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Rollenfach und Drama

2014
978-3-8233-7842-6
Gunter Narr Verlag 
Anke Detken
Anja Schonlau

Komische oder ernste Alte, Intriganten, erste und zweite Liebhaber und Liebhaberinnen, Charakterdarsteller, Deutschfranzosen und Soubretten - das Rollenfachsystem strukturiert die europäische Theaterpraxis vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und prägt auch noch die zeitgenössische Dramenproduktion maßgeblich. Dies gilt für die Tagesproduktion von Iffland, Kotzebue und Schröder ebenso wie für kanonische Dramen von Lessing, Goethe und Schiller. Der Sammelband geht der Frage nach, welche Bedeutung das Rollenfachsystem für das deutschsprachige Drama im europäischen Kontext hat. Hinzu kommen Analysen zu ausgewählten französischen und englischsprachigen Theaterstücken. Generell ist von einer Wechselbeziehung zwischen Dramentext und zeitgenössischer Theaterpraxis auszugehen. Die literatur- und theaterwissenschaftlichen Beiträge des Bandes untersuchen in historischer Perspektive, wie sich die Stücke zu dieser grundlegenden Theaterkonvention verhalten. Der vorliegende Band möchte dazu anregen, das Forschungsfeld Rollenfach nach gut hundert Jahren wieder neu in den Blick zu nehmen.

Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 42 Anke Detken / Anja Schonlau (Hrsg.) Rollenfach und Drama Rollenfach und Drama Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 42 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) Anke Detken / Anja Schonlau (Hrsg.) Rollenfach und Drama Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelvignette des Erstdrucks von Ifflands Die J ger (1785). © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-6842-7 Inhalt Einleitung A NKE D ETKEN / A NJA S CHONLAU Das Rollenfach - Definition, Theorie, Geschichte ............................................ 7 1. Geschichte des Rollenfachs - Kontinuitäten und Brüche S USANNE W INTER Von der Maske zur Rolle, vom Magnifico zum Familienvater. Die Fächerrezeption der Commedia dell’arte am Beispiel Pantalones ......... 33 D IRK N IEFANGER Vorläufer des Rollenfachs? Dramatische Figurentypen und spezialisierte Schauspieler in der Frühen Neuzeit .................................. 49 R ÜDIGER S INGER Macbeth als Däumling? David Garrick, das tragische Heldenfach und die Kritiker ............................ 71 A XEL S CHRÖTER Die Rolle des Bösewichts in den Weimarer Mozartbearbeitungen der Goethezeit. Annotationen zur Don Giovanni- und Zauberflöten-Rezeption ........................ 91 G ERHARD K AISER Sympathy for the evil? Bösewichter in Schillers Räubern ................................ 107 J OHANNES B IRGFELD Konventionalität als Basis eines Theaters für das breite Publikum: Zum Rollenfach in Kotzebues Almanach dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande ......... 123 S TEFAN S CHERER Rollenfachironie. Zur komischen Relativierung des Rollenfachs in Tiecks Die verkehrte Welt mit einem Ausblick auf Thomas Bernhards Der Theatermacher ....................... 141 2. Differenzkategorien: Geschlecht, Rasse/ Nationalität, Klasse, Alter B ARBARA B ECKER -C ANTARINO Maske und Rollenfach: Zur Hosenrolle im Theater der Frühen Neuzeit ............................................... 159 M ARION L INHARDT Verwandlung - Verstellung - Virtuosität. Die Soubrette und die komische Alte im Theater des 19. Jahrhunderts ....... 181 H ANS -P ETER B AYERDÖRFER Judenrollen: Reflexionsinstanzen im Fächersystem ......................................... 197 R UTH F LORACK Capitano und Deutschfranzose: Komische Ausländer auf deutschen und französischen Bühnen ................... 225 N INA B IRKNER Figaro und sein Herr. Beaumarchais’ Bruch mit dem Rollenfach in Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro ......................................................... 241 Einleitung Anke Detken/ Anja Schonlau, Göttingen Das Rollenfach - Definition, Theorie, Geschichte “[E]rste, zweite, dritte Liebhaber, Helden, Intriguants [...], zärtliche Väter, polternde Alte, Vertraute, Soubretten [...], Anstandsrolle, Naturbursche, Dümmlinge, Bauern und niedrig-komische Rollen, Bedientenrollen usw.” 1 - In Zeiten des postdramatischen Theaters wirkt diese bunte Aufzählung gängiger Rollenfächer von 1851 nahezu skurril. Das Rollenfachsystem ist das zentrale Strukturprinzip der europäischen Theaterpraxis vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und prägt dadurch auch die zeitgenössische Dramenproduktion maßgeblich. Dies gilt für die Tagesproduktion - z.B. von Kotzebue und Iffland - ebenso wie für Dramen kanonisch gewordener Autoren wie Lessing, Goethe und Schiller. 2 Bereits 1975 stellen Wilfried Barner et al. fest: “Die Rückwirkung dieser feststehenden Rollenfächer auf das Literaturdrama des 18. Jahrhunderts kann man wahrscheinlich nicht hoch genug einschätzen”. 3 Dennoch findet diese Theaterkonvention seit langem kaum Beachtung in Theater- und Literaturwissenschaft. Immer noch maßgeblich sind die materialreichen, aber - nach gut 100 Jahren - methodisch veralteten theaterwissenschaftlichen Monographien von Diebold (1913) und Doerry (1926). 4 Der vorliegende Sammelband will dazu anregen, das Forschungsfeld Rollenfach wieder neu zu eröffnen, und versammelt dazu Beiträge aus Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft. Sein Fokus liegt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auf dem Wechselverhältnis zwischen Theaterkonvention und Dramentext. An der Georg-August-Universität Göttingen hat vom 1. bis zum 3. März 2012 das internationale DFG- 1 Benedict Anton Reichenbach: Neuster orbis pictus oder die sichtbare Welt in Bildern. 2 Bde. Leipzig 1845-1851. Bd. 2 (1851), S. 567. 2 Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. (Diss. Berlin 1926) Berlin 1926, S. 14-18; Wilfried Barner/ Gunter E. Grimm/ Helmuth Kiesel/ Martin Kramer: Lessing. Epoche - Werk - Wirkung. München [1975 1 ] 1998 6 (=Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 82f. 3 Barner 1998 6 , S. 82. 4 Doerry 1926; Bernhard Diebold: Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des achtzehnten Jahrhunderts. [Nachdr. d. Ausg.] Leipzig/ Hamburg 1913. Nendeln/ Liechtenstein 1978 (=Theatergeschichtliche Forschungen 25). Anke Detken/ Anja Schonlau 8 Symposium Rollenfach und Drama - Europäische Theaterkonvention im Text stattgefunden, aus dem dieser Sammelband hervorgegangen ist. Der Forschungsstand weist drei große Defizite auf, an denen sich die Gliederung des Bandes orientiert: Zum einen sind theoretische Fragen zum Rollenfach bislang in keiner Weise geklärt. Im Folgenden sollen darum in der Einleitung Überlegungen zur Definition des Rollenfachs, zum theoretischen Status in der Theater- und Dramentheorie und zum Verhältnis von Rollenfach und Dramentext vorgestellt werden. Zum zweiten fallen widersprüchliche Forschungspositionen und gravierende Lücken in Bezug auf die auffallend dynamische Geschichte des Rollenfachs auf. Der erste Teil des Bandes wird sich darum mit der Geschichte des Rollenfachs und ihren Kontinuitäten und Brüchen befassen. Drittens müssen die Kategorien, durch die die Rollenfächer definiert werden, reflektiert und analysiert werden. Der zweite Teil des Bandes untersucht darum die entscheidenden Differenzkategorien: Geschlecht, Rasse/ Nationalität, Klasse, Alter. Die Hochphase des Rollenfachsystems liegt im 18. Jahrhundert bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. 5 Es ist darum absehbar, dass viele Thesen durch die Theater- und Dramengeschichte dieses Zeitraums geprägt sind. Eine Besetzung nach Rollenfächern setzt beispielsweise voraus, dass gemäß dem Typ des Schauspielers besetzt wird. 6 I. Definition Ein vorrangiges Forschungsproblem ist die Definition des Rollenfachs. Der Begriff bezieht sich ursprünglich auf den für den einzelnen Darsteller gesondert ausgeschriebenen Text auf einem Blatt in Rollenform. 7 Zwar ist sich die Forschung über die Bestimmung des Rollenfachs als “ein[e] Gesamtheit von - in gewisser Beziehung - ähnlichen Rollen” 8 seit Diebold weitgehend einig, soweit sich bei den wenigen verstreuten Aussagen überhaupt von einem Forschungskonsens sprechen lässt. 9 Diebolds interpretationsfähiger Einschub “in gewisser Beziehung” zeigt jedoch, dass hier Unklarheiten bestehen. Es ist umstritten, (1.) worauf diese Ähnlichkeit genau beruht und (2.) welche Differenzkriterien das Rollenfach jeweils ausmachen. Zu klären ist, welche Kriterien als fester Merkmalsatz von Eigenschaften angesehen 5 Vgl. Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982, S. 157-168. 6 Für die jüngere Theatergeschichte erscheint das wenig sinnvoll, da der Dramentext meist eine größere Rolle spielt als ein bestimmter Schauspieler. 7 Christoph Trilse/ Klaus Hammer/ Rolf Kabel (Hgg.): Theaterlexikon. Berlin 1977, S. 450. 8 Diebold 1913, S. 9. 9 Doerry verweist hier auf Diebolds Definition, obwohl er auf dem Rollenfach als Besetzung nach dem “künstlerischen Prinzip” insistiert. Doerry 1926, S. 9. Das Rollenfach 9 werden können; dabei sind Geschlechts-, Alters-, Standes- und Nationalitätsbzw. Rassenzugehörigkeit zu diskutieren. (1.) Die wenigen Forschungsdefinitionen betonen zumeist das darstellerische Vermögen als Ähnlichkeitsmerkmal und beziehen die Funktion des Rollenfachs in die Definition ein. Häufig zitiert wird Maurer-Schmoocks vergleichsweise aktuelle Beschreibung des Rollenfachs von 1982 als “ein praktikables Prinzip der Organisation, der Engagementsmodalitäten und der Rollenverteilung”, welches “den konkreten künstlerischen Wirkungsradius des jeweiligen Darstellers aufgrund dessen Temperaments und Naturells” 10 bezeichne. 11 Im Jahr 1846 - während das Rollenfachsystem noch Geltung hat -, beschränkt sich die neue Ausgabe des Allgemeinen Theater-Lexikons von Richard Blum, Karl Herloßsohn und Hermann Marggraff bei der Definition auf das künstlerische Vermögen: “Die Gesammtheit einer Rollengattung, für die ein Darsteller körperlich und geistig besonders befähigt ist, wird das F.[ach] (emploi franz., line of character engl.) desselben genannt”. 12 Genauer unterscheidet Diebold in seinem Standardwerk von 1913 zwischen einer Einteilung der Fächer nach der Ähnlichkeit der “darstellerischen Kunstmittel” für die Rollen - worunter er Talent, Technik, und Körper versteht - und der literarischen Ähnlichkeit der Rollen. 13 Er differenziert die Ähnlichkeit somit entweder nach dem darstellerischen Vermögen oder nach der literarischen Figur. 14 Wie genau lässt sich das im Einzelfall unterscheiden? Das Rollenfach der jugendlich-naiven Agnese, nach einer beliebten Figur aus Molières École des femmes (1662) benannt, ist demnach ein literarisches Fach. 15 Es erfordert aber körperlich Jugend und Schönheit, wenn auch nicht unbedingt viel Talent oder eine aufwendige Schauspieltechnik. Wird die Funktion in die Definition einbezogen, so ist nach Diebold die “zweckmäßig[e] Rollenverteilung innerhalb desselben Stückes nach den künstlerischen Individualitäten der Schauspieler” 16 zu berücksichtigen. Allerdings dürfte eine Verteilung allein nach den künstlerischen Fähigkeiten den Ideal- 10 Maurer-Schmoock 1980, S. 159. 11 Ähnlich definiert Doerry zunächst: “Rollenfach ist eine auf der verschiedenen Zusammensetzung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten beruhende Einteilung der schauspielerischen Talente” und ergänzt dann: “Es hat eine künstlerische und eine wirtschaftliche Seite”. Doerry 1926, S. 2. 12 Entsprechendes gilt auch für die erste Auflage. L. Storch: Fach. In: Richard Blum/ Karl Herloßsohn/ Hermann Marggraff (Hgg.): Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyclopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde 1839- 42 1 , Neue Ausgabe 1946. Bd. 3, S. 222-225, hier S. 222. 13 Diebold 1913, S. 9f. 14 Diebold spricht hier vom “Typenfach”, was wegen der Nähe zum literaturwissenschaftlichen Begriff des ‘Figurentypus’ vermieden werden soll. Ebd. 15 Vgl. zu den Agnese-Rollen Blum/ Herloßsohn/ Marggraff (Hgg.) 1946. Bd. 1, S. 40; vgl. Diebold 1913, S. 22f. 16 Ebd., S. 11. Anke Detken/ Anja Schonlau 10 fall aus künstlerischer Perspektive darstellen. Ebenso wichtig für das Rollenfachsystem ist aber seine praktische Funktion, also auf der einen Seite das Gewohnheitsrecht, aus dem der Rechtsanspruch der Schauspieler erwächst. Auf der anderen Seite steht das Interesse der Direktion an einer problemlosen Rollenverteilung gemäß dem Textbedarf angesichts eines beschränkten Pools an Schauspielern. Aus diesen Überlegungen ergibt sich zunächst folgende Definition: Ein Rollenfach vereinigt Rollen, die einander in Bezug auf die darstellerischen Anforderungen (Talent, Technik, Körper) und/ oder in Bezug auf die literarische Figur ähnlich sind. Die Zuordnung der Rollen zu bestimmten Rollenfächern - wie auch die entsprechende Einteilung der Schauspieler - dient der funktionalen Rollenverteilung innerhalb eines Theaterstücks. (2.) Welche Differenzkriterien machen das Rollenfach aus? Häufig zitiert wird Maurer-Schmoocks Zusammenfassung: “Neben der Einteilung in komisches und tragisches Fach wird unterschieden zwischen Alter, Stand, ersten Rollen und Chargenspielern”. 17 Abgesehen davon, dass diese Aufzählung in Bezug auf die Differenzkategorien unvollständig ist, muss kategorial zwischen der Gattung, den Differenzkategorien und dem Fachstatus unterschieden werden: Die gattungsspezifische Einteilung in tragisches und komisches Fach ist grundlegend. Jede ernste Rolle hat in der Regel ein komisches Pendant, z.B. steht der ernsten Mutter eine komische Mutter bzw. eine komische Alte gegenüber. Unterlaufen wird die Gattungsdichotomie im 18. Jahrhundert von den neuen bürgerlichen Gattungen. Das bürgerliche Trauerspiel und das Familienrührstück benötigen ‘zärtlich’ genannte Rollen, insbesondere den zärtlichen Vater und die zärtliche Mutter, gelegentlich auch die zärtliche Liebhaberin. 18 Darüber hinaus muss nicht jede komische Alte notwendig komisch sein, da Gattungsbezeichnungen gerade im späten 18. Jahrhundert nicht den heutigen Definitionen entsprechen; die historische Benennung eines Stückes als ‘Komödie’ reicht aus, um die darin enthaltenen Rollen den komischen Fächern zuzuschreiben, die dann ‘hochkomisch’ genannt werden. Wo verläuft die Grenze zwischen den Rollenfächern, die durch den Gegensatz von ‘tragisch’ und ‘komisch’ nicht erfasst werden? Ernste und zärtliche Rollenfächer werden gegen Ende des 18. Jahrhunderts häufig durch denselben Schauspieler vertreten; diesen beiden Gruppen stehen dann die komischen Fächer gegenüber. Diese Beobachtung entspricht weitgehend Diebolds Unterscheidung zwischen komischen Rollen und Charakterrollen auf der einen Seite und tragischen Rollen, Heldenrollen sowie Liebhabern 17 Maurer-Schmoock 1982, S. 159f. 18 Zu den zärtlichen Rollen vgl. Anja Schonlau: „Zärtliche Rollen und zweyte Liebhaberinnen“ - Rollenfach und Geschlecht im Drama des 18. Jahrhunderts. In: Der Deutschunterricht 62/ 6 (2010), S. 82-87. Das Rollenfach 11 auf der anderen Seite. 19 Welche praktischen Folgen diese Einteilung hat, ist nicht eindeutig. Einerseits sind sich Zeitgenossen und Forschung darüber einig, dass sich eine Schauspielerlaufbahn innerhalb einer Gattung bewegt und ein Schauspieler bzw. eine Schauspielerin tendenziell von einer Anfängerrolle zum langjährigen Fach wechselt und dann altersbedingt zu den Vätern oder Müttern übergeht. Im 18. Jahrhundert etwa wird die Soubrette zur komischen Alten, der erste Liebhaber zum ernsten oder zärtlichen Vater. Allerdings gibt es auch genügend Gegenbeispiele. 20 In der Praxis ist diese Unterscheidung häufig erstaunlich unwichtig. Gerade in kleineren Theatern bzw. Schauspieltruppen werden Schauspieler verpflichtet, gleichermaßen ernste/ zärtliche und komische Rollen zu spielen. 21 Hinzu kommt, dass für den Akteur häufig “die Gattungsfrage bedeutungslos” ist, denn die “Art seines Spiels” bleibt “die gleiche, unabhängig vom Ausgang des betreffenden Stücks”. 22 Eine größere Rolle als die Gattungszuschreibung spielen die Differenzkriterien der Geschlechts-, Alters-, Standes- und Nationalitätsbzw. Rassenzugehörigkeit für die Definition eines Rollenfachs. Dabei ist das Kriterium der Geschlechtszugehörigkeit fraglos und unangetastet, während die Differenzkategorien ‘Alter’ und ‘Klasse’ zwar mit körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Schauspieler und Schauspielerinnen in Verbindung stehen, aber dynamisch zu sehen sind. • Das Geschlecht ist ein zentrales und historisch unbestrittenes Differenzierungsmerkmal der Rollenfächer; das (weibliche) Rollenfach der Beinkleiderrollen arbeitet mit dieser Differenzierung, nicht gegen sie. Sowohl für das 18. Jahrhundert als auch das 19. Jahrhundert nimmt die Forschung an, dass alle weiblichen Fächer eine Tendenz zum ‘Liebhaberischen’ haben und weniger zum Charakterfach neigen. 23 • Deutlich nach Stand unterschiedene Rollenfachkomplexe sind Anstandsrollen und Bedienstete. Die Anstandsrollen umfassen neben der Königsfamilie auch das gesamte Hofpersonal wie Chevalier und Hofdame, wobei der Intrigant eine Sonderstellung einnimmt. Nicht jedem Schauspieler wird im 18. Jahrhundert der Hofton zugetraut, so wie nicht jeder Akteur 19 Vgl. die Einteilung bei Diebold 1913, S. 13-18 und S. 18-24. 20 Das von Düringer und Barthels 1841 herausgegebene Theater-Lexikon widmet diesem Umstand einen eigenen Abschnitt, indem der Zeitpunkt des Übergangs von einem in ein anderes Rollenfach problematisiert wird; Rollenfach. In: Philipp Jakob Düringer/ Heinrich Ludwig Barthels (Hgg.): Theater-Lexikon. Theoretisch-practisches Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters. Leipzig 1841, Sp. 941- 943, hier Sp. 942f. 21 Edward P. Harris: Lessing und das Rollenfachsystem. Überlegungen zur praktischen Charakterologie im 18. Jahrhundert. In: Wolfgang Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992, S. 221-235, hier S. 226. 22 Ebd., S. 224. 23 Diebold 1913, S. 138; Doerry 1926, S. 11. Anke Detken/ Anja Schonlau 12 ein guter Bedientenspieler ist. Bei der Dienerschaft ist zwischen größeren Rollen mit Tendenz zum Charakterfach und kleinen Anmelderollen zu unterscheiden. 24 • Das Alter wird im 18. Jahrhundert nicht als differenzierendes Merkmal für das Rollenfachsystem reflektiert, es ist aber zentral für die Definition der Fächer. Während der Übergang von den (jüngeren) zweiten zu den ersten Liebhaberrollen stärker durch schauspielerische Erfahrung als durch Alter definiert ist, ist der Schritt zu den Mütter- und Väterrollen in erster Linie durch das Alter bedingt und stellt einen markanten Einschnitt in der Schauspielerlaufbahn dar. Das ist vor allem ein Problem für die Schauspielerinnen, denn Rollen für ältere Frauen sind selten und künstlerisch wie finanziell deutlich weniger attraktiv. Der (alte) Vater ist hingegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lange die erste Rolle auf dem Theaterzettel und er wird meist vom Direktor beansprucht. In welchem Verhältnis das Alter der Rolle zum Alter des Schauspielers genau steht, ist letztlich von der Praxis abhängig. So vermutet Diebold, dass Fürst Kaunitz, der künstlerische Beirat des Wiener Nationaltheaters, den berühmten Schauspieler Brockmann nicht als ersten Liebhaber engagiert, weil er möglicherweise mit 34 Jahren als zu alt für das Fach erscheint. 25 Offensichtlich kann aber ein besonders renommierter Schauspieler wie Ekhof auch im Alter noch jugendliche Rollen beanspruchen. 26 Und von dem jungen Schröder ist bekannt, dass er schon mit 29 Jahren Väter spielte. 27 • Einige Fächer fokussieren Rassenbzw. Nationalstereotype. Eines der wichtigsten und vergleichsweise gut erforschten deutschen Rollenfächer ist das Rollenfach des Juden. 28 Hier ist zwischen den großen ernsten Rollen und den niedrig-komischen Rollen zu unterscheiden, die sich durch jiddischen Sprachwitz auszeichnen. Den höchsten Anteil an Nationalstereotypen haben französisch orientierte Fächer, nicht zuletzt, weil das deutsche Theater mit den französischen Stücken z.T. auch die Rollenfächer übernommen hat. 29 Ihre munteren Chevaliers und Bonvivants zeichnen sich in unterschiedlichem Maße durch nationaltypisch gemeinte Stereotype aus und werden im frühen 19. Jahrhundert zu chargierten 24 Vgl. zu den Anmelderollen Blum/ Herloßsohn/ Marggraff (Hgg.) 1846. Bd. 1, S. 105f. 25 Diebold 1913, S. 20. 26 Ebd., S. 11. 27 Ebd., S. 103. 28 Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer/ Jens Malte Fischer (Hgg.): Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Tübingen 2008. 29 Vgl. zu den französischen Rollenfächern Storch 1846, hier S. 224. Das Rollenfach 13 Rollen. Der bekannte Deutschfranzose ist eine Erfindung der Aufklärung. 30 Er wird als zweites oder drittes Rollenfach eines Schauspielers angegeben; zu einem ersten Fach avanciert er nicht. Dieses Rollenfach gilt als komische Anstandsrolle und zeichnet sich besonders durch Sprachkomik aus. 31 Zentral für die Definition der Fächer ist die Unterscheidung von Haupt- und Nebenrollen, wobei die Hauptrollen als erste Rollen bzw. erste Fächer bezeichnet werden. 32 Das Allgemeine Theaterlexikon zählt dazu 1846 unter dem Lemma “Erstes Fach” folgende Fächer auf: Zu den ersten Fächern gehören der Held (der Heldenvater, der jugendliche Held), der erste Liebhaber, der Bonvivant, die große komische Charakterrolle, der Intriguant, der Komiker, die tragische Mutter (Heldenmutter), die erste Liebhaberin (tragische oder kokette) und die komische Alte. 33 Bei dieser Aufzählung von der Mitte des 18. Jahrhunderts fehlt allenfalls die Soubrette, die zu dieser Zeit zu einem wichtigen Fach avanciert und mit der koketten Liebhaberin nur bedingt übereinstimmt. 34 Der Intrigant ist zu diesem Zeitpunkt ein dramenpoetisch eigentlich überholtes Rollenfach, das sich auf dem Theater aber immer noch hält. 35 Mit der Unterscheidung zwischen ersten Fächern und Nebenfächern geht eine der besonderen Qualitäten des Rollenfachs einher, der Status: Da das Rollenfach sich auf die realen Schauspieler bezieht, handelt es sich um eine Kategorie, die dem internen Theaterbetrieb zuzuordnen ist. Das innerbetriebliche Organisationssystem baut nicht einfach auf gleichwertig nebeneinanderbestehenden Eigenschaften der Schauspieler auf, sondern bestimmt die Position und Geltung des Schauspielers innerhalb der Truppenhierarchie, die durch den Besitz eines bestimmten Faches festgelegt werden. 36 Neben dem gesellschaftlichen Ansehen hängt auch der finanzielle Verdienst mit dem ‘Besitz’ eines ‘Faches’ zusammen. 37 Wie stark der Status des Rollenfachs sich auf das Ansehen des Schauspielers im realen gesellschaftlichen Kontext auswirkte, zeigen Titulierungen, die den Zusammenhang zwischen Schauspieler und Rolle offen- 30 Vgl. zur Figur des Deutschfranzosen Katharina Middell: Der „Deutsch-Franzos“. In: Thomas Höpel (Hg.): Deutschlandbilder - Frankreichbilder 1700-1850: Rezeption und Abgrenzung zweier Kulturen. Leipzig 2001, S. 199-220. 31 Vgl. mit Blick auf das Rollenfach des Deutschfranzosen Diebold 1913, S. 101-103. 32 Urs H. Mehlin: Die Rollenfächer. In: Ders.: Die Fachsprache des Theaters. Eine Untersuchung der Terminologie von Bühnentechnik, Schauspielkunst und Theaterorganisation. Düsseldorf 1969 (=Wirkendes Wort 7), S. 320-356, hier S. 203. 33 Louis Schneider: Erstes Fach. In: Blum/ Herloßsohn/ Marggraff (Hgg.) 1946. Bd. 3, S. 199. 34 Vgl. Diebold 1913, S. 133f. 35 Zum Intriganten vgl. Diebold 1913, S. 97-99. 36 Maurer-Schmoock 1982, S. 157f. 37 Henning Rischbieter (Hg.): Theater-Lexikon. Zürich 1983, Sp. 1081. Anke Detken/ Anja Schonlau 14 sichtlich machen. So wurden in den Zeiten der Harlekinaden und der Haupt- und Staatsaktionen die Schauspieler in der Öffentlichkeit entsprechend ihrem Rollenfach angesprochen, etwa als “Herr Königsagent”, “Harlekin” oder “Pantalon”. 38 Zu klären bleibt, wie die Kriterien der Gattungs-, Geschlechts-, Alters-, Klassen- und Nationalitätsbzw. Rassenzugehörigkeit sowie des Rollenstatus’ zu hierarchisieren sind und ob diese Kriterien als fester Merkmalsatz von Eigenschaften angesehen werden können. An erster Stelle steht bei der Zuordnung zu einem Rollenfach sicherlich die Geschlechtszugehörigkeit, die in der Geltungsphase des Rollenfachsystems nicht unterlaufen wird. An zweiter Stelle ist die Alterszugehörigkeit anzusetzen, die - soweit derzeit zu übersehen ist - zwar in Notfällen und von Ausnahmeschauspielern wie Ekhof gegenläufig besetzt werden kann. Aber auch Ekhof muss sich den Vorwurf der ‘Rollensucht’ gefallen lassen, als er im Alter noch jugendliche Rollen spielt. 39 Klassen-, Nationalitäts-/ Rassen- und Gattungszugehörigkeit einen Rollenfachs hängen mit der schauspielerischen Befähigung der Rollenfachinhaber zusammen und sind grundsätzlich variabel, ebenso wie der Rollenfachstatus. Insgesamt ist zu bedenken, dass das Rollenfach durch seinen historisch stark variierenden Praxisbezug eine vergleichsweise ‘weiche’ Theaterkonvention ist, die sich der wissenschaftlichen Untersuchung stärker verweigert als etwa die szenische Dramaturgie, mit der die Shakespeare-Forschung erstmals die Bedeutung von Theaterkonventionen für den Dramentext erforscht hat. 40 II. Theorie Welchen theaterbzw. dramentheoretischen Status das Rollenfach hat, ist bislang entsprechend ungeklärt. Es wurde bereits deutlich, dass das Rollenfach eine historisch gewachsene Konvention des europäischen Theaters ist, die sich aus der Besetzung ähnlicher Theaterrollen durch eine begrenzte Anzahl Schauspieler entwickelt hat. Harris sieht hier ein “Ineinandergreifen 38 Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst. 2 Bde. Neu-Ausgabe. Berlin 1905. Bd. 1, S. 114. 39 Diebold 1913, S. 11. Der einschlägige Forschungsstand ist unübersichtlich. Pierre Rémond de Sainte Albine (1699-1778) kritisiert z.B. die Gewohnheit der Pariser Bühnen, eine junge Actrice eine ‘Alte’ spielen zu lassen. Vgl. Jens Roselt: Schicklich und empfindsam. Der ‚heiße‘ Schauspieler bei Pierre Rémond de Sainte Albine. In: Ders. (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barockbis zum postdramatischen Theater. Berlin 2005, S. 96-101, hier S. 98. 40 Vgl. Andreas Höfele: Die szenische Dramaturgie Shakespeares: Dargestellt an Titus Andronicus, Romeo und Juliet und Macbeth. Heidelberg 1976; Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft. 4. durchgesehene Auflage. Berlin 2008, S. 80f. Das Rollenfach 15 von literarischer Konvention und Theatertradition”. 41 Die Theater- und Dramentheorie beachtet diese Konvention wenig. Soziale und theatrale Konventionen finden hier bislang vor allem aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht Beachtung. 42 Und dies, obwohl Anne Ubersfelds Verdikt von der unweigerlichen Reaktion jedes Theatertextes auf zeitgenössische Theaterkonvention - “Man schreibt für, mit oder gegen einen bereits existierenden Kode” 43 - mittlerweile Eingang in Einführungen zur Theaterwissenschaft gefunden hat. Wer wie Fischer-Lichte von einer “Differenzierung des theatralischen Kodes in drei Ebenen von System, Norm und Rede” ausgeht, wird “theatralische Konventionen auf der Ebene der Norm” ansiedeln. 44 Denn, so Fischer-Lichte, “[v]on einer theatralischen Konvention kann nur die Rede sein, wenn syntaktische, semantische und/ oder pragmatische Regeln betroffen sind, die nachweislich mehreren Aufführungen einer Epoche/ einer Gattung zugrundegelegen haben bzw. zugrunde liegen”. 45 Syntaktische Regeln sind vom Rollenfachsystem durch das Theaterwesen an sich, semantische Regeln durch die Wiederholung bekannter Figurenschemata und pragmatische Regeln in der täglichen Umsetzung im Alltagsbetrieb des Theaters betroffen. Dabei hat das Rollenfach das Theaterwesen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert maßgeblich geprägt, wobei sich sogar in Folge des Normalvertrags von 1919 noch in den 1970er Jahren Schauspielverträge an den Rollenfächern orientieren. 46 Fischer-Lichte zählt die europäische Theaterkonvention des Rollenfachs zu den “Differenzierungen […] von größter Bedeutung, weil sich aus ihnen bestimmte Verhaltens- und Interaktionsmuster ableiten lassen”. 47 Das Rollenfach gehört zu den “Konventionen auf der Ebene der Interaktion zwischen den Figuren”, 48 die Elizabeth Burns als “authenticating conventions” 49 und Keir Elam als “interactional conventions” 50 bezeichnen. Nach Burns werden hier soziale Konventionen und Ver- 41 Harris 1992, S. 222. 42 Erika Fischer-Lichte/ Fritz Paul/ Brigitte Schultze/ Horst Turk (Hgg.): Soziale und Theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung. Tübingen 1988 (=Forum modernes Theater 1); Erika Fischer-Lichte/ Fritz Paul/ Brigitte Schultze/ Horst Turk (Hgg.): Literatur und Theater. Traditionen und Konventionen als Problem der Dramenübersetzung. Tübingen 1990 (=Forum modernes Theater 4). 43 Anne Ubersfeld: Der lückenhafte Text und die imaginäre Bühne [1981]. In: Klaus Lazarowicz/ Christopher Balme (Hgg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart 1991, S. 394-400, hier S. 397. 44 Erika Fischer-Lichte: Zum kulturellen Transfer theatralischer Konventionen. In: Fischer-Lichte/ Paul/ Schultze/ Turk (Hgg.) 1990, S. 35-62, hier S. 35. 45 Ebd. 46 Zum Normalvertrag vgl. Doerry 1926, S. 126-129. 47 Fischer-Lichte 1990, S. 43. 48 Ebd., S. 75; vgl. Elizabeth Burns: Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and in Social Life. London 1972, S. 98-121. 49 Burns 1972, S. 31f. 50 Keir Elam: The Semiotics of Theatre and Drama. London/ New York 1980, S. 91. Anke Detken/ Anja Schonlau 16 haltensnormen schematisiert auf der Bühne in ‘Rollentypen’ und Handlungsmustern abgebildet bzw. nachgeformt. Mit sozialen Konventionen hat das Rollenfach als Theaterkonvention die Kriterien Arbitrarität und Konformitätserwartung gemeinsam. 51 Das Rollenfach ist arbiträr, denn es ist jederzeit möglich, bei einer Aufführung eine Rolle jenseits des angestammten Fachs zu besetzen - sei es, um einen Verfremdungseffekt zu erzeugen oder weil der Grund für die Besetzung fachunabhängig ist, z.B. die häufig beklagte Bevorzugung eines Schauspielers durch den Theaterleiter. Dieses Kriterium gilt auch für den Dramentext, aber in anderer Weise. Hier ist grundsätzlich eine Figur jenseits aller (bislang) bekannten Rollenfächer denkbar oder eine Doppelung bekannter Rollenfächer, z.B. zwei völlig gleichrangige ‘erste’ Liebhaber. Theatertexte nach 1900 arbeiten vom absurden bis zum postmodernen Theater bekanntlich gezielt mit diesen Möglichkeiten. Was die Konformitätserwartung betrifft, so wird das Verhältnis zum Publikum sowohl für die Aufführung als auch in Bezug auf den Dramentext durch die gleiche Erwartungshaltung geprägt. “Theatralische Konventionen beruhen entsprechend auf einer Konformitätserwartung bzw. auf einem gemeinsamen, von Schauspielern und Zuschauern geteilten Wissen”. 52 Das gilt etwa für den Wiedererkennungswert der Rollenfächer. Die naive - und damit zumeist zweite, wenn nicht dritte - Liebhaberin ist leicht zu erkennen. Sie gilt tendenziell als jünger als die erste Liebhaberin, unabhängig vom tatsächlichen Alter der Schauspielerinnen und unabhängig davon, ob ein Altersbzw. Erfahrungsunterschied im Dramentext angedeutet wird. 53 Diese Konformitätserwartung von Schauspielern und Zuschauern ist zentral für den Mehrwert des Rollenfachs als Instrument der Analyse für den Dramentext. Der Konsens über die jeweils zu erwartenden Eigenschaften der Rolle weist über den Text hinaus. Zu diesem Mehrwehrt gehört auch der bislang in der Forschung unbeachtete Status des Rollenfachs. “Position und Geltung des Schauspielers innerhalb der Truppenhierarchie werden durch den Besitz eines ganz bestimmten Faches festgelegt”. 54 Der soziale Status der Schauspieler wird wesentlich dadurch bestimmt, ob sie erste Rollen beanspruchen können oder Nebenrollen spielen. Ein Schauspieler erster Rollen wertet also eine mittlere Rolle auf, wenn er sie aufgrund des passenden Rollenfachs übernimmt. Inwieweit der ästhetische Status der Gattung dabei von Bedeutung ist, kann nur für den Einzelfall entschieden werden, der historisch variiert. 55 Es 51 Vgl. zur Diskussion von Arbitrarität und Konformitätserwartung bei theatralen Konventionen Fischer-Lichte 1990, S. 35f. 52 Ebd., S. 35. 53 Vgl. zur naiven Liebhaberin Diebold 1913, S. 132f. 54 Maurer-Schmoock 1982, S. 157f. 55 Traditionell ist für das Trauerspiel ein höherer Status anzunehmen, der mit dem sozialen Status der Figur korrespondiert. Eine König im Trauerspiel dürfte also einen höhe- Das Rollenfach 17 wurde bereits darauf hingewiesen, dass für viele Akteure die offizielle Gattung des Stücks für die Gestaltung ihrer Rolle kaum von Bedeutung ist. Zu bedenken ist außerdem der Unterschied zwischen Truppenstatus und Publikumsgunst, die leicht durch dankbare Rollen wie die innamorati erlangt werden kann. 56 Da diese weniger schauspielerisches Können erfordern als z.B. der komische Bediente, haben sie aber nicht unbedingt eine hohe Stellung in der Schauspielerhierarchie. Das Rollenfach hat außerdem einen besonderen theoretischen Status, weil es strukturelle Bedingungen des Theatersystems auf die Bühne bringt. Dadurch nimmt es eine Zwitterposition im Verhältnis zu Realität und Fiktion ein, die eine andere Qualität hat als etwa die ‘Szenische Dramaturgie’, die - wie bereits erwähnt - die Shakespeare-Forschung für die Dramentextanalyse fruchtbar gemacht hat. Das Rollenfach ist die Theaterkonvention, welche die Akteure strukturell mit den Figuren des Dramentextes verbindet. Das Verhältnis zwischen Figur und Rolle unterscheidet sich von der Beziehung zwischen Figur und Rollenfach: Die einzelne Rolle benennt lediglich die schauspielerische Umsetzung der literarischen Figur. Wird die Figur aus der Perspektive des Rollenfachs betrachtet, verfügt sie über einen konventionellen Rahmen, zu dem sie sich in einer spezifischen Weise verhält, indem sie ihn ausfüllt, unterläuft oder sogar sprengt. Dieser Rahmen ist schematisiert und durch Stereotype definiert. Thomas Mann findet vor diesem Hintergrund - und seinem Faible für den Roman - in seinem Essay Versuch über das Theater (1907) harte Worte für das Rollenfachsystem: [E]s ist kein Zufall, daß sich im Schauspiel und nicht im Roman jene stereotypen und in bezug auf individuelle Vollständigkeit überhaupt völlig anspruchslosen Figuren und Vogelscheuchen des ‘Vaters’, des ‘Liebhabers’, des ‘Intriganten’, der ‘Naiven’, der ‘komischen Alten’ entwickelt haben […]. 57 Dabei übersieht er zum einen, dass individuelle Quantität nicht notwendig individuelle Qualität einer Figur bedeutet, und zum anderen, dass das System problemlos eine Möglichkeit gefunden hat, diejenigen Figuren zu integrieren, die die alten Typen-Schemata sprengen. Sie werden folgerichtig um den Begriff ‘Charakter’ ergänzt. 58 Lessings Minna von Barnhelm wird beispielsweise in Ergänzung zum Rollenfach der ersten Liebhaberin als ‘erste ren Status haben als ein König im Lustspiel, aber hat er auch einen höheren Status als der Harlekin im Lustspiel? Zum Rollenfach des Spaßmachers vgl. Marion Linhardt: Die lustige Person oder Das Komische als Rollenfach. In: Eva Erdmann (Hg.): Der komische Körper. Szenen - Figuren - Formen. Bielefeld 2003, S. 52-59. 56 Vgl. zu den dankbaren Rollen z.B. Doerry 1926, S. 3. 57 Thomas Mann: Versuch über das Theater. In: Ders.: Essays. Bd. 1: Frühlingssturm 1893-1918. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt/ M. 1993, S. 53-93, hier S. 59. 58 Vgl. Diebold 1913, S. 18. Anke Detken/ Anja Schonlau 18 Charakterliebhaberin‘ bezeichnet, ebenso seine eigenwillige ‚Philosophin‘ Orsina. 59 Und wer wollte diese Figuren “völlig anspruchslos“ schelten? Zu den besonderen Eigenschaften des Rollenfachs gehören die unterschiedlichen Zusatzbezeichnungen ebenso wie die insgesamt historisch unscharfen Abgrenzungen der Fächer. Zum einen ist die Bezeichnung von Rollenfächern nicht überzeitlich angelegt, sondern historisch so variabel, dass sich über den gesamten Zeitraum nur Großgruppen unterscheiden lassen, etwa die ernsten und komischen Alten und die Gruppe der Liebhaber bzw. Liebhaberinnen. Zwar ist von dem ‘Rollenfachsystem’ die Rede, aber da es sich tatsächlich um eine theaterpraktische Organisationsform handelt, die in Nachahmung von Zunftstrukturen aus den Wandertruppen hervorgeht, ist durchaus nicht immer eindeutig, worin sich z.B. das bereits häufig erwähnte Rollenfach der zweiten von der dritten Liebhaberin genau unterscheidet. Iffland bezeichnet die ‘zweite Liebhaberin’ auch als ‘Agnese’, also als Naive. Bei Brandes ist dagegen die ‘dritte Liebhaberin’ für naive Rollen zuständig. 60 Und allein die Differenzierungsmöglichkeiten zwischen ‘edlen, ernsthaften, zärtlichen, raisonnierenden Vätern’ und ‘launigen, polternden, komischen oder humoristischen Alten’ machen die Zuschreibungen schwierig - zumal sich nicht immer die Rollen, sondern gelegentlich auch nur die Auffassungen dieser Rollen historisch verändern. 61 Und worin unterscheidet sich die Heroine im 19. Jahrhundert genau von der Tragödin? Bezeichnend in ihrer Ignoranz jeglicher Systematik sind auch die Zuschreibungen der Fächer, die das darstellerische Spektrum eines Schauspielers umreißen. Gelegentlich werden die Namen gespielter Rollen einfach zum Fachprofil addiert, ohne dass es sich um ein ausgewiesenes Rollenfach handelt. 62 Diese Heterogenität hat allerdings wesentlichen Anteil an dem Informationswert des Rollenfachs, denn es sind gerade die Variationen, die den Mehrwert der Theaterkonvention bilden. Bei aller Heterogenität bleiben die Kernfächer zumindest im 18. und 19. Jahrhundert konstant. Das älteste Fach ist der Harlekin bzw. der Spaßmacher, der zunächst auch das ranghöchste Rollenfach darstellt, im 18. Jahrhundert jedoch vom ernsten Vater abgelöst wird. Als Kernfächer der Hochphase des Rollenfachs gelten die innamorati und die Fächer der Väter und Mütter. 63 Der Intrigant ist auch im 19. Jahrhundert noch ein bedeutendes Fach, während die kleineren Mantelrollen bereits als veraltet angesehen werden. 64 Im 18. Jahrhundert gilt Lessings Minna von Barnhelm (1767) als Paradigma der Rollenfachzusammenstellung, wie sie Brandes in seiner bekannten Aufzäh- 59 Vgl. Barner/ Grimm/ Kiesel/ Kramer 1998 6 , S. 82f. 60 Vgl. zu den unterschiedlichen Bezeichnungen Diebold 1913, S. 132. 61 Vgl. zu Rollen, die von mehreren Fächern beansprucht werden, s. Doerry 1926, S. 17. 62 Ebd., S. 22. 63 Diebold 1913, S. 58; Doerry 1926, S. 11. 64 Doerry 1926, S. 22. Das Rollenfach 19 lung notwendiger Rollenfächer für das Mannheimer Nationaltheater 1779 vorschwebt. 65 Lessings Komödie erfordert einen zärtlichen/ ernsten Vater, einen komischen Alten, einen Raisonneur, einen ersten und zweiten Liebhaber, einen ersten und zweiten Bedienten, eine Charakterrolle, eine zärtliche/ ernste Mutter, eine erste Charakterliebhaberin und zweite und dritte Soubrette. Nur eine zweite und dritte Liebhaberin und eine komische Mutter fehlen. 66 Meist wird für eine Theaterbühne zwischen 16 bzw. 18 Fächern unterschieden. 67 Das Allgemeine Theaterlexikon zählt 1846 für das männliche Fach auf: 1. Erste Rollen, Helden, Charakter-Rollen, 2. Erste Liebhaber und jugendliche Helden, 3. Bonvivants, Chevaliers und Gecken, 4. Intriganten, Bösewichter, Verräter, ‘treulose Räte’ 5. Mantel-Rollen, 6. Vertraute, 7. Pfiffige Bediente, 8. “Röm. Rollen” 9. AushilfsRollen. 68 Für das weibliche Fach wird angegeben: 1. Heldenmütter, 2. Erste Heldinnen und Liebhaberinnen, 3. Koketten u. muntere Liebhaberinnen, 4. Soubretten oder Kammermädchen, 5. Komische Alte und “Duenne”, 6. Zweite u. dritte Liebhaberinnen, 7. Aushilfs-Rollen. 69 Bei dieser Aufzählung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Adjektiv ‘zärtlich’ aus den Zuschreibungen verschwunden; das bürgerliche Trauerspiel ist nicht mehr tonangebend. Es fällt auf, dass explizit keine Väter mehr erwähnt werden, immerhin das ranghöchste Fach im späten 18. Jahrhundert. Hier gehen die Väter in dem älteren gesetzten oder schweren Helden auf, der mittlerweile vom jugendlichen Helden unterschieden wird; in anderen Aufstellungen werden sie weiterhin erwähnt, aber an dritter oder vierter Stelle. 70 III. Geschichte Die historisch variablen Bezeichnungen spiegeln die wechselhafte Geschichte des Rollenfachs wider. Zu seinen besonderen Eigenschaften zählt neben den unscharfen Abgrenzungen der Fächer die auffallend dynamische Geschichte. Zum einen wird diese Dynamik durch die Wechselwirkung der Fächer mit ästhetischen Veränderungen in Bezug auf Figur, Dramenform und Dramenpoetik hervorgerufen. Zum anderen sorgen die institutionellen bzw. machtpolitischen Entwicklungen für Veränderungen: Das deutsche 65 Doerry 1926, S. 14. Vgl. zu Brandes Diebold 1913, S. 57-69; Barner/ Grimm/ Kiesel/ Kramer 1998 6 , S. 82f. 66 Barner et al. geben an, dass außerdem der Petitmaître/ Fat fehlt. Das Personalverzeichnis kann aber auch so gelesen werden, dass das Fach mit der Anstandsrolle des Deutschfranzosen Riccaut de la Marlinière zusammenfällt. Barner/ Grimm/ Kiesel/ Kramer 1998 6 , S. 82f. 67 Diebold nennt für das 18. Jahrhundert 16 bis 24 Mitglieder; Diebold 1913, S. 68. Doerry geht für das 19. Jahrhundert von 25 bis 30 Mitgliedern aus; Doerry 1926, S. 31. 68 Blum/ Herloßsohn/ Marggraff (Hgg.), Bd. 3, S. 223f. 69 Ebd. 70 Doerry zählt für das 19. Jahrhundert nach wie vor Väter auf; Doerry 1926, S. 30. Anke Detken/ Anja Schonlau 20 Rollenfachsystem entsteht nach 1750. 71 Die italienischen Figurenstereotype der Commedia dell’arte gelangen über das französische Schauspiel im 18. Jahrhundert nach Deutschland und werden durch die neue Shakespeare- Rezeption ergänzt, wobei die Rezeptionsverhältnisse von der Forschung noch genauer geklärt werden müssen. Damit einhergehen der Wechsel von Stegreifspielen zu Repertoirestücken und der institutionelle Wandel von der Wandertruppe zur festen Bühne. Als sich in den 1770er Jahren die ersten stehenden, subventionierten Theater etablieren können, wird diese Organisationsform zunächst von der Wandertruppe auf die stehenden Theater übertragen. Klagen über Ungerechtigkeiten bei der Rollenverteilung einerseits und die künstlerische Einschränkung des Schauspielers andererseits führen zum Ruf nach dem Regisseur. Um 1830 findet eine erneute Revision der Rollenfächer durch die “Aufnahme der französischen Gesellschafts- und Sittenstücke” statt; die Salondame kann jetzt reüssieren. 72 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird das Rollenfachsystem zugunsten des Regisseurs verabschiedet. Das Rollenfach scheint angesichts der inhaltlichen Entwicklungen des Theaters im 20. und 21. Jahrhundert überholt. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Verabschiedung als nicht endgültig erweist. 1919 wird der Normalvertrag (NV) entwickelt, der vorsieht, dass ein Schauspieler für “eine Kunstgattung” und “ein Kunstfach” engagiert wird, das durch “ein beigefügtes Rollenverzeichnis ergänzt bzw. ersetzt werden kann”. 73 In dieser Form bleibt das Rollenfach im ‘NV Bühne’ bis in die Gegenwart präsent. 74 Diese kurze Skizze der Geschichte des Rollenfachs wäre unvollständig, würde sie nicht auch auf die kontinuierliche Kritik am System eingehen. Dieses zentrale Organisationsprinzip hat zwar rund drei Jahrhunderte überdauert, genießt aber schon zeitgenössisch einen notorisch schlechten Ruf. Spätestens seit dem späten 18. Jahrhundert wendet sich die Kritik zum einen gegen den zwangsläufigen Schematismus des Ordnungsprinzips, das die künstlerischen Entwicklungsmöglichkeiten des einzelnen Schauspielers begrenzt. Zum anderen erweist sich das System als anfällig für Misswirtschaft. Wenn Rollen nach dem Anspruch der Schauspieler auf ihr angestammtes Fach und nicht nach Eignung vergeben werden, beeinträchtigt dies die künstlerische Qualität der Aufführung - so lautet jedenfalls die einhellige Kritik von Theaterleitern wie Goethe, Laube und Devrient. 75 Dahingestellt sei, inwieweit die zermürbenden Kämpfe mit Schauspielern um das Recht auf vermeintlich oder tatsächlich angestammte Rollen im Theateralltag das kritische Verhältnis der Theaterleiter zum Rollenfachsystem gefördert haben, ungeachtet aller künstlerischen Überlegungen. Eine positive Aus- 71 Vgl. Diebold 1913, S. 53. 72 Doerry 1926, S. 25. 73 Ebd., S. 127. 74 Ebd. 75 Vgl. ebd., S. 53-61; Diebold 1913, S. 70-90. Das Rollenfach 21 einandersetzung findet - soweit überschaubar - erst nach seiner Abschaffung statt. Die Schauspieler müssen feststellen, dass ohne Rollenfachsystem weit mehr Willkür herrscht als vorher. 76 Wie Stanislavskijs und Brechts spätere Kritik zeigt, bleibt dem Theater damit eine Theaterkonvention erhalten, gegen die sich eine neue Theatertheorie wirkungsvoll abgrenzen lässt. 77 IV. Rollenfach und Dramentext Nachdem die besonderen Eigenschaften des Rollenfachs und seiner Geschichte herausgestellt wurden, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Rollenfach und Dramentext. Lässt sich die Theaterkonvention sinnvoll als Kategorie der Dramentextanalyse einsetzen? Für das Rollenfach gilt wie für alle Theater- oder Dramenkonventionen, dass [...] die Stellung des einzelnen Dramentextes zu den herrschenden dramatischen und theatralischen Konventionen sehr unterschiedlich sein [kann]: Diese können (1) als Bedingungsrahmen im Text vorausgesetzt werden (2) partiell außer Kraft gesetzt bzw. gezielt vom Text durchbrochen werden (indirekte Thematisierung) oder (3) im Text explizit (z.B. ironisch oder parodistisch) thematisiert werden. 78 Die Kenntnis des Rollenfachsystems kann also schon für das erste Verständnis des Dramas vorausgesetzt werden, die Rollenfächer können gezielt unterlaufen oder an einzelnen Stellen durchbrochen werden oder metapoetisch explizit im Dramentext erscheinen. Die erste Leitfrage einer entsprechenden Dramentextanalyse muss lauten: 1. In welchem (historischen) Verhältnis steht das Stück insgesamt zum Rollenfachsystem? Grundsätzlich ist zu klären, ob das Drama mit oder gegen die Theaterkonvention arbeitet und welcher Phase der Geschichte des Rollenfachsystems es zuzuordnen ist, ob also z.B. zärtliche Rollen gerade en vogue sind, der Intrigant als dramenpoetisch veraltet gilt oder wie die Soubrette zeitgenössisch gerade definiert wird. Hier ist bei der Dramentextanalyse systematisch anzusetzen und zu untersuchen, in welchem spezifischen Verhältnis die jeweilige Figur zu 76 Doerry 1926, S. 126. 77 Vgl. zu Stanislavskis Verhältnis zum Rollenfach Herta Schmid: Stanislavski und Mejerchol’d. In: Günter Ahrends (Hg.): Konstantin Stanislawski. Tübingen 1992 (=Forum modernes Theater 9), S. 65-84. Vgl. auch Bertolt Brecht: Über Rollenbesetzung. In: Ders.: Schriften zum Theater. Zusammengestellt von Siegfried Unseld. Frankfurt/ M. 1993 22 , S. 164-165. 78 Bärbel Czennia: Erzählweisen in literarischer Prosa und ihre Übersetzung. In: Armin P. Frank/ Harald Kittel/ Norbert Greiner (Hgg.): Übersetzung. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Berlin 2004. Bd. 1/ 1 (=Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 26), S. 987-1107, S. 1018. Anke Detken/ Anja Schonlau 22 ihrem Rollenfach steht. Zu fragen ist aber auch, zu welchen Rollenfachgruppen sie gehören, welches Rollenfach ihr natürliches Pendant und wer ihr Gegenspieler ist. Dabei lautet die zweite Leitfrage der Analyse: 2. Welches Wissen vermittelt das jeweilige Rollenfach dem Publikum, das der Dramentext nicht explizit enthält? Am aussagekräftigsten sind sicherlich die jeweiligen Brüche mit der bisherigen Fachkonvention, wobei zu klären ist, bei welchem Rollenfach sie in welchem besonderen Zusammenhang unterlaufen wird und wie sich das formal äußert. Eine besondere Stellung nehmen hier z.B. die Regiebemerkungen ein. 79 Die dritte Leitfrage der Analyse lautet entsprechend: 3. Welches Rollenfach wird in welchem Kontext vollständig oder teilweise in welcher Weise unterlaufen - und mit welchen inhaltlichen und formalen Folgen für den Dramentext? Als Beispiel sei ein Stück herangezogen, bei dem zu erwarten ist, dass das Rollenfachsystem ‘als Bedingungsrahmen im Text vorausgesetzt’ wird. August Wilhelm Ifflands bürgerliches Rührstück Die Jäger. Ein ländliches Sittengemälde wird am 9. November 1785 im fürstlich-privaten Leiningischen Gesellschaftstheater in seiner ersten Fassung uraufgeführt. 80 Das Stück des renommierten Schauspielers und späteren Theaterdirektors gilt immerhin also so theatertauglich, dass Die Jäger unter Goethes Theaterleitung im Jahre 1791 das Weimarer Hoftheater eröffnen. Die Titelvignette des Erstdrucks, die sich auf Szene V, 12 der erwähnten Uraufführung bezieht, ist auch das Titelbild dieses Sammelbandes (vgl. Abb. 1). 81 Es wurde ausgewählt, weil hier die wichtigsten Rollenfächer des bürgerlichen Rührstücks, einer stark durch das Rollenfachsystem geprägten Dramengattung, in besonders charakteristischer Weise versammelt sind: In der Mitte steht der (große) alte Oberförster, eine Paraderolle aus dem Rollenfach des ernsten Alten bzw. des zärtlich/ ernsten Vaters, bei dem es sich - wie erwähnt - um das renommierteste zeitgenössische Fach handelt. Der ernste Vater ist in einen Dialog mit der Figur zu seiner Linken vertieft, dem Amtmann mit dem schönen sprechenden Namen “von Zeck”, seines Zeichens geldgieriger Intrigant aus dem Beamtenadel. Während die Männer im Bild 79 Zum Stellenwert der Regiebemerkungen für die Dramenanalyse vgl. Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009 (=Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste 54). 80 Vgl. zum Stück Anne Fleig: Die Jäger (1785). In: Mark-Georg Dehrmann/ Alexander Kosenina (Hgg.): Ifflands Dramen. Ein Lexikon. Hannover 2009, S. 136-141. Zu den zwei Fassungen vgl. Kurt Binneberg: Zwischen Schwärmerei und Realismus. Die beiden Textfassungen von A.W. Ifflands Drama ‚Die Jäger‘. In: Heimo Reinitzer (Hg.): Textkritik und Interpretation. Festschrift für Karl Konrad Pohlheim. Bern 1987, S. 161- 175. Binneberg schätzt die zweite Fassung qualitativ höher ein. Die vorliegende analytische Skizze bezieht sich auf die Erstfassung, die nach der folgenden Ausgabe zitiert wird: August Wilhelm Iffland: Die Jäger. Hg. v. Jürg Mathes. Stuttgart 1976. 81 Dass es sich um Szene V, 12 handelt, ist nachweisbar durch den fehlenden Schuh von Friedrike. Iffland 1976, S. 107. Das Rollenfach 23 die Handlung disputierend vorantreiben, werden die Frauen ihren Empfindungsfächern gerecht: Gestützt vom starken Arm des Oberförsters sinkt Pflegetochter Friedrike einer Ohnmacht nahe in die tröstenden Arme der Oberförsterin. Hier agieren die zweite (zärtliche) Liebhaberin und die ernste/ zärtliche Mutter konventionell miteinander. Abb. 1: Titelvignette des Erstdrucks von Ifflands Die Jäger (1785) Vater, Mutter, Tochter - wer in der bürgerlichen Idylle des Försterhauses noch fehlt, ist der Sohn. Den glaubt die ehrbare Familie gerade im abgebildeten Moment wegen eines vermeintlichen Mordes vom Tod durch den Strang bedroht. Aufgrund der beliebten Konstruktion einer Pflegschaft von bürgerlichen Eltern für ein heiratsfähiges Mädchen können Kinder- und Liebespaar in diesem Stück zusammenfallen: Der hier nicht abgebildete Sohn Anton ist zugleich der Verlobte von Pflegetochter Friedrike und wird durch das Rollenfach des ersten Liebhabers besetzt. Diese typisierten Rollenschemata können leicht bis in ihre wechselseitigen Beziehungen in ein derartiges Tableau übertragen werden. Was das Bild jedoch nicht zeigen kann, sind die Abweichungen vom Schema, ist das Spiel mit der Theaterkonvention. Diese Aspekte erfordern eine Dramentextanalyse. Hierzu wurde die erste der oben vorgeschlagenen Leitfragen bereits geklärt: Das Stück orientiert sich deutlich an den gängigen Rollenfächern, die sich leicht der ‘zärtlichen’ Phase des Rollenfachsystems gegen Ende des 18. Jahrhunderts zuordnen lassen. Die Antworten auf Frage 2 und 3 können hier zusammen kurz skizziert werden: Das bürgerliche Rührstück besetzt die ‘zärtlich’ genannten Rollenfächer positiv; die innere Ordnung folgt dem Anke Detken/ Anja Schonlau 24 bürgerlich-patriarchalischen System. Was heißt hier aber ‘zärtlich’? Von Lessings ‘zärtlichen’ Rollenfächern in Emilia Galotti sind Ifflands Figuren weit entfernt, handelt es sich doch auch nicht um moralisch-bürgerlich gesinnten niedrigen Adel, sondern um ein biederes Försterhaus. Diese Milieugebundenheit führt dazu, dass nur Friedrike das Rollenfach einer zärtlichen Liebhaberin in vollen Umfang erfüllt. Sie ist schön genug für städtische Verehrer, liebt den zu ihr passenden Partner aufrichtig, ist dem Pflegevater eine liebvolle und gehorsame Tochter und außerdem empfindsam genug, um bei Todesgefahr für den Liebsten in Ohnmacht zu fallen. 82 Am Fortgang der Handlung wirkt sie konventionsgerecht nicht aktiv mit. Die Handlung wird ebenfalls rollenfachkonform durch den Oberförster dominiert, bekanntlich eine Paraderolle Ifflands. Zwar ist er seiner Pflegetochter gegenüber ein zärtlicher Vater und seinem Sohn gegenüber zumindest ein ernster Vater, aber im Umgang mit seiner Ehefrau kann er kaum zärtlich genannt werden. Sie tituliert ihn passend als “Brummbär”. 83 Er zeigt ihr gegenüber stärker die Züge des polternden Alten als des zärtlichen Vaters, stellt er sie doch mit groben Worten als enervierend schwatzhaft, geizig und kupplerisch dar. 84 Wohlgemerkt, es ist die Ehefrau, der gegenüber er kontinuierlich den Akzent des Rollenfaches ins Grobe variiert, nicht gegenüber dem Intriganten Zeck. Dem droht er zwar Prügel an, als dieser ihm Unterschlagung vorschlägt, und liefert sich mit ihm erfolgreich Wortgefechte, verhält sich aber nicht im eigentlichen Sinne grob. Es ist also eher die Ehe, die ihn poltern lässt, als die versuchte Bestechung und die drohende Verurteilung des Sohnes. Bei der Oberförsterin ist es zu Beginn des Stücks geradezu hilfreich zu wissen, dass sie mit dem Rollenfach der zärtlichen Mutter besetzt werden soll, nähert sie sich doch phasenweise sehr stark der komischen Alten. Die Sorge um die Gesundheit der Familie hat deutlich komische Züge und die Charakterisierung durch ihren Mann lässt wenig Gutes an ihr. Erst im letzten Akt gewinnt die Oberförsterin an rührender Wahrhaftigkeit, wenn die Mutter auch völlig erfolglos gegenüber dem Intriganten bleibt, ganz in der Tradition Claudia Galottis. 85 Ihre zwiespältige Rolle fällt umso deutlicher auf, als sich die Wirtin im Gasthaus so freundlich und klug-fürsorglich gegenüber dem zornigen Anton verhält, als wäre sie die zärtlich/ ernste 82 Vgl. zu ihrer Attraktivität für städtische Verehrer I, 13 (Iffland 1976, S. 26), zu ihrer aufrichtigen Liebe u.a. I, 12 (ebd., S. 26), ihrer Qualität als Tochter I, 9 (ebd., S. 22-24), ihrer Ohnmacht V, 12 (ebd., S. 108). Was ihr zärtliches Gemüt betrifft, so bezeichnet der Oberförster sie als “gewaltig weich”. Ebd., S. 80. 83 Vgl. I, 5, ebd., S. 14-18. 84 Zur Darstellung Odoardos in Emilia Galotti als polternden Alten, bei dem nicht die rollenfachkonformen Gesten, sondern die Abweichungen vom Rollenfach in den Regiebemerkungen notiert werden, vgl. Detken 2009, S. 31f. 85 Vgl. V, 10, Iffland 1967, S. 105-107. Das Rollenfach 25 Mutter (III, 7). 86 Soweit die kurze Skizze einer möglichen Vorgehensweise zur Dramentextanalyse, die hier nicht ins Detail gehen kann. Vielmehr soll der vorliegende Band mit seinen grundlegenden Aufsätzen zur Geschichte und zu den Kategorien des Rollenfachs in Zukunft derartige Analysen ermöglichen. V. Beiträge dieses Bandes Die Rollenfach-Forschung steht - wie wiederholt erwähnt - in der gegenwärtigen Theater- und Literaturwissenschaft erst ganz am Anfang. Die Forschungsbeiträge dieses Sammelbandes setzen sich darum mit besonders umstrittenen Thesen der älteren Rollenfach-Forschung auseinander oder wenden sich größeren Forschungslücken zu. Dabei stellen sie in der Regel ein bestimmtes Rollenfach vor. Der erste Teil Geschichte des Rollenfachs - Kontinuitäten und Brüche beginnt mit dem zentralen Rezeptionsproblem der Entwicklung des europäischen Rollenfachsystems, dem Weg von der Commedia dell’arte bis zum Rollenfach auf deutschen Bühnen. Als direkter Ursprung des Rollenfachsystems wird immer wieder die Commedia dell’arte angeführt, insbesondere unter Verweis auf Maurer-Schmoock. 87 Allein schon wortgeschichtlich ist aber der französische Anteil am deutschen Rollenfach deutlich stärker als der italienische, besonders für die Typenfiguren der Komödie. 88 Susanne Winter zeigt in ihrem Beitrag Von der Maske zur Rolle, vom Magnifico zum Familienvater. Die Fächerrezeption der Commedia dell’arte am Beispiel Pantalones, dass die Wurzeln der fachlichen Zuordnung der Schauspieler im Kontext der Commedia dell’arte und der Professionalisierung des Theaterbetriebs liegen, wobei Fach und Eignung der Schauspieler häufig nicht übereinstimmten. Sie weist nach, dass die Filiation, die Maurer-Schmoock vom italienischen Pantalone zum deutschen Familienvater herstellt, fragwürdig ist, da die Tradition eher aus den antiken Komödien und dem französischen drame Diderots stammt. Nicht alle Rollenfächer sind also direkt auf die Commedia dell’arte zurückzuführen; sie bedürfen jeweils einer gesonderten Untersuchung. Für den Familienvater gilt, dass er sich nicht direkt aus der Maske Pantalones entwickelt hat, sondern höchstens aus ihrer Transformation in eine Vaterrolle, die wiederum in der Tradition der literarischen Komödienfigur steht. 86 Dabei handelt es sich um eine Anspielung auf die Rolle der ‘Dame in Trauer’ in Lessings Minna von Barnhelm. 87 Vgl. Maurer-Schmoock 1982, S. 159; die 1982 veröffentlichte Arbeit ist aus heutiger Sicht zwar angreifbar, dennoch handelt es sich auch angesichts des defizitären Forschungsstandes um eine immer noch maßgebliche Arbeit. 88 Mehlin 1969, S. 324. Anke Detken/ Anja Schonlau 26 Dirk Niefanger setzt sich in seinem Beitrag Vorläufer des Rollenfachs? Dramatische Figurentypen und spezialisierte Schauspieler in der Frühen Neuzeit mit der Frage auseinander, inwieweit im 17. Jahrhundert schon vom Rollenfach die Rede sein kann. Für das Passionsspiel weist er nach, dass reale Eigenschaften der Darsteller die Voraussetzung für bestimmte Rollen bildeten, so die Salvatorfigur als Rollenfach des ausgebildeten Geistlichen. Da es sich beim Passionsspiel nicht um eine Fiktion handele, sondern um den rituellen Nachvollzug des Geschehens, reichten angelernte Fähigkeiten nicht aus. Auf der Wanderbühne stehen im 17. Jahrhundert Rollenspezialisten und Universalisten Seite an Seite. Als Rollenspezialist des jugendlichen Liebhabers erweist sich etwa der Direktor einer Schauspieltruppe durch ein entsprechendes Emblem in seinem Portrait. Anhand von Rists Monatsunterredungen, die den vermutlich ausführlichsten Diskurs über das Theater im 17. Jahrhundert darstellen, kann Niefanger außerdem eine Art Rollenfachbewusstsein schon in der Frühen Neuzeit belegen. Nach diesem Einblick in die Anfänge der Rollenfächer und ihre Ausprägung im 17. Jahrhundert wendet sich der Band dem 18. Jahrhundert zu und erörtert ein zentrales Problem für den Rollenfachinhaber - den Körper. “Als ob alle Köche dick, alle Bauern ohne Nerven, alle Staatsmänner stattlich wären. Als ob alle, die lieben, und alle, die geliebt werden, schön wären! ” 89 Brechts Kritik an den Konventionen ähnlicher Rollen bezieht sich erstaunlich deutlich auf die standardisierten Anforderungen an die körperliche Beschaffenheit der Schauspieler. Wie mit diesem Problem umgegangen werden kann, zeigt Rüdiger Singer in seinem Beitrag Macbeth als Däumling? David Garrick, das tragische Heldenfach und die Kritiker repräsentativ für das europäische Theater am Beispiel David Garricks, dem großen englischen Shakespeare-Schauspieler des 18. Jahrhunderts. Garrick erlangt im tragischen Heldenfach europaweiten Ruhm, obwohl seine Körpergröße deutlich unter der Norm liegt und sich gerade nicht für stattliche Helden eignet. Singer führt vor, welche Strategien Garrick in Reaktion auf die Erwartungshaltung des englischen Publikums entwickelt, das gemäß der Theaterkonvention als Helden körperlich imposante Hünen erwartet. Mit dem Rollenfach des Theaters eng verbunden ist das Rollen- und Stimmfach des Musiktheaters, das bis in die Gegenwart Gültigkeit hat. Die Soubrette wird beispielsweise heute in erster Linie als Stimmfach in der Nähe des Koloratursoprans verstanden (z.B. Despina in Mozarts Così fan tutte) und nicht mehr als schauspielerisches Fach des munteren Kammermädchens. In diesem Zusammenhang untersucht Axel Schröter Die Rolle des Bösewichts in den Weimarer Mozartbearbeitungen der Goethezeit und gibt Annotationen zur ‘Don Giovanni’- und ‘Zauberflöten’-Rezeption. Goethe schreibt 1806 in seiner Eigenschaft als Leiter des Weimarer Theaters an den Schauspieler Reinhold: 89 Brecht 1993, S. 164. Das Rollenfach 27 “Es finden bey uns eigentlich keine Rollenfächer statt; sondern jedes Mitglied wird nach seinem Alter und seiner Persönlichkeit mit Rollen versehen, [...]”. 90 Dass es sich hier um Goethes künstlerisches Ideal und nicht um seine Theaterpraxis handelt, wundert nicht. Schröter kann nicht nur zeigen, dass die Theaterkonvention gleichermaßen nach wie vor für die Weimarer Musiksparte gilt, die mit dem Schauspiel eng verbunden ist, sondern auch, dass die hiesige Bearbeitungspraxis der Libretti dezidiert Rollenfachdenken zeigt. Vulpius typisiert in seiner Bearbeitung die Sarastro-Beschreibung der Königin gemäß dem Rollenfach des Bösewichts und verstärkt damit die Intrigantinnen-Rolle der Königin. In Bezug auf Don Giovanni weist Schröter nach, dass sich dieser in der deutschen Übersetzung vom Bonvivant zum Bösewicht wandelt. Darüber hinaus kann die Orientierung am Rollenfach erklären, warum hier und in anderen Fällen überhaupt Bearbeitungen vorgenommen werden. Eine zweite Untersuchung zum Fach des Bösewichtes im 18. Jahrhundert nimmt das Schauspiel in den Blick. Intrigant und Bösewicht werden häufig als ein Rollenfach gesehen, wobei der Bösewicht genau genommen durch offene Gewaltausübung näher mit dem Tyrannen verwandt ist, der Intrigant am Hof hingegen als kühler Kopf und Meister der Verstellung mit dem weltläufigen Chevalier. 91 Gerhard Kaiser hat sich mit Schillers Räubern ein Drama vorgenommen, das als besonders repräsentativ für diese Rollen angesehen wird. In seinem Beitrag Sympathy for the evil? - Bösewichter in Schillers ‘Räubern’ kann er zeigen, dass Schiller diesen berechtigten Ruhm durch die Überschreitung der bisherigen Grenzen dieses Rollenfaches erreicht. Als kleiner Gegenspieler des großen Räubers Karl Moor überbietet der finstere Räuber Spiegelberg in einer frühen Stückfassung die gängige Ästhetik des Bösen derartiger Bösewichter deutlich durch die exzessive Schilderung von physischer Gewalt. In der endgültigen Dramenfassung erreicht der intrigante Franz Moor als großer Gegenspieler seines Bruders in seiner Legitimation des Bösen letzte philosophische Konsequenz. Diese extravagante Position des literarisch ambitionierten Dramas ergänzt ein Blick auf die serielle Theaterproduktion in der besonderen Spielart des Liebhabertheaters. Johannes Birgfeld zeigt an Kotzebues Almanach dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande, wie Konventionalität als Basis eines Theaters für das breite Publikum funktioniert. In den theoretischen Debatten zum Liebhabertheater wird das Rollenfach als Mittel ver- 90 Goethe an Reinhold, zitiert nach Julius Wahle: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Weimar 1892, S. 191; ähnlich der Brief an die Hoftheaterkommission vom 27.4.1810. Reinhold antwortet, dass er für Rollen nicht zur Verfügung stehe, die seinem bisher bekleideten Fach entgegenstünden. Vgl. Peter Huber: Goethes praktische Theaterarbeit. In: Goethe-Handbuch. Bd. 2: Dramen. Hg. von Theo Buck. Stuttgart/ Weimar 1996, S. 21-42, hier S. 34. 91 Vgl. zum Intriganten Blum/ Herloßsohn/ Marggraff (Hgg.) 1846. Bd. 4, S. 295f. Anke Detken/ Anja Schonlau 28 standen, Rollenneid durch dauerhafte Rollenfachbelegung zu vermeiden. Birgfeld führt vor, dass Kotzebues Motivation eine andere ist: Kotzebue versteht sich als ‘seriell’ schreibender Dramatiker und in diesem Sinne ist Konventionalität die Grundlage seiner Dramatik um einer erfolgreichen Kommunikation mit dem Publikum willen. So entsprechen die Rollen der Stücke gängigen Rollenfächern, weil es sich um bekannte und leicht kommunizierbare Theaterkonventionen handelt, und nicht weil das Prinzip der Rollenfächer Missstimmung unter den Laienschauspielern verhindern soll. Eine vielkritisierte Theaterkonvention wie das Rollenfach kann sich der Spottlust jüngerer Generationen von Theaterautoren sicher sein, die gegen Überkommenes anrennen. Um 1800 gilt das vor allem für die romantischen Dramatiker. Stefan Scherer untersucht diese Position in seinem Beitrag Rollenfachironie. Zur komischen Relativierung des Rollenfachs in Tiecks ‘Die verkehrte Welt’ mit einem Ausblick auf Thomas Bernhards ‘Der Theatermacher’. Er kann zeigen, dass es den Dramatikern nur so lange reizvoll erscheint, die Theaterkonvention szenisch zu verspotten, wie ihre Geltung auf dem Theater unbestritten scheint. Unabhängig von der Theaterpraxis bis 1900 verliert das Rollenfach im Drama ab 1800 sein Renommé. Eine explizite Rollenfachironie gibt es darum nur um 1800. Tieck verleiht ihr in der Figur des mit der Geltung seines Berufstandes unzufriedenen Wirts ironisch Ausdruck - der Wirt als bedeutendes Rollenfach der bürgerlichen Trauerspiele hat mittlerweile ausgespielt. Erst Bernhards Figur des Theatermachers nähert sich mit ihrer überwältigenden wie erfolglosen Anmaßung aller Fächer in der Gegenwart wieder der szenischen Rollenfachironie. Der zweite Teil des Bandes richtet seinen Fokus auf die Differenzkategorien: Geschlecht, Rasse/ Nationalität, Klasse, Alter. Das Geschlecht gilt dabei zwar als stärkstes distinktives Merkmal, angesichts des ausschließlich weiblichen Rollenfachs der Hosenrolle ist jedoch zu überlegen, inwieweit dieses Rollenfach die These in Frage stellt. In diesem Kontext hat sich Barbara Becker-Cantarino mit Maske und Rollenfach: Zur Hosenrolle im Theater der Frühen Neuzeit auseinandergesetzt. Sie kann zeigen, dass die Hosenrollen in der Frühen Neuzeit im öffentlichen Volkstheater entstanden oder wiederbelebt wurden. Die weibliche Hosenrolle ist als inkonstante, changierende Verwandlungskünstlerin, als gesellschaftliche Außenseiterin beliebt. Dabei dient sie nicht der Subversion starrer Geschlechterrollen, sondern ist durch Spielfreude und Lust an der Verstellung motiviert. Der nächste Beitrag untersucht das Verhältnis von Geschlecht und Alter: Eine zentrale These der älteren Rollenfachforschung besteht in der Annahme, dass eine Frau, die in jungen Jahren das Rollenfach der Soubrette innehat, mit steigendem Alter in das Fach der komischen Alten wechselt. Marion Linhardt weist in ihrem Beitrag Verwandlung - Verstellung - Virtuosität. Die Soubrette und die komische Alte im Theater des 19. Jahrhunderts ganz im Gegensatz dazu für das 19. Jahrhundert nach, dass dieser Schritt nur selten Das Rollenfach 29 vollzogen wird. Typische Partien für Soubretten fallen den Schauspielerinnen nicht aufgrund ihrer komischen Begabung zu, sondern weil sie Lokalkolorit darstellen können. Ausschlaggebend ist die Virtuosität im Sinne eines antiillusionistischen Elements innerhalb illusionistischer Dramaturgien, etwa Tanz- oder Jodeleinlagen. Soubretten neigen nach Linhardts Recherchen später entweder zum Groteskfach oder zum noblen Fach. Werden sie doch zur komischen Alten, gibt es drei Verfahren der Komisierung, zum ersten Leibesfülle und deren Versprachlichung, zum zweiten das Stereotyp des zänkischen Ehedrachen und drittens die alte Frau mit sexuellem Begehren (vetula). Ein weiteres Differenzkriterium der Rollenfächer ist das Fremde in Form von nationalen bzw. rassespezifischen Stereotypen. Das bekannteste entsprechende Fach ist das Rollenfach des Juden. Laut Diebold wird es nach 1770 als regelmäßiges Fach ausgebildet; bei den “Modedichtern” fungiert die Figur “als symbolischer Ankünder der Peripetie”. 92 Hans-Peter Bayerdörfer stellt Judenrollen als Reflexionsinstanzen im Fächersystem vor. Er kann zeigen, dass im Gegensatz zum bisherigen Forschungsstand Judenrollen im späten 18. Jahrhundert kein eigenes Fach ausbilden, sondern als Nebenfach zu den komischen Alten verstanden werden. Es fällt auf, dass es weder die Rolle der jüdischen Mutter noch die des jüdischen Liebhabers gibt. Junge, schöne Jüdinnen treten hingegen durchaus im Drama der ersten Jahrhunderthälfte auf, ihre Rolle überschreitet dann aber die genremäßige Liebeshandlung. Wie Bayerdörfer vorführt, zeichnet sich die Judenrolle durch eine hohe Reflexionsleistung aus, wenn sie als handlungstragende Hauptrolle eingesetzt wird. Außerdem existieren zahlreiche Versionen von jüdischen Männerrollen in der Posse im Unterhaltungstheater. Das Rollenfach Jude bleibt im Kontext der jüdischen Unterhaltungsbühnen zugleich das Sprechrollenfach Jargon. Der Sprachwitz der fremden Sprache ist das komische Potential, das ein Rollenfach einer anderen Nationalität auszeichnet. Dies zeigt sich besonders deutlich schon in der Benennung des Rollenfachs des Deutschfranzosen. Angesichts dieser vergleichsweise jungen Erfindung der Aufklärung bietet sich die Frage nach den Entstehungsstrukturen eines neuen Rollenfachs an. In ihrem Beitrag Capitano und Deutschfranzose: Komische Ausländer auf deutschen und französischen Bühnen setzt Ruth Florack den Capitano der Commedia dell’arte und das Rollenfach des Deutschfranzosen zueinander ins Verhältnis. Der Capitano ist bereits als italienische Typenfigur ein großsprecherischer Ausländer, nämlich ein spanischer Miles gloriosus, der die spanische Kriegspräsenz in Italien verarbeitet. Florack zeigt, dass seine Rolle auf französischen Bühnen im Kontext des Französisch-Spanischen Krieges 1635 ähnlich funktioniert; der Widerspruch zwischen Schein und Sein und das fehlerhafte 92 Diebold 1913, S. 13. Anke Detken/ Anja Schonlau 30 italienisch-spanisch-französische Sprachgemisch machen den großsprecherischen Krieger komisch. Für das komische Anstandsfach des Deutschfranzosen, dessen bedeutendster Repräsentant Capitaine Riccaut de la Marlinière aus Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm ist, wird dieses Sprachgemisch dann konstitutiv. Als weiteres Differenzkriterium des Rollenfachs verfügt die Klasse - oder zeitgenössisch: der Stand - des jeweiligen Rollenfachs durch den hierarchischen Unterschied zu den weiteren Rollen über ein besonderes Spannungspotential. Dies wird eindrucksvoll in der Komödie genutzt, wenn die Dienerschaft im guten oder schlechten Sinne die Herrschaft vorführt. Mit diesen Gattungskonventionen hat sich Nina Birkner in ihrem Beitrag Figaro und sein Herr. Beaumarchais’ Bruch mit dem Rollenfach in ‘Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro’ befasst. Sie zeigt das Verhältnis zwischen Dienern und Herrschaft in dieser Komödie als satirische Kritik an jeder Form von uneingeschränkter Herrschaft, die mit der Forderung nach der moralischen Integrität des Souveräns einhergeht. Zwar rekurriert Beaumarchais auf Elemente der Commedia dell’arte und das Stück weist Bezüge zur parade, zur comédie larmoyante und zur opéra comique auf. Analog zur subversiven Intention der Komödie bricht Beaumarchais jedoch mit der traditionellen Definition der Rollenfächer von Dienerschaft und Herrschaft. Figaro inszeniert zwar gemäß seinem Rollenfach eine Intrige zu seinem Nutzen und innerhalb moralischempfindsamer Normen, aber den Erfolg verdankt er nicht seiner klugen Intrigenkunst, sondern dem glücklichen Zufall. Mit diesen Beiträgen sind erste Grundlagen zur weiteren Erforschung des Rollenfachsystems gelegt, dessen Bedeutung als Theaterkonvention für zeitgenössische wie auch spätere Dramentexte weitergehender Untersuchungen bedarf. 1. Geschichte des Rollenfachs - Kontinuitäten und Brüche Susanne Winter, Salzburg Von der Maske zur Rolle, vom Magnifico zum Familienvater. Die Fächerrezeption der Commedia dell’arte am Beispiel Pantalones Wenn man nach dem Ursprung der traditionellen komischen Rollenfächer sucht und diesen in der Commedia dell’arte mit ihren “stereotyp-schematischen Typenfiguren” 1 sieht, stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Charakteristika dieser Typenfiguren, nach ihrer Entwicklung und nach ihrer Transposition in den literarischen Kontext des Dramas. Diesen Aspekten möchte ich im Folgenden am Beispiel einer solchen Typenfigur, nämlich der Maske Magnifico oder Pantalone, nachgehen und dabei zunächst einige im Hinblick auf das Thema relevante Grundzüge der Commedia dell’arte skizzieren, um mich dann exemplarisch dem Magnifico der Commedia dell’arte, seiner spezifischen Modellierung im 18. Jahrhundert in den Theaterstücken Carlo Goldonis und Carlo Gozzis sowie möglichen Filiationen der Väterrollen zuzuwenden. I. Commedia dell’arte - Professionalisierung und Kommerzialisierung Die Commedia dell’arte ist ein genuin italienisches Phänomen, dessen Anfänge in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts liegen. 2 Der heute gängige, fast zum Mythos gewordene Begriff “commedia dell’arte” wurde erst im 18. Jahrhundert geprägt; ursprünglich waren Bezeichnungen wie “recitar all’ improvviso”, “rappresentazione improvvisa” 3 oder “rappresentazione a sog- 1 Sybille Maurer-Schmoock stellt in ihrer Untersuchung zum deutschen Theater des 18. Jahrhunderts fest: “Im Wesen geht diese [ ... ] fachliche Zuordnung der Schauspieler auf die stereotyp-schematischen Typenfiguren der italienischen Commedia dell’arte zurück.” (Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982, S. 159). 2 Zur Commedia dell’arte sei eine kleine Auswahl neuerer Titel angeführt: Kenneth Richards/ Laura Richards: The Commedia dell’Arte. A Documentary History. Oxford 1990; Ferdinando Taviani/ Mirella Schino: Il segreto della Commedia dell’arte. Firenze 1982; Roberto Tessari: Commedia dell’arte: la maschera e l’ombra. Milano 1981; Siro Ferrone: Attori mercanti corsari. La Commedia dell’Arte in Europa tra Cinque e Seicento. Torino 1993. 3 Diese Terminologie findet sich in den beiden bedeutendsten Schriften des 17. Jahrhunderts zur Commedia dell’arte, in Piermaria Cecchinis Frutti delle moderne comedie von Susanne Winter 34 getto” - improvisieren, improvisierte Aufführungen - üblich, die den Unterschied zur Aufführung von “commedie premeditate”, also ausgeschriebenen dramatischen Texten, deutlich machen. Das Phänomen der Commedia dell’arte umfasst allerdings ein viel weiteres Bedeutungsspektrum als den Gegensatz von Aufführungen ohne Vorlage eines dramatischen Textes und Aufführungen auf der Basis eines solchen. Grundlegend für die Commedia dell’arte ist die Entstehung professioneller, relativ stabiler Schauspielertruppen, die das Theaterspielen als Beruf betrieben und im Unterschied zu den Dilettanten - im kirchlichen wie im höfischen Kontext - nicht nur in besonderem Rahmen zu Festzeiten auftraten oder vereinzelt als Gaukler auf Jahrmärkten ihre Künste zur Schau stellten. In diesen organisierten Truppen verbanden sich zwei bislang weitgehend getrennte Sphären: die des Straßentheaters und die des höfischen Theaters, so dass sich die beiden Erfahrungsbereiche ergänzten, nämlich der der volkstümlichen Jahrmarktspektakel und der einer am Hof angesiedelten Hochkultur. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Frauen, die nun als Schauspielerinnen in den Berufstruppen arbeiteten und erstmals auf der Bühne auftraten. Diese Professionalisierung des Theaterspiels und die damit einhergehende Bildung fester Truppen stellt meines Erachtens eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Entstehung der Rollenfächer dar, so dass es tatsächlich plausibel erscheint, die Wurzeln der fachlichen Zuordnung der Schauspieler im Kontext der Commedia dell’arte zu sehen. Mit der Professionalisierung unmittelbar verbunden ist der kommerzielle Aspekt des Unternehmens. Da die Truppe durch ihr Spiel den Lebensunterhalt verdienen musste, wurde das Theater käuflich, und es entstand ein zahlendes Publikum, das aus nahezu allen sozialen Schichten bestand. Das Theater diente nicht mehr nur der höfischen Repräsentation, der Selbstinszenierung einer Gesellschaft oder kirchlichen Zwecken, sondern einerseits dem Vergnügen des Publikums und andererseits dem Auskommen der Schauspieler, wofür zum einen eine große Anzahl an Aufführungen, zum anderen der Publikumserfolg unentbehrlich waren. 4 Die Abhängigkeit vom zahlenden Publikum führte zur Marktorientiertheit, die das Vergnügen der Zuschauer im Blick hatte, so dass der Unterhaltungswert der Aufführung ein entscheidendes Kriterium darstellte. Dies wiederum mag ein Grund dafür sein, dass im Repertoire der Truppen, das nicht nur alle dramatischen Gattungen, sondern auch improvisierte wie textgebundene Aufführungen 1628 (in: La commedia dell’arte. Storia e testo. Bd. IV. Hg. von Vito Pandolfi. Firenze 1958, S. 90-108, hier S. 96) und bereits im Titel bei Andrea Perruccis Dell’arte rappresentativa premeditata ed all’improvviso von 1699. 4 Da es zunächst noch keine öffentlichen Theater gab, fanden die Aufführungen an unterschiedlichen Spielstätten statt, des Eintritts wegen meist in geschlossenen Räumen, die eine bessere Kontrolle erlaubten. Von der Maske zur Rolle 35 umfasste, die Komödien mit Abstand an erster Stelle standen. Allerdings ist die weit verbreitete Vorstellung, unter Commedia dell’arte sei volkstümliches, populäres und insbesondere für niedere Bevölkerungsschichten konzipiertes Theater zu verstehen, nicht haltbar angesichts der Komplexität des Phänomens und der Entstehung berühmter Truppen mit klingenden Namen, die an zahlreiche europäische Höfe eingeladen wurden. 5 Ein entscheidendes Merkmal dieser Truppen lag neben ihrer Professionalität in ihrem “recitar all’improvviso”, dem improvisierenden Spiel, das kein völlig freies Erfinden der Handlung und der Dialoge bedeutete, sondern das Spielen von Stücken, die nicht in Form eines ausgeschriebenen, auf Rollen verteilten Textes vorlagen. Vielmehr lieferten sogenannte “scenari” oder “canovacci” eine Beschreibung der Handlung in groben Zügen, auf deren Basis die Schauspieler auf der Bühne agierten. 6 Die Handlungen beruhen zum Teil auf antiken Komödien oder auf zeitgenössischen Stücken, zum Teil sind sie neu erfunden und gehen vereinzelt den umgekehrten Weg, indem die “scenari” zum Ausgangspunkt für eine literarische Textfassung werden. Solche “scenari”, die für sämtliche dramatischen Gattungen existieren, also nicht nur Komödien, sondern auch Tragödien, Pastoralen und Tragikomödien umfassen, zirkulierten von einer Schauspieler-Generation zur anderen, zum Teil von Truppe zu Truppe, so dass weder eine exakte örtliche noch zeitliche Lokalisierung ihrer Entstehung möglich ist. Je nach Blickwinkel steht nun die Freiheit der schauspielerischen Gestaltung oder die Gebundenheit an die Handlungsvorlage im Vordergrund. Dass der Improvisation Grenzen gesetzt waren, ergibt sich nicht nur aus der unmittelbar einsichtigen Notwendigkeit, ein dramaturgisch sinnvolles Ganzes darzustellen und die Repliken entsprechend zu formulieren, sondern auch aus der Professionalisierung des Spiels, die Wiederholung bedeutete und sich in einer gewissen reproduzierbaren Formelhaftigkeit niederschlug. Dokumentiert ist diese in als “generici” und “zibaldoni” bezeichneten Sammlungen, die den Schauspielern für ihre spezifischen Rollen ein Repertoire an Repliken, Dialogen, Scherzen, literarischen Zitaten und den berühmten lazzi (Bravourstücken sprachlicher und/ oder gestisch-akrobatischer Art) boten, das diese jeweils neu einsetzen, kombinieren und variieren konnten. 7 5 Bekannte Truppen, die auch außerhalb Italiens auftraten waren z.B. die Gelosi, Fedeli, Confidenti; siehe Richards/ Richards 1990, Kap. 3: The Major Companies. 6 Eine Sammlung solcher “scenari” hat Flaminio Scala unter dem Titel Il teatro delle Favole rappresentative 1611 in Venedig veröffentlicht. 7 Solche Handreichungen ergänzte noch Carlo Goldoni zu Beginn seiner Theaterkarriere in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts. Im Vorwort zum 11. Band der Pasquali- Ausgabe berichtet er: “Informati i Comici, e le donne principalmente, ch’io avea desiderio di far qualche cosa per il Teatro, mi caricarono di commissioni per impinguare il loro generico, ed empiei in pochissimo tempo una quantità di fogli di soliloqui, di rimproveri, di disperazioni, di dialoghi, di dichiarazioni e di concetti amorosi, cose che furono Susanne Winter 36 Die improvisierten Komödien weisen eine relativ standardisierte Struktur und ein feststehendes Personal auf, das sich durch ein wesentliches Merkmal in zwei Gruppen teilen lässt: zum einen die Masken, zu denen als minimale Variante die vecchi, die Alten, sowie die zanni, die Diener, gehören, zum anderen die übrigen Rollen, vor allem das Liebespaar, wobei die Rollen paarweise angelegt sind: zwei Alte, meist Magnifico/ Pantalone und Graziano/ Dottore, zwei zanni, Brighella und Arlecchino, und zwei innamorati, Verliebte. Je nach Größe der Truppe und nach regionalen Gegebenheiten variieren die Anzahl der Rollen und ihre Namen. Komplementär zur Parallelität dieser Rollenpaare wirken Kontrastrelationen wie zum Beispiel: mit und ohne Masken, alt/ jung (vecchi und innamorati), komisch/ ernst (vecchi, zanni und innamorati), lächerlich-komisch/ witzig-komisch (vecchi und zanni) und vor allem, im Bereich der Sprache, der Unterschied zwischen dem Dialekt der Masken und dem Toskanischen - gewissermaßen der Hochsprache - der Liebespaare. Alle Masken haben eine festgelegte regionale und soziale Herkunft, die sich hauptsächlich an ihrer Spache zeigt: Pantalone ist ein Venezianer, der venezianisch spricht, Dottore kommt aus der ältesten Universitätsstadt Italiens, Bologna, und spricht bologneser Dialekt, die Zanni stammen aus Bergamo und sprechen ebenfalls Dialekt. Wenn auch die Masken an sich im Bereich des Theaters nichts Ungewöhnliches sind - sie waren in Intermezzi, bei den sacre rappresentazioni, beim Karneval und am Hof präsent -, so stellen die Masken der Commedia dell’arte doch etwas Neues dar, indem sie zu festen Rollen in einem stabilen Rollengefüge werden, das von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in nahezu unveränderter Form existiert. Die Masken sind keine Charaktere, sondern Typen, die keine Individualität aufweisen. Vielmehr sind sie geprägt durch ihr komisch übertriebenes, immer gleiches Verhalten in stereotypen Situationen. Diese Reduzierung der Masken auf wenige, überzeichnete Züge spiegelt sich sowohl in der Sprache als auch im Aussehen: Der Dialekt und die Ausdrucksweise sind stilisiert, die Gesichtsmaske und das Kostüm sind der Rolle ein für alle Mal eigen. Wie bereits angedeutet, scheinen die Commedia dell’arte-Truppen, durch Professionalisierung und Marktorientiertheit bedingt, eine Art Rationalisierung und Spezialisierung hinsichtlich der Rollen bewirkt zu haben. Steigende Aufführungszahlen und die Abhängigkeit vom zahlenden Publikum führten zu einer Kodifikation und zu klar voneinander abgegrenzten Rollenschemata, die keine psychologischen Subtilitäten erforderten, sondern Virtuosität im Umgang mit ebenso kodifizierter Sprache und mit dem Körper. Einerseits garantierten die stark stilisierten komischen Maskenrollen das estremamente aggradite, e che facevano augurare ai Comici ch’io sarei divenuto un bravo Poeta alla loro foggia, e che avrei composto un giorno i più bei Soggetti del mondo.” (Carlo Goldoni: Prefazioni dell’edizione Pasquali. In: Tutte le opere. Bd. I. Hg. von Giuseppe Ortolani. Milano 1935, S. 694-695). Von der Maske zur Rolle 37 Vergnügen der Zuschauer und den Publikumserfolg, andererseits bargen die maskenlosen Rollen ein gewisses Identifikationspotential. Dieses Konzept erwies sich über Jahrhunderte als tragfähig und erfolgreich. Noch im 18. Jahrhundert waren die Truppen nach diesem Schema besetzt, wie zum Beispiel aus Carlo Goldonis Bericht über die Compagnia Imer hervorgeht, die unter ihrem Direktor Giuseppe Imer in Venedig im Teatro San Samuele spielte und Goldoni 1734 als ihren Autor engagierte. Die Truppe bestand aus 13 Schauspielerinnen und Schauspielern mit folgenden Fächern: primo amoroso di titolo e per onore (erster Liebhaber ehrenhalber, Direktor Imer selbst), primo amoroso in attuale esercizio (tatsächlicher erster Liebhaber), secondo, terzo amoroso, prima donna (zweifach besetzt), seconda, terza donna, servetta, primo vecchio (Pantalone), secondo vecchio (Dottore), primo zanni (Brighella), secondo zanni (Arlecchino). 8 Interessant sind die Kommentare Goldonis zu einigen der Schauspieler, die auf eine Inkongruenz von Fach und Eignung beziehungsweise Begabung des Schauspielers hinweisen. Den Primo Amoroso Antonio Vitalba aus Padua lobt Goldoni als den brillantesten, lebendigsten Schauspieler, den man je auf der Bühne gesehen habe: Er spricht gut, agiert mit einer bewundernswerten Geistesgegenwart und niemand kann besser als er die lustigen Szenen mit den vier Masken der italienischen Komödie bestreiten und dabei diese zur Geltung bringen und brillieren lassen. Manchmal allerdings, so Goldoni weiter, beklagten sich die Arlecchini über ihn, weil er offensichtlich seine Rolle als Liebhaber vergaß und selbst zum Arlecchino wurde. Der Secondo Amoroso Gaetano Casali wird von Goldoni als “onorato galantuomo” bezeichnet, mit großem Verständnis und Fähigkeiten für das Metier ausgestattet, von schöner Statur, mit guter Stimme und vorteilhafter, angenehmer Aussprache, aber “non ha mai avuto buona disposizione per la parte dell’Amoroso” 9 - er hatte keine besondere Veranlagung für das Fach des Amoroso -, was Goldoni so begründet: Eine gewisse Ernsthaftigkeit im Auftreten, eine unbewusste Neigung der Hüfte und der Schulter zu seinen Dialogpartnern hin ließen ihn gegenüber diesen in den Hintergrund treten, trotz der schönen Dinge, die er sagte: Dagegen reüssierte er in den Tragödien wunderbar, vor allem in den “parti gravi” (Könige, Herrscher) wie zum Beispiel im Catone Metastasios, im Bruto des Abbate Conti oder als Giustiniano in Goldonis Bellisario. Die Prima Donna Cecilia Rutti taugt laut Goldoni in den Commedie dell’arte nicht viel, ist aber in den zärtlichen Rollen in Tragödien exzellent, 10 der Primo Vecchio, also Pantalone, mit Namen Andrea Cortini hatte eine unvorteilhafte Figur und sprach schlecht, war aber ein großer “Lazzista” und optimal geeignet für die Zanni-Partien, da er liebenswürdig war, die lächer- 8 Vgl. Goldoni: Prefazioni, S. 712-716. 9 Ebd., S. 713. 10 Ebd., S. 714. Susanne Winter 38 lichen Figuren hervorragend imitierte und vor allem, weil er die “scene di spavento e di agitazione”, 11 also die Szenen in denen Schreck und Aufregung darzustellen waren, hervorragend meisterte. Liest man diese Beschreibung der Compagnia Imer, entsteht der Eindruck, dass zwar die Rollenfächer dieselben sind wie im 16. Jahrhundert, dass aber die Zuordnung von Rollenfach und Schauspieler nur in seltenen Fällen befriedigend ausfiel. Augenscheinlich erfüllen manche Schauspieler die Anforderungen ihrer Fächer nur zum Teil, manche wären gar für ein ganz anderes Rollenfach wesentlich besser geeignet. Die Frage nach den Gründen für diese Inkongruenz wirft weitere Fragen auf: Waren die Rollenfächer quasi zu “Stellen” verkommen, die ohne Ansehen spezifischer Fähigkeiten oder eines bestimmten Aussehens je nach Belieben des Direktors besetzt wurden? Waren für bestimmte Rollenfächer nicht genügend geeignete Schauspielerinnen oder Schauspieler vorhanden? Stellten sich spezifische Begabungen erst im Laufe des Engagements heraus und war dann ein offizieller Fächerwechsel nicht mehr möglich? Wie flexibel waren die Besetzungen; spielte zum Beispiel der als Zanni besser geeignete Pantalone Andrea Cortini tatsächlich den Zanni, und wer spielte dann den Pantalone? Dass Prestige und Hierarchie der Rollenfächer einen möglichen Grund für Fehlbesetzungen darstellten, macht Goldonis Schilderung der Usancen einer Truppe deutlich, in der die “prime Donne” und die “primi Amorosi” unter keinen Umständen bereit waren, die Hauptrollen der Liebhaberbzw. Liebhaberinnen abzugeben, auch wenn die Schauspieler mit der Zeit noch so alt und unansehnlich geworden waren. 12 II. Pantalone Wenn auch die Rollenfächer in Italien im 18. Jahrhundert in Grundzügen den Rollen der Commedia dell’arte entsprachen, waren die Rollen selbst im Laufe von zwei Jahrhunderten selbstverständlich Veränderungen unterworfen, was im Folgenden beispielhaft an Pantalone und seinem Weg von der Commedia dell’arte in die Theatertexte Carlo Goldonis und Carlo Gozzis skizziert werden soll. 11 Ebd., S. 715. 12 Ebd., S. 693: “La regola la più ridicola delle altre, e che mi ha più disgustato, è questa: Le prime Donne, i primi Amorosi, non cedono le prime parti a nessuno. Sieno vecchi, cadenti, non lasciano di rappresentare le parti di giovani amanti, di semplici giovanette, e che la Commedia precipiti, e che il Teatro perisca, piuttosto che perdere il diritto del loro posto.” Zu Fragen der Zusammensetzung der Truppen, der Zuordnung von Schauspielern zu bestimmten Rollen und Veränderungen im Zusammenhang des Niedergangs der Commedia dell’arte-Tradition im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhundert, siehe die informative Studie von Angela Paladini Volterra: Verso una moderna produzione teatrale. In: Quaderni di teatro V, 20 (1983), S. 87-144, hier S. 95-104. Von der Maske zur Rolle 39 Pantalone, venezianischen Ursprungs und im System der Commedia dell’arte einer der beiden “vecchi”, ist eine der ältesten Masken und trägt schon in einem Dokument von 1565 den berühmten Beinamen “de’ Bisognosi”, der ihm bis zu Goldoni bleibt. 13 Lange wurde er auch mit Magnifico bezeichnet, einem Ehrentitel, der im Venedig des 16. Jahrhunderts vor allem den venezianischen Patriziern oder venetischen Adligen zuteilwurde, und der bei Pantalone auf das ursprüngliche Ansehen und die Würde der venezianischen Kaufleute verweisen könnte, 14 die bei der Maske allerdings in ihr komisches Gegenteil verkehrt sind, so dass im großen und ganzen nur noch das Geld und das Vermögen Pantalones an das soziale Prestige der Kaufleute erinnern. Insbesondere in Rededuetten oder -duellen mit Zanni werden die lächerlichen Seiten des Alters sichtbar, die ihn zum bevorzugten Ziel der Streiche Brighellas wie der Unverschämtheiten Arlecchinos und zum Spott der Liebenden werden lassen. Pantalone ist von Anfang an eine ambivalente Maske, die zwischen Komik und Ernst oszilliert, was in den bedeutendsten Schriften zur Commedia dell’arte im 17. Jahrhundert von Pier Maria Cecchini und Andrea Perrucci unmittelbar deutlich wird. In Cecchinis Frutti delle moderne comedie (1628) heißt es unter der Rubrik “Parti ridicole” zu Pantalone: La parte del vecchio sotto habito, & come [ sic ] di Pantalone, è sempre parte graue, ma vien però mescolata frà le ridicoli per la lingua, & vestimento. Debbe però chi l’essercito ritener quella portione di graue, che non và mai disgiunta dà persona, la quale debbe riprendere, persuadere, comandare, consigliare, & far mill’altri offitij da huomo ingegnoso, non essendo mai detto personaggio inferior di conditione Cittadina, ò almeno di facultuoso mercante. 13 Vgl. Lemma “Pantalone”. In: Enciclopedia dello spettacolo. Bd. VII. Hg. von Silvio d’Amico. Roma 1960, Spalte 1572. “De’ Bisognosi” bezieht sich auf die Bedürftigkeit v.a. des Zanni, der Pantalone immer wieder mit ein paar Münzen oder Naturalien abhilft. Auf frühen Darstellungen Pantalones, z.B. den berühmten Fresken in der Burg Trausnitz bei Landshut, ist zu sehen, dass er sehr beweglich ist, tanzt und Gitarre spielt, so dass die Zuordnung zu den Alten wohl erst in einer späteren Phase im Zusammenhang mit der stabiler werdenden Personenkonstellation in der Commedia dell’arte erfolgte. Zu den Fresken und anderen Dokumenten siehe Alberto Martino: Fonti tedesche degli anni 1565-1615 per la storia della commedia dell’arte e per la costituzione di un repertorio dei lazzi dello Zanni. In: Alberto Martino/ Fausto de Michele (Hg.): La ricezione della commedia dell’arte nell’Europa centrale 1568-1769. Storia, testi, iconografia. Pisa/ Roma 2010, S. 13-68, hier S. 15. 14 Vgl. Pietro Spezzani: Dalla commedia dell’arte a Goldoni. Studi linguistici. Padova 1997, Anm. 6, S. 28-29. Susanne Winter 40 Può bene dare alquanto licenza alla grauità quando, che con vn seruo tratta d’amori, banchetti, solazzi, ò d’altre materie gustose, poiche così fanno anche tutte l’altre conditioni benche più graui, & eminenti. 15 Während Cecchini die ernsten Seiten der Maske betont, unterstreicht Perrucci in Dell’arte rappresentativa premeditata ed all’improvviso (1699) die komischen: Chi rappresenta questa parte ha da avere perfetta la lingua Veneziana, con i suoi dialetti, proverbj, e vocaboli, facendo la parte d’un Vecchio cadente, ma che voglia affettare la gioventù; può premeditarsi qualche cosa per dirla nell’occasioni, cioè persuasioni al figlio, consigli a’ Regnanti, o Prencipi, maledizzioni, saluti alla Donna, che ama, ed altre cosuccie a suo arbitrio; avertendo, che cavi la risata a suo tempo con la sodezza, e gravità, rappresentando una persona matura, che tanto si fa ridicola, in quanto dovendo essere persona d’autorità, e d’esempio, e di avertimento agli altri, colto dall’Amore, fa cose da fanciullo, potendo dirsi: Puer centum annorum, e la sua avarizia, propria de’ Vecchi, viene superata da un vizio maggiore, ch’è l’Amore, a persona attempata tanto sconvenevole; [ … ] . 16 15 Piermaria Cecchini: Frutti delle moderne comedie [ Auszug ] . In: La commedia dell’arte. Storia e testo. Bd. IV. Hg. von Vito Pandolfi. Firenze 1958, S. 90-105, hier S. 100. “Die Rolle des Alten in der Gestalt und unter dem Namen Pantalones ist immer eine ernste Rolle, die allerdings unter die lächerlichen gemischt wird wegen der Sprache und der Kleidung. Aber derjenige, der sie spielt, muss die Portion Ernst beibehalten, die nie von einer Person abfällt, die tadeln, überzeugen, befehlen, beraten und tausend andere Dinge eines findigen Menschen tun muss, der nie von niedrigerem Stand als ein cittadino [ venezianischer Bürger ] oder wenigstens ein wohlhabender Kaufmann ist. Ein wenig kann er vom Ernst ablassen, wenn er mit einem Diener von der Liebe, von Banketten, von Vergnügungen oder anderen amüsanten Dingen spricht, denn so machen das auch alle anderen Stände, auch wenn sie viel ernster und wichtiger sind.” (Übersetzung S.W.) 16 Andrea Perrucci: Dell’arte rappresentativa premeditata ed all’improvviso. Testo, introduzione e bibliografia a cura di Anton Giulio Bragaglia. Firenze 1961, S. 195-196. “Wer diese Rolle darstellt, muss die venezianische Sprache perfekt beherrschen mit ihren Dialekten, Sprichwörtern und Ausdrücken, denn er spielt die Rolle eines hinfälligen Alten, der Jugend vortäuschen will; man kann sich etwas überlegen, um es in entsprechenden Situationen zu sagen, zum Beispiel: Mahnungen an den Sohn, Ratschläge für Regierende und Fürsten, Verwünschungen, Grüße für die Frau, die er liebt und ähnliches nach Belieben, im Bewusstsein, dass er zu seiner Zeit mit Festigkeit und Ernst Lachen hervorrufen muss, da er eine reife Person darstellt, die sich umso lächerlicher macht als sie eine Autoritätsperson und ein Beispiel und eine Mahnung für die anderen sein müsste, aber, von der Liebe ereilt, nur Kindisches macht und deshalb puer centum annorum genannt werden kann; und sein dem Alter eigener Geiz wird noch übertroffen von einem größeren Laster, das die Liebe ist, die einer betagten Person überhaupt nicht ansteht [ … ] .” (Übersetzung S.W.) Von der Maske zur Rolle 41 Für Perrucci entsteht das Komische Pantalones aus dem unvereinbaren Gegensatz von ehrwürdigem Alter und jugendlicher Verliebtheit, ein Kontrast, der sich auch in der Kleidung niederschlägt, die in den Farben schwarz und rot gehalten ist. Die lange Hakennase und der Spitzbart vervollständigen die markante Erscheinung. Die beiden Aspekte des erfahrenen, aber auch bestimmenden Alten, der in vielen Stücken Vater eines oder einer Verliebten ist, und des unzeitgemäß verliebten Alten, der manchmal Rivale seines eigenen Sohnes ist und sein Vermögen für eine aussichtslose Liebschaft vergeudet, prägen auch die Sprache Pantalones, wie sie in den wenigen erhaltenen Dokumenten (generici, dialoghi, constrasti) erscheint. Der Stilisierung der Maske entspricht eine generelle formelhafte Unbeweglichkeit der Sprache, die keinerlei Hinweise auf das Milieu oder den Ort gibt, in denen sie sich bewegt; die Erfahrung und eine oft besserwisserische Altersweisheit drücken sich in Maximen und Sprichwörtern aus, die unangemessenen Liebesgefühle in von schiefen und unpassenden Metaphern überbordenden, Eindruck schindenden Äußerungen, die auf eine komische, karikierende Wirkung abzielen. In den Dialogen mit den Zanni dominiert eine niedere, triviale Sprachebene, die im Gegensatz steht zur gehobeneren, autoritär geprägten Sprache, die in den Auseinandersetzungen mit dem Sohn oder der Tochter vorherrscht. 17 Gewissermaßen eine zweite Phase in der Geschichte der Maske ist ihr Auftreten in ausgeschriebenen Komödientexten im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts, hauptsächlich in den sogenannten commedie ridicolose oder mimiche, die im Umkreis des päpstlichen Hofes in Rom entstanden und als textgebundene Domestizierung der commedie dell’arte gelten können. Wie in den improvisierten Komödien werden auch in diesen einmal mehr die Seite des verliebten Alten, einmal mehr die des Familienvaters beziehungsweise -oberhaupts in den Vordergrund gerückt und die typischen Personenkonstellationen (Pantalone/ Zanni; Pantalone/ Sohn bzw. Tochter) aufgegriffen. Einer spürbaren Veränderung scheint Pantalone in diesen Texten nicht zu unterliegen. 18 Dagegen weist die Maske in Komödien des venezianischen Autors Giovanni Bonicelli vom Anfang des 18. Jahrhunderts neue Züge auf, die 30 Jahre später von Goldoni aufgegriffen und verstärkt werden sollten. 19 In einer Komödie mit dem Titel El Pantalon spetier (Pantalone der Gewürzhändler) tritt Pantalone als Besitzer einer Gewürzhandlung in Venedig auf. Damit ist er sowohl geographisch als auch sozial konkret verortet - als venezianische Maske in Venedig, als Kaufmann im Handel - und nimmt 17 Siehe dazu ausführlich Spezzani 1997, Kap. I.2: Il linguaggio del Pantalone pregoldoniano, S. 55-120. 18 Siehe ebd. 19 Ebd. und Piermario Vescovo: Per la storia della commedia cittadina veneziana pregoldoniana. In: Quaderni Veneti 5 (1987), S. 37-80. Susanne Winter 42 wirklichkeitsbezogenere Konturen an. Dies macht sich auch in der Sprache bemerkbar, die sich vor allem im Hinblick auf das Vokabular verändert: Fachtermini und spezifische Ausdrücke und Wendungen aus dem Tätigkeitsbereich Pantalones tauchen auf, Rezepte, Zutaten, Gewohnheiten, die mit dem Gewürzhandel zusammenhängen. Im Umgang mit der Familie und den Bediensteten wird eine moralische Haltung und Erwartung Pantalones spürbar, die der Maske bislang fremd war, zeichnen sich die improvisierten Komödien doch überwiegend durch eine moralisch-ethische Indifferenz aus. 20 Bei Goldoni wird dieser Wandel noch deutlicher: er macht - im Anschluss an Bonicelli - aus dem komischen, verlachten Pantalone der improvisierten Komödien in seinen Stücken eine Person mit Ansehen, einen ehrlichen Kaufmann aus Venedig. 21 Diese Veränderung geschieht im Rahmen seines umfassenden Theaterreformprojekts, das zum einen die Überwindung einer spezifisch italienischen Konstellation anstrebte, nämlich der Diskrepanz zwischen der überaus erfolgreichen, publikumswirksamen Tradition der Commedia dell’arte, und einem zwar im literarisch-kulturellen Wertekanon verankerten, aber aufführungspraktisch vernachlässigbaren gelehrten, textbasierten Theater. Zum anderen bewegt sich die Reform im Kontext des aufklärerischen Denkens, aus dem eine veränderte Konzeption des Theaters hervorging, die auf größtmögliche Wirklichkeitsnähe, auf die Wahrheit des Dargestellten und auf eine moralische Wirkung zielte. Wohl wissend, dass weder die Schauspieler, die in der Tradition der Commedia dell’arte standen, noch das Publikum, das diese goutierte, einer radikalen Reform folgen würden, ging Goldoni schrittweise vor. Im Wesentlichen wurden zunächst die a-soggetto-Partien, das heißt die improvisierten Passagen, durch ausgeschriebene ersetzt, dann verschwanden die Masken überhaupt aus den Komödien, so dass aus den Typen zunehmend differenziertere Figuren wurden. Die ersten Komödien Goldonis waren noch canovacci, in denen nur die Rolle des Protagonisten und einige ausgewählte Dialoge ausgeschrieben waren. 22 Während in La bancarotta (1741) Pantalones Rolle 20 Spezzani führt in diesem Zusammenhang Ludovico Zorzi an: “Secondo lo Zorzi i limiti più macroscopici di questo tipo di teatro, assolutamente originale soltanto nell’organizzazione della tecnica scenica, consiste, rispetto alle più mature e significative esperienze teatrali offerte dal Machiavelli e dal Ruzzante, nell’assenza totale di valori «etici» e «sociali» legati al contenuto della sua rappresentazione” (Spezzani 1997, S. 11). 21 Dies betont Goldoni auch in den Vorworten zur Pasquali-Edition. Pantalone ist “quasi sempre nelle Commedie dell’Arte lo scopo delle furberie del Brighella, delle impertinenze dell’Arlecchino, e della derisione degli Amorosi. Tale è il povero Pantalone nelle Commedie a soggetto; ma io nelle Commedie mie di carattere ho reso la riputazione a questo buon personaggio, che rappresenta un onesto Mercante della mia Nazione” (Goldoni: Prefazioni, S. 715). 22 Dieses Vorgehen beschreibt Goldoni am Beispiel von Momolo cortesan (1739), einem der ersten Stücke, die er für den Pantalone der Compagnia Imer, Francesco Golinetti, kon- Von der Maske zur Rolle 43 noch einmal durch die Tradition des vecchio innamorato bestimmt ist, der seine Position als Kaufmann verrät, indem er die Ware im Geschäft liegen lässt und sich stattdessen um Liebesdinge kümmert, nimmt Goldoni in L’uomo prudente (1748) den ernsten Aspekt der Maske auf und bereitet damit den Weg für die commedie di carattere, die Charakterkomödien. Zwar ist Pantalones Sprache in L’uomo prudente noch von der Formelhaftigkeit und Stilisierung der Maskensprache geprägt, doch finden sich im Bereich der häuslichen, familiären Sprache Neuerungen, die dem Familienvater vor allem im Hinblick auf die soziale Situation und auf moralische Aspekte individuellere Züge verleihen und ihn zu einer positiven und keineswegs mehr lächerlichen Figur machen. 23 Im Titel selbst taucht diese Modellierung der Maske in Il padre di famiglia (1750) auf, einem Stück, in dem die Personen die traditionellen Commedia dell’arte-Namen tragen wie Pantalone de’ Bisognosi, Dottor Balanzoni, Arlecchino, Brighella, Beatrice, Lelio etc., obwohl es inhaltlich in eine ganz andere Richtung weist, indem es Fragen der Pädagogik und der Erziehung sowie familiärer und sozialer Strukturen thematisiert und damit in gewisser Hinsicht das einige Jahre später von Diderot propagierte drame sérieux antizipiert. Verfolgt man diese Entwicklung, wird deutlich, dass die Ambiguität der Maske, die sowohl bei Cecchini als auch bei Perrucci zwischen parti ridicole und parti serie angesiedelt ist, bei Goldoni zugunsten der ernsten Seite reduziert wird, so dass sich auch die Anforderungen an die schauspielerischen Qualitäten für eine optimale Besetzung der Rolle verändern. Il padre di famiglia und L’uomo prudente schrieb Goldoni mit Blick auf den Schauspieler Cesare D’Arbes, 24 den renommierten Pantalone der Compagnia Medebach, der Goldoni in Pisa aufgesucht und um eine Komödie gebeten hatte. In diesem Zusammenhang berichtet Goldoni in seinen Memoiren, dass er D’Arbes positiv geantwortet und ihn zugleich gefragt habe, “si c’étoit en Pantalon masqué ou sans masque qu’il la desiroit” 25 - ob der Pantalone darin mit oder ohne Maske erscheinen solle, worauf D’Arbes den Wunsch geäußert habe, für ihn die Rolle eines jungen Mannes ohne Maske zipierte. In einem weiteren Schritt, etwa 15 Jahre später, arbeitete Goldoni den canovaccio zu einem Text um, der unter dem Titel L’uomo di mondo in der Edition Paperini in Florenz erschien (Goldoni: Prefazioni, S. 738-739). 23 Dazu ausführlich Spezzani 1997, Kap. III. Linguaggio del Pantalone goldoniano (1) und Kap. IV. Linguaggio del Pantalone goldoniano (2). Zur inhaltlichen Komplementarität von L’uomo prudente und Il padre di famiglia siehe Arnaldo Momo: La carriera delle maschere nel teatro di Goldoni Chiari Gozzi. Venezia 1992, S. 113-114. 24 Aus zahlreichen Äußerungen in Vorworten zu einzelnen Texten oder Editionen und aus den Memoiren geht hervor, dass Goldoni bei der Rollengestaltung immer die Eigenheiten und den Charakter der Schauspieler im Auge hatte. Z.B. Goldoni: Prefazioni, S. 694. 25 Carlo Goldoni: Mémoires de M. Goldoni pour servir à l’histoire de sa vie et à celle de son théâtre. In: Tutte le opere. Bd. I. Hg. von Giuseppe Ortolani. Milano 1935, S. 230. Susanne Winter 44 vorzusehen, wie zum Beispiel in der improvisierten Komödie Pantalon Paroncin. Die Aufführung von Tonin bella grazia wurde allerdings ein Misserfolg, der aber rasch durch L’uomo prudente ausgeglichen wurde, einem Stück, in dem der Pantalone D’Arbes wieder mit Maske auftrat. 26 Der kurze und zwangsläufig pauschale Überblick zeigt, dass in dieser experimentellen Phase das Rollenfach Pantalone bei Goldoni unterschiedlichste Formen annehmen konnte: zum einen konnte der Pantalone der Truppe als Maske mit ihren traditionellen Charakteristika sowohl improvisierend (canovacci) als auch mit ausgeschriebenem Text (La bancarotta), aber auch ohne Maske (Tonin Bellagrazia) auftreten; zum anderen erinnert die Maskenrolle mit dem Namen Pantalone immer weniger an den typischen Pantalone der Commedia dell’arte (L’uomo prudente, Il padre di famiglia), so dass Goldoni - konsequenterweise, könnte man sagen - bei späteren Überarbeitungen und der Italianisierung der Stücke Pantalone einen anderen Namen gab, wie dies zum Bespiel bei Il padre di famiglia der Fall war. 27 Im Falle Goldonis ist also der Einfluss der Rollenfächer auf die Stücke unübersehbar, aber ebenso evident ist seine Modellierung der Rollen bis hin zur Auflösung ihrer Konturen. Gerade in Il padre di famiglia, einer “commedia [ … ] piena di morale” 28 , wie Goldoni im Vorwort schreibt, in der der Protagonist den Namen Pantalone trägt, sind kaum noch Bezüge zu den Charakteristika der Maske erkennbar, am wenigsten wohl die Zugehörigkeit zu den parti ridicole: einzig der Dialekt scheint den Namen Pantalone noch zu rechtfertigen. Eine ganz andere Variante der Geschichte Pantalones wird bei Carlo Gozzi sichtbar. Mit seinen zehn Fiabe teatrali, die zwischen 1761 und 1765 in der Auseinandersetzung mit Goldonis Reformbestrebungen und allgemeiner mit den Tendenzen des aufklärerischen Theaters entstanden, wandte er 26 Ebd., S. 244-245. Dass die Maskenrolle einerseits und die Rollen ohne Maske andererseits, die beide zum Rollenfach des Pantalone gehörten, zwei ganz unterschiedliche Begabungen und Techniken erforderten, geht aus Goldonis Schilderung der Schwierigkeiten hervor, einen Nachfolger für den Pantalone D’Arbes zu finden, der unerwartet in den Dienst des polnischen Königs berufen wurde und möglichst rasch ersetzt werden musste. (Ebd., S. 266-267). 27 Während in der ersten Version von Il padre di famiglia (Ed. Bettinelli, 1751) im Personenverzeichnis an erster Stelle “Pantalone de’ bisognosi, mercante veneziano” aufgeführt ist und Pantalone selbstverständlich venezianisch spricht, heißt die Figur in den späteren Editionen bei Paperini (1754) und Pasquali (1764) “Pancrazio, mercante” und spricht italienisch. Zu den unterschiedlichen Editionen siehe die ausführlichen Kommentare von Anna Scannapieco in Carlo Goldoni: Il padre di famiglia. Hg. von Anna Scannapieco. Venezia 1996. In der Goldoni-Forschung gilt häufig der “rustego” (I rusteghi, 1760) als direkter Erbe Pantalones, da die “rusteghi” nicht nur typologisch und charaktermäßig, sondern auch sprachlich durch das Venezianische enge Verbindungen zu Pantalone aufweisen. Siehe z.B. Spezzani 1997, S. 258-267 und Momo 1992, S. 122- 126. 28 Goldoni: Il padre di famiglia, S. 125. Von der Maske zur Rolle 45 sich demonstrativ gegen die postulierte Wirklichkeitsnähe sowie das Nützlichkeitsstreben und setzte stattdessen auf die Fiktionalität und das Vergnügen im Theater. 29 Die Fiabe teatrali basieren auf einer bewusst artifiziellen Kombination von Elementen des Märchens und der Commedia dell’ arte, wobei die Masken zu Figuren in der Märchenhandlung werden. Die beiden betont wirklichkeitsfernen Komponenten des Märchens und der Masken sind in Kontrastrelationen miteinander verknüpft, so dass die ernstpathetische Sphäre der Märchenfiguren der komischen der Masken gegenübersteht. In allen Fiabe teatrali treten die Masken Pantalone, Tartaglia, Truffaldino und Brighella auf und übernehmen Rollen im Märchengeschehen, so dass eine doppelte Rollenhaftigkeit entsteht, die jeweils zu einer spezifischen Modellierung der Masken führt. In der märchenhaften theatralen Welt wird Pantalone zum Vertrauten der Märchenprinzen und -prinzessinnen, zum Minister oder zum Sekretär am königlichen Hof. In diesen Rollen zeigt er sich als väterliche Figur, stets um das Wohl der Herrscher besorgt, wohlmeinend und pragmatisch. Sei es in Serendippo, in Peking oder in Samarkand, er spricht venezianisch, verweist auf seine venezianische Herkunft und betont seine Liebe zur Vaterstadt. Zwar bleibt Pantalone in den Fiabe teatrali Maske, behält das Aussehen und die Sprache bei, doch verschwinden auch bei Gozzi die komischen Aspekte der Maske weitgehend. Dagegen ergibt sich eine neue Art von komischer Verfremdung durch die doppelte Rollenhaftigkeit, wenn die Maske Pantalone als Minister agiert und in fernen, märchenhaften Ländern von typisch venezianischen Gegebenheiten spricht. Durch diese Rollendoppelung entsteht eine metatheatrale Ebene, auf der die Maskenhaftigkeit gebrochen und auf die Fiktionalität der theatralen Welt verwiesen wird. Während Pantalone bei Goldoni in der Funktion des Familienvaters in Il padre di famiglia oder L’uomo prudente zum ‘Titelhelden’ und Protagonisten avanciert, tritt die Maske bei Gozzi hinter die Märchenfiguren zurück, so dass in beiden Fällen, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, die Masken neue Funktionen übernehmen und damit das Gleichgewicht der Personenkonstellation in der Commedia dell’arte gestört ist. Der Transformation der Maske zur Charakterfigur beziehungsweise zum Repräsentanten einer sozialen Funktion bei Goldoni steht bei Gozzi die Integration der Maske in einen neuen Kontext gegenüber, was allerdings zur Folge hat, dass die Rolle mit dem Untergang der Tradition der Commedia dell’arte-Truppen und dem Aussterben guter Maskendarsteller aus den Texten verschwindet. 29 Siehe dazu Susanne Winter: Von illusionärer Wirklichkeit und wahrer Illusion. Zu Carlo Gozzis Fiabe teatrali. Frankfurt/ M. 2007. Susanne Winter 46 III. Familienväter Ein Blick nach Frankreich macht die Frage, inwieweit es tatsächlich die Maske Pantalone ist, deren Erbe die Rolle der Familienväter prägt, noch dringlicher. Sieben Jahre nachdem Goldonis Padre di famiglia aufgeführt worden war, schrieb Diderot eine Prosakomödie mit dem Titel Le Père de famille (1757/ 58), durch die er sich schnell Plagiatsvorwürfen ausgesetzt sah. Tatsächlich stimmen nicht nur die Titel und der ernste Charakter der Stücke überein, auch die beiden Familienväter ähneln sich - trotz aller Unterschiede in der Handlung - in mancherlei Hinsicht, zum Beispiel in ihrer starrköpfigen Verkennung der Wirklichkeit und ihrer zweifelhaften Überzeugung, als gute Familienväter zu handeln. Goldoni wie Diderot stellen einen Stand, die condition des Familienvaters, auf die Bühne und lassen diesen Tugendmaximen ex cathedra verkünden. Da Diderots d’Orbesson aber sicher nicht aus der Tradition der Pantaloni kommt, sondern seine Ahnen eher in der literarischen Komödie zu finden sind, liegt die Vermutung nahe, dass Pantalone sich dort, wo - zugespitzt gesagt - der Name nur noch das Rollenfach seines Interpreten bezeichnet, kaum von der Rolle der Väter in literarischen Komödien unterscheidet. Wenn also Pantalone zu Pancrazio wird und damit die typische Maske, das Kostüm sowie das Venezianische wegfallen, lässt der Text keinen zweifelsfreien Rückschluss von Pancrazio auf Pantalone zu. 30 Damit wäre auch die Filiation fragwürdig, die Sybille Maurer-Schmook herstellt, wenn sie schreibt: “Der venetianische [ sic ] Pantalone wird zum deutschen Familienvater - meist noch ebenso geizig, schrullig und dem Willen der Amorosi im Weg wie ehedem sein italienischer Ahn”. 31 Ist es nicht eher die Tradition antiker Komödien oder der französischen Familienväter als die der italienischen Maske, die den Deutschen als Modell diente? Letztere Annahme fände eine Bestätigung in Bernhard Diebolds Studie zum Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts, der den “Stammvater der polternden Alten”, eine mögliche Variante des Familienvaters, in der Titelfigur von Goldonis Le Bourru bienfaisant (1771) sieht. 32 Zwar ist es der Italiener Goldoni, der Le Bourru bienfaisant geschrieben hat, doch hat er 30 Wie bereits gesagt, spricht Pantalone in der ersten Fassung von Il padre di famiglia noch Dialekt, in späteren Umarbeitungen trägt die Figur jedoch den Namen Pancrazio und spricht Hochsprache. 31 Maurer-Schmoock 1982, S. 159. 32 Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig/ Hamburg 1913, S. 110-111. Diebold weist auf die rasche Rezeption des Stücks im deutschsprachigen Raum durch Übersetzungen, Bearbeitungen und Aufführungen hin. Auch Hans Doerry geht davon aus, dass die Typenfächer “im wesentlichen vom französischen Theater zu uns verpflanzt worden sind, mit der französischen Komödie Molières und seiner Nachfolger, vor allem durch die Gottschedsche Reform in Deutschland protegiert”. (Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. Berlin 1926, S. 12). Von der Maske zur Rolle 47 das Stück in seiner Pariser Zeit in französischer Sprache für französische Schauspieler verfasst und ganz bewusst im Hinblick auf die Tradition der Comédie française und nicht des Théâtre-Italien konzipiert. 33 Der Protagonist Géronte weist keinerlei pantaloneske Züge auf, ist die Rolle doch ganz auf den Schauspieler Préville zugeschnitten, der als Géronte einen seiner größten Bühnenerfolge feiern konnte, 34 während das Stück in Italien ein eklatanter Misserfolg war. Daraus zu schließen, dass sich die Rollengestaltung des Familienvaters und der Erwartungshorizont des Publikums im französischen und deutschen Kontext glichen, während sie von der italienischen Tradition abwichen, erscheint mir allerdings etwas gewagt. Nimmt man die Maske Pantalone, Goldonis und Gozzis Pantalone-Varianten und -Transformationen sowie die französischen Stücke Diderots und Goldonis zusammen in den Blick, wird die Komplexität der Frage nach der Entwicklung von Rollen und Rollenfächern deutlich. Dass Pantalone, solange es die Maske beziehungsweise die Maskendarsteller gab, mehr und mehr in die Funktion des Familienvaters rückte, sei unbestritten, doch scheint sich aus dieser Zusammenschau ein Hinweis darauf zu ergeben, dass die Rolle des Familienvaters nicht direkt aus der Maske Pantalone abzuleiten ist, sondern höchstens aus ihrer Transformation in eine Vaterrolle, die ihrerseits in der Tradition der literarischen Komödienfigur steht und von dieser kaum mehr zu unterscheiden ist. 33 Goldoni weist in seinen Memoiren explizit auf den durch und durch französischen Charakter der Komödie hin: “Je n’ai pas seulement composé ma Piece en François, mais je pensois à la manière Françoise quand je l’ai imaginée; elle porte l’empreinte de son origine dans les pensées, dans les images, dans les mœurs, dans le style”. (Goldoni 1935, S. 508). 34 Siehe den ausführlichen Kommentar Paola Lucianis zur Besetzung in Carlo Goldoni: Le Bourru bienfaisant. Il burbero di buon cuore. Hg. von Paola Luciani. Venezia 2003, S. 26-33. Dirk Niefanger, Erlangen Vorläufer des Rollenfachs? Dramatische Figurentypen und spezialisierte Schauspieler in der Frühen Neuzeit Von dem Theater oder den Schauspielern kann in der Frühen Neuzeit nicht die Rede sein. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Theatersysteme, die nebeneinander existierten, nur partiell voneinander profitierten und nur zu einem Teil in Konkurrenz zueinander standen. In Universitäten und Schulen, in Kirchen und Klöstern, von Handwerkern oder Wanderbühnentruppen, von Hoftheatern oder in Gelehrtenkreisen wurde je anders gespielt. Auch waren die Professionalisierung des Theaters und die Spezialisierung der Schauspieler unterschiedlich und haben sich zudem im Laufe der Frühen Neuzeit erheblich verändert. Eine Untersuchung des Rollenfachs in der Frühen Neuzeit müsste also präziser das jeweilige Theatersystem benennen, um differenzierte Aussagen zur Fragestellung machen zu können. Der folgende Beitrag befasst sich deshalb nicht mit dem Theater der Frühen Neuzeit, sondern mit unterschiedlichen Theatersystemen, dem geistlichen Spiel, genauer dem Passionstheater, und der deutschsprachigen Wanderbühne in der Tradition der Englischen Komödianten. Beide Systeme existieren in Varianten noch im 18. Jahrhundert. In ihrer Unterschiedlichkeit erscheinen sie passend für die Frage nach dem Beginn des Rollenfachs und seiner Relevanz fürs Drama und Theater. Denn in beiden Systemen bestehen Relationen zwischen dem mehr oder minder schriftlich fixierten Drama und seiner Inszenierung bzw. Aufführung, 1 die durch die zur Verfügung stehenden Schauspieler und ihre spezifischen Fähigkeiten bzw. sozialen Rollen beeinflusst werden. Der Blick auf die stark divergierenden Systeme soll zeigen, dass man Überlegungen zu unterschiedlichen “Figuren und Hand- 1 Der im Aufsatz gebrauchte Begriff ‘Drama‘ orientiert sich an seiner seit dem 18. Jahrhundert und bis heute gängigen Verwendung in der Literaturwissenschaft. Vgl. etwa Franziska Schößler: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart/ Weimar 2012, S. 7. Dieser Fachausdruck ‘Drama‘ für den schriftlich fixierten Text, der als Grundlage einer Aufführung dienen kann, aber nicht muss, wird in der (eher theaterwissenschaftlichen) Forschung zunehmend durch den Begriff ‘Theatertext‘ ersetzt: Vgl. Bernhard Jahn: Grundkurs Drama. Stuttgart 2009, S. 7 und Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin 2003 3 , S. 49 und 83. Vom Drama sind die Inszenierung und die Aufführung des gleichen Stücks begrifflich und sachlich zu unterscheiden. Dirk Niefanger 50 lungstypen” 2 sowie auf diese spezialisierte Schauspieler in der Vormoderne aus ganz unterschiedlichen Perspektiven angehen und eine durchaus überraschende Nähe zum späteren Rollenfach mit grundverschiedenen Argumentationen diskutieren kann. Allerdings geht auch schon die ältere Forschung davon aus, dass es bereits vor dem 18. Jahrhundert so etwas wie Rollenfächer im europäischen Theater gegeben hat, auch wenn sie nicht so benannt werden. Leicht versteckt, in einer Anmerkung des älteren Standardwerks von Hans Doerry über Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts, heißt es eindeutig: 3 Helden, Liebhaber, Väter und Mütter hingegen sind als Fächer […] nicht erst durch die französische Tragödie, sondern entsprechend ihrer Allgemein= Menschlichkeit, schon, wie alle Einrichtungen des Berufstheaters, mit den englischen Komödianten nach Deutschland gekommen. Hier ist noch reines Theater - Theater auch in dem Sinne, den wir heute noch mitunter diesem Wort geben: Spektakel -, und dazu gehören unweigerlich stehende, ewig wiederkehrende, internationale und allgemein=menschliche Typen. 4 Vorher hatte Doerry vier dieser allgemein menschlichen Typen des Theaters schon benannt: “Helden und Liebhaber und ihre Entsprechungen im weiblichen Personal”. Diese Rollen sind im Theaterbetrieb aller Zeiten von so unbedingter Wichtigkeit und elementarer Bedeutung, dass sie sozusagen Ur= und Grundfächer bilden und nicht als eigentlich charakteristisch für einen besonderen Zeitabschnitt reklamiert werden können. 5 Hier allerdings kann man Doerry widersprechen. In der Frühen Neuzeit gibt es ein Theater, das ohne “Helden und Liebhaber” im engeren Sinne auskommt und trotzdem mit Figurenstereotypen arbeitet. Nicht alle Theaterstücke setzen auf Paarbildungen und heroische Taten. Ein Großteil des früh- 2 Christel Meier u.a. (Hgg.): Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit. Münster 2008. 3 Einen ähnlichen Befund wie Doerrys kurze Anmerkungen bieten übrigens die einschlägigen Lexika: Im Rollenfach-Artikel des Theater Lexikons von Bernd C. Sucher beispielsweise wird auf den unterschiedlichen Rang der Schauspieler in der Antike verwiesen, die die Übernahme entsprechender Rollen gerechtfertigt hätten. Ähnliches sei im spanischen und italienischen Theater der Frühen Neuzeit zu bemerken. In Deutschland wird in diesem Artikel auf das 18. Jahrhundert verwiesen. Hier hätten die Wanderbühnen zuerst sogenannte Agenten für bestimmte Rollentypen eingeführt, die sich am Ende des Jahrhunderts zu eng konturierten Rollenfächern ausdifferenziert hätten. Vgl. Bernd C. Sucher (Hg.): Lexikon Theater. Bd. 2. München 1996, S. 365-366. 4 Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. Berlin 1926, S. 12, Anm. 12. Vgl. auch S. 11, vor allem den Begriff “Ur= und Grundfächer”. 5 Ebd., S. 11. Vorläufer des Rollenfachs? 51 neuzeitlichen Theaters behandelte nämlich geistliche Themen und nutzte deshalb ein anderes Figurenrepertoire. Das eigentliche Rollenfach beginnt nach Doerry erst mit der “Vereinigung von Theater und Dichtung”, 6 also mit der so genannten ‘Literarisierung’ des Dramas; im deutschsprachigen Raum gilt hier Gottscheds Theaterkonzept als entscheidend. 7 Da es schon früher Leseausgaben von Dramen gegeben hat, wie ein Blick in die aufwendig gestalteten Dramendrucke der Barockzeit zeigt, muss diese Grenze heute indes relativiert werden. 8 Zu fragen ist schon deshalb, ob das Berufs- und Laienschauspiel des 17. Jahrhunderts, das sich verhältnismäßig wenig an literarische Vorlagen gebunden fühlte, ohne Rollenfächer oder ähnliche Bestimmungen gearbeitet hat oder ob es Vergleichbares schon gab. Problematisch ist dabei die schlechte Quellenlage hinsichtlich der Aufführungs- und Inszenierungstexte in der Frühen Neuzeit. Der Begriff und die Vorstellung von dem, was heute Rollenfach genannt wird, gehört im deutschen Sprachraum ins späte 18. und 19. Jahrhundert. Beides soll Ausgangspunkt der Frage sein, inwieweit sich schon vorher analoge Phänomene im Drama und Theater zeigten. Als Kennzeichen des Rollenfach-Systems sind zu notieren: a) “bestimmte Verhaltens- und Interaktionsmuster”, 9 die einer Reihe ähnlicher Figurentypen in Dramen zugeschrieben werden, b) bestimmte Schauspieler, 10 die in einem Ensemble speziell für diese Figurentypen aufgrund ihrer Spielfähigkeit ausgewählt werden bzw. ausgebildet wurden und c) die Übereinkunft innerhalb des jeweiligen Theatersystems, dass die Passgenauigkeit von Rollen und Schauspieler der Aufführung und den Rahmenbedingungen des Theaters insgesamt nutzt. Das letzte Merkmal nimmt die von Doerry stark gemachte Effizienzsteigerung des Theaterbetriebs durch die Einführung der Rollenfächer auf. Sie bezieht sich auf ökonomische, soziale und auch künstlerische Aspekte. 6 Ebd., S. 12, Anm. 12. 7 Vgl. etwa Horst Turk: Einleitung: Theater und Drama. Zur Geschichte ihres Verhältnisses. In: Ders. (Hg.): Theater und Drama. Theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt. Tübingen 1992, S. VII-XX. 8 Vgl. mein Erlanger DFG-Projekt: Lesedrama der Frühen Neuzeit (1500-1730). Mitarbeiter: Alexander Weber. 9 Erika Fischer-Lichte: Zum kulturellen Transfer theatralischer Konventionen. In: Brigitte Schultze u.a. (Hgg.): Literatur und Theater. Traditionen und Konventionen als Problem der Dramenübersetzung. Tübingen 1990, S. 35-62, hier S. 43. 10 Vgl. Peter Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb. Studien zur Sozialgeschichte des Schauspielerstandes im deutschsprachigen Raum 1700 - 1900. Tübingen 1990 und Peter W. Marx: Art. “Schauspieler/ in”. In: Friedrich Jaeger u.a. (Hgg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 11. Stuttgart/ Weimar 2010, Sp. 677-681. Dirk Niefanger 52 Die exemplarische und sehr kursorische Untersuchung der vormodernen Vorläufer des Rollenfachs konzentriert sich zunächst auf das kirchliche Laienspiel, genauer auf das Passionsspiel (1), und dann in zwei Abschnitten auf die Wanderbühne im deutschsprachigen Gebiet der Frühen Neuzeit. Hier werden zuerst Schauspielerporträts (2) und dann diskursive Texte zum Wanderbühnentheater (3) herangezogen. I. Figurenrepertoire und Interaktionsmuster im Passionsspiel In dem 2008 erschienenen Sammelband über “Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit” wird der Frage nachgegangen, inwieweit das vormoderne Theater von festgelegtem Personal und eingeführten Handlungssituationen bestimmt wurde. Die Beiträge versuchen nachzuweisen, dass eine spezifisch “transpsycholgisch[e]” und eben nicht “einmalig-subjektive” Personenkonstruktion notwendigerweise zu einer Verwendung von Figuren- und Handlungsstereotypen führt, die in den Dramen der Frühen Neuzeit einfallsreich modelliert, variiert und überblendet werden. 11 Die Beiträge machen deutlich, dass das stereotype Figurenarsenal wesentlich vielfältiger erscheint als das eher eingeschränkte Repertoire der von Doerry angenommenen “Ur= und Grundfächer”. Die auf den ersten Blick ganz einfach erscheinende Bauernfigur modellieren die frühneuzeitlichen Dramen, so ein Beispiel von Meier/ Ramakers, nicht selten als “ambivalent[e]” Gestalt, die zugleich als “Grobian und Narr, als Schelm oder als kluger Bauer Handlungsrollen erfüllt”. 12 Man kennt dieses Phänomen zum Beispiel aus dem bis heute gerne von Laiengruppen aufgeführten Fastnachtsspiel Das Kälberbrüten (1551) von Hans Sachs, 13 wo das Bauernstereotyp durch Geschlechterrollen zusätzlich gekreuzt wird. Die Bäuerin ist schlau und grob, der Bauer ein Narr und Schelm. Die Variationsbreite der Figurenmodellierung wird im Geistlichen Spiel des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit wesentlich geringer gewesen sein als im Fastnachtspiel, das ja mit einem mehr oder weniger alltagsweltlich bekannten Personal arbeitete: Herzöge und Könige, Richter, Pfarrer, Einsiedler, Bauern, Jungfrauen, Mägde, Mörder, Narren usw. Während hier die einzelnen Figuren in gewissen Spielräumen “ambivalent” 14 wie im ‘wirklichen Leben’ oder der frühneuzeitlichen Vorstellung davon gestaltet werden 11 Christel Meier/ Bart Ramakers: Akteure und Aktionen im Drama der Frühen Neuzeit. Eine Einführung. In: Meier u.a. (Hgg.) 2008, S. 9-31, hier S. 15. 12 Ebd., S. 16. Vgl. auch Bernhard Jahn: Der Bauer als Pasticcio. Zur Konstruktion von Unterschichtfiguren durch die Kombination von Aktionstypen am Beispiel deutscher Dramen des 16. Jahrhunderts. In: Meier u.a. (Hgg.) 2008, S. 369-389. 13 Vgl. Hans Sachs: Das Kälberbrüten. Faßnachtspiel mit 3 Personen. In: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Dieter Wuttke. Stuttgart 1989 4 , S. 131-147. 14 Meier/ Ramakers 2008, S. 16. Vorläufer des Rollenfachs? 53 konnten, waren die biblischen Figuren und Heiligen deutlich festgelegter. Ambivalenz - und eine daraus resultierende Komik - war hier selbstredend nicht erwünscht. Geistliche Texte vertragen zwar eine streitbare Auslegung, aber kaum eine ambivalente Vorstellung einer Figur. Diese kann zwar im Laufe des Stücks zum rechten Glauben finden (conversio), muss dazu aber von Anfang an disponiert sein. Konversion erscheint so, trotz der Peripetie als ihrer dramaturgischen Realisierung, als in der Figur schon angelegter Prozess. 15 Der Bühnenauftritt einer geistlichen Figur in einem nicht-komischen Kontext erscheint insofern immer auch als confessio, als Bekenntnis zum rechten Glauben. 16 Eine unklare Charakterzeichnung würde nach frühneuzeitlicher Auffassung wohl den Vorbildcharakter der Figur und seiner logischen Konversion untergraben. Erst Lessings Mitleidskonzept setzt dezidiert auf ein Mediocritas-Prinzip, wo die Fehlerhaftigkeit einer Figur Möglichkeiten der Identifikation schafft. Als Beispiel mit sehr deutlichen frühneuzeitlichen Figurentypen kann man die Passionsspiele ansehen, die seit dem Spätmittelalter in Kirchen, in Ausnahmefällen und bis heute auf eigens eingerichteten Spielplätzen gegeben wurden. Das Oberammergauer Passionsspiel existiert seit 1634 mit einem kaum veränderten Figurenarsenal und einem ausgesprochen festgelegten Handlungsablauf. Spielgrundlage war zuerst eine Kompilation zweier Texte aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die seither erweitert oder gekürzt und modernisiert wurden. Der älteste erhaltene schriftliche Passionstext aus Oberammergau stammt aus dem Jahre 1662. Das Drama 17 wird bis heute immer wieder verändert und behutsam neuen Vorstellungen über die Figuren angepasst. So diskutiert man seit 1977 über antisemitische Züge der Judas-Figur. 18 Im Grunde sind die typischen Merkmale der Figuren aber gleich geblieben. Auf Kontinuität und Tradition wird zumindest von der Festspielverwaltung in Oberammergau Wert gelegt. 19 15 Vgl. Kai Bremer: Der Conversus und sein Bekenntnis. Zur Performanz der Bekehrung auf dem deutschen Theater um 1600. In: Meier u.a. (Hgg.) 2008, S. 485-508, hier S. 487. 16 Vgl. ebd., S. 507. 17 Vgl. etwa: Das große Versöhnungsopfer auf Golgatha oder die Leidens- und Todesgeschichte Jesu nach den vier Evangelien mit biblischen Vorstellungen aus dem alten Bunde zu Betrachtung und Erbauung […] vollständig aufgeführt zu Oberammergau in Oberbayern […]. München 1850 6 . 18 Vgl. Hannes Burger: Von Antisemitismus redet in Oberammergau niemand mehr. Gestern wurde in Oberammergau zum letzten Mal die Passion 2000 aufgeführt. In: Die Welt, 19.10.2000 - digitale Version: http: / / www.welt.de/ print-welt/ article537375/ Von-Antisemitismus-redet-in-Oberammergau-niemand-mehr.html (eingesehen am 19. 9.2013). 19 Vgl. etwa: Helmut W. Klinner/ Michael Henker (Hgg.): Die Erlösung spielen. Führer durch die Dauerausstellung im Passionsspielhaus. Eine Dokumentation des Oberammergauer Passionsspiels. Oberammergau 1993 oder Gerd Holzheimer (Hg.): Leiden schafft Passionen. Oberammergau und sein Spiel. München 2000. Dirk Niefanger 54 Ein Blick auf die Oberammergauer Webseiten 20 verrät, dass der Rollenfachgedanke sich hier nicht nur auf das Spielrepertoire, sondern auch - vielleicht in dieser Radikalität eine Besonderheit von Oberammergau - auf das Aussehen der Schauspieler bezieht. Die Figuren müssen von den Schauspielern nicht nur gut gespielt werden können; sie müssen auch so aussehen, wie man sich in Oberammergau Figuren der Passionsgeschichte vorstellt. Und der Spieler oder die Spielerin selbst muss im Ort geboren sein. Auch waren lange weitere Dispositive für die Auswahl geeigneter Spielerinnen und Spieler wirksam, die jenseits der Schauspielfähigkeiten lagen und zudem heute gängigen sozialen Vorstellungen widersprechen: Denn erst am 22. Februar 1990 konnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof durchsetzen, dass Frauen allein aufgrund ihres Alters und ihres Familienstandes das Mitwirkungsrecht an den Spielen nicht verwehrt werden durfte. Bis dahin spielten nur unverheiratete, jüngere Frauen in Oberammergau. 21 Hier interessiert aber weniger die nicht unumstrittene Traditionsbindung von Oberammergau in den letzten Jahren als das Arbeiten mit Figurenstereotypen im frühneuzeitlichen Passionsspiel. Zu bedenken ist die gegenüber heutigen Theateraufführungen veränderte Vorstellung vom Publikum, das nicht nur ‘zuschaut’, sondern, wie die Spieler, selbst als Teil einer nach bestimmten Mustern vollzogenen Liturgie erscheint. Das heißt, das Gespielte wirkt für die Beteiligten nicht wie eine vorgeführte Fiktion, sondern wie der rituelle Nachvollzug eines als wahr angenommenen Geschehens. 22 Das Publikum nimmt als dramaturgisch gesehen passive Gruppe notwendig am Ritual aktiv teil. Doch gibt es einen besonderen Personenkreis, der dabei nicht sich selbst gibt, sondern ganz eindeutig auch eine Rolle annimmt, beziehungsweise in ihr aufgeht. Diese Rolle ist wesentlich vom Bibelgeschehen vorgegeben, das durch den Nachvollzug im sakralen Raum aktualisiert wird. An der Rollenübernahme erkennt man - trotz der Integration der Aufführung in liturgisches Handeln - so etwas wie ein geistliches Schauspielbewusstsein. So verlangt das Donaueschinger Passionsspiel aus dem 15. Jahrhundert (überliefert in einer Handschrift Anfang des 16. Jahrhunderts) in einer Re- 20 Vgl. www.passionsspiele2010.de und www.passionstheater.de (eingesehen am: 1.1.2013). 21 Vgl. die Web-Seite der Oberammergauer Frauenliste (http: / / www.frauenliste-oberammergau.de, eingesehen am 19.9.2013). Hier finden sich auch eine Chronik des Gerichtsverfahrens (www.frauenliste-oberammergau.de/ Chronik%20FL.pdf, eingesehen am 19.9.2013) und Hinweise auf weitere Dokumente. 22 Vgl. Ingrid Kasten/ Erika Fischer-Lichte (Hgg.): Transformation des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel. Berlin 2007; Jan-Dirk Müller: Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Andreas Kablitz/ Gerhard Neumann (Hgg.): Mimesis und Simulation. Freiburg 1998, S. 541-571; Jan-Dirk Müller: Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und geistliches Spiel. In: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.): Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Tübingen 2004, S. 113-133. Vorläufer des Rollenfachs? 55 giebemerkung bei Maria Magdalena eine körperlich sichtbare Realisierung von Furcht, als sie angesichts des Herren ihres eigenen sündhaften Lebens gewahr wird: “Magdalena […] sitzt also erschrocklich stil, als ob sy ir förcht”. 23 Im “als ob”, das mehrfach in den Regiebemerkungen vorkommt, zeichnet sich so etwas wie ein Differenzbewusstsein von Rolle und spielender Person ab. Der Ritualcharakter der Aufführung wird dadurch aber nicht in Frage gestellt, sondern nur ein möglichst adäquates Spiel eingefordert. Das ‘als ob’ unterläuft nur scheinbar die Präsenz liturgischen Handelns, als dessen Bestandteil das Passionsspiel zu zählen ist. Nicht allein dass die biblischen Handlungen nachgespielt werden, ist relevant, sondern auch, dass sie besonders angemessen realisiert werden. Deshalb wird in den Nebentexten immer wieder eine passende körperliche Ausgestaltung des Spiels eingefordert. Im Donaueschinger Passionsspiel lesen wir, als Christus sich auf dem Ölberg von den Jüngern weg- und Gott zuwendet, eine besonders ausführliche Regiebemerkung, 24 die wir im frühneuzeitlichen Theater sonst kaum kennen: Ab dissen worten erwachend aber die junger vnd wüschet vff, als ob sy vast wellen beten. Den gat der Salvator [Christus] züm dritten mal von inen an den ölberg vnd falt nider vff das antlit crützwis eins gůten paternosters lang. den richt er sich zitternde [vff] mit vff gehepten handen vnd sol im der blütig schweiß vss gan vnd [mit] forchsamlich[er] stim facht er also zitternde an vnd spricht[.] 25 Die Stelle zeigt eine gewisse narrative Tendenz des Nebentextes, wenn er bei der Erfassung der pantomimischen Handlung mit Vergleichen arbeitet. Das “als ob” ist hier geradezu selbstreflexiv gedoppelt, weil die Jünger auch auf der Ebene der Histoire ‘Theater’ 26 spielen; denn sie tun - gerade erwachend - ja nur so als ob sie beten. Dieses “als ob” zweiter Ordnung muss aber so gespielt werden, dass es - im Gegensatz zu dem erster Ordnung - als solches - nämlich als ‘als ob’ - erkannt wird. Zweifellos bietet die Ausgestaltung der Ölbergszene durch Christus einerseits gewisse Freiräume für den Darsteller, andererseits verlangt sie auch ein größeres schauspielerisches Vermögen. Dies verwundert nicht, weil die Realisierung Christi auf der Kirchenbühne natürlich ein Privileg für einen nicht nur erfahrenen, sondern auch durch seine soziale Position aus- 23 Das Drama des Mittelalters. Passionsspiele II (Das Donaueschinger Passionsspiel). Hg. von Eduard Hartl. Darmstadt 1966 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1942), S. 97. 24 Zur Analyse solcher Regiebemerkungen vgl. das Standardwerk: Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009. 25 Donaueschinger Passionsspiel 1966, S. 171. 26 Im ganz einfachen Sinne von: Eric Bentley: Das lebendige Drama. Eine elementare Dramaturgie. Übers. v. Walter Hasenclever. Hannover 1967: “A repräsentiert B, während C zuschaut” (S. 149). Dirk Niefanger 56 gewiesenen Darsteller war. Schon in der älteren Forschung kann man nachlesen, dass die Ausgestaltung einiger Figurenreden auf geistliche Darsteller hinweisen würde, “besonders die des Salvators”. 27 Deutlich wird dies etwa beim Abendmahl, das ja gewissermaßen auf der Bühne und zugleich innerhalb der Liturgie vollzogen wurde und schon deshalb an den Geistlichen gebunden blieb. 28 Wenn man so will, war die Salvator-Figur im Passionsspiel das ‘Rollenfach’ des ausgebildeten Geistlichen. Indem der Geistliche als einzig adäquate Besetzung der Salvator-Figur vom ‚Publikum‘ bzw. von den Teilnehmern des Passionsspiels erkannt wird, zeigt sich in gewisser Weise schon in Spätmittelalter und Früher Neuzeit ein Oszillieren bzw. ein Nebeneinander von Präsenz und Repräsentation, das in der Theaterwissenschaft meist erst als Phänomen der Moderne angesehen wird. 29 Denn würde das Passionsspiel allein auf der Repräsentation einer Figur im Spiel basieren, wäre die Regel, dass allein der Geistliche den Salvator geben darf, überflüssig. Im Vollzug des Passionsspiels muss sogar für alle sichtbar werden, dass der Salvator adäquat besetzt ist; sonst erreicht das Spiel seine geistliche Qualität und damit seinen Sinn nicht. Gravierende Abweichungen von der Figurenkonzeption der Bibel verbieten sich in der Regel beim geistlichen Spiel generell von selbst, da die Akteure und ihr Handeln von allen Beteiligten bestens gekannt werden; zu keinem geringen Teil zitieren Figurenrede und Regiebemerkung gerade im Passionsspiel wörtlich einschlägige Bibelstellen. Die Textvorlagen selbst bieten indes gewisse Ausschmückungen und, wie gezeigt, Raum für individuelle schauspielerische Ausgestaltungen. Diese liegen, auch das haben wir gesehen, nicht zuletzt im gestischen, mimischen und proxemischen Bereich. Insgesamt muss man aber konstatieren, dass die Passionsspiele seit dem späten Mittelalter recht strikte Figurentypen vorsehen und von festgelegten Aktionsmustern ausgehen, die in nur verhältnismäßig geringem Rahmen variiert werden können. Den Gedanken, dass alle Darsteller einzelner Rollen, nicht nur die des Salvators oder Marias, bestimmte Befähigungen und Eigenschaften mitbringen mussten, bedarf vielleicht noch eines letzten Nachweises. Hierzu schauen wir nochmals in das Donaueschinger Passionsspiel. Nach der Kreuzigung suchen die drei Marien das Grab Christi auf; hier erscheint ihnen ein Engel und fragt sie im Latein der Vulgata, was sie suchen - “Quem quæritis […]? ” -, um ihnen dann mitzuteilen, dass der Heiland auferstanden sei. 30 An sich ist die Rolle des Grabengels nicht anspruchsvoll und, trotz des Lateins, relativ leicht zu spielen. Gleichwohl - so die zeitge- 27 Eduard Hartl: Einführung zum Donaueschinger Passionsspiel. In: Donaueschinger Passionsspiel 1966, S. 5-89, hier S. 30. 28 Vgl. Donaueschinger Passionsspiel 1966, S. 161f. 29 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ M. 2004, S. 255-261. 30 Georg Dinges: Untersuchungen zum Donaueschinger Passionsspiel. Breslau 1910, S. 76. Vorläufer des Rollenfachs? 57 nössische Vorstellung - konnte sie doch nicht von jedem gespielt werden, weil die Darstellung eines Engels im Spiel offenbar ein jugendliches Alter und einen vorbildlichen Lebenswandel im realen Leben voraussetzte. In der Kirche sollte ein Engel eben nicht von einem Bösewicht gegeben werden. Seine “Präsenz“ wäre unglaubwürdig. 31 II. Persiflierte ‘Rollenfächer‘ bei Dil Ulenspiegel Für die Frühe Neuzeit bietet ein bekannter Till Eulenspiegel-Schwank einen schönen Beleg für die Notwendigkeit, die Rollen im Passionsspiel adäquat zu besetzen. Und er setzt bei der genannten Grabszene an. Ein kurzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel ist 1515 also nach dem Donaueschinger Passionsspiel erschienen. Die 13. Historie handelt von der Inszenierung eines ähnlichen Stücks, das hier auch die Vulgata zitiert; auf welches Passionsspiel sich der Schwank konkret bezieht, ist aber nicht nachzuweisen. Schon die leitende Überschrift der 13. Historie markiert die problematische Grenze zwischen Rolle und Spieler im Passionsspiel: Die Episode “sagt, wie Ulenspiegel in der Ostermettin ein Spil macht, daß sich der Pfarrer und sein Kellerin mit den Buren raufften und schlugen”. 32 Neben dem Spielanlass (Ostern) und dem liturgischen Rahmen (Messe) werden der Spielleiter (Ulenspiegel) und die Schauspieler (die “Kellerin”, die Bauern und der Pfarrer) genannt. Nicht erwähnt werden ihre Rollen im Passionsspiel, weil das eigentliche Spiel, das Till inszeniert - nämlich seine ‘Komödie’ - zwar auch auf dem Misslingen des vorgesehenen Passionsspiels beruht, aber wesentlich mit dem unangemessenen Verhalten der Personen in der Kirche arbeitet. Der Gemeinde wird vorgeführt, wie sich “der Pfarrer und sein Kellerin mit den Buren raufften und schlugen.” 33 Dies ist hinsichtlich der in der Überschrift erwähnten Rahmenbedingungen - Ort, Anlass, Liturgie und Kirchenraum - unangemessen und deshalb zu verlachen. Der Holzschnitt nach der Überschrift zeigt zugleich den Moment des Umschlags vom Passionsspiel zum Theaterschwank und die Geschichte der misslungenen Inszenierung: 31 Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 257. 32 Ein kurzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Hg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 1978, S. 39. 33 Ebd. und mit ns Dirk Niefanger 58 Abb. 1: Illustration der 13. Historie, in: Ein kurzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel, S. 39. Unschwer ist der kirchliche Spielraum an den Pfeilern und den Fenstern erkennbar. Zu sehen ist die Grabstelle Christi mit der ältlichen Engelsgestalt, die das Grab eiligst verlässt. Neben ihr prügeln sich der Pfarrer, der an seinem Talar und der Tonsur zu erkennen ist, und ein Bauer im Kostüm einer Mariengestalt. Hose und kurzer Rock weisen ihn als Bauern aus. Rechts verlässt der grinsende Till - auch im Kostüm einer Maria - rasch die Szene. Auf dem schachbrettartigen Boden liegt, achtlos hingeworfen, die Fahne, die der Pfarrer als Zeichen Christi getragen hatte. Die zentrale und ranghöchste Gestalt des Passionsspiel, in der die Identität von Rolle und Schauspieler im Akt des Abendmahls vorher kulminierte und die in der Mitte des Bildes als größte Gestalt zu sehen ist, hat mit dem fallengelassenen Fahnen-Attribut und mit der unangemessenen Prügelei offensichtlich ihre Rolle verlassen. Damit wird das Passionsspiel als gescheitert markiert. Wie es dazu kommen konnte, erzählt der folgende Schwank: Till darf als Mesner in einem braunschweigischen Dorf die Spielleitung des Passionsstückes übernehmen und möchte schalkhaft die Rolle des oben erwähnten Grabengels mit der “Kellerin”, also der Zugehfrau oder Haushaltshilfe, des Vorläufer des Rollenfachs? 59 Pfarrers besetzen. Zur Klärung dieser Frage wechselt die Erzählung in den dramatischen Modus: Da sprach Ulenspegel und gedacht, wie sol das Mergenspil zugon von den Buren, und sprach zu dem Pfarrer: „Nun ist doch kein Buer hie, der da glert ist, Ihr müßen Euwer Magt dazu leihen, die kann wol schreiben und lesen.” Der Pfarrer sprach: „Ja, ja, nim nur dazu, wer dir helffen kann; auch ist mein Magt vor mer [öfters] darbeigewesen.” Es war der Kellerin lieb, und sie wolt der Engel im Grab sein, wann sie kund den reimen ußwendig. 34 Die erwähnten Qualitäten der Schauspielerin beziehen sich auf ihre schauspielerische Erfahrung, auf ihren Stand, auf das Rollenverständnis, auf die Fähigkeit, die schriftliche Vorlage (die Vulgata und/ oder das Stück) lesen zu können und auf ihre Vertrautheit mit der Rolle. Geschlecht, Alter und Lebenswandel werden als Kriterien hier nicht genannt. Drei Marien sind noch für diese Szene zu besetzen, die dem Engel begegnen sollen. Till Eulenspiegel gewinnt hierfür noch zwei ungebildete und grobe Bauern, denen er einen lateinischen Sprechpart beibringt. Es versteht sich von selbst, dass sie diesen nicht verstehen. Eine Maria spielt er selbst. Wir sehen hieran, dass das Geschlecht der Akteure an sich nicht für eine Rolle prädestinierte, Frauen aber sehr wohl mitspielen durften - sicherlich nicht überall, aber an manchen Orten: Da nun Ulenspiegel für das Grab kam mit seinen Buren, als die Marien angelegt warn, da sprach die Kellerin […] den Reimen zu Latein: „Quem queritis. Wen suchet ihr hie? Da sprach der Buer […] als ihn Ulenspiegel gelert het: „Wir suchen ein alte einäugige Pfaffenhur.” 35 Daraufhin fühlt sich die Schauspielerin als Person beleidigt und geht, aus der Rolle fallend, auf Eulenspiegel und die Bauern los. Eine wüste Rauferei, in die peu à peu die Gemeinde miteinbezogen wird, entsteht. Das Aus-der- Rolle-Fallen des Engels und die den Bauern zugeordnete Apposition markieren deutlich eine Differenz zwischen Schauspieler und Rolle. Hiermit drückt die Satire gleichzeitig unterschiedliche Spielqualitäten aus: Die Bauern begreifen ihre Rolle nicht und auch nicht, wozu sie durch den falschen Spielleiter perfekt gebracht werden. Der gefallene Engel versteht zwar seine Rolle, aber nicht seine Affekte zu kontrollieren. In der metadramatisch angelegten Ulenspiegel-Komödie offenbart sich paradoxerweise der ‘wirkliche’ Charakter der “Kellerin”, nicht nur weil sie tatsächlich sich und deshalb die Rolle des Engels nicht beherrschen kann, sondern weil sie wegen ihres Alters, ihres Aussehens und ihres Lebenswandels eigentlich sowieso nicht für die seraphische Rolle in Betracht kam: Eine “alte einäugige Pfaffenhur” käme für den Part des Engels auch heute vermutlich kaum in Frage. Gerade 34 Ebd., S. 40. 35 Ebd. Dirk Niefanger 60 für ihren Lebenswandel, der für die Besetzung der Rolle nicht unerheblich erscheint, kann der Pfarrer haftbar gemacht werden; deshalb wird er bloßgestellt und in der Prügelszene angemessen bestraft. Mitten im Gewühl “lag der Pfaff mit der Kellerin under”. 36 Das Körperspiel des Ulenspiegelschen Metadramas offenbart so das falsche ‘Spiel’ im ‘wirklichen’ Pfarrhaus. Weggejagt werden sollte deshalb - so die implizite Moral der dramatischen Geschichte - eigentlich der Pfarrer, nicht der Schalk. Gegenstand der Satire ist aber eben auch die inadäquate Besetzung einer Rolle nicht nur im theatrum mundi, sondern im Passionsspiel selbst. Die Forderungen, die man aus Ulenspiegels Vexierspiel ableiten kann, entsprechen immerhin durchaus jenen Überlegungen, die seit dem 17. und verstärkt im 18. Jahrhundert zur Professionalität der Bühne beigetragen haben: Der Schauspieler soll konsequent und glaubhaft seine Rolle spielen können und die Rolle soll zudem zu ihm passen. Viel stärker als später spielen hierfür der Lebenswandel und der Stand eine unübersehbare Rolle, auch wenn genau darüber bis weit ins 18. Jahrhundert hinein diskutiert wird. Hinzu kommt, dass die Satire auch über das falsche Rollenfach im wirklichen Leben sinniert: Pfarrer und Magd haben ihren Part schlecht inszeniert; die inadäquate Verfehlung ist dem falschen Küster aufgefallen und kann durchs Metadrama vor der Gemeinde, die ja an der theatralen Diegese über die Liturgie teilhat, aufgedeckt werden. III. Rollenhinweise auf Schauspielerporträts im 17. Jahrhundert Nicht nur im ambitionierten Laienspiel im kirchlichen Rahmen, sondern auch schon im frühen Berufsschauspiel zeichnen sich Rollenpräferenzen ab. Seit dem 17. Jahrhundert existieren einige namentlich identifizierbare Abbildungen von professionellen Schauspielern. 37 Sie zeugen von einem frühen Fan-Kult und sie sind eine mögliche Quelle, um die Frage beantworten zu können, ob es schon in der Frühen Neuzeit so etwas wie Rollenfächer gegeben hat. Zwei Porträts zeigen Komödianten deutschsprachiger Wanderbühnen-Truppen, und sie deuten, wenn man genau hinschaut, eine Identifizierung der Schauspieler mit bestimmten Rollentypen an. 36 Ebd., S. 41. 37 Die österreichische Nationalbibliothek, die eine sehr umfangreiche Porträtsammlung hat, verzeichnet für das 17. Jahrhundert 34 Abbildungen von Schauspielern und 4 von Schauspielerinnen. Sie befinden sich jetzt in den Sammlungen des Österreichischen Theatermuseums am Lobkowitzplatz 2 in Wien (vgl. www.theatermuseum.at, eingesehen am 19.9.2013). Vorläufer des Rollenfachs? 61 Abb. 2: Mathias van Samer (? ): Johann Ernst Hoffmann, 1664 (? ), Österreichisches Theatermuseum, Wien Die Abbildung zeigt einen Kupferstich aus der Sammlung des Burgschauspielers Hugo Thimig. Er wurde erstmals 1913 “an entlegener Stelle” 38 im Berliner Theater-Kalender auf das Jahr 1914 39 publiziert und falsch, nämlich ins 18. Jahrhundert, datiert. Vor 10 Jahren gelang Bärbel Rudin eine Wiederveröffentlichung des Portraits in der Zeitschrift Bühnengenossenschaft und sechs Jahre später noch mal im Heidelberger Jahrbuch zur Geschichte der Stadt. 40 Von ihr wird die Abbildung des deutschen Komödianten Johannes Ernst Hoffmann mit guten Argumenten ins 17. Jahrhundert datiert. Mutmaßlicher Graphiker war der Niederländer Mathias von Samer, dessen Heidelberger Porträtsammlung 1664 erschien. Heute liegt das Blatt im österreichischen 38 Bärbel Rudin: Hans Ernst mit seiner Bande. Das älteste deutsche Schauspielerporträt. In: Bühnengenossenschaft 11 (2002), S. 8-9, Zitat: S. 9. 39 Vgl. Hans Landsberg/ Arthur Rundt (Hgg.): Theater-Kalender auf das Jahr 1914. Berlin 1913, S. 40f., zur Datierung vgl. auch S. 90. 40 Vgl. Rudin 2002, S. 9 und dies.: Liselotte von der Pfalz als Theaterpatin. In: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 12 (2008), S. 9-21, hier S. 15. Dirk Niefanger 62 Theatermuseum in Wien. 41 Hans Ernst war zusammen mit Peter Schwarz Prinzipal der Teutschen Comedianten am Hof des pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig. Die Truppe scheint u. a. Shakespeares Kaufmann von Venedig, den Peter Squentz von Gryphius, Lohensteins Ibraim Bassa sowie einige vormals holländische und spanische Stücke jeweils in wanderbühnentauglichen Fassungen im Repertoire gehabt zu haben. 42 Johannes Ernst Hoffmann und seine Theatertruppe wird sogar in einem Brief vom 5. Dezember 1667 erwähnt, den Liselotte von der Pfalz an ihre Hofmeisterin Anna Katharina von Harling geschrieben hat: “Wir haben auch commedianten hir, den Hans Ernst mit seiner bande”. 43 Der Kupferstich zeigt in der Mitte ein Medaillon-Portrait des Schauspielers als jungen Edelmann in feiner Kleidung. Die lateinische Inscriptio verzeichnet den Namen und Berufsstand des Mannes. Die Palmblätter links und rechts gestalten eine Art Proszeniumsbogen; auf der dahinter liegenden Bühne, die - wie in barocken Theater- oder theatrum mundi-Darstellungen üblich - als Spielfeld auf dem Boden kariert gemustert ist, sind zwei junge Frauen in aufwendiger Ausstattung zu sehen. Ihre Requisiten, ihre Kleider und ihr Schmuck weisen sie als Damen der besseren Gesellschaft aus oder, bedenkt man die Bühne, eben als solche, die diese adeligen Damen darstellen. Von ihnen wird das Portraitmedaillon gehalten - eine deutliche Verehrungsgeste. Der Komödiant Hans Ernst, den sie verehren, wird durch zwei Attribute gekennzeichnet. Unten ist eine Burg zu sehen, die deutlich an das Heidelberger Schloss erinnert. 44 Der Schauspieler kann durch die Abbildung und den Veröffentlichungskontext, der Heidelberger Graphiksammlung von Mathias van Samer, mit den Churpfälzischen Compagnie Comoedianten identifiziert werden. Als solche treten Hans Ernst und seine Bande drei Jahre nach der Abbildung in Straßburg auf. 45 Auf dem romantischen Weg zum Schloss kann man zwei Personen entdecken, offensichtlich ein Liebespaar. Dieses korrespondiert nicht nur mit der Abbildung der zwei Frauen, die auf der Bühne das Medaillon halten, sondern auch mit der Figur oberhalb der Abbildung. Der Lorbeerkranz wird nicht einfach von einer Geniengestalt gehalten, wie das im Barock durchaus üblich wäre, sondern von einer Cupido bzw. einer Erosgestalt, wie man unschwer an den Insignien Pfeil und Bogen 41 Vgl. Rudin 2002, S. 9. 42 Vgl. Rudin 2008, S. 12. 43 Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans an ihre frühere Hofmeisterin A. K. v. Harling […]. Hannover/ Leipzig 1895 (Reprint: Hildesheim 2004), S. 6. 44 Vgl. Matthaeus Merian d. Ä.: Heidelberg: Blick auf das Schloss von Nordosten. Radierung. 1619. 11,6 x 17 cm. Paris, Bibliothèque Nationale, Département des Estampes. Titelblatt der Blätter aus der Umgebung von Heidelberg, radiert von M. Merian d. Ä., verlegt bei Jacob von der Heyden. Straßburg 1619. 45 Rudin 2008, S. 14. Vorläufer des Rollenfachs? 63 sieht. Kurzum, Hans Ernst wird als Schauspieler gefeiert, der die Liebe selbst huldigt. Er wird auf der Bühne gerühmt, da sein Schauspiel der Liebe verpflichtet ist. In der Abbildung von Mathias van Samer erscheint Hans Ernst insofern als Spezialist für die Darstellung eines jugendlichen Liebhabers; er repräsentiert damit gewissermaßen so etwas wie ein Rollenfach. Auch vom Schauspieler Christian Janetschky gibt es eine Abbildung, die der Nürnberger Künstler Thomas Hirschmann gestochen und die der Verleger Georg Scheurer publiziert hat. Abb. 3: Christian Janetschky, 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, Stich von Thomas Hirschmann, publiziert v. Georg Scheurer, Österreichische Nationalbibliothek Dirk Niefanger 64 Der Maler, Zeichner und Kupferstecher Thomas Hirschmann arbeitete von 1677 bis 1688 als Kupferstecher in Nürnberg; er starb dort 1689. 46 Von Hirschmann sind ca. 50 Porträtstiche Nürnberger Bürger bekannt, zu denen er zum Teil, wie hier, selbst die Vorlage lieferte. Der Nürnberger Verleger und Kunsthändler Georg Scheurer, der den Janetschky-Stich herausgab, arbeitete u.a. mit dem Präses des Pegnesischen Blumenordens Sigmund von Birken zusammen, hatte also enge Beziehungen auch zur gelehrten und heute als hochwertig angesehenen Literatur der Stadt. Er druckte Urkunden für Birkens Dichterkrönungen, gab einige seiner Texte, unter anderem das Drama Margenis (1679), sowie andere Werke des Pegnesischen Blumenordens heraus und handelte mit dessen Büchern, auch wenn er sie nicht selbst verlegen konnte. Das Geschäftslokal Scheurers lag in unmittelbarer Nähe der großen barocken Verlagshäuser Endter und Felsecker im damaligen Nürnberger Buchgäßlein. Von 1685 bis 1688 betrieb der “schillernde Theaterimpressario” 47 Georg Scheurer eine eigene Schauspieltruppe, zu der Janetschky gehörte. Seine für die Frühe Neuzeit wohl einzigartige Mehrfachfunktion von Verleger, Buchhändler und Theaterinspektor - wie er sich auf dem Titelblatt seiner Premierenperioche selbst nennt 48 - ermöglichte einen hervorragenden Zugriff auch auf literarisch hochwertige Dramen. Die Truppe trat 1685 erstmals im Nürnberger Fechthaus auf; 1688 wurde sie vom Nürnberger Rat aufgelöst. Vermutlich ist das Porträt Janetschkys in der aktiven Zeit der Scheurerschen Truppe gestochen worden. Das Bildnis Christian Janetschkys zeigt den Körper des Schauspielers fast vollständig; er ist in ein Harlekin-Kostüm gekleidet. In der Linken hält er einen altfränkischen Bierkrug mit Deckel; aus der Hosentasche lugt ein weiteres, schwer zu identifizierendes Requisit, vielleicht ein Messer, hervor. Kostüm und die auf das leibliche Wohl verweisenden Requisiten sprechen für die Rolle einer komischen Figur. Im Hintergrund sieht man Architekturfragmente eines Bühnenbildes; die Seitenkulissen sind durch Theaterfiguren mit ausgeprägter Mimik und recht natürlichen Körperhaltungen verziert. Rechts unten ist sehr deutlich eine Theatermaske auf der Kulisse zu sehen. Auch sie verweist auf eine komische Rolle. Im Hintergrund auf der linken Seite erkennt man eine weibliche und eine männliche Figur. Letztere kann durch das Kostüm und die Barttracht als weiteres Porträt des Schauspielers - nun allerdings in Aktion - identifiziert 46 Zu den folgenden Angaben vgl. Manfred H. Grieb (Hg.): Nürnberger Künstlerlexikon. Bildende Künstler, Kunsthandwerker, Gelehrte, Sammler, Kulturschaffende und Mäzene vom 12. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. München 2007. 47 Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002, S. 595, zur Vita Georg Scheurers vgl. ausführlich S. 595-618. 48 Vgl. Georg Scheurer/ Joachim Müllner/ Johann Fischer: Tragico-Comoedia oder das beneidete/ doch unverhinderte Ehren-Glück Des frommen und lieben Jacobs-Sohns Josephs […]. Nürnberg 1685. Vorläufer des Rollenfachs? 65 werden. Die Berührungen, die die beiden Figuren austauschen, erscheinen für eine ernste Rolle unangemessen. Mit viel Fantasie könnte man den Fächer der Frau als Schlaginstrument sehen, das in Kürze eingesetzt wird. Das etwas grimmige Gesicht der Dame und die geduckte Haltung Janetschkys sprechen jedenfalls dafür. Will man die abgebildete Szene mit einem bekannten Stück der Truppe von Georg Scheurer zusammenbringen, könnte man an die Komödie Der getreue / falsche / und scheinbare Freund und die beständige Ehren=Liebe denken. 49 Eine Schlüsselrolle übernimmt hier der Poncinello, eine Variante von Hanswurst, Pickelhering oder Pulcinella. IV. Rollenspezialisten und Universalisten in Johann Rists Theaterunterredung Mit der prekären Frage nach dem Ansehen des Schauspielers und nicht etwa mit poetologischen Fragen beginnt die wichtigste Sammlung von Wanderbühnenstücken im 17. Jahrhundert, die Englischen Comoedien und Tragoedien von 1620. Obwohl die Komödianten schon “vor Zeiten […] in geringem Ansehen gewesen” wären, so hätte es immer wieder Beispiele gegeben, “dass auch etlichen Particularen beydes umb ihrer Kunst und dann umb ihrer Tugendt willen grosse Ehre” geboten und “solches auch öffentlich gezeigt worden” wäre. 50 Dies gäbe es sogar noch in heutiger Zeit, wenn die Komödianten “wegen artiger Invention, theils wegen Anmuthigkeit ihrer Geberden / auch offters Zierligkeit im Reden bey hohen und Niederstands Personen […] grosses Lob erlangen” würden. 51 Ins gleiche Horn stößt die Vorrede zum Liebeskampf, der Sammlung von 1630, die hinsichtlich der Kritik am Schauspielerstand zwar einräumt, es gäbe eben unter den Komödianten “etliche leichtsinnige Gesellen”, die in “Unschamhafftigkeit / Frech- und Vermessenheit” geraten würden, doch ließen solche “Missbräuche” eben kein generelles Urteil über Schauspieler zu. 52 Die Vorreden argumentieren also mit Qualitätsunterschieden zwischen den Schauspielern und mit der fortschreitenden Professionalisierung des Schauspielerstandes. Dazu gehört aber nicht unbedingt eine Spezialisierung und Arbeitsteilung innerhalb der Banden. Dies zeigt jedenfalls die April=Unterredung in Johann Rists Monatsunterredungen des Jahres 1666. Im vermutlich ausführlichsten deutschsprachigen Diskurs über das Theater im 17. Jahrhundert wird der ästhetische Wert der Schauspielkunst thematisiert. Wie im 17. Jahrhundert nicht anders zu er- 49 Vgl. [Georg Scheuer: ] Der getreue / falsche / und scheinbare Freund und die beständige Ehren=Liebe. [Nürnberg 1685]. 50 Manfred Brauneck (Hg.): Spieltexte der Wanderbühne. Berlin 1970, Bd. 1, S. 1. 51 Ebd., S. 2. 52 Ebd., Bd. 2, S. 6f. Dirk Niefanger 66 warten, argumentiert der dialogische Text mit unterschiedlichen, zum Teil kontrovers angeführten Exempeln. Bemerkenswert ist, dass die Gesprächsteilnehmer nicht von Stücken, sondern von Aufführungen und sogar einzelnen Spielleistungen sprechen. Ein eindeutiges Positivbeispiel ist die Truppe des Niederländers Jan Baptist van Fornenbergh, der in Altona gastiert habe. Herr Jean Baptista, dessen Spiele wir etliche mahl zu Altonah angesehen / [hat] auch Leute / so wol von Mann als Weibes Personen bey sich / die nicht weniger zu rühmen / wie denn die meisten ihre Person so beweglich haben gespielet / das man ihnen beydes mit Lust und Verwunderung hat müssen zu sehen. Es ist trauen kein geringes / das ein Mensch den anderen durch seine Rede / Sitten und Bewegung kann zwingen / daß er seine Neigung nach des Spielers eigenen Belieben muß richten / und mit demselben Lachen / wenn er lachet / mit jhme Weinen / wenn er weinet / mit jhm Zürnen / wenn er zürnet / mit jhm verliebet sein / wenn er sich verlibet stellet / mit ihme kranck sein / wenn er sich kranck gebehrdet / mit ihme Hüpffen und Tantzen / wenn er springet / und in Summa / jhme fast in allen Dingen muß nachaffen. 53 Die Anforderungen an den Schauspieler einer Wanderbühnentruppe werden hier recht genau beschrieben. Dass er sich nicht nur auf die verbale Rhetorik verlegen darf, sondern sehr wohl seinen Körper zur Affektmodellierung einsetzen muss und einen engen Kontakt zu seinem Publikum halten sollte, kann hier nicht eigens erörtert werden. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass Rist offenbar von einer universellen Ausbildung des Schauspielers ausgeht: Er soll ein “treffliches Gedächtnisse haben”, seine “Reden mit den Gebehrden vereinbahren” und “schön von Gestalt” sein. Zudem muss er “in der Poeterey / Musik / im Dantzen und Fechten / ja fast in allen Sachen / so in Ständen vorgehen / eine gute Wissenschaft haben”. 54 Das hier gezeichnete Profil setzt nicht auf eine spezielle Ausbildung zu einzelnen Rollenfächern, sondern auf einen flexiblen, universal gebildeten Schauspieler. Dies entspricht recht gut dem Gelehrtenideal der Zeit; so verwundert es kaum, dass ähnlich universale Anforderungen etwa von Martin Opitz an den Poeten oder Redner gestellt werden. 55 Nun ist der protestantische Pfarrer Rist kein Wanderbühnen-Prinzipal, sondern ein gelehrter Beobachter, der die Qualität des aktuellen Schauspiels diskutieren und verbessern möchte. Deshalb darf seine Idee eines universal ausgebildeten, geradezu gelehrten Schauspielers nicht ohne weiteres auf die Bühnenpraxis des 17. Jahrhunderts übertragen werden. Erhellend mag aber sein, wie er anhand eines Exempels die Rollenverteilung in einer schlechten 53 Johann Rist: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack u.a. Bd. 5. Berlin u.a. 1974, S. 281. 54 Ebd., S. 282. 55 Vgl. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 16-22. Vorläufer des Rollenfachs? 67 Schauspieltruppe beschreibt. Denn um die Professionalität der Wanderbühne zu belegen, erzählt einer der Gesprächsteilnehmer von einer Konkurrenz zweier Truppen: Englische Komödianten und eine Handwerkertruppe bemühen sich am gleichen Ort um Zuschauer. Innerhalb dieses erzählten Theateragons inszeniert die Wanderbühne eine komplexe Peter Squentz- Geschichte; sie integriert in ihre “Komödie / von einem Könige / der seinem eintzigen Prinzen / eines andern Königs Tochter / ehelich wollte beylegen lassen” 56 eine Festaufführung der Handwerkertruppe, die sich auf die am gleichen Ort spielende Konkurrenz beziehen lässt. Vermutlich hat Rist diesen Peter Squentz - den deutschen Sommernachtstraum - zwischen 1625 und 1640 gesehen, also vor der Veröffentlichung von Andreas Gryphius’ gleichnamigem Drama. 57 Dieses basiert nach eigener Auskunft auf einem Stück des Altdorfer Gelehrten Daniel Schwenter, das bislang nicht nachgewiesen werden konnte. 58 Dass sich der Mathematiker Schwenter aber prinzipiell auch mit dem Theater beschäftigt hat, ist belegbar. 59 Ob Rist sein Stück oder eine andere Wanderbühnenversion gesehen hat, ist unklar. Bei der unprofessionellen, bunten Handwerkertruppe lesen wir von speziellen Fähigkeiten der Spieler, die aus ihren früheren Berufen oder Tätigkeiten herzurühren scheinen. Die einschlägigen Lebensläufe werden bei Rist wesentlich ausführlicher erzählt als später bei Gryphius: Der “Ratzenfänger” gab einen “Cavallier” und wurde “Capitan de Ratzi tituliert”. Ein anderer “war ein Beutelschneider / dieser […] pflegte gemeiniglich einen Obersten zu agiren” usw. 60 Zur Diskussion steht also die Frage, welche Profession gereicht zu welcher Art Darstellungskunst? Können ein “Seildäntzer” oder “Dokken”-Spieler, ein Scherenschleifer oder Quacksalber - jeweils geübt auf Kirmes oder Markt - ein ernsthaftes Schauspiel realisieren? Die früheren Berufe benutzt der Erzähler fortan um die Schauspieler von ihrer Rolle zu unterscheiden. Trotz ihrer Spezialisierungen fällt die Rollenzuteilung 56 Rist 1974, Bd. 5, S. 287. 57 Vgl. Andreas Gryphius: Absurdia Comica Oder Herr Peter Squentz. Kritische Ausgabe. Schimpfspiel. Hg. von Gerhard Dünnhaupt u.a. Stuttgart 1983. 58 Nach der Auflösung der Universität Altdorf im Jahre 1809 sind die Buchbestände der Universitätsbibliothek an die Universität Erlangen gegangen. Die Bestände der Altdorfer Professoren aber konnten nicht geschlossen gesichert werden und haben heute unterschiedliche Besitzer. Das Manuskript könnte sich also in diesen verstreut aufbewahrten und zum Teil nicht erschlossenen Beständen finden. 59 Vgl. etwa seine originellen Überlegungen zur Bühnentechnik: Daniel Schwenter [Georg Philipp Harsdörffer]: Delitiæ Mathematicæ Et Physicæ. Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Theil, Nürnberg 1651, S. 542f. Möglichweise bezieht sich die Anmerkung „und wir allhier dergleichen Modell zu Werck gerichtet haben“ (S. 543) auf seine Theatertätigkeit in Altdorf. 60 Rist 1974, Bd. 5, S. 292. Dirk Niefanger 68 schließlich nicht leicht: “Hierauff ward nun die Außteilung der Personen fürgenommen / worüber sich den abermahl ein neuer Zanck erhub”. 61 Natürlich ‘passen’ die Rollen am Ende nicht und alle fallen buchstäblich aus ihren Rollen. Deshalb scheitert schließlich die Truppe - wie im Sommernachtstraum - bei ihrer Aufführung von Pyramus und Thisbe; sie wird von der professionelleren Wanderbühnentruppe regelrecht vorgeführt und schließlich von der Bühne geprügelt. 62 Diese geradezu Gottschedsche Inszenierung fehlt später bei Gryphius. Festhalten kann man immerhin, dass die Spezialisierung der Schauspieler auf bestimmte Rollen im Kontext der Wanderbühne zwar offenbar thematisiert, von ihnen wie von den Monatsunterredungen selbst aber nicht unbedingt gutgeheißen wurde. Diese vertraten ein Ideal des universal gebildeten, aber anpassungsfähigen Spielers. Geht man von den Theaterreflexionen bei Rist und in den Vorreden der Wanderbühnen-Editionen des 17. Jahrhunderts aus, gehörte zur Professionalisierung des Schauspiels wohl nicht unbedingt die Spezialisierung, sondern ein nicht geringes Maß an Flexibilität und universaler Ausbildung. Die ausführliche Thematisierung von Rollenbesetzungen in den deutschen Squentz-Stücken von Rist und Gryphius spricht aber dafür, dass es Überlegungen zur adäquaten Rollenbesetzung und der schauspielerischen Eignung sehr wohl gab. Auch wird bei Rist die Auswahl und Abänderung eines Stückes angesichts der vorhandenen Schauspieler diskutiert. “Ihr Kerle / sagt er [der Schweinemetzger] / habt keinen Verstand / wer will unter uns der alte Tobias sein und sich lassen in die Augen schmeissen / und wer ist unter uns so klein / der die Schwalbe könnte agiren”. 63 V. Fazit Gibt es also ein Rollenfach in der Frühen Neuzeit? Die Frage ist je nach Theatersystem anders zu beantworten und eigens zu untersuchen. Festhalten kann man aber, dass es in der Frühen Neuzeit sehr wohl “bestimmte Verhaltens- und Interaktionsmuster” 64 gibt, die einer Reihe ähnlicher Figurentypen in Dramen zugeschrieben werden: Darüber gibt es bei den Passionsspielen schon deshalb keinen Zweifel, weil Figuren und Handlungen im Grunde festliegen. Aber auch auf der barocken Wanderbühne findet sich zumindest eine Diskussion um adäquate Rollenbesetzungen, auch wenn die diskursiven Texte eher für eine universale und flexible 61 Ebd., S. 296. 62 Vom Nebeneinander von Handwerkertruppe und Wanderbühne im 17. Jahrhundert in Nürnberg berichtet: Paul 2002, S. 580-618; vgl. auch Johannes Bolte: Von Wanderkomödianten und Handwerkerspielen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Sitzungsberichte d. Preuß. Akad. d. Wiss. Phil.-histor. Klasse 19 (1934), S. 445-487. 63 Rist 1974, Bd. 5, S. 294. 64 Fischer-Lichte 1990, S. 43. Vorläufer des Rollenfachs? 69 Ausbildung plädieren. Die zeitgenössischen Schauspielerporträts sprechen jedenfalls für eine Spezialisierung auf bestimmte Rollen. Festhalten kann man schließlich auch, dass die Spielfähigkeit eines Schauspielers nicht unbedingt mit einer Spezialisierung auf ein Rollenfach begründet wird. Bei der Wanderbühne wird mit dem ursprünglichen Beruf und gerade vorhandener Kleidung argumentiert, bei den Passionsspielen mit dem Lebenswandel, Alter oder Aussehen. Mit Rist kann man am Ende immerhin konstatieren, dass “unter denjenigen / welche Traur- und Freudenspiele vorstellen / ein gahr grosser Unterscheid [ist] / und das[s] nicht alle die jenigen Köche sind / die lange Messer tragen”. 65 65 Rist 1974, Bd. 5, S. 303. Rüdiger Singer, Göttingen Macbeth als Däumling? David Garrick, das tragische Heldenfach und die Kritiker “Seine Statur ist eher zu den kleinen als zu den mittleren zu rechnen”: 1 So beiläufig erwähnt Georg Christoph Lichtenbergs im Oktober 1775 ein Handicap, das David Garrick (1717-1779), dem ‘größten’ Schauspieler des 18. Jahrhunderts, seit Beginn seiner Bühnenkarriere im Jahr 1741 zu schaffen gemacht hat. Garrick maß, präzise gesagt, 5,3 Fuß (1,61 m) und begann seine Londoner Bühnenkarriere zu einer Zeit, als Schauspieler teilweise sogar nach Körpergröße bezahlt wurden. 2 Die körperliche Beschaffenheit eines Schauspielers war von zentraler Bedeutung für den Anspruch auf ein bestimmtes Rollenfach. 3 Was bedeutet es, wenn ein Schauspieler ein Fach anstrebt, für das er körperlich nicht geeignet zu sein scheint? Gerade im tragischen Heldenfach erwartete das englische Publikum solche Hünen wie den sechs Fuß (1,82 m) großen und fast 20 Stone (127 kg) schweren James Quin (1693-1766). Eben dieses Schwergewicht forderte Garrick gleich mit seinem Debüt am 19. Oktober 1741 heraus, trat er doch als Richard III. auf, einer Paraderolle Quins. 4 1 Christoph Georg Lichtenberg: Briefe aus England. In: Schriften und Briefe. Bd. 3: Aufsätze. Entwürfe, Gedichte. Erklärung der Hogarthschen Kupferstiche. Hg. von Wolfgang Promies. Frankfurt am Main 1998, S. 326-367, hier S. 331. 2 Was Garricks Biographie und die theatergeschichtliche Einordnung seiner Leistung anbelangt, stütze ich mich vor allem auf die Studie von Jean Benedetti: David Garrick and the Birth of Modern Theatre. London 2001 (zu Garricks Größe und zur Praxis der Bezahlung “by the inch” vgl. S. 41) sowie auf die wesentlich umfangreichere, aber weniger auf Garricks Schauspielkunst konzentrierte Darstellung von Ian McIntyre: David Garrick. London 1999. Außerdem sei verwiesen auf: Leigh Woods: Garrick Claims the Stage. Acting as Social Emblem in Eigtheenth-Century England. London 1984. Die wichtigsten Biografien von Zeitgenossen sind Thomas Davies: Memoirs of the Life of David Garrick. 2 Bde. London 1780 und Arthur Murphy: Life of David Garrick. London 1801. 3 Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. Berlin 1926, S. 2. 4 Der Begriff ‘Debüt’ ist allerdings cum grano salis zu verstehen: Im selben Jahr war Garrick schon als Harlekin eingesprungen, freilich unter dem Schutz einer Halbmaske, und hatte seine schauspielerischen Fähigkeiten im Sommer, noch ohne seinen Namen auf den Theaterzettel zu setzen, in der Provinz erprobt. Zunächst wurde er auch in Richard III. angekündigt als “a GENTLEMAN (who never appear’d on any Stage)” (McIntyre 1999, S. 38), doch war sein Erfolg so sensationell, dass er sich bald auch ge- Rüdiger Singer 72 Immerhin: Der missgebildete Bösewicht Richard musste kein Gardemaß besitzen, 5 auch wenn zumal die gängige Fassung der Tragödie die kriegerischen Züge des Helden betont. 6 Auf William Hogarths berühmtem Gemälde bleibt die Größe der Figur bzw. des Schauspielers unklar; umso deutlicher wird, warum diese Rolle eine ‘Revolution der Schauspielkunst’ einleitete: 7 Solch extreme körperliche Beweglichkeit und Ausdruckskraft, wie sie sich hier in der instabilen Haltung des aus einem Albtraum erwachenden Richard manifestieren, widersprachen radikal dem gewohnten neoklassizistischen Deklamationsstil der Tragödie. Ein Thomas Betterton (1635-1710) und mehr noch ein James Quin (1693-1766) standen festgewurzelt auf der Bühne und beeindruckten vor allem durch wohlklingende Rezitation und intensiven Ausdruck der Augen; die wenigen Gesten waren durch Beschreibungen Ciceros und Quintilians sanktioniert. 8 Mehr Beweglichkeit und größerer Realismus waren dagegen in der Komödie zugelassen, wenn nicht gefordert - und Garrick feierte denn auch nach seinem Tragödien-Debüt in diversen Lustspielrollen Erfolge. 9 Nicht umsonst ist er als ‘Allesspieler’ im Gespräch, der sich nicht auf ein bestimmtes Rollenfach festlegte. 10 genüber seiner in Lichtfield ansässigen Familie als angehender Schauspieler ‘outen’ musste (ebd., S. 40-42). 5 So Benedetti 2001, S. 41. 6 Es handelt sich um ein Pastiche aus Richard III., Heinrich IV., Teil 2, Heinrich V. und Heinrich VI. Teil 1, das sich der Schauspieler, Theatermanager und poeta laureatus Colley Cibber (1671-1757) auf den stattlichen Leib geschrieben hatte. Ab 1733 übernahm Quin die Rolle (Benedetti 2001, S. 42; zu Cibbers Version siehe auch Charles Beecher Hogan: Shakespeare in the Theatre 1701-1800. Bd. 2: A Record of Performances in London 1751-1800. Oxford 1957, S. 387). 7 Siehe das Kapitel The Revolution in Acting, in: Benedetti 2001, S. 47-70. Zu Hogarths Gemälde siehe Robin Simon: Hogarth’s Shakespeare. In: Apollo Magazine 109 (1979) , S. 213-220, bes. S. 215-217 sowie Abbildung und Kommentar im Ausstellungskatalog Mark Hallett/ Christine Riding (Hgg.): Hogarth. London 2006, S. 204f. 8 Siehe Benedetti 2001, S. 47f. Wie zählebig diese Tradition war, beweist ein Zitat aus Paul Hiffernan: Dramatic Genius. London 1770, S. 79: “The entire body is to bear firmly on the floor and not to shift its place or change its attitude every moment, which would incur the charge of an unballasted restlessness” (zit. nach David Thomas [Hg.]: Theatre in Europe. A Documentary History. Restoration and Georgian England 1660-1788. Cambridge/ New York 1989, S. 346, siehe auch S. 345). Zum Zusammenhang zwischen frühneuzeitlichem acting und actio siehe Dietmar Till: Rhetorik und Schauspielkunst. In: Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2008, S. 61-84; 270-83. 9 Die berühmtesten waren Abel Drugger in Ben Jonsons The Alchemist (siehe Benedetti 2001, S. 118-122), Archer in George Farquhars The Beaux‘ Strategem (ebd., S. 122-125) und John Brute in Sir John Vanbrughs The Provok’d Wife (ebd., S. 135-138). 10 Vgl. zu Garrick als Allesspieler Diebold, der diese Zuschreibung zurückweist. Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig/ Hamburg 1913 (=Theatergeschichtliche Forschungen 25) Reprint 1978, S. 10. Macbeth als Däumling? 73 Seine nächste tragische Rolle, König Lear (seit 1742) führte ihn sogar ins Fach des Königs und älteren Helden bzw. des ernsten Vaters. 11 Sie war zwar insofern eine Herausforderung, als der Fünfundzwanzigjährige einen Greis zu spielen hatte, doch auch hier kam ihm seine kleine Statur eher zustatten. 12 Selbst Hamlet (ebenfalls noch ab 1742) ist nicht vorrangig ein Krieger, sondern wird zu unterschiedlichen Zeiten von mehreren Fächern beansprucht. In England wurde die Rolle um 1700 durchaus von ‘schweren Helden’ wie Thomas Betterton gespielt, in Deutschland noch in den späten 70er Jahren vom korpulenten Johann Franz Hieronymus Brockmann (1745-1812). 13 Doch fiel Hamlet typischerweise ins Fach des jungen Helden und Liebhabers. 14 Anders verhält es sich jedoch mit der Rolle Macbeths, an die Garrick sich 1744 wagte: Bereits in der zweiten Szene des ersten Akts erfährt König Duncan von zwei aus der Schlacht kommende Augenzeugen, wie “brave Macbeth (well he deserves that name)” (V. 16) dem verräterischen Macdonwald den Kopf abschlug, die feindliche Übermacht so wenig fürchtete “[a]s sparrow seagles, or the hare the lion” (V. 35) und als “Bellona’s bridegroom, lapp’d in proof” (V. 55) schließlich die Schlacht entschied. 15 Obwohl die Zuschauer Shakespeares Tragödie bis dato nur in William Davenants klassizistischer Bearbeitung von 1674 kannten, die Brutalitäten milderte oder ausmerzte, erwarteten sie einen Kriegshelden mit entsprechender Physis und betrachteten den schwergewichtigen James Quin als Idealbesetzung. 16 Samuel Foote (1720-77), als beliebter Prominenten-Imitator gut vertraut mit dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack, führt Garricks Problem in seinem Treatise on the Passions von 1747 auf weit verbreitete und tief verwurzelte Erwartungsmuster zurück: And as the Eye is the Scene [sic] first gratified, or disgusted, it may notbe improper to enquire what kind of Preposession arises in the Mind, from the 11 Vgl. zur historischen Variabilität der Bezeichnungen Doerry 1926, S. 11f. 12 Siehe McIntyre 1999, S. 47-49, Benedetti 2001, S. 100-110. 13 Ab September 1776 in Hamburg; siehe Nina Birkner: Hamlet auf der deutschen Bühne. Friedrich Ludwig Schröders Theatertext, Dramentheorie und Aufführungspraxis. In: Das achtzehnt Jahrhundert 31 (2007) H. 1, S. 13-30, vgl. dort Abbildung S. 29; zu Brockmanns körperlicher Erscheinung Bruno Voelcker: Die Hamlet-Darstellungen Daniel Chodowieckis und ihr Quellenwert für die deutsche Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1916 (=Theatergeschichtliche Forschungen 29), S. 170. 14 Siehe Doerry 1926, S. 17. 15 Die Tragödie wird zitiert nach William Shakespeare: Macbeth. Hg. von Kenneth Muir. Based on the edition of Henry Cuningham. London 1959 (=Arden Edition), S. 6-9. 16 William Davenant: Macbeth, a Tragedy [1674]. In: Five Restauration Plays. Hg. von Christopher Spencer. Urbana 1965, S. 33-107; siehe dazu Vanessa Cunningham: Shakespeare and Garrick. New York 2008, S. 48-51. Garrick präsentierte zugleich mit seiner neuen Verkörperung eine neue Fassung des Dramas, die zwar wesentlich näher an Shakespeares Original war, aber durchaus auf seine mimischen Stärken zugeschnitten (siehe ebd., S. 51-63). Rüdiger Singer 74 Appeareance of Mr. G’s Figure, and here I am afraid frail Nature has been a little unkind, and tho’ I must own I have very distinct Ideas of big and great, yet such is the Folly of the Million, that they expect a more than ordinary Appearance from a Man, who is to perform extraordinary Actions; it is in vain, to tell them, that Charles of Sweden, was but five feet five, or Alexander the Great, a very little Man, the false Association is so deeply rooted into their Minds, that you may as well attempt to persuade them that Night and Apparitions have no connection […]. 17 Die Erwartung, dass der Schauspieler für das Heldenfach von kräftiger Statur sein muss, hängt mit dem Begriff des Helden selbst zusammen. Zedlers- Universal-Lexicon definiert 1735: “Held, lat. Heros, ist einer, der von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärcke begabet, durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben”. 18 Das Rollenfach des Helden wird sogar explizit als schwerer Held definiert und vom jungen Helden unterschieden: 19 Auch bei der spätern [sic] stärkern [sic] Fixierung des Begriffs geht schwer eindeutig auf die Gestalt und das Körpergewicht und ist nicht etwa gleich schwierig (im Charakter oder als Rolle). Wir haben hier das interessante Phänomen vor uns, daß sich der Körperbautypus (Pykniker oder Athletiker) auf die Bezeichnung des entsprechenden Rollenfachs auswirkt, was auf eine spontan erfaßte Übereinstimmung von Psychischem und Physischem schließen läßt. 20 Zwar ist vom Rollenfach des schweren Helden erst nach 1800 nachweislich die Rede, aber schon in Goethes Wilhelm Meister (1795/ 96) ist das Verständnis bekannt: “Ach wie anders wird es sein, sagte Madame Melina, wenn morgen unser schwerer Held auftritt, daß die Bretter knarren, und das Theater sich biegen möchte”. 21 Wenn Garrick sich also im Rollenfach des Helden durchsetzen wollte, blieb ihm nichts anderes üblich, als die törichten Massen für sich zu gewinnen. Als Mime konnte er die ‘Größe’ konkurrierender Bühnen-‘Giganten’ 17 Samuel Foote: A Treatise on the Passions. London 1747, S. 14; vgl. Anm. 1 zu Henry Fielding: The History of Tom Jones a Foundling. Bd. 2. Hg. von Fredson Bowers, Einleitung und Kommentar von Martin C. Battestin. Oxford 1974 (=The Wesleyan Editon of the Works of Henry Fielding 4), S. 854. Zu Footes Treatise siehe Marvin Carlson: Theories of the Theatre. A Historical and Critical Survey, from the Greeks to the Present. Expanded edition. Ithaca u.a. 1984, S. 139. 18 Stichwort ‘Held’. In: Zedlers Universal-Lexicon. Bd. 12. Leipzig 1735, Sp. 1214f. 19 Urs H. Mehlin: Die Fachsprache des Theaters. Basel 1969, S. 343f. 20 Ebd. 21 Johann Wolfgang Goethe: Theatralische Sendung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. 1. Abt., Bd. 9. Hg. von Wilhelm Voßkamp/ Herbert Jaumann. Frankfurt am Main 1992, S. 9-354, hier S. 172 (Hervorhebung R.S.). Macbeth als Däumling? 75 etwas relativieren, indem er ihren Schauspielstil parodierte; 22 als gewandter Autor und Freund einflussreicher Autoren konnte er aber auch publizistische Schützenhilfe ins Feld führen. Im Folgenden soll anhand dreier Texte - einem Theaterpamphlet, einer Roman-Episode und einer Verssatire - vorgeführt werden, mit welchen Argumenten und satirischen Strategien Garrick selbst, sein Freund Henry Fielding (1707-1754) und sein Anhänger Charles Churchill (1732-1764) Vorbehalte gegenüber einem kleingewachsenen Vertreter des Rollenfachs bekämpften. Zu zeigen ist, dass sie versuchten, die vermeintliche Lächerlichkeit des kleinen Helden gewissermaßen umzulenken, und zwar in zwei Richtungen: Garricks Konkurrenten wurden als Vertreter eines überholten Schauspielstils karikiert, seine Kritiker in Anlehnung an Komödientypen verspottet. I. David Garrick: An Essay on Acting (1744) 1744 erschien in London eine dünne Broschüre mit einem langen Titel: AN ESSAY ON ACTING: In which will be consider’d The Mimical Behaviour OF A certain fashionable faulty ACTOR, AND THE Laudableness of such unmannerly, as well as inhumane Proceedings. To which will be added, a short CRITICISM On His acting Macbeth.Wer mit dem fehlerhaften Modeschauspieler gemeint ist, stellt ein Zitat am Fuß der Seite klar: “---- Oh! Macbeth has murder’d G-----k. / Shakespear”. Die parodierte Macbeth-Passage lautet im Original “Me thought, I heard a voice cry, ‘Sleep no more! / Macbeth does murther Sleep [...]’”. 23 Auf Seite 2 der Einleitung heißt es dementsprechend, man habe kürzlich “Macbeth Burlesqu’d or Be—g—k’d, which are synonymous”. Parodie und Burleske werden hier also gleichgesetzt, und dementsprechend spielt auch ein weiteres Pseudo-Zitat der Titelseite auf eine aktuelle Burleske an: “--- So have I seen a Pygmie strut, / Mouth and rant, in a Giant’s Robe. / Tom Thumb”. Gemeint ist Henry Fieldings überaus erfolgreiche Burleske bzw. Farce Tom Thumb, die 1730 am Little Haymarket Theatre aufgeführt wurde und 1731 in erweiterter Form unter dem Titel The Tragedy of Tragedies; or, The Life and Death of Tom Thumb the Great erschien. 24 Schon dieser Titel 22 Dazu nutzte Garrick seit Februar 1742 neunundneunzig Mal die von ihm gründlich aktualisierte Restaurations-Farce The Rehearsal von George Villiers, dem zweiten Duke of Buckingham (siehe McIntyre 1999, S. 45f.; Benedetti 2001, S. 65f.). 23 Macb. II.2, V. 34f., S. 55. 24 Der Begriff burlesque bezeichnet eine besonders drastische Parodie oder Travestie, besonders auf der Bühne, der Begriff farce (etwa der deutschen ‘Klamotte’ entsprechend) ein komisches Bühnenspektakel mit abstruser Handlung und extremem Slapstick (vgl. die Artikel in John A. Cuddon: The Penguin Dictionary of Literary Terms. London 1999 6 , S. 99f.; 307f. sowie Chris Baldick: The Oxford Dictionary of Literary Terms. Oxford/ New York 2008 3 , S. 43; 126). Auf Tom Thumb treffen beide Charakterisierungen zu, weshalb sein Stück noch in der Einleitung zur kommentierten Ausgabe (Henry Rüdiger Singer 76 lässt erkennen, dass hier die Absurditäten der zeitgenössischen Tragödienproduktion aufs Korn genommen werden, der Plot bestätigt es: Weil Tom Thumb mehrere Riesen erschlagen hat, soll der heroische Däumling König Arthurs Tochter Huncamunca zur Frau bekommen, sehr zum Missfallen der gleichfalls in ihn verliebten Königin Dollalolla. Ein Mordanschlag des missgünstigen Höflings Grizzle schlägt fehl, doch wird Tom unerwartet von einer Kuh verschluckt, erscheint aber als Geist und wird von Grizzle ein zweites Mal gemeuchelt. Am Schluss haben sich alle Protagonisten gegenseitig umgebracht, bis auf den König, der, den Schlussmonolog sprechend, Selbstmord begeht. Fielding zitiert exzessiv aus zeitgenössischen Tragödien, deren Herkunft er in der Tragedy durch parodistische, pseudo-gelehrte Fußnoten offenlegt. Indem er sie einem fiktiven Herausgeber namens Scriblerus Secundus zuschreibt, stellt sich Fielding explizit in die Tradition des 1713 gegründeten Scriblerus Club, in dem sich u.a. Jonathan Swift, John Gay und Alexander Pope an Literatur- und Gelehrtensatire vergnügten. 25 Nun scheint es auf den ersten Blick, als wollte der Verfasser des Essay on Acting wiederum an Fieldings Farce anschließen, um die Erscheinung des ‘Däumlings’ Garrick mit der von etablierten ‘Giganten’ der tragischen Bühne zu kontrastieren, die um das gleiche Rollenfach konkurrieren. Doch hätte ein aufmerksamer und wohlinformierter Leser schon beim Anblick des Titelblattes skeptisch werden können, was Autor und Stoßrichtung des Pamphlets betraf. Der Begriff des mouthing im angeführten Tom Thumb-Zitat wird nämlich mit dem des ranting kombiniert, der sich sehr spezifisch auf den Deklamationsstil der älteren Schauspielergeneration, also etwa eines James Quin, bezog. Zudem ist der Stil, in dem sich die Kritikerfigur schon auf der ersten Seite des Essay vorstellt, von einer Pedanterie und Selbstgerechtigkeit geprägt, welche die Scriblerus-Tradition aufruft: As I have a long Time (twenty Years or more) made the STAGE and ACT- ING, my Study and Entertainment, I look upon myself, and indeed am thought by my Intimates, a proper Person to animadvert upon, or approve, the Errors and the Excellencies of the Theatre; and as there can be no better Opportunity to offer itself than now, when the Town is running after their little fashionable Actor, in a Character of which he is, properly speaking, the Anticlimax of Shakespear; I will endeavour in the following Dissection of our Puppet Heroe, to concinve my dear Country Men and Country Women, that they are madly following an Ignis fatuus, or Will of the Whisp, which they take for real Fielding: Tom Thumb and The Tragedy of Tragedies. Hg. von L. J. Morrissey. Berkeley/ Los Angeles 1970 [=The Fountainwell Drama Texts 14]), S. 1-16), die über Entstehungs- und Wirkungsgeschichte informiert, zunächst zu Fieldings “farce satires” gerechnet und noch auf derselben Seite als “dramatic burlesque” bezeichnet wird (ebd., S. 2). 25 Siehe Pat Rogers: Documenting eighteenth century satire: Pope, Swift, Gay, and Arbuthnot in historical context. Newcastle upon Tyne 2012. Macbeth als Däumling? 77 substantial Light, and which I will prove to be only the Rush-light of Genius, the Idol of Fashion, and an Air-drawn Favourite of the Imagination. (GEA: 1f.) 26 Meines Erachtens geht die Geschwätzigkeit und bemühte Witzelei jedoch noch über die Kommentierungstradition der Scriblerianer hinaus und verweist auf die Figur des pseudo-gelehrten Alten in der Tradition des Dottoreaus der Commediadell’arte. Der Shakespeare-Kontext des Titelblattes dürfte speziell die Figur des Polonius evozieren, der sich in seinen Kommentaren zur Passionate Speech des First Player ja auch als Schauspiel-Connaisseur disqualifiziert. 27 Damit wird die Frage nahegelegt, wer die ‘Rolle’ des Schaupiel-Kritikers ‘besetzen’ darf - eine zwanzigjährige Zuschauer- Erfahrung allein genügt als Eignung jedenfalls nicht. Ähnlich doppelbödig ist die Kritik an Garrick als Macbeth, der durch das tragische Heldenfach besetzt wird. Sie beginnt mit einer “dissection” von Macbeths “character”, die ihn zwar als erfahrenen und ehrgeizigen General, nicht jedoch als aktiven Kriegshelden vorstellt, 28 und folgert daraus: Valour and Ambition, the two Grand Characteristicks of Macbeth, form in the Mind’s Eye a Person of near Six Foot High, corpulently Graceful, a round Visage, a large Hazel Eye, aquiline Nose, prominent Chest, and a well-calv’d Leg, rather inclin’d to that which is call’d an Irish leg; this; I say, would be the Painter’s Choice, was he to give us the Macbeth of his Imagination; I 26 Die Sigle GEA steht im Folgenden für David Garrick: An Essay on Acting in which will be consider’d the Mimical Behaviour of a Certain Fashionable Faulty Actor [...]. London 1744. 27 Vgl. Hamlet II.2, V. 494, hier zitiert nach: William Shakespeare: Hamlet. Hg. von Harold Jenkins. London 2001 2 (Arden Edition), S. 266. Zuvor ist besonders bezeichnend Szene II.2, in der die Königin eine rhetorisch verstiegene Tirade des Alten mit der Aufforderung “More matter with less art” unterbricht (V. 95, S. 241). Insofern würde ich Polonius im Anschluss an Robert Henke (Virtousity and Mimesis in the Commedia dell’Arte and Hamlet. In: Michele Marrapodi [Hg.]: Italian culture in the Drama of Shakespeare & his Contemporaries. Rewriting, Remaking, Refashioning. Aldershot u.a. 2007 [=Anglo-Italian Renaissance Studies], S. 69-82, hier 70) der Tradition des Dottore zuordnen, obwohl er als Vater einer Tochter und Ränkeschmied auch Züge der Pantalone-Figur besitzt (siehe zu dieser den Beitrag von Susanne Winter in diesem Band), mit der er üblicherweise in Verbindung gebracht wird (z.B. J. Madison Davis/ A. Daniel Frankforter: [Art.] Polonius. In: Dies.: The Shakespeare Name Dictionary. London/ New York 1995, S. 750f.). Jedenfalls wurde Polonius im 18. Jahrhundert noch überwiegend als ungebrochen komische Figur dargeboten; lediglich Charles Macklin spielte ihn ab 1750 als “a more serious character and therefore a more dangerous opponent” (Benedetti 2001, S. 111). 28 “He is an experienc’d General, crown’d with Conquest, innately Ambitious, and religiously Humane, spurr’d on by metaphysical Prophecies, and the unconquerable Pride of his Wife, to a Deed, horrid in itself, and repugnant to his Nature; but as it is the Ladder to the swelling Act of the Imperial Theme, his Milk soon becomes Gall, imbitters his Whole Disposition, and the Consequence is the Murder of Duncan, the taking off of Banquo, and his own Coronation. Thus stands Macbeth. Now to our Inferences” (GEA: 13). Rüdiger Singer 78 mention this only to prove that Mr G----k is not form’d in the least, externally, no more than internally, for that Character […].(GEA: 13f.) Dem Charakter der Rollenfigur entspricht also ein mentales Bild, das als grafisches Bild 29 eines Malers konkretisiert wird und angeblich unvereinbar ist mit Garricks zierlichem Erscheinungs-Bild. Allerdings erweist sich das vermeintliche Idealbild bei genauem Hinsehen als Karikatur, wie insbesondere die oxymoronische Formulierung “corpulently graceful” verrät. Die ‘Adlernase’ ist (auch auf idealisierenden Porträts) ein typisches Erkennungsmerkmal des Iren Mimen James Quin, der um 1744 noch als Macbeth- Darsteller schlechthin galt, nicht zuletzt aufgrund seiner Körperfülle. Allerdings zeigt ihn ein damals schon verbreiteter Stich als Coriolanus mit ‘wohlgewadetem Bein’ und “in a breast plate and stiff skirt that make him looklike a grotesque drag-queen in a liberty bodice and a tutu”. 30 Die wahre Stoßrichtung des Essay on Acting dürfte dem zeitgenössischen Leser also spätestens angesichts dieses verbalen Pseudo-‘Idealbildes’ aufgegangen sein: Garrick selbst wollte bereits vor seinem ersten Auftreten als Macbeth der zu erwartenden Kritik an seiner Verkörperung den Wind aus den Segeln nehmen, und ein “Sixpenny Pamphlet”(GEA: 22) war bestens geeignet, dieses Anliegen ‘unter die Leute zu bringen’. 31 Doch ging es nicht nur um Physis, sondern auch um Aktion. So lautet beispielsweise 32 der ironische Vorschlag für die berühmte Szene, in der Macbeth, noch schwankend, ob er den Königsmord begehen soll, einen schwebenden Dolch halluziniert (II.1): Der Vers Come let me clutch thee! is no to be done by one Motion only, but by several sucessive Catches at it, first with one Hand, and then with the other, preserving the same Motion at the same Time, with his Feet, like a Man, who, out of his Depth, and half drowned in his Struggles, catches at Air for Substance: This would make the Spectator’s Blood run cold, and he would almost feel the Agonies of the Murderer himself. (GAE 17f.) 29 Ich gebrauche die Begriffe ‘grafisches Bild’ (graphic image) und ‘mentales Bild’ (mental image) im Anschluss an William J. Thomas Mitchell: What is an Image? In: New Literary History. A Journal of Theory and Interpretation 15 (1984) Nr. 3, S. 503-537, bes. S. 505. 30 Peter Thomson: Celebrity and rivalry. David [Garrick] and Goliath [Quin]. In: Mary Luckhurst/ Jane Moody (Hgg.): Theatre and celebrity in Britain, 1660-2000. New York u.a. 2005, S. 127-147, hier S. 141. 31 Siehe McIntyre 1999, S. 84f.; Benedetti 2001, S. 127f. Cunningham 2008, S. 53f. hält allerdings fest, dass Garricks Autorschaft zwar wahrscheinlich, aber nicht mit letzter Sicherheit bewiesen ist. 32 Ähnlich verfährt Garrick in seiner Besprechung der Bankett-Szene (III.4): Macbeth, so wird ironisch empfohlen, solle, wenn er den Geist anspricht, nicht diesen anstarren, sondern die Gäste (GEA: 18). Bei seinem zweiten Erscheinen solle er auf den Geist einen Ausfall mit dem Degen machen und ihn so von der Bühne jagen (GEA: 19). Macbeth als Däumling? 79 Kritisiert wird hier also, dass jene Geste, die durch den Vers im Sinn einer impliziten Regieanweisung angedeutet ist, sich der szenischen Situation gegenüber verselbstständigt. Diese Inkongruenz wird erstens veranschaulicht durch eine ausführliche, sukzessive (und wohl etwas übertriebene) Beschreibung der Einzelbewegungen, zweitens und besonders pointiert durch den Vergleich mit den Bewegungen eines Ertrinkenden. Doch liefert die Broschüre auch das unironische Gegen-Bild einer gelungenen Macbeth-Verkörperung im Rahmen der überwiegend ernsthaft gemeinten Short TREATISE UPON ACTING. 33 Es handelt sich um die Beschreibung von Szene II.2, die Macbeths Entsetzen nach dem Königsmord gestaltet: He should at that Time, be a moving Statue, or indeed a petrify’d Man; his Eyes must Speak, and his Tongue be metaphorically Silent, his Ears must be sensible of imaginary Noises, and deaf to the present and audible Voice of his Wife, his Attitudes must be quick and permanent; his Voice articulately trembling, and confusedly intelligible; the Murderer should be seen in every Limb, and yet every Member, at the same Instant, should seem separated from his Body, and his Body from his Soul: This is the Picture of a compleat Regicide […]. (EA 9) Auch hier ist die Körpersprache ausgesprochen disharmonisch, was explizit durch Oxymora und Antithesen herausgearbeitet wird. In diesem Fall aber entlarvt das widersprüchliche Körperbild nicht die Unfähigkeit des Schauspielers, sondern illustriert sinnfällig den aufgewühlten ‘inneren’ Zustand der Rollenfigur. Psychologische Glaubwürdigkeit geht also über steifen Heroismus und die ‘Beredsamkeit des Körpers’ ist weit wichtiger als die ‘Macht der Worte’ des Rollentexts, auf die es in der deklamatorischen Tradition ankommt. 34 Diesem Primat des Visuellen entsprechend wird die Pas- 33 Mit dem Untertitel By which THE PLAYERS may be Instructed and the TOWN Undeceiv’d (GEA: 4-12; hier 4).Trotz einiger stilistischer Absonderlichkeiten, welche die vorgebliche Verfasserschaft des ‘geschwätzigen Alten’ präsent halten sollen, pflichte ich der Garrick-Forschung bei, dass der Treatise insgesamt die Ansichten und Verkörperungen Garricks verlässlich wiedergibt (z.B. Woods 1984, S. 9-13; Cunningham 2008, S. 53). Allerdings ist die Frage nach der Funktion der Treatise im Essay bisher nicht gestellt worden. Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel in der vorangestellten Leseanweisung: “I shall present my Readers with the following short Treatise upon ACT- ING, which will shew ‘em what ACTING ought to be, and what the present Favourite in Question is not” (GEA: 3). Da das neue Ideal der Schauspielkunst sich gerade erst abzuzeichnen begann, musste es zunächst einmal dem Leser in allem Ernst vor Augen gestellt werden. Weiterlesend sollte er dann erkennen, dass es Quins Verkörperung war, die davon abwich - und im Theater feststellen, dass Garricks Verkörperung vollkommen dem neuen Ideal entsprach. 34 Der Begriff sermo corporis geht auf Cicero zurück (De oratore III, 222); in der Frühen Neuzeit bevorzugte man den der eloquentia corporis (siehe Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis’ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995 [=Theatron 11]). Schon Quintilian bemerkt, dass Gesten bereits auf Rüdiger Singer 80 sage eingerahmt durch Vergleiche mit bildender Kunst: Macbeth gleicht einer sich bewegenden Statue, die gesamte Darbietung bietet das ‘Bild eines wahren Königsmörders’. Abb. 1: Johan Zoffany: Mr Garrick and Mrs. Pritchard in „Macbeth“ 35 Ein grafisches Bild dieses perzeptiven ‘Bildes’ 36 schuf Johan Zoffany, eine Art Hausmaler Garricks, 37 im Jahr 1768, also vierunddreißig Jahre später, als dieser die Rolle zum letzten Mal spielte (Abb. 1). Es zeigt Anklänge an die Gattung des Historiengemäldes, mit dem die Tragödie traditionell parallelisiert wurde. Doch von der gattungstypischen Heroisierung kann hier keine Rede sein: Garrick, obwohl vor seiner Mitspielerin stehend, ist deutlich kleiner als diese, und insbesondere seine gespreizt-angespannte Beinhaltung und die verkrampften Finger der linken Hand wären auf einem Historiengemälde von Benjamin West oder Jaques-Louis David ein klarer Verstoß gegen jedes Dekorum. 38 Besonders bemerkenswert ist, dass hier kein Versuch Gemälden und vielmehr noch beim Redner der vis dicendi oft überlegen seien (Institutio oratoria XI.3, 66-68). 35 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ File: Zoffany-Garrick_and_Pritchard_in_Macbeth.jpg (Stand: 18.11.2012). 36 Zur Begrifflichkeit vgl. Anm. 29. 37 Siehe Penelope Treadwell: Johan Zoffany. Artist and Adventurer. London 2009, S. 53- 79. 38 Dazu kommt, dass die Knöpfe seiner Weste und Jacke offenstehen. Zum Problem der Heldendarstellungen in der Historienmalerei des 18. Jahrhunderts siehe Werner Busch: Macbeth als Däumling? 81 mehr gemacht wird, Garricks Größe vergessen zu machen: Obwohl er vor seiner Mitspielerin, der berühmten Tragödin Susannah Cibber, steht, wird Garrick von ihr überragt. Bis der image-bewusste Garrick sich diese Gelassenheit leisten konnte, musste freilich noch einiges geschehen. Zum Beispiel im Roman. II. Henry Fielding: Tom Jones (1749) In Buch 16, Kapitel 5 von Henry Fieldings 1749 erschienenem Tom Jones wird ein Garrick-Kritiker mit dem sprechenen Namen Partridge (Rebhuhn) vorgeführt, der sich ebenfalls darin gefällt, lateinische Brocken zu zitieren. Im Gegensatz zur Kritikerfigur des Essay on Acting ist er jedoch kein langjähriger Londoner Theatergänger, sondern ein einfältiger Dorfschulmeister, den es auf abenteuerlichen Wegen mit dem Titelhelden in die Hauptstadt verschlagen hat. Jones, der zwei Damen in die Galerie des Drury Lane-Theaters begleitet, um Hamlet zu sehen, nimmt auch Partridge mit: For as Jones had really that Taste for Humour which many affect, he expected to enjoy much Entertainment in the Criticisms of Partridge, from whom he expected the simple Dictates of Nature, unimproved indeed, but likewise unadulterated, by Art. (FTJ: 852) 39 Die Perspektive ist also mehrfach vermittelt: Garricks Verkörperung wird aus der Sicht Partridges dargestellt, diese wiederum aus der Sicht von Jones. Vor allem aber meldet sich die Erzählinstanz zu Wort, hebt Jones ‘echten’ von affektiertem “Humour” ab und empfiehlt so auch den Lesern Jones‘ Haltung gegenüber Partridges Kommentaren: Zwar sind auch sie eingeladen, sich an des Dorfschulmeisters Mangel an kulturell erlernter ästhetischer Kompetenz zu erfreuen, gleichzeitig aber aufgefordert, die unverfälschte Echtheit seiner Reaktion zu würdigen - und der ‘künstlichen’ Kompetenz anderer Kritiker zu misstrauen. Die ‘Natürlichkeit’ seiner Reaktion manifestiert sich zunächst darin, dass er begeistert auf Begleitumstände reagiert, die einem erfahrenen Theatergänger kaum mehr auffallen: das Zusammenspiel der Geiger während der Ouvertüre, die Erscheinung des Kerzenanzünders und die schiere Menge der entzündeten Kerzen. Als das Stück selbst beginnt, folgt Partridge gebannt und schweigend der Handlung, fällt aber aus der Haltung ästhetischer Illusion, als das Kostüm des Geistes nicht seiner Vorstellung entspricht: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München 1993, S. 24-181. 39 Die Sigle FTJ steht im Folgenden für Henry Fiedling: The History of Tom Jones a Foundling, zit. nach Fielding 1974. Rüdiger Singer 82 In this Mistake, which caused much Laughter in the Neighbourhood of Partrige, he was suffered to continue, till the Scene between the Ghost and Hamlet, when Partridge gave that Credit to Mr. Garrick, which he had denied to Jones, and fell into so violent a Trembling, that his Knees knocked against each other. (FTJ: 853) Als ihn Jones daraufhin einen Feigling nennt, rechtfertigt sich Jones: “Nay, you may call me Coward if you will; but if that little Man there upon the Stage is not frightened [sic], I never saw any Man frightned in my Life” (FTJ: 854). Das von Garrick dargestellte Entsetzen spiegelt sich getreulich in Partridges Körpersprache und stürzt ihn in einen Konflikt zwischen ästhetischer Illusion, die immer ein Bewusstsein für das Als-Ob des ästhetischen Spieles einschließt, 40 und tatsächlicher Illusion: “if you are not afraid of the Devil, I can’t help it”, hält er, als die Szene vorüber ist, dem spöttelnden Jones vor, but to be sure it is natural to be surprized at such Things, though I know there is nothing in them: Not that it was the ghost that surprized me neither; for I should have known that to have been only a Man in a strange Dress: but when I saw the little Man so frightned himself, it was that which took Hold of me. (FTJ: 854) Nochmals ist hier also vom ‘kleinen Mann’ auf der Bühne die Rede. Obwohl Hamlet, wie bereits angesprochen, auch als junger Held besetzt werden konnte, war er in jedem Fall doch ein tragischer Held. Von der ‘großen’ Rolle dieses tragischen Helden hat das Naturkind Partridge jedoch keinerlei Begriff, wie sich beim nächsten Auftritt des Geistes (während Hamlets Unterredung mit seiner Mutter, III.4) zeigt: There, Sir, now; what say you now? Is he frightned now or no? As much frightned as you think me, and, to be sure, no Body can help some Fears, I would not be in so bad a Condition as what’s his Name, Squire Hamlet, is there, for all the World.(FTJ: 855) Gerade darin aber, dass Garrick einem Affekt der Tragödienfigur Hamlet so glaubhaft vermitteln kann, dass er sogar die komische Romanfigur Partridge affiziert, offenbart sich dem kritisch-überlegenen Leser die Größe des kleinen Mimen. Die perspektivische Dialektik wird am Schluss der Romanszene auf die Spitze getrieben, als Jones den Dorfschulmeister fragt, welche Rolle seiner Meinung nach am besten gespielt worden sei: ‘The King without a Doubt.’ ‘Indeed, Mr. Partridge,’ says Mrs. Miller, ‘you are not of the same Opinion with the Town; for they are all agreed, that Hamlet is acted by the best Player who ever was on the Stage.’ ‘He the best Player! ’ 40 Siehe Werner Wolf: Shakespeare und die Entstehung ästhetischer Illusion im englischen Drama. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 43 (1993), S. 279-301, bes. S. 280f. Macbeth als Däumling? 83 cries Partridge with a contemptuous Sneer, ‘why I could act as well myself. I am sure if I had seen a Ghost, I should have looked in the very same Manner, and done just as he did. […] I know you are only joking with me; but indeed, Madam, though I was never at a play in London, yet I have seen acting before in the Country; and the King for my Money; he speaks all his Words distinctly, half as loud again as the other. -Any Body may see he is an Actor.’ (FTJ: 856f.) Die theatergeschichtliche Signifikanz dieser Passage wird deutlich, wenn man Fieldings Szene mit ihrem Vorbild vergleicht: Im Spectator 335 vom 25. März 1712 erzählt ‘der Zuschauer’von einem Theaterbesuch in Begleitung eines nicht eben kultivierten “Knight” namens Roger de Coverley, dessen Bemerkungen gleichwohl, ähnlich wie bei Fielding, als “a Piece of Natural Criticism” gewürdigt werden. 41 Im Spectator freilich geht es darum zu erweisen, dass die neoklassizistischen Regeln, denen die Tragödie The Distressed Mother von Joseph Addisons Freund Ambroce Philips folgt, mit der ‘Natur’ übereinstimmen und selbst einem ungebildeten Zuschauer verständlich sind. 42 Auch das dazugehörige Bewegungsmuster des strutting (gravitätisches Umherstolzieren) gilt hier noch als dem ersten Fach der königlichen Heldenrolle angemessen: “Upon the Entring [sic] of Pyrrhus, the Knight told me, that he did not believe the King of France himself had a better Strut”. Eben diese Bemerkung bewertet der Erzähler, und zwar in diesem Fall ohne ironische Distanz, als Beispiel für ‘unverfälschte Kritik’. 43 In Garricks fingiertem Tom Thumb-Zitat von 1744 dagegen bezeichnet strutting, zusammen mit mouthing und ranting, einen Schauspielstil, den es zu überwinden gilt auf dem Weg [v]om “künstlichen” zum “natürlichen” Zeichen auf der Bühne. 44 Wenn in Tom Jones die ‘Stimme der Natur’ dem ‘Unnatürlichen’ den Vorzug gibt, spricht dies nicht für den überkommenen Stil - vielmehr demonstriert die Pointe, wie “unimproved” und ‘provinziell’ dieser geworden ist. Zur Wertschätzung eines realistischen Schauspielstils und der damit einher- 41 Joseph Addison/ Richard Steele: The Spectator. Bd. 3: 10. 3. - 3. 06. 1712 = Nr. 322-473. Hg. von Gregory Smith. Oxford 1965, S. 45-48, hier S. 47. Auf Fieldings Prätext verweist Martin C. Battestin in FTJ: 852, Anm. 1. 42 “But pray, says he, you that are a Critick, is the Play according to your Dramatick Rules, as you call them? Should your People in Tragedy always talk to be understood? Why, there is not a single Sentence in this Play that I do not know the Meaning of” (Addison/ Steele 1965, S. 47.) Addison wie Fielding erweisen sich als Meister in der Kunst des puffing, der ‘Schleichwerbung’ für Aufführungen und Stücke, die im England des 18. Jahrhunderts besonders in Blüte stand (vgl. Wardle 1992, S. 27). 43 Addison/ Steele 1965, S. 47. 44 Hierfür immer noch grundlegend, dabei allerdings auf Deutschland und Frankreich fokussiert: Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Bd. 2: Vom „künstlichen” zum „natürlichen” Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. Tübingen 1999 4 . Für England siehe die Quellensammlung in Thomas 1989, S. 127-173; 341-393. Rüdiger Singer 84 gehenden ‘natürlichen’ Affektwirkung müssen Zuschauer vom Schlage Partridges dann doch erst erzogen werden. III. Charles Churchill: The Rosciad (1761) ROSCIUS deceas’d, each high aspiring play’r Push’d all his int’rest for the vacant chair; The buskin’d heroes of the mimic stage No longer whine in love, and rant in rage; The monarch quits his throne and condescends Humbly to court the favour of his friends (CR 1-6: 3) 45 Die Eröffnungspassage von Charles Churchills 1761 publizierter Verssatire 46 The Rosciad ist hintersinnig: Die Darsteller des Heldenfachs der klassizistischen Tragödie, gekennzeichnet durch ihre Kothurne (buskins) wie durch ihre antiquierte Deklamation, beenden ihr Tun, um sich beim Publikum für die Nachfolge von Roscius, dem Inbegriff aller Schauspielkunst, zu bewerben. Das Vom-Thron-Steigen des ‘Monarchen’ legt aber auch die Deutung nahe, dass hier ein obsoleter Stil an sein Ende kommt und womöglich sogar, dass das tragische Heldenfach an Bedeutung verliert. Um Roscius’ Nachfolger zu bestimmen, bedarf es aber zunächst eines Schiedsrichters. Das Londoner Theaterpublikum fällt als kritische Instanz aus, da es sich allzu sehr von der äußeren Erscheinung der Schauspieler beeinflussen lässt: Things of no moment, colour of the hair, Shape of a leg, complexion brown or fair, A dress well chosen, or a patch misplac’d, Conciliate favour, or create distaste. […] Seated in pit, the dwarf, with aching eyes, Looks up, and vows that BARRY’s out of size; Whilst to six feet the vigo’rous stripling grown, Declares that GARRICK is another COAN. (CR 38-41; 47-50: 4) 45 Aus Churchills Rosciad wird in folgender Form zitiert: ‘CR [Versangabe]: [Seitenzahl in Charles Churchill: Poetical Works. Hg., eingeleitet und kommentiert von Douglas Grant. Oxford 1956, S. 3-34.]’. 46 Wie Ulrich Broich gezeigt hat, hängt The Rosciad nur noch lose mit der Tradition des komischen Heldengedichts (mock-heroic poem) zusammen. Bereits in Alexander Popes Dunciad (1728/ 9; 1743), auf die Churchills Titel anspielt, wird die Epenparodie deutlich von Zeit- und Personensatire überlagert (Ulrich Broich: The Eighteenth-Century Mock- Heroic Poem. Übers. von David Henry Wilson. Cambridge u.a. 1990 [=European Studies in English Literature] [dt. 1968], S. 142-159.) Speziell zur Rosciad siehe Wallace Cable Brown: Charles Churchill. Poet, Rake, and Rebell. Lawrence 1953, S. 34-62. Macbeth als Däumling? 85 Der Name jenes Schauspielers, der am Ende Roscius’ Platz einnehmen darf, wird also das erste Mal im Zusammenhang mit dem seinerzeit berühmten ‘Zwerg’ John Coan aus Norfolk genannt. 47 Doch wie im Fall des Essay on Acting wird das Urteil einer komischen Figur in den Mund gelegt, in diesem Fall einem hochaufgeschossenen Grünschnabel, dessen Urteil ebenso lächerlich ist wie das eines ‘Zwergs’ über den stattlichen Schauspieler Spranger Barry (1719-1777). Geschickt nutzt Churchill ein archetypisches Mittel der Komik in Kunst wie Komödie, nämlich die Kontrastierung körperlicher Extremerscheinungen, 48 um vorzuführen, wie fragwürdig die Überbewertung körperlicher Größe für das Rollenfach des Helden ist. Nach dieser Publikumsbeschimpfung führt Churchill eine Reihe von Kollegen vor, die sich um das Amt des Schiedsrichters bewerben, jedoch ebenfalls selbst diskreditieren; auf Vorschlag von Churchills Freund Robert Llyod (1733-1764), der 1760 mit seinem Lehrgedicht The Actor hervorgetreten ist, nehmen schließlich William Shakespare und Ben Jonson auf den Richterstühlen Platz. Diese Konstruktion dient allerdings vor allem dazu, die am Schluss vollzogenen Erhöhung David Garricks zum ‘neuen Roscius’ zu legitimieren. Dagegen erfolgt die kritische Musterung der Schauspieler und Schauspielerinnen, die ab Vers 295 an Shakespare und Jonson vorbeiziehen, nicht etwa durch die beiden Autoritäten, sondern durch eine kritische Sprechinstanz, die an einer Stelle sogar eindeutig auf den Autor Charles Churchill verweist und deshalb im Folgenden mit dessen Namen bezeichnet werden soll. 49 Der Kritiker Churchill wiederum hat sich bereits in einem Motto des Titelblatts eine neue Muse geschaffen, die für die aufstrebende Gattung der Theaterkritik steht: 50 Unknowing, and unknown, the hardy Muse Boldly defies all mean and partial Views; With honest Freedom plays the Critic’s Part, And praises, as she censures, from the Heart. (CR: 1) 51 Es ist bezeichnend, dass Churchill formuliert, die robuste Muse übernehme den “Part” des Kritikers: Nicht nur um die Nachfolge des Roscius geht es 47 Vgl. Anm. 50 in Charles Churchill: Poems. Hg. von James Laver. London 1933, S. 4. 48 Siehe speziell zum Gegensatz von Groß und Klein: Herwig Guratzsch/ Gerhard Langemeyer/ Christoph Stölzel/ Gerd Unverfehrt (Hgg.): Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten. München 1984, S. 250-264. 49 CR 405-408: 15. 50 Dazu immer noch grundlegend: Charles Harold Gray: Theatrical Criticism in London to 1795. New York 1931; eine hilfreiche Zusammenschau bietet Irving Wardle: Theatre Criticism. London/ New York 1992, S. 16-32. An die Schwelle der eigentlichen Blütezeit führt Paul D. Cannan: The Emergence of Dramatic Criticism in England from Johnson to Pope. New York/ Basingstoke 2006. 51 Nicht Teil der Verszählung. Rüdiger Singer 86 also, sondern auch um Ideal- und Fehlbesetzungen der Kritiker-‘Rolle’. Diese Metapher wird gegen Ende des Gedichtes noch einmal aufgegriffen: Last GARRICK came. - Behind him throng a train Of snarling critics, ignorant as vain./ / One finds out,-‘He’s of stature somewhat low,- ‘Your Hero always should be tall you know. - ‘True nat’ral greatness all consists in height.’ Produce your voucher, Critic - ‘Seargeant KYTE.’ (CR 1027-1032: 32) Die Passage spielt auf die im 18. Jahrhundert überaus populäre Komödie The Recruiting Officer (1706) von George Farqhar an. Sergeant Kite, der verschlagene Gehilfe des Titelhelden, hält bereits in der Eingangsszene eine Werberede auf dem Marktplatz, in der es heißt: “he that has the good fortune to be born six foot high, was born to be a great man”. 52 Churchills Pointe zielt ebenso auf die Kritik an Garricks Körpergröße - die Bühne ist kein Kasernenhof - wie auf die Kompetenz der Kritiker: Wer so urteilt, mag in der Rolle eines Bauernfängers reüssieren, als Theaterkritiker ist er eine Fehlbesetzung. Die Kritiker greifen Garrick allerdings noch in einem zweiten Punkt an, der nicht seine Physis, sondern seine Aktion betrifft: Er versuche das Publikum mit allerlei mimischen Mätzchen (“paltry arts”, CR 1033: 32) zu beeindrucken, insbesondere durch “unnat’ral start, affected pause” (CR 1036: 32). Gemeint ist Garricks Kunstgriff, die Zuschauer erst durch eine jähe, heftige Bewegung zu verblüffen, um sodann einige Sekunden lang in einer ausdrucksvollen Pose zu verharren; Hogarths Gemälde von Garrick als Richard, der aus wilden Träumen aufschreckt, ist ein früher Beleg. 53 Churchill gesteht zu, dass dieser Kunstgriff lächerlich werden kann, wenn er von talentlosen Mimen kopiert wird, die “pause and start with the same vacant face” ausführen (CR 1046: 33). But when, from Nature’s pure and genuine source, These strokes of Acting flow with gen’rous force; When in the features all the soul’s portray’d, And passions, such as GARRICK’s, are display’d; To me they seem from quickest feelings caught: Each start is Nature; and each pause is thought. (CR 1049-1044: 33) 52 George Farquhar: The Recruiting Officer. Hg. und komm. von Tiffany Stern. London 2010 2 [=New Mermaids], S. 10. Über Struktur und Rezeption der Komödie (zu der auch Brechts Bearbeitung Pauken und Trompeten gehört), informiert Tiffa Sterns Einleitung (ebd., S. vii-xxviii). 53 Zu Hogarths vgl. Anm. 7. Macbeth als Däumling? 87 Dem Vorwurf armseliger Kunststückchen wird hier die Behauptung entgegengestellt, die Natur selbst sei die Quelle von Garricks Kunst - Schiedsrichter Shakespeare (der schließlich doch noch einmal aus dem Hintergrund tritt und die Rosciad mit einer Laudatio auf Garrick beendet) wird von “Nature link’d with Art” sprechen (CR 1081: 34). Wie die Formulierung “from quickest feelings caught” verrät, verbindet sich die Vorstellung von ‘natürlichem’ Spiel mit dem Modell vom ‘heißen Schauspieler’. Anders als der ‘kalte Schauspieler’, der lediglich mimische Symptome imitiert, fühlt sich der ‘heiße Schauspieler’ in die Emotionen der verkörperten Figur ein, was freilich heißt, dass er über eine beachtliche emotionale Flexibilität verfügen muss. In der die Schauspieltheorie des 18. Jahrhunderts prägenden Debatte über das richtige Modell 54 wurde Garrick für beide Positionen in Anspruch genommen, von Diderot etwa für die des kalten Schauspielers. In England dagegen dominierte das Ideal des ‘heißen Schauspielers’ auch deshalb, weil es besser zum Ideal der Natürlichkeit passte. Zudem dürfte auch hier Diebolds Befund gelten, dass ‘heiße Schauspieler’ eher zur Tragödie, ‘kalte’ eher zur Komödie tendierten, die ja auch beim Zuschauer eher auf emotionalen Abstand zu den Bühnenfiguren setzt. 55 Da die Tragödie aber in der Gattungshierarchie über der Komödie stand, musste ein ‘neuer Roscius’ vor allem erweisen, dass er sein Publikum zu erschüttern verstand. In diesem Sinne soll ja auch der ‘Auftritt’ von Fieldings unverdorbenem Naturkind Partridge die Natürlichkeit von Garricks Affektdarstellung szenisch beglaubigen. Die Fokussierung auf Partridges Reaktion bringt es allerdings mit sich, dass die Leser nicht erfahren, wie Garricks ‘natürliche’ Affektdarstellung denn konkret aussah. Auch Churchills kritische Muse, die zwar (wie zitiert) Parteilichkeit verschmäht, doch ‘aus dem Herzen’ urteilt, muss sich eine analysierende Beschreibung von Garricks Kunst prinzipiell versagen. Gerade dadurch aber erweist sich Churchill als im besten Sinne naives Naturkind: Whilst, working from the Heart, the fire I trace, And mark it strongly flaming to the Face; Whilst, in each sound, I hear the very man; I can’t catch words, and pity those who can./ / Let wits, like spiders, from the tortur’d brain Fine draw the critic-web with curious pain; The gods, - a kindness I with thanks must pay, - Have form’d me of a coarser kind of clay; 54 Einen knappen Überblick über die wichtigsten Positionen bietet Diebold 1913, S. 26. Auf Garrick konzentriert wird die Diskussion zusammengefasst in Benedetti 2001, S. 182-200; die kulturgeschichtlichen Hintergründe von Diderots Paradoxe sur le Comédien erläutert Joseph R. Roach: The Player’s Passion. Studies in the Science of Acting. Newark/ London/ Toronto 1985, S. 116-159. 55 Diebold 1913, S. 30. Rüdiger Singer 88 Nor stung with Envy, nor with Spleen diseas’d, A poor dull creature, still with Nature pleas’d [.] (CR1059-1070: 33) Verstummen muss der Kritiker jedoch nur angesichts von vollendeter Schauspielkunst 56 - für missglückte findet er scharfe Worte. Dies sei abschließend vorgeführt anhand seiner Kritik an einem ehemaligem und an einem aktuellen Konkurrent des ‘neuen Roscius’. Garricks alter Antipode und Rollenfachkonkurrent James Quin, der sich schon 1757 von der Bühne zurückgezogen hatte, erscheint im Rückblick als Inbegriff eines bloßen Rezitators, der noch dazu allein auf den Wohlklang achtet, nicht auf die Emotionen der Figur: No actor ever greater heights [! ] could reach In all the labour’d artifice of speech. Speech! Is that all? - And shall an actor found An universal fame on partial ground? Parrots themselves speak properly by rote, And, in six months, my dog shall howl by note. I laugh at those who, when the stage they tread, Neglect the heart, to complement the head; With strict propriety their care’s confin’d To weigh out words, while passion halts behind. To Syllable dissectors they appeal, Allow them accent, cadence, - Fools may feel; But spite of all the criticising elves, Those who would make us feel must feel themselves. (CR 949-962: 30) Auch hier richtet sich die Kritik gleichzeitig gegen inkompetente Kritiker - die ‘krittelnden Kobolde’ sind in diesem Fall Connaisseure der akustische Reize früherer Deklamationskunst. Diesem ‘kalten’ Genuss wird das Modell des ‘heißen Schauspielers’ entgegengestellt, das einen entsprechend gefühlvollen Zuschauer voraussetzt. Indem der letzte Vers auf die Autorität des Horaz anspielt, lässt er die Bedeutung der “criticising elves” noch weiter schrumpfen. 57 Eine gefährlichere Konkurrenz für Garrick stellte 1761 der (schon im Zusammenhang der ‘Zuschauerbeschimpfung’ erwähnte) Spranger Barry dar, 56 Und auch dies mit Einschränkungen: Die Kunst großer Schauspielerinnen würdigt Churchill durchaus (CR 681-858: 22-27). Allerdings wird auch in diesem Fall das, was die Aktricen konkretauf der Bühne tun, nicht beschrieben, sondern hyperbolisch gelobt und in seiner Wirkung auf die Zuschauer dargestellt. 57 Horaz: De arte poetica, V. 102f.: “si vis meflere, dolendum est / primum ipsi tibi” (zit. nach: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Hg. von Hans Färber. München 1964, S. 236). Auf die actio des Redners bezogen, finden sich ähnliche Formulierungen in Ciceros De oratore II.189 und Quintilians Institutio oratoria VI.2, 26-27. Macbeth als Däumling? 89 der nicht nur hochgewachsen und attraktiv war, sondern auch über eine melodische Stimme verfügte, ohne aus der Schule Quins zu stammen. 58 Churchill karikiert seine Leistung in jener Szene, in der Garrick dem ‘Naturkind’ Partridge einen solchen Schrecken einjagt: Hamlets erster Begegnung mit dem Geist seines Vaters. Some dozen lines before the ghost is there, Behold him for the solemn scene prepare. See how he frames his eyes, poises each limb, Puts the whole body into proper trim, From whence we learn, with no great stretch of art, Five lines hence comes a ghost, and, Ha! a start. (CR 907-912) Der Angriffspunkt ist also Barrys timing, das mit Garricks perfektem Einsatz von start und pause in derselben Szene kontrastiert. Wie dieser Einsatz im Einzelnen ausssah, beschreibt allerdings erst 1775 der kleinwüchsige England-Besucher Lichtenberg, dem Garricks Körpergröße nur noch eine beiläufige Erwähnung wert ist. 59 Umso ausführlicher jedoch führt er dem Leser immer wieder vor Augen, wie wohlproportioniert und durchtrainiert dieser kleine Mann ist und wie ‘groß’ seine Wirkung. So ist es kein Zufall, dass die einzige tragische Rolle, in der er Garrick vorstellt, die des Hamlet ist, und zwar durchweg aufgefasst im Sinn einer französischen Anstandsrolle 60 : “Wie viele Hofleute, und was sage ich Hofleute? Wie viele Hamlete mögen denn wohl in der Welt sein, die das sind, was der Mann zwischen seinen vier Wänden ist? ” 61 58 Thomson 2005, S. 144. 59 Lichtenberg 1998, S. 334-336.; es handelt sich mit Sicherheit um die meistzitierte Beschreibung von Schauspielkunst. Siehe dazu Roman Lach: Hogarths Methode auf der Bühne. Lichtenberg, Garrick und der „prosaische Maler”. In: Annette Simonis (Hg.): Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien. Bielefeld 2009, S. 133-148. 60 Siehe Diebold 1913, Kap. III.1, v.a. S. 93-95. 61 Deshalb verteidigt Lichtenberg auch engagiert Garricks Entscheidung, Hamlet aktualisierend “im französischen Kleide” zu spielen (Lichtenberg 1998, S. 347). Axel Schröter, Bremen Die Rolle des Bösewichts in den Weimarer Mozartbearbeitungen der Goethezeit. Annotationen zur Don Giovanni- und Zauberflöten-Rezeption Der folgende Beitrag versucht, die Rollenfachdiskussion bezüglich ihrer Relevanz für den Bereich des Musiktheaters zu befragen, in welchem im Verlauf des 19. Jahrhunderts an die Stelle der Rollenzunehmend die Stimmfächer getreten sind. Die Ausführungen beschränken sich dabei auf das Musiktheater des Weimarer Hoftheaters der Goethezeit, wobei zu konstatieren ist, dass in Goethes Weimar - so zeigen es die historischen Aufführungsmaterialien - die Grenzen zwischen den Sparten Musik- und Sprechtheater zunächst vergleichsweise fließend gewesen sind: Die Werke des Sprechtheaters wurden sehr häufig mit teils umfangreichen Schauspielmusiken umrahmt, und umgekehrt bekamen die Werke des Musiktheaters Affinitäten zum Sprechtheater, indem man u.a. die Rezitative der Opern nach dem Vorbild des Singspiels durch gesprochene Dialoge ersetzte und überdies die Musiknummern kürzte, wodurch der gesprochene Anteil höher wurde und damit das Gewicht von Musik und Text zugunsten des Textes verlagert worden ist. Diese Praxis war nicht nur im Bereich der unterhaltenden Dramatik üblich, sondern ebenso bei jenen Stücken, die im Verlauf des 19. Jahrhundert kanonisiert und zu festen Repertoirestücken wurden. 1 Die 1 Vgl. dazu z.B. Detlef Altenburg: Goethe und das Musiktheater. In: Wolfram Huschke: „... von jener Glut beseelt ...“. Geschichte der Staatskapelle Weimar. Jena 2002, S. 68-75; Ders.: Von den Schubladen der Wissenschaft. Zur Schauspielmusik im klassisch-romantischen Zeitalter. In: Siegfried Mauser/ Elisabeth Schmierer (Hgg.): Kantate. Ältere geistliche Musik. Schauspielmusik. Laaber 2010, S. 239-250; Cornelia Brockmann: Musik der Klassik im klassischen Weimar. Repertoire, Aufführungspraxis und Rezeption. In: Boje E. Hans Schmuhl/ Ute Omonsky (Hgg.): Zur Aufführungspraxis von Musik der Klassik. 36. wissenschaftliche Arbeitstagung, Michaelstein, 23. bis 25. Mai 2008. Augsburg 2011, S. 235-250; dies.: Instrumentalmusik in Weimar um 1800. Aufführungspraxis. Repertoire. Eigenkompositionen. Sinzig 2009 (=Musik und Theater 7); Beate Agnes Schmidt: Musik in Goethes ,Faust‘. Dramaturgie, Rezeption und Aufführungspraxis. Sinzig 2006 (=Musik und Theater 5); dies.: Musik und Theatereffekte in Schillers Dramen. In: Klaus Manger (Hg.): Der ganze Schiller - Programm ästhetischer Erziehung. Heidelberg 2006, S. 199-224; Axel Schröter: Der historische Notenbestand des Deutschen Nationaltheaters Weimar. Sinzig 2010 (=Musik und Theater 6); Ders.: Musik zu den Schauspielen August von Kotzebues. Unter besonderer Berück- Axel Schröter 92 folgende Untersuchung bezieht Aspekte des Performativen mit ein und stützt sich insbesondere bei den Textanalysen auf die Librettoversionen, wie sie aus den historischen Aufführungsmaterialien hervorgehen. I. Allgemeines zur Weimarer Bearbeitungspraxis Die Ansicht, Goethe habe in Weimar die Rollenfächer abgeschafft, ist weit verbreitet. 2 Sie geht unter anderem auf Wilhelm Bodes Quellenkompilation Goethes Schauspieler und Musiker aus dem Jahr 1912 zurück, 3 die zu einem Standardwerk der älteren Goetheforschung geworden ist. Bode veröffentlichte in diesem Sammelband unter anderem erneut den erstmals 1856 publizierten Beitrag Carl Eberweins über Goethe als Theaterdichter, 4 in welchem der Weimarer Musikdirektor und Komponist ohne nähere zeitliche Angaben rückblickend schrieb: “Die Mitglieder des Theaters hatten kein bestimmtes Fach und waren [sogar] zu Statisten= und Chordienst verpflichtet”. 5 Wie dies in der Praxis aussah, konkretisierte Eberwein anhand einzelner Schauspieler und Sänger, die - zumindest während Goethes Theaterleitung, 1791 bis 1817 also - in den verschiedensten Fächern eingesetzt wurden: Graff, der von Schiller gerühmte Wallenstein, tanzte als Sarastros Sklave in der ZAUBERFLÖTE nach Papagenos Glockenspiel und sang: ‘Das klinget so herrlich, Das klinget so schön! ’ Vohs, Schillers trefflicher Max Piccolomini, gab in den THEATRALISCHEN ABENTHEUERN den Theaterschneider mit gemalten eingefallenen Becken, langen Fingern, dünner Taille, einem kleinen Hütchen auf dem Kopfe, und imitierte die Bewegungen des / / Schneiders beim Nähen. Madame Vohs gab Marie Stuart und in der ZAUBERFLÖTE die Papagena; Wolff den Tasso und den Korporal im WASSERTRÄGER, Madame Wolff Iphigenia von Goethe und im DOKTOR UND APOTHEKER die Claudia. Diese vielseitig gebildeten Künstler unterzogen sich mit Lust der kleinsten Dienste, wenn sie ihrem Institute oder der Kunst zur Ehre gereichten. 6 Selbst Weimars Primadonna Caroline Jagemann trat, den Angaben Ruth B. Emdes zufolge, während ihrer Weimarer Zeit gleichermaßen in Oper und Schauspiel auf und verkörperte insgesamt nicht weniger als 245 Rollen. sichtigung der unter Goethes Leitung in Weimar aufgeführten Bühnenwerke. Sinzig 2006 (=Musik und Theater 4). 2 Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen und Basel 1993, S. 151. 3 Wilhelm Bode: Goethes Schauspieler und Musiker. Erinnerungen von Eberwein und Lobe. Berlin 1912. 4 Karl Eberwein: Goethe als Theaterdirektor. In: Europa. Chronik der gebildeten Welt 17 (1856), Sp. 475-484. 5 Bode 1912, S. 33. 6 Ebd., S. 33f. Die Rolle des Bösewichts 93 Dabei dominierte mit 1223 zu 460 Vorstellungen die Oper das Schauspiel, 7 wobei die Grenzen - wie eingangs erwähnt - zwischen Schauspiel, Schauspiel mit Musik und Musiktheater fließend waren. 8 Die rückblickend getroffenen Aussagen Eberweins lassen sich heute, nachdem die Theaterzettel des Weimarer Hoftheaters von 1791 bis 1918 - und zum Teil noch darüber hinaus - in einem DFG-Projekt aufgearbeitet worden sind und online zur Verfügung stehen, 9 mit vergleichsweise geringem Aufwand überprüfen und größtenteils verifizieren, und zwar zum Teil bereits für das ausgehende 18. Jahrhundert. So trat etwa Friederike Margarethe Vohs am 16. Juni 1800 wirklich als Maria Stuart in Schillers gleichnamigem Trauerspiel auf 10 und am 16. Januar 1794 als Papagena in Mozarts Zauberflöte. 11 Auf dem entsprechenden Weimarer Theaterzettel ist allerdings nicht Papagena als Rollenbezeichnung angegeben, sondern “Ein altes Weib”, jene am Rollenfach der ‘Komischen Alten’ orientierte Maske also, in der Papagena bis zu ihrer Verwandlung agiert. Ebenso spielte, wie Eberwein behauptete, Pius Alexander Wolff sowohl den Tasso in Goethes Schauspiel in fünf Aufzügen, Torquato Tasso, z.B. am 16. Februar 1807, 12 als auch - zwei Tage zuvor - den Korporal in Cherubinis Opéra comique Les Deux journées. 13 Amalie Wolff (geb. Malcolmi) trat am 31. August 1807 in Goethes Iphigenie auf Tauris als Iphigenie auf 14 und am 9. März 1808 als Claudia in Carl Ditters von Dittersdorfs Komischen Singspiel Doktor und Apotheker. 15 Und, um einen letzten Beleg für die Korrektheit der Behauptungen Eberweins zu bringen: HeinrichVohs wirkte am 30. Januar 1799 als Max Piccolomini in Schillers Die 7 Ruth B. Emde: Selbstinszenierungen im klassischen Weimar: Caroline Jagemann. Bd. 1: Autobiographie, Kritiken, Huldigungen, Bd. 2: Briefwechsel, Dokumente, Reflexionen. Göttingen 2004, S. 433-459 sowie S. 538. 8 Zu diesem Phänomen allgemein vgl. Thomas Betzwieser: Sprechen und Singen. Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper. Stuttgart u. a. 2002. 9 http: / / www.urmel-dl.de/ Projekte/ TheaterzettelWeimar.html. Mitarbeiter in dem von Detlef Altenburg geleiteten Projekt sind Annedore Hainsch und der Verfasser dieses Beitrags. (Stand: 19. September 2012). 10 http: / / archive.thulb.unijena.de/ ThHStAW/ receive/ ThHStAW_performance_00018 914? searchStyle=listView (Stand: 19. September 2012). 11 http: / / archive.thulb.uni-jena.de/ ThHStAW/ receive/ ThHStAW_performance_00025 244? searchStyle=listView (Stand: 19. September 2012). 12 http: / / archive.thulb.uni-jena.de/ ThHStAW/ receive/ ThHStAW_performance_00011 702? searchStyle=listView (Stand: 19. September 2012). 13 http: / / archive.thulb.uni-jena.de/ ThHStAW/ receive/ ThHStAW_performance_00011 703? searchStyle=listView (Stand: 19. September 2012). 14 http: / / archive.thulb.uni-jena.de/ ThHStAW/ receive/ ThHStAW_performance_00011 328? searchStyle=listView (Stand: 19. September 2012). 15 http: / / archive.thulb.uni-jena.de/ ThHStAW/ receive/ ThHStAW_performance_00011 286? searchStyle=listView (Stand: 19. September 2012). Axel Schröter 94 Piccolomini 16 und noch in derselben Spielzeit, am 3. Juli 1799, als Schneider in dem Pasticcio Die theatralischen Abentheuer, 17 in einer spezifisch Weimarischen Opernproduktion, die neben Cimarosas L’Impresario in angustie und Mozarts Der Schauspieldirektor zahlreiche andere zeitgenössische Arien zu einer neuen musikalischen Einheit verband. 18 Fakten wie diesen ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Mitglieder des Weimarer Theaterensembles zumindest per Vertrag auf bestimmte Rollenfächer festgelegt wurden, worauf bereits Ruth B. Emde zu Recht verweist. So wurde etwa Henriette Deny (1810) dazu verpflichtet, “Liebhaberinnen und andere Rollen” zu spielen, “welche die Direktion ihren Talenten angemessen finden wird”. 19 Ludwig Oels wurde (1807) für “Liebhaber und Chevaliers”, Carl Hildermann (1816) für “seriöse und komische Väter und Helden” engagiert. Henriette Beck bekam vor allem Mutterrollen, “Weiber von Stande” und andere “im Fach der Alten” angesiedelte Rollen zugewiesen (1800). 20 Und nicht nur die heute im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar aufbewahrten Verträge der Schauspielerinnen und Schauspieler bzw. Sängerinnen und Sänger suggerieren, dass das traditionelle Rollenfachdenken in Goethes Weimar noch existierte. Berichte wie der August von Kotzebues für die Zeitung für die elegante Welt über das Weimarer Hoftheater aus dem Jahr 1817 21 lassen zumindest keinen Zweifel daran, dass in der Praxis das Schauspielerensemble im Sinne der etablierten Rollenfächer besetzt war. Im besagten Bericht schreibt Kotzebue u.a.: Mad[ame] Lortzing ist eine liebliche Erscheinung, vorzüglich im Lustspiel. Madame Beck war einst, nächst Demois[elle] Döbbelin - die beste komische Mutter auf der deutschen Bühne, und ist noch jetzt, wenn ihr Gedächtniß ihr treu bleibt, ihres alten Ruhmes würdig. Zwei hübsche, talentvolle junge Mädchen, Beck und Mayer, versprechen viel, jene für das Lustspiel, diese für das Trauerspiel. […] Die Väterrollen sind durch den alten, wackern [Johann Jakob] Graaf, und neuerlich durch Blumauer, sehr genügend besetzt. Die Helden spielt Haider 22 mit vieler Kraft; die muntern Liebhaber [Karl] Unzelmann oft vortrefflich, so wie überhaupt die komischen Rollen. Anstandsrollen mancherlei Art gibt der Regisseur [Ludwig] Oels mit rühmlichen Fleiße. 16 http: / / archive.thulb.uni-jena.de/ ThHStAW/ receive/ ThHStAW_performance_00019 166? searchStyle=listView (Stand: 19. September 2012). 17 http: / / archive.thulb.uni-jena.de/ ThHStAW/ receive/ ThHStAW_performance_00019 113? searchStyle=listView (Stand: 19. September 2012). 18 Schröter 2010, S. XLVI-LVI. 19 Emde 2004, S. 533. 20 Ebd., S. 537. 21 August von Kotzebue: Aus Weimar. In: Zeitung für die elegante Welt Nr. 129 (5. Juli 1817), Sp. 1046-1048, hier Sp. 1048. 22 Vermutlich ist Friedrich Haide gemeint. Vgl. dazu: Emde 2004, S. 385. Die Rolle des Bösewichts 95 [August] Durand als Liebhaber ist recht angenehm. [Friedrich] Lorzing, ein Tausendkünstler, verdirbt keine Rolle und spielt viele meisterhaft. 23 Die Wahrheit dürfte sich demnach zwischen den Extremen bewegen, so dass man davon ausgehen kann, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler per Contract bevorzugt für ein bestimmtes Rollenfach eingestellt worden sind, sie aber dennoch - teils freiwillig - auch andere Rollen übernahmen, ganz wie es der Theaterbetrieb erforderte, und dies sogar spartenunabhängig. Ein Theater in der Größenordnung des Weimarer Hoftheaters hätte andernfalls wohl auch kaum am Leben gehalten werden können. Analoges gilt für die später sogenannten Stimmfächer im Bereich des Musiktheaters. Auch diese wurden in Weimar ohne Frage nicht besonders stark ausdifferenziert. Bestenfalls unterschieden wurde zwischen “großen” und “kleinen” Partien. So war Caroline Jagemann - und vor ihr Luise Rudorf - vertragsmäßig dazu verpflichtet, “erste und zweyte Singrollen zu übernehmen”, was praktisch darauf hinauslief, dass sie nahezu ausschließlich mit Hauptrollen betraut worden ist, 24 da auch die Partien der ‘zweiten Sängerin’ in der Regel ‘große’ Partien, zumindest aber keine Nebenrollen sind. Von einer differenzierteren Kategorisierung der Stimmfächer, wie sie im 20. Jahrhundert der Dirigent und Musikwissenschaftler Rudolf Kloiber entwickelte, war das Weimarer Theater der Goethezeit gleichwohl weit entfernt. Kloiber unterschied in seinem Kategoriensystem beispielsweise nicht nur zwischen “Lyrischem Fach”, “Zwischenfach” und “Heldenfach”, sondern auch innerhalb der jeweiligen Fächer nochmals minutiös. Allein die Sopranstimmen kategorisierte er in “Lyrischen Sopran”, “Lyrischen Koloratursopran”, “Charaktersopran” “Spielsopran”, “Jugendlich-dramatischen Sopran”, “Dramatischen Koloratursopran”, “Dramatischen Sopran” und “Hochdramatischen Sopran”. 25 II. Opern-/ Singspielbearbeitungen und Rollenfachdenken Geht man davon aus, dass das Rollenfachdenken in Weimar - entgegen den Darstellungen Eberweins - letztlich nicht abgeschafft wurde, so lassen sich auch den Weimarer Opern- und Singspielbearbeitungen neue Facetten abgewinnen. Man könnte sie - wie im Folgenden erwogen werden soll - we- 23 Von dem Schauspielerensemble grenzt Kotzebue allerdings Sängerinnen und Sänger ab, die wohl zu jenem Zeitpunkt bereits überwiegend nur noch als solche agierten. Diese werden zum Teil anhand ihrer Stimmlagen klassifiziert: “Als Sängerinnen werden Mad. [Friedericke] UNZELMANN und Mad. [Karoline] EBERWEIN geschätzt. […] Der Tenorist [K.W.J.] MOLTKE hat eine treffliche Stimme, und der erste Bassist, STROMAYER (den ich noch nicht gesehen habe, da er jetzt auf Reisen ist), entzückt das Publikum” (Kotzebue 1817, Sp. 1048). 24 Emde 2004, S. 533. 25 Rudolf Kloiber: Handbuch der Oper. München/ Kassel 8 1973, S. 758-760. Axel Schröter 96 nigstens partiell auch als Versuche deuten, die Personencharaktere gemäß den traditionellen Rollentypen bzw. dem Rollenfachverständnis klarer zu konturieren. Dies wäre dann auch eine Erklärung dafür, warum man in Weimar selbst deutschsprachige Opern- oder Singspiellibretti mit neuen deutschen Texten versah und sie grundlegend umgestaltete, selbst wenn dadurch die künstlerische Qualität nicht wirklich verbessert wurde. Wie sehr man in Weimar Text und Notentext auch bedeutender Autoren und Komponisten modifizierte, sich also alles andere als werkgetreu verhielt, haben Forschungen der jüngsten Zeit anschaulich gezeigt. Zu nennen sind hier insbesondere diejenigen Studien, die sich mit dem erst in den Jahren 2005 bis 2007 erschlossenen, 315 laufende Meter umfassenden historischen Notenbestand des Deutschen Nationaltheaters befassten. 26 Sie bewiesen, dass Goethes vielzitiertes Diktum keineswegs eine Übertreibung ist. Goethe schrieb rückblickend auf das Jahr 1791: Ein unermüdlicher Concertmeister, CRANZ, und ein immer thätiger Theaterdichter, VULPIUS, griffen lebhaft mit ein. Einer Unzahl italiänischer und französischer Opern eilte man deutschen Text zu unterzulegen, auch gar manchen schon vorhandenen zu besserer Singbarkeit umzuschreiben. Die Partituren wurden durch ganz Deutschland verschickt. Fleiß und Lust die man hiebey aufgewendet, obgleich das Andenken völlig verschwunden seyn mag, haben nicht wenig zur Verbesserung deutscher Operntexte mitgewirkt. 27 Goethe beschreibt damit eine in Weimar spätestens seit seiner Übernahme der Hoftheaterleitung im Mai 1791 übliche Praxis, zeitgenössische Opern für hauseigene Opernproduktionen mit deutschem Text zu versehen oder auch deutschsprachige Opern zu revidieren oder umzutexten. Er selbst lieferte dazu einige Ansätze - das prominenteste Beispiel ist der Beginn von Pasquale Anfossis La maga Circe 28 -, die Hauptarbeit diesbezüglich kam jedoch seinem späteren Schwager Christian August Vulpius zu, der sich zum Teil bereits vor Goethes Übernahme der Hoftheaterleitung entsprechend profilierte. 29 26 Vgl. dazu Anm. 1. 27 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. I/ Bd. 17: Tag- und Jahreshefte. Hg. von Irmtraut Schmid. Frankfurt/ M. 1994, S. 22. 28 Wolfgang Osthoff: „La maga Circe“ di Pasquale Anfossi nella traduzione di Goethe per il teatro di Weimar. In: Fondazione Giorgio Cini (Hg.): Opera & Libretto. Florenz 1990, S. 51-76. 29 Zu den frühesten Übersetzungen zählt etwa die von Le nozze di Figaro. Diese wurde bereits in einem Vorabdruck 1789 publiziert, in Weimar jedoch erst 1794 veröffentlicht. Vgl. dazu: Axel Schröter: Vulpius und das Musiktheater. In: Alexander Kosenina (Hg.): Andere Klassik. Das Werk von Christian August Vulpius (1762-1827). Hannover 2012, S. 39-48. Dort sind die 31 Bearbeitungen, die Vulpius tätigte, im Einzelnen aufgeschlüsselt. Die Rolle des Bösewichts 97 Unter den Bearbeitungen kamen den Übersetzungen und Neutextierungen Mozartscher Opern die größte Bedeutung zu, da es sich bei diesen um diejenigen Stücke handelte, die im Spielplan des Weimarer Theaters den weitaus größten Raum einnahmen. Allein während Goethes Theaterleitung wurde Die Zauberflöte 82mal aufgeführt, Don Giovanni 68mal. Im Folgenden sei daher auf die Bearbeitungen der Zauberflöte und des Don Giovanni ein wenig näher eingegangen, da sie sich gerade auch im Hinblick auf die Rollenfachdiskussion als ergiebig erweisen. III. Die Zauberflöte Die Hauptveränderungen der Weimarer Fassung der Zauberflöte liegen zunächst darin, dass Vulpius erstens den Konflikt zwischen der Königin und Sarastro auf eine Erbstreiterei zurückführt, zweitens die freimaurerischen Elemente neutralisiert und drittens um sprachliche Verbesserungen bemüht ist, wobei fraglich ist, ob sie ihm wirklich glücken. 30 Darüber hinaus sind aber auch die Charaktere von ‘Gut’ und ‘Böse’ klarer konturiert und geschärft. Die Zeichnung des Sarastrobildes der Königin wird ganz im Sinne des Rollenfachs eines Bösewichtes 31 typisiert und damit zugleich die Königin und ihr Gefolge im Sinne des Rollenfachs der Intriganten/ der Intrigantinnen. Dazu einige charakteristische Textpassagen aus Vulpius’ Zauberflöten-Libretto: (1) Im Dialog der ersten Dame mit Tamino (I/ 6) heißt es: “Der finstere, neidische Sarastro, […] entriß der Königin der Nacht die Krone ihres Gatten, und raubte ihr das einzige Pfand der zärtlichsten, ehrlichen Liebe, ihre geliebte Tochter. Trostlos weint die Mutter um ihre geraubte Tochter. Bitten und Flehen waren vergebens. Der Tirann lacht ihrer Leiden. Sarastro hat keine Ohren für die Klagen der Bedrängten. Pamina schmachtet im Elend”. 32 30 Eine sehr distanzierende Haltung gegenüber der Weimarer Bearbeitung nimmt Kreutzer ein. Vgl. dazu: Hans Joachim Kreutzer: Die Krönung von Schönheit und Weisheit - Die Zauberflöte. In: Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte K. 620. Facsimile of the Autograph Score. Hg. von Hans Joachim Kreutzer und Christoph Wolff (=Mozart Operas in Facsimile 6), Los Altos 2009, vor allem S. 45-48. 31 Zum Rollenfach des Bösewichts und Intriganten vgl. Urs Hans Mehlin: Die Fachsprache des Theaters. Eine Untersuchung der Terminologie von Bühnentechnik, Schauspielkunst und Theaterorganisation. Düsseldorf 1969, S. 326. 32 Christian August Vulpius: Die Zauberflöte. Eine Oper in drei Aufzügen, neu bearbeitet. Leipzig 1794, S. 20. Axel Schröter 98 (2) Papageno äußert gegenüber den drei Damen (I/ 9): “Von euch selber hörte ich, / daß Sarastro und sein Mohr, / Menschen die sie thränend baten, / ließen schlachten, und dann braten, / [und sie] setzten sie den Hunden vor”. 33 (3) Der durch Intrigen beeinflusste Tamino weiß gegenüber dem Priester (I/ 18) über Sarastro dann auch nur zu sagen: “Nur Rache, einem Bösewicht”. 34 (4) Und die Königin stilisiert Sarastro schließlich gegenüber Pamina (II/ 9) nicht nur wie die Drei Damen zu einem Tyrannen, sondern möchte auch ihre Tochter darüber hinaus zum Mord an ihm bewegen (wobei letzteres allerdings auch schon bei Schikaneder der Fall ist): “Mein und dein Todfeind ist er [Sarastro]. Zittere bei seinem Namen. Morden will er mich und dich, nachdem er das Reich und den mächtigen Sonnenkreis uns entrissen und erschlichen hat. Sein Leben ist Tod für uns. Er muß sterben, der Tirann! […] Es sterbe der Tirann von deinen Händen! / Tod und Verzweiflung entflammen den Muth. / Die Tochter muß der Mutter Qualen enden. / Es fließe des Verräthers schwarzes Blut”. 35 (Die kreuzreimigen Verse sind der Beginn von Vulpius’ Fassung der bekannten zweiten Arie der Königin der Nacht.) 36 Umgekehrt entschärft Vulpius den bisweilen durchaus ambivalenten Charakter des Sarastro im Sinne eines Verfechters der Ideen des Wahren, Schönen und Guten. So ist selbst die problematische vorletzte Szene, in der Sarastros Widersacher, also die Königin, die drei Damen und Monostatos ihn stürzen wollen, gemildert. Sarastro schlägt seine Feinde am Ende lediglich in die Flucht, vernichtet sie aber nicht (III/ 18): “Es fliehen die Feinde! - Nun herrschet die Ruh. / Es geben die Götter den Segen dazu./ Heil sei euch, Geweihten! ” 37 So lautet Vulpius’ Textierung von Sarastros Schlussrezitativ. Bei Schikaneder “zernichtet” Sarastro dagegen die Macht seiner Gegner, sie stürzen in “ewige Nacht”. 38 33 Ebd., S. 25. 34 Ebd., S. 37. 35 Ebd., S. 66f. 36 “Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen, / Tod und Verzweiflung flammet um mich her! / Fühlt nicht durch dich Sarastro Todesschmerzen, / So bist du meine Tochter nimmermehr”. Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte. In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie II, Werkgruppe 5, Bd. 19: Die Zauberflöte. Hg. von Gernot Gruber und Alfred Orel. Kassel u. a. 1970, S. 224-231. 37 Vulpius 1794, S. 103. 38 Wie sehr Vulpius die Schwarz-Weiß-Malerei des Schikaneder’schen Librettos steigert, wird deutlich, wenn man sich die Originalpassagen vergegenwärtigt. Sarastros Entschluss, Pamina zu ihrer eigenen Sicherheit von der Mutter zu trennen, hat bei Schikaneder in der Erzählung der Drei Damen folgenden Wortlaut: “Ein mächtiger, böser Dämon [hat sie, Pamina] ihr [der Königin] entrissen. […] Sie saß an einem schönen Die Rolle des Bösewichts 99 IV. Don Giovanni Noch aussagekräftiger als die Bearbeitung der Zauberflöte sind bezüglich der Gestaltung negativer Charaktere im Sinne des Rollenfachdenkens die verschiedenen Übersetzungen des Don Giovanni, die man in Weimar zwischen 1792 und 1813 kompilierte und die Bühne passierten ließ. Dabei lässt sich insbesondere anhand der Modifikationen der Übersetzung, die man vornahm, bevor man Mozart/ Da Pontes Dramma giocoso ab 1813 für mehr als 15 Jahre ausschließlich in italienischer Sprache darbot, eine Stilisierung Don Giovannis erkennen. Er wird gleichsam zu einem Bösewicht von Grund auf, zu einem Mehrfachmörder, und lässt nichts mehr von einem Edelmann bzw. von dessen “feiner Bildung”, “fingierter Sittlichkeit” oder seinem gehobenen Bildungsgrad erkennen, der, wie es die Allgemeine musikalische Zeitung Leipzig im Jahr 1823 formuliert, 39 die “Höhe seines Standes und den Adel seiner Abkunft durchblicken” lässt. 40 Ebenso wenig blieb in der Weimarer Bearbeitung von einem “genuss-süchtigen Lebemann” übrig. Stattdessen rückte Don Giovannis Frevler-Dasein in den Vordergrund, das vor Gewalttätigkeit, Totschlag und Mord nicht zurückschreckte. Aufschluss über die Art und Weise, wie Mozarts Don Giovanni in Weimar zur Aufführung gelangte, geben die erhaltenen historischen Aufführungsmaterialien in Rückbindung an die Informationen, die die Theaterzettel liefern. Aussagekräftig sind diesbezüglich vor allem die zweibändige handschriftliche Partitur, der Partiturdruck von 1801, die handschriftlichen Rollenhefte sowie die handschriftlichen Soufflier- und Textbücher, die sich im historischen Notenbestand des Deutschen Nationaltheaters Weimar unter der Signatur “WRha DNT 40” befinden: (1) Hs. Partitur, 2 Bde., 181 und 139 Bl., 1792c: Don Giovanni. / eine Oper / in / Zwey Aufzugen / in Musik gesezt von / Wolfgang Mozart. (2) Gedr. Partitur, 2 Bde., 292 und 239 S., 1801, verwendet ab ca. 1813: IL DIS- SOLUTO PUNITO / osia / IL DON GIOVANNI / Dramma giocoso in due Atti / posto in Musica da / Wolfgang Amadeus Mozart / [Titelkupfer von Kinninger / Bolt] / IN PARTITURA / presso Breitkopf e Har- Maientage ganz allein in dem alles belebenden Zypressenwäldchen, welches immer ihr Lieblingsaufenthalt war. - Der Bösewicht schlich unbemerkt hinein - Belauschte sie, und - Er hat nebst seinem bösen Herzen auch noch die Macht, sich in jede erdenkliche Gestalt zu verwandeln, auf solche Weise hat er auch Pamina - ” (Mozart 1970, S. 80). Und auch die von der Königin gewünschte Tat, Pamina möge Sarastro erdolchen, klingt in den Formulierungen Schikaneders doch milder: “Siehst du hier diesen Stahl? - Er ist für Sarastro geschliffen. - Du wirst ihn tödten, und den mächtigen Sonnenkreis mir überliefern.” (Mozart 1970, S. 224). 39 Vgl. dazu Karin Werner-Jensen: Studien zur „Don-Giovanni“-Rezeption im 19. Jahrhundert (1800-1850). Tutzing 1980 (=Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 8), S. 91. 40 Ebd., S. 95. Axel Schröter 100 tel in Lipsia; [TiB 2: ] Don Juan / oder / DER STEINERNE GAST / komische Oper in zwey Aufzügen / in Musik gesezt von / W. A. Mozart. / Mit unterlegtem deutschen Texte / nebst sämmtlichen von dem Komponisten später eingelegten Stucken. / IN PARTITUR. / LEIPZIG / im Verlag der Breitkopf- und Härtelschen Musikhandlung. (3) Hs. Textbuch (Soufflierbuch), 36 Bl., 1792c: Titelblatt verschollen, gebunden in mit braun-marmorierten Papier überklebte Pappe. - Mit zahlreichen hs. Zusätzen aus späterer Zeit. (4) Hs. Textbuch (Soufflierbuch), 133 S., 1811c: Don Juan / Oper in 2 Acten, nach dem Ital: des Ab: da Ponte / Musik von Mozart. - Mit zahlreichen hs. Zusätzen aus späterer Zeit. (5) Hs. Textbuch (Soufflierbuch), 88 Bl., 1829c: Don Juan / Oper in 2 Aufzügen / Nach dem Ital. des Abb: da Ponte / frei bearbeitet von / Friedrich Rochlitz / Musik von W. A. Mozart / Approb. Sffl. / Soufleurbuch. - Mit zahlreichen hs. Zusätzen aus späterer Zeit. (6) Drei handschriftliche Rollenhefte, 2, 6 und 4 Bl., 1811c: Eremit, Gerichtsperson, Juwelier (7) Hs. Textbuch (Soufflierbuch) mit den Rezitativen in deutscher Sprache, 1856c: Don Juan. / Komische Oper in 2 Aufzügen / von Mozart / frei nach dem Italienischen bearbeitet. / (Text der Recitative) Das erste Aufführungsstadium repräsentiert vor allem noch die wohl bei sämtlichen Aufführungen von 1792 bis Juli 1813 benutzte handschriftliche Partitur (1). Sie weist durchgehend die Übersetzung Heinrich Gottlob Schmieders auf, die wiederum auf der Übersetzung von Christian Gottlob Neefe basiert. 41 Schon diese Fassung stempelt Don Giovanni zu einem Bösewicht, wie bereits die Textincipits einiger auf ihn bezogener Rezitativ- und Arienanfänge zeigen: “Flieh o entf[l]ieh Grausamer ach mich auch lass nur sterben” (I/ 2, Nr. 2, Donna Anna), “Ach wer kann mir doch sagen wo der Grausame weilt” (I/ 5, Nr. 3, Donna Elvira), “Ach flieh den Bösewicht [! ] Hör’ nicht mehr was er spricht” (I/ 10, Nr. 8, Donna Elvira), “O traue diesem Bösewicht Elende trau ihm nicht” (I/ 12, Nr. 9, Donna Elvira). V. Die Wiener Fassung in der Übersetzung von Schröder/ Lippmann Eine darüber hinausgehende Typisierung der Don Giovanni-Figur im Sinne eines Rollenfachdenkens erfolgte dann im Jahr 1811, nachdem man die bis Ende 1810 gespielte Fassung des Don Giovanni für erneuerungsbedürftig 41 Die Textunterlegung der Partitur korrespondiert - von marginalen Veränderungen abgesehen - nahezu vollkommen mit der von Friedrich Dieckmann rekonstruierten Frankfurter Fassung, auf deren Grundlage sie möglicherweise erstellt worden ist. Vgl. dazu: Friedrich Dieckmann (Hg.): Don Giovanni deutsch. Mozarts Don Giovanni in der deutschen Fassung von Neefe und Schmieder Frankfurt 1789. Sankt Augustin 1993 (=Beiträge zur Musikwissenschaft, Beihefte 1), S. 161-178. Die Rolle des Bösewichts 101 gehalten hatte. 42 So wurden in die handschriftliche Partitur die von Mozart für Wien komponierten Arien in Form von Einlagen integriert und auch die Dialogtexte drastisch geändert. Das Soufflierbuch (4) lässt diese Änderungen sehr anschaulich werden. Es dokumentiert sowohl Streichungen wie Überklebungen, etwa die 5. bis 7. Szene betreffend. In dem Monolog Leporellos, der der sogenannten “Registerarie” vorausgeht, heißt es u.a.: “Man sollte von seinem Herrn nur Gutes sagen. - Aber er ist der größte Sünder, der je die Kinnlade bewegt hat”. In Da Pontes Libretto fehlen Aussagen, die in diese Richtung weisen würden, völlig. Neben Änderungen wie diesen wurden dem Dramma giocoso des Weiteren mehrere Szenen hinzugefügt, so etwa eine Juweliers-Szene, in welcher Don Giovanni einen Juwelier dazu bringt, ihm seinen Schmuck zu überlassen, für den er dann freilich keinen Cent erhält. Vor der berühmten Friedhofszene, also jener, die der Begegnung mit dem Komtur vorausgeht, ist dann jene eingeflochten, in der Don Giovanni den bereits erwähnten weiteren Doppelmord begeht. 43 Don Giovanni und Leporello begegnen in dieser Szene einem Eremiten, den Don Giovanni überwältigt, um in dessen Kleidung seinen Kontrahenten Don Ottavio zu beseitigen. Seine Worte diesbezüglich sind eindeutig: “Es ist nur zu gewiß, daß Donna Anna mich erkannt, und ihn zum Rächer aufgefordert hat. Wäre der Freund aus der Welt”. 44 In der folgenden Begegnung mit Don Ottavio überredet dann der als Eremit verkleidete Don Giovanni diesen zunächst dazu, nach christlicher Tugend die Waffen abzulegen und von seinen Rachegelüsten Abstand zu nehmen und bittet ihn sodann, ihm in eine “friedliche Zelle” zu folgen. 45 Was sich dort ereignet, bleibt im Sinne der Teichoskopie verborgen. Gegenüber Leoporello äußert sich Don Giovanni nach seiner Rückkehr lediglich mit den Worten: “Wir können nun ohne Sorge nach der Stadt zurückkehren. Don Octavio bleibt beim Einsiedler, und - lächelnd - beide haben mir ihr Wort gegeben mich nicht zu verrathen”. 46 Leporello lässt in seinem Monolog keinen Zweifel daran, dass er davon 42 Zum Problem der Datierung der einzelnen Fassungen vgl. Axel Schröter: Zur Weimarer Mozartrezeption in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Mozartjahrbuch 2011 (2012), S. 161-178. 43 Die letztgenannte Szene ist keine Weimarer Erfindung. Sie geht vielmehr auf die Berliner Bearbeitung der Übersetzung Friedrich Ludwig Schröders von Seiten des Tenoristen Lippmann zurück. Die Schmieder-Fassung weist sie ebenso wenig wie diejenige Schröders auf. 44 Soufflierbuch (4), S. 98. 45 Ebd., S. 106. 46 Ebd., S. 109. Axel Schröter 102 überzeugt ist, Don Giovanni habe sowohl den Eremiten als auch Don Ottavio umgebracht. 47 O weh, o weh! nun versteh ich alle Worte. Er hat ihn [Don Ottavio] kirre gemacht sein Gewehr abzugeben, und läßt ihm nun den Bruder Credit Gesellschaft leisten. Das ist ein dicker Sünder ob er gleich nicht zehn Pfund Fleisch an sich führt. Er ist fürchterlicher als der Teufel, ob ich gleich so stark bin, daß ich ihn zu Schnupftabak reiben könnte. 48 Damit bestätigt sich das Bild Leporellos, das er schon im Dialog mit Donna Elvira von seinem Herrn hatte, als ihm klar ward, dass er den Vater Donna Annas erschlagen hatte (Szene V). Und bereits in Szene IV hieß es in der Weimarer Adaption im Dialog zwischen Leporello und Don Giovanni: Leporello: Nun, das ist seit den 3 Jahren, die ich Ihnen diene, der siebente Mensch, den Sie aus der Welt geschaft haben. Don Juan: Ach! Doch ist noch kein Mangel an Menschen. 49 VI. Die Weimarer Mischfassung Im Unterschied zur Zauberflöte oder zu Le nozze di Figaro, die beide in Weimar in hauseigenen Adaptionen gespielt wurden, ist im Fall des Don Giovanni keine weimarspezifische Übersetzung vorgenommen worden. Das spezifisch Weimarische der Don Giovanni-Aufführungen war “lediglich”, dass man offenbar nach 1810 - und bis zur Aufführung des Don Giovanni in italienischer Sprache ab 1813 - aus der Schmieder-, Schröder- und Lippmannfassung eine Mischfassung der gesprochenen Dialoge generierte und diese Dialogfassung später noch mit den Gesangsnummern in der Übersetzung von Rochlitz koppelte. 50 Dabei steht außer Frage, dass die einschneidenden Modifikationen an den Gesangstexten wie den gesprochenen Dialogen nicht zuletzt mit Blick auf die in Weimar noch andauernde Existenz des Denkens in Kategorien der Rollenfächer erfolgten. Dies wäre zumindest eine schlüssige Erklärung. Damit stimmt auch überein, dass man in Weimar - 47 Entsprechend ist auch der spätere Monolog der Donna Anna (II/ 11) modifiziert: “Noch keine Nachricht von meinem Geliebten! O Himmel! Wenn ihm nur selbst nicht ein Unglück zustößt” (ebd., S. 113). 48 Ebd., S. 107f. 49 Ebd., S. [2], Text auf Überklebung. 50 Dass die italienischsprachigen Aufführungen letztlich doch nur gemischtsprachlich waren, ist aufgrund der zitierten Rezension aus dem Leipziger Kunstblatt nicht anzunehmen, aber auch nicht auszuschließen, da aus jener Zeit keine Partien mehr existieren. Die erhaltenen Gesangspartien zu Le nozze di Figaro enthalten jedoch neben den Arien auch die Rezitative in italienischer Sprache, so dass man analog auch bezüglich Don Giovanni denken könnte. Die Rolle des Bösewichts Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Die Rolle des Bösewichts Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Die Rolle des Bösewichts Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, Die Rolle des Bösewichts Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, Die Rolle des Bösewichts Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, Die Rolle des Bösewichts Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, Die Rolle des Bösewichts Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar, Don Giovanni Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Don Giovanni Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Don Giovanni Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Don Giovanni Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Don Giovanni, Textbuch (4), S. 108 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ , Textbuch (4), S. 108 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ , Textbuch (4), S. 108 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ , Textbuch (4), S. 108 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ , Textbuch (4), S. 108 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ , Textbuch (4), S. 108 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ , Textbuch (4), S. 108 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ 103 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ 103 Abb. 1: Thüringisches Landesmusikarchiv/ Archiv der Hochschule für Musik FRANZ Axel Schröter 104 wie im 19. Jahrhundert weit verbreitet - die sogenannte Scena ultima wegfallen ließ, wie es aus dem zweiten Soufflierbuch, das gegen Ende einem Szenarienbuch gleichkommt, hervorgeht. Dieses nämlich endet mit den Worten: Scene 16: Vorige. Der Geist des Comthurs Scene 17: Im Hintergrunde öffnet sich der Höllenpfuhl, Flammen sprühen von allen Seiten / Chor der Furien. / Don Juan wird von den Furien in den Höllen-Rachen geschleydert, / Der Vorhang fällt. / Ende. 51 Von einem lieto fine, einem ‘glücklichen Ende’, war man in Weimar während Goethes Theaterleitung selbst weit entfernt, als man den Don Giovanni in italienischer Sprache aufführte. Bei den früheren Aufführungen in deutscher Sprache - also wohl vor 1811 - verzichtete man dagegen noch nicht auf den Schluss-Coro - er wurde in der Partitur und den Stimmenmaterialien erst nachträglich gestrichen. Bezeichnenderweise wählte man aber schon zu jenem Zeitpunkt die Übersetzung von Schmieder/ Neefe, in der der Titelheld zwar auch schon als Bösewicht dargestellt wird, aber nicht mit so gewalttätigen Zügen, die ihm die Schröder/ Lippmann-Übersetzung unterstellt. Der Schluss-Coro hat in der Weimarer Partitur folgenden im Sinne des Rollenfachs des Bösewichts stilisierten Wortlaut: So geht es dem Bösewicht! Wie gelebet, so gestorben; Erst geschwelget, dann verdorben! Dieses Sprichwort täuscht uns nicht: Strafe folgt dem Bösewicht. 52 Spätestens 1801 hätte man jedoch auch auf die in dem renommierten Verlag Breitkopf und Härtel gedruckte Rochlitz-Übersetzung zurückgreifen können, in welcher die Don Giovanni-Gestalt zum Teil noch Charakterzüge im Sinne eines Bonvivants 53 aufweist, der Held eher von Überdruss belastet ist, ohne dass die bösen Facetten des Don-Giovanni-Charakters explizit hervorgekehrt wären. So findet man am Schluss dann auch nicht den Hinweis auf die gerechte Verdammung des Bösewichts, sondern einen allgemeinen Appell zur Tugend: Wer der Tugend sich ergeben, Findet froh und schön das Leben - Freuden blühen um ihn her. 51 Soufflierbuch (4), S. 133. 52 Hs. Partitur (1), Bd. 2, Finale. In der Frankfurter Partitur lautet der vierte Vers abweichend: “Diese Sätze täuschen nicht.” Vgl. dazu Dieckmann 1993, S. 78. 53 Doerry bezeichnete das Rollenfach des Bonvivants als das eines “flotten, bisweilen ein wenig leichtsinnigen Lebemanns, eines eleganten Gesellschaftsmenschen und gewandten Plauderers”. Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhundert. Berlin 1926, S. 28. Die Rolle des Bösewichts 105 Lasterglück flieht schnell wie Rauch: Wie man lebet stirbt man auch. 54 Einen derartig gemilderten Schluss wollte man aber wohl nicht. Die Rochlitz-Übersetzung wurde in Weimar erst 1829 verwendet, nach dem Tode von Herzog Carl August, und nachdem sich auch Weimars Primadonna Caroline Jagemann vom Theaterbetrieb zurückgezogen hatte, was sicherlich kein Zufall ist. Wurde in Weimar zur Zeit Goethes das Rollenfachdenken auch gelockert, so zeigen zumindest die Weimarer Aufführungen der Zauberflöte und des Don Giovanni, rekonstruiert anhand der historischen Aufführungsmaterialien, dass die Bearbeitungspraxis der Zeit in einem entscheidenden Maß über Typisierungen zu erklären ist, die auf das klassische Rollenfachdenken zurückführbar sind. Überdies erklären sich über das noch latent wirkende Rollenfachdenken Sachverhalte wie die, dass auch deutschsprachige Werke des Musik- und Sprechtheaters Modifikationen erfuhren, die ansonsten kaum plausibel wären, da es sich in den seltensten Fällen um wirkliche Verbesserungen handelt und musikalische Gründe dafür ebenso wenig ausschlaggebend gemacht werden können. Die Rollenfachdiskussion erweist sich damit auch für eine Sparte des Theaterbetriebs als relevant, in der man - wenn überhaupt - primär geneigt ist, nach Stimmfächern zu unterscheiden und zu klassifizieren. 54 Gedr. Partitur (2), Bd. 2, S. 517-530. Gerhard Kaiser, Göttingen Sympathy for the evil? Bösewichter in Schillers Räubern I. Die Phantome des Gutmachers Das Imperium, unlängst noch durch den skandalumwölkten, gleichnamigen Roman Christian Krachts wieder in aller Munde, schlug schon 1988 zurück - 1988, als Karl Heinz Bohrer einer in seinen Augen habermasianischen Gutmenschen-BRD bescheinigte, die deutsche Literatur habe das Böse und mithin die Moderne im Prinzip seit 1800 immer schon und immer wieder verfehlt. “Gibt es das böse Kunstwerk? ”, 1 so fragte er. Und während sich in Frankreich gleich eine ganze “Schule des Bösen” gründete, habe die deutsche Literatur unter dem Diktat einer “permanenten Theodizee”, d.h. imprägniert durch einen von der idealistischen Philosophie “vermittelten metaphysischen Optimismus” 2 , einen grundsätzlichen Zweifel am Gutsein der Schöpfung niemals zugelassen. Die Ausnahmen: E.T.A. Hoffmann (in Maßen), Kafka und - freilich - Ernst Jünger. Bohrers Ontologisierungselan ist bedenklich, sein ästhetizistischer Begriff des Bösen bleibt durchweg schillernd, und doch ist seine Frage anregend. Ein Text, so lautet eine der vielen von Bohrers Bestimmungen, könne dann als “böse” bezeichnet werden, wenn er “die Kategorie des ‘göttlichen’ Sinnes auschließ[e]”, wenn er “selbst den Verdacht auf sich [ziehe], daß er prinzipiell außerhalb des sozial und moralisch Guten” 3 stehe. Schiller, der ja gemeinhin eher im Verdacht steht, mit seinen Texten die Menschen gerade gut (und nicht böse) machen zu wollen, taucht auf Bohrers Liste nicht auf. Dass dies ein Fehler ist, zumindest im Blick auf dessen dramatischen Erstling, Die Räuber, darum soll es im Folgenden gehen. Die theatralische Verkörperung des Bösen fällt, betrachtet man die Entwicklungsgeschichte der Rollenfächer, in den Zuständigkeitsbereich des mit dem ‘Bösewicht’ oft synonym verwendeten ‘Intriganten’. Dieses in der Regel zu den Charakterrollen gehörende Rollenfach, so Mehlin in seiner Studie zur “Fachsprache des Theaters”, 1 Karl Heinz Bohrer: Die permanente Theodizee. Über das verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein [1988]. In: Ders.: Imaginationen des Bösen. München/ Wien 2004, S. 33-62, hier S. 33. 2 Ebd., S. 41. 3 Ebd., S. 34. Gerhard Kaiser 108 bezieht seinen Inhalt weitgehend von der umgangssprachlich peiorativen Bedeutung des Worts; da die Intrige […] in Dramen nun häufig von Bösewichtern, Intriganten maßgeblich vorangetrieben und beeinflußt wird, ergibt sich eine doppelte Bestimmung des Terminus: ‚Intriguant: Es begreift alle diejenigen Charaktere in sich, die durch Motive des Lasters auf den Gang der dram. Handlung einwirken (Marinelli, Franz Mohr, Mephistopheles, Schufterle etc.). 4 Schillers Leidenschaft für Intriganten und Bösewichter, sein faible für das Schattige am und im Menschen, ist werkgeschichtlich konstant. Schon Diebolds Pionierarbeit zum Rollenfach bezeichnet den frühesten Bösewicht des Autors, Franz Moor, als “ersten eigentlichen Intriganten im modernen Sinne”. 5 Außerordentlich ist sowohl Schillers psychologisches Wissen um die “geheimsten Operationen” 6 der menschlichen Seele, geschult durch das Medizinstudium wie durch die allgegenwärtige “Gemütsspionage” 7 an der Karlsschule, außerordentlich aber auch seine Lust daran, diese Nachtseiten der menschlichen Verfasstheit zur Darstellung zu bringen. Dieses Wissen und diese Lust zwecken - und dies mag man durchaus als literaturgeschichtlichen Glücksfall verbuchen - keineswegs immer und ausschließlich auf Erziehung, d.h. hier: auf Abschreckung im Sinne der Moraldidaxe ab. Noch im Januar 1805 greift er - die Arbeiten am Demetrius stocken - zu einer einige Jahre zuvor entworfenen Dramenskizze eines nicht weiter ausgeführten Kriminaldramas (Die Kinder des Hauses), in der er einen monströsen Bösewicht im Gewande eines ehrbaren Bürgers imaginiert, einen Bösewicht, der jedem Film von Chabrol zur Ehre gereicht hätte. Louis Narbonne, so Schillers Plan, lässt seinen Bruder Pierre mit “einem glühend Eisen in den Schlund” 8 - in der Erfindung von zielführenden Methoden ist Schiller eher barock als zimperlich - ermorden und dessen Kinder beseitigen. Und doch 4 Urs H. Mehlin: Die Fachsprache des Theaters. Eine Untersuchung der Terminologie von Bühnentechnik, Schauspielkunst und Theaterorganisation. Düsseldorf 1969, S. 326. 5 Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig/ Hamburg 1913, S. 98. 6 Friedrich Schiller: Vorrede (Zur Ersten Auflage) der Räuber. In: Sämtliche Werke in 5 Bänden. [Im Folgenden abgekürzt zitiert als: SW]. Bd. I: Gedichte. Dramen 1. Hg. von Albert Meier. München/ Wien 2004, S. 484-488, hier S. 484. 7 Peter-André Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit. Eine Biographie. Bd. I. 2., durchges. Aufl. München 2004, S. 452. Zum Alltag der Eleven der Karlsschule gehörte eine gegenseitige Gemütsbeobachtung mit Verpflichtung zur schriftlichen Berichterstattung, aus der u.a. Schillers Berichte über den an einer schweren Melancholie leidenden Kommilitonen Grammont hervorgingen (s. dazu ebd., S. 166-172). 8 Friedrich Schiller: Die Kinder des Hauses. In: SW III: Fragmente. Übersetzungen. Bearbeitungen. Hg. von Jörg Robert und Albert Meier. München/ Wien 2004, S. 201-219, hier S. 202. Sympathy for the evil? 109 erscheint er zugleich “in den Augen der Welt” - als “a man of wealth and taste”. 9 Oder, wie Schiller selbst es in einer Charakterskizze ausführt: Charakter des Helden: Er ist ein verständiger, gesetzter, sich immer besitzender, sogar zufriedener Bösewicht. Die Heuchelei ist nicht bloß eine dünne Schminke, der angenommene Charakter ist ihm habituell, ja gewissermaßen natürlich geworden, und die Sicherheit, in der er sich wähnt, läßt ihn sogar Großmut und Menschlichkeit zeigen. 10 Der Bösewicht Louis Narbonne hat leider die Bühne nie betreten. Aber seiner bedurfte und bedarf es schließlich auch nicht mehr, um Schillers Leiden- und Könnerschaft im Umgang mit dem Abgründigen gewahr zu werden. Eine Devise Machiavellis besagt, ein kluger Fürst solle die schlimmsten Taten gleich am Beginn seiner Herrschaft ausüben. Und so hat auch Schiller, dessen eingestandenes Ziel es immer auch war, “des Zuschauers Seele am Zügel [zu] führe[n], und nach meinem Gefallen, einem Ball gleich dem Himmel oder der Hölle zu[zu]werfen” 11 , sein Meisterstück des Bösen wie der Publikumsbeherrschung mit den Räubern gleich am Beginn seiner Karriere abgeliefert. Auch wenn die mittlerweile zur literaturhistoriographischen Legende gewordene Darstellung der Zuschauerreaktionen bei der Uraufführung so schön ist, dass man um ihre Wahrheit fürchten muss, so drängt sich bei der Wiederbegegnung mit Schillers Räubern und ihrem paratextuellen wie rezeptionsgeschichtlichen Umfeld immer noch der Eindruck auf: Irgendetwas geschieht hier, irgendetwas ist hier - dies zeigen die positiven wie negativen, immer aber heftigen Reaktionen - geschehen. “Der allerentschiedenste Bösewicht, der in irgendeinem deutschen Schauspiele erscheint”, so etwa der Theaterprofi des ausgehenden 18. Jahrhunderts, August Wilhelm Iffland, in seiner 1807 erschienen Abhandlung Über Darstellung boshafter und intriganter Charaktere auf der Bühne, “ist wohl der Franz von Moor in Schillers Räubern”. 12 Iffland selbst hat die Rolle als erster und mit großem Erfolg gegeben und er widmet ihrer bühnenpraktischen Ausgestaltung mehr als die Hälfte seiner Abhandlung. Aber auch die bloße Lektüre des Dramentextes zeitigt offensichtlich heftige Affekte, schenkt man einer 1785 anonym veröffentlichten Rezension im Magazin der Philosophie und schönen Literatur Glauben: 9 “Please, allow me to introduce myself, I’m a man of wealth and taste”, so lautet es am Beginn des Rolling Stones-Songs Sympathy for the devil. 10 SW III, S. 203. 11 So der Dramatiker in einer “Erinnerung an das Publikum” zum Fiesko (SW I, S. 752- 754, hier S. 754.). 12 August Wilhelm Iffland: Über Darstellung boshafter und intriganter Charaktere auf der Bühne. In: Almanach für Theater und Theaterfreunde auf das Jahr 1807. Berlin 1807, S. 50-86, hier S. 55. Gerhard Kaiser 110 Ich bin nicht im Stande den Zustand zu beschreiben, in welchem mich die mit der größten Anstrengung geendete Lektüre der Räuber zurückgelassen hat. […] Die heftigste Unruhe, der größte Ekel faßten mich. Welche Wirkung werden die Produkte dieser Dichtung in den Herzen schwärmender Jünglinge, und sanfter, deutscher Mädchen hervorbringen? […] [D]er Mann von Geschmack weine über die Trümmer des guten Geschmacks, der Moralität, und der schönen Literatur […]. 13 Freilich ist die Reaktion des Rezensenten medial vermittelt und rhetorisch stilisiert. Und dennoch soll hier sein “Ekel”, nach Winfried Menninghaus’ Theoriegeschichte des Ekels immerhin “eine der heftigsten Affektionen des menschlichen Wahrnehmungssystems”, “ein Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit” 14 , zum Anlass genommen werden, im Folgenden das Interesse von der Rezeption noch einmal auf das Drama selbst und auf seine paratextuelle Inszenierung zurückzulenken: Die heftigen Wirkungen, die Schillers Räuber provozieren (sozusagen ihr vomitives Potential), resultieren - so die Leitannahme - aus einer äußerst ambivalenten Gestaltung des Bösen. Schillers Inszenierung des Bösen in den Räubern und um die Räuber herum überschreitet zumindest für den deutschsprachigen Bereich in ihrer Ambivalenz gleich in mehrfacher Hinsicht die Grenzen dessen, was in der zeitgenössischen Anlage des Rollenfaches “Intrigant und Bösewicht” üblich ist. Anders und mit direktem Bezug auf eine der Leitfragen der Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes formuliert: Schillers Dramentext bricht in seiner Ausgestaltung des Bösewichts in mehrfacher Hinsicht mit der für dieses Rollenfach im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts üblichen, “theatralen Konvention”. 15 In mehrfacher Hinsicht - dies meint hier vor allem dreierlei: 1. in der paratextuellen Thematisierung des Bösen, 2. in der Darstellung von physischer Gewalt (Spiegelberg) und 3. schließlich in der konsequenten philosophischen Legitimation des Bösen (Franz Moor). II. “Hart. Brutal. Real.” - Schillers paratextuelle Inszenierung einer Grenzüberschreitung “Hart. Brutal. Real.” - Dergestalt lakonisch (und semantisch freilich ein wenig ungelenk) wird der 2010 im Deutschen erschienene Bestseller Tage der Toten von Don Winslow (The Power of the Dog) auf dem Klappentext bewor- 13 Julius Braun: Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen. 3 Bde. Abt. 1: Schiller. Leipzig 1882, S. 118f. 14 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt/ M. 2002, S. 7. 15 Vgl. hierzu auch die Einleitung von Anke Detken und Anja Schonlau im vorliegenden Band, S. 14f. Sympathy for the evil? 111 ben. Winslows immens erfolgreicher Thriller, dessen sujet der Drogenkrieg an der mexikanisch-amerikanischen Grenze ist und der mit einem nur selten nachlassenden, oft fast ins Selbstgenüssliche kippenden Aufwand an Realitätseffekten auf über 700 Seiten ein Inferno aus Gewalt, Folter und Greuel ausbreitet, soll hier nicht weiter interessieren. Indikationsträchtig ist jedoch hier die bündige paratextuelle Selbstanpreisung, zeigt sie doch schlaglichtartig zweierlei: Erstens bedarf die Darstellung von exzessiver Gewalt und jener bösen Charaktere, die sie ausüben, innerhalb des literarischen Feldes zu Beginn des 21. Jahrhunderts keiner vielen Worte mehr, d.h. dergleichen ist nicht mehr legitimationsbedürftig; im Gegenteil - und zweitens - impliziert die lakonische Ausflaggung von Schockierendem, vor allem dann, wenn sie mit dem Anspruch auf mimetische Authentizität auftritt (also „real“ ist), ein reizverstärkendes Angebot, das mit Resonanz bei einer breiten Leserschaft rechnen darf. Kurzum: Im mainstream des ästhetischen Feldes der Gegenwart ist das Schockierende fest etabliert, die Lizenz zur Darstellung des Bösen gleichsam auf Dauer gestellt. Die Anfänge einer solchen ästhetischen Grenzerweiterung sind wohl im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu verorten, sie lassen sich zumindest an Schillers paratextueller Inszenierung der Räuber sehr gut beobachten. 16 Schiller hat seinen dramatischen Erstling paratextuell üppig gerahmt. Neben der offiziellen Vorrede zu den Räubern gibt es noch eine unterdrückte, eine weitere zur “zwoten Auflage” und eine kurze, waschzettelartige Note, Der Autor an das Publikum, die Schiller zwecks Verteilung vor der Erstaufführung an den Intendanten Dalberg schickt. Darüber hinaus lanciert der Autor eine zwischen Eigenlob und Kritik changierende Selbstbesprechung im Wirtembergischen Repertorium. Dass es dabei um eine Grenzverhandlung, oder besser gesagt: um die (aus der Perspektive des Erstlesers) prophylaktische, (aus der Perspektive Schillers) nachträgliche Legitimation einer Grenzüberschreitung geht, zeigt der ambivalente Duktus von Schillers Argumentation. Diese oszilliert zwischen der resonanzstrategischen Ausflaggung einer Ästhetik des Bösen einerseits und ihrer moraldidaktischen Abfederung im Zeichen der katharsis andererseits. Als Legitimationsgrundlage der Darstellung des Bösen in den Räubern führt Schiller seinen Anspruch auf mimetische Authentizität ins Feld, es geht ihm mithin um jenes Verhältnis der dargestellten Welt, bzw. der Figuren zur außerliterarischen Wirklichkeit, das 2010 ins Wörtchen “real” verdampfen kann. Schiller bezeichnet sich selbst als “Menschenmaler”, der eine “Kopie der wirklichen Welt, und keine ideali- 16 Siehe zum Folgenden im Detail auch: Gerhard Kaiser: Distinktion, Überbietung, Beweglichkeit. Schillers schriftstellerische Inszenierungspraktiken. In: Christoph Jürgensen/ ders. (Hgg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken - Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011 (=Beihefte zum Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Heft 62), S. 121-140. Gerhard Kaiser 112 sche Affektationen, keine Kompendienmenschen will geliefert haben”. 17 “Hierinn habe ich nur die Natur gleichsam wörtlich abgeschrieben”, 18 so seine Versicherung, mit der Schiller den eigenen Text, die eigene Art der Figurendarstellung in den Kontext der sich an Shakespeare ausagierenden Natürlichkeitsemphase der Stürmer und Dränger stellt. Interessanter und - soweit ich sehen kann - bezeichnend für Schiller ist es aber nun, dass dieser Anspruch auf mimetische Exaktheit zugleich eine Ästhetik des Bösen legitimiert und das Böse zugleich - indirekt - werbewirksam ankündigt. Verspricht doch die veröffentlichte Vorrede: das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit [zu] enthüllen und in seiner kolossalischen Größe vor das Auge der Menschheit [zu] stellen. […] Das Laster wird hier mitsamt seinem ganzen innern Räderwerk entfaltet. 19 Noch eindrücklicher und offensiver preist Schiller - der heutige Leser glaubt gleichsam die bebende trailer-Stimme aus dem off zu hören - den “erhabenen Verbrecher” in der unterdrückten Vorrede: Man trifft hier Bösewichter an, die Erstaunen abzwingen, ehrwürdige Missethäter, Ungeheuer mit Majestät; Geister, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen, die ihm anhänget, um der Krafft willen, die es erfordert, um der Gefahren willen, die es begleiten. Man stößt auf Menschen, die den Teufel umarmen würden, weil er der Mann ohne seinesgleichen ist […]. 20 Diese sich gleichsam verselbständigende Faszination am Bösen wird jedoch in dem Waschzettel ans Publikum sowie in der publizierten Vorrede im Sinne des aristotelischen katharsis-Gedankens (eleos und phobos) moraldidaktisch wieder abgefedert und in ein sinn- und orientierungsstiftendes Ordnungsmodell eingebettet, ohne dass allerdings - und dies gilt es zu beachten - die einmal in Umlauf gebrachte Faszination am Bösen, am Lasterhaften ganz zurückgenommen wird: Der Zuschauer weine heute vor unserer Bühne - und schaudere - und lerne seine Leidenschaften unter die Gesetze der Religion und des Verstandes beugen, der Jüngling sehe mit Schrecken dem Ende der zügellosen Ausschweifungen nach [die noch einmal eigens hervorgehobene Zügellosigkeit der Ausschweifungen mag beim Jüngling indes auch noch andere Empfindungen als nur den Schrecken hervorgerufen haben…], und auch der Mann gehe nicht ohne den Unterricht von dem Schauspiel, daß die unsichtbare Hand der Vorsicht auch den Bösewicht zu Werkzeugen ihrer Absichten und Gerichte 17 Friedrich Schiller: Die Räuber. In: SW I, S. 485. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 482. Sympathy for the evil? 113 brauchen und den verworrensten Knoten des Geschicks zum Erstaunen auflösen kann. 21 Am Ende also siegt zwar die “List der Vernunft”. Bis dahin aber - so das kaum verhohlene Versprechen der zwischen Moralisierung und Reizverstärkung mäandernden, publizierten Vorrede - gibt es eine Menge zu sehen: Diese unmoralische Charaktere […] mußten von gewissen Seiten glänzen, ja oft von Seiten des Geistes gewinnen, was sie von Seiten des Herzens verlieren. […] Wenn ich vor dem Tiger gewarnt haben will, so darf ich seine schöne, blendende Fleckenhaut nicht übergehen, damit man nicht den Tiger beim Tiger vermisse […]. Ich darf meiner Schrift zufolge ihrer merkwürdigen Katastrophe mit Recht einen Platz unter den moralischen Büchern versprechen; das Laster nimmt den Ausgang, der seiner würdig ist. […] Die Tugend geht siegend davon. 22 Zum Glück jedoch ist das Stück viel interessanter, weil beunruhigender als Schiller es hier darstellt (in vielerlei Hinsicht, etwa in formaler, ist es durchaus weniger interessant, als er es im Paratext erscheinen lässt; mit Blick auf den Sieg der Tugend aber ist es umgekehrt). Schiller taktiert hier, er umtänzelt im Paratext die Grenze zwischen moraldidaktisch induzierter Abscheu vor dem Bösen und der reizverstärkenden Faszination an ihm nur deshalb so wortreich, weil er weiß, dass er eben diese Grenze im Stück selbst überschritten hat, weil die Faszination an der “blendenden Fleckenhaut” des Tigers also die Warnung vor dem Tiger vermissen lässt. Ein exemplarischer Blick auf zwei von den paratextuell wortreich beschworenen Bösewichtern - Spiegelberg und Franz Moor - soll dies zeigen. III. Bohemian Psycho Moriz Spiegelberg, von Schiller in einem frühen Stadium der Textgenese zunächst wohl noch als “Konkurrent des großen Hauptmanns Karl gedacht”, 23 bleibt auch als jene Nebenfigur, zu der er dann wird, noch eine der bemerkenswertesten Bösewichter, die Schillers Phantasie entsprungen sind. Seine Charakteranlage geht in ihrer Abgründigkeit weit über die Konventionen und Normen der Skrupel beseitigenden Einflüsterei und stellvertretenden Ereignisbeschleunigung hinaus, die das Rollenfach “Intrigant und Bösewicht” im deutschsprachigen Bereich von Lohensteins Rusthan und Paris über Lessings Marinelli bis hin zu Wagners Leutnant von Hasenpoth 21 Ebd., S. 489f. 22 Ebd., S. 486-488. 23 Friedrich Schiller: Die Räuber. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller Nationalmuseums hg. von Julius Petersen und Hermann Schneider. Bd. 3. Hg. von Herbert Stubenrauch. Weimar 1953 [im Folgenden zitiert als NA III], S. 281. Gerhard Kaiser 114 ausgeprägt hat. 24 Spiegelbergs Profil schillert zwischen schwankhaft derbem Possenreißer, teilzeit-zionistischem “Projektmacher”, 25 intrigantem Verräter, belesenem und eloquentem “Meister-Redner”, 26 der - als gleichsam luziferischer Ohrenbläser, als “Mäkler” des “Satans” 27 - noch vor Karl Moor den eigentlichen Gründungsakt des böhmischen wild bunch in die Wege leitet. Zudem entpuppt er sich - und darum soll es im Folgenden gehen - als Sadist, dem die Qualen seiner Opfer sichtlichen Genuss bereiten. Wenn der anonyme Rezensent angesichts der Räuber - wohlgemerkt bei deren Lektüre - “Ekel” empfunden hat, so mag dies nicht zuletzt an einer Szene liegen, die bezeichnenderweise in den Bühnenfassungen des Stückes zwar ersatzlos gestrichen ist, auf deren Beibehaltung Schiller aber auch in der zweiten Auflage insistiert hat - trotz seiner Versicherung in der Vorrede, er habe jene “Zweideutigkeiten” vermeiden wollen, “die dem feinern Teil des Publikums auffallend gewesen waren.” 28 Aus Gründen der analytischen Plausibilität muss ich diese Szene hier vollständig zitieren - und zwar nach der noch nicht gekürzten, von Schiller im Eigenverlag herausgegebenen Erstauflage: Spiegelberg [zu Razmann]: […] einen Spaß muß ich dir doch erzählen, den ich neulich im Cäcilienkloster angerichtet habe. Ich treffe das Kloster auf meiner Wanderschaft so gegen die Dämmerung, und da ich eben den Tag noch keine Patrone verschossen hatte, du weißt, ich hasse das diem perdidi auf den Tod, so mußte die Nacht noch durch einen Streich verherrlicht werden, und sollts dem Teufel um ein Ohr gelten! Wir halten uns ruhig bis in die späte Nacht. Es wird mausstill. Die Lichter gehen aus. Wir denken, die Nonnen könnten itzt in den Federn sein. Nun nehm ich meinen Kameraden Grimm mit mir, heiß die andern warten vorm Tor, bis sie mein Pfeifchen hören würden, - versichere mich des Klosterwächters, nehm ihm die Schlüssel ab, schleich’ mich hinein, wo die Mägde schliefen, praktizier ihnen die Kleider weg, und heraus mit dem Pack zum Thor. Wir gehn weiter von Zelle zu Zelle, nehmen einer Schwester nach der andern die Kleider, endlich auch der Äbtissin - Itzt pfeif ich, und meine Kerls draußen fangen an zu stürmen und zu hasselieren, als käm der jüngste Tag, und hinein mit bestialischem Gepolter in die Zellen der Schwestern! - Hahaha! - da hättest du die Hatz sehen sollen, wie die armen Tierchen in der Finstere nach ihren Röcken tappten und sich jämmerlich gebärdeten, wie sie zum Teufel waren, und wir indeß 24 Gemeint sind hier folgende Dramen: Ibrahim Bassa (1653) und Agrippina (1665) von Daniel Casper von Lohenstein, Lessings Emilia Galotti (1776) sowie Die Kindermörderin (1776) von Heinrich Leopold Wagner; vgl. dazu Peter-André Alt: Dramaturgie des Störfalls. Zur Typologie des Intriganten im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. In: IASL 29 (2004), I, S. 1-28. 25 SW I, S. 508. 26 Ebd., S. 511. 27 Ebd., S. 540. 28 Ebd., S. 488. Sympathy for the evil? 115 wie alle Donnerwetter zugesetzt, und wie sie sich vor Schreck und Bestürzung in Bettlaken wickelten, oder unter dem Ofen zusammenkrochen wie Katzen, andere in der Angst ihres Herzens die Stube so besprenzten, daß du hättest das Schwimmen drin lernen können, und das erbärmliche Gezeter und Lamento, und endlich gar die alte Schnurre, die Äbtissin, angezogen wie Eva vor dem Fall - du weißt, Bruder, daß mir auf diesem weiten Erdenrund kein Geschöpf so zuwider ist, als eine Spinne und ein altes Weib, und nun denk dir einmal die schwarzbraune, runzligte, zottigte Vettel vor mir herumtanzen und mich bei ihrer jungfräulichen Sittsamkeit beschwören - alle Teufel! ich hatte schon den Ellbogen angesetzt, ihr die übriggebliebenen wenigen Edlen vollends in den Mastdarm zu stoßen - kurz resolviert! entweder heraus mit dem Silbergeschirr, mit dem Klosterschatz und allen den blanken Tälerchen, oder - meine Kerls verstanden mich schon - ich sage dir, ich hab aus dem Kloster mehr dann tausend Thaler Werths geschleift, und den Spaß obendrein, und meine Kerls haben ihnen ein Andenken hinterlassen, sie werden ihre neun Monate dran zu schleppen haben. 29 Der Kommentator der Nationalausgabe, Herbert Stubenrauch, spricht davon, dass das Motiv des Klosterüberfalls (ursprünglich als eine eigenständige Szene von Schiller konzipiert, in der Karl ins Nonnenstift einfällt, um Amalie zurückzufordern) hier “in neuer, schwankhafter Gewandung” 30 erstand. Und es mag sein, dass positivistische Einfluss- und Motivforschung abgebrüht macht, will sagen: das hier auch von antisemitischen und mysogynen Unterströmungen nicht freie Motiv des Einfalls ins Nonnenkloster hat freilich seine Literaturgeschichte insofern, als dass in der Szene Elemente aus Voltaires 10. Gesang der La Pucelle d’Orleans (1762), Leisewitz’ Julius von Tarent (1776) und Johann Martin Millers Siegwart (1776) amalgamieren. 31 Meine Überlegung geht indes in eine andere Richtung: Selbst wenn man einräumt, dass diese, wie der erste Rezensent schreibt: “ekelhafte”, “schändlich[e]” und “beleidigend[e]” 32 Szene aus den Räubern nicht die deutschsprachigen 120 Tage von Sodom macht, so mögen sich doch folgende Fragen aufdrängen: Ob diese Darstellung Schillers nicht doch mehr ist als ein bloßer Nachhall eines literaturgeschichtlich etablierten Motives, nämlich der - zugegebenermaßen in nur einer Szeneneinheit aufblitzende - Vorschein einer moderneren Ästhetik des Bösen, die die Darstellung von exzessiver und selbstzweckhafter Gewalt nicht nur nicht scheut, sondern diese Gewalt gleichsam episch und ohne moraldidaktische Abfederung ausbreitet; ob Schillers Text - hier, in dieser Szeneneinheit - nicht selbst, gebrochen freilich 29 Ebd., S. 537f. 30 NA III, S. 283. 31 Vgl. ebd. 32 Christian Friedrich Thimme: Rezension der “Räuber” vom 24. Juli 1781 in der “Erfurtischen Gelehrten Zeitung”. Hier zit. nach: Christian Grawe: Friedrich Schiller. Die Räuber. Stuttgart 2004, S. 177. Gerhard Kaiser 116 durch die Erzählinstanz Spiegelberg, jene Überschreitung formal (und geradezu lustvoll, zumindest aber provokativ) mitvollzieht, die er ja mit dem gewaltsamen und schänderischen Einfall in einen geweihten Bereich auf inhaltlicher Ebene zur Darstellung bringt; und schließlich, ob es dann nicht doch auch im deutschsprachigen Bereich - wenn auch freilich nur momenthaft aufblitzend und in noch vor-idealistischen Zeiten - vielleicht einen Text gibt, der demjenigen, was Karl Heinz Bohrer unter dem “bösen Kunstwerk” verstehen will, recht nahe kommt: nämlich Schillers Räuber. Für solche Annahmen spricht meines Erachtens dreierlei: erstens die psychologische Motivation Spiegelbergs, zweitens - und dies mag zunächst vergleichsweise banal klingen - die Länge und die Narrativität der Szeneneinheit und schließlich, drittens, der auffällige Einsatz von Ekelerzeugungs-Chiffren. Ad 1) Anders als Franz und Karl Moor taugt Spiegelberg nicht wirklich zum “erhabenen Verbrecher”. “I shot a man in Reno, just to watch him die”, heißt es im Folsom Prison Blues von Johnny Cash - und ganz ähnlich gelagert erscheint auch Spiegelbergs Motivation für den bestialischen Einfall in das Kloster: Nicht vorrangig, dieser Eindruck stellt sich bei den Gewichtungen innerhalb seiner Erzählung ein, geht es ihm um die zu erbeutenden Schätze, sondern es sind - “da ich eben den Tag noch keine Patrone verschossen hatte” - vielmehr der ennui, die Langeweile, und die selbstgenüssliche Lust an der Grausamkeit, die ihn antreiben. Legt man Schillers eigene, allerdings erst 1793 entstandene Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst zu Grunde, dann hätte es die Szeneneinheit eigentlich nicht geben dürfen. Denn ihm zufolge gibt es im Tragischen und Ernsthaften nur einige seltene Fälle, wo das Niedrige angewandt werden kann. Alsdann muß es aber ins Furchtbare übergehn, und die augenblickliche Beleidigung des Geschmacks muß durch eine starke Beschäftigung des Affekts ausgelöscht und also von einer höhern tragischen Wirkung gleichsam verschlungen werden. 33 Diese ‘höhere tragische Wirkung’ ist in der zur Rede stehenden Szene nicht zu erkennen, nur schwerlich wird man sich die erzählten Vergewaltigungen und den Raub ins Erhabene übersetzen können. Dennoch lösen sie durchaus eine starke Beschäftigung des Affektes aus. Woran liegt das? Vielleicht - so meine Vermutung - liegt dies daran, dass hier das Niedrige durchaus “ins Furchtbare übergeht”, gerade weil die Greueltaten nicht - wie es in Schillers Gedanken heißt - “an etwas Geistiges anknüpfen” 34 , d.h. weil sie hier nicht psychologisch motiviert, philosophisch kontextualisiert und damit befriedet werden. Das “Choquante” 35 - wie es bei Schlegel heißt - läge dann also gera- 33 SW V: Erzählungen. Theoretische Schriften. Hg. von Wolfgang Riedel. München/ Wien 2004, S. 537-543, hier S. 540. 34 Ebd., S. 537. 35 Friedrich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie [1795/ 96]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung. Erster Band: Studien des klassischen Al- Sympathy for the evil? 117 de im Irritationspotential eines Bösewichts, der ohne höheren Grund und Zweck böse ist. Damit allerdings sähe man Spiegelberg weit entfernt von Bösewichtern wie Marinelli oder auch selbst Franz Moor und plötzlich irritierend nahe bei aktuelleren Inkorporationen eines hermetischen Bösen, die - wie Alex und seine droogs in Burgess’ A Clockwork Orange, wie Easton Ellis’ American Psycho oder die beiden kaum erträglichen Quälgeister in Michael Hanekes Film Funny Games - ihre Opfer quälen, nur um sie leiden zu sehen. Ad 2) Räuber überfallen eben Nonnenklöster, so könnte man die genrespezifische “Motivation von hinten” 36 dieser Szene abtun. Aber: Muss man es dann auch so ausführlich erzählen lassen? Für den Fortgang, für die Entwicklung der Dramenhandlung ist Spiegelbergs Erzählung völlig funktionslos, schon der erste Rezensent betont, sie habe “keine Verbindung mit dem Stük” 37 und nicht einmal für die Charakterisierung Spiegelbergs ist sie unabdingbar, wie ihr Wegfall in der Bühnenfassung zeigt. Gleichwohl räumt Schiller Spiegelberg hier einen beträchtlichen Erzählraum ein, einen ins Detail gehenden Erzählraum, der die eigentliche Dramenhandlung unterbricht. Schiller selbst hat in der unveröffentlichten Vorrede insistiert: “Ich schreibe einen dramatischen Roman, und kein theatralisches Drama” 38 , und mit romanhaften Mitteln wird hier in der Tat gearbeitet: Die digressive Narrativierung setzt auf epische Intensivierungsstrategien wie das Erzählen im Präsens am Beginn von Spiegelbergs Erzählung, die gleichsam Atemlosigkeit insinuierende polysyndetische Reihung der Geschehnisse in der zweiten Hälfte, und sie entfaltet im Detail die einzelnen Schritte des Überfalls: Ankunft; Überwältigung des Wächters; Entkleidung der Mägde; Entkleidung der Schwestern und der Äbtissin; furchterregendes Lärmen der Räuber; Stürmen der Zellen; Artikulationsarten der Furcht wie hysterische Kleidersuche, Bedecken mit Bettlaken, Urinieren; der Tanz der Äbtissin; Vergewaltigungsdrohung; Raub; Vergewaltigung. Ausführlichkeit und Detailreichtum der Erzählung führen insgesamt zu einer Verlangsamung der Zeit, die dargestellten abstoßenden moralischen Überschreitungen werden ästhetisch gleichsam lustvoll ausgekostet. Während die Intrige, wie Peter-André Alt gezeigt hat, eine “Beschleunigungstechnik” ist, die zu einer “Verkürzung der Zeit” 39 führt, haben wir es hier - umgekehrt - mit einer durch die tertums. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Paderborn u.a. 1979, S. 217-367, hier S. 254. In diesem Stadium seines Denkens bezeichnet Schlegel das Choquante, “sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich”, als “die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks”. (ebd.) 36 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman [1932]. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt/ M. 1994, S. 66. 37 Grawe 2004, S. 177. 38 SW I, S. 482. 39 Alt 2004b, S. 11. Gerhard Kaiser 118 Narrativierung in Szene gesetzten Entschleunigung der Zeit zu tun, mit einer Verlangsamungstechnik, die die erzählten Ereignisse umso wirkungsvoller erscheinen lässt. Damit nimmt Schiller, als früher Psychologe unter den Dramatikern, in der poetischen Praxis für einen Moment bereits jene Konsequenz vorweg, die sich für Friedrich Schlegel in der ästhetischen Theorie erst 17 Jahre später im 124. Athenäumsfragment ergeben sollte: Wenn man einmal aus Psychologie Romane schreibt oder Romane liest, so ist es sehr inkonsequent, und klein, auch die langsamste und ausführlichste Zergliederung unnatürlicher Lüste, gräßlicher Marter, empörender Infamie, ekelhafter sinnlicher oder geistiger Impotenz scheuen zu wollen. 40 Ad 3) Dass mit und in Schillers Räubern der “schwarze Schiffer” bereits “vom Lande” 41 gestoßen ist, d.h., dass sich im Drama eine ästhetische Grenzverschiebung abzeichnet, die von einer auf Provokation setzenden Inkorporierbarkeit des Schockierenden kündet - dies lässt sich auch an Spiegelbergs Erzählung beobachten. Ist es doch nicht nur die renommiersüchtige Kälte allein, mit der Spiegelberg die Furcht der malträtierten Nonnen schildert, die der Szeneneinheit ihr spezifisches Irritationspotential verleiht. Gleichsam als schocksteigernde Reiz- und Geschmacksverstärkung fungiert Schillers beherzter Griff ins semantische Archiv des Ekelhaften. Die Rede ist hier von den “besprenzten”, d.h. in Urin getauchten Stuben der Nonnen sowie von der nackten, nur noch spärlich bezahnten, “schwarzbraune[n], runzligte[n], zottigte[n] Vettel”. Vor allem mit letzterer, dem Motiv der vetula, wird ein Ekeltopos aufgerufen, der zwar spätestens seit Horaz’ Oden und Epoden zirkuliert, der aber - wie Winfried Menninghaus in seiner Studie zum Ekel an den Beispielen von Brockes, Herder, Kant, Lessing und Rosenkranz überzeugend aufzeigt - in der “neuen ‘Wissenschaft’ der Ästhetik” regelrecht zu einer “negative[n] Obsession” wird, zu einer mysogynen Obsession, mit der die “Gründungsväter” der Ästhetik des 18. Jahrhunderts “bejahrte Weiblichkeit als ekelhaftes Maximalübel ihrem System inkorporierten”. 42 Der Körper der zahnlosen, faltigen, alten Frau mit - wie es in Lessings Laokoon heißt - “schlappen bis auf den Nabel herabhängenden Brüsten” 43 erscheint in diesem Zusammenhang als das ultimative und deshalb Ekel garantierende Opponens zum Körper des klassischen Schönheitsideals mit seiner Glätte, seiner Öffnungslosigkeit und seiner Wohlproportioniertheit. Eine 40 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean Jacques Anstett und Hans Eichner. Paderborn u.a. 1958ff., S. 185. 41 SW I, S. 590. 42 Menninghaus 2002, S. 135. 43 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Lessing. Werke 1766-1769. Bd. 5/ 2. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt/ M. 1990, S. 9-206, hier S. 175. Sympathy for the evil? 119 poetische Praxis, die dergleichen “ausdrücklich inszeniert und der Kunst inkorporiert” 44 und somit zu jener nach 1780 einsetzenden “Entprivilegierung des Klassisch-Schönen” 45 beiträgt, die Menninghaus diagnostiziert, setzt zugleich entschieden auf die Inszenierung von Differenz. “Besprenzen” und “Vettel” werden somit zu reizverstärkenden Chiffren einer Schockbeschleunigung, die zugleich eine ästhetische Differenz in Szene setzen, die dem eigenen Kunstprodukt die Duftmarke des “Interessanten” verleihen soll. Die urinierenden Klosterschwestern werden aus diesem Blickwinkel auch zum territorial pissing eines jungen Autors, zu den ‘Feuchtgebieten’ eines Debütanten, der mit protomodernen Elementen einer Schock-Ästhetik experimentiert, auch um jene ästhetischen Überschreitungen des Sturm-und- Drang noch zu überbieten, in dessen Nachhall er steht. Und doch hat Schiller - und hierin zeigt sich erneut die eingangs betonte Ambivalenz der Räuber - dieses Experiment, zumindest zum Teil auch wieder zurückgenommen. In der zweiten Fassung des Lesedramas entekelt Schiller zumindest die “schwarzbraune, runzligte, zottigte Vettel” zu einem körperlich nicht weiter spezifizierten “Drachen”; 46 und Spiegelberg, Schillers stellvertretender “schwarzer Schiffer”, findet - nachdem er ohnehin in der zweiten Hälfte des Stückes fast gänzlich verschwindet - ein Ende, das die moralischen Koordinaten wieder bestätigt: Er bricht den räuberlichen Ehrenkodex, indem er Karl Moors Stellung usurpieren will, und wird von Schweizer erstochen. “Spiegelbergs Leiche wird hinweg getragen”, 47 so vermerkt der Nebentext lakonisch. Allerdings wird mit seinem Ende keineswegs das Irritationspotential des Stückes völlig gelöscht, wie ich nun zum Abschluss mit einem kurzen Blick auf das Ende des eigentlichen Bösewichts des Stückes, Franz Moor, zeigen möchte. IV. Über die Hutschnur wohin? Franz Moor und die “Consequenz im Bösen” “Es ist kein Gott! ” 48 Um diesen Satz hervorzubringen, hat Schiller Franz Moor fünf Akte lang den Anstrengungen des Begriffes unterworfen. Mit diesem Satz ist seine Verneinungsarbeit, seine schwarze Dialektik der Aufklärung, zu Ende, der ‘Philosoph’ unter den Bösewichtern und Intriganten darf sterben. Aber, und mit dieser Frage möchte ich die Betrachtungen über Schillers Umgang mit dem und den Bösen in den Räubern abschließen: Stirbt mit ihm auch seine Philosophie, d.h. wird durch seinen Freitod am Ende 44 Menninghaus 2002, S. 191. 45 Ebd., S. 190. 46 NA III, S. 54. 47 Ebd., S. 107. 48 SW I, S. 603. Gerhard Kaiser 120 auch seine zynische, nihilistische, atheistische, rationalistische Selbsthelferphilosophie diskreditiert? Die Antwort ist gar nicht so einfach und sie hängt möglicherweise an der Deutung eines Wortes. Wolfgang Riedel, der in einer eindrücklichen Studie aufgezeigt hat, dass und wie es sich bei Franz um einen “pervertierten Aufklärer” handelt, deutet das Ende Franz’ folgendermaßen: Hier geht es um mehr als nur den Untergang eines Empörers wider die Weltordnung - eine Philosophie muß vernichtet werden. Kein Satz von ihr darf bestehn bleiben, und das heißt, Franz muß als Denker blamiert sein, bevor er abtritt. Der Schlußakt des Franz-Dramas führt daher die Umkehrung oder Inversion des ‘umgekehrten Aufklärers’ selbst vor, die Negation seiner negativen Philosophie. 49 Schiller zwinge Franz in einen “performativen Selbstwiderspruch”: 50 Im Augenblick, da er mit der Negation von Unsterblichkeit, Gott und jüngstem Gericht die kühnsten seiner Gedanken ausspricht, werden diese Gedanken - so wollen es Schillers Regieanweisungen - konterkariert durch die unwillkürliche Sprache des Körpers: er sinkt unmächtig nieder […] verwirrt […] richtet sich matt auf (im Gespräch mit Daniel 51 ), verwirrt […] unruhig im Zimmer auf und ab gehend […] wild auf ihn losgehend […] fällt in einen Stuhl […] wirft sich in seinem Sessel herum in schröcklichen Bewegungen (im Gespräch mit Pastor Moser 52 ). Man könnte also sagen: sein letzter Auftritt präsentiert ihn als schieren Inbegriff von Furcht und Zittern. Franz Moor, so Riedel, wird von der Nemesis geschlagen. Die Affekte, die seinem Vater zum Verhängnis werden sollten, allen voran Furcht und Verzweiflung, treiben ihn in den Selbstmord. Das von Franz vordem noch zum Ammenmärchen erklärte Gewissen entfaltet jetzt in eben diesen Affekten seine ungebrochene Kraft. Franz, dessen Emanzipation zur Unmenschlichkeit in nichts anderem bestand als in der Emanzipation von den Empfindungen, in der Kritik jenes affektiven Prinzips Sympathie, in dem der junge Schiller die natürliche und einzige Quelle aller Menschlichkeit sieht, fällt am Ende seiner eigenen Affektivität zum Opfer. Über den ‘Verstand’ als das Organon jener Emanzipation triumphiert zuletzt die Affektnatur des Menschen. Aber, so kann man sich fragen, wird Franz - und mit ihm seine Philosophie - wirklich dergestalt eindeutig widerlegt? Sicherlich: seine Pläne scheitern und insofern scheitert auch sein Weltdeutungs- und -ordnungskonzept. Vielleicht aber bleibt doch ein letzter Rest dieses monomanischen Selbsthelfertums erhalten, und dass er plötzlich an all die Dinge glauben 49 Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste. Die Inversionen des Franz Moor. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 198-220, hier S. 207. 50 Ebd. 51 SW I, S. 600. 52 Ebd., S. 604-607. Sympathy for the evil? 121 sollte, die er zuvor so eloquent verneint hat, dies scheint so ganz eindeutig dann doch nicht zu sein. Betrachten wir kurz seine letzten Sekunden: F RANZ : Ich kann nicht beten - hier hier! (auf Brust und Stirn schlagend) alles so öd - so verdorret. (Steht auf.) Nein ich will auch nicht beten - diesen Sieg soll der Himmel nicht haben, diesen Spott mir nicht antun die Hölle - D ANIEL : Jesus Maria! Helft - rettet - das ganze Schloß steht in Flammen! F RANZ : Hier nimm diesen Degen. Hurtig. Jag mir ihn hinterrücks in den Bauch, daß nicht diese Buben kommen und treiben ihren Spott aus mir. […] D ANIEL : Bewahre! Bewahre! Ich mag niemand zu früh in den Himmel fördern, viel weniger zu früh - (Er entrinnt) F RANZ : (ihm graß nachstierend, nach einer Pause). In die Hölle, wolltest du sagen? - Wirklich! Ich wittere so etwas - Sind das ihr hellen Triller? Hör ich euch zischen, ihr Nattern des Abgrunds? - Sie dringen herauf - belagern die Türe - warum zag ich so vor dieser bohrenden Spitze? - Die Türe kracht - stürzt - unentrinnbar! - Ha! so erbarm du [Hervorh. G. K.] dich meiner! (Er entreißt seine goldene Hutschnur ab und erdrosselt sich.) 53 Ob Franz am Ende wirklich an eine (strafende) Form der Transzendenz (die Hölle) glaubt? Ist nicht seine Weigerung, betend im wahrsten Sinne des Wortes zu Kreuze zu kriechen, sein Selbstmord, d.h. sein Tod durch eigene Entscheidung, auch ein letzter, konsequenter Akt innerhalb seines Programmes eines unbedingten Egoismus und konsequenten Atheismus (um schlimmeres Leid zu vermeiden: hier in die Fänge der Bande zu geraten, also auch durchaus rational und stimmig)? Und, auf wen bezieht sich das “du” in seinem letzten Satz? Wo liegt die Betonung: “So erbárm du dich meiner? ” Oder “So erbarm dú dich meiner? ” Im ersten Fall spräche er - in einer Apotheose - vielleicht gar eine tranzendente Instanz (Gott) an und Riedels These vom völligen Scheitern wäre noch bestärkt. Der erhabene Verbrecher und Empörer bittet in der Stunde seines Todes um Erbarmen. Im zweiten Fall spricht er die Hutschnur an und wir hätten es mit einer Art ironischer Personifikation zu tun. Der zynische Materialist und Atheist wendet sich in der Stunde seines Todes, den er eigenhändig herbeiführt, an seine goldene Hutschnur. Ginge dieses “du” also nicht über seine Hutschnur, so hätte sein Konzept eines rein diesseitigen Materialismus bis zum Ende Bestand. Sicherlich, am Scheitern des Konzeptes ließe Schiller auch dann keinen Zweifel: Ein praktikables Weltordnungskonzept ist der moralisch indifferente Materialismus nicht (praktikable Konzepte gibt es innerhalb des Stückes indes ohnehin nicht). Aber immerhin hätte Schiller seine tiefschwarze Figur mit jener intrinsischen Konsequenz ausgestattet, ihn also so, wie es in der Vorrede heißt, “von gewissen Seiten glänzen” 54 lassen, dass der Autor selbst fürchten muss, der Rezipient, der dieser Konsequenz viel- 53 Ebd., S. 608. 54 Ebd., S. 486. Gerhard Kaiser 122 leicht seinen Respekt nicht versagen kann (und soll? ), könne sie als “Apologie des Lasters” 55 missdeuten. Man könnte den Bösewicht und Intriganten Franz also bewundern, trotz aller paratextueller Zugeständnisse Schillers an den gängigen Geschmack. Sowohl der medizinisch-psychologisch geschulte Menschenkenner als auch der Dramentheoretiker und Ästhetiker Schiller haben diese Bewunderungsmöglichkeit des Bösen vielleicht nicht geradezu gutgeheißen, gleichwohl aber bedacht. In der 1793 erschienenen Abhandlung Über das Pathetische jedenfalls findet sich eine Passage, die sich wie ein legitimatorischer Rückblick auf den 12 Jahre zuvor erschienenen Erstling liest: Für sein [des Dichters; G. K.] Interesse ist es eins, aus welcher Klasse von Karakteren, der schlimmen oder guten, er seine Helden nehmen will, da das nämliche Maaß von Kraft, welches zum Guten nöthig ist, sehr oft zur Consequenz im Bösen erfordert werden kann. Wie viel mehr wir in ästhetischen Urtheilen auf die Kraft als auf die Richtung der Kraft, wie viel mehr auf Freyheit als auf Gesetzmäßigkeit sehen, wird schon daraus hinlänglich offenbar, daß wir Kraft und Freyheit lieber auf Kosten der Gesetzmäßigkeit geäußert, als die Gesetzmäßigkeit auf Kosten der Kraft und Freyheit beobachtet sehen. 56 Und schon elf Jahre zuvor in seiner Selbstrezension heißt es: “Stirbt er nicht bald wie ein großer Mann, die kleine kriechende Seele! ” 57 Kein Fragezeichen, ein Ausrufezeichen hat Schiller hinter diese Bemerkung gesetzt. 55 Ebd., S. 487. 56 SW V, S. 512-537, hier S. 535. 57 Friedrich Schiller: Besprechung zu Die Räuber. Ein Schauspiel von Friedrich Schiller. 1782. [Wirtembergisches Repertorium]. In: SW I, S. 619-635, hier S. 628. Johannes Birgfeld, Saarbrücken Konventionalität als Basis eines Theaters für das breite Publikum: Zum Rollenfach in Kotzebues Almanach dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande Im Jahr 1825 erscheinen in Leipzig in der Reinschen Buchhandlung Christian August Vulpius’ Scenen zu Rom während der Jubelfeier im Jahr 1825. 1 Im zweiten Auftritt begegnen sich darin “[u]nter einem Säulengange zur St. Peterskirche” 2 der Opernlibrettist Morone und die Opernsängerin Lukrezia, beide ebendort auf Post aus Venedig wartend, ihre berufliche Zukunft betreffend: Je haben sie dem Venezianischen Theater ihre Dienste angeboten. 3 Ein munteres Gespräch über Gegenwart und Zukunft entspinnt sich, ehe in der Tat ein Briefbote erscheint: B RIEFTRÄGER . Scharmant, Signora! daß ich sie hier finde, ist allerliebst. Ein Briefchen aus Venedig. L UKREZIA (bezahlt, reißt den Brief schnell auf und lies’t). Oh Dio! besetzt mein Fach - abgeschlagen - M ORONE . Gleich nach Neapel geschrieben, meine Herrlichste! 4 Dass Morone und Lukrezia am Ende tatsächlich nach Neapel aufbrechen, Lukrezia durchaus unfreiwillig, weil sie nach einem Angriff auf einen ehemaligen Geliebten aus der Heiligen Stadt verwiesen wird, 5 ist an dieser Stelle nicht ganz so interessant, wie folgende Passage aus dem fünften Auftritt, die dem lebhaften Bericht eines Kapellmeisters entnommen ist und ebenfalls das berufliche Schicksal Lukrezias betrifft: K APELLMEISTER . Lassen Sie sich erzählen. - Diesen Morgen erhalte ich einen Brief von dem Impressario dell’Opera in Mailand; (zieht den Brief aus der Tasche) den Sie selbst lesen können. Der schreibt mir: Da eine gewisse Sängerin Lukrezia Lukrezina sich hier befinde, welche, wie er höre, ohne Engage- 1 Christian August Vulpius: Scenen zu Rom während der Jubelfeier im Jahr 1825. Leipzig 1825. 2 Ebd., S. 20. 3 Vgl. ebd., S. 20: “M ORONE . [...] Kommt kein Brief aus Venedig, so gehe ich in drei, vier Tagen nach Neapel”, und S. 23: “L UKREZIA . [...] Aber an den Impressar nach Neapel will ich doch schreiben; an den nach Venedig habe ich schon geschrieben. Ich gehe hin, wenn ich verschrieben werde.” 4 Ebd., S. 24. 5 Ebd., S. 117. Johannes Birgfeld 124 ment sey, so ersuche er mich, wenn ich sie singen gehört hätte, ihn aufrichtig zu schreiben, ob ich glaubte, daß dieselbe als erste oder zweite Cantatrice für seine Oper zu gebrauchen sey. 6 Dass das Rollenfach in der Praxis und in der Selbstwahrnehmung der Theaterschaffenden nicht nur in der Oper noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Bedeutung ist, steht außer Frage. Im Folgenden wird ihm in einem Sonderbereich des Theaters des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts nachgegangen: im Areal des Liebhaber- und Privattheaters. Hauptgegenstand der Überlegungen wird das vielleicht bemerkenswerteste Publikationsprojekt August von Kotzebues sein, sein zwischen 1802 und 1819 in insgesamt 18 Jahrgängen erschienener Almanach Dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande. Ein Blick auf die Diskussion über das Rollenfach und seine Bedeutung für Liebhaber- und Privattheater vor Kotzebue wird dabei den Überlegungen zum Almanach vorausgehen. Weil sich zugleich die Frage nach der Bedeutung des Rollenfachs bei Kotzebue mit einem zweiten Problem zentral überschneidet, dem der seinem Theater unterstellten Konventionalität, wird in einem dritten Schritt auf den eben bereits zitierten Text von Vulpius nochmals zurückzukommen sein - und damit auf die Frage nach der Innovationskraft eines dezidiert publikumsorientierten Theaters. I. Rollenfach und Liebhabertheater Hatte zunächst in den 1770er Jahren die sogenannte Theatromanie grassiert, die sich in Theatergründungen wie in privatem Spiel gezeigt hatte, so setzte in den 1790er Jahren eine erneute Welle der Theaterlust und der Theaterspiellust ein. Vielerorts schlossen sich theaterinteressierte Laien zu einer Theater-Gesellschaft zusammen, richteten in privaten Räumen eine Bühne mit Vorhang und Kulissen ein, schufen sich ein Reglement, das Zuständigkeiten und die Abläufe im Spielbetrieb regelte, studierten Stücke eigener Wahl ein und öffnete sich für ein mehr oder minder exklusives Publikum. Träger dieser Gesellschaftsbzw. Liebhaber-, Sozietäts- oder Privattheater 7 waren dabei sowohl Bürgerliche wie Adelige, aber auch Angehörige der Unterschichten: 8 Entsprechende Berichte über Bauern, Knechte und Mägde, die ihre Dienstaufgaben vernachlässigend beim Studium einer Rolle aufgefunden werden, sind erhalten. Der Zutritt zu diesen Veranstaltungen war 6 Ebd., S. 43. 7 Die Begriffe wurden synonym verwandt, vgl. Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750-1800). Frankfurt/ M. 2002, S. 199-200. 8 Vgl. ebd., S. 198. Konventionalität als Basis 125 unterschiedlich geregelt. Doch je höher der Stand der Organisatoren, desto exklusiver war meist der Zugang. Die Blüte der Gesellschaftstheater blieb publizistisch nicht unbemerkt, sie wurde vielmehr von Berichten in den Theateralmanachen ebenso wie von Streitschriften rege begleitet. Eine häufig zu beobachtende Ambivalenz dem Phänomen gegenüber zeigte sich schon früh, etwa im Beitrag Ueber Privat- Theater im Journal aller Journale vom März und April 1788. Dort heißt es zwar zunächst: “Nichts macht den Aufenthalt auf dem Lande erträglicher und angenehmer, als die jezt laut gewordene Gewohnheit, dass Freunde, Verwandte und Nachbaren dort zusammenkommen, Stücke aufführen und dabei zusehen.” 9 Der anonyme Verfasser schätzt also die Exklusivität und Gesittetheit des Ereignisses, denn “die spielenden Personen werden nicht durch Unschicklichkeiten und Grobheiten des Pöbels unterbrochen”. 10 Andererseits aber gibt er zu bedenken: Werden nicht von den Spielenden “wichtige Pflichten” vernachlässigt, wo doch “prächtig eingerichtete und unterstützte öffentliche Bühnen” die privaten Theater verzichtbar gemacht haben? 11 Ist das private Theater nur Mittel, “Eitelkeit” zu befriedigen, 12 “um [...] Beifall zu buhlen” 13 ? Und überhaupt, sei es nicht als Laienspiel der Sittlichkeit der Darsteller “schädlich”, denn: Für ein gesittetes Ohr ist es schon beleidigend, einen Dialog von Congreve und Farquhar anzuhören, ihn aber noch dem Gedächtnisse einzuverleiben, und durch alle studirten Grazien der Aktion zu empfehlen und zu verstärken, kann keine gute Wirkung auf die Moralität des Darstellers thun. Die eigentlichen Schauspieler können nicht so leicht durch dergleichen Dialogen verschlimmert werden, weil sie in ihrem Beruffe für Brod arbeiten, und ihre Rollen oft mit Widerwillen und als eine mühsame Lection hermachen müssen. 14 Besonders irritiert den Kommentator, und seine Formulierung ist 1788 durchaus auch im übertragenen Sinn lesbar, “dass eine beträchtliche Anzahl Menschen zuletzt nicht zufrieden seyn wollte, nur Zuschauer abzugeben”. 15 Und mehr noch, “die agirenden Damen und Herren [...] sind Freiwillige, und man muss immer annehmen, dass sie aus jedem Stücke die Rolle wäh- 9 Anonymus: Ueber Privat-Theater. In: Journal aller Journale. März und April 1788. Elften Bandes zweites Heft. Hamburg 1788, S. 45-52, hier S. 47. 10 Ebd., S. 47. 11 Ebd., S. 48; vgl. auch S. 51. 12 Ebd., S. 47. 13 Ebd., S. 46. 14 Ebd., S. 49-50. 15 Ebd., S. 46. Johannes Birgfeld 126 len und die Gedanken hersagen, die ihnen nach freier Wahl am besten gefallen haben”. 16 Die meisten Empfehlungen zur Einrichtung eines Privattheaters sehen strikte Regelungen für die Einteilung der Rollen innerhalb der Gesellschaft vor. Die hellsichtige Sorge allerdings, Gesellschaftstheater könnten Ort der Einübung gesellschaftlicher Handlungslust und der Identifikation mit fragwürdigen Ansichten bzw. ihrer Verbreitung sein, ist damit nicht entkräftet. Im Gegenteil, auch die Prozesse der Gesellschaften, sich eigene Regeln zu geben und diese zu kontrollieren, tragen natürlich ihren Teil zur Emanzipation von bestehenden Herrschaftsverhältnissen bei. Im Juni 1799 konstatiert ein weiterer anonymer Kommentator im Supplement zu der Neuen Monatsschrift von und für Mecklenburg, offenbar auf Erfahrung zurückgreifend, Ueber Liebhaber-Theater und deren Einrichtung: “Bey jedem Liebhaber-Theater erregt die Vertheilung der Rollen die mehrsten Zänkereyen”. 17 Sein Lösungsvorschlag lautet: Alle Mitglieder der Gesellschaft sollten sich bey der Unterschrift folgenden Bedingungen [...] unterwerfen: a) Daß jeder sich 2 Fächer, die nahmentlich bemerkt werden müßten, wählte; b) in Rücksicht der Damen aber diese darauf zurückführten, wie bey alten Rollen von jungen Damen aufgeführt mehr Ehre einzuerndten wäre, als wenn alte junge Rollen spielten. Wenigstens müßte jede, die noch keine alte Rolle gespielt hätte, solche, wenn sie aufgefordert würde, übernehmen; c) daß die Wahl des Stücks, so wie die Vertheilung der Rollen, lediglich dem Directorio allein überlassen bliebe, nur daß sie ebenfalls an jedes gewählte Rollenfach gebunden wären, und keinem der sich zu Anfange nicht zu diesem Fache gemeldet, vor einem andern aus diesem Fache den Vorzug geben wollten. 18 Weiterhin solle gelten: Kann oder mag aber ein [...] Mitglied die ihm angebotene Rolle nicht übernehmen; so überträgt das Directorium einem andern aus dem Fache diese Rolle, und nur wenn sämtliche dieses Faches schon anderweitig mit Rollen versehen sind oder solche nicht übernehmen wollen, dann erst muß es dem Directori frey stehen, einem andern der sonst dies Fach nicht gewählt hat, diese Rolle zu übertragen. 19 Es scheint bemerkenswert, mit welcher Härte hier das Rollenfach als Basis der Rollenverteilung empfohlen und betont wird. Der Grund dafür ist je- 16 Ebd., S. 50. 17 Anonymus: Ueber Liebhaber-Theater und deren Einrichtung. Ein Versuch. In: Supplement zu der Neuen Monatsschrift von und für Mecklenburg. 2tes Stück. Zum Monat Junius 1799. Schwerin 1799, S. 58-61, hier S. 59. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 60. Konventionalität als Basis 127 doch nicht allein das pragmatische Bemühen, Neidkonflikte in der Gesellschaft zu vermeiden: Dies gesetzliche Verhalten des Directori hat einen zweifachen Nutzen, indem es theils seine Unpartheilichkeit bestätiget, theils viel zur Vervollkommnung der spielenden Mitglieder beyträgt. Denn so wie die Gaben der Menschen mannigfaltig vertheilt sind, so ist es auch unläugbar hier um so mehr der Fall, daß fast jedes Rollenfach seine sogenannten Meister hat. Kann und will dieser nun die ihm einmahl übertragene Rolle nicht spielen, und sie wird nun einem andern aus dem Fache zu Theil, der würklich nicht so viel Talent zum Schauspieler hat wie jener, so wird dieser doch gewiß aus Ehrgefühl alles anwenden, um nicht zu sehr gegen jenen zu verlieren, und sich selbst dadurch in seinem Fache vervollkomm[n]en, dahingegen einer aus einem andern Fache gewählt, sich mehr verderben wird. 20 Die vorgeschlagenen Regeln offenbaren dreierlei: 1. Die einmalige und verbindliche Selbstwahl von je zwei Rollenfächern durch die Mitspieler soll Risse innerhalb der Gruppe durch Rollenneid vermeiden. 2. Das Ziel der Privattheater besteht aus Sicht dieses Kommentators darin, die Spielpraxis der stehenden Bühnen so gut als möglich zu kopieren, eine stete Verbesserung und damit Professionalisierung der Schauspielkunst der Mitglieder anzustreben. 3. Die Rollenfächer werden als sinnvolles Instrument zur Einteilung der Darsteller und zur Beschreibung ihrer Fähigkeiten angesehen. Die Welt scheint mit den vorgefundenen Fächern ausreichend beschreibbar und darstellbar zu sein. Die wohl bekannteste Schrift zum Problem des Werts und der Einrichtung von Laienbühnen ist Friedrich Rochlitz’ (1769-1842) 1795 anonym erschienenes Taschenbuch für Liebhaber des Privattheaters. Auch für Rochlitz ist der “Rollenneid” 21 eine zentrale Gefahr für das Funktionieren der Gesellschaften, und auch für ihn ist das Rollenfach durchaus ein Orientierungspunkt: “Erstens - spiele man nicht zu oft, besonders wenn die handelnde Gesellschaft nicht so stark ist [...], daß alle Rollenfächer doppelt und mehrfach besezt wären, und also in ihrer Besetzung sehr mannichfaltig gewechselt werden könnte.” 22 Zugleich ist das Rollenfach für Rochlitz insgesamt weniger wichtig als für den zuvor zitierten Anonymus: Rochlitz’ Plan für Privattheater sieht vor, dass jede Aufführung von einem neuen Mitglied nach einer durch Los festgelegten Reihe geleitet wird. Dieser Direktor entscheidet dann über das aufzuführende Stück und über “dessen Besetzung, wie sie ihm die beste scheint”. 23 Die Mitglieder dürfen Einwände formulieren “gegen sein Stück 20 Ebd., S. 60. 21 Friedrich Rochlitz: Taschenbuch für Liebhaber des Privattheaters. Leipzig 1795, S. 21. 22 Ebd., S. 33-34. 23 Ebd., S. 38. Johannes Birgfeld 128 oder gegen die gewünschte Besetzung”, und bei “Einwendungen, die er nicht widerlegen kann”, “muß er nachgeben”. 24 Das Rotationsprinzip in der Spielleitung soll, so ist Rochlitz’ Gedanke, alle Teilnehmer aus Eigeninteresse mit Blick auf die Zeit ihrer Direktion motiviert halten. Und weil nun alle Gesellschafter stets gleichermaßen am Erfolg des Unternehmens interessiert sind, wird sich auch der Direktor an jenen Besetzungsregeln orientieren, die Rochlitz einige Seiten zuvor formuliert hat: Bey der Vertheilung der Rollen - besonders bey den ersten Aufführungen, wo man die Talente und Geschicklichkeiten aller Mitglieder noch nicht kennt - sehe man darauf, daß die spielenden Personen, wo möglich, von Natur und in der Wahrheit einige Aehnlichkeit mit den vorzustellenden Personen haben: gebe dem muntern schäkernden Mädchen die Soubrette, dem determinierten ernsthaftern Jüngling ernstere Männer u. d. gl. Allezeit ist es zwar nicht der Fall, daß man die Personen am besten vorstellt, mit denen man Aehnlichkeit in der Wahrheit hat - einige der berühmtesten jetzt lebenden komischen Schauspieler sind Murrköpfe, so wie sie vom Theater weg sind, und umgekehrt sind einige vorzügliche tragische Helden, sobald sie den Kothurn abgelegt haben, Lustigmacher - aber man kann doch darauf rechnen, daß sie solche Rollen nicht gerade hin verderben; und nur durch mancherley Versuche siehet jeder selbst, in welche Fächer er in der Kunst am besten paßt. 25 Auf fast der Hälfte der Seiten des Taschenbuchs für Liebhaber des Privattheaters, rund 50 Seiten lang, weist Rochlitz schließlich seine Leser in die Kunst des Schauspiels ein. 26 Grundregeln der Mimik und Deklamation trägt er vor, stark an Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik (2 Bde., Berlin 1785/ 86) und Thomas Sheridans A Course of Lectures on Elocution (1762; dt. 1793, 2 Bde.: Ueber die Declamation oder den mündlichen Vortrag in Prose und in Versen) orientiert. 27 Von den verschiedenen Rollenfächern und ihren Erfordernissen aber ist hier keine Rede. Sie scheinen aus seiner Sicht für die Praxis des Spiels doch nur von geringer Bedeutung. Entsprechend kann er für den Fall, dass eine Aufführung misslingt, auch raten: man wiederhole das Stück “lieber noch einmal mit mehrerm Fleiß und allenfalls einiger Abänderung in Besetzung der Rollen”. 28 24 Ebd. 25 Ebd., S. 19. 26 Vgl. ebd., S. 50-81: “IV. Anmerkungen über Mimik” und S. 82-100: “V. Anmerkungen über Deklamation”. 27 Die Abhängigkeit von Engel und Sheridan, dass “ich in der Bearbeitung der Anmerkungen über Mimik Engeln sehr oft und über Deklamation nicht selten Sheridan […] gefolgt bin”, stellt Rochlitz früh aus (ebd., S. 6). 28 Ebd., S. 21. Konventionalität als Basis 129 II. August von Kotzebues Almanach dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande und das Rollenfach August von Kotzebue ist, als 1802 der erste Band seines Almanachs erscheint, bereits der erfolgreichste deutschsprachige Dramatiker seiner Zeit. Dass er in der Forschung bis heute als ‘Vielschreiber’ und als Verfasser von dramatischer ‘Tagesproduktion’ abgewertet wird, ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: 227 Theaterstücke liegen von Kotzebue gedruckt vor, sein dramatisches Gesamtwerk inklusive Übersetzungen dürfte um 250-260 Stücke umfassen. 29 Eine so hohe Produktivität allerdings war im 18. Jahrhundert und um 1800 keine Seltenheit: Joseph Felix von Kurz (1717-1784) verfasst bis zu seinem Tod 1784 über 300 Komödien, 30 Iffland (1759-1814) schreibt in seinem Leben immerhin 70 Stücke, 31 Alois Gleich (1772-1841) kommt auf etwa 225 Dramen, Karl Meisl (1775-1853) auf rund 200 Parodien und Komödien, Adolf Bäuerle (1786-1859) schreibt um die 80 Zauber- und Lustspiele 32 und Nestroy (1801-1862) schließlich ca. 90 Stücke. Eine Vielzahl von Kotzebues Stücken ist zudem an zahlreichen Theatern und nicht selten bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus häufig und mit Erfolg gegeben worden und keineswegs eine Tagesproduktion. Gerade für die Zeit um 1800 ist zudem die konsequente Trennung zwischen ›guten‹ und ›kommerziellen‹ Dramatikern wenig zielführend: Nicht nur, dass bei einer solchen Aufteilung 95% aller Dramatik aus dem Blick der Germanistik fällt. 33 Wahrzunehmen wäre auch, dass die Veränderung der Theaterlandschaft ab 1770 einen enormen Bedarf an Stücken hervorgebracht hat, die zweierlei Ansprüchen zu genügen hatten: den Ansprüchen der offiziellen Theaterlegitimation als Medium sittlicher Wertbestätigung und - affirmation für ein zahlungskräftiges, also mehrheitlich den Mittelschichten entstammendes Publikum und zugleich der Notwendigkeit, das finanzielle Überleben der Theater durch immer neue und erfolgreiche Stücke zu sichern. 34 29 Vgl. zu den Zahlen: Johannes Birgfeld/ Julia Bohnengel/ Alexander Košenina: Vorwort. In: Dies. (Hgg.): Kotzebues Dramen. Ein Lexikon. Hannover 2011, S. IX-XIV, hier S. IX. 30 Vgl. etwa Gero von Wilpert: Art. “Kurz, Joseph Felix von”. In: Ders.: Deutsches Dichterlexikon. 3., erw. Aufl. Stuttgart 1988, S. 472. 31 Vgl. Mark-Georg Dehrmann/ Alexander Košenina (Hgg.): Ifflands Dramen. Ein Lexikon. Hannover 2009. 32 Die Schätzzahlen zum dramatischen Werk von Gleich, Meisl und Bäuerle folgen hier Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. 3., neubearb. Aufl. Darmstadt 1997, S. 44-45. 33 In der Forschungspraxis dürften es mit Blick auf das 18. Jahrhundert tatsächlich mehr als 95% der Produktion sein, die der Wahrnehmung entgehen, finden sich doch nur wenige Dutzend der mehrere Tausend Stücke des 18. Jahrhunderts im Kanon der erinnerten Texte sowie im Fokus literaturwissenschaftlicher Forschung. 34 Zur Beschreibung jenes Stranges der ab 1770 anschwellenden Dramenproduktion, der seine Ästhetik sowohl an der aufklärerischen Literaturkonzeption wie an der Notwen- Johannes Birgfeld 130 August von Kotzebue hat sein Schreiben sehr bewusst als Schreiben in Unterwerfung unter beide Ansprüche betrieben - und das auch, weil er Theater dezidiert nicht primär als Medium avancierter Kunstakte, sondern als Ort der Kommunikation mit dem Publikum zu dessen Gewinn angesehen hat. 1797 formuliert Kotzebue in den Fragmenten über den Recensenten- Unfug ein differenziertes und durchdachtes poetologisches Konzept: Man werfe doch einen Blick auf die Zuschauer: hier ein Geschäftsmann, der Erholung, dort eine Dame, die Zerstreuung sucht; hier ein guter Bürger mit träger Fassungskraft, dort ein flüchtiger Jüngling, dessen Aufmerksamkeit schwer zu fesseln ist; hier ein Hofmann, der ein paar Stunden tödten will, dort ein Mädgen, zu dessen Kopfe der Weg nur durch das Herz führt u. s. w. welcher von Allen, ich bitte euch, wird (wenn auch seine Bildung dazu hinreichte), dem Verfasser dasjenige in Einer Minute nachdenken, wozu Jener vielleicht eine Stunde brauchte, es hervorzubringen? - Man will unterhalten und belehrt seyn, aber ohne große Anstrengung, und nur unter der Bedingung, daß es unmerklich geschehe, erlaubt man dem Volksdichter, auch die Köpfe seiner Zuhörer in Thätigkeit zu setzen. Sie dürfen gleichsam nicht gewahr werden, daß sie denken. 35 Kotzebues Konzeption des Theaters ließe sich trefflich als ›Dramatik der kleinen Schritte‹ umschreiben: Sie nutzt vorhandene Theaterkonventionen und damit Zeichen und Kommunikationsmittel, die dem Publikum vertraut sind, um innerhalb dieses Rahmens des Vertrauten an ausgewählten Problemen Angebote zum besseren Verständnis einer sich wandelnden Gegenwart zu vermitteln und um leichte Veränderungen des eigenen Verhaltens nahezulegen. 36 digkeit der neuen Theater, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, orientiert, und dem Autoren wie Iffland und Kotzebue maßgeblich zuzurechnen sind, wurde der Begriff einer “Ästhetik der Professionalität” vorgeschlagen. Vgl. dazu genauer: Johannes Birgfeld/ Claude D. Conter: Das Unterhaltungsstück um 1800. Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen. In: Dies. (Hgg.): Das Unterhaltungsstück um 1800. Literaturhistorische Konfigurationen - Signaturen der Moderne. Hannover 2007, S. VII-XXIV, sowie: Johannes Birgfeld: Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel. Das Unterhaltungstheater als Reflexionsmedium von Modernisierungsprozessen. In: Ebd., S. 81-117. Zur Rezeption und Fortführung des Begriffsvorschlags vgl. u.a.: Mario Grizelj: Dichte Darstellungen. Signaturen der Moderne in Joseph Alois Gleichs Schauerromanen. In: Andrew Cusack/ Barry Murnane (Hgg.): Populäre Erscheinungen. Der deutschsprachige Schauerroman um 1800. München 2011, S. 39-64. 35 August von Kotzebue: Fragmente über den Recensenten-Unfug. Eine Beylage zu der Jenaer Literaturzeitung. Leipzig 1797, S. 69-70. 36 Vgl. dazu näher: Johannes Birgfeld: Theater ohne Schauspieler? Theatre on location? Kotzebues Konzept dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande mit Blick auf sein Verhältnis zum Publikum. In: Hans-Joachim Jakob/ Hermann Korte (Hgg.): »Das Theater glich einem Irrenhause«. Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2012, S. 193-214. Konventionalität als Basis 131 Kotzebue besaß nun nicht nur eine durchdachte Poetik des Theaters, er war auch ein erfahrener Theaterpraktiker: Er spielte gelegentlich selbst, früh mit Goethe in Weimar, 37 dann in Liebhabertheatern. Zudem leitete und organisierte er Theater aller Formen: studentische Liebhabertheater in Duisburg und Jena, ein städtisches Liebhabertheater in Reval, Hof-, National- und Stadttheater in St. Petersburg, Wien und Königsberg. 38 Seine Engagements sind mitunter recht kurz - so jenes in Wien, wo Kotzebue vielfach aneckt, nicht zuletzt, weil er neue Schauspieler verpflichtet und die bisher geltenden Zuweisungen der Darsteller zu Rollen und Rollenfächern in Frage stellt: Da vormals der Ausschuß die Rollen besetzte, so war daraus eine Art von Oligarchie entstanden, welche die natürliche Folge hatte, daß größtenteils nur die Mitglieder des Ausschusses oder ihre Lieblinge gute Rollen bekamen. Ferner: daß oft von den wichtigsten Stücken, z.B. Hamlet, Klara von Hoheneichen u. s. w. nur ein Paar Rollen gut besetzt wurden, theils, damit diese Paar allein da stehen, und desto auffallender glänzen mögten; theils, damit keiner von den Matadors genöthigt werde, auch einmal eine untergeordnete Rolle zum Vortheil des Ganzen zu übernehmen. Diesem höchst schädlichen Mißbrauch versuchte ich zu steuern. Ich verschaffte jedem Talent Gelegenheit sich zu entwickeln, und stellte zugleich, wo der Vortheil des Ganzen es erheischte, auch die sogenannten Ersten Schauspieler auf Plätze, die ihnen unbedeutend schienen, weil sie nicht wußten oder nicht wissen wollten, daß eine verzeichnete Nebenfigur oft dem ganzen Gemählde Schaden thut. Doch bewürkte ich das immer nur bittweise, und Mehrere unter Ihnen, (ich be- 37 Zu den ersten Bühnenerfahrungen in Weimar vgl. u.a. Friedrich Cramer: Leben August von Kotzebue’s. Nach seinen Schriften und nach authentischen Mittheilungen dargestellt. Leipzig 1820, S. 52; Peter Kaeding: August von Kotzebue. Auch ein deutsches Dichterleben. Berlin 1985, S. 19-22. 38 Kotzebues Engagements sind wie folgt datiert: 21.11.1776: erster Bühnenauftritt Kotzebues im Liebhabertheater in Weimar als Briefträger in Goethes Die Geschwister; 1777: Mitspieler eines Liebhabertheaters in Jena; 1778: Mitspieler und Leiter eines Liebhabertheaters in Duisburg; 1779-80: Mitspieler und Autor des Liebhabertheaters in Jena; 1784-90: Gründung und Leitung des Liebhabertheaters in Reval; 1795-97: Betreiber eines kleinen Sommertheaters auf einer künstlichen Insel in der Nähe seines Landsitzes Gut Friedenthal bei Jewe in der Nähe von Narva; 1798: Hoftheatersekretär am Wiener Burgtheater; 1800-01: Hofrat und Theaterdirektor am Deutschen Theater in St. Petersburg; 1812-13: Direktor des Revaler Theaters; 1814-15: Leiter des Theaters in Königsberg. - Für detailliertere Darstellungen einzelner Stationen vgl. Heinrich Bosse: Jenaer Liebhabertheater 1775-1800. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 101-137, bes. S. 106-108; August von Kotzebue: Ueber meinen Aufenthalt in Wien und meine erbetene Dienstentlassung. Leipzig 1799; Elisabeth Rosen: Rückblicke auf die Pflege der Schauspielkunst in Reval. Festschrift zur Eröffnung des neuen Theaters in Reval im September 1910. Hg. v. Revaler Deutschen Theaterverein. Nachdruck 1972. Hannover-Döhren 1972, S. 87-129, 154-192; Ernst August Hagen: Geschichte des Theaters in Preußen, vornämlich der Bühnen in Königsberg und Danzig. Königsberg 1854, S. 797-818. Johannes Birgfeld 132 kenne es hier dankbar) [...], haben auf die gefälligste Weise meine Bitten erfüllt, und öfter bewiesen, (was vielleicht Andere zu beweisen sich nicht getrauten) daß sie auch in kleinen Rollen groß bleiben konnten. 39 Kotzebue war schließlich auch und ein innovativer Autor: 40 Besonders der Almanach ist eine mehrfache Pioniertat: Erstens begründet er eine Untergattung bzw. “Sonderform” der Theateralmanache, die von der Forschung als “die der dramatischen Taschenbücher” bezeichnet wird: 41 In ihnen stand nicht mehr die “Aufbereitung theaterbezogener Informationen” im Vordergrund, sondern die “Veröffentlichung von Dramen [...], [...] die vorwiegend zur Unterhaltung der Theaterliebhaber dienten”. 42 Zweitens betreibt Kotzebue mit der Publikation des Almanachs eine radikale Demokratisierung des Theaterspiels: Der Almanach ist schließlich nichts weniger als das Angebot an eine theaterinteressierte Öffentlichkeit, Theaterstücke jenseits der Strukturen etablierter Theaterhäuser aber eben auch, und das ist das Neue, sogar jenseits des Aufwandes eines Liebhabertheaters aufzuführen. Es lädt Theaterinteressierte ein zu einem Theater ohne Schau- 39 Kotzebue 1799, S. 32-33. Kotzebue stand mit seinem Bemühen freilich nicht allein: Vgl. etwa L. Storch: Art. “Fach”. In: Robert Blum/ Karl Herloßsohn/ Heinrich Marggraff: Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde. 7 Bde. Bd. 3. Altenburg, Leipzig 1846, S. 221- 225, hier S. 222: “Dalberg in Mannheim war der erste, der es wagte, über das Herkömmliche der Fächer hinwegzugehen, weil er wohl fühlte, daß er durch diese in seinem wahrhaft kunstbegeisterten Wirken gehemmt war. Als Iffland aus dieser Schule und mit diesen Eindrücken nach Berlin kam, fand er die Bühne so in Fächer und Ansprüche und Berechtigungen der älteren Schausp. eingeschachtelt und gelähmt, daß er erst nach jahrelangen schonenden Reformen sich ganz selbstständiges Handeln erringen konnte”. Vgl. dazu auch Bernhard Diebold: Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des achtzehnten Jahrhunderts. Nachdr. d. Ausg. Leipzig, Hamburg 1913. Nendeln/ Liechtenstein 1978, S. 81-90. 40 Als erster deutschsprachiger Dramatiker trennt er “den Bühnenvertrieb seiner Stücke von den anderen, dem Verleger übertragenen Rechten” und beauftragt Friedrich Ludwig Schröder in Hamburg damit, seine “Bühnenhonorare einzuziehen” (Kaeding 1985, S. 129; vgl. auch Gerhard Giesemann: Kotzebue in Russland. Materialien zu einer Wirkungsgeschichte. Frankfurt/ M. 1971, S. 44, Anm. 102: “Schröder war lange Zeit für den Vertrieb von Kotzebues Werken im deutschsprachigen Raum verantwortlich”.) Für das Lustspiel Das Strandrecht von 1806 schreibt er, wohl als erster im literarischen Theater, eine Rolle für einen Hund. 1810 sehen die Regieanweisungen zu Die Feuerprobe vor, dass für die Dauer der ersten Szene im Hintergrund Schmiede bei ihrer Arbeit sichtbar sein sollen. 41 Annegret Oesterlein: Deutschsprachige Theateralmanache im 18. und 19. Jahrhundert (I): Entwicklung, Form, Inhalt. (II): Dokumentation. In: Aus dem Antiquariat. Beil. zu: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausg. Nr. 9 vom 30. Jan. 1979, S. A l-16 u. Nr. 26 vom 30.03.1979, S. A 86-95, hier S. A 6. Vgl. entsprechend Paul S. Ulrich: Deutschsprachige Theateralmanache im 18. und 19. Jahrhundert. In: York-Gothart Mix (Hg.): Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996, S. 129-142, hier S. 140. 42 Ulrich 1996, S. 132. Konventionalität als Basis 133 spieler und zu einem theatre on location: Stücke, die in einer guten Stube spielen, sollen von den Menschen, die ihr Adressat sind, in ihrer eigenen Wohnung, in ihrer eigenen Kleidung und in ihrem Mobiliar aufgeführt werden. Konsequent wird angeboten, die Grenze zwischen Akteur und Betrachter, die sonst im 19. Jahrhundert kontinuierlich betont und verfestigt wird, 43 zu verwischen. 44 Kotzebue beschreibt das programmatisch in der Vorrede zum ersten Almanach: Eine etwas zahlreiche Gesellschaft - bestünde sie auch aus lauter gebildeten Menschen - einen Abend hindurch angenehm zu unterhalten, ist nicht so leicht als man glauben möchte. [...] Karten spielen? - O ja, meine Herren und Damen, wenn Sie das wollen, so habe ich nicht ein Wort weiter zu sagen. - Aber ich will nun einmal voraussetzen, Sie möchten das nicht, wenigstens nicht immer; wozu werden Sie greifen? - Tanzen? - Ich habe nichts dagegen; doch zum Tanzen gehört auch Musik, die ist nicht immer bei der Hand; ferner vergnügt das nur die jungen Leute, indessen die älteren gähnen. [...] Diese Betrachtungen, und der Hang, den unsere Modewelt für dramatische Vorstellungen zeigt, gaben dem Almanach Dramatischer Spiele das Dasein. Ein eigentliches Liebhaber-Theater zu errichten, dazu hat man selten Zeit, Platz, Gelegenheit. Dazu gehört auch eine größere Anzahl von Mitwirkenden, die schwer unter einen Hut zu vereinigen sind. Selbst die Kosten der Erbauung eines Theaters, der Decorationen u.s.w. möchten abschrecken. Eben so schwer hält es, Stücke zu finden, die dem Bedürfnis, der Zeit und den Kräften einer kleinen Gesellschaft angemessen sind. Wie nun, wenn ich dem Publikum nach und nach eine Anzahl kleiner Stücke oder Scenen lieferte, bald rührend, bald lustig oder possenhaft? Stücke, zu welchen man nur vier 43 Siehe dazu u.a. Susan Bennett: Theatre Audiences. A Theory of Production and Reception. 2nd. ed. London/ New York 1997, S. 3: “After 1850, with the pits replaced by stalls, theatre design ensured the more sedate behaviour of audiences, and the footlights first installed in the seventeenth-century private playhouses had become a literal barrier which separated the audience and the stage”; Heßelmann 2002; Erika Fischer- Lichte: Semiotik des Theaters Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 2003, S. 141: “Demgegenüber hat die Guckkastenbühne des 19. Jahrhunderts die vollkommene Trennung beider Sphären voneinander vollzogen: auf der einen Seite liegt der Bühnenraum, auf den alles Licht fällt, auf der anderen dagegen der Zuschauerraum, der in tiefes Dunkel gehüllt ist”. 44 Rochlitz hatte noch betont, die Bühne sei so einzurichten, dass für die Bühne und das Publikum separate Zugänge bestünden und dass der Bühnenraum vom Zuschauerraum vollständig abgetrennt sei: “Der Eingang zum Theater - ich meyne, zu dem Theile der Stube, wo das Theater errichtet ist - muß abgesondert seyn von dem Eingange, der auf den Plaz der Zuschauer führt. Das Zimmer muß also durchaus zwey Thüren haben. Die erste bleibt für die Schauspieler - sie mag nun in dem Raume hinter dem Hintergrunde oder hinter den Coulissen seyn, nur hinter dem Vorhange; die zweyte bleibt für die Zuschauer, und ist vor dem Vorhange. Beyde Theile, Schauspieler und Zuschauer, dürfen sich nicht sehen, außer auf dem Theater” (Rochlitz 1795, S. 44). Bei Kotzebue ist von solcher Abgrenzung keine Rede mehr, und weil er Szenen für Aufführungen ohne Bühne schreibt, ist sie auch nicht mehr vonnöten. Johannes Birgfeld 134 oder fünf Personen und ein paar spanische Wände nöthig hätte? die man in zwei Tagen vertheilen, lernen und aufführen könnte? die zum Theil auch von Kindern an Geburtstagen ihrer Eltern gespielt werden möchten? wobei ein geschickter Hofmeister, durch einen passenden Prolog oder Epilog, den Uebergang auf die Feierlichkeit des Tages leicht finden würde. 45 Wie sieht nun dieses Spielangebot im Detail und mit Blick auf das Rollenfach aus? In den 18 Bänden, die seit 1802 bis zu seinem gewaltsamen Tod 1819 Jahr für Jahr erscheinen, präsentiert Kotzebue insgesamt 100 Stücke für dieses Privattheater ohne professionelle Ambitionen. Insgesamt 84 davon sind Einakter, nur zwölf erreichen zwei Aufzüge, nur vier sogar mehr als zwei. 40 Lustspiele sind darunter, 16 Possen, drei Schwänke, aber nur 16 Schauspiele, nur drei Dramen (Die Abendstunde, 1809; Die beiden kleinen Auvergnaten, 1813; Die Selbstmörder, 1817) und nur eine Tragödie (Cleopatra, 1803). 46 Die Kürze der Stücke lässt sich leicht aus dem avisierten Aufführungszusammenhang erklären: Erstens sollen die Aufführungen der Almanach- Texte kein eigenständiges gesellschaftliches Ereignis werden, sondern ein Beitrag unter mehreren zur vergnüglichen Unterhaltung im Verlauf des Zusammenseins einer kleineren oder größeren Gesellschaft (s.o.). Zweitens sind als Akteure der Stücke keine geübten Darsteller, auch keine geübten Laiendarsteller vorgesehen. Ein zu großes Textvolumen stünde daher in der Gefahr, den ungeübten Schauspieler mit einer zu umfangreichen Lern- und Darstellungsaufgabe zu überfordern, ihn abzuschrecken und dem Spiel den versprochenen vergnüglichen und beiläufigen Aspekt zu nehmen. 47 Für die überwältigende Dominanz der komischen Gattung lässt sich ebenfalls eine doppelte Begründung vermuten: Augenscheinlich ging Kotzebue davon aus, und der ausdauernde Erfolg des Almanachs beim Leser gibt ihm Recht, dass eine Gesellschaft, die sich selbst ein angenehmes Vergnügen bereiten, also sich ›unterhalten‹ möchte, dies eher mit einem heiteren, 45 August von Kotzebue: Vorrede zu dem Almanache dramatischer Spiele. In: Ders.: Theater. 14. Bd. Rechtmäßige Original-Auflage. Leipzig/ Wien 1841, S. 177-178, hier S. 177-178. 46 Nicht zu den Tragödien zu zählen ist: Pandorens Büchse. (Nach der Fabel des Hesiod.) Eine burleske Tragödie. Sie erscheint 1810 im achten Jahrgang des Almanachs Dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande, Riga, 1810, S. 81-133. 47 Vgl. dazu auch Sven Kantak: Kotzebues Theaterprogrammatik für den „Almanach dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande“ als Reflex auf die Unterhaltungsbedürfnisse Landadeliger. In: Horst Hartmann (Hg.): Populäre Literatur - Regionale Distribution - Innerliterarische Wirkung um 1800. Greifswald 1992, S. 66-80, hier S. 69: “Diese Stücke sind so konzipiert, daß sie erstens nur eines kleinen Kreises von Spielern bedürfen, zweitens vom Umfang nicht zu viel Zeit zum Erlernen der Rollen in Anspruch nehmen, drittens benötigen sie wenig Requisiten und viertens können sie hinsichtlich ihres Niveaus oder Schwierigkeitsgrades auch z.B. von Kindern anläßlich häuslicher Feiertage gespielt werden”. Konventionalität als Basis 135 komischen Stück als mit einem tragischen und traurigen tun würde. Mit Blick auf die zeitgenössischen Deutungen des Rollenfachs hingegen, wird der Schwerpunkt auf den komischen Fächern auf den ersten Blick etwas überraschen: Folgt man Diebolds Recherchen, dann hielten sowohl Friedrich Ludwig Schröder, aber auch die Schauspieler Heinrich Beck und W. Chr. D. Meyer das komische Fach für das schwerere: es sei etwa “ungleich größer und schwerer zu bearbeiten, als das tragische, da ungleich weniger Menschen- und Sittenkenntniß zu dem letzten, als zu dem ersten gehört”, “weil das Lustspiel [...] alle Töne durchläuft, das Trauerspiel aber sich auf eine kleine Zahl beschränkt” (Schröder), und weil das komische Fach wegen der “Mannigfaltigkeit der Charaktere eine genauere Berechnung, mehr praktische Kenntnis der Welt und Menschen” verlange (Meyer). 48 Kotzebue schrieb seine Stücke in genauer Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen des Laientheaters, und vielleicht zeigt sich hier, dass das Rollenfach als Ordnungsinstrument in professioneller Sicht im Laientheater doch nur von begrenzter Relevanz war. Entscheidender für die Fähigkeit des ‘geselligen’ Schauspielers, Texte zur Unterhaltung seiner Familie, Freunde und Bekannten aufzuführen, war womöglich die Nähe des Verkörperten zum Verkörpernden. 49 Schröders Wort - “Aber es ist keine eigentliche Kunst sich selbst zu spielen. Das wird jedem verständigen Nichtschauspieler gelingen, der gut zu sprechen und sich anständig zu benehmen weiß” 50 - stimmt hier mit Rochlitz’ Empfehlung überein - “daß die spielenden Personen, wo möglich, von Natur und in der Wahrheit einige Aehnlichkeit mit den vorzustellenden Personen haben” 51 - ebenso wie mit Kotzebues schreibender Fokussierung auf Figuren der mittleren Stände in den Lust- und Schauspielen, während seine wenigen Trauerspiele in höheren Ständen angesiedelt sind und damit für einen Laiendarsteller fremdere Rollen bereit halten, die deshalb auch als größere schauspielerische Herausforderung erscheinen konnten. 52 48 Diebold 1978, S. 28. 49 Dass Kotzebue nicht nur durch die Nähe von Figur und Darsteller, sondern auch explizit im Bühnenspiel die “Grenze zwischen Authentischem und Fiktivem verwischt”, etwa indem Bühnenfiguren ausdrücklich auf “die außerfiktionale Situation der Schauspieler” anspielen, hat Anke Detken gezeigt (vgl. Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009, S. 312). Was Detken hier spezifisch für die textliche Inklusion der Betrachterwelt in das Stück beschreibt, gilt ähnlich wohl auch für die spezifische gesellige Aufführungssituation von Almanach-Stücken: “Die Schauspieler […] sind während der Aufführung auch als authentische Person auf der Bühne präsent” (ebd.). 50 Zit. n. Diebold 1978, S. 25. 51 Rochlitz 1795, S. 19. 52 So sieht Kotzebues Demetrius Iwannowitsch Zaar von Moscau (UA 1782) etwa den Auftritt eines Zaren vor, Octavia (ED 1801) bietet Julius Caesar, Mark Anton und die Ägypterin Cleopatra auf, Heinrich Reuß von Plauen oder die Belagerung von Marienburg Johannes Birgfeld 136 Konsequent hält Kotzebue in den Almanach-Stücken auch die Besetzung klein: Nimmt man die zwölf Stücke des neunten und des 14. Jahrgangs als Beispiel, dann treten nie mehr als zehn Personen pro Stück auf, im Durchschnitt sind es sieben, im Minimalfall (Die Seelenwanderung) zwei. Gegenüber den 15, 16, 17 oder mehr Spielern, die für stehende Bühnen gefordert wurden, um alle Rollenfächer abdecken zu können, 53 ist weniger als die Hälfte des Personalaufwandes vorgesehen. Das Verhältnis männlicher zu weiblichen Rollen ist 5: 2, das der Herrschaft zu Dienstbotenrollen 3: 1. 54 Das Personal wird man ohne Probleme weithin mit den Kategorien des Rollenfachs beschreiben können: In Das zugemauerte Fenster steht ein melancholischer invalider Hauptmann seinem stets fröhlichen Bruder gegenüber, dem es gelingt, die Hochzeit der Tochter des Mürrischen mit dem redlichen, aber nicht vermögenden jungen Buchdrucker Franz zu arrangieren, zudem der feinfühlige Vater Franzens: Ein “zärtlicher” Vater, ein komischer Alter aus der Gruppe der “hartherzige[n], bürgerlichen[n] Väter”, “drolligen Hausväter” und Offiziere, ein “ernster” Vater, dazu Liebhaberin und Liebhaber. 55 In Die Großmamma agieren zwei heiratsfähige Kinder und ein Bedienter, deren aller Leben die ebenso eitle wie lebenskluge Großmutter zu lenken weiß: Liebhaber, Liebhaberin, willfähriger Diener und zärtlichschlaue Alte. So könnte man fortfahren. Der Versuch jedoch, die Almanach-Stücke Kotzebues in die - historisch ja eh vielschichtig ausdifferenzierten und der Entwicklung unterworfenen - Rollenfächer einzuordnen, scheint am Kern dieser Stücke vorbeizuführen - wie sich im Rückblick auf die bis hierher gemachten Beobachtungen erhellen lässt: Das Rollenfach wird in theoretischen Debatten zum Liebhabertheater durchaus erwähnt, eine besondere Funktion kommt ihm aber vor allem als Mittel zu, Rollenneid durch dauerhafte Rollenfachbelegung zu vermeiden. In Rochlitz’ hundertseitiger Erläuterung des Liebhabertheaters ist es für die Unterweisung in die Schauspielkunst wie für die Rollenwahl nicht entscheidend. Ähnlichkeit zwischen Darsteller und Dargestelltem, körperlich oder sozial, wird als Orientierung empfohlen, eine Erläuterung der Fächer und an sie gekoppelter Spielweisen unterbleibt. (ED 1805) bringt neben dem Titelhelden den König von Polen auf die Bühne und schildert eine Handlung des frühen 15. Jahrhunderts. 53 Vgl. etwa Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982, S. 162f., sowie: Anja Schonlau: „Zärtliche Rollen und zweyte Liebhaberinnen“. Rollenfach und Geschlecht im Drama des 18. Jahrhunderts. In: Der Deutschunterricht 62 (2010) H. 6, S. 82-87, hier S. 83. 54 Diese Verhältnisse entsprechen durchaus den sonst bekannten Spiel- und Stücktraditionen der Zeit. 55 Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. Erster Teil. Berlin 1926, S. 11. Zu weiteren Listen der Rollenfächer vgl. etwa: Storch 1846, S. 223-225; Maurer-Schmoock 1982, S. 160-164; Schonlau 2010, S. 83. Konventionalität als Basis 137 Abb. 1 aus dem 14. Almanach (vor Titelei): Sie zeigt den Kammerdiener Florian, der in Die Großmamma dem Rollenfach des “pfiffigen Bedienten” (Storch 1846, S. 224) zuzuordnen wäre, der die Großmutter bei ihrer Intrige unterstützt und den zur Ehe zu überredenden Ludwig manipuliert. Abb. 2 aus dem 14. Almanach (n. S. 264): Frau Schnicknack aus Der Educations-Rath, die “alte Bonne” (S. 194) der zu verheiratenden jungen Therese, bereits durch ihren Namen als lächerlich markiert, ist alternde Jungfer und komische Alte: Hier preist sie nicht das gerade gefundene Glück Theresens, sondern beklagt ihr Unglück, eben deshalb einen höchst fragwürdigen Ball nicht besuchen zu können. Johannes Birgfeld 138 Dass fast alle Almanach-Stücke auch an stehenden Bühnen aufgeführt wurden, bestätigt die Kotzebue oft vorgeworfene formale Konventionalität. Gerade diese Konventionalität aber ist es, die bei Kotzebue den Blick auf das, was seine Stücke für das Publikum leisten, zu verstellen droht: Konventionalität scheint für Kotzebue weder ein Problem noch ein Ziel, so wie für ihn formale Innovation weder Ziel noch Herausforderung ist. Die Freiheit, die ihm die Konzeption von Stücken für Schauspiellaien etwa öffnet, ist ihm kein Anlass, neue Handlungsmuster oder Figurentypen zu entwerfen, sich etwa von Rollenfächern zu lösen. Kotzebue ist im Kern tatsächlich ein gleichsam ‘seriell’ schreibender Dramatiker, und in diesem Sinne ist Konventionalität die Grundlage seiner Dramatik: Im Zentrum seiner Poetik steht, so legen es seine Selbstäußerungen und die Stückbetrachtungen nahe, die Kommunikation mit dem Publikum. Grundlage dieser Kommunikation ist die Nutzung vertrauter Darstellungsmittel auf der Bühne, deren stets leicht variierter Gebrauch aber dann den für das Publikum ja offenkundigen Gewinn generiert: In Das zugemauerte Fenster etwa von 1810 bietet das konventionelle Handlungsmuster der Eheanbahnung den beruhigend-vertrauten Rahmen, um zeitgeschichtlichen Erfahrungen in der Zeit der napoleonischen Besatzung einen Resonanzraum zu geben: 56 Die Behauptung etwa des misanthropischen Vaters - “alles Gute ist verdorben [...] die ganze Welt ist schlimm” (Sz. 1) - spiegelt die historische Erfahrung der seit Hohenlinden bis zur Entstehung des Stücks 1810 langen Reihe schwerer Niederlagen gegen Napoleon - und ist zugleich politisch mit Blick auf die Ohnmacht gegenüber dem Besatzer Frankreich gemeint: “Was soll ich lesen? Zeitungen voller Lügen und Schmeicheleien? [...] Was soll ich drechseln? Kleine Kanonen, um Erbsen daraus zu schießen? Das möchte den Deutschen allenfalls noch erlaubt werden” (Sz. 1). Die Probleme des Druckers Franz spiegeln die kriegsbedingte Wirtschaftskrise, des Vaters Menschenfeindschaft reflektiert die Verzweiflung im Krieg: “Die Väter sind allerdings solche Narren, sich zu freuen, wenn ihnen ein Kind geboren wird; [...] haben sie das Söhnlein unter tausend Sorgen groß gezogen, so wird es konskribirt und todt geschlagen” (Sz. 1). Schließlich wird ein Schatz gefunden, der die Hochzeit der Liebenden ermöglicht. Doch wofür steht er? Er ist das Vermächtnis des Großvaters, der 1760 von Besatzern verschleppt und getötet worden war und seinen Kindern nur dieses Geld zu hinterlassen vermochte. Der in Notzeiten gefundene Schatz bestätigt den Optimismus jenes Sohnes, der die Ehe der Liebenden ermöglichen will. Er ist symbolische Bestärkung für alle die, die im Jahr 1810 ihr 56 August von Kotzebue: Das zugemauerte Fenster. Lustspiel in Einem Akt. In: Ders.: Almanach Dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande. Neunter Jahrgang. Leipzig 1811, S. 265-325. Konventionalität als Basis 139 Schicksal trotz allem gestalten wollen. Der Schatz ist ein Vermächtnis der älteren Kriegergeneration an ihre Söhne, dass das Opfer für das Vaterland auf lange Sicht Früchte trägt. Und doch ist er auch ein düsteres Dokument der Schrecken und Leiden, die die Kriege in das Leben der Zeitgenossen tragen. Nicht ein rührendes Genrebild, sondern ein Akt der Vergegenwärtigung des Kriegselends, eine Gelegenheit zur Erinnerung und Verarbeitung des Erlittenen und schließlich eine Ermunterung zu patriotischen Taten ist Das zugemauerte Fenster. 57 Dramatik der kleinen Schritte, Kommunikation mit einem breiten Publikum und die durch die nur leicht variierte Wiederholung immer gleicher Plotstrukturen in immer gleichen Milieus und Figurenkonstellationen in die Nähe der Vorstufen serieller Produktion geratende Arbeitsweise stehen im Zentrum der Dramatik Kotzebues. Und dennoch ist Kotzebue formal innovativ: Der Wunsch, Theater als Medium der Kommunikation zu nutzen, führt dazu, dass Kotzebue das Theater ohne Schauspieler und ohne Bühne erfindet. Wenige Jahre später vollbringt ein anderer der sogenannten ‘Trivialdichter’, Christian August Vulpius, ein ähnliches Kunststück: Seit den 1790er Jahren verfasst er Darstellungen historischer Ereignisse, die er zunehmend dialogisiert. Seine bereits oben zitierten Scenen zu Rom sind ein konsequent dialogisiertes, in 15 Szenen mit 90 Figuren gestaltetes Panorama Roms, das keine zusammenhängende Handlung mehr aufweist, das auf keine Aufführung hin verfasst ist, das alle Rollenfächer sprengt, und das als Drama eine bemerkenswerte formale Innovation darstellt, und die ihren Ursprung im Rahmen einer am Publikum orientierten literarischen Arbeit hat. 58 Kotzebue ist also kein Einzelfall. 57 Vgl. dazu genauer: Johannes Birgfeld: Das zugemauerte Fenster. In: Birgfeld/ Bohnengel/ Košenina 2011, S. 251-252. 58 Vgl. genauer: Vulpius, 1825; sowie: Johannes Birgfeld: Scenen zu Rom während der Jubelfeier im Jahr 1825. In: Alexander Košenina (Hg.): Andere Klassik. Das Werk von Christian August Vulpius (1762-1827). Hannover 2012, S. 154-155. Stefan Scherer, Karlsruhe Rollenfachironie. Zur komischen Relativierung des Rollenfachs in Tiecks Die verkehrte Welt mit einem Ausblick auf Thomas Bernhards Der Theatermacher Ludwig Tiecks Theaterkomödie Die verkehrte Welt (1799) betreibt eine komische Relativierung der Theaterkonventionen und des Rollenfachs in szenischer Form, indem sie das von Shakespeare überlieferte Modell des Spiels im Spiel durch mehrfach ineinander verschachtelte Bühnen auf der Bühne potenziert. In Tiecks Gefolge exzelliert das mit den Mitteln der frühromantischen Ironie poetisierte Spiel im Spiel bei Brentano, Arnim, Eichendorff, Grabbe (Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung) und Büchner (Leonce und Lena). Nach der Popularisierung in Gutzkows Erfolgsdramen wie Das Urbild des Tartüffe (1847) setzt sich das Theater im Theater als Spielmodell in Schnitzlers Welttheaterkomödien Der grüne Kakadu (1899) und Zum großen Wurstel (1905) über Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor (1921) bis zu den rollenspielreflexiven Tragikomödien in der Moderne wie Becketts Endspiel (1957), Dürrenmatts Achterloo (1983), Botho Strauß’ Besucher (1988) oder Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia (2001) fort, bei Alban Nikolai Herbst in der Komödie Undine (1995), die sich an Pirandello anlehnt, auch in Bezügen auf die Romantik. 1 Eine Geschichte der szenischen Rollenfachironie kann trotz dieser hier keineswegs vollständig aufgeführten Reihe von Stücken, in denen Theatralität reflexiv bespielt wird, aber nicht geschrieben werden. Denn diese spezifische Form der komischen Relativierung ist an die Geltung des Rollenfachs als einer historisch dominanten Theaterpraxis gebunden. Wenn romantische Fiktionsironie als “Reflexion des Fiktionscharakters im Fiktionalen selbst” funktioniert 2 , dann kann man Rollenfachironie als Reflexion des Rollenfachs im dramatischen Text definieren. Zwar betreiben die oben aufgeführten Beispiele ein komisches Spiel auch mit den institutionellen Implikationen eines Dramas im Theater, indem sie im Stück ausgestellt Theater spielen (lassen). Eine Ironisierung des Rollenfachs kommt dabei aber nach Tieck kaum mehr vor. Zwar spielt die Fächer-Ordnung für das Theaterleben bis 1 Vgl. auch zu dieser Wirkungsgeschichte Stefan Scherer: Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik. Berlin/ New York 2003. 2 Bernhard Heimrich: Fiktion und Fiktionsironie in Theorie und Dichtung der deutschen Romantik. Tübingen 1968, S. 69. Stefan Scherer 142 weit in das 19. Jahrhundert eine bestimmte Rolle. Sich darüber in einem Drama selbst lustig zu machen, kommt den Autoren aber offenbar nicht mehr in den Sinn. Der Reiz, das Rollenfach szenisch zu verulken, verfällt offenbar mit dessen Bedeutungsverlust. Der zeichnet sich seit 1800 ab, wie auch immer in der konkreten Theaterpraxis bis 1900 die Orientierung an ‘Kunstfächern’ noch eine Rolle gespielt haben mag. 3 Mit anderen Worten gibt es eine dezidierte Rollenfachironie in dramatischen Texten eigentlich nur für einen kurzen historischen Augenblick um 1800, zumal nur bei Tieck auch diese Theaterpraxis selbst zum Gegenstand der satirischen Verspottung gemacht wird. Bereits bei den dramatischen Überbietungsversuchen durch nachfolgende romantische Dramen, so in Brentanos Literaturkomödie Gustav Wasa (1800), mit dem ihr Verfasser den “Tieck des Tiecks” geben will, 4 verschieben sich die Akzente hin zu einer szenischen Literatursatire. Die an Tieck anknüpfenden romantischen Komödien zielen deshalb weniger auf das Theaterleben als auf die mangelnde Poesie in der Dramen-Literatur ihrer Zeit. Von Brentano über Arnim, Eichendorff bis Grabbe und Büchner dominiert demnach, soweit sich ihre Stücke auf Tieck beziehen lassen, die ironische Poetisierung der dramatischen Rede. Rollenfachironie ist dagegen als komische Reflexion auf eine Institutionalisierungsform des Theaters in szenischer Form zu begreifen. Bei den aufgeführten Reaktionen auf die romantische Komödie Tiecks hat man es vor allem mit dramatischen Formen der Literaturkritik zu tun, die zwar ebenfalls Missstände des zeitgenössischen Theaterbetriebs satirisch aufs Korn nehmen, dabei aber nicht mehr auf die komische Behandlung der Rollenfächer abzielen. Der entscheidende Grund für diese Abkehr scheint mir darin zu liegen, dass seit dem Drama der Weimarer Klassik das Rollenfach - zumindest für die Höhenkamm-Texte - an Bedeutung verliert. Im 18. Jahrhundert bildet das Rollenfachsystem bekanntlich soziale Konventionen und Verhaltensnormen schematisiert auf der Bühne in Rollentypen und Handlungsmustern 3 In der Tagungsdiskussion wurde das Ende der Rollenfachpraxis kontrovers diskutiert. Gegen die Thesen von Maurer-Schmoock betonte Marion Linhardt deren Relevanz bis zur Moderne: Die Individualisierung der Rollen um 1800 sei ein Mythos, so dass das Rollenfach tatsächlich erst im 20. Jahrhundert zerfalle. Andererseits räumte auch Linhardt ein, dass eine Abkehr bei den Höhenkammtexten festzustellen sei. Rollenfachironie lebe aber fort in der theatralen Praxis der Komödie (z.B. bei Nestroy), insofern das Beiseite-Sprechen zu den komödientypischen Merkmalen gehört. Damit ist allerdings eben noch nicht die Frage nach der Rollenfachironie als Gegenstand eines dramatischen Texts berührt, die hier vor allem interessiert. 4 Die vielzitierte Bemerkung findet sich in einem Brief Dorothea Veits vom 16. Juni 1800 an Schleiermacher; siehe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. 5. Abt., Bd. 4: Briefwechsel 1800. Hg. von Andreas Arndt/ Wolfgang Virmond. Berlin/ New York 1994, S. 95. Rollenfachironie 143 ab. 5 Es korrespondiert so mit der Typisierung dramatischer Figuren. Durch die Individualisierung in der Figurengestaltung um 1800, deren zunehmende Psychologisierung bis 1900 und Entpersönlichung schließlich in der Moderne löst sich das Konzept sukzessive auf. 6 Lessings Emilia Galotti ist in der Anlage dagegen auch noch als “gelungene Kombination vorhandener Rollenfächer” zu verstehen. 7 Hans Doerry hat das Ende dieser Organisationsform des Theaterlebens auf die Entstehung des Regietheaters zurückgeführt, begründet durch die Idee, die Aufführung nun aus einem Geist heraus zu motivieren. 8 Eine szenische Ironisierung des Rollenfachs ist für Dramentexte demnach nur reizvoll, solange die Verteilung der Rollen nach Fächern im zeitgenössischen Theater eine unbestrittene Rolle spielt. Das Rollenfach funktioniert vor diesem Hintergrund seit Mitte des 18. Jahrhunderts als “praktikables Prinzip der Organisation, der Engagements-Modalitäten und der Rollenverteilung”; es bezeichnet darüber hinaus den “konkreten künstlerischen Wirkungsradius des jeweiligen Darstellers” nach Maßgabe seines “Temperaments und Naturells”. 9 Für die Komödie rekrutiert sich das Typenarsenal aus der commedia delle’arte 10 , in der Tragödie orientiert man sich an den französischen Fächern. Schauspieler legten zwar Wert auf ihr Fach, die Besetzung war aber nicht notwendig abhängig von ihrem Können, sondern nicht selten begründet durch ein “bestechendes Äußeres”. 11 Wenn nun dieses Fächerprinzip an Relevanz verliert, dann verpufft auch der Witz seiner komischen Verulkung. In letzter Konsequenz kommt Rollenfachironie deshalb nur bei Tieck vor, denn auch theatersatirische Vorläufer der romantischen Komödie wie etwa Klingers Prinz Seidenwurm der Reformator oder die Kronkompetenten (1780) sind wie die dramatischen Satiren im Sturm und Drang vorwiegend politisch und literaturpolitisch motiviert. So kulminiert die Rollenfachironie bei Tieck im Grunde genommen in einem einzigen Stück: in seiner Welttheaterkomödie Die verkehrte Welt. Im weiten 5 Vgl. die Einleitung zu vorliegendem Sammelband von Anke Detken und Anja Schonlau, S. 15, in Bezug auf Elizabeth Burns: Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and in Social Life. London 1972, S. 98-121. 6 Elke Platz-Waury: Drama und Theater. Eine Einführung. 5., vollständig überarb. und erw. Aufl.. Tübingen 1999, S. 81. 7 Wilfried Barner/ Gunter E. Grimm/ Helmuth Kiesel/ Martin Kramer: Lessing. Epoche - Werk - Wirkung. 5. neubearb. Aufl. München 1987, S. 83. 8 Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. Berlin 1926, S. 55. Die Betonung des Individuell-Charakteristischen gegenüber dem Typischen schlägt sich seitdem in individuellen Besetzungen nieder (S. 64-67), wobei das Ende des Rollenfachs bei Ibsen gesehen wird (S. 84-86). 9 Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982, S. 158f. 10 Vgl. den Beitrag von Susanne Winter im vorliegenden Band. 11 Maurer-Schmoock 1982, S. 165. Stefan Scherer 144 Feld der Moderne kann ich dann nur noch ein Stück erkennen, das sich auf dieses Thema beziehen lässt, weil es eben selbst noch mit Theaterkonventionen des 18. Jahrhunderts spielt: Thomas Bernhards Der Theatermacher. I. Ludwig Tieck: Die verkehrte Welt Wirtstube. D ER W IRT . Wenige Gäste kehren jetzt bei mir ein, und wenn das so fort währt, werde ich am Ende das Schild noch gar einziehen müssen. - Ja sonst waren noch gute Zeiten, da wurde kein einziges Stück gegeben, in dem nicht ein Wirtshaus mit seinem Wirte vorkam. Ich weiß es noch, in wie vielen hundert Stücken bei mir in dieser Stube hier die schönste Entwickelung vorbereitet wurde. Bald war es ein verkleideter Fürst, der hier sein Geld verzehrte, bald ein Minister, oder wenigstens ein reicher Graf, die sich alle bei mir aufs Lauern legten. Ja sogar in allen Sachen, die aus dem Englischen übersetzt wurden, hatte ich meinen Taler Geld zu verdanken. - Aber wie sich das geändert hat! Wenn jetzt auch ein fremder reicher Mann von der Reise kommt, so quartiert er sich originellerweise bei einem Verwandten ein, und gibt sich erst im fünften Akt zu erkennen. Dergleichen dient zwar, die Zuschauer in einer wundersamen Neugier zu halten, aber es bringt unser eins um alle Nahrung. A NNE , seine Tochter A NNE : Ihr seid so verdrüßlich, Vater? W IRT : Ja, mein Kind, ich bin mit meinem Stande sehr unzufrieden. A NNE : Wünscht Ihr etwas Vornehmeres zu sein? W IRT : Das gerade nicht, aber es ärgert mich unbeschreiblich, daß nach meinem Stande nicht die mindeste Nachfrage geschieht. A NNE : Ihr werdet gewiß mit der Zeit wieder in die vorige Achtung kommen. W IRT : Nein, liebe Tochter, denn die Zeiten lassen sich sehr schlecht dazu an. O dass ich nicht ein Hofrat geworden bin! Sieh fast alle jetzigen Komödienzettel nach, und steht immer unten: die Szene ist im Hause des Hofrates - Wenn es länger so fort geht, laß ich mich zum Kerkermeister machen, denn die Gefängnisse kommen doch noch in vaterländischen und Ritterstücken vor, manchmal sogar in der bürgerlichen Tragödie. - Aber, mein Sohn soll durchaus nichts anderes als Hofrat werden. A NNE : Tröstet Euch, lieber Vater, und hängt Eurer Melancholie nicht so nach. - Wißt Ihr noch wie ehedem alle Begebenheiten durch Soldaten entstanden? Die Zeiten sind jetzt auch vorbei. Jetzt ist jedes Stück höchstens mit einem Husaren- oder andern Offizier garniert, aber die Hauptsache geht doch nicht mehr durch ihre Hände. - Und wie muß es denn nun gar in den frühesten Zeiten gewesen sein, als man nimmermehr ein Wirtshaus auf dem Theater erscheinen sah, sondern immer nur Paläste, Straßen oder freie Plätze! Rollenfachironie 145 W IRT : Das war dafür auch im Heidentum, mein Kind, aber wir sind doch gottlob Christen. - Was gibt’s, ich arbeite mich selber noch zum Poeten um, und erfinde eine neue Dichtart, die die Hofratstücke verdrängen soll, wo die Szene immer im Wirtshause spielt. A NNE : Tut das, lieber Vater, ich will die Liebesszenen auf mich nehmen. W IRT : Still! - es fährt wahrhaftig ein Wagen vor! - Sogar eine Extrapost! Lieber Himmel, wo muß der unwissende Mensch herkommen, dass er bei mir einkehrt? E IN F REMDER tritt herein F REMDER : Guten Morgen, Herr Wirt. W IRT : Diener, Diener von Ihnen gnädiger Herr. - Wer in aller Welt sind Sie, dass Sie incognito reisen und bei mir einkehren? Sie sind gewiß noch aus der alten Schule, gelt, so ein Mann vom alten Schlage, vielleicht aus dem Englischen übersetzt? F REMDER : Ich bin weder gnädiger Herr, noch reise ich incognito. - Kann ich diesen Tag und die Nacht hier logieren? W IRT : Mein ganzes Haus steht Ihnen zu Befehl. - Aber im Ernst, wollen Sie hier in der Gegend keine Familie unvermuteter Weise glücklich machen? oder plötzlich heiraten? oder eine Schwester aufsuchen? F REMDER : Nein mein Freund. W IRT : Sie reißen also bloß so simpel, als ein ordinärer Reisender? F REMDER : Ja. W IRT : Da werden Sie wenig Beifall finden. F REMDER : Ich glaube, der Kerl ist rasend. 12 Im Theater um 1800 ist der Wirt arbeitslos geworden. Er kann dort mit anderen Worten nicht mehr als ‘Chargenrolle’ 13 besetzt werden. Was Ludwig Tieck im zweiten Akt seiner Theaterkomödie Die Verkehrte Welt (1799) auf komische Weise in szenischer Form reflektiert, ist der Geltungsverlust eines bestimmten Rollenfachs im Drama um 1800: genauer eines Fachs, das im Bürgerlichen Trauerspiel seit Lessings Miß Sara Sampson eine besondere und in Minna von Barnhelm sogar eine herausragende Rolle spielt. 14 Schon vorher 12 Ludwig Tieck: Die verkehrte Welt. Ein historisches Schauspiel in fünf Aufzügen. Hg. von Walter Münz. Stuttgart 1996, S. 31-33. 13 Die ‘chargierten’ Rollen als Fach behandelt Diebold im Kapitel “Bediente und Episodenfächer” (Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig/ Hamburg 1913, S. 123-131, hier S. 128). Erwähnt werden u.a. Juden seit 1770 als eigenes Fach (S. 129f.), nicht aber z.B. der Wirt. Der wird, soweit ich sehe, als solches nur aufgeführt bei Marion Linhardt: „Frau Diestel ... Soubretten, Bauernmädchen, singt und tanzt“. Repertoirestrukturen und das Anforderungsprofil von Bühnendarstellern im späten 18. Jahrhundert. In: Das achtzehnte Jahrhundert 34 (2010), H. 1, S. 11-23, hier S. 22. 14 Vgl. die Übersicht bei Anja Schonlau: „Zärtliche Rollen und zweyte Liebhaberinnen“. Rollenfach und Geschlecht im Drama des 18. Jahrhunderts. In: Der Deutschunterricht 62 (2010), H. 6, S. 82-87, hier S. 86. Bemerkenswerterweise ist in dieser Tabelle der Stefan Scherer 146 gehörte der Wirt zum Standardpersonal der europäischen Typenkomödie. 15 Im Bürgerlichen Trauerspiel dient das Wirtshaus bekanntlich als Ort für zufällige Begegnungen, weil hier die verschiedenen Stände temporär zusammenkommen konnten. Noch der Paratext von Lessings Minna von Barnhelm spielt darauf an, obwohl man es ja eigentlich mit einem Hotel in der Großstadt Berlin zu tun hat: “Die Scene ist abwechselnd in dem Saale eines Wirtshauses, und einem daran stoßenden Zimmer”. 16 Allein an dieser Mitteilung des Orts wird Lessings Spiel mit doppeldeutigen Angaben zwischen sozialem Raum und Bezugnahme auf Dramenverhältnisse im 18. Jahrhundert, genauer auf das Drama der geschlossenen Form bemerkbar. 17 Wie das Bürgerliche Trauerspiel sollte auch dieses neuartige, in Lessings Worten ‘wahre’ Lustspiel aus der Kontamination älterer Komödienmodelle seit der commedia dell’arte für die Rollenfachpraxis im 18. Jahrhundert eine besondere Rolle spielen. Dies gilt dann auch noch für die an Emilia Galotti anknüpfende, sozialpolitisch verschärfte Psychodramatik in Schillers Kabale und Liebe. Bereits Lessing arbeitet in Minna von Barnhelm mit doppeldeutigen Figurenreden, an die Tieck anschließen konnte, indem sich sozio-ökonomische Verhältnisse nach dem Siebenjährigen Krieg mit poetologischen Bezügen auf das Bürgerliche Drama im Wortspiel verbinden: “Die Wirtshäuser sind jetzt alle stark besetzt”, meint etwa der Wirt in Akt I, 2. Szene. 18 Bezeichnet wird damit zu einen die soziale Not und Obdachlosigkeit während der Nachkriegszeit; zum anderen spielt diese Bemerkung erkennbar eben auf die Vorliebe an, das Bürgerliche Trauerspiel als modisches Genre der Zeit mit Wirten und seinem Lokal als Ort des zufälligen Zusammentreffens von Figuren aus verschiedenen Ständen zu besetzen. Gastwirt als Nebenrolle zwar für Miß Sara Sampson ausgewiesen, nicht aber für Minna von Barnhelm, obwohl er dort in 18 von 58 Szenen auftritt, so dass ihn Sigried Nieberle sogar zur “Schlüsselfigur des Dramas” erklären kann; vgl. Sigrid Nieberle: Problematische Gastlichkeit. Denunziation und Metadrama in Lessings Minna von Barnhelm. In: IASL 34 (2009), H. 2., S. 73-91, hier S. 79. 15 Vgl. ebd., S. 79f. 16 Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6: Werke 1767-1769. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt/ M. 1985, S. 10. 17 Vgl. dazu auch die poetologisch lesbaren Worte des Wirts: “Wir Wirte sind angewiesen, keinen Fremden, wes Standes und Geschlechts er auch sei, vier und zwanzig Stunden zu behausen, ohne seinen Namen, Heimat, Charakter, hiesige Geschäfte, vermutliche Dauer des Aufenthalts, und so weiter, gehörigen Orts schriftlich einzureichen” (ebd., S. 32); siehe hierzu auch Nieberle 2009, S. 83f. 18 Lessing: Minna von Barnhelm, S. 13. Dass der Wirt in Minna von Barnhelm eine besondere, bislang wenig gesehene Rolle als metadramatische Reflexionsfigur spielt, in der sich die parabatischen Komödien Tiecks ankündigen, betont Nieberle 2009, S. 85-91 (“Parekbatisches Metadrama ‘romantischer’ Selbstreflexion”). Die sprachspielerischen Bezüge des Wirts auf Dramenkonventionen im 18. Jahrhundert kommen dabei aber weniger in den Blick. Rollenfachironie 147 Auch Tieck spielt dann mit derart doppeldeutigem Sprechen, wenn er sich den Spaß erlaubt, den Wirt als romantischen Ironiker agieren zu lassen. 19 In der Verkehrten Welt potenziert er das bereits von Shakespeare variantenreich durchgespielte Modell des Spiels im Spiel durch drei weitere Bühnen auf der Bühne mit eigenen Zuschauern, so dass diese wie russische Puppen ineinander geschachtelt sind: Eine Figur auf der ersten Ebene muss dort jeweils eigene Rollen spielen, wie sich am Zuschauer Grünhelm zeigt, der vom Parterre auf die Bühne springt und in den weiteren Stücken im Stück den Narren gibt - jeweils in unterschiedlichen Kontexten, weil sich diese Stücke als Spiel mit populären dramatischen Genres des 18. Jahrhunderts zu erkennen geben, wenn auf einer dieser eingelagerten Bühnen z.B. ein Familienrührstück gegeben wird. 20 Das szenische Spiel mit dem Niedergang des Rollenfachs treibt Tieck nun gerade an der Figur des Wirts auf die Spitze, indem der seine Arbeitslosigkeit auf die mangelnde Nachfrage nach dieser Rolle im Drama um 1800 zurückführt, weil das Bürgerliche Trauerspiel in den Familienrührstücken Ifflands und Kotzebues zu populären Trivialdramen abgesunken ist. Auf jeden Fall spielt er als Figur in der Höhenkamm-Dramatik seiner Zeit keine Rolle mehr. Schon Szondis einschlägiger Aufsatz über die romantische Komödie hat auf den Wirt hingewiesen. An ihm ist eine vierfache Perspektivierung zu bemerken: Er ist Rolle, Schauspieler, Institution Wirt und Stilistikum Wirt, wenn er seine Funktion im Drama erörtert. 21 Zu Recht betont Szondi, dies sei “streng genommen gar kein ‘Aus-der-Rolle-Fallen’” 22 , son- 19 Das werden die Wirte in nachfolgenden Komödien in dieser Linie nicht mehr tun: So gibt es in Brentanos Gustav Wasa zwar eine Wirtin, sie spielt in ihren Knittelversen den von Tieck entbundenen Witz über das arbeitslos gewordene Rollenfach aber nicht mehr aus (Clemens Brentano: Gustav Wasa. In: Ders.: Werke. Bd. 4. Hg. von. Friedhelm Kemp. München 1966, S. 75-82). Nur noch in Schnitzlers Groteske Der grüne Kakadu wird dieser Bezug an einer Stelle präsent gehalten: “Ach, mein Lieber, mir genügt das, was ich in meinem Fach leisten kann” (Arthur Schnitzler: Der grüne Kakadu. In: Ders.: Der grüne Kakadu und andere Dramen. Das dramatische Werk. Bd. 3. Frankfurt/ M. 1978, S. 11). Diese Anspielung kommt nicht von ungefähr, denn mit Scaevola, der zur Schauspielertruppe des Wirts Prospere gehört (“vormals Theaterdirektor”, wie es im Personenverzeichnis heißt), wird tatsächlich auch Tiecks Die verkehrte Welt präsent gehalten (vgl. S. 17f.). 20 Zu dieser intrikaten Schachtelungslogik im ‘historischen’ Spiel mit dramatischen Genres vgl. genauer Scherer: 2003, S. 319-326; zu den Ebenen im Einzelnen siehe Klaus Weimar: Limited poem unlimited - Tiecks verkehrtes Welttheater. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Stuttgart/ Weimar 1995, S. 144-159. 21 Vgl. genauer Alfred Behrmann: Wiederherstellung der Komödie aus dem Theater. Zu Tiecks ‚historischem Schauspiel’ Die verkehrte Welt. In: Euphorion 79 (1985), S. 139-181, hier S. 151. 22 Peter Szondi: Friedrich Schlegel und die romantische Ironie. Mit eine Beilage über Tiecks Komödien. In: Schriften II. Essays: Satz und Gegensatz. Lektüren und Lektio- Stefan Scherer 148 dern eine innerhalb der Rolle und damit eben auch innerhalb des Rollenfachs selbst stattfindende Selbstbezüglichkeit. Der rollenreflexive Kommentar organisiert sich über das Bewusstsein der Figur, in einem bestimmten Genre eine dramaturgische Funktion zu haben. So verfügt der Wirt über die Einsicht, von einem Autor für bestimmte Theater-Zwecke, genauer eben als Rollenfach eingesetzt zu werden, wenn er gleichsam auktoriale Überlegungen bei der Konzeption einer Figur für ein Genre (wie für das Bürgerliche Trauerspiel oder für eine Komödie wie Minna von Barnhelm) vorträgt: in den zitierten Szenen u.a. dergestalt, dass er seinen Geltungsverlust als Kunstfach im Drama um 1800 reflektiert. Eine weitere Stufe der Selbstbeobachtung dieses dramaturgischen Bewusstseins, ein Rollenfach exekutieren zu müssen, demonstriert der Vater im Familienrührstück (also in einem der eingelagerten Stücke im Stück), wenn er sich weigert, die seiner Rolle auferlegte Grausamkeit zu exekutieren: “O Kinder, macht der Komödie ein Ende, der Vater ist gar zu grausam, ich würde gleich meine Einwilligung [zur Heirat] geben”. 23 Hier rebelliert die Figur dagegen, nicht das Rollenfach des zärtlichen Vaters erfüllen zu dürfen. Die verkehrte Welt stellt einen Endpunkt in der Potenzierung der parabatischen Komödie 24 durch Koppelung an das theatrum mundi-Modell dar. Das “historische Schauspiel” ohne historischen Stoff, 25 eine parabatische Komödie ohne spezielles “Stück” auf der Bühne 26 , spielt mehr oder weniger frei mit höchst verschiedenen Traditionen und Techniken des Dramas und Theaters von der Antike (Apoll) über das elisabethanische Drama, die Commedia dell’arte bzw. das théâtre italien bis in die eigene Gegenwart hinein: in einem Theater im Theater, das blinde Motive wie eine Seeschlacht einschließt, welche vermutlich einfach nur deshalb stattfindet, weil das Meer wie vorher schon das Gewitter als Requisit zur Verfügung steht. Der Titel dieses Dramas ohne eigentliche Handlung verweist auf die zahllosen Inversionen, die das Stück auf verschiedenen Ebenen durchspielt - vor allem natürlich die Verkehrung von Theater und Welt durch Austauschvorgänge zwischen Bühne und Parterre, die sich im Rollenwechsel eines Schauspielers in den Bühnen auf der Bühne fortsetzen: Der Zuschauer Grünhelm übernimmt hier in allen Stücken Narrenrollen, während Pierrot den nen. Celan-Studien. Anhang: Frühe Aufsätze. Redaktion Wolfgang Fietkau. Frankfurt/ M. 1978, S. 11-31, hier S. 31. 23 Ludwig Tieck: Die verkehrte Welt, S. 70. 24 Japp unterscheidet für die romantische Komödie den parabatischen vom illudierenden Typus durch das ausgestellte Spiel im Spiel (vgl. Uwe Japp: Komödie der Romantik. Tübingen 1999, S. 13). 25 Zu Recht führt Behrmann den Begriff des Historischen auf die Collage von Literatur als Literatur im “Fließen der kaleidoskopisch wechselnden Facetten” zurück (Behrmann 1985, S. 159). 26 Ernst Ribbat: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie. Kronberg/ Ts. 1978, S. 194. Rollenfachironie 149 kommentierenden Zuschauer gibt und Scaramuz zum Vertreter der Aufklärungsvernunft mutiert. Wie die aufgeklärten Zuschauer in Tiecks Der gestiefelte Kater agiert Scaramuz dabei gelegentlich auch als lobender Kommentator zu dem für ihn anlässlich seines Geburtstags aufgeführten Familienrührstück, in das als weiteres Stück im Stück zum Geburtstag des Hausvaters eine Pastorale eingelagert ist. Insgesamt ist das Ineinander der Ebenen so komplex vorangetrieben, dass die Übernahme des barocken Topos aus Christian Weises gleichnamigem Stück und dessen partielle szenische Nachahmung 27 kaum mehr bemerkbar sind. Für die Einschätzung, dass hier auch das Rollenfach ironisiert wird, ist es wichtig festzustellen, dass diese Darstellung im Unterschied dann etwa zu Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung noch zurückgebunden bleibt an eine szenische Reflexion dessen, was Theatralität ganz praktisch bedeutet. Dass der Wirt im Theater arbeitslos geworden ist, bestätigt sich am Reisenden, weil der ihn nicht mehr in seiner dramaturgischen Funktion erkennt, sein Reden daher notwendig für verrückt halten muss: “Ich glaube, der Kerl ist rasend”. Der Witz dieser Reaktion besteht darin, dass der Fremde zwar ganz richtig das Theatralische in der Figurenrede des Wirts wahrnimmt, es aber eben nicht dramaturgisch kontextualisieren kann: Er begegnet ihm als Menschen und nicht als Rolle; dieses Verhalten wird durch Anspielungen auf Goethes Stella in nachfolgenden Szenen, d.h. im Zeichen einer empfindsamen Figurenbegegnung bekräftigt. Offenbar auch deshalb erwartet der Fremde als Reisender nicht, einem Rollenfach zu begegnen, weil er den Wirt eben nur in seiner realen Funktion als Herbergsvater in Anspruch nehmen will, ohne damit auf “Beifall” aus zu sein - was der Wirt wiederum, weil er in erster Linie auf seine dramatische Funktion reflektiert, nicht verstehen will. Genau deshalb macht ihm ja auch sein Rollenbewusstsein so zu schaffen, denn es verweist ihn auf seine historisch bedingte, d.h. um 1800 offenkundig überkommene Existenzberechtigung als Rollenfach. Seine Idee, der akuten Arbeitslosigkeit durch eine “neue Dichtart” zu begegnen, mit der er die “Hofratstücke” verdrängen will (also offenbar die klassischen Dramen des Hofrats Schillers und die so erfolgreichen Rührstücke des Hofrats Kotzebue), zielt darauf ab, sich selbst “zum Poeten” ‘umzuarbeiten’ - was er im Grunde genommen längst getan hat, zumal er später selbst eingesteht, “dass der Dichter manchmal aus mir herauskuckte”. 28 Insofern artikuliert sich in ihm die auktoriale Perspektive des Dramenautors, 27 Vgl. Manfred Frank: [Kommentar zu Die verkehrte Welt]. In: Ludwig Tieck: Schriften in zwölf Bänden. Bd. 6: Phantasus. Hg. von M.F. Frankfurt/ M. 1985, S. 1418, 1432, 1438. 28 Ludwig Tieck: Die verkehrte Welt, S. 94. Gerade in dieser Szene im Wirtshaus beim Gespräch mit seiner Tochter Anne äußert sich der Wirt als Regelpoetiker, der aus seinem “Charakter herausgefallen” sei: “Es ist doch ein verfluchter Fehler, den ich an mir habe”. Seine im Blick auf regelpoetische Vorgaben so einsichtigen Reden sind eben “unwahrscheinlich” (S. 95), wenn er damit metadramatisch seine Rolle kommentiert. Stefan Scherer 150 so dass auch beim Wirt die neue Dramatik aufscheint, die Tieck in seinen romantischen Komödien mit dem ‘Poeten’ als Sprachrohr auf der Bühne anstrebt. Mit dem Dichter als neuem (in der zeitgenössischen Dramatik aber nicht durchsetzbarem) Rollenfach wollen romantische Märchenkomödien wie Der gestiefelte Kater eine kindliche Verzauberung durch das Wunderbare gegenüber der öden Wahrscheinlichkeit in den Rührstücken der eigenen Zeit herbeiführen. Sie bleiben dabei insofern satirisch, als sie zugleich die Trivialisierung des zeitgenössischen Dramas attackieren. Genau diese Tendenz zum Populären sei aber, so der Wirt, nun auch in Stücken mit ‘Offizieren’ als neuem Rollenfach im Gefolge von Lessings Minna von Barnhelm zu beklagen. In Tiecks Die verkehrte Welt wird das Rollenfach schließlich noch auf eine andere Weise ironisiert, indem das Stück eine Figur verschiedene Rollen spielen lässt. Das Rollenfach ist bekanntlich gebunden an die Schauspieltruppen des 18. Jahrhunderts mit begrenztem Personal: Ein Schauspieler hatte verschiedene Fächer zu bedienen. Tieck führt dies vor, indem er nicht nur den Zuschauer Grünhelm in verschiedenen Stücken im Stück den Narren spielen lässt. Im Rührstück, gespielt zum Geburtstag von Scaramuz, spielt etwa die Muse Melpomene Emilie, d.h. die Tochter des Vaters, die dann wiederum in der darin eingelagerten Pastorale Laura gibt. (Melpomene ist wiederum die Tochter eines Hofrats.) Die Bediente Lisette, von Grünhelm darauf angesprochen, ob sie sich lieber Colombine nennen höre, wird gespielt von der Muse Thalia, die wiederum die Bediente des Hofrats ist. Der Fremde schließlich, der vorher dem Wirt begegnete, spielt den Jungen Menschen als Pflegesohn des Vaters im Rührstück, in der eingelagerten Pastorale zuletzt den Liebenden Fernando, womit sich die Anspielungen auf Goethes Stella bestätigen. Durch diese Einlagerungstechnik hat man es also mit der Besetzung verschiedener Rolle durch einen Schauspieler zu tun. Darüber hinaus macht sich Tieck den theaterironischen Spaß, dass er auch den Theaterapparat samt Musik als Rollenfächer inszeniert. Selbst der Direktor, Wagemann, muss eine Rolle spielen: Er gibt Neptun. Damit werden insgesamt nicht zuletzt die historischen Verbindungen des Rollenfachs mit dem Musiktheater (Oper, Ballett) bespielt. 29 Der Paratext “Ein historisches Schauspiel in fünf Akten” verweist vor diesem Hintergrund auf zweierlei: zum einen auf die gleichermaßen szenische wie literarische Verfügbarkeit von Dramenmodellen von der Antike über Shakespeare, die Commedia delle’arte, die klassizistische Tragödie, 30 das Bürgerliche Trauerspiel bis zum Sturm und Drang (auf Die Soldaten von Lenz wird ja von der Tochter des Wirts deutlich genug angespielt); darüber 29 Zur Bedeutung des Balletts für das Rollenfach vgl. Linhardt 2010, S. 18. 30 Diese kommt höchst ironisch mit dem heimatlos umherirrenden Königspaar Admet und Alceste ins Spiel, wenn sich beide in Prosa bei Apoll über ihre Vertreibung (aus dem zeitgenössischen Drama) beklagen (Ludwig Tieck: Die verkehrte Welt, S. 49-52). Rollenfachironie 151 hinaus kommen noch zahlreiche weitere zeitgenössische Genres wie das lyrische Dramolett oder das Schäfer- und Singspiel in dieser ‘historischen’ Konstellation des europäischen Theaters wie selbstverständlich auf einer Bühne zusammen. Zum zweiten bezeichnet der Untertitel offenkundig aber auch, dass mit der “Individualisierung” der Schauspielrollen im Drama der Weimarer Klassik 31 das Rollenfach-System historisch wird: Maurer- Schmoock hat diese Tendenz zur “Individualität und künstlerische[n] Befähigung der Schauspieler” auf die Dramen Schillers, Goethes und Shakespeares zurückgeführt, insofern diese sich “einer starren Kategorisierung und Etikettierung der Bühnengestalten” verweigern. 32 Tiecks Die verkehrte Welt stellt das Rollenfach also auch an anderen Figuren aus, insofern sie verschiedene Rollen zugleich spielen müssen, weshalb dem Stück ganz konsequent kein eigenes Personenverzeichnis vorangestellt wird. 33 Die überdeutlichen Bezugnahmen auf Rollen der Commedia dell’arte wie auf Scaramuz als Buffo 34 oder auf Pierrot, die dann im bürgerlichen Drama weiterleben, weisen darauf hin, dass Tieck nicht nur die verfügbaren Dramenmodelle im Zeichen der neuen romantischen Komödie integriert, sondern eben auch ein szenisches Spiel mit der Rollenfachpraxis inszeniert. Folgerichtig werden in der Verkehrten Welt alle wichtige Rollenfächer des 18. Jahrhunderts selbst versammelt: der zärtliche Alte ebenso wie der komische Alte (der Wirt), dann natürlich die Liebenden (also der Liebhaber und die Liebhaberin) und nicht zuletzt auch weibliche Dienerfiguren wie Lisette. 35 II. Thomas Bernhard: Der Theatermacher An das Theater Mitte des 18. Jahrhunderts und seine Verhältnisse an der Übergangsstelle von den Wanderbühnen zum festen Theaterhaus knüpft 31 Vgl. den Aufsatz von Axel Schröter im vorliegenden Band. 32 Maurer-Schmoock 1982, S. 167f.: “Die Tendenz der Jahrhundertwende ging eindeutig weg vom schematisch-eingeschränkten Rollenfach zu einer verstärkten Individualisierung der Darsteller und ihrer Rolle. Dieser Entwicklung leisteten die Dramen Schillers, Goethes und vor allem Shakespeares Vorschub. Die komplizierten, psychologisch vielschichtigen Charaktere ließen sich nicht mehr in abgegrenzte Fächer zwängen. [...] Die Theaterpraxis hielt jedoch noch länger an der eingefahrenen, praktikablen Normierung fest”, auch wenn in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Fachtermini verschwinden und damit auch die fixen Schablonen an Bedeutung verlieren. 33 Ganz ähnlich verhält es sich noch in Botho Strauß’ Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia (2001), einer Komödie, die mit ihrer Vielzahl an Rollen zwar ebenfalls ohne Personenverzeichnis auskommt, dabei aber nicht mehr als Rollenfachironie zu verbuchen ist, weil sie sich nicht mehr an theaterpraktischen Konventionen abarbeitet. 34 Vgl. Behrmann 1985, S. 151. 35 Vgl. dazu den Überblick der Rollenfächer bei Barner/ Grimm/ Kiesel/ Kramer 1987, S. 82. Stefan Scherer 152 noch einmal Thomas Bernhards Tragikomödie Der Theatermacher (1985) an. 36 Allein der Titel signalisiert, wie historisch bewusst hier Bedingungen und Möglichkeiten, Grenzen und Faszinationen des Dramas auf dem Theater reflektiert werden. Bernhards sprechtheatralische Exerzitien über das Theatermachen bilden einen gewissen Endpunkt des Dramas, blickt man auf die maßgebenden Kategorien der Gattung zurück: Handlung, Figur und Sprache. Das Stück bietet nämlich eine absolute Reduktionsstufe der Handlung. Sie zerfällt im monologischen Sprechen einer Kunstfigur, die ein Gegenüber in der zwischenmenschlichen Aktualität nicht mehr benötigt. Jenseits der monomanischen Suada des Theatermachers Bruscon passiert wenig: Die Aufführung seiner “Menschheitskomödie” 37 Das Rad der Geschichte, die er permanent auf Umstände, Bedingungen und Details ihrer Inszenierung bespricht, findet nicht statt. Das ist übrigens auch bereits in Tiecks Komödie Ein Prolog (1796) als Vorstufe zum Gestiefelten Kater und zur Verkehrten Welt der Fall, indem die Zuschauer im Parterre vergeblich auf ein Familienrührstück warten. 38 Bernhards Stück präsentiert damit nur noch ein monologisches Gerede über das Theater: genauer über dessen Praktiken, Themen, Motivationen und generische Varianten (Tragödie vs. Komödie), daneben über die großen Dramatiker der Weltliteratur: “Shakespeare / Goethe / Bruscon / das ist die Wahrheit”. 39 Die höchste Kunst steht hier im Kontrast zu den alltäglichen Widrigkeiten während der Vorbereitung einer Aufführung, d.h. zur Vielfalt der Anforderungen an alle Beteiligten in der konkreten Theaterpraxis. So sei für den Schluss die absolute Finsternis nötig: nur zu bewerkstelligen durch das Ausschalten der Notbeleuchtung. Immer wieder stellen sich für Bruscon daher ganz praktische Fragen wie die nach der Erreichbarkeit des Feuerwehrhauptmanns, der allein diese Dunkelheit herbeiführen könne. Im Kern besteht das Stück aus der szenischen Besprechung einer Aufführung und deren Vorbereitung, aufgeladen mit Anspielungen auf die Theatergeschichte von Shakespeares Hamlet über die Commedia dell’arte und die Wanderbühnen vor Gottsched, das Bürgerliche Trauerspiel und das Geschichtsdrama bis hin zum Atomstück und Absurden Theater der 1950er Jahre: Bruscons “Lederknödelsuppe / oder Frittatensuppe / das war immer die Frage” 40 parodiert Hamlets berühmten Monolog; die “Maskenkiste” 41 36 Vgl. genauer Stefan Scherer: Einführung in die Dramen-Analyse. 2. erw. Auflage Darmstadt 2013, S. 147-154. 37 Thomas Bernhard: Der Theatermacher. In: Ders.: Stücke 4. Der Theatermacher / Ritter, Dene, Voss / Einfach kompliziert / Elisabeth II. Frankfurt/ M. 1988, S. 15. 38 Vgl. Rolf Geißler: Theatrum sine mundo - Zum geschichtlichen Zusammenhang von Ludwig Tiecks Ein Prolog und Thomas Bernhards Der Theatermacher. In: Literatur für Leser 21 (1999), S. 224-238. 39 Thomas Bernhard: Der Theatermacher, S. 115. 40 Ebd., S. 38f. 41 Ebd., S. 50. Rollenfachironie 153 beinhaltet Figuren der Weltgeschichte, die in Bruscons Stück offenbar wie in der Commedia dell’arte auftreten sollen, so dass darin offenkundig Rollenfächer mitgeschleppt werden: so das ältere Tyrannenfach (Nero, Caesar, Napoleon, Hitler, Stalin) oder das moderne ‘Fach‘ des Wissenschaftlers (Einstein, Madame Curie) - gespielt von einer Familie als Wandertruppe, die als Schwundform gegenüber den üblichen 15 bis 19 Fächern nun alle Rollen zu viert besetzen muss. Bereits der Titel signalisiert die szenische Reflexion des Theaters im Gewand eines Dramas, in dem das Scheitern der Kunst aus der Perspektive des Theatermachens besprochen wird. Mit wenigen Ausnahmen redet ausschließlich Bruscon, während seine Frau, wiewohl Schauspielerin wie der Sohn Ferruccio und die Tochter Sarah, 42 kein einziges Wort herausbringt: “Der einzige Reiz an dir / ist der Hustenreiz” 43 - “alle Augenblicke verliert sie den Text / wir spielen jahrelang dasselbe / und sie verliert immer noch den Text”. 44 Die Tochter ist darüber hinaus für die Kostüme verantwortlich, sie muss Schuhe putzen, Perücken ausbessern oder den Schweiß von der Stirn Bruscons abwischen (also Maskenbildnerin spielen). Ferruccio sei ein “Krüppel” und nach seinem Armbruch zu allem unfähig, auch wenn er “wenigstens italienisches Blut” in sich habe 45 - und die Stegreif-Pantomimen der commedia dell’arte als Slapstick-Einlagen dann ja auch tatsächlich übernimmt. Letztlich vertritt der Theatermacher selbst in Personalunion alle Instanzen und Aspekte des Theaters: Er ist Hauptdarsteller (Napoleon), Stückeschreiber, Prinzipal und Organisator (Requisiten, Masken, Bühnenbild) einer Wandertruppe. Er vereint alle Funktionen des Theaters schließlich auch dergestalt, dass er sogar die Zuschauerrolle einnimmt, wenn er sein Stück und dessen Aufführung bespricht. Der Theatermacher ist insofern eine Allegorie des Theaters, als sich der Topos vom Welttheater hier in einer Person zusammenzieht 46 : bezogen auf die sozialen Verhältnisse (zwischen festem Haus und Wandertruppen in der Provinz und im Blick auf die Rolle der Familie), bezogen auf Genres und Themen, auf das Spiel Bruscons in der theatralischen Rezension seiner “Weltkomödie” 47 als “Jahrhundertwerk” 48 und schließlich bezogen auf die Verteilung verschiedener Rollen auf die wenigen Schauspieler seiner Familie. 42 Allein dieser Name funktioniert als Anspielung auf das von Lessing mit Miß Sara Sampson in die deutsche Dramatik eingeführte Bürgerliche Trauerspiel. 43 Thomas Bernhard: Der Theatermacher, S. 105. 44 Ebd., S. 28. 45 Ebd., S. 50f. 46 Bernhard Greiner: Engführung von Theatralität und Komödie: Der Theatermacher Thomas Bernhard(s). In: Ders.: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretation. 2. aktual. u. erg. Aufl. Tübingen/ Basel 2006, S. 475-488, hier. S. 481. 47 Thomas Bernhard: Der Theatermacher, S. 49. 48 Ebd., S. 18. Stefan Scherer 154 Wie genau sich Bernhard auf die Rollenfach-Praxis im 18. Jahrhundert bezieht, zeigt allein die Ortsangabe “Schwarzer Hirsch in Utzbach”. Sie bringt mit dem Wirtshaus in der Provinz die sozialen Verhältnisse mobiler Theatertruppen ins Spiel, darüber hinaus eben denjenigen Ort, der im Bürgerlichen Trauerspiel so prominent war. Als Familiendrama stellt sich das Stück bereits im Personenverzeichnis aus, indem es auf ein Minimum aus Vater, Mutter, Sohn und Tochter und dem Wirt mit Frau und Tochter beschränkt bleibt. Zum Schluss küsst Sarah ihren Vater im Napoleon- Kostüm “umarmend [...] sehr zärtlich auf die Stirn”. 49 Der Wirt kommt über wortkarge Antworten auf Bruscons Fragen nicht hinaus. So wird auch hier seine Bedeutungslosigkeit deutlich. Zugleich aber ist Bruscon wie eben auch das Drama im 18. Jahrhundert auf seine Räumlichkeiten angewiesen. Der Nebentext “Tanzsaal”, der für alle vier Szenen gilt, steht isoliert auf einer eigenen Seite vor dem Personenverzeichnis. Einen Tanzsaal kann man als Raum für populäre Unterhaltung in einer Gaststätte anmieten, und er steht symbolisch für den Tanz der Worte, den die musikalisierte Figurenrede in diesem Stück aufführt. So wird nicht zuletzt die Verbindung des Rollenfachs mit dem Ballett im 18. Jahrhundert präsent gehalten. 50 Weitere Bezüge auf Theaterkonventionen des 18. Jahrhunderts zeigen die Nebentexte an. Sie geben Bruscons Vorbereitung der Bühne, meist aber Aktionen der Figuren wieder, die seinen Monologen ausgeliefert sind. Diese Aktionen erfolgen in teils slapstickhafter Komik, teils in pantomimischer Form, so bei den “Massagebewegungen”. Der komische Effekt resultiert hier aus der Diskrepanz zwischen den Reden des “größten aller Staatsschauspieler” 51 und seiner Massagebedürftigkeit, die von Tochter und Sohn bedient und wie in der Commedia dell’arte zugleich als Pantomime ausgestellt wird. Meistens drücken sich die von den Tiraden Bruscons zum Schweigen gebrachten Figuren daher nonverbal durch Gesten, Mimik oder Geräusche aus: so auch der Wirt, indem er Staub und Spinnweben im Saal entfernt, oder Sarah und Ferruccio, der bei der Vorhangprobe die Spezialvorhänge aufhängt oder das Inventar im Saal abräumt (u.a. das dort noch hängende Hitler-Bild). Weitere Anspielungen auf das Bürgerliche Trauerspiel sind unübersehbar. Im Mittelpunkt steht eine Familie als Wandertruppe, die für Gottsched bei seiner Etablierung des Theaters als moralische Anstalt der Hauptgegner war: “Wenn wir auf Tournee gehen / hatte ich gedacht / ist es ein Erneuerungsprozeß / für das Theater / sozusagen”. 52 Der Theatermacher ist ein Theaterstück über das Theater in all seinen Dimensionen, gezeigt am Theater, das sein Protagonist in der theatralischen Besprechung des Theatermachens macht. Die Alltäglichkeiten reichen vom 49 Ebd., S. 116. 50 Vgl. Linhardt 2010, S. 18. 51 Thomas Bernhard: Der Theatermacher, S. 59. 52 Ebd., S. 101. Rollenfachironie 155 Ausmessen des Raums über das Überprüfen der Feuchtigkeit und der Lichtverhältnisse bis hin zur Beleuchtungsprobe und Markierung der Kulissen mit Kreidestrichen. Bruscon schimpft über zu hohe Saalmieten und denkt über die Preise der Theaterkarten nach. Er prüft die Stabilität des Bühnenbodens, macht eine Vorhangprobe und erwägt Streichungen, überlässt also nichts dem Zufall. An all diesen Widrigkeiten zeigt sich nicht zuletzt die ökonomische Logik des Rollenfachs im Umgang mit begrenzten Mitteln. So erscheint Bernhards Theatermacher als Endpunkt einer szenischen Reflexion auf das Rollenfach, indem alle Aspekte des praktischen Schauspielbetriebs im 18. Jahrhundert in einem Rollenfach zusammenkommen. 2. Differenzkategorien: Geschlecht, Rasse/ Nationalität, Klasse, Alter Barbara Becker-Cantarino, Columbus/ Ohio Maske und Rollenfach: Zur Hosenrolle im Theater der Frühen Neuzeit Das wohl langlebigste Rollenfach ist die Hosenrolle. In ihrem neuesten Film Albert Nobbs (2011) spielt die bekannte Schauspielerin Glenn Close die Rolle eines “Man-Servant”. Close ist zugleich Produzentin des Films und Mit- Autorin des Filmskripts, das sie frei nach der Short Story des irischen Autors George Moore von 1918 bearbeitet hat. Die als Charakterdarstellerin bekannte Glenn Close schlüpft hier in die Maske eines alternden, menschenscheuen, wortkargen Butlers in einem großen Hotel im Dublin des 19. Jahrhunderts. Dieser Butler ist in Wirklichkeit eine Frau, die sich vor dreißig Jahren als eltern- und mittellose Vierzehnjährige in diesen Männerberuf eingeschlichen hat, um als alleinstehende Frau einen Job zu bekommen und sich ernähren zu können. Als sie/ er mit einem Malergesellen das Zimmer teilen muss, wird ihre Maskerade entdeckt. Sie erfährt jedoch auch, dass der Malergeselle ebenfalls eine “sie” ist, ein normales Leben geführt und sogar geheiratet hat. Albert Nobbs, alias Glenn Close, möchte nun auch heiraten und umwirbt das junge, schöne Dienstmädchen, die jedoch den jüngeren Malergesellen vorzieht, womit die komischen und melodramatischen Gender-Spiele um männliche und weibliche Identitäten und Zuschreibungen, um erotische Gefühle und soziale Zwänge beginnen. Im Folgenden möchte ich die Hosenrolle als Rollenfach im Theater der Frühen Neuzeit aus literatur- und theatergeschichtlicher Perspektive betrachten. Ich gehe auf die historische Hosenrolle im Theater des 17. und frühen 18. Jahrhunderts mit zwei Beispielen aus der in der deutschen Theatergeschichte wenig beachteten spanischen Comedia ein, auf Lope de Vegas Pedro de Urdillas und Tirso de Molinas Don Gil de las Calzas Verdes, die beide um 1615 aufgeführt wurden, und schließe mit einem Blick auf Lessings frühe Komödie Der Misogyn (1755) und die Sentimentalisierung der Hosenrolle im 18. Jahrhundert. Ich argumentiere hier, dass in der Verkleidungs- Rolle des disfraz varonil (Verkleidung als Mann) im spanischen Theater der Frühen Neuzeit ein burlesker, parodistischer Umgang mit den etablierten Geschlechterrollen zum Ausdruck kommt, was der Rolle Brisanz und Langlebigkeit verliehen hat. In der mimischen, gestischen und sprachlichen Spielfreudigkeit des frühneuzeitlichen Theaters dient die Hosenrolle nicht, wie etwa Marjorie Garbers Vested Interests (1992) und nach ihr zahlreiche Arbeiten wie Gertrud Lehnerts Maskeraden und Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der Literatur (1994) ausgeführt haben, vornehmlich der Subver- Barbara Becker-Cantarino 160 sion der starren Geschlechterrollen oder Identitätsfindung des Individuums, wie sie im modernen Theater vorgeführt werden. Im frühneuzeitlichen Theater ist es die Spielfreudigkeit, die Lust am Scherz, an der Verkleidung und der Verstellung, die die Typen der Rollenfächer aufsprengen und die im theatralischen Mittel der Hosenrolle die Genderrollen reflexiv karikieren. Es geht mir hier auch nicht um das weite Feld der als Männer verkleideten Frauen in der Literatur per se und nicht um die modernen Imaginationen, sondern um das Theater als Spielraum in der Frühen Neuzeit, wie Wolfram Nitsch in Theater als Spielraum. Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina (2000) das Barocktheater Spaniens gelesen hat. I. Die Hosenrolle und die Mode der Maskeraden im 16. und 17. Jahrhundert Verkleidungsrollen gab und gibt es in allen Sparten des Theaters; eine Sonderform davon sind die als Männer verkleideten Frauen, die in allen fiktionalen Texten bis heute erscheinen und immer wieder neu erprobt werden. Die historische Hosenrolle gehört zu den Formen der Maskerade, des Crossdressing und der Transvestie. 1 Die historische Bezeichnung Hosenrolle bezieht sich darauf, dass eine Schauspielerin eine im Theaterstück als Mann deklarierte Person spielt, sie spielt in “Hosen”, sie usurpiert den Bereich des Mannes in ihrem Spiel. Das ist nicht mit Maskerade oder Cross-dressing gleichzusetzen, sondern die Hosenrolle ist eine Sonderform davon mit eigener Dynamik. Mit “Maskerade” ist zunächst die theatralische Verkleidung mit einer Maske gemeint, eine beliebte Form der Unterhaltung in der geselligen Kultur des 16. bis 18. Jahrhunderts, die besonders auch auf dem Theater eine beliebte Unterhaltung bot. Court Masques waren schon im Elisabethanischen England beliebt, für die kein geringerer als Ben Jonson die Libretti schrieb und Inigo Jones die prunkvollen Szenerien und Masken-Kostüme entwarf, wie z.B. für die Maske Hymenaei, Or The Masgue of Hymen von 1606, die zur Hochzeit des 15jährigen Earl of Essex mit seiner 14-jährigen Braut eine römische Heiratszeremonie nachbildete und in eine Feier der Vereinigung der Brautleute als Zeichen der Einheit des Königreiches mündete. In den Hof-Maskenspielen stellten die Masken zumeist allegorisierte Tugenden, antike Götter und mythologische Figuren als Huldigungen an den König, wie Love’s Triumph through Callipolis von 1631, in der Charles I. in einer Demonstration seiner Herrscherrolle selbst auftrat, sein Hof als eine idealisierte platonische Stadt 1 Zum englischen Theater Frühen Neuzeit ist informativ Laurence Senelicks Kapitel “The Mannish and the Unmanned” in seiner weitausholenden, theatergeschichtlichen Studie: The Changing Room. Sex, Drag and Theatre. New York/ London 2000, S. 143- 160. Maske und Rollenfach 161 mit Sitz von Schönheit, Liebe und Güte, wo die Königin unter dem Regiment der Liebe herrscht, gefeiert wird. 2 Auch Damen des Hofes übernahmen Rollen in den Court Masques, sogar die Königin Henrietta Maria (Ehefrau Charles I.) spielte und tanzte auf der - privaten - Hofbühne in William Montagues The Shepherd’s Paradise (1633), heftig kritisiert von den Puritanern. 3 Im 17. Jahrhundert übernahmen auch die deutschen Fürstenhöfe die Mode der Triumphe und Hof-Maskenspiele; 4 Herzogin Sophie Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1613-1676) begründete die Tradition, zum Geburtstag des Herzogs eine Maske oder ein allegorisches Ballett aufzuführen, wie Natur Banguet (1653) oder Ballett der Zeit (1654), für die Heinrich Schütz die Musik komponierte. In diesen allegorischen Masken kam ein Geschlechtertausch oder eine Geschlechtermaskerade jedoch nicht vor; Frauen spielten in der Maske von weiblichen, mythologischen Figuren oder Allegorien, die eine Tugend personifizierten und dabei die anziehende Erotik des weiblichen Körpers mit in Szene setzten. Die Verkleidungs-Maskeraden der Adelsgesellschaft, die Karnevalszüge und Maskenbälle an den Höfen und später in den Opernhäusern der großen Städte in Italien und Frankreich (ab 1713), 5 die dann seit den 1720er Jahren in London als Midnight Masque von Impresarios wie dem aus der Schweiz gebürtigen, selbsternannten Grafen John James Heidegger (1659-1749) am Haymarket Theater inszeniert wurden, konnten eine andere Identität, be- 2 Zur Erotisierung und Feminisierung des Hoftheaters unter den Stuarts vgl. Sophie Tomlinson: Women on Stage in Stuart Drama. Cambridge 2005, S. 48-78 und Clare McManus: Women on the Renaissance Stage. Anna of Denmark and Female Masquing in the Stuart Court. Manchester 2003, bes. S. 1-17: An Early Female Stage. - Die höfischen Masken erlaubten das Vorführen des weiblichen Körpers auf der Bühne und umgingen so das generelle Auftrittsverbot für Frauen auf dem englischen Theater des 16. Jahrhunderts. 3 Das puritanische Traktat Histriomastix (1633, Geißel für den Schauspieler) löste eine Debatte über schauspielernde Frauen als “notorious whores” aus. S. Elisabeth Howe: The First English Actresses. Women and Drama 1660-1700. Cambridge 1992, S. 21-22. Nachdem im Elisabethanischen Theater zunächst nur Knaben in Frauenrollen auftraten, begannen erst nach etwa 1660 im Theater der Restauration auch professionelle Schauspielerinnen die Frauenrollen zu spielen. Howe meint, dass das Vorbild des Hoftheaters mit aristokratischen Teilnehmerinnen den professionellen Schauspielerinnen den Weg gebahnt hätte als 1660 unter Charles II. die Theater wieder geöffnet wurden und die sexuelle Attraktivität der weiblichen Darstellerinnen für die Bühne genutzt wurde. 4 Auf Quellen beruhender Überblick bei Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999. 5 Die Maskeraden waren im 17. Jahrhundert geschlossene höfische Feste, später erst kamen öffentliche Maskenbälle, für die Einlasskarten verkauft wurden, in Mode; so erhielt z.B. 1713 die Pariser Oper das Privileg, Maskenbälle zu veranstalten, was zu glänzenden Festen, großen Einnahmen und Kritik an den sexuellen Ausschweifungen führte. Barbara Becker-Cantarino 162 sonders auch eine andere sexuelle Identität konnotieren. Sie zeigten eine “verkehrte Welt”, wie ein beliebter Lustspieltitel suggeriert, so von Christian Weise in seinem 1683 aufgeführten Lust-Spiel von der verkehrten Welt, von J.U. Königs Komödie von 1730 und einer 1728 in Hamburg aufgeführten Oper von Johann Philipp Praetorius mit Musik von Telemann, frei nach der auf dem Pariser Théâtre de la Foire aufgeführten Komödie Le Monde renversé (1718) von Rene Le Sage. 6 Diese Maskenbälle ermöglichten wie in der Komödie der “verkehrten Welt” das Cross-dressing, das Spiel mit gesellschaftlichen und mit sexuellen Positionen in der Rolle einer anderen Identität und sie gewährten eine gewisse Freiheit und Schutz in der Verhüllung. Ähnlich wie die seit der Renaissance beliebten Schäfer- und Schäferinnengestalten, die Daphnis- und Chloe-Figuren des 17. Jahrhunderts, waren die aus dem Ambiente von Oper und Hoffesten hervorgegangenen Maskeraden utopische Verkleidungen in einer rigiden Standesgesellschaft, die rituell geregelte Geschlechterbeziehungen, höfische und ständische Zeremonielle mit ‘natürlichen’ ersetzen konnten und die Spielarten von Sexualität, von erotischer Erfahrung und Körperlichkeit außerhalb der Standesgrenzen und über deren Verhaltensregeln hinaus ermöglichten. 7 Anders als die allegorischen Masken des exklusiven Hoftheaters entstanden die Hosenrollen (oder wurden wiederbelebt) im öffentlichen Volkstheater der Frühen Neuzeit. Hier waren es zumeist Verkleidungsrollen, in denen eine weibliche Bühnenfigur im Schauspiel sich für eine Zeit lang als Mann verkleidet und agiert; daneben gab es auch die Gegenbesetzung, wenn eine als männlich konzipierte Figur in einem Stück von einer Schauspielerin übernommen wurde. 8 In England kamen die “breeches roles”, die in eng anliegenden Strumpfhosen die sonst streng verhüllten Beine der jugendlichen Schauspielerin freigaben, in der Restoration Comedy in Mode, einer sexuell eher freizügigen Periode des englischen Theaters unter Charles II., als ab etwa 1660 Frauen erstmals die Knabenrollen des Shakespeare Theaters ersetzten. Oft kam es bei der Entdeckung der als Mann verkleideten Schauspielerin zu einer regelrechten Entkleidungsszene der Beine, des Hintern und auch der Brüste, um das wahre Geschlecht zu zeigen, wie etwa in Wycherleys The Country Wife (1675). Diese sexuelle Enthüllung befriedigte den Voyeurismus des Theaterpublikums - Aristokraten, ihre Diener und ihr 6 Siehe Walter Hinck: Sittensatire und Maskenkomik. In: Ders.: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’Arte und Théatre Italien. Stuttgart 1965, S. 145-167. 7 Für die Tradition des weiblichen Cross-Dressing vgl. die historische Untersuchung von Rudolf M. Dekker und Lotte C. van den Pol: The Tradition of Female Transvestism in Early Modern Europe. New York 1980. 8 Siehe zum Theater des 19. Jahrhunderts die informativen Ausführungen von Marion Linhardt: En travestie. Hosentragende Frauen auf der Bühne des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Strauß. In: Musicologica Austriaca 29 (2010), S. 157-170, hier S. 158. Maske und Rollenfach 163 Gefolge und eine breite Mittelschicht - und füllte auch die Kassen der florierenden Theater. 9 Auf dem deutschen Theater gilt Caroline Friederike Neuber als erste bekannte Darstellerin einer Hosenrolle. 1725 trat “die Neuberin”, so hat Gottsched berichtet, als “verkleidetes Frauenzimmer” in vier verschiedenen Studentenrollen auf; sie habe den “Jenenser Ungestüm”, den “Hallenser Fleißig”, den “Wittenberger Haberecht” und den “Leipziger Zuallemgut” in ein und demselben Stück “herrlich vorgestellt”. 10 In der deutschen Theatergeschichte wurde zunächst von der “Beinkleiderrolle” oder von “verkleideten Mannsrollen” gesprochen. Diebold widmet diesem Rollenfach der “Beinkleiderrollen” nur eine Seite und nennt diesen “Lieblingsgeschmack der deutschen Schauspielerinnen” eine “Geschmacklosigkeit”. 11 Diebolds Abwertung der burlesken Hosenrolle noch 1914 mag der (in der deutschen Theatergeschichte) lange grassierenden Abneigung gegen burleske und gegen zu freche Frauenfiguren geschuldet sein. Wie Marion Linhardt ausgeführt hat, ist die komische Figur nur noch im deutschen Populartheater (Raimund, Nestroy) des 19. Jahrhunderts lebendig, im Theater der Hochkultur aber sentimentalisiert worden. 12 Dass jedoch die Hosenrollen, die unter männlicher Maske auftretenden Frauen, in der Frühen Neuzeit eine utopische, eine potentiell subversive Erweiterung der restriktiven Frauenrollen boten, ist zu bezweifeln. Sie ließen zwar die verweigerten Möglichkeiten der Frauenrolle durchblicken, konnten aber deren mögliche Realisierung kaum in Aussicht stellen. Im Gegenteil, die vermeintliche Freiheit und Unordnung, die “verkehrte Welt”, wich einer festen Ordnung und Einübung der Geschlechterhierarchie und bildete am Ende mit der moralischen Schlusssentenz oft noch eine verfestigende Form der Herrschaft aus. Zwar erlaubte das Spiel mit Verstellung und Maskerade für die Dauer des Stücks eine Verwirrung fester Geschlechtsrollen und ein Spiel mit Sexualität, mit der eigenen Körperlichkeit und mit der des anderen, 13 doch sind diese Hosenrollen auch für die Schauspielerinnen kaum als subversives Cross-dressing zu betrachten. Noch sind sie ein mimetisches Infragestellen binärer Geschlechterrollen, wie postmoderne 9 Howe 1992, S. 56-62. Zwischen 1600 und 1700 wurden etwa 375 verschiedene Stücke auf der öffentlichen Bühne gespielt, von denen etwa ein Viertel eine oder mehrere Hosenrollen enthielten. 10 Die Vernünftigen Tadlerinnen, 1725, 44. Stück, S. 348; zit. nach Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig/ Hamburg 1914, S. 137. 11 Diebold 1914, S. 136. 12 Marion Linhardt: Die lustige Person oder Das Komische als Rollenfach. In: Eva Erdmann (Hg.): Der komische Körper. Szenen, Figuren, Formen. Bielefeld 2003, S. 52-59, hier S. 57. 13 Von den verkleideten Frauen selbst hören wir so gut wie nichts; Schauspielerinnen- Memoiren oder private Äußerungen beginnen erst mit dem 18. Jahrhundert. Barbara Becker-Cantarino 164 Theoretiker es gern pauschal für die (in allen Textsorten und in realen Biografien vorhandenen Transvestiten) behaupten und die mühsame und unspektakuläre, mikrokosmische Geschichtsbetrachtung mit modernen Theorieentwürfen ersetzen wollen. Die Verkleidung in der historischen Hosenrolle dürfte kaum ein Dreh- und Angelpunkt der damaligen Kultur gewesen sein und auch nicht die Vorstellungen von kulturellen Konstanten wie die Geschlechterrollen herausgefordert und auf den prozessualen Charakter von Kultur gelenkt haben, wie Marjorie Garber es für die kulturelle Bedeutung des Transvestismus konstatiert. 14 Bei der Hosenrolle ist die theatergeschichtliche Situation, die der Schauspieler, des jeweiligen Theatertyps in seinem sozialen Umfeld und seinen Publikum zu beachten. Die Hosenrollen des frühneuzeitlichen Theaters dienten, so möchte ich argumentieren, der Spiel- und Experimentierfreudigkeit des Theaters und instrumentalisierten die Schauspielerinnen im Emplotment als draufgängerische, jugendliche Außenseiter - oder sentimentalisierten sie als junge verliebte, heiratsversessene Frau, die der Liebesplot burlesk oder melodramatisch am Ende aus ihrer Verkleidung in die gesellschaftlich richtige, der Zeit entsprechende Rolle entlässt. II. Die burleske Hosenrolle: die clevere, schelmenhafte, unterhaltsame Außenseiterin Besonders beliebt waren Hosenrollen im Theater der Romania seit dem 16. Jahrhundert. Die volkstümliche Commedia dell’arte brachte neben eindeutig gendermarkierten Figuren maskierte Typen auf die Bühne, die u.a. auch die Geschlechtergrenzen überschreiten konnten. 15 Neben den männlich oder weiblich gezeichneten Figuren gab es eben auch deren Verwischung oder den Geschlechtertausch: Der Typ der Vecchia, der alten Frau, wurde oft von einem männlichen Schauspieler dargestellt, die Lelio-Maske des jugendlichen Liebhabers, der in zeitgenössischer Kleidung auftrat, von einer Schauspielerin, die Ehefrau des Dottore wurde oft von einem männlichen Schauspieler gemimt, und ein “Zwitterkostüm” hatte vorne eine männliche und 14 Marjorie Garber: Dress Codes or the Theatricality of Difference. In: dies.: Vested Interests. Cross-Dressing and Cultural Anxiety. New York 1992, S. 21-40. 15 Neben den eindeutig männlichen Figuren des listigen, schlagfertigen Zanni, des aufschneiderischen, säbelrasselnden Capitano, des komischen Narren Pulcinella, des geizigen, gewissenlosen, alten Pantalone oder des pedantisch-gelehrten Dottore gab es die eindeutig weiblich besetzten Figuren der vorlauten Dienerin Columbina (oder Francesca), der jugendlichen Liebhaberin, der Comica innamorata und der durch Gesang und Tanz unterhaltenden Canterina. Siehe hierzu den Aufsatz von Susanne Winter in diesem Band. Maske und Rollenfach 165 hinten eine weibliche Maske. 16 In diesem Umgang mit einer Vielfalt von Geschlechter-Maskeraden zeigt sich schon das Spielerische und das Pragmatisch-Theatralische des Theaters, wenn mit dem vorhandenen Personal eine möglichst breite und bunte Vielfalt an Rollen und Typen repräsentiert werden sollte. Eine ausgesprochen als Hosenrolle designierte Figur oder Typ gab es anscheinend nicht. Besonders beliebt war der disfraz varonil im spanischen Theater um 1600, wo Frauen seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts bereits auf der Bühne agierten. Am Anfang des großen Zeitalters der spanischen Comedia steht Lope de Vega (1562-1635). 17 In seinen ca. 300 überlieferten Komödien sind 112 mit einer Hosenrolle identifiziert worden (dagegen nur drei als Frauen verkleidete Männer-Rollen: jeweils Diener, die gegen ihren Willen für ihren Herrn eine Frau fingieren müssen). 18 Eine interessante Hosenrolle hat Lope in seiner Bearbeitung des volkstümlichen, aus dem Mittelalter stammenden Maese Pedro de Urdemalas-Stoffes geliefert: Urdemalas ist Meister im Anzetteln (urdir) cleverer Intrigen (mala oder malilla) und des wiederholten Rollenwechsels wie der Joker im Kartenspiel. 19 In Lopes Komödie Pedro de Urdemalas 20 wird die strenge Rollenverteilung durchbrochen, indem eine quicklebendige junge Schauspielerin in einer Hosenrolle nacheinander als “Pedro” (inspiriert vom Trickster Pedro de Urdemalas) vier verschiedene 16 Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. Bd. 3: Barockzeit. Salzburg 1959, S. 273-280; Beispiele für das Zwitterkostüm finden sich in der von Gherardi herausgegebenen 13-bändigen Sammlung Théâtre Italien (1694-1741). 17 Lopes Lebenslauf war theatralisch bunt: er wurde von den Jesuiten erzogen, studierte in Madrid (1574) und Alcala (1576) ohne Abschluss, soll viele Amouren gehabt haben, wurde in Beleidigungsklagen verwickelt, vom Hofe verbannt (1588-1596), nahm an zwei kriegerischen Expeditionen teil (1584 zu den Azoren), war Sekretär des Duque de Alba, ab 1605 des Duque de Sessa, heiratete zweimal (die erste Frau nach einem Vergewaltigungsprozess gegen ihn), hatte viele Affären und 2 außereheliche Kinder, trat dann in den Priesterstand ein, um seinem Außenseitertum zu entgehen (er litt darunter weder zu den Grandes, Titulos oder Hidalgos zu gehören). Er lebte die letzten 25 Jahre seines Lebens in Madrid und hat etwa 800 Komödien verfasst. http: / / www. biografiasyvidas.com/ biografia/ v/ vega.htm (Stand 12. 8. 2012). 18 Carmen Bravo-Villasante: La mujer vestida de hombre en al teatro español (Siglos XVI- XVII). Madrid 1955, S. 61. 19 Nitsch 2000, S. 5. 20 Lope hat die Komödie 1618 erwähnt, sie wurde schon 1612 aufgeführt; der von Emilio Cotarelo y Mori gedruckte Text basiert auf einer Handschrift aus dem frühen 18. Jahrhundert mit den Varianten aus den (nicht datierten) Einzeldrucken aus dem späten 17. Jahrhundert in der Bibliotheca Nacional, von denen einer Juan Pérez de Montalbáns Namen, handschriftlich korrigiert in “Lope”, trägt. Nur der Ort (Florenz oder Paris) und einige Personennamen variieren. Eine Bearbeitung der Komödie von Juan Bautista Diamante wurde 1683 aufgeführt. Alle Versionen haben die Hosenrolle, in der Pedro de Urdemalas in listiger Verstellung und Verkleidung von einer Frau usurpiert wird. Vgl. Prólogo. In: Obras de Lope de Vega publicadas por la Real Academia Española. Nueva edición. Bd. 3: Obras Dramáticas. Madrid 1930. S. XXVII-XXX. Barbara Becker-Cantarino 166 Männerrollen verkörpert. Getäuscht von den Liebesbeteuerungen Don Juans, der in einer fingida caza für den Duque bei Laura, die ihrerseits den bäuerischen Bewerber Turino abweist, werben soll und sie verführt, verlässt Laura Spanien, um sich an Don Juan für den Betrug und Verlust ihrer Ehre zu rächen, wie sie in einem kurzen Monolog am Ende des ersten Aktes bekennt: Amaste, Laura, a un hombre imaginado; tu honor perdiste, Laura, mujer fuiste. Mas yo, para vengarme de este daño, en forma de hombre iré a Paris, de suerte que se extienda mi nombre en reino extraño. Hombres, en hombre Laura se convierte; sirena quiero ser de vestro engaño, que comienza en mujer y acaba en muerte. 21 Im zweiten Akt zettelt die clevere Laura in vier aufeinander folgenden Verkleidungsepisoden Intrigen an: Als ‘villano’ raubt sie einem Gastwirt seine Tochter und sein Geld; als ‘rufián’ entgeht sie knapp der Verhaftung wegen wilder Ehe und Zuhälterei; als ‘mozo de ciego’ tritt sie in die Spuren des Erzschelmen Lazarillo de Tormes; als zum Schein gebrandmarkter ‘éslavo’ entführt sie erneut die inzwischen zu Wohlstand gekommene Gastwirtstochter. 22 Laura kehrt zuletzt nach Paris (bzw. Florenz) zurück, nimmt den Adelsnamen Don Pedro de Castilla an und gibt sich als spanischen Ordensritter aus. 23 Lauras “atrevimiento temerario” 24 gipfelt somit in einer doppelten Maskerade, die Bauerstochter spielt den Schelm - den gracioso 25 - der sich seinerseits schließlich mimisch in den Aristokraten verwandelt. Lauras Hosenrolle enthält eine bunte Vielfalt möglicher Schurken-Rollen, die im realen Leben der Frau (aus guter Familie) verschlossen sind. Und obwohl sich Laura hier mit ihrer Originalität (“no he leido ninguna en libro alguno”) brüstet, bekennt Laura doch am Ende dass sie zu ihren frechen Taten durch 21 Obras de Lope de Vega, S. 403, Sp. A. Alle Zitate aus dieser Ausgabe. “Laura, du hast einen imaginierten Mann geliebt. Du hast deine Ehre verloren. Du warst eine Frau. Aber ich, um mich für diesen Schaden zu rächen, werde in der Gestalt eines Mannes nach Paris gehen, damit ich mir in einem fremden Reich einen Namen machen kann. Meine Herren, Laura verwandelt sich in einen Mann; ich möchte die Sirene eurer Betrügerei sein, die mit der Frau beginnt und mit dem Tod endet.” 22 Nitsch 2000, S. 95. 23 Karl Vossler: Lope de Vega und sein Zeitalter [1932]. München 1947, S. 330, weist auf Lopes Kunstgriff hin, einen Spanier in eine anderweitig fremde Umgebung einzufügen, als “unwiderstehliche Werbekraft seines nationalen Charakters” (S. 331): In Lauras Hosenrolle als “Pedro de Castilla” ist vielleicht eine ironische Huldigung an das Madrider Publikum zu sehen. 24 Obras de Lope de Vega, S. 416, Sp. A. 25 Zur komischen Dienerrolle siehe Barbara Kinter: Die Figur des gracioso im spanischen Theater des 17. Jahrhunderts. München 1978. Maske und Rollenfach 167 die Lektüre eines Buches (des Duque) animiert worden sei: “Señór, su libro fué causa. / Entre muchos que leí / en mi tierna edad pasada”; als begeisterte Leserin von Urdemalas Schelmenstücken (“aficionado a sus trampas”) habe sie ihre eigenen Taten ersonnen und als Rache für das ihr angetane Unrecht ausgeführt. 26 Damit wird Laura verziehen, sie bekommt ihren Don Juan - und mit dieser Parodie auf lesende Frauen, die damit auf Abwege geraten, ist ihre ‘natürliche’ Frauenrolle ist wiederhergestellt. Lope verarbeitete auch weitere theaterwirksame Elemente, Aspekte vom Typ des aufschneiderischen Soldaten, des eitlen Kavaliers, des Dieners (gracioso), der als männlich geltenden Frau (mujer varonil), der mujer esquiva (Unverheirateten), der bandolera (Banditin) und der bella cazadora (Amazone). 27 Die Figuren in Lopes comedia de capa y espada entstammten dem Leben der Gegenwart, verkörperten und parodierten das städtische Publikum mit seinen (Vor)urteilen, es ging derb realistisch ohne Wunder oder Mirakel zu. 28 Seine Hauptgestalten hatten den Rang von Kavalieren und Edelleuten, aber nicht von Königen und hohen Aristokraten. Lopes Komödien sind Ausdruck einer Lust am Mimischen, am Szenischen, am Maskenspiel, Verkleidungen, Verwechselungen, Verkennungen, und Verwandlungen, 29 um die enge starre Bühne zu beleben. 30 26 Obras de Lope de Vega , S. 427, Sp. B. 27 Zu den männlich konnotierten Rollen für Frauen im Spanischen Theater s. Melveena McKendrick: Woman and Society in the Spanish Drama of the Golden Age. A Study of the mujer varonil. Cambridge 1974, bes. S. 109-275. 28 Lope hatte ein städtisches Publikum von etwa 1,000 Zuschauern, die zumeist die zeitgenössischen Abenteuer- und Schäferromane der Romania lasen und viel ins Theater gingen. Ab etwa 1560 gab es stehende Theater auf freien Plätzen, die von Häusern umgrenzt (corrales), erst später wurde ein Dach nur für die Bühne errichtet, denn bei Regen wurde nicht gespielt. Die zwei großen Madrider Bühnen waren Corral de la Cruz (zum Kreuz) und Corral del Principe. Es wurde regelmäßig nachmittags bis eine Stunde vor Sonnenuntergang gespielt; das männliche Stehpublikum im Parterre bestand vielfach aus Musketieren (mosqueteros) und infanteria (la gente del bronce), das viel Lärm aus Protest oder Zustimmung machte. S. Vossler 1947, S. 190-195. Noch heute wird auf dem corral in Almagro (südöstl. von Ciudad Real), der besterhaltenen Bühne aus dem 16. Jahrhundert, gespielt: http: / / www.corraldecomedias.com/ programacion.aspx (Stand 29. 8. 2012). 29 Edward H. Friedman: Dramatic Structure in Cervantes and Lope: The two Pedro de Urdemalas Plays. In: Hispania 60 (1977), S. 486-497. Hier entfällt die Hosenrolle. Cervantes' Rollenspieler, der zugleich als “paradigmatische Referenzfigur barocker Spielinszenierung” und als “eine weitreichende fiktionale Reflexion über Theater und Spiel” gelesen wird, endet mit dem Künstlernamen Nicolas de Rios “para cobrar renombre” (Nitsch 2000, S. 9-11). Cervantes entwirft eine elitäre, aristotelische Theaterkonzeption gegen die populäre, burleske Form und fordert eine künstlerische Natürlichkeit, der Schauspieler-Künstler müsse sich kunstvoll in die gemimte Figur verwandeln. 30 Es gab prächtige Kostüme, jedoch keine oder nur ganz einfache Kulissen; erst ab 1620 kamen Bühnenmaschinen, Dekoration und Kulissen auf. Um 1615 gab es 15 Theatertruppen in Madrid, der Prinzipal (Schauspielunternehmer) nannte sich autor. Eine Barbara Becker-Cantarino 168 Warum ließ Lope eine Frau diese (dem Publikum bekannte) Männerfigur vorstellen, die im Spiel als Spiel betrügerische Männertaten ersinnt? Es ist wohl kaum eine Auktorialisierung der Frau als Schauspielerin in dieser Hosenrolle zu sehen, es geht nicht um subjektive Befindlichkeiten, eher ist es ein Spiel mit mehrfachem engaño / desengaño (Täuschung und Ent-Hüllung), Schein und Sein, Betrug und Aufrichtigkeit, wofür die Frau steht (noch im Rigoletto heißt es modern auf die Liebe bezogen: “Ach wie so trügerisch sind Weiberherzen…”). Wenige Jahre nach Lopes Urdemalas-Komödie hat Miguel de Cervantes Komödie El rufián dichoso. Pedro de Urdemalas (1615) denselben Stoff dramatisiert, wohl eine bewusste Antwort auf die burleske, burschikose, sich männliche Freiheiten anmaßende Hosenrolle in Lopes Komödie. Die Spielfigur einer Frau als inkonstante, changierende Verwandlungskünstlerin, als gesellschaftliche Außenseiterin in der Hosenrolle, war in der Frühen Neuzeit beliebt, auch in der weiblichen Picara-Figur, wie etwa in Grimmelshausens Landstörzerin Courage oder in The Roaring Girl, das auf der Lebensgeschichte einer zeitgenössischen Londoner Diebin beruhte. 31 Diese Figuren waren gesellschaftliche Außenseiter, die außerhalb der Ständeordnung standen, im Theater belacht oder auch bestaunt werden konnten. In dem disfraz varonil, der Männerrolle des Pedro de Urdemalas, parodierte Lope die Frau, die Männerrollen usurpiert, und die lesende Frau, die ähnlich wie Don Quijote ihr Wissen aus Büchern bezieht. Lopes Laura erscheint im ersten Aktals hoffnungslos verwirrt-verliebte Frau, die zu viel im Amadis und in Schäferromanen von der Liebe gelesen hat und der im zweiten Akt von Schelmenromanen der Kopf verdreht wurde. Das mündet dann im Dénouement des dritten Aktes in der Entwirrung der amourösen Beziehungen in drei zur Heirat bereiten Paaren. Die Komik entspringt durchgehend kleine Compañia de garnacha bestand derzeit aus 5 bis 6 Männern, einer Frau und einem Knaben, die etwa 4 Komödies und 3 autos und entremeses aufführen konnten, mit Koffern durchs Land reisten und sich bis zu einer Woche an einem Ort mit Spielen aufhalten konnten. Eine länger in Toledo, Madrid oder Valladolid spielende Truppe wie die Compañia des Pedro de Valdés hatte etwa 30 Personen, konnte 50 Schauspiele aufführen. Ignacio Arellano: Historia del teatro español del siglo XVII. Madrid 3 1995, S. 100. 31 Mary Frith alias Moll Cutpurse (1584-1659) benutzte Männer- und Frauenkleidung um unerkannt zu bleiben. In der Außenseiterkomödie The Roaring Girl von Thomas Middleton und Thomas Dekker, zwischen 1605 und 1610 aufgeführt, Erstdruck 1611, ist die Dramenfigur sympathisch wie eine Art weiblicher Robin Hood gezeichnet, eine literarische Idealisierung der Außenseiterin, die zuletzt auf der Bühne in Frauenkleidern erscheint - und damit reformiert wieder in die Gesellschaft eingegliedert wird, wie das historische Vorbild. Vgl. Mary Beth Rose: Women in Men's Clothing. Apparel and Social Stability in The Roaring Girl. In: English Literary Renaissance 14 (1984) H. 3, S. 367-391. Die Schauspielerin Susanna Mountfort war auf die “breeches role” spezialisiert und spielte oft den Schurken im Restoration Drama. Maske und Rollenfach 169 den Verwirrspielen um die Genderrollen im Stück und der Erwartung der Zuschauer. Es ist ein burleskes, unterhaltsames gender-bending. III. Die sentimentalisierte Hosenrolle: Die jugendliche Geliebte in Männerkleidern Die viel gespielte, bis heute aufgeführte spanische Komödie Don Gil de las calzas verdes (1615) 32 von Tirso de Molina treibt das Verwirrspiel um die Geschlechtsrollen mit der Hosenrolle auf die Spitze, am Ende erscheinen vier fingierte Don Gils - zwei Frauen und zwei Männer - im grünen Kostüm. Das burleske Spiel geht um die “grünen Hosen” - Zeichen hoffnungsvoller und viriler Männlichkeit, die Hosenrolle steht für jugendliche, sexuelle Attraktivität, die spielerisch die traditionellen Rollen von Mann und Frau durcheinanderwirbelt. Die grüne Farbe gilt auch als Symbol der Eifersucht und Täuschung. Wie in fast allen Komödien dient die Hosenrolle dazu, den Liebesplot als Eheanbahnung zu komplizieren und dann zu entwirren. Ein Mädchen aus guter Familie stellt ihrem untreuen Bräutigam in Männerkleidern nach und holt ihn in die Ehe. Doña Juana de Solis aus Valladolid reist ihrem untreuen Geliebten Don Martín de Guzmán nach Madrid nach, den sein Vater unter dem Decknamen Don Gil de Albornoz nach Madrid geschickt hat, um der reichen Doña Inés den Hof zu machen. Die Komödie setzt ein mit der Bühnenanweisung zur ersten Szene: “Sale Doña Juana, de hombre, con calzas y vestido todo verde, y Qintana, criado”. 33 Die betrogene Doña Juana trifft so mit einem Diener in Madrid ein, sie verfolgt ihren untreuen Verlobten in der Aneignung und konsequenten Nachahmung von dessen gespielter Rolle als Don Gil, um in der Hosenrolle ihrem untreuen Verlobten als Freier bei Inés in Madrid zuvorzukommen. Sie macht als Don Jil so perfekt Inés den Hof, dass Inés sich 32 Eine erste Aufführung ist von der berühmten Truppe des Pedro de Valdés für Juli 1615 belegt, ob in Toledos Mesón de la Fruta oder in Madrid ist fraglich, die Komödie dürfte erst kurz davor geschrieben worden sein. Tirso de Molina (1579-1648) war Mitglied des Mercedarier-Ordens, wohnte derzeit im Kloster Santa Catalina in Toledo, wirkte zeitweilig als Missionar in Santo Domingo, war später Komtur von Soria. Die erste Aufführung war ein fracaso, wohl weil die Darstellerin Don Gils, die Ehefrau des Prinzipals, zu korpulent und alt für die Rolle des agilen Don Gil gewesen ist, wie Tirso de Molina in einem Brief seine Enttäuschung über die Fehlbesetzung berichtet hat. Er habe sich beim Schreiben vorgestellt: “una dama hermosa, muchacha, y con tan gallardo talle que, vestida de hombre, persuada y enamora la más melindrosa dama de la Corte, salga a hacer esta figura una del infierno, con más carnes que un antruejo, más años que un solar de la Montaña y mas arrugas que una carga de repollos, y que se enamore la otra y le diga: ¡Ay, qué don Gilito de perlas! : es un brinco, un dix, un juguete del amor…” Zit. nach: Tirso de Molina: Don Gil des las calzas verdes. Édicion, introducción y notas de Alonso Zamora Vicente. Madrid 1990, S. 17. 33 Ebd., S. 77. Barbara Becker-Cantarino 170 sofort in den energischen, gewandten jungen Mann Don Gil verliebt. Im zweiten Akt erscheint Doña Juana in der Maske der Cousine Elvira bei Inés, um ihre Nebenbuhlerin über deren Gefühle für den vermeintlichen Don Jil auszuhorchen. Doña Juana erfindet noch zwei weitere Rollen für sich (sie erscheint als Doña Elvira aus Burgos mit Diener Valdivieso; und in einem Brief gibt sie sich als verlassene Juana aus, die schwanger in ein Kloster fliehen muss). Juana erscheint aber in der Öffentlichkeit nur in der Hosenrolle als Don Jil mit den grünen Hosen. Im dritten Akt wird die erotisch wirksame Hosenrolle der Juana von drei weiteren Figuren kopiert, die sich alle als Don Jil ausgeben und mit grünen Hosen erscheinen (darunter der treulose, echte Don Jil alias Don Martín, der nun ebenfalls in grünen Hosen auftritt, um ebenso attraktiv auf die Frauen zu wirken wie Don Gil). “Das undurchsichtige Rollenspiel wird zum unheimlichen Verdoppelungsspuk, der jenseits des Spielziels Angst und Verwirrung erzeugt”. 34 In der abschließenden Balkonszene erscheinen vier Don Gils mit grünen Hosen, das Nachahmungsspiel wird zum Kampfspiel als Duell, das der Diener mit dem Ruf “Mueran los Giles” 35 treffend doppeldeutig kommentiert. Das Erscheinen von Juanas Vater, der auf die (von Juana fingierte) Nachricht von ihrem eigenen Tod herbeigeeilt ist, zwingt aber Doña Juana endlich zur Enthüllung ihrer Hosenrolle und sie erklärt ihre Motivation: Doña Juana: T ODO fue por que vinieses a esa corte, donde estaba don Martín hecho don Gil, y ser esposo intentaba de doña Inés, a quien di cuenta desta historia larga, y a poner remedio viene a todas nuestras desgracias. Yo he sido el don Gil fingido, célebre ya por mis calzas. 36 Die Verkleidungskomödie endet mit drei versöhnten, heiratswilligen Paaren. Als burleske Untermalung der gendergerechten Entwirrung und Paarung erscheint darauf der Diener Caramanchel als gracioso-Figur mit einem theatralischen Kostüm: “Sale Caramanchel, lleno de candelillas el sombrero y calzas, vestido de estampas de santos, con un caldero al cuello y 34 Nitsch 2000, S. 150. 35 Tirso de Molina 1990, S. 289. 36 Ebd., S. 301: “Dies alles geschah, damit du [Juanas Vater] zu diesem Hof kommst, wo Don Martin verkleidet als Don Gil auftrat mit dem Plan Doña Ines zu heiraten, der ich diese ganze Geschichte erzählt habe und gekommen bin, mich für alle unsere Schmach zu rächen. Ich war der vermeintliche Don Gil, berühmt wegen meiner grünen Hosen”. Maske und Rollenfach 171 un hisopo”. 37 Caramanchels Aufmachung weist auf einen quacksalberischen Straßenhändler, eine Parodie auch auf die Gender-Verwirrten, auf deren fast tödlich endende Komödie um die “grünen Hosen” und auf die zu scheitern drohende Entwirrung. Wortspiel und Gestik zielen auf die Frage, wer hier der “Verrückte” (loco) ist: Doña Juana: Necio, que soy tu don Gil. Vivo estoy en cuerpo y alma. ? No ves que trato con todos, Y que ninguno se espanta? Caramanchel: ? Y sois hombre o sois mujer? Doña Juana: Mujer soy. 38 Total entrüstet über Juanas alias Don Gils Enthüllung, dass sein Herr eine Frau ist, kommentiert der Diener mit der volkstümlichen, sprichwörtlichen Erklärung, nur eine Frau könne dreißig Welten durcheinanderbringen und hinters Licht führen. Die Hosenrolle Doña Juanas hat in ihrem gender-bending eine gespenstische Dimension; Don Gil erscheint unheimlich, wirkt wie ein “demonio” (Chimäre) auf den Diener und wird verflucht. “Das undurchsichtige Rollenspiel wird zum unheimlichen Verdoppelungsspuk, der jenseits des Spielziels Angst und Verwirrung erzeugt”. 39 Dieses Unbehagen und der letztendliche Zusammenbruch der Intrige Doña Juanas dürfte besonders dem Geschlechtertausch der als Mann verkleideten Frau geschuldet sein, aber kaum Juanas Wiederfinden ihrer eigentlichen weiblichen Identität signalisieren. 40 Eher ist es die komisch wirkende Brüchigkeit der Hosenrolle, die absurdkomische Anmaßung einer Frau, realiter wie ein Mann handeln zu können. Darüber kann Lopes Publikum lachen, über Juanas letztendliche Entmachtung und Enteignung im Spiel, die aber dennoch zum ‘richtigen’ Ziel führt, in die Ehe mit dem begehrten Mann. Damit kann Tirso de Molinas Publikum zufrieden und gut unterhalten nach Hause gehen. Multiple Geschlechteridentitäten, heute der Angelpunkt der Hosenrolle, interessierten die Autoren und befriedigen das Publikum der comedia nur insofern, als nach dem tollen 37 Ebd., S. 303: Bühnenanweisung für Szene xxiii. “Caramanchel hat einen Hut voll Votiv- Kerzen, ein Gewand wie auf Heiligenbildern und hat einen Topf und Löffel um den Hals gehängt - wohl eine Parodie auf die zeitgenössischen Ablassverkäufer und ungebildeten Landpriester. Seine Dialogpartien verballhornen sakrale Texte der Messe”. 38 Ebd., S. 304-305: “Doña Juana: Dummkopf, ich bin doch dein Don Gil. Ich lebe als Körper und als Seele. Siehst du nicht, wie ich mit allen umgehe und niemand fürchtet sich. Caramanchel: Und? Bist du ein Mann oder eine Frau? Doña Juana: Ich bin eine Frau”. 39 Nitsch 2000, S. 150. 40 David H. Darst: The Comic Art of Tirso de Molina. Chapel Hill 1974, S. 81-83 sieht in dem Zusammenbruch der Intrige einen Durchbruch der weiblichen Identität Juanas. Barbara Becker-Cantarino 172 Spaß mit Geschlechterverwirrung am Ende wieder alles im Lot der Zweigeschlechtlichkeit ist. 41 Tirsos originelle Verwendung der Hosenrolle mag eine Ironisierung der Hosenrolle als Rollenfach sein, eine satirische Kritik an der Konvention und Popularität dieser Rolle. 42 Einerseits erscheint die Hosenrolle hier als unerwartet erfolgreich, schlägt die weiblichen wie die männlichen Charaktere des Stückes in ihren Bann (löst damit den Geschlechtsunterschied und die erwarteten Rollen auf), andererseits entgleiten die Figuren in ein undurchsichtiges Rollenspiel: Alle Akteure in der comedia verlieren das ‘natürliche’ Gefühl bzw. Verständnis für ihre Geschlechtsrolle und der ihr adäquaten zeitgenössischen heterosexuellen Erotik. Die vier grünen Hosen führen die Hosenrolle ad absurdum ebenso wie die männliche Virilität, die sie konnotieren. Doña Juanas Handeln als Don Gil überschreitet riskant die Geschlechtergrenzen: Sie verspricht sogar Clara (der Cousine von Inés, ihrer Nebenbuhlerin) die Ehe. Auf dem Höhepunkt des Verkleidungsspiels verliert Juana für einen Augenblick die Übersicht und Kontrolle über ihre Intrige, ein vom Autor Tirso de Molina geschickt dramatisierter (und spannungsfördernder) Aspekt des Rollenspiels, das eine Eigenbewegung zur Verwirrung der Identitäten führt: Wer weiß hier noch wer in Wirklichkeit wer ist? 43 Juana - Elvira - Gil sind die drei Identitäten im Spiel, es sind geschlechtsspezifische (nicht ständische oder psychologische), und wenn Juana mit “vielfach zerspielter Identität” 44 endet, dann doch wohl als Auflösung der Hosenrolle. Tirso de Molina hat hier einen weiteren Typ der Hosenrolle entwickelt, die Funktionalisierung der jugendlichen Liebhaberin als spielauslösende Figur im Verwirrspiel der Liebe, das mit dem gewünschten Paar endet (oder dieses Ende tragisch verfehlt). In der Hosenrolle sind elementare Merkmale von der Spielfreudigkeit des spanischen Theaters zu finden: Pragmatik, Willkürlichkeit, Spiel im Spiel - der Spieler geht auf Distanz zu sich selbst und der Welt, Spiel in Opposition zum Ernst. Das Spiel enthält in der Darstellung die Vergegenwärtigung archaischer Affekte, fördert menschliche 41 Ganz ähnlich heterosexuell endet der Plot, wenn ein als Frau verkleideter Mann auftritt: z.B. muss in (einer Nebenepisode) von Tirsos La discreta enamorada (ca. 1605) ein Diener als Doña Estefanía auftreten, weil sein Herr mit der vom Diener gemimten Rivalin bei seiner spröden Geliebten Eifersucht erregen möchte. 42 So Premraj R. K. Halkhoree: Social and Literary Satire in the Comedies of Tirso de Molina. Ottawa 1989, S. 39. 43 Auch mit der Stimmlage wurde in der Hosenrolle gespielt; Juana als Don Gil klingt für Caramanchel “atiplado” (schrill; Vers 2780, S. 272) und “caponil” (wie ein “capón”, ein Kapaun, ein kastrierter Hahn; ist eine Wortschöpfung Tirsos; Vers 2868, S. 278). “Caponil” bedeutet hier auch “effeminiert”. Veränderungen der Stimme wurden u.a. mit Wachskügelchen im Mund bewirkt; s. Juan Ruano de la Haza/ John J. Allen: Los teatros comerciales del siglo XVII y la escenificaión de la comedia. Madrid 1994, S. 529. 44 Nitsch 2000, S. 155. Maske und Rollenfach 173 Schlüsselerfahrungen in der Unberechenbarkeit des Spiels zutage. Selbst weithin berechenbare und eingeübte Geschlechterkonstellationen ufern ins Unvorhergesehene aus, doch das Kalkül muss am Ende dann doch aufgehen: Paare finden sich, das wahre Geschlecht wird entdeckt oder die Verkleidete bekennt sich dazu und kehrt dahin zurück. Die Burleske - das Spiel als Exzess, als Übertreibung - führte zu Regulierungsversuchen des Theaters und zur Verfemung des Schauspiels in Spanien: 1596 wurde das öffentliche Theater für zwei Jahre verboten, dann wiedereröffnet; Tirso wurde zeitweise aus Madrid verbannt und erhielt 1625 von seinem Orden Schreibverbot. 1644 bestimmte die Königin Isabella von Bourbon, dass nur eine verheiratete, d.h. keine ledige oder verwitwete Frau als Schauspielerin auf dem Theater auftreten dürfe. 45 Besonders Kleriker nahmen die Schauspielkritik der Kirchenväter (Spielleidenschaft, sündhafte Neugierde [concupiscencia], Verstellung, laszive Gebärden, sexuelle Freizügigkeit) wieder auf und richteten sich gegen die Theaterpraxis auf den corrales, die als “escuela de intemperancia” gegeißelt werden. 46 Das minderte jedoch kaum die Spielfreudigkeit des spanischen Barocktheaters und die Popularität der Hosenrolle. Francisco Ortiz hat die Theaterleidenschaft in seiner Apología en defensa de las comedias que se representan en España (1614) als lustvollen Genuss beschrieben: “Pues ha de ser más que de hielo el hombre que no se abrase de lujuria viendo una mujer desenfadada y desenvuelta, y algunas veces, para este efecto, vestido como hombre, haciendo cosas que movieran a un muerto”. 47 Die Hosenrolle im spanischen Barocktheater wurde zwar durch den Eheanbahnungsplot in zeitgenössisch akzeptierte Geschlechterrollen gelenkt, erhielt aber auch durch den sexuellen Appeal der Ver- und Entkleidung seine Popularität, ähnlich wie dann in der Operette und Oper des 19. Jahrhunderts. IV. “Chimärische Gleichheit” - Lessing, Der Misogyne und die Komödie der Aufklärung Der junge Lessing experimentierte mit gender-bending in der Hosenrolle: In Der Misogyne (1748 / 1755) tritt die weibliche Figur Hilaria “in Mannskleidern unter dem Namen Lelio” (der jugendlichen Liebhaber-Figur der Comedia dell’arte) auf. 48 Mit diesem frühen Lustspiel knüpfte Lessing zunächst an 45 Auch der Männer-Besuch bei Schaupielerinnen wurde begrenzt; McKendrick 1974, S. 34-35. 46 Hierzu “Verfemung des Theaters” in Nitsch 2000, S. 44-52; Zitat auf S. 51. 47 Zit. nach McKendrick 1974, S. 321. 48 Der Misogyne wurde 1755 mit dem Zusatz “Ein Lustspiel in einem Aufzuge. Verfertiget im Jahre 1748” erstmals veröffentlicht, dann 1767 unter Hinzufügung von 6 Szenen in einer auf drei Akte erweiterten Fassung in dem 1. Teil seiner Lustspiele erneut gedruckt. Barbara Becker-Cantarino 174 diverse Konventionen des europäischen Theaters an und ironisierte seine Auseinandersetzung mit Geschlechtsidentität und Geschlechtscharakter im Kontext und in Anlehnung an die Lustspieltradition des 17. Jahrhunderts, der italienischen, spanischen und englischen Lustspiele. Lessings Protagonist ist ein Herr Wumshäter, eine sächselnde Verballhornung von “woman hater”, der wohl dem Titel eines Stückes von Francis Beaumont und John Fletcher von 1607 entlehnt ist. Wumshäter ist der störrische, unbelehrbare Hausvater, der “die verdammten Weiber” verflucht und sich doch lieber “dreimal gehangen, als dreimal verheiratet” zu haben wünscht. 49 Der Weiberfeind wird am Ende zwar überrumpelt, d.h. durch eine Verkleidungsintrige betrogen, aber nicht gewandelt: Wumshäter ergibt sich in sein Schicksal mit den Worten: “Ich sehe ich bin betrogen, und dieser Streich ist unter den schlimmen Streichen, den [sic] mir das Frauenzimmer gespielt hat, der kleinste nicht”. 50 Zentral ist die Verkleidungsintrige, die als Spiel mit der geschlechtlichen Identität in einer Hosenrolle, an der Frau in Männerkleidern (und nicht umgekehrt: etwa einem Mann in Frauenkleidern) dargeboten wird. Die Verkleidungsintrige dient der Perspektive des männlichen Geschlechts, ist kein Tausch in den Standpunkt des weiblichen. Hilaria (die Heitere - ähnlich der Philinte/ Hilaria in J. E. Schlegels Der Triumph der guten Frauen, 1748) 51 ist in Wumshäters Sohn Valer verliebt, der sie heiraten möchte, doch Vater Wumshäter pocht auf seine väterliche Autorität und möchte den Sohn aufgrund seiner schlechten Erfahrung mit Frauen vor dem Unglück einer Verbindung bewahren. Um Wumshäters Zitate nach dem Erstdruck in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Bd. 1: Werke 1743-1750. Hg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt/ M. 1989, S. 303-338. 49 Lessing: Der Misogyne, S. 305. Der Generationen-Konflikt ist so vorprogrammiert, aber auch der Geschlechterkonflikt. Schon in der ersten Szenen bahnt sich dieser an, wenn die Dienerin Lisette Wumshäters Tirade über die “verdammten Weiber” und seine Zurückweisung (“ich will nicht von dir bedient sein… bleib, wohin du gehörst; in der Küche und bei der Tochter”, S. 305) damit konterkariert, dass sie lauthals nach dem männlichen Diener Johann schreit. Johann, das Dienerpendant zum Wumshäter, bleibt jedoch im ganzen Stück abwesend; trotz mehrfachen Rufens und Nennung, tritt er nicht in Erscheinung. Es scheint, dass hier das dienende, männliche Alter Ego des Protagonisten unsichtbar bleibt und nicht auf die Bühne tritt, weil das ein Zeichen der gestörten Sexualität Wumshäters ist und das gebrochene Verhältnis des Weiberfeindes zu seiner männlichen Rolle signalisiert. Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Lessings Der Misogyne: Maskerade und Sexualität in Lessings frühen Lustspielen. In: Monatshefte 92 (2000), S. 123-138. 50 Lessing: Der Misogyne, S. 338. 51 In Der Triumph der guten Frauen versucht Hilaria versucht ihren treulosen Nikander, der sie verlassen hat, in der Hosenrolle als Philinte wiederzugewinnen, wirbt um die tugendreiche Juliane und macht Nikaner so Konkurrenz. In einer zweiten Verkleidung (Schlüsselszene) tritt Hilaria als vermeintliche Schwester Philintes ihrem Nikander gegenüber und erobert nochmals dessen Herz. Liebe triumphiert, aber das Kammermädchen relativiert am Ende: “Die geschwindesten Bekehrungen sind sonst nicht allemal die aufrichtigsten”. Vgl. Hinck 1965, S. 224-232. Maske und Rollenfach 175 Gunst zu gewinnen, kommt Hilaria auf den Einfall, sich als Mann zu verkleiden, tritt in der Gestalt ihres Bruders Lelio auf, schimpft kräftig auf die Weiber und gebärdet sich als gelehriger Weiberfeind, was Wumshäters Interesse und Sympathie findet. So hat diese Maskerade der Frau als Mann zunächst die Funktion, die Seiten der Männlichkeit aufzuziehen und die Männerbande vorzuführen, als gemeinsame Interessen gegenüber dem anderen Geschlecht, aber auch als natürliche und als erotische Attraktion von Mann zu Mann. Nicht als Schwiegertochter, sondern als Schwester des Lelio (der als Mann verkleideten Frau), wird Hilaria Wumshäters Billigung finden. Gegenläufig zu dieser eindeutig andronormativen Perspektive ist das Verwirrspiel der Identitäten und Gefühle, der Erotik, der äußeren Erscheinung, ein Verwirrspiel, das die Geschlechterdifferenzen verwischt und überspielt. So ertappt Wumshäter seinen Sohn Valer, als er Lelio/ Hilaria (der als Mann verkleideten Frau), die Hand küsst: “Ei, ei, mein Sohn, tust du doch mit dem Bruder deiner Braut, als ob es die Braut selber wäre”; und Lelio/ Hilaria erklärt darauf: Sie ertappen den hitzigen Valer in einer Entzückung, die für eine männliche Freundschaft ein wenig zu zärtlich ist. Sie wunderten sich, und glaubten, er müßte mich für meine Schwester ansehen… dafür sieht er mich auch wirklich, in der Trunkenheit seiner Leidenschaft nicht selten an. Allein dieser Quidproquo, ist ihm zu vergeben, weil es unmöglich ist, daß zwei Tropfen Wasser einander ähnlicher sein sollten, als ich und meine Schwester einander sind. 52 Das Quidproquo, die Namens- oder Begriffsverwechselung, ist einerseits in der Hosenrolle vorgetäuscht - die männliche Maske Lelio ist in Wirklichkeit Hilaria. Andererseits wird die Verwechslung von Wumshäter geglaubt, der zur männlichen Maske Lelio sagt: “Wie ähnlich wird [ihre Schwester] Ihnen nun wohl sein? Man wird ohngefähr erkennen können, daß Sie beide in ein Geschlecht gehören? ” 53 Während Wumshäter hier lediglich an Familienähnlichkeit (“ein Geschlecht”) denkt, suggeriert seine Sprache auch die Ähnlichkeit der Geschlechter. Und die Maske führt diese Ähnlichkeit der Geschlechter spielerisch vor, denn Hilaria kann sich erfolgreich als Mann, als ihr eigener Bruder, bei Wumshäter ausgeben und einschmeicheln. Hilaria ist in ihrer männlichen Maske sogar so erfolgreich und überzeugend, dass Wumshäters Tochter Laura (Valers Schwester) an dem vermeintlichen Mann Interesse findet und ihren eigenen Liebhaber zurückstellen möchte. 54 52 Lessing: Der Misogyne, S. 317. 53 Ebd., S. 318. 54 Dieses Motiv der Täuschung der Frau ist in der erweiterten Fassung von 1767 in einer längeren Szene verdeutlicht. Barbara Becker-Cantarino 176 Um die Familienbzw. Geschlechterähnlichkeit noch weiter auf die Spitze, sprich: zur Erkennung zu treiben, bringt Lessing nun zunächst “Lelio in ihrer wahren Gestalt als Hilaria” 55 auf die Bühne. Während die zwei Frauen, Tochter Laura und Hilaria, sich umarmen und als zukünftige Schwägerinnen sich schwesterliche Freundschaft versprechen, demontiert Wumshäter die “vorgegebene Gleichheit” von Lelio/ Hilaria. Figur und Gesicht, besonders Augen, Nasen und Mund sind laut Wumshäter nun völlig verschieden: “Auch der Mund ist noch einmal so groß als ihn Lelio hat. Was für eine aufgeworfene Lippe! Was für ein spitziges Kinn! ..” und Wumshäter besteht darauf, dass die “vorgegebene Gleichheit” eine List gewesen sei. 56 Lessing inszeniert die Demaskierung dieser Geschlechtermaskerade mit einer doppelten Maske: “Lelio erscheint in einer halb männlichen und halb weiblichen Kleidung, welche von dem Geschmacke der Schauspielerin abhängen wird”. 57 Das im italienischen Theater durchaus übliche Motiv des Zwitterkostüms verdeutlicht: “Lelio ist Hilaria”. 58 Wumshäter muss sich nun noch mit seinen eigenen Sinnesorganen überzeugen: Er “schaut aus der Nähe und klopft auf die Schulter” (Regieanweisung) und sinniert: “Es ist wirklich ein Weibsbild! Und das listigste, das verschlagenste, das gefährlichste vielleicht von allen, die in der Welt sind. Ich bin betrogen”. 59 Diese die Hosenrolle zerstörende Doppelmaske dekuvriert, indem sie die Geschlechtermaskerade ad absurdum führt; sie löst dabei auch die Illusion von der Gleichheit und Austauschbarkeit der Geschlechter auf. Damit stabilisiert sie letztendlich auch die Identität der Geschlechter: Zwei Paare bleiben zur Heirat zurück und der alte Wumshäter bleibt bei seiner Misogynie. Doch das Spiel mit Verstellung und Maskerade erlaubte für die Dauer des Spiels eine Verwirrung fester Geschlechtsrollen und ein Spiel mit Sexualität, mit der eigenen Körperlichkeit und mit der des anderen. So ist es z. B. in Mariveaux’ La Fausse Suivante, ou le Fourbe puni (1724, dt. Die falsche Zofe) von Anfang an klar, dass der “Chevalier” eine verkleidete Frau ist (in I, 1 verrät es ein Diener einem anderen). Eine “demoiselle de Paris” benutzt die Hosenrolle, um den Charakter ihres Verlobten (Lelio), den sie - ohne ihn zu kennen - heiraten soll, zu erkunden und ihn auf die Probe stellen, bevor sie mit der Heirat ihr Vermögen hergeben muss. Denn die Ehe ist ein Geschäft, die Geschlechterbeziehungen gleichen einer Maskerade. Der Hosenrollen- Chevalier ist - wie die clevere Doña der comedia - eine überlegene Gestalt, dirigiert die Intrige, weiß sich immer wieder in der eleganten Sprache der Pariser Salons aus der Affäre zu ziehen. Aus der Perspektive des männli- 55 Lessing: Der Misogyne, S. 330. 56 Ebd., S. 332. 57 Ebd., S. 338. 58 Ebd., S. 338. 59 Lessing: Der Misogyne, S.1122 in der (erweiterten) Fassung von 1767. Maske und Rollenfach 177 chen Autors konzipiert, wird die Hosenrolle als Mittel im Geschlechterdiskurs benutzt, um Ehepositionen wie einen Vertrag auszuhandeln. Eher rational und überlegt als spielerisch tastend, führt das zu festen Rollen (die Liebende als Intrigantin in Männerkleidern, eine galante Version der Picara) und Szenen. Die Hosenrolle wird im 18. Jahrhundert durchsichtiger, wenn sehr früh im Stück klar wird, dass es eine Frau ist, die als Mann in der Hosenrolle agiert. In Goldonis Il Servitore di due Padroni (1745, dt. Der Diener zweier Herren) wird, wie vielfach in der Comedia dell'arte schon zu Anfang enthüllt, dass Federigo realiter seine verkleidete Schwester Beatrice ist (der schlaue Wirt Brighella erkennt sie und teilt es dem Publikum mit). Beatrice/ Frederigo reist ihrem Liebhaber Florindo, der des Mordes angeklagt worden ist, nach und beide nehmen ohne voneinander zu wissen im selben Gasthaus Quartier. Beatrices Diener Truffaldino nimmt auch bei Florindo Dienst an. Truffaldino führt wie zufällig die beiden Liebenden zusammen, er darf dann auch das Kammermädchen Smeraldina heiraten. Die besondere Komik des erfolgreichen Stückes speist sich aus der Doppelrolle des Dieners zweier Herren, weniger aus der Hosenrolle der liebenden Beatrice, die hier sentimentalisiert und zu einer Nebenepisode geworden ist, wie denn auch Lessing in der Anlehnung an Typen und Episoden dieser und anderer Komödien Goldonis in seiner Minna von Barnhelm (1767) die Protagonistin nicht mehr in einer Hosenrolle auf die Bühne bringt. Die Mode der burlesken Hosenrolle im anspruchsvollen Sprechtheater klingt aus. V. Burleske Spielfreudigkeit, gender-bending und Sentimentalisierung Im Theater des 17. Jahrhunderts fingierte die Hosenrolle als Spiel mit der listigen Verstellung und Verkleidung das Gebaren und Gewand des anderen - männlichen - Geschlechts und karikierte das der Frau und oft auch des Mannes, eine Spiegelung der kulturell zweigeschlechtlichen Welt im Theater. Die Hosenrolle gehörte hier zur Spielfreudigkeit, zum Spiel im Spiel, zur Vorliebe der geselligen Maskeraden, bei denen Stand, Beruf, mythologische Figur und Geschlecht vertauscht oder neu erfunden werden konnten. Geschlechtertausch lieferte das Material für Komik, Dramatik und Theatralik aller Art. Bei den (durchweg männlichen) Autoren (Aphra Behn und die Gottschedin als einzige weibliche Theater-Autoren der Zeit lieferten keine Hosenrollen) interessierte nicht die Mimesis der als Männer verkleideten Frauen, sondern der komische Spieleffekt der Inversion, Kontrastierung, Verzerrung und Verwirrung - und die reiche Tradition geschlechtsspezifischer Typologien und Charakterzüge, die es zu verdrehen galt. So bildeten sich besonders zwei Typen von Hosenrollen im frühneuzeitlichen Drama heraus, die burleske, listige Picara - die Schelmin als Außenseiterin - und Barbara Becker-Cantarino 178 die liebende, junge Frau, die ihren Verlobten wieder oder einen Auserwählten erobern will. Für das Theater war auch der Eintritt der Schauspielerin als Sexualobjekt interessant, weil lukrativ, wenn in der Hosenrolle die schlanken Mädchenbeine - und mehr - gezeigt werden konnten, die die zeitgenössische Mode bekanntlich bis in die 1920er Jahre bedeckt hielt. Ob aber die Hosenrollen, die unter männlicher Maske auftretenden Frauen, eine utopische, eine potentiell subversive Erweiterung der restriktiven Frauenrollen boten, ist jedoch zu bezweifeln. Sie ließen zwar die verweigerten Möglichkeiten der Frauenrolle durchblicken, konnten aber deren mögliche Realisierung kaum in Aussicht stellen. Im Gegenteil, die vermeintliche Freiheit und Unordnung, die “verkehrte Welt”, wich zumeist einer festen Ordnung und Einübung der Geschlechterhierarchie und bildete am Ende mit der moralischen Schlusssentenz oft noch eine verfeinerte Form der Herrschaft aus. Mit den ernsthaften Geschlechterdiskursen der Aufklärung geht der burleske Spielcharakter der Hosenrolle zurück. Er wird vom Autor instrumentalisiert, und die Forderung der Mimesis verdrängt die experimentelle Spielfreudigkeit des Theaters als Theater. Eine größere Wahrscheinlichkeit der Figuren, der Geschlechterdiskurse, das Lernen über und Erkennen des anderen Geschlechts im Rollenspiel werden wichtiger. Das wird dann auch in der immer undurchsichtiger werdenden Hosenrolle als Zwittermaske in Lessings Misogyn Lessing verhandelt. Es führt jedoch auch zu Typenfiguren und Szenen, etwa - wie schon in der comedia - zur Hosenrolle der verlassenen Geliebten, die ihren Mann wiedererobern will. So in Christian Felix Weisses Amalia (1765), das Lessing im 20. Stück der Hamburgischen Dramaturgie als bestes Lustspiel Weisses gelobt hat. Dagegen verliert die Heroisierung der Hosenrolle wie in Schillers Jungfrau von Orleans oder im Fidelio (die ja auch die Rettung des Geliebten zum Ziel hat) an Interesse. Und auch in diesen Stücken motiviert die Liebe die Frau in Hosen, nicht das Spiel mit Genderrollen: Schillers Johanna wird durch die Macht der Liebe ent-heroisiert, die treue Leonore benutzt die Hosenrolle als Verkleidung, um den geliebten Ehemann aus dem Gefängnis zu befreien. Diese Sentimentalisierung der Hosenrolle wird dann der Stoff in der Oper und Operette von Rigoletto bis zum Rosenkavalier und im Film des 20. Jahrhunderts als besonders erotisch attraktives Rollenfach wiederbelebt und popularisiert. 60 Das alte Rollenfach der Hosenrolle wird im Zeitalter multipler sexueller Rollen und Befindlichkeiten in einem Film wie Albert Nobbs neu ausprobiert 60 Hierzu die informativen Arbeiten von Marion Linhardt, besonders: Inszenierung der Frau - Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900. Tutzing 1997 (=Publikationen des Instituts für Österreichische Musikdokumentation 19), S. 108- 166 und Kordula Knaus: „…niemals die Grenzen des Schönen überschreiten…“. Die Hosenrolle in der Operette. In: Martina Oster/ Waltraud Ernst/ Marion Gerards (Hgg.): Performativität und Performanz. Geschlecht in Musik, Theater und MedienKunst. Berlin 2008 (=Focus Gender 8), S. 275-284. Maske und Rollenfach 179 und zwar von einer alternden Schauspielerin (Glenn Close ist 64), die seit zehn Jahren an der Realisierung dieser Filmidee gearbeitet hat und wohl auch die Altersbegrenzung ihrer eigenen Karriere aufsprengen möchte. Denn für die alternde Schauspielerin gibt es auch im Zeitalter der unbegrenzten theatralischen Möglichkeiten kaum interessante Rollen, es sei denn sie findet - wie jetzt Meryl Streep - die Biografie einer gestandenen Politikerin (in der Rolle von Margaret Thatcher) in dem Film The Iron Lady. Dieser Film hat keine Hosenrolle, sondern zeigt ein “klassisches Helden-Epos” wie Hollywood es liebt: “Die erste Frau an der Spitze einer westlichen Weltmacht, ein gewonnener Krieg, ein Bombenattentat auf ihr Leben…”. 61 Und Meryl Streep erhielt einen Oscar in der “weichgezeichneten” Rolle der “eisernen Lady” Thatcher, eine Rolle, die alle heutigen Gender-Klischees zu männlich/ weiblich zu bündeln scheint. Glenn Close in der Hosenrolle als Albert Nobbs wurde ebenfalls für dieselbe (jährliche Runde der) Academy Awards von 2012 nominiert, verlor aber gegen Meryl Streep als “Maggie Thatcher”. Auch findet eine Reihe von (männlichen) Bloggern und professionellen Film-Kritikern die Hosenrolle von Glenn Close wenig attraktiv und überzeugend: Zu viele verkleidete Frauen seien in dem Film unter sich, fade, der ganz große Sex bleibe aus, alle Genderrollen seien eh und je aufgeweicht und performativ, und wer will sich schon mit dem Altern abgeben? Anscheinend entspricht die Hosenrolle, die einen alternden, wenig erfolgreichen und wenig energisch auftretenden Mann darstellt, nicht unseren Erwartungen an die Geschlechtermaskerade. Wie die vorhergehenden Ausführungen zur Theatergeschichte der Hosenrolle gezeigt haben, ist nämlich gerade die Mischung von weiblicher, sexueller Attraktivität und Jugend wichtig, um die alten genderspezifisch kodierten Erwartungen im Theater und auch unsere heutigen (noch immer) im Film zu bedienen. 61 Carsten Volkery: Meryl Streep als Maggie Thatcher: Eiserne Lady, weichgezeichnet. In: Der Spiegel, 30. 11. 2011. Marion Linhardt, Bayreuth Verwandlung - Verstellung - Virtuosität. Die Soubrette und die komische Alte im Theater des 19. Jahrhunderts I. Annäherung: das ‘nicht-ernste’ weibliche Fach im 19. Jahrhundert Die Soubrette, das jugendliche weibliche Fach heiterer oder komischer 1 Ausrichtung, war im 19. Jahrhundert gleichermaßen Gegenstand des besonderen Interesses des Publikums wie der literarischen und theaterhistorischen Reflexion. 1890 erschien anonym das Feuilleton Wiener Soubretten, das - ausgehend von einer Anekdote über die berühmte Pariser Soubrette Anna Judic - grundsätzliche Überlegungen zur ausgeprägten Zeitverhaftetheit der Wirkung nicht-ernster Rollenfächer anstellte: Man erzählt sich von der Madame Judic, dieser Uebermüthigsten unter all’ den Uebermüthigen, welche auf den Bretern [sic] der Pariser Theater das bunte Feuerwerk ihrer Launen spielen ließen, daß sie eines Abends, nachdem sie gerade wieder mit stürmischem Erfolge eine Rolle creirt und der Vorhang unter dem Jubel des Publicums gefallen war, weinend in ihre Garderobe zurückkehrte. Der Liebhaber, welcher gerade Dienst hatte, erwartete sie in der Garderobe und wußte sich vor Erstaunen nicht zu fassen. Er versuchte sie zu trösten. ‘Aber Anna - warum um des Himmels willen weinst Du? Was kann Dir zum Glücke fehlen? Die Gunstbezeugungen des Publicums und hier das so heißersehnte Brillantcollier, das ich soeben gekauft habe...’ - ‘Oh, das ist Alles schön,’ antwortete sie schluchzend, ‘aber... aber ... ich werde keine - Geschichte haben.’ Und das ist wahr. Die Soubretten haben in der Regel keine Geschichte. Die bedeutenden Schauspieler in den ernsten Fächern brauchen keine Sorge zu haben - sie werden auch nicht mehr vergessen, wenn sie aufgehört haben, zu wirken, und die Tradition ihrer Rollenauffassungen macht dieses Wirken zu einem auch für spätere Zeiten bleibenden; die Nachwelt f l i c h t heutzutage dem Mimen Kränze. Aber die l u s t i g e Bühnenkunst ist immer noch die Eintagsfliege geblieben, welche die ganze Schauspielkunst einstmals war. Nichts wechselt so rasch als die Arten des Humors, und alle zehn Jahre ist man auf eine andere Art lustig und versteht die Lustigkeit der früheren zehn Jahre nicht mehr recht. Die heiteren Stücke, über welche die Generation vor 1 Zur Differenzierung heiter/ komisch vgl. Marion Linhardt: Bauernfeld und Nestroy, oder: Übertretungen der Ordnung. Konzepte für ein nicht-ernstes Wort- und Körpertheater im Wien der 1830er Jahre. In: Nestroyana 28 (2008), S. 8-27. Marion Linhardt 182 uns gelacht, wollen nicht mehr voll auf uns wirken, ihre Späße sind verblaßt, ihre Anspielungen unverständlich geworden. Und so gibt es auch keine weitreichende Tradition der Kunst, die Rollen in solchen Stücken darzustellen. So ist denn die Soubrette ein Kind des Tages, wie die Stücke, in denen sie spielt, und sie schwindet mit dem Tage. 2 Um die hier thematisierte Flüchtigkeit und Zeitverhaftetheit der Soubrettenkunst kreist implizit auch die gänzlich anders geartete Analyse, die Leopold von Sacher-Masoch in seinem Feuilleton Soubretten von 1873 3 vorgelegt hat. Als Ausgangspunkt für seine ausführliche Auseinandersetzung mit dem spezifischen darstellerischen Vermögen Josefine Gallmeyers und Marie Geistingers hält Sacher-Masoch fest: Aber Soubrette und Soubrette sind zwei verschiedene Dinge wie es Primadonna und Primadonna, ja Frl. Ziegler 4 und eine Birne nicht sind. Eine Soubrette spielt immer nur sich selbst - auf der Bühne. Ihr wird nicht wie der Heldin, der Liebhaberin, der Naiven von ihren Rollen die Charaktermaske des Lebens gleichsam aufgenöthigt, sondern sie modelt vielmehr umgekehrt alles, was sie darstellt, nach ihrer kleinen Person. Sie muß also, wenn sie halbwegs Bedeutung erlangen soll, ein O r i g i n a l sein. Hier liegt das Geheimniß des Erfolges einer G a l l m e y e r verborgen. Die G a l l m e y e r ist mehr als jede Soubrette, ein O r i g i n a l , und zwar ein g e n i a l e s Original. Für die Laufbahn jeder einzelnen Vertreterin des Soubrettenfaches barg die Flüchtigkeit der Wirkungsmöglichkeiten dieses Faches eine zusätzliche und ganz persönliche Dimension, die Dimension des Alterns nämlich. Welche Optionen boten sich einer Darstellerin, wenn sie für die Partien dieses Faches nicht mehr besetzt wurde, besetzt werden konnte? Diese Frage berührt einen psychologisch wie ästhetisch überaus komplexen Vorgang aus dem Theateralltag, und zwar den Übergang aus einem jugendlichen in ein älteres Fach. In dem von Philipp Jakob Düringer und Heinrich Ludwig Barthels 1841 herausgegebenen Theater-Lexikon ist im Eintrag “Rollenfach” diesem Sachverhalt ein eigener Passus gewidmet: Ein höchst wichtiger Moment im Leben eines Schauspielers ist der Uebergang aus den jugendlichen Rollenfächern, der namentlich den Damen ec. schwer fällt, wichtig und entscheidend für seine ganze Zukunft; es kommt sowohl auf die Wahl der künftigen Sphäre, als auch auf den Zeitpunct des 2 Wiener Soubretten. In: Die Presse (Wien), 8. November 1890, S. 1 f., hier S. 1. - Das Feuilleton wurde anlässlich des Erscheinens von Adolph Kohuts Bändchen Die größten und berühmtesten deutschen Soubretten des neunzehnten Jahrhunderts (Düsseldorf [1890]) veröffentlicht. 3 Soubretten. (Nach dem Leben gezeichnet von [Leopold von] Sacher-Masoch.). In: Morgen-Post (Wien), 18. Juli 1873. 4 Gemeint ist hier die berühmte Tragödin Clara Ziegler. Verwandlung - Verstellung - Virtuosität 183 Ueberganges viel an, u. es läßt Mancher aus Mangel an Selbstkenntniß od. Eitelkeit eine günstige Gelegenheit vorbeigehen, sich in einem andern Fache zu versuchen, welche ihnen nicht leicht wieder geboten wird. Je später man sich zum Uebergange entschließt, mit desto mehr Schwierigkeiten wird man zu kämpfen haben, und desto unsicherer wird natürlich der Erfolg sein. 5 Als gleichsam ‘natürliche’ Folge des Soubrettenfaches erscheint im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts das Fach der komischen Alten. Überblickt man jedoch das Personal, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert die nicht-ernsten weiblichen Fächer auf deutschsprachigen Bühnen vertreten hat, dann fällt auf, dass viele der renommierten und mit kanonisierten Bühnenstücken verbundenen Soubretten den Schritt ins Fach der komischen Alten gar nicht vollzogen. Einige von ihnen heirateten und zogen sich früh ins Privatleben zurück (Adele Muzzarelli, Kathi Schiller, Anna Grobecker, Antonie Link, Caroline Finaly), andere wechselten das Betätigungsfeld - zur Theaterleitung wie Dora Keplinger-Eibenschütz oder in die Schauspiel- und Gesangspädagogik wie Rosa Streitmann. Ins ernste Schauspielbzw. ins Opernfach gingen Marie Geistinger und Amalie Materna über. Die zu ihrer Zeit vielleicht prominentesten Soubretten starben jung: Therese Krones und Ernestine Wegner. Auch Josefine Gallmeyer erlebte den Übergang zur komischen Alten nicht mehr. Unter denjenigen Soubretten, die tatsächlich ins ältere komische Fach wechselten - genannt seien Caroline Günther-Bachmann, Ottilie Genée, Lotte Mende, Anna Schramm, Amalie Schönchen, Mathilde Hoppe-Regéno, Johanna Junker-Schatz, Lori Stubel, Agnes Lang- Ratthey, Louise Martinelli, Hermine Jules, Minna Forti-Hensel, Ida Buse, Lina Bach-Bendel, Marie Anatour, Viktoria Pohl-Meiser, Marie Grimm-Einödshofer -, 6 unter diesen also finden sich nicht viele, die im älteren Fach einer größeren Anzahl von Rollen ein ganz spezifisches Profil verliehen, deren Stil und darstellerische Persönlichkeit sich also zumindest in Spuren in Stücken auffinden lassen könnten, zu deren Uraufführungsensemble sie gehörten. Verbreitet war vielmehr die Beschäftigung in traditionellen Partien des älteren komischen Faches, etwa als Millerin in Kabale und Liebe, Marthe Schwerdtlein in Faust oder Amme in Romeo und Julia. Die Dramatik des Naturalismus eröffnete daneben ein Spektrum von Partien, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer deutlichen Ausdifferenzierung des Faches der komischen Alten beitrugen und dessen Anforderungsprofil veränderten. Ein völlig neues Betätigungsfeld bot sich darüber hinaus im modernen Medium Film. Immerhin erwähnt sei an dieser Stelle, dass zwei der 5 Art. “Rollenfach”. In: Ph[ilipp] J[akob] Düringer/ H[einrich] [Ludwig] Barthels (Hgg.): Theater-Lexikon. Theoretisch-practisches Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters. Leipzig 1841, Sp. 941-943, hier Sp. 942 f. 6 Für (leider nicht durchwegs fehlerfreie) Basisinformationen zu den hier genannten Darstellerinnen vgl. Ludwig Eisenberg: Großes Biographisches Lexikon der Deutschen Bühne im XIX. Jahrhundert. Leipzig 1903. Marion Linhardt 184 herausragenden komischen Alten des 19. bzw. des frühen 20. Jahrhunderts nicht aus dem Soubrettenfach, sondern aus dem Fach der Liebhaberin bzw. aus dem schweren tragischen Fach kamen, nämlich Amalie Haizinger und Adele Sandrock. 7 Wenn bisher ganz selbstverständlich vom Fach der Soubrette gesprochen wurde, dann erhebt sich die Frage, wie dieses Fach im 19. und frühen 20. Jahrhundert eigentlich bestimmt war, das Doerry zusammenfassend als “das ausgesprochen französische Fach der verschmitzten, kokettierenden und intrigierenden Kammerzofe” definiert. 8 Die vorherrschende Auffassung von der Entwicklung des Rollenfachsystems im deutschsprachigen Raum lautet bekanntlich, dass das Soubrettenfach seit dem 19. Jahrhundert im Schauspiel - genauer: im Lustspiel - nur noch von untergeordneter Bedeutung gewesen und dass an seine Stelle im Fachsystem die “muntere Liebhaberin” getreten sei. 9 Den hauptsächlichen Spielraum der Soubrette habe nun das ‘neue’ Genre Operette und bis zu einem gewissen Grad die Oper abgegeben. 10 Und wirklich waren viele der genannten Darstellerinnen Operettensoubretten, wie Grobecker, Geistinger, Link, Finaly, Streitmann. 11 Viele waren es aber auch nicht, und selbst jene Soubretten, die in der Rückschau in erster Linie mit der Operette in Verbindung gebracht werden, verfügten in der Regel über ein breites Repertoire außerhalb dieses Genres. Das Fachverständnis, das die Lustspielsoubrette in erster Linie dem Theater des 17. 12 und 18. Jahrhunderts zuordnet, geht von dem eng gefassten Typus der koketten, selbstbewussten und womöglich intriganten Zofe aus. Für Nachweise der entsprechenden Begriffsverwendungen kann an dieser Stelle auf Urs Mehlin 7 Zu Adele Sandrocks spezifischer Deutung des Faches der komischen Alten vgl. Thomas Klein: Komödiantinnen im frühen 20. Jahrhundert: Liesl Karlstadt und Adele Sandrock. Alfeld 1999 (=Aufsätze zu Film und Fernsehen 66). 8 Hans Doerry: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. Berlin 1926 (=Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte 35), S. 23. 9 Vgl. ebd., S. 23 f., sowie L. S.: Art. “Soubrette”. In: Robert Blum/ Karl Herloßsohn/ Hermann Marggraff (Hgg.): Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Neue Ausgabe. Altenburg/ Leipzig 1846, Bd. 7, S. 11. 10 Vgl. zu den Entwicklungen des Fachverständnisses die einschlägigen, in einigen Punkten aber durchaus revisionsbedürftigen älteren Arbeiten: Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Nachdr. d. Ausg. Leipzig/ Hamburg 1913. Nendeln/ Liechtenstein 1978 (=Theatergeschichtliche Forschungen 25); Doerry 1926. 11 Vgl. zu diesen Darstellerinnen und zu weiblichen Fächern in der Operette Marion Linhardt: Inszenierung der Frau - Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900. Tutzing 1997 (=Publikationen des Instituts für österreichische Musikdokumentation 19). 12 Typische Soubrettenpartien des 17. Jahrhunderts finden sich etwa in den comédies Molières. Verwandlung - Verstellung - Virtuosität 185 verwiesen werden. 13 Soubrettenpartien dieses Typs wurden nach dem 18. Jahrhundert tatsächlich selten. 14 Während also das “literarische Fach” des munteren und pikanten Kammermädchens im 19. Jahrhundert weitgehend verschwunden war, war das “darstellerische Fach” 15 der Soubrette ein konstitutives Element des Fachsystems und damit des Personalbestands der Theater, und zwar - wie bereits angesprochen - keineswegs nur in der Sparte Operette/ Spieloper. Zu fragen ist daher: Was war das dem “darstellerischen Fach” Soubrette entsprechende “literarische Fach” Soubrette im 19. und frühen 20. Jahrhundert? Oder anders formuliert: was spielten jene Darstellerinnen, die man seinerzeit als Soubretten zu bezeichnen pflegte? Soweit sich die Forschung überblicken lässt, ist die Soubrette des 19. Jahrhunderts bislang kein Gegenstand systematischer repertoiregestützter Überlegungen gewesen. Ich möchte daher in einem zweiten Teil eine Charakterisierung des Soubrettenrepertoires des mittleren und späten 19. Jahrhunderts jenseits der Operette versuchen. Ein letzter Teil widmet sich mit Therese Braunecker- Schäfer einer Darstellerin, die den Übergang von der Soubrette zur komischen Alten vollzogen hat und deren Spiel als Alte sich in einer größeren Gruppe kanonisierter Stücke zumindest erahnen lässt: sie war die komische Alte in den “Klassikern” der Wiener Operette der späten 1870er und frühen 1880er Jahre, darunter in den Stücken Johann Strauss’, Franz von Suppés und Karl Millöckers, deren dramatisch-szenisches Erscheinungsbild von dem Librettisten-Duo Richard Genée und F. Zell geprägt wurde. II. Soubrettenpartien des mittleren und späten 19. Jahrhunderts - nicht in der Operette Anhand von Theateralmanachen, historischen Nachschlagewerken, Spielplanverzeichnissen ausgewählter Theater und der zeitgenössischen Presse lässt sich für die Vertreterinnen des Soubrettenfaches auf deutschsprachigen Bühnen ein breites, aber doch überschaubares Feld von Standardpartien ermitteln: Partien, die von vielen der genannten Darstellerinnen übernommen wurden, in Stücken, die sich auf den Spielplänen zahlreicher Bühnen fanden. Zwei Gruppen von Partien sind dabei recht einfach zu fassen. Bei der ersten handelt es sich um der Vertreterin des Soubrettenfaches zugeord- 13 Urs H. Mehlin: Die Fachsprache des Theaters. Eine Untersuchung der Terminologie von Bühnentechnik, Schauspielkunst und Theaterorganisation. Düsseldorf 1969 (=Wirkendes Wort. Schriftenreihe 7). 14 Ein bis in die Gegenwart bekanntes Beispiel für die Lustspielsoubrette ist die Franziska in Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück. An ihr stellt die zitierte ältere Forschung allerdings bereits Züge der munteren Liebhaberin fest. 15 Die für die Analyse überaus praktikable Unterscheidung von “literarischem” und “darstellerischem” bzw. “schauspielerischem” Fach hat Diebold vorgeschlagen; Diebold 1913, S. 9f. Marion Linhardt 186 nete Rollen in Zauberspielen Ferdinand Raimunds und Possen Johann Nestroys, die längerfristig Bestandteil der Repertoires deutschsprachiger Bühnen blieben, wie die Rosa in Der Verschwender (1834), die Salome in Der Talisman (1840) und die Kathi in Der Zerrissene (1844). Die zweite Gruppe von entsprechenden Partien gehört zu den vor allem mit dem Namen Ludwig Anzengruber verbundenen äußerst populären Dorf-, Gebirgs- und Bauernstücken des späteren 19. Jahrhunderts, darunter die Anna Birkmeier in Der Pfarrer von Kirchfeld (1870), die Vroni in Der Meineidbauer (1871), die Horlacher-Lies in Der G’wissenswurm (1874) und die Liesel in Die Trutzige (1878). Gemeinsam ist all diesen Partien, dass sie mit ihrer Tendenz zum Ernsten nur bedingt dem entsprechen, was man als charakteristisch für Soubrettenrollen anzunehmen gewohnt ist. Dem Darstellerfach der Soubrette fielen diese Partien offenbar nicht zu, weil sie komisch waren, sondern weil sie lokal waren. 16 Auf diesen Aspekt wird zurückzukommen sein. (Nebenbei: die erwähnten Stücke wurden zwar sämtlich in Wien uraufgeführt, waren aber für das gesamte deutschsprachige Theater von großer Spielplanrelevanz.) Zwischen den beiden genannten relativ homogenen Rollengruppen gibt es eine dritte, weit komplexere Gruppe, mit der ich mich etwas genauer befassen möchte. Es handelt sich gleichsam um den Kernbestand deutscher und österreichischer Soubrettenpartien im mittleren und späten 19. Jahrhundert, an dem sich gerade wegen seiner Heterogenität die Spezifik dessen zeigen lässt, was das Soubrettenfach seinerzeit ausmachte. Zu diesem Kernbestand gehören: Marie in Der Kurmärker und die Picarde, 17 Nandl in Das Versprechen hinterm Herd, 18 Adelaide in Sennora Pepita, mein Name ist Meyer! , 19 einem von mehreren Stücken im Umfeld der mitteleuropäischen Pepita- Manie der 1850er Jahre, 20 die Titelpartie in Therese Krones, 21 Mathilde (Marga- 16 Zum Fach der Lokalsängerin vgl. W. Edgar Yates: Von Thekla Kneisel zu Elise Rohrbeck: Die ‘Lokalsängerinnen’ im Ensemble Carl Carls 1831-1848. In: Nestroyana 31 (2011), S. 19-36. 17 Der Kurmärker und die Picarde, Genrebild (auch Vaudeville) in einem Akt von Louis Schneider, Musik von Hermann Schmidt, UA: Berlin, Königliche Schauspiele 1842. Im Druck: Berlin 1859. 18 Das Versprechen hinterm Herd, eine Scene aus den österreichischen Alpen mit Nationalgesängen von Alexander Baumann, UA: Wien, Hofburgtheater 1848. Im Druck: Wien o. J. 19 Sennora Pepita, mein Name ist Meyer! , Schwank in einem Aufzug mit Gesang und Tanz von Rudolf Hahn, UA: Berlin [? ] 1854. Im Druck: Berlin 1855. 20 Weitere Pepita-Stücke waren: Die falsche Pepita von Joseph Böhm mit Musik von Adolf Müller, UA: Wien, Sommertheater in Fünfhaus 1853; Ein Reise-Abentheuer Pepita’s von Adolf Bahn mit Musik von August Conradi, UA: Berlin [? ] 1854 [? ]. - Therese Braunecker-Schäfer hatte die Titelpartien aller genannten Pepita-Stücke in ihrem Repertoire. 21 Therese Krones, Genrebild mit Gesang und Tanz in drei Akten von Carl Haffner, Musik von Adolf Müller, UA: Wien, Theater an der Wien 1854. Im Druck: Leipzig o. J. Verwandlung - Verstellung - Virtuosität 187 rethe) in Ein ungeschliffener Diamant, 22 die fremde Dame (Helene) in Eine verfolgte Unschuld, 23 Rosa in Eine leichte Person 24 und Lotti Griesmayer in Die Näherin. 25 Eine Analyse dieser und weiterer Partien zeigt: Die Spezifik des Soubrettenfaches im 19. Jahrhundert lag nicht in der Zugehörigkeit der einzelnen dramatischen Figuren zu einer bestimmten sozialen Schicht oder einer Berufsgruppe, sondern in den Anforderungen bezüglich der darstellerischen Mittel, über die die betreffenden Künstlerinnen verfügen mussten. Hinsichtlich ihrer Position innerhalb einer gegebenen Bühnengesellschaft repräsentieren die bezeichneten Figuren durchaus unterschiedliche Typen. Die französische Bäuerin Marie ist eine selbstbewusste und etwas kokette Person, die sich in der Begegnung mit einer “fremden Kultur” in Gestalt des vorübergehend bei ihr einquartierten preußischen Soldaten Friedrich Wilhelm Schulze bewähren muss; der steirischen Sennerin Nandl gelingt es durch eine List und mit Hilfe des affektierten Berliner Sommerfrischlers von Strizow, vom widerstrebenden Vater ihres Herzallerliebsten Loisl die Einwilligung in ihre Hochzeit zu erhalten; Adelaide, eine begabte junge Schauspielerin, erkämpft sich durch geschicktes Rollenspiel jenseits der Bühne ein Engagement bei Theaterdirektor Simson und Simsons Zustimmung zu ihrer Verbindung mit seinem Neffen Eugen und rettet zudem Simsons Geschäft, da sie sich als glänzender Ersatz für die von den Theaterhabitués eingeforderte spanische Tänzerin Pepita de Oliva erweist; Therese Krones, die legendäre Biedermeier-Soubrette, ist in Carl Haffners Genrebild eine lebenslustige und zugleich ‘tragisch’ liebende Person und gegen Ende bereits vom Tod gezeichnet; Mathilde, die eigentlich Margarethe heißt, ist ein ungeschliffenes Landmädchen mit dem Herz auf dem rechten Fleck und widerstrebendes Erziehungsobjekt des Barons Immergrün, dessen Frau sie durch merkwürdige Umstände geworden ist; Helene, die frischgebackene Ehefrau von Isidor Maier, macht als “fremde Dame” Isidors Onkel, den Privatier und Frauenfeind Lorenz Maier, in sich verliebt und kann so nachträglich die Einwilligung des “kurierten” Onkels in ihre Eheschließung erwirken; Rosa, eine ebenso tugendsame wie lebenslustige und lebenskluge Marchandmod’, die von böswilligen Bekannten für eine “leichte Person” gehalten wird, riskiert ihre Existenz und ihre Liebe für den Ruf ihrer Ziehschwester Fanny und wird schließlich rehabilitiert; Lotti Griesmayer, eine geschwätzige Nä- 22 Ein ungeschliffener Diamant, Genrebild in einem Akt nach dem Englischen von Alexander Bergen (d.i. Marie Gordon), UA: Wien, Carltheater 1859. Im Druck: Berlin 1859. 23 Eine verfolgte Unschuld, Original-Posse mit Gesang in einem Akt von Anton Langer, Musik von Karl Franz Stenzl, UA: Wien, Theater am Franz-Josefs-Quai 1862. Im Druck: Wien 1877. 24 Eine leichte Person, Posse mit Gesang in drei Abteilungen von Anton Bittner, Musik von Julius Hopp, UA: Wien, Theater an der Wien 1863. Im Druck: Wien 1865. 25 Die Näherin, Posse mit Gesang in vier Aufzügen von Ludwig Held, Musik von Karl Millöcker, UA: Wien, Theater an der Wien 1880. Im Druck: Leipzig o. J. Marion Linhardt 188 herin, tritt eine Stellung in einem vornehmen Haus an, wo sie irrtümlich für die neue Gesellschaftsdame gehalten wird und für vielerlei Verwirrungen sorgt. Wenn man die Ebene der Narration und der Figurenkonstellation verlässt und die “Soubrettenstücke” gleichsam als vorgängige Notate bestimmter Folgen von Körper- und Stimmpräsentationen begreift, dann tritt eine Reihe von darstellerischen Topoi in den Vordergrund - man könnte auch von Nummern sprechen -, die sich in wechselnder Kombination in sämtlichen untersuchten Stücken finden. Ein erster solcher Topos ist die Tanznummer, die komisch-grotesk und/ oder lokal angelegt sein kann: In Der Kurmärker und die Picarde etwa bilden drei umfangreiche Tänze - eine Contredanse, ein Walzer und ein Zweitritt - den Kern des Geschehens; in Das Versprechen hinterm Herd unterweist Nandl den Berliner Strizow in steirischen Tänzen, die von Loisl auf der Zither begleitet werden; in Sennora Pepita gibt Adelaide jene beiden spanischen Tänze (El Ole, Madrilena) zum Besten, mit denen Pepita de Oliva in den 1850er Jahren in ganz Europa Furore machte; in Therese Krones imitiert die Krones im Rahmen eines Duetts tanzend einen jungen begeisterten Liebhaber; in Ein ungeschliffener Diamant tanzt Margarethe einen Bauerntanz mit ihrem Vetter. Ein zweiter Topos ist die lokal - bäurisch oder alpenländisch - gefärbte Gesangsnummer meist mit Jodler, deren Bedeutung für das Soubrettenfach insbesondere daran sichtbar wird, dass sie auch in städtische Sujets Eingang findet: In Eine verfolgte Unschuld bezaubert die “fremde Dame” den Junggesellen Maier nicht zuletzt mit ihrem Strophenlied “Auf’m Berg und im Tanna-Wald’l” nach der Melodie eines alten Volksliedes, in Sennora Pepita präsentiert sich Adelaide dem Theaterdirektor Simson unter anderem mit einem Alpenlied; für ländliche Sujets ist das Volkslied mit Jodler ohnehin obligatorisch. Der dritte und vielleicht wichtigste Topos ist die Soloszene; sie kann unterschiedlichste Formen annehmen und demonstriert die Verwandlungs-, Verstellungs- oder Imitationskunst, das parodistische oder karikierende Vermögen der Soubrette, ihre Zungenfertigkeit und ihre Fähigkeit, im Stil der Volkssänger- oder Ausrufertradition durch sprachliche und mimische Mittel ganze Szenerien zu evozieren. Die Soloszene war nicht nur integraler Bestandteil ein- oder mehraktiger Stücke, sie bildete zugleich ein eigenes Genre, das im 19. Jahrhundert zumal für jene Etablissements relevant war, die keine reguläre Theaterkonzession besaßen, das aber ebenso auf großen Bühnen gezeigt wurde. Therese Braunecker-Schäfer trat vielfach in den Soloszenen Nach zehn Uhr und D’ Froschmirl auf, Josefine Gallmeyer in Die Köchin als Künstlerin und in Wiener Genrebilder. Typen von Soloszenen, die sich sehr häufig finden, sind erstens der meist durch Eigentümlichkeiten des Dialekts, des Körpergestus, durch ausgeprägte Bildhaftigkeit der Rede und eine spezifische Hinwendung zum Publikum komisch oder grotesk wirkende Monolog, zweitens die solistische Wiedergabe einer Kommunikation zwischen mehre- Verwandlung - Verstellung - Virtuosität 189 ren Personen, die sich in Alter, Geschlecht, Stand, Herkunft und Sprechweise voneinander unterscheiden, drittens die umfangreiche Gesangsnummer, in der - ebenfalls oft mit Rollenwechseln - Episoden aus dem Alltagsleben der Gegenwart karikierend nachgezeichnet oder kommentiert werden, und viertens Nummern, die in der Tradition des Quodlibets stehen. Raoul Auernheimer veranschaulicht die “Komposition” und Wirkung einer Soloszene in einem Feuilleton von 1907 am Beispiel von Josefine Gallmeyers Auftreten in Anzengrubers Die Trutzige: Die Rolle enthält auch eine Einlage, und wenn uns die Figur selbst Aufschluß über den intelligiblen Charakter der großen Künstlerin gibt, so verrät uns die Einlage die höchst persönliche Artung ihres Talents. Es ist ein Sprechcouplet - eine dramatische Form, die sie erst geschaffen. Sie brachte dadurch die Bühne in einen Zusammenhang mit dem wirklichen Leben, auch wenn ihn das Stück nicht hatte. Sie sprang aus dem Rahmen des Stücks heraus, aber sie sprang zugleich mitten ins Leben hinein. Dieser Blick fürs Wirkliche, diese beinahe journalistische Gabe, das tausendfältige Leben blitzschnell in Kunst zu verwandeln, unterschied sie von der Krones, die ja überhaupt an künstlerischen Ausdrucksmitteln im selben Maße ärmer als an Schönheit reicher war wie die Gallmeyer, und deren sanftere, lieblichere Begabung sich zu dem Genie der Gallmeyer verhielt wie ein zartes Altwiener Aquarell zu einer modernen impressionistischen Landschaft. [...] Sie erzählt [im Sprechcouplet in Die Trutzige] eine sehr harmlose und auch gar nicht besonders witzige Geschichte von einer alten Bäuerin, der Bräuningerin, die eine tote Katze, in Papier eingewickelt, übers Feld trug, um den verstorbenen Liebling würdig zu bestatten. Der Domini, ein Müßiggänger, sieht sie und entreißt der Alten das Paket, in der Meinung, es sei etwas Eßbares. Später kommen die beiden zu Gericht, und jetzt beginnt erst die eigentliche Gallmeyer-Komödie. Sie spielt nämlich die ganze Gerichtsverhandlung. Jede der Personen charakterisiert sie durch eine kleine Bewegung, durch eine ursprüngliche Beobachtung. Die alte Bräuningerin ist so mager, daß sie beständig in Angst ist, ihre Röcke zu verlieren, darum rafft sie sie immer alle zusammen, randweis in die Höhe. Die Gallmeyer macht das und zaubert mit einem einzigen Griff, einer einzigen Geste eine alte Bäuerin auf die Bühne. Gleicherweise charakterisiert sie den Domini, der sich immer so übers Kreuz streicht, das ihm aber “nicht vom Arbeiten weh getan hat”, und den Gerichtsadvokaten, der “einmal probiert haben muß, wie ’s Aufhängen tut, denn er fingert noch immer an sein’ Hals herum, als ob ’n dort noch ’s Strickel einschneidet”. So führt sie diese Gerichtsverhandlung durch, indem sie jeden der Teilnehmer auf einen einzigen höchst charakteristischen Zug reduziert und aus drei Gesten ein Drama baut. 26 26 Raoul Auernheimer: Gallmeyer-Denkmal. In: Neue Freie Presse (Wien), 29. Oktober 1907, S. 1-3, hier S. 2. - Das Feuilleton entstand anlässlich der Einweihung des von Theodor Khuen geschaffenen Grabdenkmals für Gallmeyer auf dem Wiener Zentral- Marion Linhardt 190 In paradigmatischer Weise arbeiten die Possen Eine leichte Person und Die Näherin mit Soloszenen der beschriebenen unterschiedlichen Formen; sie wurden auf das besondere stimmliche, mimische und gestische Potenzial von Josefine Gallmeyer und Marie Geistinger zugeschnitten, avancierten aber zu Standards des Soubrettenrepertoires. Ausgehend von den nur grob skizzierten Eigentümlichkeiten von Soubrettenpartien des mittleren und späten 19. Jahrhunderts lässt sich eine These zur Spezifik dieses Faches formulieren: Das entscheidende Charakteristikum des Soubrettenfaches war die Ausstellung virtuoser schauspielerischer Technik in einem durchaus anti-illusionistischen Sinn. Das heißt: die Virtuosität zielte nicht auf die Erzeugung der perfekten Illusion einer Verkörperung, sondern auf die Präsentation der Beweglichkeit der Stimme und des Körpers als Thematisierung von Verwandlungsfähigkeit. In Soubrettenpartien gab es stets Szenen des Rollenwechsels, sei es innerhalb der Narration im Interesse einer List, sei es als einlageartiger Auftritt. In so unterschiedlichen Genretraditionen die untersuchten Stücke stehen - Ein ungeschliffener Diamant und Eine verfolgte Unschuld sind Soubrettenlustspiele, in denen die Soubrette tatsächlich zur munteren Liebhaberin tendiert, Das Versprechen hinterm Herd und Die Näherin gehören zu jenen zahllosen Stücken, die ihre Komik aus dem Gegensatz von Stadt und Land, Bildung und Unbildung, Affektation und Unverblümtheit gewinnen, Therese Krones und Eine leichte Person sind Soubrettenstücke mit moralisierender Stoßrichtung - : in allen vertritt die Soubrette als Virtuosenrolle ein Element des Anti-Illusionistischen und Rampenüberschreitenden, und dies im Kontext durchaus illusionistischer Dramaturgien. III. Eine Rollenfachkarriere: Therese Braunecker-Schäfer In ihrem Nachruf auf Therese Braunecker-Schäfer schrieb die Neue Freie Presse (Wien) am 9. März 1888: “Die Verstorbene, eine Localschauspielerin von scharfem Verstande, vertrat im letzten Decennium das derbkomische Fach mit großer Wirkung, doch ließ sie sich in Folge der stetig abnehmenden Mittel häufig zum Outriren verleiten und verdarb nicht selten den guten Eindruck, den ihre Darstellung sonst hervorgebracht hätte.” Was hier als Outrieren aufgrund “abnehmender Mittel” gedeutet wird, könnte den komischen Effekt der Auftritte von Braunecker-Schäfer wesentlich befördert haben: über lange Jahre lässt sich in der Presse die Begeisterung verfolgen, die ihre Auftritte beim Publikum hervorgerufen haben, während das (Fach-) Urteil der Rezensenten häufig kritisch ausfiel. So finden sich immer wieder Kommentare wie: “kleine Ausschreitungen”, “derbe Ueberschreitungen”, friedhof; Gallmeyer war nach ihrem Tod 1884 zunächst auf dem Matzleinsdorfer Friedhof begraben worden. Verwandlung - Verstellung - Virtuosität 191 “derbe Mittel”, “zu derb”, “höchst drastisch”. Interessant im Hinblick auf Braunecker-Schäfers Rollenauffassung schon im jugendlichen komischen Fach ist eine Einlassung in einem Polizeibericht über die Wiener Vorstadttheater, konkret über das Carltheater, vom Dezember 1857, in dem berichtet wird, sie und ihre Soubrettenkollegin Emma Zöllner hätten einen üblen Ruf als “Wüstlinge”. 27 Therese Braunecker-Schäfer vertrat sei den frühen 1870er Jahren an Wiener Privattheatern zunehmend das ältere Fach. Sie war zu diesem Zeitpunkt beinahe 50 Jahre alt und damit weit älter als das Gros der Soubretten beim Übergang aus dem jugendlichen Fach. Soweit sich das anhand vorläufiger Erhebungen zu den genannten Soubretten des 19. Jahrhunderts nachvollziehen lässt, wechselten diese durchschnittlich im Alter von Anfang Dreißig ins Fach der komischen Alten. Für Braunecker-Schäfer lassen sich eigenständige Rollenschöpfungen als komische Alte - der damaligen allgemeinen Repertoireentwicklung entsprechend - ab jenem Zeitpunkt zuverlässig beschreiben, ab dem der Import Pariser Operetten am Carltheater und am Theater an der Wien in den Hintergrund trat und eine größere Anzahl von Operetten von Wiener Librettisten und Komponisten herauskam, die dezidiert auf die jeweiligen lokalen Ensembles zugeschnitten waren, d.h. etwa ab der Mitte der 1870er Jahre. Im vorangegangenen Jahrzehnt war Braunecker-Schäfers Rollenfachkarriere von einer auffallenden Zweigleisigkeit geprägt gewesen: Während sie im Rahmen ihrer festen Engagements in der Haupt- und Residenzstadt Wien schon ab den frühen 1860er Jahren häufig als ältere Charge besetzt wurde, gastierte sie im gesamten deutschsprachigen Raum weiterhin in den großen Soubrettenrollen, die in den 1840er und 1850er Jahren ihre Glanzpartien gewesen waren, ja sie studierte für ihre Gastspiele jugendliche Partien ein, die an den Wiener Theatern, an denen sie aktuell engagiert war, von anderen Soubretten kreiert wurden, wie etwa die Rollen der jungen Ehefrauen in Ein ungeschliffener Diamant (Emma Zöllner) und Eine verfolgte Unschuld (Helene Weinberger). Braunecker-Schäfer wurde 1825 geboren. Sie begann ihre Karriere in den 1840er Jahren in Wien, zunächst am Theater in der Josefstadt, 28 dann am Theater an der Wien. 1849 wechselte sie ans Königstädtische deutsche Theater Pest, 1851 ans Ständetheater Prag, 1855 kehrte sie nach Wien zurück, und zwar ans Carltheater. Im Spätherbst 1860 folgte sie gemeinsam mit großen Teilen des Carltheater-Ensembles dem Direktor dieser Bühne Carl Treumann, der in vielen Stücken ihr unmittelbarer Partner war, an das neue 27 Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Dokumente. Hg. von Walter Obermaier und Hermann Böhm. Wien 2009, S. 196. 28 “Therese Schäfer (verehelichte Freiin von Brauneker), geb. 3. April 1825 zu Wien, war anfänglich bei dem Balletcorps der Josefine Weiss im Theater i. d. Josefstadt, wo sie 1844 als Localsängerin debütirte und als solche für das Theater a. d. Wien engagirt wurde.” Theatergeschichtliche Ausstellung der Stadt Wien. Wien 1892, S. 166f. Marion Linhardt 192 Theater am Franz-Josefs-Quai, wo sie bis zum Brand dieses Hauses im Juni 1863 blieb. Die ausgedehnten Gastspielreisen mit ihren Soubretten-Paraderollen, die Braunecker-Schäfer neben ihren festen Engagements absolvierte, führten sie in den 1850er und 1860er Jahren an zahlreiche Theater in Deutschland und Österreich-Ungarn, unter anderem mehrfach an das Kroll’sche Theater in Berlin, das Stadttheater Breslau, an das Freistädtische Theater Pressburg, das Hoftheater in Dresden, die Stadttheater Leipzig, Halle und Stettin, das Königlich städtische Theater Brünn, das Graf Starbeck’sche Theater in Lemberg und das Victoria-Theater Magdeburg. Rollen- und Spielplananalysen zeigen, wie die in den 1860er Jahren einsetzende Veränderung des Rollenfachs von Braunecker-Schäfer - oder vielmehr: ihre veränderte Position in den Wiener Ensembles, zu denen sie gehörte - sich im Spannungsfeld von individuellem Habitus und einem grundlegenden Geschmackswandel im Hinblick auf das Soubrettenfach vollzog, einem Geschmackswandel, der durch die immense Popularität der französischen Operette befördert wurde. Die führenden Soubretten - d.h. die Soubretten, die die ersten Partien besetzten - waren während Braunecker-Schäfers Zeit am Theater am Franz-Josefs-Quai und während ihres Engagements am Carltheater von Mitte der 1860er bis Ende der 1870er Jahre Anna Grobecker, Josefine Gallmeyer, Hermine Meyerhoff und Antonie Link. Unter diesen Darstellerinnen tendierte allein Gallmeyer ebenfalls zum derbkomischen Fach; Grobecker, Link und Meyerhoff hingegen - die beiden Erstgenannten übrigens herausragende Hosenrollendarstellerinnen 29 - vertraten einen pikanten und feinen Stil. Stark vereinfacht ließe sich formulieren, dass Braunecker-Schäfer (wie viele der Darstellerinnen des ehemaligen Nestroy-Ensembles) eine Soubrette war, in deren Fall das Halbcharakterfach 30 zum 29 Vgl. dazu Marion Linhardt: En travestie. Hosentragende Frauen auf der Bühne des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Strauß. In: Musicologica Austriaca 29 (2010) [2011], S. 157-170. 30 Das Halbcharakterfach umfasst jene Rollenfächer, die weder den noblen noch den komischen Fächern angehören. Man kann es auch als “galantes” oder “hochkomisches” Fach bezeichnen. Eine anschauliche Definition der Fachgruppen gibt Jean Georges Noverre in seinen Lettres sur La Danse et sur Les Ballets, die in deutscher Übersetzung erstmals 1769 erschienen. Noverre entwirft hier ein Gattungssystem des Dramas und des Bühnentanzes, das Sujet, Stil und Technik gleichermaßen thematisiert und als Modell die Malerei heranzieht. Im 9. Brief heißt es: “Es kömmt also nur darauf an, den Tanz, nach der Würde seines Gegenstandes, oder der Art seiner Gattung, eine höhere oder niedrigere Sprache reden zu lassen. Der ernsthafte und heroische Tanz führt den Charakter der Tragödie. Der vermischte oder halb ernsthafte, den man gewöhnlich Demi-Caracter nennt, gleicht der edlen Comödie, oder dem hohen Komischen, wie man zu sagen pflegt. Der groteske Tanz [...] borgt seine Züge von einer Gattung lustiger und schnakischer Comödien. Die historischen Gemählde des berühmten Vanloo sind das Bild des heroischen Tanzes; die von dem galanten unnachahmlichen Boucher des Demi-Caracters; und die von dem unvergleichlichen Teniers des komischen Tanzes. Das Genie der drey Tänzer, die sich auf diese Gattungen be- Verwandlung - Verstellung - Virtuosität 193 Charakter- oder Groteskfach neigte, während bei Grobecker, Link und Meyerhoff eine Orientierung hin zum noblen Fach zu beobachten ist. Dass die Verdrängung Braunecker-Schäfers aus den ersten Partien eine Frage des Stils und nicht etwa eine Frage des Alters war, belegen die Beispiele Anna Grobecker und Marie Geistinger: Grobecker war nur unwesentlich jünger als Braunecker-Schäfer und wurde doch ganz selbstverständlich für die ersten Partien in den Operetten Jacques Offenbachs und Franz von Suppés besetzt, und Geistinger kreierte noch in einem Alter Soubrettenrollen, in dem Braunecker-Schäfer schon längst auf komische Chargen abonniert war; bei der Uraufführung der Posse Die Näherin, deren Titelfigur 22 Jahre alt sein soll, war Marie Geistinger gegen 50, ihr Partner war der beinahe 20 Jahre jüngere Alexander Girardi. Therese Braunecker-Schäfer gab also aus ensemblestrategischen und stilistischen Gründen schon lange vor ihrem tatsächlichen Wechsel ins alte Fach nicht mehr die ersten Soubrettenrollen. Ihre Position als Charge definierte sich in den Übergangsjahren nicht zuletzt über das jeweilige Verhältnis der von ihr gespielten Partien zu den Partien der führenden männlichen Komiker Carl Treumann (1823-1877), Louis Grois (1809-1874), Wilhelm Knaack (1829-1894) und Karl Blasel (1831-1922), ein Aspekt, der einer eigenen Untersuchung bedürfte. Im Fach der komischen Alten der Wiener Operette konnte Braunecker-Schäfer ihr darstellerisches Potenzial dann offenbar in idealer Weise ausspielen. Anlässlich der Uraufführung von Suppés Boccaccio schrieb das Wiener Fremden-Blatt am 2. Februar 1879: “Frau S c h ä f e r erregte, wie immer, durch ihre resolute Komik stürmische Heiterkeit und bewies im Gesang, daß sie in ihrem Fache keine Konkurrentin habe.” Die für den Kanon wichtigsten unter ihren vielen Rollenschöpfungen als komische Alte entstanden für Prinz Methusalem (Strauss, 1877), Boccaccio (Suppé, 1879), Das Spitzentuch der Königin (Strauss, 1880), Der lustige Krieg (Strauss, 1881), Der Bettelstudent (Millöcker, 1882), Eine Nacht in Venedig (Strauss, 1883), 31 Gasparone (Millöcker, 1884) und Der Zigeunerbaron (Strauss, 1885). sonders legen wollen, muß eben so verschieden seyn, als ihr Wuchs, ihre Physiognomie und ihr Studium. Der eine muß groß seyn, der andere galant, der dritte drolligt. Der erste muß seine Sujets aus der Geschichte und der Mythologie, der zweyte aus der Schäferwelt und der dritte aus dem gewöhnlichen gemeinen Leben schöpfen.” Zit. nach der deutschen Ausgabe: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, vom Herrn Noverre. Nachdr. d. Ausg. Hamburg/ Bremen 1769. München 1977, S. 172f. 31 Die “komische Alte” Agricola, Frau des Senators Barbaruccio, in Eine Nacht in Venedig wurde bei der Berliner Uraufführung des Stücks von Elise Schmidt gegeben; erst in Wien übernahm Therese Braunecker-Schäfer die Rolle. Die Partie war allerdings wohl von Anfang an auf Braunecker-Schäfer als die “komische Alte” des Theaters an der Wien zugeschnitten, die Verlegung der Uraufführung nach Berlin hatte ihre Ursache in Strauss’ Privatleben. Marion Linhardt 194 Was ist komisch an der komischen Alten? Eine Analyse einer größeren Anzahl von Rollen Therese Braunecker-Schäfers fördert drei zentrale Verfahren der Komisierung zutage, die sowohl für die jeweilige Figur als auch für ihre Position innerhalb der Bühnengesellschaft bestimmend sind. Für komische Wirkungen wurde erstens die Leibesfülle genutzt, die Braunecker- Schäfer in fortgeschrittenem Alter aufwies. Die Libretti der betreffenden Operetten machen dabei deutlich, dass eine gewisse Unproportioniertheit des Körpers - es könnte sich ebenso um einen besonders großen und dünnen Körper handeln - für sich genommen noch nicht komisch ist, sondern dass es dazu einer Strategie der Versprachlichung dieser Unproportioniertheit bedarf. Ein anschauliches Beispiel hierfür findet sich in Der Zigeunerbaron. Die Zigeunerin Czipra prophezeit dem Conte Carnero: Verloren hast Du einen Schatz, der war so mager wie ein Spatz, - nicht lange währt’s, du findest was so rund wie ein Zehneimerfaß! 32 Zu Carneros Enttäuschung erweist sich bald, dass der ihm in Aussicht gestellte Schatz nicht in materiellen Gütern besteht, sondern in seiner Ehefrau Mirabella, die er vor 24 Jahren in der Schlacht bei Belgrad verloren hat und nun wiederfindet, mittlerweile der Form eines Fasses ähnlich. Auch in Der Bettelstudent, in dem Braunecker-Schäfer eine verarmte polnische Gräfin und Mutter zweier heiratsfähiger Töchter spielt, 33 und in Prinz Methusalem - hier gibt sie die dominante Gemahlin des Herzogs Cyprian von Ricarac, die es unausgesetzt zum Buffet zieht 34 - wird ihre Leibesfülle immer wieder thematisiert. - Die Komik der komischen Alten ist also einesteils an die äußere Erscheinung gebunden; die zwei anderen Verfahren der Komisierung beziehen sich auf soziale Kategorien. Beide Verfahren basieren auf der Überschreitung sozialer Normen, konkret auf dem Widerspruch zu gültigen weiblichen und männlichen Rollenmustern. Die komische Alte ist entweder ein herrischer, häufig auch zänkischer Ehedrache mit einem Mann, der unter dem Pantoffel steht, oder sie ist gleichsam eine “späte Liebhaberin”, eine alte, hässliche Frau oder Jungfer, die heftig nach Liebe schmachtet und glaubt, allen Männern noch gefährlich zu werden. Zum ersten Typ gehören unter anderem die Sophistika in Prinz Methusalem und die Artemisia in Der lustige Krieg, zum zweiten die Peronella in Boccaccio, die Marquise in Das Spitzentuch der Königin und die Zenobia in Gasparone. Zenobia etwa, die 32 Johann Strauss/ Ignaz Schnitzer: Der Zigeunerbaron. Zensurlibretto. In: Johann Strauss: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Michael Rot. Serie I. Werkgruppe 2. Bd. 11. Wien o. J. [2006], hier S. 724. 33 Karl Millöcker/ F. Zell/ Richard Genée: Der Bettelstudent. Stuttgart 1963. 34 Johann Strauss/ Carl Treumann: Prinz Methusalem. Hg. und kommentiert von Max Auer. O. O. [2005]. Verwandlung - Verstellung - Virtuosität 195 Duenna einer jungen verwitweten Gräfin, wird als “ein älteres geräumiges Frauenzimmer” (I, 8) und als “ein überreifes Frauenzimmer” (II, 4) eingeführt. Sie wird Opfer einer fingierten Entführung durch eine ebenfalls nicht “echte” Räuberbande und muss die Schmach erleiden, dass der von ihr “befürchtete” Angriff auf ihre Keuschheit unterbleibt und nicht einmal Lösegeld für sie gefordert wird. Den unerfüllten erotischen Sehnsüchten Zenobias, die in Gasparone als eine Art running gag fungieren, ist ein ganzer Soloauftritt mit Couplet gewidmet, mit dem sich der Typus der “späten Liebhaberin” exemplarisch illustrieren lässt. Zenobia klagt hier: “O gemeine Prosa des Lebens, wie ekelst du mich an, seit ich in - Räuberhänden war! ” In ihrem Couplet sinnt sie dann dem Erlebnis der Entführung durch die vermeintliche Bande Gasparones nach: Der Blick von diesem Ungeheuer / Schien grausam, wohl, jedoch voll Feuer! Er stand vor mir, so groß und stramm: / Ein Wolf vor einem zarten Lamm! Die Hände zitternd, hoch erhoben, / Fleht’ ich ihn an, den schönen Mann! Er schaut’ von unten mich bis oben / Durchdringend an, und lächelt’ dann; Da fühlt’ ich alle Fassung weichen, / Ohnmächtig sank ich um - doch er Ließ sinken mich - tat nichts dergleichen! / Ach! es gibt keine Männer mehr! Nein, nein, die gibt’s nicht mehr! Ganz hilflos lag ich auf dem Sande, / Dicht neben mir ein Teil der Bande, Die andern weiter - im Gebüsch; / Es war romantisch, malerisch! Bedenk’ ich, was mir konnt’ geschehen, / Erstarret mir noch jetzt das Blut! Vor Angst und Schreck’ wollt’ ich vergehen - / Dahin der Jungfrau Stolz und Mut. Die wilde Schar - auf öder Heide! / Der Augenblick war kritisch sehr! Doch tat mir keiner was zuleide - / Ach! es gibt keine Männer mehr! Keine Männer mehr! Keine Männer mehr! / Nein, nein, die gibt’s nicht mehr! 35 Festzuhalten ist: Sowohl die Frau, die die geltende Geschlechterhierarchie durchbricht 36 und in herrischer Weise die Position für sich beansprucht, die traditionell dem Mann zugeschrieben wird, als auch die Frau, die in einem Alter Begehren artikuliert, in dem sie gewissermaßen nicht mehr als Geschlechtswesen gilt, sind komisch - eine unübersehbar misogyne Perspektive. Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich bei den drei beschriebenen Verfahren um traditionelle Topoi des Komischen handelt - sowohl den 35 Karl Millöcker/ F. Zell/ Richard Genée: Gasparone. Stuttgart 1970, S. 48 f. 36 Einer eigenen Untersuchung bedürfte das komische Potenzial, das im Rollentypus des Pantoffelhelden liegt. Die komische Wirkung der Durchbrechung von Geschlechterhierarchien wäre außerdem an der Praxis des 19. Jahrhunderts zu verfolgen, Männer in Frauenrollen auftreten zu lassen. Ein versierter Spieler von Frauenrollen mit grotesker Wirkung war in Wien Carl Treumann. Marion Linhardt 196 komischen, da von geltenden Normmaßen abweichenden Körper als auch die liebestolle alte Jungfer und das zänkische Eheweib findet man über die Jahrhunderte im komischen Theater. Hier hätte in Bezug auf die komische Alte eine Längsschnittuntersuchung anzusetzen: sie müsste die wechselnden Geschlechterdiskurse etwa des 18., des frühen und des späten 19. Jahrhunderts reflektieren, 37 um zu einer Bewertung je aktueller komischer Wirkungen zu gelangen. 37 Für Überlegungen zur Auseinandersetzung der Genres Lustspiel und Posse mit sich verschiebenden Geschlechterkonzeptionen vgl. Marion Linhardt: Das Weibliche als Natur, Rolle und Posse. Sozio-theatrale Tableaus zwischen Shakespeare und Nestroy. In: Theaterkulturen - Kulturtheater (=LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie, Nummer 6 [Juni 2011]), S. 35-61, http: / / lithes.uni-graz.at/ lithes/ beitraege 11_06/ marion_linhardt_weibliche_natur.pdf. - Dort auch Hinweise auf weiterführende Literatur. Hans-Peter Bayerdörfer, München Judenrollen: Reflexionsinstanzen im Fächersystem Promemoria zum Jahre 1945 In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war in Deutschland Lessings Nathan das Schibboleth für den kulturellen Wiederanfang des deutschen Theaters. Das Zeichen war bereits am 8. September 1945, mit der Wiedereröffnung des unzerstört gebliebenen “Deutschen Theaters”, der ehemaligen Berliner Bühne Max Reinhardts, gesetzt worden. Auf Beschluss der vier Besatzungsmächte - mit starkem Nachdruck des sowjetischen Stadtkommandanten und verstärkt durch den bereits designierten Intendanten des Hauses, den Remigranten Gustav von Wangenheim - fiel die Entscheidung für Nathan der Weise. Die Titelrolle wurde an einen großen Namen des Theaters der Weimarer Republik, den Remigranten Paul Wegener vergeben, der sie dann bis zu seinem Tod 1948 noch 60 Mal spielte. Regie führte Fritz Wisten, der von 1933-1941 das Theater des Jüdischen Kulturbunds in Berlin geleitet hatte, während der Epoche eines “judenfreien” deutschen Theaters die einzige - ghettoisierte - Bühne, an der für jüdische Theater-Schaffende eine berufliche Existenz und - vorläufiges - Überleben möglich war. Es versteht sich, dass ab Herbst 1945 das Berliner Beispiel Schule machte. Die prominenteste Judenrolle des deutschen Nationaltheaters hatte bei Wieder-Eröffnungen und dann im Repertoire auf Jahre Hochkonjunktur, eine allzu bequeme, rasche “Entschuldigung”, wie namhafte Kritiker meinten, weil sich damit detailliertere Erinnerungsarbeit an die zurückliegenden Theater-Jahre vermeintlich erübrigte. Lange zogen sich hingegen die Kontroversen um Nathans ‘Gegenbild’ Shylock hin, bis sich Mitte der fünfziger Jahre das unmöglich Scheinende ereignete und - u.a. dank des Remigranten Ernst Deutsch - auch Shakespeares Bühnenjude wieder die deutschen Bretter betrat. Die seit Ende des 18. Jahrhunderts klassisch gewordene Konstellation der Judenrollen war wiederhergestellt. Freilich nicht, ohne dass auch dies wieder Fragen aufgeworfen hätte. Zum Ausklang des Jahrhunderts, 1999, hat der Dramatiker, Theaterwissenschaftler und Regisseur Elmar Goerden dann Lessings Vorlage in einen neuen Modus versetzt: Lessings Traum von Nathan dem Weisen. Als Stück über ein Stück geht es von der Probe einer neuen Nathan-Inszenierung aus. Gleich zu Beginn gerät der in der Doppelrolle mit seinem Helden auftretende Autor Lessing, zu dem später als Kontrahent dann Shylock auftreten wird, Hans-Peter Bayerdörfer 198 mit seinem Dramenfinale unter Beschuss. “Wer umarmt denn da wen? ” fragt die Daja-Darstellerin, und ‘Lessing’ erwidert: “Alle alle. Oder was verstehst du unter allseitig? ” Daja gibt sich nicht zufrieden und wendet sich gegen den Sprecher: “Warum antwortest du auf eine Frage eigentlich immer mit einer Gegenfrage? ” und Lessing/ Nathan: “Warum soll ich nicht antworten mit einer Gegenfrage? ” Nach dem Scheitern des Probenprozesses, das in Goerdens Stück geschildert wird, taucht die Doppelfrage dann in den letzten Zeilen noch einmal auf, 1 und dann nimmt man vielleicht auch den diskreten Anklang an das frühere Judendeutsch wahr: die regelhafte Wortstellung des Fragesatzes 2 ist unterlaufen, und damit rückt auch bei der Widerrede von Lessing/ Nathan das Stichwort “Gegenfrage” ans Ende des Satzes und des Stückes. 3 I. Rollenfach - Stand und Problem Ende des 18. Jahrhunderts Nathan und Shylock sind bekanntlich die prominentesten jüdischen Rollen in der Entstehungsphase des deutschen Nationaltheaters. Dass diese in etwa mit der Formation eines im deutschen Sprachbereich überregional wirksamen Systems von Rollenfächern zusammenfällt, 4 wirft die Frage auf, wie sich beide Figuren in das Rollen-System eingegliedert, 5 es modifiziert oder weiter entwickelt haben. Die weitere Frage schließt sich historisch an, wie sie sich, während sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff von zeitgemäß verstandenen ‘Charakterrollen’ geworden sind, zu anderen Judenfiguren verhalten, die in diesem Zeitraum die Bühnen betreten. Diese Fragen führen auf ein Grundproblem des ‘Systems’ und seiner Vorgeschichte, die weit in die italienische und französische Theatergeschichte zurückreicht. 6 So kennt man zwar schon zur Zeit von Kurz-Bernardon 1 Elmar Goerden: Lessings Traum von Nathan dem Weisen. Stück und Materialien. Frankfurt/ Main 2002, S. 11 und 80. 2 Die verbale Klammer zwischen Modalverb und Infinitiv ist preisgegeben. 3 Die Antwort als neue Frage zu formulieren, gehört zu den prägnanten Formen rabbinischer Debatten-Stilistik. Gemäß diesem Finale ist die Ring-Parabel als vernutztes und historisch folgenloses Bildungsgut durch die indische Parabel von den Blindgeborenen ersetzt: sie sollen sich durch Betasten eine Vorstellung von einem Elefanten machen, aber der Disput über das jeweils individuell Ertastete führt zu Mord und Totschlag. 4 “Jetzt erst entstehen eng konturierte, auf wenige Merkmale begrenzte Rollenfächer.” Theaterlexikon. Bd. 2: Epochen, Ensembles, Figuren, Spielformen, Begriffe, Theorien. Hg. von C. Bernd Sucher. München 1996, S. 365. 5 UA 1783, deutsche EA 1777. 6 Für die Rollen-Ordnung der Wandertruppen ist die Nachwirkung des alten italienischen Komödien-Systems zu verzeichnen. Bei stehenden Bühnen ist eher der französische Einfluss bestimmend, d.h. die aus der spannungsreichen Beziehung von Hofbühne und den Pariser städtischen Bühnen hervorgegangenen Rollenschemata, so für die Tragödie beispielsweise roi und reine, sowie père noble, als Herrschaftsrollen, kor- Judenrollen 199 und anderen Virtuosen der Bühne zahlreiche Ausländer-Figuren, die überwiegend sprachlich und schauspielerisch karikierend dargestellt werden, jedoch keine allgemeine Rollen-Kategorie “Ausländer” - aus heutiger Sicht eher ein erstaunlicher Befund für die Zeit der lebhaften Debatte um den Nationalgedanken. 7 Wenn dann Schiller in seiner Mannheimer Rede von 1784 dem Theater ausdrücklich “großen Einfluss auf den Geist der Nation” 8 zuschreibt, so liegt die erneut Frage nahe, ob und wann es unter dem Eindruck der brennenden Probleme einer sozialen und kulturellen Integration der ‘inländischen Ausländer’ zu einem Rollenfach mit der Bezeichnung “Jude” gekommen ist. Eine eindeutige und umfassende Antwort ist freilich kaum möglich, zumal aufs Ganze gesehen wichtige Unterschiede in der Entwicklung der Bühnen dieser Jahrzehnte in Betracht gezogen werden müssen. Wenige Jahre vor Schillers “Schaubühnen”-Vorlesung von 1784 hat das Mannheimer Theater, unter Leitung des Freiherrn von Dalberg, 1779 einen Anstellungsvertrag für August Wilhelm Iffland, der bereits unter Ekhof in Gotha gespielt hat, ausgestellt. Die darin festgelegten schauspielerischen Aufgaben umfassen “komische Alte und CaricaturRollen, auch Juden”. 9 In der Liste der Rollenfächer, die dann für die Einrichtung des Nationaltheaters vorgeschlagen werden, findet man nur “komische Alte”, ohne Zusatz. Dies dürfte besagen, dass karikierende Rollen im Wesentlichen als Erweiterung des Fachs der komischen Alten aufgefasst werden, und die Wendung “auch Juden” bezeichnet eine weitere Spezifizierung. Weitere Belege für diese Zuordnung der jüdischen Rollen, wie sie Gunnar Och anführt, 10 lassen den Schluss zu, dass Juden als Nebenfach innerhalb des generellen Faches “Komische Alte” geführt werden. In einem Jahrzehnt, in dem Auftritte von Juden für Spezialisten bereits vielfach nachweisbar sind, gehören sie nicht als solche in das ‘offizielle’ Fächersystem. Dazu ist freilich im Auge zu behalten, dass dieses sich noch weitgehend in der Phase einer Stabilisierung, respondierend die confidents/ confidentes, mit höfischer oder bürgerlich-städtischer Ausrichtung, dazu die Liebespaar-Figuren mit dezidierter Väter-Söhne-Typologie, und der raisonneur. Die systematische Bedeutung für das deutsche Theater geht aus Lessings Übersetzung von Riccobonis L’Art du Théâtre von 1750 hervor. 7 Vgl. dazu Gunnar Och: Imago judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750-1812. Würzburg 1995, S. 52f. Immerhin wird im modernen Stück, etwa Lessings Minna von Barnhelm, die Frage der Fremdsprache im eigenen kulturellen Bereich ja mit brillanter Rollengestaltung aufgeworfen. 8 “Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? ” In: Rheinische Thalia, H. 1 1785. 9 Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: Judenrollen und Bühnenjuden. Antisemitismus im Rahmen theaterwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hg. von Werner Bergmann. Berlin 2004, S. 315-351, hier S. 325, Anm. 13. 10 Och 1995, S. 91f. Hans-Peter Bayerdörfer 200 noch nicht der verbindlichen Fixierung befindet. 11 Für die Judendarstellung besagt dies, dass sie im Unterschied zu Alten, Liebhabern und anderen weiterhin ‘quasi inoffiziell’, d.h. im Anhang zu den auf Lachwirkung ausgerichteten Fächern genannt werden Dieser Befund ist nun freilich geschichtlich weiter zu spezifizieren, da die Bühnenwelt zwischen Hof- und Wanderbühnen mehrere verschiedene Ebenen aufweist, die sich organisatorisch und kulturell völlig unterschiedlich ausrichten. Auf der einen Seite dominiert eine literarische (bzw. musikalisch-literarische) Bindung, welche mit entsprechenden ästhetischen und theatralen Niveau-Forderungen die höfischen, staatlichen und städtischen Bühnen bestimmt. Hier sind jeweils kultur-repräsentative Gesichtspunkte für die gesamte Aufführungs-Politik maßgebend. Auf der anderen Seite sind die kommerziellen Unterhaltungstheater zu nennen, die in verschiedenster lokaler Ausprägung (auch als Kur- oder Sommer-Theater etc.) betrieben werden und die insgesamt die Art wie auch Aufführungsweise der Stücke nach der Nachfrage regulieren. Zunächst ist von der Nachweisbarkeit der komischen Juden im Repertoire der Wandertruppen auszugehen, wie sie Gunnar Och für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts dokumentiert hat. 12 Sie sind auch auf die festen Bühnen übergegangen, und zwar, dramaturgisch gesehen, in den Hauptrichtungen, “burlesk” und “moralisch didaktisch”, die sich aber auch in Mischformen zusammenfinden. 13 In den 1770er Jahren, werden sie auch für anspruchsvolle, d.h. mit literarischen Ambitionen versehene Hofbühnen von Interesse. Unter diesem Vorzeichen ist bemerkenswert, dass seit 1777 Der Kaufmann von Venedig, oder Liebe und Freundschaft. Ein Lustspiel von Shakespear 11 Johann Christian Brandes’ Promemoria zur Gründung des Mannheimer Nationaltheaters nennt “Jude” in der Rollenaufstellung nicht. Diese umfasst “komischer Alter” und “zärtlicher Alter”, Raisonneur, 1./ 2. Liebhaber, ‘Stutzer und Chevalier’ (nach traditioneller Terminologie Petitmaitre, Fat), 1./ 2.Bedienter, Charakterrolle, zärtliche und komische Mutter, 1.Charakterliebhaberin, 2./ 3.Liebhaberin, 1./ 2. Soubrette (Zofe, Bediente). Die Liste wird dann ergänzt: “Alle weiteren Bedienten, Alten, Vertrauten, Pedanten, Juden, Bauern, Soldaten werden entweder zusätzlich von den Hauptdarstellern oder von besonderen Chargenspielern übernommen.” In: Wilfried Barner/ Gunter Grimm/ Helmuth Kiesel/ Martin Kramer: Lessing. Epoche - Werk - Wirkung. 4. Aufl. München 1998 6 [1975], S. 82. 12 Och 1995 (Kap. I, S. 50-67) verzeichnet 20 Stücke zwischen 1754 und 1778. Das Kapitel enthält zudem Verweise auf entsprechende Themen in der Hamburger Barockoper und in den Stücken des europaweit rezipierten Holberg, sowie die das Interesse an Juden-Szenarien offenbar stimulierende Publizität des Prozesses von Jud Süß (S. 56 f.). 13 Ebd., S. 96; zur Benutzung von Tracht und Maske s. S. 72. Nicht eingerechnet sind die sog. Juden-Ballette, die offenbar weniger genau zu erfassen sind (ebd., S. 94.). Vgl. außerdem Bayerdörfer 2004, S. 324f., sowie Anm. 12 mit Verweis auf Ifflands Bemerkungen zum burlesken Stil einer Aufführung von Die polnische Judenhochzeit, die für Hannover 1764/ 5 belegt ist. Judenrollen 201 [! ], fürs Prager Theater eingerichtet von F.J. Fischer, zur Debatte steht. 14 Gegenüber früher kann jetzt also jenseits des rein stofflichen Interesses mit Shakespeares Text auch ein literarischer, und d.h. auch ein neuer schauspielerischer Anspruch erhoben werden. 15 Dalberg geht mit seinem Vermerk für die Anstellung Ifflands zwar noch von den alte Rollensparten aus, doch dürfte er mit der Anfügung “auch Juden” wohl auch die Aufführung des Kaufmanns von 1777 im Blick haben, so dass man von einer echten Erweiterung der Ausgangsrolle “Alte” ausgehen kann. In der Tat wird Shylock in der Folgezeit - so auch von Iffland in seiner Berliner Direktionszeit - als ‘komische Rolle’ gespielt, zugleich kommt aber - hinsichtlich der Kostümierung, der Körper- und Gesten-Stilistik - auch eine genauere Charakterisierung zeitgenössischer ostjüdischer Traditionsjuden ins Spiel. Mit dieser Verschiebung gewinnt Shylocks große Rede über die Vergleichbarkeit von Juden und Christen (Szene III,1) - “Hat nicht ein Jude Augen? […] Sinne, Neigungen, Leidenschaften? […] wie ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? ” durchaus eine neue Tonlage. Die alte elisabethanische Lachnummer vom Juden, der sich, völlig unberechtigt, mit den anderen Zeitgenossen auf eine Stufe stellt, dürfte - zumindest andeutungsweise - das Thema des multinationalen Zusammenlebens im modernen, von der Aufklärung bestimmten Staatsverständnisses wach rufen. Shylocks Insistenz auf der Gleichheit der menschlichen Gestalten, Völker, Stämme, ist zumindest eine Einladung zu weiterer Reflexion auf dieser Ebene der Staatsräson, mag sie auch weit hinter dem Anspruch, wie ihn Lessings Drama Die Juden von 1749/ 54 formuliert hat, zurückbleiben. Iffland selbst mag in diesem Sinne einen Kompromiss-Weg im Auge gehabt haben: er zieht seinem Shylock das Kostüm des reichen Ausländers, des polnischen Juden an, aber verleiht ihm gestisch-körperlich noch die Komik der ‘Caricatur’ - beides hat ihm heftige Kritik eingetragen. 16 Damit ergibt sich bühnengeschichtlich eine signifikante Situation, denn in den Jahrzehnten nach 1770 zeichnet sich die dann lange andauernde Spaltung im Theaterbereich ab, die sich hinsichtlich der Juden- Darstellung erkennen lässt. Sie wird durch Ifflands Nathan-Darstellung entschieden verstärkt. Geht man zunächst von einem Bereich von Theatern aus, die sich der geistigen Situation der Zeit im weiteren Sinne der europäischen Aufklärung - verpflichtet wissen, so ergeben sich für die Judenrollen nach Kostü- 14 Och 1995, S. 93, Anm. 1. - Über frühere Verwendungen des Shylock-Themas siehe. ebd., S. 55 sowie die Einzelanalysen in Kap. VI (S. 180-207). 15 Elmar Goerden: Der Andere. Fragmente einer Bühnengeschichte Shylocks. In: Hans- Peter Bayerdörfer: Theatralia Judaica (I). Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessing-Zeit bis zur Shoah. Tübingen 1992 (=Theatron Bd. 7), S. 129-161. 16 Zu diskutieren wären in diesem Zusammenhang auch Ifflands eigene Stücke mit jüdischen Rollen, wie z.B. Dienstpflicht (1795), mit positiv gezeichneter Judengestalt. Hans-Peter Bayerdörfer 202 mierung, Gestik und Diktion nachhaltige Veränderungen. Zumindest die Juden von Hauptrollen-Format gewinnen mit dem respektableren Äußeren auch ein erweitertes intellektuelles Profil, das sich nicht zuletzt in einem erweiterten Reflexionsrahmen hinsichtlich der eigenen Lage als Minorität niederschlägt. Die Nebenrollen bleiben demgegenüber eher comic relief Figuren, wie man beispielsweise an den Gestalten von Richard Cumberlands viel gespieltem Drama The Jew sehen kann: die Titelgestalt namens Shewa ist dem seriösen Typ angeglichen, die Dienergestalt verbleibt im lächerlichen Schema. Die weitere Entwicklung verstärkt den Abstand zu den Formen des rein unterhaltenden Theaters, welche die jüdischen Gestalten weiterhin auf Lachnummern hin anlegen. Was die Entwicklung auf den Bühnen der intellektuellen Ansprüche angeht, so erhebt sich die Frage, inwieweit die unter dem Einfluss des Menschenbildes der Aufklärung profilierten Judenrollen wie Nathan oder Shewa nun den Inländern gleichgestellt erscheinen oder allenfalls anderen Nationalitäten, dem Engländer oder Franzosen, als ebenbürtig dargestellt werden. Auch auf dieser Ebene bleiben auf mehrere Jahrzehnte Konfliktfelder erhalten, die sich in bestimmten historischen Situationen auch immer wieder regenerieren. Dafür sind grundsätzliche Vorbehalte gegenüber dem Judentum zu nennen, die in bestimmten Bereichen trotz der Auswirkungen der Französischen Revolution nicht restlos überwunden werden. Ich versuche drei Bereiche ansatzweise zu charakterisieren. 1. Mehr als ein Jahrhundert bleibt ein prinzipieller politischer Vorbehalt bestehen. Der im alten lateinischen Sprachgebrauch liegende Sinn von ‘nationes’, von dem aus auch das Judentum als ‘natio’ verstanden werden konnte, gerät im Übergang zum modernen Verständnis von “Nation”, wie er sich in der Französischen Revolution durchsetzt, in die Krise, nicht nur nicht in Deutschland, sondern europaweit. Der Abgeordnete der Nationalversammlung Clermont-Tonnère, ein Vertreter des Adels in den états généraux, der für die Abschaffung aller Privilegien eintritt, findet in einer Rede 1792 die entscheidende Formulierung: “Dem Juden als Individuum alles, den Juden als Nation nichts”. 17 Der moderne Begriff der Nation trifft demnach auf das europäische Judentum nicht zu, diesem bleibt nur die Akkulturation als staatsbürgerliche Verhaltensweise. Dabei wird die Übernahme der nationalen Bestimmung der Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzt, ohne dass mit der Übernahme dieser Identität zugleich ein rechtlich abgesicherter Minoritäten Status garantiert wäre. 2. Der sprachliche Vorbehalt gegenüber der Judenheit und ihrem Verhältnis zu der Sprache der Mehrheit bleibt ein nicht auszuräumendes Dilemma. Das Hebräische ist Buch- und Kultursprache, die Gebrauchssprachen der jüdischen Minoritäten sind nicht mit Nationalsprachen ebenbürtig 17 Conte Stanislas-Marie-Adélaide Clermont-Tonnère 1757-1792. Judenrollen 203 - ein Problem, das sich in Frankreich aufgrund spezifischer Voraussetzungen der Akkulturation als quantité négligeable erweist, in Deutschland und allen nach Osten hin sich anschließenden Gebieten aber bestehen bleibt und sich als Merkmal der Kulturdifferenz im negativen Sinne verfestigt. Dies ist - theatergeschichtlich gesehen - selbst dann der Fall, wenn sich jüdische Schauspieler, wie jüdische Autoren, geradezu als Sprachmeister der Bühne erweisen. Umgekehrt bleibt die Wertung auch bestehen, nachdem sich vielerorts Volks- und Dialektbühnen entwickelt haben: dem Jiddischen wird in Gestalt des Ostjiddischen ebenso wenig die Anerkennung als nationale Sprache einer Minorität zuteil, wie dem Westjiddischen die Dignität eines deutschen Dialekts. Judendeutsch ist ein ‘Jargon’, d.h. eine heruntergekommene und durch Sprachvermischung verdorbene Sprache. Vor allem auf der Ebene der lokalen Unterhaltungsbühnen hat es den Wert eines comic relief- Elements, dem aber der Beiklang des Diskriminierenden nicht verloren geht. 18 Die Anbindung an inhaltlich entsprechende Stereotyp-Rollen der Bühne trägt zum Erhalt dieser Wertung bei. Eine bezeichnende Kostprobe aus dem 18. Jahrhundert, aus dem Jahr nach dem Erscheinen von Nathan der Weise, kennzeichnet in dieser Hinsicht die Ausgangslage des deutschen Theaters in seiner Reformphase. Iffland bringt 1780 sein Stück Verbrechen aus Ehrsucht heraus, dessen Personenverzeichnis die Nebenrolle eines jüdischen Geldverleihers enthält. Dieser ist geschäftsmäßig nach dem Schema des skrupellosen Eintreibers gezeichnet, sprachlich nach dem “Jargon”: Gottes Wunder! […] Der junge Herr [sein Schuldner] ist ä Freund zu mir, ä rechter Freund. Erst neulich hab’ ich ihn gekleidet - in Londner Raach [Pelz]. […] Uh proper. Ich halt Stück af ihn. […] Uh! Wär ä Schand, als [wenn] es hieß er hat zu thun mit Schloome [dem Geldleiher selbst] und iß nit proper! Apropos ist der Dalles [die Armut, Not] noch Großhafmester [Großhofmeister] bee ach [bei euch]? 19 3. Der rollengeschichtliche Vorbehalt kommt hinzu. Er wirkt bis Mitte des 19. Jahrhunderts als erhebliche Schranke für die Erreichung menschlichdramatischer Parität beim szenischen Spiel. Als große Lücke ist zu konstatieren, dass jüdische Väter und Töchter in allen Theaterbereichen regelmäßig vorkommen, jüdische Mütter hingegen nur im Fach der komischen Alten, so gut wie nie hingegen die jugendlichen Söhne als Liebhaber und Freier. Diese 18 Anat Feinberg: „Weil ich ein Jude bin” - Albert Dulks Lea. In: Hans-Peter Bayerdörfer/ Jens Malte Fischer (Hgg.): Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Tübingen 2008 (= Conditio Judaica 70), S. 89-100, hier S. 94. 19 Ein markantes Ereignis bildet hinsichtlich der Sprachenfrage die Berliner Aufführung von Richard Cumberlands The Jew, in der Iffland die Hauptrolle Shewa spielt. Zu dem Stück sind innerhalb von zwei Jahren drei Übersetzungen erschienen (darunter eine von A. von Kotzebue) die sich nach Benutzung von dialektalen Charakterisierungen der Rolle unterscheiden. Hans-Peter Bayerdörfer 204 Lücke macht deutlich, welche Vorbehalte bei der deutschen - wie allgemein bei der europäischen Mehrheitsbevölkerung - mentalitätsmäßig gegen die Juden im symbiotischen Miteinander bestehen. 20 Die dramatische Kernszene des Liebespaares gibt Aufschluss: In der patriarchalischen Gesellschaft bleibt zwar die Konstellation zwischen nichtjüdischem Liebhaber und jüdischer Geliebter verfügbar; sie schließt mehr oder weniger die Annahme einer Konversion der zukünftigen Ehefrau zum Christentum ein. Das dazu komplementäre Liebes-Paar zwischen Jude und Nichtjüdin entfällt, nicht weniger die Spekulation auf eine Konversion seitens des Mannes. 21 “Letztlich steht die Rolle des liebenden Helden im Theater für den Sieg der Geschichte”, so kommentiert Hans-Joachim Neubauer diesen Sachverhalt, “Größe des Unglücks und des Glücks - beides verweigert die Bühne ihren Juden, als müsse sie mit den Schicksalen geizen, die sie zu vergeben hat”. 22 II. Zum System der Rollenfächer bis zur Jahrhundertmitte In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickeln sich im deutschen Sprachgebiet zahlreiche hofnahe und städtisch getragene Bühnen zu ‘guten stehenden Schaubühnen‘. 23 Sie nehmen für Staat und Gesellschaft einen öffentlichen Auftrag wahr, der mit den Begriffen und Ansprüchen eines ‘Nationaltheaters’ oder - inoffiziell - des ‘Bildungstheaters’ formuliert wird. Für diesen Theaterbereich und sein angestrebtes thematisches wie ästhetisches Niveau sind in dieser Phase ‘typische’ Judenrollen verfügbar. Konsolidierte Rollen-Fächer erlauben eine rasche Einfügung von entsprechenden Spielvorlagen ins Programm, und auch auf schauspielerische Kompetenz für die Darstellung kann man zurückgreifen. Die Rollenfächer, die zur Debatte stehen, sind etwa bis Mitte des 19. Jahrhunderts ästhetisch greifbar, jedoch nicht, ohne dass auch latente wie offene Verschiebungen eintreten. Im ‘Bildungstheater’, in dem nun literarischen Rollen aus Lessings, Cumberlands und Shakespeares Stücken als Modelle dienen, werden die Rollenmuster zunehmend von individueller Charakterisierung überformt, ein Vorgang, der sich ebenso unauffällig anbahnt, wie er sich langfristig nachhaltig auswirkt. 20 Hans-Peter Bayerdörfer/ Jens Malte Fischer: Vorwort. In: Dies. (Hgg.): Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Tübingen 2008 (= Conditio Judaica 70), S. 1-19, hier S. 9. 21 Auf dem Possentheater erscheint der Jude als Liebhaber einer jüdischen Frau, aber auch dann vorwiegend als komische bis lächerliche Gestalt wie etwa in Sessas Die Judenschule/ Unser Verkehr. 22 Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt/ New York 1994, S. 90; s. dazu auch Bayerdörfer/ Fischer 2008, S. 9. 23 Nach Schillers Formulierung, “Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? ” Judenrollen 205 Blickt man auf den zweiten Bereich, die kommerziellen Unterhaltungstheater, die sich kontinuierlich vermehren, so wird für sie die Posse mit Gesang zu einem leitenden Genre, arrondiert von Schwank oder Burleske, wobei für die Gestalt der Possenjude mit einschlägigen Texten auch die bühnengeschichtlich ausschlaggebenden Darstellungen, beispielsweise durch Ludwig Devrient bereitgestellt sind. Außerdem tritt zu der männlichen Zentralgestalt, in diversen Berufsbildern vom Trödler bis zum Börsenmakler, das Arsenal weiterer Familienrollen, die komische Alte, die Liebhaberin als Flittchen-Jüdin, der lächerliche Freier-Jüngling. Aus der Sicht der Institution Theater gesehen, perpetuiert das Fächersystem seine Geltung und Funktion vor allem auf dem Wege der Anstellungsverträge, mittels derer ökonomisch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf das Publikum der jeweiligen Bühne eingestellt wird. 24 Die Rollenfächer unterliegen dabei unterschiedlicher Entwicklung. Während die kommerziellen Bühnen vorwiegend mit der internen Differenzierung von Typen innovative Wirkungen erzielen, lösen sich auf der Ebene der Hofbühnen und der kommunal getragenen Theater ansatzweise schon Ende des 18. Jahrhunderts die Bezeichnungen der Spielrollen von den Schemata der Verträge ab, so dass spezifischere Begriffe, welche der inhaltlichen Differenzierung entsprechen, aufgenommen werden können. Diese Tendenz verstärkt sich mit Klassik und Romantik, weil die individualisierende Nuancierung immer mehr hervor tritt, je stärker sich die Dramenfiguren bürgerlicher Charakter-Interessen anpassen, so dass auch vorgegebene Grobumrisse von stereotypen Rollen mit detaillierter Abtönung versehen werden müssen. 25 Diese Ansätze wirken aber nur langsam, und zwar nur im Bereich der Bühnen mit literarischem Anspruch, und zunächst so gut wie nicht auf die Mehrzahl der kommerziellen Bühnen, die vor allem auf den rasch sich ver- 24 Für die Hofbühnen- und Fest-Aufführungen an den kleineren Höfen Südwest- und Mitteldeutschlands, von Baden bis Braunschweig weist Katharina Keim den für das ganze 18. Jahrhundert in Geltung bleibenden Einfluss des französische Rollen-Systems sowie Gottscheds nach; vgl. Katharina Keim: Von der Bühne ins Buch. Deutschsprachige Übersetzungen französischer Dramatik zwischen Barock und Frühaufklärung (erscheint demnächst). 25 Prinzipiell verliert das System des französischen Klassizismus mit dem Sturm und Drang rasch an Bedeutung. Inwieweit aber die tragischen Sujets der alten Haupt- und Staatsaktionen sich seit Lessing und dem Sturm und Drang auf Shakespearesche Vorgaben umstellen und so in den deutschen Fundus eingliedern lassen, bliebe en détail noch zu untersuchen ebenso die Frage, wie weit sich dabei Fermente für die Individualisierung nachweisen lassen, die zu den späteren Charakterrollen des 19. Jahrhunderts führen. Dass die Shakespeare-Rezeption zudem auch für die dezidiert komischen Figuren, etwa Hanswurst und Pickelhäring, ein neues komödiantisches Spielniveau anboten, wäre ebenfalls zu verfolgen, zumal sich auch andere Einflüsse bestimmen lassen, wie die Wirkung der opera buffa , welche sich teilweise auch auf die breite Auffächerung der Komikerrollen im Wiener Theater zurückführen lässt. Hans-Peter Bayerdörfer 206 breitenden Vorstadtbühnen der Großstädte und den kleineren städtischen Kommunen das Unterhaltungsangebot bestreiten. Dieser Befund steht im Einklang mit der historischen Argumentation, mit welcher in dem Theaterlexikon von Blum, Herloßsohn und Marggraf von 1840/ 46 die rückblickende Bestandsaufnahme der Rollenfächer erläutert wird. 26 Das Lexikon konstatiert eine langsame Veränderung in den einzelnen Bereichen. Jedoch gestatten diese Anpassungen, dass das Rollenfach- System im deutschen Theater bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine relativ feste Form behält. Die Zunahme der stehenden Bühnen mit ästhetischem Anspruch, die wachsenden Anforderungen an die schauspielerische Gestaltung, sowohl im höfisch-repräsentativen wie im kommerziellen Theatersektor, schließlich die zunehmende Bedeutung der Bühnen im öffentlichen Leben - alle diese Faktoren befördern eine strengere Rollenbindung der Akteure, die auch eine mehrfache Spezialisierung mit sich bringen kann. Genau dies führt zur Zuspitzung einer Konfliktlage, die sich zwischen den Schauspielern, zumal den Stars, und den Theaterdirektionen ausbildet. 27 Das Lexikon von Blum, Herloßsohn und Marggraf benennt die kommerziellen Aspekte, die zu einem gewissen “Zunft- und Innungswesens” der Schauspieler führen, aber auch zu ästhetischen und repertoiremäßigen Ansprüchen. So ist ein breites Konflikt-Terrain abgesteckt. 28 Insgesamt setzen sich die Theaterleitungen dabei formell gesehen durch, geraten jedoch im Verhältnis zu den ‘Virtuosen’ ihrer Bühnen, die auf ihre Gastspiel-Reisen Anspruch erheben, immer wieder in Bedrängnis. Diese Konfliktlage ist um 1840 vollkommen etabliert und bleibt auf lange Zeit bestehen. 29 26 Robert Blum/ Karl Herloßsohn/ Hermann Marggraf: Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyclopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Altenburg 1836, 2. Aufl. 1840, S. 222. Genannt werden auf der Männerseite Erste Rollen, Heldenrollen, Charakterrollen, dazu Liebhaber und jugendliche Helden, weiterhin Bonvivants, Chevaliers, Gecken (Komiker), als dritte Gruppe Intriganten und Verräter (Mantelrollen), schließlich Vertraute und Bediente. Weibliche Rollen umfassen Heldinnen, Mütter, Heldenmütter, weiterhin Liebhaberinnen (gestaffelt von erster zu dritter), gefolgt von Koketten, “munteren Liebhaberinnen”, Soubretten, Kammermädchen (naiv, sentimental) sowie komische Alte. 27 “Hatte ein Schauspieler sich in einer bestimmten Rollengattung nur irgend eine Bedeutung erworben, so nahm er kein Engagement an, das ihm nicht das ausschließliche Recht auf alle Rollen dieses Faches zuerkannte” (ebd., S. 222). 28 Ebd. Die gegensätzlichen Interessen haben, nach einer vorbereitenden Wirkung von Dalberg in Mannheim, dann bereits in den Jahrzehnten von Iffland und Brühl, um das Beispiel Berlin aufzugreifen - zu anhaltenden Auseinandersetzungen bis in die 1820er Jahre geführt. 29 Zum diesem Zeitpunkt, 1836/ 1840, wird aber aus der Darstellung des Lexikons auch deutlich, wie stark die ältere Systematik der Rollen vom Prozess der Ausdifferenzierung der Rollenansätze bereits unterlaufen ist. Die inhaltlichen Forderungen, die für die Anstellungsverträge von Belang sind, werden teilweise aus der Hinzufügung von “klein, mittel, groß” ersichtlich. Dass überhaupt an den gebräuchlichen Rollenverträ- Judenrollen 207 Die Frage ist nun, in welchem Sinne sich Judenrollen, die zwar deutlich erkennbar, gleichwohl nicht direkt als solche unter den Rollenfächern aufgeführt sind, innerhalb des Systems bestimmen lassen, so ist noch einmal auf den Begriff der Charakterrolle einzugehen. Er steht schon in der älteren Rollen-Auffassung im Gegensatz zu den Chargen, den schematischen ‘Zuträger’-Rollen. Insofern bezeichnet er eine unaufhebbare Eigenart, die auch Extremwerte erreichen 30 und so im Sinne einer entsprechenden Einschichtigkeit oder Schematik der Person führen kann. Insgesamt stabilisiert sich der Begriff nach und nach als Bezeichnung für die Prägnanz des Individuellen, das eine Rolle gegenüber allem Typischen oder Allgemeinen auszeichnet. 31 Diese Annäherung an einen heutigen Begriff von Charakter schließt aber für den theatergeschichtlichen Zeitraum bis ca. 1848 die ältere Bedeutung des Exzentrikers, die zwischen Außenseiter und Sonderling changiert, nicht aus. Vorwiegend im Sektor der Unterhaltungsbühnen gelten Exzentriker als besondere Zugnummern und werden in deren Rollen-Schematik daher vorgesehen. Die den Genres gemäße Differenzierung, etwa in Schwank- Theatern, aber auch auf den Volks- und Dialekt-Bühnen, lässt dabei durchaus Differenzierungen zu, die sich auch zu speziellen Anlässen, etwa Gastspielen, oder saison-gebunden, etwa in Sommer-Theatern, weiter als Garant des Effekts inserieren lassen. Auch exzentrische Judenrollen fungieren bei solchen Gelegenheiten weiterhin als Attraktion. III. Judenrollen im literarischen Bildungstheater Männliche Juden-Rollen ‘von Charakter’ profilieren sich, indem sie handeln und reden, zugleich als reflektierende und argumentierende Autoritäten. Ihre primären Rollen bilden seit dem ausgehenden 18. Jh. ein polar strukturiertes Feld der Problembildung. Mit Nathan und Shylock ist dieses Terrain markiert, in das man spätere Rollenbilder, etwa Uriel Acosta oder Jud Süß eintragen kann. Die dritte Judenrolle, der bis etwa 1820 noch große Aufgen prinzipiell festgehalten wird, hat primär geschäftliche Gründe, und zwar für beide Seiten der Vertragspartner, ehe eine völlige Neuordnung dann mit der Gründung der Bühnengenossenschaft 1871 in Kraft treten kann. 30 ‘Charakter’ bezeichnet anfangs auch Spieler für ein Sammelsurium von Fällen, die sich nicht der übrigen Ordnung fügen, man braucht einen Buckligen, jemand der ein Tier spielt, etc. 31 Diese Auffassung vom Charakter-Fach beginnt wohl mit Dalberg in Mannheim (s. Blum/ Herloßsohn/ Marggraf 1836/ 1840, S. 222). Die schauspielerische Individualität fundiert den Anspruch des Akteurs, wie auf der Rezeptionsseite den Maßstab für die Leistung. Die Individualisierung der literarischen Rollen und die Amalgamierung des Schauspielers mit dem Rollentypus ergänzen sich zur Maßgabe für die Beurteilung. Hans-Peter Bayerdörfer 208 merksamkeit geschenkt wurde, Richard Cumberlands The Jew, 32 ist charakterlich weniger prägnant und bewegt sich zwischen Altruismus und verzeihlichem Irrtum; sie verliert an Bedeutung, je mehr die beiden anderen an schauspielerischer Verve auf den Bühnen gewinnen. 33 Die Nathan-Rolle wird von Anfang an, d.h. mit der Uraufführung durch Theophil Doebbelin in Berlin 1783, als Verkörperung aufgeklärten Denkens und sittlicher Integrität auf der Bühne verstanden. 34 Dass diese sittliche Vollkommenheit im Verlauf des Stückes schlimmsten menschlichen Erfahrungen ausgesetzt ist, erhöht das Format ins Archetypische von Leiderfahrung und Leidbewältigung. Iffland folgt in der weiteren Ausgestaltung der Bühnenerscheinung Nathans diesem Zug ins Erhabene - mit einer zwischen dezent klassizistischem Faltengewand und jüdischer Kopfbedeckung changierenden Kostümierung, nach dem Entwurf von Wilhelm Henschel. Unter dem Einfluss des Weimarer Bühnenstils wird dieses Profil im 19. Jahrhundert von einer Reihe großer Darsteller weiter getragen, nicht zuletzt von Schauspielern jüdischer Herkunft, wie etwa von Adolf Sonnenthal an der Wiener Burg bis an Schwelle der Jahrhundertwende von 1900. Die Bühnengeschichte Shylocks steht von Anfang an in einer schwierigen Nähe zu dem Bühnenjuden der Wandertruppen und gerät immer erneut zum Schacherjuden, wie man ihn literarisch als Episodenfigur - etwa aus Büchners Woyzeck-Entwürfen -, bühnengeschichtlich als Possenjude, etwa aus Karl Borromäus Alexander Sessas Judenschule seit 1816 kennt. Zugleich steht Shylock aber im Kontext der auf ein Jahrhundert sich verstärkenden Shakespeare-Rezeption, wobei die immer wieder zu Buche schlagende Texttreue-Idee, vor allem die Shakespeare-Verehrung einem Absinken der Bühnengestalt in antijüdische, später antisemitische Trivialzonen entgegenwirkt. Historismus und Rassendebatte konfrontieren die Bühnen immer erneut mit dem Problem, ob das Shylock Profil einer Aufführung aus dem dramatischen Kontext der Minoritäten Situation im venezianischen Ghetto entwickelt, oder ob es als Inkarnation stammesbzw. rassen-gebundener jüdischer Eigenart betont wird. Humanisierung oder Dämonisierung, Psychologisierung oder Ideologisierung bezeichnen die weiteren Wege der Stilisierung. Die Perfektion zur Charakterrolle, welche die nicht einschränkbare Individualität zur Richtschnur des sprachlichen und szenischen Agierens macht, wird - dann mit europaweiter Resonanz - von Bogumil Dawison (1818-1872) erreicht - einem der ersten aus dem jiddischen Osten stam- 32 Deutsche Übersetzung von Dengel 1798. 33 Im Theaterlexikon von Blum/ Herloßsohn/ Marggraf 1836/ 1840 wird Cumberlands The Jew aber noch ausdrücklich genannt; vgl. auch die mehrfache Erwähnung von ‘Juden ‘ in der neuen Ausgabe von 1846 im Artikel ‘Juden (Theaterfigur). In: Blum/ Herloßsohn/ Marggraf. Neue Ausgabe 1846. Bd. 4, S. 327-332. 34 Andere Aspekte der Figur, etwa der Beruf des Kaufmanns, finden demgegenüber auf lange Zeit kaum Aufmerksamkeit. Judenrollen 209 menden jüdischen Darsteller. Als reisender Virtuose, dessen Tourneen von den deutschsprachigen Repräsentationsbühnen zwischen 1845 und 1870 ausgehen, 35 führt Dawison die Shylock-Rolle offensichtlich an die Grenzen einer pathologischen Personen-Kontur von extrem expressiver Wirkung und entwirft sie so als Inbegriff einer modernen Charakterrolle. Wirkungsgeschichtlich ausschlaggebend ist, dass nun Shylock - in Deutschland und der Donaumonarchie, aber auch weiter im europäischen Osten - als herausfordernde Alternative zu einer bildungsbürgerlichen Nathan-Rezeption verstanden werden kann. Das Theater bringt damit eine bühnengeschichtliche Komponente in die sogenannte “jüdische Frage”. Zwischen den beiden monumentalen jüdischen Bühnenerscheinungen entsteht einzunehmend ideologischer und politischer Kontrast, der die ästhetische Dimension ständig überschreitet. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hat ihn dann von jüdischer Seite ja Karl Emil Franzos in seinem “Komödiantenroman” Der Pojaz, im Verlauf der Theater-Erziehung seines ostjüdischen Helden Sender Glatteis direkt abgebildet. Die abwägenden Betrachtungen Senders zwischen der ‘Jüdischkeit’ der beiden Rollen werden unter dem Eindruck der Gestaltung Dawisons zu Shylocks Gunsten entschieden - wohlgemerkt, zwanzig Jahre nach Dawisons Tod - also, um eine historische Linie hier einzuzeichnen, zu einem Zeitpunkt, 1893, 36 zu dem die Juden- Debatte des Deutschen Reichstags von 1880 bereits 12 Jahre zurückliegt, zu dem der antisemitische Christdemokrat Karl Lueger kurz vor dem Griff nach dem Bürgermeisteramt der Hauptstadt der Doppelmonarchie steht, zu dem der Dreyfus Prozess, der ganz Frankreich und Europa erregen wird, in die erste Runde geht, und zu dem der erste Kongress der zionistischen Vereinigung von 1897 schon fast vor der Tür steht. 37 Ein polar strukturiertes Rollen-Feld weisen auch die jüdischen Frauengestalten Bildungs- und Repräsentationstheater der Zeit auf, genauer gesagt, das Rollenfach Liebhaberin, denn Mütter kommen nur marginal vor. Hinter dem Klischee der “schönen Jüdin” taucht dabei - im starken Kontrast zu den kommerziellen Unterhaltungsbühnen - überwiegend die “edle Jüdin” auf. Nach der einen Seite ist das Weiblichkeitsideal der jugendlichen Schönheit mit ausstrahlenden seelischen Qualitäten bestimmend, nach der anderen die 35 Ab 1846 tritt Dawison in Deutschland und Österreich auf, ab 1849 als Burg-Schauspieler, der zahlreiche Gastspiel Reisen durchführt. 36 Abschluss der Niederschrift des Romans, Veröffentlichung 1905. 37 Senders Reaktion auf Dawisons Darbietung der Szene, “Wenn ihr uns stecht, bluten wird nicht? ”, wird aus dessen Sicht geschildert: “Das war kein Schauspieler mehr, sondern ein armer, unseliger Mensch, der lange seinen und der Brüder Jammer verschlossen in sich getragen, der klaglos geduldet und nun plötzlich Worte fand für sein furchtbares Weh” […]“ Gleich mächtig vermochte nichts mehr auf ihn zu wirken, und in der Gerichtsszene, wo Dawison den Blutdurst durch die grellsten Mittel verbildlichte - er wetzte sogar das Messer an der Sohle - ertappte er sich sogar auf dem Gedanken: ‘Ist das nötig’? ”, S. 538. Hans-Peter Bayerdörfer 210 weibliche Schönheit als Urbild überwältigender erotischer Faszination. Unbeschadet dessen, dass diese Jüdin mehrfach ein angenommenes Christenkind ist - wie schon Recha in Lessings Nathan, so auch Rachel in Halévys La Juive - findet das Rollenfach ab 1820 starken Auftrieb dank der internationalen Wirkung von Walter Scotts Roman Ivanhoe 38 , in dem ein Nathananaloger Vater, Isaak, und seine Tochter Rebecca Zentren der Erzählung bilden. Die Bühnen verzeichnen danach eine Renaissance der Rolle der schönen Jüdin. Heinrich Marschners Oper Der Templer und die Jüdin (1831) 39 greift den Stoff des Romans auf und eröffnet die Entwicklung im Musiktheater, die mit Jacques Fromental Halévys La Juive an der Pariser Großen Oper von 1835 einen Höhepunkt erreicht. In der Titelfigur Rachel, dem geretteten und als Tochter angenommenen Christen-Kind, das mit dem jüdischen Pflege-Vater Eléazar in den Märtyrertod geht, zeichnet sich - rollengeschichtlich gesehen - eine deutliche Entwicklung von der Liebenden zur Heroine ab. Sie verkörpert als Frau den jüdischen Widerstand gegen eine Mehrheitsgesellschaft in einer Weise, die dem männlichen Rollen in nichts nachsteht und bedeutet somit einen politischen Emanzipationsakt von besonders demonstrativer Prägnanz. Dieses Muster findet seine Fortsetzung wenig später in Hebbels Judith (1840), die mit dem übermenschlichen Opfer ihrer weiblichen Ehre dem historisch-nationalen Auftrag zur Befreiung Israels nachkommt. Als weitere seriöse Liebhaberin folgt dann Albert Dulks Titelheldin Lea, die selbständiges Profil als jüdische Frau zwischen ihrem christlichen Liebhaber und ihrem Bruder Süß-Oppenheimer gewinnt, indem sie sich dessen Neigung zu einem jüdischen Märtyrertum widersetzt In beiden Werken wird auf prägnante Weise sichtbar, dass beide Frauengestalten, Lea wie Judith, im Vorfeld des Jahres 1848 konzipiert werden. Die politische Öffnung des Vormärz bringt für Judenrollen neue gehaltliche Möglichkeiten mit sich, die sich nicht zuletzt auch in erweitertem Reflexions-Potential niederschlagen. Zwischen Halevys Jüdin, Dulks Lea und Hebbels Judith lässt sich so eine gewisse Annäherung an die männlichen Reflexionsgestalten im Repertoire der Judenrollen feststellen. Von hier aus bietet sich ein weiterer Ausblick auf Salomon Hermann Mosenthals Drama Deborah, das eine weitere jugendliche Jüdin aufbietet. Es entfaltet sich als soziales Problemstück, in welches Impulse des Revolutionsjahres eingegangen sind. 40 38 1820, deutsche Übertragung 1827. 39 Libretto von Wilhelm August Wohlbrück. Siehe dazu Annemarie Fischer: Die ‚Schöne Jüdin’ in Oper und Schauspiel. Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin, Salomon Herman Mosenthals und Josef Bohuslav Foersters Debora(h). In: Hans-Peter Bayerdörfer/ Jens Malte Fischer (Hgg.): Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Tübingen 2008 (= Conditio Judaica 70), S. 57-76. 40 Entstanden 1849; vgl. Fischer 2008. Judenrollen 211 Insgesamt bilden diese schönen Jüdinnen im Drama der ersten Jahrhunderthälfte eine markante gehaltliche Reihe. Hinsichtlich der sogenannten ‘jüdischen Frage’ - d.h. der Forderung jüdischer Gleichberechtigung im staatlichen, bürgerlichen und sozialen Sinne - formieren sie sich zu Instanzen der Beglaubigung, die an die Seite der Väter-Rollen treten, welche ihrerseits die Belange der jüdischen Minorität auf der Bühne der Zeit vertreten. Die Töchter überschreiten so die genre-gemäßen Vorgaben der Liebeshandlung. Sie haben an der Problematik jüdischer Selbst-Orientierung im nichtjüdischen Kontext personellen Anteil, der von der dramatisch-emotiven auch auf intellektuell-reflektierende Ebene überschlägt. 41 Der Gegentyp im weiblich-jugendlichen Fach, die schöne, unbekümmert Liebende, hat bekanntlich ihr relativ freundliches Urbild in Shylocks Tochter, die als konversionsbereites Christen-Liebchen in Shakespeares Kaufmann von Venedig den jüdischen Vater desavouiert; rollengeschichtlich fällt es ohnehin in die Geschichte der Juden-Possen. Jedoch taucht der Typus auch im literarisch bestimmten Spektrum auf, in Gestalt seiner leidenschaftlichdramatischen Variante. Entstehungsgeschichtlich fällt Grillparzers Jüdin von Toledo (entstanden 1851, UA 1872) im Wesentlichen in den Zeitraum zwischen Restauration und Vormärz. Grillparzers Rahel fügt sich dem thematischen Rahmen der Vormärzjahre durchaus ein. Die bedingungslose Insistenz auf der eigenen erotischen Faszination, die das Verhältnis zu dem - nicht-jüdischen - Partner bestimmt, verkörpert den emanzipatorischen Kern der jüdischen Liebhaberinnen der Zeit. Er bedeutet eine mehrfache Grenzüberschreitung. Rahels Unbedingtheit widerspricht dem Traditionsjudentum ebenso sehr wie allen herkömmlichen, dem weiblichen Verhalten im Europa der Zeit zugestandenen Formen der gesellschaftlichen Selbstartikulation. Emanzipation der Frau und Emanzipation der jüdischen Minorität gehen Hand in Hand. Das Rollenbild der - jüdischen - Frau wird dramatisch radikal überschritten. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass das Stück in den repressiven Vormärz-Jahren nicht vollendet werden konnte und erst post festum, im Rahmen der Grillparzer-Ehrung, seinen Weg auf die Bühne nehmen konnte. IV. Judenrollen auf den kommerziellen Unterhaltungsbühnen Alle hier genannten dramatischen Varianten des seriösen Juden und der liebenden Jüdin stehen in scharfem Kontrast zu den Typen der Männer und Frauen im Sektor der populären Bühnen, die sich als Unterhaltungsszenerie der Städte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts etablieren. In den zu Großstädten wachsenden Kommunen tragen sie den Ort im Namen, als Theater 41 Unter diesem Eindruck erscheint es für die Gesamtentwicklung besonders gravierend, dass im Rollenfach des seriösen jugendlichen Liebhabers die Juden fehlen. Hans-Peter Bayerdörfer 212 in der Josephstadt, in der Leopoldstadt, auf der Wieden, so in Wien, als Königstädtisches und Friedrich-Wilhelmstädtisches Theater, so in Berlin. Ihre Ausrichtung ist unterschiedlich. Sie tendieren einerseits zum Status von Volkstheatern mit entsprechenden kulturellen und gewissen sprachlichdialektalen Eigenarten, andererseits zu einem großstädtischen Unterhaltungstheater, das sich eher kommerzielle international gibt und sich also vor allem am Ruf und Repertoire des Pariser Boulevard orientiert. Als Privatbühnen, die nicht staatlich oder kommunal subventioniert werden, wohl aber der Zensur unterliegen, regulieren sie - in beiderlei Ausrichtung ihren Spielbetrieb am Publikumsbedarf aus, wobei die lokale Presse mit ausführlichen Rezensionen und ein beträchtlich zunehmendes Star-Wesen das Rezeptionsverhalten des Publikums stark beeinflussen. Bühnenästhetisch sind diese Theater keineswegs anspruchslos. Sie kommen der Modernisierung des Unterhaltungsbedürfnisses durch gediegene regionale Bezüge, durch musiktheatrale Anreicherung der Genres, durch szenische Innovation und einen raschen Wechsel an attraktiven Themen entgegen. Dramaturgisch entsteht die Posse mit Gesang, mit der weiteren Spezifizierung als Zauberposse oder Zaubermärchen, Lokalstück und Lokalgemälde, Lokaloper und Volksstück, wobei im Untertitel auch Verweise auf Parodie, Karikatur u.a. auftauchen. Auch schauspielästhetisch gesehen hat die fortgeschrittene Charakter-Gestaltung durchaus Einfluss, vor allem auf die Hauptrollen, bei denen das Publikum die individuelle Profilierung zu schätzen weiß. Dennoch bleibt das Vorstadttheater angesichts des raschen Stückwechsels prinzipiell auf Rollenfächer im herkömmlichen Umriss angewiesen, auch wenn es sich dezidiert zum Volks- und Dialekttheater verzweigt. In diesem theatergeschichtlichen Zusammenhang entwickelt sich der für den gesamten Zeitraum bezeichnende Possenjude, genauer gesagt, in Preußen, Mittel- und Norddeutschland ab 1815, während in Wien, wie in der Donaumonarchie insgesamt, Judenrollen durch Zensur-Gesetz verhindert werden. Mit dem Possen-Star tritt aber nicht nur eine männliche Judengestalt auf die Bühne, sondern häufig eine Mehrzahl jüdischer Rollen, wenn nicht insgesamt jüdisches Personal. Der alte Shylock-Typus, etwa als Schacherjude in Vaterrolle, wird adaptiert und variiert in weiter abgewandelten Männerrollen. Begleitet wird er wird von weiblichen Pendants der jüdischen Matrone, von der koketten bis andeutungsweise lasziven Liebhaberin, sowie verschiedenen Nebenrollen als Bediente, Händler etc. Im Unterschied zur literarischen Szene treten im verzweigten Genre der Posse auch Söhne, etwa als lächerliche und skurrile Liebhaber oder ehrgeizige, aber erfolglose Judenrollen 213 Geschäftemacher auf. 42 Die Typenvielfalt kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich überwiegend um Stücke handelt, bei denen sich bei diesen Themen mit dem Gattungsbegriff der Posse der Sinn des Verlachtheaters einstellt. Den Auftakt zu den antijüdischen Stücken, in denen sich die diskreditierenden Impulse der älteren Juden-Darstellung erneuern, bildet die in Breslau uraufgeführte, dann in Berlin (1816) und andernorts nachgespielte Judenschule des Arztes Karl Borromäus Alexander Sessa, die unter dem von der Zensur verfügten Titel Unser Verkehr erscheint. Sie hat ausschließlich jüdisches Personal, das durchweg nach dem Muster der sprachlichen und inhaltlichen Diskreditierung entworfen ist. Der alte Trödeljude Abraham Hirsch schickt seinen Sohn, der mit etwas Geld ausgestattet ist, auf Wanderschaft, um damit Geschäfte zu machen. Dieser erweist sich zunächst als Möchte-gern-Liebhaber erfolglos und macht sich als Geschäftsmann lächerlich, weil er sich mit einem immensen Lotterie-Gewinn zurückmeldet, der sich aufgrund einer Nummern-Verwechslung als Falschmeldung erweist. Auch die Assimilationsjüdin Julie, die Tochter des reichen Kapitaljuden Polkwitzer, bemüht sich ebenso erotisch freizügig wie persönlich berechnend um eine einschlägige ‘Partie’, bleibt aber erfolglos. Schließlich scheitert auch der intellektuelle Assimilant, mit Namen Isidor Morgenländer, der sich als Burschenschaftler der deutschen Studentenbewegung anschließt, aber bei der Mensur seine jüdische Feigheit nicht verbergen kann. 43 Mit dem Typenarsenal von Sessas Posse sind die wesentlichen Rollenfächer für die weitere Entwicklung des antijüdischen Zweiges des Unterhaltungs-Theaters festgeschrieben. Der fahrende alte Trödler, der neureiche Finanzjude, samt der geltungs- und prunksüchtigen Ehefrau, der lächerliche 42 Diese Rollenaspekte bedürften noch genauerer Untersuchungen angesichts der in den antijüdischen Bereichen der Öffentlichkeit dem Judentum generell zugeschriebenen Geschäfts- und Erfolgsmentalität. 43 Als burleskes Genre mit ihren Spaßmacher- und quasi Harlekinaden-Rollen hat die Judenposse für die Zeitgenossen zu einer Debatte über das komische Unterhaltungstheater in Deutschland Anlass gegeben. Mit Berufung auf Lessing, der in der Hamburgischen Dramaturgie (18.Stück) das Weiterleben des Harlekin unter anderen (Rollen-) Namen prognostiziert hatte, erhoben sich Stimmen, so u.a. von Marcus Herz, welche die komischen Judenrollen der Posse in dieser Sicht sehen wollten. Vor allem schloss sich an dieses Thema eine ausdrückliche Rechtfertigung von Sessas Posse unter entsprechendem Etikett an. Ein Anonymus legte dazu 1816 den Essay vor: Geschichte eines Heißhungers und seiner Stillung, oder Unser Verkehr in Berlin. Mit einer Anzeige über den endlich gefundenen Mimus der Norddeutschen, in dem er sich anheischig macht, diese (Berliner) Judenrollen in eine Reihe mit den traditionellen Wiener Possengestalten Staberl oder Thaddädl - und ihre Nachfahren in den Stücken von Meisl, Gleich, Bäuerle, schließlich Raimund und Nestroy - zu stellen. Diese einfache Ersatz-These ist von Gunnar Och zu Recht und mit zahlreichen Belegen zurückgewiesen worden. Kulturgeschichtlich gesehen, ergäbe sich eine vielseitige Verbindung zur Bedeutung und Wirkung des Judenwitzes und seiner rassistischen Konnotationen. Hans-Peter Bayerdörfer 214 junge Mann, dessen erotische Wünsche nie in Erfüllung gehen, die jugendliche Assimilantin, die sich erotisch anbietet, schließlich der ambitiöse Intellektuelle, alle diese Festbilder halten sich auf Jahrzehnte in mehr oder weniger gemilderter oder gesteigerter Ausführung. Bereits bis Anfang der 1820er Jahre zeichnet sich diese Kontinuität ab, u.a. mit den Dramen von Julius von Voß, der zunächst ein Gegenstück zu Sessas Posse, nach deren Berliner Aufführung, unter dem Titel Euer Verkehr auf die Bühne bringt, danach aber mit Die Frankfurter Messe von 1826 wieder in antijüdische Bahnen zurücklenkt. Dass sich auch Abschwächung der antijüdischen Zeichnung ergibt, die dann leicht argumentativ zur Verharmlosung der Judenposse als Genre dienen konnte, ist durchaus nachweisbar. So wird beispielsweise auf der Berliner Szene 1826 auch Louis Angelys Posse Paris in Pommern von 1820 aufgeführt, die sich mit einem mäßig antijüdisch gezeichneten wandernden Händler begnügt und auf das Komikpotential der Rolle setzt. 44 Doch ist in diesem wie in anderen Fällen dann noch zu überprüfen, inwieweit auch Gründe der Zensuranpassung in Rechnung zu stellen sind, wenn man eine übergreifende Gesamterfassung von szenischen Motiven und Rollenbildern unternähme. Jedenfalls bleibt es bedenklich, dass bei Wegfall der Zensur, so im Jahre 1848, sich antijüdische Prononcierung sofort verstärkt, so interessanterweise auch in Wien, wo nach Jahrzehnten der Zensur die Darstellung von Juden auf der Bühne wieder möglich wird. Bekanntlich hat Nestroy 1848 außer seiner großartigen Revolutionsposse Freiheit in Krähwinkel auch - und zwar anonym - die Judenposse Judith und Holofernes, als Parodie des alttestamentlichen Stoffes mittels antijüdischer Klischees herausgebracht und darin mitgewirkt. 45 Mit Blick auf die weitere Rollengeschichte des Geld- oder Börsenjuden, hat für die Zeit bis 1848 Horst Denkler bereits Ende der 1980er Jahre anhand zahlreicher Belege gezeigt, wie an die Stelle der jüdischen Trödler und Kleinhändler mehr und mehr die jüdischen “Börsenspekulanten, Großkaufleute und Bankbesitzer traten”, nicht weniger “die kulturellen Aufsteiger und Anpasser”. 46 Damit ist aber die Geschichte Judenrollen für die Periode bis zur Revolution noch nicht hinreichend erörtert. Theatergeschichtlich sind vor allem die Bemühungen um eine Komödienbzw. Possen-Produktion seitens jüdischdeutscher Autoren zu würdigen. Aaron Halle-Wolfssohns hat dazu ein 44 UA am Königstädtischen Theater 1826. Angely ließ es in anderen Stücken mit Judenthematik, etwa Die polnische Schenke, an den üblichen gröberen Herabsetzungen nicht fehlen. 45 UA März 1849. 46 Horst Denkler: „Lauter Juden”. Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Bühnendrama der Metternichschen Restaurationsperiode (1815-1848). In: Hans-Otto Horch/ Horst Denkler (Hgg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Teil I. Tübingen 1988, S. 149-163. Judenrollen 215 markantes Datum gesetzt. Seine Komödie Leichtsinn und Frömmelei von 1796 war “zur Belustigung” für das jüdische Purim-Fest entworfen, und zwar als Ersatz für die dabei traditionellen Aufführungen von “sinnwidrigen und zwecklosen Harlekinaden”, wie er meint. Dass der Autor damit in die Auseinandersetzungen zwischen konservativen, an der talmudischen Tradition orientierten und assimilationsbereiten, an der europäischen Aufklärung ausgerichteten Juden eingriff, erläutert die Ambitionen, die hier für das Theaterspiel maßgebend waren. 47 Dass sie sich nicht direkt auf die gängigen Theater- und Spielformen der Unterhaltungsbühnen übertragen ließen, schließt keineswegs aus, dass anspruchsvollere Absichten bestanden und dazu Versuche auf literarischem wie inhaltlichem Niveau unternommen wurden. Eine genauere theatergeschichtliche Analyse, die das Verhältnis zwischen der Geschichte der Posse und den Gegenentwürfen jüdischer Autoren für die Jahrzehnte bis zur Märzrevolution nachzeichnen würde, ist beim derzeitigen Forschungsstand nicht möglich. 48 Speziell im Vormärzjahrzehnt ergeben sich dann zumindest Bedingungen, unter denen auch das Unterhaltungstheater Anteil an den ideellen und politischen Veränderungs-Impulsen nimmt. Von David Kalisch werden in Berlin Possen-Sujets mit jüdischen Rollen inhaltlich auf seriöses Niveau gebracht. Diese Ausrichtung bleibt auch nach 1850 erhalten, wobei der Autor ähnliche Intentionen mit Stückvorlagen von O. F. Berg (Ottokar Franz Ebersberg) aus Wien übernehmen kann. Die Intentionen beider Autoren lassen sich musterhaft in der Posse Einer von unsere Leut’ erkennen, in welcher der jüdische Titelheld, als Angestellter in sehr untergeordneter Position, sich gegenüber der nichtjüdischen Umgebung, einschließlich des Arbeitgebers, als moralisch und menschlich überlegen erweist. Damit ist ein Modell für die weitere Entwicklung von Bühnenstücken jüdischen Inhalts gegeben, welches sich - in Berlin - bis zur Jahrhundertwende etwa im Theater der Brüder Herrnfeldt in vielfachen Abwandlungen erhält. 49 Es gibt aber erneut zu denken, dass fast 47 Leichtsinn und Frömmelei. Ein Familien-Gemählde in drei Aufzügen von Wolfssohn. In: Lustspiele zur Unterhaltung beim Purim-Feste. Bd. 1. Breslau 1796; siehe dazu Och 1995, S. 246. 48 Wichtige Ansätze dazu finden sich in dem erwähnten Essay von Horst Denkler 1988 sowie in Anette Spieldiener: Der Weg des ‚erstbesten Narren’ ins ‚Planschbecken des Volksgemüts’. Gustav Raeders Posse Robert und Bertram und die Entwicklung der Judenrollen im Possentheater des 19. Jahrhunderts. In: Hans-Peter Bayerdörfer/ Jens Malte Fischer (Hgg.): Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Tübingen 2008 (= Conditio Judaica 70), S. 101-112. 49 Das florierende Herrnfeldt-Theater wurde offensichtlich von der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre gleichsam als interne jüdische Bühne gesehen und von jüdischem Publikum frequentiert. Insofern wäre eine Untersuchung zu wünschen, die der Studie von Brigitte Dalinger entspräche, die sich den Wiener jüdischen Bühnen und Hans-Peter Bayerdörfer 216 zeitgleich mit der Berliner Aufführung des Werkes von Berg/ Kalisch (1859) auch Gustav Raeders Posse Robert und Bertram von 1856 die Bühne erreicht: der dritte Akt bietet auf nahezu direkte Kopie des Possenpersonals von Sessas Judenschule, ein Panorama jüdischer Rollen der diskreditierenden Art und entsprechender Grobzeichnung. Die Typenzeichnung ist derartig herabsetzend, dass es das Stück im Jahre 1939 direkt für einen antisemitischen Spielfilm aus nationalsozialistischer Perspektive genutzt werden konnte. 50 Während mit Raeders Stück der Sessasche Possen-Typ des Jahrhundertbeginns unverändert weiter gespielt wird, erreichen Kalisch und Berg eine Rollengestalt des Juden, die nun auch auf der kommerziellen Unterhaltungsbühne die szenische Würde des reflektierenden Resumée erhält. Diese tendenzielle Annäherung an den Status jüdischer Rollen in entsprechenden Werken der literarischen Bühnen ist politisch jener Vorphase der Entwicklung zuzuordnen, die 1871 zu der rechtlichen Gleichstellung der Juden als Staatsbürger führt. V. Judenrollen als Reflexionsinstanzen Es ist ein langer Weg, der vom dramengeschichtliche Keim in Lessings Die Juden zur Umstellung der Judengestalten von Burleskfiguren auf seriöse Bühnengestalten führt - und er verläuft - aufs Ganze gesehen - nur partiell erfolgreich, d.h. auf der Ebene der literarisch fundierten Bühnenkultur. Dennoch ist ein Leitmotto erkennbar: “Ich bin kein Freund allgemeiner Urteile über ganze Völker”, erklärt Lessings Reisender. Und diese Formulierung kann nicht nur inhaltlich als Leitfaden für die entsprechenden intellektuellen und ethischen Debatten, wie sie die Bühnenjuden der kommenden Jahrzehnten initiieren, verstanden werden, sondern auch im formalen Sinne: die jüdische Stimme des Reisenden ist die der Reflexion, und die jüdischen Rollen der Dramatik präsentieren sich in diesem Sinne als Reflexionsinstanzen. 51 Mit Nathan und Shylock sind die Grenzwerte bezeichnet, innerhalb derer sich diese Sachwalter des Denkens der Folgezeit bewegen. ihrem Repertoire der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1938 widmet (vgl. Brigitte Dalinger: „Trauerspiele mit Gesang und Tanz”. Zur Ästhetik und Dramaturgie jüdischer Theatertexte. Wien/ Köln/ Weimar 2010). 50 Eine vergleichende Analyse zwischen der Posse und dem Film von Hans H. Zerlett bietet Spieldiener 2008, S. 109-112. 51 Im Folgenden eröffnet der Reisende die zwei Jahrhunderte vorhaltende Serie der Reflexionsgestalten mit seinem Monolog im dritten Auftritt: “Sollen Treu’ und Redlichkeit unter zwei Völkerschaften herrschen, so müssen beide gleich viel dazu beitragen. Wie aber, wenn es bei der einen ein Religionspunkt und beinahe ein verdienstliches Werk wäre, die andre zu verfolgen? ” (Gotthold Ephraim Lessing: Die Juden. Stuttgart 1981, S. 11). Judenrollen 217 Rollengeschichtlich gesehen sind diese Instanzen aber weder formal und inhaltlich Nachfahren des Typus, den man aus dem 17. und 18. Jahrhundert als Räsonneur kennt. Dieser ist eine Nebenrolle. Sein Räsonnement gilt allgemeinen Lebensfragen des Individuums und der Gesellschaft. 52 Die Blickrichtung des Räsonneurs ist die von außen. Weisheitssprüche und bisweilen auch zynisch getönte Ratschläge verweisen auf Vernunft und Welt-Weisheit, oder - auf einfacherem Niveau - auf moralische und lebensmäßige Klugheit, die sich u.a. einer verschärften Beobachtungsgabe in sozialen Umwelt verdankt. Die Reflexionsleistung der jüdischen Gestalten erweist sich hingegen bei handlungstragenden Hauptrollen, die in den Gang des Geschehens komplett verstrickt sind, bis an die Grenze der eigenen - potentiell tragischen - Gefährdung. Ihre reflektierenden Urteile erwachsen aus der eigenen existenziellen Situation und wirken auf diese zurück. Sie lassen sich nicht als Kommentar aus abgehobener Position zum Geschehen hinzusetzen. Daher schließen ihre Reflexionen die eigenen lebensmäßigen Verhältnisse, sozial, politisch, religiös, wirtschaftlich gesehen, mit ein. 53 Die Blickrichtung ist die des Betroffenen, und diese setzt - expressis verbis oder verinnerlicht - eine Minoritätensituation voraus. In der Regel entspringt die Reflexion geradezu aus sozial-ethischen Problemen, für die verbindliche Lösungen gesucht werden müssen, weil alle vorgegebenen Vorschläge hinsichtlich ihrer Geltung strittig sind. Wenn solche Probleme von einem konkreten Einzelfall ausgehen, so führt die Reflexion unausweichlich zur prinzipiellen Erweiterung der Perspektive. Dabei bleibt jedoch, da die dramatische Situation den Kontext der Reflexion bildet, jeweils im Blick, wieweit sich das Allgemeine des Problems mit dem konkreten Fall des Augenblicks verbindet. In dieser Form haben jüdische Reflexions-Instanzen seit der Lessing-Zeit Theatergeschichte gemacht, in einer imponierenden Reihe von dramatischen Gestalten. Sie entspringen nicht dem Rollenfach-System der Theatergeschichte, in dem Juden allenfalls als Ableger der übergeordneten Kategorie der Komiker-Rollen aufgeführt sind; diese finden ihre theatergeschichtliche Zukunft im Possen-Sektor der Unterhaltungsbühnen. Diese Situierung im breiten Sektor ist ihrerseits bezeichnend. Da die “Häufigkeit der dramatischen Juden-Figuren” sozialgeschichtlich gesehen, wie Horst Denkler hervorhebt, weder “dem damaligen jüdischen Bevölkerungsanteil” in den 52 In der Liste im Arbeitsbuch von Barner u.a. wird als Beispiel für den traditionellen Raisonneur der Aufklärung Graf von Bruchsal in Minna von Barnhelm genannt (Barner/ Grimm/ Kiesel/ Kramer 1998 6 , S. 82). 53 Unter Reflexion soll hier eine ständige Bereitschaft verstanden werden, mit rationalen Mitteln die handlungsbedingte Unmittelbarkeit der Situation zu überschreiten, und zwar weniger in allgemein-abstrakter Ausrichtung, sondern in systematischer Prüfung der Voraussetzungen und Umstände, Sachverhalte, Werte und Verhaltensregeln, welche in der momentanen Lage impliziert sind. Hans-Peter Bayerdörfer 218 deutschsprachigen Ländern entspricht, noch etwa mit dessen wirtschaftlichen Verhältnissen korreliert, ist ein Begriff wie ‘Judenrolle’ nur theatergeschichtlich sinnvoll, wenn er das diskreditierende Moment der Juden im Possenbereich mit einschließt. Das Rollenfach ‘Jude’ bleibt im Kontext der jüdischen Unterhaltungsbühnen zugleich das Sprechrollenfach ‘Jargon’, 54 das der nationalen Sprachästhetik zuwider läuft. Alle anderen Rollen, in denen jüdische Individuen die Bühne betreten, sind für den jeweiligen Theaterbereich wie andere Nationalitäten-Rollen zu werten. Dieser theatergeschichtliche Befund hat “wahrnehmungspsychologische, theaterästhetische und kulturgeschichtliche Gründe”, bei denen der Reiz des Abweichenden, des Anderen die kontroverse Problemfront um Assimilation, Akkulturation und Abgrenzung, Diskriminierung kaschiert. Für die Jahrzehnte zwischen den Dohmschen Schriften und den Debatten der Paulskirche hat Denkler zurecht resümiert, “daß die ‘Theater-Juden’ ideologisches Argumentationsmaterial lieferten, welches über ihre innerdramatisch-handlungsbedingte Funktion weit hinausreichte”. 55 Sieht man von dieser Sparte der Theaterentwicklung ab, so charakterisiert es jüdische Gestalten, dass sie - nicht nur als Hauptrollen, sondern auch als prägnante Episoden-Figuren - zu Reflexionsinstanzen werden. Man könnte sagen, dass sie - im Jahrhundert, in dem sich die Ideologie des Nationalstaats durchsetzt - zu Spezialisten für das Menschliche werden, das nach individueller Eigenart, nach geschichtlicher Entwicklung und kulturellem Herkommen, ein Gegengewicht zum dominanten Sog nationaler Zusammengehörigkeit bilden. Dies besagt, dass in diesen Rollen auch die Sensorien für die Überbrückung lebensbedrohender Zwiste des Nationalen angelegt sind, und d.h. umgekehrt, für die Chancen des Zusammenlebens bei unterschiedlichsten Prämissen des Lebens und Denkens. Man kann diese Dimension der Reflexion durchaus im Sinne von Schillers weiträumiger Definition verstehen, die er in seiner Schaubühnen-Rede gegeben hat: “Nationalgeist eines Volkes nenne ich die Ähnlichkeit und Übereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet”. Da damit keineswegs eine Abwertung der Differenz verbunden ist, kann die Bedeutung der Reflexionsinstanzen in weiterem Sinne verstanden werden, als Gegenstimmen zu jenen Verengungen des Nationalgedankens, bei denen die Abgrenzung gegenüber dem Miteinander der Differenz das Verhalten bestimmt. Es ist ein Kennzeichen von jüdischen Reflexionsinstanzen, wie sie in der deutschen Dramatik nach 1815 mehrfach auftauchen, dass in der Tat nicht 54 Vgl. insgesamt Jürgen Hein: Judenthematik im Wiener Volkstheater. In: Hans Otto Horch/ Horst Denkler (Hgg.): Conditio Judaica: Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. 1. Teil. Tübingen 1988, S. 164-186. 55 Denkler 1988, S. 156. Judenrollen 219 raisonneurhafte Allgemeinheit, sondern rollen- und situationsbestimmte Konkretion des Arguments bestimmend bleibt, so grundsätzlich auch die inhaltlichen Dimensionen gefasst sind und so weitreichend die Konsequenzen sein mögen. Die Allgemeinheit des Gedankens erhält ihre Verbindlichkeit dank der Rückbindung an ein tua res agitur. Einige sehr knappe Szenen-Ausschnitte sollen die Verfahren sichtbar machen, mittels derer die Reflexion in ihr Recht tritt: Als Christian Dietrich Grabbe im Jahre nach der Juli-Revolution von 1830 sein Drama über die antinapoleonische Erhebung schreibt, erfindet er als Episodenfigur einen jüdischen Soldaten namens Ephraim. Er lässt ihn in der Schlacht von Waterloo auftreten, während die preußischen Truppen unter heftige französische Attacke geraten sind. 56 Dazwischen wird er von einem ‘Berliner’ gehänselt, weil er unjüdisch blondes Haar hat und daher wohl einen nichtjüdischen Vater haben muss. Die knappe Erwiderung bietet alles auf, was den modernen zivilen Status eines Juden ausmachen muss: “Du Hund, wenn ich auch bin ein Jude, bin ich doch ein Bürger und ein Berliner Freiwilliger wie du”. Ein modernes Staats- und Verfassungsverständnis, einschließlich der Bürgerrechte hat er mit seiner selbständig getroffenen patriotischen Entscheidung zur Teilnahme am Feldzug seinerseits bestätigt. Als Reflexionsfigur hat der Jude aus gegebenem Anlass die Gründe für sein Verhalten innerhalb des Kollektivs, dem er zugehört, dargelegt - Sekunden ehe er den Heldentod für das Vaterland stirbt. Ein knappes Jahrzehnt später wird das Recht zur heroischen Selbstaufgabe, nachdem Grabbe sie dem Juden zuerkannt hat, nun einer anderen Gruppe zugesprochen, der diese bislang nicht ohne weiteres zugestanden war, der Frau. Mit seinem Drama Judith (1841) gestaltet Hebbel die heikelste Auseinandersetzung mit einer jüdischen Frauenrolle, denn diese gehört - theatergeschichtlich betrachtet - zunächst zum Typus der schönen Jüdin. Im Spiegel-Monolog der Titelheldin (III) findet daher der rollengeschichtliche Ausbruch aus den damit verbundenen Wertungen statt; das Vorhaben der Prostitution zum Zwecke des Tyrannenmordes wird - quellenmäßig und stofflich gesehen - mit einem als alttestamentlich-jüdisch ausgegebenen Gottesverständnis gerechtfertigt, hinter dem jedoch eine nach-hegelsche geschichtsphilosophisch begründete Interpretation des religiösen Auftragssichtbar wird. Die nationale Begründung der außergewöhnlichen Tat der Frau, wie ihn die Quelle entfaltet, rückt die Titelfigur damit an die Seite des literarischen Vorbilds, das in der deutschen Dramatik Schillers Jungfrau darstellt. Dabei wird das punctum saliens, die Sexualität, die Schiller im idealistischen Sinne durch Entsagung und Buße der Heldin bereinigt hat, 56 Napoleon oder die hundert Tage. 1831, V, 2. Kotzebue beispielsweise hatte 1818 - unter dem Vorzeichen der Metternichschen Reaktion - für die Befreiungskriege eine sehr abfällige Judengestalt entworfen, die als ehemaliger französischer Gefolgsmann bloßgestellt wird (Der deutsche Mann). Hans-Peter Bayerdörfer 220 nun durch die übergeordneten Notwendigkeiten von Nation und geschichtlicher Entwicklung in einen völlig anderen Reflexionsrahmen eingebracht. Der Spiegelmonolog der ‘schönen Jüdin’ versetzt das Thema der ‘Ehre der Frau’ in den säkularen Problemzusammenhang der ‘Ehre der historischer Tat’, verstanden als Opfer für die Gemeinschaft: Ist nicht meine Tat so viel wert, als sie mich kostet? Darf ich meine Ehre […] mehr lieben, wie dich [Gott]? O, es löst sich in mir, wie ein Knoten. Du machtest mich schön; jetzt weiß ich, wozu […] Was ich sonst für Fluch hielt, erscheint mir nun wie Segen! - Sie tritt vor einen Spiegel. Sei mir gegrüßt, mein Bild! 57 Wenig später, 1846, kommt eine weitere jüdische Stimme im Drama zu Wort. Eine weltgeschichtliche Selbst-Bestimmung formuliert der untergehende Held, thematisch entworfen aus der Sicht der jungdeutschen Utopie. In seinem Sterbemonolog kann Gutzkows Uriel 58 seinem Leben, seiner - tragischen - Existenz nur mit Blick auf eine menschheitliche Zukunft Sinn zuschreiben: […] Nirgend / Find’ ich ein Grab, bei Christen nicht, nicht Juden! / Ich bin von denen, die am Wege sterben / […] / In sonnenhelleren Jahrhunderten / Kommt auch die Zeit, wo man hebräisch nicht, / Nicht griechisch, nicht lateinisch, nein, in Zungen / Des Geistes und der Wahrheit sagen wird: Noch gab die Welt nicht Raum für solche Bahnen / […] Er [Uriel] musste gehen, weil er nicht bleiben durfte. Dass dabei von Gutzkow nicht nur eine über-nationale, sondern auch transreligiöse Utopie entwickelt wird, setzt ein bis dahin dann säkular gewordenes Judentum voraus. Dramaturgisch entspricht dieser Perspektive, dass der jüdische Held hier als Liebender auftritt, der im Untergang noch den universalen Sinn von Leben, im Liebespaar verdichtet, gegenüber den Mächten der Vernichtung beglaubigt, wie es dem tragischen Modell des Liebestodes abendländischer Dramatik entspricht. 59 Uriel Acosta wird - in seiner Selbstreflexion - zum Inbegriff eines jüdischen Intellektuellen, der als Stellvertreter für die menschheitliche Zukunft aller in der Gegenwart das Schicksal des Ausschlusses aus den anerkannten Gemeinschaftsformen erträgt. 57 Friedrich Hebbel: Judith. In: Ders.: Werke. Hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller, Karl Pörnbacher. Bd. 1. Darmstadt 1963, S. 7-75, hier S. 29. 58 Karl Gutzkow: Uriel Acosta. In: Ders.: Dramatische Werke. 9 Bde. Leipzig 1850-57, Bd. 5 (1862 2 ), S. 109. Uriel, der schon in II,7 eine ausführliche Schilderung seiner Erfahrung mit der Zwangsbekehrung und seinen Widerstand dagegen geschildert hat, gelangt im abschließenden Monolog angesichts der Leiche seiner Geliebten zu einem schmerzlichen Fazit über religiöse Bindungen: “Und was der wahre Glaube? Ach! Der Glanz / Der alten Heiligthümer, seh’ ich, schwindet. / Glaubt, was ihr glaubt! Nur überzeugungsrein! ”. 59 Vgl. Kap. II, 3, sowie Anm. 23. Judenrollen 221 Nicht weniger weitreichend - im Sinne eines in die Zukunft voraus greifenden Reflexionsganges - entwickelt Albert Dulk die Hauptrolle in seinem Jud-Süß-Drama mit dem Titel Lea von 1848. Die Handlung, die im Jahre 1737 spielt, ist zunächst auf einen Werte-Konsens hin angelegt, denn der Liebhaber der Jüdin, Süß’ Schwester Lea, ist selbst Christ. Gedanklich-intellektuell, wie auch nach seiner religiösen Haltung, kommt er dem Joseph Süß Oppenheimer des Stücks jedoch sehr nahe. Beide werden, gleichsam in Paar-Konstellation, zur Sprechstimme des Autors, und beide setzen sich im Vorfeld der 1848 er Revolution - ganz im Gegenzug zu Dulks Quelle von Wilhelm Hauff 60 - für die bedingungslose Gleichstellung von Juden und Christen ein. Nach den bitteren Erfahrungen mit dem Prozess, unmittelbar vor der abschließenden Gerichtsverhandlung und in Erwartung des Urteils, wendet Süß seine Gedanken von der Utopie einer zukünftigen Rechtsgleichheit zur Realität, in welcher das Recht der Macht unterliegt. In einem bitteren, der Theodizee-Problematik angenäherten Diskurs reflektiert Süß nun die Möglichkeit, die ihm bei gleicher Machtausübung, wie sie seine anti-jüdischen Gegner und Richter gegen ihn nutzen, zugunsten des europäischen Judentums offen gestanden hätte - vom Zentrum jüdischer Selbstbestimmung, dem Gottes-Verständnis wendet sich der Blick auf die Unsicherheit jüdischer Zukunft: Dies also ist die Stunde! […] / Hör mich, Du strenger Gott Gott Adonai! / Wirst Du nicht heute Deiner Macht gedenken? / Weh über Israel, weh, daß Du schweigst, / Und stehst nicht auf, Gott Zebaoth der Rache! / Warum hast Du mich nicht vollenden lassen / Das Werk des Ruhm’s an Deinem Saamen, Herr? / … / War ich nicht stark, ein Rüstzeug und eine Waffen? Wo ist noch Einer unsers Stamm’s wie ich? / Der eines Christenfürsten Scepter hielt, / … / Bald konnt’ ich Israel aus allem Land / Rings zu mir sammeln, und es führen, Herr / Zur Stätte Deines Ruhms und der Verheissung! / Weh über Israel, weh, daß Du schweigst. 61 Im Schwerefeld des Jahres 1848 erwachsen aus der Verzweiflung über die Ungerechtigkeit der Majoritäts-Mächte und ihrer Instanzen nun Reflexionsgänge, welche im Intellekt des Opfers gleichsam proto-zionistische Vorstellungen hervorrufen (V 3). In gewisser Weise fasst Grillparzer in seiner Figur Rahel - die Entstehung weiter Textteile seiner Jüdin von Toledo 62 liegt in den Jahrzehnten zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848 - die verschiedenen Dimensionen der schönen Jüdin, wie sie als Rollenfach der Zeit vorgegeben ist, in 60 Vgl. dazu insgesamt Jörg Schönert/ Alexandra Przyrembel (Hgg.): Jud Süß, Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild. Berlin 2006. 61 Albert Dulk: Lea. Drama in fünf Akten, nach Wilhelm Hauffs Novelle: Jud Süß. Königsberg o.J. [1848], S. 76. 62 Uraufführung Prag 1872 und Wien 1873. Hans-Peter Bayerdörfer 222 einem faszinierenden Profil zusammen. Dieses ist ambivalent, einerseits oberflächlich erotisch bis lasziv gezeichnet und daher von weitem verwandt mit der Verführerin der Juden-Posse dieser Jahrzehnte, andererseits aber grundiert als seriöse jugendliche Liebhaberin, die ihrer eigenen seelischen Disposition rückhaltlos folgt. Der Loyalitätskonflikt, in den sie zwischen jüdischem Vater und nicht-jüdischem Liebhaber gerät, entspricht durchaus Halévys Jüdin. Der Autor hat - möglicherweise zur Abmilderung des vormärzlichen Ansatzes - eine Finalszene, in welcher zwischen den Überlebenden der Familie die Schuldfrage erörtert wird, eine Mitschuld der Familie eingeräumt, sodass der Fürst mit der Schlussformel zumindest etwas entlastet wird: “Wir stehn gleich jenen in der Sünder Reihe”. Zuvor jedoch hat die Gestalt der Schwester Esther, die als Nebenrolle von einer confidente zu einer Stimme der Reflexion umgestaltet worden ist, mit einer bitteren Reflexion zum Abgang des Hofes, samt dem König, ein Fazit des Geschehenen gezogen: Siehst du, sie sind schon heiter und vergnügt / Und stiften Ehen für die Zukunft schon. / Sie sind die Großen, haben zum Versöhnungsfest / Ein Opfer sich geschlachtet aus den Kleinen / Und reichen sich die annoch blut’ge Hand. 63 Ehe dann nur noch der Fluch auf den König und die Weissagung seiner Niederlage gegen die Mauren folgt, ist hier mit vormärzlicher Radikalität die reflexive Summe des Erfahrenen gezogen. Eine radikalere und sozialgeschichtlich umfassendere Sentenz als in diesen Sätzen der kommentierenden Jüdin lässt sich in der dramatischen Literatur der Zeit wohl kaum finden. Im Jahrzehnt des Nachmärz sind solche radikalen Töne dann nicht mehr an der Zeit. Dennoch lassen sich die in den 1840er Jahren erreichten Standpunkte jüdischer Rollen als Instanzen der gesellschaftlichen Reflexion nicht mehr rückgängig machen. Die kardinalen Fragen des Verhältnisses von Majorität und Minorität, der humanen oder repressiven Maßnahmen staatlicher Instanzen in diesem Kontext, bleiben als Terrain für jüdische Belange in der öffentlichen Diskussion. Offene oder versteckte Strategien der Diskreditierung werden bloßgestellt und d.h. der allgemeinen gesellschaftlich Debatte in der Öffentlichkeit zugeführt, wobei deren Bereitschaft dann selbst wieder als Indikator der Gesamtlage in die Reflexion einbezogen wird. Das Theater bietet dazu eine Palette von jüdischen Rollen an, und es ist auf geraume Zeit feststellbar, dass auch das Unterhaltungstheater - wie stark auch das stereotype Personal auch erhalten bleibt - bisweilen doch entsprechende Gestalten auf die Bühne bringt. Dann kommt es zu Rollen, die den Juden 63 Franz Grillparzer: Die Jüdin von Toledo. In: Ders.: Dramen 1828-1851. Hg. von Helmut Bachmaier (Werke in sechs Bänden, Bd. 3). Frankfurt am Main 1987, S. 483-555, hier S. 554. Judenrollen 223 nicht nur als menschlich untadelige Gestalt ins Spiel bringt und Recht behalten lässt, sondern ihm auch die intellektuelle und moralische Dignität der Reflexionsinstanz einräumt. Dazu gehört die bereits erwähnte Judenrolle, namens Isaak Stern, die sowohl im österreichischen wie im preußischen Volktheater unter einem dem ‘Jargon’ abgelauschten Titel als Einer von unsere Leut’ vorgestellt und als Possenheld präsentiert wird. 64 Dieser grübelt in einem längeren Monolog darüber nach, wie sich seine eigene finanzielle Situation im Verhältnis zu der des reichen Herrn von Sternfels verändert hat und erweitert diese Reflexionsebene um die Frage, wie Recht und Unrecht damit zu tun haben könnten. Im Jahrhundert des kategorischen Imperativs findet der dann eine eigene Metapher für die innere Stimme des Gewissens: So a Uhrwerk wär’ gar nicht schlecht, den Menschen zu mahnen, wann er will unrecht thun und im Grund, er hat’s! - - Der große Uhrmacher hat’s ein’m Jeden mitgegeben, und da drinnen schlagt es so lange, bis die Uhr muß stehen bleiben, weil die Lebenszeit ist abgelaufen; warum will der Mensch nicht hören das Uhrwerk? 65 Dass solche Rollen-Stimmen der Bühne schon von zeitgenössischen anderen Stimmen, im weiteren Verlauf des Jahrhunderts von den verschiedenen Tonlagen des antijüdischen Chauvinismus zunehmend überstimmt werden, löscht ihre Integrität und ihre Verdienste für das deutschsprachige Theater nicht aus. Nachtrag: Noch einmal 1945 Der Nationalsozialismus hat bekanntlich nicht nur die Juden von der Bühne und aus dem Kino verbannt, sondern auf mehr als ein Jahrzehnt jede mögliche Erinnerung an das deutsche und europäische Judentum davon fernzuhalten versucht. Dass die Spielplan- und Film-Politik unter der Leitung des Propagandaministeriums sich in den Kriegsjahren ab 1941 wieder zur Präsentation von jüdischen Gestalten auf Leinwand und Bühne entschloss, hatte seinen Grund in der Planung und dem Anlaufen der Deportations- und Vernichtungspolitik. Dies führte zur Wiederkehr des Darstellungskonzepts der Judenrollen von vor der Aufklärung. 66 64 Zitiert wird die Wiener Version von O. F. Berg: Einer von unsere Leut’, Theater-Repertoire Nr.194/ 1868 (II, 9) S. 19. Vgl. weiterhin Hans-Peter Bayerdörfer: ‚Lokalformel‘ und ‚Bürgerpatent‘. Ausgrenzung und Zugehörigkeit in der Posse zwischen 1815 und 1860. In: Maria Porrmann (Hg.): Theaterverhältnisse im Vormärz. Bielefeld 2002, S. 170f., sowie Spieldiener 2008, S. 105. 65 Berg 1868, S. 19ff. 66 Die Wirkungsgeschichte verläuft, gemäß dem NS-Konzept der Propaganda, vor allem im Film, wesentlich weniger im Theater, wo sie - auch mangels einschlägiger Dokumentation - für die letzten Jahre der NS-Jahre auch kaum direkt nachweisbar ist. Hans-Peter Bayerdörfer 224 Was nun das Spezialfach “Juden” und sein Profil als Reflexionsinstanz angeht, so wird es für das deutschsprachige Theater Europas nach 1945 wieder hergestellt, in erster Linie dank der nicht irritierbaren Remigration jüdischer Theaterkünstler. Sie lassen es sich nicht nehmen, an die Geschichte und die Geschichten zwischen Majoritäts- und Minoritäten-Kultur der Vorzeit, seit der Aufklärung, wieder anzuknüpfen und so gegen die Schuld und die Verbrechen des zurückliegenden Jahrzwölfts für einen neuen Anfang mitzuwirken. Ihre Leistung liegt im unablässigen Kampf gegen die starke Bereitschaft zum Vergessen. Dass Ernst Deutsch bis zu seinem Lebensende viele hundert Mal die Rolle Nathan gespielt hat, dass Fritz Kortner seine Erfahrung als kritisch begleitender Demokrat aus der Weimarer Zeit nun für die BRD zur Verfügung stellt, oder dass Heinrich Schnitzler mit dem Werk seines Vaters über die Grenzen Österreichs und der Bundesrepublik hinaus die europäische Bedeutung jüdischer Autoren deutscher Sprache wieder sichtbar macht - diese Tätigkeiten verleihen, so könnte man wohl argumentieren, dem Rollenfach ‘Jude’ eine ganz neue historische Dimension und Dignität. Es handelt sich um ein fundamentales geschichtliches und ästhetisches Legat an die deutschen Bühnen und ihre Theaterkunst. Ruth Florack, Göttingen Capitano und Deutschfranzose: Komische Ausländer auf deutschen und französischen Bühnen Der Deutschfranzose ist ein Rollenfach. Diebold rubriziert es als ein ‘Chargenfach’ unter den “französischen Anstandsrollen”, 1 das die Beherrschung einer Fremdsprache voraussetzt. Fragt man nach den Vorläufern dieses Rollenfachs in der Geschichte der Komödie, so führt die Spur zu der Figur des Capitano aus dem Typenreservoir der Commedia dell’arte, eines Rollenfachsystems avant la lettre. Diebold zufolge schied man das Stutzerfach des karikierten Anstands, die Marquis in engerer Bedeutung, die Petitmaîtres und Deutschfranzosen als Chargenfächer [...] vom feinen Chevalier. War dieser letztere eher ein Abkömmling des betrügerischen, intelligenten Abenteurers Scaramuccio aus Neapel, so stammt der lächerliche Marquis und Petitmaître eher von dessen Vorgänger, dem Capitano, dem Urenkel des plautinischen miles gloriosus: ein stolz bramarbasierender Herr, der von seinen Kriegstaten erzählt, eitel seinen Schnurrbart streicht, bei drohender Gefahr sich aber schleunigst verzieht. 2 Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern Capitano und Deutschfranzose als Varianten eines komischen Typus, der durch Großsprecherei und Sprachen-Mischmasch gekennzeichnet ist, historisch und systematisch zusammengehören. Dazu werden zunächst Variationen der Maske des Capitano im französischen und deutschen Drama des 17. Jahrhunderts in den Blick genommen, 3 um dann die Mutation dieser Figur zum Deutschfranzosen im 18. Jahrhundert aufzuzeigen. Weil das Material vielfältig ist und schwer zu überblicken, beschränken sich die Beobachtungen auf eine Auswahl französischer und deutscher Stücke, von Tabarin, Desmarets und Corneille über Gryphius bis zur Frühaufklärung. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Verknüpfung von komödientypischen Figurenmit Nationalstereotypen, im gegebenen Fall mit vermeintlich charakteristischen (negativen) National- Eigenschaften der Spanier und der Franzosen. Somit berührt sich die Frage- 1 Siehe Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig/ Hamburg 1913 (=Theatergeschichtliche Forschungen 25) (Reprint Nendeln/ Liechtenstein 1978), S. 93-103, hier S. 100. 2 Ebd., S. 99f. 3 Vergleiche hierzu auch Susanne Winters Beitrag über Pantalone im vorliegenden Band. Ruth Florack 226 stellung dieses Beitrags mit Daniel Fuldas anregender These zur Ambivalenz von Stereotypen in der Komödie der Frühen Neuzeit: Stereotypisierung betreibt die Komödie teils aus gattungsspezifischen Gründen und teils aus Gründen, die aus ihren sozialen Kontexten stammen. Die Gattung lebt aus der Wiederholung und Steigerung und korrespondierenden Wiedererkennung relativ weniger, relativ einfacher dramatisch vorgeprägter Muster, und sie entspricht damit einem Bedarf, der auch lebensweltlich besteht, da Eigen- und Fremdbilder immer verallgemeinernd verfahren [...]. Die komödische Stereotypisierung balanciert mithin auf der Grenze zwischen seinen Gegenstand selbst erzeugendem theatrale[m] Spiel einerseits und satirischer Darstellung von Schwächen, die bestimmte Gruppen auch in der Erfahrung der Zuschauer zeigen, andererseits. 4 I. Der Capitano: Schrecken und Lächerlichkeit des fremden Kriegers Zunächst also zum Capitano auf den Brettern des 16. und 17. Jahrhunderts. Er lässt sich aus historischer Distanz als ein ‘komischer Ausländer’ beschreiben im Typenarsenal der Commedia dell’arte, diesem Stegreiftheater aus Rollen (Masken), die auf bestimmte Sprech- und Verhaltensweisen festgelegt sind. 5 Die Maske des Capitano - die bekanntlich ihren Vorläufer im miles gloriosus des Plautus hat, “den die Humanisten des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts wiederentdeckt hatten” - wird in der Forschung als ein Ausdruck des “Protest[s] [...] gegen die nach 1559 einsetzende spanische Fremdherrschaft in Italien” gesehen. 6 Schnurrbart, große Nase, ein “Hut mit Federbusch” und ein sehr langer Säbel gehörten zu seinen Attributen, er war “eine Art kriegerischer Don Juan, der ständig die gewagtesten, vulgärsten Metaphern und unsinnigsten Redensarten im Munde führte, die damals in Italien und Spanien en vogue waren, und gleichzeitig alle negativen Seiten der spanischen Besatzer dokumentierte”. 7 Die Figur des Capitano verkörpert den Schrecken des Kriegers und bannt ihn zugleich. Denn er stellt den fremden Soldaten als einen Großsprecher vor, der martialisch auftritt, sich seiner 4 Daniel Fulda: „Wiedererkennen von Bekanntem“. Literarische und soziale Stereotype in der frühneuzeitlichen Komödie. In: Mirosława Czarnecka/ Thomas Borgstedt/ Tomasz Jabłecki (Hgg.): Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestag der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wrocław 8. bis 11. Oktober 2008. Bern u.a. 2010 (=Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A Kongressberichte Band 99), S. 169-184, hier S. 178. 5 Siehe Wolfram Krömer: Die italienische Commedia dell’arte. Darmstadt 1976 (=Erträge der Forschung 62), S. 24-28. 6 Karl Riha: Commedia dell’arte. Mit den Figurinen Maurice Sands. Frankfurt am Main 1996 9 (=Insel-Bücherei 1007), S. 32. 7 Henning Mehnert: Commedia dell’arte. Struktur - Geschichte - Rezeption. Stuttgart 2003 (=Universal-Bibliothek 17639), S. 113. Capitano und Deutschfranzose 227 Tapferkeit und seiner Heldentaten rühmt und doch als ein Feigling erweist, wenn es drauf ankommt; auch seine Liebesabenteuer bleiben erfolglos. 8 Nachgewiesen ist, dass in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Fabrizio de Fornaris von der Schauspieltruppe der Confidenti die Capitano-Rolle sogar auf Spanisch gesprochen hat. Der Name seiner Rolle, Capitan Coccodrillo, ist nur eine von vielen unterschiedlichen Bezeichnungen für die Capitano-Maske. Später kreierte Francesco Andreini den Capitano Spavento - das italienische Attribut spavento bedeutet ‘Schrecken’ -, den er mit seiner Theatertruppe Gelosi europaweit bekannt machte, sie trat sogar am französischen Hof auf. 9 Andreini, der in der Truppe zunächst die Rolle des Ersten Liebhabers spielte und sich dann auf den Capitano verlegte, gab 1607 unter der Überschrift Le bravvre del capitano Spauento eine Sammlung seiner Dialoge zwischen dem Capitano und dessen Diener Trappola heraus. So hat im Grenzbereich zwischen Improvisation und geschriebenem Drama eine konkrete Ausgestaltung der Capitano-Rolle, eben die Gestaltung der Rolle durch ihren berühmtesten Darsteller, die Rolle selbst entscheidend geprägt. In der Forschung gilt Andreinis Sammlung als eine mögliche Quelle für Johannes Rists Übersetzung Capitan Spavento Oder Rodomontades 10 espagnolles. Das ist: Spanische Auffschneidereyen / auß dem Frantzösischen in deutsche Verß gebracht (1635). 11 Zwar ist diese Zusammenstellung der furchterregenden, in ihren Vernichtungsphantasien geradezu grotesk wirkenden Sprüche des Capitano 12 nicht als Komödie gestaltet, doch bezieht sich Rist ausdrücklich 8 Siehe ebd., sowie Krömer 1976, S. 40. 9 Siehe hierzu Mehnert 2003, S. 113f. 10 Rodomonte ist die Figur eines furchterregenden Sarazenen ins Ariosts Orlando furioso vom Beginn des 16. Jahrhunderts. Nach dieser Figur werden prahlerische Reden als ‘Rodomontaden’ bezeichnet. 11 Siehe hierzu Alberto Martino: Die italienische Literatur im deutschen Sprachraum. Ergänzungen und Berichtigungen zu Frank-Rutger Hausmanns Bibliographie. Amsterdam/ Atlanta 1994 (=Chloe 17), S. 35: “Über die von Johann Rist benutzte Vorlage herrscht Unklarheit. Nach Dünnhaupt stellen Andreinis Bravure del Capitano Spavento die indirekte, Jacques Gautiers (Gaultier) französische Übersetzung (Rodomontades espagnolles) die unmittelbare Quelle von Rist dar. Nach Walter Hinck stimmen Rists Rodomontades Espagnolles [...] weitgehend mit den von Lorenzo Franciosini gesammelten Rodomontate Spagnole (Venezia 1627) überein”. Die komplizierte Filiation sei noch zu klären. Bei Martino finden sich auch genaue bibliographische Angaben zu den “französischen Übersetzungen und Texte[n], die als direkte oder indirekte Vorlage in Frage kommen” (S. 35f.). 12 So erzählt Capitano Spavento in den jeweils mit “Historia” überschriebenen Teilen von seinen Heldentaten, zu denen sogar ein Sieg über Mars selbst gehört (siehe Johann Rist: Capitan Spavento Oder Rodomontades espagnolles. Das ist: Spanische Auffschneidereyen / auß dem Frantzösischen in deutsche Verß gebracht. [Hamburg] 1640 3 , IX [o.S.]). Als Beispiel für die satirisch überzeichnete verbale Grausamkeit sei eine Drohung gegenüber seinem Famulus angeführt: “Geh Junger packe dich / sonst werd ich dich zerschmeissen / | Auß meinem Knebelbahrt wil ich ein Härlein reissen / | Damit ein solches Loch dir werffen durch den Leib / | Daß auch ein gantzes Heer zu Ruth Florack 228 auf die großen Komödiendichter seit der Antike, wenn er in seinem Widmungstext den Capitano als die neuzeitliche Verkörperung eines National- Lasters in eine Reihe mit traditionellen Typen stellt, die allgemeinmenschliche Laster verkörpern. Somit weist er dem einen wie den anderen dieselbe dramatische Funktion zu: Andere / damit sie die Warheit den Leuten etwas lieblicher vormahleten / haben allerhandt schöne Comœdien vnd Tragœdien, ertichtet / in denen sie viele und mancherley Personen / alsbald einen alten kargen Geitzhalß / bald einen jungen verliebten Buhler / bald einen vngetrewen diebischen Knecht / bald einen auffschneiderischen Soldaten vnd Leimstengeler / vnnd was solcher Arth Menschen mehr seyn / eingeführet / vnnd deroselben Laster fein höfflich gestraffet / anderen aber zur Warnung vorgestellet haben / wie denn in diesem genere die alten Comici, Plautus vnd Terentius, heut zu tage aber die Italiäner / insonderheit ihr Ariostus, imgleichen die Frantzosen vnd Teutschen / sich trefflich wohl haben sehen lassen. Andere / damit sie etlicher sonderlicher Nationenmängel vnd gebrechen / ohne grosse vnbescheidenheit straffen möchten / haben einen Capitan spavento oder Großsprecher auffgestellet / der mit vnerhörten Lügen vnd Auffschneidereien / nicht allein sein eigenes auffgeblasenes Gemüth verrahten / besondern was von seinen Landesleuten zu halten / aller Welt hat zuerkennen gegeben. 13 Für Rists Spanische Auffschneidereyen gehört mithin zum Capitano Spavento das Merkmal ‘Spanier’ wesentlich hinzu, auch wenn die Alexandriner-Verse selbst frei sind von spanischen Ausdrücken. Das ist anders im Fall von Tabarin, einem Schauspieler, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf der Place Dauphine in Paris seine Farcen im Stil der Commedia dell’arte zum Besten gab (den Höhepunkt seiner Popularität erreichte er 1622). Bei ihm wird der Capitano, der nun Capitaine Rodomont heißt, auch sprachlich als ein Fremder markiert. In Tabarins Farcen, die in Sammlungen überliefert sind, spricht der Capitaine Rodomont in einem französischen Kontext ein ungrammatisches Gemisch aus Italienisch, Spanisch und Französisch, wie das folgende Beispiel veranschaulicht. Es handelt sich um eine Szene zwischen Rodomont und seinem Diener, der sich heimlich als Vermittler in Liebeshändeln betätigt: Le capitaine Rodomont et Tabarin. RODOMONT. CAvallierès, mousquetaderes, bombardas, canonés, morions, corseletés! aqui, veillaco! fuß von Mann vnd Weib | So jetzt auß Spanien kompt dir soll hindurch spatzieren / | Ich wil auch Tausendt Mann dadurch zu Rosse führen / | Die gantze Reuterey / die Franckreich schicken wird / | So ziehrlich daß in dir kein Knöchlein wird gerührt” (XVII [o.S.]). 13 So in Rists Widmung, “Dem Edlen / Besten vnd Manhafften Herrn Hans Petersen Königl. Majestät zu Dennemarck Wolbestalten Capitain” (ebd., o.S.). Capitano und Deutschfranzose 229 TABARIN. Il appelle le lieutenant, le corporal, le port-enseigne, les sergens, et si il est tout seul en sa compagnie (il est bien vray qu’il en a tousjours plus de cent dans ses chausses, qui luy font escorte). RODOMONT. Som il capitanio Rodomonté, la bravura, la valore de toto del mondo; la ma spada s’est rendue triomphanté del toto universo. TABARIN. Il est vray, par ma foy, il n’y a personne qui joue mieux de l’espée à deux jambes que luy. RODOMONT. Que fasto en sta casa, Tabarin? que fasto, veillaco? Que volio ste lettere? Io te quero ablar. TABARIN. Me voilà perdu, mon affaire est descouverte! Ha! je suis mort! Que dois-je faire? Il vaut mieux luy confesser ingenuement la besongne. Mon maistre, ce sont deux lettres, l’une pour porter à la femme de Piphagne. RODOMONT. A la seignor Isabella? TABARIN. Ouy, mon maistre; et l’autre à madame Olimpe. RODOMONT. Aqui, veillacon? aqui, poerco? Io te quero matar, eres Moerto! El creados du grand Capitanio, eras Mercorio amoroso? Io te quero matar. TABARIN. Ah! monsieur, ne poussez pas d’avantage, vous effondrerez le baril à la moustarde. RODOMONT. Io te quero matar, veillaco. TABARIN. Helas! mes amis, il m’a fait faire une aumelette sans beurre. Comment! que ces vieux penars me veulent faire servir de macquereau, j’en auray ma raison, foy de caporal, devant qu’il soit une heure. 14 Entscheidend ist, dass der als fremd markierte Aufschneider seine Komik nicht einfach durch den Gebrauch einer fremden Sprache gewinnt, sondern durch die Verballhornung und die Vermischung des Französischen mit spanischen und italienischen Brocken. Wenn er beispielsweise prahlt, dass sein Schwert über die ganze Welt triumphiert habe - “la ma spada s’est rendue triomphanté del toto universo” -, kombiniert er, jeweils mit Fehlern gespickt, Italienisch (la [mia] spada) mit Französisch (s’est rendue triomphante) und Spanisch (de todo [el] universo). Dass der vermeintliche Held nicht einmal richtig reden kann, wirkt komisch. Solche Sprachmischung, die Fremdes und Eigenes nicht zu scheiden vermag - und den Unterschied gerade dadurch ausstellt -, wird in zahlreichen Dramen zu einem Markenzeichen der Figur des lächerlichen Kriegers, bei der späteren Figur des Deutschfranzosen ist sie sogar unverzichtbar. Dagegen ist der Capitano zwar traditionell als ein Spanier ausgewiesen, doch nicht immer durch Sprachmischung markiert. Insbesondere in Texten der französischen Klassik kann dieser sprachliche Regelverstoß fehlen; für die deutschen Stücke aber spielt die Vermischung der eigenen Sprache mit fremden Brocken eine entscheidende Rolle. 14 Jean Salomon Tabarin: Œuvres complètes. Avec les rencontres, fantaisies et coq-à-l'âne facétieux du baron de Gratelard. Et divers opuscules publiés séparément sous le nom ou à propos de Tabarin […]. Hg. von Gustave Aventin. Bd. 2. Paris 1858, S. 137-155, hier S. 141f. Ruth Florack 230 In seinem Aufsatz zu “europäischer Flugblattpublizistik und Komödienliteratur [...] am Beispiel der Capitano-Figur” hat Florent Gabaude für Frankreich festgestellt, dass in dem Jahrzehnt nach Beginn des Französisch-Spanischen Krieges 1635 der Capitano als ein “hochbrisante[r] Typ” in ungefähr “zwanzig literarischen Komödien” Konjunktur hatte. 15 Auf zwei von ihnen ist schlaglichtartig einzugehen, um an diesen französischen Beispielen für den Capitano als Dramenfigur die stereotypen Merkmale der Rolle vor Augen zu führen und zugleich die unterschiedliche Entfaltung ihres komischen Potentials im je besonderen Text anzuzeigen. In Desmarets de Saint-Sorlins fünfaktiger Alexandriner-Komödie Les Visionnaires (1637), einem zu seiner Zeit sehr erfolgreichen Stück, führt sich der Capitan, Artabaze genannt, zu Beginn gewaltig ein: Je suis l’amour du Ciel, et l’effroy de la Terre; L’ennemy de la paix, le foudre de la guerre; Des dames le desir, des maris la terreur; Et je traisne avec moy le carnage et l’horreur. (V. 1-4) 16 Es folgen dann noch rund fünfzig Verse in genau demselben Stil. Im Kreis verrückter Dichter und Weltleute und verschrobener junger Frauen mit einer ausgeprägten Neigung zur Literatur wirkt der eingebildete Krieger vor allem komisch, weil er ungebildet ist. Denn der vermeintlich tapfere Kämpfer hat Angst vor Versen und Papier und fürchtet sich vor dem furor des Poeten. Dem Capitan, der in Illusionen befangen ist, fehlt für das ästhetische Spiel mit Illusion jeglicher Sinn. Daher behält er von der Rolle, die er für eine Aufführung auswendig lernen soll, bloß einen Satz: “Je suis cet Alexandre”. Das aber führt zu Verwechslungen in der Begegnung mit Melisse, die ausgerechnet in Liebe zu Alexander dem Großen entbrannt ist. Die obligatorische Hochzeit am Schluss wird dem Capitan ebenso verwehrt wie allen anderen Figuren im Stück - und gerade dadurch sind alle gut bedient. Denn am glücklichsten ist am Ende doch jeder mit sich selbst und seinen exzentrischen Vorstellungen, auch Artabaze, dessen Bekenntnis zur Ego- 15 Florent Gabaude: Querbezüge zwischen europäischer Flugblattpublizistik und Komödienliteratur der Frühen Neuzeit am Beispiel der Capitano-Figur. In: Mirosława Czarnecka/ Thomas Borgstedt/ Tomasz Jabłecki (Hgg.): Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestag der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wrocław 8. bis 11. Oktober 2008. Bern u.a. 2010 (=Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A Kongressberichte Band 99), S. 185-209, hier S. 197. 16 Zitiert wird nach der Ausgabe: [Jean] Desmarets de Saint-Sorlin: Les Visionnaires. Comédie. Texte de la première édition (1637) publié avec une introduction et des notes par H. Gaston Hall. Paris 1963 (=Société des textes français modernes). (“Ich bin die Liebe des Himmels und das Entsetzen der Erde, der Feind des Friedens und der Blitz des Krieges, das Begehren der Frauen und der Schrecken der Männer; ich bringe Gemetzel und Grauen” [Übersetzung R.F.]). Capitano und Deutschfranzose 231 zentrik: “[...] je suis seulement amoureux de moy-mesme” (V. 2002), die komische Kontrafaktur der Komödienkonvention am Ende einleitet. Ein Krieger, der sich vor Phantasie und Worten fürchtet, ist lächerlich. Das ist eine Variante der für die Rolle des Capitano konstitutiven Diskrepanz zwischen Schein und Sein: zwischen Prahlerei und Feigheit, Wichtigtuerei und Erbärmlichkeit. Es ist eine Diskrepanz, die aus der Spannung von imponierender Rede einerseits und feigem Verhalten, ja der Unfähigkeit zu handeln andererseits ihr dramaturgisches Potential gewinnt. So auch in der Illusion comique von Pierre Corneille (1639). Auf die kunstvolle Konstruktion des Spiels im Spiel und die theaterapologetische Ausrichtung von Corneilles (ebenfalls in Alexandrinern verfasstem fünfaktigem) Stück, kann hier nur am Rande hingewiesen werden. Der Auftritt von Corneilles Capitano ist auf die drei Akte beschränkt, die ausdrücklich als Komödie konzipiert sind - und ihrem Autor zufolge ist diese Figur, Matamore genannt, einzig erfunden, um die Zuschauer zum Lachen zu bringen, ohne Vorbild in der Realität, in welchem Land auch immer. 17 Matamore stammt zwar aus dem Süden, ist mithin wohl als ein Fremder markiert, aber nicht ausdrücklich als Spanier gekennzeichnet, vielmehr ist von der Gegend um Bordeaux die Rede. Jedoch gebraucht er Schimpfwörter, die aufs Spanische verweisen - so droht er beispielsweise: “Je vais t’assassiner d’un seul de mes regards, | Veillaque. [...]” (V. 244f.), was auf die spanische Bezeichnung für einen Schurken, vellaco, zurückgeführt werden kann. 18 Und vor allem sein Name ist spanisch: matar heißt ‘töten’, moro ist der Maure - Matamore ist also ein ‘Maurentöter’. Den Verhaltensstereotypen der Rolle entsprechend führt er sich auch bei Corneille als Maulheld ein, der in aller Herren Länder militärische und erotische Siege errungen haben will. Seinem Untergebenen Clindor begegnet er mit einem martialischen verbalen Imponiergehabe, ohne zu merken, dass dieser Vertreter gesunden Menschenverstands ihn mit seinen Schmeicheleien zum Besten hält, um ihn ungestört mit seiner Geliebten Isabelle zu betrügen. Als Matamore die beiden beim Liebesgeflüster überrascht, droht er fürchterlich: Clindor solle seine Todesart wählen, soll wählen, ob er es vorziehe, mit einem Fausthieb zerschlagen, lebend in die Erde gerammt, mit einem einzigen Streich in zehn Teile gespalten oder ins Feuer der Blitze ge- 17 “[L]e style et les personnages sont entièrement de la comédie. Il y en a même un qui n’a d’être que dans l’imagination, inventé exprès pour faire rire, et dont il ne se trouve point d’original parmi les hommes. C’est un capitan qui soutient assez son caractère de fanfaron pour me permettre de croire qu’on en trouvera peu, dans quelque langue que ce soit [impliziter Bezug auf Tradition des Spaniers! ], qui s’en acquittent mieux” ([Pierre] Corneille: L’Illusion comique. Hg. von Jean-Yves Huet. Paris 1997 [=GF 951], S. 140 [S. 140-142: Examen]). 18 Siehe den Stellenkommentar ebd., S. 46. Ruth Florack 232 schleudert zu werden. 19 Doch als Clindor Trotz bietet und ihn zum Duell fordert, überlässt ihm Matamore urplötzlich seine Isabelle, räumt das Feld und verschwindet schließlich sang- und klanglos von der Bühne. II. Der Capitano als Deutschfranzose: Sprachsatire bei Gryphius Wenige Jahre nachdem Corneille sein Stück den Vorgaben der bienséance angepasst und erneut herausgebracht hat, erscheint Gryphius’ “Schertz- Spiel” Horribilicribrifax Teutsch (1663). Dass Gryphius’ Drama den längst europaweit populären Capitano der Commedia dell’arte zur Titelfigur macht, ihn mit Daradiridatumtarides sogar noch verdoppelt, so dass “die Konfrontation der [Capitano-]Figur mit sich selbst” zu ihrer “komische[n] Selbstvernichtung” führt, hat bereits Walter Hinck ausführlich aufgezeigt. 20 Als ein untrügliches Indiz für Gryphius’ Bezug auf die Commedia dell’arte gilt Hinck die “charakteristische, durchgehende Zweisprachigkeit”, die “für den Capitano der italienischen Komödie typisch” ist. 21 Bemerkenswert aber ist, dass Gryphius’ Capitani, “zwey weiland reformirete”, also aus der Armee entlassene, “Hauptleute”, wie das Personenverzeichnis informiert, zwar beide “Don” genannt werden, jedoch gerade keine spanischen Fremden sind, wie doch in der italienischen Prägung der Rolle üblich. Vielmehr sind Horribilicribrifax’ Reden mit italienischen Wendungen durchsetzt, 22 während Daradiridatumtarides deutschfranzösisch parliert. Parallel dazu erscheint der Pedant Sempronius, der durch seine Verquickung von Latein und Griechisch insbesondere im Umgang mit der ungebildeten Kupplerin Cyrilla zu 19 Siehe ebd., V. 916-921. 20 Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und Théâtre italien. Stuttgart 1965 (=Germanistische Abhandlungen 8), S. 105-129 (“Die Komik der blendenden Nichtigkeit [der Capitano]. Gryphius ‘Horribilicribrifax’”), hier S. 127. 21 Ebd., S. 111. 22 Mit einer typischen Rodomontade führt sich Horribilicribrifax Donnerkeil, begleitet von seinem Pagen Harpax, ein: “WAs? daß der Keyser Friede gemacht habe sonder mich um Rath zu fragen? Oh gvarta! novella de spiritare il mondo! [...] Friede zu machen sonder mich? à qvæsto modo si! hat er nicht alle seine Victorien mir zu dancken? hab ich nicht den König in Schweden niedergeschossen? bin ich nicht Ursach / daß die Schlacht von Nördlingen erhalten? habe ich nicht den Sachsen sein Land eingenommen? [...] E che fama non m’acquistai, quando contesi col Gran Turca? Pfui! trit mir aus den Augen / denn ich erzürne mich zu tode / wo ich mich recht erbittere / Vinto dal ira calda e bollente e dallo sdegno arrabiato, so erwische ich den Stephans-Thurm zu Wien bey der Spitzen / und drück ihn so hart darnieder / si fortè in terra, daß sich die gantze Welt mit demselben umkehret / als eine Kegel-Kaul”. (Andreas Gryphius: Horribilicribrifax Teutsch. In: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 7: Lustspiele I. Hg. von Hugh Powell. Tübingen 1969 [=Neudrucke deutscher Literaturwerke Neue Folge 21], S. 41-119, hier S. 58f.). Capitano und Deutschfranzose 233 komischen Missverständnissen Anlass gibt, als Karikatur eines gelehrten Sprachmischers. Der Capitano, der als Krieger a.D. kaum mehr bedrohlich wirkt, erfährt bei Gryphius eine bedeutsame Akzentverschiebung: Die Rolle des komisch ‘ausländisch’ redenden Prahlhans zielt nun nicht mehr auf einen Fremden im eigenen Land und auf einen verhassten Feind ab, wie beim spanischen Capitano im Rollenrepertoire der Commedia dell’arte und in französischen Komödien des 17. Jahrhunderts der Fall, sondern sie bezieht sich in ihrer Sprachkritik satirisch auf die Fremdorientierung der Landsleute. Denn so, wie sich die Gelehrten der Volkssprache verweigerten, orientierte sich bekanntlich die kultivierte Elite in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg zunehmend (vor allem an den Höfen) an fremder Kultur und Sprache, insbesondere der französischen und italienischen. Mit dem Französisch radebrechenden Daradiridatumtarides bietet Gryphius’ Stück einen Beleg für den Übergang vom Capitano zum Deutschfranzosen, zumal er nicht nur ein grober Aufschneider und Feigling ist, der des Nachts sogar vor einer Katze Reißaus nimmt, sondern noch dazu ein Betrüger, dessen Galanterie bloß Berechnung ist: Die hochmütige Selene, die er irrtümlich für wohlhabend hält, sucht er mit einem zwar glänzenden, doch wertlosen Geschenk aus bloß materiellem Interesse an sich zu binden. Die rollengemäßen, doch nun mit (zum Teil fehlerhaftem) Französisch gespickten Rodomontaden des “Capitain Daradiridatumtarides Windbrecher von Tausend Mord” lesen sich folgendermaßen: Blitz / Feuer / Schwefel / Donner / Salpeter / Bley und etliche viel Millionen Tonnen Pulver sind nicht so mächtig / als die wenigste reflexion, die ich mir über die reverberation meines Unglücks mache. Der grosse Chach Sesi von Persen erzittert / wenn ich auff die Erden trete. Der Türckische Kaiser hat mir etlich mahl durch Gesandten eine Offerte von seiner Kron gethan. Der weitberühmte Mogul schätzt seine retrenchemente nicht sicher für mir. Africa hab ich vorlängst meinen Cameraden zur Beute gegeben. Die Printzen in Europa, die etwas mehr courtese halten Freundschafft mit mir / mehr aus Furcht / als wahrer affection. Und der kleine verleckerte Bernhäuter / [gemeint ist sein Rivale Palladius] / der Rappschnabel / Ce bugre, Ce larron, Ce menteur, Ce fils de Putain, Ce traistre, ce faqvin, ce brutal, Ce bourreau, Ce Cupido, darff sich unterstehen seine Schuch an meinen Lorberkräntzen abzuwischen Ha Ma Deesse! merville de monde adorable beaute! Unüberwindliche Schöne! unvergleichliche Selene! wie lange wolt ihr mich in der Courtegarde eurer Ungunst verarrestiret halten? 23 In Gryphius’ Lustspiel sind Daradiridatumtarides und sein “Unvergleichlicher Camerade” “Horribilicribrifax, von Donnerkeil / auff Wüsthausen”, 24 23 Ebd., S. 48. 24 Ebd., S. 43. Ruth Florack 234 ebenso wie der eingebildete Dorfschulmeister Sempronius, Negativfiguren, von denen sich die “Normgestalten” 25 positiv abheben, also Männer wie Palladius und auch Frauen, die klug sind, gewählt sprechen und am Ende in Sachen Ehe die rechte Wahl zu treffen wissen. III. Der Deutschfranzose als Franzosen-Narr Um Negativfiguren und “Normgestalten” geht es auch in den folgenden Beispieltexten, allerdings unter einem anderen Vorzeichen. Zur Zeit der Frühaufklärung, als der Capitano als lächerlicher Krieger eigentlich längst abgedankt hatte, 26 lässt Luise Adelgunde Gottsched in ihrem Lustspiel Die Hausfranzösinn oder die Mammsell ebenfalls einen deutsch-französisch redenden Aufschneider und Betrüger als eine Negativfigur auftreten, die im Kontext einer Verlachkomödie von den Vertretern der Vernunft auf offener Bühne verspottet wird, wobei nun tugendhafte Bürger den Part der listigschlauen Diener des Capitano übernehmen. Der Franzose trägt den sprechenden Namen Sotenville: ‘Sprechend’ ist sowohl die Übersetzung, ‘Narr-in-der-Stadt’, als auch die klangliche Affinität zu ‘Zotenviele’. Gemeinsam mit der Hausfranzösin will Sotenville Germanns Sohn Franz nach Paris führen, dazu gibt er sich als einen “Officier de [...] rang” (III,6; S. 131) 27 aus: Meine erste Colique habe ich in Prag gehabt! als ich in der letzten Belagerung 2. Esquadrons commandirte. Da sah ich gleich in was für einen execrablen païs ich war. [...] Es ist auch alles so rude in Deutschland! [...] haben sie nicht mehr Complaisance gegen einen Mann, der in der Prager Belagerung die Ehre von ganz Deutschland defendiret hat? (III,5; S. 129f.) Das ist ein Echo der Capitano-typischen Rodomontaden, die sich bei aller maßlosen Übertreibung doch durchaus auf konkrete Kriegsereignisse beziehen konnten. 28 So steht der Franzose Sotenville in der Tat in den Fußstapfen des spanischen Capitano - kein Wunder also, dass die Positivfigur Wahrmund (auch hier gilt: nomen est omen) ihn explizit als “Daradiridatum- 25 Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung. 1570-1740, München 2009, S. 446. 26 Zu dem - aus den historischen Umständen zu erklärenden - Ende der Capitano-Figur im ausgehenden 17. Jahrhundert siehe Fausto De Michele: Der „Capitano“ der Commedia dell’arte und seine Rezeption und Entwicklung im deutschsprachigen Theater. In: Daphnis 31 (2002), S. 529-591, hier S. 588. 27 Zitiert wird nach der Ausgabe: [Luise Adelgunde Victorie Gottsched]: Die Hausfranzösinn, oder die Mammsell. Ein deutsches Lustspiel, in fünf Aufzügen. In: Johann Christoph Gottsched (Hg.): Die Deutsche Schaubühne [...]. Bd. 5. Leipzig 1744 (Reprint Stuttgart 1972), S. 67-190. 28 Zu konkret geschichtlichen Bezügen etwa in Gryphius’ Horribilicribrifax siehe De Michele 2002, S. 567-569. Capitano und Deutschfranzose 235 darides” traktiert (II,8; S. 117). Dreh- und Angelpunkt der Handlung aber ist Franz, der den heimischen Sitten zu entraten droht. Franz spricht ein Sprachgemenge aus Französisch und Deutsch. So gibt er sich “penetrirt von douleur”, dass er “nicht das Glück habe, ein Franzose gebohren zu seyn” (IV,9; S. 156). Und er bildet sich viel auf seine künftige Weltläufigkeit ein - darin erinnert auch er an den Capitano, nur dass aus der Welt internationaler Kriegsschauplätze nun das europäische Zentrum der zivilisierten Welt, eben Paris, geworden ist. So finden wir in der Hausfranzösinn also nebeneinander zwei Figuren, die deutschfranzösischen Mischmasch reden. 29 Sotenville und Franz verkörpern gewissermaßen die alte und die neue Variante einer Komödien-Rolle: Der Franzose Sotenville verweist auf den spanischen Capitano des 17. Jahrhunderts, Franz hingegen ist ein Deutschfranzose, dessen Großsprecherei sich nicht mehr auf eingebildete Heldentaten bezieht, sondern auf eine vermeintliche Kompetenz, nämlich eine eingebildete Partizipation an der hegemonialen französischen Kultur. Verallgemeinernd lässt sich die These formulieren, dass die deutschfranzösische Echofigur des spanischen Capitano dessen Funktion im Rollengefüge der Komödie ersetzt: Beide wirbeln mit ihrer Wichtigtuerei viel Staub auf und stören (vorübergehend) die Ordnung, sind aber eigentlich handlungsunfähig: Sie vollbringen keine Taten - und kommen als Liebhaber nicht in Frage. Der Maßstab für die Rolle des Deutschfranzosen stammt übrigens aus Dänemark, nämlich aus Ludvig Holbergs Komödie Jean de France eller Hans Frandsen, die 1722 in Kopenhagen uraufgeführt wurde. Holbergs Stück erfreute sich in der deutschen Aufklärung großer Beliebtheit. Übersetzt von Georg August Detharding erschien es unter dem Titel Jean de France oder Der deutsche Franzose 1741 im zweiten Band von Gottscheds Deutscher Schaubühne, also in eben der Sammlung von ‘Musterstücken’, in deren fünftem Band 1744 auch das Lustspiel Die Hausfranzösinn herauskam. Zu Beginn von Jean de France oder Der deutsche Franzose kehrt Jean aus Paris nach Hause zurück. Man hat schon Wunderliches über ihn erfahren, nun kommt er selbst und trifft auf seinen Vater und auf seinen Schwiegervater in spe: JEAN singt. La la la la la la, nun kann ich mich des bougre de pas-grave nicht erinnern, welches ich zuletzt von Monsieur Blondis gelernet. Par Dieu es ist ein grand malheur! Mais voila mon Pere, et mon Schwieger-Pere. Bon matin Messieurs, comment vive ma chere Isabelle? HIERONYMUS. Höret, mein guter Herr Franz: Ich bin hier im Salzhahn- Gäßgen gebohren, und mein Vater gleichfalls. Es ist niemals eine Isabelle oder Fidelle in unserm Hause gewesen. Ich heiße Christopf Hieronymus, und meine Tochter Elisabeth, mit Gott und mit Ehren! 29 Das gilt selbstverständlich auch für die Hausfranzösin selbst, deren Anmaßung durch die Dienerrolle hervorgehoben wird. Ruth Florack 236 JEAN. Das ist alles einerley, mon cher Schwiegerpapa, Elisabeth, Belle oder Isabelle: allein das letzte ist vornehmer. HIERONYMUS. Wer meine Tochter Belle nennt, der soll es mit mir auszumachen haben; denn es ist ein Hundenamen. Wollt ihr uns nicht bey unsern christlichen Namen nennen, so könnt ihr euch nach einer andern Schwägerschaft umsehen. Ich bin ein alter ehrbarer Bürger, und leide solche neue Allamoden nicht. Ich verstehe mich auch auf eine solche hochtrabende Parlirung nicht. JEAN. Pardonnez moi, mon cher Schwiegerpapa, man sagt niemals neue Allamoden, ce n’est pas bon Parisien. C’est bas breton par dieu. La la la la la la das ist das neueste Menuet, composeé par le Sieur Blondis. Par dieu das ist ein habile homme, le plus grand Tanz-maitre en Europe. Heißt nicht Tanz maitre auf deutsch auch Tanz maitre. Ich habe die deutsche Sprache dans Paris ganz vergessen. (I,3; S. 437f.) 30 Wie die Capitani wird auch Jean leer ausgehen und aus dem Schau-Spiel verschwinden. Holbergs Stück verdeutlicht aber auch die Veränderung der Capitano-Reminiszenz: Während die sprichwörtliche Grausamkeit des Spaniers im historischen Kontext der deutschen Frühaufklärung deplatziert wäre und also nicht (mehr) vorkommt, 31 werden die Stereotype ‘Eingebildetheit’ und ‘Prahlerei’ - welche traditionell sowohl zum Capitano als Komödien-Figur gehören als auch dem französischen Nationalcharakter zugeschrieben werden - durch ‘Flatterhaftigkeit’ und ‘Frivolität’ 32 als markante Negativstereotype des Franzosen ergänzt. 33 Für diese Variante des Deutschfranzosen ist zudem die Verknüpfung mit einer anderen Rolle bezeichnend: Franz und Jean sind ausdrücklich als Söhne markiert im Sozialgefüge einer Familie, wodurch die Altersdifferenz und damit ein Autoritätsgefälle ins Spiel kommen. Das ist für die moralische Lektion, die diese Stücke erteilen, bedeutsam. Denn als junge naive Männer erscheinen die Söhne als leichtsinnig und verführbar - was ihren Fehler der Gallophilie entschuldbar macht, dafür aber, in der Tradition der Alamode- 30 Zitiert wird die Ausgabe: Ludvig Holberg: Jean de France oder Der deutsche Franzose. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Übersetzt von George August Detharding. In: Johann Christoph Gottsched (Hg.): Die Deutsche Schaubühne [...]. Bd. 2. Leipzig 1741 (Reprint Stuttgart 1972), S. 427-503. 31 Zu den geschichtlichen Hintergründen für das Negativ-Stereotyp vom grausamen Spanier in der europäischen Literatur vor 1800 siehe den Artikel von José Manuel López de Abiada: Spaniards. In: Manfred Beller/ Joep Leerssen (Hgg.): Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey. Amsterdam/ New York 2007 (=Studia Imagologica 13), S. 242-248, hier S. 243-245. 32 Siehe besonders Holberg 1741, II,6; III,1f.; IV,2-4; V,5; V,7. 33 Zu Herkunft und Funktion stereotyper Zuschreibungen des Franzosen in der Frühen Neuzeit siehe die kommentierte Textsammlung: Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart/ Weimar 2001. Capitano und Deutschfranzose 237 Kritik, 34 Frankreich die Schuld zuweist für die drohende Sittenverderbnis der Schützlinge: Holbergs Jean war geraume Zeit in Paris, und Franz steht unter dem schädlichen Einfluss der französischen Dienstboten. So wird in der Typenkomödie der frühen Aufklärung aus der komischen Rolle des lächerlichen fremden Kriegers der Möchtegern-Ausländer als Negativfigur. Dem veränderten sozialhistorischen Kontext entsprechend ist nun nicht mehr der spanische Fremde als Besatzer, sondern der Nachahmer des französischen Fremden satirisch überzeichnet. 35 Unter diesem Vorzeichen erscheint in den Komödien von Holberg und der Gottschedin der großsprecherische Sprachmischmasch der Rolle als Indiz für einen moralischen Makel. Den auszumerzen ist der offensichtliche Wirkungsanspruch dieser Dramen. Dass dabei - durch ein Aufgebot an französischen Negativstereotypen - das Fremde diskreditiert wird, gehört zu ihrer dramaturgischen Strategie. IV. Capitano und Deutschfranzose: Lessings Riccaut Eine solche Denunziation des Franzosen hat Lessing im Sechsundzwanzigsten Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie scharf kritisiert: “die Hausfranzösin ist ganz und gar nichts. Noch weniger, als nichts: denn sie ist nicht allein niedrig, und platt [...], sondern noch oben darein schmutzig, ekel, und im höchsten Grade beleidigend”. 36 Andererseits stammt der wohl bekannteste Deutschfranzose der deutschen Literatur aus Lessings eigener Feder: der Capitaine Riccaut de la Marlinière in seinem Lustspiel Minna von Barnhelm (1767). 37 Zeitgenossen haben Lessing deswegen ähnlich scharf gerügt: 34 Siehe Gonthier-Louis Fink: Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild 1648-1750. In: Recherches germaniques 21 (1991), S. 3-47, hier S. 25-34. 35 Ausgehend von den Satiren auf die deutsch-französische Sprachvermengung in der Publizistik - etwa in den Moralischen Wochenschriften - wertet Nina Birkner den “‘närrische[n]’ Franzosen” im Lustspiel des 18. Jahrhunderts als einen Ausdruck der “Kritik an der unökonomischen Repräsentationskultur des höfischen Adels” (Nina Birkner: Der ‘närrische‘ Franzose. Zur Funktion des kulturnationalen Stereotyps im Lustspiel des 18. Jahrhunderts. In: Raymond Heitz/ York-Gothart Mix/ Jean Mondot/ Nina Birkner (Hgg.): Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und in Italien im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2011 [=GRM-Beiheft 40], S. 181-194, hier S. 184). Ebenso überzeugend ist Birkners These, dass diese Kritik “nicht der fremden Kultur, sondern dem galanten Lebensstil gilt” (S. 191). 36 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6: Werke 1767-1769. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 1985, S. 181-694, hier S. 308. 37 Zu Riccaut in der Tradition des Capitano siehe Hinck 1965, S. 293-295; zu den Unterschieden zwischen dem Capitano und dem Capitaine siehe ebd., S. 294, sowie Peter Christian Giese: Riccaut und das Spiel mit Fortuna in Lessings „Minna von Barnhelm“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 104-116, hier S. 109f. Ruth Florack 238 Was uns am wenigsten in den Lustspiele gefällt, ist der französische Officier. Warum mußte dieser just ein Franzose seyn? Er kömmt bloß, eine Satyre auf sich machen zu lassen, denn sonst hätte ein Deutscher eben dasselbe verrichtet. [...] Worzu aber hier das gebrochene Deutsch mit dem untermengten Französischen? 38 Dass so gefragt werden kann, verweist darauf, dass mit der Rolle des Capitano ebenso wie mit dem Deutschfranzosen ein (je veränderlicher) Bezug zum historischen Kontext gegeben ist. Doch während die Lustspiel-Figur des Capitano ihr Pendant in Flugblättern der Frühen Neuzeit hat 39 und während der Deutschfranzose der Typenkomödie als eine dramatische Umsetzung von Satiren verstanden werden kann, wie sie sich etwa in Moralischen Wochenschriften der frühen Aufklärung finden, fehlt eine solche Parallele im Fall von Riccaut. Dieser ist schon deshalb nicht als eine dramatische Adaption von antifranzösischen Spottschriften aus dem Siebenjährigen Krieg zu verstehen - in denen durchaus deutschfranzösisch parlierende Figuren vorkommen 40 -, weil er bei Lessing gar nicht als Verlierer der Schlacht von Roßbach erscheint. Dieser Franzose ist kein Feind, sondern hat, wie Tellheim, auf der Seite Preußens gekämpft - solange der König Fremde wie ihn und den Kurländer Tellheim gebraucht hat. Als Parallel- und Kontrastfigur zum (allzu) ernsten und ehrenhaften Tellheim ist Riccaut als ein Nachfahre des aufschneiderischen Capitano entworfen, der gerade durch seine Sprachverwirrung komisch wirkt, wenn er sich Minna vorstellt: Sachés donc, Mademoiselle - Ihro Gnad soll also wiß, daß ik komm von die Tafel bei der Minister - Minister von - Minister von - wie heiß der Minister da draus? - in der lange Straß? - auf die breite Platz? - [...] Nun, die Minister von der Kriegsdepartement. - Da haben ik zu Mittag gespeisen; - ik speisen à l’ordinaire bei ihm, - und da iß man gekommen reden auf der Major Tellheim; & le Ministre m’a dit en confidence, car Son Excellence est de mes amis, & il n’y a point de mystéres entre nous - Se. Excellenz, will ik sag, haben mir vertrau, daß 38 So, möglicherweise von J. G. Jacobi verfasst, der Artikel im 2. Stück der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften, Halle 1767, abgedruckt in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6: Werke 1767-1769. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 1985, S. 816-819, hier S. 818 [Kommentar zu Minna von Barnhelm]. 39 Siehe Gabaude 2010. 40 Als Beispiel für die Ridikülisierung des Feindes siehe [Anonymus]: Kurzes Gespräch zwischen einem halb teutsch redenden Franzosen und einem gebohrnen Teutschen, Wegen Des von den Aliirten im Winter geschehenen und die Franzosen sehr belästigenden Angriffes [...]. O. O. 1758. Abgedruckt in: Florack 2001, S. 369-373. Capitano und Deutschfranzose 239 die Sak von unserm Major sei auf den Point zu enden, und gutt zu enden. (IV,2; S. 71) 41 Hier brüstet sich der “abgedankte Capitaine” (IV,2; S. 72) nicht mehr mit angeblichen Heldentaten, sondern zuerst mit seinen vermeintlichen Beziehungen zu höchsten Gesellschaftskreisen, dann mit seiner Fähigkeit, falsch zu spielen: RICCAUT Je suis des Bons, Mademoiselle. Savés-vous ce que cela veut dire? Ik bin von die Ausgelernt - DAS FRÄULEIN Aber doch wohl, mein Herr - RICCAUT Je sais monter un coup - DAS FRÄULEIN verwundernd: Sollten Sie? RICCAUT Je file la carte avec une adresse - DAS FRÄULEIN Nimmermehr! RICCAUT Je fais sauter la coupe avec une dexterité - DAS FRÄULEIN Sie werden doch nicht, mein Herr? - RICCAUT Was nit? Ihro Gnade, was nit? Donnés-moi un pigeonneau à plumer, & - DAS FRÄULEIN Falsch spielen? betrügen? RICCAUT Comment, Mademoiselle? Vous appellés cela betrügen? Corriger la fortune, l’enchainer sous ses doits, etre sûr de son fait, das nenn die Deutsch betrügen? betrügen! O, was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak! für ein plump Sprak! (IV,2; S. 75) Der Gegensatz von Schein und Sein, der für die Capitano-Rolle konstitutiv ist, bestimmt die Figur des Deutschfranzosen Riccaut bis in den Sprachgebrauch: Seine wohlklingenden französischen Formulierungen verbrämen bloß die nackte Wahrheit, die Minna geradeheraus ausspricht. Damit spiegelt die Textstelle ein gängiges Muster, wonach ‘französisch’ bedeutet: mehr Schein als Sein, eine glänzende Oberfläche, hinter der sich Unzuverlässigkeit und Unaufrichtigkeit verbergen. Doch der zeitgenössische Vorwurf, Lessings Riccaut trete bloß auf, um “eine Satyre auf sich machen zu lassen”, greift zu kurz. Wer für das Verständnis dieser Rolle die komödienspezifischen Stereotype der Capitano- Figur, Großsprecherei und Feigheit, und die verbreiteten Nationalstereotype des Franzosen zugleich in den Blick nimmt, erkennt den Unterschied zur antifranzösischen Moralisierung der Typenkomödie. Der Franzose Riccaut renommiert nämlich ebenso wie seine spanischen Vorgänger, doch seine Feigheit liegt diesseits von Kampf und Krieg: Als entlassener Offizier braucht er schlicht Geld, ist also in einem existenziellen Sinn bedürftig, was er durch sein großsprecherisches Auftreten zu kaschieren sucht. Das erkennt 41 Zitiert wird die Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6: Werke 1767-1769. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 1985, S. 9-110. Ruth Florack 240 Minna, die sich gegenüber Riccaut als ein vorbildlich mitleidiger Mensch erweist, wenn sie erklärt, sie halte ihn im Grunde nur für “eitel” (IV,3; S. 76). Wichtigtuerei und Eitelkeit sind Negativstereotype des Franzosen, die in der Aufklärung oft als Masken von Unehrlichkeit, ja Betrug ausgegeben werden - wie etwa in der Hausfranzösinn. Bei Lessing hingegen ist dieses hinlänglich bekannte Verhältnis von Eitelkeit und Betrug umgekehrt: Während in der Hausfranzösinn das arrogante Großmaul Sotenville als Betrüger entlarvt wird, erweist sich Riccaut als ein Aufschneider und Betrüger aus Eitelkeit; die entscheidende Botschaft, die er Minna in Tellheims Angelegenheit überbringt, entspricht denn auch der Wahrheit. 42 Keine moralische Verderbtheit, sondern ein Fehler, der angesichts der Existenznot der entlassenen Offiziere verzeihlich erscheint, motiviert den beinahe tragikomischen Auftritt dieses Deutschfranzosen, der, als ein Abkömmling des Capitano, wie dieser schon bald aus dem Spiel verschwindet, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. 42 Siehe ausführlicher hierzu Ruth Florack: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen 2007 (=Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 114), S. 179-193. Nina Birkner, Jena Figaro und sein Herr. Beaumarchais’ Bruch mit dem Rollenfach in Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro Das Rollenfach des Bedienten ist, obgleich durch seinen niedrigen Stand definiert, im 18. Jahrhundert eine Herausforderung für den Schauspieler. Im Unterschied zu den kleinen Anmelderollen zählen die großen Bedientenrollen bis zur Frühaufklärung nämlich zu den niedrig-komischen dramatis personae und damit zum ‘Chargenfach’. 1 Die Dienerrolle ist nicht mit dem Harlekin gleichzusetzen, beide Figuren sind aber “teilweise deckungsgleich”. 2 Schließlich ist der Harlekin eine der Dienerfiguren der Commedia dell’arte. Wie u.a. Andrea Bartl herausgestellt hat, sind sein Betragen und seine Äußerungen […] burlesk und bodenständig, seine Welthaltung ist von Pragmatik geprägt. […] Er ist der Träger derber Komik wie des Slapsticks. […] Die Ethik, die Harlekin vertritt, ist eine diesseitige: Sie ist auf unmittelbare Triebbefriedigung ausgerichtet. […] Seine Handlungen und Äußerungen kreisen um die Komplexe Essen, Trinken, Sexualität, Ausscheidung. 3 Blickt man auf die europäische Theatergeschichte, so ist festzustellen, dass der Harlekin und mit ihm die komische Figur des Bedienten immer dann in den Fokus der Kritik geraten sind, “wenn das Lustspiel höheren literarischen Ansprüchen genügen soll[te], wenn Natürlichkeitsforderungen an es herangetragen oder wenn es in den Dienst moralischer Aufklärung gestellt wurde”. 4 Dabei kommt es im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer Revision des Rollenfachs. Grund ist die Abwendung von der Typenkomödie und die Hinwendung zum rührenden Lustspiel und zum Bürgerlichen Trauerspiel, was mit einem sinkenden Interesse an der Darstellung von Herrschaftsbeziehungen korreliert. Das hat wirkungsästhetische und weltanschauliche 1 Zum Rollenfach des Dieners vgl. Bernhard Diebold: Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig/ Hamburg 1913, S. 42. Im Rekurs auf R. Heine zählt Diebold hier den “Diener oder Knecht” zu den “Hanswurstcharakteren”, zum “Fach des Harlekin[s]” und damit zum ‘Chargenfach’. 2 Rüdiger van den Boom: Die Bedienten und das Herr-Diener-Verhältnis in der deutschen Komödie der Aufklärung (1742-1767). Frankfurt/ M. 1979, S. 25. 3 Andrea Bartl: Die deutsche Komödie. Metamorphosen des Harlekin. Stuttgart 2009 (= Reclams Universalbibliothek 17677), S. 24. 4 Van den Boom 1979, S. 26. Nina Birkner 242 Gründe, die - vor der Analyse von Beaumarchais’ Komödie - kurz zu skizzieren sind. In den neuen ‘bürgerlichen Dramen’ 5 tritt die politisch-öffentliche Sphäre zugunsten der moralisch-privaten zurück. Statt der gesamtgesellschaftlichen Perspektive wird die “Intimität der Kleinfamilie” 6 fokussiert. Ziel ist nicht länger die Darstellung zu verlachender Schwächen und Fehler, sondern die Demonstration tugendhafter Handlungen. Dabei wird trotz der de facto bestehenden sozialen Unterschiede die anthropologische Gleichheit der Subjekte propagiert. Für Herr und Knecht sollen demzufolge die gleichen Handlungsnormen gelten. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, dass die Bedienstetenrollen um die Jahrhundertmitte allmählich aus den Theatertexten verbannt oder domestiziert worden sind. 7 “Ihre ursprünglich komische, oft die Komödie konstituierende Rolle weicht der moralischen Vorführung wohlerzogener, vorbildlicher Diener”. 8 Als paradigmatisches Beispiel für diesen Funktionswandel lassen sich Lessings Theatertexte Miss Sara Sampson (1755) und Minna von Barnhelm (1767) anführen. In beiden Dramen werden die Subalternen als sittlich handelnde, ihren Herren treu ergebene und freundschaftlich verbundene Figuren vorgeführt. Waitwell - (engl. ‘to wait’ und ‘well’ - der ‘gut Dienende’) wird als empfindsamer Diener vorgeführt, der alles dafür tut, um die Versöhnung zwischen seinem Herrn Sir William Sampson und dessen Tochter Sara herbeizuführen. Minna von Barnhelms Zofe Franziska revolutioniert als ‘Soubrette mit Seele’ ihr Rollenfach. 9 Trotz dieser moralischen Aufwertung wird die hierarchische Beziehung zwischen Herr und Diener in keinem ‘bürgerlichen Drama’ der Zeit in Frage gestellt. 10 Werden Interessenskonflikte des Figurenpaars auf die Bühne gebracht, zeigen die Theaterautoren“ in erster Linie konservative, ja herrschaftsstabilisierende Lösungswege” 11 auf. In der Regel wird der Subalterne für jede Tat, die die bestehende Herrschaftsordnung gefährden könnte, mit aller Härte bestraft. Das kommt etwa in Denis Diderots Schauspiel Der 5 Zum Begriff vgl. Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister. Frankfurt/ M. 1973 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 15), S. 126. 6 Ebd. 7 Als Beispiel lässt sich Christian Fürchtegott Gellert nennen, der auf die Darstellung von Bediensteten bis auf die Dienstmagd in Das Loos in der Lotterie (1746) ganz verzichtet. 8 Adalbert Wichert: Herr-Diener-Konstellationen in der deutschen Tragödie zwischen Aufklärung und Restauration. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 117-144, hier S. 121. 9 Vgl. zur Soubrette den Beitrag von Marion Linhardt im vorliegenden Band. 10 Vgl. Dorothea Klenke: Herr und Diener in der französischen Komödie des 17. und 18. Jahrhunderts. Eine ideologiekritische Studie. Frankfurt/ M. 1992 (= Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache 4), S. 259. 11 Ebd., S. 261. Figaro und sein Herr 243 Hausvater (Le Pére de famille, 1758) zum Ausdruck. Hier wird die Titelfigur als überaus mildtätig vorgeführt; schließlich gewährt sie einem Schuldner in der ersten Szene des zweiten Akts einen Zahlungsaufschub und steckt einem armen Bauern einen Geldbeutel zu. Kontrastierend dazu bestraft der Hausvater seinen Diener in derselben Szene für eine “simple Falschaussage” 12 unverhältnismäßig schwer. Weil der Subalterne ihn nicht über das ‘unordentliche Leben’ seines Sohnes unterrichtet hat, entlässt er ihn umgehend aus dem Dienst. Diese gnadenlose Reaktion ist umso auffallender, als Diderot hier entgegen der tradierten Rollenfächer einen zärtlichen und keinen ernsten Vater auf die Bühne bringt. 13 Wenn schon eine falsche Behauptung so schwer geahndet wird, kann “die oberste Maxime der hier exemplarisch illustrierten Herrschaftspraxis nur lauten”, dass jedes Fehlverhalten eines Bediensteten “zur dauerhaften Herrschaftssicherung” 14 rigoros zu bestrafen ist. 15 Entgegen dieser Entwicklung macht Beaumarchais den Konflikt zwischen Herr und Knecht in seiner Komödie Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro (La folle journée ou Le Mariage de Figaro, 1784) zum strukturbestimmenden Thema. Die subversive Intention der Komödie manifestiert sich nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene. Beaumarchais greift auf gängige Lustspielmotive, die Handlungsstruktur der Intrigenkomödie und die Rollenfächer der Commedia dell’arte zurück, stellt alle Elemente aber in den Dienst der Herrschaftskritik, wie im Folgenden zu zeigen ist. 12 Ebd., S. 354, Anm. 139. 13 Detken weist vor allem anhand der Regiebemerkungen nach, dass Diderots Hausvater - ähnlich wie Dorval in Diderots erstem drame domestique, dem Fils naturel, empfindsam gezeichnet ist und die Rolle des zärtlichen Vaters übernimmt; vgl. Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009 (=Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste 54), S. 168-172. 14 Klenke 1992, S. 354, Anm. 139. 15 Ähnliches gilt für Rochon de Chabannes’ Komödie Die Diener, Herren des Hauses (Les Valets, maîtres de la maison, 1768). Auch hier ist die Beziehung der Herren zu ihren Dienern von “Vorsicht und Mißtrauen” sowie “dem Bestreben nach Distanzierung” (Klenke 1992, S. 260) geprägt. In dem Einakter werden Bedienstetenfiguren vorgeführt, die sich in Abwesenheit ihrer Herrschaft selbst als Hausherren ausgeben. “Entgegen aller komödientypischen Konventionen” führt “der Vertrauensbruch der Diener” auch hier zur sofortigen Beendigung des Dienstverhältnisses. Schließlich besteht die “Gewißheit, daß Diener mit hochstaplerischen Neigungen eine gefährliche Bedrohung der etablierten Hierarchie darstellen” (ebd.). Nina Birkner 244 I. Handlungsebene: Zur Herrschaftskritik in Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro In seinem langen Monolog im fünften Akt beklagt Figaro, dass nur diejenigen geachtet werden, die über einen Adelstitel und ein großes Vermögen verfügen und dass zum “Geldverdienen Gewandtheit wichtiger ist als Wissen”. 16 Als “Kind aus der obskuren Menge” 17 ist ihm die soziale Anerkennung trotz seiner Qualifikationen und Leistungen verwehrt geblieben. So hat er als gelernter Barbier nach einem Studium der Chemie, Pharmazie und Chirurgie nur eine Stelle als Viehdoktor ergreifen können; seine Komödien, journalistischen Texte und ökonomischen Theorien sind von den Zensurbehörden aus Angst vor Unterminierung des politischen Systems verboten worden; 18 und seine Position als Diener hat er sich nur dadurch sichern können, dass er seinem Herrn, dem Grafen Almaviva, eine “Frau verschafft” hat. 19 Figaros Lebensweg erscheint vor diesem Hintergrund als “Illustration der empörenden Chancenlosigkeit, die eine auf Geburtsprivilegien basierende Gesellschaftsordnung mit sich bringt”. 20 Dennoch ist die Komödie nicht primär als Kritik an den Vorrechten des Erbadels zu lesen, wie die Forschung oft behauptet hat. Die Protagonisten sind weniger als Vertreter bestimmter Stände denn als Ideenträger zu begreifen, so die erste These. Zwar wendet sich Beaumarchais gegen die Geburt und das Vermögen als entscheidende Kriterien für die “Verteilung von Machtpositionen”, 21 Hauptangriffspunkt ist aber die uneingeschränkte Willkürherrschaft des Grafen, der in der Komödie als Repräsentant der politi- 16 Pierre Augustin Caron de Beaumarchais: Die Figaro-Trilogie. Deutsch von Gerda Scheffel. Mit einem Nachwort von Norbert Miller. Frankfurt/ M. 1981, S. 226; vgl. Pierre Augustin Caron de Beaumarchais: Œuvres. Édition établie par Pierre Larthomas avec la collaboration de Jacqueline Larthomas. Paris 1988, S. 470: “je commençais même à comprendre que pour gagner du bien, le savoir-faire vaut mieux que le savoir”. 17 Beaumarchais 1981, S. 224; vgl. Beaumarchais 1988, S. 469: “F IGARO […] tandis que moi, morbleu! perdu dans la foule obscure”. Diese Position wird geteilt von Wulf Brandt: Adelskritik in Beaumarchais’ Le Mariage de Figaro. Kiel 2000; Klenke 1992, S. 277; Jürgen von Stackelberg: Figaros Hochzeit. Zur Frage nach der Gattung und dem sozialkritischen Gehalt von Beaumarchais’ Mariage de Figaro. In: Französisch heute 3 (1984), S. 293-305, hier S. 304. 18 In der frühesten überlieferten Fassung des Monologs äußert sich Figaro ausführlicher über die von ihm entworfene ökonomische Theorie. Laut William Howarth rekurriert Beaumarchais hier auf die physiokratischen Theorien seiner Zeit, vgl. William D. Howarth: Beaumarchais and the theatre. London/ New York 1995, S. 177f. 19 Beaumarchais 1981, S. 226 bzw. Beaumarchais 1988, S. 471: “Un grand seigneur passe à Seville; il me reconnaît, je le marie; et pour prix d’avoir eu par mes soins son épouse, il veut intercepter la mienne! ” 20 Klenke 1992, S. 277. 21 Ebd., S. 278. Figaro und sein Herr 245 schen Macht fungiert. Dafür spricht zum einen, dass Beaumarchais die zum Erbadel zählende Gräfin 22 als ‘liebenswürdige und tugendhafte’ 23 Figur konzipiert hat. Zum anderen wird Almaviva sicher nicht zufällig als Inhaber zahlreicher politischer Ämter vorgeführt. Er ist nicht nur örtlicher Feudalherr an der Spitze einer umfangreichen und sozial genau differenzierten Gesellschaftspyramide, sondern […] auch […] offizielle[r] Vertreter der königlichen Gerichtsbarkeit, fernerhin […] Regimentsführer und hochrangiger Diplomat. Demnach besitzt der Graf neben seiner lokalen Autoritätsposition auch weiterreichende juristische, militärische und politische Machtbefugnisse, die […] für die zentrale Handlung des Stücks völlig unerheblich sind. 24 Beaumarchais selbst betont im Vorwort zu seiner Komödie, dass Almavivas Fehlverhalten darin besteht, dass er “seinen Launen alles preisgeben will, was von ihm abhängig ist”. 25 Um an sein Ziel - die Verführung von Figaros Verlobter Suzanne - zu gelangen, hat er verschiedene Pläne ersonnen. Zunächst hat er Figaro befördert und zum Depeschenkurier ernannt. Während dieser als “Beauftragte[r] für waghalsige politische Unternehmungen” 26 unterwegs ist, will er Suzanne näher kommen. Überdies erpresst Almaviva das Dienstmädchen, indem er droht, ihr die notwendige Mitgift für die Heirat mit Figaro vorzuenthalten, sollte sie ihm nicht das ius primae noctis 27 - das Recht der ersten Nacht - einräumen, das er bei seiner eigenen Hochzeit offiziell abgeschafft hat. Almavivas Handeln lässt sich mit Axel Honneth als Missachtung, verstanden als verweigerte soziale Anerkennung in den drei Bereichen Liebe, Recht und Solidarität, deuten. Die Ansprüche des Herrn auf Suzanne be- 22 Wie aus dem Personenverzeichnis des ersten Teils der Trilogie - Der Barbier von Sevilla - hervorgeht, handelt es sich bei der Gräfin Almaviva um eine Frau “adliger Herkunft” (Beaumarchais 1981, S. 11; vgl. Beaumarchais 1988, S. 289: “R OSINE , jeune personne d’extractio noble”). Richard Bletschacher irrt also, wenn er die rhetorische Frage formuliert: “Aber ist sie [die Gräfin Almaviva, Anm. N.B.] nicht auch wie all die anderen Sieger eine Bürgerliche, ist sie nicht auch Rosina, das ehemalige Mündel eines Kurpfuschers? ” (Richard Bletschacher: Mozart und Da Ponte. Chronik einer Begegnung. Salzburg 2004, S. 188). 23 Beaumarchais 1981, S. 99; vgl. Beaumarchais 1988, S. 378: “caractère aimable et vertueux”. 24 Klenke 1992, S. 272. 25 Pierre Augustin Caron de Beaumarchais: Vorwort zu Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit. In: Ders.: Die Hochzeit des Figaro. Dichtung und Wirklichkeit. Deutung und Dokumentation von Jürgen Petersen. Frankfurt/ M. 1965, S. 132-156, hier S. 141; vgl. Beaumarchais 1988, S. 363: “c’est qu’un seigneur assez vicieux pour vouloir prostituer à ses caprices tout ce qui lui est subordonné”. 26 Beaumarchais 1981, S. 108; vgl. Beaumarchais 1988, S. 385: “casse-cou politique”. 27 Zum ius primae noctis vgl. u.a. Alain Boureau: Das Recht der Ersten Nacht. Düsseldorf 2000. Nina Birkner 246 drohen erstens ihre “physische Integrität”. 28 Die Dienerin wird an der freien Wahl eines Ehepartners gehindert und ihr wird die “Entscheidungsgewalt über den eigenen Körper” 29 genommen. Zweitens verletzt der Graf die “soziale Integrität” 30 der Subalternen, weil er ihnen die geltenden Rechtsansprüche vorenthält. Schließlich will Almaviva widerrechtlich vom Herrenrecht Gebrauch machen und sich für den Widerstand seiner Untergebenen mit der juristischen Unterbindung ihrer Hochzeit rächen. Das Gericht wird dabei als korrupte Institution dargestellt, die die “Kleinen hängt” und die “Großen […] laufen” 31 lässt. Grund ist die Unfähigkeit und die Bestechlichkeit der Amtsinhaber, die ihre Position nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern durch Kauf oder andere finanzielle Zuwendungen erlangt haben und die trotz ihrer mangelnden juristischen Kenntnisse die Befugnis haben, über andere Recht zu sprechen. 32 Drittens enthält Almaviva Figaro die soziale Wertschätzung vor, muss dieser doch in der ersten Szene feststellen, dass er Mitgift und berufliche Beförderung nicht seinen “guten Dienste[n]”, 33 sondern Almavivas intriganten Plänen zu verdanken hat, für Figaro der ausschlaggebende Grund, sich gegen die Willensäußerung seines Herrn aktiv zur Wehr zu setzen. Mit der satirischen Kritik an jeder Form von uneingeschränkter Herrschaft, die die soziale Missachtung der Untergebenen legitimiert, geht die Forderung nach der moralischen Integrität des Souveräns einher, so die zweite These. Wie Reinhart Koselleck herausgestellt hat, ist die moralische Be- und Verurteilung des Staates signifikant für die kritischen Schriften der aufgeklärten intellektuellen Elite der Zeit. Grund ist die für den höfischen Absolutismus konstitutive Polarität von anthropologisch-moralischem und staatlich-politischem Bereich. 34 Während die Moral in der privaten Sphäre Richtschnur des Handelns ist, wird der uneingeschränkt herrschende Souverän “bewußt von jeder moralischen Instanz ausgespart […], um durch die 28 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort. Frankfurt/ M. 1999 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1129), S. 211. 29 Boureau 2000, S. 9f. 30 Honneth 1992, S. 211. 31 Beaumarchais 1981, S. 176; vgl. Beaumarchais 1988, S. 435: “Indulgente aux grands, dure au petits”. 32 Vgl. Beaumarchais 1981, S. 181 bzw. Beaumarchais 1988, S. 438f.; zur Ämterkäuflichkeit im Ancien Régime vgl. den Forschungsüberblick von Klaus Malettke: Ämterkauf und soziale Mobilität. Probleme und Fragestellungen vergleichender Forschung. In: Ders. (Hg.): Ämterkäuflichkeit. Aspekte sozialer Mobilität im europäischen Vergleich (im 17. und 18. Jahrhundert). Berlin 1980 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin), S. 3-30. 33 Beaumarchais 1981, S. 106; vgl. Beaumarchais 1988, S. 383: “S UZANNE : Tu croyais, bon garçon! que cette dot qu’on me donne était pour les beaux yeux de ton mérite? ” 34 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/ M. 1973 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 36), S. 8. Figaro und sein Herr 247 Machtkonzentration im Repräsentanten des Staates auf rein politische Weise eine Ordnung herzustellen”. 35 Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird aber auch die Politik “dem moralischen Richtspruch unterworfen” und “das moralische Urteil” verwandelt sich “in ein Politicum: in politische Kritik”. 36 Schließlich gilt die Herrschaft des Souveräns nur noch dann als legitim, wenn sich dieser “innerhalb der Grenzen bewegt, die ihm ein aus der Moral abgeleitetes Recht setzt”. 37 Auf diese Weise wird das absolutistische System unterminiert, auch wenn die äußere Machtstruktur des Staates nicht in Frage gestellt wird, denn die “souveräne Gewalt” wird “ihrer politischen Entscheidungsfreiheit, d.h. ihrer absoluten Souveränität” 38 beraubt. Die moralische Kritik an den Inhabern der politischen Macht kommt in der Komödie in der Kontrastierung von lasterhafter öffentlich-politischer und moralisch-privater Sphäre zum Ausdruck. Während die Amtsträger Almaviva, Brid’oison und Double Main als zu verlachende Typen konzipiert sind, werden Figaro, Suzanne und die Gräfin positiv hervorgehoben: Sie orientieren sich an den moralisch-empfindsamen Tugenden. Das zeigt sich bereits in der ersten Szene, in der die Bediensteten dem Zuschauer vorgestellt werden. Im Unterschied zu den “traditionell sehr triebbestimmten und moralisch indifferenten” 39 Dienergestalten der Commedia dell’arte erscheint Suzanne als “tugendhaft[e]” 40 Braut, die großen Wert darauf legt, jungfräulich in die Ehe zu gehen und die ihren Mann aufrichtig und treu liebt. 41 Selbstbewusst grenzt sie sich mit ihrer Aufrichtigkeit und ‘Natürlichkeit’ von der unredlichen und manierierten “Lebensart der vornehmen Welt” 42 ab. Ähnliches gilt für Figaro, der wie Suzanne großen Wert auf die eheliche Treue legt. 43 Als empfindsam wird er in der Anagnorisis-Szene des dritten Aufzugs vorgeführt. Nachdem der Subalterne in Marceline seine Mutter erkannt hat, wandelt sich seine Enttäuschung allmählich zu “jener zarten Sohneszuneigung”, 44 wie sie für die comédie larmoyante charakteristisch ist. 45 35 Ebd., S. 121. 36 Ebd., S. 84. 37 Ebd., S. 121. 38 Ebd., S. 122. 39 Klenke 1992, S. 273. 40 Beaumarchais 1981, S. 236; vgl. Beaumarchais 1988, S. 477: “F IGARO , très vite : Cette Suzon qu’on croyait si vertueuse […]”. 41 Vgl. Beaumarchais 1981, S. 201 bzw. Beaumarchais 1988, S. 453. 42 Beaumarchais 1981, S. 166; vgl. Beaumarchais 1988, S. 428: “l’usage du grand monde”. 43 Vgl. Beaumarchais 1981, S. 174 bzw. Beaumarchais 1988, S. 433. 44 Wolf 1984, S. 328. 45 Zum empfindsamen Drama vgl. u.a. Lothar Pikulik: ‚Bürgerliches Trauerspiel‘ und Empfindsamkeit. Köln u.a. 1981 2 (= Literatur und Leben N.F. 9), Kap. I.4; Horst Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung. Stuttgart 1966 (= Sammlung Metzler 47), S. 45f., Wolf 1984, S. 328. Nina Birkner 248 Vor Rührung und Ergriffenheit beginnt Figaro, “Freudentränen” 46 zu vergießen, die von ihm sofort thematisiert und analysiert werden. Hier fehlt nichts “für eine empfindsame Rührszene. Angefangen von der Selbstthematisierung der Tränen durch den Weinenden, über deren Deutung und lustvolles Auskosten bis hin zu[r] malerischen Figurenkonstellation sich umarmender Familienmitglieder”. 47 Dennoch ist Die Hochzeit des Figaro weniger als rührendes Lustspiel denn als Intrigenkomödie konzipiert. Das hat vor allem thematische Gründe. Als Figaro feststellen muss, dass sein Liebesglück durch Almavivas Intrigen gefährdet ist, entscheidet er sich, ihn mit einer Gegenintrige - also mit Mitteln der politisch-höfischen Sphäre - in die Schranken zu weisen, ganz gemäß den Konventionen seines Rollenfachs. Die Intrige wird zum Thema des Stücks und bestimmt daher auch die literarästhetische Form des Theatertextes. Dabei geriert sich Figaro als der “geborene Höfling” und behauptet, “drei, vier” Komplotte “gleichzeitig, und so verworren wie möglich” 48 schmieden und durchführen zu können. Allerdings wird im Handlungsverlauf deutlich, dass er nicht souverän agiert und seinen Triumph über den Grafen “zum guten Teil dem Zufall” 49 verdankt. Auf diese Weise bricht Beaumarchais mit der Komödientradition, erteilt er doch “dem Intrigieren, der jahrtausendealten Hauptfunktion der Dienergestalt, eine eindeutige Absage”. 50 Er zeigt Figaro nicht als raffinierte, sondern als moralisch integre, zur Verstellung unfähige Bedienstetenfigur, der man bereits am “Gesicht” ablesen kann, dass sie “gegen allen Augenschein” 51 lügt. Seine Aufrichtigkeit ist Zeichen des homme sensible, eine Qualität, durch die er sich vor seinem Herrn auszeichnet. Die moralisch-empfindsamen Normen besitzen aber nicht nur für die Subalternen, sondern auch für die in der privaten Sphäre agierende Gräfin Gültigkeit. Wie die Bediensteten orientiert sie sich an der christlichen Sexualmoral, nach der zwischengeschlechtliche Beziehungen nur in der Ehe legitim sind. Dabei wird ihre Tugendhaftigkeit durch ihre Zuneigung zu Cherubim auf die Probe gestellt. Als moralisch integre Figur entscheidet sie 46 Beaumarchais 1981, S. 196; vgl. Beaumarchais 1988, S. 449: “elles [les larmes] sont de joie”. 47 Werner Wolf: Ursprünge und Formen der Empfindsamkeit im französischen Drama des 18. Jahrhunderts. (Marivaux und Beaumarchais). Ein Beitrag zur Funktionsgeschichte. Frankfurt/ M. 1984, S. 328. 48 Beaumarchais 1981, S. 135; vgl. Beaumarchais 1988, S. 404: “F IGARO : Deux, trois, quatre à la fois; bien embrouillées, qui se croisent. J’étais né pour être courtisan”. 49 Klenke 1992, S. 274. 50 Ebd., S. 275. 51 Beaumarchais 1981, S. 157; vgl. Beaumarchais 1988, S. 421: “L E C OMTE : Quand je ne le saurais pas d’ailleurs, fripon! ta physionomie qui t’accuse me prouverait déjà que tu mens”. Figaro und sein Herr 249 sich aber gegen ihre Gefühle und für ihre ehelichen Pflichten. 52 Im Unterschied dazu besteht der Graf die für das empfindsame Drama charakteristische ‘Tugendprobe’ nicht: Er lässt sich von seinen Leidenschaften leiten, obwohl er das moralische Verhalten der anderen im privaten und im politischen Bereich als vorbildlich anerkennt. So reagiert Almaviva nicht nur bestürzt auf den Vorwurf seiner Ehefrau, dass sie “Verlassenheit und Eifersucht zu ertragen” 53 habe. Auch als Groß-Corregidor von Andalusien weiß er, dass er sittlich handeln und sich am Allgemeinwohl orientieren muss. Nur so lässt sich seine Verlegenheit erklären, als ihn Figaro für seine Abschaffung des Herrenrechts öffentlich preisen will. 54 Die Komödie endet mit einer Provokation: Der Herrschende muss sich bei seinen Untergebenen öffentlich für seine Fehler entschuldigen, weil deren anti-höfische Wertvorstellungen als “Maßstab für gesellschaftliches Handeln” 55 gelten. Offen bleibt, ob Almaviva zur Einsicht gelangt. Seine Bitte um ein “großmütiges Verzeihen” 56 wirkt wie eine Phrase, weil er die Redewendung im Handlungsverlauf mehrmals gebraucht, um sich für sein Fehlverhalten zu entschuldigen. Auf diese Weise werden die in der textexternen Realität bestehenden Übel auf dem Theater zwar als lösbar vorgeführt, sie werden aber nicht gelöst. Die subversive Intention der Komödie korreliert mit literaturästhetischen Innovationen, so die dritte These. Das mag überraschend scheinen, denkt man an Hans Ulrich Gumbrechts Ausführungen zum französischen Theater des 18. Jahrhunderts. Hier erklärt er: Jeder Literarhistoriker weiß, daß sich Beaumarchais für die ersten beiden Dramen der Figaro-Trilogie […] die Tradition der commedia dell’arte zunutze machte, und […] daß dieser Rückgriff alles andere als innovativ oder gar - strukturgeschichtlich - ‘vorrevolutionär’ war. 57 In der Tat rekurriert Beaumarchais auf Elemente der Commedia dell’arte; zudem lassen sich Bezüge zur parade, 58 zur comédie larmoyante und zur Opéra 52 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Beaumarchais 1965, S. 142. 53 Beaumarchais 1981, S. 153; vgl. Beaumarchais 1988, S. 418: “L A C OMTESSE […]: Me suisje unie à vous pour être éternellement dévouée à l’abandon et à la jalousie […] L E C OMTE : Tu as raison, et c’est à moi de m’humilier…Pardon, je suis d’une confusion! ” 54 Vgl. Beaumarchais 1981, 1. Akt, 10. Szene, S. 124ff. bzw. Beaumarchais 1988, S. 397ff. 55 Elke Klein: Kontinuität und Diskontinuität in der sogenannten Trilogie von Beaumarchais. Frankfurt/ M. 1978 (= Französische Sprache und Literatur 57), S. 155f. 56 Beaumarchais 1981, S. 247; vgl. Beaumarchais 1988, S. 485: “un pardon bien généreux”. 57 Hans Ulrich Gumbrecht: Das französische Theater des 18. Jahrhunderts als Medium der Aufklärung. In: Ders./ Rolf Reichardt/ Thomas Schleich (Hgg.): Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. Bd. II. Medien. Wirkungen. München/ Wien 1981, S. 67- 88, hier S. 83. 58 Auf die Bezüge zwischen Die Hochzeit des Figaro und der ‘parade’ hat vor allem Scherer hingewiesen; vgl. Jacques Scherer: La dramaturgie de Beaumarchais. Paris 1954. Die ‘parade’ ist durch die Schauspieler des Théâtre de la Foire populär geworden, die vor Nina Birkner 250 comique feststellen. 59 Alle Elemente werden aber in den Dienst der Herrschaftskritik gestellt. Auf diese Weise entsteht ein “gattungsgeschichtlich höchst ambiges Gebilde”, 60 das sich durch die Unterminierung der Gattungsschemata - und dazu gehört auch ein Bruch mit den Konventionen der Rollenfächer - auszeichnet, wie im Folgenden zu illustrieren ist. II. Darstellungsebene: Beaumarchais’ Umwertung tradierter Lustspielelemente Auf die Commedia dell’arte 61 verweist insbesondere die Figurenkonzeption. So trägt Figaro Züge des Arlecchino 62 und seine Verlobte Suzanne erinnert an der eigentlichen Aufführung ihrer Stücke kurze komische Szenen improvisiert haben, um Zuschauer in ihre Jahrmarktsbuden zu locken. Daraus hat sich das literarische Genre der ‘parade’ entwickelt, das die Typen der Commedia dell’arte weitgehend übernimmt und das “als pseudo-volkstümliche Unterhaltung in den Salons und von den Adligen und reichen Bürgern selbst aufgeführt wird. Es sind nun allerdings geschriebene, nicht mehr improvisierte Stücke, aber von der einfachsten Personenkonstellation und mit einer minimalen Intrige, die in Anlehung an die italienische Tradition ein junges Liebespaar, das der Diener (Gilles) unterstützt, und einen älteren Rivalen, der vom Vater favorisiert wird, gegenübergestellt. Als Konventionen der Gattung, die ihren angeblich volkstümlichen Charakter kennzeichnen sollen, kommen sprachlich affektierte Fehler” (Konrad Schoell: Die französische Komödie. Wiesbaden 1983 [= Schwerpunkte Romanistik 17], S. 152) hinzu. 59 In seinem Beitrag zu Beaumarchais, Da Ponte und Mozart befasst sich Hammerstein mit der Bedeutung der musikalisch-lyrischen Einlagen in Die Hochzeit des Figaro. “Während der 1. Akt noch ganz ohne Musik auskommt, nimmt ihr Anteil (und damit die Nähe zur Opéra comique) im 2. Akt merklich zu” (Rainhold Hammerstein: Der verwandelte Figaro oder das Gesetz der Gattung. Anmerkungen zu Beaumarchais, Da Ponte und Mozart. In: Wilfried Floeck/ Dieter Steland/ Horst Turk [Hgg.]: Formen innerliterarischer Rezeption. Wiesbaden 1987 [= Wolfenbütteler Forschungen 34], S. 245- 280, hier S. 248), so Hammerstein. Davon zeugen für ihn beispielsweise die Romanze, die Cherubim vor der Gräfin singt; die Seguidilla, die Figaro in der 23. Szene vorträgt und dazu tanzt, die Festszenen des vierten Akts, während der “die eigentliche Handlung (fast) still” steht und allenfalls “wortlos-pantomimisch” (Hammerstein 1987, S. 249) weiterläuft, Baziles Lied über die Liebe im gleichen Akt und das finale Vaudeville im fünften Akt, auf das abschließend ein Ballet général folgt. 60 Wolf 1984, S. 315. 61 Zu den Masken und den Handlungsschemata der Commedia dell’arte vgl. u.a. Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Bd. 1. Stuttgart/ Weimar 1993, S. 429-439; Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und théâtre italien. Stuttgart 1965 (= Germanistische Abhandlungen 8); Henning Mehnert: Commedia dell’arte. Struktur - Geschichte - Rezeption. Mit 15 farbigen Abbildungen. Stuttgart 2003 (= RUB 17639), S. 30-42, 105-121; Wolfram Krömer: Die italienische Commedia dell’arte. Darmstadt 1990 (= Erträge der Forschung 62), S. 30-44; vgl. auch den Beitrag von Susanne Winter im vorliegenden Band. Figaro und sein Herr 251 die “espritvoll kokette[] Soubrette” 63 Colombina. Die Gräfin und der Graf 64 haben ihre Vorfahren in den Innamorati - den Verliebten -, während Bartholo zu den komischen Alten zählt. Reinhold Hammerstein bezeichnet ihn zu Recht als “Abkömmling des Bologneser Doktor Gratiano alias Baloardo, zugleich mit Zügen des Pantalone”. 65 Im Unterschied dazu erinnert Brid’oison an Tartaglia, den “Stotterer, der häufig die Profession eines Richters oder Notars” 66 ausübt. Durch den Rekurs auf die stereotypen Figuren der Commedia dell’arte kann Beaumarchais die “Kritik und Satire konkreter aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse” wieder ins Zentrum rücken, die das ‘bürgerliche Drama’ “mit seinem moralischen und rührenden Anspruch nicht leisten kann und will”. 67 Um den Konflikt zwischen Herr und Knecht zu akzentuieren, bricht er erstens mit den tradierten, auf die Commedia dell’arte zurückgehenden Rollenfächern. So zeigt er den Grafen im Gegensatz zu den Innamorati als lasterhafte, zu verlachende Figur, während er die Gräfin, Suzanne und Figaro als sympathetische Identifikationsfiguren 68 konzipiert. Dabei weist insbesondere der Diener individuelle Züge auf. Ihm wird als einzigem eine wechselvolle Biographie zugeschrieben und er soll entgegen der Rollenfachkonventionen nicht als niedrig-komischer Typ dargestellt werden. Im Gegensatz zu den Bedienstetenfiguren der Commedia, die der “Lachlust des Publikums preisgegeben” werden, weil sie primär an der Befriedigung ihrer physischen Begierden interessiert sind, zeichnet sich Figaro durch “Witz, Intelligenz, Liebe und Treue” aus. Aus diesem Grund darf der Schauspieler nicht chargieren, sondern er soll sich in 62 Die Figur des Figaro hat ihre Wurzeln in der römischen Komödie. Sie zählt zu dem “eiron-Typus”, einer Figur, “die die Ränke und Pläne für den Sieg des Helden zu schmieden hat. In der römischen Komödie ist es fast immer ein listenreicher Sklave (dolosus servus); in der Renaissance, vor allem auf dem Kontinent, wird daraus der erfinderische Diener, den die Spanier den gracioso nennen. Heutzutage kennt man ihn am besten als Figaro und Leporello” (Northrop Frye: Analyse der Literaturkritik. Aus dem Amerikanischen von Edgar Lohner und Henning Clewing. Stuttgart 1964, S. 175f.). Zu den Sklavenfiguren in der römischen Antike vgl. Peter Paul Spranger: Historische Untersuchungen zu den Sklavenfiguren des Plautus und Terenz. Mainz 1961. 63 Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Bd. 2. Stuttgart/ Weimar 1996, S. 49. 64 Wie Scherer betont hat, sollte der Graf anfänglich den Namen Léandre tragen, vgl. Scherer 1954, S. 28. 65 Hammerstein 1987, S. 248. 66 Brauneck 1993, S. 433. 67 Konrad Schoell: ‚Drame‘ et ‚Comédie‘. Zur Konkurrenz der dramatischen Gattungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Beaumarchais. In: Dietmar Rieger (Hg.): Das französische Theater des 18. Jahrhunderts. Darmstadt 1984 (= Wege der Forschung 570), S. 407-425, hier S. 425. 68 Vgl. Hans Robert Jauß: Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden. In: Wolfgang Preisendanz/ Rainer Warning (Hgg.): Das Komische. München 1976, S. 103- 132. Nina Birkner 252 die Rolle “hinein[…] versetzen”, 69 so Beaumarchais im Vorwort zu seiner Komödie. Nur so könnten die “vielen Nuancen” der Figur erfasst werden. Die innovative Abkehr von den gängigen Komödienschemata betrifft zweitens die Handlungsstruktur. Wie Northrop Frye ausgeführt hat, ist für eine auf die griechische Neue Komödie zurückgehende und bis ins frühe 20. Jahrhundert dominierende Komödientradition folgendes stereotype Handlungsschema kennzeichnend: In der Regel trifft ein junges Liebespaar auf einen Antagonisten - häufig der Vater des Protagonisten, der sich für dasselbe Mädchen interessiert -, “dieser Widersacher beherrscht als eigentlich komischer Held die Bühne, bis schließlich ein wunderbares Geschick den Verliebten zu Hilfe kommt, den Opponenten ausschaltet und das Ganze mit der ersehnten Hochzeit enden läßt”. 70 Beaumarchais’ erster Teil der Figaro- Trilogie, Der Barbier von Sevilla (Le Barbier de Séville, 1775), entspricht eben diesem Handlungsschema. Hier will der verkleidete Almaviva seine Geliebte - die Gräfin - mit Figaros Hilfe aus den Fängen ihres geldgierigen Vormunds Bartholo befreien, der das Mädchen selbst heiraten möchte. Nach Intrigen und Gegenintrigen endet die Typenkomödie mit der Heirat der Innamorati. Dieses Komödienschema gilt auch für Die Hochzeit des Figaro. Im Zentrum steht allerdings nicht länger der Konflikt zwischen jung und alt, sondern der Agon zwischen Herr und Knecht, wobei nicht die Hochzeit der jungen Aristokraten, sondern die der Domestiken “zum Dreh- und Angelpunkt des Bühnengeschehens wird und nach etlichen Peripetien […] gefeiert werden kann”. 71 Der Bruch mit den Gattungskonventionen kommt drittens in den für die Komödie bis dato unüblichen Massenszenen zum Ausdruck, in denen zahllose “stumme Personen” 72 auftreten, die in der Gerichtsszene Richter und Verteidiger, meist aber das Volk - Diener, Landarbeiter, Bäuerinnen und Bauern oder junge, nicht-aristokratische Mädchen - repräsentieren. In diesen Szenen wird die “Isolierung des Grafen, der sich mit der Gegnerschaft seines Dieners zugleich die Antipathie aller seiner Untergebenen eingehandelt hat, […] augenscheinlich”. 73 Zudem wird vorgeführt, dass und wie sich Amalviva durch die Autorität der öffentlichen Meinung moralisch unter Druck setzen lässt. So verpflichtet er sich im ersten Akt, das ius primae noctis 69 Bletschacher 2004, S. 187. 70 Rainer Warning: Komödie und Satire am Beispiel von Beaumarchais’ Mariage de Figaro. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), H. 4., S. 547-563, S. 551f.; vgl. Frye 1964, S. 165. 71 Klenke 1992, S. 271. 72 Beaumarchais 1981, S. 102; vgl. Beaumarchais 1988, S. 381: “personnages muets”. 73 Hans-Jörg Neuschäfer: Die Evolution der Gesellschaftsstruktur im französischen Theater des 18. Jahrhunderts. In: Romanische Forschungen 82 (1970), H. 4, S. 514-535, hier S. 532. Figaro und sein Herr 253 “für alle Hochzeiten” 74 aufzugeben; im vierten Akt errötet er - der Libertin -, weil die Öffentlichkeit erfährt, dass er dem Bauernmädchen Fanchette Avancen gemacht hat; 75 und im fünften Akt wird er beschämt, weil ihm nicht nur die Gräfin, sondern alle Hochzeitsgäste sein Fehlverhalten verzeihen. Auf diese Weise wird deutlich, dass es sich bei dem dramatischen Konflikt weniger um einen privaten als um einen zwischen Herrscher und Untertanen handelt. Im Dienst der Herrschaftskritik steht zuletzt der Rekurs auf das Motiv des ius primae noctis - ein Recht, das im Ancien Régime gar nicht existiert hat. Laut Maurice Bouvier-Ajam ist es offiziell erst 1789 von der Nationalversammlung abgeschafft worden. 76 Dagegen ist Alain Boureau davon überzeugt, dass es das Herrenrecht in Frankreich zu keiner Zeit gegeben hat. “Wo Schuld zugewiesen, Ansprüche geltend gemacht wurden, hatte der Diskurs nie Bezug zur Realität”, 77 so Boureau. Die fehlende tagespolitische Aktualität des Motivs ist ein Indiz dafür, dass es metaphorisch zu deuten ist. Genauso wie Beaumarchais die ursprünglich in Frankreich angesiedelte Handlung aus Zensurgründen nach Spanien verlegt hat, 78 soll das Herrenrecht den Machtmissbrauch im Absolutismus unter Ludwig XVI. illustrieren. Für Rainer Warning ist solch eine “metaphorische Indienstnahme” 79 ausgeschlossen, weil das Herrenrecht seit Ende des 17. Jahrhunderts als “komödienspezifisches Handlungshindernis” 80 fungiert, für ihn Zeichen einer eher affirmativen Textintention. Da es für das ius primae noctis keine reale, sondern nur eine innerliterarische Referenz gebe, werde “das moralische Skandalon bereits im Ansatz neutralisiert. Die Bedrohung der Virginität wird irrealisiert zum Komödienmotiv, und wenn sich auch ein Herr und ein Knecht gegenüberstehen, so verlagert sich doch der Fokus der Aufmerk- 74 Beaumarchais 1981, S. 125; vgl. Beaumarchais 1988, S. 397: “adoptez-en la cérémonie pour tous les mariages”. 75 Vgl. Beaumarchais 1981, S. 206. bzw. Beaumarchais 1988, S. 456. 76 Vgl. Maurice Bouvier-Ajam: Beaumarchais et la vérité historique. In: Europe. Revue Littéraire Mensuelle 51 (1973) N° 528, S. 89-104, hier S. 103. 77 Boureau 2000, S. 318. 78 Linthilhac und Scheel haben hervorgehoben, dass die Komödie ursprünglich in Frankreich spielen sollte, wie eine frühe handschriftliche Fassung des Stücks zeigt; vgl. Eugène Linthilhac: La Folle Journée ou Le Mariage de Figaro (Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro) von Beaumarchais. In: Dieter Steland (Hg.): Französische Literatur von Beaumarchais bis Camus. Frankfurt/ M. 1969 (= Interpretationen 6), S. 9-33, hier S. 16; Hans Ludwig Scheel: La folle journée ou le mariage de Figaro. In: Jürgen von Stackelberg (Hg.): Das französische Theater. Vom Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1968, S. 79-99, hier S. 93. 79 Warning 1980, S. 554. 80 Rainer Warning: Von der Revolutionskomödie zur Opera buffa. “Le nozze di Figaro” und die Erotik der Empfindsamkeit. In: Dieter Borchmeyer (Hg.): Mozarts Opernfiguren. Große Herren, rasende Weiber - gefährliche Liebschaften. Bern u.a. 1992 (= Facetten deutscher Literatur 3), S. 49-70, hier S. 54. Nina Birkner 254 samkeit aufs Naturhafte, auf das sexuelle Begehren des einen wie des anderen”. 81 Tatsächlich handelt es sich bei dem Herrenrecht um ein populäres Komödienmotiv im 17. und 18. Jahrhundert. 82 Allerdings lässt Warning außer Acht, dass das Thema in fast allen Theatertexten der Zeit “auf die häusliche Posse beschränkt” 83 bleibt. Zumindest kommt der Subalterne in keiner der Sittenkomödien “als ernsthafter Rivale des Herrn” in Betracht. 84 “Wenn Dienergestalten dennoch in naiver Selbstüberschätzung im eigenen Namen bei Höhergestellten als Brautwerber auftreten, so liegt darin in erster Linie eine komiksteigernde Wirkungsintention”. 85 Auch wenn es sich bei Die Hochzeit des Figaro nicht um eine restaurative Komödie handelt, wie Warning behauptet, muss doch eingeräumt werden, dass die satirische Kritik durch die für das niedrig-komische Rollenfach des Bediensteten konstitutive karnevaleske Komik entschärft wird, so die vierte These. Obwohl Beaumarchais die moralisch-empfindsamen Tugenden idealisiert, orientiert er sich nicht an der Wirkungsästhetik des genre sérieux, sondern an der Verlachkomödie. Davon ausgenommen ist die ‘Ehehandlung’. Hier wird nicht die für eine Farce übliche “lächerliche Verkehrung der innerfamiliären Machtverhältnisse”, sondern “die Störung empfindsamer Seelenharmonie zwischen den Eheleuten” vorgeführt. Aufrichtig spricht die Gräfin mit ihrem Mann über die erfahrenen Kränkungen und appelliert (zumindest temporär) erfolgreich an sein Mitgefühl. Die komödiantischen Spielsituationen sind vor allem für die ‘Dienerhandlung’ kennzeichnend. Hier muss zwischen moralisch funktionalisierbarer und karnevalesker, in der Commedia dell’arte-Tradition stehender Komik unterschieden werden. Moralisch funktionalisierbar sind die komischen Wirkungen, die aus den Normverfehlungen der lasterhaften Figuren resultieren. Sie lassen sich bei Brid’oison auf den “Gegensatz zwischen dem Ernst seines Amtes und dem Lächerlichen seines Charakters” 86 zurückführen. Bei dem Grafen resultieren sie aus der Inkongruenz zwischen den “normativen Vorstellungen” der 81 Warning 1980, S. 554. 82 Vgl. William D. Howarth: The theme of the ‚droit du seigneur‘ in the eighteenth-century theatre. In: French Studies 15 (1961), S. 228-240; Frances Eleanor Palermo Litvack: Le Droit du seigneur in European and American literature. Form the seventeenth through the twentieth century. Birmingham/ Ala 1984; Boureau 2000, S. 48f. 83 Boureau 2000, S. 49. 84 Zu den Theatertexten, in denen das ‘Herrenrecht’ zentrales Thema ist, zählen u.a. La Noce de interrompue (1699) von Charles Dufresnay, Le Droit du Seigneur ou le Mari retrouvé et la femme fidèle (1735) von Louis de Boissy, Le Droit du Seigneur (1763) von Pierre-Jean-Baptiste Nougaret oder Le Droit du Seigneur (zuerst 1784 publiziert) von Pierre François Guyot Desfontaines; vgl. Howarth 1961, Boureau 2000, Klenke 1992. 85 Klenke 1992, S. 187. 86 Beaumarchais 1981, S. 101; vgl. Beaumarchais 1988, S. 380: “Il est tout entier dans l’opposition de la gravité de son état au ridicule du caractère”. Figaro und sein Herr 255 Zuschauer und den “konkreten Verhaltensweisen” 87 der Figur. Zu nennen sind erstens seine unbeherrschten Reaktionen auf harmlose Vorfälle - etwa seine übertriebene Wut auf Cherubim, den er im ersten Akt unter einem Kleid versteckt auf dem Sessel entdeckt - zweitens die Diskrepanz zwischen seinen vorgeblichen und seinen wahren Interessen 88 und drittens der Kontrast zwischen seinem hegemonialen Anspruch und den “ständige[n] Niederlagen”, 89 die er erleidet. 90 Das Lachen des Publikums über die Amtsträger lässt sich mit Eugène Dupréel als rire d’exclusion - als ‘ausgrenzendes Lachen’ - kategorisieren. “Auf der Basis eines (gesellschaftlich) gültigen Normensystems, dessen Stabilität erhalten oder intensiviert werden soll, wird die Fehlleistung de[r] (sozialen) Abweichling[e]” 91 angezeigt. In seiner Arbeit über die Komödie differenziert Bernhard Greiner zwischen einer “Komik der Herabsetzung, sich artikulierend im Ver-Lachen”, und einem grotesken [karnevalesken] Lachen im Sinne Bachtins, d.h. “einem ‘Lachen mit’, theoretisch bestimmt als Komik des Freisetzens, des Bejahens des Kreatürlichen, des nicht in Sitte gebändigten Körpers, der nicht kanalisierten Affekte”. 92 Während der Graf für sein normabweichendes Verhalten verspottet - ‘herabgesetzt’ - wird, lassen sich die durch die komische Figur des Figaro freigesetzten Affekte als ‘Komik der Heraufsetzung’ beschreiben. Wie für den Harlekin charakteristisch, handelt es sich bei ihm um eine “witzige, scharfsichtige” Figur, die “an andern jede Schwachheit und Thorheit richtig bemerkt, und auf eine geistreiche aber höchst naive Art, blos stellen 87 Tom Kindt: Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert. Berlin 2011 (= Deutsche Literatur 1), S. 47. 88 Das kommt etwa zum Ausdruck, wenn Almaviva behauptet, sich über Cherubim als vermeintlichen Liebhaber von Suzanne deshalb so zu echauffieren, weil er Figaro so hoch schätzt, vgl. Beaumarchais 1981, S. 123 bzw. Beaumarchais 1988, S. 396. 89 Beaumarchais 1981, S. 99; vgl. Beaumarchais 1988, S. 378: “le personnage est toujours sacrifié”. 90 Auf dieses Missverhältnis macht Beaumarchais auch in seinem Vorwort aufmerksam, wenn er erklärt, dass der “unumschränkte Gebieter durch das geringste Geschöpf, durch den Menschen, der am meisten sich ihm in den Weg zu stellen fürchtet, in die Verzweiflung getrieben” (Beaumarchais 1965, S. 145) wird; vgl. Beaumarchais 1988, S. 365: “en vous montrant que l’homme le plus absolu chez lui, dès qu’il suit un projet coupable, peut-être mis au désespoir par l’être le moins important, par celui qui redoute le plus de se rencontrer sur sa route”. Diese Inkongruenz wird von Beaumarchais aber nicht als Mittel ‘textueller Komik’ beschrieben. Vielmehr wird der Figur des Pagen hier eine moralische Funktion zugeschrieben. Sie soll beweisen, dass ein Inhaber der politischen Macht seinen Willen nicht problemlos durchsetzen kann, “wenn er schändliche Ziele verfolgt” (Beaumarchais 1965, S. 145). 91 Klaus Schwind: Satire in funktionalen Kontexten. Theoretische Überlegungen zu einer semiotisch orientierten Textanalyse. Tübingen 1988 (= Kodikas Supplement 18), S. 223. 92 Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung. Grundlagen und Interpretationen. Tübingen 1992 (= UTB 1665), S. 98; zur Komik der Herabbzw. der Heraufsetzung vgl. auch Jauß 1976. Nina Birkner 256 kann”. 93 Auf diese Weise wird “ein Einvernehmen zwischen Held und Lachgemeinde” hergestellt, das als “Triumph über die Gewalten der normativen Welt” 94 - über die Autorität der politischen Amtsinhaber - erfahren werden kann. Die für die Komödie konstitutive Komik der Herauf- und Herabsetzung manifestiert sich ferner in dem von Jacques Scherer beschriebenen Konstruktionsverfahren der troisième lieu: 95 Eine Figur gerät in Bedrängnis, weil zwei Orte - etwa Bühne und Kulisse - besetzt sind und ein dritter Ort gebraucht wird. In diese Not gerät Cherubim, der sich im ersten Akt hinter einem Sessel versteckt. Als sich der von Bazile überraschte Almaviva dort verbergen will, benötigt Cherubim einen ‘dritten Ort’ und findet ihn im Sessel. Ähnliches gilt für den zweiten Akt, in dem der Page zum Sprung aus dem Fenster gezwungen wird, damit er nicht von Almaviva im Ankleidezimmer der Gräfin entdeckt wird. In beiden Fällen weiß der Zuschauer im Gegensatz zum Grafen, wo sich Cherubim aufhält bzw. aufgehalten hat. Dadurch kann er sich mit Suzanne und der Gräfin darüber freuen, dass Almaviva ihn nicht im Ankleidezimmer findet; und er kann über Almaviva lachen, wenn dieser Cherubim nichtsahnend im Sessel entdeckt. Die Komik unterstützt aber nicht immer die ‘moralische Lektion’ des Stücks, denkt man etwa an die karnevaleske Sprach-, Figuren-, Verhaltens- und Situationskomik rund um die Figuren Antonio und Bazile 96 oder an die Wiederholungen, die Henri Bergson zu den “Verfahrensweisen der klassischen Komödie” 97 zählt. Sie finden sich im ersten Akt, wenn sich Suzanne und Marceline im Knicksen überbieten oder im fünften Akt, in dem Suzanne Figaro bei jedem Satz ohrfeigt. 98 Angeführt seien außerdem die Verwechslungen, 99 die aufgrund der Inkongruenz zwischen Schein und Sein und der daraus resultierenden unterschiedlichen Beurteilung der Bühnenereignisse durch die Figuren und die Zuschauer komisch wirken. Diese ‘freie’ Komik verschließt sich nicht nur “jeder moralisch-didaktischen Tendenz”, 100 sie läuft mitunter auch der Textintention zuwider. 101 So lassen sich Suzannes 93 Johann Georg Sulzer: Harlekin. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Lexikon der Künste und der Ästhetik. Bd. 1. Leipzig 1771, S. 511-512, hier S. 511. 94 Jauß 1976, S. 108, 107. 95 Vgl. Scherer 1954, S. 143f. und 172f. 96 Vgl. Warning 1980, S. 562; Wolf 1984, S. 331; zu den verschiedenen Formen literarischer Komik, zu denen die Sprach-, Figuren- Verhaltens- und die Situationskomik zählen, vgl. Kindt 2011. 97 Henri Bergson: Das Lachen. Essay über die Bedeutung des Komischen. Frankfurt/ M. 1988, S. 53. 98 Vgl. Beaumarchais 1981, S. 114, 237 bzw. Beaumarchais 1988, S. 389f., 478. 99 Zur komischen Wirkung von Verwechslungen vgl. Bergson 1988, S. 67ff. 100 Wolf 1984, S. 311. 101 Darauf weisen u.a. auch Warning 1980 und Wolf 1984 hin. Figaro und sein Herr 257 Ohrfeigen oder die mitunter derbe Sprachkomik 102 nicht mit den propagierten tugendhaft-empfindsamen Normen in Einklang bringen. Hier zeigen sich die Grenzen der die Komödie auszeichnenden “Verbindung zwischen Empfindsamkeit und Komödie”: “Die Flexibilität, die die Empfindsamkeit im Mariage gegenüber der Komödie zeigt, bedeutet für sie zugleich auch eine Relativierung.” 103 Auf diese Weise lässt sie sich auch als höfisches divertissement lesen. 104 Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Beaumarchais nicht - wie oft behauptet - auf eine Revolution zielt, sondern sich die satirische Kritik an den zeitgenössischen “öffentliche[n] Übelstände[n]” 105 - dem Machtmissbrauch eines uneingeschränkt herrschenden Souveräns - zur Aufgabe macht. Er fordert einen aufgeklärten Herrscher, der sich als erster Diener des Staates begreift und seine privaten Interessen hinter das Allgemeinwohl zurückstellt. Die subversive Intention der Komödie manifestiert sich nicht nur auf der Handlungs-, sondern auch auf der Darstellungsebene. Beaumarchais rekurriert auf gängige Lustspielelemente, wertet sie aber um und stellt sie in den Dienst der Herrschaftskritik. Das kommt u.a. in einer Revision der tradierten Rollenfächer zum Ausdruck. Während sich die komischen Be- 102 Vgl. Beaumarchais 1981, S. 187 bzw. Beaumarchais 1988, S. 442. 103 Wolf 1984, S. 332. 104 Vgl. Warning 1980, S. 563, Wolf 1984, S. 331. Die Spannung zwischen der Komödie als literarischem Genre und der propagierten empfindsamen Utopie wird auch von Walter Hinck problematisiert, wenn er erklärt: “Es war dem rührend-empfindsamen Lustspiel des 18. Jahrhunderts vorbehalten, mit dem Prinzip der Komödie zu brechen und die Darstellung von vorbildhaftem Verhalten zu seiner Hauptabsicht zu machen, also die Tugend auf den Thron zu setzen und der Komik die Tür zu weisen. Doch ließ sich diese Tür auf die Dauer nicht verschließen, und so blieb der Triumph der Tugend nur ein Zwischenspiel. Eine Komödie, deren bestimmendes Moment die Komik ist, bezieht ihre Wirkungen aus der lächerlichen Verfehlung einer Norm - daraus, daß der Zuschauer insgeheim eine Gestalt oder einen Zustand auf die Norm hin korrigiert. / / Diese Norm kann die in einem sozialen System geltende oder eine es überschreitende sein, eine Norm also, vor der dieses soziale System selbst nicht besteht. Normen solcher Art setzt die Utopie. Die besondere Schwierigkeit der Utopie aber besteht darin, daß sie ein neues Normenbewußtsein erst durchsetzen muß. Und die Utopie der wahren und gerechten Ordnung hat eine größere Affinität zur Darstellung des Vorbildlichen als des Fehlverhaltens. Geht sie eine Verbindung mit der Komödie ein, gerät sie also unter den Druck einer Gegenkraft. Die wahre ‘utopische’ Komödie lebt aus einem Widerspruch: in ihr werden zugleich Normen gesetzt und verletzt” (Walter Hinck: Einleitung. Die Komödie zwischen Satire und Utopie. In: Reinhold Grimm/ Walter Hinck (Hgg.): Zwischen Satire und Utopie. Zur Komiktheorie und zur Geschichte der europäischen Komödie. Frankfurt/ M. 1982 (= STB 839), S. 7-19, hier S. 8). 105 Beaumarchais 1965, S. 136; vgl. Beaumarchais 1988, S. 357: “les maux publics”. Nina Birkner 258 diensteten Figaro und Suzanne an den moralisch-empfindsamen Normen orientieren, wird der Graf dem Spott der Zuschauer preisgegeben. Die experimentelle Verbindung der heterogenen Elemente, insbesondere die in der Commedia dell’arte-Tradition stehende karnevaleske Komik, führt aber dazu, dass die satirische Kritik an Schärfe verliert. So erklären sich die divergenten Positionen von Kritik und Forschung, die der Komödie oft eine revolutionäre Kraft attribuieren, sie mitunter aber auch als höfisches divertissement gelesen haben. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Julien Dolenc Museumsarchitektur im Spiegel von Theatralität Forum Modernes Theater, Vol. 41 2014, 194 Seiten, €[D] 49,00 / SFr 65,50 ISBN 978-3-8233-6781-9 Durch diese interdisziplinäre Untersuchung wird mit einem dynamisch angelegten Modell von Theatralität ein neuer Blick auf die Interpretation von Museumsarchitektur geboten. Anhand von fünf Museen, dem Kunsthaus Bregenz, der Pinakothek der Moderne in München, der Londoner Tate Modern Gallery, dem Musée du Quai Branly in Paris und dem Guggenheim-Museum in Bilbao wird deren jeweils spezifische Architektur als Medium definiert, das andere Medien inszeniert und daher unterschiedliche Relationen zwischen Bild, Raum und Besucher hervorbringt. Die daraus entstehenden intermedialen Prozesse werden durch das vorgeschlagene Theatralitätsmodell, das letztlich auch als interdisziplinäre Methode für andere Kunstformen dient, überhaupt erst analysierbar. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. 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Komische oder ernste Alte, erste und zweite Liebhaber und Liebhaberinnen, Intriganten und Charakterdarsteller, Deutschfranzosen und Soubretten - das Rollenfachsystem strukturiert die europäische Theaterpraxis vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und prägt die Dramenproduktion maßgeblich. Dies gilt für die Tagesproduktion von Iffland, Kotzebue und Schröder ebenso wie für kanonische Dramen von Lessing, Goethe und Schiller. Der Sammelband geht der Frage nach, welche Bedeutung das Rollenfachsystem für das deutschsprachige Drama im europäischen Kontext hat. Hinzu kommen Analysen zu ausgewählten französischen, spanischen und englischsprachigen Theaterstücken. Die literatur- und theaterwissenschaftlichen Beiträge untersuchen in historischer und systematischer Perspektive, wie sich Dramentext und Theaterkonvention zueinander verhalten.