstellung an dieser Stelle nicht fehlen soll. Die folgenden grundsätzlichen Bemerkungen zu den historischen Aspekten der diachronen Semantik sind hier kein reiner Selbstzweck oder unnötiges Beiwerk: Im Verlauf dieses Kapitels zeigt sich, dass in der modernen Linguistik bis heute die Vorstellung, man könne und müsse Regeln oder Gesetze für den semantischen Wandel aufdecken und generalisieren, durchaus verbreitet ist. Diese Vorstellung scheint auch in neueren Arbeiten zur Verbsemantik (z. B. bei V OLKER H ARM oder S ILVIA K UTSCHER , bisweilen auch bei G ERD F RITZ ) durch, so dass eine intensive kritische Betrachtung im Zuge dieser Arbeit unausweichlich ist. Eine solche anachronistische Auffassung hängt unmittelbar zusammen mit den im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten Ideen und Versuchen der Suche nach Gesetzen des Bedeutungswandels und es gelingt bis heute oftmals nicht, diese starren Vorstellungen der früheren Forschungstradition zu überwinden. Zudem, das ist ein spezifischer Befund, hängt eine Verhaftung an traditionellen Bedeutungsbeschreibungsmodellen anhand von Gesetzen oder Regularitäten m. E. unmittelbar mit dem falschen Bedeutungsbegriff zusammen: Wenn man - wie ich es hier im Zuge dieser Ausarbeitung für richtig halte - einen gebrauchstheoretischen Ansatz zur Beschreibung von Bedeutungswandel anlegt, wird man generell zu anderen Befunden gelangen, als es über andere Konzepte der Fall ist. Insbesondere die handlungszentrierte, also zweckrationale Betrachtung scheint mir hier deutlich zielführender zu sein. Begreift man Bedeutungswandel als ein Phänomen, das intentional bedingt als ein makrostruktureller Effekt auftritt, dann wird sich die Frage nach generalisierbaren Regularitäten und somit nach Gesetzen kaum stellen. Doch wie sieht die wissenschaftsgeschichtliche Realität aus? Und welche Befunde ergeben sich aus den aktuellen Forschungs- und Denkrich- 140 tungen? Statt, wie es D IETRICH B USSE fordert, eine „Neugewinnung von Perspektiven und theoretischen Grundlagen für die Erforschung des Bedeutungswandels“ 250 als „notwendige Ausgangsbasis für künftige Modellbildungen und Forschungen“ 251 anzustreben, scheinen viele Linguisten bis heute (im Ergebnis vergeblich) an die traditionellen Fragestellungen nach den Gesetzen oder zumindest Regelmäßigkeiten semantischen Wandels anzuknüpfen. Dass diese Bemühungen mit Blick auf den verbalen Bedeutungswandel bisweilen scheitern, da sie semantische Wandelphänomene übergeneralisieren, zeige ich weiter unten. Im Zuge der aufstrebenden exakten und mit Naturgesetzen operierenden Naturwissenschaften war es lange Zeit das Leitideal der Sprachwissenschaften, Regeln und Gesetze auch für den Bereich der Semantik formulieren zu wollen. B USSE schreibt: Zu nennen ist hier zuerst und vor allem die Orientierung am Leitideal der naturwissenschaftlichen Forschungsmethodik, welche sich in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts vor allem im Begriff (und Forschungsziel) des ,Gesetzes’ niederschlug. Wie später noch einmal im 20. Jahrhundert [...] trat [...] neben das fachexterne Leitideal der Naturwissenschaften das fachinterne Leitideal der Phonologie: Nach dem Vorbild der sogenannten ,Lautgesetze’ wurden viele Mühen darauf verwandt, für den Bereich der historischen Semantik zumindest Regelmäßigkeiten solcher Art aufzufinden und zu beschreiben, dass sie den ,Gesetzen’ der historischen Phonologie nahekamen. Die letztendlich vergeblich gesuchten ,Gesetze des Bedeutungswandels’ waren für mehrere Jahrzehnte zugleich Motor des Forschungsprozesses und banden zugleich den Großteil seiner Energien. 252 Man kann hinzufügen: Die Sprachwissenschaft hat zwar in vielen Bereichen bis heute diesen Anspruch aufgegeben und (z. B. mit der Frame- Semantik oder der linguistischen Diskursanalyse) neue, zeitgemäße Forschungsmodelle entwickelt, dennoch wird gerade in der Erforschung des Bedeutungswandels das Ideal der Formulierung und Entdeckung semantischer Regularitäten hochgehalten, insbesondere in der sogenannten kognitiven Semantik. 253 250 B USSE 2001: 1307 251 B USSE 2001: 1307 252 B USSE 2001: 1308 253 So schreibt G ERD F RITZ : „Heute sind es besonders die Vertreter einer kognitiven Semantik, die sich um die Formulierung von Generalisierungen bemühen, die als Indikatoren für kognitive Strukturen gelten und zur Erklärung von individuellen Neuerungen beitragen sollen“ (F RITZ 1998: 870). Für die historische Semantik ergibt sich insbesondere die Frage nach Regularitäten des Bedeutungswandels als Mechanismen mit Bezug auf die Struktur kognitiver Kategorien. So stellen metaphorische und metonymische Übertragungen (insbesondere Körpermetaphern zur Benen- 141 Erste Versuche einer Formulierung von Gesetzen für den Bedeutungswandel, deren Entstehung untrennbar verbunden ist mit der Entdeckung der sogenannten Lautgesetze im 19. Jahrhundert, gehen zurück auf den Gedanken, man könne ähnliche Regelmäßigkeiten auch in der historischen Semantik aufdecken. Der Philosoph W ILHELM W UNDT etwa war der Auffassung, „daß der Bedeutungswandel, ebenso wie der Lautwandel, überall einer strengen Gesetzmäßigkeit unterworfen ist, deren Erkenntnis nur in vielen Fällen durch die Konkurrenz mannigfacher Ursachen verschiedenen Ursprungs erschwert wird“ 254 . Das Ideal bedeutungsgeschichtlicher Forschung, das W UNDT hier in aller Deutlichkeit formuliert, entspricht wohl der Auffassung der meisten Semasiologen des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. 255 Während man die prinzipielle Erfüllbarkeit einer Konkretisierung solcher Gesetze des semantischen Wandels nicht in Frage gestellt hat, wurde die Aufgabe als groß erkannt; sie wurde zwar als leistbar aufgefasst, allerdings verstand man auch die Schwierigkeiten, die mit einem solchen Unterfangen verbunden waren. Insbesondere die Fülle an Material stellte sich als eine unüberwindbare Hürde heraus, fehlten doch den damaligen Wissenschaftlern speziell die technologischen Möglichkeiten der Datenverarbeitung und -strukturierung, wie sie heute zur Verfügung stehen. So wurde zwar viel diskutiert, aber wenig bewegt: „Insgesamt blieb die über rund ein halbes Jahrhundert geführte Diskussion über mögliche nung innerer, abstrakter Vorgänge) einen zentralen Schwerpunkt dieser Forschungsrichtung dar. Bedeutungen sind so verstanden kognitive Kategorien, die sich aus sprachlichen Beobachtungen ergeben. Die Ansätze der kognitiven Semantik sind nicht unumstritten (Zur Kritik der Erklärung von semantischen Strukturen durch die kognitive Semantik vgl. K ELLER 1995: 82ff.). K ELLER wirft der kognitiven Semantik Repräsentationismus und v. a. Zirkularität vor: „Aus Beobachtungen sprachlicher Sachverhalte wird geschlossen auf das Vorhandensein korrspondierender kognitiver Strukturen, mit denen dann die beobachteten sprachlichen Sachverhalte ,erklärt’ werden“ (K ELLER 1995: 84). Weiter bemängelt er: „Wenn die Quelle der Kenntnisse über die Struktur der Kognition ausschließlich die semantische Struktur der Sprache ist, dann ist es nicht zulässig, sie zur Begründung oder Erklärung der semantischen Struktur der Sprache zurückzubiegen. Kognitive Semantik ,erklärt’ Bekanntes mit Unbekanntem. [...] Unter der Bezeichnung cognitive semantics wird diachrone und synchrone Semantik betrieben, und die Erkenntnisse über die semantische Struktur der Sprache [...] werden als Erkenntnisse über die kognitive Struktur ihrer Sprecher ausgegeben“ (K ELLER 1995: 86). Es ist somit für die Erklärung von Bedeutungswandel fruchtbarer, statt eines kognitivistischen Ansatzes eine handlungstheoretische Semantik zu bevorzugen, denn die Kategorien als Einheiten unseres Denkens werden erzeugt durch die Gebrauchsregeln der Wörter, mit denen wir sie bezeichnen. Da kognitive Kategorien erst durch die Gebrauchsregeln bestimmt werden, ist der kognitivistische Ansatz falsch, Bedeutungen für kognitive Kategorien (oder Begriffe) zu halten. 254 W UNDT 1912: 477 255 Vgl. H ARM 2000: 33 142 ,Bedeutungsgesetze’ ohne befriedigendes Ergebnis“ 256 . Insbesondere die (bis heute andauernde) terminologische Unschärfe des Begriffs Gesetz führte dazu, dass sehr heterogene Erkenntnisse und Sachverhalte formuliert worden sind, denen kein gemeinsamer Gesetzesbegriff zugrunde liegt. 257 Während man zunächst - wie G ERD F RITZ es nennt - allgemeine Tendenzen, „die sich nicht auf einzelne Ausdrücke oder Gruppen von Ausdrücken beschränken“, formulierte, die „ihrerseits der Erklärung durch grundlegende Bedingungen und Prinzipien der Kommunikation [bedurften]“ (insbesondere verletzliche Kommunikationsprinzipien, an denen die Gesetze letztlich zwangsläufig scheitern), wurden als eine nächste Gruppe der Verallgemeinerung Angaben der Art formuliert, dass bestimmte Typen des Bedeutungswandels häufiger als andere zu beobachten sind; ein sehr deskriptiver Ansatz, der das damalige Primat der Beschreibung über die Erklärung verdeutlicht. Während diese Beobachtungen noch recht unspezifisch sind, sind Generalisierungen zum Wortschatz bestimmter thematischer und funktionaler Bereiche schon präziser. H ERMANN P AUL erkannte z. B. den semantischen Zusammenhang zwischen Gemütsbewegungen und Reflexbewegungen (erschrecken=aufspringen). 258 D IETRICH BUSSE schreibt mit Blick auf die frühen Versuche der Formulierung von Bedeutungsgesetzen: Wenn man den Begriff des ,Sprachgesetzes’ nach genauer Reflexion für den Bereich der Semantik aus wohlerwogenen Gründen aufgeben muss, weil Regelmäßigkeiten (und dies gilt, wie man ebenfalls schon früher gesehen hat, für den gesamten Bereich der Kulturwissenschaften) niemals einen solchen Charakter bekommen, der es erlauben würde, sie mit den sog. ,Naturgesetzen’ zu vergleichen, dann stellt sich die Frage, ob diese Einsicht nicht für alle Bereiche sprachwissenschaftlicher Erkenntnis in gleicher Weise gelten muss (setzt man den sozialen und damit kulturgeschichtlichen Charakter von Sprache voraus). 259 Die Frage, die B USSE hier aufwirft, ist auch für die neuere linguistische Forschung interessant; sie impliziert, dass man in allen linguistischen Bereichen von jenem fachexternen Ideal des Gesetzes Abstand nehmen sollte, in welchem B USSE „ein Beispiel für jene ,Erosionsgeschichte’ der Linguistik als ,Anpassungsgeschichte’ an gegenstandsfremde fachexterne 256 H ARM 2000: 33 257 Vgl. zu den unterschiedlichen Typen von Bedeutungsgesetzen in der historischen Rückschau H ARM 2000: 34f. und für eine umfassende Betrachtung des semantischen Wandels in traditioneller Sicht B USSE 2001 258 Vgl. F RITZ 1998: 870. Solche Erkenntnisse, die etwas mit Bedeutungsbeziehungen zu tun haben, stehen bis heute im Zentrum neuerer Arbeiten zur kognitiven Semantik. 259 B USSE 2001: 1318 143 Wissenschaftsideale“ 260 erkennt und die „[Ludwig] Jäger (1993, 77ff.) als eine der problematischsten Entwicklungen der neueren Linguistik gekennzeichnet hat“ 261 . Aus Gründen, die ich weiter unten darlegen werde, halte ich es ebenfalls für notwendig, sich von den starren Vorstellungen der traditionellen Bedeutungslehre zu lösen und die Suche sowohl nach abstrakten (Assoziations-)Gesetzen als auch nach formelhaften Regularitäten aufzugeben und stattdessen über einen handlungstheoretisch fundierten Weg (der den Aspekt der Gebrauchsregel und deren innerer Struktur anhand Bedeutungsparametern in den Fokus rückt) zu den Pfaden des Bedeutungswandels zu gelangen. Über einen solchen Weg kann man m. E. die bis heute anzutreffende terminologische Beliebigkeit und Verwirrung - und damit auch die inhaltliche und strukturelle Ungenauigkeit - überwinden, ohne dass man annehmen müsste, dass sich Bedeutungswandel als völlig chaotischer Prozess vollziehen würde. Wenn man sich zudem von den terminologischen Fesseln des „Gesetzes“ oder der „Regularität“ befreit, bereitet auch die Dichotomie Regularität (Gesetzeskonformität) vs. Irregularität (also Gesetzeswidrigkeit oder Abnormität) keine Probleme mehr: V OLKER H ARM erkennt, dass es „zweckmäßiger [erscheint], statt einer Dichotomie regulär vs. irregulär eine breite Skala anzusetzen, die zwischen den Endpunkten regulär und irregulär mehrere Einteilungen zuläßt“ 262 . Er konstatiert aber auch, dass eine Ausgestaltung einer solchen Skala „beim Stand der gegenwärtigen empirischen Aufarbeitung semantischer Wandelerscheinungen noch nicht zu ermessen [sei]“ 263 . Woran liegt das und wie lässt sich diese Problematik überwinden? Wenn man daran festhält, dass semantischer Wandel Regularitäten folgt, dann kann ein Phänomen nur regulär oder irregulär sein. Regularität wird in dieser Denkweise über den Aspekt der Häufigkeit definiert: Kommt ein Wandel häufig vor, so ist er regulär, kommt er selten vor, dann ist er irregulär, verstößt also dem Wortsinne nach gegen eine Regel semantischen Wandels. Dass dieses irreguläre Phänomen überhaupt auftritt, lässt sich über den Aspekt der Regularität nicht greifen, es müsste als Einzelphänomen eingestuft werden und würde die Ausnahme von der Regel bilden. Aus diesem Dilemma heraus hilft m. E. auch keine breitere Skala, also kein mehr oder weniger an Regularität. Hier muss man sich von den starren Vorstellungen einer Regularität verabschieden und ein anderes definitorisches Konzept anlegen: Die Beschreibung als semantische Pfade, die ich in Kapitel 8 für die Gruppe der Verben entwickeln 260 B USSE 2001: 1318 261 B USSE 2001: 1318. Die Quellenangabe zu J ÄGER findet sich bei B USSE . 262 H ARM 2000: 37 263 H ARM 2000: 37 144 werde und die K ELLER / K IRSCHBAUM für die Adjektive bereits formuliert haben, ist - wie H ARM es sich wünscht - offen, denn sie zwingt nicht dazu, Wandel als regulär oder irregulär einstufen zu müssen und sie birgt auch nicht die Gefahr der Übergeneralisierung von vermeintlichen Regularitäten in sich, die zugleich periphere (oder in H ARM s Diktion: irreguläre) Wandelerscheinungen gänzlich außer Acht lässt bzw. nicht erklären kann. 4.1.2 Zur Angemessenheit des Regularitätenbegriffs Tendenzielle Beobachtungen zu semantischem Wandel, die den Anschein von Regelmäßigkeit erwecken, verleiten oftmals zu falschen und einseitigen Schlüssen und führen infolgedessen zu Übergeneralisierungen. So findet man in der linguistischen Forschung (nicht nur aus historischer Sicht) immer wieder Versuche einer Generalisierung des semantischen Wandels bei Verben, die sich terminologisch entweder als - eine Suche nach Gesetzmäßigkeiten oder Prinzipien, als - die Suche nach rekurrenten Mustern, - nach Tendenzen oder als - die Aufdeckung von Regularitäten darstellen. 264 So verschieden die Bezeichnung für diese Bestrebungen auch sind, und so mehr oder weniger vorsichtig sie in ihrem Anspruch auf formelhafte Absolutheit auch formuliert sind, so ähnlich ist doch der Gedanke, der dahinter steckt: Es wurde und wird auch gegenwärtig von einigen Lingu- 264 Vgl. z. B. T RAUGOTT 1985, T RAUGOTT / D ASHER 2002, H ARM 2000, K UTSCHER 2009. Die genannten Autoren verwenden die Begriffe höchst unterschiedlich und bisweilen unpräzise; so findet man bei H ARM die Ausdrücke „rekurrente Muster“ und „Regularitäten“ synonym, wogegen K UTSCHER diese „Muster“ als „Tendenzen“ wertet und den Begriff der „Regularitäten“ von Harm übernimmt (vgl. K UTSCHER 2009: 73). Von Regularitäten spricht außerdem T RAUGOTT , wobei sie für die von ihr angenommene Unidirektionalität vom Konkreten zum Abstrakten generalisierend von einem „Prinzip“ spricht (vgl. T RAUGOTT 1985: 159). Von strengen „Gesetzen“ oder „Gesetzmäßigkeiten“ war vor allem in der frühen Sprachwissenschaft die Rede, die sich an den Gesetzen des Lautwandels und insbesondere an den exakten Naturwissenschaften orientiert hat. Als Vertreter dieser Sichtweise können exemplarisch S PERBER s Affekttheorie der Bedeutung, also das Gesetz der affektiven Übertragung semantischen Wandels auf Ausdrücke des gleichen Vorstellungsbereichs (S PERBER 1923), B RÉAL s Gesetz der Bedeutungsdifferenzierung von Synonymen und das Prinzip der Homonymenflucht (B RÉAL 1897) oder M EILLET s Generalisierung der Bedeutungsveränderung durch Übernahme von Bedeutungen aus Fach- oder Gruppensprachen in die Allgemeinsprache (M EILLET 1905, vgl. C HERU- BIM 1975: 34ff., in der Fortsetzung A LF S OMMERFELT (S OMMERFELT 1962)) genannt werden. Eine Zusammenfassung zu den Bemühungen um die Gesetze des Bedeutungswandels findet man bei F RITZ 1998, F RITZ 2005 und B USSE 2001. 145 isten angenommen (gelegentlich stillschweigend), es existierten generelle Prinzipien, die dem semantischen Wandel zugrunde liegen und diese Prinzipien seien bisweilen allgemeingültig oder gar universell. 265 Aus dem Aspekt der Allgemeingültigkeit eines Prinzips erwächst vielfach der Wunsch und das Bestreben, dieses Prinzip - insbesondere dann, wenn es sich auf wiederkehrende, möglichst noch sprachübergreifende Beobachtungen stützen lässt - zu einer Regularität zu erheben und im (falschen) Schluss aus einer solchen Regularität eine Regel oder eine Gesetzmäßigkeit zu konstruieren. Die semantische Nähe zwischen Regularität (im Sinne einer Regelmäßigkeit), Regel und Gesetz (als ein systematisches Konstrukt, das auf Regeln basiert) scheint mir hier in der linguistischen Diskussion aufgrund der Randbereichsunschärfe problematisch. Der Gedanke, dass sich semantischer Wandel anhand von Regeln fassen lässt, ist dabei alles andere als neu, wie wir im vorangegangenen Abschnitt feststellen konnten, und er ist in der Vergangenheit vielfach an seinem eigenen Anspruch auf Absolutheit gescheitert. Wie D IETRICH B US- SE feststellt, sollte [m]it der Übernahme des ,Gesetzes’-Begriffs [...] die (historische) Sprachforschung dem gesellschaftlich dominanten Wissenschaftsideal der Naturwissenschaften angenähert und deren allgemeiner Anerkennung teilhaftig werden, indem der Theorien-Typus der ,Naturgesetze’ in die Sprachwissenschaft übertragen werden sollte. 266 Nicht nur die ältere Semantikforschung hat sich dieser hoffnungslosen Suche verschrieben, die „aufgrund der Spezifik des semantischen Phänomenbereichs geradezu notwendig scheitern musste“ 267 . Auch in neuerer Zeit findet man Ansätze, die nach allgemeinen Prinzipien semanti- 265 Ein Beispiel für Übergeneralisierung eines semantischen Wandelphänomens ist uns weiter oben bereits begegnet: Die irrige Auffassung, dass evaluative Verben nur unter den sprechaktkennzeichnenden Verben zu finden sind, vertritt z. B. G ISELA H ARRAS (H ARRAS 2007). In Kapitel 3.2 bin ich auf diesen Aspekt ausführlich eingegangen und habe gezeigt, dass es sich dabei um eine unzulässige Übergeneralisierung handelt. Es sei der Vollständigkeit halber an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Begriff der Generalisierung hier allgemein verwendet wird. Es wird darunter im Folgenden jeglicher Versuch verstanden, generelle Prinzipien semantischen Wandels formulieren zu wollen. Mit Generalisierung wird an dieser Stelle nicht der semantische Prozess der Bedeutungsalso der Extensionserweiterung infolge eines semantischen Wandels gemeint. Dieser Terminus ist im Zuge der Bedeutungswandelforschung ebenfalls weit verbreitet, hier aber nicht gemeint. 266 B USSE 2001: 1318. B USSE spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von einem „Beispiel für jene ,Erosionsgeschichte’ der Linguistik als ,Anpassungsgeschichte’ an gegenstandsfremde fachexterne Wissenschaftsideale“ (B USSE 2001: 1318), die m. E. mit Blick auf jüngere linguistische Untersuchungen bis heute noch nicht abgeschlossen ist. 267 B USSE 2001: 1318 146 schen Wandels suchen und bisweilen aus diesem Bestreben heraus Phänomene als universell klassifizieren, obwohl dies bei genauerer Betrachtung zu Übergeneralisierungen führt. Ich werde im Folgenden auf einige dieser Versuche der Findung allgemeiner Prinzipien näher eingehen, möchte an dieser Stelle aber bereits behaupten: Semantischer Wandel folgt keinen strikten Prinzipien, aus denen man allgemeingültige (oder universale) Regeln ableiten könnte. Eine These, die ich in diesem Zusammenhang aufstellen und im Weiteren anhand des Verbwortschatzes belegen möchte, lässt sich wie folgt formulieren: Wortbedeutungen ändern sich nicht deswegen, weil Wandel nach strikten (systemimmanenten) Regeln abläuft, sondern einzig und allein über die zweckrationale Wahl des Sprechers. Sie manifestiert sich in der Inkorporierung oder Verschiebung semantischer Parameter in der Gebrauchsregel des verwendeten Wortes. Insofern halte ich es für angemessener, eine Erklärung für semantischen Wandel über den Aspekt der Veränderung der Gebrauchsregeln zu formulieren und von der Suche nach regulären (also gesetzmäßigen) Tendenzen Abstand zu nehmen. Die Annahme universeller, generalisierbarer Regeln des semantischen Wandels trifft m. E. auch dann nicht zu, wenn sich hinter dem Wandel rekurrente Muster, Tendenzen oder Regelmäßigkeiten aufdecken lassen. Der Grund dafür liegt in dem Prinzip der Ausnahmslosigkeit bei Generalisierungen begründet. 268 Mit Blick auf das Scheitern der Übertragung (und der generellen Erklärungsadäquatheit) der Lautgesetze auf den semantischen Wandel schreibt E UGENIO C OSERIU : Das Problem der ,Regelmäßigkeit’ oder ,Allgemeinheit’ fällt mit dem alten Problem der sogenannten ,Lautgesetze’ zusammen. Die Existenz der durch einen perspektivischen Irrtum unter diesem physizistischen Etikett erfaßten historischen Fakten ist einer der Gründe gewesen, weswegen man an mehr oder weniger mysteriöse Faktoren glauben wollte (und teilweise weiterhin daran glaubt), die mit absoluter Sicherheit in den Sprachen aufträten und sie veränderten. 269 268 Vgl. B ORETZKY 1977: 55. B ORETZKY erkennt, dass die Formulierung von Gesetzen „Ausnahmslosigkeit als methodisches Prinzip“ impliziert und daher (auch für den Bedeutungswandel) kein „rigide[r] Regelapparat“, sondern „modifizierte Regulierungen, die den meisten Sprechern nicht bewußt sind“ anzunehmen sind, also Tendenzen als kausal-intentionales Bedingungsgefüge beschrieben werden müssen. Ein solches Gefüge erkenne ich in der weiter oben entwickelten Theorie der Parameter einer Gebrauchsregel in Verbindung mit der invisible-hand-Theorie als allgemeines Erklärungsmodell für sprachlichen Wandel. 269 C OSERIU 1958/ 74: 75 147 Weiter lesen wir bei ihm: Die These der ,Ausnahmslosigkeit’ [wie sie für jegliche Versuche der Generalisierung semantischen Wandels gelten muss, S. B.] [...] ist nicht falsch, weil sie durch die Tatsachen widerlegt wird [C OSERIU meint hier die vielen Ausnahmen von den Regeln, S. B.], sie wird vielmehr durch die Tatsachen widerlegt, weil sie falsch ist. 270 So trifft es zu, dass sich die Frage nach dem Wandel nicht auf der Ebene der abstrakten Sprache lösen lässt, sondern dass man sich dazu die konkrete Sprecherwirklichkeit, also die konkrete Ebene der Sprache ansehen muss. Auf eben dieser konkreten Ebene spiegeln sich Veränderungen der Wortbedeutungen als zweckrationale Realisierung intentionalen sprachlichen Handelns wider. So verstanden kann es zwar Prinzipien und Gesetze für die Verbreitung einer Innovation geben, nicht aber für deren Entstehung. Gesetze semantischen Wandels implizieren zugleich, dass Abweichungen nicht möglich wären. So müsste man beispielsweise die häufig beobachtbare Tendenz zum Wandel von Verben aus der Sphäre des Konkreten in die Sphäre des Abstrakten als ein allgemeingültiges Prinzip semantischen Wandels bei Verben einstufen, das keine Ausnahmen zulässt. Dies würde de facto aber eine unzulässige Übergeneralisierung bedeuten, denn Ausnahmen lassen sich durchaus feststellen. 271 Durch die Feststellung solcher Ausnahmen wird - wie C OSERIU feststellt - die These der Ausnahmslosigkeit (wie sie für generelle Prinzipien gilt) widerlegt. Auch D IETRICH B USSE stellt mit einem sprachgeschichtlichen Seitenblick fest, dass „letztlich die Suche nach ,Gesetzen’ überhaupt als verfehlt anzusehen ist. Vorzuziehen wäre daher der in neueren linguistischen Arbeiten verwendete Begriff der ,Tendenzen’, denen aber immer ein spekulatives Moment [...] anhaftet“ 272 . H ELMUT L ÜDTKE geht ebenfalls davon aus, dass es keine Gesetzmäßigkeiten gibt, die man hinter sprachlichem Wandel vermuten sollte. Mit Blick auf die vermuteten Ursachen sprachlichen Wandels konstatiert er folgerichtig: Da die Suche nach Einzelursachen nicht zum erhofften Ergebnis geführt hat, liegt die Vermutung nahe, daß ein Teil der beobachtbaren Sprachwandelphänomene vielleicht doch auf universaler Gesetzmäßigkeit beruht. Damit aus der Vermutung eine Hypothese wird, müßte Sprachwandel eigentlich entweder experimentell darstell- und beliebig wiederholbar oder in der Mehrzahl der Sprachen der Welt beobachtbar sein. Beides ist 270 C OSERIU 1958/ 74: 75 271 Auf diesen speziellen Aspekt gehe ich aufgrund seiner Wichtigkeit weiter unten im Kapitel 4.2 genauer ein. 272 B USSE 2001: 1319 148 nicht der Fall: ersteres grundsätzlich, letzteres bis jetzt noch nicht, weil die meisten Sprachen erst seit recht kurzer Zeit bekannt und als beschriebene verfügbar sind (und auch dies noch nicht vollständig). 273 Auch wenn L ÜDTKE hier ganz allgemein von Gesetzen des Sprach- und nicht speziell von denen des Bedeutungswandels spricht und im Folgenden annimmt, dass „die beobachtbaren und zu erklärenden Phänomene als notwendige Folgen aus universalen sprachlichen Gegebenheiten“ abgeleitet werden können - als Sonderfall des Sprachwandels ist Bedeutungswandel ebenfall nicht an Gesetze geknüpft, zudem aber auch nicht über universale sprachliche Gegebenheiten abzuleiten; eine Übertragung aus dem Bereich der Morphologie auf die Semantik scheint mir hier nicht möglich. 274 4.1.2.1 H ARM s Begriff der Regularität im verbalen Bedeutungswandel Ein gegenwärtig akzeptierter und z. B. von S ILVIA K UTSCHER übernommener neuerer Definitionsversuch zum Begriff der Regularität (insbesondere mit dem Fokus auf die Wortart der Verben) stammt von V OLKER H ARM . 275 Dieser Versuch einer Festlegung verdeutlicht, dass der Anspruch, eine Vielzahl von makroskopisch ähnlichen Wandelphänomenen mit dem Stempel des Regelhaften zu versehen, auf einer mangelnden Präzision im Umgang mit den Begriffen Regel, Regularität, Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit begründet ist. So behauptet H ARM : Eine erste Art von Regularität betrifft typische Verbindungen von Ausgangs- und Zielbedeutung bzw. von Wortschatzausschnitten, denen Ausgangs- und Zielbedeutung jeweils angehören. Eine Regularität dieser Art liegt vor, wenn eine Bedeutung m und eine Bedeutung n nicht nur in einem vereinzelten Wandel Ausgangs- und Zielbedeutung darstellen, sondern in einer Vielzahl von Wandelerscheinungen über mehrere Sprachen hinweg gemeinsam auftreten. 276 Diese Definition ist problematisch, wenn auch im Kern richtig. So trifft es zu, dass ein isoliert beobachteter Wandel noch keine Regelmäßigkeit darstellt. Insofern ist es eine banale Erkenntnis, dass Wandel, wenn er nach gleichem Muster in einer Vielzahl von Wandelerscheinungen aufritt, regelmäßig ist. Problematisch erscheint mir hier allerdings der Begriff der Regularität, weil H ARM diesen Begriff so verwendet, als handle es sich um 273 L ÜDTKE 1980a: 7 274 Vgl. zur Frage der Übertragbarkeit von L ÜDTKE s universalem Sprachwandelgesetz auf semantischen Wandel die weiter untenstehenden Ausführungen in diesem Kapitel 275 Vgl. H ARM 2000, K UTSCHER 2009 276 H ARM 2000: 36 149 reguläre Prozesse, also um konventionelle Gesetze. Regulär ist ein Wandel m. E. nämlich noch nicht allein dadurch, dass er regelmäßig auftritt. Offensichtlich werden diese definitorische Unschärfe und die damit verbundene Problematik, wenn er weiterhin schreibt: Zu untersuchen ist dabei nicht allein, ob die Bedeutungen m und n gemeinsam an Wandelerscheinungen beteiligt sind, sondern vor allem, ob die Entwicklung der Mehrheit der Fälle in Richtung m > n oder in umgekehrter Richtung verläuft. Im Idealfall lassen sich die Regularitäten folgendermaßen formulieren: Wenn in einer Sprache oder in mehreren Sprachen eine Bedeutung n vorliegt, ist sie, sofern sie Ergebnis eines semantischen Wandels ist, mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Bedeutung m oder aus einer eingrenzbaren Menge von möglichen Ausgangsbedeutungen (k, l, m) herzuleiten; bzw. wenn die Bedeutung m oder eine der Bedeutungen (k, l, m) einem Wandel unterworfen ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß die Zielbedeutung n ist. 277 Es ist m. E. höchst zweifelhaft, ob der reine Nachweis einer Vielzahl beobachtbarer Wandelphänomene den Schluss erlaubt, dass eine Unidirektionalität (von m nach n oder umgekehrt) zwingend eine Regularität semantischen Wandels darstellt. Was H ARM nämlich mit dieser These impliziert, ist: Ausschließlichkeit und damit Ausnahmslosigkeit. 278 Außerdem versäumt es H ARM zu erklären, ob sich seine Erkenntnis auf die Bedeutungsbeziehungen eines einzelnen Wortschatzbereiches bezieht (dann wäre sie eher zutreffend) oder ob sie sich auf den gesamten Wortschatz einer Sprachgemeinschaft anwenden lassen soll (dann handelt es sich um eine Übergeneralisierung makroskopisch feststellbarer Einzeltendenzen). Wenn die vorgeschlagene Definition für eine Regularität des Bedeutungswandels gültig sein soll, muss sie m. E. wortartübergreifend gültig sein. Leider ist dies nicht der Fall: So kann man z. B. für Adjektive feststellen, dass sich vormals neutrale bzw. deskriptive Adjektive im Zuge eines Metaphorisierungsprozesses zu bewertenden Adjektiven gewandelt, also eine evaluative Bedeutungskomponente hinzugewonnen haben. K ELLER und K IRSCHBAUM stellen hier zutreffend fest: Für jedes deskriptive Adjektiv unseres Grundwortschatzes ist eine sinnvolle metaphorische Verwendung ohne Probleme denkbar [...]. Und im- 277 H ARM , 2000: 36 278 Mit der indirekten Formulierung und Implikation der Ausnahmslosigkeit seiner Hypothese erinnert H ARM s Ansatz - wie alle strikten Formulierungen von Bedeutungsgesetzen - an die sogenannten Lautgesetze der Junggrammatiker der „Leipziger Schule“. Auch wegen dieser Nähe in der Formulierung erscheint mir seine Definition eher als die Formulierung einer Gesetzmäßigkeit als die eines semantischen (rekurrenten) Musters oder einer Regelmäßigkeit. Ein Muster, eine Tendenz oder eine Regelmäßigkeit lassen im Gegensatz zu einem Gesetz oder einer strikten Regel Ausnahmen zu. 150 mer dann, wenn ein solches Adjektiv metaphorisch auf einen Menschen oder eine den Menschen betreffende Situation bezogen wird, bekommt es einen evaluativen Sinn. 279 Wenn man diese Gerichtetheit semantischen Wandels - in Anlehnung an H ARM s Definition - als eine wortartübergreifende Regularität semantischen Wandels deklarieren würde, beginge man einen kurzsichtigen Fehler. Es stellt sich nämlich - das werde ich weiter unten näher erläutern - für das Verbum heraus, dass Metaphorisierung nur in vereinzelten Fällen dazu führt, dass eine evaluative Zielbedeutung entsteht; in sehr vielen Fällen ist das Resultat semantischen Wandels bei Verben durch Metaphorisierung ein anderes. 280 Es ist bisweilen sogar feststellbar, dass Metaphorisierung bei Verben lediglich als ein Effekt kultureller Veränderung entsteht, ohne dass Bedeutungswandel überhaupt stattgefunden hat. 281 Aber auch für den enger umgrenzten Teilbereich der Adjektive wäre eine solche Generalisierung nicht zutreffend: Metaphorisierung ist nämlich nicht die einzige Möglichkeit, damit ein Adjektiv einen evaluativen Bedeutungsanteil erhält. 282 Insofern kann man die Annahme des gerichteten Wandels von m (deskriptive Bedeutung) nach n (evaluative Bedeutung) durch das Verfahren der Metaphorisierung nicht als ein allgemeines und ausschließliches Prinzip für semantischen Wandel (nicht einmal für die Adjektive, für die dieser Wandel typisch ist) deklarieren. 283 Metaphorisie- 279 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 149 280 Es steht wohl außer Frage, dass sich z. B. das Verb begreifen durch das Verfahren der Metaphorisierung entwickelt hat. Die Ausgangsbedeutung ist deskriptiv, dennoch trägt dieses Verb heute keine evaluative Bedeutung. Diese Feststellung lässt sich auf eine Vielzahl von Verben adaptieren und sie belegt die hier vertretene These, dass sich ein beobachtbarer Wandel nicht ohne weiteres als ein allgemeingültiges Prinzip und damit auch nicht als Regularität darstellen lässt. Was für die Gruppe der Adjektive typisch ist, ist noch lange nicht regulär für jeglichen semantischen Wandel. Ich plädiere dafür, zwischen typischen Entwicklungen und allgemeinen Regeln klarer zu unterscheiden. 281 Metaphorisierung ist nicht in jedem Fall ein semantisches Verfahren des Bedeutungswandels, sondern im Verbwortschatz bisweilen nur ein semantischer Effekt, der unabhängig von einem Bedeutungswandel auftritt. Auf diesen m. W. neuen Gedanken werde ich in Kapitel 5.1.2 näher eingehen. 282 Vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003 283 Diese Problematik erkennt H ARM selbst, wenn er in einer Fußnote einräumt: „Wenn bestimmte Bedeutungen häufig über semantischen Wandel miteinander in Beziehung stehen, bedeutet dies nicht notwendig, daß diese Beziehung stets durch ein und dasselbe Verfahren des semantischen Wandels hergestellt wird“ (H ARM 2000: 36, Fußnote 86). Mit dieser sinnvollen Einschränkung wird allerdings seine zuvor entworfene Definition obsolet: Wenn semantische Beziehungen bestehen, diese aber nicht zwingend durch ein bestimmtes Verfahren entstanden sind (es also ein „sowohl als auch“ gibt), dann halte ich die strikte Formulierung einer Regularität für unzutreffend, da der Aspekt der Ausschließlichkeit verloren geht. Regularität im 151 rung ist für die Herausbildung einer bewertenden Bedeutung bei Adjektiven (und erst recht bei Verben) weder notwendig noch hinreichend. Hier müsste man hinzufügen, dass dieser Wandel im Sinne einer Unidirektionalität deskriptiv > bewertend im Zuge eines metaphorischen Verfahrens bei Adjektiven zwar beobachtbar ist; für andere Wortarten lässt sich dieses Muster allerdings nicht als Regelmäßigkeit feststellen. So gesehen kann man auch nicht davon sprechen, dass es sich um eine Regularität des Bedeutungswandels handelt; es ist vielmehr eine Einzeltendenz für eine bestimmte Wortart in einem bestimmten Wortschatzbereich einer ganz bestimmten Einzelsprache. Daher plädiere ich dafür, hier von einem Pfad des semantischen Wandels zu sprechen, der nicht regulär ist, weder für eine bestimmte Wortart noch für den Wortschatz in seiner Gesamtheit. 284 Es erscheint mir zudem fraglich, ob die These, dass man von dem Vorhandensein einer bestimmten Zielbedeutung (und einem vermuteten Wandel) über eine Unidirektionalitätsannahme zweifelsfrei auf die Ausgangsbedeutung schließen kann, korrekt ist. Was H ARM hier als den Idealfall der Formulierung einer Regularität deklariert, ist nichts weiter als eine kurzsichtige Generalisierung einer (vermuteten) Unidirektionalität des Wandels m > n über den Aspekt der Vielzahl von nachweisbaren Bezug auf ein semantisches Verfahren lässt sich m. E. nicht allein dadurch herstellen, dass bestimmte Verfahren in semantischen Wandelprozessen häufiger vorkommen, wenn sie nicht ausschließlich vorkommen. 284 Zwar scheinen alle bewertenden Adjektive durch Metaphorisierung entstanden zu sein, allerdings gibt es auch bewertende Adjektive, deren Wandel nicht über Metaphorisierung geschehen ist. Insofern ist das metaphorische Verfahren auch kein Verfahren, das den Wandel der Adjektive allein bestimmt, auch andere Verfahren spielen eine Rolle. Man könnte höchstens konstatieren: Wenn ein Adjektiv eine bewertende Bedeutung erhalten hat, dann lag dem Wandel das Verfahren der Metaphorisierung zugrunde. Diese Beobachtung allein ist in meinen Augen aber keine generelle Regularität semantischen Wandels bei Adjektiven, denn sie erlaubt nicht den Schluss, dass alle Adjektive sich metaphorisch wandeln und damit bewertend werden und auch nicht, dass alle bewertenden Ausdrücke im Deutschen über das metaphorische Verfahren entstanden sind. Zudem kann man nicht schlussfolgern, dass sich jedes deskriptive Adjektiv in jedem Fall zu einem bewertenden Adjektiv entwickeln wird, wenn semantischer Wandel stattfindet (was H ARM ja ausdrücklich behauptet), z. B. bei barock (Vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 74f. Hier führt eine metonymische Verschiebung zu einer rein deskriptiven Bedeutungsvariante, die aus einer ursprünglich negativ-wertenden Bedeutung resultiert. Der Grund dafür liegt in einer s e m a n t i s c h e n E x k o r p o r i e r u n g von - in diesem Fall evaluativen - Bedeutungsparametern vgl. dazu Kapitel 4.2.2). Zudem gibt es auch bewertende Verben, die über das metaphorische Verfahren entstanden sind, so wie es auch Verben gibt, die einen Metaphorisierungsprozess durchlaufen haben, aber nicht bewertend sind. Die Vielzahl der Möglichkeiten in beiden Wortarten zeigt somit, dass es keinen Anspruch auf eine Regularität gibt, was das Verfahren der Metaphorisierung und den damit verbundenen Zielbedeutungen angeht. 152 Fällen. Insofern versucht H ARM über einen deduktiven Ansatz unter Annahme eines allgemeingültigen Prinzips beobachtetem Wandel ein allgemeines Gesetz überzustülpen, also vom Allgemeinen auf den konkreten Fall zu schließen. Somit wäre ein bestimmter Wandel (z. B. in eine bestimmte Richtung) eine zwingende Konsequenz aus den Prämissen, die aus dem allgemeinen Prinzip bzw. der Regularität abgeleitet werden müssen. Dies halte ich für falsch: Feststellbare Regelmäßigkeiten erlauben keinen Schluss auf ein allgemeingültiges Prinzip oder gar auf ein Gesetz; ihre Entstehung folgt zwar Mustern aber keinen Regeln. Insofern ist die (bei H ARM implizite und durch seine Definition anzunehmende) Gleichsetzung von Regularität und Regelmäßigkeit problematisch. Wenn H ARM zudem einen solchen Wandel als regulär einstuft, indem er festlegt, dass man auch von der Zielauf die Ausgangsbedeutung schließen kann, dann sagt er im Umkehrschluss auch etwas über die Prognostizierbarkeit von Wandel aus. Es würde bedeuten, dass sich ein Verb x im Zuge eines semantischen Wandels w in eine Richtung R entwickeln muss, nur weil es in seiner Ausgangsbedeutung dem selben Bereich angehört wie die Verben y oder z, deren Wandel sich schon vollzogen hat. Eine solche Auffassung findet sich bereits bei S PERBER , sie ist aber sicher fragwürdig. So müsste man etwa für das Verbum annehmen, dass sich über kurz oder lang alle Verben (und zwar zwingend und ausnahmslos) der haptisch-taktilen Sphäre (genauer: des Greifens) zu mentalen Verben entwickeln (so geschehen bei begreifen, erfassen). Verben wie grapschen, nehmen oder packen müssten also mit hoher Prognosewahrscheinlichkeit in Zukunft zu Verben der Kognition gewandelt werden; ich halte das zwar nicht für ausgeschlossen, aber auch nicht für sonderlich wahrscheinlich. Im Gegenteil: Es ist eine Tatsache, dass sich einige Verben der physischen Sphäre (auch der des Greifens) nicht zu Verben der Kognition, sondern zu sogenannten Psych-Verben entwickelt haben, also heute den Verben psychischer Empfindungen zugeordnet werden müssen. 285 Mit Blick auf die Bedeutungsgeschichte des Verbs packen etwa lässt sich ein solcher Wandel feststellen: So wird dieses Verb mit haptischer Ausgangsbedeutung heute in einer Lesart emotiv verwendet und gilt als Psych-Verb. Auf diese Weise können wir auch für die Bedeutungsentwicklung der Verben ergreifen, erschrecken oder reißen argumentieren, was der folgende (fiktive) Gesprächskontext verdeutlicht: A: Horst, hat dich der Film auch so gepackt? B: Nee, der hat mich nicht gerade vom Hocker gerissen. Ich kann mit Horrorfilmen nichts anfangen. 285 Vgl. K UTSCHER 2009 153 A: Also ich hab mich an manchen Stellen schon sehr erschreckt. 286 B: Ich gucke lieber Dramen. Die ergreifen mich so richtig. Wie lässt sich darüber hinaus mit der H ARM schen Auffassung und Definition der Wandel für das Verb einleuchten erklären? Dieses Verb hat heute eine zu den mentalen Verben begreifen und erfassen synonyme Zielbedeutung, ist allerdings nicht aus einem Verb des Greifens entstanden. Wenn H ARM in seiner strikten Formulierung richtig liegt, würde allein das Vorhandensein einer aktuellen Zielbedeutung beleuchten oder einsehen den Schluss erlauben (da ihrer Entstehung zweifelsfrei ein semantischer Wandel zugrunde liegt und da es sich um denselben Wortschatzbereich handelt), dass die Ausgangsbedeutungen analog zu begreifen und erfassen ebenfalls als ein Klasseneffekt aus der Sphäre des Haptischen entspringen. Betrachten wir ein weiteres Beispiel aus dem aktuellen Verbwortschatz und legen die H ARM schen Prämissen an: Das Verb eingreifen entstammt dem Ursprung nach derselben Sphäre wie die Verben erfassen, begreifen oder (dem heute umgangssprachlich verwendeten) raffen. Somit erfüllt dieses Verb die Bedingung, die H ARM über den Aspekt der eingrenzbaren Menge von möglichen Ausgangsbedeutungen erkennt und fordert: Das Verb eingreifen entstammt demselben Wortschatzbereich wie die Verben begreifen, erfassen und raffen. Die ursprüngliche Bedeutung des Verbs eingreifen (in H ARM scher Diktion als Bedeutung m gekennzeichnet) hätte sich demnach analog den Ursprungsbedeutungen von begreifen (Bedeutung k) und erfassen (Bedeutung l) zu einer Zielbedeutung n entwickeln müssen - und diese wäre dann nicht sozial (so wie sie heute ist), sie wäre ebenfalls kognitiv-mental. Was H ARM als den günstigsten Fall für den Nachweis einer Regularität fordert, dass nämlich „nicht nur die Bedeutungen m und n, sondern die Wortschatzausschnitte, zu denen m und n jeweils gehören, bei semantischem Wandel immer wieder gemeinsam vorkommen“ 287 , kann durch die Betrachtung dieses Beispiels nicht gestützt werden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Wortschatzbereiche haben sich unterschiedlich ausdifferenziert. Im Fall von eingreifen hat das Verb eine soziale Komponente hinzugewonnen, wogegen die Verben begreifen, erfassen und raffen eine mentale Komponente erhalten haben. Für das weiter oben erwähnte Verb packen gilt dies analog; hier hat das Verb eine emotive Bedeutungskomponente hinzuerlangt. Ursächlich dafür ist - das 286 Vgl. zur Bedeutungsgeschichte des Verbs erschrecken die Ausführungen in Kapitel 7.2.2. Dort wird die Angemessenheit der gegenwärtigen Wortverwendungsmöglichkeiten aus grammatisch-logischen Aspekten eingehender diskutiert. 287 H ARM 2000: 36 154 habe ich weiter oben zeigen können - kein Gesetz des semantischen Wandels, sondern die Einbindung spezifischer Gebrauchsparameter. Selbst von einer regelmäßigen Entwicklung kann man mit Blick auf diese Phänomene nicht mit gutem Gewissen sprechen; ich halte es daher mit D IETRICH B USSE und plädiere dafür, vorsichtiger von einer Tendenz zu sprechen; noch treffender wäre der Begriff des semantischen Pfades. 288 Auch einen grundsätzlichen Wandel vom Konkreten zum Abstrakten (das wäre in H ARM s Diktion die Gerichtetheit m > n) kann man nicht feststellen, wenn man den Aspekt des gemeinsamen Wandels von Wörtern mit ähnlicher Ausgangsbedeutung für den gesamten Wortschatzbereich zugrunde legt; das Verb eingreifen wird vielfach an sehr konkrete Tätigkeiten geknüpft, wogegen z. B. begreifen in der kognitiven Lesart (die mir heute am gebräuchlichsten erscheint) sehr abstrakt verwendet wird. Man müsste außerdem annehmen, dass sich alle Verben der mentalen Sphäre über den Weg vom Konkreten zum Abstrakten gewandelt haben, denn dieser Wandel ist für eine Vielzahl von Verben feststellbar. Dass sich gegenwärtig das Verb meinen in die gegenläufige Richtung entwickelt, lässt sich mit dieser Theorie nicht erklären. Das Dilemma ist: Die Häufigkeit einer Beobachtung allein macht noch keine Regularität aus, auch wenn sich daraus in einigen Fällen unbestreitbar eine Regelmäßigkeit ableiten lässt; ein typischer Wandel ist aber noch kein regulärer Wandel, denn ihm fehlt das Regelhafte oder Gesetzmäßige. Noch deutlicher wird dies, wenn H ARM für die Häufigkeit im Bezug auf semantische Verfahren behauptet: „Von Regularitäten in dieser Hinsicht kann die Rede sein, wenn sich aufzeigen läßt, daß bestimmte Verfahren [...] in semantischen Wandelprozessen generell häufiger auftreten als andere“ 289 . Auch hier gilt m. E.: Allein der Nachweis einer Häufigkeit reicht noch nicht aus, um solche Prozesse zu semantischen Gesetzen zu erheben. Insofern wäre eine Formulierung einer Regularität, die von solchen unpräzisen Prämissen ausgeht, wie H ARM sie anlegt, ein Fall der Übergeneralisierung semantischer Wandelphänomene. 4.1.3 Zum Status sozialer und kommunikativer Regeln beim verbalen Bedeutungswandel Wenn wir erkennen, dass Bedeutungswandel keinen Regeln folgt, es also verfehlt ist, von Regularitäten zu sprechen, und damit nicht Regelmäßigkeiten (diese sind ja banal, weil ohne semantische Analyse als makroskopische Effekte des Wandels feststellbar), sondern Regeln (im Sinne von Gesetzmäßigkeiten) zu meinen, müssen wir dann annehmen, dass Regeln 288 Vgl. B USSE 2001: 1319 289 H ARM 2000: 36 155 für den Bedeutungswandel gänzlich keine Rolle spielen? Ganz so einfach ist es wohl nicht, denn Bedeutungswandel bei Verben ist zwar auf der Abstraktionsebene der Sprache selbst nicht regulär, Regeln - insbesondere soziale und kommunikative - sind auf einer konkreten Ebene, nämlich der des Sprechers, in vielen Fällen dennoch von Bedeutung. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich leicht auflösen: Die zweckrationale Wahl des Sprechers kann und wird in vielen Fällen sozialen (z. B. gesellschaftlichen) oder kommunikativen Regeln unterworfen sein. So ist etwa die Einbindung sozialer Parameter in die Gebrauchsregel eines Wortes selten ein Phänomen, das ohne die (bisweilen unreflektierte) Anwendung und Befolgung sozialer Regeln durch den Sprecher denkbar wäre. V OL- KER H ARM schreibt mit einem historischen Seitenblick auf frühere Generalisierungsversuche (im Sinne der Suche nach Gesetzmäßigkeiten) treffend: „[Es] wurde verkannt, daß Sprechen eine Form menschlichen Handelns ist und daß sich für menschliches Handeln allenfalls Regeln angeben lassen, aber weder Gesetze noch hinreichende Bedingungen“ 290 . Die Anwendung solcher kommunikativer Regeln (bezogen auf menschliches Sprachhandeln) ist aber nicht gleichzusetzen mit der Existenz allgemeiner Regeln oder Gesetze, nach denen sich Wortbedeutungen ändern. Die Änderung der Wortbedeutung nämlich geschieht in zahlreichen Fällen zwar durch außersprachliche Regeln motiviert, sie vollzieht sich aber in diesen Fällen nicht regulär, geregelt oder gerichtet, d. h. es lassen sich daraus nicht zugleich Regelmäßigkeiten oder Gesetze semantischen Wandels ableiten. In vielen Fällen ergeben sich aber sehr wohl nachweisbare und beschreibbare semantische Wandelpfade, das ist aber etwas kategorial Verschiedenes. So kann die Inkorporierung sozialer und expressiver Parameter in das Verb fressen klaren sozialen Regeln folgen (z. B. der Maxime der Expressivität bei Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, z. B. einer Punkrockband), woraus sich für dieses Verb ein Wandelpfad von der faktischen zur expressiven Darstellung ergibt. Diesem speziellen Pfad folgen auch viele andere Verben (z. B. saufen oder schwuchteln 291 ), ohne dass sich daraus eine Generalisierung für die Wortgruppe der (expressi- 290 H ARM 2000: 35 291 Ursprünglich: tanzen. Heute wird dieses Verb abfällig über feminine Körperbewegungen von Männern verwendet. Insofern wird es sowohl expressiv als auch evaluativ durch die Inkorporierung der entsprechenden Parameter in die Gebrauchsregel dieses Verbs verwendet. Ein Blick in den D UDEN zeigt, dass dieses Verb gegenwärtig nicht mit einer lexikalischen Bedeutung geführt wird, dennoch ist es als abfällige Bemerkung durchaus in manchen sozialen Gruppen gebräuchlich, wie sich exemplarisch an einem Reim auf einem Internetportal erkennen lässt: „justin bieber [sic] schwuchtelt viel herum, aber man glaubt es kaum, er ist sogar noch dumm“ (Gefunden in http: / / www.geschaut.com, Stand 05.01.2012). 156 ven) Verben ableiten ließe. So kann man für dieses Beispiel trotz einer Vielzahl ähnlicher Entwicklungen nicht annehmen, dass alle expressiven Verben aus faktisch-konkreten Verben hervorgegangen sind und man kann ebenfalls nicht sinnvoll schlussfolgern, dass sich alle faktischkonkreten Verben irgendwann zu expressiven Verben wandeln werden. 292 Außerdem müsste man schlussfolgern, dass es keine expressiven Ausgangsbedeutungen gibt, sondern dass Expressivität erst im Zuge eines Bedeutungswandels entstehen kann. Eine solche Behauptung würde eine Übergeneralisierung darstellen. Vielmehr muss man diesen einen möglichen Wandelpfad - auch wenn er häufig beschritten wird - als einen von vielen möglichen Pfaden betrachten und eben nicht als eine Regularität oder gar als eine Universalie semantischen Wandels bei expressiven Verben. Dass man Wandel insbesondere nicht über den Aspekt semantischer Universalien erklären kann, sondern nur über den Aspekt der Gebrauchsregel, konstatiert auch G ASTON VAN DER E LST , wenn er zutreffend feststellt: Es ist plausibel, daß die begriffliche Struktur sich im Laufe der Zeit ändert, wenn die Gebrauchsregeln sich ändern. Durch wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich der Wortgeschichte wurde bewiesen, daß letztere sich ändern. Es wäre also kein Fortschritt, wenn man nach sogenannten semantischen Universalien suchen würde, auf Grund deren die Inhaltsseite von sprachlichen Zeichen strukturiert werden könnte, da man solche, wenn überhaupt, nur an Hand von Gebrauchsregeln feststellen könnte. 293 In der Erweiterung des Gedankens von VAN DER E LST muss man hinzufügen, dass nicht nur die semantische Struktur auf der Ebene der langue selbst, sondern auch jegliche Veränderung der semantischen Struktur im Zuge eines Bedeutungswandels einzig über den Aspekt der Veränderung von Gebrauchsregeln erklärt werden kann. Was hingegen stimmt: Es gibt bestimmte Muster, nach denen Wandel bei Verben abläuft. Diese sind aber nicht im strengen Sinne Regelmäßigkeiten, sondern mögliche Pfade (wie der, den ich für das Verb fressen skizziert habe), die nicht ohne intentionales Handeln der Sprachbeteilig- 292 Dazu zwei Beispiele: 1. Das umgangs- und vulgärsprachliche (und damit per se) expressive Verb kotzen z. B. hat m. W. keine nachweisbare faktisch-konkrete Ursprungsbedeutung, sondern besitzt zu jeder Zeit eine expressive (oder zumindest vulgäre) Ausgangsbedeutung (vgl. K LUGE 1999: 532. Kotzen wird demnach seit dem 15. Jahrhundert vulgärsprachlich als Intensivbildung zu koppen=rülpsen verwendet). 2. Das Verb lesen hatte ursprünglich eine faktisch-konkrete Grundbedeutung und wird heute von niemandem expressiv verwendet. 293 V AN DER E LST 1982: 42. Hervorhebung durch den Verfasser. 157 ten gedacht werden können. 294 Insofern findet Bedeutungswandel trotz des Mangels an strikten Regeln nicht gänzlich unmotiviert und chaotisch statt. Was ebenfalls stimmt: Der Prozess des Wandels folgt einem allgemeinen Prinzip, dem invisible-hand-Prozess, wie ich ihn in Kapitel 2 vorgestellt und zur theoretischen Basis dieser Untersuchung gemacht habe. Dieser Prozess allerdings ist gültig für jede Form sprachlichen Wandels und nicht spezifisch für semantische Entwicklungen. Er verbindet die Mikroebene des Sprechers mit der Makroebene der Sprache, erklärt aber nicht die speziellen Wandelpfade, die ein Wort semantisch beschreiten kann, also nicht die Möglichkeiten und Grenzen, innerhalb derer sich ein Wort - hier ein Verb - semantisch ausdifferenzieren kann. So ist es m. E. richtig anzunehmen, dass der Bedeutungswandel auf der Ebene des Verbs nicht einem generellen, sondern vielen Mustern folgt, die sich zwar systematisch darstellen und erklären, nicht aber generalisieren lassen. 295 Der Grund dafür ist in der Einbindung von Parametern in die Gebrauchsregeln der Verben zu suchen. Über dieses Phänomen lassen sich zwar Pfade ableiten, nicht aber Gesetzmäßigkeiten oder strikte Regularitäten. Regelmäßigkeiten, die im Zuge der Pfadbeschreibung zu entdecken sind (und die über die semantische Inkorporierung entstehen), sind so verstanden noch keine Gesetzmäßigkeiten. Die Befunde sind keine allgemeingültigen Prinzipien, es sind vielmehr verschiedene Pfade der semantischen Entwicklung. Sie erlauben naturgemäß auch keine Prognosen. 294 Im analytischen Teil dieser Arbeit werde ich den Versuch unternehmen, die für die Gruppe der Verben denkbaren (und anhand des Korpus nachweisbaren) semantischen Pfade nicht nur zu skizzieren, sondern detailliert zu beschreiben und damit aufzeigen, welche Möglichkeiten der semantischen Entwicklung einem Verb offen stehen. Die Einbindung semantischer Parameter wird für diesen Nachweis von entscheidender Bedeutung sein, da sich daraus eine Kopplung zwischen der intentionalen Mikroebene und der Makroebene ergibt. Dennoch weise ich darauf hin, dass der Wandel nicht regelhaft erfolgt, sondern durch die Einbindung (bzw. die Verschiebung) semantischer Parameter. Dieser Prozess wiederum ist bisweilen nicht beliebig, sondern über die Anwendbarkeit semantischer Verfahren (z. B. Metaphernbildung) bestimmt. So kann sich ein semantischer Wandel nur unter bestimmten Bedingungen ergeben. Will sagen: Nicht jedes Verb kann sich in gleichem Maße semantisch wandeln. Die Möglichkeit, ein Verb kommunikativ (also zweckrational) in abweichender Weise nutzen zu können, wird durch die Grundbedeutung des Verbs selbst determiniert. Daraus ergeben sich m. E. bestimmte Muster und Regelmäßigkeiten, sie lassen aber keine Generalisierungen zu. 295 Dieser Aspekt spielt insbesondere für die Übergeneralisierung der Unidirektionalität konkret > abstrakt eine Rolle und wird weiter unten eingehender beleuchtet. Man läuft hier Gefahr der stereotypen Vereinfachung. 158 4.1.4 L ÜDTKE s universales Sprachwandelgesetz - Ein Modell für die Erklärung semantischen Wandels? Wenn wir erkannt haben, dass sich Bedeutungswandel aufgrund der Festlegung der Bedeutung als Gebrauchsregel nicht über ein allgemeines Gesetz erklären lässt, stellt sich die Frage, ob ein Gesetz für jeglichen sprachlichen Wandel ausgeschlossen werden muss. Im Bereich der Morphologie ist die Formulierung eines allgemeingültigen Gesetzes gelungen - das Prinzip dieses Gesetzes scheint mir auf den Bedeutungswandel aber leider nicht adaptierbar. Dennoch lohnt sich an dieser Stelle ein kleiner Exkurs. Es wird sich weiter unten zeigen, dass Adaptionen bisweilen für möglich gehalten werden. Mit welchem Erfolg, werde ich dort diskutieren. Sehen wir uns daher L ÜDTKE s universales Sprachwandelgesetz einmal genauer an und stellen uns die Frage: Lässt sich eine semasiologische Dimension sinnvoll einbinden? H ELMUT L ÜDTKE beschreibt sehr nachvollziehbar in seinem universalen Sprachwandelgesetz den lexikalischen Sprachwandel als einen zirkulären Kreislauf, der in erster Linie auf sprachökonomischen Prinzipien beruht. 296 Ausgangspunkt sind dabei Regelverletzungen aufgrund ökonomischer Bestrebungen (dem Effizienzprinzip folgend), die über einen gerichteten, dreistufigen Prozess, eine zyklische Drift, zu einer lexikalischen Neubildung führen. Der Prozess der lautlichen Schrumpfung aufgrund sprachökonomischer Bestrebungen führt dazu, dass sich ein Wort morphologisch „abschleift“ - ein Prozess, der so lange stattfindet, bis die Verständlichkeit des Wortes gefährdet ist. An dieser Stelle wird das Wort wieder lexikalisch angereichert. Diese lexikalische Anreicherung folgt - wie A NDREAS B LANK bemerkt - dem Expressivitätsprinzip und erfüllt den Wunsch des Sprechers, möglichst gut und deutlich verstanden zu werden. 297 Das Prinzip der Verschmelzung sorgt dafür, dass weiterhin lexika- 296 Vgl. L ÜDTKE 1980b: 182 ff und K ELLER 2003: 147ff. R UDI K ELLER benutzt für die Herausarbeitung seiner invisible-Hand-Erklärung eine von L ÜDTKE entwickelte zyklische Drift und erweitert diese zu einem allgemein gültigen Prinzip für Sprachwandel. Dabei formuliert K ELLER - basierend auf L ÜDTKE s Gesetz für den lexikalischen Sprachwandel - drei Grundprinzipien für Sprachwandel: das Ökonomieprinzip, das Redundanzprinzip und das Prinzip der Verschmelzung. Für die Erklärung semantischen Wandels eignet sich diese zyklische Drift allerdings eher weniger. Insbesondere das Ökonomieprinzip kann m. E. bei semantischem Wandel nicht angelegt werden, da es a) als sprachsysteminternes Prinzip Sprache selbst stark hypostasiert, b) dem Sprecher selten bewusst ist, also nicht intentional verfolgt wird und c) semantische Innovation vom Sprecher ein doch sehr hohes Maß an Energiekosten abverlangt. Auf den Umstand, dass Vereinfachung und Ökonomie nicht als universale Prinzipien des Sprachwandels - und insbesondere nicht des Bedeutungswandels - angesehen werden können, weist auch A UGUST D AUSES (D AUSES 1993: 9ff.) ausdrücklich hin. 297 Vgl. B LANK 1997: 362ff. 159 lische Einheiten bestehen bleiben bzw. ausformen und sich nicht etwa eine große Menge minimaler Lautformen mit geringer morpholgischer Substanz bilden. In diesem Schritt folgt der Sprecher ebenfalls dem Effizienzprinzip, ohne dass ihm dieser Umstand bewusst wäre: „Kognitiv und lexikalisch effizient ist es, ein Konzept mit nur einem Wort auszudrücken; [...] morphologisch effizient ist es, über Morpheme zu verfügen, die aus mehr als einem oder zwei Phonemen bestehen [...]“ 298 . So elementar, plausibel und hinreichend diese und ähnlich abstrakte Erklärungen für phonetischen oder morphologischen Wandel auch sind, so wenig nutzen sie bei der Erklärung von semantischem Wandel. Bedeutungswandel fußt nämlich gerade nicht darauf, dass ein Sprecher sprachliche Regeln aus „Faulheit“ verletzt, sondern darauf, dass er kommunikative Ziele erreichen möchte, mit seiner neuen Wortverwendung also etwas Bestimmtes ausdrücken will. Das Prinzip der Ökonomie muss dem Sprecher dabei keineswegs bewusst sein. Die Mechanismen des Bedeutungswandels sind vielmehr ein riskantes, aufwendiges und durchaus reflektiertes Unterfangen für den Sprecher als eine Folge seiner sprachökonomischen Bestrebungen. Möglicherweise fällt es aus diesem Grund so schwer, hinter diesem sprachlichen Wagnis eine regelhafte Systematik entdecken zu können. Das strukturalistische Prinzip vom Widerstreit zwischen Ökonomie und Differenziertheit, mit dem versucht wurde, Sprachwandel sprachsystemintern zu erklären, scheitert m. E. nicht nur an seiner Hypostasierung von Sprache selbst, sondern ist in besonderem Maße (wie der Exkurs zu L ÜDTKE s universalem Sprachwandelgesetz zeigt) nicht auf Bedeutungswandel adaptierbar. Dennoch gibt es, wie B LANK bemerkt, in L ÜDTKE s Theorie durchaus den Platz für eine semasiologische Perspektive: Der Prozess, den L ÜDTKE entwickelt, ist zwar gerichtet und zirkulär, aber er ist kein geschlossenes System. So wird er nur durch das Hinzukommen neuen lexikalischen Materials befeuert, welches wiederum nicht vom Himmel fällt, sondern „mit Hilfe der üblichen Verfahren der lexikalischen Neologie: Bedeutungswandel, Wortbildung, Phraseologie, Entlehnung“ 299 gebildet wird. Insofern lässt L ÜDTKE s Prinzip zwar Raum für semantische Entwicklungen, es dient aber nicht dazu, sich auf den Bedeutungswandel adaptieren zu lassen. B LANK schreibt dazu: „Dem Bedeutungswandel kommt in dieser Theorie des Sprachwandels eine nachgeordnete Rolle zu“ 300 und er erklärt dies dadurch, „daß als kommunikative Ziele nur die reine Ver- 298 B LANK 1997: 364 299 B LANK 1997: 365 300 B LANK 1997: 365 160 ständnissicherung bei gleichzeitiger Vermeidung von zu großer Redundanz und Streben nach maximaler Lautökonomie gesehen werden“ 301 . 4.1.4.1 Die semantische Drift als Erklärungsmodell Was bei L ÜDTKE fehlt, um die semasiologische Dimension zu bedienen, nämlich die Erfassung eines Phänomens wie die lexikalische Neologie, lässt sich über R UDI K ELLER s invisible-hand-Theorie leicht hinzufügen: „Wenn es einem Sprecher sinnvoll erscheint [...], kann er zu einer semantischen oder lexikalischen Innovation greifen, deren Schicksal davon abhängt, inwieweit sich andere Sprecher von ihrer Verwendung ebenfalls kommunikative Vorteile versprechen“ 302 . Über einen Kumulationsprozess gelangt die Innovation als Resultat eines intentionalen Auswahlprozesses in die Sprache und kann im Zuge der lexikalischen Anreicherung mit anderen lexikalischen Einheiten verschmelzen, d. h. sie wird lexikalisiert. Über diesen Ansatz gewinnt zwar die von L ÜDTKE formulierte Drift an semasiologischer Fülle, sie wird dadurch aber noch kein Erklärungsmodell für semantischen Wandel. Bleiben wir dennoch einen Augenblick bei dem Modell der Drift und der Frage, ob eine Adaption auf die Ebene der Semantik prinzipiell möglich ist und welche Befunde man daraus ableiten kann. Dass eine eins-zueins-Adaption von L ÜDTKE s Theorie nicht möglich ist, haben wir weiter oben festgestellt. Gibt es aber dennoch so etwas wie eine Drift auch im Bezug auf semantischen Wandel, also eine semantische Drift? R UDI K ELLER bemerkt, dass eine Drift, bei der die Sprecher auf gegebene ökologische Bedingungen reagieren, um kommunikative Probleme lösen zu können, auch beim Bedeutungswandel eine Rolle spielen kann. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn Sprecher, durch die Maxime der Höflichkeit geleitet, für Frauenbezeichnungen immer einen höheren Ausdruck wählen, als es den bezeichneten Frauen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung zusteht. Im Zuge der Drift führte dieses sprachliche Sozialverhalten in der Vergangenheit zu einer Pejorisierung der gesellschaftlichen Bezeichnungen für Frauen und es ist anzunehmen, dass diese Entwicklung gegenwärtig und zukünftig weiter stattfinden wird. 303 Auf 301 B LANK 1997: 365 302 B LANK 1997: 366 303 Vgl. K ELLER 2003: 154. K ELLER erkennt in der Drift ein Modell, dass auch auf den Bedeutungswandel adaptierbar ist. Wenn das zutrifft, handelt es sich bei der Drift (in K ELLER s Beispiel bezogen auf die Gruppe der Frauenbezeichnungen) um ein generelles Prinzip des Bedeutungswandels. Zwar lässt sich die Tendenz der Pejorisierung durch eine Drift m. W. nicht am Verbwortschatz ausmachen, dennoch scheint mir an dieser Stelle eine kurze generelle Betrachtung für das Phänomen des Bedeutungswandels, um das es in dieser Arbeit ja auch gehen soll, insgesamt lohnenswert. Ich verlasse daher im Folgenden kurzzeitig meinen eigentlichen Untersu- 161 dieses Phänomen weist K ELLER mit Blick auf die L ÜDTKE sche Theorie zwar nur ein einem Nebensatz hin, ich möchte die Plausibilität dieses Hinweises aber an dieser Stelle kritisch überprüfen und um ein paar Gedanken ergänzen, weil ich der Auffassung bin, dass auch diese semantische Drift, wie K ELLER sie nennt, zwar kein generelles Prinzip semantischen Wandels darstellt, aber durchaus als ein Effekt der Veränderung einer Gebrauchsregel nach zweckrationalen Gesichtspunkten, also mit Blick auf semantische Parameter, zu begreifen ist. K ELLER schreibt zusammenfassend zu L ÜDTKE s Theorie und mit einem handlungstheoretischen Fokus: Wie Lüdtkes Theorie zeigt, entsteht eine Drift dadurch, daß - ganz allgemein gesprochen - Sprecher die ökologischen Bedingungen, die ihnen (u.a.) durch den jeweiligen Zustand ihrer Sprache vorgegeben sind, und die damit verbundenen Probleme, die kommunikativen Unternehmungen mit Erfolg durchzuführen, immer wieder mit denselben Maximen reagieren. Dies ist bei einer morphologischen Drift, wie der von Lüdtke beschriebenen, im Prinzip nicht anders als bei einer semantischen Drift, wie sie die ständige Pejorisierung der gesellschaftlichen Bezeichnungen für Frauen darstellt. 304 Hier stellt sich mir jedoch die Frage, ob diese semantische Drift als generelles Prinzip ursächlich für den Bedeutungswandel ist, auch wenn sich das Phänomen, dass Frauenbezeichnungen einem pejorisierendem Schicksal entgegengehen, durchaus abzeichnet. Die Frage lautet: Geschieht der pejorative Wandel von Wortbedeutungen wegen der Drift bzw. wegen des allgemeinen Prinzips der Drift (dann ist die Drift die Ursache für den semantischen Wandel) oder stellt sich der Wandel vielmehr makrostrukturell als eine Drift dar, für deren Entwicklung andere Ursachen verantwortlich zeichnen? Ich möchte an dieser Stelle den Aspekt des absichtsvollen Wortgebrauchs ins Spiel bringen und - um bei K ELLER s Beispiel zu bleiben - im Bezug auf die Entwicklung der Frauenbezeichnungen im Deutschen die Frage stellen: Erfährt die Frauenbezeichnung, weil ich aus Gründen der Höflichkeit immer eine Stufe zu hoch greife, per se eine Abwertung oder ändert sich im Zuge der Drift streng genommen auf der Ebene der Gebrauchsregel, also auf der Bedeutungsebene überhaupt nichts? Ich bin der Auffassung, dass die Abschwächung der Frauenbezeichnungen im Zuge der Drift allein ein makrostruk- chungsbereich. Was sich aber zeigen wird - und auch deswegen ist dieser Exkurs notwendig - ist, dass die weiter oben von mir entworfene Theorie der Parameter einer Gebrauchsregel (und insbesondere ihre exponierte Rolle als Motor beim semantischen Wandel) in vielfacher Hinsicht fruchtbarer ist als die meisten bislang vertretenen Theorien. 304 K ELLER 2003: 154. Hervorhebung durch den Verfasser. 162 tureller Effekt eines intentionalen und zweckrationalen Entscheidungsprozesses auf der Mikroebene des Sprechers ist und dass die Drift selbst daher nicht in dem von K ELLER präsupponierten Ursache-Wirkung- Zusammenhang mit dem semantischen Wandel steht. Will sagen: Die Drift ist nicht die Ursache für den Wandel (und somit kein allgemeines Prinzip), sondern der durch den Wortgebrauch bestimmte Wandel ist die Ursache für die Herausbildung einer Drift. Diese Behauptung bedarf der Explikation: Indem ich das Weib Frau nenne (oder gegenwärtig die Frau Dame), verschlechtert sich noch nicht die Bedeutung von Weib (oder Frau) und auch nicht die von Frau (oder Dame). Streng genommen passiert innerhalb der Gebrauchsregeln zunächst überhaupt nichts, zumindest nicht in den Gebrauchsregeln der niedrigeren Frauenbegriffe. Die Dame könnte künftig höchstens beleidigt sein, dass ich die ihr zustehende Bezeichnung auf ein weibliches Wesen niedrigeren Ranges anwende, wie es auch die höfische Frau (mhd. die Frouwe) gewesen sein könnte, als ihre gesellschaftliche Bezeichnung zunehmend auf nicht-höfische weibliche Personen angewendet wurde. Das ist aber ein außersprachliches Dilemma und es lässt sich kommunikativ lösen. So greife ich möglicherweise auch für die Dame in Zukunft eine Etage höher und nenne sie demnächst irgendwie anders. 305 Vielleicht wird Dame zukünftig durch einen anderen Begriff ersetzt, wobei Dame ursprünglich (wie Frouwe) einen gesellschaftlichen Stand markiert hat; im Zuge der Auflösung gesellschaftlicher Stände fehlt gegenwärtig eine Steigerungsform von Dame. Möglicherweise wird daher künftig dem Begriff 305 Ich beschreibe gerade einen gegenwärtigen Sprachzustand und Entwicklungstrend: Während sich der Wandel Weib > Frau bereits vollzogen hat, ist der Wandel Frau > Dame momentan im Gang. So bildet das Wort Frau heute die Normalform, wogegen Dame bislang (noch) die gesteigerte Form des Ausdrucks darstellt. Dass aber in Anreden („Sehr geehrte Damen und Herren“) oder bei der Beschilderung öffentlicher Toiletten (Damentoiletten) bereits die höflichere Form gewählt wird (obwohl es fraglich ist, ob alle Benutzerinnen einer öffentlichen Damentoilette die Attribute des Damenhaften tragen), verleitet zu der Annahme, dass sich die Frauenbezeichnung Dame (analog zu Weib > Frau) zur Normalform entwickeln wird. Dann wäre, wenn die These von der Drift bei Frauenbezeichnungen stimmt, eine neue Bezeichnung notwendig, um die Dame durch gesteigerten Ausdruck hofieren zu können. Welche Bezeichnung das sein könnte, lässt sich gegenwärtig nicht absehen. Möglicherweise ist aber auch hier das Ende der Drift erreicht, denn im Gegensatz zu Weib/ Frau implizieren weder Frau noch Dame eine gesellschaftliche Stufe (höfisch/ nicht höfisch bzw. adlig/ nicht adlig). Dann wäre die Annahme einer „ständigen Pejorisierung der gesellschaftlichen Bezeichnungen für Frauen“ (K ELLER 2003: 154) falsch. Dies wird sich aber leider erst in der Zukunft nachweisen lassen, da Bedeutungswandel nicht prognostizierbar ist. Aufgrund eines feststellbaren Ursachenkomplexes (bestehend aus ökologischen Bedingungen und Handlungsmaximen) ist diese Entwicklung aber möglich, so dass K ELLER hier eine durchaus plausible Trendextrapolation formuliert. 163 Dame eine attributive Ergänzung zugesetzt, um die höfliche Steigerung zu kennzeichnen. Im Zuge dieser Entwicklung könnte dann also eigentlich der Begriff Frau verschwinden, er wird ja kommunikativ nicht mehr benötigt. De facto verschwindet der Begriff aber nicht, er erfährt hingegen vermutlich, wenn es sich tatsächlich um eine ständige Drift handelt (wie K EL- LER annimmt und was m. E. prinzipiell fraglich ist), künftig eine qualitative Bedeutungsverschlechterung, wie wir es für das Wort Weib gegenwärtig bereits feststellen können. Die Bedeutungsentwicklung ist für das Wort Weib bereits abgeschlossen, daher sehen wir uns an, was hier geschehen ist: Die Bedeutungsverschlechterung resultiert in diesem Fall m. E. daraus, dass ich für den jeweils niedrigeren Begriff als Sprecher eine neue Gebrauchsregel anlege, die künftig bewertende Parameter involviert. Das Wort erhält also eine pejorative Konnotation aufgrund der intentionalen Einbindung evaluativer (und bisweilen auch sozialer) Parameter in die Gebrauchsregel. 306 Diese Entwicklung in Zuge der Drift ermöglicht es dem Sprecher, die Wörter Weib (und eventuell künftig Frau) abwertend zu verwenden. Will sagen: Dem Sprecher eröffnet sich eine neue Möglichkeit der zweckrationalen Nutzung. Die Bewertung einer Person, die ich Weib nenne, ist nämlich nicht dadurch bedingt, dass ich sie nicht Frau nenne. Sie ist dadurch bedingt, dass ich sie Weib nenne, also zweckrational bestimmt, weil in die Gebrauchsregel des Wortes Weib durch die Nutzungsveränderung der Frauenbegriffe die Möglichkeit der Einbindung evaluativer Paramter gegeben war. Der Sprecher entscheidet sich also durch die Möglichkeit der Neunutzung des Wortes bewusst und absichtsvoll dafür, einen (neuerdings) abwertenden Begriff zur Kennzeichnungen einer weiblichen Person anzulegen, für die nach seiner Einschätzung ein pejorativer Aus- 306 So wird gegenwärtig die Bezeichnung Weib für Frau auch vielfach sozial determiniert: Von einem „geilen Weib“ z. B. wird wohl eher in bestimmten (eher gesellschaftlich niedrigeren) sozialen Gruppen oder in bestimmten sozialen Situationen gesprochen, wobei in dieser Diktion sowohl der Ausdruck geil als auch das Wort Weib eine zusätzliche expressive Komponente erhalten. Der Zusammenhang zwischen sozialen Parametern der Gebrauchsregel und Expressivität des Ausdrucks wurde in Kapitel 3.2.5 dargelegt und lässt sich aus der Übersicht in Kapitel 3.2.7 ablesen. Die soziale Funktion der pejorativen Wortverwendung (und die daraus resultierende Expressivität) dienen der Kennzeichnung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, also der gesellschaftlichen Markiertheit. So ist es v. a. unter jungen Männern durchaus gebräuchlich, den Begriff Weib zu verwenden und damit nicht so sehr eine bewertende (abwertende) Haltung zum Ausdruck zu bringen als vielmehr, Zugehörigkeit zur Gruppe zu markieren. Viele sogenannte Partylieder spiegeln dieses Phänomen wider (z. B. W OLFGANG P ETRY s Lied „Weiber“ oder P ETER W ACKEL s „Party, Palmen, Weiber und ein Bier“). Dieses Phänomen, das ich hier für die pejorativen Frauenbezeichnungen darstelle, lässt sich problemlos auch auf eine Vielzahl Verben adaptieren, wie wir in Kapitel 3.2.5 und 3.2.6 gesehen haben. 164 druck zutreffend ist. Das Ziel des Sprechers ist in diesem Fall nicht Höflichkeit sondern Beleidigung und Abwertung. Man könnte für die Möglichkeit der pejorativen Neunutzung von Frauenbezeichnungen den folgenden Schluss formulieren: Das Wort Weib wurde ungebräuchlich, da es seine Markiertheit als Normalfall verloren hat; seine Gebrauchsregel wurde semantisch „entleert“. Das Wort Frau hingegen wurde, da es sich nun auf jede erwachsene weibliche Person anwenden ließ, semantisch erweitert; es erfuhr eine Bedeutungserweiterung, in deren Folge sich die Extension des Wortes vergrößert hat. Bis hier hin hat allerdings weder die Bedeutung von Weib noch die von Frau eine bewertende Komponente erhalten. Die Gebrauchsregel der Bezeichnung Weib stellt sich zu Beginn der Bedeutungsentwicklung wie folgt dar: Verwende das Wort „Weib“, wenn du auf eine weibliche Person referieren willst, die nicht-höfisch ist. Die Gebrauchsregel des Wortes Frau könnte man formulieren mit: Verwende das Wort „Frau“, wenn du auf eine weibliche Person referieren willst, die höfisch ist. Wenn du aber höflich sein willst, verwende den Ausdruck auch für nicht-höfische weibliche Personen. Im Zuge der rationalen Entscheidbarkeit wurde dann das Wort Frau aus Gründen der Galanterie präferiert, ungeachtet der gesellschaftlichen Stellung der Person, auf die es bezogen wurde. Eine Pejorisierung des Begriffs Weib hat dadurch noch nicht stattgefunden, das Wort ließ sich noch immer wertneutral verwenden. Es stellte sich aber vermutlich die Frage, welchen kommunikativen Zweck die Bezeichnung Weib noch hatte, wenn ihre Gebrauchsregel gewissermaßen obsolet geworden war. Die nun einsetzende Pejorisierung im Zuge der zyklischen Drift halte ich für einen makrostrukturellen Effekt, der durch die prinzipielle Möglichkeit der Veränderung der Gebrauchsregeln der Frauenbegriffe entstand: Genauso, wie ich den Zweck verfolgen kann, mich durch den jeweils höheren Frauenbegriff höflich auszudrücken, kann ich auch beabsichtigen, mich abwertend zu äußern. Da sich das Wort Weib aufgrund a) der ursprünglichen Kennzeichnung einer niedrigeren Schicht und b) der (nun) mangelnden Eignung, im Sinne der ursprünglichen Gebrauchsregel verwendet zu werden, angeboten hat, neu und anders verwendet zu werden, konnte der Sprecher zum Ausdruck seiner Abwertung dieses Wort verwenden und hat durch diesen zweckrationalen Gebrauch (natürlich unbewusst) evaluative Parameter in die Gebrauchsregel eingebracht, die zur heutigen pejorativen Bedeutung geführt haben. Will sagen: Die jeweilige Gebrauchsregel bestimmt die kommunikative Möglichkeit der Nutzung eines Wortes. Die Gebrauchsregel verändert sich durch den Gebrauch des Wortes, also durch intentionales sprachli- 165 ches Handeln, nicht durch das Wirken der Drift, so dass die Drift als Erklärung für den Bedeutungswandel wenig taugt. Das schmälert allerdings nicht die Leistung L ÜDTKE s, denn er hat das, was eine Drift ist, auf der Ebene des lexikalischen Wandels selbst adäquat erklärt. R UDI K ELLER schreibt dazu treffend: „Die „drift“ selbst kann kein Erklärungsargument sein, etwa der Art „x wurde zu y, weil der Wandel von x zu y der vorherrschenden ‚drift‘ entspricht“. Die ‚drift‘ selbst ist etwas, das erklärt werden muss“ 307 . Kombiniert man nun die plausible Erklärung einer Drift durch L ÜDTKE mit den hier entworfenen Überlegungen zu den Prozessen des Bedeutungswandels durch das Wirken außersprachlicher Bedeutungsparameter, kommt man einer tatsächlichen Erklärung des semantischen Wandels im Zuge einer Drift schon deutlich näher. Um Bedeutungswandel bei einer semantischen Drift (die es als Effekt unzweifelhaft gibt) erklären zu können, benötigt man zwingend die Dimension der zweckrationalen Entscheidung (und damit verbunden eine evidente Theorie über die Veränderungen auf der Strukturebene der Wortbedeutung). Ich halte das Modell der Bedeutungsparameter hier für erklärungsadäquat und hinreichend. Es bleibt somit auch hier festzuhalten, dass Bedeutungswandel nicht über den Prozess, den L ÜDTKE für morphologischen Wandel entworfen hat, beschrieben werden kann, so dass L ÜDTKE s „Gesetz“ nicht als Gesetz für den Bedeutungswandel taugt. 4.1.5 Sozialtheoretische Fixierung vs. Natürliche Gesetzmäßigkeiten Nicht anders verhält es sich mit der Übertragung anderer natürlicher Gesetzmäßigkeiten auf das Phänomen des Bedeutungswandels. Die Suche nach Gesetzmäßigkeiten war seit S AUSSURE und in dessen Nachfolge nicht nur Motor sondern auch Hemmschuh des semantischen Forschungsprozesses. Insbesondere die mühevollen aber im Ergebnis doch erfolglosen Adaptionsversuche der Gesetzmäßigkeiten aus dem Bereich der Phonologie zeigen, dass semantischer Wandel ohne die Einbeziehung sozialtheoretischer, also kulturgeschichtlicher und damit außersprachlicher Ansätze nicht adäquat beschrieben oder gar erklärt werden kann. D IETRICH B USSE stellt für die semantische Post-Saussure-Forschung und deren Versäumnis treffend fest, dass „[d]er Sprung von der Suche nach den Ursachen des Bedeutungswandels und seinen Typen zu soziologischen [...] Überlegungen [...] klein gewesen [wäre]“ 308 . Sozialtheoretische (und damit sprecher- und handlungszentrierte) Überlegungen waren lange Zeit 307 K ELLER 2003: 152 308 B USSE 2001: 1310 166 ein Desiderat der Forschung und sind es m. E. in letzter Konsequenz bis heute, auch wenn Ansätze zu einer handlungstheoretisch fundierten Semantik seit den 1980er Jahren vorliegen. Semantischer Wandel ist zwar auf der Makroebene der Einzelsprache ein unintendierter, kumulativer Nebeneffekt von menschlicher Kommunikation, er beruht aber auf individuellen, intentionalen Zielen der einzelnen Sprecher, die mit ihrem Wortgebrauch einen kommunikativen Zweck verfolgen, z. B. sich innovativ auszudrücken oder auf Abstraktes durch bildhaften Vergleich mit Ausdrücken für Konkretes zu referieren. Die Neuverregelung von Bedeutung (präziser: die Inkorporierung oder Verschiebung semantischer Parameter) und die mögliche Entstehung semantischer Relationen geschehen durch das Wirken der unsichtbaren Hand, nicht durch universelle sprachimmanente Kräfte. Somit sind auch die abstrakten universellen Regeln der Phonetik oder Morphologie nicht sinnvoll auf semantischen Wandel adaptierbar, denn ihnen fehlt die pragmatische Dimension. Die Stringenz oder Linearität, die eine Systematisierung auf lautlicher, morphologischer oder syntaktischer Ebene zulässt, scheint aus diesen Gründen dem Bedeutungswandel gänzlich zu fehlen. Mit S TEPHEN U LLMANN bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Suche nach allgemeinen Gesetzen für die diachrone Semantik eher hinderlich als förderlich ist: Im gegenwärtigen Zusammenhang würde uns die dogmatische Formulierung sprachlicher Gesetze [also auch semantischer Gesetze, S. B.], wenn man sie gewissenhaft beachten würde, daran hindern, gewisse [...] Strömungen und Entsprechungen, auf die Bedeutungsforscher u. a. immer wieder hingewiesen haben, zu prüfen oder überhaupt zu erkennen. Methodologische Vorurteile [die sich zwingend aus der Formulierung von Bedeutungsgesetzen ergeben, S. B.] dürfen uns nicht den Weg zur Entdeckung und Erklärung semantischer Tatsachen verstellen. 309 Man könnte ergänzend hinzufügen: Die strikte Formulierung semantischer Gesetze, aber auch bereits die weniger strikte Formulierung systemimmanenter und auf eine einzige Wortart beschränkter Regularitäten, verleiten zudem - wie angedeutet - bisweilen auch zu völlig falschen Schlüssen und stellen sich daher als hinderlich dar, wenn man Bedeutungswandel in all seinen Ausprägungen und Facetten darstellen möchte, Ausnahmen von der so verstandenen Regel also explanativ nicht ausklammern, sondern erklärungsadäquat involvieren will. Geeignet scheint mir, soll diese Prämisse erfüllt sein, nur eine handlungstheoretisch fun- 309 Vgl. U LLMANN 1967/ 72: 237 167 dierte Semantik, die ihre Befunde an der Sprecherwirklichkeit und nicht an generellen Prinzipien ausrichtet. 4.2 Zur Frage der Unidirektionalität konkret > abstrakt Haben wir uns bislang mit einem eher oberflächlichen, zumindest aber recht allgemeinen Blick der Problematik von Generalisierungen semantischer Wandelphänomene genähert, möchte ich nun ein spezielles Problem skizzieren, das für die Verbsemantik von ganz besonderer Bedeutung ist. Dieses Problem erwächst, ähnlich wie die Phänomene, die wir weiter oben bereits als Übergeneralisierungen entlarven konnten, aus dem Versuch, von einer allgemeinen Tendenz auf ein generelles Prinzip schließen zu können bzw. zu wollen. Ein solcher problematischer Schluss, ist die Annahme, dass sich im Zuge eines Bedeutungswandels aus konkreten Begriffen über einen strikten Einwegprozess abstrakte Bedeutungen herausbilden. Diese Entwicklung soll, so wird häufig behauptet, der einzige Weg sein, auf dem Wörter zu neuen Bedeutungen gelangen können. Eine bidirektionale oder gar eine zirkuläre Entwicklung werden bei einer solchen Generalisierung nicht nur außen vor gelassen, sie werden in aller Deutlichkeit von einigen Autoren ausgeschlossen. Was ich gerade kurz umrissen habe, ist eine der am häufigsten vertretenen Generalisierungen und vermutlich die common sense Meinung vieler Linguisten, wenn es um die Frage der Gerichtetheit semantischen Wandels geht. Die gewagte These, dass Bedeutungswandel in eben dieser unidirektionalen Gerichtetheit vonstatten geht (und zwar ausschließlich) ist vielfach publiziert und bis heute m. W. weitestgehend unwidersprochen und damit aktuell. Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle diese besondere Generalisierung eingehender diskutieren. Im Zuge der Diskussion werde ich einige grundlegende Gedanken aus handlungsorientierter Sicht (mit dem fokussierten Blick auf den verbalen Bedeutungswandel) formulieren. Sehen wir uns daher in einem ersten Schritt an, mit welchen Behauptungen wir es in der linguistischen Forschung in dieser Frage zu tun haben. Wie V OLKER H ARM feststellt, gibt es gegenwärtig akzeptierte Hypothesen darüber, dass sich Wandelphänomene in einer stets wiederkehrenden Abfolge der Bedeutungen nachweisen lassen, wobei angenommen wird, dass semantischer Wandel im Allgemeinen gerichtet, d. h. unidirektional abläuft. 310 Dabei gibt es zwei grundsätzliche Auffassungen: Zum einen wird angenommen, dass sich Bedeutungswandel generell in der Richtung vom Konkreten zum Abstrakten abspielt, zum anderen wird behauptet, 310 Vgl. H ARM 2000: 38 168 dass ein Wandel von der allgemeineren Bedeutung zur spezielleren Bedeutung stattfindet. Beide Behauptungen sind richtig, denn sie lassen sich an einer Vielzahl von Phänomenen ablesen. Falsch hingegen ist in beiden Fällen die strikte Formulierung einer Generalisierung, wie ich im Folgenden nachweisen möchte. Die erste Generalisierung, die besagt, dass semantischer Wandel immer von der Sphäre des Konkreten zur Sphäre des Abstrakten vorkommt, finden wir in der strikten Formulierung z. B. bei E LISABETH T RAUGOTT : „One of the most important organizing principles for finding regularity in semantic change is [...] the principle that more concrete terms will almost always give rise to more abstract ones and not vice versa [...] 311 . Entscheidend an dieser Festlegung ist die gewagte Behauptung, dass eine gegenläufige und eine rückwärtsgerichtete Bewegung ausgeschlossen sind („...and not vice versa“). Auch V OLKER H ARM schreibt: „Daß semantischer Wandel in der Richtung ‚konkret’ > ‚abstrakt’ verläuft und nicht umgekehrt, gehört zum Gemeingut der diachronen Semantik seit dem 19. Jahrhundert“ 312 . Die zweite Generalisierung, die davon ausgeht, dass sich semantischer Wandel im Allgemeinen von der allgemeineren Bedeutung zur spezielleren Bedeutung hin entwickelt, finden wir bei R AIMO A NTTILA , der damit keine wirklich neue Hypothese formuliert: Theoretisch reflektiert und mit zahlreichen Beispielen untermauert lässt sich dieser Gedanke bereits bei M ICHEL B RÉAL und J OSEPH V ENDRYES finden. 313 A NTTILA schreibt: „Restriction is the more common direction, since everyday life is directed toward the concrete. [...] Semantic extension is rarer“ 314 . 315 Beide Generalisierungen gehen eng miteinander einher, so dass man - aufgrund der stärkeren Allgemeingültigkeit und der strikteren Formulierung - annehmen kann, dass die Generalisierung A NTTILA s in der T RAU- GOTT s gewissermaßen aufgeht: Indem für jegliche semantischen Verfahren der Wandel vom Konkreten zum Abstrakten postuliert wird, erweist 311 T RAUGOTT 1985: 159. Eine ähnlich, allerdings nicht ganz so strikte Formulierung findet man bei E VE S WEETSER (bes. S WEETSER 1990: 18). Insbesondere die prinzipielle Unmöglichkeit der Gerichtetheit abstrakt > konkret wird bei S WEETSER im Gegensatz zu T RAUGOTT nicht behauptet („...and not vice versa“). 312 H ARM 2000: 118. Hervorhebung durch den Verfasser. 313 Vgl. H ARM 2000: 41, Quellenangaben dort. 314 A NTTILA 1989: 14 315 Über den Aspekt der Extension beschreibt A NTTILA hier eine Gerichtetheit, die einen quantitativen Faktor aufweist: Bedeutungserweiterung kommt demgemäß seltener vor als Bedeutungsverengung. Im Gegensatz dazu steht aber die Auffassung G EERAERTS , der die semantischen Verfahren der Metaphernbildung als „mechanisms of semantic extension“ definiert (G EERAERTS 1997: 103) und somit dem Verfahren der Metaphorisierung eine extensionserweiternde, zumindest aber wohl eine extensionsbildende Funktion zuschreibt. 169 dieses Prinzip auch seine Gültigkeit im Bezug auf den Wandel von der allgemeinen zur speziellen Bedeutung. 316 So verstanden müsste sich diese spezielle Gerichtetheit in Korrelation mit der von T RAUGOTT formulierten Unidirektionalität nachweisen lassen, stellt sie doch ein allgemeines Prinzip dar, dass sich der T RAUGOTT schen Generalisierung unterordnet. Will sagen: In denjenigen Fällen, in denen sich semantischer Wandel vom Allgemeinen zum Speziellen abzeichnet, müsste auch die Generalisierung T RAUGOTT s manifest werden. 317 Dass dies nicht der Fall ist, lässt sich anhand des Verbwortschatzes leicht belegen. So haben die expressiven Verben fressen oder saufen (in der metaphorischen Übertragung auf den Menschen) eine Entwicklung vom Allgemeinen (jedes Tier) zum Speziellen (der Mensch) durchlaufen (also eine Extensionsverkleinerung), ich kann allerdings nicht feststellen, dass die beschriebenen Tätigkeiten im Zuge dieser Entwicklung an Abstraktheit gewonnen und an Konkretheit verloren hätten. Sowohl in der (auf allerlei Getier referierenden) Grundbedeutung als auch in der (auf Menschen projizierten) Zielbedeutung wird eine konkrete Tätigkeit zum Ausdruck gebracht. Für Verben kann man demgemäß nicht ohne weiteres konstatieren, was H ARM für Substantive formuliert: „Objekte mit einem engeren, ‚spezielleren’ Referenzbereich [...] sind mit gutem Recht auch als ,konkret’ zu bezeichnen, während der ,allgemeine’ Begriff [...] mit einem weiteren Referenzbereich demgegenüber auch als ,abstrakt’ gelten kann“ 318 . Für Verben wie fressen oder saufen gilt diese Aussage nicht. Solche Verben sind und bleiben in ihrer Bedeutung konkret, obwohl sich der Referenzbereich grundlegend ändert. Man kann hier nicht feststellen, dass die Bedeutung dieser beiden Verben mit Blick auf den größeren Referenzbereich (alle Tiere) abstrakter wäre, als es sich für die verkleinerte Extension (erwachsene Menschen) darstellt. Es muss in diesem Zusammenhang auch in Frage gestellt werden, ob es korrekt ist, wenn A NTTILA behauptet: „In general, a term whose extension is larger than that of another is abstract. In contrast, the latter term is concrete“ 319 . Extensionserweiterung müsse demnach zwingend zu einer allgemeineren Bedeutung und damit einhergehend zu einer Abstrahierung führen, Extensionsverkleinerung hingegen würde zur Herausbildung einer speziellen und konkreten Bedeutung führen. Es müsse also eine (zumindest partielle) Überschneidung der Begriffe konkret/ abstrakt, 316 Vgl. auch H ARM 2000: 39 317 Der umgekehrte Fall kann hingegen nicht angenommen werden, er lässt sich nicht schlussfolgern: Die Generalisierung T RAUGOTT s setzt diejenige A NTTILA s außer Kraft, da das Prinzip konkret > abstrakt über dem Prinzip allgemein > speziell operiert, nicht umgekehrt. 318 H ARM 2000: 39f. 319 A NTTILA 1989: 10 170 allgemein/ speziell angenommen werden, die ich - die Beispiele haben dies belegt - nicht in jedem Fall erkennen kann. Das wesentliche Verhältnis zwischen den Begriffspaaren konkret/ abstrakt und allgemein/ speziell bleibt ungeklärt; eine Gleichsetzung von „specialized“ und „concrete“ sowie „less specialized“ und „abstract“, wie wir sie z. B. bei T RAUGOTT finden, halte ich für falsch. 320 Was hier offen zu Tage tritt ist folgende Erkenntnis: Viele Verben, die ich an dieser Stelle richtungskonstante Verben nennen möchte, durchlaufen im Zuge ihres Bedeutungswandels nicht den verabsolutierten Weg vom Konkreten zum Abstrakten, auch die umgekehrte Richtung wird nicht eingeschlagen und eine Kopplung von spezieller und konkreter bzw. von allgemeiner und abstrakter Bedeutung ist nicht zwingend gegeben. Die Bedeutungen solcher Verben mit konstanter Handlungssphäre differenzieren sich zwar semantisch aus, dies hat aber nur in bestimmten Fällen einen Einfluss auf die Handlungssphäre, innerhalb derer sich die Wortbedeutungen bewegen. Will sagen: Eine große Anzahl an Verben behält ihre konkrete bzw. abstrakte Grundbedeutung nach Durchlaufen des Bedeutungswandelprozesses unverändert bei. Diese richtungskonstanten Verben verlassen ihre Handlungssphäre streng genommen überhaupt nicht. 4.2.1 Abstrahierung als semantischer Effekt Ob ein Verb im Resultat eine abstrakte Bedeutung annimmt oder nicht, hängt nicht davon ab, ob es ein generelles Prinzip gibt, das diese Entwicklung rechtfertigt, wie T RAUGOTT es in ihrer allgemeinen etymologischen Hypothese postuliert. Der entscheidende Faktor für diese Entwicklung liegt in meinen Augen vielmehr in der Einbindung oder Veränderung semantischer Parameter in die Gebrauchsregel des Wortes. Eine Bedeutungsentwicklung, bei der die von T RAUGOTT postulierte Unidirektionalität konkret > abstrakt nachweisbar ist, lässt sich in erster Linie für diejenigen Verben konstatieren, die im Zuge der semantischen Entwicklung Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen hinzugewinnen (z. B. raffen oder begreifen). R UDI K ELLER liefert für diese Entwicklungsrichtung eine plausible Erklärung: „Wer über Abstraktes oder Inneres reden will, kann es prinzipiell nur mittels Analogie tun“ 321 . Da sowohl dem Sprecher als auch dem Hörer Entitäten und Vorgänge aus der konkreten Welt zugänglich sind, werden gerade solche konkreten Vorgänge systematisch ikonisch, also durch das Verfahren der Metaphorisierung zur Übertragung herangezogen. Der Sprecher folgt dann folgendem zweckra- 320 Vgl. T RAUGOTT 1988: 133 321 K ELLER 1995: 222 171 tionalen Antrieb: Ich kann nicht auf eine bestehende Gebrauchsregel zurückgreifen, also drücke ich mich bildlich aus und verwende, um dem Hörer das Verstehen zu erleichtern, einen Ausdruck aus der Welt des Konkreten, der sich aufgrund seiner Systematizität besonders eignet, um richtig interpretiert zu werden. Auch die Einbindung bestimmter sozialer Parameter kann diese Entwicklungsrichtung rechtfertigen (z. B. bei eingreifen), ebenso die Inkorporierung diskursiver Parameter (z. B. sehen in ich sehe das anders). In diesen Fällen bewirkt die Einbindung der jeweiligen Bedeutungsparameter (in erster Linie kognitiv-mentaler, in manchen Fällen in Kombination mit sozialen und/ oder diskursiven Parametern) in die Gebrauchsregeln eine Veränderung der Handlungssphäre, und zwar tatsächlich in der von T RAUGOTT beschriebenen Richtung vom Konkreten zum Abstrakten. Diese Entwicklung würde ich allerdings nicht als ein semantisches Prinzip und erst recht nicht als eine Generalisierung benennen wollen. Eine solche Generalisierungsthese scheint mir nicht sehr plausibel, sie hält einer Überprüfung nicht stand. Vielmehr ist wohl davon auszugehen, dass es sich bei der Abstrahierung um einen reinen Effekt der zweckrationalen Inkorporierung semantischer Parameter in die Gebrauchsregeln der Wörter handelt, der nur bisweilen auftritt und ein Charakteristikum für solche Verben darstellt, die sich per se in abstrakten Handlungssphären bewegen. 322 Für die abstrahierten Verben kann man daher konstatieren, dass die metaphorische Analogie eine hinreichende Bedingung für Abstrahierung im Bedeutungswandel darstellt, die vermutlich auch notwendig ist. 323 Entscheidend für die Entstehung einer abstrahierten Bedeutung ist m. E. allerdings die Veränderung der Parameterstruktur, nicht allein das semantische Verfahren. Das ikonische Verfahren der Metaphorisierung führt nicht in jedem Fall zu einer Abstrahierung der Bedeutung, so dass wir uns vor einer Generalisierung einer solchen Feststellung hüten müssen. Wenn wir uns nämlich im Kontrast zu solchen, im Ergebnis abstrahierten Verben z. B. die beiden Verben saufen und fressen näher ansehen (also analytisch auf der Strukturebene der Gebrauchsregel ansetzen), die ebenfalls heute metaphorisch verwendet werden können, dann stellen wir fest, dass in den Gebrauchsregeln dieser beiden Verben in erster Linie wahrheitsfunktionale Parameter, also Parameter aus der äußeren Welt, um die von mir entwickelten Taxonomiebegriffe aus Kapitel 3.1.4.1 anzulegen, wirken - 322 Mentale Verben beispielsweise lassen sich nur im Bereich des Abstrakten verorten. 323 Bei der Analyse des zugrunde gelegten Verbwortschatzes ist dem Verfasser kein Fall untergekommen, bei dem die Abstrahierung der Verbbedeutung nicht an ein ikonisches Verfahren geknüpft war. Es wäre allerdings grundlegend falsch anzunehmen, dass Metaphorisierung im Umkehrschluss in jedem Fall zu einer abstrakten Bedeutung führt. 172 auch in der metaphorischen Lesart, die auf den Menschen referiert. Will sagen: Die Metaphorisierung hat hier im Ergebnis die Handlungsrichtung nicht verändert, wohl aber die Handlungssphäre. So haben sich diese Verben von der faktischen zur evaluativen Repräsentation entwickelt (das ist der Pfad, auf dem sich der Wandel abzeichnet), sie haben dabei die konkrete Ebene aber nicht verlassen. Innerhalb der Gebrauchsregel, also auf der Bedeutungsebene der Verben ist Folgendes geschehen: Im Zuge der Bedeutungsentwicklung dieser beiden Verben hat die semantische Inkorporierung zweier zusätzlicher Parameter stattgefunden, die eine Übertragung auf den Menschen zweckrational (und damit kommunikationstheoretisch) überhaupt erst erklären kann. Beide Verben haben im Zuge der Bedeutungsverengung durch Projektion auf den Menschen evaluative Parameter, also solche, die ich weiter oben als Parameter aus der Welt der Haltungen bezeichnet habe, hinzugewonnen. Über die metaphorische Übertragung der Begriffe aus dem Tierreich auf den Menschen kann der Sprecher das Animalische an den Tätigkeiten des Essens und Trinkens zum Ausdruck bringen: Man verwendet fressen und saufen immer dann, wenn man der Meinung ist, dass jemand diese Tätigkeiten in unzivilisierter Art und Weise ausübt. Der Sprecher äußert auf diese Weise eine (negative) bewertende Haltung. Möglicherweise (hier kommt es entscheidend auf den Äußerungskontext an) haben diese beiden Verben zusätzlich soziale Parameter hinzugewonnen, wobei sich bereits an anderer Stelle gezeigt hat, dass eine Koexistenz gerade von evaluativen und sozialen Parametern in Verben, die Expressivität zum Ausdruck bringen sollen, häufig feststellbar ist. Eine ähnliche Feststellung lässt sich auch für eine Reihe von Verben der sexuellen Handlungssphäre treffen, die allesamt als Tabuwörter ein umgangssprachliches Schattendasein fristen. So sind die Verben ficken, wichsen oder blasen als sexuelle Tabuwörter heute nicht weniger konkret an Tätigkeiten geknüpft, als es ihre Ursprungsbedeutungen gewesen sind; die Verben denotieren gegenwärtig lediglich andere konkrete Tätigkeiten als in früheren Sprachstufen. Dennoch kann man hier feststellen, dass sich die Bedeutungen dieser Wörter durch Metaphorisierung vom Allgemeinen zum Speziellen verändert haben, also analog zu saufen und fressen eine Verkleinerung der Extension (also eine Bedeutungsverengung) stattgefunden hat. 324 324 Man könnte an dieser Stelle einwenden: Die Verben fressen und saufen haben gar keine Bedeutungsverengung durchlaufen, sondern eine Bedeutungserweiterung. Schließlich kann man die Begriffe ja nicht mehr nur auf Tiere, sondern auch auf Menschen anwenden. Ich bin allerdings der Auffassung, dass diese Sichtweise nicht korrekt ist. Zum einen haben sich die Wortbedeutungen in der Möglichkeit der Übertragung auf den Menschen spezialisiert, zum anderen hat sich in der übertragenen Lesart die Intension vergrößert. So gibt es ganz klare Merkmale, die das Fressen 173 Bedeutungsverengung ist aber nur eine Möglichkeit der Bedeutungsentwicklung bei Verben. Auch das Gegenteil, also eine Entwicklung von der speziellen zur allgemeinen Bedeutung, die mit einer Extensionserweiterung einhergeht, ist nachweisbar. So lässt sich z. B. für das Verb sich vergehen auf einer Zwischenstufe der semantischen Entwicklung feststellen, dass das Verb eine Erweiterung der Extension erfahren hat und im Zuge dessen eine Abstrahierung nachweisbar ist. Hier ist also das von A NTTILA propagierte Prinzip des Wandels vom Allgemeinen zum Speziellen aufgehoben, das Prinzip T RAUGOTT s hingegen scheint bestätigt. 325 Gegenwärtig hat sich für das Verb sich vergehen allerdings eine Entwicklung abgezeichnet, die ein (vorläufiges) Ende der Bedeutungsgeschichte kennzeichnet: Man verwendet sich vergehen heute speziell (im Bezug auf unerlaubte sexuelle Handlungen), die Bedeutung ist zudem wieder konkretisiert worden. T RAUGOTT s Prinzip wurde mit dieser Entwicklung aufgehoben (die Bedeutung hat sich in Richtung abstrakt > konkret ausdifferenziert), das Prinzip A NTTILA s wäre hingegen bestätigt. Diese zirkuläre Bedeutungsentwicklung, die sich anhand dieses Verbs exemplarisch darstellen lässt, zeigt, wie wenig Generalisierungen (und insbesondere diejenige T RAUGOTT s) im Bezug auf den Bedeutungswandel taugen; sie stützen sich auf Beobachtungen, die keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit erheben können und die daher bei näherem Hinsehen ihren eigentlichen Charakter als unzulässige Übergeneralisierungen offenbaren. 326 4.2.2 Semantische Exkorporierung Das uns gerade für das Verb sich vergehen begegnete Phänomen, bei dem sich eine Bedeutung im Zuge ihrer Entwicklung bisweilen vom Abstrakten zum Konkreten entwickelt (eine kontradiktorische Bedeutungsent- oder das Saufen im Bezug auf Menschen kennzeichnen, die über das hinausgehen, was für Tiere anzulegen wäre (z. B. nur erwachsene Menschen, eine unkultivierte Tätigkeit, etc.). In der Folge der Intensionsvergrößerung nimmt die Extensionsgröße ab, so dass die Einschätzung einer Bedeutungsverengung an dieser Stelle richtig ist. 325 An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Gleichsetzung von Abstrahierung und Bedeutungs-„entleerung“ (oder Verminderung von „Merkmalelementen“ (K RONAS- SER 1952/ 69)), die man häufig in der Literatur findet (vgl. z. B. K ABLAU 2002), falsch ist. Dahinter steckt die irrige Auffassung, dass die Begriffspaare konkret/ abstrakt und speziell/ allgemein gekoppelt seien. K ABLAU schreibt mit Verweis auf O ERTEL (1902): „Je komplexer (...) ein Inhalt sei, je mehr Elemente er habe, desto älter sei er“ (K ABLAU 2002: 260). Spezielle abstrakte Begriffe gehen demnach also aus allgemeinen konkreten Begriffen hervor, nicht umgekehrt. Dieses Prinzip ist nicht allgemeingültig und sollte daher nicht weiter postuliert werden. 326 Das Prinzip der zirkulären Bedeutungsentwicklung habe ich in Kapitel 7.1.1 entwickelt und dort mit Theoremen der Valenzgrammatik verknüpft. Daher verweise ich zum besseren Verständnis auf die dort formulierten Hypothesen. 174 wicklung zur Generalisierung T RAUGOTT s und damit eine Widerlegung derselben), möchte ich an dieser Stelle mit dem Ausdruck semantische Exkorporierung kennzeichnen und im Folgenden näher beleuchten. 327 Ich möchte dazu an dieser Stelle eine These aufstellen: Das Verschwinden von bestimmten Bedeutungsparametern aus der Gebrauchsregel führt dazu, dass der reine Wahrheitswert eines Wortes (wieder) in der Zielbedeutung überwiegt. Dies führt dazu, dass ein Wort eine (mehr oder weniger) konkrete Bedeutung annimmt und ist somit die Erklärung für semantische Konkretisierung. Diese Behauptung bedarf der Erläuterung: Wenn wir davon ausgehen, dass abstrakte Bedeutungen durch die semantische Inkorporierung insbesondere kognitiv-mentaler Parameter in die Gebrauchsregel eines Wortes zustande kommen, dann entwickeln sich konkrete Bedeutungen immer dann, wenn ein Wort sich dieser, die Abstraktion bestimmender Parameter entledigt. Ein bestimmtes semantisches Verfahren spielt bei dieser Entwicklung keine Rolle. Je stärker die semantische Struktur eines Wortes durch reine wahrheitswerte Parameter, also durch Parameter der äußeren Welt bestimmt wird, desto konkreter differenziert sich die jeweilige Bedeutung des Wortes aus. Für sich vergehen auf der abstrakten Zwischenstufe kann man davon ausgehen, dass die Abstraktheit durch die Einbindung kognitiv-mentaler Parameter bedingt ist, wobei man hier noch differenzierter den Aspekt der moralischen Entscheidung ins Spiel führen müsste: Auf der abstrakten Zwischenstufe bedeutet sich vergehen so viel wie etwas Falsches tun bzw. eine falsche Entscheidung treffen oder sich in falschen Gedanken vergehen. 328 M. E. sind auch solche moralischdistinktiven Aspekte menschlichen Handelns wesentlich für diesen Parametertypus, wenngleich man zunächst für den Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen in erster Linie an rationale Kriterien denkt (die z. B. in begreifen oder erfassen eine bedeutungsbestimmende Rolle spielen); auch moralische Entscheidungen, die sich in abstrakten Tätigkeiten oder Handlungen widerspiegeln, sind kognitiv-mental verwurzelt. 327 Ich verwende hier den Ausdruck Semantische Exkorporierung im Kontrast zur Semantischen Inkorporierung, die ich an vielen Stellen dieser Arbeit als das bestimmende Prinzip für semantischen Wandel angeführt habe. So verstanden ist Exkorporierung eine Veränderung der Gebrauchsparameterstruktur, bei der ein Wort einen oder mehrere Bedeutungsparameter gänzlich verliert und im Zuge dieser Entwicklung an reinen Wahrheitswert hinzugewinnt. Das Resultat ist die Möglichkeit einer extensionalen Bedeutungsbeschreibung (vgl. Kapitel 2.1.1.3.1 wahrhaftige vs. unwahrhaftige Verben). 328 Vgl. zur Bedeutungsgeschichte dieses Verbs die Ausführungen in Kapitel 7.1.1 175 Etwas anschaulicher stellt sich diese Bedeutungsentwicklung für das Verb meinen dar, das in einer gegenwärtigen Bedeutungsvariante im Sinne von etwas sagen, also im Gegensatz zu seiner kognitiv-abstrakten Ursprungsbedeutung konkret verwendet wird. Wenn gegenwärtig davon die Rede ist, dass jemand etwas gesagt hat, dann verwenden viele Sprecher (m. W. fast ausschließlich in der gesprochenen Sprache) statt des wahrheitsfunktionalen Verbs sagen das kognitive Verb meinen. Folgendes Gespräch lässt sich für diese neue Verwendungsweise konstruieren: A: Hast Du Horst gefragt, ob er heute Abend mit ins Kino möchte? B: Ja, hab ich. A: Und? Was hat er gemeint? B: Er meinte zu mir, dass er den Film schon gesehen hat. Meinen kann heute im Sinne von sagen vermutlich deswegen verwendet werden, da jeder, der etwas sagt, auch etwas meint. So verstanden ist sagen nichts weiter als eine Meinung artikulatorisch zum Ausdruck zu bringen. Dagegen wäre eine umgekehrte Entwicklung, bei der sagen eine kognitiv-mentale Lesart gewinnt eher ausgeschlossen: Ich kann zwar etwas meinen, muss es aber nicht zwingend sagen. Hier zeigt sich, dass die abstrakte und ursprüngliche Lesart, deren Bedeutung kognitiv-mentale Parameter involviert, im Zuge der speziellen Entwicklung zur konkreten Bedeutung eben diese Parameter verliert, auch wenn sie noch in der Grundbedeutung im Hintergrund wirksam sind, was die semantische Nähe von Sprechen und Denken nahe legt. In der neuen Zielbedeutung meinen=etwas sagen wirken durch die Exkorporierung der kognitiv-mentalen Parameter die (in jeder konkreten Wortbedeutung dominierenden) wahrheitsfunktionalen Parameter der äußeren Welt deutlich stärker. Zudem können wir feststellen, dass bei der semantischen Exkorporierung, also bei der Bedeutungsentwicklung vom Abstrakten zum Konkreten das ikonische Verfahren nicht mehr greift. Hatten wir weiter oben zeigen können, dass Metaphorisierung für Abstrahierung eine notwendige und hinreichende Bedingung ist, so können wir für die Konkretisierung feststellen, dass hier dieses Verfahren keine Anwendung findet. Man könnte im Gegensatz zur Abstrahierung sagen: Wer über Konkretes reden will, benötigt dafür keine Analogie, denn das Konkrete ist jedem Sprecher zugänglich. Daher findet in Fällen der Konkretisierung eine umgekehrte Entwicklung statt: Der Sprecher verwendet abstrakte Begriffe für die Kennzeichnung konkreter Handlungen. Die Umdeutung auf eine konkrete Handlung vollzieht sich für das Verb meinen als Wenn-dann-Beziehung, also durch das metonymische 176 Verfahren: Wenn ich etwas sage, dann meine ich auch etwas. „Wenn der Schluss ,wenn x, dann y’ mit einer gewissen Frequenz aktiviert wird, dann ist zu erwarten, dass die Sprecher (in ihrer Rolle als Interpreten) mit der Zeit dazu übergehen, den Interpretationsprozess gleichsam ,kurzzuschließen’: Sie nehmen an, x bedeutet ,y’. 329 Im Falle der Bedeutungsentwicklung von meinen halte ich es für passender zu sagen, dass die Sprecher annehmen, y bedeute x, denn die umgekehrte Entwicklung ist semantisch nicht plausibel. So glauben die Sprecher, wenn sie das Verb meinen für sagen verwenden, meinen bedeute sagen, nicht jedoch umgekehrt. Für das Verb vergehen in konkreter Lesart lässt sich hingegen eine Generalisierung der Wortbedeutung als semantisches Verfahren feststellen, hier halte ich die Wenn-dann-Beziehung für nicht erklärungsadäquat. Zwar könnte man festhalten, dass derjenige, der sich an jemandem vergeht, auch etwas Falsches tut (wenn man sich vergeht, dann tut man etwas Falsches), aber es wäre falsch zu sagen, dass sich an jemandem vergehen dieselbe Bedeutung hat wie etwas Falsches tun (oder umgekehrt). Hier spielt eine semantische Nähe von Ausdrucks- und Zielbedeutung eine Rolle, die sich aber eher über den Aspekt der Einbindung evaluativer Parameter in die Wortbedeutungen von Ausgangs- und Zielbedeutung erklären lässt als über ein semantisches Verfahren. Was sich trotz Unterschiede in den semantischen Verfahren deutlich zeigt, ist, dass der Weg von der abstrakten zur konkreten Wortbedeutung ebenso begangen wird, wie der umgekehrte Weg und wir daher (mit unterschiedlicher Quantität) von einer bidirektionalen Bedeutungsentwicklung ausgehen können. Was sich ebenfalls zeigt: Semantische Verfahren sind rein auf der Deskriptionsebene verhaftet, eignen sich aber weder zur Klassifizierung noch zur Erklärung semantischen Wandels. 330 V OLKER H ARM schreibt zutreffend: „Es zeigt sich [...], daß die Generalisierung (vom Konkreten zum Abstrakten) durch eine Reihe von Wandelerscheinungen widerlegt wird“ 331 . Diese Feststellung kann mit dem gerade geführten Nachweis als bewiesen angesehen werden. 329 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 60 330 Dass bis heute vielfach versucht wird, semantischen Wandel in erster Linie über die Beschreibung semantischer Verfahren klassifizieren zu wollen, belegt ein Blick in die einschlägige Literatur (vgl. z. B. U LLMANN 1967: 185ff.; U LLMANN 1973: 264ff.; F RITZ 2006: 42ff.). Deutlich wird dieser Umstand auch, wenn man sich die „Pfade des Bedeutungswandels“ bei F RITZ (F RITZ 2005: 39ff.) ansieht: Diesen Pfadbeschreibungen fehlt die handlungstheoretische Dimension und damit die Erklärungsadäquatheit. Solche linearen Pfade sind rein deskriptiv und stützen sich auf Beobachtungen von Gemeinsamkeiten. Die Kategorisierung, die F RITZ auf diese Weise vornimmt, beruht in vielen Fällen auf der Beschreibung semantischer Verfahren. 331 H ARM 2000: 39. Leider fehlen bei H ARM an dieser Stelle Belege aus dem Verbwortschatz. 177 4.2.3 Das Prinzip konkret > abstrakt Auch wenn sich die zuvor getroffenen Festlegungen als richtig erweisen und wir davon ausgehen müssen, dass die Generalisierung einer Unidirektionalität konkret > abstrakt unzulässig ist und wir stattdessen von Bidirektionalität mit unterschiedlicher Ausprägung im Vorkommen im Verbwortschatz sprechen müssen, bleibt doch die Frage unbeantwortet, warum sich die Entwicklung konkret > abstrakt im Gegensatz zur umgekehrten Bedeutungsentwicklung offenbar als ein stärkeres (aber eben nicht allgemeingültiges) Prinzip darstellt. Warum tendieren Menschen dazu, eher Begriffe für geistige oder innere Prozesse anlegen zu wollen als umgekehrt? Und warum müssen solche Begriffe aus ehemals konkreten Bedeutungen semantisch umgeformt werden, will sagen: Warum hält der Wortschatz offenbar eine Vielzahl an konkreten Begriffen parat, nicht aber solche für abstrakte Vorgänge? Die Antwort könnte lauten: Das Abstrakte ist für Sprecher und Hörer so wenig greifbar, dass man es kommunikativ nur durch den ikonischen Vergleich transportieren kann. Kognitive Prozesse sind nicht intersubjektiv, also greift man zu intersubjektiven Vergleichsobjekten aus der realen Welt, die jedem Sprachbenutzer gleichermaßen zugänglich sind. Dennoch hat diese Erklärung einen Haken, denn sie begründet zwar, auf welchem Weg sich die Wortbedeutungen verändert haben, also wie diese Entwicklung vonstatten geht (nämlich durch bildhaften Vergleich), aber nicht, warum dies überhaupt notwendig geworden war. Warum haben sich die heute gebräuchlichen Verben für Prozesse des geistigen Verstehens erst im Laufe der letzten Jahrhunderte aus dem Bereich des Körperlichen als Körpermetaphern ausdifferenziert? Fast alle Verben, die wir heute zur Bezeichnung kognitiver Handlungen verwenden, entstammen einem ehemals rein haptischen Bereich. Es scheint also so zu sein, dass der Bedarf an Verben, die abstrakten Sphären denotieren, im Laufe der Zeit gestiegen ist. Es wäre möglich, dass sich die kulturgeschichtliche Entwicklung des modernen Menschen dazu eignet, solche Entwicklungen zu erklären: Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft vom praktisch handelnden zum geistig handelnden Menschen könnte eine Ursache für den gestiegenen Bedarf an Verben der kognitivmentalen Sphäre sein. Eine solche Entwicklung der Gesellschaft vom Tun zum Denken wäre eine plausible Möglichkeit, warum der Bedarf an kognitiv-mentalen Verben gestiegen ist. 332 Um diesen Bedarf zu befriedigen, 332 Ich bitte den Leser, diese Ausführungen als das zu begreifen, was sie sind: Hypothetische Überlegungen ohne den Anspruch auf absolute Wahrheit. Um die These von der kulturgeschichtlichen Determinierung zu untermauern (oder auch um sie zu widerlegen), wäre es vermutlich hilfreich, eine vergleichende Untersuchung anzustellen. So könnte ein Vergleich mit Naturvölkern, die sich in deutlich haptisch- 178 werden systematisch bildhafte Vergleiche herangezogen, die kommunikativ erschlossen werden können ( mikrostrukturelle Ebene des Sprechers und dessen zweckrationales Handeln). Innerhalb des Wortes bewirkt im Zuge dieses Veränderungsprozesses die Inkorporierung kognitv-mentaler Parameter den Bedeutungswandel auf der Strukturebene der Sprache ( makrostruktureller Effekt und semantische Kopplung der beiden Ebenen durch die Parameterstruktur). Hier offenbart sich im Übrigen eine besondere Charakteristik des Verbwortschatzes: Für andere Wortarten scheint mir diese Bedeutungsentwicklung von haptisch-taktilen zu kognitiv-mentalen Begriffen durch Einbindung kognitiv-mentaler Parameter in die Gebrauchsregeln nicht (oder in wesentlich geringerem Umfang) stattgefunden zu haben. Für die Gruppe der Adjektive z. B. (bedingt durch ihre spezifische kommunikative Funktion) lässt sich eine solche Bedeutungsausdifferenzierung ausschließen, für andere Wortarten wäre eine Überprüfung lohnenswert. Wenn wir als Ursache eine Entwicklung der Gesellschaft vom Tun zum Denken anlegen, dann ist es auch evident, dass insbesondere der Verbwortschatz Veränderungen unterworfen ist, sind es schließlich die Verben, die Tätigkeiten, Vorgänge und Handlungen semantisch kennzeichnen. Mit dem Blick auf den Verbwortschatz fällt noch ein anderer Aspekt ins Auge: Abstraktion lässt sich nicht generalisieren, denn es gibt, betrachtet man den Verbwortschatz, ein unterschiedliches Maß an Abstraktheit, auch bei den sogenannten abstrakten Verben. Abstraktheit ist stattdessen eine graduelle Angelegenheit. So kann man feststellen, dass etwa die beiden Verben lesen und begreifen beide in der gegenwärtigen Lesart eine abstrakte Bedeutung tragen, sich der Grad der Abstraktheit allerdings im Vergleich m. E. deutlich unterscheidet: Der kognitive Verstehensprozess beim Lesen ist nicht beobachtbar, der des Begreifens ebenso wenig. Dennoch lässt sich von außen betrachtet der Prozess des Lesens als reiner physischer Vorgang beobachten. Ob jemand gerade einen Text liest oder nicht, kann man sinnlich wahrnehmen. Ob jemand aber hingegen gerade einen Sachverhalt begreift oder nicht, entzieht sich der Wahrnehmung eines Außenstehenden. So gesehen ist es nicht nur falsch, ein generelles Prinzip hinter der Bedeutungsentwicklung vom Konkreten zum Abstrakten zu vermuten, es ist auch nicht eindeutig zu beantworten, was genau unter einem abstrakten Verb zu verstehen ist. taktileren Bereichen organisiert haben, lohnenswert sein. Es gilt dann zu überprüfen, ob das Vokabular solcher Völker weniger abstrakte Begriffe (insbesondere Verben) vorhält, als es für die gesellschaftlich ausdifferenzierteren Völker westlicher Prägung der Fall ist. M. W. liegt eine solche Untersuchung mit einem quantitativdeskriptiven Fokus bislang nicht vor. 179 Wenn man nämlich den Aspekt der sinnlichen Wahrnehmbarkeit ins Feld führt, steht man plötzlich vor der Problematik, ein abstraktes Verb wie lesen als konkret einstufen zu müssen, ist doch der physische Vorgang der abstrakten Tätigkeit konkret beobachtbar. Beim Lesen ist dieser Vorgang sogar messbar, wenn man z. B. die Zeit als Maßstab nimmt, in der ein Leser einen Text gelesen hat oder indem man die Zeilen oder Seiten, die jemand gelesen hat, als Maßstab anlegt. So gesehen gibt es, sowohl was die konkreten als auch was die abstrakten Verben angeht, bisweilen eine graduelle Abstufung, ein mehr oder weniger an Konkretheit bzw. an Abstraktheit. Es zeigt sich also, dass die beiden Begriffe konkret/ abstrakt selbst unscharfe Grenzen haben und durch diese Randbereichsunschärfe zur Bedeutungsbeschreibung nicht sonderlich taugen. Sinnvoller ist es also auch aus diesem Grund, Bedeutungsbeschreibungen über den Aspekt der Gebrauchsregelveränderung vorzunehmen und sowohl die Abstrahierung als auch die Konkretisierung als einen semantischen Effekt zu begreifen, der aus eben diesen Veränderungen resultiert. Die graduelle Abstraktheit im Verbwortschatz lässt sich über dieses Konzept fassen und begründen: Je nach Blickwinkel ist ein Verb wie lesen entweder sehr abstrakt (wenn man den kognitiven Verarbeitungsprozess beschreiben will) oder sehr konkret (wenn man den physischen Vorgang zugrunde legt). Mit dem Blick auf den kognitiven Verarbeitungsprozess treten die in der Gebrauchsregel wirksamen Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen zu Tage, mit dem Blick aus der Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren hingegen die wahrheitsfunktionalen Parameter aus der äußeren Welt, die sich als konkret beobachten und beschreiben lassen. Es zeigt sich also: Auch das vermeintliche Dilemma der Uneindeutigkeit in der Zuordnung zur konkreten oder abstrakten Handlungssphäre lässt sich über das Konzept der Bedeutungsparameter auflösen und erklärungsadäquat aus der Welt schaffen. 4.3 Die pragmasemantische Dimension des Bedeutungswandels - ein Fazit Wir haben festgestellt, dass sich hinter semantischem Wandel kein Gesetz und keine Regularität verbergen: Tendenzielle Beobachtungen, die bisweilen für ein spezifisches Wandelphänomen typisch sind, lassen keinen Schluss auf eine Regularität zu. Hier folge ich der Argumentation R UDI K ELLER s, der ebenfalls konstatiert: „Eine festgestellte Tendenz ist nicht die Ursache oder der Auslöser des Wandels, vielmehr ist das, was man Tendenz nennt, eine deskriptive Verallgemeinerung festgestellter Wan- 180 delsphänomene“ 333 . In vielen Fällen verbergen sich hinter vermeintlichen Regularitäten Generalisierungsversuche, die nicht selten - das meine ich gezeigt zu haben - zu Übergeneralisierungen führen. Semantischer Wandel ist also weniger eine Frage regulärer Tendenzen als vielmehr eine Frage der pragmatischen Eignung und Nutzungsfähigkeit des sprachlichen Ausdrucksmittels. Wenn sich bestimmte Verben eines konkreten Vorstellungsbereichs aufgrund ihrer Bildhaftigkeit besonders eignen, z. B. auf einen abstrakten Vorgang angewendet zu werden, so ist der Wandel das Resultat dieser pragmatischen Eignung und nicht etwa ein regulärer Zusammenhang zwischen der konkreten und der abstrakten Sphäre. Insbesondere die Unidirektionalität konkret > abstrakt stellt für den Bedeutungswandel bei Verben eine Übergeneralisierung dar. Die Nutzungsmöglichkeit ist innerhalb einer Wortart oder eines Wortartbereichs mit Bedeutungsbeziehung unterschiedlich; offenbar eignen sich nicht alle Verben gleichermaßen als pragmatisches Ausdrucksmittel, auch wenn es semantische Beziehungen zwischen den Ausgangsbedeutungen in einem Wortschatzbereich gibt, sie also demselben Bedeutungsbereich angehören. So scheint sich das Verb raffen zum Ausdruck eines kognitiven Vorgangs besser zu eignen als etwa die verwandten Lexeme nehmen, grapschen oder packen. Die Ursache dafür ist möglicherweise ein unterschiedlich hohes Maß an Bildhaftigkeit; eine diesem Wandel zugrunde liegende allgemeine oder universale Regel kann man dagegen ausschließen. Wenn der Sprecher die Wahl hat, ein bestimmtes Wort zur Erfüllung eines bestimmten kommunikativen Zwecks zu verwenden (und es soll hier gar nicht in Abrede gestellt werden, dass semantische Kategorien die Eignung eines Wortes bestimmen) 334 , und wenn diese Verwendung vom etablierten Wortgebrauch abweicht, dann verändert der Sprecher über diesen Vorgang - zunächst nur im konkreten kommunikativen Kontext 333 K ELLER 2003: 158. Hervorhebung durch den Verfasser. 334 Die Kategorien entstehen nicht aus einer kognitivistischen Denkweise, sondern aus der Eignung eines Wortes, nicht-objektivistische Aspekte wie Subjektivität oder Evaluativität als Kennzeichen von Sprechereinstellungen, Sprecherperspektiven oder Sprecherbewertungen in die Gebrauchsregel des Wortes involvieren zu können. Dass sich dazu aufgrund semantischer Strukturen einige Wörter besser eignen als andere, erklärt sich von selbst. Kategoriebeziehungen, also Zusammenhänge zwischen Kategorien unterschiedlicher oder gleicher Bereiche, spielen im kognitivistischen Sinne dabei aber keine Rolle: Es ist für die Ausbildung eines Pfades des semantischen Wandels m. E. nicht relevant, ob es zwischen den Kategorien der Ausgangs- und Zielbedeutung eine bestimmte kognitive Beziehung gibt oder nicht, es ist relevant, ob sich ein Wort pragmatisch dazu eignet, bestimmte Parameter in seine Gebrauchsregel zu involvieren. Aus der Gebrauchsregel des Wortes ergibt sich dann erst die Kategorie, zu der es gehört. 181 ohne Auswirkungen auf das gesamte Sprachsystem - die Gebrauchsregel, indem er in das Wort neue Parameter involviert. Dass sich insbesondere der Aspekt der Gebrauchsregel (und in dessen explanativer Erweiterung derjenige der Parameterstruktur, mit dem in der linguistischen Forschung Neuland betreten wird) dazu eignet, Bedeutungswandel erklären zu können, erkennt auch G ASTON VAN DER E LST , wenn er zutreffend feststellt: Es ist plausibel, daß die begriffliche Struktur sich im Laufe der Zeit ändert, wenn die Gebrauchsregeln sich ändern. Durch wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich der Wortgeschichte wurde bewiesen, daß letztere sich ändern. Es wäre also kein Fortschritt, wenn man nach sogenannten semantischen Universalien suchen würde, auf Grund deren die Inhaltsseite von sprachlichen Zeichen strukturiert werden könnte, da man solche, wenn überhaupt, nur an Hand von Gebrauchsregeln feststellen könnte. 335 Worin eine sinnvolle Analyse von Gebrauchsregeln allerdings bestehen könnte, darüber schweigt sich bis heute nicht nur VAN DER E LST aus. Über die reine Formulierung von Gebrauchsregeln zu unterschiedlichen Bedeutungsstufen gewinnt man noch keine Erklärung darüber, auf welche Weise sich die semantische Struktur eines Wortes verändert. M. E. schafft ein solches Vorgehen nicht viel Klarheit, auch wenn es korrekt ist, dass eine Annäherung über die Gebrauchsregeln der richtige Weg zum tieferen Verständnis ist. Es hat sich an vielen Stellen gezeigt - und wird auch im Weiteren wesentlich bleiben -, dass eine Analyse der Gebrauchsregel nur über den Aspekt der Parameterstruktur und deren Veränderungen zielführend neue Erkenntnisse zum Vorschein bringt. Die Einbindung semantischer Parameter in die Gebrauchsregel eines Wortes folgt keinen universalen Gesetzen, sie ist eine Frage der pragmatischen Nutzungsfähigkeit eines sprachlichen Ausdrucks. Will sagen: Ob ein Verb eine bestimmte Bedeutungskomponente hinzugewinnt oder nicht, hängt nicht von der semantischen Nähe oder einer Bedeutungsbeziehung innerhalb einer Gruppe von Verben ab. Entscheidender sind hier Aspekte wie z. B. Bildhaftigkeit, damit eine semantische Inkorporierung von Parametern kommunikativ von Nutzen ist. Insofern handelt es sich bei diesen Bedeutungsentwicklungen nicht um sprachimmanente Regularitäten, sondern um zweckrationale Entscheidungen der Sprecher, also um einen M it t e l - Z w e c k - R a t i o n a li s m u s . Dieser lässt sich folgendermaßen explizieren: Die zweckrationale Wahl des Sprechers manifestiert sich auf der Wortebene in der Auswahl eines geeigneten Ausdrucks mit dem Zweck, dass sich der Sprecher durch die Wahl dieses sprachlichen Mittels in einer bestimmten Weise (z. B. bildhaft oder innovativ) ausdrücken kann. Dies bezeichne ich als die in- 335 V AN DER E LST 1982: 42 182 tentionale Dimension des Bedeutungswandels. Im Zuge dieses Bestrebens überträgt der Sprecher das Wort in einen anderen Bedeutungsbereich. Die Übertragung selbst geschieht über den invisible-hand-Prozess und stellt sich als makroskopischer Effekt als Bedeutungswandel dar. Daraus ergibt sich die pragmasemantische Dimension des Bedeutungswandels, die sich wie folgt paraphrasieren lässt: Die Kopplung zwischen dem sprachlichen Mittel und dem kommunikativen Zweck geschieht durch die Einbindung neuer Bedeutungsparameter in die Gebrauchsregel des Wortes. Die sprachliche Realisierung geschieht somit mit Hilfe von geeigneten Parametern der Gebrauchsregel; dies ist die pragmasemantische Dimension des Bedeutungswandels. 336 Um Bedeutungswandel erklären zu können, muss man also zwingend die Deskriptionsebene verlassen und eine Antwort auf die Frage finden: Was passiert auf der Bedeutungsebene? Gesetze und Regularitäten semantischen Wandels sind allein wegen ihrer Unzulänglichkeit, eine solche Frage beantworten zu können, abzulehnen; sie haben in aller Regel einen rein deskriptiven Charakter und besitzen keine erklärende Kraft. Hingegen von unterschiedlichen Pfaden des Bedeutungswandels, die sich zwar ebenfalls deskriptiv abzeichnen, über die man aber, da sie sich als eine Mittel-Zweck-Relation darstellen, durch das Prinzip der Inkorporierung semantischer Parameter zu einer handlungszentrierten Erklärung von Bedeutungswandel gelangen kann, auszugehen, ist sinnvoll und zielführend. Man kann darüber erklären, was zwischen der Ausgangs- und der Zielbedeutung innerhalb der Bedeutungsstruktur, also innerhalb der Gebrauchsregel, im Zuge der semantischen Entwicklung passiert ist. Die Beschreibung der semantischen Relationen und der Schluss über den Aspekt der Häufigkeit auf reguläre Prozesse sind für dieses Vorhaben dagegen nicht zielführend. Eine tatsächliche Erklärung erhält man m. E. nur, wenn man die Bedeutung genau seziert und über das Konzept der Parameter eine Verbindung herstellt zwischen der Mikroebene des Sprechers und der Makroebene der Sprache. 336 Vgl. zur Frage der Mittel-Zweck-Rationalität Kapitel 8.1.1. Dieser Zusammenhang wird von Bedeutung sein, um aus den rationalen Absichten der Sprecher und den semantischen Nutzungsmöglichkeiten der Verben die möglichen Pfade des verbalen Bedeutungswandels eruieren zu können. Dabei spielen die in Kapitel 3 entwickelten Bedeutungsparameter eine entscheidende Rolle, um eine gebrauchstheoretische Erklärung für den Bedeutungswandel bei Verben präsentieren zu können. TEIL II: SPEZIELLER TEIL Nichts ist so beständig wie der Wandel. (Heraklit von Ephesus, etwa 540-480 v. Chr.) 185 5. Verbaler Bedeutungswandel im kulturellen und kommunikativen Kontext Bedeutungswandel, das ist bislang bereits über das zugrunde gelegte Konzept der Bedeutung als Gebrauchsregel bereits gezeigt worden, ist ein Phänomen, das sich nicht allein auf der sprachlichen Strukturebene bewegt, da Bedeutungswandel selten innersprachlich motiviert ist. Vielmehr ist Bedeutungswandel in engeren Sinne immer eine Erscheinung, die sich von sozialen, kulturellen und kommunikativen Kontexten nicht sinnvoll entkoppeln lässt, möchte man nicht den Fehler der unzulässigen Hypostasierung von Sprache begehen. Insofern kann und darf einer Betrachtung zum Bedeutungswandel der Aspekt des Sozialen und Kulturellen ebenso wenig fehlen wie grundlegende Gedanken zu kommunikationstheoretischen Zusammenhängen, so wie ich sie u. a. weiter oben in Kapitel 3.1.1 mit dem Fokus auf den verbalen Bedeutungswandel entwickelt habe. Daher sollen uns im Folgenden einige soziokulturelle Fragestellungen beschäftigen, die m. E. untrennbar mit der Erklärung des Phänomens Bedeutungswandel (und dies nicht nur, aber im Besonderen bei Verben) verknüpft sind und die darüber hinaus auch Aufschluss über die sozial, kulturell oder kommunikationstheoretisch determinierten Verbreitungsmechanismen semantischer Wandelphänomene liefern. Mit dieser Betrachtungsweise knüpft dieses Kapitel direkt an die zuvor entwickelten Thesen zur Frage der möglichen Generalisierung solcher semantischer Phänomene an. Es wird sich insbesondere zeigen, dass z. B. auch ein auf den ersten Blick evidenter Gedanke, den Sprachbzw. Bedeutungswandel als direkten Spiegel des Kulturwandels anzusehen, eine ungenügende Generalisierung darstellt und damit zu falschen Schlüssen insbesondere über die Entstehung semantischen Wandels führt. R UDI K ELLER hat darauf bereits Anfang der 1990er Jahre für den Sprachwandel nachdrücklich hingewiesen, und auch für den Bedeutungswandel gilt bis heute uneingeschränkt: „[d]ie Spiegelmetaphorik ist in bezug [sic! ] auf die Relation zwischen Sprache und Kultur nicht ungefährlich. Sie kann leicht zu einem falschen Bild des Sprachwandels führen“ 337 . Man muss also sehr vorsichtig sein, jegliche Veränderungen auf der Ebene der Sprache, also auch den Bedeutungswandel, über Veränderungen auf der Ebene der Kultur erklären zu wollen. 337 K ELLER 1991a: 207 186 Dessen ungeachtet gibt es aber enge Korrelationen zwischen dem Bedeutungswandel auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Veränderungen, wie ich sie in Kapitel 4.2.3 als ein mögliches Erklärungsmodell dargelegt habe, auf der anderen Seite: Gemeint ist die kulturgeschichtliche Entwicklung des Menschen vom haptisch-taktilen zum geistig handelnden Subjekt. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass sich Bedeutungsentwicklungen bei Verben nicht über den Aspekt der soziokulturellen (insbesondere der technologischen) Innovation greifen lassen. Vielmehr spielen diese Aspekte zwar im Bezug auf die Frage nach den kulturellen Ursachen für den Bedeutungswandel bestimmter Verben eine wichtige Rolle, da sie bisweilen zu Parameterverschiebungen in Verben und dadurch zum Bedeutungswandel beitragen, aber als Erklärungsmodell taugen sie nicht viel. 338 Semantischer Wandel infolge kultureller Veränderungen ist zwar vereinzelt feststellbar, aber kein generelles Prinzip. Im Gegenteil: Bedeutungskonstanz im Wortschatz ist wesentlich häufiger anzutreffen als Bedeutungswandel, auch dann, wenn sich die zugrunde liegende Handlung, die das Verb denotiert, verändert oder verschwindet. Hypothesen darüber, wie dieser Umstand zu erklären ist, werde ich im Folgenden entwickeln. 5.1 Innovation und kultureller Fortschritt als Motor des Bedeutungswandels? Betrachten wir zunächst die Annahme, dass Bedeutungswandel untrennbar an die vielfältigen Veränderungen der außersprachlichen Wirklichkeit geknüpft sei, wie es an vielen Stellen in der Literatur behauptet oder zumindest impliziert wird. 339 Ist es tatsächlich korrekt, wenn H ADUMOD 338 Folgt man den Ausführungen K ELLER s/ K IRSCHBAUM s, so bleibt anzumerken, dass die Verwendung des Ausdrucks ,Ursachen’ in diesem Kontext für den Bedeutungswandel streng genommen fälschlich ist, da einzelne Faktoren entkoppelt von sprachpragmatischen Überlegungen nie die Ursache eines Bedeutungswandels darstellen: „Letztlich gibt es für Sprachwandel immer genau eine Ursache: Die Sprecher/ Hörer modifizieren die Wahl ihrer sprachlichen Mittel. Die Gründe dafür können sehr verschieden sein“ (K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 136). Von dieser Feststellung unberührt bleibt die Tatsache, dass im Zuge zweckrationaler Entscheidungen infolge bestimmter kultureller Veränderungen die Struktur der Gebrauchsregel durch Parameterdominanzverschiebungen verändert werden kann, was den Bedeutungswandel strukturell erklärt. Kulturelle Entwicklungen sind aber weder notwendig noch hinreichend für diesen Prozess. 339 In der linguistischen Forschung ist eine solche Fragestellung als Frage nach den Ursachen für Bedeutungswandel verortet. Der vermutete Wandel des Denotats ist dabei nur eine von vielen möglichen Ursachen des Bedeutungswandels, die bislang 187 B UßMANN Bedeutungswandel über den Aspekt der Veränderungen der Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen und der außersprachlichen Wirklichkeit definiert? Bedeutungswandel manifestiert sich ihrer Einschätzung nach als „Veränderungen der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken unter historischem Aspekt, wobei sich [Bedeutungswandel] sowohl auf Veränderungen der Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen und der außersprachlichen Wirklichkeit als auch auf Veränderungen der Beziehungen zwischen verschiedenen Zeichen bezieht“ 340 . Auch K LAUS M ATTHEIER möchte den Wandel der außersprachlichen Welt für den sprachlichen Wandel verantwortlich machen, zumindest lässt sich das aus einer Beurteilung ableiten, die er mit einem handlungszentrierten Fokus formuliert: Im Bereich der sprachhandlungsbedingten Variation wird man den Ansatzpunkt für dauerhaften Wandel im Wandel der soziokommunikativen Strukturen suchen müssen, die dazu führen, daß bestimmte Komplexe von kommunikativen Anforderungen aus dem alltäglichen Sprachhandeln ausscheiden und durch andere ersetzt werden. 341 M ATTHEIER stellt sprachlichen Wandel in einen engen Zusammenhang mit einem veränderten Kommunikationsbedarf in einer Sprachgemeinschaft, wenn er folgert, „daß eine Veränderung im Kommunikationsbedarf einer gesellschaftlichen Gruppe zumindest einer der Auslöser der Veränderungen im System der üblichen Sprachhandlungsmuster ist“. Auch wenn es unbestritten zutrifft, dass der Kommunikationsbedarf die zweckrationale Wahl sprachlicher Zeichen und damit auch bisweilen den Wandel von Wortbedeutungen bestimmt, muss man aufpassen, dass man herausgearbeitet worden sind. Es ist allerdings schwer, eine zusammenfassende Übersicht über alle möglichen Ursachen des Bedeutungswandels zu finden, so dass ich an dieser Stelle D IETRICH B USSE folgend auf den Vorschlag von K ARL S CHMIDT (1894, zitiert nach K RONASSER 1952 37f.) verweisen möchte, der - individualpsychologisch orientiert - zehn Gründe des Bedeutungswandels formuliert (vgl. auch B US- SE 2001: 1311). Interessant ist, dass zu den Ursachen des semantischen Wandels, die ja eng mit den Motiven der Sprecher verbunden sind, bis heute keine neuen Ergebnisse vorliegen. Zwar findet man bei U LLMANN (1967: 170f. und 1973: 248ff.) und insbesondere bei B LANK (1997: 345ff.) Erweiterungen der traditionellen Festlegungen, allerdings sind die Gründe insgesamt doch unüberschaubar vielfältig geblieben. Ich werde für die Gruppe der Verben dort, wo es mir möglich erscheint, auf einzelne Aspekte der Ursachen und Motive eingehen, allerdings steht diese Fragestellung nicht im Zentrum meiner Arbeit. Auf den soziokulturellen Wandel möchte ich aber hier genauer eingehen, weil sich m. E. ein Fehlschluss ergibt, wenn man für das Verbum annimmt, dass sozialer Wandel sich zwingend als Bedeutungswandel widerspiegelt. Daher widme ich dieser Frage hier Raum und lasse andere Fragen zu den Ursachen bewusst außer Acht. 340 B UßMANN 2002: 118 341 M ATTHEIER 1998: 828. Hervorhebung durch den Verfasser. 188 diesen Kommunikationsbedarf nicht allein als eine Spiegelung von gesellschaftlicher Modernisierung und kultureller Entwicklung begreift. Bei M ATTHEIER heißt es nämlich weiter: „So führt etwa die gesellschaftliche Modernisierung seit dem späten MA. [Mittelalter, S. B.] zu einer Verlagerung des Kommunikationsbedarfs“ 342 , was für M ATTHEIER den Schluss nahe legt, dass „die meisten über soziokommunikative Variation verlaufenden Veränderungen innerhalb einer Einzelsprache auf Veränderungen im Kommunikationsbedarf zurückzuführen sind und insofern in einem [...] Zusammenhang zu allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen stehen“ 343 . Eine ähnliche Beurteilung finden wir bei A NDREAS B LANK , der für den sozio-kulturellen Wandel und für das Verhältnis von Welt und Sprache konstatiert: Unsere Wahrnehmung der Welt ist ein über die Wirklichkeit geworfenes Netz; die Knoten dieses Netzes, die Konzepte, stehen in bestimmten Relationen zueinander und bilden auf diese Weise komplexe Strukturen. Diese Konzepte wiederum werden durch einfache oder komplexe sprachliche Zeichen abgebildet, wobei nicht alle Konzepte auf die gleiche Weise ausgedrückt und nicht einmal alle Konzepte versprachlicht werden müssen. Wenn sich nun in der Welt oder in unserem Verständnis von ihr etwas verändert, so zieht dies in der Regel eine Veränderung des konzeptuellen Netzes nach sich, was wiederum zu Sprachwandel [also auch zum Bedeutungswandel, S. B.] führen kann. 344 Weiter heißt es dort mit dem speziellen Fokus auf technische Innovationen: „Handelt es sich um technischen Wandel durch neue Entdeckungen, Entwicklungen neuer Techniken, so kann man dies [...] als Versprachlichung eines neuen Konzeptes interpretieren“ 345 . Ich nehme an, dass hinter einer solchen Auffassung sowohl bei B Uß- MANN als auch bei B LANK die Vorstellung steckt, dass Wortbedeutungen einzig über den Aspekt der Wahrheitswerte definiert werden können; eine problematische Sichtweise, bei der die pragmatische Dimension von Sprache geflissentlich außer Acht gelassen wird. Wenn man sich dem Phänomen des Bedeutungswandels auf diese Weise nähert, liegt es auf der Hand, dass ein Wandel der außersprachlichen Realität unweigerlich einen Wandel der Wortbedeutung, für die das Wort in dieser Betrachtungsweise steht, mit sich bringt. In Kapitel 2 habe ich anhand einiger Beispiele zeigen können, dass eine solche, nur auf Wahrheitswerte und im Sinne einer Stellvertreterrelation ausgerichtete Semantik für den Bedeu- 342 M ATTHEIER 1998: 831 343 M ATTHEIER 1998: 831f. Hervorhebung durch den Verfasser. 344 B LANK 1997: 379f. Hervorhebung durch den Verfasser. 345 B LANK 1997: 380 189 tungswandel keine fruchtbaren Erkenntnisse liefern kann. Umso erstaunlicher ist es, dass man selbst in neueren Arbeiten immer wieder der irrigen Auffassung begegnet, Bedeutungswandel stehe in einem relativen Abhängigkeitsverhältnis zu den Veränderungen der realen Welt. So lesen wir in einer linguistischen Arbeit aus dem Jahr 2011 bei M ARIA B ISKUP : In der außersprachlichen Wirklichkeit, im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben kommt es stets zu mannigfaltigen [...] Veränderungen. Die Sprache, die im Dienste der Widerspiegelung der Realität steht, unterliegt auf diese Weise gewissen Wandlungen, die als eine natürliche Folge aller Entwicklungen in der außersprachlichen Realität zu sehen sind; in der einschlägigen Literatur werden sie gewöhnlich als Bedeutungswandel bezeichnet. 346 Davon abgesehen, dass Bedeutungswandel eben nicht als natürliche Folge irgendeiner Entwicklung (und damit nicht als Naturphänomen) gewertet werden darf (sondern ein invisible-hand-Phänomen darstellt, wie ich in Kapitel 2 dargelegt habe), hat Sprache keine Abbildfunktion und spiegelt somit auch keine außersprachliche Wirklichkeit wider. Eine rein extensionale Bedeutungsauffassung, die in ihrem Kern auf A RISTOTELES zurückgeht, wurde schon von F REGE kritisiert und später von W ITTGEN- STEIN für unhaltbar erklärt. 347 Nicht die Frage, wofür ein Zeichen steht, sondern die Frage, wie ein Zeichen es vermag, kommunikativ nutzbar zu sein, sollte für den Linguisten im Fokus stehen. Bedeutung ist so verstanden das, was das sprachliche Zeichen zu einem Zeichen macht - die Regel seines Gebrauchs. Dass wir eine repräsentationistische Bedeutungsauffassung als theoretische Basis in modernen linguistischen Arbeiten noch vorfinden, halte ich mit dem Fokus auf die seit vielen Jahren zu dieser Fragestellung vorliegenden Befunde für erstaunlich. Sprache steht im Gegensatz zu B ISKUP s Auffassung gerade nicht im Dienste einer Widerspiegelung (nicht von Realität und auch nicht von Gedanken), sie steht im Dienst des Sprechers - und der kann mit seiner Sprache vieles wollen. Die reine Abbildung der außersprachlichen Dinge und der Wirklichkeit der Welt dürfte für die meisten Sprecher keine sehr lohnenswerte Investition in das komplexe Unterfangen sprachlicher Artikulation darstellen. So ist auch jeder hier geschriebene Satz ein Abbild meiner Gedanken, mit dem Zweck verfasst, den Leser von meinen Thesen überzeugen zu wollen und keine Abbildung der außersprachlichen Realität. Sprache ist vielmehr ein wichtiges Mittel der menschlichen Kommunikation und folgt somit zweckrationalen Entscheidungen. Insofern greift für die Erklärung semantischen Wandels keine Referenztheorie der Bedeutung, man 346 B ISKUP 2011: 43. Hervorhebungen durch den Verfasser. 347 Vgl. zur Kritik an einer repräsentationistischen Bedeutungsauffassung F RITZ 1984: 741ff., K ELLER 1995: 43ff. 190 muss einen instrumentalistischen Ansatz wählen, der die intentionalen Entscheidungen der Sprachbenutzer mitberücksichtigt. Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens ist die konventionelle Regel seines Gebrauchs und keine abstrakte Vorstellung oder eine außersprachliche Entität in der direkten Projektion auf sprachlicher Ebene. 348 Inwiefern aber ist die Sichtweise der Abbildfunktion von Sprache für die Erklärung semantischen Wandels bei Verben problematisch? Aus ihr erwächst ein weit verbreiteter Irrglaube, der etwas mit den vermeintlichen Ursachen für Bedeutungswandel bei Verben zu tun hat. Gemeint ist die vielfach explizit oder implizit formulierte Behauptung, dass Bedeutungswandel bei Verben zwingend mit (kulturellen oder sozialen) Veränderungen der durch das Verb denotierten Tätigkeit einhergeht. In dieser zweifelhaften Sichtweise werden fälschlich ein Ursache-Wirkungs- Zusammenhang und ein relatives Abhängigkeitsverhältnis von Kultur und Wandel beim Leser evoziert, die bei genauerer Betrachtung nicht haltbar sind. So wird häufig argumentiert, dass der Wandel bei Verbbedeutungen a priori darauf zurückzuführen sei, dass sich die zugrunde liegende Tätigkeit geändert habe. M ARIA B ISKUP schreibt: „Wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, wandeln sich auch die mit ihnen zusammenhängenden Wortbedeutungen, da sie neuen Bedürfnissen gerecht werden müssen“ 349 . Und das scheint auf den ersten Blick ja auch plausibel zu sein: Wird eine bestimmte Tätigkeit irgendwann nicht mehr oder anders als bisher ausgeführt, verschwindet oder verändert sich auch das passende Wort in seiner Bedeutung. Im Umkehrschluss bereichern technische oder soziale Neuerungen unseren Wortschatz, indem für neue Sachverhalte neue sprachliche Zeichen gefunden werden. Die heutige erweiterte Bedeutung von Maus im Bezug auf Computertechnik oder technologisch bedingte Neologismen, bzw. Entlehnungen im Verbwortschatz wie simsen (für Kurznachrichten mit einem Mobiltelefon schreiben) oder chatten (für den wechselseitigen Nachrichtenaustausch auf Internetseiten) scheinen diese Entwicklung zu bestätigen. Auch A RMIN B URKHARDT stellt irrtümlich durch die semasiologische Brille fest: „Für die Inhaltswörter [also auch für die Verben, S. B.] heißt das: Ihre lexikalischen Bedeutungen ändern sich vor allem durch die Anwendung der Wörter auf immer neue Gegenstände und Sachverhalte in einer sich wandelnden Welt“ 350 . Bei genauerer Betrachtung ist jedoch festzustellen, dass solche Entwicklungen nicht genereller Natur sind und auch nicht zwangsläufig eintreten müssen. Das Gegenteil ist der Fall: Weder verschwinden Lexe- 348 Vgl. Kapitel 2 349 B ISKUP 2001: 9 350 B URKHARDT 1991: 22 191 me notwendig, wenn sich ihre Referenten verändern oder verloren gehen noch bedingen kulturelle oder technologische Neuerungen in jedem Fall neue Wörter. R UDI K ELLER stellt nachdrücklich fest: „Wenn wir genauer hinschauen, so stellen wir schnell fest, daß nicht jeder Veränderung in der Welt eine Veränderung in der Sprache entspricht, noch jeder Veränderung in der Sprache eine Veränderung in der Welt entspricht“ 351 . Zwar ist es durchaus zutreffend, dass ein steigender Bedarf an sprachlichen Zeichen zu registrieren ist, je mehr technische Neuerungen Einzug in eine Gesellschaft halten. Die deutsche Sprache ist aber vielfach in der Lage, diesen Bedarf aus sich selbst heraus zu befriedigen. So ist im Bereich der Filmtechnologie in den letzten 100 Jahren ein massiver technologischer Fortschritt vom Belichtungsfilm hin zur digitalen Aufzeichnung oder sogar zur vollständigen Erstellung von Filmen mithilfe von Computertechnologie 352 festzustellen - das all diese Tätigkeiten der Filmproduktion bezeichnende Verb drehen hat sich allerdings bis heute erhalten, seine Bedeutung hat sich trotz technischen Fortschritts nicht grundlegend verändert. 353 Die Gebrauchsregel gibt noch immer an, dass man mit diesem Verb auf den Vorgang der Filmproduktion verweisen kann - ungeachtet der erweiterten technischen Möglichkeiten. Was ist hier im Zuge der kulturellen Entwicklung also geschehen? Nicht die Bedeutung, wohl aber der Begriffsumfang des Verbs drehen hat sich mit den Neuerungen der außersprachlichen Wirklichkeit verändert, denn das Wort lässt sich mittlerweile auf jede Form der Filmproduktion anwenden - egal ob mit einer professionellen Filmkamera, einer Videokamera oder dem Mobiltelefon. Die Extension des Wortes hat sich also bis heute vergrößert und umfasst weit mehr technische Prozesse als früher. Die Intension, der Begriffsinhalt, ist dagegen bis heute kleiner geworden. Einen solchen Vorgang bezeichnet man gemeinhin als Bedeutungserweiterung. Bedeutungserweiterung, das lege ich in Kapitel 6 ausführlicher dar, kann ein Effekt semantischen Wandels sein und wird vielfach sogar als ein Verfahren für Bedeutungswandel dargestellt. Für das Verb drehen (und für eine Reihe anderer Verben aus dem Bereich der Technik) verhält 351 K ELLER 1991a: 208 352 Gemeint sind an dieser Stelle z. B. moderne 3-D-Filme oder Animationsfilme, die ebenfalls gedreht werden, obwohl streng genommen selbst der Vorgang der Aufzeichnung bewegter Bilder, der für die Produktion von Filmen typisch ist, nicht mehr stattfindet. 353 Ich verdanke dieses Beispiel R UDI K ELLER (K ELLER 1991a: 208), der darauf hinweist, dass man anhand des Verbs drehen erkennt, dass technische Veränderungen des Denotats am Gebrauch eines Wortes bisweilen nichts ändern. Ich werde die Semantik dieses Verbs exemplarisch für andere Verben sowohl hier als auch weiter unten in diesem Kapitel eingehender untersuchen. 192 es sich aber anders: Die Erweiterung der Bedeutung im Bezug auf die vielfältigeren Möglichkeiten der Filmproduktion hat nicht dazu geführt, dass sich die Extension in der Ausgestaltung der Denotate (Filme) grundlegend verändert hätte (allenfalls in Richtung: spezielle Filme jegliche Filme). Ein Film ist heute noch immer ein Film, auch wenn die Gestalt dessen, was man heute als Film bezeichnet (z. B. auch digitale Projektionen oder kurze Videoclips) von dem abweicht, was man ursprünglich gemeint hat, wenn von einem Film die Rede war. Insofern führte die Extensionserweiterung nicht dazu, dass sich die Bedeutung auf einen anderen Sinnbereich o. ä. erweitert hätte (wie es z. B. für das Verb begreifen zunächst in der Übertragung vom Konkreten zum Abstrakten der Fall war) 354 . Von einem Bedeutungswandel kann man daher m. E. nicht sprechen. Hier zeigt sich: Grundlegende technologische Veränderungen führen nicht zwingend zum Wandel von Wortbedeutungen. Der entgegengesetzte Fall lässt sich im Bereich der Nachrichtentechnik feststellen: Noch lange, bevor das Telefon erfunden wurde, war es schon möglich, jemanden anzurufen (i. d. R. Gott oder eine andere mächtige Instanz), denn anrufen bedeutet ursprünglich nichts weiter, als jemanden laut (oder flehentlich) ansprechen, wie die folgenden beiden Belege aus dem Textkorpus zeigen: Riskirte [sic! ] ich aber einmal, in einem kleineren Kreis und in einem Augenblick, wo ich meinte, er achte nicht auf mich, zu sagen was der Augenblick mir eingab, so hatte er es doch gehört, und durch ein sarkastisches Lächeln oder einen Augenaufschlag zur Zimmerdecke, als wolle er Gott zum Zeugen meiner Einfalt anrufen, verschloß er mir gleich wieder die Lippen. 355 Wohl mischt sich ein Bangen in unsere Hoffnung, daß der Sieg nicht einziehen wird ohne letzte Opfer an Gut und Blut. Und so laßt uns denn be- 354 Es ist anzunehmen, dass man in einer ersten Entwicklungsstufe begreifen sowohl im Bezug auf Konkretes als auch im Bezug auf Geistig-Abstraktes verwenden konnte, sich also der Begriffsumfang im Zuge der Metaphorisierung erweitert hat. Hier hat sich durch den Wegfall der ursprünglichen Bedeutungsvariante die Wortbedeutung grundlegend verändert. Aber auch schon in der ersten Stufe wurde die Gebrauchsregel durch die Möglichkeit der erweiterten Nutzung des Verbs verändert - und damit auch die Bedeutung. Für drehen liegt dies anders, da zwar der Referenzbereich erweitert ist, sich die Extension im Ganzen aber noch auf denselben Prozess bezieht. Insofern ist es hier m. E. trotz einer Bedeutungserweiterung nicht korrekt, von einem Bedeutungswandel zu sprechen. Darin liegt ein besonderes Charakteristikum solcher Verben begründet, denn gemäß den gängigen Definitionen stehen Bedeutungserweiterung und Bedeutungswandel in einem klaren Ursache- Wirkungs-Zusammenhang, den ich hier nicht erkennen kann. 355 D OHM , Hedwig: Schicksale einer Seele. Roman. Berlin 1899, S. 174. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 193 ten, meine Freunde, und die Gnade des Herrn noch einmal anrufen, daß er uns die rechte Kraft leihen möge in der Stunde der Entscheidung. 356 Wir verwenden das Verb anrufen heute fast ausschließlich im Zusammenhang mit einem Telefon, auch wenn man z. B. in Fragen der Gerichtbarkeit noch heute ein Gericht anrufen kann, wenn man einen Sachverhalt durch einen Richter klären lassen möchte. Was ich also hier für das Verb anrufen skizziere, ist im Gegensatz zum Drehen keine technologische Veränderung des Denotats, sondern eine (technologisch, also kulturell bedingte) Bedeutungsspezialisierung, in deren Entwicklung sich die Extension diametral zur Intension verkleinert, so dass die Gebrauchsregel des Verbs anrufen heute wahrheitsfunktionale Parameter der äußeren Welt involviert, die fast ausschließlich auf den Vorgang des Telefonierens referieren und die im Zuge der Spezialisierung neu hinzugekommen sind. Im Gegensatz zum Verb drehen in der hier zugrunde gelegten Lesart hat sich die Gebrauchsregel des Verbs anrufen also verändert - ein Bedeutungswandel hat stattgefunden. 357 Was sich in beiden Fällen zeigt, ist, dass technologische Neuerungen nicht in jedem Fall neue Wörter hervorbringen, sondern dass der Wortschatz des Deutschen diesen Neuerungen aus sich selbst heraus gerecht wird. Im Zuge dieses Anpassungsprozesses kann es zum Bedeutungswandel kommen (wie bei anrufen), diese Prämisse muss aber nicht zwingend erfüllt sein (wie bei drehen). Wenn wir uns auf die Ebene der Wortbedeutung begeben, lässt sich beobachten, dass sich in vielen Fällen, in denen ein Wandel des Denotats festzustellen ist, nicht die Bedeutung ändert, da sich streng genommen nicht die Regel des Wortgebrauchs, sondern der Wortgebrauch selbst ändert. Das ist besonders dann der Fall, wenn die Extension gar keine 356 F ONTANE , Theodor: Vor dem Sturm. In: Fontane, Theodor: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Herausgegeben von Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz und Jürgen Jahn, 2. Auflage, Berlin und Weimar 1973, Band 1, S. 47. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 357 Ich möchte an dieser Stelle den m. E. für den Bedeutungswandel bei Verben zentralen Aspekt der Bedeutungsparameter ins Spiel bringen und für das Verb anrufen auf die strukturellen Veränderungen innerhalb der Gebrauchsregel hinweisen: Trotz der beschriebenen Bedeutungsausdifferenzierung der Parameter der äußeren Welt lässt sich festhalten, dass die sozialen Parameter in der Gebrauchsregel für das Verb anrufen unverändert erhalten sind: Bis heute dient das Verb dazu, einen Vorgang zu kennzeichnen, der als eine soziale Interaktion bezeichnet werden kann. Wenn ich jemanden anrufe, dann nehme ich Kontakt auf. In dieser Hinsicht, also nur auf die soziale Funktion der denotierten Tätigkeit bezogen, hat kein Bedeutungswandel stattgefunden. Trotzdem kann man anrufen nicht im Sinne der von mir in Kapitel 3 entwickelten Klassifizierung der Verben zu den sozialen Verben rechnen, da die pragmatische Ausdrucksfunktion nicht primär eine soziale ist. 194 Entitäten mehr umfasst, weil sich ein Verb aufgrund des kulturell bedingten Verschwindens einer Tätigkeit auf keine (aktuelle) Tätigkeit mehr beziehen lässt. In diesen Fällen werden zwar Verben ungebräuchlich, die Regel für ihren Wortgebrauch hingegen bleibt konstant. So sind Verben, die wir heute nicht mehr verwenden, weil sie eine Tätigkeit beschreiben, die es nicht mehr (oder nicht mehr in dieser Form) gibt, trotzdem noch immer dazu geeignet, eben diese Tätigkeit zu beschreiben. Ich kann ein aufgrund kulturellen Wandels ungebräuchliches Verb heute noch uneingeschränkt dazu verwenden und mit seiner Hilfe auf eine verlorne Tätigkeit oder einen gegenwärtig unüblichen Vorgang referieren. Dazu ein Beispiel: Ich bin zwar kein Experte für Holzkohlegewinnung, glaube aber zu wissen, dass es die Tätigkeit des Köhlerns in Deutschland nicht mehr gibt, dennoch ist es die lexikalische Bedeutung des Verbs köhlern, eine bestimmte Methode der Holzkohleherstellung zu beschreiben, ungeachtet der Tatsache, dass diese Methode nicht mehr angewendet wird. Die Gebrauchsregel des Verbs köhlern hat sich bis heute nicht geändert und damit auch nicht die Wortbedeutung. Was sich hingegen grundlegend geändert hat, ist das technische Prozedere, das mit diesem Verb beschrieben werden kann. Die Gebrauchsregel des Verbs köhlern dient hingegen noch immer dazu, eine ganz bestimmte Tätigkeit zu beschreiben. Wenn ich auf eben diese Tätigkeit (z. B. aus einem historischen Interesse heraus) referieren will, weiß ich, dass ich das Wort köhlern dafür verwenden kann, weil dies der Regel des Wortgebrauchs entspricht. Köhlern heißt (also bedeutet), auf eine bestimmte Art x mit den Mitteln y in der Zeit z Holzkohle herzustellen. Und zwar auch dann noch, wenn auf diese Weise kein Mensch mehr Holzkohle herstellt. Es wäre also falsch, in diesem Fall von Bedeutungswandel zu sprechen, denn die Bedeutung hat sich trotz des kulturgeschichtlich oder technologisch bedingten Wegfalls der Tätigkeit nicht geändert. Nicht die Gebrauchsregel des Wortes hat sich geändert, sein Gebrauch an sich findet nicht mehr statt. Wir benutzen das Verb nicht mehr, weil es eine Tätigkeit beschreibt, die es in unserer Gesellschaft nicht mehr oder nicht mehr häufig gibt. Das Vermeiden eines Ausdrucks aus kulturellen Gründen hat aber mit Bedeutungswandel im strengen Sinne nichts zu tun. Solange ein Wort noch bekannt ist, wenn auch nur wenigen Sprechern und möglicherweise nur noch in einer Spezialverwendung, behält es seine lexikalische Bedeutung. Die Bedeutung eines Wortes bleibt so lange erhalten, bis die zugrunde liegende Tätigkeit nicht mehr bekannt ist. Aber auch dann, wenn niemand mehr die Bedeutung eines Wortes kennt, kommt es nicht zum Bedeutungswandel, es kommt zum Bedeutungsverlust - und das ist etwas gänzlich Anderes. In diesem Fall verschwindet zugleich die Gebrauchsregel und ein Wort verliert de facto seine Bedeutung. Eine Regel, die niemand mehr kennt, verliert ihre 195 gebrauchstheoretische Funktion innerhalb des Regelsystems (hier: innerhalb der Sprache). Es ist nicht notwendig (und es passiert auch nicht sofort), dass solche Lexeme, deren Denotat sich verändert hat oder verschwunden ist, sofort aus dem Wortschatz einer Sprache ausgegliedert werden. Sie werden in einem ersten Schritt ungebräuchlich und geraten später mit abnehmender Frequenz ihrer Verwendung in Vergessenheit. An ihrer Bedeutung hingegen ändert sich in vielen Fällen bis zum endgültigen Verschwinden überhaupt nichts. Manche Verben, insbesondere solche, die mehrere Bedeutungen tragen, die also homonym sind, bleiben mit ihren noch gebräuchlichen Bedeutungen erhalten oder differenzieren sich semantisch neu aus. Die Einbindung neuer Parameter in die Gebrauchsregeln solcher Wörter ist ein Prozess, der - wie wir gesehen haben - eben diese Entwicklung zur Folge haben kann. Ich erinnere an dieser Stelle an die Verben lesen oder eingreifen, die heute eine kognitiv-mentale bzw. soziale Parameterdominanz erreicht haben und die in ihrer ursprünglichen (in beiden Fällen haptisch-taktilen) 358 Bedeutung fast vollständig verschwunden oder die zumindest auf dem Weg dorthin begriffen sind. 359 5.1.1 Bedeutungsentleerung durch kulturellen Wandel Was sicher richtig ist, ist die Tatsache, dass Verben gemeinsam mit ihren korrespondierenden Tätigkeiten verschwinden können, auch wenn sie in manchen Fällen infolge eines Bedeutungswandels (z. B. in Spezialverwendungen oder in metaphorischer Lesart) erhalten bleiben. Betrachten wir dazu beispielsweise das Verb bohnern, das im Begriff befindlich ist, aus dem aktiven Wortschatz zu verschwinden. Nur noch wenige Menschen verwenden dieses Verb heute noch, weil die Tätigkeit des Bohnerns aufgrund neuer Bodenbeläge selten geworden ist. In Äußerungen wie Ich habe gestern den Boden gebohnert ist die lexikalische Bedeutung noch gegenwärtig und wir verstehen die Bedeutung des Satzes, weil wir wissen, 358 Dass eine kulturgeschichtliche Entwicklung des Menschen in unserer Gesellschaft vom Tun zum Denken eine der möglichen Ursachen für das Verschwinden bzw. für den Wandel ursprünglich haptisch-taktiler Bedeutungen im Verbwortschatz sein könnte, habe ich in Kapitel 4.2.3 im Zusammenhang mit der Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten dargestellt und ich verweise an dieser Stelle auf das dort fixierte Gedankenexperiment. 359 Möglich ist auch eine bleibende Bedeutungskonstanz in einer Spezialverwendung. Für lesen, das ursprünglich sammeln bedeutete, ist eine solche Spezialverwendung z. B. in der Weinproduktion erhalten und es ist zu vermuten, dass sich die Bedeutung dort auch dann noch erhalten wird, wenn sie aus dem gemeinschaftlichen Gedächtnis der Sprachgemeinschaft verschwunden ist. Spezialverwendungen (z. B. Fachsprachen) nehmen in vielen Fällen eine bedeutungskonservierende Funktion ein. 196 was bohnern bedeutet. Wir kennen die Regel, die dem Gebrauch dieses Verbs zugrunde liegt. Zu der Gebrauchsregel dieses Verbs gehört es nun, dass die Reinigung eines ganz bestimmten Bodenbelages gemeint ist. Insofern handelt es sich bei bohnern gegenwärtig um eine Spezialverwendung. Ich gehe aber davon aus, dass in absehbarer Zeit die Tätigkeit des Bohnerns von einer anderen Tätigkeit abgelöst werden wird. Die Technik des Versiegelns von Bodenbelägen mit einer Wachsschicht wird mehr und mehr durch andere Techniken abgelöst. Schon heute sind moderne Bodenbeläge so beschaffen, dass sie nicht mehr gebohnert werden können oder müssen. Heute benutzen wir für die Pflege unserer Fußböden andere Methoden, die neue Verben oder veränderte Verbbedeutungen hervorgebracht haben. Besitzen wir etwa einen Teppichboden, so werden wir ihn saugen müssen. Nennen wir Laminat oder Fliesen unser Eigen, müssen wir fegen oder schrubben. Ihren Boden bohnern werden hingegen gegenwärtig nur die wenigsten Menschen, es sei denn, sie leben in Häusern mit empfindlichem Parkettfußboden. Was wird also zukünftig mit dem Verb bohnern passieren? Wird es verschwinden oder kommt es vermutlich zu einem Bedeutungswandel, im Zuge dessen sich das Wort mit einer neuen Bedeutung erhalten wird? Dass sich das Verb bohnern auf dem Weg in die Vergessenheit bewegt und dass dies eine direkte Folge der veränderten Technik der Bodenpflege ist (also ein kultureller Effekt), kann anhand zweier Beispiele deutlich gemacht werden, die auch zeigen, welchen Weg ein Verb nehmen kann, wenn sein Denotat obsolet wird. Wir bleiben dazu bei den Tätigkeiten der Fußbodenpflege und betrachten mit einem etymologischen Seitenblick zwei Verben, die in diesem Zusammenhang in früheren Zeiten ebenso gebräuchlich gewesen sind, wie heute saugen oder wischen. Die beiden Verben blocken und blochen sind gegenwärtig nicht mehr gebräuchlich, sie dürften aus dem deutschen Verbwortschatz verschwunden sein. Sätze wie Hast Du heute schon geblockt? oder Ich werde morgen blochen! verwendet heute kein Mensch mehr. Die Bedeutungen der Verben in diesen Sätzen sind uns nicht mehr geläufig. Wir kennen die Gebrauchsregeln nicht mehr und können daher den Sinn der Äußerungen nicht rekonstruieren: Erstens fehlt uns die Kenntnis der Wortbedeutungen von blocken und blochen und zweitens - und das ist ein Resultat aus dem Ersten - kann der Sinn der gesamten Äußerungen daher nicht erschlossen werden. Inwiefern ist die Bedeutungsgeschichte von blochen und blocken nun exemplarisch für kulturell bedingten Bedeutungswandel und in welchem Zusammenhang stehen diese Verben mit dem noch gebräuchlichen Verb bohnern, das uns weiter oben begegnet ist? Blocken und blochen sind ursprünglich im Deutschen Synonyme zu bohnern gewesen, heute sind sie 197 allenfalls noch regionalsprachliche Varianten. 360 Allerdings hat sich bis heute nur das Verb bohnern im aktiven Wortschatz des Deutschen halten können und es ist anzunehmen, dass es über kurz oder lang ebenso verschwinden wird, wie blochen oder blocken. Hier zeigt sich ein besonderes Phänomen des Sprachwandels bei Verben: Es scheint so zu sein, dass Verben nur so lange Synonyme vertragen, wie die durch sie ausgedrückte Tätigkeit in einem hohen Maße von kultureller Bedeutung ist, d. h. ausgeübt wird. Je unbedeutender eine Tätigkeit für die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft ist, umso weniger synonyme Verben wird man innerhalb des Wortschatzes finden. Dass man für ein und dieselbe Entität mehrere Verben kennt, ist m. E. nur bei solchen Tätigkeiten gegeben, die ich hier als Normalfälle beschreiben möchte. Für Spezialfälle gilt: Ein Verb reicht zur Beschreibung aus. So ist die Tätigkeit des Bohnerns eine ganz bestimmte Tätigkeit, die einzig auf Bodenbeläge aus Holz anwendbar ist und ganz bestimmten Regeln folgt. Sie beschreibt heute nicht mehr den Normalfall der Bodenpflege, sondern einen Spezialfall. Früher war dies anders und da bohnern vermutlich der Normalfall der Bodenpflege war, gab es auch eine Reihe von Synonymen. Verschwindet nun eine Tätigkeit ganz, verschwinden auch die korrespondierenden Verben - oder besser: die Bedeutungsvarianten von Verben geraten in Vergessenheit. Dies gilt in ganz besonderem Maße für Spezialverwendungen bzw. für spezielle Handlungen, die Teil eines Ganzen sein können, die also einen übergeordneten Begriff besitzen. So wird - ähnlich dem bohnern - früher oder später das Wort wichsen aus dem Sprachschatz verschwinden und durch das übergeordnete Verb putzen verdrängt werden, da heute Schuhe nur noch selten mit klassischem Wachs behandelt werden. Stattdessen gibt es diverse Chemikalien zum Auftragen oder Aufsprühen, so dass die Schuhpflege heute anderen Prinzipien folgt und das Verb wichsen dadurch in den Hintergrund tritt. War Schuhe wichsen früher der Normalfall, ist im Laufe der Zeit daraus ein Spezialfall geworden. Dasselbe ist der Tätigkeit des Bohnerns widerfahren und beiden Verben droht dasselbe 360 Vgl. K LUGE 1999: 133. Ein Blocker oder Blocher war eine Bürste mit Stiel, die zum Bohnern verwendet wurde. Die semantische Nähe zum noch gebräuchlichen Substantiv Block besteht darin, dass die Bürsten mit einem Holzblock beschwert wurden, mit dessen Hilfe ein stärkerer Druck auf den Boden erzielt werden konnte. Auch moderne Besen besitzen neben einem Stiel einen sogenannten Bürstenblock, der die Borsten enthält. Man könnte sich darüber streiten, ob die Begriffe bohnern und blocken synonym sind, oder ob bohnern als Oberbegriff das Blocken mit einschließt; Blocken als Tätigkeit scheint eine Teilhandlung des Bohnerns gewesen zu sein. Bohnern ist der gesamte Vorgang des Wachsauftragens, wogegen mit blocken das Polieren mit Hilfe eines Werkzeugs, des Blockers, bezeichnet wurde. Insofern gibt es eine Verwandtschaft zum Schuheputzen: Auch dort wird zunächst ein Wachs aufgetragen und dann wird der Schuh glänzend gebürstet. 198 Schicksal: Sie werden immer seltener frequentiert werden und möglicherweise dann aus dem Sprachschatz verschwinden, wenn der Spezialfall, den sie denotieren, verloren geht. Die seltene Verwendungsfrequenz aber wirkt sich bis dahin in ganz besonderer Weise auf die Stabilität der Wortbedeutungen aus: Die geringe Verwendungsfrequenz wird ihre Wortbedeutungen bis zum endgültigen Verschwinden der Lexeme aus dem Wortschatz stabilisieren. 361 Bedeutungswandel betrifft eher hochfrequente Verben mit einer eher offenen Wortbedeutung. Es ist daher nicht anzunehmen, dass das Verb bohnern in Zukunft einen Bedeutungswandel erfährt. Im Gegenteil: Je weniger ein Wort frequentiert ist, desto stabiler ist seine Wortbedeutung. Wenn die Bedeutung eines Wortes seine Gebrauchsregel innerhalb einer Sprache ist, also die Frage beantwortet, in welcher Weise kraft Konvention ein bestimmtes Wort in einer Sprache benutzt wird, dann besitzen Verben sehr starre Bedeutungen, wenn sie nur auf eine ganz spezielle und dazu noch seltene Tätigkeit referieren. Wird dagegen ein Verb häufig gebraucht und eignet es sich außerdem dazu, eine andere Tätigkeit als die ursprüngliche zu beschreiben, weil es sich dabei etwa um eine übergeordnete Tätigkeit handelt oder weil sich das Verb als bildhaft eignet, metaphorisch verwendet zu werden, dann ist Bedeutungswandel viel eher anzunehmen. Auch diese Annahme will ich anhand des Verbs wichsen belegen, das im Gegensatz zum bohnern in zumindest einer metaphorischen Lesart erhalten bleiben wird: Zu einer Zeit, in der Schuhe ausschließlich gewichst werden konnten (wichsen also der Normalfall war), entstand eine Bedeutungsvariante, die heute wieder nahezu verschwunden ist. So konnte man sagen: Den hab ich gestern aber ganz schön verwichst! und meinte damit Den hab ich gestern ordentlich verprügelt. Das heute wesentlich gebräuchlichere Wort, da man es im Gegensatz zum Wichsen auch auf andere Bereiche als nur Schuhe oder Böden beziehen kann, ist polieren. Und auch hier gibt es im Umgangssprachlichen dieselbe Bedeutungsvariante im Sinne von jemanden verprügeln, die es auch beim wichsen gab: Dem hab ich die Fresse poliert! Polieren wird hier, wie wichsen in einem solchen Kontext auch, metaphorisch verwendet. Während wichsen in der Präfigierung mit verin dieser Konstruktion zum Ausdruck einer gewalttätigen Handlung gegenwärtig eher selten verwendet wird, hat sich heute eine weitere Spezialbedeutung etabliert, die ebenfalls auf einer Metapher beruht. Heute verwendet man wichsen fast ausschließlich metaphorisch im Kontext sexueller Handlungen, dann allerdings umgangs- und vulgär- 361 Vgl. Abschnitt 5.1.2 199 sprachlich. Im Gegensatz zum bohnern wird also wichsen aufgrund des eingetretenen Bedeutungswandels sehr wahrscheinlich in der neuen sexuell denotierten Bedeutungsvariante erhalten bleiben, die ursprüngliche Varianten hingegen wird vermutlich ebenso verschwinden wie die Bedeutung des Verbs bohnern - bei gleichzeitiger lexikalischer Bedeutungskonstanz aufgrund der Spezialverwendung (die ehemals der Normalfall war). 362 Es lässt sich also als Ergebnis festhalten, dass Verben, sofern sie nicht in einer Spezialbedeutung erhalten bleiben, mit dem Verschwinden der durch sie bezeichneten Tätigkeiten aus dem Wortschatz verloren gehen können, ohne dass sich aber die Bedeutung verändern muss, da Bedeutungswandel und Wortverwendung zwei unterschiedliche Dinge sind. Wenn ich ein Verb nicht mehr verwende, weil die Tätigkeit aus kulturellen Gründen nicht mehr ausgeübt wird, ändert das zunächst nichts an der Gebrauchsregel des Verbs. Es gibt außerdem einen Zusammenhang zwischen Bedeutungswandel und hoher Frequenz der Wortverwendung bzw. zwischen Bedeutungsstabilität und geringer Verwendungsfrequenz. Dieser Aspekt wird uns in Kapitel 5.2 noch eingehender beschäftigen. 5.1.2 Metaphorisierung als kulturhistorischer Effekt Dass Bedeutungswandel bei Verben im Allgemeinen nichts mit dem Wandel der Tätigkeiten zu tun haben muss, lässt sich auch über den diametralen Weg zu dem zeigen, was wir weiter oben eingangs für das Verb köhlern feststellen konnten. Lautete der Befund für das Verb köhlern, dass wir dieses Verb nicht mehr verwenden, weil es die korrespondierende Tätigkeit nicht mehr gibt (ungeachtet dessen, dass die Wortbedeutung bis heute unverändert erhalten geblieben ist und erst dann verloren geht, wenn sowohl die Tätigkeit als auch das Verb aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwindet), so lässt sich auch feststellen, dass wir heute noch lebhaft Verben verwenden, die Tätigkeiten beschreiben, die zwar (im Gegensatz zum Köhlern) nicht aus der Kultur verschwunden sind, die sich aber in der Ausgestaltung der technischen Vorgänge grundlegend verändert haben. Betrachten wir dazu ein Beispiel, das uns weiter oben bereits begegnet ist: So werden heute in Hollywood noch jedes Jahr eine Vielzahl an Fil- 362 Warum sich ausgerechnet das Verb wichsen dazu geeignet hat und gegenwärtig in einer expressiven Variante noch dazu eignet, metaphorisch verwendet zu werden und das Verb bohnern nicht, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Hätte sich für das Verb wichsen keine pragmatische Eignung zur metaphorischen Verwendung ergeben, würde es, da es gegenwärtig wie bohnern einen Spezialfall denotiert, künftig vermutlich ebenfalls aus dem Wortschatz ausgegliedert werden. 200 men gedreht, obwohl das Verb drehen ein anachronistisches Prozedere beschreibt, das ehemals den Produktionsprozess von Filmen treffend bezeichnete, gegenwärtig aber dem technischen Vorgang nicht mehr Rechnung trägt. Dennoch - und gerade ungeachtet der tatsächlich zu beschreibenden Tätigkeit - gibt es eine Gebrauchsregel für das Verb drehen, die besagt, dass man es benutzen kann, wenn von der technischen Produktion eines Films die Rede ist. Im Gegensatz zum Wandel der Tätigkeit bzw. des Vorgangs (also der Welt) ist die Bedeutung (also die Sprache) konstant geblieben. Allerdings - und das ist ein bemerkenswertes Phänomen - verstehen wir die gegenwärtige Bedeutung nicht wörtlich, sondern metaphorisch. Wir haben es hier also mit einer metaphorischen Interpretation der Ursprungsbedeutung zu tun, die durch den kulturellen (hier: technischen) Wandel bedingt ist, die aber nichts mit der Metaphorisierung als Verfahren des Bedeutungswandels zu schaffen hat. Genauer: Ein Verb wird heute metaphorisch verstanden, obwohl die Metaphorisierung zu keinem Zeitpunkt beabsichtig war und streng genommen auch nicht stattgefunden hat. Diese Entwicklung ist beachtenswert, weil man für Metaphern als sprachliche Bilder in allen gängigen Definitionen davon ausgeht, dass Metaphernbildung ein rhetorisches Verfahren ist, das bewusst von Sprechern verwendet wird. Insofern ist die Entstehung von Metaphern ein Phänomen, das durch ein pragmatisches Verfahren bestimmt ist. Für drehen in der hier beschriebenen Lesart stellt sich dies anders dar, denn das Verb wird verwendet, ohne dass die Sprecher es bildhaft benutzen. Die Bildhaftigkeit in diesem Fall resultiert aus den technischen Veränderungen der Tätigkeit, nicht aber aus zweckrationalen Entscheidungen der Sprecher. Eine Bedeutungsübertragung hat streng genommen nicht stattgefunden, da es sich bei drehen um ein bis heute bedeutungskonstantes Verb handelt, dessen ursprüngliche Bedeutung nicht metaphorisch, sondern wahrheitsfunktional war: Der Film hat sich in der Kamera gedreht bzw. er wurde gedreht. Heute findet dieser mechanische Vorgang des Drehens nicht mehr statt, so dass die ehemals wahrheitsfunktionale Bedeutung heute in der Tat zu einer metaphorischen Bedeutung geworden ist. Es handelt sich hierbei um ein Phänomen, das ich an dieser Stelle als Metaphorisierung als kulturgeschichtlicher Effekt bezeichnen möchte und das man auch als Scheinmetaphorisierung benennen kann. Gemeint ist damit die Tendenz, ein Verb heute metaphorisch zu interpretieren, ohne dass der daraus resultierenden metaphorischen Lesart ein Bedeutungswandel zugrunde liegt und ohne dass ein metaphorisches Verfahren zur Anwendung gekommen wäre. Diese Entwicklung ist ungewöhnlich und sie verlangt nach einer Erklärung und einer Präzisierung der Vorgänge, die dazu führen können. Sehen wir uns daher zunächst an, auf welchem Weg Verben in aller Regel 201 zu einer metaphorischen Bedeutung gelangen und betrachten in einem zweiten Schritt, inwieweit die metaphorische Bedeutung von Verben wie drehen, schießen (ein Foto) oder schneiden (einen Film) davon abweichen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass das metaphorische Verfahren dem Sprecher dazu dienen kann, durch bildhaften Vergleich auf einen anderen Sachverhalt zu referieren und über dieses Verfahren zum Bedeutungswandel von Wörtern beizutragen. 363 Wenn ich z. B. sage, jemand hätte etwas gerafft und damit meine, dass jemand etwas kognitiv verstanden hat, dann verwende ich raffen metaphorisch. Ich referiere mit dem Verb auf einen kognitiven Verstehensprozess und verwende dabei ein Wort der haptischen Sphäre. Dieses semantische Verfahren folgt zweckrationalen Entscheidungen und dient mir als Sprecher zur Verdeutlichung meiner kommunikativen Absichten, es erweitert auf diesem Weg entscheidend meinen kommunikativen Wirkungsbereich. 364 Im Zuge des Bedeutungswandels für dieses Verb gelangen in die Gebrauchsregel des Verbs raffen zum einen kognitiv-mentale Parameter (die fortan die Kernbedeutung in dieser Lesart bestimmen) und zudem soziale Parameter, da raffen ein eher umgangssprachlicher Ausdruck ist. 365 Diese Zusammenhänge habe ich in Kapitel 3 ausführlich dargestellt und ich will an dieser Stelle daher nicht näher darauf eingehen. Was hier viel mehr interessiert, ist das semantische Verfahren, mit dessen Hilfe die Bedeutungsumformung rhetorisch vollzogen werden konnte. Über den bildhaften Vergleich, der mir als Sprecher aufgrund einer gewissen pragmatischen Eignung für das Verb raffen möglich ist, kann ich semantische Bezüge herstellen, die neu sind. Durch frequente Verwendung hat sich bis heute die Lesart raffen = verstehen etablieren können. Man könnte also sagen: Metaphorisierung geht dem Bedeutungswandel voraus bzw. führt als ein mögliches Verfahren zu semantischem Wandel. 363 G ERD F RITZ nennt als die wesentlichen Funktionen metaphorischer Rede: a) Schaffung einer neuen Sichtweise für einen Gegenstand, b) Vermittlung des Eindrucks der Vertrautheit bei unvertrauten Gegenständen, c) assoziationsreiche Beschreibungen, d) auffällige Rede und e) Füllung von Wortschatzlücken (vgl. F RITZ 2006: 43). Das Prinzip, das über all diesen Funktionen operiert, ist eine Verwendung von Metaphern als sprachliche Ausdrucksmittel zum Zweck der bildhaften Rede. Metaphern sind so verstanden zweckrationale sprachliche Mittel, also intentional erzeugt, verbreitet und gegenwärtig in vielen Fällen konventionalisiert, so dass viele Verben heute eine lexikalische Bedeutung tragen, die rein metaphorisch ist (z. B. raffen, schnallen, fressen, etc.). Die metaphorische Bedeutung solcher Verben ist nicht zufällig entstanden, sondern bewusst generiert. 364 Dies ist die Erklärung dafür, warum sich für dieses Verb eben diese (und keine andere) Bedeutungsentwicklung nachzeichnen lässt. 365 In der heutigen Verwendung sind es insbesondere diese sozialen Parameter innerhalb der Wortbedeutung, die mich als Sprecher dazu veranlassen, dieses Verb in bestimmten Kontexten einem neutraleren Verb vorzuziehen. 202 Ein Blick in die Forschungsliteratur zum Bedeutungswandel belegt diesen Befund. S TEPHEN U LLMANN schreibt mit Blick auf den Bedeutungswandel: „Daß die Metapher [...] als schöpferische Kraft in der Sprache von höchster Bedeutung ist, hat man zu allen Zeiten gewußt und in vielen extravaganten Formulierungen zum Ausdruck gebracht“ 366 . Bei G ERD F RITZ können wir nachlesen: „Die Lexikalisierung von metaphorischen Verwendungsweisen [also der Bedeutungswandel, S. B.] ist besonders häufig [...] und in der historischen Semantik auch gut dokumentiert“ 367 . Und auch A NDREAS B LANK stellt fest: „Jedweder Bedeutungswandel beruht auf einer [...] Assoziation, und zwar zwischen den Inhalten oder zwischen den Ausdrücken“ 368 . Was, um bei der Formulierung F RITZ ’ zu bleiben, m. W. noch gar nicht dokumentiert ist, ist der Umstand, dass Wörter heute metaphorisch verwendet werden (oder besser: als metaphorisch gedeutet werden), ohne dass eine Metaphorisierung zum Bedeutungswandel beigetragen hätte bzw. ohne dass es zum Wandel der Wortbedeutung gekommen wäre. In diesen Fällen ist die Bedeutung dieser Verben nur scheinbar metaphorisch und im Gegensatz zu der eben genannten Bedeutungsentwicklung für das Verb raffen haben solche Wörter keine neue metaphorische Bedeutung erhalten. Vielmehr sind die Bedeutungen über die Zeit konstant geblieben, wogegen sich die denotierten Tätigkeiten verändert haben. Über den Aspekt der Veränderung der Tätigkeiten erscheint uns die gegenwärtige Bedeutung metaphorisch. Will sagen: Es gibt Ausdrücke, die gegenwärtig metaphorische Bedeutung tragen, aber nicht über das Verfahren der Metaphorisierung entstanden und die auch nicht Resultat eines Bedeutungswandels sind. Die metaphorische Verwendung in diesen Fällen ist ein Effekt der Gebrauchsregelkonstanz bei gleichzeitigem Wechsel des Denotats. Durch eine kulturell bedingte Weiterentwicklung der denotierten Tätigkeit ist es dazu gekommen, dass die gegenwärtigen Wortbedeutungen im Vergleich zu den Ursprungsbedeutungen zu einem Zeitpunkt x in der Vergangenheit metaphorisch sind. Dieses Phänomen lässt sich anhand unseres Beispiels einen Film drehen ganz gut darlegen: Wenn heute ein Film produziert wird, ist es aufgrund technischer Entwicklungen nicht mehr der Fall, dass die Aufzeichnung mithilfe sich drehender Bänder geschieht. Stattdessen, das habe ich weiter oben bereits dargelegt, findet die Aufzeichnung von bewegten Bildern immer häufiger digital statt. Da es aber ursprünglich tatsächlich in Filmkameras Bänder gab, die durch Belichtung zu einem Film wurden, ist der Ausdruck drehen für die Ursprünge der Filmproduktion angemessen 366 U LLMANN 1973: 265 367 F RITZ 2006: 43 368 B LANK 1997: 40 203 gewesen. 369 Man kann also die Gebrauchsregel für das Verb drehen in diesem Kontext wie folgt beschreiben: Verwende das Verb drehen, wenn du auf den Vorgang oder die Tätigkeit einer Filmproduktion referieren möchtest. Dies ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes drehen in dieser Lesart und ich denke, es trifft zu, wenn ich annehme, dass diese Formulierung auch gegenwärtig als Gebrauchsregel taugt. Wenn das korrekt ist, dann hat sich die Bedeutung des Verbs drehen von den Ursprüngen der Filmproduktion bis in die heutige Zeit, in der ich sogar mit dem Mobiltelefon einen Film aufnehmen kann, nicht verändert. Es handelt sich hier also um eine Bedeutungskonstanz, auch wenn man annehmen kann, dass sich für drehen die Extension, also der Referenzbereich erweitert hat. 370 Da wir noch reproduzieren können, woher der Begriff drehen ursprünglich stammt, erscheint uns die heutige Verwendung dieses Verbs metaphorisch - und zwar im Vergleich des gegenwärtigen technischen Vorgangs mit dem heute nicht mehr gebräuchlichen Verfahren. Das Verb trägt also gegenwärtig eine metaphorische Bedeutung, wenn wir davon ausgehen, dass eine Metapher auf einer nicht-wörtlichen übertragenen Bedeutung beruht und dass zwischen der wörtlich bezeichneten Handlung (also dem Drehen eines Filmbandes in einer Kamera) und der übertragen gemeinten Handlung (der Filmproduktion per se) eine Beziehung der Ähnlichkeit besteht. Dies ist hier gegeben, so dass der Metaphernbegriff m. E. zutreffend ist. Das Interessante an diesem Phänomen ist nun der Umstand, dass die metaphorische Bedeutung nicht, wie sonst üblich, in einen Zusammenhang mit semantischem Wandel zu bringen ist, sondern dass ein Bedeutungswandel im Gegenteil gerade nicht stattgefunden hat. Die gegenwärtige metaphorische Bedeutung ist vielmehr ein Effekt einer kulturgeschichtlichen (hier: technologischen) Entwicklung. Für eine Reihe anderer Verben lässt sich dieselbe Entwicklung feststellen, z. B. für das Verb schießen im Zusammenhang mit Fotos, für schneiden in der Filmproduktion oder für das Verb anwerfen im Zusammenhang mit einem Motor. Auch in diesen Fällen ist die gegenwärtige Lesart durch technologischen Wandel metaphorisch geworden, ohne dass sich die Gebrauchsregeln und damit die Wortbedeutungen verändert hätten. Metaphorisierung ist in diesen Fällen kein Verfahren für semantischen Wandel, sondern ein Effekt der technologischen Entwicklung. Es ist also keine 369 Streng genommen ist es gar nicht das sich drehende Filmband selbst, das man als Film bezeichnen kann. Der eigentliche Film, auf dem die Bilder fotografisch festgehalten werden, ist eine dünne Schicht aus Zelluloid. Das Band, auf dem dieser Film aufliegt, ist vielmehr das Trägermedium, so dass man den Begriff Film metonymisch verwendet, wenn man damit das gesamte Band bezeichnet. Diesen Hinweis verdanke ich R UDI K ELLER . 370 Die vielfältigen Möglichkeiten der Produktion von Filmen und Videos und noch vielfältigeren technischen Möglichkeiten dazu legen diese Vermutung nahe. 204 Frage der Kopplung an eine bestimmte Tätigkeit, sondern die Kopplung an einen bestimmten sprachlichen Zweck und zudem eine bestimmte semantische Eignung, die einem sprachlichen Zeichen eine neue Bedeutung zuweisen kann. 5.1.3 Bedeutungswandel als Spiegel des Kulturwandels? - Ein Zwischenfazit Es darf also festgehalten werden, dass „nicht jeder Veränderung in der Welt eine Veränderung in der Sprache entspricht, noch jeder Veränderung in der Sprache eine Veränderung in der Welt entspricht“ 371 , wie R UDI K ELLER zutreffend feststellt. Insbesondere der erste Teilsatz der K EL- LER schen Aussage lässt sich über das zuvor Gesagte belegen: Trotz grundlegender (technologischer) Veränderungen in der Welt ist der Einfluss auf die Veränderungen in der Sprache (hier: auf die Wortbedeutungen bestimmter Verben) marginal. Auch wenn man den Einfluss diverser außersprachlicher Faktoren für den Bedeutungswandel durchaus anerkennen muss, kann man diesen jedoch keine unmittelbare Auswirkung zuschreiben: Die sozialen und historischen Fakten gehören, wie sprachliche Faktoren auch, zu den Faktoren, die zusammengenommen die Sprecher (oder einige Sprecher) einer Sprache dazu motivieren, ihre Redeweisen zu modifizieren, die Ausdruckspräferenzen zu verschieben. Sie sind sozusagen die ökologischen Bedingungen des Handelns. [...]; historische Beschreibungen stellen [...] mögliche Einflußfaktoren der kommunikativen Handlungsweise der Sprecher dar. Die Erklärung muß aber immer über die Handlungsweise der Individuen laufen. Es gibt gar keinen Weg von historischen [und soziokulturellen, S. B.] Tatsachen zu sprachlichen Tatsachen, der beanspruchen könnte, eine Erklärung zu sein. 372 Was sich bislang in diesem Kapitel ebenfalls gezeigt hat, ist der Befund, dass man für das Phänomen des Bedeutungswandels als Spezialfall sprachlichen Wandels zwingend das richtige Verhältnis von Sprache und Kultur anlegen muss: „Die Sprache ist [...] nicht einfach ein Spiegel der Kultur und ein Abbild derselben. Sie ist vielmehr ein Teil der Kultur. [...] Es gibt die Kultur, und die Sprache ist ein wesentlicher Teil davon“ 373 . So verstanden liegt es auf der Hand, dass Bedeutungswandel nicht in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang mit kulturellem Wandel gestellt werden darf, auch wenn es natürlich Wechselwirkungen gibt. Da aber Sprache nicht dazu dient, die Wirklichkeit abzubilden, ist auch die Bedeutung 371 K ELLER 1991a: 208 372 K ELLER 2003: 117 373 K ELLER 1991a: 209 205 eines Wortes nicht die Abbildung der außersprachlichen Realität, sondern die Regel des Wortgebrauchs, der von kulturellem Wandel entkoppelt sein kann und zweckrationalen Entscheidungen folgt; Bedeutungswandel ist nicht der Spiegel des Kulturwandels. Dass ich heute das evaluative Verb fressen auf Menschen beziehen kann, ist kein Resultat kulturellen Wandels. Ganz im Gegenteil: Es ist wohl eher anzunehmen, dass die Esskultur in Deutschland gegenwärtig gepflegter ist als zu jeder anderen Zeit. Und dass ich das Verb drehen im Bezug auf digitale Videoproduktionen verwenden kann, hat ebenso wenig mit kulturellen Veränderungen zu tun wie die Tatsache, dass köhlern seine Bedeutung nicht verändert hat, obwohl die durch das Verb denotierte Tätigkeit aus unserer Gesellschaft fast gänzlich verschwunden ist. Die Hypothese, dass sich aus Veränderungen der Sprache ein Schluss auf Veränderungen der Welt ergibt und auch der umgekehrte Gedanke entspringen einem naiven Sprachrealismus, der die kommunikativen Grundprinzipien außer Acht lässt und Wortbedeutung eng an die Abbildung von Wirklichkeit koppelt. Dass dies nicht korrekt ist, sondern dass Bedeutungswandel ein Phänomen ist, das bisweilen von der außersprachlichen Wirklichkeit völlig entkoppelt ist, soll ein Befund sein, der im Zentrum dieser Arbeit steht und sich - wie in Kapitel 2 gezeigt - bereits auf den Bedeutungsbegriff W ITTGENSTEIN s zurückführen lässt. Wir haben folglich erkannt, dass Veränderungen in der realen Welt nicht unmittelbar Einfluss auf die Sprache und somit auch nicht auf den Bedeutungswandel haben müssen. Dieser Umstand liegt darin begründet, dass Wortgebrauch und die Regel des Wortgebrauchs nicht ein und dasselbe sind. Ob ich ein Wort verwende oder nicht, hat nichts mit der Ausgestaltung der Gebrauchsregel zu tun. Wenn ich auf einen bestimmten Sachverhalt (ggfs. in einer ganz bestimmten Art und Weise, z. B. evaluativ) referieren möchte, verwende ich dazu ein Wort, das sich aufgrund seiner semantischen Struktur dazu eignet. Wenn es aufgrund kultureller Entwicklungen nicht mehr sinnvoll oder notwendig ist, auf eben diesen Sachverhalt (in unserem Fall eine bestimmte Tätigkeit) zu referieren, dann verwende ich das Wort nicht mehr. Ein Bedeutungswandel findet dabei nicht statt. Und auch wenn sich der Sachverhalt in der außersprachlichen Realität verändert (oder sogar verschwindet), muss das nichts an der Regel der Wortverwendung ändern, also an der Bedeutung eines Wortes. Es gibt somit neben Bedeutungswandel auch so etwas wie eine Bedeutungskonstanz bei gleichzeitiger Veränderung der außersprachlichen Wirklichkeit. Diese Vermutung ist ein wesentliches Ergebnis aus dem zuvor Gesagten und sie ist für die Semantikforschung nicht weniger interessant als die Aufdeckung semantischen Wandels selbst. Auch wenn es banal klingen mag: Nicht nur Bedeutungswandel, auch Kontinuität in der Verwendungsweise, also Bedeutungskonstanz, muss im Interesse der 206 historischen Semantik stehen und zweckrational begründet werden können. G ERD F RITZ konstatiert folglich zutreffend: Eine naheliegende Form der historischen Entwicklung wird in der historischen Semantik nur ganz am Rande behandelt, obwohl sie bei einer evolutionären Betrachtungsweise besonders interessant ist: Die Kontinuität von Verwendungsweisen. 374 So verstanden ist auch die Bedeutungskontinuität bei gleichzeitigem Wandel der außersprachlichen Wirklichkeit eine Diagnose, die an dieser Stelle wichtig ist. Die Festlegung, dass lexikalische Kontinuität nicht etwa das Wort selbst (in seiner semantischen Struktur), sondern allein die kommunikative Praxis besitzt, lässt sich über das zuvor Gesagte herleiten: 375 Durch Kontinuität der Verwendungsweise bleibt die Regel des Wortgebrauchs ohne Veränderungen erhalten. 5.2 Bedeutungswandel und Frequenz Auch wenn man den Wortgebrauch von der Gebrauchsregel trennen muss, gibt es m. E. dennoch einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen der Verwendung eines Wortes in der sprachlichen Praxis und den Veränderungen der Regel des Wortgebrauchs, also der Wortbedeutung, den ich im Folgenden diskutieren möchte. Gemeint ist mit Blick auf das Verbum das Verhältnis von der Verwendungshäufigkeit, also von der Verwendungsfrequenz eines Wortes und der Tendenz zu semantischem Wandel bzw. zu semantischer Kontinuität, das m. W. in den wenigsten Betrachtungen zum Bedeutungswandel eine angemessene Würdigung erfährt. Dass es hier eine enge Korrelation gibt, die sich anhand der Ergebnisse aus der bisherigen Analyse zur Verbsemantik nachweisen lässt, möchte ich im Weiteren mit Hilfe der bekannten Beispiele aufzeigen. Wenn man sich die Frage stellt, welche Wortbedeutungen sich wandeln und welche hingegen konstant bleiben, dann kann man intuitiv vermuten, dass Wörter mit hoher Verwendungsfrequenz eher stabil, Wörter mit geringer Verwendungsfrequenz dagegen anfälliger für Bedeutungswandel sind. Man könnte annehmen, dass Wörter, die man tagtäglich verwendet, eine konstante Bedeutung tragen und daher zu semantischem Wandel nicht taugen. Wenig frequentierte Wörter hingegen scheinen für den Wortschatz und damit für die kommunikative Praxis entbehrlicher und können daher auch eher für Bedeutungswandel herangezogen werden. Dieser vermeintlich logische Schluss erscheint auch aus dem Alltagswissen heraus plausibel: Einen Gegenstand, den ich 374 F RITZ 2006: 82. Hervorhebung im Original. 375 Vgl. F RITZ 2006: 83 207 nicht täglich verwenden muss, kann ich eher entbehren und leichter zweckentfremden als einen solchen, den ich ständig zum immer gleichen Zweck verwende. In der Übertragung auf das Phänomen Bedeutungswandel heißt das: Wenig frequentierte Wörter sind semantisch instabiler und sie sind daher das nötige Ausgangsmaterial für lexikalischen Wandel. Dieser Wirkungszusammenhang findet sich in dieser oder ähnlicher Formulierung bisweilen auch in der linguistischen Forschung. A UGUST D AUSES etwa stellt mit einem Blick auf sprachlichen Wandel fest: Auch sind solche Zeichen [Zeichen mit hoher Gebrauchsfrequenz, S. B.] weit fester im Gedächtnis verankert, als andere, die nur selten gebraucht werden, so daß man - unter sonst gleichen Bedingungen - erwarten kann, daß sie auch diachronisch stabiler sind. 376 Bei R UDI K ELLER können wir zum Thema Verwendungsfrequenz lesen: „Wörter, die selten verwendet werden, werden selten gelernt“ 377 . Und: „Kennt ein Hörer die Bedeutung eines Wortes nicht, so ist seine Chance verringert zu verstehen, was ein Sprecher mit einer Verwendung dieses Wortes meint“ 378 . Beide Annahmen, diejenige K ELLER s und auch die von D AUSES , sind m. E. korrekt: Wenn ein Wort häufig frequentiert wird, wird es auch eher gelernt und es ist fester im Gedächtnis verankert. Der Schluss, den D AU- SES jedoch aus dieser Erkenntnis zieht, ist hingegen falsch. In diachronischer Hinsicht sind hochfrequente Wörter anfälliger für Wandel, sowohl morphologisch als auch semantisch. Man kann sich dies anhand eines Vergleichs mit Alltagsgegenständen klar machen: Ein Gegenstand, den man täglich verwendet, weil er für die Verrichtung sehr allgemeiner Tätigkeiten taugt (z. B. eine Tasse oder ein Teller), lässt sich unter bestimmten Umständen eher zweckentfremden als ein Gegenstand, der nur sehr speziell und daher auch sehr selten verwendet wird. So kann ich eine Kaffeetasse oder einen Wasserkrug etwa auch dazu nutzen, darin Blumen, Stifte oder Gummibänder aufzubewahren, ich kann mit diesen Objekten Wasser zum Blumengießen transportieren, einen Ölwechsel durchführen und vieles mehr. Ein Schraubenschlüssel hingegen oder ein Wagenheber werden nur in speziellen Situationen benötigt und daher kaum für zweckfremde Tätigkeiten herangezogen. Obwohl sich ein Wagenheber auch dazu eignet, als Buchstütze verwendet zu werden, habe ich noch niemanden gesehen, der dieses Werkzeug in dieser Weise seinem Ursprungsgebrauch zweckentfremdet. 379 376 D AUSES 1990: 51 377 K ELLER 2003: 131 378 K ELLER 2003: 131 379 Diese Beispiele dienen lediglich zur bildhaften Darstellung an dieser Stelle und erheben nicht den Anspruch auf absolute Wahrheit. Dass sich auch Gegenstände 208 Die Vermutung, dass sich stark frequentierte Wörter deutlich besser für semantischen Wandel eignen als wenig gebräuchliche Wörter, lässt sich auch aus einer Feststellung ableiten, die G ERD F RITZ zur Frage der Kontinuität von Verwendungsweisen (also auch von Bedeutungen) von Wörtern trifft: „Eine [...] Bedingung [für die Kontinuität von Verwendungsweisen, S B.] ist die Kontinuität bestimmter kommunikativer Aufgaben“ 380 . Diese Aussage muss man noch präzisieren, um sie für unsere Fragestellung greifbarer zu machen: Wenn man als eine der wichtigsten kommunikativen Aufgaben die klare und eindeutige Referenz bzw. das Vermeiden von Missverständnissen anlegt, dann ist es m. E. plausibel, dass solche Wörter, die eine sehr spezielle Bedeutung tragen und daher wenig frequent verwendet werden, wenig Bedeutungswandel und damit eine hohe Bedeutungskontinuität aufweisen. Je spezieller ein Ausdruck ist, desto eindeutiger muss er sein, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Ein Verb etwa, das nur in einer ganz speziellen Lesart verwendet wird, die zudem weitgehend ungebräuchlich ist, trägt eine sehr starre Bedeutung, die sich nicht dazu eignet, auf einen anderen Sachverhalt angewendet zu werden. Auch diese Prämisse lässt sich aus einer Festlegung bei F RITZ schlussfolgern: „Bei Kommunikation [...] trägt [...] das Interesse an reibungsloser Verständigung zum Festhalten am herkömmlichen Gebrauch [und damit an der Bedeutung eines Wortes, S. B.] bei“ 381 . Daraus folgt: Wörter, die selten verwendet werden, eignen sich kommunikativ nicht dazu, im Zuge eines zweckrationalen sprachlichen Handelns semantisch umgeformt zu werden. Erstens sind sie per se schon schwerer zu verstehen und zweitens treten sie aufgrund ihrer geringen Gebräuchlichkeit oftmals nur in Spezialverwendungen auf. Für Spezialverwendungen haben wir weiter oben bereits festhalten können, dass solche Wörter sehr starre Bedeutungen besitzen. Für das Verb bohnern etwa konnten wir feststellen, dass es durch technologisch bedingten Wandel vom Normalzum Spezialfall gewandelt wurde, was mit abnehmender Frequenz der Verwendung zu einem Verblassen und später ggfs. zu einem Verschwinden der Bedeutung führen kann. In der Spezialverwendung, so wie sie gegenwärtig noch gebräuchlich ist, hat sich die Be- des Alltags nicht immer dazu eignen, zweckfremd verwendet zu werden, ist im Übrigen kein Widerspruch: Natürlich muss auch hier eine konkrete Eignungsfähigkeit für abweichenden Gebrauch gegeben sein, die von den spezifischen Eigenschaften des Objektes abhängig ist. Davon abgesehen halte ich es aber für zutreffend, dass man bei häufig verwendeten Gegenständen eher auf die Idee kommt, sie zweckfremd zu verwenden. Vermutlich werden Gegenstände auch gerade wegen ihrer großen Bandbreite an Nutzungsmöglichkeiten zu Alltagsgegenständen (und damit zu häufig verwendeten Objekten). In diesen Punkten gibt es deutliche Parallelen zum Wortgebrauch, wie sich weiter unten zeigen wird. 380 F RITZ 2006: 83 381 F RITZ 2006: 83 209 deutung dieses Verbs allerdings stabilisiert. Ein Bedeutungswandel ist deswegen nicht anzunehmen, weil das Verb bohnern seine Extension nicht erweitern wird: Kennt ein Sprecher schon heute die Bedeutung von bohnern nicht mehr (und ich gehe davon aus, dass vielen Sprechern diese Bedeutung bereits heute nicht mehr geläufig ist), dann wird er erst recht keine metaphorische oder assoziative Bedeutungsvariante dieses Verbs verstehen können. Kaum ein Sprecher wird es daher für sinnvoll halten, ein derart ungebräuchliches Verb in abweichender Weise zu verwenden. 382 Das pragmatische Schlussverfahren, das es mir überhaupt erst ermöglicht, eine innovative Wortverwendung als solche zu erkennen und vom Gesagten auf das Gemeinte zu schließen, wird bei wenig gebräuchlichen Wörtern nicht sehr fruchtbar sein. Das Resultat einer solchen innovativen Wortverwendung wäre dann bei Scheitern des Schlussverfahrens kein Bedeutungswandel durch kumulativen Wortgebrauch, es wäre eine unverständliche Wortverwendung, die zu keinem kommunikativen Ziel führen würde. Wenn man Kommunikation als zweckrationales Unterfangen definiert (vgl. Kapitel 2), dann ist eine abweichende Wortverwendung, die nicht erschlossen werden kann, kommunikativ nicht zweckmäßig. Da Bedeutungswandel nicht als ad hoc Metapher o. ä. ihren Ursprung nimmt, sondern vielmehr das Resultat eines kumulativen Verbreitungsprozesses ist, wie er in Kapitel 2 als invisible-hand-Prozess beschrieben wurde, ist das Verstehen einer innovativen oder abweichenden Bedeutungsvariante zwingend notwendig, damit sich diese Abweichung über die Zeit als semantischer Wandel manifestieren kann. Das Verstehen einer abweichenden Wortverwendung ist ergo die Grundlage für die Veränderung der Gebrauchsregel eines Wortes. Schwach frequentierte Wörter mit einer sehr speziellen Bedeutung (z. B. fachsprachliche Verben) sind aufgrund ihrer schlechten pragmatischen Nutzungsfähigkeit nicht dazu geeignet, über den invisible-hand-Prozess zu neuer Bedeutung zu gelangen, weil der Mechanismus der kumulativen Verbreitung in diesen Fällen nicht greifen kann. Dazu ein Beispiel: Wenn ich das Verb sintern, ein Verb, das ein spezielles Verfahren der Werkstoffherstellung, nämlich das Umformen durch Vermischen und thermisches Verbinden mehrerer chemischer Stoffe kennzeichnet, plötzlich von der Sphäre des Haptischen auf die Sphäre des Kognitiven übertragen will, weil ich der Meinung bin, 382 Weiter oben konnten wir für blochen und blocken feststellen, dass diese Verben aufgrund ihrer geringen Verwendungsfrequenz aus dem Wortschatz verschwunden sind. Ein Bedeutungswandel hat nicht stattgefunden. Für das Verb wichsen war dies hingegen möglich, da der Bedeutungswandel zu einer Zeit stattgefunden haben dürfte, in der wichsen als Ausdruck für Schuhpflege kein Spezialfall, sondern der Normalfall gewesen ist. 210 dass sich dieses Verb metaphorisch nutzen lässt, um auf kognitive Verstehensprozesse zu referieren, dann wird dieses Verb mit einiger Sicherheit keinen Kumulationsprozess durchlaufen. Zwar könnte ich das Verb tatsächlich in assoziativer Weise verwenden, um etwa damit auszudrücken, dass jemand in der Lage ist, viele Informationen zu sammeln, zu vermischen und daraus einen eigenen Schluss zu formulieren (ein kognitives Umformverfahren, wie auch das Sintern auf chemischphysikalischer Ebene eines ist). Die metaphorische, also die pragmatische Eignungsfähigkeit dieses Verbs ist aber durch seine Spezialverwendung und durch die damit verbundene Seltenheit im Verbwortschatz der meisten Menschen eingeschränkt (was in direkter Verbindung mit der Verwendungsfrequenz steht). Nur derjenige, der das Verb sintern in seiner eigentlichen Bedeutung kennt, würde auch die metaphorische Lesart verstehen. Und das sind nur sehr wenige Menschen. Der folgende Dialog könnte sich daher in dieser Form zwischen zwei Chemikern entwickeln, würde aber wohl kaum den Weg ins Sprachbewusstsein der meisten Sprecher finden: A: Hast Du schon eine Idee, wie wir das Problem lösen können? B: Nein, ich brauche noch mehr Informationen. Aber ich bin schon dabei, zu sintern. A: Wenn Du eine Lösung hast, kannst Du mir ja Bescheid geben. Die metaphorische Verwendung eines Verbs aus einer Fachsprache würde ich aus den zuvor skizzierten Gründen allerdings nicht als Bedeutungswandel definieren, sondern als abweichenden Sprachgebrauch innerhalb einer eng umgrenzten Gruppe von Sprachbenutzern. Daraus ergibt sich ein interessanter Schluss: Es kann neben lexikalisiertem Bedeutungswandel auch so etwas wie metaphorischen fachsprachlichen Wortgebrauch geben, der zwar auf den funktionalen Prinzipien des Bedeutungswandels beruht, sich aber lexikalisch nicht als solcher manifestiert, weil die Verwendungsfrequenz der Innovation zu gering ist. Verben können sich also zwar semantisch durchaus dazu eignen, auf der Gebrauchsregelebene ihre Parameterstruktur zu verändern (hier: durch Inkorporierung kognitiv-mentaler Parameter), wenn aber die gruppenübergreifende pragmatische Nutzungsfähigkeit (und auch Nutzungsnotwendigkeit) nicht vorhanden ist (und das ist in den Fällen geringer Verwendungsfrequenz der Fall), dann findet streng genommen auch kein semantischer Wandel statt. 211 Bedeutungswandel findet erst dann statt, wenn der differente Wortgebrauch durch Anpassung und Verbreitung zu einer (neuen) Regel des Wortgebrauchs wird - das passiert bei Verben in Spezialverwendung aufgrund geringer Frequenz eher selten. 383 Bedeutungswandel dürfte demnach viel eher bei denjenigen Wörtern vorzufinden sein, die mit einer hohen Frequenz verwendet werden, besonders dann, wenn sie sich im Umfeld bedeutungsgleicher oder zumindest bedeutungsähnlicher Wörter befinden. Der Grund dafür ist neben semantischer und pragmatischer Eignung auch ein eher sprachökonomischer bzw. systemrelevanter Antrieb: Je mehr Wörter es zum Ausdruck eines Sachverhalts gibt, desto eher ist eines der Wörter entbehrlich und kann in abweichender Art und Weise gebraucht werden. Bedeutungswandel ist letztlich dann ein Resultat dieser neuen Verwendung, wenn die neu inkorporierten Merkmale (oder Konnotationen) in die Gebrauchsregel Einzug halten. Es ist wohl plausibel anzunehmen, dass nur solche Wörter die Prämisse der Entbehrlichkeit erfüllen, die keine Spezialbedeutungen tragen und daher häufig verwendet werden. Solche Wörter befinden sich in einer Art Bedeutungsnetzwerk mit anderen, bedeutungsgleichen oder bedeutungsähnlichen Wörtern. Für das Verbum lässt sich dies anhand der bereits bekannten Beispiele evident nachvollziehen. Dass sich besonders solche Verben der haptischen Sphäre dazu eignen, semantisch umgeformt zu werden, die sehr alltägliche Handlungen beschreiben (z. B. begreifen, lesen, raffen und erfassen (physisch mental), ergreifen und packen (physisch psychisch) oder klauen), ist kein Zufall: All diese Verben, und ich gehe davon aus, dass diese Feststellung, wenn auch kein allgemeines Gesetz, dann doch zumindest eine starke Tendenz für den verbalen Bedeutungswandel darstellt, sind in ihrer ursprünglichen Lesart a) Verben der Bezeichnung alltäglicher Handlungen, also nicht speziell, b) Verben im Umfeld anderer, bedeutungsgleicher oder bedeutungsähnlicher Verben und damit sprachsystemrelevant entbehrlich und c) hochfrequent verwendet. 383 S TEPHEN U LLMANN schreibt: „Wenn man die Bedeutung als eine reziproke Beziehung zwischen Name und Sinn begreift, d a n n h a t m a n e s i m m e r d a n n m i t e i n e m B e d e u t u n g s w a n d e l z u t u n , w e n n s i c h e i n n e u e r N a m e m i t e i n e m n e u e n S i n n v e r b i n d e t u n d / o d e r e i n n e u e r S i n n m i t e i n e m n e u e n N a m e n “ (U LLMANN 1967/ 72: 159. Hervorhebung im Original). Dieses reziproke Verhältnis von Name und Sinn manifestiert sich als Bedeutung über die Regel des Wortgebrauchs und ist bestimmt von zweckrationalen Entscheidungen der Sprecher und der pragmatischen Eignungsfähigkeit des Wortes, die wiederum nicht unerheblich von der Frequenz der Wortverwendung abhängt. 212 Die Festlegung aus c) folgt logisch aus der Gegebenheit a), da ich davon ausgehe, dass Verben, die alltägliche Tätigkeiten denotieren, auch häufiger verwendet werden als solche, die nur in speziellen Kontexten verwendet werden können. Die Prämisse b) bringt eine Vermutung zum Ausdruck, die sich möglicherweise wie folgt belegen lässt: Zwar haben wir weiter oben in Kapitel 4 festgestellt, dass der Bedeutungswandel eines Verbs nicht an den Bedeutungswandel sinnverwandter Verben gekoppelt ist, es also keinen Klasseneffekt im Bezug auf die Ursprungswortklasse gibt. Es ist aber durchaus feststellbar, dass Verben sich besonders dann wandeln, wenn sie nicht allein eine Tätigkeit denotieren, sondern im Umfeld sinnverwandter Verben auftreten. Es lässt sich vermuten, dass dies einer Tendenz zur Vermeidung von Missverständnissen geschuldet ist: Wenn es zur Benennung einer Tätigkeit nur ein einziges Verb gibt, dann wäre die Gefahr des Missverständnisses hoch, wenn sich dieses Verb polysem ausdifferenzieren würde. Man wüsste u. U. nicht mehr genau, welche Tätigkeit mit diesem Verb zum Ausdruck gebracht wird, wenn der Kontext es nicht eindeutig genug verrät. Die Verbbedeutung wäre plötzlich nicht mehr eindeutig, sondern kontextabhängig. Befindet sich das Verb aber hingegen in einem Bedeutungsnetzwerk mit bedeutungsähnlichen Verben, kann es getrost zur Vermeidung von Missverständnissen in der Ursprungslesart vermieden werden und allein (oder häufiger) auf den neuen Sachverhalt bezogen werden. Die dadurch entstehende Leerstelle wird durch andere kollaterale Verben aus dem semantischen Netzwerk ausgefüllt. Im Gegensatz zu wenig verwendeten Verben ist die Wortbedeutung von hochfrequentierten Verben eher extensional offen und damit semantisch instabil. Das liegt m. E. daran, dass diese Verben in ihrer Ausgangsbedeutung eine größere Extension aufweisen. Diese Vermutung ist plausibel, wenn man das Verfahren der Bedeutungsspezialisierung als ein Hauptverfahren des semantischen Wandels bei Verben anlegt. Das Verb begreifen etwa besitzt in seiner Ursprungsbedeutung eine sehr breite Extension. Es ließ sich auf alle möglichen Dinge anwenden (Kartoffeln, Steine, Menschen, Hunde, usw.) und wird heute fast ausschließlich für die Referenz auf geistige Vorgänge (Gedanken) verwendet. Es kam im Zuge der Bedeutungsentwicklung bei diesem Verb zu einer Spezialisierung der Verbbedeutung und damit zu einer Verkleinerung der Extension (fast alle Gegenstände Gedanken). Die Ursprungsbedeutung dieses Verbs ist so zugänglich gewesen, dass eine neue, gänzlich abweichende metaphorische Referenz möglich wurde. Die Offenheit der Wortbedeutung hat dazu geführt, dass sich das Verb spezialisieren konnte. Dieser Prozess liegt dem Bedeutungswandel der meisten Verben zugrunde und es wäre eine interessante Frage, ob diese Verben für die Zukunft - da sie heute eine verkleinerte Extension besitzen und sich damit spezialisiert haben - eine 213 konstantere, also stabilere Wortbedeutung aufweisen. Dass dies nicht immer so sein muss, zeigt ein Beispiel weiter unten in Kapitel 7.1.1, bei dem sich im Zuge einer zirkulären Bedeutungsentwicklung die Bedeutung des Verbs (sich) vergehen zunächst erweitert und dann spezialisiert hat. Hier ist die ursprüngliche Wortbedeutung eher speziell (aber extensional offen) gewesen und dennoch hat Bedeutungswandel stattfinden können. Zwar gibt es auch den Weg der Bedeutungsgeneralisierung, im Zuge derer sich die Extension vergrößert und ein Verb eine allgemeinere Bedeutung annimmt, aber er dürfte im Vergleich eher selten beschritten werden. Das Verb raffen wäre hierfür exemplarisch, da es sich heute sowohl auf haptische (das ist der Ursprung) als auch auf kognitive Prozesse anwenden lässt. Aber auch hier gilt: Die Ursprungsbedeutung ist nicht sehr speziell gewesen, sondern eher offen. Das Verb ließ sich auf eine Vielzahl realer Objekte in der Welt anwenden, so dass die Übertragung auf geistig-abstrakte Entitäten (Gedanken und Wissensinhalte) problemlos möglich wurde. In der Folge ist dieses Verb heute polysem. Es gibt ein gemeinsames Kennzeichen für alle bislang genannten Fälle: Die Verwendungsfrequenz der Verben ist in der Ursprungsbedeutung hoch gewesen. 384 Schwach frequentierte Wörter hingegen müssten eine stabilere Wortbedeutung in diachroner Hinsicht aufweisen. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf die Beobachtungen stützen, die ich im Zuge der Analyse des Bedeutungswandels bei Verben gewonnen habe. Man darf also an dieser Stelle festhalten: Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von Bedeutungswandel und der Verwendungsfrequenz von Verben in der Ursprungsbedeutung: Je höher die Verwendungsfrequenz eines Verbs ist, desto eher ist eine semantische Umformung und damit Bedeutungswandel möglich. Wenig frequentierte Verben hingegen sind bedeutungsstabiler. Daraus folgt: Semantische Kontinuität und semantischer Wandel stehen in einem engen Verhältnis zur Frequenz der Wortverwendung. 384 Was im Übrigen nicht heißen muss, dass das Wort mit der neuen Wortbedeutung in der Folge ebenso hochfrequent verwendet wird. Es gibt also so etwas wie eine Frequenzschwelle für die Lexikalisierung semantischen Wandels nach oben, es gibt aber vermutlich keine Schwelle nach unten, ab der ein Verb seine Bedeutung verlieren würde. Will sagen: Die Bedeutung eines Verbs bleibt auch dann konstant, wenn eine bestimmte Frequenz unterschritten wird. Bedeutungskontinuität ist also nicht an eine bestimmte Verwendungsfrequenz nach unten geknüpft. Im Gegenteil: Bedeutungen bleiben mit abnehmender Verwendungsfrequenz konstanter, können aber durch Vergessen der Wortbedeutung verblassen. Eine Folge kann das vollständige Verschwinden aus dem (aktiven) Wortschatz der Sprachgemeinschaft sein. 214 In der Kombination mit anderen Prinzipien des semantischen Wandels bildet Frequenz also eine Grundlage für Bedeutungswandel bzw. Bedeutungskonstanz bei Verben und wirkt damit entweder motivierend oder hemmend auf semantische Veränderungen. 385 Im Bezug auf Motivation oder Hemmung semantischer Wandelprozesse bei Verben muss man noch beachten, dass sich die Bedeutung eines Verbs konstant halten kann und dass es dazu keiner bestimmten Verwendungsfrequenz bedarf. Zwar ist es wohl korrekt, dass mit steigender Frequenz auch die Möglichkeit der semantischen Umformung steigt, sie mit abnehmender Frequenz hingegen sinkt. Der Schluss, dass es aber einer bestimmten Verwendungsfrequenz bedarf, damit ein Verb seine Bedeutung behält, wäre unangemessen. Wenn ein Verb wie köhlern kaum noch oder gar nicht mehr verwendet wird, dann verliert es dadurch nicht zugleich seine lexikalische Bedeutung. Richtig ist aber: Es bedarf einer gewissen Frequenzschwelle, damit Bedeutungswandel stattfinden und lexikalisiert werden kann. 386 Bedeu- 385 Neben den weiter oben genannten Punkten a) bis c) sind es die allgemeinen Prämissen für semantischen Wandel, die für den Prozess des Bedeutungswandels natürlich ebenfalls erfüllt sein müssen. Dazu gehören insbesondere die semantische und pragmatische Eignung eines Verbs und die pragmatische Strategie bzw. die kommunikative Notwendigkeit (z. B. der Zweck des evaluativen Ausdrucks oder der expressiven Rede). Hohe Frequenz allein wirkt noch nicht per se beschleunigend auf den Wandelprozess, befördert wohl aber den Prozess, wenn er einmal begonnen hat. Nach einem semantischen Wandel spielt Frequenz für die Stabilität der neuen Verbbedeutung hingegen keine große Rolle mehr, wie wir in Abschnitt 5.1 gesehen haben: Auch gänzlich ungebräuchliche Verben behalten ihre Bedeutung bei. Für Bedeutungskontinuität bedarf es keiner bestimmten Verwendungsfrequenz, wohl aber für den Wandel. 386 In der Definition des Begriffs „Lexikalisierung“ folge ich der Einschätzung H ADU- MOD B UßMANN s, die darunter unter synchronischem Aspekt ganz allgemein die Aufnahme eines Wortes in den Wortbestand der Sprache versteht und unter diachronischem Gesichtspunkt Lexikalisierung als „Vorgang und Ergebnis der Demotivierung, d.h. Umwandlung einer mehrgliedrigen, analysierbaren Morphemfolge in eine lexikalische Einheit, deren Gesamtbedeutung nicht (mehr) aus der Bedeutung der einzelnen Bestandteile erschließbar ist“ (B UßMANN 2002: 405), definiert. So gesehen ist Lexikalisierung im Ergebnis nicht nur die Wortneubildung (z. B. chatten), sondern auch die Aufnahme neuer Bedeutungsvarianten im Zuge eines Bedeutungswandels in den Wortschatz. Verstanden als feste inhaltlich-begriffliche Bestandteile der Sprache (Lexeme) differenzieren sich bestehende lexikalische Einheiten neu aus und gelangen auf diesem Weg des Bedeutungswandels zu neuer lexikalischer Bedeutung. Es findet also eine Inventarisierung der neuen Bedeutung als Lexikoneintrag statt. Als Ergebnis eines Bedeutungswandels lässt sich die neue Bedeutung nicht mehr aus der ursprünglichen Bedeutung ableiten. Das Verb ausmachen in der kognitiv-mentalen Lesart (ausmachen=erkennen) lässt sich nicht mehr auf die Ursprungsbedeutung (etwas ernten) zurückführen und kann auch nicht aus der Bedeutung der Konstituenten (aus, machen) erschlossen werden. Lexikalischer 215 tungswandel ist also nicht nur an eine bestimmte hohe Frequenz der Ursprungsbedeutung gekoppelt, auch die frequente Verwendung der Bedeutungsinnovation ist in entscheidendem Maß für den Bedeutungswandel verantwortlich. P AUL G E VAUDAN beschreibt den Zusammenhang zwischen der Lexikalisierung einer neuen Bedeutung und der Frequenz wie folgt: Nehmen wir an, eine Innovation in der Rede findet zum Zeitpunkt t 0 statt. Ab dem Moment wird sie immer wieder in der Rede gebraucht (wiederholt), und zwar mit steigender Häufigkeit, bis zum Zeitpunkt t 1 , an dem die Häufigkeit ihres Gebrauchs eine Schwelle uberschreitet, ab der man sagen kann, dass sie lexikalisiert ist. Danach nimmt ihr Gebrauch noch eine Zeitlang zu, bis zum Zeitpunkt t 2 , an dem eine gewisse Konstanz der Gebrauchsfrequenz erreicht ist. 387 Die Lexikalisierung der neuen Wortbedeutung und das Verblassen der ursprünglichen Bedeutung befinden sich in einem Wechselspiel mit der Verwendungsfrequenz und stehen zudem in einem engen Verhältnis zueinander: Mit zunehmender Verwendungsfrequenz der neuen Bedeutungsvariante verblasst die alte Ursprungsbedeutung. Verblassen bedeutet aber nicht zugleich Schwund oder Verlust der ursprünglichen lexikalischen Bedeutung. Die Bedeutung eines Wortes ist durch die Regel und nicht die Frequenz des Gebrauchs bestimmt. Wenn ein Wort in einer bestimmten Lesart gar nicht mehr verwendet wird, wenn also die Lexikalisierungsschwelle, die wir bei G E VAUDAN finden, unterschritten wird, verliert das Wort noch lange nicht seine Bedeutung. Was stattdessen passiert, ist, dass das Wort aus dem Lexikon der Sprache verschwindet, das ist aber etwas gänzlich Anderes. So verstanden gibt es weder einen Bereich oberhalb einer festgelegten Frequenzschwelle für Bedeutungskontinuität noch eine solche Schwelle für Bedeutungsverlust nach unten. Auch wenn ein Wort die Frequenzschwelle, also nicht mehr häufig oder überhaupt nicht mehr verwendet wird, kann seine Bedeutung durchaus konstant bleiben. Ganz im Gegenteil: Je ungebräuchlicher ein Wort ist, desto konstanter ist seine Bedeutung, wie wir bereits für das Verb köhlern exemplarisch festgestellt haben. Daher ist es m. E. auch nicht plausibel, wenn G E VAUDAN behauptet: „Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich lexikalische Einheiten [also Wortbedeutungen, S. B.] erhalten - im Gegenteil: Sie müssen immer wieder gebraucht werden, sonst ,verfallen‘ sie“ 388 . Lexikalische Kontinuität ist nicht an eine konstante Verwendungsfrequenz, sondern an einen Schwund müsste demnach als Verlust der lexikalischen Bedeutung verstanden werden. 387 G E VAUDAN 2002: 50 388 G E VAUDAN 2002: 51. Hervorhebung durch den Verfasser. 216 konstanten Verwendungszweck gekoppelt, der sich in Form von Parametern in der Regel des Gebrauchs manifestiert. Ich halte es aus diesem Grund für nicht korrekt, wenn G E VAUDAN ein Frequenzmuster für lexikalische Kontinuität entwirft, das Kontinuität a) von einer bestimmten Verwendungsfrequenz abhängig macht und b) zudem impliziert, dass es eine Frequenzschwelle gibt, bei deren Unterschreiten die lexikalische Bedeutung verloren ginge („lexikalischer Schwund“). 389 Die Bedeutung eines Wortes verschwindet erst dann, wenn sich die Gebrauchsregel des Wortes verändert - aber dieser Prozess ist nicht in erster Linie von der Frequenz der Verwendung abhängig, sondern von den intentionalen Zielen der Sprecher und deren zweckrationaler (Neu-)Nutzung eines Wortes. Eine abnehmende Verwendungsfrequenz würde allein zu einem Vergessen der Wortbedeutung und einem Entfernen aus dem Lexikon führen, nicht aber zu einer Gebrauchsregeländerung und damit auch nicht zu einem Schwund oder Verlust der Gebrauchsregel (und damit der Wortbedeutung). 390 Nicht die Kopplung an eine bestimmte Verwendungsfrequenz, sondern die Kopplung an einen bestimmten kommunikativen Zweck zur Erfüllung einer pragmatischen Strategie ist die richtige Erklärung für semantischen Wandel und damit auch für lexikalischen Schwund oder lexikalische Kontinuität in diachroner Hinsicht. Als Resultat einer solchen intentional bestimmten Bedeutungsentwicklung können im Zuge der ansteigenden Wortverwendung der neuen Bedeutungsvariante nicht nur die alte, sondern auch die neue Bedeutung bzw. die neu inkorporierten Bedeutungsparameter verblassen oder durch andere Parameter überlagert werden. Expressive Verben sind von dieser Entwicklung ganz besonders betroffen, denn sie verlieren mit zunehmender Frequenz ihre Expressivität. War es zu Beginn des Bedeutungswandels das Ziel des Sprechers, sich mit einem Verb (z. B. ficken) besonders 389 Vgl. G E VAUDAN 2002: 51f. 390 Streng genommen sind auch das vollständige Verschwinden eines Wortes und das Vergessen der Wortbedeutung keine Prozesse, die zu einem Bedeutungsverlust führen würden. Ein Text mit gänzlich unbekannten sprachlichen Zeichen trägt noch immer einen Sinn und jedes lexikalische Zeichen darüber hinaus auch noch seine Bedeutung. Das Vergessen der Regel des Gebrauchs (also der Bedeutung) ändert noch nichts an der Regel selbst. Es ist aber eine sprachphilosophische Frage, inwieweit die Bedeutung eines Wortes auch dann noch von Bedeutung ist, wenn das Wort oder gar das gesamte Sprachsystem in Vergessenheit gerät. Kann man tatsächlich davon sprechen, dass für uns nicht mehr verständliche sprachliche (oder ikonische) Zeichen keine Bedeutung tragen, nur weil wir sie nicht mehr reproduzieren können? Wenn man diesen Gedanken weiterführt, gibt es keinen Schwund von lexikalischen Bedeutungen, sondern nur einen Wandel, der zugleich Kontinuität bedingt: Die Ursprungsbedeutungen können vergessen werden, sie bleiben aber in den ursprünglichen Kontexten erhalten. Diachroner Wandel impliziert also synchrone Stase der Wortbedeutung und damit synchrone Bedeutungskontinuität. 217 expressiv auszudrücken, verschwindet die expressive Komponente der Verbbedeutung mit zunehmender Verwendung. 391 Je häufiger ein expressiver Ausdruck verwendet wird und je mehr er darüber Einzug in die Alltagssprache hält, desto stärker nimmt die Expressivität ab. Die zweckrationale Entscheidung eines Sprechers, ein Verb mit dem Ziel der ausdrucksvollen Beeinflussung zu verwenden, war Ursache und Antrieb für den Bedeutungswandel, in dessen Prozess die Gebrauchsregel um soziale und/ oder evaluative Bedeutungsparameter bereichert wurde, die über das Wirken auf der Gebrauchsregelebene zur Expressivität eines Ausdrucks geführt haben. 392 In dem Moment aber, in dem das Wort seine Nische (z. B. als Kraftausdruck) verlässt und hochfrequent verwendet wird, werden die expressive Bedeutung und damit auch der kommunikative Nutzen obsolet. Darauf weisen auch K ELLER und K IRSCHBAUM hin, wenn sie mit Referenz auf N ERLICH / C LARK 393 pointiert feststellen: „Frequenz ist der natürliche Feind von Expressivität“ 394 . Auf der Ebene der Bedeutungsparameter geschieht dann das, was ich in Kapitel 4.2.2 als Semantische Exkorporierung bezeichnet habe: Die sozialen Parameter, die nach dem semantischen Wandel die Gebrauchsregel bestimmt haben, geraten funktional in den Hintergrund, wodurch wahrheitsfunktionale Parameter an Dominanz gewinnen. Für die Zukunft wäre dann denkbar, dass solche ehemals deskriptiven Verben, die im Zuge einer abweichenden Wortverwendung expressiv geworden sind und dabei soziale und/ oder evaluative Parameter involviert haben, wie- 391 In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass auch die ursprüngliche Bedeutungsvariante bei den expressiven Tabuwörtern vermutlich deutlich schneller verschwindet als bei anderen, eher neutralen Bedeutungsvarianten. Es ist z. B. anzunehmen, dass die ursprüngliche Lesart des Verbs wichsen mit dem Bedeutungswandel hin zu einem sexuellen Ausdruck sehr schnell verschwunden bzw. deren Bedeutung verblasst sein dürfte. Man vermeidet offenbar sehr rasch den Gebrauch eines Verbs, das eine Bedeutungsvariante als sexuelles Tabuwort oder expressiver Kraftausdruck erlangt hat. Hier wirkt der Bedeutungswandel a) beschleunigend im Bezug auf das Verblassen der Ursprungsbedeutung und b) durch Abnahme der Verwendungsfrequenz bedeutungsstabilisierend im Bezug auf die neue expressive Bedeutung. Diese Stabilität behält das Verb so lange, bis es durch Erhöhung der Frequenz die Expressivität verliert. Dies kann dann geschehen, wenn ein Verb die Struktur der sozialen Parameter verändert: Ein Verb eignet sich nur dann zum expressiven Ausdruck, wenn es innerhalb des sozialen Gefüges aus der Rolle fällt. Verwendet durch Auflockerung der sozialen Sprachnormen eine größere Anzahl Sprecher ein Tabuwort, verliert es seine soziale Markiertheit. Auf der Strukturebene der Gebrauchsregel lässt sich dies in Form von Parameterverschiebungen nachweisen. 392 Vgl. dazu Kapitel 3.2.5 393 Vgl. zur Frage des Verhältnisses von Frequenz und Expressivität N ERLICH / C LARK 1988 394 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 2 218 der als deskriptive Verben gedeutet werden. In diesem Fall würde eine Verschiebung innerhalb der in Kapitel 3.2 entworfenen Klassifizierung der Verben stattfinden. Halten wir also fest: Gerade expressive Verben zeigen die Tendenz, sich im Zuge frequenter Verwendung zu deskriptiven Verben zu entwickeln. Man muss also konstatieren: Die Klassifizierung der Verben ist in bestimmter Hinsicht offen und randbereichsunscharf. 5.2.1 Qualitativer vs. quantitativer Aspekt Eine eher quantitativ ausgerichtete Analyse zur Verwendungsfrequenz von Bedeutungsinnovationen und insbesondere zum Verhältnis von Lexikalisierungsgrad und Gebrauchshäufigkeit eines neuen Sinns finden wir ebenfalls bei P AUL G E VAUDAN . Dort können wir mit Blick auf den Zusammenhang zwischen der quantitativen Verbreitung einer neuen Bedeutung und den qualitativen semantischen Prinzipien für den zugrunde liegenden Bedeutungswandel lesen, dass die Verwendungsfrequenz einer Form [gemeint ist hier eine spezielle Bedeutungsvariante, S. B.] in einem bestimmten Sinn von null an stark zunimmt [...], zusätzlich aber gibt es den schöpferischen Akt, aus der die Verbindung eines Ausdrucks mit einem bestimmten Inhalt überhaupt hervorgeht - und dies ist ein qualitatives Phänomen, das zu Klassifizierungen einlädt, denn die Verwendung einer Form mit einem bestimmten Inhalt ist nicht vollig willkürlich, sondern hängt semantisch mit dem oder den bisherigen Inhalten dieses Ausdrucks zusammen. 395 Der Prozess des Bedeutungswandels ist also im Prinzip von zwei Faktoren abhängig, die zueinander in einer Wechselbeziehung stehen: von der semantischen Umformung (als qualitativer und intentionaler Akt) auf der einen Seite und von der lexikalischen Verbreitung (als quantitativ messbarer Prozess) auf der anderen Seite. Diese Erkenntnis ist recht banal, aber zutreffend: Wenn ein Wort sich qualitativ dazu eignet, semantisch umgeformt zu werden, dann entsteht Bedeutungswandel in dem Moment, in dem eine neue Bedeutungsvariante durch den Akt der schöpferischen Umformung in die Welt kommt und wenn diese neue Bedeutung zugleich über einen bestimmten quantitativen Punkt, also über eine bestimmte Lexikalisierungsschwelle hinaus, verwendet wird. Wird die neue Bedeutungsvariante dagegen nicht häufig genug verwendet, gelangt sie nicht in das Sprachbewusstsein und wird entsprechend nicht lexikalisiert. Dieser Zusammenhang ist ohne eine Ergänzung, die sich aus dem zuvor Gesagten ergibt, allerdings nicht vollständig. Offen bleibt hier nämlich, welchen Zusammenhang es zwischen der qualitativen Neuschöp- 395 G E VAUDAN 2002: 12 219 fung und der Verwendungsfrequenz der Ursprungsbedeutung gibt, also inwieweit auch hier Wechselbeziehungen bestehen. Die weiter oben skizzierten systemrelevanten Wechselbeziehungen zwischen a) hoher Frequenz der Verwendung der Ursprungsbedeutung und b) der pragmatischen Eignung eines Wortes zur semantischen Umformung aufgrund semantischer Merkmale und bestehender Bedeutungsparameter sowie c) der damit verbundenen Möglichkeit der Etablierung der Bedeutungsinnovation im Sprachsystem müsste man hier zwingend noch ergänzend hinzufügen. Das von G E VAUDAN erkannte qualitative Phänomen, das er als den schöpferischen Akt bezeichnet, ist ohne den quantitativen Aspekt der Verwendungsfrequenz der Ursprungsbedeutung nicht dazu geeignet, Bedeutungswandel zu erklären. Der rhetorische Akt der innovativen Bedeutungsverwendung (z. B. durch Metaphorisierung) ist für den Bedeutungswandel, wie wir anhand des Verbs sintern feststellen konnten, zwar notwendig, aber allein nicht hinreichend. Hier bedarf es zusätzlich einer gewissen Verbreitung und Frequenz sowohl der Ursprungsals auch der Zielbedeutung, wobei sich die Zielbedeutung vermutlich nur dann überhaupt etablieren wird, wenn die Ursprungsbedeutung mit einer gewissen Häufigkeit verwendet wurde. Auch dieser Zusammenhang ließ sich weiter oben anhand des Verbs sintern belegen. Derselbe Schluss gilt aber auch in der umgekehrten Richtung: Allein eine hohe Verwendungsfrequenz des Wortes in seiner Ursprungsbedeutung ist keine hinreichende Bedingung für semantischen Wandel. Es ist aber anzunehmen, dass diese Bedingung in den allermeisten Fällen zumindest notwendig ist. Die qualitativen Aspekte, zu denen neben einer grundlegenden semantischen Eignung des Ausgangsbegriffs (z. B. durch eine besondere Bildhaftigkeit des Ausdrucks oder durch bestimmte semantische Merkmale) auch die pragmatischen Erwägungen des Sprechers, wie etwa das Streben nach Expressivität oder Evaluation im Ausdruck, zählen, sind dann sowohl einzeln als auch in der Summe notwendig und mit der Frequenz zusammen gemeinsam hinreichend für Bedeutungswandel. 5.3 Kulturelle und kommunikative Prinzipien des Bedeutungswandels - ein Fazit In diesem Kapitel stand die Frage im Vordergrund, in wie weit sozial, kulturell oder kommunikativ determinierte Prinzipien den Bedeutungswandel im Allgemeinen und im Speziellen den der Verben beeinflussen 220 können und welche Wechselwirkungen hier nachzuweisen sind. Dabei ging ich von einer Behauptung aus, die in zahlreichen Untersuchungen zu semantischem Wandel zu finden ist: Bedeutungswandel wird dort als ein Spiegel des Kulturwandels begriffen und bei Verben an die kulturell oder sozial bedingten Veränderungen der Tätigkeiten und Handlungen in der außersprachlichen Welt geknüpft. Für die meisten der Verben, die wir aus dem Korpus gewonnen haben und die sich als Beispiele durch diese Arbeit ziehen, konnte festgestellt werden, dass sich ein (vermeintlich logischer) Schluss, der von den kulturellen Veränderungen in der Sprachgemeinschaft zu Veränderungen der Verbbedeutungen führt, als nicht zutreffend erweist. So ließ sich anhand von Beispielen nachweisen, dass insbesondere technische Innovation und kultureller Fortschritt als weder notwendig noch hinreichend für den Wandel von Bedeutungen im Verbwortschatz einzustufen sind. Die Verben drehen, schneiden, schießen (Filme und Fotos), sowie anrufen, köhlern, bohnern und wichsen haben hier exemplarisch gezeigt, dass 1. technische Neuerungen nicht in jedem Fall zu semantischem Wandel führen und 2. der Schwund von Tätigkeiten ebenso wenig dazu beiträgt, dass sich Wortbedeutungen verändern. Der Wandel von Verbbedeutungen ist stattdessen ein Phänomen, das sich über die intentionalen Ziele der Sprecher manifestiert und nicht als eine direkte Folge außersprachlicher Veränderungen der Welt verstanden werden darf, auch wenn Wechselwirkungen zwischen der kulturellen Entwicklung der Sprachgemeinschaft und den Bedeutungen von Wörtern durchaus gegeben sein können. Von einem allgemeinen Schluss von einer kulturellen Ursache auf eine sprachlich-semantische Wirkung möchte ich aber aufgrund der Befunde meiner Analyse Abstand nehmen. In diesem Zusammenhang zeigte sich in diesem Kapitel einmal mehr, dass man für das Verhältnis von Bedeutung und außersprachlicher Realität kein reines Abbildverhältnis anlegen darf, sondern dass diese beiden Sphären über den Aspekt des absichtsvollen Wortgebrauchs miteinander verbunden sind: Um eine Aussage über die außersprachliche Welt zu machen, bediene ich mich als Sprecher sprachlicher Zeichen, ohne dass die Zeichen an die Dinge der Welt unmittelbar gekoppelt sind. Ein besonderes Phänomen der Bedeutungsentwicklung von bestimmten Verben konnte anhand des Verbs drehen aufgezeigt werden: Eine ehemals wahrheitsfunktionale Bedeutung kann im Zuge der kulturellen Entwicklung der denotierten Tätigkeit zu einer metaphorisch interpretierten Lesart in der Gegenwart führen. Diesen Prozess könnte man als Scheinmetaphorisierung bezeichnen, da der metaphorischen Wortbedeutung in der Ausgangslesart kein assoziatives Verfahren zugrunde gelegen 221 hat. Die metaphorische Lesart entsteht in solchen Fällen als ein Effekt einer kulturgeschichtlichen (hier: technologischen) Entwicklung und nicht als Folge eines zweckrationalen Kommunikationsprinzips. Die Analyse hat zudem ein wesentliches Prinzip des semantischen Wandels bei Verben ans Licht gebracht, das etwas mit dem Referenzbereich von Verben zu tun hat. So konnte nachgewiesen werden, dass Verben mit einer Spezialbedeutung deutlich stabilere Gebrauchsregeln im Bezug auf semantischen Wandel aufweisen. Die Ursache dafür lässt sich aus den allgemeinen Kommunikationsmaximen ableiten: Ein Verb, das nur in einer sehr speziellen Bedeutung verwendet wird, ist nicht dazu geeignet, auf einen anderen Sachverhalt umgeformt zu werden, da man es nicht verstehen würde. Verben hingegen, die nicht den Spezial-, sondern den Normalfall einer Tätigkeit oder Handlung markieren, besitzen Bedeutungen, die aufgrund ihrer hohen Verbreitung (und damit ihres hohen Verstehensgrades) eher zu semantischer Umformung taugen. Zudem befinden sie sich oftmals in einer Art Netzwerk mit anderen bedeutungsgleichen Verben (Synonymienetzwerk) und sind daher für das Sprachsystem aus semantischer Sicht entbehrlich; sie hinterlassen keine ungefüllten Leerstellen. Dieses Prinzip scheint unmittelbar an die Verwendungsfrequenz der Verben gekoppelt zu sein, wie ich in Abschnitt 5.2 nachweisen konnte. Dort hat sich gezeigt, dass eine hohe Verwendungsfrequenz eines Verbs unter bestimmten Voraussetzungen (es muss zudem eine pragmatische Nutzungsfähigkeit gegeben sein) zu Bedeutungswandel beiträgt, wogegen sich eine geringe Gebrauchsfrequenz als bedeutungsstabilisierend erwiesen hat. Der Faktor Verwendungsfrequenz ist somit ein wichtiger kommunikativer Parameter und sollte m. E. aus der Erklärung semantischen Wandels nicht ausgeklammert werden. Insgesamt gilt für den Zusammenhang zwischen Bedeutungswandel und Kulturwandel, dass eine pauschale Festlegung, dass der Wandel auf der einen Seite den Wandel auf der anderen Seite bedingt, eine Übergeneralisierung darstellen würde. Ich halte es daher mit R UDI K ELLER , der feststellt: „Ob ein signifikanter Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache besteht und wenn ja, welcher, muß von Fall zu Fall herausgefunden werden“ 396 . Für den Aspekt der Verwendungsfrequenz als kommunikatives und damit kulturelles Phänomen kann man festhalten, dass es hier tatsächlich einen signifikanten Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel gibt, den ich weiter oben nachgezeichnet habe. Für andere Phänomene müsste man eine differenziertere Betrachtung anstellen, die den jeweiligen Einzelfall berücksichtigt. Für den Zusammenhang zwischen Kulturwandel und verbalem Bedeutungswandel als ein Ursache- 396 K ELLER 1991a: 209f. 222 Wirkungs-Prinzip hingegen folge ich K ELLER uneingeschränkt, wenn er schreibt: „Es wäre irreführend, mit einer monotonen Relation zu rechnen, etwa der Spiegelung“ 397 . 397 K ELLER 1991a: 210 223 6. Verfahren des Bedeutungswandels bei Verben Dem in Kapitel 5.2.1 angerissenen qualitativen Aspekt des Bedeutungswandels, also dem „schöpferischen Akt“, wie ihn P AUL G E VAUDAN ein wenig poetisch bezeichnet hat, möchte ich mich im Folgenden näher zuwenden und die semantischen Verfahren aufdecken, die beim verbalen Bedeutungswandel eine besondere Rolle spielen. Zugleich soll die Frage beantwortet werden, welche Besonderheiten im Bezug auf die semantischen Verfahren feststellbar sind, wenn man sie mit denjenigen vergleicht, die man bei anderen Wortarten vorfindet. Da uns als Vergleichsobjekte die gut untersuchten Adjektive durch die strukturierte Arbeit K ELLER s und K IRSCHBAUM s zur Verfügung stehen, werde ich mich im Folgenden darauf beziehen und überprüfen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Abgrenzung zu den Adjektiven zu finden sind. Besonders das rhetorische Verfahren der Metaphorisierung und der bei Adjektiven eng daran gekoppelte Aspekt der Evaluation werden im unmittelbaren Vergleich der beiden Wortarten im Vordergrund stehen und neue Befunde für den verbalen Bedeutungswandel ans Licht bringen (Kapitel 6.2.1.1). Zuvor möchte ich aber in einem ersten Schritt die semantischen Verfahren im Allgemeinen kurz vorstellen und ihre jeweilige Bewandtnis für den Bedeutungswandel im Allgemeinen skizzieren. 398 Dies ist nicht nur an dieser Stelle sinnvoll, es ist auch ein notwendiges Unterfangen: Die Zuordnung zu den Verfahren des Bedeutungswandels ist nämlich gar nicht so leicht, wie man annehmen könnte. Daher stelle ich hier eine erste Behauptung auf: Die meisten der traditionell als semantische Verfahren gekennzeichneten Typen des Bedeutungswandels sind streng genommen keine Verfahren, sondern semantische Effekte. Um dies zu verdeutlichen und um zu klären, wovon wir überhaupt sprechen, wenn wir Verfahren des Bedeutungswandels aufdecken wollen, ist eine kurze theoretische Auseinandersetzung mit den traditionellen semantischen Verfahren im Folgenden kein reiner Selbstzweck oder unnötiger Ballast, der diese Arbeit belasten würde; sie dient uns vielmehr dazu, mit angemessenen Begriffen zu operieren, wenn es in der Folge um 398 Für eine umfassende Darstellung der semantischen Verfahren bzw. der traditionellen Typologien des Bedeutungswandels verweise ich an dieser Stelle auf U LLMANN 1967/ 72 und U LLMANN 1973 sowie in erster Linie auf B LANK 1997: 157ff. und G RZEGA 2004: 63ff. 224 die wichtige Frage geht, wie genau sich semantische Verfahren anhand des Verbwortschatzes nachweisen lassen und welche Wirkung sie zeigen. 6.1 Semantische Verfahren - eine Begriffsbestimmung Ein semantisches Verfahren - was ist das? Semantische Verfahren werden allgemein als diejenigen sprachlichen Mittel bezeichnet, „mit denen Sprecher ihre Intentionen in der alltäglichen Kommunikation umzusetzen versuchen und die als Folge einen Bedeutungswandel zeitigen können“ 399 . Die Einschränkung, dass ein Bedeutungswandel aus der Anwendung eines semantischen Verfahrens folgen kann, aber nicht zwingend folgen muss, die K ELLER und K IRSCHBAUM in ihrer Definition vornehmen, ist von entscheidender Bedeutung: Weiter oben in Kapitel 5 konnten wir feststellen, dass Metaphorisierung (als ein wichtiges semantisches Verfahren) bisweilen nur ein makroskopischer Effekt einer technologischen Veränderung sein kann, der unabhängig von Bedeutungswandel zu begreifen ist und der gänzlich unmotiviert zustande kommt. Daneben wird nicht jeder innovative Wortgebrauch, der einem semantischen Verfahren folgt, konventionalisiert und führt damit nicht zwingend zu semantischem Wandel. A NDREAS B LANK definiert semantische Verfahren als sprachliche Realisierung von klassischen psychologischen Assoziationsmustern 400 , wobei er - wie wir weiter unten anhand der Bedeutungserweiterung und Bedeutungsverengung sehen werden - zu Recht bemerkt, dass „es keine 1: 1- Entsprechung zwischen einem Assoziationsmuster und einem bestimmten sprachlichen Verfahren gibt“ 401 . Bei B LANK wird der wesentliche Aspekt des kommunikativen Zwecks, den wir bei K ELLER / K IRSCHBAUM 399 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 98 400 B LANK (B LANK 1997: 133ff.) unterscheidet auf der Grundlage der drei Assoziationsprinzipien i. Similarität, ii. Kontiguität und iii. Kontrast insgesamt 12 Typen des Bedeutungswandels: 1. Metapher, 2. Metonymie, 3. Ellipse, 4. Volksetymologie, 5. Bedeutungserweiterung, 6. Bedeutungsverengung, 7. Kohyponymische Übertragung, 8. Antiphrasis, 9. Auto-Antonymie, 10. Auto-Konverse, 11. Bedeutungsverbesserung und Bedeutungsverschlechterung und 12. Bedeutungsabschwächung und Bedeutungsverstärkung, wobei B LANK die Typen 11 und 12 aufgrund ihrer sehr evaluativen Konnotation für problematisch hält. Im Folgenden werden uns nur diejenigen Typen beschäftigen, die sich in besonderer Weise im Verbwortschatz wieder finden. Weiter unten werde ich zeigen, dass man bei den Verfahren des Bedeutungswandels streng zwischen den eigentlichen schöpferischen Verfahren und den Effekten eines Bedeutungswandels unterscheiden muss. Insbesondere die Typen 5 und 6 sind weniger Verfahren als semantische Effekte. 401 B LANK 1997: 156 225 finden, zwar nicht explizit erwähnt, aber er kann aus folgender Bemerkung herausgelesen werden: Bei den psychologischen Assoziationen und den korrespondierenden sprachlichen Verfahren handelt es sich [...] um zwei unterschiedliche Ebenen der Abstraktion: Im einen Fall geht es um die dem Bedeutungswandel zugrundeliegenden psychologischen Assoziationsmöglichkeiten [...] zwischen Zeichen [...] und [...] Designaten. Im anderen Fall geht es um die daraus resultierenden konkreten sprachlichen Verfahren: ,Similarität der Designate’ ist also nicht einfach ,Metapher’, sie wird durch das sprachliche Verfahren der Metapher als semantische Innovation realisiert und damit erst ,zur Sprache gebracht’. 402 Man könnte hinzufügen: Das „zur Sprache bringen“ ist kein unmotivierter Prozess, sondern die Verwirklichung einer kommunikativen Intention mit Hilfe rhetorischer Verfahren, die auf Assoziationsmöglichkeiten und assoziativen Mustern basieren. Die Frage nach den möglichen semantischen Verfahren, die einen Bedeutungswandel beflügeln können, ist nicht neu und sie ist bis in die Gegenwart hinein immer Anlass für allerlei Klassifikationsversuche gewesen und im Ergebnis bis heute geblieben. Am ehesten greifbar erscheint mir eine Einteilung, die nach logisch-rhetorischen Gesichtspunkten getroffen wird, weil sie a) die Frage beantwortet, welche Veränderungen, die intentional bestimmt sind, auf der Ebene der Bedeutung stattgefunden haben und weil sich b) dabei ein direkter Zusammenhang zwischen der Ursprungs- und der Zielbedeutung ergibt. Zudem scheint mir eine Taxonomie, die diesen Kriterien folgt, auch in der historischen Semantik die am kontinuierlichsten vertretene Klassifizierung zu sein; in ihrem (rhetorischen) Kern lässt sie sich schon auf Aristoteles’ Analyse der Metapher zurückführen und in vielen Modifikationen findet sie bis heute Anwendung. 403 Bei S TEPHEN U LLMANN finden wir eine solche logischrhetorische Einteilung, die sich aus dem reziproken Verhältnis der Zielzur Ausgangsbedeutung ergibt. U LLMANN schreibt mit einem eher quantitativen Blickwinkel: Für das logische Verhältnis der neu entstandenen Bedeutung zur älteren gibt es nur drei Möglichkeiten: Die neue Bedeutung kann enger, weiter oder mit der alten umfanggleich sein. Bei einer Verengung wird die Bedeutung naturgemäß präziser und inhaltsreicher (Spezialisierung), während eine Erweiterung notwendig mit Bedeutungsbeschränkung verbunden ist. 404 402 B LANK 1997: 156. Hervorhebung durch den Verfasser. 403 Vgl. U LLMANN 1967/ 72: 188ff. 404 U LLMANN 1967/ 72: 189 226 Aus dieser Festlegung ergeben sich bei U LLMANN drei bis heute etablierte Kategorien, mit denen wir an einigen Stellen in dieser Arbeit bereits in Berührung gekommen sind, weil sie den dort beschriebenen Wandelphänomen zugrunde lagen. Zudem entsprechen sie im Wesentlichen auch den bei B LANK zu findenden relevanten Assoziationsmöglichkeiten, auch wenn B LANK die sprachlichen Verfahren, die sich daraus ergeben, noch weiter differenziert. 405 Als logisch-rhetorische Kategorien finden sich bei U LLMANN : 1. Bedeutungsverengung 2. Bedeutungserweiterung und 3. Bedeutungsübertragung. Inwieweit sind diese Kategorien als semantische Verfahren brauchbar, wenn wir die weiter oben zitierte Definition G E VAUDAN s („schöpferischer Akt“) und diejenige K ELLER s und K IRSCHBAUM s (Sprachliche Mittel zum Ausdruck von Intentionen) anlegen? Taugen diese U LLMANN schen Begriffe, um den qualitativen Akt des Bedeutungswandels greifbar zu machen? 406 Oder muss man hier präziser differenzieren und zwischen den 405 Vgl. B LANK 1997: 146ff. 406 Ich lasse im Folgenden bewusst diejenigen ,Verfahren’ außer Acht, die in meinen Augen weder quantitativ noch qualitativ einzustufen sind, sondern in erster Linie als bewertend bezeichnet werden müssen. Gemeint sind die beiden Kategorien Bedeutungsverschlechterung und Bedeutungsverbesserung. Eine Betrachtung, die nur von evaluativen Kriterien ausgeht, kann für die Erklärung semantischen Wandels nicht viel hergeben, auch wenn pejorative Bedeutungsentwicklungen bisweilen auch für das Verbum feststellbar sind. So kann man etwa argumentieren, dass das Verb fressen ebenso wie das Verb klauen in seiner Bedeutungsgeschichte eine pejorative Entwicklung verzeichnet. Diese Entwicklung dürfte aber nicht beabsichtigt gewesen sein: Nicht die Verschlechterung der Wortbedeutung stand im Vordergrund, sondern der expressiv-evaluative Ausdruck, aus dem die Pejoration folgte. Ich möchte daher der Einordnung U LLMANN s folgen und diese vermeintlichen Verfahren, da sie keine sprachlichen Mittel zum Ausdruck einer Intention sind, eher den makrostrukturellen Folgen eines Bedeutungswandels zuschreiben (vgl. U LLMANN 1973: 290ff.). Genauer: Die Verschlechterung oder Verbesserung der Wortbedeutung ist in aller Regel kein intendiertes kommunikatives Ziel des Sprechers und beide Kategorien stellen im Vergleich zur Metapher etwa auch keinen kommunikativrhetorischen Akt dar. Im Gegensatz zu den beiden Kategorien Bedeutungsverengung und Bedeutungserweiterung sind diese bewertenden Kategorien zudem auch nicht auf der Ebene der Effekte angesiedelt. Hier müsste man differenzieren: Unter einem semantischen Effekt verstehe ich im Gegensatz zur (makrostrukturellen) Folge ein Prinzip, das sich direkt auf der Strukturebene der Wortbedeutung als messbare, also objektive Größe manifestiert. Diese Möglichkeit der quantitativen Messbarkeit ist weder bei der Bedeutungsverschlechterung noch bei der Bedeutungsverbesserung gegeben (auch wenn U LLMANN (1972: 285ff.) die Bedeutungsverengung und die Bedeutungserweiterung ebenfalls unter die Folgen des Bedeutungswandels subsumiert, was ich für zu wenig differenziert halte). 227 eigentlichen Verfahren und den daraus resultierenden Effekten unterscheiden? Für die ersten beiden Kategorien möglicher semantischer Verfahren, die sich auf die quantitative reziproke Veränderung des Umfangs von Intension und Extension beziehen, möchte ich einer Argumentation K EL- LER s und K IRSCHBAUM s folgen, die der Meinung sind, dass a) die Termini ,Bedeutungsverengung’ und ,Bedeutungserweiterung’ nicht unabhängig von klassenlogischen Fragestellungen verwendet werden können und zudem b) eine unzulässige Gleichsetzung von Bedeutung und Extension evozieren. 407 Auch B LANK kritisiert, dass „die[se] Termini selbst eigentlich irreführend“ 408 sind und dass man streng genommen die Extension nicht mit der Bedeutung, sondern vielmehr mit dem Bezeichnungsrahmen gleichsetzen muss: Mit ,Bedeutungserweiterung’ ist [...] eine Erweiterung der Extension, des Bezeichnungsvermögens verbunden, während das Semem um mindestens ein distinktives Merkmal reduziert wird, der intensionale Gehalt nimmt ab [...]. Umgekehrt kommt bei der ,Bedeutungsverengung’ mindestens ein Merkmal hinzu, dafür wird der Bezeichnungsrahmen reduziert [...]. Man müßte also logischerweise von ,Bezeichnungserweiterung’ und ,Bezeichnungsverengung’ sprechen oder - um die Angelegenheit vollends zu verwirren - ,Bedeutungsverengung’ anstelle von ,Bedeutungserweiterung’ verwenden und umgekehrt! 409 Besser ist es daher, in diesen Fällen von Bedeutungsdifferenzierung (oder Bedeutungsspezialisierung) und von Bedeutungsgeneralisierung zu sprechen, da diese Begriffe rein qualitative Kategorien bilden und sich entsprechend nicht in erster Linie auf die Menge der semantischen Merkmale oder die Größe der Extension stützen. Der Terminus ,Bedeutungsverengung’ ist ebenso wie der Begriff ,Bedeutungserweiterung’ eine rein quantitative Messgröße im Hinblick auf Intension und Extension. Für Differenzierung und Generalisierung bietet es sich an, von Typen der Bedeutungsverschiebung zu sprechen, die sich als eine Spezialisierung bzw. als eine Generalisierung der Wortbedeutung manifestieren. Für die Bedeutungsdifferenzierung schreibt S EBASTIAN L ÖBNER : „Differenzierung lässt sich allgemein als Bedeutungsverschiebung definieren, deren Resultat ein Spezialfall der ursprünglichen Bedeutung ist“ 410 . Wenn man diese Definition erweitert und auch auf den gegenteiligen Fall der Bedeutungsverschiebung anlegt, dann kann man festhalten, dass Bedeutungsgeneralisierung dazu führt, dass 407 Vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 15 408 B LANK 1997: 192 409 B LANK 1997: 192. Hervorhebungen im Original. 410 L ÖBNER 2003: 71 228 das Resultat der so verstandenen Bedeutungsverschiebung ein erweiterter Normalfall oder ein Allgemeinfall der ursprünglichen Bedeutung ist. Generalisierung von Wortbedeutungen führt also zu einer allgemeineren Bedeutung im Hinblick auf die Ausgangsbedeutung, Differenzierung dagegen zu einer spezielleren Wortbedeutung. Differenzierung und Generalisierung sind in dieser Sichtweise keine extensionalen Beschreibungen mehr, sondern beziehen sich allein auf die veränderte Wortbedeutung. Man kann auch sagen: Die beiden Begriffe bezeichnen das qualitative Resultat eines Bedeutungswandels. Wenn wir also erkennen, dass Differenzierung und Generalisierung zu einer Spezialisierung bzw. Verallgemeinerung von Wortbedeutungen führen, dürfen wir dann für diese Fälle von semantischen Verfahren im strengen Sinn sprechen? Sind diese beiden Kategorien tatsächlich schöpferische Akte? Oder ist die Differenzierung nicht ebenso wie die Generalisierung der Wortbedeutung vielmehr ein semantischer Effekt? Ich halte es grundsätzlich für notwendig, zwischen dem semantischen Verfahren auf der einen Seite und dem Effekt des semantischen Verfahrens auf der anderen Seite genau zu unterscheiden. Das Verfahren selbst ist ein Prozess, in dem sich pragmatische Strategien der Sprecher widerspiegeln. Der semantische Effekt hingegen ist die quantitativ messbare Größe bezogen auf Intension und Extension. Bei der Bedeutungsverengung verkleinert sich die Extension, bei der Bedeutungserweiterung ist es umgekehrt. Im einen Fall spezialisiert sich dabei die Wortbedeutung, im anderen wird sie allgemeiner (semantischer Effekt). Da man Extension nicht mit Bedeutung gleichsetzen darf, ist eine Verkleinerung oder Vergrößerung der Extension aber kein Zeichen für Bedeutungswandel und zudem für diesen Prozess weder notwendig noch hinreichend: Der semantische Wandel lässt sich nicht (allein) anhand der Zahl semantischer Merkmale messen. 411 Ob sich ein Wort tatsächlich in seiner Bedeutung verändert hat, weil es z. B. metaphorisch neu verwendet wird, ist ein Befund, der gebrauchstheoretisch fundiert ist. Die Möglichkeit, ein Verb auf einen geistigabstrakten Vorgang anzuwenden, das zuvor nur für haptisch-taktile Tä- 411 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auf eine Präzisierung des Begriffs Extension verwiesen, die wir bei C LARENCE I RWING L EWIS finden. L EWIS unterscheidet zwischen Extension als die Menge aller existierender Dinge, die unter einen Begriff fallen und Komprehension als die Menge der theoretisch möglichen Dinge (also auch vergangener und zukünftiger), die unter einen Begriff fallen können. Die These, dass kleine Extension mit einer großen Intension einhergeht (und umgekehrt), trifft streng genommen nur für die Komprehension zu, nicht aber für die Extension. Es könnte z. B. sein, dass die Extension von „Auto mit vier Rädern“ genauso groß ist, wie die Extension von „Auto“, nämlich genau dann, wenn alle derzeit existierenden Autos zufällig vier Räder haben. Diesen Hinweis verdanke ich R UDI K ELLER . 229 tigkeiten verwendet wurde, ist keine quantitative Messgröße, sondern über einen intentional bestimmten abweichenden Wortgebrauch sprachlich manifestiert und über die Gebrauchsregel festgelegt. Betrachten wir dazu ein bekanntes Beispiel, anhand dessen wir den Prozess der Bedeutungsdifferenzierung exemplarisch nachvollziehen können: Würde ich allein den Aspekt der Extensionsveränderung ins Feld führen, müsste ich feststellen, dass sich die Extension des Verbs begreifen im Grunde kaum messbar vergrößert oder verkleinert hätte. Was hingegen feststellbar ist, ist eine deutliche semantische Spezialisierung der Wortbedeutung durch Einbindung kognitiv-mentaler Parameter in die Gebrauchsregel des Wortes. Hat sich in unserem Beispiel die Intension vergrößert, die Extension hingegen verkleinert? Oder ist es eher umgekehrt? Solche Fragen, die sich stellen, wenn man die Extension mit der Bedeutung gleichsetzt (im einen Fall hat sich die Extension und damit auch die Bedeutung verengt, im anderen ist es umgekehrt und die Bedeutung hat sich erweitert), lassen sich für das Beispiel begreifen (und für die meisten anderen Verben aus dieser Untersuchung) nicht immer klar beantworten. Was aber sehr wohl erkennbar ist, ist eine ausdifferenzierte Spezialisierung (oder Differenzierung) der Bedeutung (hier: in Richtung geistig-mentaler Vorgänge) als ein semantischer Effekt der Bedeutungsentwicklung. Ein Bedeutungswandel infolge von Spezialisierung bzw. Differenzierung liegt also dann vor, [...] wenn eine spezifische Hinsicht Teil der Gebrauchsregel geworden ist; wenn also die spezifische Interpretation des entsprechenden Lexems konventionalisiert ist und damit als eigenständige Bedeutungsvariante im Lexikon aufgeführt werden muss. Der ehemalige kontextspezifische Sinn ist dann zu einer lexikalischen Bedeutung geworden. 412 Dieser Prozess geht typischerweise (aber eben nicht zwingend) mit einer Verkleinerung der Extension einher, die dann eine quantitativ messbare Folge zweckrationaler Entscheidungen ist. Man kann also sagen: Nicht die Bedeutungsverengung (als quantitative Messgröße) oder die Bedeutungsdifferenzierung (als qualitative Messgröße) ist in diesem Fall das zweckrational bestimmte Verfahren des Bedeutungswandels, sondern lediglich der Effekt, der aus der intentional bestimmten metaphorischen Spezialverwendung, dem eigentlichen semantischen Verfahren also, hervorgeht. Der Sprecher verwendet ein Wort für einen speziellen Kontext, wodurch der spezielle Kontext in die Gebrauchsregel des Wortes involviert wird und wodurch sich dann über Verbreitungsprozesse die Wortbedeutung ändert. Was ich hier anhand des Terminus ,Bedeutungsverengung’ mit Hilfe des Verbs begreifen erörtert habe, gilt auch für den umgekehrten Fall, der 412 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 17 230 traditionell als ,Bedeutungserweiterung’ bezeichnet wird und der mit einer Generalisierung der Wortbedeutung einhergeht. Wenn wir uns also darauf verständigen, dass man streng genommen für Bedeutungsverengung von einer Differenzierung und für Bedeutungserweiterung von einer Generalisierung der Wortbedeutung sprechen muss, dann haben wir die beiden quantitativen (weil extensionalen) Kategorisierungen 1 und 2 in qualitative Kategorien überführt und zugleich erkannt, dass es sich dabei nicht um Verfahren im strengen Sinn handeln kann. Spezialisierung und Generalisierung von Wortbedeutungen sind semantische Effekte. Die Kategorien 1 und 2 sind also für den Bedeutungswandel zwar von entscheidender Bedeutung, Verfahren des Wandels sind sie hingegen nicht. Es bleiben uns als semantische Verfahren in einer engeren Definition also nur noch diejenigen Prozesse, die wir in der dritten Kategorie U LL- MANN s logisch-rhetorischer Kategorisierung finden: die Bedeutungsübertragungen aufgrund von Assoziationen zwischen der Ausgangs- und der Zielbedeutung. Dass es einen wesentlichen assoziativen Zusammenhang zwischen der alten und der neuen Bedeutung beim Bedeutungswandel geben muss, ganz gleich welche Ursachen der Wandel hat, darauf hat U LLMANN an anderer Stelle hingewiesen und auch B LANK geht für die Herausarbeitung semantischer Verfahren von Assoziationsmustern als wichtige Grundlage aus. 413 In erster Linie spielen die drei Assoziationsmuster Similarität, Kontrast und Kontiguität (sowohl der Designate als auch der Zeichenausdrücke) eine entscheidende Rolle für die Ausgestaltung der semantischen Verfahren. Ich nehme an, dass diejenigen Typen, die man unter die Klasse der ,Bedeutungsübertragung’ subsumieren kann, die also der Verschiebung der Bedeutung von einem Ausdruck auf einen anderen entsprechen, die eigentlichen Verfahren semantischen Wandels sind und dass die U LL- MANN schen Kategorien 1) und 2) aus den zuvor genannten Gründen eher den semantischen Effekten zuzuschreiben wären (mit bisweilen sehr unscharfen Grenzen und Überschneidungen zwischen den Verfahren und den Effekten). 414 Wenn wir also der Differenzierung und der Generalisie- 413 Vgl. U LLMANN 1973: 164ff. und B LANK 1997: 156 414 Eine genaue Zuordnung ist an dieser Stelle äußerst schwierig und auch in der Forschungsliteratur nicht zu finden. So bezeichnen z. B. K ELLER und K IRSCHBAUM auch die Differenzierung als semantisches Verfahren und stellen es der Metapher und der Metonymie an die Seite. Ich würde hier eine stärkere Trennung vornehmen wollen, weil ich der Auffassung bin, dass sich der Zusammenhang für die Verben eingreifen oder raffen (um zwei prominente Beispiele heranzuziehen) wie folgt darstellt: Durch metaphorische Übertragung (=semantisches Verfahren) gewinnen viele Verben eine spezielle (differenzierte) neue Bedeutung (=semantischer Effekt). Die Differenzierung, die bei K ELLER / K IRSCHBAUM den Status eines Verfahrens besitzt, bewerte ich daher als den Effekt einer metaphorischen Wortverwendung. Darin se- 231 rung als semantische Effekte die auf Assoziationen beruhenden semantischen Verfahren (verstanden als intentional bestimmte rhetorische Akte) gegenüberstellen möchten, stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten der Bedeutungsübertragung oder -verschiebung dem Sprecher überhaupt zur Verfügung stehen. U LLMANN unterscheidet bei den Verfahren des Bedeutungswandels zunächst zwischen Sinn- und Namenassoziationen als die beiden Hauptkategorien von assoziativen Bedeutungsveränderungen, die noch weiter differenziert werden können. 415 So können wir bei ihm lesen: „Jede der beiden Kategorien kann weiter untergliedert werden, wenn man die übliche Unterscheidung zwischen Assoziationen auf Grund einer Ähnlichkeit und Assoziationen auf Grund einer Berührung mitmacht“ 416 . Legt man also diese Maßstäbe an (Ähnlichkeit und Berührung), kann man zu vier Haupttypen des Bedeutungswandels gelangen, die in der Tat die Prämissen für semantische Verfahren erfüllen, da sie den weiter oben genannten Assoziationsmustern Similarität, Kontrast und Kontiguität entsprechen bzw. zugeschrieben werden können. Sie finden sich in einer differenzierten Betrachtung auch bei B LANK , der sie, im Gegensatz zu U LLMANN , nicht als Kategorien, sondern als Verfahren des Bedeutungswandels be- he ich aber keinen Fehler bei K ELLER / K IRSCHBAUM . Für die von ihnen untersuchte Adjektivsemantik gibt es tatsächlich viele Fälle, in denen sich die neue spezifische Bedingung, die in die Gebrauchsregel Einzug hält und zu einer Spezialisierung der Wortbedeutung beiträgt, aus der Ursprungsbedeutung ergibt, ohne dass eine Übertragung aufgrund von Ähnlichkeit o. ä. eine Rolle spielen würde. So hat man das Wort rüstig, das ursprünglich ganz allgemein kräftig, vital bedeutete, um die Komponente für einen alten Menschen ergänzt - die spezifische Hinsicht wurde nicht neu in das Wort involviert, sondern lediglich semantisch prominenter in der Vordergrund gestellt. Eine vermutlich intendierte evaluative Bedeutung dieses Wortes war die Folge, was dann den Bedeutungswandel zweckrational erklären würde. Für die Verben scheint diese Möglichkeit der inhärenten Bedeutungs(aus)differenzierung interessanterweise auch gegeben, allerdings sehr selten. Ein Beispiel dafür wäre das Verb sich vergehen auf der Zwischenstufe von etwas Falsches tun > jemandem etwas Falsches antun (vgl. dazu Kapitel 7.1.1). Was bei Verben aber vermutlich der häufigere Fall ist: Die spezifische Hinsicht muss quasi von außen über die neu zu involvierenden Bedeutungsparameter hinzugefügt werden und folgt nicht aus der eigentlichen Wortbedeutung. 415 Vgl. U LLMANN 1973: 264f. U LLMANN verwendet statt ,Verfahren’ den allgemeinen Terminus ,Kategorien der Bedeutungsveränderung’, wodurch er den zweckrationalen Aspekt der intentional bestimmten innovativen Wortverwendung zum Zwecke der Kommunikation (v. a. Repräsentation oder Persuasion) durch den Sprecher außer Acht lässt. Im Kern sind diese U LLMANNS chen Kategorien mit den semantischen Verfahren gemäß den weiter oben im Text zitierten Definitionen K EL- LER s/ K IRSCHBAUM s und B LANK s identisch. Sie beruhen auf denselben Assoziationsmustern. 416 U LLMANN 1973: 265 232 zeichnet und damit den intentionalen rhetorischen Aspekt kommunikativ wirksamer Rede auch terminologisch in den Vordergrund rückt. 417 Zu den Sinnassoziationen rechnet U LLMANN die rhetorischen Stilfiguren M e t a p h e r (als Sinnähnlichkeit) und M e t o n y m i e (als Sinnberührung). Die Namenassoziationen sind V o lk s e t y m o l o g i e (als Namensähnlichkeit) und E ll i p s e (als Namensberührung). Die letztgenannten beiden Typen des Bedeutungswandels, die Namenassoziationen, möchte ich als mögliche Verfahren ausklammern, weil ich einen eher engen definitorischen Begriffsumfang, der sich an der weiter oben zitierten Definition K ELLER s/ K IRSCHBAUM s für semantische Verfahren misst, anlege. Wenn Bedeutungswandel nämlich als Neuverregelung eines zunächst okkasionellen Sinns verstanden wird, dann spielen bei den Verfahren, also bei denjenigen sprachlichen Mitteln, die zu Bedeutungswandel führen, streng genommen auch nur diejenigen eine Rolle, die zu den Sinnassoziationen gezählt werden können. R UDI K ELLER schreibt: „Bedeutungswandel entsteht [...] dadurch, dass ein spezieller Gebrauch [...] neu verregelt wird“ 418 . Namenassoziationen hingegen berühren die Ebene des Sinns eines Ausdrucks nicht, sondern bewegen sich rein auf der Ebene des sprachlichen Zeichens. Metaphorische oder metonymische Wortverwendung ist dem Sprecher aus zweckrationaler Erwägung auch eher ein sprachliches Mittel, wogegen die Volksetymologie oder die Ellipse einen sehr viel weniger invasiven Eingriff durch den Sprecher in die Gebrauchsregel eines Wortes bedeuten. Wenn man z. B. ein Wort metaphorisch verwendet, dann ist das metaphorische Verfahren als rhetorisches Stilmittel bewusst gewählt. Der abweichende Wortgebrauch führt auf der Ebene der Gebrauchsregel zum Einbinden neuer Parameter in die Gebrauchsregel und ist deswegen auf der Strukturebene der Bedeutung invasiv. Bei den Namenassoziationen hingegen handelt es sich um Prozesse, die nicht aus intentionalen Beweggründen ablaufen. Namenassoziationen eignen sich nicht besonders für den Sprecher, um als sprachliche Mittel einen kommunikativen Zweck zu erreichen. Um mich evaluativ, expressiv oder sonst wie auszudrücken, greife ich als Sprecher eher auf bekannte Assoziationsmuster zurück, die über Ähnlichkeiten zwischen dem Sinn der Ursprungs- und dem der Zielbedeutung funktionieren. Der Sinn kann kontextspezifisch erschlossen werden und wird bei entsprechender Verwendungsfrequenz zu einer neuen Wortbedeutung verregelt: 417 Einer Kategorie kann ein makrostrukturelles Phänomen in der Sprache (z. B. die Metapher) zugeordnet werden, durch ein mikrostrukturelles Verfahren hingegen (in diesem Fall durch metaphorischen Wortgebrauch) kann das makrostrukturelle Phänomen überhaupt erst entsteht. Die Verfahren des Bedeutungswandels sind damit Prozesse der Genese und werden aktiv durch zweckrationale Entscheidungen der Sprecher bestimmt. 418 K ELLER 2006c: 347 233 „Bedeutungswandel kommt dadurch zustande, dass ein frequenter Verwendungssinn zu einer neuen Gebrauchskonvention [und damit zu einer neuen Wortbedeutung, S. B.] verregelt wird“ 419 . Dass die Namenassoziationen beim Bedeutungswandel eine untergeordnete Rolle spielen, darauf weist auch S TEPHEN U LLMANN zusammenfassend hin, wenn er schreibt, dass „Sinnassoziationen eine viel größere Bedeutung als Namenassoziationen [haben]“ 420 und ich halte es aus den erwähnten Gründen für angemessen, diese Assoziationstypen (die sicher auch zu semantischem Wandel beitragen) nicht als semantische Verfahren im engeren Sinne zu bezeichnen. Im Gegensatz zu den Sinnassoziationen ist das Integrieren des assoziativen Aspekts der Verwendung in die Gebrauchskonvention kein Prozess, der von den Sprechern beabsichtigt initiiert worden ist. Zudem lassen sich semantische Verfahren, die auf Sinnassoziationen beruhen, auch leichter lexikalisieren und damit interpretieren. Die Interpretation metaphorischer oder metonymischer Wortverwendungen bedarf i. d. R. keiner assoziativen Schlüsse: Durch die Verregelung des neuen Sinns im Zuge der Lexikalisierung verliert das Wort seinen Assoziationscharakter und gewinnt einen Regelcharakter, der als lexikalische Bedeutung ohne Umwege erschlossen wird. Genauer: Ehemalige Sinnassoziationen werden nicht als assoziativ, sondern regelbasiert interpretiert und sind dadurch zu lexikalischen Symbolen geworden. R UDI K ELLER schreibt: „Assoziative Schlüsse müssen bei hinreichender Vorkommensfrequenz [...] notwendig zu regelbasierten Schlüssen werden“ 421 . Die Lexikalisierung von Metaphern und Metonymien gehört laut K ELLER daher zu den wichtigsten Verfahren des Bedeutungswandels. 422 Wenn wir uns auf diese Festlegung einigen können, dann bleiben als Verfahren des Bedeutungswandels im engeren Sinne nur noch die auf Sinnassoziationen beruhenden klassisch-rhetorischen Verfahren der M e t a p h e r und der M e t o n y m i e übrig und ich möchte im Folgenden diskutieren, welchen Stellenwert diese beiden Verfahren für den verbalen Bedeutungswandel besitzen und wo sie nachweisbar sind. Bevor ich mich dem Verfahren der Metaphorisierung zuwende, das für den Bedeutungswandel im Verbwortschatz als das Hauptverfahren bezeichnet werden muss, möchte ich noch kurz auf einen wesentlichen Aspekt hinweisen, der die Frage beantwortet, wodurch die Verwendung eines semantischen Verfahrens überhaupt bestimmt ist. Die Möglichkeit 419 K ELLER 2006c: 348 420 U LLMANN 1973: 280 421 K ELLER 1995: 183f. 422 Vgl. K ELLER 1995: 182ff. 234 der Anwendung semantischer Verfahren hängt m. E. von drei wesentlichen Komponenten auf der Mikroebene des Sprechers ab: a) Der individuellen sprachlichen Kompetenz, b) der pragmatischen Eignung eines Wortes und c) der Verbreitung (oder Konventionalisierung) der sprachlichen Neuerung. Für die beiden Komponenten b) und c) habe ich zu Beginn dieses Kapitels und an der einen oder anderen Stelle in dieser Arbeit bereits darauf hingewiesen, dass sich nicht jedes Wort beliebig dazu eignet, in abweichender Weise verwendet zu werden. Um das Verb klauen etwa metaphorisch in bewertender Weise verwenden zu können, muss es eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Ausgangs- und der Zielbedeutung geben, die man für dieses Beispiel wie folgt paraphrasieren könnte: Das Verb klau(b)en bezeichnet in seiner Ursprungslesart das (meist mühevolle) Sammeln von Obst und Gemüse. Klauen in der evaluativen metaphorischen Lesart hingegen bezeichnet das (eher mühelose) Einsammeln von Dingen, die dem Sammler nicht gehören. In beiden Lesarten wird irgendetwas durch haptisch-taktiles Handeln an sich gebracht, so dass es eine klare Assoziationsbeziehung von Ausgangs- und Zielsinn der Wortverwendung gibt (Prämisse b)). Durch frequente Verwendung wird der neue Sinn zur neuen Bedeutung verregelt (Prämisse c)). Dass eine auf Sinnassoziationen beruhende abweichende Wortverwendung eine bestimmte sprachliche Kompetenz sowohl beim Sprecher als auch beim Hörer, der den neuen Sinn durch ein pragmatisches Schlussverfahren entschlüsseln muss, voraussetzt, ist zumindest auf der Stufe des innovativen Sprachgebrauchs evident (Prämisse a)). Später sorgt die Konventionalisierung dafür, dass keine assoziativen Schlüsse mehr gezogen werden müssen. Das Verstehen ist dann lediglich noch an das lexikalische Wissen von Sprecher und Hörer gekoppelt. Der Bedeutungswandel ist dann mit dem Prozess der Lexikalisierung abgeschlossen. 423 6.2 Figurative Rede: Metapher und Metonymie Assoziative Verfahren des Bedeutungswandels eignen sich besonders dazu, dass sich ein Sprecher figurativ, also bildlich, ausdrücken kann, wodurch ein ursprünglicher Sinn auf einen neuen Sachverhalt übertragen 423 R UDI K ELLER geht davon aus, dass es zwischen dem assoziativen Schluss im Zuge der okkasionellen Verwendung und der Lexikalisierung eine Art Zwischenstadium gibt, in dem ein Ausdruck zwar regelbasiert erschlossen werden kann, er aber noch nicht lexikalisiert ist. Diesen Zustand bezeichnet K ELLER als Semantisierung (vgl. dazu K ELLER 1995: 219). 235 (Metapher) bzw. verschoben (Metonymie) wird. Im Zuge des Bedeutungswandels wird in beiden Fällen der neue figurative Sinn zu einer neuen Gebrauchsregel verregelt und gelangt dadurch in die Wortbedeutung, zu deren Teil er wird. Dabei spielen Bedeutungsparameter eine besondere Rolle: Im Gegensatz zum semantischen Verfahren als rhetorischer Äußerungsakt spezifizieren die Bedeutungsparameter a) den Zweck und b) die semantische Richtung des Wandels. Beim Bedeutungswandel des Verbs saufen etwa gelangen über einen metaphorischen Prozess (Übertragung Tier Mensch) soziale und bewertende Parameter in die Gebrauchsregel des Verbs in der Zielbedeutung, die kommunikativ von wichtiger Bedeutung sind und die zudem die zweckrationalen Entscheidungen des Sprechers für die Anwendung eines semantischen Verfahrens (hier: für die metaphorische Wortverwendung) zum Ausdruck bringen. Aufgrund der assoziativen Ausdrucksfunktion sind die auf Ähnlichkeit beruhende Metapher und die auf Sinnberührung basierende Metonymie als semantische Verfahren dazu geeignet, figurative Rede zu konstituieren und damit den Bedeutungswandel zu befördern: Metapher und Metonymie sind beides Prozesse der Ausweitung einer Bedeutung von einer Grundbedeutung auf eine abgeleitete Bedeutung. Sie unterscheiden sich aber in der Beziehung zwischen der neuen und der alten Bedeutung. J OHANNES D ÖLLING liefert eine greifbare Definition für diese beiden Assoziationsprinzipien: Metonymie und Metapher werden in der traditionellen Rhetorik als verwandte, dennoch klar zu unterscheidende Formen des nicht-wörtlichen Sprachgebrauchs behandelt. Nach gängiger Vorstellung dienen Metonymien dazu, um mit Ausdrücken auf Gegenstände zu referieren, die nicht zu ihrem eigentlichen Referenzbereich gehören, aber auf bestimmte Weise mit diesem verbunden sind [...]. Die Funktion von sprachlichen Metaphern sieht man dagegen vor allem darin, Gegenstände unter dem Blickwinkel von Gegenständen zu verstehen, die ursprünglich mit dem betreffenden Ausdruck erfasst werden und denen erstere irgendwie ähneln [...]. 424 Metonymien und Metaphern resultieren somit beide aus konzeptuellen, assoziativ bedingten Verschiebungen, sie bilden dabei aber unterschiedliche Typen aus: 425 Metonymische Interpretationen resultieren aus einer vom Kontext unterstützten systematischen Umformung einer wörtlichen Bedeutungsvariante des betreffenden Ausdrucks und bewegen sich damit im selben Sinnbereich; es gibt eine Berührung von Ziel- und Ausgangsbedeutung. Metaphorische Interpretationen hingegen sind Bedeutungsverschiebungen, die zugleich eine Veränderung im vorausgesetzten Konzep- 424 D ÖLLING 1999: 31 425 Vgl. D ÖLLING 1999: 31f. 236 tualisierungsraster einschließen, also verschiedene Sinnbereiche umfassen; es gibt dabei eine Ähnlichkeit zwischen Ziel- und Ausgangsbedeutung. Metonymien und Metaphern denotieren also konzeptuelle Beziehungen unterschiedlichen Typs. Während bei der Metonymie die Beziehung zur wörtlichen Bedeutung eine ontologische Relation zwischen Elementen derselben Domäne widerspiegelt (Kontiguität=Sinnberührung), liegen der Metapher Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen zwei verschiedenen Sinnbereichen zugrunde (Similarität=Ähnlichkeit). Man könnte vereinfacht sagen: Während Metaphern Bedeutung aus einer Übertragung von einem Sinnbereich auf einen gänzlich anderen generieren, bewirkt die Metonymie eine Bedeutungsverschiebung innerhalb desselben Sinnbereichs, die zu einer neuen assoziativen Bedeutung führt. Für den Bedeutungswandel bei Verben sind beide Verfahren von Bedeutung. Im Folgenden soll daher eine Betrachtung dieser beiden Assoziationsverfahren zeigen, welchen Stellenwert man ihnen für die Entwicklung der Verbsemantik zugestehen muss und welche charakteristischen Besonderheiten jeweils feststellbar sind. 6.2.1 Verbale Metaphern Für den Bedeutungswandel von Wörtern im Allgemeinen und von Verben im Speziellen ist das Verfahren der Metaphorisierung von entscheidender Bedeutung, wie auch die Einschätzung S TEPHEN U LLMANNS nahe legt: „Daß die Metapher als schöpferische Kraft von höchster Bedeutung ist, hat man zu allen Zeiten gewußt und in vielen extravaganten Formulierungen zum Ausdruck gebracht“ 426 . Metaphern sind sprachliche Bilder, „die auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zwei Gegenständen bzw. Begriffen beruhen, d.h. auf Grund gleicher oder ähnlicher Bedeutungsmerkmale findet eine Bezeichnungsübertragung statt“ 427 . Den Aspekt der Ähnlichkeit spezifiziert U LLMANN , wenn er behauptet: „Die Ähnlichkeit zwischen Sachsphäre und Bildsphäre kann dabei entweder objektiv oder gefühlsmäßig sein“ 428 . Metaphern sind laut B LANK gerade deswegen für den Prozess des Bedeutungswandels interessant, weil „es kommunikativen Bedürfnissen entspricht, in einem bestimmten sprachlich-situativen Kontext ein Wort metaphorisch zu verwenden, um damit ,etwas anderes’ neu oder ,anders’ zu versprachlichen, zu dem eine [...] Ähnlichkeitsrelation besteht“ 429 . Als sprachliche Symbole dienen Metaphern dazu, einen nicht-wörtlichen Sinn zum Ausdruck zu bringen: „[W]enn regelbasierte 426 U LLMANN 1973: 265f. 427 B UßMANN 2002: 432 428 U LLMANN 1973: 267 429 B LANK 1997: 159 237 Schlüsse mit der Zeit kausale oder assoziative [Schlüsse] ersetzen“ 430 , wird ein nicht-wörtlicher Sinn mit der Zeit und mit hinreichender Verwendungsfrequenz zum wörtlichen, also lexikalischen, Sinn verregelt und gelangt über diesen Prozess, den R UDI K ELLER Symbolifizierung nennt, in die Gebrauchsregel eines Wortes und wird nach einer Lexikalisierung zu dessen Bedeutung. 431 K ELLER schreibt: „So wie Ikone und Symptome zu Symbolen werden können, so können auch Metaphern und Metonymien zu Symbolen werden“ 432 . So verstanden sind alle auf das metaphorische Verfahren rückführbaren Verben (z. B. begreifen, erfassen, packen, raffen, klauen, saufen etc.) streng genommen keine Metaphern, sondern Symbole. Will sagen: Bei den ursprünglich metaphorisch verwendeten Verben nimmt in Abhängigkeit von Verwendungsfrequenz und Lexikalisierungsstufe der Symbolgehalt zu, die eigentliche Metapher wird dabei in gewisser Weise ,entmetaphorisiert’. Der assoziative Gehalt, den eine Metapher auszeichnet, geht im Zuge von Symbolifizierung und Lexikalisierung verloren: „Wenn [...] eine [...] Metapher sehr häufig verwendet wird, verliert sie ihre Metaphorizität; mit anderen Worten, man merkt ihr dann gar nicht mehr an, dass es sich um ein sprachliches Bild handelt“ 433 . Eben dieses mit der Zeit verblassende sprachliche Bild ist es, was die Metapher als semantisches Verfahren für den Sprecher so begehrt macht. Wie wir anhand des Verbwortschatzes im vorigen Kapitel bereits feststellen konnten, sind neue Phänomene und Veränderungen in der Welt weder notwendig noch hinreichend, um neue Bedeutungen zu generieren. Was hingegen korrekt ist, ist die Tatsache, dass „sich das metaphorische und das metonymische Verfahren [...] dazu anbieten, Neues auf interpretierbare, d.h. semantisch transparente Weise zu bezeichnen“ 434 . Wie kommt es aber, dass Menschen offenbar dazu neigen, den bildhaften Vergleich zu bemühen anstatt sich direkt und klar auszudrücken? Diese Frage lässt sich nur mit einem kommunikationstheoretischen Seitenblick beantworten. R UDI K ELLER weist darauf hin, dass man den Zweck von Kommunikation doch sehr verkürzt sehen würde, wenn man rein den Aspekt des Verstanden-Werdens ins Feld führt. 435 Tatsächlich stimmt es zwar, dass Metaphern ebenso wie Metonymien bisweilen zu Missverständnissen führen können. Wenn ich z. B. sage, dass ich nächste Woche zum Lesen an die Mosel fahre, dann ist nicht ganz klar, welche Bedeutung ich in diesem Kontext meine: Mache ich eine Reise mit 20 Büchern im Gepäck oder helfe ich den Winzern bei der Weinlese? Zwar ist das Verb 430 K ELLER 1995: 183 431 Vgl. K ELLER 1995: 183 432 K ELLER 1995: 183 433 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 12 434 K ELLER 1995: 220 435 K ELLER 1995: 220 238 lesen in der Lesart ein Buch lesen bereits lexikalisiert und dürfte heute die Hauptbedeutung zum Ausdruck bringen, aber ursprünglich war diese Wortverwendung eine Metapher. Das Nebeneinander von alter (nichtmetaphorischer) und neuer (metaphorischer) Bedeutung kann - wie das Beispiel zeigt - zu Verständigungsproblemen führen. Trotzdem verwendet man gern und häufig Metaphern und das hat auch einen kommunikativen Nutzen: „Der Zweck eines kommunikativen Aktes besteht nicht darin zu sagen, was man zu sagen hat, sondern zu erreichen, was man erreichen will. [...] Kommunikation ist eine Form der Beeinflussung“ 436 . Diese Festlegung gilt insbesondere für die in Kapitel 3 dieser Arbeit identifizierten expressiven und evaluativen Verben, deren Hauptausdrucksfunktion es ist, die eigene Meinung oder Haltung, bisweilen auch den eigenen sozialen Status zu vermitteln. Wenn ich sage, dass jemand frisst wie ein Schwein (negative Bewertung) oder strahlt wie die Sonne (positive Bewertung), dient mir die Metapher dazu, meine eigene Haltung zum Ausdruck zu bringen und zudem mein Gegenüber dahingehend zu beeinflussen, dass er oder sie diese Haltung annimmt. 437 Für all diejenigen Verben, die in ihrer (metaphorischen) Zielbedeutung kognitiv-mentale Parameter involvieren, gilt Ähnliches. Wenn ich über sehr abstrakte Dinge reden möchte, die naturgegeben weder greifbar noch objektivierbar sind, dann eignet sich nur die bildhafte Analogie zum Ausdruck meiner Gedanken, weil Bilder - im Gegensatz zu konkreten Entitäten - zwar auch nicht greifbar sind, aber jedem Menschen in gewisser Weise zugänglich: „Wer über Abstraktes oder Inneres reden will, kann es prinzipiell nur mittels Analogie tun“ 438 . Dies gilt insbesondere für kognitiv-mentale Metaphern, die semantisch auf Körpermetaphern basieren. K ELLER stellt fest: „Jeder hat einen Körper, und man kann leicht auf seine Teile [oder die körperlichen Vorgänge und Handlungen, S. B.] verweisen, so daß man ihn stets und unproblematisch als Ausgangspunkt assoziativer Schlüsse wählen kann“ 439 . Aus dieser Feststellung leitet sich die pragmatische Strategie des Sprechers ab, der durch das metaphorische Verfahren sein kommunikatives Ziel erreichen kann: „Die Strategie des Sprechers lautet: ,Wenn ich schon 436 K ELLER 1995: 220 437 Dies sind, um ein wenig vorzugreifen, der expressiv-evaluative Pfad der persuasiven Wortverwendung für das Verb fressen und der emotiv-evaluative Pfad der persuasiven (oder je nach Kontext und Gesprächspartner repräsentativen) Wortverwendung für das Verb strahlen. Vgl. zu den zweckrationalen Bedeutungspfaden Kapitel 8 438 K ELLER 1995: 222 439 K ELLER 1995: 223 239 nicht auf eine Regel des Gebrauchs zurückgreife, so doch wenigstens auf Systematizität der Bildlichkeit’“ 440 . Für den Verbwortschatz können wir feststellen, dass hier die Systematizität der Bildlichkeit, die einer Metapher innewohnt, von entscheidender Bedeutung ist, weil sie Klasseneffekte auslösen kann: Wer das Verb begreifen metaphorisch verstehen kann, der versteht auch raffen, erfassen, fressen, schlucken, aufsaugen, beleuchten etc. in der kognitiv-mentalen Lesart. Hier ist aber anzumerken: Der Klasseneffekt führt nicht zwangsläufig zum Bedeutungswandel aller Verben, die demselben Ursprungssinnbereich zugehören. 441 Synonymie ist ein häufig zu beobachtender Effekt semantischen Wandels bei Verben, der auf eben dieser Systematizität des metaphorischen Verfahrens beruht. Allerdings lässt sich auch feststellen, dass zur Vermeidung von Missverständnissen Bedeutungsvarianten wegfallen, wenn die Verwendungsbereiche nicht klar genug voneinander getrennt sind. So lässt sich beobachten, dass eine Vielzahl ehemals haptischer und konkreter Verben in ihrer ursprünglichen Lesart aus dem Sprachbewusststein (und damit zwangsläufig irgendwann auch aus dem Lexikon) verschwunden ist. Die ehemals metaphorische Bedeutung ist in diesen Fällen an die Stelle der ursprünglichen Bedeutung getreten und hat diese verdrängt, obwohl sich die Verben in ihrer Ursprungsbedeutung noch immer eignen würden, verwendet zu werden. So werden natürlich auch gegenwärtig noch Dinge von Hand begriffen, diese Lesart ist aber mittlerweile ungebräuchlich. Ich habe weiter oben in dieser Arbeit dargelegt, wie dieser Wegfall zu erklären sein könnte und welchen zentralen Stellenwert die von mir spezifizierten Parameter der Gebrauchsregel dabei spielen. Dieser Zusammenhang stellte sich dort folgendermaßen dar: Die Möglichkeit des Absetzens einer Wortbedeutung zugunsten einer neuen liegt darin begründet, dass sich die Ursprungsbedeutung in einem Netzwerk mit anderen, bedeutungsähnlichen oder bedeutungsgleichen Verben befunden hat; sie wird dann entbehrlich und kann z. B. metaphorisch neu verwendet werden, wodurch sie semantisch und strukturell durch die Einbindung neuer Bedeutungsparameter in die Gebrauchsregel umgeformt wird. Die Veränderung durch die Inkorporierung oder die Neugewichtung von Bedeutungsparametern innerhalb der Gebrauchsregel führt auf der Strukturebene zum Wandel der Gebrauchsregel und damit zum Wandel der Wortbedeutung. Metaphorisierung spielt bei einer ganzen Reihe von Bedeutungsveränderungen im Verbwortschatz eine Rolle, so dass sie wohl zu Recht als das Hauptverfahren des Bedeutungswandels bezeichnet werden kann. Dieser Schluss ist nicht allein intuitiv, er lässt sich insbesondere dadurch 440 K ELLER 1995: 223 441 Vgl. Kapitel 4.1 240 belegen, dass eine Vielzahl der Wandelphänomene bei Verben der Richtung konkret > abstrakt entspricht und daher - auch wenn dieser unidirektionale Wandel kein generelles Prinzip für verbalen Bedeutungswandel ist - über den Weg der metaphorischen Analogie zustande kommt. Als ein weiteres Beispiel (einige andere haben wir ja bereits kennen gelernt) für diese Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten mittels Metaphorisierung kann die Bedeutungsgeschichte des Verbs aufschneiden ins argumentative Feld geführt werden. Man verwendet dieses Verb heute eher abstrakt und allgemein, wenn man aussagen möchte, dass jemand prahlt oder übertreibt. Die ursprüngliche Bedeutung aber - darauf hat bereits W ELLANDER hingewiesen - war konkret und lässt sich auf die Tätigkeit des Bratens aufschneiden zurückführen. 442 G ERD F RITZ macht mit Hilfe dieses Beispiels auf eine interessante Möglichkeit der Bedeutungsentwicklung aufmerksam, die er als „Auslassung einer gebräuchlichen Angabe“ 443 bezeichnet. Damit ist gemeint, dass man eine Standardangabe, die semantisch zu der metaphorischen Verwendung eines Verbs hinzugehört, weglassen kann und damit den Bedeutungswandelprozess (oder zumindest den Lexikalisierungsprozess) befeuert. So hat man bereits im 17. Jahrhundert das Verb aufschneiden metaphorisch in der Äußerung Jemand schneidet mit dem großen Messer auf verwendet. Durch Weglassung der Standardangabe mit dem großen Messer gewinnt das Verb allein an metaphorischer Bedeutung, die bis dahin auf der gesamten Verbalkonstruktion gelegen hat. 444 Auch Metaphorisierungen, die sich innerhalb einer konkreten Handlungssphäre bewegen und die die Parameterdominanz des Wortes nicht oder kaum verändern, lassen sich für das Verbum nachweisen: So dient das Verb köpfen in der metaphorischen Übertragung vom Menschen auf eine Champagnerflasche allein dazu, dass ich mich innovativ und bildhaft ausdrücken kann. Wenn ich sage, dass ich eine Flasche Champagner zur 442 Vgl. W ELLANDER 1928: 158f. 443 F RITZ 2006: 122 444 Ein weiteres Beispiel, das sich gegenwärtig in dieser Richtung abzeichnet, ist die Bedeutungsentwicklung des Verbs sehen in der Konstruktion von daher gesehen im Sinne von deshalb. Die Phrase von daher gesehen wird gegenwärtig zu von daher verkürzt verwendet, man lässt also das eigentlich bedeutungstragende Verb sehen in der ursprünglichen (hier: metonymischen) Verbalkonstruktion einfach weg. Von daher wäre aber wohl kaum interpretierbar, wenn man diese Konstruktion nicht stillschweigend um den Zusatz gesehen ergänzen würde. Im Gegensatz zum Verb aufschneiden, das metaphorisch verwendet wird und das seine Metaphorik erst durch die Standardangabe mit dem großen Messer erhält, bleibt bei von daher das Verb nicht erhalten. Die metonymische Bedeutung, die das Verb sehen in der ursprünglichen Konstruktion trägt, wird auf die zusätzliche Angabe von daher übertragen. Mittlerweile ist von daher auch ohne die Standardangabe gesehen lexikalisiert. Auf dieses Beispiel hat mich dankenswerterweise R UDI K ELLER aufmerksam gemacht. 241 Feier meiner fertigen Dissertation köpfen werde, dann besitzt das Verb köpfen in dieser metaphorischen Lesart nicht weniger Wahrheitswert, als wenn ich sage, dass die Guillotine während der Französischen Revolution ein probates Mittel war, Menschen zu köpfen, ihnen also den Kopf abzuschlagen. Die metaphorische Nutzungsmöglichkeit für das Verb köpfen in der Bedeutungsübertragung auf Flaschen ist im Übrigen durch ein anderes assoziatives Muster bestimmt, so dass man von einer metaphorischen Verkettung sprechen könnte: Durch eine anthropomorphe Assoziation kann man den oberen Teil einer Flasche als Flaschenhals bezeichnen, wodurch die erste Stufe der Metaphorisierung gekennzeichnet wird. Wenn ich eine Entität metaphorisch als Hals bezeichnen kann, dann liegt es wohl nahe, dass ich auch Tätigkeiten, die sich ursprünglich auf den echten Hals (z. B. den eines Menschen) bezogen haben, assoziativ auf den metaphorisch verwendeten Begriff Hals anwenden kann. Die Verben abschlagen und köpfen eignen sich daher besonders, nicht nur für die Denotation menschlicher (oder tierischer) Hälse gebraucht zu werden, sie denotieren nun auch solche Tätigkeiten, die sich auf halsähnliche Entitäten übertragen lassen. Dass die Verben abschlagen (eines Flaschenhalses) oder köpfen in dieser Lesart aufgrund ihrer etymologischen Herkunft ethisch fragwürdig sind, ist durch den konventionellen Wortgebrauch in diesen Kontexten vermutlich bereits verschleiert. Bezogen auf die Parameterstruktur der Gebrauchsregel für die Verben köpfen und abschlagen heißt das: Beide Bedeutungsvarianten involvieren Parameter aus der äußeren Welt, also wahrheitsfunktionale Parameter. Der kommunikative Zweck der Neunutzung liegt in solchen Fällen so gut wie immer auf dem Aspekt des innovativen Wortgebrauchs (im Gegensatz zur Bewertungsfunktion mittels evaluativer Parameter oder zur expressiven Rede durch soziale und/ oder evaluative Parameter). Auch wenn wir hier keine Verschiebung der außersprachlichen Bedeutungsparameter nachweisen können, weil sowohl die Ausgangsals auch die Zielbedeutung von wahrheitsfunktionalen Parametern dominiert werden, muss man dennoch klar von einem Bedeutungswandel sprechen. Die Verben köpfen und abschlagen werden in dieser Lesart als expressive Verben einzustufen sein, für die wir in Kapitel 3 festgestellt haben, dass solche Verben i. d. R. durch soziale Bedeutungsparameter dominiert werden. Warum stellt sich dies hier etwas anders dar? Wo lassen sich diese notwendigen sozialen Parameter nachweisen? Ich nehme an, dass die Expressivität dieser Verben mit zunehmender Verwendungsfrequenz nachgelassen hat, so dass das Verb köpfen ebenso wie das Verb abschlagen in der Referenz auf einen Flaschenhals heute weniger expressiv verwendet werden als dies möglicherweise zu Beginn des abweichenden Wortgebrauchs der Fall war. Dieses Phänomen ist uns bereits in Kapitel 4.2.2 als Semantische Exkorporierung begegnet und es hat sich in Kapitel 5.2 als 242 ein besonderes Charakteristikum für expressive (oder ehemals expressive) Verben herausgestellt. Ich erinnere daher an dieser Stelle mit einem klaren Verweis darauf an die dort entwickelten Thesen. Metaphorisierung - das hat sich bis hierher deutlich gezeigt - ist für den Bedeutungswandel als rhetorisches Verfahren der sprachlichen Realisation eines kommunikativen Zwecks von entscheidender Bedeutung und ich werde in Kapitel 8 anhand der konkreten semantischen Pfade für die Gruppe der Verben zeigen, dass die allermeisten Wandelphänomene in der Tat einen metaphorischen Wortgebrauch als Ursprung haben bzw. dass der metaphorische Wandel zu den meisten der ausdifferenzierten zweckrationalen Pfade führt. Auch B LANK bemerkt: „Die Metapher ist der am meisten beachtete Typ des Bedeutungswandels und gilt als der wichtigste 445 . Eine rein quantitative Wertung nach der Anzahl des Vorkommens der verschiedenen Verfahren im deutschen Verbwortschatz ist an dieser Stelle allerdings nicht beabsichtigt und sie ist vermutlich auch mit einem explanativen Fokus nicht sonderlich sinnvoll. 446 445 B LANK 1997: 157. In dieser Frage scheiden sich allerdings die Geister. So lesen wir bei P AUL G ÉVAUDAN mit Blick auf Metonymien: „Es handelt sich dabei [bei der Metonymie, S. B.] um den wichtigsten, weil häufigsten, vielfältigsten und grundlegendsten Mechanismus der semantischen Innovation“ (G ÉVAUDAN 2007: 95). Es muss aber bemerkt werden, dass sich G ÉVAUDAN in seiner Einschätzung nicht auf eine umgrenzte Wortart stützt, weshalb ich für die Gruppe der Verben seine Auffassung nicht zwingend teile. Hier scheint mir die Metapher das bestimmende semantische Verfahren zu sein, zumindest legen die Beispiele, die ich gefunden habe, diese Vermutung nahe. Allerdings liegt er, was die Vielfalt der Ausgestaltung von Metonymien angeht, durchaus richtig, wie sich in Kapitel 6.2.2 herausstellen wird. 446 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich auch mit Blick auf das Verbum bei V OLKER H ARM eine gegensätzliche Einschätzung finden lässt. Für die Gruppe der von ihm untersuchten Wahrnehmungsverben stellt er fest: „Die auf Similaritätsbeziehungen beruhenden metaphorischen Prozesse spielen beim semantischen Wandel von Wahrnehmungsverben nicht die entscheidende Rolle, die ihnen im allgemeinen [sic] zugesprochen wird. Wichtiger für die Herausbildung von Polysemie sind auf Kontiguitätsrelationen beruhende Prozesse [...] - in der rhetorischen Klassifikation semantischen Wandels also ,Metonymien’“ (H ARM 2000: 221). Für die Wahrnehmungsverben stellt H ARM zusammenfassend fest, dass Metonymien „den größten Anteil an Wandelerscheinungen in unserem Korpus stellen“ (H ARM 2000: 221). Diese Festlegung ist sicher korrekt. Sie hängt aber auch mit H ARM s eng umgrenzter Klasse an Verben zusammen, deren spezifisches Charakteristikum es ist, dass sie i. d. R. eine Teil-Ganzes-Relation bezeichnen: z. B. Bedeutungswandel des Verbs sehen (Du wirst schon sehen=Du wirst irgendetwas sinnlich erfahren). Was für die Wahrnehmungsverben im Speziellen gilt, lässt sich auch für einige der sogenannten Psychverben feststellen. Für Psychverben, die sich von der körperlichen Reaktion zum Ausdruck des zugrunde liegenden inneren Gefühls gewandelt haben, dürfte die Metonymie im Vordergrund stehen oder zumindest sehr häufig nachzuweisen sein (z. B. erschrecken=aufspringen als Teil der Gemütsbewegung). Eine korpusbasierte Untersuchung wie bei H ARM liegt m. W. für die Psychverben 243 6.2.1.1 Metaphorisierung und Evaluation Wesentlich interessanter als die Frage, welches der beiden auf Sinnassoziationen beruhenden Verfahren beim verbalen Bedeutungswandel häufiger vorzufinden ist, ist für unsere Fragestellung die Klärung, welche wortartspezifischen Besonderheiten mit den Verfahren der Metaphorisierung und der Metonymisierung verbunden sind. Betrachten wir dazu zunächst die Metapher. Hier lässt sich ein signifikanter Unterschied zu den bereits von K ELLER / K IRSCHBAUM untersuchten Adjektiven feststellen, der etwas mit der pragmatischen Ausdrucksfunktion nach einem Bedeutungswandel zu tun hat und der darüber Rückschlüsse auf die Intention der Sprecher für den bildhaften Wortgebrauch zulässt. Ebenso wie bei den Adjektiven löst jeder metaphorische Wortgebrauch von Verben ein pragmatisches Schlussverfahren beim Hörer aus, mit dessen Hilfe er den gemeinten Sinn aus dem Gesagten ableiten kann. Wenn ich sage, dass ich gestern Horst habe nach Hause schleichen sehen, dann muss mein Gegenüber annehmen, dass ich mit der Äußerung des Verbs schleichen etwas anderes meine, als in dessen lexikalischer Bedeutung eigentlich zu finden ist. Da die ursprüngliche Gebrauchsregel des Verbs schleichen semantische Merkmale involviert, die i. d. R. auf ein Tier (bei der Pirsch) zutreffen (etwa eine Raubkatze), muss ich mit der metaphorischen Übertragung auf Horst etwas anderes meinen als ich sage. 447 Es wäre für meinen Gesprächspartner nicht sonderlich plausibel anzunehmen, Horst habe sich dem Wortsinne nach auf dem Boden liegend katzengleich an irgendetwas herangeschlichen. Vielmehr bringe ich mit der Metapher zum Ausdruck, dass sich Horst sehr langsam fortbewegt hat. Wenn Horst zudem in einem Auto unterwegs war, drücke ich neben der Tatsache der langsamen Fortbewegung noch meine eigene Haltung dazu aus: Wer schleicht, behindert den Verkehr. Das, was ich nicht vor; ich verweise aber dennoch auf die Arbeit S ILVIA K UTSCHER s (K UTSCHER 2009), die sowohl die metaphorischen als auch die metonymischen Verfahren figurativer Rede als systematische Verfahren zur Erweiterung des Psychverbwortschatzes nachweist (in Kapitel 6.2.3 werde ich genauer auf die assoziativen Verfahren beim Wandel der Psychverben zu sprechen kommen). Ich möchte aber bemerken, dass es sich insbesondere bei H ARM s Analyse um einen speziellen Ausschnitt aus dem deutschen Verbwortschatz handelt, so dass die von mir hier vertretene Festlegung, dass Metaphorisierung das Hauptverfahren beim verbalen Bedeutungswandel im Allgemeinen ist, davon unberührt bleibt. Ein genauerer Nachweis für den gesamten deutschen Verbwortschatz wäre sicher wünschenswert, aufgrund der Datenmenge aber vermutlich kaum zu leisten. Zudem ist es fraglich, ob mit der Erkenntnis, welches Verfahren als Hauptverfahren zu bezeichnen ist, in der Forschung etwas gewonnen wäre. 447 Ich gehe hier von der Ursprungsbedeutung des Verbs schleichen aus. Es steht außer Frage, dass die Metapher bereits konventionell verwendet und zu einem gewissen Grad auch lexikalisiert ist. 244 metaphorisch meine, wenn ich davon spreche, dass Horst geschlichen ist, steht mit dem, was mit dem wörtlichen Sinn der Äußerung gesagt wird, in einem systematischen assoziativen Zusammenhang. Ich möchte an dieser Stelle auf weitere Beispiele verzichten, metaphorisch verwendeten Verben sind wir ja bereits an vielen Stellen begegnet und das Motiv für den metaphorischen Wortgebrauch dürfte in allen Fällen ein Ähnliches sein: Der bildliche Ausdruck dient dem Sprecher kommunikativ zur Anschaulichkeit und zum Ausdruck eines bestimmten kommunikativen Zwecks. So eignet sich nicht-wörtlicher Sprachgebrauch dazu - wie im Beispiel schleichen - Parameter aus der Welt der Haltungen in die Gebrauchsregel einzubringen. In dieser Hinsicht werden Metaphern zweckrational zum Ausdruck von Bewertungen verwendet, allerdings liegt der Zweck für den metaphorischen Wortgebrauch bei verbalen Metaphern nicht allein auf dem Aspekt der Evaluation. Auch andere Parameter werden in die Gebrauchsregeln von Verben über die Metaphorisierung eingebracht (z. B. soziale oder emotive Parameter; bisweilen behalten Verben aber auch die Dominanz rein wahrheitsfunktionaler Parameter bei (siehe köpfen), auch wenn der Bedeutungswandel einem kommunikativen Zweck folgt). In diesem Punkt unterscheiden sich die Verben in entscheidendem Maß von den Adjektiven und die Befunde, die K ELLER / K IRSCHBAUM für die Adjektive gewonnen haben, lassen sich auf die Verben nicht übertragen. So lässt sich für die Adjektive feststellen, dass diese im Zuge eines metaphorischen Bedeutungswandels stets eine Bedeutung mit evaluativem Aspekt erhalten: „Alle Primäradjektive [...] erlauben eine metaphorische Übertragung - wobei einige davon bereits mehr oder weniger lexikalisiert sind - und stets hat der metaphorische Sinn einen evaluativen Anteil“ 448 . Weiter heißt es: Bei Adjektiven scheint es im Normalfall so zu sein, dass die neue Bedeutung einen bewertenden Aspekt enthält, und dies wiederum führt dazu, dass die alte Bedeutung - verdinglichend gesprochen - verschwindet, und zwar genau dann, wenn die Verwendungsbereiche nicht so klar unterschieden sind, dass im praktischen Leben Missverständnisse so gut wie ausgeschlossen sind. 449 Wenn wir diese Festlegung sezieren und in zwei getrennte Aussagen auffächern, dann stellen wir für das Verbum fest, dass Festlegung eins (die notwendige evaluative Bedeutungsentwicklung) nicht zutrifft, der zweite Befund hingegen (das Verschwinden polysemer Ausdrücke) durchaus auf die Gruppe der Verben adaptierbar ist. 448 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 99 449 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 157f. 245 Betrachten wir zunächst Festlegung eins, denn hier zeichnet sich ein deutlicher Unterschied zu den Adjektiven ab: Was als der Normalfall der Bedeutungsentwicklung bei Adjektiven zu bewerten ist, stellt sich bei den Verben eher als Sonderfall dar. Dass ein Verb durch das Verfahren der Metaphorisierung einen evaluativen Aspekt hinzugewinnt, ist zwar in einigen Fällen, die ich in Kapitel 3 als evaluative Verben bezeichnet habe, feststellbar, aber bei Weitem nicht der Normalfall. Dass in die Gebrauchsregel eines Wortes bewertende Parameter Einzug halten, ist weder ein Phänomen, das sich allein bei den Adjektiven nachweisen ließe, noch ein Phänomen, das im Zuge der Metaphorisierung bei allen Wörtern vorkommt. Es scheint so zu sein, dass in den meisten Fällen semantischen Wandels bei Verben eher wertneutrale Bedeutungsvarianten durch das metaphorische Verfahren entstehen. Als Beispiel können uns die Präfixverben (z. B. erfassen, einholen (einen Rat) oder beleuchten) dienen, die gegenwärtig m. W. fast ausschließlich metaphorisch verwendet werden, aber nur selten evaluative Züge tragen. Hier muss man also klar differenzieren: Metaphorisierung kann bei Verben zu einer bewertenden Bedeutungsvariante führen, im Gegensatz zu den Adjektiven ist diese Entwicklung aber nicht obligatorisch. Es gibt aber auch eine klare Gemeinsamkeit in dieser Hinsicht: Die bewertende Funktion erlangt ein evaluatives Verb ebenso wie das Adjektiv mit Hilfe des metaphorischen Verfahrens. Es ist daher anzunehmen, dass die Metaphorisierung für die Herausbildung einer bewertenden Bedeutungsvariante eine hinreichende Bedingung ist - sowohl bei den Adjektiven als auch bei den Verben. 450 Daher gilt auch für das Verbum: „Die Metaphorisierung [...] ist eine Methode, mit deren Hilfe wir unser Repertoire der evaluativen sprachlichen Mittel erheblich erweitern können“ 451 . Im Gegensatz zu den Adjektiven kann die Metaphorisierung als zweckrationales sprachliches Mittel nicht nur zum Ausdruck einer Bewertung verwendet werden, sie eröffnet dem Sprecher ein weites Feld kommunikativer sprachlicher Nutzungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Offenbar ist die Metapher für den Verbwortschatz im Vergleich zu den Adjektiven ein multifunktionaleres sprachliches Mittel und kann mit mehr als nur der Intention der bewertenden Rede verwendet werden. Es scheint z. B. der weitaus häufigere Fall zu sein, dass Verben der konkreten Sphäre aus Gründen des bildlichen Ausdrucks für einen abstrakten Vorgang verwendet werden. In diesen Fällen dient die Metapher dem Spre- 450 Notwendig ist dieses Verfahren für den Prozess der Evaluation hingegen bei beiden Wortarten nicht, da auch das metonymische Verfahren zu evaluativer Bedeutung führen kann (Er hört nicht=Er gehorcht nicht Er missachtet einen Befehl und das gefällt dem Sprecher nicht). 451 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 99 246 cher zur bildhaften Übertragung von konkreten Handlungen auf abstrakte Vorgänge oder Tätigkeiten. Hier treten die bekannten Parameter der Gebrauchsregel wieder auf den Plan: Weil dieser Fall des Wandels vom Konkreten zum Abstrakten der wohl häufigste beim verbalen Bedeutungswandel ist, musste in Kapitel 3 die Taxonomie der Bedeutungsparameter zwingend erweitert werden. Beherrschen in den Adjektiven nach Durchlaufen des semantischen Wandelprozesses in erster Linie die Parameter aus der Welt der Haltungen die Wortbedeutung, sind es bei den Verben in sehr vielen Fällen die Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen, die ebenfalls zu den Parametern aus der Welt des Inneren gehören, sich aber intentional und semantisch deutlich anders ausdifferenzieren. Neben den bewertenden Verben und den mentalen Verben lassen sich, wie in Kapitel 3 gezeigt, noch andere Verbgruppen klassifizieren. Auch bei ihnen liegt der neuen Bedeutung vielfach ein metaphorischer Wortgebrauch zu Grunde. Die Verbalkonstruktion jemandem etwas vorwerfen etwa beruht auf einer Metapher, stellt sich aber nicht als bewertend dar, sondern ist in erster Linie als sozial zu bezeichnen: Der Zweck der metaphorischen Wortverwendung ist hier die soziale Bestimmung. 452 Es bleibt also festzuhalten: Im Gegensatz zu den Adjektiven ist die metaphorische Variante eines Verbs nicht zugleich und zwingend bewertend, auch wenn das Verfahren der Metaphorisierung auch bei Verben evaluative Varianten hervorbringt. In dieser Hinsicht gelangen Verben auf ähnlichen Pfaden zu neuer Bedeutung wie die Adjektive und involvieren in diesen Fällen dieselben Bedeutungsparameter. 453 Für die Verben scheint es im Gegensatz zu den Adjektiven aber so zu sein, dass ihre Gebrauchsregeln in gewisser Weise semantisch offener sind und sie sich eher dazu eignen, sehr unterschiedliche (und häufig wertneutrale) Bedeutungsparameter in ihre Gebrauchsregeln zu involvieren. Dieser Befund legt die Vermutung nahe, dass sich Verben per se breiter semantisch ausdifferenzieren können als Adjektive und dass dem Sprecher zur Verwirklichung seiner kommunikativen Ziele bei Verben deutlich mehr Möglichkeiten der Neunutzung zur Verfügung stehen. Die pragmatische Nutzungsfähigkeit von Verben ist vermutlich deutlich größer als diejenige von anderen Wortarten, insbesondere von Adjektiven. Die Adjektive, das lässt die Analyse K ELLER s/ K IRSCHBAUM s vermuten, können ihre Gebrauchsregeln im Zuge des metaphorischen Verfahrens 452 Vgl. dazu Kapitel 3.2 453 Dieser Aspekt wird uns im Kapitel 8 eingehender beschäftigen. 247 (und das gilt auch für die Metonymie) allein für evaluative Bedeutungsparameter öffnen. 454 Betrachten wir den zweiten Befund aus der weiter oben zitierten Festlegung K ELLER s/ K IRSCHBAUM s. Dort haben wir erfahren, dass der Zugewinn an neuer (bei den Adjektiven evaluativer) Bedeutung dazu führt, dass es in denjenigen Fällen, in denen es randbereichsunscharfe Verwendungsbereiche gibt, die ursprüngliche Bedeutung zugunsten der neuen Bedeutung aufgegeben wird. Sie trifft auch auf den semantischen Wandel bei Verben zu. Die Begründung dafür ist recht einfach: Wenn der Kontext nicht genau verrät, welche Bedeutungsvariante gerade gemeint ist, wird eine Äußerung u. U. missverständlich. Das Vermeiden von Missverständnissen ist aber eine der wichtigsten kommunikativen Maximen, die Sprecher verfolgen können. Sie leitet sich aus den Konversationsmaximen ab, die H ERBERT P AUL G RICE für rationales sprachliches Handeln formuliert hat. Das Vermeiden von Missverständnissen basiert dabei auf der Maxime der Modalität, die besagt, dass man Dunkelheiten im Ausdruck ebenso vermeiden soll wie Mehrdeutigkeit. 455 6.2.1.2 Polysemie im Verbwortschatz Ich möchte an dieser Stelle eine Behauptung aufstellen und im Folgenden versuchen, den Beweis für ihre Richtigkeit zu führen: Im Gegensatz zu den Adjektiven (und anderen Wortarten) weisen Verben in synchroner Hinsicht weniger Polysemie auf. Das (hypostasierend ausgedrückte) Verschwinden von Bedeutungsvarianten ist bei Verben in manchen Fällen eher bzw. rascher feststellbar als bei anderen Wortarten. Wie lässt sich diese intuitive Vermutung aus den bislang gewonnenen Erkenntnissen belegen? Da Bedeutungswandel ein fortschreitender und nie abgeschlossener Prozess ist, sind Überschneidungen von Bedeutungsvarianten immer möglich. Bei Verben ist die längerfristige Koexistenz zweier Bedeutungsvarianten allerdings eher die Ausnahme als die Regel - zu groß ist bei ihnen trotz vielfach unterschiedlicher Verwendungsbereiche die Gefahr des Missverständnisses und damit des kommunikativen Scheiterns. Das liegt m. E. daran, dass Verben Tätigkeiten kennzeichnen und somit konkrete Vorstellungen generieren. Der Kontext der Wortverwendung weist bei polysemen Verben oft nicht eindeutig genug darauf hin, welche Bedeutungsvariante gemeint ist. Die Möglichkeit, ein polysemes Wort in ein und demselben Kontext in unterschiedlichen Bedeutungsvarianten zu 454 Ich vermute, dass dies mit der semantischen Funktion der Adjektive zusammenhängt: Als sprachliche Zeichen zum Ausdruck von Eigenschaften sind sie, wenn man sie metaphorisch oder metonymisch auf einen Menschen bezieht, per se bewertend. 455 Vgl. zu den Konversationsmaximen z. B. K RALLMANN / Z IEMANN 2001: 111ff. 248 verwenden, ist bei den Verben eher gegeben als z. B. bei den Adjektiven. Wenn ich z. B. sage Das ist aber ein scharfes Moped, dann verrät der Gesprächskontext sehr klar, in welcher Weise (in diesem Fall bewertend) ich das Adjektiv scharf verwende. Auch in der metaphorischen Übertragung von Adjektiven auf Menschen ist sehr deutlich, was ich mit der Äußerung meine (z. B. Horst ist ganz schön bequem). Die Verwendungsbereiche des Adjektivs scharf und des Substantivs Moped sind deutlich verschieden, so dass eine metaphorische Verwendung sehr schnell als solche erkannt und interpretiert werden kann. Bei Verben hingegen stellt sich dies in vielen Fällen nicht so eindeutig dar, weil Verben als Tätigkeitswörter per se einen breiteren Verwendungsbereich besitzen und daher häufig nicht klar genug zugeordnet bzw. abgegrenzt werden können. Auf dieses Phänomen sind wir weiter oben bereits bei dem Verb lesen gestoßen. Wenn ich z. B. sage, dass ich in meiner Freizeit lese, ist heute klar, was ich damit meine. Wäre heute die ursprüngliche Lesart lesen=sortieren noch gebräuchlich, könnte meine Äußerung auch in dieser Weise verstanden und ich entsprechend missverstanden werden. Die ursprüngliche Lesart ist aus diesem Grund heute kaum noch gebräuchlich. Dasselbe gilt für das Verb begreifen - auch hier ist die konkrete Ursprungsbedeutung verschwunden, weil sich das Verb vermutlich dazu geeignet hat, sowohl in der konkreten als auch in der abstrakten Lesart im selben Gesprächskontext verwendet zu werden. So konnte man etwa sagen: Ich habe den Korkenzieher nicht begriffen. Ob man damit gemeint hat, dass man die Funktionsweise nicht verstanden oder ob man das Gerät nicht angefasst hat, ist allein aus der Äußerung dieses Satzes so ohne weiteres nicht zu rekonstruieren. Man würde zum sicheren Verständnis dieser Äußerung (wie auch beim lesen) eventuell nachfragen müssen Wie meinst du das? , weil man von dem Gesagten nicht problemlos auf das Gemeinte schließen kann. Anders stellt es sich bei Verben dar, die man in der neuen abstrakten Variante eher selten im selben Kontext wie die ursprüngliche konkrete Variante verwendet. Die abstrakten Verben einholen (einen Rat) oder ausmachen (einen Gedanken) verwendete man wohl eher selten im selben Kontext wie die konkreten Varianten der haptischen Realisierung (Verben der Kartoffelernte). Dass dennoch auch hier die Ursprungslesart verschwunden ist, hat m. E. weniger mit der Gefahr des Missverständnisses als mit der mangelnden Verwendungsfähigkeit aufgrund des gesellschaftlichen Wandels (vom Tun zum Denken) zu tun. Aus diesen Gründen ist anzunehmen, dass es häufiger und in einigen Fällen sehr viel ra- 249 scher als bei anderen Wortarten zum Verschwinden von Bedeutungsvarianten kommt - synchrone Polysemie ist in der Folge seltener. 456 6.2.1.3 Metaphorische Verwendung von Präfixverben - Zur Funktion innersprachlicher Bedeutungsparameter In Kapitel 3 sind wir bei der Frage nach einer angemessenen Taxonomie der Bedeutungsparameter für den Verbwortschatz zu der Auffassung gelangt, dass innerhalb der Gebrauchsregel eines Verbs nicht nur außersprachliche Parameter (wie sie uns vielfach bereits begegnet und als Erklärungsmuster von Nutzen gewesen sind) semantisch wirksam und für den Bedeutungswandel von entscheidender Bedeutung sind, sondern dass auch innersprachliche Parameter zur Bedeutungsstruktur eines Wortes beitragen können. Bislang haben wir solche Parameter außer Acht gelassen und uns in erster Linie auf die außersprachlichen Parameter konzentriert, weil diese a) deutlich häufiger vorkommen und b) in stärkerem Maß den Bedeutungswandel beeinflussen. Innersprachliche Parameter hingegen wirken oftmals lediglich additiv mit außersprachlichen Parametern und kommen selten isoliert zum Tragen. Innersprachliche Bedeutungsparameter werden in den wenigen Publikationen, die sich mit Bedeutungswandel über den Weg der Parameterbeschreibung überhaupt beschäftigen, als Faktoren definiert, die innersprachlich motiviert die Gebrauchsregel eines Wortes bestimmen oder die in ihr semantisch wirksam sind. 457 R OBERT M ROCZYNSKI schreibt mit einem gebrauchstheoretischen Blick auf mögliche innersprachliche Faktoren: „Hier ist [...] das grammatische Wissen angesiedelt. Der Sprecher bzw. Hörer muss die Gebrauchsregel eines Ausdrucks kennen, der zur Satzorganisation beiträgt oder [obligatorische grammatische, S. B.] Kategorien zum Ausdruck bringt“ 458 . Wenn man den Begriff der Kategorie weiter ausdehnt und präzisiert (und für das Verbum nicht allein auf Aspekte wie Tempus, Modus oder Genus verbi bezieht) 459 , könnte man sagen: Innersprachliche Parameter bestimmen auf der Ebene der Gebrauchsregel bisweilen grammatisch-syntaktischen Kategorien, also 456 Dennoch ist ein Nebeneinander von polysemen Wortbedeutungen zu Beginn eines Bedeutungswandels der Normalfall, bis sich früher oder später eine der beiden Varianten durchsetzt und damit die andere ablöst. 457 Vgl. K ELLER 2002: 10 oder R ADTKE 1999: 156f. 458 M ROCZYNSKI 2012: 22 459 An dieser Stelle verweise ich auf Kapitel 7, in dem sowohl die Diathese als auch die Valenzeigenschaften und insbesondere der Zusammenhang mit innersprachlichen Parametern für den Bedeutungswandel bei Verben diskutiert werden. 250 auch die Ausgestaltung grammatischer Komposita, die ich als eine solche grammatische Kategorie einstufen würde. Wenn das zutrifft, möchte ich auf einen Zusammenhang hinweisen, den ich zwischen der Metaphorisierung als semantisches Verfahren und der Einbindung innersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel bestimmter Verben vermute. Neben der Dominanzverschiebung oder Neuinkorporierung außersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel eines Verbs, die dann die lexikalische Bedeutung denotieren, können auch innersprachliche Parameter die Wortbedeutung beeinflussen - in diesem Fall bedingt durch das metaphorische Verfahren. Gemeint ist der Zusammenhang zwischen Präfigierung und semantischer Intensivierung der neuen Wortbedeutung infolge der Metaphorisierung eines Ausdrucks, der sich folgendermaßen darstellt: Ein Verb bekommt im Zuge der Präfigierung durch das Hinzukommen eines Präfix eine neue semantische Bedeutung oder wird semantisch in einer bestimmten Richtung modifiziert. Dieser Zusammenhang ist nicht leicht zu verstehen und bedarf im Folgenden der näheren Erläuterung. In der bisherigen Analyse sind wir einer Vielzahl Verben begegnet, die man gemeinhin als Präfixverben bezeichnet. Auffälliges Kennzeichen dieser Präfixverben ist, dass die Präfigierung offenbar in einem nicht näher bestimmten Zusammenhang mit semantischem Wandel steht: Viele dieser Verben werden gegenwärtig metaphorisch verwendet. Dabei ist die Präfigierung kein Prozess, der im Zuge des Bedeutungswandels zustande gekommen wäre, so dass der Zusammenhang nicht direkt, sondern indirekt ist: Die metaphorischen Präfixverben könnten sich aufgrund der innersprachlichen Parameter, die sich in Form der Präfigierung nachweisen lassen, in den Ursprungsbedeutungen semantisch besonders gut dazu geeignet haben, metaphorisch verwendet zu werden. Diese Vermutung basiert auf der verbreiteten Annahme, dass Präfigierung gemeinhin einhergeht mit semantischer Intensivierung und dass sich semantisch intensivierte Verben vorzugsweise dazu eignen, mit Hilfe des metaphorischen Verfahrens umgeformt zu werden. Neben der Intensivierung dürfte die mit fast jeder Präfigierung einhergehende semantische Modifikation eines Verbs zu dieser besonderen Eignung der Präfixverben beitragen: Es gibt [...] Präfixverben, bei denen das Präfix lediglich die Grundverbhandlung intensiviert, und die grammatisch im selben Kontext vollkommen austauschbar mit dem Grundverb sind [...]. Normalerweise tritt aber neben eine syntaktische vor allem eine s e m a n t i s c h e Modifikation des Simplex durch die Präfigierung. Das Präfix bringt Inhaltsmerkmale hinzu 251 mit distinktiver Funktion sowohl gegenüber dem Grundverb als auch gegenüber anderen Präfixverben. 460 Was I NGEBURG K ÜHNHOLD hier als ,Inhaltsmerkmale’ beschreibt, könnte mit einem gebrauchstheoretischen Duktus als innersprachliche Parameter der Gebrauchsregel expliziert werden. Mit dieser Fixierung lässt sich dann feststellen, dass die Präfigierung in den allermeisten Fällen zu einer semantischen Modifikation führt, die ein Verb für das metaphorische Verfahren offenbar attraktiv macht und in vielen Fällen in gewisser Weise öffnet. Wie sonst sollte es zu erklären sein, dass so viele gegenwärtig gebräuchliche Präfixverben eine metaphorische Lesart aufweisen? Betrachten wir auch hier zur Verdeutlichung zwei Beispiele von Präfixverben, die gegenwärtig metaphorisch verwendet werden. Die Verben aufdecken oder entdecken können vermutlich deswegen gegenwärtig metaphorisch abstrakt verwendet werden, weil sich in einem ersten Schritt ihre zugrunde liegende konkrete Ursprungshandlung (das Decken als diffuser Begriff) durch die Präfigierung in bestimmter Weise modifiziert und spezifiziert hat. Die Präfigierung sorgte wohl zunächst dafür, dass die Verben aufdecken und entdecken sich im Bezug zu ihrem gemeinsamen Basisverb semantisch ausdifferenziert haben. Während decken sehr unspezifisch verwendet werden kann, sind die Verben entdecken und aufdecken in der konkreten Ursprungsbedeutung sehr viel spezieller. Für das Verb aufdecken ist diese präfigierte Ursprungsbedeutung noch lebendig: Man kann gegenwärtig noch ein Bett aufdecken. Dieser erste Prozess der Bedeutungsentwicklung manifestiert sich in Form von innersprachlichen Parametern auf der Strukturebene der Gebrauchsregel. Im Fall von aufdecken und entdecken wird der sehr unspezifische Vorgang des Deckens in ganz bestimmter Weise spezifiziert. Durch diese Spezifizierung hin zu wesentlich konkreteren Tätigkeiten erlangen die Verben überhaupt erst ihre pragmatische Nutzungsfähigkeit und ihre lexikalische Ursprungsbedeutung: Die konkreten Ausgangsbedeutungen, die erst durch die Präfigierung entstehen konnten, lassen sich in diesen Fällen heute assoziativ (metaphorisch) verwenden, um gegenwärtig abstrakte Vorgänge zu bezeichnen (aufdecken z. B. im Sinne von ein Verbrechen aufdecken oder entdecken etwa im Sinne von ein Geheimnis entdecken). An dieser Stelle könnte die Erklärung für die besondere pragmatische Eignungsfähigkeit präfigierter Verben, metaphorisch verwendet zu werden, also lauten: Aufgrund der semantischen Ausdifferenziertheit der Präfixverben eignen sie sich eher dazu, semantisch umgeformt zu werden als ihre Basisverben. So haben die beiden Beispielverben aufdecken und entdecken im Gegensatz zum Basisverb decken heute neben der ursprünglichen haptisch-konkreten Lesart auch eine metaphorische (und häufig 460 K ÜHNHOLD 1973: 142. Hervorhebung im Original. 252 abstrakte) Bedeutungsvariante erhalten. Die Präfigierung erweitert den Verbwortschatz also nicht nur um die präfigierte Bedeutungsvariante im Vergleich zum semantisch schwächeren Basisverb, sie eröffnet zudem semantisch die Möglichkeit, das präfigierte Verb in metaphorischer Weise zu verwenden und sorgt damit für einen doppelten pragmatischen Nutzen für den Sprecher. Diese Möglichkeit eröffnet sich aber nicht für alle Präfixverben, hier ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. Ich möchte daher für diese Zusammenhänge vorsichtig von einer Tendenz semantischen Wandels bei Verben sprechen und die Behauptung aufstellen: Innersprachliche Parameter in Form von Präfixen können bei Verben die Möglichkeit der metaphorischen Nutzung für den Sprecher bewirken. Auch wenn sich die präfigierte Verbform nicht dazu eignen sollte, metaphorisch weiter modifiziert zu werden, ergibt sich an dieser Stelle doch eine wichtige Erkenntnis: Verbale Präfigierung manifestiert sich semantisch in Form innersprachlicher Bedeutungsparameter und dient der zweckrationalen Modifikation der Wortbedeutung durch den Sprecher. Die semantische Funktion der Präfixe lässt sich deutlich als das unsichtbare Wirken innersprachlicher Parameter in den Gebrauchsregeln der Präfixverben nachweisen, wodurch wir einen systematischeren Blick auf die strukturellen sprachsystemimmanenten Zusammenhänge zwischen semantischem Wandel und Veränderungen auf der Ebene der Gebrauchsregel erhalten. Der grammatikalische Prozess ist in diesem Fall eng an die semantische Modifikation des Verbs gekoppelt. Man könnte sagen: Wenn man ein Verb semantisch modifizieren möchte (z. B. mit dem Ziel der Intensivierung), dann eignen sich Präfixe, um dieses Ziel zu erreichen. Ein solcher Prozess ist also bisweilen intentionalen Entscheidungen unterworfen. Die semantische Struktur der Verben verändert sich im Zuge dieser Bedeutungsentwicklung dadurch, dass innersprachliche Parameter in die Gebrauchsregel gelangen. Die modifizierte Bedeutung des Verbs wird dann auf der Strukturebene durch das Wirken innersprachlicher Bedeutungsparameter bestimmt. 461 461 Wir gelangen über diese Hypothese zu einer differenzierteren Definition und Funktionsbeschreibung des Typus innersprachlicher Bedeutungsparameter, als sie bislang in der Forschung vorliegen. M. W. gibt es bis heute noch keine Betrachtung, die diesen eher peripheren Parametertypus anhand konkreter Beispiele systematisch nachweist bzw. das Wirken dieser Parameter angemessen würdigt. In Kapitel 7 werden die innersprachlichen Parameter und ihre Bedeutung für den Bedeutungswandel anhand anderer grammatisch-syntaktischer Phänomene noch einge- 253 Auch wenn sich die Frage, ob es sich bei den hier dargestellten Zusammenhängen um ein Prinzip semantischen Wandels bei Verben handelt, oder ob sie sich vielmehr als Einzelphänomene einordnen lassen, nicht abschließend beantworten lässt, zeigt sich doch die wesentliche Bedeutung und explanative Kraft von Gebrauchsparametern für die Erklärung semantischen Wandels bzw. semantischer Ausdifferenzierung. 462 So darf das Fazit für den Moment lauten: Für die semantische Modifikation von deutschen Verben spielen Präfixe eine entscheidende Rolle, da sie das Wirken innersprachlicher Bedeutungsparameter und damit die Wortbedeutung ein Stück weit mitbestimmen. 6.2.2 Verbale Metonymien In einigen Fällen semantischen Wandels, wenden Sprecher zur assoziativen Umformung einer Verbbedeutung das Verfahren der Metonymie an, bei dem zwischen Ausgangs- und Zielbedeutung ein Verhältnis der logischen, situativen, ontologischen oder kulturellen Kontiguität, also der semantischen Nähe besteht. 463 Das Assoziationsmuster der Sinnberührung führt bei der Metonymie häufig dazu, dass Verben den Teil eines Ganzen denotieren und damit als Stellvertreter für das Ganze selbst stehen können. Wenn mich meine Freunde z. B. fragen, was ich gerade so treibe, dann sage ich ihnen, dass ich meine Dissertation schreibe. Mit dieser Erklärung sind sie oft zufrieden und gewinnen über die Ausdrucksbedeutung des Verbs schreiben eine Vorstellung davon, was ich tue. Dabei ist natürlich mit der Äußerung eine Dissertation schreiben weit mehr gemeint, als über das Verb schreiben eigentlich zum Ausdruck gebracht wird: Literaturrecherche, das Formulieren eigener Gedanken, das Sammeln von Ideen, der Austausch mit anderen Doktoranden, die Korrespondenz mit hender beleuchtet, so dass die dort gewonnenen Ergebnisse mit den hier skizzierten Befunden zusammen ein klareres Bild über diese Bedeutungsparameter ergeben. 462 Ob man diese Zusammenhänge als ein Prinzip semantischen Wandels bei Verben einordnen darf, oder ob es sich um Einzelphänomen handelt, müsste durch eine genauere Untersuchung der Präfixverben im Deutschen gezeigt werden. An dieser Stelle ist ein Beleg dieser These nicht beabsichtigt. Vielmehr geht es mir um die Formulierung einer Hypothese, die diese innersprachlichen und sprachpragmatischen Faktoren zueinander in Beziehung setzt. 463 Diese Kontiguitätsrelationen bilden bei Weitem nicht alle möglichen Realisierungsmöglichkeiten ab und stehen hier nur exemplarisch. Vgl. daher zur Frage nach den häufigsten metonymischen Zusammenhängen im Sinne von konkreten Kontiguitätstypen die Ausführungen bei B LANK 1997: 249ff. Dort findet man eine Analyse dazu, welche Arten von Kontiguitäten innerhalb von Frames bestehen können und welche Muster von Metonymien sich aus diesen Kontiguitätstypen ergeben können. Auch eine interessante wissenschaftsgeschichtliche Darstellung der wichtigsten Positionen zur Frage der Kontiguitätszusammenhänge innerhalb der linguistischen Disziplin ist dort nachzulesen. 254 meinem Professor, besondere emotionale Befindlichkeiten und vieles mehr. Das Schreiben als produktiver Akt ist nur ein Teilaspekt der wesentlich größeren Gesamthandlung und dabei nicht einmal der Wichtigste. Aber er ist vermutlich der für alle meine Freunde verständlichste Teilaspekt meiner Handlung. Wenn ich also sage, dass ich gerade an meiner Forschungsarbeit schreibe, dann verwende ich das Verb schreiben metonymisch. Das Verfahren der Metonymie ermöglicht es mir, all die Aspekte meiner Handlung in das eine Verb zu legen, das lediglich einen Teil der Gesamthandlung beschreibt; die anderen Aspekte werden indirekt mit ausgedrückt. Das metonymische Verfahren ist also, wie die Metaphorik auch, ein wichtiges pragmatisches Ausdrucksmittel. 464 Als wesentlich für eine metonymische Entwicklung bei Verben, die sich häufig auch als semantischer Wandel manifestiert, kann man in der Literatur Hinweise auf die Lösung einer ganz spezifischen Ausdrucksaufgabe finden: die Umschreibung eines Gefühls mit Hilfe eines Ausdrucks für eine Körperreaktion. So steht das Verb erschrecken (in der ursprünglichen Bedeutung aufspringen) als ein Verb der körperlichen Sphäre expressiv und repräsentativ für ein Gefühl, das sich mit der körperlichen Reaktion verbindet. Die beobachtbare Regung des Körpers, das Aufschrecken, ist dabei zugleich Teil der Gesamthandlung und denotiert eben diese. Der winzige Moment, in dem ein Mensch erschrickt und in dem allerlei physische Reaktionen ablaufen, wird durch das Verb erschrecken, das ursprünglich nicht mehr als die beobachtbare physische Reaktion beschreibt, zum Ausdruck gebracht. Das Symptom steht hier als Teil des Ganzen für die gesamte Szene. 465 Welcher Kontiguitätstyp wird hier realisiert? Der Wandel beruht in solchen Fällen auf einer Beziehung zwischen einem Teilaspekt bzw. einer Teilhandlung einer Handlungssequenz und der Gesamthandlung (pars pro toto). 466 Die kontige Teilhandlung wird semantisch zum Ausdruck der Gesamthandlung umgeformt und denotiert diese folglich künftig allein. Zu dieser Einschätzung gelangt auch D ESSISLAVA S TOEVA -H OLM , wenn sie in ihrer kognitionslinguistischen Forschungsarbeit zu Verbmetonymien schreibt: „[D]ie Metonymie beleuchtet den Zusammenhang zwischen der Wirklichkeit und eines ihrer Merkmale und benennt durch dieses Merkmal das Ganze“ 467 . Im Unterschied zur Metapher, die Teilaspekte einer Gesamthandlung hervortreten lässt und dabei eine andere Handlung verwendet, um diese zu benennen (z. B. die Teilaspekte des kognitiven 464 Mit einem Bedeutungswandel für das Verb schreiben geht diese metonymische Wortverwendung indes nicht einher. Sie ist vielmehr ein wichtiges Mittel sprachlicher Ökonomie. 465 Vgl. auch die Ausführungen zu den sogenannten Psychverben in Kapitel 6.2.3 466 Vgl. B LANK 1997: 260ff. 467 S TOEVA -H OLM 2010: 8 255 Sammelns und Unterscheidens von Buchstaben beim Gesamtvorgang des Lesens), spiegelt die Metonymie „die Aufteilung einer Handlung in ihre einzelnen Teilhandlungen“ 468 wider. Dabei denotiert bei der Metonymie die typische Teilhandlung die Gesamthandlung, wenn diese ansonsten nicht problemlos ausgedrückt werden kann; was sich nicht so einfach sagen lässt, erfordert das assoziative Verfahren. Dieses Phänomen ist besonders dann feststellbar, wenn die Gesamthandlung entweder sehr komplex ist oder aber wenn sie für einen Außenstehenden nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist. In diesen Fällen dient der verbale Ausdruck einer intersubjektiven Teilhandlung dem Ausdruck der subjektiven Gesamthandlung; sie wird dadurch nachvollziehbar. Metonomyien erfüllen in dieser Hinsicht eine fundamentale kommunikative Funktion; sie dienen der Verständlichmachung. Der bildhafte Ausdruck, den wir für die Metapher als Motiv konstatieren mussten, spielt bei der Metonymie im Verbwortschatz vermutlich aus diesem Grund eine eher untergeordnete Rolle. Hier erfüllt der kontige Ausdruck oft weniger eine innovative Ausdrucksfunktion, sondern dient der sprachlichen Vereinfachung zum Zweck des Verstandenwerdens. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Metonymie von den meisten Metaphern grundlegend in ihrer kommunikativen Bedeutung: Zwar kann ich mittels des metaphorischen Vergleichs auf Abstraktes, also auf subjektiv Erfahrbares referieren, wie ich es mittels aller kognitiven Metaphern (Mind-as-Body-Metaphor) zustande bringe, aber eine tatsächliche intersubjektive Erfahrung meiner metaphorisch ausgedrückten Gedanken oder geistigen Vorgänge kann ich meinem Gegenüber nicht vermitteln. Wenn ich sage, dass ich etwas begriffen habe, dann versteht mein Gesprächspartner, dass ein geistiger Verarbeitungsprozess bei mir eingesetzt hat. Wie genau der aber aussieht, das kann ich ihm mit Hilfe des sprachlichen Bildes nur vage vermitteln. Metonymien aus dem Bereich des Körperlichen hingegen sind unmittelbar nachvollziehbar: Wie es sich körperlich anfühlt, wenn man erschrickt, ist jedem Menschen im Prinzip gleichermaßen zugänglich. Daher eignen sich Körpermetonymien ganz besonders, um auf subjektive Vorgänge zu referieren. Einen Hinweis auf diese wichtige Funktion von Metonymien finden wir auch bei F RITZ , wenn er feststellt: Insbesondere ist die Metonymie [...] eine Ressource für die Entwicklung attraktiver Lösungen für schwierige Beschreibungs- oder Referenzaufgaben, beispielsweise die Kennzeichnung von Emotionen mit Hilfe von Ausdrücken für körperliche Reaktionen [...]. 469 468 S TOEVA -H OLM 2010: 215 469 F RITZ 2005: 97 256 Hier zeigt sich ein Charakteristikum von Metonymien im Verbwortschatz, nämlich „dass die Metonymie bisweilen ein ganzes System von Verwendungsweisen ermöglicht“ 470 (hier: psychische Denotation) und damit z. B. wie gezeigt einen systematischen Klasseneffekt der metonymischen Verknüpfung vom Körperlichen zum Emotiven hervorruft. Auch eine Kontiguität des Typs Gesamthandlung zu einer daraus entstehenden Folgehandlung lässt sich bisweilen nachweisen. So wird das deutsche Verb sehen im Sinne von etwas einsehen oder erkennen in bestimmten Äußerungskontexten epistemisch dazu verwendet, auf ein Verhalten oder einen Zustand zu referieren, das oder der sich an den Vorgang der Erkenntnis anschließt. Wenn ich sage Du wirst schon sehen, was Du davon hast, dann besteht zwischen dem Sehen als Erkennen einer Lage und allem, was daraus folgt, ein Verhältnis der Kontiguität. Dasselbe gilt für das Verb hören in der Phrase Wer nicht hören will, muss fühlen. Das Nicht-Hören steht hier für den Akt einer Zuwiderhandlung und wird aus dem verwandten Verb gehorchen abgeleitet. Wer nicht hört, der wird i. d. R. Konsequenzen zu spüren bekommen; ein Umstand, der bereits kleinen Kindern klar ist. Das Nicht-Hören in diesem Fall bestimmt daraus entstehende Folgehandlungen der Mutter, wie etwa einen Hausarrest oder andere Verbote. Auch der kontradiktorische Fall folgt diesem Kontiguitätsmuster: Wer hört (also brav ist), der wird belohnt. Für das Verb hören gibt es noch eine andere metonymische Verwendungsweise, bei der das Verhältnis der Kontiguität ein anderes ist. Wenn ich z. B. sage, dass ich von etwas gehört habe, nehmen wir an, von einem Fußballergebnis oder von einer Bundestagsdebatte, dann spielt es keine Rolle, ob ich es tatsächlich gehört oder vielleicht gelesen habe. Hören steht hier metonymisch für den physischen Teil des Vorgangs der kognitiven Wahrnehmung: Damit ich eine Information geistig verarbeiten kann, muss diese Information zunächst in mein Bewusstsein dringen. In diesem Fall wird hören im Sinne von kognitiv aufgenommen verwendet. Wie das Verb lesen auch involviert hören in dieser Lesart daher kognitiv-mentale Bedeutungsparameter. K ELLER und K IRSCHBAUM weisen zu Recht darauf hin, dass „die metonymischen Muster äußerst vielfältig“ 471 sind. So lassen sich auch für Verben nicht nur die bislang beschriebenen Teil-Ganzes-Relationen bzw. Handlung-Folgehandlung-Beziehungen nachweisen, die mit Sicherheit für den metonymischen Bedeutungswandel bei Verben bestimmend sind, sondern auch eine andere Art der Relation, die in manchen Fällen zu semantischem Wandel führt. Für die von ihnen untersuchten Adjektive schreiben K ELLER / K IRSCHBAUM : „Ein Spezialfall, der bei der metonymi- 470 F RITZ 2005: 97 471 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 59 257 schen Sinnverschiebung von Adjektiven eine besondere Rolle spielt, ist die W e n n - D a n n - B e z i e h u n g “ 472 . Es handelt sich hierbei um semantische Zusammenhänge und Schlüsse, die bisweilen weniger logisch als praktisch sind, da sie auf Alltagserfahrungen beruhen. Als Beispiel für eine solche Bedeutungsentwicklung bei Adjektiven nennen K EL- LER / K IRSCHBAUM das Adjektiv dunkel in der Satzkonstruktion Der Laden ist dunkel, die über das Wissen der Sprecher als Der Laden ist geschlossen interpretiert wird. Die semantische Beziehung besteht in solchen Fällen darin, dass aus dem Alltagswissen in unserem Beispiel etwa die Dunkelheit eines Ladens als ein Symptom für den Zustand des Geschlossenseins kurzgeschlossen wird: Wenn der Laden unbeleuchtet ist, dann ist er auch geschlossen. Dieser besondere Prozess metonymischen Wandels lässt sich folgendermaßen beschreiben: Wenn der Schluss ,wenn x, dann y’ mit einer gewissen Frequenz aktiviert wird, dann ist zu erwarten, dass die Sprecher (in ihrer Rolle als Interpreten) mit der Zeit dazu übergehen, den Interpretationsprozess gleichsam „kurzzuschließen“: Sie nehmen an, x bedeute y. 473 Dass diese Wenn-Dann-Relation auch für den semantischen Wandel mancher Verben verantwortlich zeichnet, möchte ich anhand des Verbs genießen verdeutlichen. Genießen leitet sich als Präfixverb aus dem Verb nießen ab, das ursprünglich nutzen bedeutete. Wir kennen heute noch das Substantiv Nießbrauch, das sich aus eben diesem Nießen im Sinne von Nutzen und von Brauch im Sinne von Recht ableitet und juristisch dasjenige Recht bezeichnet, dass jemand einen bestimmten Gegenstand nutzen darf, ohne dass ihm dieser gehören würde. 474 Wir finden eine historische Nutzung des Verbs nießen im Sinne von nutzen z. B. bei M ARTIN L UTHER : Wen mir gesagt wirt, Warumb Christus kummen sey, w i e m a n s e i n b r a u c h e n u n d n i e ß e n s o l l , was er mir bracht und geben hat: das geschicht, wo man recht außlegt die Christlich freyheit, die wir von yhm haben, und wie wir künig und priester seyn, aller ding mechtig. 475 Eine frühe Verwendung von genießen in der noch ursprünglichen Bedeutungsvariante finden wir auch später in der Predigtliteratur der Barockzeit bei dem Geistlichen A BRAHAM A S ANCTA C LARA : 472 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 59. Hervorhebung durch den Verfasser. 473 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 60 474 Vgl. K LUGE 1999: 652 475 L UTHER , Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen. In: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 120 Bände, Weimar: H. Böhlaus Nachfolger, 1888 ff. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 258 W a n n m a n d i e s e s h ö c h s t e G u t u n w ü r d i g g e n i e ß t , das heißt nachgefolgt dem gottlosen Juda Iscarioth, das heißt Jesum in den weißen Kleidern verspotten, wie geschehen ist zu Hof Pilati und Herodis [...], das heißt den eingebornen Sohn Gottes auf ein neues wiederum kreutzigen. 476 Worauf begründet sich hier der erwähnte Wenn-Dann-Schluss? Der Zusammenhang zwischen etwas nutzen und etwas genießen besteht vermutlich darin, dass mir Dinge, die mir nützlich sind, oft auch Freude bereiten. So kann ich meinen Urlaub nutzen, um zu verreisen und genieße damit meine freie Zeit. Wenn ich etwas Schönes nutzen kann (z. B. eine Sauna oder das Wetter), dann verbinde ich damit eine Emotion. Will sagen: Viele Dinge bringen mir einen emotionalen Nutzen, ich genieße sie dann. 477 Über diesen Weg hat das Verb genießen bis heute eine evaluative und emotive Bedeutung hinzugewonnen, die von der ehemaligen rein wahrheitsfunktional bestimmten Verwendungskonvention abweicht. Dass diese Wenn-Dann-Metonymie kein Sonderfall semantischen Wandels bei Verben ist, sondern als ein wichtiges Prinzip betrachtet werden sollte, zeigt auch ein ausgewähltes Beispiel aus dem Gesamt- Wörterbuch der Deutschen Sprache von J AKOB H EINRICH K ALTSCHMIDT aus dem Jahr 1834: Dort finden wir das Verb stören, das eine vergleichbare Bedeutungsentwicklung durchlaufen haben könnte wie genießen und ebenfalls einer Wenn-Dann-Metonymie folgend gewandelt wurde. In seiner ursprünglichen Bedeutung wurde stören im Sinne von stochern oder rühren verwendet. 478 Bei J OHANN C HRISTOPH G OTTSCHED finden wir einen Hinweis auf diese historische Verwendung: Er schreibt dort für seine Zeit, dass man „in ein Wespennest stören“ 479 kann. Das metonymische Prinzip besteht hier in dem semantischen Zusammenhang zwischen dem Vorgang des in etwas Herumstocherns und dem daraus resultierenden Zustand: Wenn jemand in etwas stochert, dann stört er damit (z. B. die Ruhe). Für das Beispiel Wespennest heißt das in der Wenn-Dann-Relation: Wenn jemand mit einem Gegenstand das Nest der Wespen manipuliert, dann stört er damit den Frieden und die Ruhe der Tiere. Stören im ur- 476 A BRAHAM A S ANCTA C LARA : Predigtliteratur. Judas der Erzschelm. Vierter Band, S. 141. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 477 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang kurz ein Prozess, der sich für ein bedeutungsähnliches Verb nachzeichnen lässt. Das Verb frommen hatte ursprünglich eine zu nießen synonyme Bedeutung und wurde ebenfalls im Sinne von nützen verwendet. Frommen leitet sich laut K LUGE aus dem ahd. Substantiv fruma oder froma ab, das Vorteil oder Nutzen bedeutet hat (vgl. K LUGE 1999: 318). Über den metonymischen Prozess ist vermutlich das gegenwärtig gebräuchliche Adjektiv fromm entstanden: Wenn jemand im Sinne der christlichen Tugend nützlich ist, dann ist er fromm. 478 Vgl. K ALTSCHMIDT 1834: 935 479 G OTTSCHED 1725: 614 259 sprünglichen Sinne von stochern wird dabei interessanterweise zunächst metaphorisch verwendet, bevor die Metonymie ins Spiel kommt: Ein konkreter Gegenstand ist in gegenwärtigen Verwendungskontexten nicht notwendig, um jemanden zu stören. Stören wird in einem übertragenen Sinn, also metaphorisch, verwendet. Die Metonymie ergibt sich dann aus dem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang der Wenn-Dann-Relation. Im Gegensatz zum ursprünglich wahrheitsfunktionalen stören in der konkreten haptischen Lesart (z. B. mit einem Holzstock in einem Feuer stochern) wird das Verb stören zudem gegenwärtig als Ausdruck einer Bewertung verwendet: Wer stört, der vollzieht eine für sein Gegenüber negativ empfundene Handlung. Auf der Ebene der Gebrauchsregel erhalten Verben bisweilen durch das metonymische Verfahren also eine neue Bedeutung, so dass auch die strukturellen Bedeutungsparameter innerhalb der Wortbedeutungen verschoben bzw. verändert werden. Im Fall des Verbs erschrecken sind es emotive Parameter aus der Welt der Gefühle und Affekte, die fortan die Wortbedeutung bestimmen. Das Verb sehen involviert im Vergleich zu seiner Ursprungsbedeutung zum einen kognitive Parameter und zum anderen (je nach Lesart) auch soziale Parameter: Wer schon sehen wird, was er von seinem schlechten Verhalten hat, der erkennt (kognitive Parameter) und wird u. U. bestraft (soziale Parameter). In einer Äußerung wie Ich sehe, was Du meinst spielen soziale Parameter hingegen weniger eine Rolle, dort überwiegen die kognitiv-mentalen Parameter. 480 Das Verb hören hingegen wird in der expressiven Lesart hören=gehorchen in erster Linie sozial verwendet, so dass das Wirken sozialer Parameter im Vordergrund stehen dürfte. Für die Wendung nicht hören=nicht gehorchen spielen zudem auch evaluative Parameter eine Rolle. Für das Verb genießen lässt sich vermuten, dass auch hier emotive und evaluative Parameter, also Parameter aus der Welt der Gefühle und Parameter aus der Welt der 480 Hier stellt sich aber die Frage, ob es sich beim Sehen in dieser Lesart um eine Metonymie oder um eine Metapher handelt. Ich würde die Bedeutung in diesem Fall eher als metaphorisch einstufen, aber hier sind die Übergänge sicher fließend. Vermutlich wird in manchen Definitionen aus diesem Grund auch die Metonymie als eine mögliche Ausprägung der Metapher begriffen. MÁ TE TÓ TH schreibt mit Referenz auf J OHN B ARNDEN (B ARNDEN 2010): „Trotz der zahlreichen Unterschiede zwischen den beiden Phänomenen werden in der neueren kognitivlinguistischen Literatur eher die Anknüpfungspunkte hervorgehoben und zum Gegenstand eingehender Untersuchungen gemacht [...]. Es wird betont, dass die Metapher und die Metonymie oft miteinander interagieren und das Resultat dieser Interaktion sprachliche Erscheinungen sind, die sich nicht eindeutig als Metaphern bzw. Metonymien kategorisieren lassen“. Ob man wegen möglicher Interaktionen, die sich auch bei einigen unserer Beispielverben nachweisen lassen, soweit gehen muss, von einer ,Metaphtonymie’ zu sprechen, wie es G OESSENS (G OESSENS 1990) vorschlägt, halte ich aber für fragwürdig. 260 Haltungen, Einzug in die Wortbedeutung gehalten haben: Wenn ich äußere, dass ich etwas genieße, dann drücke ich mit der Wortverwendung mein positives Gefühl und zudem meine Wertung im Hinblick auf den bezeichneten Zustand aus. Das Verb stören in der gegenwärtigen Bedeutung hat eine rein evaluative Bedeutung erlangt, die sich durch eine Dominanz bewertender Bedeutungsparameter manifestiert und mit einer Verdrängung der wahrheitsfunktionalen Parameter der äußeren Welt einhergeht. Man erkennt anhand der Beispiele also: Bedeutungswandel bei Verben ist auch bei der Metonymie stets verbunden mit dem Verdrängen wahrheitsfunktionaler Parameter zugunsten der Dominanz anderer außersprachlicher Bedeutungsparameter, die eine neue pragmatische Ausdrucksfunktion der Verben bestimmen. Es ist also korrekt und auch auf das Verbum adaptierbar, wenn K ELLER / K IRSCHBAUM für das Adjektiv feststellen, dass Metonymisierung dazu genutzt wird, „um unser Repertoire der evaluativen sprachlichen Mittel zu erweitern“ 481 . Im Vergleich zu den Adjektiven kann man für die Verben diese Feststellung in dieser Form aber nicht ohne eine Ergänzung stehen lassen. Die Befunde der Analyse zu den semantischen Verfahren hat ganz klar gezeigt, dass sowohl die Metonymisierung als auch die Metaphorisierung als schöpferische Akte nicht nur bewertende Bedeutungsvarianten hervorbringen; auch soziale, emotive und modifizierte wahrheitsfunktionale Bedeutungsparameter gelangen über diese Verfahren in die Wortbedeutungen von Verben. In diesem Punkt unterscheidet sich der Bedeutungswandel von Verben grundlegend von dem der Adjektive. Die Wortbedeutungen von Verben lassen sich auf vielfältigere Weise semantisch modifizieren, wodurch der Sprecher ein pragmatisches Ausdrucksmittel erhält, das sehr breit anwendbar ist. Verben eröffnen dem Sprecher ein pragmatisches Nutzungsfeld, das alle denkbaren zweckrationalen Entscheidungen über Verschiebungen der Parameterdominanz berücksichtigen kann. Will sagen: Es scheint für das Verbum im Allgemeinen keine Einschränkung der pragmatischen Nutzungsfähigkeit vorzuliegen; die Gebrauchsregeln von Verben sind - bei Vorliegen einer assoziativen Eignung - prinzipiell offen für jede denkbare Parameterdominanz. 6.2.3 Semantischer Wandel von PHYS-Verben zu Psychverben Bislang haben wir metaphorischen Wandel und metonymischen Wandel immer isoliert betrachtet und anhand von Beispielen als wichtige Verfahren für den Wandel in der Verbsemantik identifizieren und greifbar machen können. Metonymie und Metapher bestimmen aber in einer beson- 481 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 99 261 deren Gruppe von Verben im Deutschen nicht getrennt, sondern gemeinsam bzw. gleichwertig die neuen Wortbedeutungen. Gemeint ist die semantische Ausdifferenzierung von Verben der physischen Sphäre (PHYS- Verben) zu psychischen Ausdrücken, die als sogenannte Psychverben eine Besonderheit im gegenwärtigen Verbwortschatz des Deutschen darstellen. 482 Für den Bedeutungswandel innerhalb dieser Gruppe sind beide semantische Verfahren gleichsam von Bedeutung: Figurative Einzeloperationen, also metaphorischer oder metonymischer Wandel, sind zwar - wie wir bislang festgestellt haben - für die Bedeutungsentwicklung von Verben im Allgemeinen die Regel, es gibt aber bei den Psychverben im Speziellen eine Ausnahme, bei der die Verben der Gruppe durch beide Verfahren gewandelt werden - in einigen Fällen sogar gleichzeitig über einen zweifach gestuften Prozess. Metaphorischer Wandel und metonymischer Wandel spielen also sowohl als figurative Einzeloperationen für den semantischen Wandel eine Rolle, sie treten bei einigen Psychverben aber bisweilen auch als ein zweifacher Prozess der Bedeutungsentwicklung in Erscheinung, der eine Besonderheit in der Bedeutungsentwicklung von Verben darstellt und den ich weiter unten erklären werde. Zuvor möchte ich kurz skizzieren, was unter dem diffusen Begriff der Psychverben überhaupt zu verstehen ist. Es handelt es sich bei der Gruppe der Psychverben um Verben, die in ihrer derzeitigen Lesart auf Vorgänge der inneren psychischen Gefühlssphäre referieren und die in sehr vielen Fällen aus Verben einer ehemals physischen Handlungssphäre entstanden sind. S ILVIA K UTSCHER definiert das gemeinsame Charakteristikum solcher Ausdrücke dadurch, „dass sich die Psychlesart aus einem figurativ verwendeten Ausdruck ergibt, der in seiner nicht-figurativen Lesart eine physische Manipulation oder einen im physikalischen Raum manifesten Vorgang bezeichnet (PHYS- Lesart)“ 483 : Wenn mich ein Eindruck erschlägt, manifestiert sich dieses Wandelprinzip ebenso in der metaphorischen verbalen Ausdrucksbedeutung, wie wenn ich mich von einer Last erdrückt fühle. Ein gutes Buch kann mich emotional mitreißen, es kann mich berühren. Schreckliche Bilder im Fernsehen hingegen können mich abstoßen. Was ich in der Tagesschau sehe, kann mich belasten. Möglicherweise brauche ich dann ein schönes Erlebnis, das mich wieder aufbaut. Wenn mich etwas umwirft, brauche ich jemanden, der mich wieder hochzieht. Und wenn mich jemand beleidigt, dann trifft er mich mit seinen Worten. Ich fühle mich dann vielleicht umgehauen oder koche vor Wut. Manchmal fühle ich mich wie gerädert und 482 Mit ,PHYS-Verben’ sind im Folgenden die Verben der physischen Handlungssphäre gemeint, als ,Psychverben’ bezeichne ich diejenigen Verben, die psychische Vorgänge oder psychisch bedingte Körperreaktionen denotieren. In der begrifflichen Verkürzung folge ich dabei der Terminologie S ILVIA K UTSCHER s (K UTSCHER 2009). 483 K UTSCHER 2009: 71 262 hänge den ganzen Tag durch. An anderen Tagen drehe ich fast durch, man muss mich dann wieder runterholen. Ein schönes Geschenk kann mich überwältigen, obwohl es mir alles andere als Gewalt antut. Die Verben, die ich hier exemplarisch verwendet habe, verbindet ein gemeinsames Kennzeichen: Sie alle denotieren in der psychischen Lesart ein Gefühl oder ein konkretes körperliches Empfinden, das psychisch bedingt ist. Psychverben können darüber hinaus auch dazu verwendet werden, ein expressives Verhalten im Sinne einer Körperhaltung zum Ausdruck zu bringen. Exemplarisch für diese Denotation steht das Verb aufrichten: Wenn mich jemand z. B. durch guten Zuspruch emotional wieder aufrichtet, dann nehme ich eine aufrechte Körperhaltung ein: „Ein emotional wieder aufgerichteter Mensch verfügt in der Regel auch über eine aufrechte Körperhaltung“ 484 . 6.2.3.1 Parameterdominanzverschiebung bei Psychverben Die figurative Lesart bei den Psychverben ist nicht die ursprüngliche Ausdrucksbedeutung dieser Verben - sie ist ein Resultat eines Bedeutungswandels und folgt damit zum einen den zweckrationalen Entscheidungen der Sprecher und zum anderen den in Kapitel 3 dieser Arbeit entwickelten strukturellen Prinzipien der Parameterinkorporierung bzw. Parameterdominanzverschiebung auf der Ebene der Gebrauchsregel. Beide Aspekte möchte ich kurz für diese besondere Verbgruppe skizzieren und beginne mit den Veränderungen auf der Gebrauchsregelebene, die als Motor den verbalen Bedeutungswandel strukturell befeuern und die untrennbar mit den intentionalen abweichenden Wortverwendungen der Ursprungsbedeutungsvariante verknüpft sind. Es gibt ein gemeinsames semantisches Merkmal, das sich auf der Strukturebene der Wortbedeutungen all dieser sogenannten Psychverben nachweisen lässt: Alle Verben der psychischen Domäne involvieren als Ergebnis eines Bedeutungswandels von physischen Verben zu psychisch denotierten Bedeutungsvarianten emotive Bedeutungsparameter in ihre Gebrauchsregeln. Der Bedeutungswandel folgt in diesen Fällen einem ganz bestimmten zweckrationalen Prinzip, das wir bereits an anderer Stelle für die Verben der Kognition kennen gelernt haben: Wenn ich über einen inneren Vorgang sprechen möchte (hier: ein Gefühl, eine Gemütslage oder eine körperliche Reaktion auf ein Gefühl), dann kann ich zum Ausdruck dieser Befindlichkeit aufgrund der Subjektivität des Gefühls nur ein Wort verwenden, das intersubjektiv verstanden wird. Da Tätigkeiten, Vorgänge und Zustände der konkreten physischen Handlungssphäre allen Spre- 484 K UTSCHER 2009: 80 263 chern und Hörern (zumindest im Prinzip) gleichermaßen zugänglich sind, verwende ich zum Ausdruck meines Gefühls Verben der physischen Welt (wenn sie sich aufgrund von Assoziationsmustern dazu eignen) metaphorisch oder metonymisch, um auf meinen inneren, subjektiv wahrgenommenen Zustand zu referieren. 485 Schon F RIEDRICH N IETZSCHE wusste, dass Wörter nur dann dazu taugen, den Hörer (oder Leser) zu beeindrucken, wenn sie es vermögen, ihn zu fesseln und dass dazu eine Verständnis vermittelnde Konkretheit im Ausdruck von Nöten ist: „Je abstrakter die Wahrheit ist [...], umso mehr muss man erst die Sinne zu ihr verführen“. Der assoziative Wortgebrauch geht dabei für die Psychverben stets mit einer Neuverregelung der Bedeutung des Verbs einher, im Zuge derer emotive Parameter a) Einzug in die Wortbedeutung halten und b) den neuen Wortgebrauch künftig semantisch bestimmen. Der Antrieb zum innovativen Wortgebrauch dieser ehemals physischen Verben lässt sich also gut mit dem der kognitiv-mentalen Verben vergleichen. In beiden Fällen dient dem Sprecher ein Verb des konkreten Handlungsraums dazu, auf einen abstrakten Vorgang des Inneren zu verweisen. Bei den Psychverben wird dabei ein Gefühl denotiert, das Denotat der kognitiv-mentalen Verben hingegen ist ein geistiger Vorgang (z. B. ein Gedanke). Die abstrakte Bedeutung wird in beiden Fällen durch neue Bedeutungsparameter im Umfeld ehemals dominanter Parameter der Gebrauchsregel generiert. Diese Neuverregelung läuft auf der Ebene der Bedeutungsparameter nach einem Muster ab, das uns bereits begegnet ist. Als wir uns in Kapitel 3 mit der Frage beschäftigt haben, welche Arten von Bedeutungsparametern innerhalb der Gebrauchsregeln von Verben wirksam sein können, haben wir die Psychverben als spezielle Phänomene des verbalen Bedeutungswandels bereits gestreift. 486 Wir sind dort bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass Verben der psychischen Sphäre als Resultat eines Bedeu- 485 Dieser lexikalische Prozess der Wortbildung und Bedeutungsspezifizierung zum Zweck des emotiven und affektiven Ausdrucks durch semantischen Wandel ist m. E. auch kommunikationstheoretisch und soziologisch von entscheidender Bedeutung: Als soziales Wesen ist es unumgänglich (und es dürfte auch evolutionär von großer Wichtigkeit gewesen sein), dass ich meinem Gegenüber vermitteln kann, wie es mir geht. Der verbale expressive Ausdruck eines Gefühls dürfte entscheidend zur Formung und Festigung sozialer Gefüge und zwischenmenschlicher Beziehungen beitragen, so dass der semantische Wandel von Verben mit dem Ziel des emotionalen Ausdrucks eines der grundlegendsten Prinzipien menschlicher Kommunikation befriedigen dürfte, lässt man einmal die nonverbale Kommunikation und den Ausdruck von Gefühlen über Mimik und Gestik außer Acht. 486 Vgl. Kapitel 3.1.4 und 3.2.2 264 tungswandels eine klare Parameterdominanz der emotiven Parameter, die ich weiter oben auch als Parameter aus der Welt der Gefühle bezeichnet habe, erlangen können. In solchen Fällen werden die wahrheitsfunktionalen Parameter aus der Wortbedeutung zwar nicht verdrängt, sie geraten aber funktional in den Hintergrund. Die lexikalischen Bedeutungen der psychische Vorgänge denotierenden Verben wird künftig allein durch die emotiven Parameter bestimmt, so dass diese Verben eine neue kommunikative Ausdrucksfunktion erhalten: Im Vergleich zur ehemals wahrheitsfunktionalen Bedeutung verwendet der Sprecher die Verben in der Psychlesart dazu, um auf innere Vorgänge (und somit auf Abstraktes) zu referieren. Diese Referenz ist von sozialem und kulturellem Wert: Indem ich der Welt etwas über meine intimen Gefühle vermitteln kann, kann ich mein Umfeld an mich binden und ggfs. Mitgefühl und Verständnis evozieren. Ich nutze also ehemals emotiv neutrale Verben, um (evolutionär betrachtet) lebensnotwendige soziale Interaktion zu betreiben. Das Wirken der emotiven Parameter innerhalb der Gebrauchsregel bestimmt dabei die neue Bedeutung und damit auch die erweiterte Nutzungsmöglichkeit. Aufgrund der spezifischen Parameterstruktur der Psychverben und der damit verbundenen Ausdrucksfunktion kann man diese spezielle Gruppe der Verben in der von mir vorgeschlagenen Verbkategorisierung unter die emotiven Verben subsumieren. 487 6.2.3.2 Zweifache figurative Operation beim Bedeutungswandel Die figurative Verwendung von Psychverben basiert auf assoziativen Bedeutungsmustern. Dabei spielen sowohl die Metapher als auch die Metonymie eine Rolle, wobei man hier recht klar unterscheiden kann, welche Bereiche der psychischen Sphäre durch welches Verfahren zum Ausdruck gebracht werden können. Bei der metaphorischen Verschiebung von einem Verb, das einen Sachverhalt der physischen Sphäre repräsentiert, entstehen Psychverben, die einen abstrakten Empfindungssachverhalt zum Ausdruck bringen. Der sprachliche Ausdruck wird dabei auf direktem Wege über den Similaritätsaspekt erzeugt und kann pragmatisch erschlossen werden (z. B. berühren). Bei der Metonymie hingegen denotiert der für eine physische Domäne stehende Ausdruck auf indirektem Weg eine Emotion: Das Verb der physischen Sphäre denotiert eine charakteristische körperliche Reaktion (z. B. erschrecken=aufschrecken) und steht in diesen Fällen metonymisch für eine Emotion. Die körperliche Reaktion, die ein Mensch in einer bestimmten emotionalen Situation erlebt, wird zum Ausdruck für das Gefühl selbst. Der Ausdruck gewinnt beim metonymischen Verfahren dadurch in gewisser Weise an Expressi- 487 Vgl. Kapitel 3.2.2 265 vität. 488 Bei G ERD F RITZ wird diese assoziative Verknüpfung durch Metonymisierung vom körperlichen Symptom hin zur Kennzeichnung des zugrunde liegenden Gefühls als ein möglicher Weg der Bedeutungsentwicklung im Deutschen in einer Liste von zwölf bekannten semantischen Entwicklungspfaden aufgeführt. Der Pfad der metaphorischen Bedeutungsentwicklung hingegen, der für die Ausbildung der psychologischen Bedeutungsvariante wenn nicht von größerer, dann zumindest von gleicher Bedeutung ist, findet dort keine Würdigung. 489 Das metonymische Verfahren der Bedeutungsentwicklung von Psychverben aus Verben des Körperlichen bzw. aus Verben, die körperliche Reaktionen denotieren, hat bereits H ERMANN P AUL Ende des 19. Jahrhunderts erkannt: Gemütsbewegungen werden nach den sie begleitenden Reflexbewegungen bezeichnet, vgl. z.B. beben, zittern, schauern, erröten, aufatmen, das Maul aufsperren [gegenwärtig kaum noch gebräuchlich, S. B.], die Nase rümpfen, die Ohren spitzen, mit den Zähnen knirschen, die Faust ballen [...]. Mit Verdunkelung des ursprünglichen Sinnes werden solche Ausdrücke zu Bezeichnungen der Gemütsbewegung selbst, vgl. sich sträuben, scheuen, staunen (noch im 18. Jahrh. = „starr auf etwas hinsehen“), erschrecken (eigentlich „aufspringen“) [...]. 490 F RITZ erwähnt zudem eine Metonymie für das Verb kriegen in einer Phrasenkonstruktion, die neueren Datums sein dürfte: Einen dicken Hals kriegen - ein Zustand, der ebenfalls über eine Beschreibung einer Emotion mit Hilfe eines Ausdrucks einer korrespondierenden Reflexbewegung bzw. Körperreaktion sprachlich manifest wird. 491 Häufiger als Metonymien, das zeigt ein Blick auf die Beispiele, die ich weiter oben ins Feld geführt habe, dürfte indes für die Herausbildung von Psychverben das metaphorische Verfahren sein. Hier gewinnen die Psychverben ihre neue Bedeutung auf dem Weg der Sinnverschiebung von der körperlichen auf die psychische Sphäre. Dabei erlangt das Verb unmittelbar seine neue Bedeutung. Dieser Prozess liegt, wie ich bereits ausgeführt habe, dem Bedeutungswandel der meisten Verben zugrunde, die uns bislang in dieser Arbeit begegnet sind. 488 Vgl. K UTSCHER 2009: 77f. 489 Ebenso vernachlässigt F RITZ den als Hauptweg der semantischen Entwicklung bei Verben zu benennenden Pfad von der haptischen zur kognitiven Sphäre, weshalb ich die zwölf Entwicklungspfade bei F RITZ bei Weitem für nicht vollständig erachte. Ich komme auf diesen Umstand in Kapitel 8 näher zu sprechen, wenn ich die für den Verbwortschatz möglichen Entwicklungspfade mithilfe der bis dahin gewonnenen Ergebnisse aus dieser Untersuchung neu skizziere. 490 P AUL 1880/ 1920: 99. Metaphern spielen bei P AUL für diese psychisch denotierte Bedeutungsentwicklung keine Rolle. 491 Vgl. F RITZ 2005: 100 266 An dieser Stelle möchte ich auf eine Besonderheit hinweisen, die sich bei den Psychverben in einigen Fällen nachweisen lässt: Die beiden semantischen Verfahren Metapher und Metonymie finden bei den Psychverben nicht ausschließlich statt, auch eine Verkettung beider Verfahren lässt sich bisweilen beobachten. So weist S ILVIA K UTSCHER darauf hin, dass die Erzeugung einer Psychlesart auch über den Weg der zweifachen figurativen Operation stattfinden kann. In diesen Fällen wird zunächst über das metaphorische Verfahren ein Ausdruck für eine körperliche Empfindung oder für ein typisches emotional bedingtes Verhalten generiert, der in einem weiteren Schritt metonymisch die Emotion als Ziellesart kodiert: Die Denotation eines Sachverhalts in der physischen Domäne wird metaphorisch verschoben, wobei ein Ausdruck erzeugt wird, der eine körperliche Empfindung oder ein für eine Emotion charakteristisches Verhalten (Expressivität) denotiert. Dieser Ausdruck kodiert metonymisch die Ziellesart, also die Denotation einer Emotion. 492 Betrachten wir dazu ein Beispiel: Wenn mich z. B. ein Film oder ein Musikstück aufwühlt, dann trägt das Verb aufwühlen als Ausdruck meines psychisch bedingten körperlichen Zustandes eine metaphorische Bedeutung, die aus einer ehemals rein haptischen Bedeutungsvariante abgeleitet ist. Das Verb aufwühlen denotiert dabei den körperlichen Zustand der inneren Unruhe, kann also metonymisch als ein Verb verstanden werden, das über die Beschreibung meiner körperlichen Empfindung mein Gefühl zum Ausdruck bringt. 493 Hier besteht eine Stellvertreterrelation zwischen der körperlichen Empfindung und der Emotion, die metonymisch erschlossen werden kann: Die innere Unruhe steht für die Emotion, die ich empfinde. Die physisch manifeste Handlung des Aufwühlens, die man z. B. in der nicht-figurativen Lesart aus dem Bereich der Gartenarbeit kennt (den Boden/ die Erde aufwühlen), wird metaphorisch auf einen inneren Zustand übertragen. Dieser Vorgang aus dem Körperinneren ist also metaphorisch beschrieben. Damit das körperliche Empfinden nun zum Ausdruck einer Emotion wird, muss ein weiteres Verfahren bemüht werden. Die metaphorisch umschriebene Empfindung des Aufgewühltseins steht metonymisch für das Gefühl der Unruhe oder Besorgnis. Die Psychlesart des Verbs aufwühlen ist also über einen zweifachen Prozess entstanden, in dem beide assoziativen Verfahren Hand in Hand die neue Bedeu- 492 K UTSCHER 2009: 78 493 Dass man hier zwischen der körperlichen Reaktion, die metaphorisch zum Ausdruck gebracht wird, und der Emotion, für die der Ausdruck einer solche charakteristischen Körperreaktion metonymisch steht, unterscheiden muss, zeigt sich auch anhand der menschlichen Physiologie: Die körperliche Reaktion ist im Gegensatz zur Emotion beobachtbar. So wird jemand, der emotional aufgewühlt ist, u. U. zittern, schwitzen, blass sein usw. 267 tung generiert haben, indem die Metonymie aus der Metapher folgt. Auf der Gebrauchsregelebene manifestiert sich dieser Prozess als Einbindung emotiver Bedeutungsparameter in die Gebrauchsregel des Verbs, die funktional die neue Bedeutung evozieren. 6.3 Fazit Für eine Erklärung des Bedeutungswandels bei Verben im Speziellen - und das dürfte meiner Einschätzung nach auch als eine allgemeine Feststellung zum Bedeutungswandel taugen - muss man zwischen zwei Erklärungsebenen unterscheiden, wobei die eine eher im weiteren Sinne, die andere hingegen im engeren Sinne eine Erklärung darstellt. Die semantischen Verfahren des Bedeutungswandels, denen wir uns in diesem Kapitel zugewandt haben, sind als logisch-rhetorische assoziative Verfahren dazu geeignet, den schöpferischen Akt, der sich hinter einer abweichenden Wortverwendung verbirgt, näher zu bestimmen. Dies ist ein interessantes Unterfangen, das deutlich zum Vorschein bringt, welche assoziativen Strukturen zwischen Ausgangs- und Zielbedeutung zu finden sind. Im strengen Sinne lassen sich semantische Veränderungen aber über diesen Weg nicht erklären. Semantische Verfahren aufzudecken ist ein eher deskriptives Bemühen. Es hat sich aber zeigen lassen, dass die Anwendung semantischer Verfahren stets - sofern sie zweckrationalen Erwägungen der Sprecher folgt - mit einer Veränderung der Parameterstruktur einhergeht. Dabei müssen wir als einen wesentlichen Befund verzeichnen, dass die Wortart der Verben in dieser Hinsicht offen für mannigfaltige Verschiebungen der Parameterdominanz ist; neben evaluativer Bedeutung erlangen Verben vor allem soziale, emotive oder kognitive Bedeutung im Zuge von Metaphorisierung oder Metonymisierung. In einem engeren Sinne sind es eben diese Verschiebungen der Parameter innerhalb der Gebrauchsregeln, die explanativ von Bedeutung sind. Dass es insbesondere die beiden Verfahren Metaphorisierung und Metonymisierung sind, die Anwendung beim verbalen Bedeutungswandel finden, ist ein Ergebnis, das sich aus den Überlegungen in diesem Kapitel ableiten lässt. Als assoziative Verfahren figurativer Rede erfüllen sie die Ansprüche, die an ein semantisches Verfahren gestellt werden müssen: Sie führen als Sinnverschiebungen zu einem Bedeutungswandel. Metapher und Metonymie erfüllen dabei unterschiedliche Zwecke: Während die Metapher in erster Linie ein Verfahren der innovativen Rede ist, scheint die Metonymie eher ein Mittel des verständlichen Ausdrucks für eher unverständliche, d. h. schwer nachvollziehbare Prozesse zu sein. Insbesondere subjektives Empfinden lässt sich über Metonymien aus der Welt des Körperlichen kommunikativ ausdrücken. 268 Metapher und Metonymie kommen beim verbalen Bedeutungswandel in den meisten Fällen als figurative Einzeloperationen vor. Ein Verb gelangt also entweder über das metaphorische Verfahren oder über das metonymische Verfahren zu neuer Bedeutung. Für die spezielle Gruppe der Psychverben, die psychische Zustände, Vorgänge oder Prozesse denotieren, lässt sich eine Besonderheit feststellen: Diese Verben können sowohl über die Metaphorisierung als auch über das metonymische Verfahren entstehen und zudem gibt es dort Wandelphänomene, bei denen beide Verfahren zugleich bzw. in Form einer Verkettung bemüht werden. Diesen Vorgang kann man als zweifache figurative Operation bezeichnen. Verben wie belasten oder aufwühlen in einer psychischen Lesart können hier exemplarisch genannt werden. Für die Gruppe der Psychverben spielen in erster Linie emotive Bedeutungsparameter eine Rolle, so dass wir an dieser Stelle einen Beweis dafür geliefert haben, dass eine Zuordnung von Verben, die die psychische Sphäre denotieren, zur Klasse der emotiven Verben gerechtfertig ist. In Kapitel 3 hatte ich diese speziellen Verben bereits dort verortet, bin aber bis zu dieser Stelle den Beleg noch schuldig geblieben. Neben diesen Befunden sind wir in diesem Kapitel einem bislang vernachlässigten Phänomen auf die Spur gekommen, das ebenfalls mit der Struktur der Bedeutungsparameter zu tun hat. Wir hatten bisher den Einfluss von außersprachlichen Bedeutungsparametern auf die Wortbedeutung eines Verbs in den Vordergrund gestellt und vielfach festgestellt, dass es insbesondere diese Parameter sind, die semantisch wirksam sind und die sich im Zuge eines Bedeutungswandel verändern. Dass es auch innersprachliche Parameter gibt, die eine Wortbedeutung beeinflussen können, haben wir in Kapitel 3 zwar festgelegt, aber erst jetzt konnte anhand der Präfixverben gezeigt werden, in welcher Weise diese Parameter eine Rolle spielen. Es hat sich zeigen lassen, dass Präfigierung und metaphorische Wortverwendung bei Verben offenbar in einem Ursache- Wirkungs-Zusammenhang stehen: Ein präfigiertes Verb eignet sich aufgrund von Intensivierung besonders dazu, metaphorisch verwendet zu werden. Der Bedeutungswandel ist dann eine Folge aus dieser metaphorischen Wortverwendung. Insofern bestimmen auch innersprachliche Parameter bisweilen (hier im Zuge einer Präfigierung) die Möglichkeit der semantischen Veränderung. In Kombination mit außersprachlichen Bedeutungsparametern, die über die Intention des Sprechers bestimmt sind, wirken innersprachliche Parameter bei Präfixverben bedeutungsverändernd, isoliert von außersprachlichen Parametern bewirken sie hingegen m. W. noch keinen Bedeutungswandel. Die folgende Übersicht verdeutlicht die Veränderungen auf der Ebene der Parameterstruktur in Abhängigkeit von Metapher oder Metonymie anhand der bislang besprochenen Beispiele aus dem Verbwortschatz 269 (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Wie sich zeigt, lassen sich mit Hilfe der beiden Verfahren alle möglichen Bedeutungsparameter im Verbwortschatz, die wir in Kapitel 3 herausgearbeitet haben, als Folge eines Bedeutungswandels abbilden: Abb. 6: Die Verfahren des Bedeutungswandels bei Verben und ihre strukturellen Folgen 271 7. Grammatisch-syntaktische Aspekte beim verbalen Bedeutungswandel Bedeutungswandel ist ein Phänomen, das sich nicht nur auf der Ebene des Wortes manifestiert, sondern insbesondere bei Verben oftmals auch Veränderungen der syntaktischen Satzstruktur bewirkt. Anders als viele andere Wortarten erfordert gerade das Verb auf der syntaktischen Ebene Mitspieler, sogenannte Aktanten, die direkt an das Verb über den Aspekt der V a l e n z geknüpft und in entscheidendem Maße dabei durch die Semantik des Verbs geprägt sind. Es liegt daher auf den ersten Blick nahe, dem Explanandum Bedeutungswandel auch über den Weg der grammatischen Beschreibung begegnen zu können. Das Wirken der in Kapitel 3 dargestellten (und bislang weitgehend ausgeklammerten) innersprachlichen Parameter der Gebrauchsregel eines Verbs manifestiert sich auf dieser Ebene besonders. Im Rahmen dieser Untersuchung zum Bedeutungswandel bei Verben bin ich auf interessante Aspekte aufmerksam geworden, die den Bereich der Grammatik streifen und daher im Folgenden näher beleuchtet werden sollten: Zum einen stellt sich die Frage, ob syntaktische Parameter wie die Valenz tatsächlich integraler Bestandteil der Verbbedeutung sind, wie es an manchen Stellen in der Forschungsliteratur nachzulesen ist und ob es daher richtig ist, semantischen Wandel über ein grammatisches Theorem beschreiben und erklären zu wollen. 494 Zum anderen ist bei bestimmten Verben im Deutschen ein Diathesenwandel, also ein Wandel der Handlungsrichtung des Verbs, feststellbar, der auf semantischen Fehlern basiert und sich bis heute syntaktisch manifestiert hat. Offensichtlich wird dieser Diathesenwandel bei den beiden Verben entschuldigen und erschrecken, die im Folgenden exemplarisch beleuchtet werden sollen. Der Diathesenwandel manifestiert sich hier in einem Wandel von der passiven zur aktiven Verwendung des Verbs, den ich weiter unten explizieren werde. Ein ehemaliges Objekt der Handlung 494 Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in der neueren Forschungsliteratur, etwa bei K OCH 1991: 279-306 und D AUNORIENE 2007: 62-7. Beide Autoren schreiben dem Valenzwandel und der damit einhergehenden Verschiebung in der Aktantenkonstellation eine wesentliche Funktion für den semantischen Wandel zu. Dabei gehen sie davon aus, dass es sich beim Bedeutungswandel um eine direkte Folge der Aktantenverschiebung handelt, vertreten also eine Theorie von Ursache und Wirkung, die diametral dem gegenüber steht, was der Verfasser dieser Arbeit für richtig annimmt. Auf den grundlegenden Zusammenhang von Valenz und Bedeutung weist daneben bereits H ERINGER 1972 hin. 272 (Patiens) wird zum handlungsauslösenden Subjekt (Agens), wobei sich zeigen wird, dass es sich im Fall von entschuldigen zudem um ein Phänomen handelt, das den pragmatischen Bereich der Sprechakttheorie berührt, indem es als performatives (hier: deklaratives) Verb den sprachlichen Vollzug der korrespondierenden Handlung kennzeichnet. Zudem stößt man gegenwärtig auf ein Phänomen semantischen Wandels, das ebenfalls den Bereich der Verbgrammatik betrifft. Gemeint ist die Tendenz der grammatischen Paradigmatisierung von brauchen als Modalverb. Dass auch dieses Phänomen sich über das theoretische Modell der Bedeutungsparameter von Wortbedeutungen greifbar machen lässt, werde ich in Abschnitt 7.3 zeigen. In diesem Kapitel sollen also zwei grundlegende Fragestellungen untersucht werden: 1. Ist es möglich und sinnvoll, semantischen Wandel bei Verben über ein grammatisches Konzept wie das der Valenztheorie zu erklären und hilft dieses Konzept dabei, den semantischen Wandel bei Verben zu kategorisieren und 2. welche Phänomene des semantischen Wandels bei Verben lassen sich grammatisch beschreiben und welche Rückschlüsse lassen sich daraus über den Mechanismus des Wandels und über die Motive des Sprechers ziehen? Im Folgenden wird sich zeigen, dass Korrelationen zwischen der grammatisch-syntaktischen und der semantischen Ebene des Verbs durchaus feststellbar sind. Es wird aber auch nachgewiesen, dass eine Suche nach den Mechanismen semantischen Wandels allein über diesen Weg nicht zu sinnvollen Ergebnissen führt, sondern dass man dazu nicht umhin kommt, ein sprachpragmatisches Konzept (wie die invisible-hand-Theorie) anzulegen, um Wandel plausibel erklären zu können. 7.1 Einbeziehung von Theoremen der Valenztheorie und der Kasusgrammatik Nicht nur die historische Sprachwissenschaft beschäftigt sich mit dem Phänomen des Bedeutungswandels, auch benachbarte linguistische Disziplinen bemühen sich neuerdings, ein „Panorama der vielfältigen Typen des Bedeutungswandels bei Verben zu entwerfen“ 495 . Dies ist nicht erstaunlich, denn „ [ v ] on einem intuitiven Standpunkt aus erscheint es naheliegend, daß sich, wie in der diachronen Phonologie, Morphologie und Syntax, auch in der diachronen Semantik rekurrente Muster des Wandels 495 K OCH 1991: 301 273 ermitteln lassen“ 496 . Orientiert man sich an eben diesen diachronen Befunden, lassen sich Verknüpfungen und Übertragungen auch auf den Bereich der Semantik erproben. Versuche, andere Teildisziplinen und deren Ergebnisse auf den noch wenig systematisch untersuchten Bereich der diachronen Semantik - insbesondere wortartspezifisch - anzuwenden, scheinen daher eine lohnenswerte Investition in die Erforschung von Wandelphänomenen zu sein. Für Verben bieten sich insbesondere aufgrund der Valenzeigenschaften und der syntaktischen Sonderstellung des Verbs als Zentrum des Satzes im Sinne L UCIEN T ESNIÈRE s dependenzieller Syntaxkonzeption 497 grammatische Ansätze und Theoreme der Valenztheorie und Kasusgrammatik (v. a. semantische Rollen) zur Untersuchung semantischen Wandels bei Verben an. In dieser neueren, interdisziplinären Tradition 498 findet man in der linguistischen Forschung vereinzelt den Hinweis, dass semantischer Wandel bei Verben eine direkte Folge der Veränderungen der Verbvalenz und insbesondere der dadurch bedingten Aktantenkonstellationen sei. Eine solche Einschätzung fußt auf dem Versuch, sich dem Phänomen Bedeutungswandel aus grammatischer Sicht zu nähern. Sie basiert inhaltlich auf der Beurteilung, man könne die Bedeutung eines Verbs nicht isoliert von seiner Valenz betrachten. 499 Die Bedeutung eines Verbs, so die Annahme, ergibt sich direkt aus der Verbvalenz, die somit genuiner Bestandteil der Verbsemantik ist. Diese These, die in gleichem Maße interessant wie leider auch falsch ist, begründet P ETER K OCH über einen einfachen reflexiven Dreh, indem er von einer (im Kern zutreffenden) Fundamentalität der Semantik für die Valenz ausgeht: Wenn wir somit erkannt haben, daß die Verbsemantik fundamental für die Verbvalenz ist, so müssen wir auch - umgekehrt - berücksichtigen, 496 H ARM 2000: 35 497 Vgl. T ESNIÈRE 1959 498 Insbesondere seit Anfang der 1970er Jahre erfreuen sich beide Modell (Valenztheorie und Kasusgrammatik) eines zunehmenden Interesses in der diachronen Linguistik. Eine Übersicht über die einflussreichsten Arbeiten zu diesem Thema findet man z. B. bei T HOMAS K RISCH (Krisch 1984). Es sei aber an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang zwischen Bedeutung und Valenz und hier insbesondere der Aktanten-Rollen auch schon in der älteren historischen Semantik eine wichtige Rolle gespielt haben. So findet man, wie G ERD F RITZ (F RITZ 2006: 121) bemerkt, bereits in den Schriften W ELLANDER s (vgl. W ELLANDER 1928) oder W EISWEI- LER s (vgl. W EISWEILER 1930) Hinweise auf diesen Zusammenhang. Für die Entwicklung der Valenztheorie (vgl. H ERINGER 1968) spielten diese Aspekte eine wichtige Rolle. 499 Diese Einschätzung basiert auf der Erkenntnis, dass die Verbsemantik unmittelbaren Einfluss auf die Valenzeigenschaften nimmt und ist linguistisch akzeptiert. 274 daß die Verbvalenz offensichtlich genuiner Bestandteil der Verbsemantik ist. Um es noch deutlicher zu sagen: man kann die Bedeutung von Verben nicht adäquat beschreiben, ohne ihre Valenz einzubeziehen, ohne also die von ihnen eröffneten Leerstellen für Aktanten semantisch angemessen zu charakterisieren. Dies gilt nun m. E. nicht nur für die synchronische, sondern ebenso für die diachronische Verbsemantik, speziell für die Beschreibung des Bedeutungswandels. 500 Ein solcher Ansatz greift - wenn er zugleich erklärungsadäquat auf Bedeutungswandel angewendet werden soll - wesentlich zu kurz und er verleitet zu falschen Schlüssen. 501 Dies bedarf im Folgenden einer Erklärung, die auf der Grundannahme basiert, dass Bedeutungswandel als Sonderfall des Sprachwandels einem invisible-hand-Prozess folgt, wie er in Kapitel 2 ausführlich dargelegt und als erklärungsadäquates Modell für Sprachwandel beschrieben worden ist. 500 K OCH 1991: 279f. 501 K OCH geht für die Untermauerung seiner These davon aus, dass Wortbedeutungen im Allgemeinen aus semantischen Merkmalen bestehen, die im Fall der Verben sowohl leerstellenunabhängig als auch leerstellenabhängig sein können. Diese Merkmale bestimmen, in welcher Weise die valenzbedingten Leerstellen durch eine untrennbare Bindung an die verbimmanenten Bedeutungsmerkmale zu besetzen sind. K OCH erläutert dies anhand von Beispielen aus dem Französischen und projiziert die semantischen Merkmale der Verben auf die klassischen Typen des Bedeutungswandels (Bedeutungsverstärkung, -abschwächung, -erweiterung, -verengung, Metapher, Metonymie und Ellipse). Über diesen Weg will K OCH ein heuristisches Raster von Typen des verbalen Bedeutungswandels entwickeln, indem er nachzuweisen versucht, dass bestimmte Typen des Bedeutungswandels nur bei bestimmten Merkmalen innerhalb der Verbsemantik vorkommen können. Über die Kombination von semantischen Merkmalen und Typen des Bedeutungswandels möchte K OCH semantischen Wandel bei Verben kategorisieren. Ich gehe auf diesen Ansatz an dieser Stelle nicht weiter ein, da ich glaube, dass darüber keine logische Ableitung im Sinne eines Erklärungsmodells für den semantischen Wandel begründet werden kann. Problematisch ist nämlich, dass bei diesem Ansatz lediglich das Ergebnis semantischen Wandels betrachtet und analysiert werden kann, sich daraus aber kein Aufschluss über den Mechanismus des Wandels ergibt. Valenzwandel ist, wie ich zeigen werde, ebenso Effekt semantischen Wandels wie die beschreibbaren semantischen Merkmale selbst. Die Inkorporierung innersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel eines Wortes ist direkte Folge kommunikativer Bemühungen der Sprecher, nicht umgekehrt. Zudem leitet ein solcher Gedanke fehl, denn er impliziert, dass Veränderungen der Valenz eine Veränderung der Verbsemantik bedingen und damit die Valenzänderung der Motor für den Bedeutungswandel ist. Zwar glaube ich mit K OCH , dass man Verben nach ihren Aktantenrollen (semantisch) klassifizieren kann und ich glaube auch, dass es für Verben unzureichend ist, nur ganz allgemein von Verfahren des Bedeutungswandels zu sprechen und damit den Wandel kategorisieren zu wollen (wie K OCH in seiner Konklusion schreibt), aber ich halte es nicht für sinnvoll, Bedeutungswandel über das Instrumentarium der Valenztheorie adäquat erklären und klassifizieren zu wollen. 275 Betrachten wir aber zunächst einen Versuch der Erklärung für semantischen Wandel bei Verben über den Aspekt der Valenz, den J USTINA D AU- NORIENE im Zuge einer Untersuchung zum Bedeutungswandel der reflexiven Verben im Deutschen formuliert 502 : Die „[d]iachronische Untersuchung hat ergeben, dass viele von den [ ... ] Verben mit der Zeit neben dem (bedeutungsleeren? ) RP [ Reflexivpronomen, S. B. ] eine oder sogar einige zusätzliche Ergänzungen [ Aktanten, S. B. ] erhalten, die die Verbbedeutung entweder modifizieren oder ganz verändern” 503 . Als Beispiel nennt sie in diesem Zusammenhang das Verb (sich) vergehen in seiner Ursprungsbedeutung im Sinne von sich verlaufen und die semantische Zwischenstufe mit einer Bedeutung im Sinne von sich an einen falschen Ort begeben. Für das Gegenwartsdeutsche stellt sie fest: „Im Gegenwartsdeutschen erhält das Verb einen weiteren Aktanten, das Patiens mit der Präposition an und die Bedeutung wird mit einer negativen Schattierung ‚eine böse Tat, ein Sittlichkeitsverbrechen an jemandem verüben’ erweitert, z. B. sich an den Kindern vergehen” 504 . Ihr Beispiel zeigt anschaulich und folgerichtig, dass es in einem ersten Schritt eine semantische Erweiterung von sich vergehen im Sinne von sich an einen falschen Ort begeben gegeben hat, die in der Folge heute eine neue, spezifische Bedeutung im Sinne von sich an jemandem vergehen hervorgebracht hat. Die semantische Nähe zwischen sich selbst am falschen Ort aufhalten im Sinne von etwas Falsches tun und sich an jemandem vergehen im Sinne von etwas Falsches (jemand anderem) antun ist offensichtlich. 7.1.1 Zirkuläre Bedeutungsentwicklung Betrachtet man die semantischen Makroeffekte eines solchen Bedeutungswandels, dann kann man für das Verb vergehen ein Phänomen feststellen, das ich zirkuläre Bedeutungsentwicklung nennen möchte. Dabei handelt es sich um eine dreistufige Entwicklung, die den Handlungsrahmen des Verbs im Sinne einer Konkret-Abstrakt-Antonymie in den Fokus rückt. So ist in diesem Beispiel offenbar die Ursprungsbedeutung (sich vergehen im Sinne von sich verlaufen), ebenso wie die heutige Zielbedeutung (sich vergehen im Sinne von sich sexuell an jemandem vergehen), eine konkrete (in beiden Fällen ist das Verb deskriptiv und involviert in erster Linie Wahrheitsbedingungen), während vergehen auf einer Zwischenstufe (im Sinne von etwas grundlegend Falsches tun) eine eher abstrakte Bedeu- 502 Mit ihrer These folgt D AUNORIENE dem Ansatz K OCH s, denn auch sie schreibt der Valenzänderung eine die Semantik des Verbs ändernde, also aktive Rolle zu. Ihre These ist etwas greifbarer als die K OCH s, daher soll sie an dieser Stelle kurz verdeutlicht werden. 503 D AUNORIENE 2007: 65 504 D AUNORIENE 2007: 65 276 tung angenommen hatte; das Verb involviert in dieser Zwischenstufe neben evaluativen auch mentale Parameter (genauer: moralisch-abstrakte Parameter, die sich aus den kognitiv-mentalen Parametern ausdifferenzieren). Wir können also für dieses Verb eine kreisförmige Entwicklung (mit fixem Anfangs- und Endpunkt) von der konkreten Ausgangsüber eine abstrakte Zwischenhin zu einer konkreten Zielbedeutung erkennen und auf dieser Kreisbahn der semantischen Bedeutungsentwicklung zwei pragma-semantische Verfahren 505 des Bedeutungswandels identifizieren. Bei der ersten Stufe der Bedeutungsentwicklung handelt es sich um eine metaphorische Übertragung von der konkreten Handlung im Sinne von sich verlaufen, die zu einer abstrakten Bedeutung im Sinne von etwas Falsches tun geführt hat. Diese Stufe kennzeichnet ein semantisches Zwischenstadium und manifestiert sich als semantischer Effekt in einer Generalisierung der Wortbedeutung (Bedeutungserweiterung). In Folge dieser Entwicklung hat sich die Extension, der Begriffsumfang des Wortes vergrößert, die Intension, der Begriffsinhalt dagegen verkleinert. Diese Entwicklung kennzeichnet ein mögliches Verfahren des verbalen Bedeutungswandels, das ich Bedeutungsgeneralisierung nennen möchte. 506 In der zweiten Stufe hat sich das Verb in seiner Bedeutung stark differenziert und die heute gebräuchliche Zielbedeutung jemandem etwas (Sexuelles) antun angenommen. Der Effekt dieser Entwicklung ist eine Konkretisierung der Handlung im Sinne einer Bedeutungsverengung. Die semantische Folge dieser Entwicklung ist für das Verb vergehen eine Verkleinerung der Extension und eine Vergrößerung der Intension. 507 Diese Entwicklung kennzeichnet ein weiteres Verfahren des Bedeutungswandels, in diesem Fall eine Bedeutungsdifferenzierung 508 . Übergreifendes semantisches Merkmal im Zuge dieser Entwicklung ist die zu jeder Zeit konstante negative Konnotation von sich vergehen und 505 Als pragma-semantische Verfahren bezeichne ich an dieser Stelle die in K EL- LER / K IRSCHBAUM (2003: 15ff.) dargestellten semantischen Verfahren des Bedeutungswandels. Da diese sich logisch-rhetorisch über die zweckrationale Wahl des Sprechers sprachlich manifestieren, halte ich einen Begriff, der auch die pragmatische Dimension mit einbezieht, für treffender, als nur allgemein von Verfahren zu sprechen. Dem gegenüber stehen solche Phänomene, die klassischerweise als quantitative oder qualitative Typen semantischen Wandels (Vgl. N ÜBLING 2008: 108ff.) bezeichnet werden und die ich semantische Effekte nenne. Diese Effekte betrachte ich als eine direkte Folge des Bedeutungswandels. 506 Die semantischen Verfahren werden auch in Kapitel 6 dieser Arbeit ausführlich behandelt. 507 Interessanterweise ist sich (sexuell) an jemandem vergehen in der Rechtssprache und deren spezifischer Semantik kein Vergehen, sondern ein Verbrechen. Diesen Hinweis verdanke ich meinem Doktorvater R UDI K ELLER . 508 Bedeutungsdifferenzierung in dieser Lesart wird in der Forschungsliteratur auch typologisierend als Bedeutungsverengung bezeichnet. 277 insbesondere die semantische Nähe zwischen etwas Falsches tun (semantische Zwischenstufe) und sich sexuell an jemandem vergehen, was in moralischer und juristischer Hinsicht eine sehr konkrete Manifestation einer falschen Handlung darstellt. Der Prozess der zirkulären Bedeutungsentwicklung, den ich anhand des Beispiels sich vergehen verdeutlicht habe, lässt sich graphisch in dieser Form darstellen: Abb. 7: Zirkuläre Bedeutungsentwicklung Auf der syntaktischen Ebene nun ist das Hinzukommen eines weiteren Aktanten (das Patiens) im diametralen Gegensatz zu D AUNORIENE s Einschätzung m. E. eine weitere F o l g e des semantischen Wandels, nicht aber der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Bedeutung von sich vergehen. Es ist sehr wichtig, dass man diesen Zusammenhang nicht ins Gegenteil verkehrt: Nicht durch das Hinzukommen des Aktanten erweitert sich die Bedeutung, sondern die Bedeutungsveränderung (durch die spezifische Wortverwendung und die damit einhergehende Veränderung der Parameterstruktur innerhalb der Gebrauchsregel) bewirkt auf der Makroebene der Sprache eine syntaktische Veränderung, die sich in Form einer Erweiterung der Aktanten manifestiert. Im Zuge eben dieser Entwicklung werden Zielkasus (an jemandem, z. B. einem Kind) und Objekt (etwas Falsches) in das Verb inkorporiert. Diese Inkorporierung entspricht der in Kapitel 3 thematisierten Einbindung innersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel des Wortes. Über diesen Weg der Inkorporierung wandelt sich nicht die Wortbedeutung, sondern die syntaktische Struktur. Zwar ist der Wandel der innersprachlichen Parameter der Gebrauchsregel eines Wortes entscheidend für die neue Wortbedeutung, aber er ist nicht die Ursache für den Bedeutungswandel. Ebenso wenig wie die Inkorporierung eines evaluativen Parameters in ein Verb wie saufen die Ursache für dessen Bedeutungswandel ist. Vielmehr - darauf 278 habe ich in Kapitel 3 hingewiesen - ist die Einbindung von Parametern als sprachsystemimmanenter Motor des semantischen Wandels zu verstehen, nicht aber als dessen Ursache. Als Folge der Einbindung von Zielkasus und Objekt in das Wort vergehen ist dieses Verb im Vergleich zu seiner Ursprungsbedeutung deutlich spezialisiert; die Zahl der semantischen Merkmale ist gestiegen und die Extension, also der situative Anwendungsbereich hat sich deutlich verkleinert. 509 Somit ist es falsch, wenn D AUNORIENE erklärt, das Verb erhielte einen weiteren Aktanten „u n d die Bedeutung [würde] mit einer negativen Schattierung [ ... ] erweitert“ 510 und damit meint, dass das eine (die neue Bedeutung) eine Folge des anderen (der Aktantenveränderung) sei. Demgemäß ist es auch nicht folgerichtig, wenn sie an anderer Stelle zusammenfassend schreibt: „ Die Analyse der Belege beweist, dass die Gruppe der reflexiven Verben einen Bedeutungswandel i n f o l g e der Veränderung der Aktantenkonstellation erfährt” 511 . Richtig ist: Man kann sicher Regelmäßigkeiten feststellen, was die Bindungsfähigkeit von Verben an Aktanten betrifft, aber diese sind ein primär semantisches Phänomen auf der Makroebene der Sprache und erst n a c h einem Bedeutungswandel syntaktisch feststellbar, also vielfach eine Folge und keine Ursache. So stellt T HOMAS K RISCH im Rahmen seiner Untersuchung zur Valenztheorie und Kasusgrammatik mit Blick auf diachrone Vorgänge zutreffend fest: „Es besteht [...] offenbar eine direkte Korrelationsmöglichkeit zwischen Bedeutungsspezialisierung von Verben mit syntaktischer (und semantischer) Valenzsenkung“ 512 , die er als Inkorporierung bezeichnet und die weiter oben in dem Beispiel vergehen bereits deutlich geworden ist. Eine weitere Korrelationsmöglichkeit sieht er zudem für den Fall der Bedeutungserweiterung gegeben: „Bei Bedeutungserweiterung würden wir erwarten, daß semantische Informationen, die in der Verbbedeutung vorhanden sind, herausgenommen, als Tiefenkasus systematisiert werden und semanto-syntaktische Leerstellen ausfüllen können“ 513 . Indem K RISCH davon spricht, dass zunächst semantische Informationen in der Verbbedeutung vorhanden sein müssen, erklärt er implizit auch, dass semantischer Wandel und syntaktische Veränderungen in einer strengen Ursache-Folge-Relation zueinander bestimmt sind. Denn erst in dem Moment, in dem sich diese semantischen Informationen oder Merkmale ändern (und dies tun sie naturgemäß noch absichtsvoll, sondern durch das Wirken der unsichtbaren Hand), ergeben sich Möglichkei- 509 Vgl. zu dieser Entwicklung auch K RISCH 1984: 14f. 510 D AUNORIENE 2007: 65. Hervorhebungen durch den Verfasser. 511 D AUNORIENE 2007: 69. Hervorhebung durch den Verfasser. 512 K RISCH 1984: 15 513 K RISCH 1984: 15f. 279 ten einer Korrelation zwischen (gewandelter) Verbbedeutung und der syntaktischen Ebene. Korrelationsmöglichkeiten zwischen semantischen Effekten des Bedeutungswandels (und m. E. ist die Bedeutungsspezialisierung ein solcher Nebeneffekt sprachlichen Handelns) und einer möglichen Valenzveränderung oder dem Inkorporieren von semantischen Informationen in den Tiefenkasus (also syntaktische Effekte) dürfen aus diesem Grund, den ich weiter oben Ursache-Folge-Relation genannt habe, nicht fehlinterpretiert werden. Solche Entitäten sind feststellbar und sie stellen ein interessantes innersprachliches Phänomen dar, das durchaus systematisch beschreibbar ist, sich aber m. E. eher in der synchronen Dimension manifestiert und als Explanans wenig für den diachronen Bedeutungswandel taugt. Im Gegensatz zu K OCH formuliert K RISCH diese Korrelation zwischen Bedeutungs- und Valenzveränderung auch eher vorsichtig als Möglichkeit und er postuliert auch keinen Wirkungszusammenhang zwischen Valenzwandel und Bedeutungswandel, der in der Valenz seinen Ursprung findet. 514 Aktantenverschiebungen sind demnach weder Ursache noch Motor für den Bedeutungswandel, sondern vielmehr - wie der semantische Wandel selbst - ein nichtintendierter Nebeneffekt sprachlichen Handelns auf der Mikroebene des Sprechers, der sich auf der Makroebene der Sprache bei Verben u. U. in Form von Aktantenverschiebungen, also in diesem Fall syntaktisch manifestiert. Es ergibt sich ein falscher Schluss von der Wirkung auf die Ursache, wenn man die Dimension des Sprechers, also außersprachliche Faktoren, die dem Bedeutungswandel im Sinne einer instrumentalistischen Bedeutungsauffassung zugrunde liegen, in diese These nicht mit einbezieht bzw. die innersprachlichen Parameter (hier syntaktischer Natur in Form von Valenzverschiebungen) in der Gebrauchsregel des Verbs zum alles bestimmenden Prinzip für semantischen Wandel erhebt. So argumentiert auch K RISCH gegen ein solches Prinzip des valenzbestimmten Bedeutungswandels, wenn er schreibt: „Ich möchte nachdrücklich betonen, daß [...] Bedeutungsveränderung[en] von Verben im Zusammenhang mit ihrer syntaktischen Struktur nur einen Aspekt des bei Verben möglichen Bedeutungswandels darstellen“ 515 . Dass es gerade für die Gruppe der Verben eine enge Korrelation von Syntax und Semantik gibt, ist dagegen unbestritten richtig. Semantische Prinzipien und Parameter bestimmen bei Verben zweifelsohne die Valenz und damit auch die Relation der Aktanten. Aber will man diese Korrelation auf den semantischen Wandel projizieren, kommt man mit einem 514 Vgl. K RISCH 1984: 15 515 K RISCH 1984: 9 280 einfachen reflexiven Dreh nicht weiter. Es folgt dieser Wirkungszusammenhang vielmehr dem Prinzip: Erst der semantische Wandel, dann die syntaktischen Veränderungen. 516 Aus einer Analyse der syntaktischen Parameter eines Satzes (bezogen auf die Valenzeigenschaften des zentralen Verbs) ergeben sich allenfalls Vermutungen und Befunde semantischer Natur. Man befindet sich als Linguist auf der Ebene des Beobachters, der allenfalls einen (systematischen, synchronen) Befund erhebt. Die Aktantenstellung gibt vielfach Hinweise, welche semantischen Parameter ein Verb aufweist oder welche semantischen Merkmale 517 vorliegen und sie erlaubt - im Vergleich zu früheren Sprachstufen - Vermutungen, ob und in welcher Weise ein semantischer Wandel stattgefunden haben könnte. Bezieht man die Dimension des Sprechers und dessen intentionales Handeln mit in eine Betrachtung von Bedeutungswandel ein und schreibt ihnen eine wichtige, zentrale Rolle zu, lässt sich Bedeutungswandel nicht über die Veränderungen der Verbvalenz und der damit einhergehenden Veränderung der Aktantenkonstellation beschreiben und erst recht nicht adäquat erklären. Da hilft es auch nicht weiter, die Verfahren des Bedeutungswandels (Metapher, Metonymie, etc.) mit den semantischen Merkmalen des Verbs zu multiplizieren, wie K OCH vorschlägt. 518 Es ist daher fraglich, ob ein grammatischer Ansatz überhaupt dazu beitragen kann, adäquate Erklärungsansätze für Bedeutungswandel zu liefern oder ob nicht vielmehr syntaktische Veränderungen und Zusammenhänge als Symptome für den Bedeutungswandel oder auch als bloße Beschreibungsebenen im Sinne einer syntaktisch geprägten Bestätigung dienen sollten, wenn semantischer Wandel vermutet wird. Behauptet man nämlich, der syntaktische Wandel bestimme zugleich in jedem Fall den semantischen Wandel, nähert man sich dem Phänomen Bedeutungswandel von der falschen Seite und man gewinnt eine fehlgeleitete Erklärung. Wie lässt sich nun überhaupt eine semanto-syntaktische Erklärung mit der Perspektive des Sprechers und dessen intentionalem Handeln, einer pragmatischen Erklärung in Einklang bringen? Die Antwort muss wohl leider lauten: Gar nicht, denn die Ebenen der Erklärung sind zu verschieden. Aus sprachpragmatischer Sicht (und ein solcher Ansatz durchzieht ja diese gesamte Betrachtung) spricht einiges gegen die Einbeziehung von 516 Die syntaktischen Strukturen, die ein Verb schafft, lassen sich dann auf der Wortebene über innersprachliche Parameter der Gebrauchsregel begreifen. Die Involvierung innersprachlicher Parameter im Zuge eines semantischen Wandels ist aber nicht vergleichbar mit der Involvierung außersprachlicher Parameter, da sie sich nicht intentional aus den kommunikativen Absichten der Sprecher ableiten lässt. 517 Vgl. K OCH 1991: 280ff. 518 Vgl. K OCH 1991: 301 281 Theoremen der Valenztheorie und der Kasusgrammatik in eine diachrone Fragestellung. Dabei ist wohl das Hauptproblem die Abstrahierung der Betrachtung selbst, die den Sprecher und dessen außersprachliche Intentionen außer Acht lässt. Etwas pointiert ausgedrückt: Der Sprecher wird keinesfalls mit dem Ziel, die Konstellation der Aktanten im Satz zu verändern, ein Verb in einer anderen Weise gebrauchen und damit über lange Zeit zum semantischen Wandel beitragen. Der Sprecher gebraucht ein Wort vielmehr in einer Weise, die semantisch von dem abweicht, was kraft Konvention - also durch regelhaften hochfrequenten Gebrauch innerhalb einer Sprachgemeinschaft - als regelkonform gilt. Jede semantische Abweichung von der Regel erzeugt dadurch einen neuen Sinn, der neu verregelt eine neue oder erweiterte Gebrauchsregel (und damit eine Bedeutung) generiert. Sprachliche Fehler können durch hochfrequenten Gebrauch auch auf syntaktischer oder lexikalischer (z. B. Wortverkürzungen) Ebene einen Sprachwandel begründen. In solchen Fällen (und für Verben manifestiert sich dies in der Valenz) kann der semantische Wandel zur Einbettung neuer, innersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel des Wortes führen. Man beachte: Er kann, er muss es aber nicht zwingend. In sehr vielen Fällen geht Bedeutungswandel bei Verben nämlich nicht mit so eindeutigen syntaktischen Veränderungen (z. B. Valenzverschiebungen) des Satzes einher. Vielmehr muss man wohl annehmen, dass es eher die Ausnahme ist, dass sich die Valenz des Verbs im Zuge des semantischen Wandels verändert. Auf diesen Umstand weist K RISCH hin, wenn er für das Verb fallen feststellt, dass dieses Verb im heutigen Deutsch „viele Bedeutungen hat, die durch die semantische Füllung der Ergänzungen/ Tiefenkasus bedingt sind, aber den gleichen Kasusrahmen haben, z. B.: ,Der Baum fällt‘, ,Der Soldat fällt‘, ,Eine gesetzliche Bestimmung fällt‘“ 519 . Er erweitert diese Einschränkung noch durch die Feststellung: Bei einer eingehenden Analyse müssen u.a. semantische Merkmale der Kasusfüllung und des Verbums [...] und selbstverständlich auch so schwammige, aber unentbehrliche Begriffe wie „lexikalische“ vs. „aktuelle“ [...] bzw. „usuelle“ vs. „okkasionelle“ [...] Bedeutung herangezogen und diskutiert werden, da man ja selbst synchron nicht einfach ad hoc eine Lesart eines Wortes als zugrunde liegend und die anderen als abgeleitet angeben kann. 520 Ein Schluss, dass Verben einen Bedeutungswandel prinzipiell infolge irgendeiner syntaktischen Veränderung erfahren, ist allein über diese Beobachtungen schon nicht haltbar. 519 K RISCH 1984: 15 520 K RISCH 1984: 15 282 Begreift man Bedeutungswandel als Wandel der Gebrauchsregel eines Wortes (ganz gleich, ob es sich um ein Verb oder ein Adjektiv oder ein Substantiv handelt), so spielen syntaktische Phänomene - wie gesehen - keine Rolle. Der semantische Wandel vollzieht sich in der Regel über den Weg des Sprechers, der im Sinne eines Mittel-Zweck-Rationalismus ein Wort in einer neuen oder ungewöhnlichen Weise verwendet. Dabei ergeben sich gerade bei Verben - durch ihre zentrale, syntaktische Position innerhalb des Satzes - Veränderungen auf der Seite der Syntax, die als kommunikative Nebeneffekte begriffen werden müssen. Die semantische Neuerung als Diffusionsprozess ist somit zunächst maßgeblich auf der Ebene des Wortes anzutreffen und erst in zweiter Konsequenz im Zusammenhang mit einer innersprachlichen Systembildung - hier im Sinne einer syntaktischen Inkorporierung - zu begreifen. Auf diesen differenzierten und gerichteten (aber nicht zwingend notwendigen) Wandel von der Wortbedeutung zu syntaktischen Strukturveränderungen, der sich im zuvor Gesagten konkret manifestiert hat, weist K LAUS M ATTHEIER im Zuge seiner Unterscheidung interner und externer Sprachwandelprozesse bei der Generalisierung sprachlicher Neuerungen zutreffend hin, wenn er feststellt: „Innersprachlich findet [...] ein Übergang von der Wortbindung der Neuerung zur Systembildung [also z. B. eine syntaktische Inkorporierung der semantischen Neuerung] statt“ 521 . 7.2 Diathesenwandel: Zur Geschichte der semantischen Entwicklung der Verben entschuldigen und erschrecken Ein semantisch interessantes Phänomen ist ein Diathesenwandel von der passiven zur aktiven Verwendung der Verben entschuldigen und erschrecken. Betrachtet man diese beiden Verben genauer, erkennt man einen semantischen Wandel der Handlungsrichtung (Patiens Agens), der sich ebenfalls in Form von innersprachlichen Parameterverschiebungen manifestiert. 522 Beiden Verben ist dabei gemein, dass das ursprüngliche, durch die Valenzeigenschaft des Verbs geforderte Akkusativobjekt letzt- 521 M ATTHEIER 1998: 833 522 Für entschuldigen kann man konstatieren, dass in diachroner Betrachtung die Einbindung sozialer Parameter in die Gebrauchsregel dieses Verbs konstant ist. Für erschrecken hingegen lässt sich vermuten, dass sich das Verb aus der Sphäre des Physischen (wahrheitsfunktionale Parameter) in ein Verb der Sphäre der Affekte (emotive Parameter) gewandelt hat. Dieser Wandel der außersprachlichen Parameter spielt an dieser Stelle keine Rolle; der Diathesenwandel, der hier im Fokus steht, folgt allein der Veränderung innersprachlicher Parameter. 283 lich zum (handelnden) Subjekt wird, zugleich aber das Objekt der e i g e n e n Handlung bleibt. Um diese These anschaulich zu belegen und auch um die zugrunde liegenden Mechanismen aufzudecken, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, in welcher Weise der heutige Gebrauch dieser beiden (exemplarischen) 523 Verben von der Verwendung in früheren Sprachstufen abweicht. 7.2.1 Zur Semantik des Entschuldigens Betrachten wir dazu zunächst das Verb (sich) entschuldigen. Eine heute sehr gebräuchliche Verwendung dieses Verbs ist die Äußerung a) Ich entschuldige mich hiermit (für mein Missgeschick). Durch die Äußerung von a) wird ausgedrückt, dass sich ein Sprecher für ein Missgeschick aktiv entschuldigt. Bei dieser Verwendung des Verbs entschuldigen handelt es sich also durch die Stellung der Aktanten deutlich um eine aktive Verwendung des Wortes entschuldigen. Zugleich wird durch die Satzäußerung auch der eigentliche Vollzug der korrespondierenden sprachlichen Handlung in den Satz implementiert. Dass diese aktive Verwendung semantisch eine Neuerung darstellt und streng genommen semantisch „falsch“ ist, möchte ich im Folgenden darstellen. Dazu muss man sich zunächst klar machen, was eine Entschuldigung im wortwörtlichen Sinne eigentlich bedeutet. Eine Entschuldigung ist dem Wortsinne nach eine Ent-Schuldigung, also eine Form der Vergebung oder der Freisprechung von Schuld. Die Schuld, die zuvor auf jemandem gelastet hat, wird abgelegt. Mit der Bitte um Entschuldigung gesteht jemand ein, dass eine Tat eine moralische Verfehlung war. Diese Bitte wird i. d. R. aktiv geäußert 524 , der 523 Die Verben entschuldigen und erschrecken stehen im Rahmen dieser Korpusuntersuchung zum Bedeutungswandel bei Verben als zwei exemplarische Vertreter für verbalen Diathesenwandel mit unterschiedlichen Entwicklungswegen. Sicher lassen sich daneben noch weitere Beispiele finden (z. B. ist es semantisch fraglich, ob man sich selbst verlieben kann (ich bin verliebt / ich habe mich verliebt) oder ob man sich im wortwörtlichen Sinne tatsächlich selbst verletzt hat, wenn man Opfer eines Unfalls wurde) und wie diese exemplarische Untersuchung im Folgenden zeigt, können sehr unterschiedliche Motive oder semantische Verfahren des Bedeutungswandels den Diathesenwandel bewirken. Eine abschließende Untersuchung zu diesem Phänomen ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt und sollte nicht erwartet werden. Vielmehr geht es um die Darstellung eines Phänomens selbst, das in der linguistischen Forschung noch viel zu unzureichend untersucht worden ist. Eine intensivere Erforschung aus semantischer Sicht wäre sicher lohnenswert. 524 Im Rahmen dieser Beweisführung spielen außersprachliche Gesten, wie bittendes Weinen oder flehende Körperhaltungen keine Rolle, da nur verbalsprachliche (geäußerte oder verschriftlichte) Kommunikation an dieser Stelle beleuchtet werden soll. Es steht aber außer Frage, dass auch solche Gesten dazu geeignet sind, den 284 Vollzug der eigentlichen Entschuldigung ist aber ein Prozess, der auf der Seite des Gegenübers abläuft und daher für den Sprecher passiv ist: Man wird entschuldigt. Die heute übliche Verwendung des Satzes a) ist dagegen durch das Akkusativobjekt (mich) eine aktive Verwendung des Verbs entschuldigen: Dabei wird man nicht mehr entschuldigt, man tut es selbst. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist eine Entschuldigung - als Verkürzung der Äußerung von a) - nun eben diese Bitte, entschuldigt zu werden. Der Geschädigte der Tat oder derjenige, der die Kompetenz des jemanden Entschuldigens besitzt, kann die Entschuldigung (als Bitte) annehmen oder ablehnen. Dieser Spielraum ergibt sich aus der aktiven Verwendung. Der Entschuldigende vollzieht den Akt des Entschuldigens i. d. R. aber heute nicht (mehr) aktiv dadurch, dass er sagt Ich entschuldige Dich, sondern - als passive Reaktion - indem er etwas sagt wie In Ordnung oder Ist schon gut. Semantisch ergibt sich hier ein Problem: Wenn ich mich s e l b s t entschuldige, welche Rolle nimmt dann noch mein Gegenüber ein? Wenn ich mich selbst entschuldige, stelle ich mich selbst von Schuld frei und vollziehe in der Äußerung des Satzes Ich entschuldige mich zugleich den Akt des Entschuldigens. Dass dies nicht immer möglich war und dass diese Entwicklung auf einem semantischen Fehler beruht, werde ich im Folgenden erklären. Betrachten wir dazu die Verwendungsmöglichkeiten des Verbs entschuldigen in früheren Sprachstufen. Im Wortsinne einer Freistellung von Schuld war dieser Sprachgebrauch in früheren Zeiten kaum möglich: Man konnte sich nicht selbst von Schuld befreien. Sichtet man ältere Textkorpora, so findet man entsprechend auch keine Verwendung von entschuldigen im Sinne von sich selbst entschuldigen. Einzig die aktive Verwendung im Sinne von jemanden (anderen) entschuldigen lässt sich für frühere deutsche Sprachstufen häufig nachweisen. Betrachten wir dazu zwei exemplarische Beispiele aus unterschiedlichen Epochen: Wann ein Advokat glaubt, seine Partei habe ein billiges Recht, nachgehends aber der Ausgang das Widrige zeiget und verliert, so ist der Advokat mehrmalen nit zu entschuldigen, massen er nit weiß, was er wissen soll, ist demnach im Gewissen verpflicht', ehe und bevor er eine Action kommunikativen Akt der Bitte um Entschuldigung zu vollziehen bzw. zu kommunizieren. Allerdings legt man - bezieht man diese Möglichkeiten mit ein - m. E. einen zu weiten Kommunikationsbegriff an. 285 führet, daß er vorhero dieselbige wohlsinnig entörtere, ob sie recht oder unrecht. 525 Güldenklees, wie Du mir schreibst, sind in Italien (was sie da wollen, weiß ich nicht), und so bleiben nur die drei andern. Entschuldige mich, so gut es geht. Du bist ja der Mann der Formen und weißt das richtige Wort zu treffen. 526 In beiden Beispielen wird der Akt des Entschuldigens passiv durch eine zweite Person realisiert. In Beispiel 2 ist der Ausdruck der Bitte, man möge den Sprecher entschuldigen eine Verwendungsweise, die man noch heute (kontextspezifisch) kennt. In einem geschäftlichen Meeting beispielsweise würde die Äußerung b) Entschuldigen Sie mich bitte. dem Sinn nach c) Entschuldigen Sie bitte meine Abwesenheit. bedeuten. Eine adäquate Antwort könnte lauten: d) Ja, ich entschuldige Sie. Semantisch bedeutet diese Bitte um Entschuldigung in dieser konkreten Situation und in Beispiel 2 aus dem Korpus aber wohl etwas anderes als darum zu bitten, von einer konkreten Schuld befreit zu werden. Denn allein der Umstand, dass jemand vielleicht ein Meeting verlässt, um die Toilette aufzusuchen, lädt keine Schuld im klassischen Sinne auf den Sprecher. Vielmehr handelt es sich bei a) wohl um eine konventionalisierte Floskel der Höflichkeit. Betrachten wir dagegen Beispiel 1 aus dem historischen Korpus: In dieser spezifischen Verwendung scheint es so zu sein, dass es tatsächlich um ein Entschuldigen im Sinne von Freistellung einer faktischen Schuld handelt. Eine auch heute noch gebräuchliche Formulierung der Bitte des Advokaten aus unserem Beispiel könnte gelautet haben Entschuldigen Sie mich bitte. Man könnte sich einen situativen Kontext vorstellen, in dem diese Bitte persönlich oder als Brief vorgetragen, möglicherweise auch als Diskussionsgrundlage oder als Postulat im Sinne von Der Advokat bittet 525 A BRAHAM A S ANCTA C LARA : Predigtliteratur. Judas der Erzschelm. Erster Band, S. 428. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 526 F ONTANE , Theodor: Effi Briest. In: Fontane, Theodor: Romane und Erzählungen, Band 7, S. 213. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 286 um Entschuldigung. Sollen wir dieser Bitte stattgeben? formuliert wurde. Im Gegensatz zur tatsächlichen Äußerung aus Beispiel 1 könnte heute eine sinnvolle Antwort darauf wohl kaum Ja, ich entschuldige Sie oder Nein, Sie sind nicht zu entschuldigen lauten. Ursprünglich dürfte aber eben diese Antwort die Richtige gewesen sein, wie das Beispiel zeigt (Nein, der Advokat ist nicht zu entschuldigen=Nein, ich entschuldige Sie nicht). In beiden Fällen (Beispiel 1 und 2) ist es so, dass das zu entschuldigende Objekt ein kommunikatives Gegenüber um Entschuldigung bittet bzw. der Vollzug der Handlung auf der Seite des entschuldigenden Gegenübers zu suchen ist. Dass es immer ein entschuldigendes Gegenüber benötigt, wenn man die Bitte um Entschuldigung äußert, zeigen diese Beispiele anschaulich. Wie sieht es nun mit der heute gebräuchlichen Verwendung von Ich entschuldige mich aus und wie kam es zu der Entwicklung der heutigen Verwendungsweise? Ein kurzer Blick über die Grenzen des Deutschen hinaus verdeutlicht, dass es in anderen Sprachen ein Bewusstsein dafür gibt, dass der Akt des Entschuldigens immer von demjenigen ausgeht, dem gegenüber ein schuldhaftes Verhalten an den Tag gelegt wurde. Das Englische etwa unterscheidet bei der Entschuldigung mehr oder weniger streng zwischen to apologize und to excuse, kennt also im Gegensatz zum Deutschen zwei Verben, die eine Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv erlauben bzw. fordern. Im Englischen sagt man please excuse me und meint damit, dass man durch das Gegenüber entschuldigt werden möchte. Diese Verwendung entspricht im Wesentlichen dem deutschen Ausdruck Entschuldigen Sie bitte meine Verfehlung. Hier ist die Bitte um Entschuldigung eine aktive Äußerung, die Entschuldigung muss aber durch das Gegenüber vollzogen werden. Insofern ist to excuse eine passive Verwendung, denn der Handelnde kann nicht der Sprecher selbst sein. To excuse wird somit transitiv verwendet, da es ein (zu entschuldigendes) Objekt - in diesem Fall das Subjekt selbst - erfordert. Der Akt des Entschuldigens wird dabei n i c h t durch die Äußerung selbst vollzogen. Im Gegensatz dazu verwendet man im Englischen das Wort to apologize eher aktiv und intransitiv als I apologize for (doing something wrong), so wie man im Deutschen heute Ich entschuldige mich für mein Versehen verwendet (dann allerdings transitiv). Im Gegensatz zum Deutschen meint man im Englischen damit aber vermutlich nicht, dass man sich s e l b s t von einer Schuld befreit. Vielmehr wird I apologize for im Sinne von Ich bitte um Verzeihung verwendet. Eine Verwendung von apologize im Sinne von I apologize myself ist eher unüblich, wenn nicht sogar gänzlich falsch. Der Umstand, dass es für den Akt der Bitte um Entschuldigung zwei Verben im Englischen gibt, verdeutlicht, dass es offenbar anders als im Deutschen einen semantisch relevanten Unterschied zwischen excuse und apologize geben muss, der eben darin besteht, dass der Sprecher sich des 287 Umstandes, dass nur das entschuldigende Gegenüber ihn von seiner Schuld befreien kann, zwar bewusst ist, sich aber das Subjekt in beiden Verwendungsformen unterscheidet. Bei excuse wird ein entschuldigendes Subjekt ebenso gefordert, wie ein Akkusativobjekt (me) und die Handlung wird auf das Gegenüber gelenkt. Bei apologize ist das Subjekt der zu Entschuldigende selbst, ohne aber den Anspruch zu erheben, den Akt des Entschuldigens - im Sinne von einer Freistellung von Schuld - selbst auszuführen. In beiden Fällen liegt die tatsächliche Umsetzung der Entschuldigung, der performative Akt, beim Gegenüber. Um diese These auf den Punkt zu bringen: Das Englische unterscheidet zwischen der expliziten, aktiven Bitte um Entschuldigung, bei der excuse passiv verwendet wird und der passiven Bitte I apologize, die das Verb aktiv verwendet. In beiden Fällen dürfte es sich aber um die Bitte handeln und nicht um den korrespondierenden Vollzug der Entschuldigung. Denkbar wäre im Zuge dieser Beobachtung aber auch, dass es - analog zum Deutschen - einen Diathesenwandel gab, der bereits lexikalisiert ist. Wenn man annimmt, dass I apologize das selbe bedeutet wie Ich entschuldige mich, dann finden wir im Englischen das gleiche Phänomen wie im Deutschen. Es stellt sich allerdings dann die Frage, warum es im Gegensatz zum Deutschen zwei unterschiedliche Verben gibt. Daher nehme ich an, dass es einen anderen (nämlich den vorstehenden) Grund gibt, warum man im Englischen eine aktive und eine passive Variante findet. Semantisch ist der Umstand, dass es im Englischen zwei Wörter für das Entschuldigen gibt, interessant. Es ist gut möglich, dass im englischen Sprachbewusstsein klarer als im Deutschen verankert ist, dass es immer bei der Entschuldigung ein entschuldigendes Subjekt geben muss, man aber die Bitte um Verzeihung sowohl aktiv als auch passiv äußern kann. Im Englischen scheint zudem ganz klar über die Gebrauchsregeln der beiden Verben festgelegt zu sein, in welchen Situationen man die aktive oder die passive Realisierung verwenden darf, also ein kollektives Bewusstsein über die kontextspezifische Verwendung zu besteht. Es ist wohl eher ausgeschlossen, dass ein Engländer sagen würde I apologize, wenn er jemanden in der Londoner Tube angerempelt hat. Einzig der Ausdruck Excuse me - also die passive Variante - wäre in einer solchen Situation angemessen. Im Deutschen sind in diesem Kontext dagegen sowohl die aktive als auch die passive Verwendung denkbar. So wird man zwar am ehesten sagen Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie nicht gesehen (passiv). Oh, ich muss mich entschuldigen, ich habe Sie nicht gesehen ist aber ebenfalls eine durchaus denkbare Verwendungsweise. Betrachten wir aber weiter das Deutsche und behalten die Beobachtungen aus dem Englischen im Hinterkopf. Im Deutschen scheint es so zu sein, dass sich die kommunikativen Rollen im Gegensatz zum Englischen 288 von der passiven zur aktiven Rolle verschoben haben. Während man im Englischen zwischen der aktiven und passiven Rolle beim Akt des Entschuldigens unterscheiden kann, hat es im Gegenwartsdeutschen offenbar eine kommunikative Rollenverschiebung gegeben, die ich im Folgenden einmal darstellen und erklären möchte. Zunächst sei gezeigt, welche kommunikativen Vorgänge beim Akt des Entschuldigens ablaufen: - X hat etwas getan, womit er Schuld auf sich geladen hat - X möchte von dieser Schuld befreit werden - Y kann X von dessen Schuld befreien - X bittet Y um Entschuldigung - Y entschuldigt X Diese Abfolge von kommunikativen Einzelhandlungen beschreibt den Akt des Entschuldigens. Sehen wir uns nun (streng semantisch) an, wo der Fehler beim sich selbst entschuldigen liegt: - X hat etwas getan, womit er Schuld auf sich geladen hat - X möchte von dieser Schuld befreit werden - Y kann X von dieser Schuld befreien - X bittet Y nicht um Entschuldigung, sondern X entschuldigt s i c h s e l b s t - Y hat X nicht entschuldigt - X ist daher nicht von seiner Schuld befreit Noch prägnanter wird das semantische Problem, wenn zu dem sich entschuldigen ein hiermit hinzukommt. Mit einem angefügten hiermit werden i. d. R. durch sprachliche Äußerungen konkrete (ritualisierte/ konventionalisierte) Handlungen vollzogen. Man spricht in der Linguistik dabei von sprechaktkennzeichnenden, oder performativen Verben. Ein Beispiel: Jemanden taufen ist nur durch die sprachliche Äußerung des Satzes 1) Ich taufe Dich hiermit auf den Namen Horst. vollziehbar. Die Handlung selbst wird durch die Satzäußerung direkt vollzogen. Taufen ist hier das performative, sprechaktkennzeichnende Verb. Ein Gegenbeispiel: Der Akt des Beleidigens kann nicht durch die Äußerung des Satzes 2) Ich beleidige Sie hiermit. 289 vollzogen werden. Hier muss eine andere Handlung vollzogen werden, um jemanden zu beleidigen, die durchaus außersprachlich sein kann. Der Effenberg-Finger z. B. ist eine beleidigende Geste. Zurück zum Entschuldigen: 3) Ich entschuldige mich hiermit. ist semantisch ebenso wenig der Vollzug eines performativen Aktes wie 2). Beide Verben kennzeichnen keine Sprechakte, also keine performativen Handlungen. 527 Sowohl in 2) als auch in 3) ist eine andere Handlung notwendig, um den mit dem Verb genannten Akt zu vollziehen. In 2) ist eine konkret beleidigende Handlung oder Äußerung nötig. In 3) ist es eine andere Person, die die aktive Rolle übernehmen muss. Denn: Entschuldigt werden ist ein rein passiver Vorgang, wogegen sich entschuldigen ein aktiver Prozess ist, der aber ohne ein entschuldigendes Gegenüber ebenso absurd ist, als würde man sagen: 4) Ich ernenne mich hiermit zum Doktor der Philosophie. oder 5) Ich verurteile mich hiermit zum Tode. Die Motive, die einen semantischen Wandel der Handlungsrichtung von entschuldigt werden zu sich entschuldigen hervorgebracht haben, können sicher nicht mit letzter Sicherheit aufgedeckt werden. Es liegt aber m. E. nahe, dass es sich um eine semantische Verkürzung aus Gründen der Ökonomie handelt, die wie folgt abgelaufen sein könnte: a) Entschuldigt werden erfordert eine Bitte, die umständlich formuliert werden muss (z. B. Ich bitte um Entschuldigung o.ä.). b) Das Gegenüber muss, sofern es entschuldigen möchte, dies klar formulieren: Ich entschuldige Dich. c) Im Rahmen der Sprachökonomie ist es vermutlich zu einer syntaktischen Verkürzung gekommen: Aus Ich bitte um Entschuldigung wurde Entschuldigung. d) Das Gegenüber kann auf eine Entschuldigung kurz und knapp mit angenommen antworten. 527 Ich bitte um Entschuldigung ist dagegen ein direktiver Sprechakt. Es ist allerdings sehr fraglich, ob die semantische Verkürzung infolge des Diathesenwandels hin zu Entschuldigung oder noch verkürzter (artikulatorisch) Tschuldigung die Aufrichtigkeitsbedingungen für das Gelingen eines solchen Sprechaktes noch erfüllt. 290 e) Auf der Sprecherseite läuft nun Folgendes ab: Durch die Lautäußerung Entschuldigung erwächst auf der Sprecherseite der Anschein einer aktiven Rolle, die man dann als ich entschuldige mich, indem ich „Entschuldigung“ sage, paraphrasieren kann. f) Über diese syntaktische und semantische Verkürzung kann man heute auch die paraphrasierte Entschuldigung formulieren, indem man Ich entschuldige mich sagt. Semantisch äußerst interessant ist bei sich entschuldigen zudem die Frage, in wie weit aus der Tatsache, dass der andere die Entschuldigung nicht annimmt folgt, dass sich der Sprecher dennoch entschuldigt hat. M. E. ist dies genau das Dilemma, das sich aus dem Diathesenwandel und der damit einhergehenden Aktivierung des vormals passiven Bittstellers ergibt: Wenn das entschuldigende Gegenüber meine Entschuldigung (im Sinne einer aktiven Äußerung in Form von Ich entschuldige mich oder verkürzt Entschuldigung) nicht annimmt, bin ich auch nicht entschuldigt worden und meiner eigentlich geäußerten Bitte um Entschuldigung wurde nicht entsprochen. Ich kann sicher sagen ich habe mich entschuldigt aber der eigentliche kommunikative und soziale Akt des Entschuldigens hat dabei ebenso wenig stattgefunden, als wenn ich sage ich habe mich promoviert. Wenn nämlich Ich entschuldige mich, indem ich „Entschuldigung“ sage einer semantischen Verkürzung von Ich bitte um Entschuldigung entspricht, so wie ich es weiter oben dargestellt habe, dann ist mit dem reinen Äußerungsakt der kommunikative Gesamtprozess noch nicht abgeschlossen. Vielmehr erfordert Entschuldigung ebenso wie Ich entschuldige mich oder Ich bitte um Entschuldigung von meinem Gegenüber in jedem Fall eine Zustimmung, die durchaus auch nonverbal geäußert werden kann, aber nicht ausbleiben darf. Wenn man Entschuldigung mit ich entschuldige mich und ich entschuldige mich mit ich bitte um Entschuldigung paraphrasiert, kann man zwar sagen ich habe mich doch entschuldigt, man sagt damit aber eigentlich nicht mehr als ich habe doch um Entschuldigung gebeten. In beiden Fällen ist der Ausgang ergebnisoffen. Wenn ein Politiker argumentiert, er habe sich doch für eine Verfehlung entschuldigt und nun müsse man doch die Sache ruhen lassen (Beispiel der ehemalige deutsche Verteidigungsminister zu Guttenberg in Bezug auf seine Dissertation), dann begeht er den semantischen Fehlschluss, mit der Äußerung seiner Entschuldigung habe er (selbst) auch den Akt des entschuldigt Werdens vollzogen - und sei nun von der Schuld befreit. Trete ich jemandem in der Straßenbahn auf den Fuß und äußere im gleichen Akt Entschuldigung, gehe aber achtlos weiter, kann ich nicht davon ausgehen, dass mit meiner aktiven Äußerung zugleich auch der kommunikative (und im Übrigen auch soziale) Akt der Entschuldigung 291 abgeschlossen ist, denn dieser ist zwingend wechselseitig. In alltäglichen Situationen kommt es daher nicht selten vor, dass sich das Gegenüber nicht mit der reinen Äußerung zufrieden gibt, da der Sprecher ihn seines notwendigen Handlungsspielraums im Akt des Entschuldigens beraubt. Wenn ich jemanden z. B. schwer beleidige, kann ich zwar einen Satz wie Okay, tut mir leid. Entschuldigung äußern, ob mein Gegenüber mir diese Beleidigung aber verzeiht, steht auf einem anderen Blatt. Vielfach verstärkt sich die vermeintlich aktive Haltung des eigentlichen Bittstellers (m. E. bedingt durch den Diathesenwandel wie weiter oben beschrieben) so sehr, dass dieser wiederum kein Verständnis dafür aufbringt, wenn das Gegenüber nach der Äußerung noch immer gekränkt oder beleidigt ist. In diesem Fall wird gerne ein Satz wie Was will er denn, ich habe mich doch entschuldigt geäußert. 528 Solche Äußerungen zeigen, wie sehr sich die ursprünglich passive Rolle des Bittstellers gewandelt und wie sehr der kommunikative Akt des Entschuldigens durch diese Entwicklung den Charakter einer Phrase angenommen hat. Die semantische Verkürzung hin zu einem lapidaren Entschuldigung bedingt zugleich auch einen Schwund an Aufrichtigkeit oder besser: Sie löst beim entschuldigenden Gegenüber das Gefühl eines Mangels an Aufrichtigkeit aus. So ist in der alltagssprachlichen Kommunikation vermehrt zu beobachten, dass selbst das an sich kurze Wort Entschuldigung sprachlich-artikulatorisch zu einem noch kürzeren Tschuldigung verkürzt wird. Dieser Umstand ließe sich mit Lüdtke als weiteres Bestreben des Sprechers nach sprachlicher Ökonomie im Sinne der von ihm beschriebenen Zyklischen Drift erklären, kennzeichnet aber semantisch und kommunikationstheoretisch m. E. zugleich und vielmehr einen unreflektierten und inflationären Umgang mit sprachlichen (kommunikativen) Mitteln und vor allem mit dem, was ein Sprecher an Wert und Wahrheit in die Äußerung hineinlegt. Lautete die Maxime vormals: Benutze den Satz ich bitte um Entschuldigung (oder später die semantische Verkürzung Entschuldigung), wenn du dein Gegenüber um Entschuldigung bitten willst, hat sich 528 Auch hier kann der ehemalige Verteidigungsminister G UTTENBERG als prominentes Beispiel dienen: G UTTENBERG signalisierte eine gewisse Pikiertheit und ein Unverständnis, nachdem er seine wissenschaftliche Verfehlung in Bezug auf seine Dissertation zwar eingeräumt hatte, die (insbesondere wissenschaftliche) Öffentlichkeit ihm dennoch diesen Fehltritt nicht verzeihen wollte. Offenbar war für ihn mit der Äußerung ich entschuldige mich der Akt des Entschuldigens abgeschlossen. Die akademische Öffentlichkeit hingegen hat ihm seine Verfehlung nicht verziehen und war im Gegenteil eher durch den lapidaren Umgang G UTTENBERG s in Bezug auf dessen Verfehlung und auch mit seiner Art der öffentlichen Entschuldigung nicht zufrieden. Möglicherweise zeigt gerade der Fall G UTTENBERG sehr anschaulich, wie wechselseitig die Rollen beim Akt des Entschuldigens verteilt sind und wie problematisch die Übernahme einer aktiven Rolle auf Seiten des Bittstellers sein kann, wenn dadurch die Glaubwürdigkeit der Entschuldigung leidet. 292 die Gebrauchsregel m. E. mittlerweile gewandelt. Heute könnte man die Gebrauchsregel des Wortes entschuldigen in etwa so paraphrasieren: Wenn du eine Verfehlung begangen hast, sag zur Bereinigung der Sache ich entschuldige mich (oder kürzer: Entschuldigung) - ob du nun an einer Freistellung deiner Schuld interessiert bist oder nicht. Die wahrheitsfunktionalen Parameter (ich bereue meine Verfehlung, habe ein Einsehen und bitte um etwas) und die sozialen Parameter (ich erwarte eine Reaktion des Gegenübers) in der Gebrauchsregel von entschuldigen sind durch die semantische und insbesondere die syntaktische Verkürzung bis hin zu einem Tschuldigung deutlich abgeschwächt worden. So ist in vielen Fällen der Äußerung fraglich, ob ich mit dem Ausdruck (En)Tschuldigung tatsächlich um eine Entschuldigung bitte (wahrheitsfunktionale Parameter) und es ist vielfach ebenso unwahrscheinlich, dass ich eine Reaktion des Gegenübers abwarte bzw. an dessen Reaktion interessiert bin (soziale Parameter). Für den direktiven Sprechakt des um etwas Bittens ist in der S EARLE schen Tradition der Gelingensbedingungen das Erfülltsein der Regel der Aufrichtigkeit bei dieser Form der Entschuldigung durch den Sprecher äußerst fragwürdig. So muss mein Gegenüber wohl oft zu recht annehmen, dass es mir mit meiner Bitte um Verzeihung nicht so ganz ernst sein kann, wenn ich sprachlich nicht einmal die Mühe auf mich nehme, diese Bitte angemessen zu formulieren. Auch dies zeigt die kommunikative Wirklichkeit: Wenn ich tatsächlich eine Verfehlung an einem anderen Menschen in meinem näheren sozialen Umfeld begangen habe und mir an dessen Entschuldigung meiner Person gelegen ist, verwende ich deutlich mehr kommunikativen und sozialen Aufwand darauf, als dies durch die Äußerung eines Wortes oder eines Satzes möglich wäre. So bringe ich meiner Partnerin zusätzlich Blumen mit, lade meinen besten Freund vielleicht zum Essen ein oder suche ein persönliches Gespräch mit meinem Vorgesetzten. In jedem Fall aber trete ich verbal und nonverbal zurück in die passive Rolle, die ursprünglich auch sprachlich in der Gebrauchsregel des Wortes entschuldigen manifestiert war und warte eine Reaktion meines Gegenübers ab. Sprachlich ist durch die Konventionalisierung von ich entschuldige mich auch dieser semantisch falsche Ausdruck heute problemlos möglich, aber sicher im Falle einer aufrichtigen Bekundung begleitet durch ein abwartendes Verhalten und ganz sicher nicht in der verkürzten Form Tschuldigung. 7.2.2 Zur Semantik des Erschreckens Während dem Diathesenwandel bei entschuldigen also wie beschrieben in erster Linie ein Prozess der sprachlichen (und semantischen) Ökonomie zugrunde liegt, der eine semantische Verkürzung (ähnlich der von L ÜDT- KE formulierten zyklischen Drift auf lexikalischer Ebene) und damit eine 293 neue Verwendungsweise des Verbs generiert, handelt es sich bei erschrecken in der Äußerung ich habe mich erschreckt um einen Diathesenwandel aufgrund einer grammatischen Verschiebung und der gleichzeitigen Anwendung eines semantischen Verfahrens, in diesem Fall der metonymischen Sinnverschiebung. Dies soll im Folgenden genauer beleuchtet werden. Ebenso wenig, wie man sich dem Wortsinne nach selbst entschuldigen kann, wird es möglich sein, dass man sich selbst erschreckt. Kinder erschrecken ihre Eltern und Freunde an Halloween, eine Naturkatastrophe erschreckt die ganze Welt und eine Unaufmerksamkeit im Straßenverkehr kann mich als Autofahrer erschrecken. All diese Beispiele haben gemeinsam, dass es ein schreckauslösendes Moment, ein Signal geben muss, damit ich erschreckt werde bzw. damit ich erschrecke. Durchaus ist es auch möglich, dass ich selbst zum Auslöser eines Erschreckens werde, etwa wenn ich mich hinter einer Tür verstecke und plötzlich hervor springe, wenn mein Kollege um die Ecke kommt, aber es wird in aller Regel nicht gelingen, mir selbst einen Schrecken - im Sinne einer körperlichen Schreckreaktion - einzujagen. Zwar kann man einwenden, dass man über sich selbst erschrocken sein kann, doch heißt das nicht, dass man sich selbst aktiv durch eine intentionale oder unintendierte Handlung erschreckt hat. Was fehlt, ist die psychosomatische Reaktion und ein aktiver Auslöser. Um eine Schreckreaktion verspüren zu können, darf ich nicht auf das auslösende Ereignis vorbereitet sein. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang zwar durchaus auch eine Situation, in der, weil man sich selbst z. B. plötzlich und unerwartet im Spiegel sieht, tatsächlich der Schrecken durch die eigene Person ausgelöst wird. Ein solches Konstrukt ist zwar denkbar, betrachtet man aber die wortwörtliche Verwendungsweise von erschrecken, dann ist diese Form des sich selbst Erschreckens doch eher eine Ausnahme. Gleichwohl findet man häufig eben diese Äußerungssituation: Man sagt ich habe mich erschreckt und meint ich bin erschrocken bzw. ich wurde/ mich hat etwas erschreckt. Wie kommt es nun, dass sich diese reflexive Gebrauchsweise etabliert hat, obwohl - wie wir gesehen haben - damit ein semantischer Fehler begangen wird? 529 In früheren Sprachstufen hatte erschrecken die Bedeutung aufspringen, kennzeichnete also eine konkrete und aktive (wenn auch 529 Die nachfolgenden Ausführungen zum Diathesenwandel für das Verb erschrecken lassen sich sicher auch auf eine Reihe anderer Verben übertragen, ohne das dafür an dieser Stelle der Beweis geführt werden kann. So ist es denkbar und wahrscheinlich, dass etwa die Verben langweilen oder ärgern in der ursprünglichen Verwendung nicht reflexiv gebraucht wurden (Ich langweile mich vs. Der Vortrag langweilt mich oder Ich ärgere mich vs. Das schlechte Wetter ärgert mich). Dieselbe Einschätzung ergibt sich für die Verben ängstigen, ermüden, aufregen und interessieren. 294 unwillkürliche) körperliche Aktivität, die heute noch in dem Verb aufschrecken erkennbar ist. Das Erschrecken war und ist extern motiviert, beispielsweise durch ein wildes Tier oder ein fremdes Geräusch, die Reaktion war und ist ein Reflex. Während man selbst im Zuge dieses Schreckprozesses die Rolle des Patiens einnimmt, bedarf es eines Agens, das nicht man selbst sein kann. In dieser ursprünglichen Verwendungsweise ist die Nutzung des Verbs intransitiv, wie dieses fiktive Beispiel zeigt: Der Bauer erschrak vor dem plötzlichen Blitz und Donner. In der Richtungsumkehr dieses Beispiels erkennt man das Agens (Blitz und Donner) und kann entsprechend erschrecken auch transitiv verwenden: Blitz und Donner erschreckten den Bauer. Sowohl die intransitive als auch die transitive Verwendung lassen sich aus dem historischen Korpus an vielen Stellen nachweisen, wogegen eine reflexive Verwendung, wie sie heute am gebräuchlichsten ist, bei G OETHE noch nicht zu finden ist: Der gute Chirurgus erschrak und goß dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand, und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Unglücks, das hätte entstehen können, wenn man schon im Rasieren begriffen gewesen wäre. 530 Ohne das holde Gesicht zu verändern, strich sie mit ihrer rechten Hand gar lieblich über das Tischtuch weg, und schob alles, was sie mit dieser sanften Bewegung erreichte, gelassen auf den Boden. Ich weiß nicht was alles, Messer, Gabel, Brot, Salzfaß, auch etwas zum Gebrauch ihres Nachbars gehörig; es war jedermann erschreckt, die Bedienten liefen zu, niemand wußte was das heißen sollte, als die Umsichtigen, die sich erfreuten, daß sie eine Unschicklichkeit auf eine so zierliche Weise erwidert und ausgelöscht. 531 Ich, der ich immer gehört hatte, auf die Ohrfeige eines Mädchens gehöre ein derber Kuß, faßte sie bei den Ohren und küßte sie zu wiederholten Malen. Sie aber tat einen solchen durchdringenden Schrei, der mich selbst erschreckte; ich ließ sie fahren, und das war mein Glück: denn in dem Augenblick wußte ich nicht, wie mir geschah. 532 530 DuW: Goethe HA, Band 9: 82. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 531 DuW: Goethe HA, Band 10: 104. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 532 DuW: Goethe HA, Band 9: 62. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 295 Aus diesem Traume wurde ich jedoch einst ganz unvermutet gerissen, als ich diese meine, wie mir schien, höchst unschuldige Meinung in einem geistlichen Gespräch ganz unbewunden eröffnete, und deshalb eine große Strafpredigt erdulden mußte. Dies sei eben, behauptete man mir entgegen, der wahre Pelagianismus, und gerade zum Unglück der neueren Zeit wolle diese verderbliche Lehre wieder um sich greifen. Ich war hierüber erstaunt, ja erschrocken. 533 Wie kommt es nun, dass man in neuerer Zeit das Verb, das ursprünglich eine klare Handlungsrichtung mit einem, sich vom Subjekt unterscheidenden Akkusativobjekt hatte, auch reflexiv verwenden kann, sich also die Rolle des Patiens in Richtung Agens verschiebt? Eine Vermutung dafür könnte lauten: Die Flexion des Verbs als starkes Verb, wenn es passiv verwendet wird, und der allgemein zu beobachtende Schwund der unregelmäßigen Verbformen führte dazu, die passive Form analog der aktiven Form zunehmend regelmäßig zu bilden. Während die passive Form mit ich erschrecke durch den Blitz, ich erschrak durch den Blitz, ich war erschrocken durch den Blitz unregelmäßig gebildet wird, flektiert man die aktive Variante regelmäßig: ich erschrecke Hans, ich erschreckte Hans, ich habe Hans erschreckt. Weiß man nun als Sprecher insbesondere die Form des Imperfekt nicht mehr korrekt zu bilden - so wie man es bei schrauben auch oft nicht mehr kann - 534 , führt dies u. U. dazu, dass man auch die passive Form analog der aktiven Form bildet: Während die Imperfektform der passiven Verwendungsweise ich erschrak nicht zwingend bzw. nie ein Akkusativobjekt verlangt, ist dies bei der aktiven Verwendung sehr wohl von Nöten. Will man nämlich sagen, dass man selbst erschreckt wurde und verwendet zum Ausdruck dessen nun die (falsche) Imperfektform, so ist man genötigt, ein Akkusativobjekt (in diesem Falle logisch-grammatisch sich selbst) einzusetzen. Auf diesem Weg gelangt man dann zu der semantisch inkorrekten (aber grammatisch durchaus fehlerfrei gebildeten) Äußerung ich erschreckte mich bzw. ich habe mich erschreckt. Für die korrekte Imperfektform der passiven Verwendungsweise ich erschrak ist im Gegensatz zur aktiven Verwendungsweise ich erschreckte einzig eine intransitive Verwendung möglich. So ist ich erschreckte mich aufgrund des falsch eingesetzten Akkusativobjekts (falsche Referenz) semantisch, weil reflexiv verwendet, zwar falsch (wie oben gezeigt) aber 533 DuW: Goethe HA, Band 10: 45. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Hervorhebungen durch den Verfasser. 534 Für das Verb bellen (ursprünglich: bellen-bellte-boll) ist dieser Umstand z. B. schon längst lexikalisiert. Dieses Verb wird heute ausschließlich wie ein regelmäßiges Verb flektiert, wogegen man für schrauben noch das Adjektiv verschroben kennt, an dem sich die ursprüngliche unregelmäßige Flexion ablesen lässt. 296 grammatisch richtig gebildet, sprachlich etabliert und daher als Äußerung heute durchaus möglich und gebräuchlich. Dagegen ist ich erschrak mich in zweierlei Hinsicht falsch (grammatisch und semantisch) und wird wohl auch seltener in der Alltagskommunikation in dieser Form gebildet. Zwar ist ein Satz wie Gestern hab ich meinen Kontoauszug bekommen - ich erschrak mich fast zu Tode. denkbar, allerdings ist diese Verwendung im Vergleich zu Gestern hab ich meinen Kontoauszug bekommen - ich erschreckte mich fast zu Tode. eher ungebräuchlich, wenn auch durchaus verbreitet. Diese Annahme stützt ein rascher Blick ins Internet: Sucht man dort nach den beiden Phrasen ich erschreckte mich und ich erschrak mich, so findet man deutlich mehr Einträge, die dem Suchterm ich erschreckte mich entsprechen, wenn auch die wissenschaftliche Interpretation einer solche Suche gewissen Einschränkungen unterliegt. 535 Warum scheint im Vergleich die Phrase ich erschreckte mich nun die gebräuchlichere und akzeptiertere zu sein? Das liegt vermutlich daran, dass ich erschreckte mich im Gegensatz zu ich erschrak mich keinen sprachli- 535 Die Datenbankrecherche erfolgte als reine Phrasensuche, markiert durch Anführungszeichen in der Suchabfrage. Hierüber fanden sich alle Ergebnisse, in denen die Suchterme ich erschreckte mich und ich erschrak mich exakt als Phrasen vorkamen. Das Ergebnis ist zunächst - nach meinem persönlichen Sprachempfinden und meiner alltagssprachlichen Erfahrung - erstaunlich: Ich erschreckte mich ergab 22.100 Treffer, wogegen ich erschrak mich in der Google-Datenbank immerhin 15.100 Mal angezeigt wurde (Stand: 16.06.2011). Weiterhin wurden nach erschreckte sich und erschrak sich gesucht. Hier ist das Verhältnis etwas eindeutiger: erschreckte sich ergibt 31.400, erschrak sich 21.400 Einträge. Leider unterstützt Google keine Suche mit Hilfe Boole’scher Operatoren, so dass die Ergebnisse zwar einen Trend anzeigen, aber keine deutlichen Rückschlüsse erlauben, welche Verwendungsweise/ Phrase in der kommunikativen Wirklichkeit weiter verbreitet ist. Eine inhaltliche Auswertung der Einträge wäre sehr aufwendig und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Sehr verbreitet ist aber auf den ersten Blick die öffentliche Diskussion in Foren darüber, welche Verwendung als Reflexiv die richtigere ist. Diesen Rückschluss erlaubt die Sichtung der prominentesten Einträge mit den höchsten Klickraten. Eines verdeutlicht die Auswertung dennoch sehr anschaulich: Dass sich insgesamt über 90.000 Einträge finden lassen, die zumindest eine der beiden Phrasen enthalten, zeigt m. E., dass der Wandel zur reflexiven Verwendung von erschrecken ein diachrones Phänomen des verbalen Bedeutungswandels darstellt und daher zu Recht hier diskutiert wird. Es bleibt abzuwarten, welche der beiden Phrasen sich durchsetzen wird. Aufgrund der grammatischen Einfachheit des regelmäßig gebildeten transitiven Verbs erschrecken - erschreckte - erschreckt scheint mir eine reflexive Verbreitung dieser Variante zu Ungunsten der intransitiven Verbform wahrscheinlicher. 297 chen Fehler markiert, sondern grammatisch durch das Akkusativobjekt korrekt gebildet ist und demgemäß der semantische Fehler auch weniger sanktioniert wird. Eine These könnte lauten: Sprachliche Fehler, insbesondere im Bereich der Grammatik oder der Syntax, unterliegen einer stärkeren Kritik als semantische Ungenauigkeiten. Dennoch ist die verwendete transitive Verbform im Ursprung in keiner Weise dazu geeignet, auf die eigene Person zu referieren. Umgangssprachlich ist diese reflexive Variante dessen ungeachtet weit verbreitet, insbesondere, wenn man für das transitive Verb die Perfektform zugrunde legt: Die Äußerung ich habe mich erschreckt wird hochfrequent verwendet, gleichwohl beruht sie aber auf demselben semantischen Fehler. Interessanterweise scheint es im Gegensatz zum Imperfekt für das Perfekt so zu sein, dass auch ich habe mich erschrocken sehr häufig verwendet wird, möglicherweise sogar häufiger als ich habe mich erschreckt. 536 Hier wird die Perfektform neben dem falsch gebundenen Akkusativobjekt grammatisch fehlerhaft, da analog zu den regelmäßigen Verben gebildet. Richtig müsste es heißen ich bin erschrocken. Dennoch fällt hier die Wahl des Sprechers auf das prinzipiell richtige Verb, denn die intransitive Form ist dazu geeignet, aus sich selbst heraus auf die eigene Person als Objekt zu verweisen. Für das intransitive erschrecken ist mit ich erschrak mich und ich habe mich erschrocken im Grunde die semantisch richtige Verbform gewählt, da durch die Verbform selbst die Referenz auf den Sprecher impliziert ist. Hier liegt der Fehler im Detail: Als intransitives Verb wird es fehlerhaft verwendet, wenn man ein Akkusativobjekt hinzufügt. In der Imperfektform wird dieser Fehler deutlicher erkennbar als in der Perfektbildung, was möglicherweise auch erklärt, warum die Imperfektform weniger gebräuchlich ist: Ich erschrak erfordert im Gegensatz zu ich erschreckte eben kein Akkusativobjekt, das Verb wird per se reflexiv verwendet. Zugleich ist die Äußerung von ich erschrak mich auch in aus den oben genannten Gründen semantisch falsch, da auch hier ein Diathesenwandel stattfindet und der Sprecher der passiven Rolle enthoben wird. 536 Eine Eingabe in die G OOGLE Datenbank brachte für die Phrase ich habe mich erschreckt 58.400 Einträge, für die Äußerung ich habe mich erschrocken dagegen fast 2,5 Mal mehr Treffer (145.000). Die grammatisch korrekte Perfektform ich bin erschrocken wird dagegen in nur 121.000 Einträgen verwendet, also deutlich seltener noch als die fehlerhaft gebildete Form. Hierbei ist bemerkenswert, dass die grammatisch richtig gebildete Perfektform ich bin erschrocken offenbar sehr häufig für die Präsenzform analog zu ich bin hungrig oder ich bin müde gehalten wird (statt ich erschrecke). Es ist daher anzunehmen, dass für das intransitive erschrecken die grammatisch falsche Perfektform ich habe mich erschrocken den korrekt gebildeten Perfekt ich bin (gestern) erschrocken ablösen wird und dass in der Alltagskommunikation dieser Wandel bereits nachweislich stattfindet. 298 Die Erklärung, warum das grammatisch richtige, aber semantisch falsche ich erschreckte mich (und ganz besonders die Perfektform ich habe mich erschreckt) mittlerweile weit verbreitet ist, das in beiden Aspekten falsche ich erschrak mich dagegen eher nicht, könnte zudem in einer allgemeinen Tendenz zum Schwund der unregelmäßigen Verben im Deutschen gefunden werden. Die Verwendung eines unregelmäßigen Verbs kennzeichnet in denjenigen Fällen, in denen es zwei identische Infinitivformen eines Verbs gibt, sehr viel klarer, um welche Imperfektform es sich handelt. Da man sowohl selbst erschreckt sein als auch jemand anderen erschrecken kann, fällt es nicht leicht, hier zu differenzieren. Es scheint so zu sein, dass die grammatisch und semantisch korrekte Verwendung des Imperfekts für den passiven Zustand ich erschrak wesentlich stärker kennzeichnet, dass es sich bei dem Objekt des Erschreckens um die eigene Person handelt. Ein grammatischer (und zugleich semantischer) Fehler durch Hinzufügung des mich als Akkusativobjekt ist daher weniger wahrscheinlich, gleichwohl er offenbar umgangssprachlich stattfindet. Bei Verben wie stehen oder laufen, die ebenfalls intransitiv verwendet werden, kommt es nicht zu dieser Form des sprachlichen Fehlers. Niemand würde sagen ich lief mich oder ich stand mich, was sicher nicht allein an der Intransitivität der Verben oder an ihrer unregelmäßigen Bildung liegt, sondern an der Unmöglichkeit der Selbstreflexivität. Bei emotionalen Regungen ist dies anders und insbesondere dann problematisch, wenn dem Sprecher zwei identische Verben zur Verfügung stehen, die tückischerweise einmal regelmäßig und einmal unregelmäßig gebildet bzw. einmal transitiv und einmal intransitiv verwendet werden. Weiß ein Sprecher nicht, dass es das unregelmäßige Verb erschrecken gibt, mit dem man den eigenen Zustand des Erschrockenseins kennzeichnet bzw. weiß er nicht, wie es gebildet wird, greift er zum gebräuchlicheren und grammatisch einfacheren Verb erschrecken in der regelmäßigen Form. Das Dilemma ist, dass sich dieses Verb ursprünglich nicht dazu eignet, den Zustand der eigenen Erschrockenheit zu markieren, sondern den Vorgang des jemanden oder etwas Erschreckens. Um dieses Verb aber dann doch als Zustandsverb verwenden zu können, wird durch Hinzufügung des semantisch unmöglichen Akkusativobjekts mich diese Verbform für den intendierten Zweck gebräuchlich. Über diesen Prozess wandelt sich erschrecken in der transitiven aktiven Form erschrecken - erschreckte - erschreckt zu einem reflexiven Verb, das in seiner Bedeutung dem intransitiven passiven Verb erschrecken - erschrak - erschrocken entspricht und dieses auf lange Sicht vermutlich verdrängen wird. Dass man dieses Phänomen nicht bei allen ursprünglich starken Verben findet, liegt sicher daran, dass man die meisten Verben nicht sinnvoll passiv verwenden kann, man also nicht sinnvoll selbst als Patiens auftre- 299 ten kann. So kann man selbst zwar schrauben, etwa eine Schraube in ein Regal, einen Gesprächskontext, in dem man selbst geschraubt wird, kann man dagegen wohl nicht sinnvoll konstruieren. Wenn wie bei erschrecken der Ausdruck einer aktiven Reflexbewegung über einen semantischen Wandel - in diesem Fall durch das Verfahren der Metonymie - zum Ausdruck einer passiven Gemütsbewegung wird, liegt es nahe, dass auch der passive Zustand (man wurde erschreckt) so formuliert wird, als habe man aktiv etwas getan (man erschreckt sich statt: man erschrickt). Dass diese Entwicklung etwa für das sinnverwandte Verb aufschrecken nicht stattgefunden hat, ist einfach zu erklären: Aufschrecken wird nicht metonymisch verwendet (das Symptom/ der Reflex wurde nicht zur Bezeichnung der Gemütsbewegung, sondern ist noch heute Symptom oder Reflex) und dadurch ist eine reflexive Verwendung nicht möglich (*ich habe mich aufgeschreckt). 537 7.3 Grammatische Paradigmatisierung von brauchen zum Modalverb Betrachten wir ein weiteres Phänomen des grammatisch determinierten Bedeutungswandels bei Verben: Lenkt man den Blick als Linguist auf die gegenwärtige Verwendung von Modalverben im Deutschen, z. B. bei der Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern, im Besonderen aber mit Fokus auf die mündliche Kommunikation in der realen Sprecherwirklichkeit, begegnet man ganz aktuell einem Phänomen, das ich als grammatische Paradigmatisierung aufgrund von funktionaler Parameterkongruenz be- 537 Im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel von Verben der physischen Aktivität zu Verben der psychischen Gemütsbewegung ist der Verweis auf eine neuere Arbeit zur Polysemie im Psychverbwortschatz von S ILVIA K UTSCHER (K UTSCHER 2009: 71-88) angebracht. K UTSCHER stellt darin anschaulich den (semantischen) Zusammenhang zwischen Verben der physischen Sphäre und Verben des Psychwortschatzes dar. K UTSCHER vertritt die These, dass sich ein wesentliches Charakteristikum von Psychausdru cken sprachübergreifend darin manifestiert, dass sich die Psychlesart oftmals aus einem figurativ verwendeten Ausdruck ergibt, der in seiner nicht-figurativen Lesart eine physische Manipulation oder einen im physikalischen Raum manifesten Vorgang kennzeichnet. Für diese Lesart der physischen Sphäre verwendet K UTSCHER den Ausdruck PHYS-Lesart. Sie stellt in diesem Zusammenhang fest, dass ein sehr häufiger Typ semantischen Wandels die metaphorische oder metonymische Umschreibung eines körperlichen Gefühls (psychisch) durch ein Verb ist, das eine physische Handlung durch einen Agens kennzeichnet. Dieser Umstand lässt sich auch für das hier näher untersuchte erschrecken plausibel annehmen und durch die Ausführungen in dieser Arbeit m. E. anschaulich belegen. Vgl. auch Kapitel 6.2.3, in dem ich die Verfahren der Metaphorisierung und Metonymie mit Blick auf die Psychverbentwicklung eingehender untersuche. 300 zeichnen möchte. 538 Es handelt sich dabei um die Tendenz, ein Wort aufgrund von Ähnlichkeiten in der Parameterstruktur der Gebrauchsregel einem grammatischen Paradigma zuzuschreiben, zu dem es ursprünglich nicht gerechnet werden konnte. Im Zuge dieser semantischen Differenzierung ergeben sich grammatisch-syntaktische Veränderungen, die ich als makrostrukturelle Effekte beschreiben möchte. Für den Verbwortschatz des Deutschen gibt es aktuell eine solche Entwicklung für das Vollverb brauchen, das von vielen Sprechern mittlerweile modal verwendet wird und sich damit semantisch und grammatisch in das Paradigma der Modalverben einreiht. 539 Dieser Paradigmenwechsel (oder besser: diese Paradigmenerweiterung) vom Vollverb zum Modalverb manifestiert sich grammatisch, er ist aber semantisch begründet und er ist noch nicht abgeschlossen. 540 Ich werde weiter unten zeigen, dass sich die semantische Komponente des Wandels in Form von funktionaler Bedeutungsparameterkongruenz nachweisen lässt. Dieses Phänomen wird sich 1. als eine (mögliche) Erklärung für das Phänomen der semantischen Paradigmatisierung selbst darstellen und 2. auch in vielen Fällen im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Relation als Ursache für die grammatische Paradigmatisierung erweisen. Meines Wissens ist das Phänomen der grammatischen Paradigmatisierung für das Verb brauchen im Moment einmalig, zumindest lässt sich 538 Paradigmatisierung wird hier als ein morphosyntaktischer Grammatikalisierungsprozess verstanden, in dem ein Element aus einer offenen (oder größeren geschlossenen) Klasse in eine (kleinere) geschlossene Klasse (Paradigma) übergeht. Grammatische Paradigmatisierung ist also „the integration of a former lexical item into a closed class of grammatical elements, or from a large closed class to a smaller one“, wie W ILLIAM C ROFT bemerkt (C ROFT 2003: 259). 539 In der Definition eines Paradigmas folge ich H ADUMOD B UßMANN , die ein (grammatisches) Paradigma als „[d]ie auf vertikaler Ebene für einzelne Segmente austauschbaren Ausdrücke derselben (Wort-)Kategorie, im Unterschied zu den auf horizontaler Ebene segmentierbaren Einheiten, den Syntagmen“ bezeichnet (B Uß- MANN 2002: 494). Semantisch ist die Austauschbarkeit auf vertikaler Ebene für die Modalverben eingeschränkt, eine paradigmatische Austauschklasse von müssen, dürfen, können, sollen, mögen ist semantisch aufgrund der unterschiedlichen Modalitäten, die durch die Verben ausgedrückt werden, nicht ohne weiteres anzunehmen. 540 Im Gegensatz zu den Modalverben, die man zwar gelegentlich auch alleine als Vollverb benutzen kann, wenn der Kontext eindeutig ist, wird brauchen gegenwärtig in erster Linie den Vollverben zugerechnet. Es ist anzunehmen, dass ein kompletter Paradigmenwechsel auszuschließen ist und dass brauchen in Zukunft sowohl als Modalals auch als Vollverb verwendet und klassifiziert wird. Ein Blick in das historische Textkorpus zeigt, dass eine modale Verwendung von brauchen und eine an das grammatische Paradigma der Modalverben angepasste Gebrauchsweise dieses Verbs zu Goethes Zeiten noch nicht festzustellen ist. Es handelt sich also um eine moderne Bedeutungsentwicklung, die sich grammatisch manifestiert. 301 eine ähnliche Entwicklung gegenwärtig für kein anderes Verb erkennen. Auch wenn (oder gerade weil) sich diese Bedeutungsentwicklung damit als ein Einzelphänomen darstellt, ist sie doch m. W. noch nicht hinreichend ergründet, so dass an dieser Stelle eine kurze Betrachtung mit handlungstheoretischem Fokus und einem gebrauchstheoretischen Gerüst eingeschoben werden darf. H EIKO G IRNTH schreibt: „Es handelt sich hierbei [bei der Grammatikalisierung des Vollverbs brauchen zum Modalverb, S. B.] um einen bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen Grammatikalisierungsprozeß, der bislang nur sporadisch und nicht systematisch unter dem Blickwinkel der Grammatikalisierung betrachtet wurde“ 541 . Man darf hinzufügen: Unter dem Blickwinkel der semantischen Analyse der Bedeutungsstruktur der Modalverben, in deren Paradigma sich das Verb brauchen einreiht, wurde dieses Phänomen bislang m. W. noch überhaupt nicht systematisch betrachtet. 542 Dass sich eben dieser Wandel im Verbwortschatz abzeichnet, bei dem das Vollverb brauchen eine modale Bedeutung erlangt, ist keine neue Erkenntnis, die erst im Lichte dieser Untersuchung erstrahlt. R UDI K ELLER und I LJA K IRSCHBAUM etwa haben die Tendenz des Wandels für das Verb brauchen zur Herleitung ihrer Auffassung von sprachlichem Wandel im Allgemeinen herangezogen: Am Beginn eines Wandelprozesses steht sehr oft ein systematisch fehlerhafter Sprachgebrauch. Etwas verkürzt kann man sagen: Systematische Fehler von heute sind die neuen Regeln von morgen. Betrachten wir einige Beispiele: Wenn ein Schüler heute sagt Er braucht morgen nicht kommen, so wird ihn ein Lehrer möglicherweise korrigieren, indem er sagt: „Brauchen“ ist kein Modalverb und muss deshalb mit „zu“ verwendet werden, es muss also heißen „Er braucht morgen nicht zu kommen“. In einem gewissen Sinne hat der Lehrer damit Recht; aber der Schüler könnte darauf wie folgt antwor- 541 G IRNTH 2000: 115. H EIKO G IRNTH beschäftigt sich in seinen Einzelanalysen zur Grammatikalisierung am Beispiel des Westmitteldeutschen zwar mit dem Phänomen der Paradigmatisierung von brauchen als Modalverb, allerdings stehen bei ihm „weniger die [Fragen, S. B.] der diachronen Semantik der modalen Verwendungsweise von brauchen bzw. seine Funktion im heutigen System der Modalverben im Vordergrund [...]“ (G IRNTH 2000: 116). G IRNTH befasst sich in seiner Analyse in erster Linie mit den grammatischen Paradigmatisierungstendenzen als areale Progression von Grammatikalisierungsprozessen im Westmitteldeutschen und lenkt sein Augenmerk auf den Wegfall des Flexionsgrammems -t in der 3. Person Singular Präsenz Indikativ und den Wegfall des zu beim Infinitiv (*Er brauchØ nicht kommen). 542 Dieser Umstand erklärt sich aus der prinzipiellen Unmöglichkeit, mit den Methoden der Semantikforschung bislang solche grammatisch-syntaktischen Phänomene greifen zu können, geschweige ein Erklärungsmodell dafür zu entwickeln. Ich hege die Hoffnung, dass mit dem Modell der Bedeutungsparameter dieses Dilemma ein Stück weit überwunden werden kann. Einen ersten Beitrag dazu möchte ich im Folgenden leisten. 302 ten: Aus der Tatsache, dass „brauchen“ so oft ohne „zu“ mit dem reinen Infinitiv verwendet wird, lässt sich erkennen, dass „brauchen“ im Begriff ist, ein Modalverb zu werden. Alle Modalverben waren ehedem ganz normale Vollverben. 543 Neben der Tatsache, dass K ELLER und K IRSCHBAUM hier auf das Phänomen der grammatischen Paradigmatisierung aufmerksam machen (ohne allerdings nach einer Erklärung zu suchen), liefern sie zugleich eine Hypothese über die Ursache, indem sie von einem fehlerhaften Wortgebrauch ausgehen, der im Laufe der Zeit neu verregelt wird. Auf diesem Weg bildet sich durch unbewusste aber systematische Regelverletzung der Normalfall heraus. Die beiden Autoren gehen stillschweigend davon aus, dass der fehlerhafte Wortgebrauch des Verbs brauchen systematisch (und damit in der Sprecherwirklichkeit häufig) vorkommt und dass die grammatische Paradigmatisierung aus der empirischen Beobachtung der aktuellen Sprecherwirklichkeit heraus deutlich erkennbar wird („Aus der Tatsache, dass „brauchen“ so oft ohne „zu“ mit dem reinen Infinitiv verwendet wird, lässt sich erkennen, dass „brauchen“ im Begriff ist, ein Modalverb zu werden“). Betrachten wir zum Beleg dieser Behauptung im Folgenden ein paar Beispiele aus gegenwärtigen Texten und Diskursen, in denen diese vermutete systematische Verwendung von brauchen als Modalverb lebendig und evident wird. Zu diesem Zweck ist ein Blick in diverse Internetforen erhellend, da dort vermutlich recht gut der gegenwärtige Sprachzustand abgebildet wird. Dort finden wir z. B. folgende Äußerungen 544 : Dann braucht man sich nicht wundern, wenn es immer mehr übergewichtige Kinder gibt. Wenn man im Kindesalter schon zuviel Pfunde drauf hat, wirds im späteren Leben sehr schwer haben, nicht Diabetes, Bluthochdruck und das restliche Programm bekommt. 545 Filesharing ist doch illegal, da braucht sich der Kerl doch nicht wundern wenn er für seine Vergehen vor Gericht gestellt wird. 546 Wer den Text auch allein versteht braucht nicht kommen. Wer den Prof braucht muss für die Klausur halt regelmäßig antanzen. 547 543 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 9 544 Die hier zitierten Äußerungen sind orthographisch nicht bereinigt. 545 Ein Leser-Kommentar in http: / / www.focus.de/ gesundheit [aufgerufen am 01.04.2012] 546 Ein Foreneintrag unter der Überschrift „Man braucht sich doch nicht wundern“. Gefunden in: http: / / forum.golem.de/ read.php? 29689,1576960,1580189 [aufgerufen am 01.04.2012] 547 Ein Kommentar eines Studenten zur Frage der Anwesenheitspflicht in der Universität. Gefunden in: http: / / www.besser-studieren.nrw.de/ node/ 933 [aufgerufen am 01.04.2012] 303 two and a half men im bett gucken meine stimme schonen..also leute ihr braucht nicht anrufen weil ich geh nicht ans handy! 548 Die Verwendung von brauchen als Modalverb in der grammatischen Form der Modalverben (also ohne zu) ist aber nicht nur in der gesprochenen Alltagssprache zu finden, auch in geschriebenen Zeitungstexten begegnen wir diesem Phänomen, wenn auch deutlich seltener und vielfach nur dann, wenn innerhalb eines Artikels jemand wortgetreu zitiert wird. Vermutlich herrscht in den Redaktionen ein deutlich reflektierteres Sprachbewusstsein, so dass brauchen hier in aller Regel korrekt als Vollverb und nicht (oder nur selten) als Modalverb verwendet wird. Ein kurzer Blick in die Online-Archive einiger Tageszeitungen bringt dennoch Beispiele ans Licht. So schreibt die Rheinische Post am 12.03.2012 in einem Beitrag zum „Saubertag“ in Meerbusch: Die Müllzange schnappt zu. Nina braucht nicht zu ihren Eltern schauen. Die Neunjährige weiß selber, dass alte Zigarettenpackungen Unrat sind. 549 In der Online-Ausgabe der Main-Post vom 08.03.2012 finden wir folgendes Zitat des Präsidenten des Bayerischen Handwerkstages 2011 zum Fachkräftemangel im Handwerk: Das Handwerk braucht nicht jammern. 550 Auch das umstrittene Zitat Margot Honeckers, in dem sie den Maueropfern des DDR-Regimes selbst Schuld an deren Schicksal zuweist, ist ein Beleg für die systematische Verwendung von brauchen als Modalverb: Man hat sich vor allem auch immer gefragt: Wieso hat er das riskiert? Warum? Denn das braucht ja nicht sein. Der brauchte ja nicht über die Mauer zu klettern. 551 Dass sich diese Beispielliste beliebig fortsetzen ließe, zeigt, wie sehr das Verb brauchen heute bereits dem Paradigma der Modalverben zugeordnet werden kann, auch wenn die aktuellen Grammatiken dies (noch) nicht hergeben. So findet man z. B. in der D UDEN -Grammatik unter dem Schlagwort „Modalverb“ nur Einträge für die Verben dürfen, können, mö- 548 Twitter-Nachricht von Sunny (@sunn223) auf Twitter vom 19.02.2012. 549 http: / / www.rp-online.de/ region-duesseldorf/ meerbusch/ nachrichten/ 500-helferam-saubertag-1.2749602 [aufgerufen am 01.04.2012] 550 http: / / www.mainpost.de [aufgerufen am 01.04.2012] 551 http: / / www.focus.de/ kultur/ kino_tv/ erster-fernseh-auftritt-nach-20-jahrenmargot-honecker-verteidigt-stasi-in-tv-interview_aid_730546.html [aufgerufen am 01.04.2012]. Interessanterweise verwendet Margot Honecker hier brauchen einmal als Modalverb (also grammatisch falsch) und im Folgesatz grammatisch korrekt als Vollverb. 304 gen, müssen, sollen und wollen. 552 Dennoch begegnet uns dort zumindest der Hinweis darauf, dass brauchen „im Begriff steht, in den Kreis der Modalverben hinüberzuwechseln. 553 Abgesehen davon, dass diese Aussage in dieser Form nicht zutreffend ist (vermutlich aus einem Mangel an Präzision oder unreflektierter Wortwahl), denn natürlich behält brauchen seine Funktion als Vollverb weiterhin bei, so dass man gegenwärtig nicht von einem Paradigmenwechsel sprechen kann, ist die Erklärung, die der D UDEN für die Paradigmatisierung von brauchen liefert, m. E. nicht korrekt. So finden wir den Hinweis, dass man für verneintes müssen in den meisten Fällen ein verneintes brauchen verwenden könne und dass dies die nämliche Bedeutung für brauchen in modaler Lesart wäre. 554 Der D U- DEN belegt dies anhand eines konstruierten Beispiels: Es fiel ihm alles in den Schoß, sodass er sich nicht anstrengen musste/ anzustrengen brauchte. Mit dieser Frage, die längst geklärt ist, müssen wir uns nicht noch einmal beschäftigen/ brauchen wir uns nicht noch einmal zu beschäftigen. 555 Der D UDEN liefert auch den Hinweis, dass brauchen in modaler Verwendung in der Gegenwartssprache, vor allem in mündlicher Rede, häufig ohne die Infinitivpartikel zu verwendet wird. Die weiter oben wahllos aus dem Internet extrahierten Beispiele belegen dies. 556 Wie steht es aber um 552 Hier gibt es gegenwärtig ein Zuordnungsproblem: Während der D UDEN nur diese sechs Modalverben nennt, findet man in anderen Grammatiken sehr uneinheitliche Definitionen hinsichtlich der Größe des Modalverbparadigmas. E NGEL (E NGEL 2009) und H ERINGER (H ERINGER 1989) erweitern den Kernbestand an Modalverben auch um brauchen, wobei H ERINGER eher vorsichtig brauchen als Modalverb definiert, das einen Infinitiv mit zu verlangt, also zumindest grammatisch vom Paradigma der anderen Modalverben abweicht (H ERINGER 1989: 101). 553 D UDEN -Grammatik: 92 554 Vgl. D UDEN -Grammatik: 97 555 D UDEN -Grammatik: 97 556 Vgl. D UDEN -Grammatik: 262. H EIKO G IRNTH stellt interessanterweise fest, dass sich die Infinitivpartikel zu nach brauchen erst im 16. Jahrhundert „aus der Konstruktion des Vollverbs brauchen mit der Präposition zu und einem nachfolgendem [sic! ] Nominalglied herausgebildet und diese schließlich auch abgelöst [hat]“ (G IRNTH 2000: 117). Zu diesem Zeitpunkt hat sich also durch die Konstruktion von brauchen mit zu ein anvisierter Zielpunkt des Verbalinhalts ergeben, so dass der durch brauchen ausgedrückte Vorgang nicht mehr uneingeschränkt für sich allein, sondern nur noch mit Hinblick auf ein bestimmtes Ziel und einen bestimmten Zweck gelten konnte. G IRNTH schreibt: „Entscheidend für den Eintritt von brauchen in eine Konstruktion mit zu und nachfolgendem Infinitiv [z. B.: Ich brauche das nicht zu kaufen, S. B.] dürfte wohl in erster Linie seine modale Semantik sein“ (G IRNTH 2000: 117). Dass brauchen dabei an die Stelle von dürfen tritt, das ursprünglich nötig haben bedeutete, also die Modalität Notwendigkeit besetzte und heute die Modalität der Möglichkeit kennzeichnet, ist eine interessante Bedeutungsentwicklung, die erklärt, welche enge semantische Beziehung brauchen zu den Modalverben aufweist. 305 die Frage, welche semantische Funktion brauchen als Modalverb im gegenwärtigen Sprachzustand zu erfüllen vermag? Besetzt brauchen im Paradigma der Modalverben eine semantische Leerstelle, die bislang noch nicht aufgedeckt wurde, oder stimmt es wirklich, dass brauchen in Negation dieselbe Bedeutung trägt wie nicht müssen? Hier muss man mit einem semantischen Fokus (und einer gebrauchstheoretischen Fixierung) vermerken, dass die Annahme einer synonymen Bedeutungsentwicklung von nicht brauchen hin zu nicht müssen nicht richtig sein kann, auch wenn es semantische (und sprachhistorische) Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bedeutungen gibt. 557 Sie wäre erst recht nicht plausibel, wenn man sich dem Phänomen Bedeutungswandel aus sprachökonomischer und kommunikationstheoretischer Sicht nähert. Welchen Sinn soll es haben, dass sich ein Wort semantisch ausdifferenziert, um am Ende dieses Prozesses genau dieselbe Bedeutung zu erlangen wie ein Wort, das bereits existiert und zudem noch hochfrequent gebräuchlich ist? Wie sollte dann weiterhin die Gebrauchsregel für dieses Wort zu formulieren sein? Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei nicht müssen und nicht brauchen um bedeutungsgleiche - also bedeutungsinvariante - Wörter handelt, besitzen dann nicht beide Wörter dieselbe Gebrauchsregel? 558 Wenn wir uns das Beispiel ansehen, das der D UDEN für die mögliche Verwendung von brauchen in Negation entwirft, dann fällt auf, dass die Bedeutungsgleichheit der Sätze (mit müssen/ brauchen) hier nicht durch die Bedeutungen von müssen oder brauchen erzeugt wird, sondern durch 557 Dass nicht brauchen dasselbe wie nicht sollen und nicht müssen bedeute, behauptet neben dem D UDEN und anderen Grammatiken auch H EIKO G IRNTH . Er erklärt diese These damit, dass das „heutige modale nicht brauchen [...] das alte nicht dürfen fort[setzt], das seit dem Althochdeutschen die Funktion hatte, sollen und müssen zu negieren“ (G IRNTH 2000: 118; vgl. zur allgemeinen Bedeutungsgeschichte der Modalverben im Deutschen auch die Ausführungen von R OSEMARIE L ÜHR und R OSWI- THA P EILICKE in F RITZ 1997: 159ff. und 209ff. oder die kurze Übersicht bei F RITZ 2005). Zwar ist diese Feststellung und Herleitung sprachhistorisch sicher korrekt, allerdings ergibt sich daraus lediglich ein bedeutungsgeschichtlicher Zusammenhang, der zu einem falschen Schluss von der Ursache auf die Wirkung verleitet: Nur weil brauchen semantisch an die Stelle von dürfen getreten ist (man erkennt diese Entwicklung noch an der Bedeutung von bedürfen), dient es heute noch lange nicht zur Negierung von müssen oder sollen. Die Negierung dieser beiden Modalverben wird hinreichend durch die Modalpartikel nicht ausgedrückt, so dass eine synonyme Bedeutung von nicht müssen/ nicht sollen und nicht brauchen m. E. kommunikationstheoretisch nicht plausibel ist. 558 Es wäre m. E. nicht besonders plausibel anzunehmen, dass sich ein Verb semantisch an ein anderes Verb angleicht, um Bedeutungsgleichheit zu erreichen. Dies kann auch nicht mit Beliebigkeit in der Wortwahl durch den Sprecher begründet werden, denn m. E. unterscheiden Sprecher sehr wohl zwischen der Verwendung von nicht müssen und nicht brauchen. 306 den Kontext, in dem die Verben modal verwendet werden. Dieser Umstand wird deutlicher, wenn wir für nicht müssen und nicht brauchen die obigen Beispielsätze ein wenig modifizieren: Er hatte gestern Freigang, sodass er nicht eingesperrt werden musste/ *brauchte. Diese Operation müssen wir nicht noch einmal durchführen/ *brauchen wir nicht noch einmal durchzuführen. Ob ein Fahrzeug z. B. nicht zum TÜV muss, weil die Plakette noch ausreichend lange Gültigkeit besitzt oder ob es nicht zum TÜV braucht, weil es z. B. ein Fahrrad ist und damit gar keiner Prüfpflicht unterliegt, ist ein grundlegender Unterschied. Im ersten Fall muss mein Fahrzeug (wenn nicht heute, dann aber irgendwann) zum TÜV, im zweiten Fall gibt es keine TÜV-Pflicht und damit auch kein Muss (und für Fahrräder m. W. nicht einmal ein Kann). Aus dieser semantischen Differenziertheit und unterschiedlichen Disponiertheit beider Verben heraus nehme ich an, dass etwas nicht müssen und etwas nicht brauchen dem Sprecher bzw. Hörer ein unterschiedliches Maß an Entscheidungsspielraum einräumen und dass diese beiden Verben daher nicht bedeutungsgleich sein können. Zwar gibt es eine Bedeutungsangleichung an das Modalverb müssen, aber das Verb brauchen in modaler Verwendung besitzt eine etwas andere Konnotation und damit auch eine differente Bedeutung: Während müssen eine wesentlich stärkere Verbindlichkeit besitzt, ist brauchen in der modalen Lesart abgeschwächt (Du musst nicht kommen/ Du brauchst nicht (zu) kommen). Dieser Umstand wird so richtig erst in der Auflösung der Negation offensichtlich: Du musst kommen/ *Du brauchst kommen. 559 559 Brauchen ist in modaler Verwendung allerdings gegenwärtig nicht ausschließlich mit Negation möglich, auch wenn dies häufig behauptet wird und auf den ersten Blick plausibel erscheint. Sämtliche Beispiele, die der D UDEN z. B. für brauchen in modaler Verwendung konstruiert, sind als Negation angelegt und semantisch äquivalent zu nicht müssen gebildet. Auch die weiter oben aus dem Internet extrahierten Beispiele verwenden brauchen nur in Negation. Dabei gibt es für den Ausdruck der Negation eine paradigamtische Austauschklasse, zu der nicht nur die Negationspartikel nicht gehört, sondern z. B. auch nie, nichts, kein, kaum, etc. (Er braucht nie anrufen). Eine positive Verwendung lässt sich für brauchen als Modalverb aber ebenfalls konstruieren: Du brauchst mich nur anrufen, schon komm ich vorbei. Hier zeigt sich eine eigene Verwendungsweise als Modalverb, die über die Funktion der Besetzung einer Leerstelle (für nicht können, siehe weiter unten) hinausgeht und nahe legt, dass die Paradigmatisierung weiter fortgeschritten ist, als gemeinhin angenommen wird. Es gibt also heute bereits eine eigene semantische Rolle des Verbs brauchen innerhalb es Paradigmas, die nicht mit Bedeutungsäquivalenz oder Leerstellenbesetzung erklärt werden kann. 307 7.3.1 Die semantische Funktion von brauchen innerhalb des Modalverbparadigmas - Besetzung einer Leerstelle Welche Funktion erfüllt brauchen im Paradigma der Modalverben, wenn Bedeutungsgleichheit, also Synonymie, folglich ausgeschlossen werden muss? Die m. E. korrekte Verwendung von brauchen als Modalverb ergibt sich aus der grammatisch (und, wie sich weiter unten zeigen wird, auch semantisch) korrekten Möglichkeit der Negation des Modalverbs können und weniger aus der Bedeutungsähnlichkeit zum imperativischen nicht müssen, die doch - so lässt sich zeigen - bei aller Ähnlichkeit keine Gleichheit darstellt: 560 Während nicht müssen und nicht brauchen unterschiedliches Wissen denotieren, in ihrer imperativischen Ausdrucksfunktion graduell abgestuft und daher nicht bedeutungsgleich sind (und aus diesem Grund nicht beliebig ausgetauscht werden können), eignet sich m. W. einzig und allein nicht brauchen für die Negierung von können in modaler Verwendung. Dazu ein Beispiel: Die Negation eines alltäglich gebräuchlichen Satzes wie A: Du kannst mich später anrufen, wenn Du Lust hast wird man sinnvoll mit B 1 : Du brauchst mich nicht an(zu)rufen, wenn Du keine Lust hast negieren. Für können ist in diesem Beispiel in der negativen Lesart nicht brauchen eingesetzt worden, weil nicht können in diesem Kontext keinen sinnvollen Satz ergeben würde. Eine Negierung von modalem können mit der Negationspartikel nicht ist in dieser Lesart offensichtlich nicht möglich. Dieser Umstand wird evident, wenn man in B 1 statt nicht brauchen die Konstruktion nicht können einfügt. Für die Negation der Aussage A ergibt sich dann die inkorrekte Äußerung: B 2 : *Du kannst mich nicht anrufen, wenn Du keine Lust hast. 561 560 Da hilft es auch nicht weiter, wenn H ERBERT K OLB formuliert, dass „brauchen etwas Imperativisches an sich [hat]“ und daher als Vollverb „eine modale Färbung der Aussage [per se, S. B.] mit ein[schließt]“ (K OLB 1964: 65, Quellenangabe bei G IRNTH 2000). H EIKO G IRNTH folgert daraus, dass die modale Bedeutung von brauchen der Vollverbbedeutung bereits inhärent sei (vgl. G IRNTH 2000: 116). Offen bleibt bei beiden Autoren nicht nur, was das Imperativische am Vollverb brauchen sein soll, sondern auch, inwiefern sich brauchen in der Strenge des Imperativischen von den anderen Modalverben (v. a. von müssen) unterscheidet. 561 Ich beziehe mich hier einzig auf den Aspekt und den Modalitätsparameter der Entscheidbarkeit bei Modalverben, also der Notwendigkeit bzw. der Erlaubnis. Wenn man hingegen den Aspekt der Modalität als Möglichkeit ins Feld führt, dann wird eine Negation für können mit nicht selbstverständlich konstruierbar: Du kannst mich morgen anrufen, weil Dein Telefon dann wieder funktioniert / Du kannst mich morgen nicht anrufen, weil Dein Telefon dann noch defekt ist. Ich nehme aber für die modale 308 Was anhand dieses Beispiels offensichtlich wird, ist eine Leerstelle innerhalb des Paradigmas der Modalverben, die durch brauchen in Kombination mit der Negationspartikel nicht besetzt werden kann und zwar m. E. ausschließlich durch diese Wortkombination. Man könnte in diesem Punkt einwenden, dass auch eine Äußerung wie B 3 : Du musst mich nicht anrufen, wenn Du keine Lust hast korrekt wäre und als Negation von A taugt. Eine solche Satzkonstruktion wie in B 3 ist nicht nur denkbar, sie ist mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Sprecherwirklichkeit auch gebräuchlich. Dessen ungeachtet halte ich sie semantisch für falsch. Bei genauerem Hinsehen stellt man nämlich fest, dass müssen aufgrund der stärkeren Verbindlichkeit eine andere Bedeutung trägt als können oder brauchen: Können und brauchen sind in modaler Verwendung unverbindlich, müssen hingegen evoziert Verbindlichkeit und Zwang - auch in der Negation. Ich halte es aus diesem Grund auch entgegen dem vielfachen Hinweis auf eine Synonymie von nicht müssen und nicht brauchen für einen grundlegenden semantischen Unterschied, ob ich in diesem Beispiel das nicht brauchen durch ein nicht müssen ersetze, da nicht müssen bekanntlich die Negation zu müssen ist und müssen eine sehr viel stärkere Verbindlichkeit als brauchen zum Ausdruck bringt. Wenn ich also einem Freund sage, er brauche mich nicht anzurufen, wenn er nicht möchte, dann bedeutet das etwas anderes, als wenn z. B. mein Chef sagt, ich müsse ihn nicht anrufen. Im ersten Fall nämlich ist der Anruf eine Handlung über deren Notwendigkeit ich meinem Gegenüber (in diesem Fall dem Freund) einen Entscheidungsspielraum einräume. Er selbst kann entscheiden, ob er mich anruft oder nicht. Im zweiten Fall wird mir das Nicht-Anrufen explizit erlaubt. Dies ist ein soziales Phänomen: Ich kann nur dann jemand anderem gegenüber äußern, dass er etwas nicht tun muss, wenn ich aufgrund meines Status dazu befähigt wäre, ihm auch im umgekehrten Fall zu befehlen, dass er etwas tun muss. Würde mein Chef sagen Sie dürfen mich nicht anrufen, würde mir der Anruf sogar verboten. Die Erlaubnis, ihn nicht anzurufen und auch das Verbot, ihn anzurufen, kann er aus seiner sozialen Rolle heraus aussprechen; ein Umstand, der auf der Ebene der Bedeutungsparameter von Gewicht sein wird, wenn man die Paradigmatisierung von brauchen als Modalverb erklären möchte. Für nicht müssen lässt sich also feststellen, dass ich nur dann dazu befähigt bin, etwas nicht zu müssen, wenn ich es sonst tatsächlich (aufgrund meiner sozialen Position) tun müsste. Verwendung von brauchen an, dass es sich bei der Modalität dieses Verbs um eine Erlaubnis oder Notwendigkeit handelt, so dass brauchen sich im selben Paradigma bewegt wie dürfen, können, müssen und sollen und dort die Leerstelle für die Negation von können besetzt. Vgl. dazu Abbildung 9 weiter unten 309 Anders stellt es sich für den semantischen Zusammenhang zwischen können und brauchen dar: So wie können eine gewisse Entscheidungsfreiheit des Gegenübers impliziert, ist dies in der Realisierung der Negation von können durch die Kombination von brauchen und der Negationspartikel nicht ebenfalls der Fall. Nicht müssen ist also eine Erlaubnis, nicht brauchen hingegen ist wie können in der positiven Lesart eine freie Entscheidung. Auch sie ist sozial determiniert: In der wechselseitigen Kommunikation äußere ich einen Satz wie B 1 nur dann, wenn zwischen mir und meinem Gegenüber ein Verhältnis der Ungezwungenheit besteht. Ein Chef kann seinem Mitarbeiter sagen, was er tun muss. Ein Freund hingegen besitzt diese Befehlsgewalt nicht. Die soziale Determiniertheit ist bei den Modalverben ebenso wie bei nicht brauchen ein paradigmatisch verbindendes Element, das ich weiter unten als funktionale Parameterkongruenz beschreiben werde. Die Gebrauchsregel von brauchen als Modalverb könnte also mit einem grammatischen Fokus lauten: Verwende die Wortkombination „nicht brauchen“ in modaler Verwendung als Negation des Modalverbs „können“ im Modus Notwendigkeit, da es für „können“ in der Notwendigkeitslesart keine sinnvolle Negationsmöglichkeit wie bei „müssen“, „dürfen“ und „sollen“ gibt. Dieser Umstand soll durch die Beispiele im Folgenden noch evidenter werden, aus denen sich in der Gegenüberstellung von positiver Form und Negation das Paradigma der Modalverben und insbesondere die Leerstelle für die Negation von können in der Verpflichtungs- (oder Erlaubnis)- Modalität 562 ableiten und darstellen lässt: 562 Modalverben spezifizieren das Verhältnis zwischen Subjekt und Verbalvorgang unter semantischen Aspekten (vgl. B UßMANN 2002: 440). Diese können neben der „Erlaubnis“ und der „Verpflichtung“ auch „Vermutung“, „Notwendigkeit“, „Auftrag“, „Wille“ (bzw. „Weigerung“), „Fähigkeit“ u. v. m. sein. Für die von mir beabsichtigte Erklärung der Inkorporierung von brauchen in das Paradigma der Modalverben unter semantischen Gesichtspunkten ist die Modalität „Notwendigkeit“ bzw. „Erlaubnis“ oder „Verpflichtung“ von besonderem Interesse. Die hier skizzierte Gegenüberstellung bildet deswegen nicht alle möglichen modalen Realisierungen ab. 310 Abb. 8: Das erweiterte Paradigma der Modalverben mit brauchen Anhand dieser beispielhaften Gegenüberstellung 563 zeigen sich auch die jeweiligen semantischen Relationen zwischen den Modalverben: So wie 563 Es sei an dieser Stelle der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass diese Übersicht nicht dazu geeignet ist, das komplette Paradigma der Modalverben abzubilden - weder semantisch noch grammatisch. Hier muss ich auf die einschlägigen Grammatiken verweisen. Es muss insbesondere festgehalten werden, dass Modalverben kontextspezifisch ihre Bedeutungen generieren, so dass sich für Modalverben höchst unterschiedliche Verwendungsweisen ergeben, auch wenn jedem Modalverb eine einheitliche, wenn auch rudimentäre Semantik zugrunde liegt. Eine differenziertere Betrachtung muss demgemäß auch den realen Gesprächskontext berücksichtigen (Vgl. dazu die Arbeiten A NGELIKA K RATZER s (Literaturhinweise bei M ACHÈ 2009)). J AKOB M ACHÈ schreibt: „ Die entscheidende Annahme in Kratzers [...] Arbeiten ist, dass jedem Modalverb in all seinen Varianten eine einheitliche Bedeutung zugrunde liegt. Das heißt, alle unterschiedlichen Vorkommen von können gehen auf ein und denselben Lexikoneintrag zurück. Ebenso lassen sich sämtliche Formen von dürfen oder wollen auf jeweils einen zugrundeliegenden Eintrag zurückführe n. Den Kernbestandteil der Modalverbbedeutung macht ein Quantor aus, der über mögliche Welten operiert, ganz in der Tradition der Modallogik. Im Falle von Notwendigkeitsverben wie müssen und sollen ist ein Allquantor am Werk, im Falle der Möglichkeitsverben dürfen und können ein Existenzquantor. Vereinfa cht ausgedrückt bedeutet eine Aussage wie Sarah muss arbeiten , dass für alle zur Diskussion stehenden möglichen Welten gilt, dass Sarah in der jeweiligen Welt eben arbeitet. Eine Aussage wie Sarah darf komme n wiederum bedeutet, dass es zumindest eine mögliche Welt gibt unter den zur Diskussion stehenden, für 311 kann die Abschwächung von muss ist (ebenso wie die von soll), ist braucht nicht zwar die Abschwächung von muss nicht (bzw. die unverbindlichere Entsprechung zu soll nicht und darf nicht) und besitzt daher eine Bedeutungsähnlichkeit zu müssen. Im Gegensatz zu den anderen Modalverben ist allerdings in der Negation für das Modalverb können eine Leerstelle im Paradigma der Negation bei Modalverben feststellbar, die allein durch die Paradigmatisierung von brauchen gefüllt wird. Hier erkenne ich die eigentliche Funktion von brauchen als Modalverb und es erklärt sich aus diesem Befund heraus auch, warum brauchen in modaler Verwendung in den meisten Fällen sinnvoll nur mit der Negationspartikel nicht (oder anderen Negationspartikeln) verwendet werden kann; ein Umstand, der aus der pragmatischen Funktion des Verbs in modaler Verwendung resultiert, die sich als Besetzung einer semantischen Leerstelle im Paradigma der Modalverben manifestiert. Nun kann man einwenden - und ein Blick auf die Gegenüberstellung in Abb. 8 zeigt dies ja auch deutlich -, dass man brauchen nicht in jedem Fall in der negierten Form verwenden muss, damit man eine modale Ausdrucksweise generieren kann. Dass man brauchen auch in der positiven Form verwenden kann, indem man es in der Verbindung mit der Modalpartikel nur gebraucht, steht m. E. der zuvor getroffenen Feststellung der Leerstellenabhängigkeit von modalem brauchen in Negation nicht entgegen. Im Gegenteil: Dass sich für brauchen mittlerweile auch eine eigene Realisierung als positiv verwendetes Modalverb festschreiben lässt, bestätigt die intuitive Annahme, dass der Prozess der grammatischen Paradigmatisierung bereits weit fortgeschritten ist. Brauchen besetzt nicht mehr nur die Leerstelle für verneintes können in der Notwendigkeitslesart, es trägt auch selbst modale Bedeutung, wenn es positiv in Kombination mit nur verwendet wird. Worin liegt nun die semantische Dimension der grammatischen Paradigmatisierung von brauchen zum Modalverb? die gilt, dass Sarah kommt“ ( M ACHÈ 2009: 4) . Nur, wenn man sich diese Umstände im Einzelnen bewusst macht und die Modalverben mit einem realen Kontext verknüpft, lässt sich das Paradigma der Modalverben zufrieden stellend abbilden. Eine umfassende Paradigmendarstellung, die mit Quantoren operiert, ist hier nicht beabsichtigt, sie ist zudem auch für meine Fragestellung nicht notwendig. Es soll vielmehr mit Hilfe dieser vereinfachten Gegenüberstellung gezeigt werden, an welcher Stelle sich brauchen in das Paradigma der Modalverben semantisch sinnvoll einfügen lässt und welche Funktion dieses Verb in diesem Gefüge ausübt. 312 7.3.2 Funktionale Bedeutungsparameterkongruenz Möglich ist die Paradigmatisierung von brauchen durch eine ganz besondere semantische Nähe, die sich auf der Strukturebene der Wortbedeutung in Form sozialer Parameter in den Gebrauchsregeln als eine Art paradigmatischer Klasseneffekt nachweisen lässt. Ich möchte dieses Phänomen an dieser Stelle Funktionale Parameterkongruenz nennen und erklären, was darunter zu verstehen ist: Die Modalverben müssen, können, dürfen und sollen involvieren (u. a.) soziale Parameter, die sich in ihrer Ausgestaltung sehr ähnlich sind und die sich in funktional gleicher, also kongruenter Form auch in der Gebrauchsregel von brauchen nachweisen lassen (die Modalverben mögen und wollen hingegen besitzen eher epistemische Parameter, müssen hier also aus der Erklärung ausgeklammert werden). Genauer: Das Verb brauchen involviert (wie auch die gerade genannten Modalverben) in modaler Lesart soziale Parameter, die etwas mit der Modalität der Notwendigkeit einer bestimmten Handlung zu tun haben (sich also funktional in dieser Hinsicht gleichen) und die diese Modalität in ganz bestimmter Weise (in Abgrenzung zu den anderen paradigmatischen Elementen different) semantisch spezifizieren: Wer etwas nicht braucht (im Sinne von etwas nicht tun braucht), der besitzt die Freiheit, etwas zu lassen. Diese Wahlfreiheit ist sozial determiniert und sie eröffnet einen Ermessensspielraum, der z. B. für müssen deutlich eingeschränkt ist. Die sozialen Umstände sind es, die es mir gestatten, etwas zu lassen bzw. etwas zu tun. Ein Beispiel: Ob ich morgen zur Arbeit gehen muss, es kann oder darf, ist von meiner sozialen Rolle innerhalb der sozialen Gruppe der Arbeitenden abhängig. Im Umkehrschluss besteht diese Abhängigkeit auch dann, wenn wir die Negation ausdrücken wollen: Ob ich morgen nicht zur Arbeit geben muss, es nicht kann (weil ich krank bin) oder nicht darf (weil ich suspendiert wurde), ist ebenfalls sozial bestimmt. Und ob ich es nicht brauche, ebenso. 564 Die soziale Rolle, die ich als handelndes Subjekt im Bezug auf einen ganz bestimmten Sachverhalt einnehme, wird innerhalb der Modalverben durch die sozialen Parameter bestimmt. Und zwar bei den genannten Modalverben und bei brauchen in Negation in der gleichen Art und Weise. Ebenso wie die Modalverben müssen, können, dürfen und sollen gibt auch brauchen in Negation Aufschluss darüber, welchen sozialen Status ich einnehme und wie weit ich dadurch für mein eigenes Handeln verantwortlich bin bzw. inwieweit ich es selbst entscheiden kann, etwas zu tun oder zu lassen. Die Funktion der sozialen Bedeutungsparameter innerhalb dieser Modalverben und auch innerhalb von brauchen in modaler 564 Die semantische Differenzierung zwischen nicht brauchen und nicht müssen aus sozialtheoretischer Sicht folgt weiter unten. 313 Lesart ist also dieselbe: Die Bedeutungsparameter dienen der sozialen Rollenmarkierung im Bezug auf ganz konkrete Handlungssituationen. Damit sind diese sozialen Parameter innerhalb der Wortbedeutungen funktional kongruent. Diese Kongruenzbeziehung innerhalb der Wortbedeutungen der Modalverben möchte ich näher erklären. Sie besteht darin, dass die Bedeutungen der Modalverben müssen, sollen, dürfen und können ebenso wie die von nicht brauchen auf der sozialen Rolle und der damit verbundenen Entscheidungsfreiheit des Handelnden beruhen: Wenn ich etwas tun muss, dann bin ich auf der sozialen Stufe unterhalb der befehlenden Person verortet. Jemand anderes (oder eine abstrakte Entität, z. B. ein Gesetz) entscheidet darüber, dass ich ein bestimmtes Verhalten zeige (z. B. dass ich bei rot an der Ampel halten muss). Ich besitze in diesem Fall keine Entscheidungsgewalt, weil es meiner sozialen Rolle nicht zusteht. Als „normaler“ Verkehrsteilnehmer bin ich sozial und gesellschaftlich nicht dazu berechtigt, eine rote Ampel zu ignorieren. Fahre ich hingegen ein Feuerwehrauto bin ich unter bestimmten Umständen berechtigt, ein Rotlicht als Stoppzeichen zu vernachlässigen. In diesem Fall besitze ich eine Erlaubnis und darf gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen. Ich muss in diesem Fall weder bei rot anhalten (wie ich es sonst müsste), noch muss ich unter allen Umständen das Ampelzeichen außer Acht lassen (man räumt mir ein Recht ein, das ich wahrnehmen darf, aber nicht muss, wenn ich mich z. B. in Gefahr bringen würde). Meine soziale Rolle als Feuerwehrmann lässt mir hier einen Entscheidungsspielraum. Ähnlich verhält es sich bei können: Wenn ich etwas tun kann, dann besteht so etwas wie eine soziale Augenhöhe - man lässt mir hier meinen eigenen Entscheidungsspielraum. In der Negation von können, die ich einzig durch nicht brauchen ausdrücken kann, liegen diese sozialen Rollenverhältnisse genauso. Da die sozialen Bedeutungsparameter in den Wortbedeutungen der genannten Modalverben ebenso wie in nicht brauchen im Bezug auf soziale Rollenverteilungen und auf die dadurch bedingten Verhaltensweisen ein mehr oder weniger an Entscheidungsfreiheit bestimmen, sind sie funktional vergleichbar, also kongruent. Diese funktionale Kongruenz der sozialen Parameter, die es ermöglicht, dass sich brauchen in das Paradigma der Modalverben einreiht, lässt sich auch wie folgt beschreiben: Sowohl müssen und dürfen als auch sollen, können (in der Notwendigkeitslesart) und neuerdings brauchen sind bedeutungsähnliche Verben, denn sie werden verwendet, um die Notwendigkeit des Tuns bzw. Unterlassens einer konkreten oder abstrakten Handlung im sozialen Kontext zu spezifizieren. In gradueller Abstufung eignen sich all diese Verben dazu, eine Notwendigkeit im Bezug auf ein Tun zu explizieren. Dabei gibt es ein Abwärtsgefälle von müssen hin zu können/ nicht brauchen, das durch die sozialen Rollen, den die jeweiligen 314 Personen (Sprecher und Hörer) angehören, bestimmt wird. In dieser Hinsicht spezifizieren sich die bedeutungsähnlichen Verben der Modalität semantisch durch soziale (also funktionale) Rollenkongruenz bei gradueller Verschiedenheit aus. Diese Verschiedenheit betrifft die Ausgestaltung der sozialen Parameter, die ansonsten durch die gleiche Prägung (die soziale Bestimmung der Handlungsnotwendigkeit) kongruent sind. Will sagen: Die sozialen Parameter, die in den genannten Modalverben (und dazu zähle ich semantisch auch das Verb brauchen) wirksam sind, unterscheiden sich von denjenigen, die in anderen sozialen Verben vorkommen, wie wir sie in Kapitel 3 klassifiziert haben (z. B. in den expressiven Verben, in denen soziale Parameter eine Gruppensozialisationsfunktion übernehmen). In den Modalverben haben diese sozialen Parameter gruppenspezifisch dieselbe Funktion, sind daher funktional kongruent, sie sind lediglich graduell abgestuft, was die Verbindlichkeit der Verben auf semantischer Ebene anbelangt, wodurch die semantischen (und pragmatischen) Unterschiede zwischen den genannten Modalverben gekennzeichnet werden. 565 Hier zeigt sich im Übrigen noch ein interessantes semantisches Charakteristikum derjenigen Modalverben, die den Modus der Erlaubnis bzw. der Verpflichtung oder der Notwendigkeit besetzen: Dem Wortsinne nach bestimmen diese Modalverben, ob man etwas nötig hat (zu tun) oder nicht. So verstanden gibt es enge semantische Relationen zwischen diesen Verben und es gibt zudem eine etymologisch bestimmte semantische Kopplung an das Verb brauchen: Wenn ich etwas nötig habe, dann brauche ich es auch - ich benötige es (bzw. umgekehrt). 566 Wenn ich morgen nicht zur Arbeit gehen brauche (weil ich es als Millionär finanziell nicht nötig habe), dann ist diese Freiheit, die ich aufgrund meines mone- 565 Warum andere bedeutungsähnliche Vollverben sich weniger eignen, auf diese Weise paradigmatisiert zu werden, kann ich an dieser Stelle nicht abschließend beantworten. Es wäre aber möglich, dass z. B. die Verben benötigen oder erfordern trotz einer gewissen semantischen Nähe und trotz der Einbindung ähnlicher sozialer Parameter aufgrund ihrer Ausgestaltung als Präfixverben zu sperrig sind. Die semantische Nähe scheint hier auch nicht ähnlich dicht ausgeprägt. Zudem scheint mir mit brauchen die semantische Leerstelle für negiertes können hinreichend gefüllt zu sein, so dass eine ähnliche Bedeutungsentwicklung für andere Vollverben gegenwärtig sprachökonomisch nicht notwendig scheint und m. W. auch nicht feststellbar ist. 566 In diesem Zusammenhang lohnt auch ein etymologischer Seitenblick: Das deutsche Modalverb dürfen besaß ursprünglich dieselbe Bedeutung wie brauchen oder nötig haben / benötigen. Dasselbe lässt sich für müssen und wollen feststellen. So begegnet man in der Region des Kreises Heinsberg gegenwärtig Äußerungen wie Was musst Du? = Was brauchst Du? / Was möchtest Du? . Diese empirische Erfahrung kann ich an dieser Stelle nicht sprachhistorisch erklären, es könnte sich um eine regionalsprachliche Besonderheit handeln. Der Modus Notwendigkeit schafft hier vermutlich die semantische Nähe. 315 tären Vermögens besitze und die es mir erlaubt, etwas zu lassen, das andere Menschen tun müssen, eine soziale Determinante. So verstanden reiht sich brauchen als Modalverb sinnvoll neben müssen, dürfen, sollen und können in die Gruppe der Modalverben mit sozialen Parametern der Gebrauchsregel ein und wird entsprechend paradigmatisiert. Im Zuge dieses Prozesses, der - wie sich gezeigt hat - semantisch determiniert ist, wird brauchen nicht nur modal verwendet, es wird auch grammatisch an die Modalverben angeglichen und erfüllt in syntagmatischer Hinsicht auch grammatisch die Rolle eines Modalverbs im Satz. 7.3.3 Grammatische Paradigmatisierung als semantischer Effekt Hinter dem regelmäßigen, aber bislang noch nicht vollständig konventionalisierten Wortgebrauch von brauchen als Modalverb, der - wie sich gezeigt hat - semantisch aus einer kommunikativen Notwendigkeit der Besetzung einer semantischen Leerstelle entsteht, verbirgt sich auch grammatisch ein systematisches Prinzip, das an dieser Stelle kurz skizziert werden soll. 567 Während Vollverben den abhängigen Infinitiv mit zu bilden, entfällt dies bekanntlich bei den Modalverben. Zudem weisen Vollverben in der Konjugation des Singular Präsens Indikativ die Endungen -e, -st und -t auf, wogegen die Modalverben in dieser Form nicht gebildet werden. Dazu zwei Beispiele: Das Vollverb benötigen (das semantische Ähnlichkeiten zu brauchen aufweist), wird in der ersten Person Singular Präsens mit der Endung -e gebildet (Ich benötige dein Einverständnis). Als Vollverb erfordert dieses Verb zudem ein zu, wenn es im abhängigen Infinitiv steht (Ich benötige das nicht zu sehen). Das Modalverb müssen hingegen wird in der ersten Person Singular Präsens ohne ein Flexionsgrammem gebildet (Ich muss das machen) und es verzichtet auf zu, wenn es im abhängigen Infinitiv steht. Des Weiteren unterscheiden sich Vollverben und Modalverben darin, wie sie das Partizip Perfekt bilden. Vollverben wie benötigen bilden dieses in jedem Fall mit dem Suffix -t, wogegen die Modalverben das Partizip Perfekt wie den Infinitiv bilden: Er hat das nicht benötigt/ Er hat das nicht tun müssen. In der gegenwärtigen Verwendung von brauchen als Modalverb folgt der Sprecher den gerade skizzierten Prinzipien der grammatikalischen 567 Streng genommen verlasse ich damit mein eigentliches Untersuchungsgebiet, aber ich möchte zeigen, dass grammatisch-syntaktische Veränderungen häufig und insbesondere in diesem Fall als Effekte semantischer Veränderungen zu begreifen sind. Dass dem so ist, haben wir schon weiter oben in diesem Kapitel feststellen können. Daher dienen die folgenden Ausführungen nichts weniger als dem Beweis der an anderer Stelle entwickelten Hypothesen. 316 Verwendung, wie sie für die Modalverben korrekt sind. So stellt man gegenwärtig nicht nur fest, dass man für den abhängigen Infinitiv bei brauchen immer häufiger das zu weglässt (*Er braucht nicht kommen), auch die Konjugationsendungen werden an die Modalverben angeglichen: Alle Modalverben werden in der 1. und 3. Person, Singular wie Plural, gleich konjugiert. Setzt man nun das Vollverb brauchen in das grammatische Paradigma der Modalverben ein, stellt man für die 1. und 3. Person fest, dass manche (aber nicht alle) Sprecher die Flexionsgrammeme (-e und -t) analog zu den echten Modalverben weglassen: *Ich brauchØ das nicht machen/ *Er brauchØ nicht anrufen. Ob es sich bei diesem speziellen Phänomen um sprachliche Ökonomie oder um ein Zeichen für eine grammatische Paradigmatisierung handelt, halte ich nicht für klar zu beantworten. Dass man in gesprochenem Alltagsdeutsch auch Wendung wie Ich kommØ nicht mit oder Ich habØ keine Lust hört, deutet eher auf sprachliche Faulheit als auf das Befolgen irgendwelcher unbewusster Prinzipien hin. Für das Verb brauchen halte ich allein diesen Umstand als Erklärung einer grammatischen Paradigmatisierung daher für zu schwach. 568 Mir scheint das Kennzeichen des Wegfalls von zu im abhängigen Infinitiv ein deutlich klareres Indiz dafür, dass brauchen auch grammatisch an das Paradigma der Modalverben angeglichen wird. Auch die Bildung des Partizips Perfekt mit dem Infinitiv halte ich bei brauchen für nahezu konventionalisiert und daher für ein deutliches Zeichen einer fortschreitenden grammatischen Paradigmatisierung. So ist es gegenwärtig beinahe ungewöhnlich (wenn auch im strengen Sinne grammatisch korrekt), einen Satz wie Ich habe das nicht zu sagen gebraucht zu bilden (analog zu: Ich habe das nicht zu sagen beabsichtigt). Stattdessen ist es üblich, den Satz mit einer Konstruktion wie *Ich habe das nicht sagen brauchen zu bilden. In dieser Konstruktion wird brauchen schon ein Stück weit konventionalisiert, zumindest aber allgemein akzeptiert wie ein Modalverb verwendet. Dass es sich streng genommen um eine falsche Satzkonstruktion handelt, merkt heute beinahe niemand mehr. Es zeigt sich also, dass sowohl die Verwendung von brauchen als Vollverb als auch die Verwendung als Modalverb stringenten grammatischen Regeln folgt, wobei streng genommen eine höhere Stringenz bei der unkonventionellen modalen Verwendung festzustellen ist: Die Bildung des 568 Ich halte es daher auch nicht für korrekt, wenn H EIKO G IRNTH behauptet: „Sowohl Modalverben als auch Vollverben treten als freie Grammeme auf und bewahren ihre phonetische Substanz“ (G IRNTH 2000: 118). Seine Schlussfolgerung hingegen halte ich für zutreffend: „Beide Verwendungsweisen [die der Modalverben und die der Vollverben, S. B.] unterscheiden sich hinsichtlich dieser Parameter nicht“ (G IRNTH 2000: 118). Will sagen: Der phonetische Schwund von Flexionsendungen ist kein Kennzeichen für eine grammatische Paradigmatisierung. 317 Partizips Perfekt mit der infinitivischen Verbform ist für brauchen in der neuen Verwendungsweise als Modalverb konsistenter. Wie lassen sich diese grammatischen Befunde mit den Erkenntnissen einer semantischen Analyse erklären? Man kann die Veränderungen und Angleichungen auf der Ebene der Grammatik nicht verstehen, wenn man sich nicht bewusst macht, welche semantischen Zusammenhänge es sind, die brauchen semantisch an die Seite der Modalverben rücken lässt. Im Gegensatz zu anderen Vollverben wie benötigen oder beabsichtigen, die ebenfalls eine semantische Nähe zu einigen Modalverben und insbesondere zu brauchen aufweisen, ist das Wirken der sozialen Parameter in der Gebrauchsregel von brauchen zu denjenigen der Modalverben (Notwendigkeitsmodalität) kongruent: Nur brauchen eignet sich dazu, eine sozial bestimmte Handlungsnotwendigkeit bezogen auf eine bestimmte Tätigkeit (z. B. jemanden anrufen) auszudrücken, für benötigen oder beabsichtigen gilt dies nicht. So wie müssen, können, sollen und dürfen Erlaubnis bzw. Befehl durch ein Gegenüber ausdrücken, das aufgrund seiner sozialen Rolle (z. B. als mein Chef) dazu befähigt ist, mir etwas zu erlauben oder zu befehlen, ist dies auch bei nicht brauchen der Fall: Wenn ich etwas nicht zu tun brauche, dann befinde ich mich aufgrund meiner sozialen (oder gesellschaftlichen) Rolle in der Lage, selbst darüber zu entscheiden. Einzig das Verb brauchen ist aus diesem Grund in der Lage, die weiter oben entdeckte Leerstelle im semantischen Paradigma der Modalverben zu füllen. Dass sich diese Paradigmatisierung auch grammatisch auswirkt, ist ein Nebeneffekt dieser Entwicklung. Ich meine gezeigt zu haben, dass man sich deswegen nicht über den Aspekt der Grammatikalisierung dem Phänomen der Paradigmatisierung nähern sollte, sondern dass nur eine semantische Analyse Klarheit über diese Wirkungszusammenhänge schaffen kann. Daher ist es auch nicht weitsichtig genug, die Entwicklungsgeschichte des Verbs brauchen nur durch die Angleichung an ein grammatisches Paradigma zu erklären. Eine Betrachtung, die ihre Befunde aus der zweckrationalen Verwendung (also pragmasemantisch fundiert) bezieht, lässt den Prozess der grammatischen Paradigmatisierung in einem anderen Licht erscheinen. Die relevanten Zusammenhänge ergeben sich aus der semantischen Notwendigkeit der Paradigmatisierung, die für dieses Verb durch Parameterkongruenz sinnvoll möglich ist. Dass brauchen nicht die Verneinung von müssen in fakultativer Lesart ist, wie man es vielfach als Erklärung für die Semantik der Paradigmatisierung findet, meine ich über diesen Weg gezeigt zu haben. 318 7.4 Grammatisch-syntaktischer Wandel im Schatten des Bedeutungswandels - ein Fazit Auch wenn aus Raumgründen und aus dem fokussierten Forschungsinteresse heraus in diesem Kapitel nur grammatische oder syntaktische Einzelphänomene aus der reichhaltigen Entwicklungsgeschichte der deutschen Verben beleuchtet werden konnten, hat sich doch eines gezeigt: Bedeutungswandel bei Verben ist stets ein Phänomen, das seinen Ursprung in der Wortverwendung durch den Sprecher findet und somit nicht über den Weg der grammatisch-syntaktischen Veränderung manifest wird, also erklärungsadäquat nicht als Wirkung oder Effekt, sondern als Ursache begriffen werden muss. Das Zusammenwirken einer pragmatischen Strategie mit der Veränderung der Gebrauchsregelstruktur eines Wortes durch intentionalen Wortgebrauch führt in manchen Fällen zu grammatisch-syntaktischem Wandel. Nicht im Zuge grammatischer oder syntaktischer Prozesse verändert sich die Bedeutung eines Verbs. Das Gegenteil ist der Fall. Abweichender Wortgebrauch sorgt dafür, dass sich auf der Ebene der Gebrauchsregel die Struktur der Bedeutungsparameter verändert. Über den Weg dieser Veränderung der Parameterstruktur ergeben sich in manchen Fällen Veränderungen, die wir auf der Makroebene der Sprache beobachten können. Veränderungen der Aktantenkonstellationen können ebenso die Folge sein wie auch Diathesenwandel oder auch die grammatische Paradigmatisierung eines Verbs zu einem Paradigma, dem es bislang nicht zugeordnet werden konnte. Alle diese Befunde sind in erster Linie, so wie ich sie hier diskutiert und skizziert habe, theoretischer Natur. In der realen Sprecherwirklichkeit spielen solche Veränderungen in Wahrheit kaum eine Rolle, es sei denn, sie werden als grammatisch-syntaktische Fehler bemängelt. Dabei muss an dieser Stelle eines festgehalten werden, denn es ist so etwas wie die verkürzte Quintessenz der Analyse diachroner semantischer Wandelprozesse: „Systematische Fehler von heute sind neuen Regeln von morgen“ 569 . Diese Festlegung trifft insbesondere für diejenigen Phänomene zu, die sich syntaktisch, grammatisch oder morphologisch ausgestalten. Für die Erklärung semantischen Wandels greift diese Feststellung hingegen nicht, denn semantischer Wandel folgt keiner Regelverletzung, sondern zweckrationalen Entscheidungen. Dass sich semantische Veränderungen, also Veränderungen auf der Ebene der Gebrauchsregel (in vielen Fällen als erkennbare Parameterver- 569 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 9 319 änderungen) in direkter oder indirekter Linie auf der Ebene der sprachlichen Ausgestaltung, also grammatisch oder syntaktisch darstellen, ist eine Erkenntnis, die hoffentlich an dieser Stelle evident geworden ist. Will sagen: Es gibt eine enge Korrelation zwischen Wandel auf der Ebene der Semantik, pragmatischen Strategien (die zu semantischem Wandel führen) und den Effekten dieser beiden auf der Makroebene der Sprache, die sich grammatisch-syntaktisch ablesen lassen und bisweilen als Regelverletzungen ins Gespräch und ins Bewusstsein kommen. Auf eines möchte ich besonders hinweisen: Falsch wäre es, von den grammatischsyntaktischen Veränderungen ausgehend semantischen Wandel erklären oder gar begründen zu wollen. Richtig ist es, den umgekehrten Weg zu beschreiten. Nicht grammatischer Wandel bedingt semantischen Wandel, das Gegenteil ist der Fall. Daher kann man hier festhalten, dass sich grammatisch-syntaktischer Wandel im Schatten des Bedeutungswandels manifestiert und dass es zielführend sein wird, hier mehr Licht in die noch verborgenen Winkel zu bringen. Einen ersten Schritt bin ich mit dieser exemplarischen Analyse ausgewählter Einzelphänomene hier gegangen, weitere Forschung halte ich aus dieser Blickrichtung für lohnenswert - sowohl für den Bereich der Semantik als auch für den der Grammatikforschung. 321 8. Pfade des Bedeutungswandels bei Verben Welche Wege sind es, die ein Verb im Zuge seiner Bedeutungsentwicklung beschreiten kann? Welche Rolle spielen dabei die in dieser Arbeit entwickelten Bedeutungsparameter der Gebrauchsregeln? Wie lassen sich die vielfältigen Bedeutungsentwicklungen im deutschen Verbsystem, die wir bis zu diesem Zeitpunkt schon kennen gelernt haben, kategorisieren und abbilden? Und: Wie lässt sich die bislang in der linguistischen Forschung völlig unbeantwortete Frage, welche spezifischen Absichten und Intentionen der Sprecher dazu führen, dass Verben immer wieder einem semantischen Wandel ausgesetzt sind, mit einem gebrauchstheoretischen Fokus beantworten? In diesem letzten Kapitel dieser Arbeit haben die zuvor entwickelten Thesen und Erkenntnisse in der Beantwortung solcher Fragen ihren Fluchtpunkt, so dass die folgenden Ausführungen eine Art Konklusion der bisherigen Befunde darstellen. Um diese Fragen aber auch adäquat beantworten zu können, müssen wir uns noch einmal vergegenwärtigen, welcher allgemeine Prozess dem Sprach- und Bedeutungswandel zugrunde liegt. Hier tritt die von R UDI K ELLER entwickelte invisible-hand-Theorie auf den Plan, die sprachlichen Wandel als das Wirken der unsichtbaren Hand erklärt. 570 Bedeutungswandel manifestiert sich dieser Theorie gemäß als eine makrostrukturelle Veränderung, die durch das zweckrationale Handeln von Einzelindividuen auf der Mikroebene des Sprechers bestimmt wird und die durch einen kumulativen Auswahlprozess, den sogenannten invisible-hand-Prozess, entsteht. Entgegen vielfacher Vermutung hat Bedeutungswandel zwar seine Wurzel auf der Ebene des Sprechers, als Effekt des Wirkens der unsichtbaren Hand ist Bedeutungswandel aber in den seltensten Fällen ein intentional bestimmtes menschliches Artefakt. Als ein Naturphänomen hingegen sollte Sprach- und Bedeutungswandel auch nicht verstanden werden, da der Sprecher auf der Mikroebene zweckrationalen Entscheidungen für seinen abweichenden Wortgebrauch folgt. Sprache und all ihre Veränderungen müssen somit als ein Phänomen der dritten Art begriffen werden, als eine spontane Ordnung, die einer Quasi- Koordination folgt und sich darüber makrostrukturell manifestiert. 570 Vgl. dazu Kapitel 2.2.1 322 8.1 Bedeutungswandel aus handlungstheoretischer Sicht Wenn wir uns auf diese Sichtweise einigen können, dann gibt es im Hinblick auf den Wandel von Wortbedeutungen eine klare Festlegung: Sprecher ändern die Bedeutung eines Wortes aus zweckrationalen Erwägungen, indem sie ein Wort in abweichender Weise verwenden. Zum Bedeutungswandel tragen sie insofern bei, als dass eine frequente Verwendung eines neu erzeugten Sinns zur Veränderung der Gebrauchsregel führen kann. Veränderungen der Gebrauchsregel wiederum - das ist eine Kernthese der vorliegenden Arbeit - lassen sich anhand von Parameterstrukturveränderungen ablesen, aufzeichnen und letztlich erklären. Auf diesem Weg gelangen wir für unseren Untersuchungsgegenstand zu einigen Pfaden des Bedeutungswandels, die eben diese Veränderungen auf der Strukturebene abbilden können. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie alle lassen sich wesentlich besser skizzieren und erlangen Erklärungsadäquatheit, wenn man nicht allein den makroskopischen Weg von der Ausgangszur Zielbedeutung abbildet, sondern den Weg der reinen Deskription verlässt und die Veränderungen der Parameterstruktur zwischen Ausgangs- und Zielbedeutung als Veränderungen auf der Ebene zwischen der Mikroebene des Sprechers und der Makroebene der Sprache mit einbezieht. 8.1.1 2-Ebenen-Modell der Bedeutung und Semantische Kopplung Wie genau sollte eine solche Erklärung aussehen, die mit einer gebrauchstheoretischen Fixierung die hier entwickelten Bedeutungsparameter in das Zentrum stellt und Pfade des Bedeutungswandels hervorbringt? Um dies zu klären, muss man zunächst eine andere Frage beantworten: Gibt es eine semantische Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen, also zwischen den Zielen des Sprechers und den Veränderungen des Sprachsystems? Und wo greifen die Verschiebungen der Bedeutungsparameterstruktur als Folgen zweckrationaler Entscheidungen in diesen Prozess ein? Ich möchte an dieser Stelle behaupten: Ja, es gibt eine solche semantische Verbindung und sie lässt sich (allein) mit Hilfe von Bedeutungsparametern herstellen. Die Veränderungen der Parameterstruktur innerhalb der Gebrauchsregeln von Wörtern (hier: von Verben) stellen nämlich m. W. eine bislang in der Forschung fehlende Kopplung zwischen der Ebene des Sprechers und der Ebene der Sprache, auf der sich die Veränderungen von Wortbedeutungen als Bedeutungswandel abzeichnet, dar. So verstanden gibt es ein Modell, das ich im Folgenden entwickeln möchte und das ich künftig 2-Ebenen-Modell der Bedeutung nennen werde. Dieses Modell erinnert an den von R UDI K ELLER entwickelten invisible-hand-Prozess, erweitert diesen 323 aber um den Aspekt der strukturellen Verflechtung aus semantischer Sicht zwischen der Ebene des Sprechers und der Ebene der Sprache im Allgemeinen bzw. der Bedeutung im Speziellen. Bei der invisible-hand- Theorie steht die Frage im Fokus, wie sich Sprache im Allgemeinen wandeln kann und es wird darin gezeigt, dass das Wirken der individuellen Handlungen der Sprecher auf der Mikroebene zu Veränderungen der Makroebene Sprache führen können, wenn zwischen beiden Ebenen ein verbindender Kumulationsprozess abläuft, der die Einzelhandlungen in allgemeine Effekte überführt. Sprachwandel ist dann ein Effekt des Wirkens dieses Prozesses und durch den Sprecher weder intendiert noch reflektiert. Wenn wir dieses Modell auf die Bedeutung von Wörtern anlegen, dann gibt es natürlich auch dort diese beiden Ebenen und auch hier sind Veränderungen auf der Makroebene (also der Bedeutungswandel im Speziellen) das Resultat eines kumulativen invisible-hand-Prozesses. Ich halte es nun aber für notwendig, diese beiden Ebenen - die des Sprechers mit seinem zweckrationalen Sprachgebrauch auf der Mikroebene und die Ebene der veränderten Wortbedeutung auf der Makroebene - auch semantisch zu verknüpfen. Die unterste Ebene ist dabei die Mikroebene des Sprechers, der nach zweckrationalen Erwägungen unbewusst und unwissentlich neue Bedeutungsparameter in die Wortbedeutung einbringt. Will sagen: Der Sprecher verfolgt ein kommunikatives Ziel und verändert durch abweichenden Wortgebrauch die Struktur der Bedeutungsparameter innerhalb der Wortbedeutung. Er realisiert dabei zunächst sprachlich sein kommunikatives Ziel. Mit der Veränderung der Bedeutungsparameterstruktur des verwendeten Wortes hat er - salopp gesprochen - nichts am Hut. Diese Veränderung geschieht unbewusst und sie bewirkt den Bedeutungswandel. Wenn nämlich die Bedeutung eines Wortes die Regel seines Gebrauchs ist, dann ist eine Veränderung der Regel des Gebrauchs in vielen Fällen ein Bedeutungswandel. Auf diesem Weg der Parameterverschiebung nun geschieht die semantische Kopplung zwischen der Mikroebene der Wortbedeutung und der Makroebene der Sprache als makrostrukturelles System. 8.1.1.1 Mittel-Zweck-Relation beim verbalen Bedeutungswandel Ich möchte dafür plädieren, diese semantische Kopplung noch weiter zu präzisieren und dazu die bisher angelegte Mikroebene des Sprechers bei K ELLER gleichfalls in zwei Ebenen zu unterteilen. Es gibt dann nicht mehr nur die außersprachliche Mikroebene, auf der ein Sprecher seine kommunikativen Ziele durch konkretes sprachliches Handeln realisiert und die sprachliche Makroebene, auf der sich der Bedeutungswandel anhand des Lexikons nachweisen lässt. Vielmehr kann man die Ebene des Sprechers 324 noch einmal in ein Oberhalb bzw. Außerhalb und ein Unterhalb bzw. Innerhalb der Wortebene aufteilen. So verstanden gibt es aus Sprechersicht zum einen die Absichten des Sprechers, die sich als außersprachlich und oberhalb der Wortebene darstellen lassen und es gibt die konkrete sprachliche Realisierung unterhalb der Wortebene. Ein Beispiel: Wenn ich das Verb saufen in der Referenz auf einen Menschen verwende, dann verfolge ich durch den sprachlichen Ausdruck, also durch die Wahl des sprachlichen Mittels, ein ganz bestimmtes kommunikatives Ziel. Meine Absicht ist es möglicherweise, durch den expressiven Wortgebrauch meine Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu markieren. Wenn ich in einem bestimmten sozialen Gefüge (z. B. einer Gruppe von Motorradrockern) sage: Gestern hat Horst wieder ordentlich gesoffen, dann gehört der expressive Ausdruck vielleicht zu den sozialen Regeln der Gruppe dazu und er dient mir in diesem Fall der sozialen Interaktion innerhalb des sozialen Gefüges, also zur Image- und Beziehungspflege. In diesem Fall ist es meine primäre Absicht, mich selbst in einer bestimmten Weise darzustellen: Beziehungspflege ist immer auch eine Form der Selbstreflexion und der Darstellung der eigenen Persönlichkeit in der Abgrenzung zu anderen Menschen. Insofern dient mir die Beziehungspflege auch zur eigenen Imagepflege. 571 Soziale Interaktion ist also ein Prinzip, das gesellschaftlich determiniert ist und das sich durch soziale Parameter in den Gebrauchsregeln der entsprechenden Wörter nachweisen lässt. Dabei ist oftmals nicht ganz eindeutig zu sagen, ob die soziale Interaktion der Hauptzweck der Äußerung von Verben wie saufen, fressen oder kotzen ist, also ob die Beziehung zu anderen Mitgliedern einer sozialen Gruppe im Vordergrund steht. In gewisser Weise ließe sich dieser Nutzen für den Sprecher auch unter den Aspekt der Persuasion subsumieren: Man beabsichtigt mit der Verwendung eines expressiven Verbs, sein Gegenüber dahingehend zu beeinflussen, dass derjenige das implizierte Beziehungsgefüge erkennt und anerkennt. Wenn man in dieser Hinsicht das berühmte G OETHE -Zitat „Die Wahl der Gegenstände zeigt immer, [...] wes Geistes Kind er ist“ anlegt und Gegenstände mit sprachlichen Mitteln gleichsetzt, dann zeigt die Wahl der sprachlichen Mittel, welcher sozialen Gruppe ein Sprecher zugehört oder zu welcher Gruppe er gehören möchte. Insofern spielt der Zweck der sozialen Interaktion, also der Image- und Beziehungspflege, beim 571 Im wörtlichen Sinne ist ein Image ein Bild von etwas. Wenn ich also mein Image pflege, dann entwickle ich ein Bild von mir als Person, von dem ich möchte, dass es andere erkennen. Wenn ich z. B. zur Gruppe der Proletarier gehören möchte, dann entwerfe ich durch mein Verhalten - und insbesondere auch durch die Wahl meiner Worte, also durch den sprachlichen Ausdruck - ein Bild von meiner Person, das dieser sozialen Gruppe entspricht. So verstanden sind Beziehungs- und Imagepflege aneinander gebunden. 325 Bedeutungswandel eine nicht unerhebliche Rolle. 572 Dieser Aspekt kennzeichnet allerdings keine Einbahnstraße: Ein bestimmtes Wort kann zum Zweck der Pflege von Beziehungen innerhalb einer Gruppe verwendet werden und ebenso zur Distinktion, also zur Abgrenzung zu anderen Gruppen herangezogen werden; beides ist wechselseitige Persuasion. Vielleicht meine ich den geäußerten Satz mit Referenz auf Horst auch rein bewertend, so dass soziale Gesichtspunkte dabei gar keine Rolle spielen. In dem Fall ist es vermutlich meine Hauptabsicht, einen anderen Menschen von meiner Haltung Horst gegenüber zu überzeugen und ihn dadurch in meinem Sinne zu beeinflussen. Ich möchte vielleicht, dass der Hörer meine Haltung Horst gegenüber adaptiert. Dann verfolge ich primär das Ziel der Persuasion, also der Beeinflussung. Oder aber das Verb saufen gehört zu meinem normalen Sprachgebrauch (und zu dem meines Gegenübers). Dann ist mein Ziel möglicherweise weder soziale Interaktion noch Persuasion, sondern lediglich Repräsentation, also die Darstellung eines unstrittigen Sachverhalts. 573 572 Bei K ELLER / K IRSCHBAUM findet der Zweck der sozialen Interaktion nur am Rande Erwähnung. Dies ist weniger ein Mangel als dem analytischen Vorgehen geschuldet: Da sich für Adjektive in erster Linie eine bewertende Funktion konstatieren lässt, ist die Untersuchung sozialer Bedeutungsparameter und der darüber gekoppelte Nutzen der Beziehungspflege, den ich hier soziale Interaktion nenne, nicht von Bedeutung gewesen. In der Erweiterung im Zuge dieser Arbeit allerdings und insbesondere in einer Theorie, die Bedeutungsparameter in den Fokus rückt, sind diese sozialen Determinanten nicht zu vernachlässigen. 573 Dass Repräsentation, Persuasion und soziale Interaktion die Grundabsichten von Sprechern widerspiegeln, werde ich weiter unten noch genauer darlegen. Diese Dreiteilung müsste man streng genommen noch um den Aspekt der Ästhetik ergänzen, damit man die Nutzenseite der individuellen sprachlichen Wahlhandlungen komplett abbilden könnte. R UDI K ELLER hat eine solche Klassifikation der Faktoren vorgeschlagen und bemerkt, dass wir auf der Nutzenseite beim Kommunizieren „informativen Nutzen, sozialen Nutzen und ästhetischen Nutzen anstreben“ (K EL- LER 1995: 216) können. Während der informative Nutzen aus einem persuasiven und einem repräsentativen Aspekt besteht, beinhaltet der soziale Nutzen den Aspekt der Image- und Beziehungspflege, also einen „Aspekt der Selbstdarstellung und [einen] Beziehungsaspekt“ (K ELLER 1995: 217). Als Sprecherabsicht bezeichne ich eben diesen sozialen Nutzen im Folgenden als soziale Interaktion und werde zeigen, dass sie für den verbalen Bedeutungswandel von besonderer Wichtigkeit ist, da sich viele Wandelpfade über die sprachliche Realisierung eben dieser Sprecherabsicht ausbilden. Den Aspekt der Ästhetik lasse ich wie K ELLER / K IRSCHBAUM im Weiteren außer Acht, weil der ästhetische Ausdruck als Sprecherabsicht am ehesten durchschaubar ist und wohl keiner tieferen Erläuterung bedarf. Es ist aber anzunehmen, dass es so etwas wie ästhetische Parameter gibt, die in ästhetisch verwendeten Begriffen wirksam sind. Allerdings verändert der ästhetische Ausdruck m. W. selten die Semantik eines Wortes, so dass ich nicht von Bedeutungsparametern im strengeren Sinn sprechen würde. 326 Was auch immer ich mit der Verwendung des Verbs saufen beabsichtige, die kommunikative Absicht (der Zweck der Äußerung) bewegt sich oberhalb bzw. außerhalb der Wortebene. Die konkrete sprachliche Realisierung einer dieser Absichten hingegen bewegt sich auf einer gedachten Ebene unterhalb der Wortebene. Auf dieser Ebene kann der Sprecher die sprachlichen Mittel wählen, mit denen er seinen kommunikativen Zweck erfüllen möchte. Wenn ich das Verb saufen mit dem Ziel der sozialen Interaktion verwende, dann wähle ich ein sprachliches Mittel, das diesen Zweck erfüllen kann. Ich wähle in diesem Fall den expressiven Ausdruck, denn expressive Ausdrücke dienen innerhalb der hier angenommen Gruppe der Motorradrocker vermutlich zur sozialen Determination und zur Image- oder Beziehungspflege. Besteht meine Absicht hingegen darin, mein Gegenüber von meiner Haltung zu überzeugen, wähle ich auf der Ebene der sprachlichen Realisierung einen evaluativen Ausdruck. Und verfolge ich den Zweck, mich einfach nur darstellend auszudrücken, also nur die (bisweilen subjektive) Wahrheit kundzutun, dann wähle ich einen faktisch-deskriptiven Ausdruck. 574 Wir müssen also für den Bedeutungswandel und für dessen Entstehung streng unterscheiden zwischen a) der Ebene des kommunikativen Zwecks und b) der Ebene der sprachlichen Mittel. 575 Die Kopplung zwischen diesen beiden Ebenen geschieht wiederum durch die semantischen Parameter, die über die Wahl der sprachlichen Mittel, also über den Wortgebrauch als sprachliche Realisierung der Sprecherabsicht, in die Wortbedeutung gelangen bzw. verstärkt oder abgeschwächt werden. 576 Im Fall der expressiven Wortverwendung aus unserem Beispiel können soziale Parameter die expressive Ausdrucksfunktion innerhalb der Gebrauchsregel bestimmen. Die evaluative Ausdrucksfunktion 574 Das Verb saufen ist hier sicher kein gutes Beispiel, da es kaum als faktisch verwendet werden kann. Die neutrale Verbform trinken wäre hier angemessener, da sie in erster Linie wahrheitsfunktionale Parameter involviert. 575 Vgl. dazu auch K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 135ff. Dort findet sich der Ursprungsgedanke einer Mittel-Zweck-Relation als Erklärungsmodell für Bedeutungswandel: „Letztlich gibt es für Sprachwandel immer genau eine Ursache: Die Sprecher [...] modifizieren die Wahl ihrer sprachlichen Mittel“ (K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 136). Als mögliche kommunikative Ziele (Zweck) finden wir bei K ELLER und K IRSCH- BAUM Repräsentation und Persuasion, soziale Interaktion hingegen (also Beziehungspflege im weitesten Sinne) kommt bei ihnen als sprachlicher Zweck nicht vor. Ich werde daher weiter unten die bei K ELLER / K IRSCHBAUM zu findenden Pfade an manchen Stellen modifizieren müssen, damit sie auch die Semantik der Verben abbilden können. 576 Vgl. zu diesem Gedanken auch Kapitel 3.3 327 wird hingegen durch das Wirken bewertender Parameter hervorgebracht. Und eine faktische Repräsentation wird bei Verben durch die Dominanz wahrheitsfunktionaler Parameter der äußeren Welt innerhalb der Gebrauchsregel bewirkt. 577 Bedeutungswandel ist somit das Ergebnis einer durch Bedeutungsparameter gekoppelten Relation zwischen der Wahl sprachlicher Mittel und dem beabsichtigten Zweck des Sprechers (Mittel-Zweck- Relation). Das gerade entworfene Modell der semantischen Kopplung kann mit Hilfe eines Kosten-Nutzen-Baums dargestellt werden, anhand dessen sich semantischer Wandel bei Verben auf einer hohen Abstraktionsstufe klassifizieren lässt und der die erwähnte Mittel-Zweck-Relation einschließt. Dabei gilt es zunächst klarzustellen, was das Ziel menschlicher Kommunikation in erster Linie ist: ein zweckrationales Unterfangen. So „lässt sich das Rationalitätsprinzip [...] in Form einer Maxime formulieren: [...] Rede so, dass du deine kommunikativen Ziele erreichst - bei möglichst geringen Kosten“ 578 . Die Kosten des Kommunizierens können sich sowohl motorisch (in Form der lautlichen Artikulation) als auch kognitiv für den Sprecher auswirken. 579 So ist gerade bei deutschen Verben der artikulatorische Aufwand höher als bei anderen Wortarten, weil wir es hier mit einer flektierbaren Wortart zu tun haben. Dieser Aufwand, also die motorischen kommunikativen Kosten, dürften für den Prozess des Bedeutungswandels allerdings keine Rolle spielen. 580 Wir hatten ja in Kapitel 4 bereits erkannt, dass sprachliche Ökonomie kein Prinzip semantischen Wandels ist und das dürfte wohl auch für kognitive Ökonomie zutreffend sein. Im Gegenteil: Indem sich ein Sprecher z. B. metaphorisch ausdrückt und von klauen statt von stehlen spricht, wird der Prozess des Kommunizierens nicht gerade vereinfacht. Ein pragmatisches Schlussverfahren muss eingeleitet werden, damit vom Gesagten auf das Gemeinte geschlossen werden kann. Wie wir gesehen haben, ist die Gefahr von Missverständnissen nicht gerade gering, so dass 577 Vgl. dazu auch Kapitel 3.2 578 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 137 579 Vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 139ff. 580 Dieser Aspekt gilt zwar für Verben, ist an dieser Stelle mit einer Einschränkung zu versehen: Aus der Wendung von der Farbe her gesehen, gefällt mir das ganz gut wurde in der gegenwärtigen Verwendung die verkürzte Formel von der Farbe gefällt mir das ganz gut. Das heißt, das neue von trägt die Bedeutung der alten Gesamtfloskel. Es ist anzunehmen, dass motorische Ökonomie zu dieser Verkürzung und damit zum Bedeutungswandel des Wortes von in dieser Lesart beigetragen hat. Diesen Hinweis verdanke ich R UDI K ELLER . 328 die Prozesse des Bedeutungswandels mit recht hohen motorischen und ganz besonders kognitiven Kosten sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer verbunden sind. Der kommunikative Nutzen, den ein Sprecher aus dem abweichenden Wortgebrauch zu ziehen hofft, muss also gegenüber den verursachten Kosten überwiegen. Auch der Hörer wägt im Zuge der Kommunikation Kosten und Nutzen ab. Die Interpretation einer Metapher etwa ist - wie gesehen - mit einem erhöhten kognitiven Aufwand für den Hörer verbunden. Wie kommt es dann, dass ein Hörer dennoch diesen Aufwand betreibt, wenn er in der Situation gar keinen Nutzen davon hat? Ist der hohe kognitive Aufwand nicht eher ungewöhnlich, da sich „[d]ie möglichen Nutzenerwartungen des Hörers [...] nicht einfach spiegelbildlich zu denen des Sprechers [verhalten]“ 581 ? Nun, die Antwort fällt nicht leicht. Es ist aber anzunehmen, dass der Hörer dem Sprecher das Bemühen zuspricht, dass der geäußerte Satz oder das geäußerte Wort von Relevanz für die Kommunikationssituation ist. Zwar stimmt es, dass ein Hörer sich wohl nur sehr selten aus eigenem Antrieb (und erst recht nicht unbemerkt) beeinflussen lassen möchte, aber stimmt es denn auch, dass sich ein Hörer in eine Kommunikationssituation begibt, einzig aus dem Bestreben heraus, neue Informationen zu sammeln? Ich nehme an, dass hinter einer solchen Auffassung doch ein recht naives Sprachverständnis steckt. Vielmehr ist Kommunikation - wie wir in Kapitel 3.1.1 von R UDI K ELLER festgestellt haben - immer wechselseitige Manipulation und dient nicht allein dem Wissenstransfer zwischen Sprecher und Hörer. Gerade deswegen wählen Sprecher ja bisweilen ihre sprachlichen Mittel so, dass sie sich nicht mit dem Gemeinten decken. Sowohl Sprecher als auch Hörer sind sich der eigentlichen Funktion von Kommunikation vermutlich sehr wohl bewusst und nutzen sie beide für die Verwirklichung ihrer eigenen Absichten. Bei K ELLER / K IRSCHBAUM können wir dazu lesen: „Ein Sprecher, der [...] Ziele hat, muss sie huckepack erreichen, in dem er dem Hörer das liefert, was er erwartet, und zwar so, dass es imponierend und überzeugend wirkt“ 582 . Man könnte ergänzen: Auch der Hörer kennt dieses Prinzip und investiert auditive und kognitive Kosten in das Gespräch, damit er seinerseits auch seinen eigenen Redebeitrag nach diesem Prinzip ausrichten kann. Sowohl Hörer als auch Sprecher gehen also für die Kommunikation gewisse Kosten und bisweilen auch ein gewisses Risiko ein (z. B. nicht verstanden zu werden). Für den Bedeutungswandel spielt aber in erster Linie der kommunikative Nutzen eine Rolle. Man könnte auch sagen: Der Nutzen, den eine Wortverwendung für den Sprecher mit sich bringt, ist der Zweck des 581 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 141 582 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 142 329 Äußerungsaktes. Wir hätten dann auf einem Kosten-Nutzen-Baum den Nutzen als Zweck identifiziert und können die sprachlichen Mittel dem Zweck unterordnen, wodurch sich eine Mittel-Zweck-Relation ergibt, die m. E. entscheidend für den Wandel von Wortbedeutungen ist. Auf der Ebene des zweckrationalen sprachlichen Handelns können wir - wie bereits anhand des Beispiels saufen gezeigt - drei grundlegende Absichten des Sprechers identifizieren: Repräsentation, Persuasion und soziale Interaktion. Diese Überlegung würde uns zu einem Ergebnis führen, das sich anhand eines Kosten-Nutzen-Baumes folgendermaßen darstellen ließe: 330 Abb. 9: 2-Ebenen-Modell der Bedeutung (nach K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 139) 331 Dieser Kosten-Nutzen-Baum aus Sprechersicht lässt sich wie folgt interpretieren: Ein Sprecher verfolgt mit der Äußerung eines Wortes oder eines Satzes ein kommunikatives Ziel, das sich auf der außersprachlichen Ebene verorten lässt. Der Sprecher kann einen Sachverhalt darstellen wollen (Repräsentation), sein Gegenüber durch die Wahl seiner sprachlichen Mittel beeinflussen (Persuasion) oder eine sozial determinierende Aussage über sich selbst treffen wollen (soziale Interaktion). Wir bewegen uns mit den gerade skizzierten kommunikativen Absichten oberhalb einer gedachten Linie zwischen der außersprachlichen und der innersprachlichen Ebene, die beide gemeinsam die Bedeutung bestimmen. In R UDI K ELLER s Modell der invisible-hand-Theorie befinden wir uns allein auf der Mikroebene des Sprechers, der durch die konkrete sprachliche Realisierung (also durch den Wortgebrauch) seine Absichten verwirklicht, was über einen invisible-hand-Prozess zu Veränderungen der Makrostruktur Sprache (hier: zu Bedeutungswandel) führen kann. Unterhalb dieser imaginären Linie findet die sprachliche Realisierung der Absichten des Sprechers statt. Da diese Realisierung auf der Wortebene in denjenigen Fällen, in denen es zum Bedeutungswandel kommt, durch die Veränderung der Parameterstruktur geschieht, finden unterhalb dieser Linie Veränderungen der Wortbedeutung statt, die unmittelbar an die kommunikativen Absichten der Sprecher auf der außersprachlichen Ebene gekoppelt sind. Zwischen der Ebene der Veränderungen der Wortbedeutung durch die sprachliche Realisierung (z. B. mittels Metapher oder Metonymie) und der Ebene der Sprecherabsichten besteht also eine direkte Verbindung. Wenn sich die Bedeutung eines Verbs dadurch verändert, dass die Dominanz von Bedeutungsparametern innerhalb der Gebrauchsregel verschoben wird, dann sind die Bedeutungsparameterveränderungen eben diese semantische Kopplung zwischen dem kommunikativen Zweck und dem modifizierten sprachlichen Mittel. Beobachtbar sind letztlich allerdings allein die makroskopischen Veränderungen, die sich anhand des Lexikons auf der Makroebene Sprache nachweisen lassen. Bei K ELLER / K IRSCHBAUM können wir lesen: Auf der Mikroebene finden wir die kommunikativen Ziele der Sprecher sowie die sprachlichen Verfahren, die sie wählen, um ihre Ziele zu realisieren. Auf der Makroebene erscheinen dann die unbeabsichtigten Folgen dieser kommunikativen Unternehmungen, die verschiedenen Erscheinungen des semantischen Wandels. 583 583 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 154 332 Im Vergleich zu früheren Sprachstufen können wir heute sagen, dass ein Verb eine neue oder gewandelte Bedeutung trägt. Wir können auch sagen, in wie weit sich diese neue Bedeutung von der ursprünglichen unterscheidet. Und wir können Hypothesen darüber entwickeln, welche Ziele es waren, die den Wandel auf der Ebene des Sprechers ausgelöst haben. Die strukturellen Veränderungen auf der Ebene der Gebrauchsregel hingegen sind uns bislang verborgen geblieben. Obwohl man schon seit W ITTGENSTEIN einen gebrauchstheoretischen Ansatz zur Bedeutungsbeschreibung verfolgt, ist es m. W. noch nicht gelungen, die innere Struktur einer Gebrauchsregel und deren Veränderungen zu erkennen und dazu zu nutzen, Bedeutungswandel anhand von Wandelpfaden zu kategorisieren. Dass es eine semantische Kopplung zwischen der Sprecherebene und der Ebene der Wortbedeutung in der Sprache als Ganzes gibt, die durch Bedeutungsparameter hergestellt wird, ist vermutlich ein gänzlich neuer Gedanke. Dabei ist die Frage danach, wie man Bedeutungsveränderungen als Strukturveränderungen erklären kann, alles andere als neu. Bei S TEPHEN U LLMANN lesen wir bereits in den 1970er Jahren: „Alle [...] wichtigen Untersuchungen werden [...] von dem zentralen Problem in den Schatten gestellt, das sich der Semantik heute stellt: inwieweit und mit welchen Methoden läßt sich der Wortschatz strukturalistisch behandeln? “ 584 . An anderer Stelle erkennt U LLMANN zudem die dringende Notwendigkeit, semantische Veränderungen zu klassifizieren: Indessen bleibt die Klassifikation ein dringendes Desiderat. Dafür sprechen schon rein theoretische Erwägungen: Das semantische Material ist so reich und vielfältig, daß es kaum ohne irgendwelche groben Einteilungsprinzipien methodisch zu bewältigen ist [...]. Überdies würde eine wirklich gute Klassifikation naturgemäß von ihrem Einteilungsprinzip her zum Verständnis semantischer Prozesse beitragen. 585 Wenn wir die beiden U LLMANN schen Überlegungen zusammenführen, dann stellt sich der Mangel an Untersuchungen, die a) dazu dienen, das semantische Material zu klassifizieren und b) dies möglichst auf der Strukturebene zu tun, als ein linguistisches Problem dar, das m. W. bis heute kaum gelöst ist. Dass sich das Modell der Bedeutungsparameter und ihre wesentliche Funktion der Kopplung zwischen Mikro- und Makroebene dazu eignet, Bedeutungsveränderungen als Strukturveränderungen aus einer gebrauchstheoretischen Sicht zu erklären, hat sich bislang in dieser Arbeit angedeutet und soll nun auch anhand konkreter Wandelpfade gezeigt werden. Die Analyse von Bedeutungsparametern und die daraus resultierende Klassifizierung anhand von Wandelpfaden ist eine 584 U LLMANN 1967/ 72: 283 585 U LLMANN 1967/ 72: 186 333 mögliche (und m. E. erklärungsadäquate) strukturalistische Methode zur Erforschung semantischen Wandels; Bedeutungsparameter sind für diese Methode zentral. Wenn wir uns Abbildung 9 noch einmal vergegenwärtigen, dann haben wir bislang noch nicht geklärt, wie die sprachliche Realisierung der Sprecherintention auf der Wortebene im Einzelnen geschehen kann. Dieser Frage wollen wir uns weiter unten in Abschnitt 8.1.1.2 zuwenden. Zuvor müssen wir die Absichten der Sprecher noch ein wenig präzisieren. Wir hatten bereits festgestellt, dass Bedeutungsparameter in diesem Zusammenhang wichtig sind, weil sie sich über den konkreten Wortgebrauch auf der Ebene des Wortes als Strukturveränderungen von Wortbedeutungen an den kommunikativen Zweck der Äußerung auf der Ebene der Sprecherabsichten koppeln lassen. R UDI K ELLER und I LJA K IRSCHBAUM , die in ihrer Analyse zur Adjektivsemantik von den beiden Absichten der Repräsentation und der Persuasion ausgegangen sind, haben festgestellt, dass sich „[b]eides [...] auf Sachverhalte beziehen [kann] oder auf Empfindungen, Haltungen bzw. Einstellungen“ 586 und sie verwenden für diese beiden Möglichkeiten die Begriffe faktisch und emotiv. Wenn man diese beiden Möglichkeiten einer Sprecherabsicht anlegt, dann kann das Ziel von Kommunikation entweder die faktische oder die emotive Repräsentation bzw. Persuasion sein. Ich nehme an, dass diese Einschätzung für die Adjektive zutreffend ist: Mit der Verwendung eines Adjektivs kann ich entweder mein Gegenüber dazu bringen das, was ich für faktisch wahr halte, zu glauben (faktische Repräsentation) bzw. ihn von meinem Glauben zu überzeugen (faktische Persuasion). Oder aber ich beabsichtige, ihm meine Gefühle mitzuteilen (emotive Repräsentation) bzw. ihn gefühlsmäßig zu überzeugen (emotive Persuasion). Ich halte es zudem aber auch in der von mir vorgeschlagenen Erweiterung um die Absicht der sozialen Interaktion für korrekt, dass diese beiden Möglichkeiten der faktischen oder emotiven Ausgestaltung des Ziels zutreffend sind. Wenn ich z. B. sage, dass ich etwas zum kotzen finde, dann ist mein Ziel vermutlich neben dem expressiven Ausdruck die emotive soziale Interaktion (verstanden als Ausdruck meines Gefühls mit einem sprachlichen Mittel, das sich zur sozialen Identifikation eignet und damit Beziehungspflege bewirkt). Wir bewegen uns mit der Unterteilung in faktische oder emotive Absichten noch oberhalb der Wortebene. Bevor wir unter die gedachte Linie zwischen den beiden Bedeutungsebenen eintauchen können, möchte ich noch eine weitere Präzisierung einführen, die gerade für das Verbum notwendig ist, da sich sonst der wohl wichtigste Pfad nicht adäquat nach- 586 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 139f. 334 zeichnen lässt. Für die Verbsemantik haben wir an vielen Stellen dieser Arbeit bereits feststellen können, dass Verben eine abstrakte Bedeutung annehmen und dabei ihre konkrete Realisierung verlieren. Die Verben lesen oder begreifen stehen hier exemplarisch. In diesen Fällen ist das Ziel des Sprechers wohl am ehesten die faktische Repräsentation, also die Darstellung eines Sachverhalts. Man könnte nun aber nicht sagen, dass die Absicht des Sprechers, der diese Verben in ihrer Ursprungsbedeutung verwendet hat, eine andere gewesen wäre. Sowohl in der konkreten als auch in der abstrakten Lesart dürfte die faktische Repräsentation der Intention des Sprechers entsprechen. Sowohl Persuasion als auch soziale Interaktion als Zweck der metaphorischen Neunutzung der beiden Verben kann man ausschließen. Heißt das, dass hier kein Pfad der Bedeutungsentwicklung nachzuzeichnen wäre? Selbstverständlich handelt es sich bei beiden Verben um Beispiele, die in ganz besonderem Maße Bedeutungswandel aufweisen. Um also diesen Wandel erklären zu können, der sich in Form von kognitiv-mentaler Parameterdominanz manifestiert, müssen wir den Terminus faktisch noch in faktisch-konkret und faktischabstrakt unterteilen. Wir gelangen darüber zu einem Pfad, bei dem der Sprecher durch metaphorischen Wortgebrauch mit dem Ziel der faktischen Repräsentation Verben vom Konkreten zum Abstrakten wandelt. Genauer: Der Sprecher beabsichtigt mit der abweichenden Verwendung die abstrakte faktische Repräsentation. Die Kopplung zwischen dieser Absicht und dem Wortgebrauch geschieht durch die Einbindung kognitiv-mentaler Parameter in die Gebrauchsregeln solcher Verben, womit eine Verdrängung der wahrheitsfunktionalen Parameter einhergeht. Dieser Prozess der Parameterverschiebung ist die semantische Kopplung zwischen der Ebene der Sprecherabsichten und der sprachlichen Realisierung eben dieser Absichten auf der Wortebene. Beides, sowohl die kommunikative Absicht als auch die Wahl bzw. Modifikation der sprachlichen Mittel bilden die zwei Ebenen der Wortbedeutung ab, die strukturell durch Bedeutungsparameter verbunden sind (2-Ebenen-Modell der Bedeutung). In der Erweiterung unseres Kosten-Nutzen-Baumes - wenn wir nur den unteren Teil betrachten, der diese beiden Ebenen der Bedeutung abbildet - stellen sich die möglichen Sprecherabsichten dann folgendermaßen dar: 335 Abb. 10: Mittel-Zweck-Relation und das Prinzip der Semantischen Kopplung 336 8.1.1.2 Sprachliche Realisierung Was man auf dieser Abbildung erkennen kann, sind neben den für die Verben erweiterten Sprecherabsichten oberhalb der Wortebene auch die Möglichkeiten, die ein Verb vor oder nach einem semantischen Wandel im Hinblick auf seine Konnotation auf der Bedeutungsebene aufweisen kann. Wenn man sich diese Möglichkeiten sprachlicher Realisierung genauer ansieht, dann stellt man fest, dass es hier eine Vielzahl an Realisierungsmöglichkeiten gibt und man stellt überdies fest, dass sich die Möglichkeiten der Konnotationen mit den in Kapitel 3 entwickelten Kategorisierungsprinzipien von Verben anhand außersprachlicher Parameter deckt. Wie sehen diese Möglichkeiten der sprachlichen Realisierung von Sprecherabsichten bei deutschen Verben aus? Verben können als sprachliche Mittel zur Erfüllung eines kommunikativen Zwecks eine rein deskriptive Bedeutung tragen. Die Verben schlafen oder essen etwa erfüllen eine solche reine Darstellungsfunktion. Erweitert um die Absichten, die ein Sprecher mit der Wahl eines dieser beiden Verben (in einer nicht-rhetorischen Lesart) zum Ausdruck bringt, würde ein solches Verb zum Ausdruck faktisch konkreter Repräsentation verwendet und dabei eine deskriptive Bedeutung tragen. Die reine Darstellungsfunktion eines Sachverhalts steht dabei im Vordergrund. Die Funktion eines deskriptiven Verbs besteht darin, eine Aussage über die Welt zu machen, die entweder wahr oder falsch sein kann. Deskriptive Verben involvieren dabei - auch das ist eine Erkenntnis aus Kapitel 3 dieser Arbeit - Parameter aus der äußeren Welt. Verben wie sehen im Sinne von verstehen oder eingreifen in der heutigen metaphorischen Lesart sind streng genommen keine deskriptiven Verben, auch wenn man annehmen könnte, dass sie doch in erster Linie dazu dienen, einen abstrakten Sachverhalt darzustellen. Dasselbe gilt auch für die in Kapitel 3 als mentale Verben bezeichnete Gruppe, zu denen Verben wie lesen oder raffen gehören. In der Tat dienen solche Verben dem Ausdruck eines Sachverhalts und keiner Emotion, wodurch sie in unserer Darstellung als faktisch zu bezeichnen sind. Im Gegensatz zu den deskriptiven Verben aber sind mentale Verben aufgrund ihrer semantischen Struktur nicht dazu geeignet, über Wahrheitswerte definiert zu werden. Dieser Umstand ist darin begründet, dass sie abstrakte Sachverhalte ausdrücken, also Faktisch-Abstraktes repräsentieren und nicht etwa Konkretes in der Welt darstellen. Ihre Bedeutung erlangen mentale (sehen, lesen, raffen) oder soziale Verben (eingreifen) auf der Bedeutungsebene über die Einbindung mentaler Parameter aus der Welt der Kognitionen bzw. sozialer Parameter, wodurch wahrheitsfunktionale Parameter in den Hintergrund geschoben werden. 337 Hier zeichnet sich für die mentalen Verben bereits eine Verschiebung an, die den Hauptpfad des Bedeutungswandels bei Verben kennzeichnet, den ich weiter unten als Pfad skizzieren werde: Der Wandel von einem deskriptiven Verb mit dem Zweck der faktisch-konkreten Repräsentation zu einem mentalen Verb mit dem Zweck der faktisch-abstrakten Repräsentation. Für das Verb eingreifen lässt sich analog feststellen: Auch hier hat sich die Konnotation verändert. Während eingreifen ursprünglich ein rein deskriptives Verb zur Darstellung (faktisch) einer konkreten physischen Handlung gewesen ist, wird es heute zur Darstellung (faktisch) einer abstrakten Handlung verwendet, die auf der Ebene des Sozialen angesiedelt ist. Eingreifen ist aus diesem Grund als soziales Verb einzustufen, dessen Funktion die faktische Repräsentation ist und in dessen Gebrauchsregel soziale Parameter dominant die Wortbedeutung bestimmen, da auch hier die ehemals wahrheitsfunktionalen Parameter an semantischer Wirkung verloren haben. Evaluative Verben hingegen dienen dem Sprecher zum Ausdruck von Bewertungen, die mittels eines semantischen Verfahrens erzeugt werden. In diesen Fällen bewegen wir uns auf der emotiven Linie, da der Ausdruck einer Bewertung per se dazu dient, Haltungen eine Handlung betreffend darzustellen (evaluative Repräsentation) oder das Gegenüber von einer Bewertung zu überzeugen (evaluative Persuasion). An den Aspekt der Evaluation ist in denjenigen Fällen, die eine Persuasion zum Ziel haben, ein expressiver Ausdruck gekoppelt: Wenn ich jemanden von meiner Haltung überzeugen möchte, dann gelingt dies am ehesten, wenn ich mich besonders expressiv ausdrücke. Auch auf diese Möglichkeit der semantischen Realisierung einer Sprecherabsicht werde ich anhand eines eigenen Wandelpfades weiter unten zu sprechen kommen. Diskursive Realisierung ist eng gekoppelt an die Absicht der sozialen Interaktion und ebenfalls an die Absicht der Persuasion. Wenn ich z. B. das Verb vorwerfen in metaphorischer Lesart verwende und es auf die Handlung eines anderen Menschen beziehe (ich werfe jemandem vor, etwas Falsches getan zu haben), dann stecken in der Bedeutung dieses Verbs eindeutig diskursive Parameter: Wenn ich jemandem etwas vorwerfe, dann erfordert mein Vorwurf eine Reaktion meines Gesprächspartners. Insofern kann meine Absicht dieses speziellen Wortgebrauchs die Beeinflussung meines Gegenübers sein. Ich kann allerdings nur dann jemandem etwas vorwerfen, wenn ich aufgrund meiner sozialen Stellung dazu befugt bin. So verstanden ist es also auch möglich, dass mir die Verwendung des Verbs vorwerfen zur sozialen Distinktion oder auch zur sozialen Pflege dient, so dass meine Absicht in der hier vertretenen Terminologie als soziale Interaktion bezeichnet werden kann. Ich denke, hier sind die Grenzen fließend und der konkrete Gesprächskontext bestimmt die Zuordnung. Im Gegensatz zur Ursprungsbedeutung involviert das 338 Verb vorwerfen heute soziale und/ oder diskursive Parameter (und bisweilen auch evaluative Parameter). Auch hier lässt sich unabhängig von der tatsächlichen Parameterdominanz in der konkreten Äußerungssituation eine Verschiebung der Parameter feststellen, die mit einem Verblassen der wahrheitsfunktionalen Parameter in der ehemaligen Bedeutung einhergeht. Auch eine rein emotive Bedeutung lässt sich bei Verben bisweilen feststellen und auch für die Erklärung solcher Verben eignen sich zur Verdeutlichung unser Kosten-Nutzen-Baum und das Prinzip der semantischen Kopplung. Wenn ich Verben wie ergreifen oder packen in der Psychlesart verwende, dann dienen mir diese Verben dazu, auf ein Gefühl, das ich habe, zu referieren. Die Absicht, die ich mit der Äußerung solcher Verben verfolge, ist nicht, mein Gegenüber von meinem Gefühl zu überzeugen, so dass Persuasion als Absicht der Äußerung in diesem Fall nicht in Frage kommt. Bleiben also noch als kommunikativer Zweck der reine Ausdruck meines Gefühls (die Repräsentation) und die Beziehungspflege (soziale Interaktion). Für die Verben ergreifen und packen in der psychischen Bedeutungsvariante muss man wohl annehmen, dass die Absicht der emotiven Repräsentation im Vordergrund steht: Wenn ich jemandem sage, dass mich ein Buch ergriffen hat, dann dient diese Äußerung in erster Linie der Darstellung meines Gefühls. Anders stellt es sich z. B. für das Verb treffen dar: Wenn ich meinem Gesprächspartner darlege, dass mich seine Worte getroffen haben, dann dient mir der Ausdruck meines Gefühls nicht in erster Linie zur Darstellung, sondern zur Beziehungspflege, so dass meine Absicht in diesem Fall nicht Repräsentation, sondern soziale Interaktion sein könnte. Sowohl für die Verben ergreifen und packen als auch für das Verb treffen kann man feststellen, dass ihre Wortbedeutungen zum Zweck der emotiven Repräsentation bzw. emotiven sozialen Interaktion Parameter aus der Welt der Gefühle (emotive Parameter) involvieren. Wenn wir uns auch hier die Frage nach der Bedeutungsentwicklung solcher emotiver Verben stellen, gelangen wir erneut zu der Einsicht, dass wahrheitsfunktionale Parameter in den Gebrauchsregeln vormals deskriptiver Verben verdrängt wurden und dass die Wortbedeutungen heute durch das Wirken anderer außersprachlicher (hier: emotiver) Bedeutungsparameter bestimmt sind; die Kopplung zwischen den Absichten der Sprecher und der sprachlichen Realisierung geschieht hier wie auch in allen anderen Fällen mittels außersprachlicher Bedeutungsparameter. Wir können also für den Moment festhalten: Auf der Ebene der sprachlichen Realisierung spiegeln sich die vielfältigen Möglichkeiten wider, die sich auch als Klassifizierungsmerkmale für Verben anhand von Bedeutungsparametern anbieten. Um es klarer zu formulieren: Ein Sprecher verwendet Verben mit der Absicht der Repräsentation, der Persuasi- 339 on oder der sozialen Interaktion und greift dabei zu sprachlichen Mitteln, die über ihre spezielle Parameterstruktur auf Bedeutungsebene dazu geeignet sind, eben diese Absichten zum Ausdruck zu bringen. Damit sich zweckrational bedingte Pfade des Bedeutungswandels für die deutschen Verben in den unteren Teil des Kosten-Nutzen-Baums einzeichnen lassen, müssen wir uns ansehen, welche Veränderungen auf der Seite der Sprecherabsichten dazu führen, damit ein Verb seine Parameterstruktur und damit seine Bedeutung verändert. R UDI K ELLER und I LJA K IRSCHBAUM haben eine solche Überprüfung der veränderten Mittel- Zweck-Relationen für die Adjektive bereits vorgelegt und sie sind auf diese Weise zu vier Pfaden des semantischen Wandels gelangt - allerdings nicht mit Hilfe der Erklärung anhand außersprachlicher Bedeutungsparameter. 587 Daher möchte ich in einem nächsten Schritt zunächst zeigen, welche Befunde aus ihrer Analyse hervorgegangen sind und auf welche Möglichkeiten der sprachlichen Realisierung sich Veränderungen im Adjektivwortschatz stützen, bevor wir die möglichen Pfade für die deutschen Verben analog formulieren können. Dabei wird sich zeigen: Neben einigen Überschneidungen von Pfaden des Bedeutungswandels bei Adjektiven und Verben lassen sich insbesondere grundlegende Unterschiede bei den Hauptpfaden der beiden Wortarten nachweisen; während die Adjektive in der Hauptsache durch das metaphorische Verfahren Bewertungen aus ursprünglich deskriptiven Bedeutungen erzeugen, spielt bei Verben der Wandel vom Konkreten zum Abstrakten eine wichtige Rolle, wobei sehr häufig mentale Verben aus deskriptiven Verben generiert werden. 8.1.2 Das Modell der semantischen Pfade bei K ELLER / K IRSCHBAUM Zunächst gilt es, in einem ersten Schritt kurz zu klären, was unter einem Pfad des Bedeutungswandels linguistisch überhaupt zu verstehen ist. Natürlich handelt es sich dabei zunächst selbst um ein sprachliches Bild: Ein Pfad ist ein Weg, der in der Regel dadurch entsteht, dass viele Menschen völlig unabhängig voneinander mit dem Ziel, von A nach B zu kommen auf ihm entlang laufen. Mit der Zeit begehen viele Menschen 587 Für die Veränderung der Adjektivsemantik sind die Ergebnisse aus Kapitel 3 dieser Arbeit allerdings m. E. ebenfalls nützlich: So spielen bei den Bedeutungsveränderungen der Adjektive nahezu immer evaluative Bedeutungsparameter eine Rolle, mit deren Hilfe auf der Ebene der Bedeutungsstruktur bewertende oder expressive Varianten erzeugt werden. In manchen Fällen ist dabei der Weg im Vergleich zu den Verben derselbe: Wahrheitsfunktionale Parameter werden zugunsten evaluativer Parameter verdrängt. Die übrigen Bedeutungsparameter, die wir für die Verbsemantik als wesentlich erkannt haben und die uns zur Beschreibung einiger Pfade des Bedeutungswandels bei Verben dienen werden, spielen für die Veränderungen der Adjektivbedeutungen hingegen m. W. wohl keine Rolle. 340 diesen Pfad und er gewinnt an Kontur. In der Übertragung heißt das: Von einem Pfad des semantischen Wandels kann man dann sprechen, wenn viele Wörter auf eine ähnliche Art zu neuer Bedeutung gelangt sind. 588 Wörter im Allgemeinen und Verben im Speziellen sind nun aber nicht dazu in der Lage, den Weg ihrer Entwicklung selbst zu bestimmen. Mit einer gebrauchstheoretischen Fixierung steht es daher wohl außer Frage, das Bedeutungswandel als eine Entwicklung verstanden werden muss, die an die Absichten der Sprecher gekoppelt ist und die über Veränderungen der Gebrauchsregel nachgewiesen werden kann. Auch diese Feststellung erfordert eine Einschränkung: Sprecher sind einzeln ebenso wenig dazu in der Lage, die Bedeutung eines Wortes durch individuelles sprachliches Handeln zu ändern. Bedeutungswandel manifestiert sich erst, wenn eine Vielzahl Sprecher mit denselben Intentionen Wörter in abweichender Weise verwenden und ihnen damit zu neuem Sinn verhelfen. Semantische Pfade sagen also nicht nur etwas darüber aus, welche Bedeutung ein Wort X zur Zeit t 0 gehabt hat und welche Bedeutung dieses Wort zu einem späteren Zeitpunkt t 1 aufweist, sondern in erster Linie darüber, welche Absichten auf Sprecherseite zum Bedeutungswandel geführt haben, und da dies ein überindividuelles Phänomen ist, sagt der Wandel auch bisweilen etwas über den jeweiligen Zeitgeist der Sprecher aus. Eine solche Erklärung geht davon aus - wie wir anhand des Kosten- Nutzen-Baums ja auch anschaulich erkennen können -, dass Bedeutungswandel zweckrationalen Entscheidungen unterworfen ist. So kann ein Sprecher etwa mit dem Ziel des expressiv-evaluativen Ausdrucks das Verb saufen metaphorisch vom Tier auf einen Menschen übertragen und wandelt dieses Verb dabei über einen invisible-hand-Prozess semantisch von einem deskriptiven Verb zu einem expressiven bzw. evaluativen Verb. Bedeutungswandel ist also immer dann als makrostruktureller Effekt möglich, wenn ein Sprecher ein bestimmtes Wort mit einer neuen Absicht verwendet. Wir gelangen über diesen Weg zu handlungstheoretisch fundierten semantischen Wandelpfaden. Pfade, die diesem Erklärungsmuster folgen, findet man in der linguistischen Forschung erstaunlich selten, um nicht zu sagen: fast überhaupt nicht. Die einzige Ausnahme bildet m. W. die Untersuchung K EL- 588 Ob Wörter gegenwärtig oder zukünftig auf einem solchen Pfad zu neuer Bedeutung gelangen, ist für diese Definition streng genommen unerheblich. Denn: Pfade sind Makrostrukturen und immer das Resultat einer vergangenen Entwicklung. Ob sie auch zukünftig noch beschritten werden, lässt sich aus ihnen nicht ablesen, da Veränderungen auf der Mikrostruktur der handelnden Individuen jederzeit dazu führen können, dass ein Pfad nicht mehr beschritten wird. Daher - das habe ich an anderer Stelle bereits betont - sind Prognosen für semantischen Wandel nicht möglich. Besser ist es, in diesem Fall von Trends oder von Tendenzen zu sprechen. 341 LER s/ K IRSCHBAUM s, die mit eben dieser handlungsorientierten Fixierung die Möglichkeiten der semantischen Adjektivveränderungen als Pfade herausstellt. G ERD F RITZ verwendet in seinen Untersuchungen zwar ebenfalls den Terminus Pfade, versteht darunter aber offenbar etwas anderes. So schreibt er: Eine charakteristische Entwicklungsmöglichkeit bezeichnet man in der neueren Literatur manchmal als Entwicklungspfad. Diese Redeweise wird vor allem dann angewendet, wenn ein bestimmter Entwicklungsschritt mehrfach oder gar häufig bei semantisch verwandten Ausdrücken derselben Sprache oder in unterschiedlichen Sprachen zu belegen ist. 589 Was F RITZ hier als Pfade des Bedeutungswandels beschreibt, sind weniger an den kommunikativen Zielen der Sprecher ausgerichtete Erklärungen, als vielmehr die vielfach in der Literatur zu findenden Regularitäten oder Gesetze, die aus Gründen, die ich weiter oben in Kapitel 4 dargelegt habe, m. E. grundsätzlich als Übergeneralisierungen abzulehnen sind. Leider lenkt F RITZ den Fokus bei seinen Pfadbeschreibungen allein auf den generellen Klasseneffekt, der in manchen Generalisierungsversuchen hinter semantischem Wandel bei bestimmten Wortarten angenommen wird. Der Wandel von Verben der haptischen Sphäre zu Verben der kognitiv-mentalen Sphäre etwa wäre so verstanden ein Pfad der Bedeutungsentwicklung bei Verben. Was aber ist über den Prozess des Wandels ausgesagt, wenn man allein beschreibt, dass sich dieses Phänomen häufig in der Bedeutungsgeschichte des Deutschen abgezeichnet hat und es entsprechend als einen Pfad des Bedeutungswandels klassifiziert? Natürlich ist es zutreffend, dass sich Verben vom Haptischen zum Kognitiven gewandelt haben, aber es fehlt bei dieser rein deskriptiven Betrachtung die handlungstheoretische Dimension. Einzig lineare Wege von einer Ursprungszu einer Zielbedeutung und dabei explizit oder implizit angenommene Klasseneffekte, die als Regularitäten gedeutet werden, machen noch keine Wandelpfade aus, die erklärungsadäquat das Phänomen des Bedeutungswandels für eine Wortart abbilden können. Ich halte es aus diesem Grund für nötig darauf hinzuweisen, dass die bei F RITZ und anderswo zu findenden Pfade des Bedeutungswandels nicht mit den bei K EL- LER / K IRSCHBAUM entworfenen zweckrationalen Wandelpfaden vergleichbar sind, die auch hier in der Erweiterung auf die Gruppe der Verben ihre Anwendung finden. K ELLER und K IRSCHBAUM konnten in ihrer Analyse zum Adjektivwortschatz vier Pfade des Bedeutungswandels identifizieren, die den gerade skizzierten Prämissen voll entsprechen, bei denen also zwischen den 589 F RITZ 2006: 55 342 Absichten der Sprecher und der sprachlichen Realisierung im Sinne einer Mittel-Zweck-Relation unterschieden wurde: 590 Der erste Pfad, den K ELLER und K IRSCHBAUM in den unteren Teil ihres Kosten-Nutzen-Baumes integrieren konnten, ist der Weg von der faktisch-deskriptiven Repräsentation zur emotiven Persuasion mit Hilfe eines expressiven Ausdrucks. Adjektive, die diesem Pfad folgen, dienen dazu, „die eigene Begeisterung auf den anderen zu übertragen“. Das Ziel des Sprechers ist in diesem Fall die emotive Beeinflussung. Als Beispiele für einen solchen Entwicklungsweg dienen die Adjektive irre oder toll oder geil, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung wertneutral zum Ausdruck eines unstrittigen Sachverhalts gebraucht wurden. Durch semantischen Wandel haben diese Adjektive bewertende Bedeutung erhalten und können deswegen heute zur emotiven Persuasion verwendet werden. Der zweite Pfad der Adjektiventwicklung ist der Wandel von expressiv-evaluativer Bedeutung zu rein evaluativer Bedeutung, den K EL- LER / K IRSCHBAUM als „emotive bleaching“ bezeichnen. 591 In einem solchen Fall „verlieren [Adjektive] an Expressivität und werden mit der Zeit zu Ausdrücken, mit denen man seine Haltung zum Ausdruck bringt“ 592 . Als Beispiel für den Verlust von Expressivität durch frequente Wortverwendung im Adjektivwortschatz dient das Adjektiv geil, das gegenwärtig zwar (noch) evaluativ, aber durch häufigen Wortgebrauch wenig expressiv verwendet werden kann. Dabei ist zu bemerken, dass der Verlust an Expressivität bei Adjektiven einhergeht mit einer Veränderung der Sprecherabsicht: Wer einen Ausdruck expressiv verwendet, möchte sein Gegenüber beeinflussen, wer hingegen einen Ausdruck rein evaluativ gebraucht, stellt die eigene Haltung zu einem Sachverhalt dar, sein Ziel ist also die emotive Repräsentation. Der dritte Pfad, den man für den semantischen Wandel bei Adjektiven erkennen kann, ist eine Entwicklung, bei der ein Wort zwecks emotiver Repräsentation auf direktem Weg durch Metaphorisierung oder Metonymisierung von deskriptiver zu evaluativer Bedeutung gelangt. Beispielhaft für eine solche Entwicklung bei Adjektiven sind die Bedeutungsgeschichten der Wörter dumm, blöde, kindisch, stark, phantastisch, bequem oder teuer. In all diesen Fällen hat ein ehemals rein deskriptives Adjektiv eine evaluative Hauptbedeutung erlangt, wobei die Absicht des Sprechers für den rhetorisch-innovativen Wortgebrauch nicht Beeinflussung, sondern Darstellung gewesen ist. Dieser Weg von der faktischdeskriptiven Repräsentation zur evaluativ-emotiven Repräsentation ist der Hauptweg semantischen Wandels der Adjektiventwicklung: „Dieser 590 Vgl. dazu K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 144ff. 591 Vgl. K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 147 592 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 147 343 Pfad von der deskriptiven zur evaluativen Bedeutung ist der am häufigsten beschrittene“ 593 . Dieser Weg kennzeichnet ein besonderes Charakteristikum der Adjektivsemantik, das sich ohne weiteres nicht auf andere Wortarten - insbesondere nicht auf die Verben - übertragen lässt: Für jedes deskriptive Adjektiv [...] ist eine sinnvolle metaphorische Verwendung ohne Probleme denkbar [...]. Und immer, wenn ein [...] Adjektiv auf eine den Menschen betreffende Situation bezogen wird, bekommt es einen evaluativen Sinn. Mit anderen Worten, unser Adjektivwortschatz ist ein reiches Repertoire, um mit Hilfe des metaphorischen Verfahrens Bewertungen zu erzeugen. 594 Als vierten Pfad des Bedeutungswandels bei Verben konnten K EL- LER / K IRSCHBAUM den Weg von evaluativer zu deskriptiver Bedeutung skizzieren, also die Umkehrung des dritten Pfades. Allerdings ließ sich dieser Pfad einzig anhand des Adjektivs zierlich belegen, das den Pfad von der evaluativ-emotiven Repräsentation zur faktisch-deskriptiven Repräsentation beschritten hat: Während man ursprünglich mit dem Adjektiv zierlich Entitäten bezeichnet hat, die eine Person besonders geziert haben (z. B. eine Brosche), verwendet man heute zierlich in der Referenz auf Personen im Sinne von klein und schmal. Dieser Wandel beruht auf dem Prinzip der Metonymie: „Wenn etwas einen Menschen ziert, dann ist es in der Regel klein und fein“ 595 . 596 Weitere Pfade ließen sich für die Veränderungen im deutschen Adjektivwortschatz nicht identifizieren und es ist anzunehmen, dass sich aufgrund der besonderen semantischen Charakteristik von Adjektiven auch nichts ausmachen lässt. Für das deutsche Verbum stellt sich dies anders 593 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 148. Für den Verbwortschatz ist dieser Pfad einer unter vielen, aber sicher nicht der Hauptweg, was mit dem Aspekt der Bewertung zusammenhängt: Was für die Adjektive zutrifft, lässt sich auf die Verben nicht übertragen. Dass Metaphorisierung bei Verben nicht in jedem Fall zu bewertender Bedeutung führt, habe ich in Kapitel 6.2.1.1 ausführlich dargelegt. Der funktionale Unterschied zwischen Adjektiven und Verben bedingt die für beide Wortarten verschiedenen Hauptpfade semantischen Wandels. 594 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 149 595 K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 152 596 An dieser Stelle könnte man ein wenig spekulieren: Wenn das Adjektiv geil sich bereits seiner Expressivität entledigt hat und von einem Adjektiv der expressiven Persuasion zu einem Adjektiv der emotiv-evaluativen Repräsentation gewandelt wurde, könnte es nicht sein, dass es in Zukunft auch noch den Aspekt der Evaluation ablegt und wieder zu einem deskriptiven Adjektiv des (sexuellen) Kontrollverlusts wird? Schon heute gibt es neben dem Adjektiv geil zum Ausdruck einer Bewertung eine Vielzahl anderer Ausdrücke, die man synonym verwenden kann. Es wäre also möglich, dass geil in Zukunft einzig zur Darstellung des Zustands sexueller Erregung verwendet wird und damit seine Bewertungsfunktion verliert. 344 dar. Verben gelangen auf vielfältigere Weise zu neuer Bedeutung, als es für die Adjektive der Fall ist; es gibt aber auch Überschneidungen. 8.2 Wandelpfade als strukturelle Parameterverschiebungen Für die semantischen Veränderungen der Verben im Deutschen ergeben sich ebenfalls handlungstheoretisch fundierte Pfade des Bedeutungswandels, die ich im Folgenden erarbeiten und mit den Pfaden der Adjektiventwicklung vergleichen werde. Zuvor eine wichtige Bemerkung: Zu wissen, welche Parameter zu welchem Zeitpunkt innerhalb der Wortbedeutung dominant sind, hilft zu verstehen, was genau geschehen ist, wenn sich die semantische Struktur im Zuge eines Bedeutungswandels verändert. Wenn wir uns also die vier Pfade semantischen Wandels genauer ansehen, die wir für die Adjektiventwicklung bei K ELLER / K IRSCHBAUM finden können, dann lassen sich die semantischen Veränderungen über die Dominanz dreier bestimmender Parameter beschreiben und damit in gebrauchstheoretischer Hinsicht präzisieren: Der erste Pfad von faktischdeskriptiver zu expressiv-evaluativer Bedeutung, der mit dem Ziel der Persuasion beschritten wird, manifestiert sich auf der Strukturebene der Wortbedeutung durch Inkorporierung evaluativer und sozialer Parameter, die ein Verdrängen ehemals wahrheitsfunktionaler Parameter bedingt. Indem ich z. B. das Adjektiv geil als Ausdruck besonderer Emphase verwende, versuche ich mein Gegenüber von meiner Begeisterung zu überzeugen. Der Ausdruck der Begeisterung selbst spiegelt sich in Form von evaluativen Bedeutungsparametern wider, die Beeinflussungsfunktion ist eine soziale Funktion, die sich anhand sozialer Parameter innerhalb der Wortbedeutung nachweisen lässt. Wenn ein solches expressives Wort dann, wie es beim Pfad 2 offenbar geschieht, an Expressivität verliert, muss man annehmen, dass die sozialen Parameter innerhalb der Gebrauchsregel in den Hintergrund treten. Der Wandel eines expressivevaluativen Wortes mit dem Ziel der Beeinflussung zu einem evaluativen Ausdruck, mit dem emotive Repräsentation erzielt werden soll, ließe sich also auf der Ebene der Gebrauchsregel damit begründen, dass das Wort seine soziale Funktion als Beeinflussungsmittel verliert, indem soziale Parameter zugunsten rein evaluativer Parameter verdrängt werden. Der Wandel, den wir für den Pfad 3 der Adjektiventwicklung nachgezeichnet haben, bei dem ein Adjektiv auf direktem Weg von deskriptiver zu evaluativer Bedeutung gelangt, lässt sich ebenfalls über Veränderungen der Parameterdominanz erklären: In diesem Fall ziehen bewertende Parameter in die Gebrauchsregel eines Adjektivs ein und verdrängen 345 damit die Dominanz wahrheitsfunktionaler Parameter der äußeren Welt. Die Wortbedeutung wird künftig allein durch die Dominanz bewertender Bedeutungsparameter bestimmt. Der Weg dorthin zurück, bei dem ein Adjektiv also seine bewertende Funktion verliert und wieder zu deskriptiver Bedeutung gelangt (Pfad 4), erklärt sich eben dadurch, dass das Wirken evaluativer Parameter durch den neuen Wortgebrauch an Kraft verliert. Im Zuge dieser Entwicklung treten die wahrheitsfunktionalen Parameter mehr und mehr in den Vordergrund und bestimmen künftig allein bzw. dominant die neue Wortbedeutung. Ich habe in Kapitel 4.2.2 für dieses Phänomen den Terminus Semantische Exkorporierung vorgeschlagen und verweise an dieser Stelle auf die dort fixierten gebrauchstheoretischen Erkenntnisse, die sich aus Veränderungen der Verbalsemantik ergeben haben und die - wie sich nun zeigt - auch auf andere Wortarten adaptierbar sind. Für die Pfade 3 und 4 spielen, wie wir sehen können, soziale Parameter insofern keine Rolle, da in beiden Fällen semantischen Wandels weder vor noch nach dem Wandel Persuasion beabsichtigt wird. Ich gehe also davon aus, dass Repräsentation als Sprecherabsicht per se auf der Ebene der sprachlichen Realisierung keine sozialen Parameter hervorbringt und ich möchte im Umkehrschluss behaupten: Wenn Sprecher Wörter mit dem Ziel der Beeinflussung anderer Menschen verwenden, dann besitzen die Wörter (unter anderem) immer auch soziale Parameter in ihren Bedeutungen. Dass bei anderen Wortarten auch andere als die für die Adjektivsemantik bestimmenden evaluativen, wahrheitsfunktionalen und sozialen Parameter eine Rolle spielen können (und zwar in sehr viel entscheidenderem Maße), haben wir bereits in Kapitel 3 erkennen können und die Analyse der Wandelpfade bei Verben wird im Folgenden ebenfalls einen Nachweis dafür erbringen. Beginnen wir dabei mit den Überschneidungen und Gemeinsamkeiten, die sich zwischen den Pfaden der Adjektive und denen der Verben nachweisen lassen. 8.2.1 Der expressiv-evaluative Pfad (Pfad 1) Wenn ich ein Wort mit der Absicht verwenden möchte, meinen Gesprächspartner von meiner Haltung einem Sachverhalt oder einer Person gegenüber zu überzeugen, dann wähle ich dazu nach Möglichkeit ein starkes Ausdrucksmittel. Expressive Ausdrücke eignen sich zu diesem Zweck besonders, denn die Expressivität des Ausdrucks verstärkt pragmatisch den Ausdruck meiner Bewertung. Expressive Verben können mir als Sprecher also dazu dienen, dass ich meine Botschaft so verpacken kann, dass sie unmissverständlich bei meinem Gegenüber ankommt und als Ausdruck meiner Bewertung erschlossen und interpretiert werden 346 kann. Nun muss man allerdings bemerken, dass Expressivität in vielen Fällen an den Aspekt der Evaluation gekoppelt sein kann, dieser Umstand aber nicht generalisiert werden sollte. Für eine Vielzahl Verben trifft es zwar zu, dass die Expressivität im Ausdruck mit einer bewertenden Funktion einhergeht, aber dies ist kein generelles Prinzip, wie wir weiter unten bei einem anderen Pfad semantischen Wandels feststellen werden, bei dem die Funktion des expressiven Ausdrucks im Vordergrund steht, ohne dass eine Bewertung mit ausgedrückt werden würde. 597 Für eine ganze Reihe expressiver Verben aber lässt sich ganz analog zu den Adjektiven feststellen, dass sie gegenwärtig eine expressivevaluative Bedeutung tragen und es lässt sich zudem vermuten, dass solche Verben auf ähnlichen Pfaden zu ihrer neuen Bedeutung gelangt sind. Wir können mit einem sprachhistorischen Seitenblick davon ausgehen, dass am Anfang der Entwicklungsgeschichte deskriptive Verben gestanden haben, die wir gegenwärtig über den Prozess der assoziativen Umdeutung kommunikativ mit expressiv-evaluativer Konnotation verwenden und dass der Zweck der Wortverwendung in diesen Fällen auf dem Aspekt der Persuasion liegt. M. W. ist eine solche Erkenntnis auch unabhängig von den Prozessen der semantischen Genese neu, denn von bewertenden Verben ist in der linguistischen Forschung eher selten die Rede. 598 Wenn wir uns beispielsweise die Verben fressen, kotzen oder saufen anschauen, dann können wir feststellen, dass sich diese Verben ursprünglich zum Zweck der faktisch-deskriptiven Repräsentation geeignet haben. In ihrer gegenwärtigen Lesart hingegen verwenden Sprecher diese Verben zum Ausdruck einer Haltung der denotierten Tätigkeit gegenüber und zugleich zur Bewertung der Person, die diese Handlung vollzieht. Wenn ich sage, dass mein Gegenüber weniger saufen soll, dann drücke ich mein Missfallen dem übermäßigen Alkoholkonsum dieser Person gegenüber aus. Der Umstand, dass ich auch das neutrale Verb trinken anstelle von saufen verwenden und dadurch meine Bewertung im Kontext nicht weniger schlecht zum Ausdruck bringen könnte, belegt die Expressivität des Ausdrucks saufen. Durch die metaphorische Übertragung vom Tier auf den Menschen erhält der bewertende Ausdruck seine Expressivität. Expressivität ist allerdings nicht in jedem Fall eine Folge evaluativer Rede, wie sich weiter unten zeigen wird; auch ein Pfad zur evaluativen Repräsentation ist denkbar. Expressive Ausdrücke können zwei Funktionen erfüllen: Zum einen können sie dazu dienen, dass durch den expressiven Ausdruck das Gegenüber von der eigenen Haltung überzeugt wird. Ziel ist in solchen Fäl- 597 Vgl. dazu auch die Ausführungen zu expressiven Verben in Kapitel 3.2 dieser Arbeit 598 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 3.2.3 in dieser Arbeit 347 len die emotive Persuasion. Diese Absicht wird durch die expressivevaluativen Verben zum Ausdruck gebracht. Emotive Persuasion mittels expressiver Verben lässt sich auch für eine Reihe von sexuell motivierten Tabuwörtern als Absicht vermuten. So dient das sogenannte Dirty Talking vermutlich dazu, mittels expressiver Ausdrücke (z. B. ficken) die sexuelle Phantasie des Gesprächspartners zu beflügeln und ist dadurch per se persuasiv. Der Aspekt der Bewertung ist auch solchen sexuell bestimmten Ausdrücken inhärent, denn ich drücke mit ihnen ja aus, dass mir eine bestimmte Handlung gefällt. Neben diesen expressiven Ausdrücken, mit denen der Sprecher emotive Persuasion evozieren möchte, können expressive Wörter auch eine rein soziale Funktion übernehmen. In diesen Fällen möchte ich mein Gegenüber nicht von meiner Haltung einem Sachverhalt gegenüber überzeugen, sondern ich verwende einen expressiven Ausdruck zur reinen Darstellung. Ziel ist in solchen Fällen die faktische soziale Interaktion: Rein expressive Verben sollen niemanden beeinflussen, sie dienen vielmehr der Gruppenkommunikation und erfüllen damit eine soziale Funktion. Auf diese Möglichkeit komme ich in der Beschreibung von Pfad 4 der verbalen Bedeutungsentwicklung näher zu sprechen. Für die erste Möglichkeit der Realisierung expressiver Rede mittels eines Verbs lässt sich derselbe Entwicklungspfad nachzeichnen, den wir bereits von den Adjektiven kennen. Die Ursprungsbedeutung des Verbs fressen etwa involviert in der nicht-metaphorischen Lesart in der Referenz auf Tiere wahrheitsfunktionale Parameter der äußeren Welt. Im Zuge des Bedeutungswandels haben bewertende Parameter in die Wortbedeutung Einzug gehalten und semantisch eine dominierende Rolle übernommen. Expressiv-evaluative Verben sind semantisch ebenso wie die expressivevaluativen Adjektive in erster Linie durch das Wirken evaluativer Parameter bestimmt. Dadurch, dass ich mit der Verwendung solcher Wörter zudem die Absicht verfolge, mein Gegenüber von meiner Haltung zu überzeugen, lässt sich daneben auch das Wirken sozialer Parameter feststellen. Hier muss man aber beachten: Bei der Frage der Kategorisierung spielen diese sozialen Parameter zwar eine entscheidende Rolle, dennoch kann man expressive Ausdrücke nicht unter die sozialen Verben subsumieren. Hier muss man die pragmatische Ausdrucksfunktion des Wortes in den Fokus rücken. 599 Wir können also analog zu den Entwicklungen im deutschen Adjektivwortschatz einen ersten Entwicklungspfad für deutsche Verben identifizieren, den ich als expressiv-evaluativen Pfad bezeichnen möchte: 600 599 Vgl. dazu Kapitel 3.2 600 Dieser Pfad ist im Prinzip identisch mit dem Pfad 1 der Darstellung bei K EL- LER / K IRSCHBAUM (K ELLER / K IRSCHBAUM 2003: 146). Ich habe die Darstellung ledig- 348 Abb. 11: Der expressiv-evaluative Pfad (Pfad 1) lich um diejenigen Aspekte erweitert, die für andere Pfade des verbalen Bedeutungswandels von Bedeutung sind. Die Gründe für die von mir vorgenommene Erweiterung habe ich weiter oben in Abschnitt 8.1.1.1 und 8.1.1.2 dargelegt. 349 8.2.2 Der abschwächende Pfad (Pfad 2) Ein Vergleich der Entwicklung von Verben mit derjenigen von Adjektiven bringt einen zweiten Pfad des Bedeutungswandels ans Licht, den ich an dieser Stelle beleuchten möchte und der zwar nicht mit Pfad 2 der Analyse K ELLER s/ K IRSCHBAUM s identisch, wohl aber in den wesentlichen Punkten vergleichbar ist. Wir hatten weiter oben für die Gruppe der Adjektive festgestellt, dass Pfad 1 in manchen Fällen umkehrbar ist. Diese Umkehrung führt bei den betreffenden Adjektiven dazu, dass ein Adjektiv evaluative Bedeutung erlangt, indem über den Umweg der expressiv-evaluativen Bedeutung durch einen Schwund der Expressivität eine bewertende Bedeutungsvariante entsteht. Diese Entwicklung, die durch das sogenannte emotive bleaching gekennzeichnet ist, lässt sich auch für bestimmte Verben nachzeichnen. Das Kennzeichen dieses Wandels besteht darin, dass sich die kommunikative Funktion des Wortgebrauchs verändert. Während Pfad 1 eine Entwicklung skizziert, bei der sich ein Wort der Darstellung zu einem Wort der Beeinflussung wandelt, geschieht beim zweiten Pfad das Gegenteil: Adjektive und Verben mit expressiv-evaluativer Kraft, die dem Sprecher zur Beeinflussung des Gesprächspartners dienen, werden zu Wörtern gewandelt, mit denen der Sprecher einen reinen Sachverhalt darstellt. Der Wandel vollzieht sich also auf der Ebene der Sprecherabsichten von der Persuasion zur Repräsentation. Im Unterschied zu den Adjektiven geschieht die Umkehrung bei Verben aber m. W. nicht über den Weg der bewertenden Bedeutung. Adjektive, die an Expressivität verlieren, werden zu emotiv-evaluativen Wörtern, mit denen sich Sachverhalte darstellen lassen. Diese Entwicklung verläuft bei Verben ein wenig anders. Betrachten wir dazu beispielsweise die sexuellen Tabuwörter, die wir für den ersten Pfad als expressivevaluative Verben identifiziert haben. Wenn sich ein sexuelles Tabuwort durch frequente Verwendung seiner expressiven Komponente entledigt, dann entsteht nicht zwingend eine bewertende Bedeutungsvariante. Das Verb ficken kann in der expressiv-evaluativen Lesart dazu verwendet werden, Emphase auszudrücken und in bestimmten Kontexten diese Emphase mit dem Ziel der Persuasion auf das Gegenüber zu übertragen. In diesem Fall ist dieses Verb sowohl expressiv als auch bewertend. Wenn nun diese Beeinflussungsfunktion eines sexuellen Reizwortes verloren geht, das Gegenüber also nicht durch den Wortgebrauch sexuell stimuliert werden soll, dann verliert das Wort sowohl die expressive als auch die evaluative Komponente und taugt dann als Verb der deskriptiven Beschreibung. Zugegeben: Diese Entwicklung ist für das Verb ficken noch nicht abgeschlossen, sie zeichnet sich aber ab. Bereits heute wird dieses 350 Verb auch in seriösen Gesprächsrunden im Fernsehen oder in Zeitungsartikeln verwendet und ich nehme an, dass die Sprecher mit der Wortverwendung weder Expressivität noch Haltung zum Ausdruck bringen wollen, sondern dieses Verb bisweilen als Ausdruck einer wertneutralen Tätigkeitsbeschreibung verwenden. Insbesondere in bestimmten sozialen Gruppen werden solche Verben gegenwärtig expressiv verwendet, ohne dass damit eine evaluative Persuasion beabsichtigt wäre. Dort gehört der expressive Ausdruck zum normalen Gruppenwortschatz. Wenn nun ein solcher expressiver Ausdruck in die Gemeinsprache übernommen wird, erlangt er eine faktisch-deskriptive Bedeutung. Denselben Weg von der expressiv-evaluativen zur rein evaluativen Bedeutung könnte man in der Übertragung auf das Verb möglicherweise für das Verb klauen erahnen. Gegenwärtig wird dieses Verb zum Ausdruck evaluativer Repräsentation verwendet, aber es wäre anzunehmen, dass auch dieses Wort seine Bedeutung über die Zwischenstufe der expressiv-evaluativen Persuasion erlangt hat. Dieser Wandel kann hier allerdings nur vermutet werden, da sich in meiner Analyse keine Hinweise auf eine expressive Zwischenstufe ergeben haben. Daher können wir für den zweiten Pfad der Bedeutungsentwicklung festhalten: Es gibt auch bei Verben die Möglichkeit der Entwicklung von expressiv-evaluativer Persuasion zur Repräsentation, allerdings ohne, dass dabei eine emotiv bewertende Komponente entstehen würde. Wenn Verben an Expressivität verlieren, dann werden sie zu faktischdeskriptiven Ausdrücken. So gesehen lässt sich im Gegensatz zu den Adjektiven eine echte Umkehrung des ersten Wandelpfades feststellen: Im Gegensatz zu den Adjektiven verlieren Verben offenbar nicht nur ihre expressive, sondern zugleich ihre evaluative Komponente. Auf der Ebene der Gebrauchsregel stellt sich dieser Wandel folgendermaßen dar: Ein Verb mit expressiv-evaluativer (oder rein expressiver) Bedeutung verliert im Zuge der Bedeutungsentwicklung durch frequente Wortverwendung (genauer: durch den Übergang in die Gemeinsprache) sowohl die bewertenden als auch die sozialen Parameter, die in einer ersten Stufe der Entwicklung (Pfad 1) seine Bedeutung bestimmt haben. In der exakten Umkehrung des ersten Pfades treten im Zuge der Bedeutungsentwicklung die wahrheitsfunktionalen Parameter wieder in den Vordergrund und dominieren fortan die Wortbedeutung in der speziellen Lesart. 601 Einen solchen Prozess der Genese faktisch-deskriptiver Wortbedeutung bei Verben nenne ich den abschwächenden Pfad, der sich wie folgt darstellen lässt: 601 Ich habe diese Bedeutungsentwicklung auf der Ebene der Gebrauchsregel in Kapitel 4.2.2 als Semantische Exkorporierung bezeichnet. 351 Abb. 12: Der abschwächende Pfad (Pfad 2) 352 Pfad 2 kennzeichnet also den Weg von expressiver zu deskriptiver Bedeutung und zugleich eine Möglichkeit des Wandels von evaluativer zu deskriptiver Bedeutung. Die Abbildung dieses Pfades erfordert noch eine ergänzende Bemerkung, denn streng genommen bildet der abschwächende Pfad zwei Entwicklungslinien ab (Pfad 2a und 2b). Das liegt daran, dass Verben mit expressiver Bedeutung zum einen zur emotiven Persuasion taugen können (Pfad 1) und aus dieser Richtung kommend an Expressivität verlieren. Zum anderen aber ist bei Verben auch eine expressive Bedeutungsvariante nachweisbar, die nicht der Beeinflussung, sondern der Beziehungspflege dient. Auf welchem Weg Verben zu dieser speziellen Bedeutung gelangen, sehen wir anhand des Pfades 4 weiter unten. Fakt ist: Verben, die dem expressiven Ausdruck dienen, egal ob mit dem Ziel der Persuasion (Pfad 2a) oder mit dem Ziel der sozialen Interaktion (Pfad 2b), können über den abschwächenden Pfad zu rein wahrheitsfunktionalen Verben der deskriptiven Repräsentation gewandelt werden. 8.2.3 Der evaluative Pfad (Pfad 3) Verben können, wie wir anhand des ersten Pfades gesehen haben, durch Expressivität eine bewertende Bedeutung erlangen, wobei wir erkannt haben, dass expressive Verben in erster Linie expressiv und erst in zweiter Linie bewertend sind. Den bewertenden Aspekt gewinnen expressivevaluative Verben durch die Absicht der Persuasion. Oder anders: Emotive Persuasion ist häufig an den Aspekt der Evaluation gekoppelt. Wenn wir uns Verben vergegenwärtigen, die zwar bewertend sind, aber dem Sprecher nicht zur Persuasion, sondern zur emotiven Repräsentation dienen, dann haben wir - analog zu den Adjektiven - einen weiteren Pfad semantischen Wandels entdeckt. Was K ELLER und K IRSCHBAUM als den Hauptentwicklungspfad des Bedeutungswandels bei Adjektiven deklariert haben, ist für die Gruppe der Verben nur einer unten vielen möglichen Wegen; ganz sicher aber ist es nicht der wichtigste. Auch wenn Verben im Gegensatz zu Adjektiven nicht per se in der assoziativen Übertragung eine bewertende Bedeutung erlangen, gibt es auch innerhalb dieser Wortart im Deutschen bewertende Ausdrücke, die ohne Umweg zu evaluativer Bedeutung gelangt sind. Solche Verben entstammen dem Bereich der Deskription und sie erlangen evaluativen Sinn durch metaphorischen oder metonymischen Wandel. 602 Wenn man z. B. das Verb klauen in der metaphorischen Bedeutungsvariante betrachtet, 602 An dieser Stelle muss ich auf die Ausführungen in Kapitel 6.2.1.1 verweisen. Dort stelle ich dar, dass - im Gegensatz zu den Adjektiven - Metaphorisierung bei Verben nicht per se eine bewertende Bedeutung hervorbringt. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Verben deutlich von den Adjektiven im Deutschen. 353 dann kann man feststellen, dass dieses Verb gegenwärtig dazu verwendet wird, um auf den Vorgang des Stehlens zu referieren. Durch den Wortgebrauch selbst kann man ausdrücken, dass man dieser Tätigkeit ablehnend gegenüber steht. Ein Richter etwa, der einen Dieb zu einer Strafe verurteilt, wird ihn des Stehlens und nicht des Klauens bezichtigen, weil stehlen im Gegensatz zum klauen ein neutrales Verb ist, das außer wahrheitsfunktionalen Parametern keine weiteren kommunikativ wirksamen Parameter involviert. Verben wie klauen sind dagegen keine neutralen Verben, denn sie besitzen bewertende Parameter und dienen daher in erster Linie dem Ausdruck einer Haltung. Das Ziel eines Sprechers, der ein Verb zum Ausdruck einer Bewertung verwendet, ist in diesen Fällen nicht unbedingt, die eigene Haltung auf das Gegenüber zu übertragen (dies geschieht eher mittels evaluativ-expressiver Ausdrücke), sondern die Haltung zum Ausdruck zu bringen, also die Bewertung einer Handlung gegenüber emotiv darzustellen (Repräsentation). Verben, die wie klauen oder schleichen einer solchen Entwicklung folgen und in ihrer Zielbedeutung durch evaluative Bedeutungsparameter bestimmt sind, entstammen nicht selten der faktisch-deskriptiven Sphäre. So verwendete man klauen ursprünglich als Ausdruck einer wertneutralen Sammeltätigkeit (z. B. Kartoffelernte) und schleichen in der Referenz auf Raubkatzen etwa ebenfalls völlig wertneutral. Durch ein assoziatives Verfahren haben sich diese Verben zu bewertenden Verben gewandelt, wodurch ehemals dominante Parameter der äußeren Welt, also wahrheitsfunktionale Parameter, in den Hintergrund gedrängt worden sind. Diese Bedeutungsentwicklung lässt sich ebenfalls skizzieren und stellt sich dann folgendermaßen dar: 354 Abb. 13: Der evaluative Pfad (Pfad 3) 355 8.2.4 Der expressive Pfad (Pfad 4) Bei K ELLER / K IRSCHBAUM finden wir an dieser Stelle die Beschreibung eines Pfades, für den es beim verbalen Bedeutungswandel keine Entsprechung gibt: Beispiele für eine Entwicklung von evaluativer zu deskriptiver Bedeutung, also eine Umkehr des evaluativen Pfads (Pfad 3) sind mir in der Analyse der deutschen Verben nicht begegnet, so dass ein analog entworfener Pfad 4 nicht in Deckung mit dem Pfad 4 der Adjektiventwicklung zu bringen wäre. Wir hatten allerdings weiter oben bei Pfad 2 feststellen können, dass es den Weg von expressiv-evaluativer Bedeutung zu einer rein deskriptiven Bedeutung gibt, im Zuge dessen die bewertenden Parameter zugunsten wahrheitsfunktionaler Parameter verloren gehen. So gesehen steckt die Entwicklung von evaluativer zu deskriptiver Bedeutung bereits in diesem Pfad. Daher verlassen wir an dieser Stelle bereits die Ebene der Gemeinsamkeiten und gelangen zu spezifischen Wandelpfaden, die sich durch die Semantik der Verben in entscheidendem Maße von den Pfaden der Adjektive unterscheiden. Der vierte Pfad der Bedeutungsentwicklung bei Verben, den ich den expressiven Pfad nennen möchte, ist uns in diesem Kapitel bereits begegnet. Es handelt sich dabei um die Entwicklung expressiver Verben aus Verben der faktisch-deskriptiven Repräsentation. Solche Verben dienen nicht dem Ausdruck einer expressiven Haltung, sind also nicht bewertend, sondern erfüllen eine soziale Funktion. Wir hatten in Pfad 2 bereits gesehen, wie diese Verben wieder zu einer deskriptiven Bedeutung gelangen können und sind bis hierher die Erklärung schuldig geblieben, wie solche Verben überhaupt semantisch in die Welt gelangen. Der Prozess der Genese von rein expressiven Verben ist der Wandel von einem faktisch-deskriptiven Verb zu einem Verb, mit dem der Sprecher über Expressivität im Ausdruck die eigene soziale Position markieren kann. Insofern beabsichtigt ein Sprecher, der z. B. das Verb fressen verwendet, die faktisch-expressive soziale Interaktion. Wenn in bestimmten sozialen Gruppen ein Satz wie Lass uns heute mal saufen gehen geäußert wird, trägt das Verb saufen - im Gegensatz zur expressiv-evaluativen Lesart in Pfad 1 - keine bewertende Komponente, sondern ist lediglich Ausdruck der sozialen Markiertheit durch den Sprecher und gewinnt an kommunikativer Funktion durch das soziale Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer. So verstanden sind viele expressive Verben Merkmale von Gruppensprachen und Soziolekten. Auch Verben aus dem Bereich der sexuellen Sphäre, also bestimmte Tabuwörter, können dann, wenn sie in nicht-sexuell motivierten Kommunikationskontexten gebraucht werden, nicht persuasiv, sondern beziehungspflegend gebraucht werden. 356 Für eine Vielzahl expressiver Verben ist also zur Bestimmung des konkreten Wandelpfades und damit verbunden auch für die Bestimmung der Parameterdominanz der Gesprächskontext entscheidend. Nur daraus lässt sich vielfach ablesen, ob der Sprecher den expressiven Ausdruck zur Beeinflussung des Gesprächspartners oder zur sozialen Determinierung verwendet. Rein expressiv verwendete Ausdrücke, die dem Sprecher eine soziale Rolle zuschreiben sollen und die damit in erster Linie der Beziehungspflege dienen, involvieren in ihre Gebrauchsregeln im Zuge des Bedeutungswandels soziale Parameter. Der Wandel auf der Ebene der Gebrauchsregel geschieht also durch das Verdrängen wahrheitsfunktionaler Parameter der äußeren Welt zugunsten der Dominanz sozialer Parameter, die zwar per se in expressiven Ausdrücken wirksam werden, hier aber allein die Bedeutung des Wortes bestimmen. Eine Realisierung dieses Pfades finden wir für die Adjektive nicht, da Adjektive im Zuge eines Bedeutungswandels nahezu ausschließlich eine bewertende Bedeutung gewinnen und weil der Aspekt der Beziehungspflege (soziale Interaktion) bei K ELLER / K IRSCHBAUM als Absicht keine Entsprechung findet. Daraus ließe sich schlussfolgern, dass soziale Interaktion als Sprecherabsicht bei der Adjektivverwendung keine isolierte Rolle spielt. Möglicherweise muss man den Aspekt der Beziehungspflege bei Adjektiven unter den Aspekt der Persuasion subsumieren, da man mit der Äußerung eines bewertenden Adjektivs offenbar neben der Bewertung auch immer - zumindest bei den expressiv-evaluativen Adjektiven - eine Selbstaussage knüpft, die der Beziehungspflege dienen kann. Für die Verben hingegen lässt sich diese Absicht - wie dieser Pfad 4 aufzeigt - von dem Aspekt der Evaluation und damit auch von der Persuasion unterscheiden. Der expressive Pfad lässt sich folgendermaßen in unser Modell der Semantischen Kopplung integrieren: 357 Abb. 14: Der expressive Pfad (Pfad 4) 358 8.2.5 Der abstrahierende Pfad (Pfad 5) Es gibt beim verbalen Bedeutungswandel einen Pfad, der eine Besonderheit darstellt, weil er als der Hauptentwicklungsweg von Verben zu kennzeichnen ist und weil er ohne die in Kapitel 3.1.4 präzisierten Bedeutungsparameter nicht zu erklären wäre. Es handelt sich dabei um den Wandel von konkreter zu abstrakter Bedeutung, der für deutsche Verben charakteristisch ist und der in der Folge beispielsweise die in Kapitel 3.2.4 beschriebenen mentalen Verben hervorbringt. Um etwa den Wandel des Verbs begreifen in metaphorischer Lesart darstellen zu können, ist es notwendig, die Absicht der faktischen Repräsentation noch einmal in faktisch-konkret und faktisch-abstrakt zu unterteilen. Verben wie begreifen, lesen oder sehen in der kognitiven Bedeutungsvariante werden von einem Sprecher weder mit dem Ziel der Persuasion noch mit der Absicht der Beziehungspflege verwendet. In all diesen Fällen geht es dem Sprecher allein darum, einen Sachverhalt auszudrücken, so dass als Zweck der Äußerung deskriptive Repräsentation anzunehmen ist. Emotive Faktoren spielen hingegen keine Rolle. Charakteristisch für die Entwicklung solcher kognitiv-mentaler Verben ist, dass sie ihre Zielbedeutung aus deskriptiven Verben der faktischen Repräsentation generieren, dass sich also die Absicht des Sprechers im Prinzip nicht verändert. Sowohl die Ausgangsals auch die Zielbedeutung wird mit der Absicht generiert, dass ein Sprecher einen Sachverhalt darstellend zum Ausdruck bringen kann; faktische Repräsentation ist in beiden Fällen der Zweck der sprachlichen Realisierung. Nun hat ein Sprecher allerdings bei der Verwendung bestimmter Verben die Wahl: Er kann das Verb zum Ausdruck einer faktisch-konkreten Darstellung z. B. eines physischen Vorgangs verwenden. In diesem Fall ist das Ausdrucksmittel neutral und drückt einen realen Sachverhalt in der Welt aus. Das Verb begreifen in der Referenz auf einen Apfel etwa involviert in seiner Gebrauchsregel wahrheitsfunktionale Parameter, mit denen der Sprecher etwas über die äußere Welt aussagen kann. Der Sprecher kann dieses Verb allerdings auch metaphorisch auf einen kognitiven Verstehensprozess übertragen. Wenn dies geschieht, dient das Verb dem Sprecher zum Ausdruck eines Sachverhalts, der sich im Inneren des Sprechers abspielt und der eben nicht an die äußere Welt gekoppelt ist. In diesem Fall involviert das Verb keine wahrheitsfunktionalen Parameter der äußeren Welt, sondern Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen, also mentale Parameter. Wandelt sich nun ein Verb semantisch in dieser speziellen Richtung - und die Analyse des Verbwortschatzes im Deutschen zeigt, dass dieser Wandel der mit Abstand häufigste ist -, dann verschieben sich die Para- 359 meter innerhalb der Gebrauchsregel eines solchen Verbs und es kommt zu einer semantisch wirksamen Dominanz kognitiv-mentaler Bedeutungsparameter. Das Verb nimmt dann eine abstrakte Bedeutung an, die durch kognitiv-mentale Konnotationen geprägt ist. Dieser Prozess lässt sich pragmatisch erklären: Wer auf den Vorgang des Innerlichen referieren möchte, bemächtigt sich dazu häufig konkreter Begriffe, da sich Abstraktes mit Hilfe konkreter Begriffe wesentlich greifbarer darstellen lässt. Damit ich jemandem Einblick in die Welt meiner kognitiven Prozesse gewähren kann, muss ich mich bildlich ausdrücken, weshalb insbesondere das Verfahren der Metaphorisierung für die Entstehung kognitivmentaler Verben von Bedeutung ist. Bevor wir uns im Folgenden mit der Frage beschäftigen, ob der Wandel bei Verben vom Konkreten zum Abstrakten auch umkehrbar ist, sehen wir uns die Entwicklung von konkreter deskriptiver Bedeutung zu abstrakter deskriptiver Bedeutung anhand des Schaubildes in der grafischen Vereinfachung an: 360 Abb. 15: Der abstrahierende Pfad (Pfad 5) 361 8.2.6 Der konkretisierende Pfad (Pfad 6) Den nächsten Pfad der verbalen Bedeutungsentwicklung nenne ich den konkretisierenden Pfad, weil er einen Bedeutungswandel abbildet, der die Umkehrung des gerade durch den fünften Pfad beschriebenen Wandels darstellt. Will sagen: Es gibt nicht nur den Weg von konkreter zu abstrakter Bedeutung, es gibt auch einen Weg zurück. Dabei gelangen Verben, die einer solchen Entwicklung folgen, durch abweichenden Wortgebrauch zu einer faktisch-konkreten und rein deskriptiven Bedeutung. In der Umkehrung des abstrahierenden Pfades heißt das, dass Verben, die in einer früheren Bedeutungsstufe eine abstrakte kognitiv-mentale Bedeutung getragen haben, durch einen Bedeutungswandelprozess zu einer konkreten Bedeutung gelangen können. Als Beispiel für diesen Wandel können wir das Verb meinen identifizieren. Dieses Verb trägt auch gegenwärtig in vielen Verwendungskontexten noch eine kognitiv-mentale Bedeutung: Wer etwas meint, der hat eine bestimmte Vorstellung von etwas. Wenn mich mein Gegenüber fragt Was meinst du mit deiner Aussage? , dann möchte er wissen, welche Gedanken in meiner Aussage stecken. Er will erfahren, was ich mit meiner Äußerung zum Ausdruck bringen will. Dieser Sinn ist eine abstrakte Entität aus der Welt meiner Gedanken. Meinen kann aber auch noch anders verwendet werden: Wenn ich sage Ich meine, dass Wittgenstein die Theorie der Sprachspiele entwickelt hat, dann drücke ich damit meine Vermutung aus: Ich bin der Meinung, dass es Wittgenstein war, der die Theorie der Sprachspiele begründet hat (bin mir aber vielleicht unsicher). Ein Freund könnte mich auch fragen Was meinst du zu dem neuen Buch von Umberto Eco? und möchte damit wissen, welche Gedanken (und auch, welche Haltung) ich dem Buch gegenüber habe. In all diesen Gebrauchsweisen trägt das Verb meinen eine kognitivmentale Bedeutung (und bisweilen auch bewertende Züge). Eine gegenwärtig verbreitete Verwendung dieses epistemischen Verbs, das in seiner Ursprungslesart auf Abstraktes wie Gedanken oder Meinungen referiert, ist der Ausdruck einer konkreten Tätigkeit, nämlich der des Sagens: Meinen wird immer häufiger im Sinne von sagen verwendet, etwa in folgendem fiktiven Gespräch: A: Hast du Horst gefragt, ob er mit ins Kino will? B: Ja, hab ich. A: Und? Was hat er gemeint? B: Er meinte, dass er keine Lust dazu hat. 362 Das Verb meinen in dieser konkreten Bedeutungsvariante involviert nun - im Gegensatz zur ursprünglich epistemischen Lesart - keine kognitivmentalen Parameter mehr, sondern wird in seiner neuen Bedeutung durch wahrheitsfunktionale Parameter der äußeren Welt bestimmt. 603 Meinen im Sinne von sagen ist ein Ausdruck zur konkreten faktischdeskriptiven Repräsentation, weil sagen eine Tätigkeit ist, die konkret beobachtbar ist. Meinen in der Ursprungslesart hingegen ist ein geistiger Vorgang, der sich im Inneren abspielt und daher nicht beobachtbar ist: Wer etwas meint, der muss es auch sagen, wenn er seine Meinung verstanden wissen will. Meinen allein ist ein abstrakter Vorgang, der im Kopf des Sprechers abläuft und der ohne den Prozess des Sagens nicht nach außen gelangen kann. Daher gibt es eine enge semantische Korrelation: Wer etwas sagt, der meint auch etwas bzw. wenn ich etwas sage, dann meine ich das (meistens) auch. Vermutlich ist es diesem Zusammenhang geschuldet, dass sich das Verb meinen aktuell für viele Sprecher dazu eignet, metonymisch (wenn-dann-Relation) als ein Verb der konkreten physischen Handlung verwendet zu werden. Wir gelangen mit Hilfe dieses Beispiels zu einer direkten Umkehrung des abstrahierenden Pfades. Wenn wir uns zudem die Befunde aus Kapitel 7.1.1 an dieser Stelle noch einmal vergegenwärtigen, können wir auch die dort skizzierte zirkuläre Bedeutungsentwicklung für das Verb sich vergehen mit Hilfe dieses Pfades erklären: In einem ersten Schritt hat sich die Bedeutung von sich vergehen im Sinne von sich verlaufen als konkret deskriptiv dargestellt. Auf dieser ersten semantischen Stufe wurde die Wortbedeutung durch wahrheitsfunktionale Bedeutungsparameter bestimmt. Das Verb wurde mit der Absicht der faktisch-deskriptiven Repräsentation verwendet. Der Wandel, der dann eintrat, folgt demjenigen Pfad, den ich weiter oben als abstrahierenden Pfad nachgezeichnet habe: Das Verb sich vergehen wurde im Sinne von etwas Falsches tun verwendet und erlangte dadurch eine abstrakte Bedeutung. Die Wortbedeutung wurde in diesem Fall nicht durch kognitiv-mentale, sondern in erster Linie durch evaluative und soziale Parameter bestimmt. Das Ziel der Wortverwendung war weiterhin faktisch-deskriptive Repräsentation, allerdings nun faktisch-abstrakte. Die gegenwärtig gebräuchliche Verwendung des Verbs ist wiederum wie die Ausgangsbedeutung konkret, da man, wenn man sich an jemandem vergeht, eine konkrete strafbare Handlung vollzieht. 604 Somit hat das Verb über die Zwischenstufe der abstrakten Bedeutung wieder zu alter 603 Auch hier zeigt sich das in Kapitel 4.2.2 als Semantische Exkorporierung bezeichnete Phänomen der gerichteten Verschiebung semantischer Parameter. 604 Interessanterweise ist dieser Straftatbestand kein Vergehen, sondern ein Verbrechen. Auf diesen Umstand hat mich R UDI K ELLER hingewiesen. 363 konkreter Bedeutung zurückgefunden, wobei sich vergehen auf der ersten und auf der dritten Stufe der zirkulären Bedeutungsentwicklung durch die abstrakte Zwischenstufe unterschiedliche Bedeutungen tragen: Sich vergehen bedeutet heute nicht mehr, dass man sich verläuft. Dennoch sind sowohl Ausgangsals auch Zielbedeutung beide faktisch-konkrete deskriptive Bedeutungen, die mit dem Ziel der Repräsentation verwendet wurden und werden. Die anhand dieser beiden Beispiele dargestellte Umkehrung des abstrahierenden Pfades lässt sich entsprechend als konkretisierender Pfad wie folgt in unsere Darstellung integrieren: 364 Abb. 16: Der konkretisierende Pfad (Pfad 6) 365 8.2.7 Die emotiven Pfade (Pfad 7a, 7b und 7c) Verben können sich außerdem zum direkten oder indirekten Ausdruck eines Gefühls eignen. Gefühlswörter wie lieben oder hassen sind Verben, mit denen ein Sprecher primär ein Gefühl zum Ausdruck bringt. Solche Verben involvieren in erster Linie emotive Bedeutungsparameter, wie wir in Kapitel 3.2.2 bereits erkannt haben. Als Verben, die dem Ausdruck einer Empfindung aus der Welt der Gefühle dienen, kann der Sprecher mit der Artikulation eines emotiven Verbs unterschiedliche kommunikative Absichten verfolgen: Er kann sein Gefühl sprachlich zum Ausdruck bringen, um dieses subjektive Gefühl oder die subjektive Empfindung für sein Gegenüber greifbar zu machen. Hier gilt der Grundsatz, der schon für kognitive Verben expliziert werden konnte: Wer über einen Prozess, einen Vorgang oder eine Regung aus der Welt des Inneren sprechen möchte, muss dazu ein Ausdrucksmittel wählen, das sich dazu eignet, vom Hörer richtig interpretiert zu werden. In manchen Fällen erlangen emotive Verben ihre emotive Ausdrucksfunktion daher dadurch, dass sie durch metaphorische oder metonymische Übertragung einen Sachverhalt darstellen, der aus der Sphäre der konkreten physischen Tätigkeiten oder Vorgänge stammt. Neben der Darstellungsfunktion mittels eines sprachlichen Ausdrucks, der nicht selten durch ein assoziatives Verfahren seine emotive Bedeutung generiert, kann es einem Sprecher aber auch ein Bedürfnis sein, durch den Ausdruck eines Gefühls eine emotionale Nähe zu seinem Gegenüber aufzubauen. In diesem Fall wäre der Zweck der assoziativen Wortverwendung nicht Repräsentation, sondern soziale Interaktion. Dass diese Absicht offenbar ein grundlegendes Bedürfnis menschlicher Kommunikation widerspiegelt, zeigt sich an einem Phänomen, das sich in den letzten Jahren erst entwickelt hat: Soziale Netzwerke wie facebook oder twitter sind Plattformen, mit deren Hilfe Menschen weltweit rund um die Uhr persönliche Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen können. Wenn dort Nutzer schreiben, wie sie sich gerade fühlen, dann dienen solche Äußerungen vermutlich weniger der deskriptiv-emotiven Repräsentation eines Gefühls denn der emotiven sozialen Interaktion (in der hier vertretenen Terminologie). Bisweilen werden dazu ebenfalls sprachliche Mittel verwendet, die durch ein assoziatives Verfahren an Bildhaftigkeit gewonnen haben und die sich dadurch als pragmatische Ausdrucksmittel eignen. Das verbindende Merkmal solcher emotiver Verben ist die Dominanz von Parametern aus der Welt der Gefühle. Zusätzlich können wir bei Verben, die dem Zweck der emotiven sozialen Interaktion dienen, annehmen, dass auch soziale Parameter eine Rolle spielen. 366 Eine klare Abgrenzung, welche der beiden Absichten (Repräsentation oder soziale Interaktion) mit der Äußerung emotiver Verben verfolgt wird, lässt sich ohne eine Betrachtung des konkreten Äußerungskontextes nicht vornehmen. Wenn ich z. B. das Verb kochen in der metaphorischen Bedeutung verwende, um zu sagen, dass ich vor Wut koche, dann kann diese Äußerung auf meiner facebook-Seite nur dem Zweck dienen, andere Menschen auf mein Gefühl aufmerksam zu machen. Dasselbe gilt für die Verwendung des Verbs genießen: Wenn ich meiner Familie oder meinen Kollegen auf einer Postkarte mitteile, dass ich meinen Urlaub genieße, dann dient diese Äußerung der Beziehungspflege. Ich beabsichtige dann, eine Aussage über mich selbst zu treffen, die der Pflege der Beziehung zu meinen Freunden dienen soll. Die Absicht könnte aus der Sicht des Sprechers lauten: Wenn ich dir etwas über meine Gefühlswelt erzähle, dann mag ich dich. Wenn ich hingegen sage Gestern hat mich die Türklingel erschreckt, dann dient mir der Ausdruck meiner körperlichen Empfindung (das Erschrecken) am ehesten zur reinen sprachlichen Darstellung meines Gefühls, ohne dass ich mein Gegenüber damit emotional an mich binden möchte. Neben diesen beiden Möglichkeiten ist auch eine dritte Sprecherabsicht denkbar, die sich ebenfalls an die Verwendung des Verbs genießen koppeln lässt: Wenn ich die Postkarte aus dem Urlaub in der Absicht verschicke, meine Arbeitskollegen neidisch zu machen, dann erfüllt das Verb genießen den Zweck der emotiven Beeinflussung. Ich möchte, dass meine Kollegen ein bestimmtes Verhalten zeigen. Auch andere emotive Verben werden mit dieser Absicht verwendet: Das Verb treffen etwa kann in der Äußerung Mich treffen deine Worte dazu dienen, den Gesprächspartner dazu zu bewegen, sein Verhalten zu ändern. Dasselbe gilt auch für metaphorische Verben wie stören oder erdrücken: Du störst mich bei der Arbeit heißt Lass mich in Ruhe, ich möchte deine Gesellschaft jetzt nicht. Durch die Äußerung Deine Liebe erdrückt mich kann ein Sprecher dem Gegenüber zu verstehen geben, dass er oder sie dem Sprecher mehr Freiraum einräumen soll. Wenn emotive Verben aus der Welt der Gefühle in dieser Weise verwendet werden, dann müsste man am ehesten emotive Persuasion als Zweck der Äußerung konstatieren: Der Sprecher beabsichtigt mit der Äußerung eines emotiven Verbs in bestimmten Kontexten eine Änderung des Verhaltens des Gesprächspartners; er will sein Gegenüber also beeinflussen. Verben, die so verwendet werden, involvieren neben emotiven Parametern auch soziale Parameter in ihre Gebrauchsregeln. Es gibt somit im deutschen Verbwortschatz Bedeutungsentwicklungen, die den gleichen Ausgangspunkt haben (faktisch-deskriptive Verben aus der Sphäre des Physischen) und in emotiven Zielbedeutungen münden. Dabei kann ein Sprecher, wie wir festgestellt haben, verschiedene Absichten sprachlich realisieren wollen. In Frage kommen 367 i. emotive Repräsentation ii. emotive soziale Interaktion und iii. emotive Persuasion. Aus der Realisierung dieser drei Sprecherabsichten ergeben sich Pfade des verbalen Bedeutungswandels, die ich aufgrund ihrer gemeinsamen kommunikativen Funktion und dem damit verbundenen Wirken emotiver Bedeutungsparameter aus der Welt der Gefühle als emotive Pfade bezeichnen möchte: 1. Pfad von der faktisch-deskriptiven Repräsentation zur emotivdeskriptiven Repräsentation (Pfad 7a) 2. Pfad von der faktisch-deskriptiven Repräsentation zur emotivdeskriptiven sozialen Interaktion (Pfad 7b) 3. Pfad von der faktisch-deskriptiven Repräsentation zur emotivdeskriptiven Persuasion (Pfad 7c) In der schematischen Darstellung lassen sich diese Mittel-Zweck- Relationen folgendermaßen abbilden: 368 Abb. 17: Die emotiven Pfade (Pfad 7a, 7b, 7c) 369 8.2.8 Der illokutionäre Pfad (Pfad 8) Es gibt Verben im Deutschen, mit denen ein Sprecher nicht nur einen Sachverhalt ausdrückt, eine Bewertung kundtut oder eine soziale Rolle zum Ausdruck bringt, sondern mit denen es ihm möglich ist, eine konkrete Handlung an den sprachlichen Ausdruck zu knüpfen. Verben, die eine solche Funktion erfüllen, nennt man illokutionäre Verben. Die Begriffe Illokution oder illokutionärer Akt lassen sich auf J OHN A USTIN zurückführen, der diese Termini bei der Begründung der Sprechakttheorie eingeführt hat. Ein illokutionärer Akt kennzeichnet das Vollziehen einer Handlung mit Hilfe einer sprachlichen Äußerung. Die Illokution steht auch im Zentrum der S EARLE schen Sprechakttheorie, die bis heute eine Säule der linguistischen Pragmatik darstellt. Einige der sogenannten illokutionären (oder performativen) Verben erlangen ihre illokutionäre Bedeutung dadurch, dass sie einen gerichteten Bedeutungswandel durchlaufen. Der Pfad, den diese Verben dabei beschreiten, nenne ich daher an dieser Stelle mit einem pragmalinguistischen Seitenblick illokutionärer Pfad. Sehen wir uns zur Verdeutlichung dieses Pfades das Verb vorwerfen an: Wenn ein Richter zu seinem Angeklagten sagt Ich werfe Ihnen vor, dass Sie das Huhn gestohlen haben, dann wird durch die Äußerung des Verbs vorwerfen genau diejenige Art von Handlung vollzogen, die durch dieses Verb zum Ausdruck gebracht wird: Indem der Richter sagt, dass er dem Angeklagten etwas vorwirft, wirft er ihm etwas vor. Damit entspricht dieses Verb genau dem, was B UßMANN als Definition eines performativen Verbs vorschlägt. Dort schreibt sie, performative Verben seien „Verben [...], durch deren Verwendung [...] genau die Handlung vollzogen werden kann, die von diesen Verben bezeichnet wird“ 605 : Einen Vorwurf kann man jemandem z. B. nur machen, wenn man ihm explizit zu verstehen gibt, dass man ihm etwas vorwirft. Die Handlung des Vorwerfens kann ohne die Äußerung mit Hilfe des performativen Verbs vorwerfen kommunikativ nicht vollzogen werden. 606 Das Verb vorwerfen besitzt gegenwärtig als performatives Verb illokutionäre Kraft, diese Funktion ist aber das Resultat eines Bedeutungswandels: In der ursprünglichen Lesart bedeutet vorwerfen, dass man eine konkrete Entität jemandem z. B. vor die Füße wirft. In dieser Lesart konnte man sagen Warum hast du mir den Apfel vorgeworfen? und damit meinen Warum hast du den Apfel vor mich hingewor- 605 B UßMANN 2002: 505 606 Allerdings kann man bisweilen auch vorwerfend gucken, so dass Vorwürfe u. U. auch außersprachlich realisiert werden können. Außerdem gibt es Sätze wie Wie konntest du das nur tun? , die den Ausdruck des Vorwurfs in sich tragen. In diesen Fällen ist der Vorwurf allerdings implizit und wird nicht explizit zum Ausdruck gebracht. 370 fen? . Eine solche faktisch-deskriptive Lesart ist gegenwärtig nicht mehr möglich. Betrachten wir ein zweites Beispiel: Wenn jemand einen Fehler macht, dann kann ich ihm diesen Fehler vorhalten. Mit der Äußerung des Verbs vorhalten vollziehe ich eine konkrete sprachliche Handlung: Ich mache meinem Gegenüber eine Vorhaltung. Dass dieses Verb ebenfalls aus der Sphäre der faktisch-deskriptiven Repräsentation stammt, kann man an der noch heute gebräuchlichen Redewendung jemandem einen Spiegel vorhalten ablesen. Der Wandel, der hinter der Genese solcher Verben verborgen ist, lässt sich folgendermaßen beschreiben: Ein faktisch-deskriptives Verb, das mit der Absicht der Repräsentation verwendet wird, wird durch assoziativen Wortgebrauch zu einem Verb der illokutionären Persuasion gewandelt. 607 Die Besonderheit dabei ist: Persuasion wird hier nicht zwingend an den Aspekt der Emotion gebunden; der Sprecher verfolgt mit seiner Äußerung häufig nicht emotive, sondern faktisch-konkrete Persuasion. 608 Empfindungen, Einstellungen oder persönliche Haltungen spielen z. B keine Rolle, wenn ein Richter einem Angeklagten etwas vorwirft, hingegen kann emotive Persuasion das Ziel sein, wenn ich einem Freund etwas vorwerfe. Auf der Ebene der Gebrauchsregel manifestiert sich dieser Wandel als eine Dominanz sozialer und bisweilen evaluativer Parameter. Wahrheitsfunktionale Parameter werden dabei in den Hintergrund gerückt. Soziale Konnotation erlangen diese Verben dadurch, dass sie sich in sozialen Kontexten anwenden lassen und zudem soziale Rollen (z. B. Richter vs. Angeklagter) markieren. Evaluative Bedeutung kann man dann vermuten, wenn die Verben zum Ausdruck emotiver Persuasion verwendet werden. Der Kontext ist hier für eine präzisere Bestimmung von entscheidender Bedeutung. Als Mittel-Zweck-Relation stellt sich der illokutionäre Pfad entsprechend wie folgt dar: 607 Bei der Frage danach, ob die Äußerung von performativen Verben wie vorhalten oder vorwerfen eine primär repräsentative oder persuasive Aufgabe erfüllt, möchte ich wie folgt beantworten: Da der Sprecher mit der Äußerung Ich halte dir xy vor oder Ich werfe dir xy vor primär das Ziel verfolgt, dass der Hörer sich zu etwas bekennt oder sein Verhalten künftig ändert, würde ich diese Verben als persuasive Verben einstufen. Die Grenzen der Zuordnung sind hier allerdings fließend. Dasselbe lässt sich auch für die Zuordnung dieser Verben zu einer der in Kapitel 3.2 entwickelten Verbkategorien konstatieren. Dort hatte ich mich für eine Einstufung als soziale Verben ausgesprochen, aber bereits auf die Abgrenzungsprobleme hingewiesen. 608 Bei K ELLER / K IRSCHBAUM wird diese Möglichkeit der faktischen Persuasion explizit ausgeschlossen. Dieser Pfad ist mit der Bemerkung „keine Realisierung“ gekennzeichnet. 371 Abb. 18: Der illokutionäre Pfad (Pfad 8) 372 8.2.9 Der sozial-diskursive Pfad (Pfad 9) Auch innerhalb der Gruppe der sozialen und deskriptiven Verben lässt sich gerichteter Wandel feststellen. 609 Für diesen speziellen Wandelpfad schlage ich der Einfachheit halber den Terminus sozial-diskursiver Pfad vor. Er ist auf der Abstraktionsebene dadurch gekennzeichnet, dass ein Verb - wie bei den meisten anderen Entwicklungswegen auch - eine Veränderung von einem faktisch-deskriptiven zu einem Verb durchläuft, das dem Sprecher die sprachliche Realisierung einer anderen Absicht ermöglicht. Verben wie einholen (einen Rat) oder (etwas anders) sehen dienen dem Sprecher dazu, ein soziales Verhältnis zum Ausdruck zu bringen oder in einen Diskurs einzutreten. Insofern ist die Absicht des Sprechers mit der assoziativen Umformung solcher Verben die faktische (konkrete oder abstrakte) soziale Interaktion. Im Gegensatz zu Pfad 4, der die Entwicklung von deskriptiver zu expressiver Bedeutung abbildet, ist die sprachliche Realisierung der sozialen Interaktionsfunktion nicht durch Expressivität geprägt: Wenn ich zum Ausdruck bringe, dass ich etwas anders sehe als mein Gegenüber oder einem Kind vorhalte, dass es nicht hört, dann verwende ich die Verben sehen und hören faktisch-deskriptiv (hier: faktisch-abstrakt) mit dem Ziel der sozialen Interaktion und zum Ausdruck einer sozialen Rolle bzw. einer sozialen Beziehung (z. B. Vater - Sohn). Auch das Verb einsehen wird metaphorisch abstrakt verwendet und ist durch die kommunikative Rolle der sozialen Interaktion bestimmt. Die Verben einholen (einen Rat) oder eingreifen (in einen Konflikt) hingegen werden faktisch-konkret verwendet und dienen ebenfalls zur sozialen Interaktion, ebenso wie das Verb versorgen, das man ursprünglich auch auf unbelebte Entitäten (z. B. eine Küche) anwenden konnte und das gegenwärtig ausschließlich als Ausdruck einer sozialen Tätigkeit auf Menschen oder Tiere taugt. 610 Der Weg zur faktisch-abstrakten sozialen Interaktion ist ein Novum auf der Landkarte der semantischen Wandelpfade. Bislang sind wir davon ausgegangen, dass Beziehungspflege entweder emotiv (Pfad 7c) oder faktisch-konkret (Pfad 4) realisiert wird. Bei Pfad 7c ist diese Realisierung mittels eines deskriptiven Ausdrucks geschehen, für Pfad 4 haben wir hingegen festgestellt, dass ein expressiver Ausdruck zur Realisierung des kommunikativen Zwecks verwendet wird. Der sozial-diskursive Pfad hingegen eröffnet dem Sprecher die Möglichkeit, auch mit Hilfe eines abstrakten Bildes (wie etwa sehen) diese Absicht der sozialen Interaktion zu verwirklichen, wobei das sprachliche Mittel dann faktisch-deskriptiv ist: Weder Evaluation noch Expressivität oder Illokution spielen hier m. E. eine besondere Rolle. 609 Vgl. zu den Termini soziale/ diskursive Verben Abschnitt 3.2.6 610 Vgl. Kapitel 3.2.6 373 Wie bei allen anderen bisher diskutierten Pfaden spielen die Veränderungen der Parameterstruktur für die Herausbildung dieses Pfades eine Rolle und sie lassen sich auch hier klar bestimmen. Die Bedeutung sozialer und diskursiver Verben wird, wie wir bereits in Kapitel 3.2.6 herausgefunden haben, durch das Wirken sozialer Parameter bestimmt. Auch hier treten die ehemals wahrheitsfunktionalen Parameter in den Hintergrund, wie sich anhand der schematischen Darstellung zeigen lässt: 374 Abb. 19: Der sozial-diskursive Pfad (Pfad 9) 375 8.2.10 Der Nullpfad (Pfad 10) Eine letzte Möglichkeit der semantischen Kopplung zwischen Sprecherabsicht und sprachlicher Realisierung ist ein Pfad, der sich bei Verben in ganz besonderer Weise manifestiert. In Kapitel 6.2.1 sind wir einem Phänomen begegnet, das ich dort als metaphorische Verkettung aufgrund einer anthropomorphen Assoziation bezeichnet und expliziert habe. Die Verben köpfen (eine Flasche Sekt) oder abschlagen (den Hals einer Flasche) konnten wir dort als Metaphern identifizieren, die auf einer anthropomorphen Ähnlichkeit beruhen: Der Hals einer Flasche etwa wird aufgrund seiner Form und seiner Funktion als Hals bezeichnet, d. h. es wird für die Bezeichnung einer unbelebten Sache ein Ausdruck verwendet, der aus dem Bereich der Körperlichkeit stammt. Über diesen Prozess gelangen Verben zu einer metaphorischen Bedeutung, die auf eben dieser anthropomorphen Assoziation beruht. Nun handelt es sich bei der Bedeutungsentwicklung von Verben wie köpfen oder abschlagen um einen semantischen Wandel, der eine Besonderheit aufweist: Die Verben köpfen und abschlagen sind in der nicht-metaphorischen Bedeutung durch wahrheitsfunktionale Parameter der äußeren Welt bestimmt. Ihre kommunikative Aufgabe ist es, auf einen konkreten Sachverhalt in der Welt zu referieren: Man kann einen Menschen oder ein Huhn köpfen, indem man ihm den Kopf abschlägt. Wenn ich also sage Der hanseatische Seeräuber Klaus Störtebeker wurde im 15. Jahrhundert geköpft, dann beabsichtige ich damit faktisch-deskriptive Repräsentation. Ich stelle sprachlich einen Sachverhalt dar, der wahr oder falsch sein kann. Eine andere Absicht verfolge ich nicht. Wenn ich gegenwärtig das Verb köpfen metaphorisch verwende, indem ich z. B. äußere Ich habe gestern eine Flasche Champagner geköpft, dann verfolge ich streng genommen keine andere Absicht als die der darstellenden Rede. Auch in diesem Fall der assoziativen Wortverwendung beabsichtige ich, einen konkreten Sachverhalt der äußeren Welt darzustellen. Weder möchte ich mein Gegenüber sonderlich beeindrucken noch dient mir der innovative Wortgebrauch zur Beziehungspflege: Das Verb köpfen involviert in der neuen Lesart keine bewertenden, keine sozialen und auch keine expressiven Bedeutungsmerkmale. Wir haben es also hier mit einem Phänomen zu tun, das einen scheinbaren Widerspruch in sich trägt: Zwar hat ein Wandel der Wortbedeutung zweifelsohne stattgefunden, aber eine Veränderung der Sprecherabsicht ist ebenso wenig festzustellen wie eine Veränderung der Bedeutungsparameterstruktur des Wortes. Sowohl die metaphorische als auch die nicht-metaphorische Lesart wird durch wahrheitsfunktionale Parameter der äußeren Welt bestimmt und zudem dienen beide Bedeutungsvari- 376 anten dem Ausdruck einer faktisch-deskriptiven Darstellung einer konkret beobachtbaren Handlung. Weil wir diesen Pfad einer Bedeutungsentwicklung bei deutschen Verben nicht unter den Teppich fallen lassen dürfen, nenne ich diesen Pfad, der sich in besonderer Weise von den bisher diskutierten Pfaden abhebt, den Nullpfad des verbalen Bedeutungswandels. Um ihn angemessen verorten zu können, schlage ich vor, die Absicht der Repräsentation für diesen speziellen Pfad um einen Aspekt zu erweitern: um den Aspekt der Innovation im Ausdruck. Bedeutungswandel ohne eine Veränderung der Sprecherabsicht ist m. E. handlungstheoretisch nicht erklärbar. Daher nehme ich an, dass ein Sprecher zwei Möglichkeiten der faktisch-konkreten deskriptiven Darstellung hat: Er kann ein Wort dazu verwenden, einen Sachverhalt darzustellen und er kann dasselbe Wort bisweilen dazu verwenden, einen anderen Sachverhalt im übertragenen Sinn darzustellen. In beiden Fällen ist deskriptive Darstellung einer konkreten Handlung das Ziel des Sprechers, allerdings im Fall des ursprünglichen Wortgebrauchs ohne den Anspruch der Bildhaftigkeit im Ausdruck. Bildhaftigkeit im Ausdruck mit dem Ziel der faktischen Darstellung kann - wie wir anhand einiger Beispiele gesehen haben - zu einer abstrakten Bedeutung führen (Pfad 5), Bildhaftigkeit muss aber nicht zwingend eine abstrakte Bedeutung hervorbringen. Dieser Weg von konkreter faktisch-deskriptiver Repräsentation zu konkreter faktisch-deskriptiver Repräsentation, der sich durch eine Veränderung der Extension (also der Wahrheitswerte) manifestiert, ohne dass sich die Dominanz der Bedeutungsparameter verändert, lässt sich folgendermaßen in unser Schaubild integrieren: 611 611 Man kann ergänzend hinzufügen: Die Veränderung der Extension geht hier nicht mit einer Vergrößerung oder Verkleinerung einher. Das Verb köpfen lässt sich in der Ursprungslesart auf die Menge der menschlichen (oder tierischen) Köpfe beziehen, in der metaphorischen Lesart auf die Menge aller Flaschenköpfe. Eine Erweiterung oder Verengung der Bedeutung kann ich hier nicht erkennen. 377 Abb. 20: Der Nullpfad (Pfad 10) 378 8.3 Die Karte der semantischen Wandelpfade bei Verben - ein Fazit Bedeutungswandel bei deutschen Verben ist weder ein seltenes noch ist es ein chaotisches Phänomen. Anhand der zuvor entworfenen Wandelpfade können wir mindestens zehn Pfade des Bedeutungswandels identifizieren, möglicherweise ist der eine oder andere Pfad auch noch unentdeckt. Was sich abseits der Frage nach der vollständigen Abbildung von semantischen Entwicklungswegen bei deutschen Verben deutlich hat zeigen lassen, ist die Vielzahl an Möglichkeiten, die einem Sprecher zur Erfüllung seiner kommunikativen Absichten durch die Verwendung eines Verbs zur Verfügung steht: Nahezu alle denkbaren Sprecherabsichten lassen sich durch Verben sprachlich realisieren. Wenn wir die in diesem Kapitel skizzierten Pfade des Bedeutungswandels bei Verben mit den 4 Pfaden der semantischen Entwicklung bei Adjektiven vergleichen, dann kommen wir zu folgenden Ergebnissen: 1. Adjektive und Verben gelangen bis auf eine Ausnahme auf gleichen Pfaden zu neuer Bedeutung (Pfad 1-3). 2. Der Pfad von der evaluativen zur deskriptiven Repräsentation (Pfad 4 bei K ELLER / K IRSCHBAUM ) ist bei Verben nicht realisiert. 3. Im Gegensatz zum adjektivischen Bedeutungswandel ist beim verbalen Bedeutungswandel die Realisierung von faktischer Persuasion möglich (Pfad 8). K ELLER / K IRSCHBAUM hatten diese Möglichkeit der sprachlichen Realisierung einer Sprecherabsicht explizit ausgeschlossen. 4. Der Weg von der faktisch-konkreten Bedeutung zur faktischabstrakten Bedeutung ist der Hauptpfad des verbalen Bedeutungswandels (Pfad 5). 5. Diese Bedeutungsentwicklung ist umkehrbar (Pfad 6). Dabei kommt es zu semantischer Exkorporierung. 6. Verbaler Bedeutungswandel kann Expressivität erzeugen, ohne dabei an den Aspekt der Evaluation gekoppelt zu sein (Pfad 4). 7. Bedeutungswandel bei Verben weist in einer Hinsicht eine Besonderheit auf: Bestimmte Verben durchlaufen einen Bedeutungswandel, ohne dass sich die Absicht des Sprechers oder die sprachliche Realisierung verändert (Pfad 10). 8. Für die Herleitung verbaler Wandelpfade spielt neben Repräsentation und Persuasion auch der Aspekt der sozialen Interaktion (Beziehungs- 379 und Imagepflege) eine Rolle. Die Pfade 4, 7c und 9 bilden die sprachliche Realisierung dieser Absicht ab. 9. Der jeweilige Bedeutungswandel lässt sich über die Verschiebung auf der Ebene der Gebrauchsregel mittels Bedeutungsparameter eindeutig erklären (Ausnahme: Pfad 10). 10. Zwischen der Ebene der sprachlichen Realisierung und der Ebene der Sprecherabsichten gibt es eine semantische Kopplung. Auf der Gebrauchsregelebene geschieht diese Kopplung durch das Wirken außersprachlicher Bedeutungsparameter. Wenn wir die verschiedenen Pfade des Bedeutungswandels bei Verben schematisch zusammenfassen, gelangen wir zu einer Darstellung, die ich an dieser Stelle als die neue Landkarte des Bedeutungswandels bezeichnen möchte, da sie neben den verbalen Wandelpfaden auch die Pfade der Adjektiventwicklung abbilden kann. Es handelt sich also um die Erweiterung der Karte, die bei K ELLER / K IRSCHBAUM bereits angelegt, aber noch nicht mit dem Blick auf andere Wortarten erweitert wurde: 612 612 Einzig der Pfad 4 der Adjektiventwicklung bei K ELLER / K IRSCHBAUM (expressivevaluative Persuasion evaluativ-emotive Repräsentation) findet sich in dieser Abbildung nicht wieder, da er sich bei Verben m. W. nicht realisieren lässt. Um von einer vollständigen Karte aller möglichen semantischen Pfade bei Verben und Adjektiven sprechen zu können, müsste man diesen Pfad hier noch ergänzen. Die Darstellung 21 bildet so nur die Pfade des verbalen Bedeutungswandels ab, wobei sich Überschneidungen notwendigerweise mitabzeichnen. Für einen Vergleich verweise ich auf die zusammenfassende Darstellung bei K ELLER / K IRSCHBAUM (K EL- LER / K IRSCHBAUM 2003: 160). 380 Abb. 21: Die Karte der semantischen Wandelpfade bei Verben 381 9. Fazit und Ausblick Den Schlussbetrachtungen zu den Befunden dieser Arbeit möchte ich ein Zitat des Philosophen E RNST B LOCH voranstellen, denn es fasst in Worte, was sich auch über das Phänomen des Bedeutungswandels aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht sagen lässt: Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe. Was B LOCH hier formuliert, trifft rückblickend auch auf die Analyse des verbalen Bedeutungswandels zu: Sich mit einem traditionellen und viel diskutierten Thema wie dem des Bedeutungswandels zu befassen, kann dann ein lohnenswertes Unterfangen sein, wenn man die festgefahrenen Wege verlässt und indem man als Forscher den Blick weitet, also bisweilen die Perspektive wechselt. Diese Erkenntnis ist ein Ergebnis dieser Arbeit: Bedeutungswandel lässt sich am ehesten dann erklären, wenn man die Perspektive des Beobachters verlässt und das Primat der Beschreibung über die Erklärung aufgibt. Im Zuge dieser Arbeit habe ich versucht zu zeigen, dass man mit einer gebrauchstheoretischen Brille zu neuen Ergebnissen gelangen kann, die mehr Klarheit schaffen können über die Prozesse, die dem Bedeutungswandel (nicht nur bei Verben) zugrunde liegen. Das Untersuchungsgebiet Bedeutungswandel ist eines der ältesten, mit dem sich die klassische Semantikforschung beschäftigt. Über wenige Phänomene ist mehr geschrieben worden als über den Wandel der Wortbedeutungen. Dennoch ist es bislang noch nicht gelungen, die Prinzipien, die hinter dem Bedeutungswandel bestimmter Wortarten stecken, ans Licht zu bringen und dabei auch strukturelle Veränderungen in den Vordergrund zu rücken. Im Zuge dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, Bedeutungsveränderungen strukturell zu erfassen und darüber Regularitäten für deutsche Verben aufzuzeigen. Die hierbei gewonnenen Ergebnisse liefern in der Gesamtheit ein konturierteres Bild des verbalen Bedeutungswandels, wie es m. W. bislang nicht zu finden war. Darüber hinaus ergibt sich auch, wenn man die Befunde dieser Arbeit akzeptieren möchte, ein neues Bild auf den Bedeutungswandel im Allgemeinen: Es ist vermutlich möglich, die Befunde dieser Untersuchung, zumindest sofern sie allgemeiner Natur sind, auch auf andere Wortarten zu adaptieren. Neben einer Vielzahl von Einzelaspekten zur Verbsemantik, die ich im Zuge dieser Arbeit herausgestellt habe, sind es besonders drei Ergebnisse, die eine neue Sichtweise auf das Phänomen des Bedeutungswandels insgesamt ergeben können und die daher Erkenntnisse darstellen, die den 382 eigentlichen Untersuchungsbereich deutscher Verben bereits an manchen Stellen verlassen. So konnte erstens gezeigt werden, dass man sich zunächst mit der Frage beschäftigen muss, welcher Bedeutungsbegriff anzulegen ist, damit man in einem nächsten Schritt erklären kann, welche Prozesse dem Bedeutungswandel zugrunde liegen. Es stellte sich heraus, dass eine repräsentationistische Bedeutungsauffassung sehr schnell an ihre Grenzen gerät und wenig taugt, um Bedeutungswandel erklären zu können. Dadurch, dass insbesondere Verben nicht allein dazu geeignet sind, auf außersprachliche Wirklichkeit zu referieren, führt eine Bedeutungsauffassung, die von einem reinen Abbildverhältnis ausgeht, nicht weit. Diese Erkenntnis leitet sich aus der Frage ab, welche Funktion Kommunikation per se in der Sprache erfüllt. Da Kommunikation in erster Linie Mittel der wechselseitigen Beeinflussung ist, muss man den Gedanken aufgeben, dass sprachliche Zeichen aus sich selbst heraus auf etwas verweisen, was wir in der außersprachlichen Wirklichkeit finden können. Vielmehr muss ein sprachliches Zeichen den Zwecken und Absichten der Sprecher dienen. Dies ist die kommunikationstheoretische Dimension von Sprache. Ein bedeutungstheoretischer Ansatz, der diese Funktion von sprachlichen Zeichen in den Vordergrund stellt, findet sich in der W ITTGENSTEIN schen Auffassung der Wortbedeutung als Gebrauch. So verstanden gewinnt man auf der einen Seite eine Sichtweise, die die intentionalen Absichten der Sprecher berücksichtigen kann. Auf der anderen Seite ist ein solcher Bedeutungsbegriff dazu geeignet, die semantische Struktur eines Wortes aufzubrechen. Indem man nämlich die Bedeutung eines Wortes als dessen Regel im Gebrauch definiert, muss man zwingend zu der Auffassung gelangen, dass der Wandel der Wortbedeutung einhergeht mit dem Wandel der Struktur der Regel für den Wortgebrauch. Dieser Gedanke ist es, der in dieser Arbeit den fruchtbaren Boden für sinnvolle, also an der Sprecherwirklichkeit orientierte Kategorisierungsversuche des semantischen Wandels für die Gruppe der Verben bereitet. Es ist der zweite Aspekt, den diese Arbeit hervorgebracht hat und es ist möglicherweise auch der bedeutendste, denn in dieser Hinsicht wurde ein Stück weit Neuland betreten: Gab es in der neueren Semantikforschung bereits Ansätze, die Gebrauchsregelstruktur eines Wortes adäquat zu beschreiben, liegt mit dieser Arbeit eine sehr viel differenziertere Betrachtung vor. Die in Kapitel 3 skizzierten Parameter einer Gebrauchsregel sind in vielfacher Hinsicht von hohem Nutzen. So hat sich herausgestellt, dass die Einbindung, Verschiebung oder auch der Wegfall von Bedeutungsparametern einen unmittelbaren Einfluss haben auf die Richtung des Bedeutungswandels. M. E. ergibt sich über diesen Ansatz sehr viel mehr Klarheit über die Prozesse, die den Bedeutungswandel beflü- 383 geln, als dies bislang durch die sehr deskriptiven Ansätze der Bedeutungswandelforschung zu leisten möglich ist. Die Veränderungen der Gebrauchsregeln von Verben über den erklärungsadäquaten Weg der Beschreibung von innerstrukturellen Parameterveränderungen führen in einem weiteren Schritt zur Kategorisierung der möglichen Wandelwege - hier als Pfade des verbalen Bedeutungswandels benannt -, die sich als intentionale Entwicklungslinien auf der Mikroebene des Sprechers makrostrukturell als Bedeutungswandel manifestieren. Für den Verbwortschatz konnten über diesen Ansatz die möglichen Entwicklungspfade auf einer gedanklichen Karte des Bedeutungswandels verortet werden. In Kapitel 8 finden die zuvor erarbeiteten Kapitel also ihren Fluchtpunkt. Es hat sich dabei gezeigt, dass - wie intuitiv zu vermuten war - eine Kopplung zwischen der Ebene des Sprechers und der Ebene der Sprache vorliegt. Dass diese Kopplung im Zuge dieser Arbeit strukturell zu beschreiben ist, ist ebenfalls ein Verdienst der Entwicklung von Gebrauchsparametern. So hat sich herausgestellt, dass diese semantische Kopplung durch die Parameter der Gebrauchsregel bedingt ist. Die zweckrationalen Entscheidungen der Sprecher, die ein Wort zum Ausdruck einer bestimmten Absicht (z. B. Evaluation oder Emotion) verwenden, spiegeln sich auf der Struktur der Bedeutung eines Verbs, also in Form von Parameterveränderungen direkt wider. Die Bedeutungsveränderung ist ein makrostruktureller Effekt der mikrostrukturellen Entscheidungen und sprachlichen Verhaltensweisen. Die Kopplung zwischen der Absicht des Sprechers und der Veränderung der Wortbedeutung, also der Gebrauchsregeländerung, findet ihre Ausprägung in der Veränderung der Parameterstruktur der Gebrauchsregel. Man kann sich diese Veränderung wie das Wirken zweier Waagschalen vorstellen: In jeder Wortbedeutung wirken auf der Strukturebene nicht nur ein Parameter, sondern eine Vielzahl von bedeutungsbestimmenden Elementen. Je nachdem, mit welcher Absicht ich ein Wort gebrauche (und hier sei einschränkend gesagt, dass ich nicht jedes Wort beliebig mit Bedeutung aufladen kann), verändert sich das Gewicht der Parameter innerhalb der Gebrauchsregel. Der absichtsvolle Wortgebrauch (als sprachliche Realisierung) bestimmt das Verhältnis der Bedeutungsparameter zueinander und verändert beim Bedeutungswandel die Gewichtung der Waagschalen: Will ich sagen, dass jemand zu viel Alkohol trinkt und zugleich und primär ausdrücken (aber nicht sagen), dass mir dieses Verhalten missfällt, verwende ich ein Verb aus dem Tierreich. Ich sage Horst säuft zu viel und meine Horst trinkt zu viel Alkohol und das gefällt mir nicht. Indem ich durch die metaphorische Verwendung (die mir aufgrund meiner sprachlichen Kompetenz und der Konventionalisierung des abweichenden Wortgebrauchs für dieses Verb möglich ist) das Verb saufen auf einen Menschen mit Namen Horst bezie- 384 he, verändere ich unbewusst (quasi als semantischer Effekt) die innerstrukturelle Gewichtung der Bedeutungsparameter. Die wahrheitsfunktionalen Parameter der äußeren Welt treten hinter die bewertenden Parameter zurück und dadurch gewinnt das Verb an evaluativer Hauptbedeutung. Dasselbe gilt auch für eine Reihe anderer Bedeutungsentwicklungen, die sich in Kapitel 8 als Pfade aufzeichnen ließen. Neben evaluativen Parametern können insbesondere soziale, diskursive oder kognitivmentale Parameter semantisch wirksam werden. So verstanden ist die Veränderung der Verbbedeutung (das gilt aber auch für alle anderen Wortarten) unmittelbar mit den zweckrationalen Entscheidungen und dem intentionalen sprachlichen Handeln der Sprecher über die Bedeutungsparameter als strukturelle Elemente der Bedeutung gekoppelt: Verändert sich der Wortgebrauch, verändert sich auch die Parameterstruktur und dadurch letztlich die Bedeutung eines Wortes. Diese semantische Kopplung stellt ein funktionales Erklärungsmodell für semantischen Wandel dar, das in den bisherigen Untersuchungen entweder nicht erkannt oder für nicht beschreibbar (und damit auch nicht klassifizierbar) gehalten wurde. Die Herausarbeitung dieser Theorie der Semantischen Kopplung ist der dritte Aspekt, der eine wortartübergreifende Erklärung semantischen Wandels erlaubt. Dass diese Kopplung auch die in der Semasiologie vertretene strikte Trennung zweier grundlegender Dimensionen des semantischen Wandels überwinden kann, ist ebenfalls ein Befund, den die vorliegende Arbeit zu Tage gefördert hat. Gemeint ist die Auflösung der traditionellen Dichotomie Pragmatische Strategie vs. Semantisches Verfahren (bzw. Semantische Entwicklung). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass über einen geeigneten Bedeutungsbegriff (nämlich einen gebrauchstheoretischen) und über ein allgemeines Modell zur Erklärung von Sprachwandel, das die Ziele des Sprechers mit den Effekten auf der Ebene der Sprache verknüpft, mit Hilfe einer strukturellen Analyse (die Entwicklung der Parameterstruktur bzw. der Taxonomie von Bedeutungsparametern) die Kopplung hergestellt werden kann, die zwei bislang isoliert betrachtete Dimensionen miteinander in Einklang bringt. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren ist ein mögliches Modell für die Erklärung semantischen Wandels und geht damit über die deskriptiven Ansätze der klassischen Semantikforschung hinaus. Es handelt sich bei diesem Zusammenspiel um eine Verkettung; isoliert betrachtet besitzt keines der drei Kettenglieder eine wirkliche explanative Kraft. Ein gebrauchstheoretischer Bedeutungsansatz verrät noch wenig über die Prozesse, die zu Veränderungen der Gebrauchsregel (und damit zu Bedeutungsveränderungen) führen. Die Herleitung von Bedeutungsparametern ist somit eine logische Konsequenz, wenn man sich 385 nicht damit begnügen möchte, Gebrauchsregeln als abstrakte Konstrukte begreifen zu wollen. Es war bislang eine unbeachtete Tatsache, dass zweckrationales Handeln auf der Ebene des Sprechers zu Veränderungen der Wortbedeutung führen kann und dass es ergo auch zu einer Veränderung der Gebrauchsregel kommt. Was aber auf der Strukturebene der Wortbedeutung, also innerhalb der Gebrauchsregel geschieht, das blieb bislang ohne jede Beachtung. Allerdings ist allein durch die Formulierung von Bedeutungsparametern auch noch nicht viel gewonnen. In einem ersten Schritt taugen sie lediglich (aber immerhin) dazu, Wörter klassifizieren zu können. Erst wenn man - wie hier geschehen - eruiert, welche Veränderungen sich auf der makrostrukturellen Ebene feststellen lassen und überprüft, in wie weit sich dabei die innere Struktur der Bedeutung verändert, wie also im Zuge des Wandels die Bedeutungsparameter innerhalb der Gebrauchsregel variieren, gelangt man zu der Einsicht, dass bestimmte Pfade der Bedeutungsentwicklung durch eben diese Variation entstehen können. Dass sich die Gebrauchsregelveränderungen in Form von Parameterverschiebungen als zweckrationale Entscheidungspfade aufzeichnen lassen, ist dann nur noch eine logische Folge. Der Sprecher folgt dabei immer einer oder mehreren pragmatischen Strategien. Im Zuge dessen bringt er unintendiert und unreflektiert neue Gebrauchsparameter in die Gebrauchsregel eines Wortes ein. Die Folge, also der makroskopische Effekt ist dann die Veränderung der Gebrauchsregel und - da wir für dieses Erklärungsmodell einen instrumentalistischen Bedeutungsansatz anlegen müssen - damit die Veränderung, also der Wandel der Wortbedeutung. Die semantischen Verfahren, die sich daraus ergeben, sind ebenfalls auf einer konkreten Ebene nichts als Effekte der Gebrauchsregelveränderung infolge von Parameterverschiebungen. Die semantischen Verfahren, so konnte ich zeigen, haben etwas mit der semantischen Eignungsfähigkeit des sprachlichen Zeichens zu tun, sind aber für die Erklärung semantischen Wandels von untergeordnetem Wert. Ein Verb eignet sich aufgrund von Bildhaftigkeit besser als ein anderes, um eine neue abstrakte Bedeutung zu erhalten. Aber der bildhafte Vergleich ist als semantisches Verfahren nur eine Beschreibung des wie, nicht aber des warum (und damit keine Erklärung). Ein Verb verändert seine Bedeutung nicht deswegen, weil ich es z. B. metaphorisch verwende. Es ändert seine Bedeutung, weil ich durch meine intentionale sprachliche Handlung, also durch die meinen pragmatischen Zielen folgende abweichende Wortverwendung zu einem bestimmten kommunikativen Zweck, aber unbewusst und ungewollt, die Parameterstruktur des Verbs verändere - und dieser zweckrationale Eingriff in die Struktur der Wortbedeutung ist nicht bei jedem Verb in gleichem Maße möglich, sondern ggfs. nur bei Verben, die sich dazu aufgrund eines bildhaften Charakters besonders eignen. 386 Bevor ich abschließend noch einige ausblickende Gedanken äußere, möchte ich die Ergebnisse dieser Arbeit kurz resümieren, wobei ich die vielen Einzelaspekte, die sich im Laufe der Untersuchung ergeben haben, an dieser Stelle nicht noch einmal explizit mit aufführe; ich verweise stattdessen auf die Ergebniszusammenfassungen, die ich den einzelnen Kapiteln angefügt habe. Als zentrale Ergebnisse dieser Arbeit lassen sich insbesondere festhalten: 1. Verbaler Bedeutungswandel ist kein chaotisches Phänomen; er lässt sich als Mittel-Zweck-Relation auf vielfältige Weise abbilden. 2. Wir gelangen darüber zu einer strukturellen Kategorisierung semantischen Wandels bei Verben; Mittel-Zweck-Relationen führen auf einer Abstraktionsebene zu semantischen Wandelpfaden. 3. Semantische Wandelpfade sind keine reinen Einbahnstraßen. In manchen Fällen ist Bedeutungswandel umkehrbar. In einem Fall kann sogar eine zirkuläre Bedeutungsentwicklung nachgewiesen werden. 4. Für die Herleitung von Pfaden des Bedeutungswandels ist ein gebrauchstheoretischer Ansatz zu wählen. 5. Bedeutungswandel manifestiert sich gebrauchstheoretisch als eine Veränderung der Dominanz von Bedeutungsparametern. 6. Bedeutungsparameter können als semantische wirksame Elemente Gebrauchsregeln strukturell abbilden. 7. Sprecherabsichten und die sprachliche Realisierung dieser Absichten sind über die Veränderungen der Parameterstruktur eines Wortes aneinander gekoppelt (Semantische Kopplung). 8. Als sprachliches Makrophänomen folgt Bedeutungswandel einem kumulativen Auswahlprozess (invisible-hand-Prozess). 9. Verben lassen sich mit Hilfe der entwickelten Bedeutungsparameter klar kategorisieren; die pragmatische Nutzungsfähigkeit eines Wortes wird entscheidend durch die semantische Struktur der Bedeutungsparameter bestimmt. 10. Assoziative Verfahren spielen beim Bedeutungswandel eine Rolle, können diesen aber nicht ausreichend erklären; sie liefern in erster Linie deskriptive Befunde. 11. Die Karte der semantischen Wandelpfade im Deutschen konnte mit Hilfe der entwickelten Parameter als semantisch wirksame Elemente entscheidend erweitert werden: Besonders der oftmals als generelles Prinzip beschriebene Wandel vom Konkreten zum Abstrakten findet hier eine mögliche und erklärungsadäquate Abbildung. 387 12. Bedeutungswandel ist kein abgeschlossener Prozess und findet fortlaufend statt. Frequenz der Wortverwendung ist hier ein ebenso entscheidender Faktor wie Veränderungen der Sprecherabsichten. 13. Bedeutungswandel ist daher nicht vorhersagbar, erlaubt über die Betrachtung von semantischen Pfaden allenfalls gewisse Trendextrapolationen. Neben diesen zentralen Ergebnissen hat die vorliegende Arbeit eines zeigen können: Wortbedeutungen lassen sich durch das Wirken von Bedeutungsparametern bestimmen. Nicht nur der Wandel und die Genese von neuen Wortbedeutungen können dadurch erklärt werden, auch die Struktur einer Gebrauchsregel kann nun mit Hilfe der entwickelten Bedeutungsparameter aufgebrochen werden. Auch wenn diese Untersuchung hier endet, weil die möglichen Pfade des verbalen Bedeutungswandels, deren Aufdeckung ich zu Beginn der Arbeit zum Ziel hatte, in Kapitel 8 skizziert werden konnten und damit die eigentliche Fragestellung dieser Arbeit beantwortet ist, darf man die Suche nach Wandelpfaden nicht als beendet verstehen: Eine weitere Beschäftigung mit den hier entworfenen Parametern von Wortbedeutungen wäre sicher ebenso interessant wie eine Adaption der gewonnenen Ergebnisse auch auf andere Wortarten. Dass sich interessante Ergebnisse einstellen können, zeigt ein Seitenblick auf die Semantik der Substantive: Es gibt neben bewertenden Adjektiven und Verben sicher auch in dieser Wortart bewertende Ausdrücke (Holzkopf, Spinner), die durch metaphorischen Wortgebrauch, also über einen semantischen Wandel, entstanden sind. Auch kognitiv-mentale Substantive lassen sich im Deutschen nachweisen, wie etwa die Ausdrücke Begriff oder Entdeckung vermuten lassen. Zudem gibt es auch Substantive, die expressiv verwendet werden können (z. B. Säufer). Es zeigt sich: Die Wortbedeutungen auch anderer Wortarten im Deutschen werden durch das Wirken außersprachlicher Bedeutungsparameter bestimmt. Auch in diesen Fällen lässt sich vermuten, dass es eine Kopplung gibt zwischen der sprachlichen Realisierung und bestimmten kommunikativen Absichten der Sprecher. Hier eine ähnliche Analyse anzustellen, wie sie mit der vorliegenden Arbeit zur Verfügung steht, ist sicher interessant und kann helfen, die Karte der Wandelpfade im Deutschen noch weiter zu modifizieren. Ziel einer weiteren Betrachtung könnte es also sein, den kompletten Wortschatz des Deutschen über eine gebrauchstheoretische Methode abzubilden und wortartübergreifende Tendenzen herauszustellen. Dass Bedeutungswandel bei Verben in manchen Fällen ähnlich, in anderen Fällen jedoch ganz anders entstanden ist, als es für den Adjektivwandel anzunehmen ist, zeigt zumindest die Möglichkeit auf, dass die gebrauchs- 388 theoretische Untersuchung anderer Wortarten noch weitere Wandelpfade ans Licht bringen könnte. Ob die Karte der semantischen Pfade im Deutschen derzeit noch weiße Flecken aufweist, lässt sich ohne eine weitergehende Beschäftigung nicht beantworten. Möglicherweise lassen sich noch andere, bisher unbekannte Bedeutungsparameter identifizieren, die weder bei Verben noch bei Adjektiven auf den Plan getreten sind und die daher noch im Verborgenen liegen. Möglicherweise ergeben sich auch sprachübergreifend Regularitäten. Die hier entwickelten Bedeutungsparameter lassen sich sicher auch im Wortschatz anderer Sprachen nachweisen. Aber welche Parameter sind es, die z. B. im Englischen wirksam sind? Wie werden Gebrauchsregeln im Spanischen bestimmt? Verfolgen Sprecher in anderen Kulturkreisen andere kommunikative Absichten als wir? Ergeben sich daraus dann andere Mittel-Zweck-Relationen und somit abweichende Pfade des Bedeutungswandels? Und werden Sprecherabsichten in anderen Sprachen auf gleiche Weise sprachlich realisiert, wie es im Deutschen der Fall ist? Solche und ähnliche Fragen könnten sich ebenfalls an diese Untersuchung anschließen. Auch wenn nicht klar ist, wie die Antworten im Einzelnen lauten werden - dass sich die Fragen mit Hilfe der Theorie der Bedeutungsparameter beantworten lassen, halte ich zumindest für wahrscheinlich. Insofern könnte diese Arbeit dazu anregen, die etwas still gewordene Diskussion über die Frage der Klassifizierbarkeit und Strukturierbarkeit von Wortbedeutungen wieder in den Fokus der linguistischen Forschung zu rücken und ihr neues Leben einzuhauchen. Enden möchte ich mit einem Zitat des Philosophen K ARL P OPPER , das mich durch diese Arbeit begleitet hat und das in besonderem Maße den Blick für weitere semantische Untersuchungen öffnen kann: Es gibt keine Autorität der Wissenschaft. Die Wissenschaft ist etwas Wunderbares. Trotzdem wissen wir nichts. Das heißt, in unserer Wissenschaft stecken viele Irrtümer. Das war immer so. Der wissenschaftliche Fortschritt besteht darin, diese Irrtümer zu finden und durch etwas Besseres zu ersetzen: durch eine bessere Hypothese. Er besteht darin, Irrtümer loszuwerden. 389 Literaturverzeichnis Historische Textkorpora A BRAHAM A S ANCTA C LARA : Judas der Erzschelm für ehrliche Leut’, oder eigentlicher Entwurf und Lebensbeschreibung des Iscariotischen Böswicht. Sieben Bände. In: Abraham a St. Clara’s. Sämmtliche Werke, Band 7, Passau: Friedrich Winkler, 1834-1836. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. Deutsches Sagenbuch: 187. Die Sassen und die Jüten. In: Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. [Leipzig: Georg Wigand, 1853]. ed. Karl Martin Schiller. Meersburg, Leipzig 1930. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. F ONTANE , Theodor: Effi Briest. In: Fontane, Theodor: Romane und Erzählungen, Band 7. Digitalisiert in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Digitale Bibliothek Band 125. G OETHE , Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Goethes Werke. 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Mögliche Entwicklungspfade deutscher Verben werden nachgezeichnet und als sprachliche Realisierungen zweckrationaler Sprecherabsichten aufgedeckt.